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German Pages 420 [421] Year 2020
Claus Priesner
Dinge zwischen Himmel und Erde
Claus Priesner
Dinge zwischen Himmel und Erde Eine Kulturgeschichte des magischen Denkens
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar
wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2020 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Umschlagsabbildung aus: „Opus Mago-Cabbalisticum et Theosophicum" – Georg von Welling, Frankfurt und Leipzig 1784. Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40382-0 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-40383-7 eBook (epub): 978-3-534-40381-3
Inhalt
Einführung..................................................................................................................................... 11 Teil I Die Anfänge magischen Denkens............................................................................................. 13 I.1 Archaische und indigene Kulturen ...................................................................................... 13 Das Magische Weltbild........................................................................................................... 16 Wer oder was sind Schamanen? ........................................................................................... 16 Die Ekstase............................................................................................................................... 19 Schamanische Kleidung und Requisiten.............................................................................. 21 Der erste Schamane................................................................................................................. 23 Berufung und Initiation......................................................................................................... 25 Schmied und Schamane......................................................................................................... 28 Der Flug des Schamanen........................................................................................................ 31 I.2 Spurensuche – ein Blick zurück............................................................................................ 31 Altnordisches........................................................................................................................... 31 Griechenland............................................................................................................................ 34 Ältere Textzeugnisse................................................................................................................ 36 Frühe Forscher......................................................................................................................... 40 Literaturhinweise........................................................................................................................... 44 Abbildungsnachweise.................................................................................................................... 45 Teil II Magie in der Antike. Der Mikrokosmos im Makrokosmos................................................. 46 II.1 Kulturen des Zweistromlandes............................................................................................ 49 Die Sumerer............................................................................................................................. 49 Akkad und Babylon................................................................................................................ 52 Babylonische Götter und Dämonen..................................................................................... 53 Babylonische Magier............................................................................................................... 59 Schöpfungsmythen und schamanische Überlieferungen.................................................. 62 II.2 Die Anfänge der Astrologie.................................................................................................. 65 Die babylonische Astrologie.................................................................................................. 66 Die Astrologie der Spätantike................................................................................................ 69 Die praktische Astrologie....................................................................................................... 71 Kritik an der Astrologie.......................................................................................................... 73 II.3 Plinius und die antiken Wurzeln der mittelalterlichen Magie......................................... 76 5
II.4 Das alte Ägypten und die Entstehung der Alchemie........................................................ 79 Die Götterwelt der Ägypter................................................................................................... 79 Dämonen und Gespenster..................................................................................................... 83 Die Ursprünge der Alchemie................................................................................................. 84 Die Elemente............................................................................................................................ 85 Die Gnosis................................................................................................................................ 87 Grundvorstellungen der Alchemie....................................................................................... 89 Himmlische Lehrmeister........................................................................................................ 93 Die ersten Alchemisten........................................................................................................... 96 Literaturhinweise........................................................................................................................... 97 Abbildungsnachweise.................................................................................................................... 98 Teil III Magisches Denken im Mittelalter........................................................................................ 100 III.1 Die Sagas – Relikte vorchristlichen magiko-religiösen Denkens................................ 101 III.2 Magie und Frühchristentum............................................................................................. 104 III.3 Umdeutungen..................................................................................................................... 110 Der Schrat............................................................................................................................... 111 Der Bilwiz............................................................................................................................... 112 III.4 Mittelalterliche Volksmagie.............................................................................................. 117 Zwingmessen und Wettersegen........................................................................................... 117 Heilige Bäume und Pflanzen ............................................................................................... 119 Eisen........................................................................................................................................ 122 Steine....................................................................................................................................... 123 Wasser..................................................................................................................................... 125 Salz........................................................................................................................................... 125 Der Hahn................................................................................................................................ 126 Das Ei...................................................................................................................................... 127 Feste......................................................................................................................................... 128 III.5 Die mittelalterliche Alchemie........................................................................................... 130 Die arabische Alchemie........................................................................................................ 131 Die Anfänge der Alchemie im Abendland ........................................................................ 134 III.6 Gelehrte Magier des Mittelalters...................................................................................... 136 Albertus Magnus................................................................................................................... 138 Roger Bacon .......................................................................................................................... 140 III.7 Mittelalterliche Mystikerinnen......................................................................................... 142 Literaturhinweise......................................................................................................................... 148 Abbildungsnachweise.................................................................................................................. 150 6
Teil IV Hexen....................................................................................................................................... 151 IV.1 Metamorphosen – von der Hagazussa zur Hexe............................................................ 152 Die Nachtdämonen............................................................................................................... 155 Die Feste und Taten der Guten Leute................................................................................. 159 Chonrad Stoeckhlin und die Nachtschar........................................................................... 165 IV.2 Die christlichen Wurzeln des Dämonenglaubens.......................................................... 167 IV.3 Die Verfolgung der Hexen................................................................................................. 171 Die Inquisition....................................................................................................................... 171 Teufelspakt und Hexensekte................................................................................................ 174 Ursachenforschung............................................................................................................... 175 Moderne Hexenjagden......................................................................................................... 177 IV.4 Hexensabbat und Schadenzauber..................................................................................... 180 Warum Hexen und nicht Hexer?......................................................................................... 184 IV.5 Der Flug der Hexen............................................................................................................ 187 IV.6 Hexensalben und Hexenkräuter ...................................................................................... 195 Hexensalben – Rezepturen und Wirkungsweise............................................................... 198 Die Tollkirsche....................................................................................................................... 205 Das Bilsenkraut...................................................................................................................... 206 Die Alraune............................................................................................................................ 208 Fliegende Forscher................................................................................................................ 211 Hexen und Hexenverfolgungen – eine Zusammenfassung............................................. 213 Literaturhinweise......................................................................................................................... 215 Abbildungsnachweise.................................................................................................................. 216 Teil V Naturmagie in der Renaissance.............................................................................................. 218 V.1 Eine Welt im Umbruch........................................................................................................ 219 V.2 Magier und Alchemisten der Renaissance........................................................................ 225 Der Erzmagier Doktor Faust................................................................................................ 226 Marsilius Ficinus (Marcilio Ficino, 1433–99) ................................................................... 236 Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494)..................................................................... 237 Giambattista della Porta (1535–1615)................................................................................ 240 Agrippa von Nettesheim (1486–1535)............................................................................... 241 Johannes Trithemius (1462–1516)...................................................................................... 246 John Dee (1527–1608).......................................................................................................... 249 Robert Fludd (1574–1637)................................................................................................... 254 V.3 Alchemie, Naturmagie und Medizin bei Paracelsus (1493/94–1541)........................... 259 Sein Lebensweg...................................................................................................................... 260 7
Paracelsus der Mensch – Charakter, Persönlichkeit, Erscheinung................................. 265 Paracelsus – der Arzt als Alchemist oder der Alchemist als Arzt................................... 268 Paracelsus der Alchemist...................................................................................................... 272 Magische Heilungen.............................................................................................................. 273 Der „Liber de Nymphis“....................................................................................................... 276 Wasser im Volksglauben....................................................................................................... 282 Paracelsus – eine Einordnung ............................................................................................. 283 Literaturhinweise......................................................................................................................... 285 Abbildungsnachweise.................................................................................................................. 286 Teil VI Magie im Zeitalter der Vernunft.......................................................................................... 288 VI.1 Cogito ergo sum – René Descartes und die Philosophen der „Aufklärung“............. 289 Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716)............................................................................ 294 Immanuel Kant...................................................................................................................... 296 VI.2 Der skeptische Chymiker Robert Boyle.......................................................................... 298 VI.3 Das Licht, die Schwerkraft und der Stein der Weisen, Isaac Newtons Weltbild........ 303 VI.4 Kometen, Wunder, Sterndeuter – Aufklärung und Astrologie.................................... 307 VI.5 Freimaurer, Rosenkreuzer und Illuminaten. Die Geheimbünde der Aufklärungszeit............................................................................................................................ 312 Die hochlöbliche Bruderschaft des Christian Rosenkreutz, oder der Orden der nie existierte........................................................................................................ 315 Freie Maurer, böse Maurer, böse Freimaurer?................................................................... 319 Der Aufrichtig Wiedergeborene Samuel Richter.............................................................. 320 Von der Legende zur Realität – das Gold- und Rosenkreuz entsteht............................. 322 Macht, Geheimnis und Gehorsam – der Aufbau der Ordens der Gold- und Rosenkreuzer...................................................................................................... 323 Glaube, Hoffnung, Enttäuschung – vom Schicksal zweier Goldund Rosenkreuzer................................................................................................................. 330 Adolph v. Knigge, die Illuminaten und die Weltverschwörung...................................... 337 Literaturhinweise......................................................................................................................... 343 Abbildungsnachweise.................................................................................................................. 344 Teil VII Vampire, Geister, Spiritisten – Magisches Denken in der Moderne.............................. 346 VII.1 Die Wiederkehr der Toten. Vampirglauben im 18. und 19. Jahrhundert.............................................................................................................. 347 Antike Vorbilder des Vampirs............................................................................................. 348 Untot oder scheintot?............................................................................................................ 349 Der Gute Tod......................................................................................................................... 349
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Vampirmerkmale. Das Bild des Vampirs........................................................................... 353 Die Tötung von Vampiren ................................................................................................... 354 Historische Vampirjagden und Vampirtötungen.............................................................. 357 Die Vampire von Medvegia.................................................................................................. 360 Der Vampirforscher Augustin Calmet................................................................................ 362 Gerard van Swietens Kampf gegen den Vampirismus...................................................... 366 Vampire in der Literatur und im Film................................................................................ 368 VII.2 Gespenster, Geister und Gelehrte – der Spiritismus.................................................... 372 Geist und Geister................................................................................................................... 373 Das neue Bild des Jenseits.................................................................................................... 374 Franz Anton Mesmer und der Tierische Magnetismus................................................... 380 Die Anfänge des Spiritismus in den USA.......................................................................... 386 Helena Blavatsky und die „Theosophische Gesellschaft“.................................................. 390 Die „Society for Psychical Research“.................................................................................. 393 Die „Dialektische Gesellschaft“........................................................................................... 394 Alfred Russel Wallace und das Geisterreich...................................................................... 398 William Crookes, der Geisterphotograph.......................................................................... 400 Albert v. Schrenck-Notzing........................................................................................................ 403 Karl v. Reichenbach und die Od-Lehre.............................................................................. 405 Friedrich Zöllner und die Vierte Dimension..................................................................... 407 Sir Arthur Conan-Doyle, der Feendetektiv....................................................................... 412 Literaturhinweise......................................................................................................................... 415 Abbildungsnachweise.................................................................................................................. 416 Epilog.................................................................................................................................................... 418
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Einführung Seit den Anfängen seiner Kultur versucht der Mensch, Erklärungen für Beobachtungen oder Erfahrungen zu finden und seinen Platz in der Welt zu bestimmen. Einer unserer grundlegenden Wesenszüge besteht offenbar in dem Bemühen, möglichst viele Aspekte unserer Existenz in einen als sinnvoll empfundenen Erklärungszusammenhang einzuordnen und damit sowohl uns selbst wie auch die uns umgebende Welt zu definieren. Dabei stoßen wir auf offen zutage liegende Beziehungen, wie den Zusammenhang zwischen Durstgefühl und Wassertrinken, und auf schwerer durchschaubare Phänomene, etwa eine innere Erkrankung oder den Tod. Da die Annahme, ein sinnloses Dasein in einer per se chaotischen Welt zu fristen, niemand befriedigt, war und ist der Mensch – unabhängig von seiner jeweiligen kulturellen Zugehörigkeit – bestrebt, auch für solche Probleme Antworten zu formulieren, bei denen er nicht auf eindeutige und unbezweifelbare Wirkungsgegebenheiten zurückgreifen kann. Es liegt auf der Hand, dass sowohl die Art dieser nur metaphysisch zugänglichen Fragen wie auch die gefundenen Antworten zeitlich und räumlich sehr unterschiedlich aussehen, also kulturbedingt sind. Beispielsweise wird der Blitz im heutigen Europa auch von „esoterisch“ orientierten Menschen als eine luftelektrische Entladungserscheinung betrachtet, d. h. als ein rational erklärbarer Vorgang. Diese Rationalität wird auch dann akzeptiert, wenn der Einzelne die zugrundeliegende naturwissenschaftliche Theorie selbst nicht versteht – er schließt sich dann eben der allgemein herrschenden Vorstellung vom Blitz an. Die scheinbare oder tatsächliche Rationalität der Erklärung entfernt ein Phänomen aus dem Bereich des Metaphysischen. Im Gegensatz dazu verstanden unsere fernen Vorfahren und manche heute noch isoliert vorkommende Naturvölker Blitz oder Donner als von den Göttern bewirktes Geschehen. Eine solche Erklärung ist aus der Sicht der Beteiligten nicht unlogisch, sie ist aber nicht rational, da sie auf ein physisch nicht nachweisbares, eben metaphysisches, Konzept zurückgreift, nämlich die Annahme der Existenz eines Blitz- bzw. Donnergottes. In diesem Buch möchte ich dem Umgang des Menschen mit solchen nicht ohne Weiteres rational erklärlichen Gegebenheiten des Lebens in unterschiedlichen Epochen und Kulturen nachspüren. Mein Ziel ist es nicht, eine umfassende und dem Detail verpflichtete Studie vorzulegen; vielmehr soll eine kulturgeschichtliche Skizze gezeichnet werden, die anhand ausgewählter Beispiele von der Vorgeschichte bis in unsere Zeit reicht und Deutungsmöglichkeiten vorstellt, die sich aus der Sicht eines Naturwissenschafts- und Kulturhistorikers ergeben. Die folgende Darstellung behandelt den europäischen Kulturraum und – soweit die Antike betroffen ist – auch den Nahen und Mittleren Osten. Nicht eingeschlossen werden Indien, China, Australien, sowie Nord- und Südamerika (abgesehen von gelegentlich Verweisen). Ich möchte diese Betrachtung ausgehend von einem Grundgedanken entwickeln, der auf der sog. Mikrokosmos-Makrokosmos-Parallelität beruht. Demnach ist jedes übernatürlich-metaphysische Erklärungskonzept untrennbar mit der Vorstellung verbunden, dass eine ständige und 11
mehr oder minder enge Wirkungsbeziehung zwischen dem für uns Menschen nur teilweise erfassbaren Weltganzen, also dem Kosmos bzw. der Schöpfung, und der uns umgebenden irdischen Welt besteht. Zu diesem Weltganzen gehören auch nicht sichtbare, aber in bestimmten Situationen erfahrbare Wesenheiten, die als Götter, Dämonen oder Geister bezeichnet werden. Zu verstehen, wie diese Wesenheiten unser Leben beeinflussen und wie man mit ihnen in Verbindung treten kann, ist das Ziel und der Inhalt von Magie und Religion. Die Magie ist auch insofern von besonderer Bedeutung, als sie die Vorform der Naturwissenschaft darstellt. Wo der Schamane sich auf Intuition und Initiation stützt und die Priester auf ihre jeweiligen Theologien, baut der Magier auf das Wissen um jene „Mikrokosmos-Makrokosmos-Parallelität“, die ein für andere nicht wahrnehmbares Geflecht von unterhalb der sichtbaren Realität verlaufenden, aber deshalb als nicht weniger real wahrgenommenen, Wechselwirkungsbeziehungen konstituiert. Der Magier trachtet danach, sich Wissen über dieses Geflecht und seine Gesetze von Ursache und Wirkung zu verschaffen. Wissen von und über die Natur und den Menschen fließt dabei in eins mit dem Wissen über Götter und Dämonen. Wissen, nicht Gnade oder visionäre Entzückung, ist für die Magie der Schlüssel zur Macht, so wie für uns heute Naturwissenschaft und Technik. Auf unserem Streifzug durch die Kulturgeschichte werden sibirische Schamanen ebenso eine Rolle spielen wie chaldäische Astrologen, persische Magier oder römische Seher. Die arabischen Alchemisten und ihre europäischen Nachfolger auf der Suche nach dem Stein der Weisen finden ebenso Beachtung wie die von der Inquisition gnadenlos verfolgten Hexen der frühen Neuzeit und die Spiritisten des 19. und 20. Jahrhunderts. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie an eine hinter der sichtbaren Welt verborgene „höhere“ Wirklichkeit glaubten und sich imstande fühlten, mit dieser in eine Wechselbeziehung zu treten. Das Mittelalter wird bei dieser Reise durch die Vorstellungswelten des Übernatürlichen nicht unbedingt als ein „dunkles“ Zeitalters erscheinen, die als Aufbruch in die Moderne geltende Renaissance wird sowohl hell erstrahlen, wie lange und finstere Schatten werfen. Auch die Epoche der Aufklärung erweist sich als ambivalent, indem sie eine Trennung zwischen „wissenschaftlich erfassbarer“ Realität und allem damit nicht Zugänglichen, aber dennoch als real vorhanden Erlebtem, erzwang. (Das Problem besteht u. a. darin, herauszufinden wo der eine Bereich endet und der andere beginnt.) Ebenso wird sich zeigen, dass die Entstehung der Naturwissenschaften zwar viel zuvor nur metaphysisch Erklärbares physikalisch verstehbar gemacht hat, dabei aber neue Bereiche des Unerklärlichen sichtbar wurden, allerdings auf einer anderen Abstraktionsebene. Auch heute noch und auch aus naturwissenschaftlich-nüchterner Sicht bietet die Welt in uns und um uns Rätsel und Geheimnisse genug. Die Frage nach der Wahrnehmung des Unerklärlichen ist somit kein Thema der Vergangenheit, sondern durchaus gegenwärtig.
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Teil I Die Anfänge magischen Denkens Wann und wo „der Mensch“ begonnen hat, metaphysische Konzepte in seine Wahrnehmung der ihn umgebenden Welt einzubeziehen, ist unbekannt. Allerdings können wir davon ausgehen, dass dieser entscheidende Schritt der Kulturformung bei allen Gesellschaften unabhängig und zu unterschiedlichen Zeiten erfolgte. Untrennbar verbunden damit ist die Entwicklung des Magischen Denkens.
I.1 Archaische und indigene Kulturen In der Stadelhöhle am Hohlenstein unweit von Ulm wurde1939 der Löwenmensch von Ulm entdeckt, eine etwa 30 cm hohe Statue aus Mammut-Elfenbein, die wahrscheinlich vor ca. 40000 Jahren angefertigt wurde. Die Figur stellt einen Menschen mit dem Kopf eines Löwen dar.
Abb. I.1: Der „Löwenmensch“ aus der Hohlensteinhöhle im Lonetal. 13
Wenn die Datierung stimmt, dann kommt dieser kleinen Skulptur eine einzigartige Stellung in der Menschheitsgeschichte zu. Denn es handelt sich nicht nur um eine herausragende Darstellung zweier genau beobachteter Spezies, sondern vielmehr um den mit Abstand ältesten bislang gefundenen Beleg dafür, dass der menschliche Geist einer Sache physische Form gab, die er nie gesehen haben konnte. […] Der Löwenmensch steht für einen kognitiven Sprung in eine Welt jenseits der Natur und jenseits menschlicher Erfahrung.1
Mit diesen Worten beschreibt der Kulturhistoriker Neil MacGregor in seinem Buch „Leben mit den Göttern“ den Stellenwert dieses Kunstwerks aus dem Jungpaläolithikum, also dem Ende der Altsteinzeit. Obwohl die Skulptur schon im August 1939 gefunden wurde, verhinderte der Ausbruch des 2. Weltkriegs am 1. September eine nähere Untersuchung. Erst im Dezember 1969 entdeckte der Prähistoriker Joachim Hahn beim Versuch, die über 260 Elfenbeinsplitter zusammenzusetzen, von denen er nur etwa 200 unterbringen konnte, dass es sich bei dem Objekt um ein Mischwesen mit dem Körper eines Menschen und dem Kopf eines Tieres, vermutlich eines Höhlenlöwen, handelte. Da man sich nicht einigen konnte, ob der menschliche Teil der Figur einen Mann oder eine Frau darstellt, setzte sich die Bezeichnung „Löwenmensch“ durch. Neben der beeindruckenden künstlerischen Ausdruckskraft der Plastik ist für unser Thema vor allem die Tatsache von Bedeutung, dass damit ein gegenständlicher Beweis für die Fähigkeit altsteinzeitlicher Menschen vorliegt, abstrakt zu denken und im Geiste eine „Welt jenseits der Natur und jenseits menschlicher Erfahrung“ zu erschaffen. MacGregor lässt dazu Jill Cook, eine Expertin für Vor- und Frühgeschichte am British Museum zu Wort kommen: Dieses Objekt ergibt nur Sinn, wenn es Teil einer Geschichte ist, also Teil dessen, was wir heute als Mythos bezeichnen könnten. Es muss eine Erzählung oder ein Ritual gegeben haben, die diese Statue begleiteten und ihr Auftauchen und ihre Bedeutung erklären könnten.2
Wir können nicht wissen, wie diese Erzählung lautete und welche Rituale ggf. mit dem Löwenmenschen vollzogen wurden, klar ist aber, dass er den Glauben an ein über die unmittelbar erfahrbare Umwelt hinausreichendes Konzept von Transzendenz repräsentiert. Die Menschen, die dieses Objekt schufen und, wie man anhand der Gebrauchsspuren erkennen kann, lange Zeit verwendeten, mussten eine Vorstellung von einer „Anderswelt“ haben, einem zwar 1 2
Neil MacGregor: Leben mit den Göttern, München 2018, S. 29. MacGregor, S. 32.
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nicht sichtbaren, aber dennoch realen Bereich der Wirklichkeit, der die sichtbare Welt ergänzte, ohne deshalb von ihr durch eine Barriere getrennt zu sein. Schon die Neandertaler vor etwa 100000 Jahren glaubten an eine solche Anderswelt. Sie bestatteten ihre Toten und fügten Grabbeigaben wie Schmuck, Werkzeuge oder Nahrungsmittel hinzu, was darauf hindeutet, dass man an eine Weiterexistenz nach dem Tod glaubte. Diese Weiterexistenz konnte nicht in physischer Form erfolgen, sondern nur „metaphysisch“, als körperloses, aber mit Bewusstsein und Lebenskraft ausgestattetes Geistwesen. Die Grabbeigaben dienten daher auch nicht zum konkreten Gebrauch durch die Toten, sondern symbolisierten eine Anderswelt, in der die Geister der Ahnen existierten und die strukturell dem Diesseits verwandt war. Kurz gesagt, glaubten schon die Menschen der Steinzeit an eine Art von Seele, die beim Tod den Körper verlässt, aber die Identität des Verstorbenen beibehält. Dies ist die Grundlage des Ahnenkults. Die australischen Aborigines behielten aufgrund der isolierten Lage ihres Kontinents ihre archaische Lebensweise seit wenigstens 40000 Jahren. Erst mit dem Einbruch der westlichen Zivilisation im 18. und 19. Jahrhundert geriet ihre Kultur in Gefahr und wurde größtenteils vernichtet. Obwohl die Aborigines keine einheitliche Gruppe bilden und zahlreiche Clans mit unterschiedlichen Sprachen und Gebräuchen nachweisbar sind, eint sie doch ein gemeinsames Naturverständnis. Neil MacGregor schildert in seinem schon erwähnten Buch die Totenrituale beim Volk der Yolngu in Arnhem-Land (Nordaustralien). Daraus wird deutlich, dass die Yolngu ‚Ahnen‘ mehr sind als nur eine Liste von Menschen aus denen der Stammbaum besteht. Sie reichen weit darüber hinaus, bis zu dem Punkt, an dem jeder Mensch mit jeden anderen belebten – aber auch unbelebten – Teil der Landschaft verbunden ist, denn alle diese Teile sind Orte, die von der allgegenwärtigen Lebenskraft bewohnt werden.3
Eine ähnliche Denkweise lässt sich auch bei den Menschen vermuten, die den Löwenmenschen erschufen. Eine mögliche Interpretation der Figur des Löwenmenschen wäre, dass er kein eigentliches Mischwesen (wie beispielsweise ein Centaur) ist, sondern ein Mensch mit einer Tiermaske. Die kulturhistorische Bedeutung von Masken und Körperbemalung bzw. Tätowierung für archaische Kulturen kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Darin kommt die zutiefst „magische“ Idee zum Ausdruck, dass man sein Ich, seine Persönlichkeit, durch eine Maske verwandeln kann. Ein Mensch mit der Maske eines Löwen bzw. einem Löwenkopf wird damit selbst zum Löwen. Folgt man dieser Interpretation, kommt man zur Deutung der Figur als Schamane.
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MacGregor, S. 380.
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Das Magische Weltbild Gegenwärtig herrscht erhebliche Unsicherheit darüber, was die Begriffe Religion, Animismus und Schamanismus eigentlich bedeuten. „Strukturalistische“ Theorien, die eine interkulturell vorhandene gemeinsame Jenseitsvorstellung aller archaischen Kulturen als frühe Stufe transzendenten Erlebens annehmen, werden vielfach kritisch gesehen, allerdings ohne dass überzeugende Gegenkonzepte formuliert werden. Aus meiner Sicht gibt es am Beginn menschlicher Kultur eigentlich keine Religion, denn diese setzt nach meinem Verständnis ein intellektuelles Konzept des Jenseits voraus, das von einer erheblichen Zahl von Menschen geteilt wird. Religionen in diesem Sinne entstehen erst in den frühen Hochkulturen. Davor, in der Zeit der kleinen Gruppen von Jägern und Sammlern, gab es den Animismus. Dieser kann sich in Einzelheiten unterschiedlich ausprägen, enthält aber immer die Vorstellung einer allbeseelten Welt. Anstelle eines theoretischen Konzepts tritt bei den frühen Kulturen des Paläo- und Neolithikums eine intuitive Wahrnehmung des Übernatürlichen. Natürlich verfügt auch jeder Mensch über eine oder mehrere Seelen, die sein Verbindungsglied zu den Seelen der übrigen Welt herstellen können und unbedingte Voraussetzung für ein Weiterleben nach dem Tod und damit für den Ahnenkult sind. Im animistischen Denken gibt es weder tote Dinge noch einen einzigen Schöpfergott. Es gibt auch keine Kausalität, sondern nur die nicht vorhersehbaren Einflüsse der Geistwesen, die in allen Pflanzen, Tieren, Gewässern, Gesteinen und in der Luft wie im Feuer existieren. Diese Geister können frei agieren und die Welt ist in jedem Augenblick das aktuelle Ergebnis dieser Interaktionen. Als Repräsentanten dieser animistischen Weltsicht möchte ich die Schamanen in Eurasien etwas näher betrachten, jedoch mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass analoge kulturelle Glaubensvorstellungen auch in anderen Teilen der Welt anzutreffen sind. Ob man diese dann als gemeinsames anthropologisches Phänomen betrachtet oder nicht sei jedem selbst überlassen.
Wer oder was sind Schamanen? Der Kulturwissenschaftler und Schriftsteller Mircea Eliade (1907–1986) lenkte 1957 mit seinem Werk „Le chamanisme et les techniques archaiques de l’exstase“ auf Deutsch „Schamanismus und archaische Ekstasetechnik“ (1957, engl. 1964) die Aufmerksamkeit der Anthropologen und Ethnologen wie auch der breiten Öffentlichkeit auf das Phänomen des Schamanismus, das bis dahin nur Religionswissenschaftler und auch diese eher am Rande interessiert hatte.4 Eliade 4
Michael Witzel: The Origins of the World’s Mythologies. Oxford University Press, New York 2011, S. 382 ff. Diese Angaben nach Wikipedia/Schamanismus.
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führte die ethnologischen, philosophischen, religionswissenschaftlichen und psychologischen Perspektiven in einer Synthese aus empirischer Analyse und imaginativer Religionsphilosophie zusammen. Lange Zeit galt sein Buch als das Standardwerk zum Schamanismus. Es trug entscheidend zur Rehabilitation spiritueller Praktiker bei, die bis dato als Geisteskranke oder Scharlatane angesehen worden waren. Eliade versuchte, eine gemeinsame Grundlage sämtlicher archaischer Glaubens- und Jenseitsvorstellungen weltweit zu schaffen. Fehlende empirische Belege ergänzte er durch seine imaginative oder kreative Deutung des Materials, was ihm viel berechtigte Kritik eintrug. Dennoch bleibt es Eliades Verdienst, den Schamanismus mit seinen Thesen zum international anerkannten Forschungsgegenstand gemacht und die indigenen bzw. archaischen Kulturen vom intellektuellen Makel der Primitivität befreit zu haben. Streng genommen ist der Schamanismus keine Religion, sondern ein Ganzes von ekstatischen und therapeutischen Methoden, die alle das eine Ziel verfolgen, den Kontakt herzustellen zu jenem anderen parallel existierenden, jedoch unsichtbaren Universum der Geister, um deren Unterstützung für die Besorgung der menschlichen Belange zu erwirken.5
Diese Beschreibung, die Mircea Elaide und Ioan P. Couliano 1991 formulierten, trifft sehr präzise Wesen und Zielsetzungen dieser frühen Form magischen Denkens und magischer Praxis. Aus heutiger Sicht bezeichnet der Begriff Schamanismus im engeren Sinne die traditionellen ethnischen Religionen des Kulturareales Sibirien, also der Nenzen, Jakuten, Altaier, Burjaten, Ewenken, der europäischen Samen u. a., deren gemeinsames Kennzeichen das Vorhandensein von Schamanen ist. Im weiteren Sinne umfasst er alle wissenschaftlichen Konzepte, die aufgrund von ähnlichen Praktiken spiritueller Spezialisten in verschiedenen traditionellen Gesellschaften die kulturübergreifende Existenz des Schamanismus postulieren. Hier sollte eher von Schamanismen im Plural gesprochen werden. Eine nähere allgemeingültige Bestimmung ist nicht möglich, da die Definition verschiedene Betrachtungsweisen aus Sicht der Ethnologie, Kulturanthropologie, Religionswissenschaften, Archäologie, Soziologie und Psychologie enthält, die sich nicht vereinheitlichen lassen. Der deutsche Indologe Michael Witzel geht davon aus, dass es angesichts der Ähnlichkeit australischer, andamanischer, indischer und afrikanischer Iniationsrituale mit den entsprechenden sibirischen Ritualen, die die Phänomene der aufsteigenden Hitze, Trancen (Dreamers), Ekstase und Kollaps, symbolischen Tod und Wiedergeburt, Verwendung psychoaktiver Drogen, Tabubewahrung, Zauberei und Heilung umfassen, einen älteren Prototyp des Schamanismus gegeben habe. Dieser habe sich mit der Out-of-Africa-Wanderung des moder5
Mircea Eliade, Ioan P Couliano: Handbuch der Religionen. 1991, S. 176; zitiert nach Hoppál 1994, S. 8.
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nen Menschen entlang der Küsten des Indischen Ozeans und früh auch nach Eurasien und Nordamerika verbreitet. Dafür sprächen spätpaläolithische Bärenkulte und Felszeichnungen wie in Les trois frères. Der sibirische Schamanismus stelle eine jüngere Evolutionsstufe dieses Prototyps dar (mit Fellkleidung, Trommel usw.); er habe über weitere Wanderungswellen die nordamerikanischen Jägerkulturen sekundär beeinflusst. An die Stelle des Opfers wilder Tiere, die der Schamane vorher um Erlaubnis für die Tötung fragt oder bei denen er sich für die Tat entschuldigt (so bei den Bärenkulten der Schamanen der Ainu, Aleuten und der transbaikalischen Völker), seien später domestizierte Tiere wie das Rentier (in Sibirien) oder Hunde (wie in Russland oder Indien) getreten.6 Die amerikanische Anthropologin Joan Halifax erklärt die Jagd für ein zentrales Merkmal des Schamanismus: Die Anfänge des Schamanismus im Paläolithikum stellen das Phänomen unweigerlich in Zusammenhang mit der Tierwelt der Jagd. Man begann, den Schamanen metaphysisch mit den ungezähmten Lebewesen zu identifizieren, die Nahrung und Kleidung lieferten und sogar Schutz boten. […] Durch diese Fixierung auf das Tierreich sucht der paläolithische Schamane unmittelbare Kontrolle über die jagdbaren Tiere zu gewinnen und Herr über das Wild zu werden, damit es seinem Ruf folgte. Tieropfer, vogelgestaltige Schamanenstäbe, Tiere als Hausgeister sowie Tierkostüme von Löwen, Bullen, Bären und Hirschen spielten alle im paläolithischen Schamanismus eine Rolle. […] Ohne Frage gehörten Tanz und Trance gleichermaßen zum Kern des frühen Schamanismus, wie sie Teil der bis heute fortbestehenden Kunst der Ekstase geblieben sind.7
Der amerikanische Anthropologe Michael Winkelman, einer der maßgeblichen Experten auf dem Gebiet des Schamanismus fasst die kennzeichnenden Merkmale und Fähigkeiten der Schamanen so zusammen: The shamans are most likely to be characterized as having special abilities such as the capacity to fly, weather control, immunity to fire, the ability to transform into an animal, and death and rebirth experiences.8
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Witzel, S. 382 ff. Joan Halifax: Schamanen, Zauberer, Medizinmänner u. Heiler, Leipzig 1983, S. 6. Michael Winkelman: Shamans. Priests and Witches. A cross-cultural Study of magico-religious Pracitioners, Tempe 1992, S. 50: Übersetzung durch C. P.: „Die Schamanen lassen sich am besten durch ihre besonderen Eigenschaften charakterisieren, etwa die Fähigkeit zu fliegen, das Wetter zu beeinflussen,
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Zusammenfassend erklärt Winkelman: The cross-curtural distribution of Shaman in hunting and gathering societies […] supports the hypothesis of an universal distribution of shamanism, with the suggestion that the Shamans were present in all regions of the world at some time in their hunting and gathering past.9
Es ergab sich ganz von selbst, dass sich bestimmte Frauen und Männer innerhalb einer Gemeinschaft sich als besonders geeignet für die spirituelle Zwiesprache mit den Naturgeistern erwiesen. Diesen Schamanen, Medizinmännern oder -frauen, Zauberern oder Hexen, Priesterinnen oder Heilern oder wie immer sie heißen mochten, wurden besondere Aufgaben übertragen und umgekehrt besondere Wertschätzung zuteil. Von ihnen hing schließlich das Leben der Gruppe in einem ganz elementaren Sinn ab. Die Aufgaben dieser Wissenden waren sehr vielfältig und umfassten die Vorhersage der Zukunft, die Abwehr böser Geister, die Abwehr zauberischer Einflüsse anderer Menschen, die Durchführung von Opferriten, die Heilung Kranker und die Beförderung des Jagderfolgs.
Die Ekstase Jede Form des Schamanisierens erforderte einen besonderen Bewusstseinszustand, die Ekstase. Das Wort bedeutet „außer sich sein“ und beschreibt recht gut den Kern dieses psychischen Phänomens, nämlich das Heraustreten aus der „normalen“ Welt und den Übertritt in eine andere, sonst nicht zugängliche Sphäre der Existenz. Der Historiker Peter Dinzelbacher beschreibt Ekstase als das „Heraustreten der Seele aus dem Körper bei gleichzeitiger Suspendierung der Sinneswahrnehmungen“ und im weiteren Sinne um einen „rauschartigen Erregungszustand mit gemindertem Bewusstsein“.10Während der Ekstase erscheint dieser andere Bereich dem Betroffenen nicht nur als völlig real, sondern als die einzige Realität. Auch rückblickend pflegen Ekstatiker das in der Ekstase Erlebte für bedeutender, wertvoller und wirklicher als die Alltagswelt zu halten. Die Ekstase
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unempfindlich gegenüber Feuer zu sein, ferner ihre Fähigkeit, sich in ein Tier zu verwandeln und schließlich ihre Fähigkeit zum temporären Tod.“ Ebd. Übersetzung durch C. P:, „Die kulturübergreifende Existenz des Schamanismus in Jäger- und Sammlerkulturen […] unterstützt die Hypothese einer universellen Verbreitung des Schamanismus, verbunden mit der Annahme, dass Schamanen in allen Regionen der Erde existierten als dort Jägerund Sammlerkulturen bestanden.“ Peter Dinzelbacher, Stichwort „Ekstase“, in: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. Berlin/New York 2005, S. 341.
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ist eine Form der Trance, und ist durch eine intensive Konzentration bei gleichzeitiger, sehr tiefer Entspannung und der Ausschaltung des logisch-reflektierenden Verstandes gekennzeichnet. Extreme Bewegungsäußerungen wechseln dabei mit Phasen völliger Erstarrung. Auch das normale Sprachvermögen ändert sich und kann unzusammenhängend, wirr oder unverständlich werden. Physiologisch betrachtet dominiert dabei das parasympathische Nervensystem das sympathische. Der Körper entspannt sich und kommt zur Ruhe. Dabei kommt es zu charakteristischen Änderungen des für den Wachzustand üblichen EEG-Musters (Elektro-Enzephalogramm, d. i. eine Aufzeichnung von Hirnstromkurven). Am Frontalcortex treten dabei langsame, synchrone Wellen hoher Amplitude auf, die in den tieferliegenden Strukturen des Hypothalamus und Hippocampus entstehen. Diese synchronen Wellen niedriger Frequenz (sog. Delta/Theta-Wellen) unterscheiden sich charakteristisch von den für den Wachzustand normalerweise kennzeichnenden asynchronen Mustern hoher Frequenz und ähneln stark den im Traumschlaf (REM-Phase) auftretenden Wellen. Ein solcher „Altered State of Conscience“ (ASC) ist demnach physiologisch klar definiert und kann auf verschiedenen Wegen erreicht werden. Dazu gehört beispielsweise gleichförmige rhythmische Musik insbes. Trommeln, Rasseln oder Händeklatschen, verbunden mit Tanzbewegungen (auch moderne Disco-Musik), Meditation, strenges Fasten, soziale Isolation, sensorische Deprivation, auch große körperliche Anstrengungen wie bei Marathonläufen. Dabei kommt es zur Ausschüttung körpereigener Opiate (Endorphine), die zu Halluzinationen bzw. Visionen führen können: Der Mensch gerät „außer sich“, das Gefühl der Einheit von Körper und Seele wird schwächer oder ist ganz aufgehoben. Einen analogen Effekt bewirken auch chemische Substanzen, die Halluzinogene. Die traditionellen Halluzinogene stammen sämtlich aus Pflanzen (heute gibt es auch vollsynthetische Substanzen, was aber hier außer Betracht bleibt) und greifen, ebenso wie die Endorphine, in den Neurotransmitterstoffwechsel (Neurotransmitter sind sog. Hirnbotenstoffe, die für das Funktionieren unseres Denkorgans von zentraler Bedeutung sind) insbesondere des Serotonins ein. Indem sie die Serotoninaufnahme ganz oder teilweise blockieren erzeugen sie die beschriebenen Hirnwellenmuster und unterschiedliche Halluzinationen. Man kann allgemein sagen, dass eine Ekstase bzw. ein ASC ein durch verschiedene Mittel psychophysischer Beeinflussung herbeigeführter Zustand ist, bei dem die Ausschüttung von Endorphinen die oben beschriebenen Änderungen der Hirnstromwellenmuster hervorruft. Aus der Sicht des Ekstatikers passiert dagegen etwas ganz anderes, sehr Fundamentales. Es kommt nämlich zu einer Trennung von Körper und Seele. Anders als im Tod kehrt die Seele jedoch nach einer gewissen Zeit wieder in den Körper zurück. Solange die Seele aber auf ihrer Jenseitsreise ist und damit selbst ein Teil der Geisterwelt wird, ist der Beschwörende extrem gefährdet, weil ein anderer Geist oder eine fremde Seele in seinen Körper eindringen könnte. In den ekstatischen Zustand gelangt man durch Konzentration und Autosuggestion, induziert etwa durch Musik, Tanz und Gesang oder mit Hilfe geeigneter halluzinogener Drogen. 20
Schamanische Kleidung und Requisiten
Abb. I.2: Schamanenkostüm der sibirischen Ewenken. Quelle: Musée du quai Branly, Paris, France. Das Kostüm ist aus Rentierfell gemacht, dem heiligen Tier der Ewenken. Eine einheitliche Schamanentracht gibt es nicht. Allerdings treten Bänder, Metallstücke und Vogelfedern häufig auf. Das Metall hat einen apotropäischen (dämonenabwehrenden) Sinn und steht vermutlich in einem Zusammenhang mit der oben erläuterten Feuermagie der Schmiede. Das wichtigste schamanische Tier ist der Vogel, denn er symbolisiert den Flug des Schamanen. Legt ein Schamane seine Tracht an, verwandelt er sich in sein Leittier. Außerdem ist das Klingen und Rasseln dieser Metallteile beim Schamanentanz von Bedeutung. Masken werden von den Schamanen in Sibirien und Nordasien nur selten getragen. Der eigentliche Sinn der Schamanentracht besteht darin, „dem Schamanen einen neuen, magischen Körper in Tiergestalt zu verschaffen“,11 so Mircea Eliade. Als der Holländer Nicolaas Witsen (1641–1717) anno 1692 eine Forschungsreise durch Russland machte, traf er auf einen tungusischen Schamanen, der in ein Hirsch- oder Rentierfell mit Geweih gekleidet war. Eine Zeichnung zeigt den tanzenden „Tiermenschen“ sogar mit Bärentatzen anstelle von Füßen. Er nannte die Illustration „Priester des Teufels“. Ohne es zu wollen, hat damit der Zeichner den Bedeutungskern der Schamanentracht genau wiedergegeben. 11
Mircea Eliade: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, Frankfurt/Main 2001, S. 166.
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Diese Verwandlung ist eine Voraussetzung für die Ekstase und stellt keine Regression ins Animalische dar, sondern ein Über-sich-Hinauswachsen. Die Projektion der Persönlichkeit des Schamanen in ein mythisches Wesen verleiht dem Schamanen (magische) Kraft und verbindet ihn mit dem kosmischen Lebensstrom.12 Die Trommel des Schamanen ist von zentraler Bedeutung.
Abb. I.3: Schamanentrommel Die Darstellung zeigt die „Drei-Welten-Kosmologie“ des Schamanismus. Der Weltenbaum steht in der Mitte der Welt und verbindet Unterwelt, irdische Welt und Himmel miteinander. Sie ist aus dem Holz des Weltenbaums und wurde ihm bei seiner spirituellen Initiation verliehen. Durch die Trommel entsteht die magische Verbindung zu dem „Türöffner“ Weltenbaum. Ferner ist die Trommel auch als Musikinstrument zur Erlangung der Ekstase unverzichtbar. Der konkrete Baum, aus dem die Trommel gefertigt wird und der symbolisch den Weltenbaum vertritt, wird entweder durch Umherwandern mit geschlossenen Augen im Wald gefunden oder dem Schamanen wird ein bestimmter Baum von den Geistern gezeigt. Teilweise wird der Baum 12
Ebd., S. 428.
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mit Opfergaben versöhnt. Die Trommel ist meist oval und mit der Haut von Rentier, Elch oder Pferd bespannt. Bei einzelnen sibirischen Stämmen ist die Trommel ohne Bilder, ansonsten jedoch stets mit wichtigen Schamanensymbolen wie Weltenbaum, Sonne und Mond, Regenbogen (als Brücke zur Jenseitswelt), Opfertieren, Geisthelfern etc. bemalt.13 Die Trommel wird so zum Mikrokosmos, der die Welt symbolisch enthält.
Der erste Schamane Die Mythen der sibirischen Burjaten erzählen von der Geburt des ersten Schamanen: Am Anfang waren Götter im Westen und böse Geister im Osten. Die Götter schufen die Menschen, die weder Krankheiten kannten noch Tod. Doch durch das Werk der bösen Geister kamen Unglück und Krankheit über die Menschen. Die Götter im Himmel sahen das Leid und sandten einen Adler zur Erde, und er half und schützte. So war der Adler der erste Schamane. Die Leute aber verstanden die Sendung des Sonnenvogels nicht, sie verstanden weder seine Sprache noch sein Verhalten. Daher musste der Adler ins Himmelreich zurückkehren. Als er zur Wohnung der Götter heimgekehrt war, hieß man ihn, abermals zur Erde zu fliegen und seine Schamanenkraft dem ersten Menschen zu verleihen, dem er begegnen würde. Der Adler machte sich also auf den Rückweg zur Mittleren Welt. Als er an einen Wald kam, sah er unter einem Baum eine schlafende Frau, die ihren Mann verlassen hatte und ganz allein war. Der Adler gab sich ihr und sie wurde schwanger. Dann kehrte sie zu ihrem Mann zurück und gebar einen Sohn. Das war der erste menschliche Schamane.14
Der Schamane (hier wird in der Regel von dem Schamanen gesprochen, die ebenfalls vorkommenden weiblichen Schamanen sind miteingeschlossen) wurde also den Menschen von guten Göttern als Schutz und Hilfe vor dem Einfluss böser, dämonischer Mächte gesandt. Diese Geschichte zeigt deutlich die hohe Wertschätzung, die die Schamanen genossen und deren innige Verbindung mit der Jenseitswelt. Der Kosmos der schamanistischen Kultur ist dreigeteilt in eine Unterwelt der Dämonen und der Toten, die sichtbare Welt der Natur und der Lebenden und die Himmelswelt der guten Götter und des Lichtes. Die meist als von jeher vorhanden gedachte Schöpfung ist allbelebt und allbeseelt, sämtliche Lebewesen besitzen eine eigene Identität, ebenso wie die unbelebte Materie, 13 14
Siehe Abb. 40, Hoppál 1994. Halifax, S. 23.
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besonders die Ritualobjekte. Kosmos verfügt als Ganzes wie in seinen Teilen über Willen, Bewusstsein und Empfinden. Alle Bereiche dieses Kosmos sind aufeinander bezogen und beeinflussen sich gegenseitig – sie sind so etwas wie Spiegelungen eines Ganzen. Daher existiert auch keine Grenze zwischen Natürlich und Übernatürlich. Alles Erfahrbare ist lediglich ein Aspekt jenes Ganzen. Dies ist die Wunderbare Welt. Der Schamane ist besonders gut gerüstet, sich in dieser kosmischen Gesamtheit zu bewegen, in die gleichwohl jedes Mitglied der Gemeinschaft mit einbezogen ist. Er wird zum Botschafter und Vermittler zwischen der Menschenwelt und den Bereichen der Ober- und der Unterwelt. Wie sehr das Wirken des Schamanen in das tägliche Leben eingreift, erhellt aus den Erklärungen, die ein Inuit vom Stamm der Iglulik dem selbst aus Grönland stammenden dänischen Polarforscher und Völkerkundler Knud Rasmussen (1879–1933) hinsichtlich der Ernährung gab:
Abb. I.4: Knud Rasmussen (undatierte Photographie, ca. 1900) Die größte Lebensgefahr droht aus der Tatsache, dass die menschliche Nahrung ausschließlich aus Seelen besteht. All die Lebewesen, die wir töten und essen müssen, all die, die wir erschlagen und vernichten müssen um Kleidung herzustellen, haben Seelen, Seelen, die nicht mit dem Körper erlöschen, die daher versöhnt werden müssen, damit sie sich nicht an uns dafür rächen, dass wir ihre Körper fortnehmen.15
Der Schamane versöhnt also die Seelen der toten Tiere und sichert dadurch (und durch andere Handlungen) auch den künftigen Jagderfolg und die Sicherheit der Gemeinschaft vor den Einflüssen feindlicher Geistwesen. Eine weitere für das seelische Wohlergehen der Gruppe wichtige 15
Halifax, S. 6.
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Aufgabe ist die des „Seelenführers“. In dieser Funktion ähnelt der Schamane in gewisser Weise einem modernen Priester, einem „Seelsorger“.16 Er führt die Seelen der Kranken wieder in die Mittlere Welt der Menschen, indem er sie der Kontrolle durch die Krankheitsdämonen entreißt und er geleitet die Seelen der Verstorbenen auf ihrer Jenseitsreise. Diese Reise unternehmen die gewöhnlichen Sterblichen nur einmal, nach ihrem Tod. Der Schamane hingegen erlebt sie bei jeder seiner Ekstasen, die ja Seelenreisen und „temporäre Tode“ sind.
Berufung und Initiation Der Entschluss, Schamane zu werden, erfolgt normalerweise nicht aus freien Stücken. In einigen Fällen wird das Amt vererbt, meist jedoch durch Berufung erworben. Die Berufung trägt den Charakter einer schweren inneren Krise, die durch Krankheit, soziale Isolation oder eine psychische Störung ausgelöst wird. Einer Berufung ist man ausgesetzt, man kann sie nicht anstreben, aber auch nicht ablehnen. Der Betroffene hört auf, ein gewöhnliches Gruppenmitglied zu sein und erlebt einen Wandlungsprozess, den man Initiation (Einführung) nennt. Am Ende dieses Prozesses, der durchaus monatelang dauern kann, steht eine Initiationszeremonie, die aber lediglich den innerlich schon im Besitz der magischen Schamanenkraft befindlichen Kandidaten auch „offiziell“ in sein Amt einführt. Man hat also zu unterscheiden zwischen der „inneren“ oder spirituellen Initiation, die mit der Krise der Berufung einhergeht und die erste Seelenreise des Schamanen darstellt und der „äußeren“ oder rituellen Initiation am Ende seiner Einweihung und Ausbildung. Über die tatsächliche Anerkennung eines Schamanen durch die Gemeinschaft entscheidet aber die Praxis, in der sich der neue Schamane erst bewähren muss. Im Falle der erblichen Amtsnachfolge wird die Berufung sozusagen als genetisch gegeben erachtet und ist nicht mit einer Krise verbunden. Die Initiation erfolgt nach entsprechender Einweihung durch den oder die tätigen Schamanen. Sollte ein Schamane allerdings erkennen, dass von seinen Kindern keines die innere Begabung für dieses Amt besitzt, kann er auch unter den übrigen Mitgliedern seiner Gemeinschaft nach einem geeigneten Nachfolger suchen. Die Erwählung eines Schamanen durch Berufung und Krise ist mit ziemlicher Sicherheit die ursprüngliche und auch hinsichtlich ihrer emotionalen Überzeugungskraft stärkere Form der Amtsannahme. Ein samojedischer Schamane gab dem russischen Völkerkundler Andreï Aleksandrovitch Popov (1902–1960) zu Beginn der 1930er Jahre eine ausführliche Schilderung seiner Berufung und spirituellen Initiation:
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Ebd.
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[Der Schamane] bekam die Pocken und war drei Tage bewusstlos, fast tot, so dass man ihn beinahe begraben hätte. Während dieser Zeit fand seine Initiation statt. Er erinnerte sich, dass er mitten auf einen See getragen wurde. Dort hörte er die Stimme der Krankheit zu ihm sprechen: ‚Du erhältst von den Herren des Wassers die Gabe zu schamanisieren. Dein Schamanenname ist huottarie (Taucher)‘. Darauf wühlte die Krankheit das Wasser des Sees auf. Er stieg aus dem Wasser und kletterte einen Berg hinan. Dort begegnete er einer nackten Frau und begann, ihre Brust zu saugen. Die Frau, wahrscheinlich die Herrin des Wassers, sagte zu ihm: ‚Du bist mein Kind, darum lasse ich dich meine Brust saugen. Du wirst vielen Schwierigkeiten begegnen und es sehr schwer haben‘ Der Gatte der Herrin des Wassers, der Herr der Unterwelt, gab ihm nun zwei Führer, ein Hermelin und eine Maus, die ihn in die Unterwelt führten. Als sie auf einem hochgelegenen Ort angekommen waren, zeigten seine Führer ihm sieben Zelte mit zerrissenen Dächern. Er trat in das erste und traf dort die Bewohner der Unterwelt und die Männer der Großen Krankheit (der Pocken). Diese rissen ihm das Herz heraus und warfen es in einen Kochtopf. In den anderen Zelten lernte er den Herrn des Wahnsinns kennen und die Herren aller Nervenkrankheiten, auch diejenigen der bösen Schamanen. Auf diese Weise lernte er die verschiedenen Krankheiten, welche die Menschen quälen [kennen und heilen]. […] Von dort wurde er zu den Ufern der Neun Seen getragen. In der Mitte eines dieser Seen fand er eine Insel, und in der Mitte der Insel erhob sich eine junge Birke bis zum Himmel. Das war der Baum des Herrn der Erde [der Weltenbaum]. In seiner Nähe wuchsen neun Kräuter, die Ahnen von allen Pflanzen der Erde. […] Als er sich vom Ufer entfernte, rief ihm der Herr des Baumes zu: ‚Mein Ast ist eben heruntergefallen, nimm ihn und mach dir daraus eine Trommel, sie soll dir dein Leben lang dienen. […] Der Kandidat drückte den Ast an sich und wollte eben seinen Flug wieder aufnehmen, als er von neuem eine menschliche Stimme hörte, die ihm die medizinischen Kräfte der neun Pflanzen kundtat und Anweisungen für die Kunst des Schamanisierens gab. Doch müsse er drei Frauen heiraten (was er übrigens auch tat; er heiratete drei Waisen, die er von den Pocken geheilt hatte). Darauf kam er an einen unendlich großen See und fand dort Bäume und sieben Steine. Diese Steine sprachen der Reihe nach mit ihm. Der erste hatte Zähne wie ein Bär und eine Höhlung in Form eines Korbes und eröffnete ihm, dass er der Stein der Erdpressung sei; er beschwere mit seinem Gewicht die Felder, damit sie nicht vom Wind davongetragen würden. Der zweite diente zu Schmelzen des Eisens. Er blieb sieben Tage bei diesen Steinen und lernte so, wozu sie den Menschen dienen konnten. […] Nun kommt der Kandidat in eine Wüste und sieht in weiter Ferne ein Gebirge. Nach dreitägigem Marsch ist er dort angelangt, dringt in eine Öffnung [eine Höhle] ein und begegnet einem nackten Mann, der mit einem Blasebalg arbeitet. Über dem Feuer befindet sich ein Kessel ‚so groß wie die halbe Erde‘. Der Nackte erblickt den Novizen und ergreift ihn mit einer riesigen Zange; der
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kann gerade noch denken: ‚Ich bin tot!‘ Der Mann schneidet ihm den Kopf ab, teilt seinen Körper in kleine Stücke, wirft alles in den Kessel und kocht den Körper darin drei Jahre lang. Dort waren auch drei Ambosse und der Nackte schmiedete seinen Kopf auf dem dritten, wo die besten Schamanen geschmiedet wurden. Dann warf er den Kopf in einen von den drei Töpfen, die dort standen, in dem das Wasser am kältesten war. Bei dieser Gelegenheit entdeckte er ihm folgendes: Wenn er zu jemandem gerufen werde um ihn zu heilen und das Wasser sei sehr heiß, dann sei es nutzlos zu schamanisieren, denn der Mensch sei schon verloren; bei lauwarmem Wasser sei er krank, werde aber gesunden, und das kalte Wasser sei das Kennzeichen für einen gesunden Menschen. Der Schmied fischte nun seine Gebeine auf, die in einem Fluss schwammen, setzte sie zusammen und bedeckte sie mit Fleisch. Er zählte sie und teilte ihm mit, er habe drei Stücke zu viel, er müsse sich also drei Schamanenkostüme verschaffen. Er schmiedete seinen Kopf und zeigte ihm, wie man die Buchstaben darin lesen kann. Er wechselte ihm die Augen aus, deshalb sieht er, wenn er schamanisiert, nicht mit seinen fleischlichen Augen, sondern mit diesen mystischen. Er durchstach ihm die Ohren und setzte ihn damit in den Stand, die Sprache der Pflanzen zu verstehen. Dann fand sich der Kandidat auf dem Gipfel eines Berges und erwachte endlich in seiner Jurte bei den Seinen. Jetzt kann er singen und schamanisieren ohne Ende, ohne jemals müde zu werden.17
Derart ausführliche und authentische Berichte liegen auch aus jüngster Zeit nur wenige vor. Der Bericht weist verschiedene Merkmale auf, die deutliche Bezüge zu Gegenwart haben, so den Stein, der die Eisennutzung lehrt, und mehr noch die Buchstabenerkennung. Insgesamt enthält er aber alle schon den frühesten Initiationen eigentümlichen Erlebnisse. Der Novize leidet an einer gefährlichen Krankheit und ist dem Tode nahe, als er auf seine Seelenreise geht, auf der ihn seine künftigen Geisthelfer (m. E. ein passenderes Wort als Hilfsgeister) begleiten, in diesem Fall ein Hermelin und eine Maus. Häufiger sind diese Geisthelfer aber Vögel, worauf noch einzugehen ist. Er gelangt in die Unterwelt, wo ihn die Krankheitsdämonen töten. (In vielen Berichten erfolgt auch eine Verspeisung des Körpers durch diese Dämonen.) Der künftige Schamane kann dann jene Krankheiten kurieren, deren Dämonen er in der Unterwelt antraf und die ihm zunächst scheinbar feindlich entgegentraten. Er erlernt wichtige Fertigkeiten und verbogenes Wissen über die Kräfte von Pflanzen und Steinen bzw. Metallen. Im Zentrum des Kosmos (der Gesamtheit der drei Welten) erreicht er den alles verbindenden Weltenbaum, aus dessen Holz die Schamanentrommel gefertigt wird. Die neun steht für die dreifache Dreiheit der Welt, die sieben für die vier Mondphasen, die jeweils sieben Tage dauern und (später) auch für die Planeten. Der Weltenbaum hat nicht selten neun oder sieben Stufen, was an die 17
Eliade, S. 48–52.
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biblische Hierarchie der Himmelssphären (siebter Himmel) erinnert. Als Teil des Weltenbaums ist die Trommel ein – nicht nur symbolisch aufgefasstes – Transportmittel des Schamanen bei seinen Reisen in die Ober- und Unterwelt. In der Werkstatt des Schmieds wird der Kandidat erneut getötet und wieder neu zusammengesetzt. Bei dieser Wiedergeburt wird er, mit magischen Fähigkeiten versehen, in „höherer“ Form neu erschaffen. Der Erwachende ist schließlich zum Schamanen geworden. Er braucht keine Angst mehr vor dem Tod zu haben und das befähigt ihn, mit Göttern, Dämonen und Geistern zu verkehren. Am Ende seiner nun erfolgenden Schamanenlehre kann er sich nach Belieben in Ekstase versetzen und seine Verbindung mit den Jenseitswesen aktiv steuern. Zu diesem Zeitpunkt findet eine öffentliche Einweihungszeremonie statt, der umfangreiche Reinigungen und Fastenübungen vorausgehen und in deren Verlauf der neue Schamane auf eine vor seiner Jurte aufgestellte Birke, den „Türhüter“ klettert. Die Bezeichnung rührt daher, dass dieses Symbol des Weltenbaums dem Schamanen den Zugang zur Jenseitssphäre eröffnet. Die Anthropologin Joan Halifax machte, gestützt auf Mircea Eliade, darauf aufmerksam, dass das ursprüngliche Konzept des Weltenbaums in historischer Zeit eine Bedeutungserweiterung erfuhr, die ihn als Quelle der Lebenskraft, einen Baum des Lebens und der Erkenntnis kennzeichnet. Dies ist eine interessante Tatsache im Hinblick auf den Baum der Erkenntnis des Alten Testaments, in dem der Baum zum Ursprung des Todes und der Erbsünde wurde, was man als Umkehrung der schamanischen Deutung des Weltenbaums sehen kann.18
Schmied und Schamane Schmiede spielen in der frühgeschichtlichen Mythologie seit der Beherrschung metallurgischer Prozesse, insbesondere der Bronze- und Eisenerzeugung, eine wichtige Rolle. Ein interessantes Objekt stellt der „Kessel von Gundestrup“ dar. Es handelt sich um einen reich verzierten silbernen Kessel aus der La-Tène-Zeit (5. Jahrhundert v. Chr. bis 1. Jahrhundert v. u. Z.) mit 69 cm Durchmesser und 42 cm Höhe. Er wurde 1891 im Rævemose (Fuchsmoor) gefunden, einem Torfmoor nahe Gundestrup im jütländischen Himmerland in Dänemark. Er befindet sich heute im Dänischen Nationalmuseum in Kopenhagen.
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Halifax, S. 22.
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Abb. I.5: Der Kessel von Gundestrup Der handwerklich hervorragend gestaltete Kessel wurde vermutlich von thrakischen Künstlern im Auftrag eines keltischen Fürsten hergestellt. Die Abbildung zeigt eine der Schmuckplatten des Kessels, auf der im Zentrum die Figur eines sitzenden Mannes zu sehen ist, der auf dem Kopf ein Geweih trägt und in den Händen einen Ring und eine Schlange hält. Dabei kann es sich um den keltischen Gott Cernunnos (der Name ist latinisiert, der eigentliche Name des Gottes ist nicht bekannt) handeln, der für die Natur insgesamt, die Tierwelt und die Fruchtbarkeit stand; nach einer anderen Interpretation ist ein Schamane dargestellt. Dafür spricht neben den Kopfschmuck auch die rituelle Körperhaltung, die auf die Vorbereitung einer „schamanischen Seelenreise“ hinweist. Durch ihre Arbeit, die mittels des Feuers „Steine“ (Erze) in Metalle verwandelte und diesen Metallen auch noch unterschiedliche Eigenschaften verleihen konnte, rückten die Schmiede in den Bereich der Magie. In obiger Geschichte formt der Schmied den Schamanen, was auf eine gewisse Vormachtstellung hinweist. Bei manchen Stämmen (etwa den sibirischen Dolganen) herrscht(e) der Glaube, dass die Schmiede sich der Seele eines Schamanen bemächtigen können, aber nicht umgekehrt. Andererseits sind die Schmiede einer ständigen Bedrohung durch böse Geister ausgesetzt, vor denen sie der Schamane bewahren kann und die der Schmied nur durch unablässiges Schüren seines Schmiedefeuers und den Lärm seiner Arbeitsgeräte bannen kann. Trotz ihrer unheimlichen Macht werden Schmiede nicht nur geachtet bzw. gefürchtet, sondern auch verachtet, abhängig von den jeweiligen Stammestraditionen, die mit dem Stellenwert und der Einschätzung der Metalle selbst zu tun haben. Im Gesamtzusammenhang der schamanistischen Kulturen sind die Schmiede eine relativ junge Erscheinung, da sie erst seit der Kenntnis der Metallerzeugung eine Rolle spielen, die in unterschiedlichen Kulturen zu unterschiedlichen Zeitpunkten einsetzt, während der Schamanismus insgesamt schon wesentlich früher, mindestens in der späten Altsteinzeit, auftritt. 29
Die Schamanen sind noch auf eine andere, viel ältere, Weise mit dem Feuer verbunden. Die Beherrschung des Feuers war eine der wesentlichen technischen Errungenschaften am Beginn der menschlichen Kultur und seine Beherrschung ist nach einer über den Schamanismus hinausreichenden Vorstellungstradition mit magischen Kräften verbunden. Diese Rolle der Magischen Hitze kommt in der Erzählung des Schamanen zum Ausdruck, wenn der Schmied den Kopf des Novizen in einen von drei Töpfen wirft, der kaltes Wasser enthält, das die mit innerer Hitze verbundene religiös-magische Kraft des Schamanen kompensiert und ihn wieder auf die Ebene der Mittleren Welt entlässt. Auch in den Hochreligionen das Hinduismus, des Islam und des Christentums steht die Hitze in Verbindung mit göttlicher Macht (man denke etwa an den brennenden Dornbusch der Bibel, in dem sich Gott offenbarte). Um seine magische Schamanenkraft zu beweisen, unternimmt der Schamane feuerbeherrschende Handlungen, indem er glühendes Eisen berührt oder glühende Kohlen schluckt. Umgekehrt kann der Schamane durch seine innere Hitze auch große Kälte ertragen. Dieser Gedanke zeigt sich u. a. bei der Praxis tibetischer Lama-Eremiten, die in ungeheizten Höhlen ohne ausreichende Bekleidung oder Decken auch strenge Frostperioden erdulden. Dem schon genannten Knud Rasmussen sagte ein grönländischer Schamane: Jeder wirkliche Geisterbeschwörer muss ein Leuchten in seinem Köper fühlen, im Inneren seines Kopfes oder seines Gehirns, etwas, das wie Feuer leuchtet, das ihm die Kraft gibt, mit geschlossenen Augen in die Dunkelheit, in die verborgenen Dinge oder in die Zukunft zu sehen, oder auch in die Geheimnisse anderer Menschen. Ich fühlte, dass ich Besitzer dieser wunderbaren Fähigkeit war.19
Der Schamane ist also sowohl erhitzt wie erleuchtet und es gibt Abbildungen von Schamanen, in denen diese einen Strahlenkranz um Haupt und Glieder tragen.20 Nach dem eben Gesagten dürfte es nicht allzu abwegig erscheinen, den Heiligenschein christlicher und anderer Götter oder Heiliger damit in Beziehung zu setzen. Der Schamane beherrscht zwar seine Geisthelfer und viele Dämonen, aber er beherrscht nicht sämtliche Geister und gar nicht die Götter. Auch im Schamanismus herrscht der Glaube, dass dies am Beginn der Zeiten anders gewesen sei. In jener Zeit wären die Schamanen den Göttern an Macht gleichgekommen, aber sie hätten sich hochmütig erzeigt, weshalb ihre Macht beschnitten worden sei. Der Ur-Schamane erinnert hier an Luzifer, allerdings erwiesen sich seine Götter den Schamanen gnädiger als Jahwe den gefallenen Engeln.21
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Halifax, S. 26. Z. B. Halifax, S. 25. Halifax, S. 26.
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Der Flug des Schamanen Die Seelenreisen des Schamanen werden als magischer Flug erlebt und dargestellt. Dabei erreicht der Schamane kosmische Bereiche, die „normalen“ Menschen unzugänglich sind. Es kommt dabei zu einer Trennung von Körper und Seele, die aber im Gegensatz zum Tod des Menschen reversibel ist. Der schamanische Flug erhält dadurch den Charakter eines temporären Todes. Üblicherweise wurde der Flug als Seelenreise aufgefasst, doch es existieren auch humorige Schilderungen körperlich fliegender Schamanen. So erzählte ein Schamane der Inuit Knud Rasmussen folgende Geschichte: Mein Großvater stammte aus dem Netsilik-Land. Seine magischen Flüge liebte er besonders. Einmal, als er draußen war, traf er einen anderen großen Schamanen […] namens Muraoq, der sich auch gerade auf einem magischen Flug befand, Sie begegneten einander weit draußen auf dem Packeis, ungefähr in der Mitte zwischen ihren beiden Dörfern. Als sie sich trafen, breitete Muraoq seine Arme aus wie ein Vogel die Schwingen im Gleitflug, doch er war unvorsichtig dabei und kam Titqatsaq [dem Großvater des Erzählers] so nah, dass sie in der Luft zusammenstießen. Die beiden prallten derart heftig aufeinander, dass Titqatsaq auf das Eis niederfiel. Dort lag er, ohne sich rühren zu können, bis Muraoq sich umwandte und seinem Hilfsgeist gebot, ihn wieder aufzurichten. Kaum war Titqatsaq wieder in der Luft, als er das Kompliment auch schon zurückgab und Muraoq anstieß, so dass nun dieser aufs Eis fiel. Zuerst wollte er ihn dort liegenlassen […] aber dann […] hatte er Mitleid, flog zurück und half ihm auf die gleiche Weise, wie ihm vorher geholfen worden war. Als sie heimkamen erzählten sie den Leuten in ihren Dörfern alles, was geschehen war. 22
I.2 Spurensuche – ein Blick zurück Altnordisches Zum Schluss dieser Betrachtung des Schamanismus und seiner Weltsicht möchte ich noch einen Blick zurück werfen auf die Art und Weise, in der frühere Europäer die Schamanen wahrnahmen. Die früheste hier verfolgbare Spur sind die Mythen unserer germanischen und keltischen Vorfahren und die Mythenwelt der Griechen. 22
Eliade, S. 443.
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Einer der höchsten Götter der Germanen war Odin, auch W(u)otan genannt, der einige „schamanische“ Wesenszüge aufweist.23 Er wurde als Kriegsgott verehrt, aber auch als Erfinder der Runen und der Wissenschaften. Er bestimmte die Art der Opferrituale und wusste um die Geheimnisse der Götterwelt. Der Isländer Snorri Sturluson (1179–1241) beschrieb Odin als klugen menschlichen Zauberer, der mit der Zeit zu göttlicher Würde gelangte. Die Verwandtschaft zwischen Zauberer und Schamane ist evident. So soll er sein Wissen um die Runen erworben haben, indem er sich neun Tage und neun Nächte im Weltenbaum Yggdrasil aufhängte. Die symbolische Hängung ist im Zusammenhang mit germanischen Initiationsriten gut belegt. Odins Pferd Sleipnir besitzt acht Beine und trägt seinen Herren in die Unterwelt, entspricht also einem schamanischen Reittier (auch dort kommen achtbeinige Pferde vor).
Abb. I.6: Odin reitet auf seinem achtbeinigen Pferd Sleipnir. Die Darstellung auf dem Bilderstein von Tjängvide weist keinerlei Spuren christlichen Einflusses auf und stammt aus der Zeit der Wikinger, vom Beginn des 9. bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts. 23
Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie, 3. Auflage, Stuttgart 2006, S. 310 ff.
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Auch war Odin in der Lage, seine Gestalt zu wechseln, ein Analogon zur schamanischen Tierverwandlung während der Ekstase. Dazu schrieb Snorri Sturloson: Sein [Odins] Körper lag wie schlafend oder tot da, er selbst aber war ein Vogel oder ein wildes Tier, ein Fisch oder eine Schlange. Er konnte in diesem Augenblick in ferne Länder fahren.24
Auch die Raben Odins, Hugin (Gedanke) und Mumin (Gedächtnis) könnten als Geisthelfer gedeutet werden. Auf seinen Reisen in die Unterwelt tritt Odin in Verbindung mit den Seelen Toter, die ihm Fragen beantworten, auch dies gehört zum schamanischen Gedankenkreis. Im Volksglauben hat sich bis in die Neuzeit die Vorstellung erhalten, dass Odin zur Zeit der Herbststürme in der Wilden Jagd (dänisch Odins jagt, schwedisch Odensjakt, altnordisch auch Asgardareid) mitsamt dem Heer der Verstorbenen durch den Himmel bewegt. Als dem Herren der Toten und Stürme kam ihm bei den heidnischen Herbstfesten eine besondere Rolle zu. Im altsächsischen Siedlungs- und Sprachgebiet hält sich vereinzelt bis heute (z. B. in Ostwestfalen) der Brauch, dem alten Gott bei der Ernte Dankopfer darzubringen. Dies kann eine nicht gemähte Ecke des Feldes sein, die stehen gelassen wird, um gleichsam durch das Zurückerstatten eines Teils der Ernte um Segen für das nächste Jahr zu bitten, oder wie bis ins 16. Jahrhundert der Brauch, „Woden“ zu Ehren Bier als Trankopfer auszugießen und Tänze aufzuführen. Nach Snorri Sturloson praktizierte Odin auch die seiðr genannte Form der Magie. Damit konnte er die Zukunft vorhersehen und Tod, Unglück und Krankheit verursachen. Seiðr bezeichnet eine der späten skandinavischen Eisenzeit bzw. dem Frühmittelalter praktizierte Form der Magie, die sich mit der Vorhersage der Zukunft ebenso wie mit deren Beeinflussung befasste. Offenkundig bestehen Zusammenhänge mit dem schamanischen Brauchtum, auch wenn Einzelheiten nicht bekannt sind, was mit der Überformung älterer Vorstellungen durch das Christentum zusammenhängt. Ein anderer Name für die seiðr war vǫlur oder Völva, was wörtlich „eine Frau mit Stab“ bedeutet, was auf den Stab des Schamanen bzw. den Weltenbaum hinweist. Die Völven konnten wie die Schamanen in Ekstase fallen und auch Seelenreisen unternehmen. Diese Form der Magie konnte von beiden Geschlechtern ausgeübt werden, Frauen (, seiðkonur und vísendakona) sind allerdings häufiger bezeugt als Männer (seiðmenn), die damit nämlich ein Tabu brachen. Nach Snorri Sturloson haftet der seiðr eine solche „Schändlichkeit“ an, dass sie „eines Mannes unwürdig“ sei und nur von den gydjur genannten Priesterinnen betrieben werde. Odin habe sie von der Göttin Freyja (oder Frigg, beide unterscheiden sich in der altnordischen Mythologie, werden aber oft gleichgesetzt bzw. verwechselt) erlernt.25 24 25
Zit. nach Eliade, S. 363. Eliade, S. 367; ferner Wiki-Artikel zu seiðr und Völva.
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Griechenland Im antiken Griechenland finden wir zahlreiche und unterschiedliche Ekstase-Traditionen, die sich nicht alle auf den Schamanismus zurückführen lassen. So hat etwa der Dionysos-Kult oder die Bacchus-Verehrung eine deutlich andere Grundstruktur. Dagegen gibt es aus dem mythischen Umfeld Apollons Merkmale des Schamanismus. Nach der griechischen Überlieferung flog Appolon bei Anbruch des Winters in einem von Schwänen gezogenen Wagen in das „Land der Hyperboreer“, d. h. das Land jenseits des Nordwinds. Der Norden ist das Gebiet der Schamanen.
Abb. I.7: Apollo mit einer Kythara. Fresko im „Haus des Augustus“ ca. 20 v. u. Z. heute im Palatin Antiquarium in Rom In Beziehung zu Apoll stehen Aristeas von Prokonnesos und Hermotimus von Klazomene. Beide waren Ekstatiker und konnten ihre Seelenreisen durchführen. Aristeas sagte von sich, er habe Apoll in Gestalt eines Raben (s. o. Odin) begleitet, wie Herodot berichtet. Hermotimus konnte offenbar lange Phasen der Ekstase herbeiführen (die Behauptung von Plinius, er hätte seinen Körper viele Jahre lang verlassen können, ist allerdings unsinnig) und ausgedehnte Jenseitsreisen unternehmen, von denen er „mantische Kunde des Zukünftigen“ mitbrachte. Sein Weib sollte ihn während der Ekstasen bewachen, erzählte aber ihren Nachbarn von den Zuständen
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ihres Gatten, worauf diese ihn während er in Ekstase wie leblos dalag, verbrannten, da sie ihn für tot hielten. Später soll ihm zu Ehren ein Tempel errichtet worden sein, zu dem den Frauen der Zutritt verwehrt war.26 Bei dem sehr wichtigen Orpheus-Kult findet Eliade „mehrere Elemente, die sich mit der schamanischen Ideologie und Technik vergleichen lassen“. Das wichtigste ist natürlich der Abstieg in die Unterwelt, um die Seele seiner Gattin Eurydike zu befreien, wobei es Versionen des Mythos gibt, die nicht mit dem Scheitern des Vorhabens enden. Weiter heißt es: Doch Orpheus zeigt noch andere Züge eines ‚Großen Schamanen‘: seine Heilkunst, seine Liebe zur Musik und zu den Tieren, seine ‚Zaubermittel‘, seine Wahrsagekraft. Und selbst sein Charakter als ‚kulturbringender Heros‘ steht nicht im Widerspruch zur besten schamanischen Tradition: War nicht der ‚erste Schamane‘ von Gott als Bote gesandt, um die Menschheit vor Krankheiten zu schützen und zu zivilisieren?27
In Platos „Staat“ erscheint Er, der Sohn des Armenios aus Pamphilien. Auf dem Schlachtfeld scheinbar tödlich verwundet, bleibt er 12 Tage leblos und kehrt dann von seiner Jenseitsreise zurück, die einer spirituellen Initiationsekstase entspricht. Eliade dazu: Der riesige Abstand, welcher die Ekstase eines Schamanen von Platons Kontemplation trennt, die ganze von Geschichte und Kultur geschaffene Verschiedenheit ändert nichts an der Struktur dieses Ergreifens der letzten Realität: Nur durch die Ekstase gelangt der Mensch zur vollen Realisierung seiner Situation in der Welt und seines endlichen Schicksals. Man könnte fast von einem Archteyp ‚existentiellen Bewusstwerdens‘ [Hervorhebung von mir] sprechen, der in der Ekstase eines primitiven Schamanen oder Mystikers ebenso vorhanden ist wie in dem Erlebnis Ers des Pamphiliers und aller anderen Visionäre der alten Welt, die schon hienieden das Los des Menschen jenseits des Grabes erfahren haben.28
All dies darf nicht dazu verleiten, jede mythische oder mystische Jenseitsreise auf den Schamanismus zurückführen zu wollen. Aber auch wenn man sich vor Überinterpretationen hüten muss, bleibt doch die Tatsache, dass schamanisches Denken sich im Laufe der Höherentwick-
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Eliade, S. 370 f. zitiert nach Erwin Rhode, Psyche: Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, EA 1894 Nachdruck 2015 u. ö. Eliade, S. 372 f. Eliade, S. 375.
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lung archaischer Kulturen nicht spurlos verliert, sondern von bemerkenswertem psychosozialem Beharrungsvermögen ist – eben der von Eliade so genannte „Archetypus existentiellen Bewusstseins“.
Ältere Textzeugnisse Es ist reizvoll und aufschlussreich, auch einen Blick auf die Wahrnehmung der „zauberischen Nordländer“, bei denen sich das vorchristliche Erbe besonders lang erhalten hat, aus der Sicht der früheren Länder- und Völkerkunde zu werfen. Seit 1555 erschien in zahlreichen Auflagen die „Historia de gentibus septentrionalibus“ des Olaus Magnus (deutsche Fassung unter dem Titel „Beschreibung allerley Gelegenheyte Sitten Gebräuchen und Gewohnheyten der Mittnächtigen Völcker“, Straßburg 1567). Olaus Magnus (1490–1557) war katholischer Priester und musste 1524 seine Heimat Schweden verlassen; er lebte fortan in Rom, wurde 1545 Titular-Erzbischof von Uppsala und nahm am Tridentinischen Konzil teil. 1539 legte er die erste detaillierte Karte von Skandinavien vor. Auf Olaus Magnus bezogen sich sowohl die großen Lexika der Aufklärungsepoche wie auch Autoren aus dem Bereich der Hexenliteratur. Zu letzteren zählt der protestantische Theologe und Prediger Balthasar Bekker (1634–98), der 1693 eine umfangreiche Untersuchung über „Die Bezauberte Welt: oder Eine gründliche Untersuchung des allgemeinen Aberglaubens /Betreffend /die Art und das Vermögen /Gewalt und Wirkung Des Satans und der bösen Geister über den Menschen“ veröffentlichte, in der er sich sehr kritisch mit der Praxis der Hexenverfolgung auseinandersetze. Bekker war protestantischer Theologe und wurde wegen seiner Ansichten, wonach es weder einen Teufelspakt oder Gespenster gebe und der Teufel auch nicht die Macht habe, Besitz von einem Menschen zu ergreifen, massiv bekämpft.
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Abb. I.8: Balthasar Bekker in einem Kupferstich aus dem Jahr 1690. Er stellte die Glaubensvorstellungen und die magischen Rituale der Lappländer dar, wie man sie damals zu kennen glaubte. Der König von Schweden habe die Zauberei unter schwere Strafe gestellt, „nichts desto weniger ist derer noch eine grosse Zahl /die sich darinnen üben und daran halten […] weil die Lappländer sämptlich sich einbilden / daß die Zauberey ihnen unvermeidentlich nöthig sey / die listigen Nachstellungen und Plagen ihrer Feinde zu vermeiden.“ Die Zauberkunst werde den Kindern in Schulen gelehrt und die „bösen Geister“ sogar von den Eltern an die Kinder vererbt (Hinweis auf erbliches Schamanentum). Bekker erläutert dann die Aufgaben und Methoden der bei ihm „Zauberer“ genannten Schamanen: Ihre Künste […] sind entweder durch Wahrsagerey etwas zu wissen / oder durch Zauberey etwas zu thun: Das erste wird durch ein Ding / das sie Kannus heißen / und einer Trommel gleichet /ins Werck gestellet; dieses muß von einem gewissen Holtz /und wohl meist von Bircken gemacht seyn. Das darüber gespannte Fell ist vielfältig mit Characteren [Bildzeichen] bemahlet /mit einer Farbe /die aus Erlenholtz bereitet wird; Nachdem man mit einem Hammer /eines Fingers lang /darauff geklopffet /gibt man acht auff ein Bund blecherne Ringe die drauff gelegt sind /das entweder nach der rechten oder lincken Seite springet. Das erste bedeutet Glück /das andere drauet [droht] Unglück. […] Der Zauberer fället nach gerührter Trommel in Ohnmacht / und liegt vor todt unbeweglich auff der
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Erde / kurtz oder lange / je nach dem der weit von dannen ist / nach welchem gefraget wird: Wenn er wieder auffstehet /sagt er denn /was man glaubet also zu seyn [was man glaubt, das sein wird].29
Immerhin waren Bekker einige wichtige Charakteristika des Schamanismus bekannt und er teilte sein Wissen recht vorurteilsfrei mit, denn er spricht nicht von einem Teufelspakt. Seine Erkenntnisse entnahm Bekker den Schriften von Johann Scheffer (1621–79), einem aus Straßburg stammendem Altphilologen und Philosophen, der 1648 eine Professur an der Universität von Uppsala übernahm. Bahnbrechend war Scheffers „Lapponia“, eine der frühesten und wichtigsten Beschreibungen Lapplands und der samischen Völker (lateinisch 1673 in Frankfurt/Main, deutsch ebd. 1675). Hier findet sich eine Illustration, auf die Bekker in seiner oben zitierten Beschreibung des Schamismus der Lappen (Sami) anspielt: Vor einem Zelt stehen mehrere Personen um eine mit dem Gesicht nach unten auf der Erde liegenden Schamanen, auf dessen Rücken seine Trommel liegt. Der Schamane befindet sich gerade auf einer „Seelenreise“.
Abb. I.9: Ein Schamane auf seiner „Seelenreise“, bedeckt mit seiner Trommel. Kupferstich aus Johann Scheffer, Lapponia: id est, regionis Lapponum et gentis nova et verissima descriptio, 1673. 29
Balthasar Bekker: Die bezauberte Welt, oder: Eine gründliche Untersuchung des Allgemeinen Aberglaubens etc., Amsterdam 1693, S. 25 f.
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Auf Scheffers Angaben beruht auch der Artikel zu Lappland in Jacob Christoff Iselins „Neu-vermehrtem Historisch- und Geographischem Allgemeinem Lexicon“ das 1728/29 in vier wuchtigen Foliobänden erschien. Ergänzend zu Bekker vermerkt Iselin noch: Sie [die Lappen] geben vor [behaupten], daß sie hierdurch alles wissen können, was in andern ländern vorgeht, desgleichen den guten oder übeln fortgang ihrer geschäfften, und insonderheit ihrer jagd, womit sie ihre meiste zeit hinbringen. Nebst dem rühmen sie sich auch, dass sie hierdurch kranckheiten curiren können.30
Eines der größten Lexika der Aufklärungszeit überhaupt war das „Universallexikon Aller Wissenschaften und Künste“ von Johann Heinrich Zedler. Der 16. Band erschien 1737 und enthält ein außerordentlich umfangreiches Stichwort zu Lappland (32 Seiten in Folio). Anders als Bekker ist Zedler der Ansicht, bei den lappländischen Schamanen (auch hier heißen sie Zauberer) müsse es sich um Teufelsbündler handeln. Sehr interessant ist seine Beschreibung der Berufung eines Schamanen. Bei aller zeitbedingten Verzerrung der tatsächlichen Vorgänge und ihres Sinnzusammenhangs, ist doch die schamanische Ekstase, in der dem Novizen das geheime Wissen seines künftigen Standes verliehen wird, erkennbar. Diese Teufel [gemeint sind die Geister und Krankheitsdämonen der Initiationskrise] überkommen einige durch viele Mühe und bitten, bey andern aber finden sie sich freywillig und gleich in der Jugend ein. [Wenn der Teufel erkenne, dass Jugendliche] zu seinem Vorhaben dienlich seyn mögen, [dann belege er sie mit einer Krankheit] darinnen er ihnen vielerley Gesichter [Visionen] und Bildnisse vorstellet, daraus sie nach Beschaffenheit ihres Alters dasjenige, so zu dieser Kunst [der Zauberei bzw. dem Schamanismus] gehöret, erlernen. Bis Weilen würden [werden] sie zum andern Mahle kranck, da sie denn aus denen ihnen vorkommenden Gesichtern noch mehr begrieffen. Geschähe dieses zum dritten Mahle, ginge es so gefährlich zu, daß sie sich auch des Lebens dabey erwögen [in Lebensgefahr geraten] und alsdenn erschienen ihnen solche Bilder, daraus sie vollends die Zauber-Kunst vollkommen erlernten.31
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Jacob Christoff Iselin: Neu Vermehrtes Historisch- und Geographisches Allgemeines Lexikon etc., 4 Bde., Basel 1728/29, hier Bd. III, 1729, S. 92 f. Johann Heinrich Zedler: Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, 64 Bde., Halle und Leipzig 1731–1754, hier Bd. 16, 1737, Sp. 785.
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Frühe Forscher Das 18. Jahrhundert legte die geistigen Fundamente, auf denen sich der Typus des modernen Forschungsreisenden entwickeln konnte, der sich im 19. Jahrhundert zu voller Blüte entwickelte. Ihrem Selbstverständnis nach frei von Vorurteilen und religiösen Dogmen machten sich wagemutige Männer (einzelne Frauen wie Prinzessin Therese von Bayern waren große und rühmliche Ausnahmen) auf in die Dschungel und Wüsten, um die Welt und die Kulturen ihrer exotischeren Bewohner frei von kaufmännischen, missionarischen oder militärischen Absichten zu ergründen. Dabei kamen durchaus wichtige Erkenntnisse zutage, die schon deshalb von Bedeutung sind, weil viele der damals erforschten Kulturen heute erloschen sind. Dass es mit der tatsächlichen Vorurteilslosigkeit der Forschenden nicht immer sehr weit her war, ist nicht überraschend – auch sie waren Kinder einer Zeit, die vom Fortschrittsglauben und der alles überragenden Bedeutung europäischen Geistes überzeugt war. Einer dieser Forschenden war Alfred Lehmann (1858–1921). 1886 etablierte er an der Universität Kopenhagen das erste dänische Experimentallabor für Psychologie, das „psychophysische Laboratorium“. 1890 wurde er Dozent, 1910 außerordentlicher und 1919 ordentlicher Professor. 1898 legte er seine Studie, „Aberglaube und Zauberei von den ältesten Zeiten bis in die Gegenwart“ vor. Diesem in mehrfacher Hinsicht interessanten Werk eines Mannes, der selbst zwischen Materialismus und Spiritismus schwankte, verdanken wir die Beschreibung einer Schamanen-Trance, wie sie ein namentlich nicht genannten Forscher im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in Sibirien erlebte: In der Mitte der Jurta (der Hütte der Tungusen) flackerte ein helles Feuer, um welches ein Kreis von schwarzen Schaffellen ausgelegt war. Auf diesem ging in abgemessenen, taktmäßigen Schritten langsam ein Schamane umher, indem er halblaut seine Beschwörungsformeln hersagte. Sein langes, schwarzes und struppiges Haar bedeckte fast das ganze aufgedunsene, dunkelrote Gesicht; zwischen diesem Schleier blitzten unter den borstigen Augenbrauen ein Paar glühende, blutunterlaufene Augen hervor. Seine Kleidung, ein langer Talar aus Tierfellen, war von oben bis unten mit Riemen, Amuletten, Ketten, Schellen, Stückchen Eisen und Kupfer behängt; in der rechten Hand hatte er seine gleichfalls mit Schellen verzierte Zaubertrommel in Form eines Tamburins und in der linken einen Bogen [der Bogen bildet wie der Stab, der symbolische Weltenbaum, ebenfalls eine Brücke in Jenseits und steht in Beziehung zum Regenbogen]. Sein Anblick war fürchterlich wild und grausenerregend. Die Versammlung saß schweigend und in der gespanntesten Aufmerksamkeit. Allmählich erlosch die Flamme in der Mitte der Jurta, nur die Kohlen glühten noch und verbreiteten ein mystisches Halbdunkel in derselben. Der Schamane warf sich zur Erde nieder, und nachdem er ungefähr 5 Minuten unbeweglich dagelegen hatte, brach
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er in ein klägliches Stöhnen, in eine Art dumpfen oder unterdrückten Geschreies aus, welches klang, als rührte es von verschiedenen Stimmen her. Nach einer Weile ward das Feuer wieder angefacht, es loderte hoch empor. Der Schamane sprang auf, stellte seinen Bogen auf die Erde, und indem er ihn mit der Hand hielt und die Stirn auf das Oberende desselben stützte, fing er an – zuerst langsam, dann allmählich immer rascher – im Kreise um den Bogen herumzulaufen. Nachdem dies Drehen solange gedauert hatte, daß mir vom bloßen Zusehen der Kopf wirbelte, blieb er plötzlich ohne irgendein Anzeichen von Schwindel stehen und begann mit den Händen allerlei Figuren in die Luft zu machen. Dann ergriff er in einer Art von Begeisterung [Ekstase] seine Trommel, die er, wie es mir schien, nach einer gewissen Melodie rührte, worauf er bald rascher, bald langsamer umhersprang, wähend sein ganzer Körper auf die seltsamste Weise unbgegreiflich schnell hin und her zuckte. Während aller dieser Operationen hatte der Schamane einige Pfeifen des schärffsten tscherkessischen Tabaks mit einer gewissen Gier geraucht und zwischen jeder einen Schluck Branntwein getrunken. Dies und die Drehoperation mußten ihn doch endlich schwindlich gemacht haben, denn er fiel nun plötzlich zu Boden und blieb starr und reglos liegen. Zwei der Anwesenden hoben ihn auf und stellten ihn aufrecht hin; sein Anblick war scheußlich. Die Augen standen ihm weit und stier aus dem Kopfe, sein ganzes Gesicht war über und über rot; er schien in einer völligen Bewußtlosigkeit zu sein, und außer einem leichten Zittern seines Körpers war einige Minuten lang gar keine Bewegung, kein Lebenszeichen an ihm bemerkbar. Endlich schien er aus seiner Erstarrung zu erwachen; mit der rechten Hand auf seinen Bogen gestützt, schwang er mit der Linken die Zaubertrommel rasch und klirrend um seinen Kopf und ließ sie dann zu Erde sinken, was, wie die Umstehenden mir erklärten, anzeigte, daß er nun völlig begeistert sei, und daß man sich mit Fragen an ihn wenden könne.32
Diese Schilderung zeigt sehr anschaulich die Atmosphäre einer schamanistischen Ekstase und die Ekstasetechnik des Schamanen. Etwas auffallend ist, dass der Schamane in aufrechte Stellung gebracht wurde, da er ansonsten meist nicht berührt werden darf und man auch dafür sorgt, dass keine Fliegen oder Mücken an ihn herankommen; diese dürfen keinesfalls von ihm eingeatmet werden, da sonst die Seele des Tieres den Platz der abwesenden Menschenseele einnehmen könnte. Lehmann bemerkte dazu, die „Medizinmänner der wilden Völker“ seien nicht selten im Stande, „auch bei civilisierten Menschen den Eindruck des Mystischen, Übernatürlichen“ hervorzubringen und der Beobachter war trotz seines latenten Abscheus auch sichtlich beeindruckt. 32
Alfred Lehmann: Aberglaube und Zauberei von den ältesten Zeiten bis in die Gegenwart, Stuttgart 1898, S. 20 f.
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Noch viel stärker erlebte die Suggestivkraft der Schamanen der russische Revolutionär und Ethnologe Wladimir Bogoras (1865–1936). Bogoras kam 1880 nach Sankt Petersburg, wo er sich während seines Jurastudiums den „Narodniki“ anschloss, inhaftiert und anschließend 10 Jahre nach Kolyma in Nordostsibirien verbannt wurde. Er studierte dort intensiv Folkloristik, Ethnographie und Sprachen und konnte an der Jakut Expedition der Russischen Geographischen Gesellschaft (1894–97) teilnehmen. Anschließend beteiligte er sich an der großen, von dem deutsch-amerikanischen Ethnologen und Geographen Franz Boas (1858–1942) koordinierten Jesup North Pacific Expedition (1897–04). 1901 hielt er sich auf der St. Lorenz-Insel in der Beringsee auf. Dort traf er Abra den Schamanen des Dorfes Chibukak „einen ziemlich klapprigen alten Mann von vielleicht achtzig Jahren“. Der Bitte, seine Schamanenkünste zu demonstrieren, wollte Abra zunächst aus Angst vor dem amerikanischen Baptistenpfarrer, der auch noch Arzt und Schulmeister des Dorfes war (und damit wichtige Aufgabenbereiche eines Schamanen übernommen hatte) nicht nachkommen. Der Missionar war so großzügig, seine Zustimmung zur Abhaltung eines heidnischen Rituals zu geben, sofern daran kein Eingeborener teilnähme. „Was den alten Schamanen und mich betraf, so folgerte der Amerikaner vermutlich, dass unsere ohnehin verdammten Seelen kaum weitere Gefahren heraufbeschwören konnten“, so Bogoras nicht ohne Ironie. Nun begab sich in der Tat Erstaunliches: Wir waren also allein, der Schamane und ich, in der Schlafkammer seines unterirdischen Hauses [die Behausung war zum besseren Wärmeschutz halb in die Erde versenkt]. Abra hatte fast alle Kleidung abgelegt. Er nahm meine beste doppelte amerikanische Wolldecke und legte sich zwei ihrer Zipfel auf die nackten Schultern. Die beiden anderen Ecken gab er mir zu halten. ‚Nicht loslassen!‘ warnte er und begann langsam aus der etwa drei Meter breiten Schlafkammer herauszukriechen. Die Decke schien durch seltsame Kräfte an seinen Schultern zu haften. Sie spannte sich und ich fühlte, wie die Ecken, die ich hielt, meinen Händen zu entgleiten drohten. Ich stemmte mich mit den Füßen gegen einen quer über den Fußboden laufenden Balken, aber die Spannung der Decke riß mich fast hoch, und zwar ganz gegen meinen Willen. Dann, mit einer heftigen Bewegung, steckte ich unvermittelt die Arme samt Decke tief hinter den Holzrahmen, der die Lederverkleidung der Kammerwand hielt. Die Schlafkammer und ich wurden gewissermaßen eins. ‚Jetzt wollen wir doch mal sehen‘, dachte ich. Die Spannung nahm weiter zu, und siehe da, die ganze gerahmte Wand hob sich zu beiden Seiten rechts und links von mir. Der Mondschein flutete ins Haus und vertrieb die Dunkelheit. Ein flacher Bottich mit Wasser und halbgetautem Schnee, der zu meiner Rechten stand, stürzte um und eiskaltes Wasser lief mir über die Knie. Rechts von mir fiel ein Stapel Eisentöpfe, Eßschalen, Schöpfkellen und Löffel mit großem Krach und Geklapper in sich
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zusammen. Ich dachte, mir würde jeden Moment das ganze Haus um die Ohren fliegen, und aus purem Selbsterhaltungstrieb ließ ich die Decke fahren. Wie ein Stück Gummi sprang und hüpfte sie durch den Raum. Schlagartig kam ich zu mir und sah mich um. Es gab keinen Mondschein in der Kammer. Der Wasserbottich stand da, wo er hingehörte, ebenso die Töpfe und Teller. Alles war in bester Ordnung. Der Schelm von einem alten Schamanen hatte mir seinen Willen aufgezwungen und all die seltsamen Dinge vorgegaukelt. Ich fand dieses saubere Kunststückchen umso beachtlicher, als er es an einem Skeptiker wie mir ausprobiert hatte, der doch gewissermaßen mit einer Haltung persönlichen Widerstands an die ganze Sache herangegangen war. Dazu kam, daß in unserem Fall die sonst übliche Menge der Gläubigen gefehlt hatte, die dem Schamanen sonst gewaltig den Rücken stärkt. Abra war es gelungen, im Alleingang meinen Willen und Verstand zu überwinden. Und nun rief er mit einem gewissen Übermut in der Stimme vom Vorraum her: ‚Aber die Decke gehört mir!‘ Gegenstände nämlich, die durch Geisterhand gegangen sind, werden für den Gebrauch gewöhnlicher Menschen untauglich, wenn nicht gar gefährlich, und man muß sie den Schamanen überlassen.33
Der Schamane Abra hat hier eine ganz verblüffende Leistung vollbracht – ohne ausgedehnte Vorbereitung oder Einstimmung hat er den Fremden sehr wirkungsvoll aus dessen eigener Welt entrückt und ihn einen kurzen Blick auf die Dinge werfen lassen, die dem Schamanen während seiner Selenreise widerfahren. Zweifellos hat sich Abra einen Scherz mit dem Forscher Bogoras geleistet, aber was er quasi als spielerische Demonstration seiner Schamanenkraft aus dem Handgelenk verstand lässt ahnen, über welche psychischen Energien die Schamanen verfügten. Dass ein solcher Mann Angst vor einem amerikanischen Missionar hatte oder haben musste, mutet geradezu tragisch an. Über den Einzelfall hinaus steht der alte Schamane, der seine soziale Rangstellung an den Missionar verloren hat, aber auch für den Untergang der alten, archaischen Welt der Naturvölker. Dieser „gesetzlose“ Zustand endete kulturhistorisch betrachtet natürlich schon viel früher. Mit den ersten Hochkulturen im Zweistromland wurde die Magie, wenn nicht zur Wissenschaft, so doch zur ars, zur erlernbaren Kunstfertigkeit. Der Schamane „denkt“ mit seiner Seele, der Magus mit seinem Geist. Die Götter und Dämonen entfernten sich von den Menschen, verloren ihren unmittelbaren und ständigen Zugriff. Der Mensch begann, eine Welt zu konzipieren, in der auch die Jenseitsmächte gewissen Ordnungsmustern unterworfen waren und damit sozusagen berechenbarer wurden. Dies war der erste Schritt auf dem Weg zur Vereinnahmung der Welt durch den selbständig denkenden und handelnden Menschen, der an die Stelle seiner Götter zu treten begann. 33
Halifax, S. 16 f.
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Literaturhinweise Bekker, Balthasar: Die bezauberte Welt, oder: Eine gründliche Untersuchung des Allgemeinen Aberglaubens etc., Amsterdam 1693. Eliade, Mircea: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik, Frankfurt/Main 2001. Gehrts, Heino: Die Schamanen, Jagdhelfer u. Ratgeber, Seelenfahrer, Künder u. Heiler, München 1996. Haig, Hans: Mythos und Kult in den Alpen, Rosenheim 1992. Halifax, Joan: Die andere Wirklichkeit der Schamanen. Erfahrungsberichte von Magiern, Medizinmännern und Visionären, München 1988. Harner, Michael J. (Hg.): Hallucinogens and Shamanism, Oxford 1973. Hoppál, Mihály: Das Buch der Schamanen. Europa und Asien, München 2002. Hoppál, Mihály: Schamane und Schamanismus, Augsburg 1994. Iselin, Jacob Christoff: Neu Vermehrtes Historisch- und Geographisches Allgemeines Lexikon etc., 4 Bde., Basel 1728/29. Kasten, Erich (Hg.): Schamanen Sibiriens. Magier – Mittler – Heiler. Zur Ausstellung im Linden- Museum Stuttgart 2008/2009, Stuttgart 2009. Lehmann, Alfred: Aberglaube und Zauberei von den ältesten Zeiten bis in die Gegenwart, Stuttgart 1898, zahlreiche moderne Auflagen, z. B. Dresden 2014. MacGregor, Neil: Leben mit den Göttern, München 2018. Müller, Klaus E.: Schamanismus. Heiler, Geister, Rituale. 4. Auflage, München 2010. Müller-Ebeling, Claudia; Rätsch, Christian und Storl, Wolf-Dieter: Hexenmedizin. Die Wiederentdeckung einer verbotenen Heilkunst – schamanische Traditionen in Europa, Aarau 1998. Müller-Ebeling, Claudia; Rätsch, Christian und Storl, Wolf-Dieter: Schamanismus und Tantra in Nepal. Heilmethoden, Thankas und Rituale aus dem Himalaya, Aarau 2000. Rosenbohm, Alexandra: Halluzinogene Drogen im Schamanismus. Mythos und Ritual im kulturellen Vergleich, Berlin 1991. Winkelman, Michael James: Shamans, Priests and Witches: A cross-cultural Study of magico-religious Practitioners, Phoenix 1992. 44
Witzel, Michael: The Origins of the World’s Mythologies. Oxford University Press, New York 2011. Zedler, Johann Heinrich: Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, 64 Bde., Halle und Leipzig 1731–1754.
Abbildungsnachweise Abb. I.1: Heritage Images /Fine Art Images /akg-images Abb. I.2: akg-images /Mark De Fraeye Abb. I.3: wikimedia commons /Erdal – selbst gezeichnet (Unikat, das nur die Grundsymbolik wiedergibt, die auf jeder Schamanentrommel gleich ist), CC BY-SA 3.0 Abb. I.4: wikimedia commons /George Grantham Bain Collection (Library of Congress) Abb.I.5: wikimedia commons / CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index. php?curid=192624 Abb. I.6: akg-images /Erich Lessing Abb. I.7: wikimedia commons /Cody escouade delta – eigenes Werk Abb. I.8: akg-images Abb. I.9: Johann Scheffer, Lapponia: id est, regionis Lapponum et gentis nova et verissima descriptio, 1673
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Teil II Magie in der Antike. Der Mikrokosmos im Makrokosmos
Abb. II.1: Titelblatt von Robert Fludds „Utriusque Cosmi Historia“ aus dem Jahr 1617. Die Abbildung bringt die Idee der Einheit von Makrokosmos und Mikrolosmos sehr plastisch zu Ausdruck. 46
Als vor 6000–8000 Jahren die ersten städtischen Siedlungen und mit ihnen die ersten Hochkulturen entstanden, mit differenziertem Sozialsystem, arbeitsteiliger Gesellschaft und – im Laufe der Zeit – auch mit der Entwicklung von Schriftsystemen, begann auch eine neue Ära der Wahrnehmung des Unerklärlichen. Die Menschen suchten nach neuen Antworten auf die alten, schon von den schamanischen Kulturen gestellten Fragen nach den Ursachen für Glück und Unglück, für Dürre und Fülle, nach dem Woher und Wohin – nach der menschlichen Verfasstheit insgesamt, der „conditio humana“. Die gefundenen Antworten stellten eine größere Distanz zu den Wesen der Oberen und der Unteren Welt her, als sie die Schamanen kannten; sie boten aber auch neue Möglichkeiten, mit diesen Wesen in Verbindung zu treten und sie zu beeinflussen. Eng damit verbunden ist die Entwicklung eines komplexen Ritualsystems der Götterverehrung und eine neue Form magischen Denkens. Ich möchte zwei Hochkulturen genauer betrachten, die für die Magie der Antike bedeutsam wurden und deren Nachwirkungen bis heute zu spüren sind, nämlich die babylonische und die ägyptische. Zunächst aber soll der nebulöse Begriff „Magie“ etwas präziser gefasst werden. Grundsätzlich ist Magie das Wissen und die Fähigkeit, Dinge zu vollbringen, die mit nichtmagischen Mittel unmöglich sind. Mit ihr lassen sich Ereignisse der Vergangenheit oder Zukunft erkennen, Menschen und Dinge nach Belieben beeinflussen und Naturgesetze zeitweilig aufheben. Solche Fähigkeiten wurden bzw. werden auch den Schamanen und den Heiligen der unterschiedlichen Religionen zugeschrieben, wobei letztere aber nicht als Magier, sondern als Wundertäter betrachtet werden. Dies bedeutet, dass nicht der Heilige selbst, sondern ein höheres Wesen durch ihn wirkt, ohne dass der Heilige etwas dazu tun muss. Im antiken babylonischen Reich entwickelte sich eine neue Art von Magie, bei der die Ekstase des Schamanen durch ein umfassendes Symmetriedenken ersetzt wird. Der „neue“ Magier glaubt sich im Besitz eines geheimen Wissens von der unter der sichtbaren Oberfläche liegenden inneren Struktur der Welt im Ganzen. Woraus leitet sich dieses Wissen ab, und wie gelangt der Magier in seinen Besitz? Das Fundament ist die Vorstellung einer permanenten Verbindung der „kleinen“ Welt des Menschen – dem Mikrokosmos – mit der „großen“ Welt der Schöpfung als Ganzem – dem Makrokosmos. Nach diesem Denken steht der Mensch im Zentrum des Universums. Die gesamte Schöpfung ist auf den Menschen bezogen, auf ihn ausgerichtet. Dadurch wird der Mensch zum Abbild der Schöpfung. Dies ist eine grundsätzliche Abkehr von dem schamanischen Weltbild, wonach der Mensch ein integraler Teil der Schöpfung, aber nicht deren ontologischer Zweck ist. Sehr schön ausgedrückt findet sich dieser Gedanke in einem Geschichtswerk des 17. Jahrhunderts: So nimbt er [Gott] eine sonderbare Matery / Erdenkloß oder röthlichten Laymen / Terram Adamicam (darvon die Chymici viel zu sagen wissen / und solche gleichsamb für ein Extract der grossen Welt oder für das funffte Wesen aller Geschöpfe halten /auch der
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Mensch Adam seinen Namen daher bekommen [von dem hebr. Wort für Lehm]) welche ihm zum Zeug /den künfftigen Menschen darauß zubilden /dienen solte. Und also kam in den Menschen alle Art der Stern /Gewächs /Metallen /Fisch /Vögel und Thier: ja diese grosse sichtbare Welt war gleichsamb zu einem Menschen worden /dahero ihn dann auch die Weisen nennen Microcosmum, die kleine Welt /weil in ihm alle Ding begriffen seyn / denn darauß er gemacht ist /dasselbige trägt er auch in ihm. Auß der Welt ist er gemacht / die Welt trägt er in ihm /und wird von der Welt getragen.1
Die Makrokosmos-Mikrokosmos-Parallele stellt eine Beziehung zwischen scheinbar voneinander unabhängigen Vorgängen her. Alles ist mit allem durch ein teilweise deutlich sichtbares, großenteils aber verborgenes Netzwerk von Wechselwirkungen verbunden. Daher gibt es keine Koinzidenzen, nur Kausalitäten. Auch in der Weltsicht des Schamanen oder des religiös Gläubigen existiert kein Zufall; der Magier neuen Typs kann sich aber das Wissen um die verborgenen Zusammenhänge aneignen und zunutze machen. Dies ist die Magie im engeren Sinne: Ekstase wird durch Wissen ersetzt. Die Geschehnisse innerhalb der Gemeinschaft und in der Natur beruhen letztlich auf den Einflüssen, die Götter und sonstige höhere Wesen (Engel, Dämonen, Naturgeister) ausüben. Auch diese können ab jetzt aber nicht mehr völlig willkürlich handeln, sondern sind gewissen Gesetzen unterworfen. Dies ist der Grund, warum sich bestimmte Vorgänge wie der Lauf der Sonne und des Mondes oder die Jahreszeiten periodisch wiederholen. Diese Dinge lassen sich beobachten. Wie nun, wenn es möglich wäre, auch weniger offensichtliche Kausalzusammenhänge ausfindig zu machen? Dann könnte man diese nutzen, um das zu tun, was die Schamanen mit ihren Seelenreisen machten, aber ohne dass man dazu „berufen“ sein müsste. Kenntnisse treten jetzt an die Stelle der Initiation. Durch diese Annahme ist die prinzipielle intellektuelle Erfassbarkeit der diesseitigen wie der jenseitigen Welt gegeben. Im Gegensatz zum Schamanen und zum Priester ist das Handeln des Magiers wissensbasiert und erlernbar. Die Magie wird jetzt zur frühesten Form der „wissenschaftlichen“ Aneignung der Welt durch den Menschen. Natürlich war die Magie niemals eine Wissenschaft im modernen Sinne – sie war es jedoch im Sinne einer Metaphysik, die von der Existenz allgemeingültiger, sämtliche Wesen beider Welten einbeziehender Strukturen ausging. Der Magier war nicht mehr darauf angewiesen, Gott, Götter oder Dämonen um etwas zu bitten oder mit ihnen in ekstatischen Austausch zu treten; er konnte sein (geheimes) Wissen nützen, um die Dinge zu beeinflussen, vielleicht auch zu bestimmen bzw. vorherzusagen. Dieser Ansatz liegt auch der modernen Wissenschaft zugrunde: Weil wir wissen, wie Magnetismus und Elektrizität zusammenwirken, könne wie einen Elektro-
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Joahnn Ludwig Gottfried (d.i. J. P. Abelin): Historische Chronica, Frankfurt 1642, S. 10.
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motor bauen; weil wir die Natur des Lichtes verstehen, können wir Laser fabrizieren oder mit Teleskopen das Weltall erkunden. Wie der Schamane war auch der Magier imstande in die Zukunft zu sehen, vor gefährlichen Dämonen zu schützen oder Krankheiten zu heilen, allerdings auf einer ganz anderen weltanschaulichen Grundlage. Denn jetzt gilt der Grundsatz vom Wissen, das Macht ist. Natürlich wurde solches Wissen, etwa über die Einflüsse der Gestirne oder die Wirkung magischer Formeln, nur an ausgewählte Personen weitergegeben, denn darauf basierte die Macht der Magier, die häufig gleichzeitig auch Priester waren (oder Magierinnen und Priesterinnen). Die Frage nach dem Verhältnis von Magie und Religion wird bis heute kontrovers diskutiert. Archäologisch sind der Glaube an eine Weiterexistenz nach dem Tod seit dem Mittleren Paläolithikum und der Jagdzauber (Jungpaläolithikum) als älteste Ausdrucksformen der Religion bzw. Magie nachweisbar. Das Gebet und der Wunsch nach Beeinflussung des Schicksals durch magische Handlungen stehen nebeneinander. Magie und Religion sind zwei Seiten derselben Medaille, nämlich des Bestrebens, mit übernatürlichen Mächten in Verbindung zu treten und eine – wie auch immer geartete – Beziehung zu diesen herzustellen. Die Trennungslinie zwischen Magie und Religion, Gebet und Zauberspruch, Liturgie und Zauberpraktik, religiösem und magischem Ritus kann häufig nicht scharf gezogen werden.
II.1 Kulturen des Zweistromlandes Die Sumerer Im „Zweistromland“, gelegen im „Fruchtbaren Halbmond“ zwischen Euphrat und Tigris, entstand eine der frühesten Hochkulturen der Geschichte. Die frühesten Spuren weisen auf die Sumerer, die im Laufe des 4. Jahrtausends v. u. Z. am Euphrat siedelten und die Stadt Uruk gründeten. Auf die Sumerer, deren Herkunft nicht geklärt ist und deren Sprache mit keiner anderen bekannten Sprache verwandt zu sein scheint, gehen eine ganze Reihe grundlegender Kulturleistungen zurück. Hier wurde im wahrsten Sinn des Wortes „das Rad erfunden“. Diese grundlegende Innovation hängt mit der Erkenntnis zusammen, dass domestizierte Tiere nicht nur eine Nahrungs- und Rohstoffquelle sind, sondern auch als Zug- und Arbeitstiere dienen können. Eine weitere Vorbedingung für die Nutzung des Rades sind ebene, breite Wege, die erst bei einer kritischen Bevölkerungsdichte und geeignetem Landschaftsrelief entstehen.
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Abb. II.2: Ruinen der Stadt Ur. Die Sumerer kannten schon eine ganze Anzahl unterschiedlicher Handwerke, also das Prinzip der Arbeitsteilung und besaßen ein weit entwickeltes Verwaltungswesen, mit Offizieren, Bürgermeistern und Tempelpriestern. Schon im 4. vorchristlichen Jahrtausend scheint es Schulen und Lehrer gegeben zu haben. Obwohl die Schrift mehrmals in der Geschichte der Menschheit erfunden wurde, ist für den Vorderen Orient (und indirekt auch für Europa) die sumerische Keilschrift von zentraler Bedeutung. Sie ist um 3300 v. u. Z. und damit vor den anderen Schriften entstanden (die ägyptischen Hieroglyphen kamen etwa 200 Jahre später auf). Die Keilschrift wurde erfolgreich an das Akkadische und Hethitische angepasst und gilt als Vorläufer vieler Schriften.
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Abb. II.3.: Sumerische Keilschrifttafel aus dem 26. Jahrhundert v. u. Z. Die Sumerer haben die erste bekannte Kultur mit hoch entwickelter Mathematik hervorgebracht. Sie gelten als die Erfinder des Gewölbes und gründeten mit Ur, Uruk und Lagasch die ältesten bekannten Städte mit Monumentalbauten, insbesondere der für Mesopotamien typischen Stufentürme, der Zikkurat.
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Abb. II.4: Rekonstruktion der Zikkurat von Ur. Auch die Anfänge der Astronomie bzw. Astrologie sind in Sumer zu finden. Die religiösen Vorstellungen der Sumerer waren vorbildlich für spätere Religionen in Mesopotamien und Ägypten und wirkten sich auch auf die späteren monotheistischen Lehren aus. So könnte das Gilgamesch-Epos als Vorbild der biblischen Sintfluterzählung gesehen werden. Neben den Haupt- und Urgöttern verehrten die Sumerer jeweils ihre Stadtgötter, die miteinander konkurrierten und in ihrer Hegemonie einander ablösten. Zusammen bildeten sie bereits ein gemeinsames Götterreich. Besondere Bedeutung haben die ältesten Tontafelfunde mit Fragmenten des Gilgamesch-Epos, die bereits in sumerische Zeit zurückweisen.
Akkad und Babylon Das sumerische Reich war relativ klein und wurde von dem semitischen Volk der Akkader unter deren König Sargon I. (regierte ca. 2350–2300 v. u. Z.) erobert. Das akkadische Reich gilt als das erste zentral verwaltete Großreich, das über mehrere Generationen von derselben Herrscherfamilie regiert wurde. Die Akkader übernahmen die kulturellen Errungenschaften der Sumerer, führten aber nun ihr Sprache für Inschriften, Briefe und Urkunden ein. Die semitische Kultur ist von nun an eine etablierte Größe im gesamten „Zweistromland“. Das Reich von Akkad bestand etwa 150 Jahre; nach einer kurzen Phase unter erneuter sumerischer Herrschaft („Dritte Dynastie von Ur“) übernahmen die Babylonier die Herrschaft und behielten sie bis zum Untergang des Neubabylonischen Reichs 539 v. Chr. Namensgebend für die ganze Kulturregion wurde die Stadt Babylon. Diese erscheint um das Ende des 3. vorchristlichen Jahrtausends als kleine Siedlung. 52
Um 1700 v. Chr. begründete Hammurabi (1728–1686) ihre Vormachtstellung. Der bis dahin kaum bedeutende Stadtgott Marduk wurde danach zum Hauptgott nicht nur der Babylonier, sondern des ganzen vorderasiatischen Raumes. Während das Babylon Hammurabis heute nicht mehr zugänglich ist, da seine Überreste unter dem Grundwasserspiegel liegen, ist die Stadt Nebukadnezars II. (604–562), durch die Ausgrabungen Richard Koldeweys in den Jahren 1899–1917 erschlossen worden. Nebukadnezar war ein Chaldäer, er entstammte einer Gruppe aramäischer Stämme, die in das sumerische Kernland eingewandert waren und dort um die Mitte des 9. Jahrhunderts sechs Stammesfürstentümer errichtet hatten. Die chaldäischen Herrscher förderten die Astronomie bzw. Astrologie und der Name „Chaldäer“ wurde im Altertum schließlich zum Synonym für Gelehrte und Magier. Babylon bildete über rund eineinhalb Jahrtausende das kulturelle Zentrum Vorderasiens. Hier trafen und vermischten sich die unterschiedlichen Bewohner des Zweistromlandes, Persiens, Ägyptens und vieler kleinerer Länder. Es herrschte sicher ein „babylonisches“ Sprachengewirr, aber keine „Verwirrung“. Der legendäre Turm von Babel, dessen Bau angeblich Gott missfiel, war der Tempelturm („Zikkurat“) des Marduk und hieß richtig Etemenanki, „Haus, welches das Fundament ist von Himmel und Erde“. Der Bau erfolgte in der Zeit der Altbabylonischen Dynastie im 18. bis 16. Jahrhundert v. Chr. Möglicherweise gab es jedoch Vorläuferbauten. Heute sind von diesem „Turm“, der eigentlich ein Stufentempel war, nur mehr geringe Reste sichtbar. Deshalb hielt man lange die noch gut sichtbaren Reste der Zikkurat von Borsippa für den Turm von Babel.
Babylonische Götter und Dämonen Die Babylonier kannten kein einheitliches Pantheon, doch waren einige Götter allgemein anerkannt. Der höchste Gott war der Himmelsgott An, dem schon um 3000 in Uruk ein Hochtempel, eine Vorläuferform der Zikkurat, gewidmet war. An zeugte mit der Erdgöttin Uraš die meisten großen Götter und Dämonen und war den Menschen zumeist feindlich gesonnen. Die wichtigste Göttin der Babylonier war Inanna/Ištar.
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Abb. II.5: Mögliche Darstellung der Göttin Ištar. Das Relief auf einer Tontafel befindet sich im British Museum und wird auf das 19. oder 18. Jahrhundert v. u. Z. datiert. Ob es sich bei der Plastik um Ištar, Ereškigal oder Lilith handelt, ist unklar.
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Sie hatte gegensätzliche Wesenszüge als Liebes- wie als Kriegsgöttin und wurde aus diesem Grund sowohl männlich wie weiblich dargestellt. Die Göttin zeigte viele archaische, orgiastische und zerstörerische Züge. Ihr Liebhaber war der zeitweise in die Unterwelt verbannte Vegetationsgott Dumuzi. In Ur gab es den Brauch, dass der König während eines Festaktes in der Rolle des Dumuzi mit einer Priesterin, die die Inanna/Ištar vertrat, die „Heilige Hochzeit“ vollzog. In einem Süßwasserozean (Apsû) unter der Erde, aber noch über der Unterwelt, residierte Enki, der Gott der Weisheit, des Handwerks und der Beschwörungskunst. Zentrum seines Kultes war Eridu, eine der ältesten Städte der Sumerer und die Heimat der Zauberpriester.
Abb. II.6: Gott Enki, auf einem Thron sitzend, vor ihm stehen drei andere Gottheiten. Darstellung auf einem sumerischen Rollsiegel, ca. 2300 v. u. Z. Den Menschen war Enki stets freundlich gesinnt und wurde so zu einem der zentralen Götter aller Magie. Die nordbabylonische Stadt Sippar war das Zentrum der Sonnengottes Utu/ Šamaš. Dieser sah alles, war antidämonisch und Schutzherr des Orakelwesens („er schreibt auf die Leber des Schafes die Orakelzeichen“). Wie der ägyptische Sonnengott überquerte er den Himmel in einer Barke, die abends im Meer versank. Nachts beleuchtete er die Unterwelt als „Sonne der Totengeister“. Die Jenseitswelt spiegelte die soziale Rangordnung der irdischen Gesellschaft und so besaßen die Götter Ehepartner, Familien und einen Hofstaat. Allgemein glaubten die Babylonier an eine Dreiteilung des Kosmos in eine von Göttern bewohnte Oberund Unterwelt und die Mittlere Welt der Menschen. Dies erinnert deutlich an die schamanische Welteinteilung. 55
Neben den Göttern existierten zahlreiche Dämonen. Diese waren geschlechtslos und besaßen auch keinen eigentlichen Namen, sondern wurden nach der Art ihrer Bedrohung benannt (etwa „Sturmdämon“). Den Dämonen errichtete man keine Tempel als Wohnstätte, sie hausten an einsamen, wilden und unheimlichen Orten.
Abb. II.7: Tonfigur eines Dämons, Höhe ca. 20 cm; gefunden in der ehemaligen assyrischen Königsstadt Dur Sharukkin, heute Chorsabad (Irak).
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An Macht den Göttern ähnlich, waren sie dem Menschen meist gefährlich, nur selten hilfreich. Die Eindämmung der von den Dämonen ständig ausgehenden Gefahren war die zentrale Aufgabe der babylonischen Magie. Die Dämonen waren schwer zu bekämpfen, weil sie keine klare Identität hatten – sie waren geschlechts- und namenlose, ungreifbare Schattenwesen. Eine überlieferte Beschreibung solcher Dämonen unterstreicht eindrucksvoll deren furchterregendes Wesen: Sieben sind’s. Sieben sind’s. Sieben sind es in des Oceans tiefsten Gründen. Sieben sind es, Verstörer des Himmels. Sie wuchsen empor aus des Oceans tiefsten Gründen, aus dem verborgenen Schlupfwinkel. Sie sind nicht männlich, sie sind nicht weiblich. Sie breiten sich aus gleich Fesseln. Sie haben kein Weib, sie zeugen nicht Kinder; Ehrfurcht und Wohltun kennen sie nicht, Gebet und Flehen hören sie nicht. Ungeziefer, das dem Gebirge entsprossen, Feinde des Enki, sie sind die Werkzeuge des Zorns der Götter. Die Landstraße störend, lassen sie auf dem Wege sich nieder. Die Feinde! Die Feinde!2
Wie bei den Schamanen hatte die Zahl Sieben auch bei den Sumerern eine zahlenmagisch herausgehobene Stellung inne. Ursprünglich ist dafür vermutlich der Mondumlauf mit seinen vier Phasen verantwortlich. In der babylonischen Astrologie war die „böse Sieben“ mit den Plejaden, dem Siebengestirn, verbunden, die auch durch eine siebenköpfige Schlange symbolisiert wurden. Im Falle der sieben bösen Dämonen beschreibt eine aus babylonischer Zeit stammende Schrifttafel deren Wesen und Entstehung: Die Sieben wurden auf dem Berg des Westens geboren, die Sieben wuchsen auf dem Berg des Ostens auf; in Spalten der Erde sitzen sie herum, in der Wüstenei der Erde hausen sie, sie werden im Himmel und auf der Erde nicht in Erfahrung gebracht [gemeint ist: sie gehören weder zum Himmel noch zur Erde], von Schreckensglanz bedeckt sind sie, unter den weisen Göttern werden sie nicht gekannt, ihr Name existiert weder im Himmel noch auf Erden; die Sieben heulen auf dem Berg des Westens, die Sieben belustigen sich auf dem Berg des Ostens; in den Spalten der Erde kriechen sie umher, in der Wüstenei der Erde halten sie sich auf.3
Die Erdbezogenheit der Dämonen rührt von ihrer Abkunft her, denn der den Menschen feindliche oberste Gott An oder Anu zeugte sie mit der Erde selbst und verlieh ihnen die Macht zu töten und zu vernichten. Den bösen sieben Dämonen stehen sieben gut gegenüber, die „sieben
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Zitiert nach: Alfred Lehmann: Aberglaube und Zauberei von den ältesten Zeiten bis in die Gegenwart, Stuttgart 1898, S. 28. Volkert Haas: Magie und Mythen in Babylonien. Von Dämonen, Hexen und Beschwörungspriestern, Gifkendorf 1986, S. 135.
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Weisen von Eridu“. Sie hatten jedoch bei weitem nicht die Bedeutung, die den Bösen Sieben im Denken im Denken der Menschen zukam.4 Namenlose Wesen waren schwer zu beschwören, denn erst die Kenntnis seines Namens durch den Magier macht einen Geist verletzlich („Ach wie gut, dass niemand weiß, dass ich Rumpelstilzchen heiß …“). Götter konnten sehr wohl ebenfalls bedrohlich sein, aber sie hatten Namen und Identität. Dämonen verursachten die meisten Krankheiten, zerstörten die Zeugungskraft bzw. machten unfruchtbar und verübten jeden erdenklichen sonstigen Schaden. Ein analoges Muster von Angst und Abwehr werden wir bei den europäischen Hexen wiederfinden, denen man ganz die gleichen Schadenswirkungen nachsagte wie die Babylonier ihren Dämonen. Frauen wurden aber nicht erst im ausgehenden Mittelalter, sondern schon bei den Babyloniern als unheimlich und gefährlich eingestuft. Das galt besonders für die Weiber der feindlichen Bergvölker des zentraliranischen Zagrosgebirges, denen schlimmste Zauberkünste zugetraut wurden, wie im antiken Griechenland den thessalischen Hexen. Das Leben der Babylonier war zudem von einer Unzahl schlechter und wenigen guten Omina bestimmt, die auch tief in das alltägliche Leben eingriffen. Die Menschen hielten ständig Ausschau nach irgendwelchen als Vorzeichen deutbaren Ereignissen, etwa „wenn Ameisen auf der Hauptstraße gesehen werden, wird ein Dämon die Hauptstraße in Besitz nehmen“. Viele, besonders psychische Erkrankungen wurden auf den Einfluss von Hexen- oder Dämonen zurückgeführt. Das Gefühl der ständigen Bedrohung konnte seelische Leiden auslösen.5 Die Magie wird in einer solchen Welt zum unverzichtbaren Mittel der Lebensbewältigung und des Schutzes vor Gefahren, denen man andernfalls hilflos ausgeliefert wäre. Obwohl uns Jahrtausende von der längst untergegangenen Kultur der Sumerer, Akkader und Babylonier trennen, erweisen sich erstaunlich viele ihrer magischen Vorstellungen als äußerst langlebig. Der Altorientalist Volkert Haas bemerkt dazu: Es ist eine natürliche und überall wiederkehrende Entwicklung, dass die Götter und Dämonen einer alten Religion in den neuen und benachbarten religiösen Vorstellungen nicht einfach ausgelöscht sind, sondern gerade in der Volksreligion und Tradition zählebig in Erinnerung bleiben. Die großen Götter sinken zu Dämonen herab oder werden mit den alten Dämonen verschmolzen und gewinnen durch einen neuen Namen eine neue Identität, wobei ihre Eigenschaften weitgehend erhalten bleiben.6
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Ebd., S. 137 f. Haas, S. 37/38. Zit. nach Haas, S. 214.
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Die für die Babylonier eminent wichtige Göttin Innana-Ištar7 wird unter dem Einfluss des Christentums in Syrien zu einer Dämonin der Wollust und verschmilzt schließlich mit Lilith, von der die jüdische Überlieferung berichtet, dass sie die erste Frau Adams gewesen sei. Wie Adam aus Lehm oder Erde geschaffen, verweigerte sie sich den sexuellen Wünschen Adams und unterwarf sich auch nicht Gottes Willen. Daraufhin wurde sie verstoßen und zur Dämonin, die Männer verführt und Kinder tötet. Gott erschafft Eva aus der Rippe Adams, was bedeutet, dass sie ihm untertan ist. In der Gestalt der Ištar Lilith kommt die offenbar seit jeher vorhandene Furcht der Männer vor der Sexualität der Frau zum Ausdruck, die wiederum zur Unterdrückung der Frau bis hin zur Genitalverstümmelung führt.8
Babylonische Magier Das Wissen der Priestermagier war geheim und wurde nur an entsprechend initiierte Personen weitergegeben. Die unterschiedlichen Arten von Beschwörungen wurden von Spezialisten vorgenommen, wobei auch Frauen für bestimmte Beschwörungen zuständig waren. Die Beschwörung bewirkte einen Kampf des guten Gottes (meist Enki oder dessen Sohn Marduk) mit dem bösen Dämon. Der Magier kämpfte also nicht mehr selbst wie der Schamane, sondern bestimmte ein gutes Geistwesen zu diesem Ringen. Neben der Beschwörung kannte man die apotropäische Abschreckung: Die Dämonen sollten entweder mit ihrem eigenen furchterregenden Äußeren konfrontiert werden und darüber erschrecken, oder von furchterregenden Schutzgeistern in Schach gehalten werden. Nach Ansicht mancher Fachleute besteht ein kulturhistorischer Zusammenhang zwischen den babylonisch-sumerischen Schutzzeichen und den Dämonenfratzen an unseren romanischen und gotischen Kirchen, die ebenfalls der Dämonenabwehr dienten. Die Abschreckung durch das eigene Abbild erscheint auch in der Legende vom Basilisken, der sich durch einen Blick auf sein Spiegelbild selbst tötet.9 Nach dem babylonischen Schöpfungsmythos hat Enki den Menschen aus dem Schlamm des Urozeans geformt und ihm das Leben eingehaucht, eine deutliche Analogie zur Bibel. In einem Ritual zur Vertreibung des Pestdämons Namtar gibt der weise Gott Enki seinem Sohn Marduk den Rat, aus dem Schlamm des Ozeans ein Abbild des Pestdämons Namtar zu formen, um diesen aus dem Körper eines Kranken zu vertreiben:
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Zit. nach Haas, S. 214. Haas, S. 214. Haas, S. 195 f.; siehe auch H. Schmökel: Das Land Sumer, Stuttgart 1955, S. 168 f.
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Tritt heran, mein Sohn Marduk, knete den Schlamm des Oceans [Apsû] und forme daraus das ihm, dem Namtar, ähnliche Bild. Lege den Menschen [Patienten] nieder; lege das Bild auf seinen entblößten Unterleib; teile ihm den Zauber mit, der von Eridu kommt; wende sein Antlitz nach Westen [zum Totenreich]. Dass der böse Namtar, der seinem Körper innewohnt, sich anderswo niederlasse. Das Bild, das sein Haupt emporrichtet, ist mit großer Macht ausgestattet.10
Apotropäische Bilder konnten auch als Amulette getragen werden. Ein Amulett ist ein mit magischer Kraft versehener Gegenstand, der seine Wirkung dort entfaltet, wo er getragen wird. Die Kraft kann abwehrend sein, sie kann aber auch im Sinne einer Übertragung wirken, d. h. der Träger des Amuletts verstärkt seine eigene Kraft durch diejenige des abgebildeten Wesens. Hier wird erneut die schamanische Tradition erkennbar. Im Laufe der Zeit wandelt sich das Amulett zum Schmuck. Mächtiger als alle anderen Zaubermittel wirkte nach dem Glauben der Babylonier der geheime, nie direkt genannte Name des höchsten Gottes, dem sich selbst die namentlich bekannten Götter zu beugen haben und der dem, der ihn kennt – und ausspricht – eine über alles gehende Macht verleihen würde. Dieser geheime Name erscheint in keinem Keilschrifttext, auf ihn wird nur indirekt verwiesen. Diese Überzeugung spiegelt sich auch in der jüdischen Religion und den dort erscheinenden geheimen „wahren“ Namen Jahwes, den die jüdischen Kabbalisten zu ergründen suchten. Natürlich war nicht alle Magie, waren nicht alle Magier gut gesinnt. Es gab auch jene, die sich in den Dienst böser Mächte stellten, um anderen zu schaden. Diesen Schadenzauber bezeichnet man auch als die Schwarze Magie. Schon bei den Schamanen gab es jene, die ihre Kraft zu bösen Zwecken verwendeten und der Topos existiert fort durch die Zeiten bis heute. Die Schwarzmagier, die natürlich nicht dem Priesterstand angehörten und gleichermaßen verfemt wie gefürchtet im Verborgenen arbeiteten, wandten häufig den Sympathiezauber an, der dem Verfahren ähnelt, das Enki seinem Sohn Marduk zur Bekämpfung des Pestdämons empfahl. Dazu fertigten sie ebenfalls Bilder oder Ton- bzw. Wachsfiguren des zu Verzaubernden an, eventuell mit einem Zusatz von Blut, Haaren, Hautstückchen, Speichel oder Sperma etc. des Betroffenen. Diese Abbilder konnten dann unter Beachtung magischer Rituale misshandelt werden, was dazu führte, dass der Bezauberte entsprechende Leiden am eigenen Körper erlebte. (Diese Art von Zauber wurde auch den europäischen Hexen am Ende des Mittelalters und in der frühen Neuzeit unterstellt.) Ebenso ließ sich auch ein Liebeszauber durchführen, der die verzauberte Person zwang, in Liebe zu jenem Menschen zu entflammen, der den Magier beauftragt hatte. Der böse Magier konnte auch durch Ansehen einer Person dieser schaden (auch dieser „Böse Blick“ spielt noch Jahrtausende später bei den Hexen eine wichtige Rolle), oder – noch schlimmer – er konnte sie verfluchen: 10
Lehmann, S. 29.
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Die schändliche Verwünschung, sie wirkt auf den Menschen wie ein böser Dämon. Der Spruch der Verwünschung schwebt über ihm. Der Spruch des Verderbens schwebt über ihm. Die schändliche Verwünschung, sie ist der Zauber, der den Irrsinn hervorrief. Die schändliche Verwünschung, sie erwürgt diesen Menschen wie ein Lamm. Sein Gott hat sich aus dem Inneren seines Körpers entfernt, seine Göttin hat sich anderswo niedergelassen.11
Der letzte Satz zeigt, dass sich auch die Götter der Macht eines Fluches nicht widersetzen konnten. Hier erscheint in aller Deutlichkeit der uralte Glaube an die Kraft des gesprochenen Wortes; hier verderbenbringend und ins Negative gewendet, beim geheimen Namen Gottes als positive Macht. In der Bibel steht das Wort am Anfang aller Schöpfung, seine Macht ist unbegrenzt. Auch die Griechen der archaischen (vorklassischen) Zeit waren von der Kraft des Wortes überzeugt, das schon an sich die Macht habe, den Verlauf der Ereignisse zu ändern und dieser Glaube an die magische Kraft des Wortes findet sich in nahezu allen frühen Kulturen. 12 Die noch heute sprichwörtlichen Auguren der Römer, die als Staatsorakel wichtige Stützen des Gesellschaftssystems waren, hatten ebenfalls schon Vorläufer im alten Babylon. Die ganze Kunde von guten und schlechten Omina beruhte auf der Annahme einer verborgenen Verbindung scheinbar voneinander unabhängiger Phänomene, der Makrokosmos-Mikrokosmos-Parallele. Ob man den Flug von Vögeln, die Eingeweideschau, das Werfen von Orakelknochen, das willkürliche Ziehen markierter Orakelstäbchen (beschrieben im berühmten Orakelbuch I-Ging der Chinesen) betrachtet – immer wurde (und wird) diesen Dingen eine über das Sichtbare hinausreichende Bedeutung als Vorzeichen eingeräumt: Eine schicksalslenkende Kraft gibt auf diese Weise ihre Absichten kund, die nur der Eingeweihte zu deuten versteht. Als Beispiel sei die Interpretation der Innereien eines Esels gewählt, wie sie die Chaldäer betrieben und wie sie auch von den Römern angewandt wurde: Finden sich in den Eingeweiden eines Esels auf der rechten Seite Eindrücke, so erfolgt Überschwemmung. Sind die Eingeweide auf der rechten Seite gewunden und schwarz, so wird der Gott im Lande des Herren Wachstum erzeugen. Sind die Eingeweide eines Esels auf der linken Seite gewunden und schwarz, so wird der Gott im Lande des Herren nicht Wachstum erzeugen. Sind die Eingeweide eines Esels auf der rechten Seite gewunden und bläulich, so wird Trauer einkehren in das Land des Herren. Sind die Eingeweide eines Esels auf der linken Seite gewunden und bläulich, so wird nicht Trauer einkehren in das Land des Herren.13
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Lehmann, S. 32. Zit. nach Lehmann, S. 32. Zit. nach Lehmann, S. 38.
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Eine besondere Rolle als vorzeichengebendes Tier spielte bei den Babyloniern die Schlange. Sie galt als Trägerin übernatürlichen Wissens und war eng mit dem Gott Enki verbunden. Die chaldäische Betrachtung der Schlange steht in scharfem Kontrast zum Alten Testament, wo die Schlange als die Verführerin des ersten Menschenpaares erscheint, was zur Vertreibung aus dem Paradies führt. Auch hier wird die Schlange mit Wissen assoziiert, denn es ist der „Baum der Erkenntnis“, dessen verbotene Früchte Adam und Eva aufgrund der Einflüsterungen der Schlange genießen. Die heilige Schlange des guten Gottes Enki wird so durch Umdeutung zum Symbol des abtrünnigen Engels und teuflischen Verführers Luzifer. Wenn viele magische Vorstellungen aus der alten Kultur der Babylonier sich auch in den europäischen Kulturen wiederfinden, so deshalb, weil hier ein durchgehender Traditionsverlauf existiert. Die chaldäischen Vorstellungen und magischen Handlungsmethoden gelangten zunächst nach dem nordöstlich gelegenen Medien (einem Teil des heutigen Iran), dessen Priester – von deren Namen „Magi“ sich der Ausdruck „Magier“ ableitet – diese rezipierten und weiterentwickelten. Die persischen Anhänger des Zoroaster (Zarathustra) lehnten Zauberei und Magie ab. Nach der Eroberung Babyloniens durch Kyros im Jahr 539 v. u. Z. vermischten sich allerdings die beiden Kulturen und babylonische Magier kamen am persischen Hof zu großem Ansehen. Die Juden, deren „babylonische Gefangenschaft“ (sie dauerte nur 60 Jahre, von 597–38 und war eigentlich eher ein zwar nicht freiwilliger, aber privilegierter Aufenthalt) durch Kyros beendet wurde, nahmen ebenfalls eine genaue Kenntnis der chaldäischen Vorstellungen zurück in ihre Heimat, was u. a. bei der Entwicklung der Kabbala eine wichtige Rolle spielte, die ihrerseits wiederum das europäische Denken beeinflusste. In direkte Berührung mit der chaldäischen Magie kam Europa durch die Kämpfe der Griechen mit den Persern im 5. vorchristlichen Jahrhundert. Nach Eroberung des persischen Großreiches und Ägyptens durch Alexander (331 bzw. 323 v. Chr.) gelangten persische, chaldäische und ägyptische Magier in großer Zahl nach Griechenland und fanden hier eine sehr aufnahmebereite Kultur vor. Der Schatz an griechischem Wissen, zu dem auch die magischen Künste, die Astrologie und die Alchemie zählen, gelangte schließlich über Byzanz und durch die Vermittlung des arabisch-islamischen Kulturkreises ins Abendland.
Schöpfungsmythen und schamanische Überlieferungen Die Schöpfungsmythen der sumerisch-babylonischen weisen Kultur deutlich auf Wesenszüge des Schamanismus hin. Am Anfang stand ein Urmeer; Himmel und Erde, Licht und Finsternis, Süßund Salzwasser waren noch ungetrennt. Eine nicht näher bestimmte Kraft spannte über diesen Wassern eine Schilfmatte aus, das erste Land entstand und die Basis der Urstadt wurde gelegt (die sumerische Gesellschaft wurzelte in der Gründung von Städten). In dieser lebten die Ältesten Wesen, die „Vater-Mutter-Gottheiten“. Aus ihnen ging An, der Himmelsgott bzw. der Himmel, 62
und Enlil, der Erdgott bzw. die Erde hervor. Jene schon vor der Erschaffung des Kosmos, vor der Trennung von Oben und Unten existierenden Wesenheiten waren geschlechtslos, denn auch das Männliche und das Weibliche waren noch ungeschieden. Die Götter erhoben sich gegen die Urwesen und verbannten sie in die Unterwelt. Die Priester von Eridu verehrten die Urwesen als Kulturbringer und Freunde der Menschen, die schon vor dem Anfang der Welt dagewesen waren. Die bei den Schamanen übliche Dreiteilung in Himmel, Erde und Unterwelt wurde beibehalten, aber durch eine zusätzliche Unterteilung weiter differenziert. Die Form der Erde entspricht einem umgekehrten runden Kahn. Der Himmel umschließt die Erde als eine feste Halbkugel und besteht aus drei (später sieben) Schalen aus Edelstein. Der äußere Himmel ist der Herrschaftsbereich des Himmelsgottes An. Der mittlere Himmel wird von den gewöhnlichen Göttern bewohnt; hier thront Marduk, der Herr dieser Götter, in einem Gemach aus Lapislazuli, in welchem eine Lampe aus Bernstein brennt. Der unterste Himmel wird von den Sternen, „den Ebenbildern der Götter“, die Marduk „gezeichnet hat“, eingenommen. Der Himmelsraum ruht im himmlischen Ozean, der wiederum den ganzen Kosmos umgibt. Im Osten und Westen befinden sich am Horizont der Berg des Aufgangs und der Berg des Untergangs der Sonne. Ebenso wie der Himmel, so ist auch die Erde in drei Teile unterteilt: Die oberste Erde ist das von den Menschen bewohnte Land, sie ist im Besitz des „Windhauchmenschen“ und ist der Bereich des Landesgottes Enlil. Nach dem Namen seines Tempels wird sie auch das „Berghaus Ekur“ genannt. Dieser „Weltberg“ ist in vier Weltquadranten eingeteilt, die den vier großen Ländern – Akkad, Elam, Subartu und Amurru – entsprechen. Die Erde ist von einem Ozean umgeben, der mit dem Grundwasser in Verbindung steht. Im Grundwasserozean Apsû befindet sich auch der Weltenbaum, der Himmel und Erde verbindet. Apsû speist nicht nur Quellen und Brunnen, sondern auch alle Flüsse und die Salzwassermeere. Der Bereich des Grundwassers, die mittlere Erde, ist die Domäne des Gottes Enki, des Gottes der uralten Stadt Eridu. Er ist der Gott der Weisheit, Kunstfertigkeit und Magie, seine Residenz ist der ebenfalls Apsû benannte Palast.14 Darunter folgt die eigentliche Unterwelt, das Reich der Totengöttin Ereškigal. Die von den Schamanen bekannten (Seelen)Reisen in die Unterwelt finden sich auch in der babylonischen Mythologie, bei Ištar und Gilgameš. Die Himmelsgöttin begibt sich darin in die Unterwelt, um ihrer Schwester Ereškigal die Herrschaft zu entreißen. Sie darf eintreten, nachdem sie vorher gedroht hat, die sieben Tore der Unterwelt aufzubrechen und die Toten herauszulassen. (Die Wiederkehr der Toten ist eine ständige Furcht der Lebenden.) Ištar muß sich jedoch aller Kleider und Amulette und sonstiger magischer Schutzzeichen entledigen. Im Zustand der Nacktheit verliert sie ihre Macht und erliegt dem „Todesblick“ der Ereškigal. Während der Abwesenheit der Ištar von der Oberwelt hört dort alle Zeugung bei Mensch und Tier auf. An sich müsste sie nun als Dienerin der Unterweltsgöttin dort bleiben, man gewährt ihr aber die 14
Haas, S. 47.
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Rückkehr unter der Bedingung, dass sie einen Stellvertreter in die Unterwelt entsendet, der dort zeitweise zu bleiben hat. Dieser ist ihr Geliebter, der Vegetationsgott Dumuzi. Damit lässt sich erklären, weshalb es Zeiten der pflanzlichen Fülle und des Mangels gibt. Auch der Sagenheld Gilgameš machte sich auf in die Unterwelt und wurde dabei selbst zum Totengott. Der historische Gilgameš war ein sumerischer König von Uruk und lebte um 2600. Um seine Person ranken sich diverse Heldenmythen in der Art des späteren Herakles. Ihm zur Seite steht sein Helfer und Freund Enkidu, den er auch nach dessen Tod nicht missen will und so begibt er sich als noch Lebender auf eine Jenseitsreise, allerdings, anders als die Schamanen, ohne Wiederkehr.
Abb. II.8: Bei diesem assyrischen Relief aus Chorsabad (Irak), handelt es sich möglicherweise um eine Darstellung von Gilgamesch. 64
Jeder Verstorbene muss sich auf die lange Reise ins Totenreich begeben und die Grabbeigaben dienen dazu, ihn für diese Reise zu rüsten.15 Die Unterwelt liegt zwar unter der bewohnten Erde, ihr Zugang ist aber im fernen Westen, am Ende der Welt. Das Los der Toten dort ist nur erträglich, wenn die Lebenden für ihre Vorfahren Opfergaben bringen. Eine hochsymbolische Traumerzählung enthält das alttestamentliche Buch Daniel. Der hier als wahnsinnig geschilderte König Nebukadnezar II. hat einen Traum, in dessen Verlauf der Weltenbaum – und damit die alte Kultur – durch einen Gesandten Jahwes zerstört wird: Ich schaute, und siehe, ein Baum in der Mitte der Erde, und seine Höhe war groß! Der Baum wuchs und wurde gewaltig, und seine Höhe erreichte den Himmel, und zu sehen war er bis ans Ende der Erde. Sein Laub war schön und seine Frucht reich, und Nahrung für alle war darauf. Unter ihm suchten Schatten die Tiere des Feldes, und in seinen Ästen wohnten die Vögel des Himmels, und von ihm zog Nahrung alles Fleisch. Ich schaute in den Gesichten meines Hauptes auf meinem Lager, und siehe, ein Wächter des Himmels – ein Heiliger – stieg vom Himmel nieder, der rief gar laut, und so sprach er: Haut um den Baum, und schlagt ab seine Äste, streift herunter sein Laub, und zerstreut seine Frucht. Das Wild fliehe unter ihm weg und die Vögel von seinen Ästen! Nur den Stock der Wurzel lasst übrig in der Erde, und zwar in einer Fessel von Eisen und Kupfer im Grün des Feldes.16
Hier wird eine merkwürdige Parallele zum Turmbau sichtbar. Der Gott des Alten Testaments zerstört sowohl das Werk des Menschen, den Turm, der zum Himmel reichen soll, wie auch den Weltenbaum, das zentrale Symbol der schamanischen Weltordnung. Beides sollte Oben und Unten verbinden, aber der Gott der Juden und Christen fand keinen Gefallen daran.
II.2 Die Anfänge der Astrologie Die schon mehrfach angesprochenen „Makrokosmos-Mikrokosmos-Parallele“ bildete, wie leicht nachzuvollziehen, auch die Grundlage der Astrologie. Es besteht kein Zweifel daran, dass die bronzezeitlichen Kulturen Europas den Gestirnen und ihren Bewegungen eine hohe Aufmerksamkeit zollten, natürlich verbunden mit religiös-magischen und kultischen Vorstellungen. Es genügt, an dieser Stelle die Himmelsscheibe von Nebra oder den Steinkreis von Stonehenge zu erwähnen. Dies hat aber nichts mit Astrologie zu tun. Die möglichst genaue Bestimmung der Sonnenwenden oder der Tag- und Nachtgleichen hatte eher die Funktion eines Kalenders, denn 15 16
Haas, S. 107. Haas, S. 52.
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eines Vorhersagesystems. Die Anfänge der Astrologie als einer Kombination aus Sternenbeobachtung und der Vorhersage künftiger Ereignisse liegen in Mesopotamien. Die antiken Begründer der Astrologie gingen von einem geozentrischen Weltbild aus, bei dem die Erde im Mittelpunkt des Kosmos lag und von konzentrischen Himmelssphären umgeben war. Der Gedanke, dass die Gestirne eine Wirkung auf die Erde und ihre Bewohner ausüben, ist selbstverständlich älter als die Astrologie und ergibt sich aus der Einwirkung der Sonne und des Mondes. Mit der Beobachtung des Nachthimmels war die Erkenntnis verbunden, dass es Fix- und Wandelsterne gibt. Da der Himmel ganz real als Sitz der Götter betrachtet wurde, und sowohl die sieben Planten des Altertums (damals galten auch Sonne und Mond als Planeten) sowie die den Monaten zugeordneten 12 Zeichen des Tierkreises als göttliche Emanationen bzw. als Götter angesehen wurden, lag der Gedanke nahe, dass eine Wechselwirkung zwischen diesen himmlischen Sphären und den Ereignissen auf der Erde bestehen müsse, wie er in der Makrokosmos-Mikrokosmos-Parallele zum Ausdruck kommt. Nachdem die Abläufe am Sternhimmel regelmäßig-periodisch verlaufen, sollten sich auch die Ereignisse auf der Erde gemäß bestimmten Zyklen wiederholen. Man musste also nur eine Konkordanz zwischen Gestirnkonstellationen und irdischen Ereignissen erstellen, um dann voraussagen zu können, was sein wird, wenn eine bestimmte Konstellation wieder auftritt. (Ein analoges Prinzip liegt dem sog. Hundertjährigen Kalender zugrunde.)
Die babylonische Astrologie Die Astrologie beruht demnach auf einem zyklischen Zeitbegriff, der sich grundsätzlich von dem linearen Zeitbegriff des christlichen Weltbildes unterscheidet. Außerdem schließt astrologisches Denken die Determiniertheit aller Geschehnisse ein; alles hat verborgene oder offenkundige Ursachen, nichts ist zufällig. Auf dieser Basis funktionieren auch alle übrigen Verfahren der Vorhersage, die unter den Oberbegriffen Mantik und Divination zusammengefasst werden. Die Astrologie war ursprünglich eine Staatsastrologie und befasste sich nur mit großen Ereignissen wie Kriegen, Seuchen oder Naturkatastrophen. Im Laufe der Zeit wurden dann auch persönliche Schicksalsbestimmungen vorgenommen, zunächst bei den Königen und schließlich auch bei Privatpersonen. Der Wechsel von einem geo- zu einem heliozentrischen System hat übrigens auf die Grundthese der Astrologie keine Auswirkung. Der jüdisch-hellenistische Philosoph Philon von Alexandria (13 v. Chr. – ca. 45/50 n. Chr.) fasste den Inhalt der babylonischen Astrologie so zusammen: Die Chaldäer scheinen die Sternenkunde und Wahrsagerei vor allen anderen Völkern gepflegt und gefördert zu haben. Sie brachten die irdischen Dinge mit den himmlischen, mit anderen Worten den Himmel mit der Erde in Verbindung und suchten dann aus den
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wechselseitigen Beziehungen dieser nur räumlich, nicht ihrem Wesen nach geschiedenen Teile des Weltalls deren harmonischen Einklang nachzuweisen. Sie stellten die Vermutung auf, dass die sinnliche Welt an sich oder doch wenigstens durch die sie belebende Kraft [selbst] Gott sei, und riefen, indem sie diese Kraft unter dem Namen Verhängnis oder Notwendigkeit vergöttlichten, den reinen Atheismus hervor, denn sie erweckten den Glauben, dass alle Naturerscheinungen nur eine sichtbare Ursache hätten, und dass von der Sonne, dem Mond und dem Lauf der Gestirne das Glück oder Unglück eines Menschen abhänge.17
Der Atheismus-Vorwurf, den Philon hier erhebt, geht sicher zu weit, denn schließlich sind im babylonischen Denken die Gestirne den Göttern gleich oder ähnlich, aber die Kritik ist auch nicht unberechtigt, denn es besteht ein unaufgelöster Widerspruch zwischen dem ausgeprägten Dämonenglauben, nachdem Verhängnis oder Glück jederzeit hereinbrechen kann und mit magischen Beschwörungen vermieden bzw. ausgelöst werden soll und dem „mechanistischen“ Ansatz der Astrologie. Ähnlich wie Philon beschrieb im 19. Jahrhundert der Kulturhistoriker, Archäologe und Assyriologie François Lenormant (1837–1883) die Astrologie der Chaldäer: Die unabänderlichen Regelmäßigkeiten des Laufes der Sterne und ihr Einfluss auf den Wechsel der Jahreszeiten rief die Vorstellung vom Walten eines ewigen und unveränderlichen Gesetzes hervor, welches durch ein festes, solidarisches Verhältnis alle Erscheinungen und Ereignisse verbinde und die irdischen Dinge von den himmlischen abhängig mache. Und daraufhin wurde angenommen, daß alle beobachteten Koincidenzen sich mit notwendiger Gleichheit wiederholen müßten. Die Astrologie nahm allmählich eine immer bestimmtere Form an, ja sie machte sogar auf wissenschaftliche Genauigkeit Anspruch, da sie mittelst der fortgesetzten alltäglichen Beobachtungen eine Reihe astronomischer Wahrheiten erhärtet hatte.18
Eine Hauptquelle unserer Kenntnis der Astrologie der frühen Babylonier ist eine Sammlung von Keilschrifttafeln aus der Bibliothek des Königs Assurbanipal, die im 7. vorchristlichen Jahrhundert entstand, aber eine Abschrift wesentlich älterer sumerischer Texte darstellt, die in die Zeit des Königs Sargon (um 2350), also in das Reich von Akkade, verweist. Einige Textproben geben uns ein Gefühl für den Stil und den Inhalt jener noch sehr einfachen Vorhersagen:
17
18
Karl Kiesewetter: Die Geheimwissenschaften. 2. Aufl. Leipzig 1894, S. 275; siehe auch Neuauflage Wiesbaden 2013. Kiesewetter, S. 277.
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Jupiter geht auf und sein Licht ist hell wie der Tag; in seinem Glanz bildet er hinter sich einen Schweif, ähnlich dem Stachel der Skorpione. Es ist dies ein günstiges Vorzeichen welches Glück verkündet dem Herrn des Hauses und dem ganzen ihm untertänigen Lande. […] Leuchtet im Monat Duz der Stern Entemaslum [Aldebaran] bei seinem Aufgang sehr hell, so wird die Ernte dieses Landes sehr gut und der Ertrag ein reichlicher sein. Ist dagegen dieser Stern bei seinem Aufgang verhüllt, so wird die Ernte des Landes missraten.19
Astronomische Beobachtungen konnten für die frühen Staatsverbände von großer Wichtigkeit sein, um überhaupt den Jahreslauf zu strukturieren, d. h. bei der Erstellung eines Kalenders, oder wenn es den Ägyptern darum ging, den Zeitpunkt der Nilüberschwemmung zu bestimmen oder um dramatische und u. U. traumatische Geschehnisse wie Sonnen- und Mondfinsternisse vorherzusagen. Durch deren Ankündigung verloren sie einen Teil ihres Schreckens und wurden als Ereignisse gewertet, die keinen apokalyptischen Charakter mehr besaßen. Erfolgte dagegen eine Sonnen- oder Mondfinsternis unerwartet, wurde sie in der Regel als ein äußerst schlechtes Vorzeichen gewertet. (Im alten China konnte von der korrekten Vorhersage solcher Ereignisse die Existenz einer Dynastie abhängen, da das Volk andernfalls glaubte, dem Herrscher sei das „Mandat des Himmels“ entzogen worden.) Astronomische Beobachtungen waren für die Hochkulturen der Antike von fundamentaler Bedeutung. Das Denken in Entsprechungen, wie es der Makrokosmos-Mikrokosmos-Parallele zugrunde liegt, führte zu der Annahme, dass nicht nur Sonne und Mond, sondern alle Gestirne eine verborgene Bedeutung für das Schicksal der Menschen haben. Allerdings gab es Abstufungen; der Einfluss der Sterne sollte umso geringer sein, je weiter ein Wandel- oder Fixstern entfernt war, nur die Sonne bildete hier eine offenkundige Ausnahme. Wann die Anfänge der systematischen Sternbeobachtung tatsächlich zu datieren sind, lässt sich nicht eindeutig sagen,20 sie fallen in das 3. Jahrtausend v. Chr. und Sumerer/Babylonier wie Ägypter zählen neben den Indern und Chinesen zu den frühesten Astronomen bzw. Astrologen. Besonders die Babylonier entwickelten viele bis heute verwendete Grundlagen. Sie ermittelten die Jahreslänge schon recht genau zu 365, 25 Tagen, unterschieden zwischen Sonnen- und Mondjahr, teilten das Jahr in 12 Monate und den Himmelsäquator in zwölf „Tierkreise“ und erkannten die Bahnneigung der Erde gegen die Umlaufebene (Ekliptik). Die Babylonier kannten die „Saros-Periode“, den Zeitraum von 18 Sonnenjahren oder 223 Mondumläufen, nach dem sich die Sonnen- und Mondfinsternisse wiederholen. Ebenfalls den Babyloniern verdanken wir das bis heute übliche System der Kreiseinteilung in 360 Winkelgrade, von denen jeder aus 60 Minuten zu je 60 Sekunden besteht. Auch unsere Stundenteilung beruht auf dem Sexagesimal-Zahlensystem der Babylonier. Die astronomischen Beobachtungen erfolgten selbstverständlich ohne optische Hilfsmittel wie Fernrohre, 19 20
Kiesewetter, S. 278. Lehmann, S. 35.
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mittels Visierstäben ähnlich dem bis in die Neuzeit von arabischen Seeleuten verwendeten Jakobsstab, oder fest installierten Quadranten sowie „Schattenstäben“ (Gnomonen)
Die Astrologie der Spätantike Von Babylonien aus verbreitete sich die Astrologie auch nach Ägypten und Persien. Im Sinne der Makrokosmos-Mikrokosmos-Parallele wurde sie zu einem umfassenden System ausgebaut, das Zahlen, Farben, Metalle, Mineralien, Pflanzen, Krankheiten, Arzneien, menschliche Charaktere etc. mit den Planeten und Tierkreiszeichen in Verbindung brachte.
Abb. II.9: Ein „Sternzeichenmensch“ im berühmten „Stundenbuch“ des Duc du Berry vom Anfang des 15. Jahrhundert u. Z. Jedem Körperteil wird hier ein Tierkreiszeichen zugeordnet. 69
Auch Griechen und Römer wurden so zu Erben des astrologisch-astronomischen Wissens der Babylonier und entwickelten dieses Erbe im Rahmen ihrer eigenen philosophischen Konzepte weiter. Anaximander formulierte um 575 v. Chr. die Lehre von der Kugelgestalt des Fixsternhimmels, in dessen Mitte die Erde freischwebt und bestimmte den Neigungswinkel der Erdachse gegen die Ebene der Ekliptik mittels eines Gnomons. Die Kugelgestalt der Erde wurde gegen Ende des 5. Jahrhundert v. Chr. entdeckt. Eudoxos entwickelte um 350 v. Chr. ein System von Sphären, mit dem die aus der Sicht eines irdischen Beobachters manchmal rückläufig erscheinenden Bewegungen der äußeren Planeten erklärt werden sollten. Ähnliche Ansätze, von Philolaos und Demokrit formuliert, fanden Eingang in die Physik des Aristoteles. Aristarch von Samos rückte um 300 v. Chr. als Erster die Sonne in den Mittelpunkt des Kosmos. Sein heliozentrisches System konnte sich allerdings nicht durchsetzen. Hipparch, der größte beobachtende Astronom der griechischen Antike, war einer der Verfechter der geozentrischen Lehre, die er durch sog. Epizyklen verfeinerte. Zwischen 161 und 127 v. Chr. führte er zahlreiche Beobachtungen durch und ermittelte etwa die Tageslänge bis auf sechseinhalb Minuten genau. Von größtem Einfluss auf die Entwicklung der Astronomie und der Astrologie war Claudius Ptolemäus (ca. 100 n. Chr. in Ptolemais in Oberägypten geboren, verstorben um 160). Er verfasste das erste systematische Handbuch der mathematischen Astronomie, die „Syntaxis mathematike“, die um 800 von arabischen Übersetzern als „Almagest“ weitertradiert wurde und bis über Kopernikus hinaus gültig blieb.
Abb. II.10: Idealporträt von Ptolemäus. Holzschnitt aus dem Jahr 1584. 70
Für die abendländische Astrologie bis heute wichtig ist sein „Tetrabiblos“ (Viererbuch), das die Regeln der Horoskopbestimmung festlegte. Die Kosmologie des Ptolemäus basiert auf der aristotelischen Physik. Die Gestirne werden in 8 Sphären unterteilt. Die äußerste umfasst die Fixsterne, die sich in 24 Stunden einmal um die Erde dreht und ihre Bewegung den weiter innen liegenden sieben Planetensphären mitteilt. Diese Planetensphären sind von außen nach innen folgendermaßen angeordnet: Saturn, Jupiter, Mars, Sonne, Venus, Merkur und Mond. Unter dem Mond liegen die „sublunaren“ Sphären des Feuers, der Luft, des Wassers und der Erde. Wie Aristoteles ordnete auch Ptolemäus diesen irdischen „Elementen“ je zwei Grundeigenschaften zu, nämlich Hitze und Kälte, Trockenheit und Feuchtigkeit. Diese als Qualitäten bezeichneten Eigenschaften können nicht aus anderen Eigenschaften abgeleitet werden und bestimmen den Charakter jedes Elements. Das Feuer ist heiß und trocken, das Wasser kalt und feucht, die Luft heiß und feucht, die Erde kalt und trocken. Der eben genannten Planetenordnung verdanken wir auch die Benennung unserer Wochentage und deren Reihenfolge. Die Ägypter teilten Tag und Nacht in jeweils 12 Stunden gleicher Länge, wobei die Dauer einer Stunde variierte, je nachdem die Tage und Nächte länger oder kürzer waren. Die Woche begann am Samstag bei Sonnenaufgang mit der dem Saturn geweihten Tagesstunde (der Bezug des Samstags zum Saturn kommt in der englischen Bezeichnung Saturday noch klar zum Ausdruck), worauf man die Planeten in der Reihenfolge ihrer angenommenen Entfernung von der Erde durchzählte; auf die Saturnstunde folgte die Jupiterstunde, dann die des Mars, der Sonne, der Venus, des Merkurs und des Mondes. In der achten Stunde begann die Zählung wieder mit dem Saturn. Die letzte Tagstunde des Samstags gehörte daher der Venus, die erste Nachtstunde dem Merkur. Die erste Tagstunde des Sonntags gehörte der Sonne, daher der Name Sonntag. Fährt man in der beschriebenen Weise fort, so ist die erste Tagstunde des Montags dem Mond geweiht, die des Dienstags dem Mars (ital. Martedi, franz. Mardi), der Mittwoch beginnt mit der Merkurstunde (ital. Mercoledi, franz. Mercredi), der Donnerstag mit der Jupiterstunde (ital. Giovedi, franz. Jeudi, von lat. dies iovis, bei uns hängt Donnerstag mit Donar zusammen, dem germanischen Gott, der im Rang dem Jupiter entsprach) und der Freitag mit der Venusstunde (ital. Venerdi, franz. Vendredi, bei uns nach Freya, der germanischen Entsprechung der Venus).
Die praktische Astrologie In ihren Anfängen beruhte die volkstümliche Astrologie, die ohne die Erstellung eines Horoskops auskam, auf der Annahme, dass es im Jahreslauf günstige und ungünstige Gestirnkonstellationen gebe. Für allerlei alltägliche Verrichtungen gab es demnach besonders geeignete bzw. ungünstige Tage. Diese „Kalenderastrologie“ lebt bis heute in den bäuerlichen „Lostagen“ weiter. Die wichtigste Form der angewandten Astrologie war und ist das Horoskop („Stundenbeschau“), 71
d. h. die Ermittlung der Gestirnkonstellation zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten geographischen Ort. Letzterer ist wichtig, weil abhängig von dessen Länge und Breite zu einem gegebenen Zeitpunkt bestimmte Sternbilder oder Planeten gewisse Kardinalpunkte (etwa den Horizont) berühren. Ein Horoskop kann auf die Geburt einer bestimmten Person gestellt werden, es kann aber auch benutzt werden, um einen geeigneten Zeitpunkt für ein bestimmtes Vorhaben (z. B. Kriegszug oder Heirat) zu ermitteln. Die Erstellung eines Horoskops ist technisch gesehen eine astronomische Aufgabe, eigentlich astrologisch ist nur dessen Ausdeutung. Auf welchen Prinzipien beruht(e) diese Deutung? Schon Ptolemäus in seinem „Tetrabiblos“ schrieb den Planeten bestimmte Eigenschaften zu, die mit ihrer „Natur“, d. h. ihnen von Menschen zugeschriebenen „Qualitäten“ zusammenhingen. Diese den Gestirnen zugedachten Eigenschaften erzeugten im Sinne der Makrokosmos-Mikrokosmos-Analogie wiederum irdische Wirkungen. Die Sonne war selbstverständlich von heißer und trockener Natur und ihre Wirkungen auf die Erde offenkundig und abhängig von ihrer Mittagshöhe. „Der Mond macht feucht, dadurch, dass er der Erde am nächsten steht, von der feuchte Dämpfe emporsteigen. So macht er die untenliegenden Dinge weich und bringt sie zum Faulen. Wegen seiner Ähnlichkeit mit der Sonne hat er aber auch die Gabe zu erwärmen.“21 Der Saturn ist der Planet, „der am meisten Kälte bringt“, denn er ist am weitesten von der Sonne entfernt, sozusagen ihr Antipode. „Seine Kräfte, sowie die der übrigen Planeten, sind auch abhängig von ihren Stellungen zu Sonne und Mond.“ Von wohltuender Natur ist der Jupiter, er „ist der milde Stern. Er steht in der Mitte zwischen dem kalten Saturn und dem heißen, drückenden Mars. Er macht warm und feucht, aber da die wärmebringende Kraft überwiegt, so gehen die fruchtbar machenden Winde von ihm aus.“ In dieser Weise werden alle Planeten charakterisiert. Zusammenfassend heißt es bei Ptolemäus: Die Alten berichten alle, dass Jupiter, Venus und Mond die wohltätigen Sterne sind, weil sie von milder Natur sind und die meiste Wärme und Feuchtigkeit haben. Die unheilbringenden Sterne sind Saturn und Mars, welche entgegengesetzte Natur und Wirkungen haben, weil der eine sehr kalt, der andere dagegen brennend heiß ist. Zwischen beiden Gruppen stehen Sonne und Merkur, welche an beiden Naturen teilhaben.22
Neben den sieben Wandelgestirnen spielte auch der Tierkreis eine entscheidende Rolle. Schon die Babylonier hatten beobachtet, dass alle beweglichen Himmelskörper ungefähr denselben Kreis am Firmament beschreiben. Diesen Kreis teilte man in 12 etwa gleichgroße Teile, denen 21 22
Lehmann, S. 135. Alle obigen Zitate bei Lehmann, S. 136.
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Sternbilder zugeordnet wurden. Obwohl nur sieben der zwölf Bilder nach Tieren benannt sind, nannte man diese Sternbilder den „Tierkreis“. Die einzelnen Tierkreiszeichen sind Widder, Stier, Zwillinge, Krebs, Löwe, Jungfrau, Waage, Skorpion, Schütze, Steinbock, Wassermann und Fische (Reihenfolge beginnend mit dem Frühlingsäquinoktium). Die Astrologen stellten eine Beziehung zwischen der Stellung eines Planeten im Tierkreis und seiner Wirkkraft in Bezug auf die Erde und die Menschen her. Jedem Wandelstern wurde ein Tierkreiszeichen als natürlicher Ort oder „Haus“ zugewiesen. Da es nur sieben Planeten gibt, besitzen einige davon zwei Häuser. Die Zuweisung erfolgte wiederum im Hinblick auf jahreszeitliche Beobachtungen. Wenn die Sonne auf der Nordhalbkugel (die Südhalbkugel blieb selbstverständlich außer Betracht) ihren höchsten Stand erreicht, so regieren die Zeichen des Krebses und des Löwen; diesen wurden die beiden Hauptgestirne, der Mond und die Sonne beigegeben. Der Antipode des Krebses ist der Steinbock, der des Löwen der Wassermann, denen konsequenterweise beiden der Saturn zugegeben wurde. Der dem Saturn nächststehende Jupiter kam zu den beiden benachbarten Zeichen Schütze und Fische, der Mars regierte Skorpion und Widder, die Venus Waage und Stier und der Merkur Jungfrau und Zwillinge. Ptolemäus nennt noch vier weitere Konstellationspositionen eines Planeten bezüglich des Tierkreises, nämlich die Trigone, das Aufsteigen, die Maße und die Gesichter. Alle zusammen bestimmen die essentielle „Ausstrahlung“ eines Planeten zu einem bestimmten Zeitpunkt, sollen aber nicht mehr näher betrachtet werden. Ptolemäus unternimmt es auch, den Charakter ganzer Völker und Regionen aufgrund astrologischer Beziehungen zu bestimmen. Er beginnt wieder mit dem unübersehbaren Einfluss der Sonne. „Die, welche weit im Süden wohnen, sind von der Sonne gleichsam schwarz gebrannt, ihr Haar ist schwarz und kraus, und sie sind von Natur sehr heißblütig.“23 Die Menschen des Nordens dagegen „sind weiß, ihr Haar ist hell, und ihre Natur ist sehr kühl“. Den vier Gegenden der Erde, dem Osten, Westen, Norden und Süden entsprechen vier Dreiergruppen („Dreiecke“) des Tierkreises; jede beherrscht einen Teil der Welt. Die „kalten und kriegerischen Germanen“ stehen unter der Herrschaft des Widders und des Mars, die Italiener unter der des Löwen und der Sonne, was ihr heißblütigeres Temperament bedingt. Auf diese Weise gibt Ptolemäus allen ihm bekannten Völkern bestimmte Charaktereigenschaften, die er von den Himmelszeichen und Planeten, unter deren Herrschaft sie stehen sollen, ableitet.
Kritik an der Astrologie Gegen diese Vorstellungen wurde schon in der Antike Kritik laut. Neben dem schon oben erwähnten Philon formulierte der im 3. Jahrhundert n. Chr. lebende Arzt Sextus Empiricus (schon 23
Lehmann, S. 139.
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der Name weist auf seine pragmatische Einstellung hin) einige wesentliche Einwände: Da alle Menschen einer bestimmten Gegend den Einflüssen der Gestirne in gleicher Weise ausgesetzt seien, sollten auch alle denselben Charakter haben, was nicht zutreffe. Wichtiger noch ist ein anderer Kritikpunkt, wonach durch den Glauben an die Astrologie der Mensch seiner moralischen Verpflichtungen enthoben sei. Wenn unser Schicksal durch die Sterne bestimmt sei, werde es sinnlos, nach Tugend zu streben und der Mensch sei für seine Fehler und Laster nicht verantwortlich zu machen. Dies führe zu einem Zusammenbruch der ethischen Grundlagen des sozialen Lebens. Zudem werde es überflüssig, die Götter im Gebet anzurufen, weshalb die Astrologie auch jede Religion negiere. (Aus eben diesem Grunde verurteilten auch die christlichen Kirchen die Astrologie.) Andere, eher praktisch-logische Gegenargumente bezogen sich auf die Unterschiede im Schicksal von Zwillingen sowie – im umgekehrten Fall – auf die Gleichartigkeit des Schicksals der Opfer einer Schlacht, die ja nicht alle dasselbe Horoskop hätten. Der im frühen 4. Jahrhundert schreibende Julius Maternus Firmicus sieht die Natur als eine Stufenleiter, deren oberste Sprosse in die göttliche Urkraft hineinragt. Von diesem göttlichen „Urlicht“ gehen alle Kräfte aus, die die geistige, die astrale und die physische Welt formen, dabei allerdings immer mehr von der göttlichen Reinheit verlieren. In der hierarchischen Ordnung der materiellen und immateriellen Welt spielen bestimmte Zahlen eine Rolle, die auch in der Astrologie von Bedeutung sind und auf der mystischen Verbundenheit einzelner Aspekte der Schöpfung untereinander beruhen. Die Natur funktioniert teilweise nach vernunftbestimmten Gesetzen, teilweise durch metaphysische Wirkungsbeziehungen wie die Analogie von Makrokosmos und Mikrokosmos. Letztere sind zwar nicht rational verstehbar, aber dennoch nicht weniger real. Sie bewirken anziehende und abstoßende Wechselwirkungen zwischen Objekten aber auch Geschöpfen, die Sympathie bzw. Antipathie. Die Vernunft kann wohl einige Stufen der hierarchischen Leiter zum Göttlichen hin erklimmen, nicht aber die Wirklichkeit insgesamt erfassen. Die Astrologie erschließt einen Teil dieser verborgenen Wechselwirkungen und gelangt so zu ihren Prognosen. In den Standpunkten von Sextus und Firmicus werden zwei unterschiedliche Ansätze des Weltverständnisses sichtbar. Sextus vertritt eine pragmatische Auffassung, die dem modern-säkularen Denken entspricht, während Firmicus eine ontologische Position bezieht. Ihm geht es darum, der Welt einen inneren Sinn zu verleihen, der sich in einer die Schöpfung durchdringenden ethischen Kraft manifestiert, die die Welt wie sie ist metaphysisch verstehbar macht. Mit den Argumenten von Firmicus operierten auch viele spätere Anhänger der Astrologie.24 Den ersten Einwand des Sextus konnte Firmicus leicht widerlegen, da die Astrologie ja gerade die persönlichen Unterschiede einzelner Menschen erkläre, bei einer durch Klima und geographische Lage gegebenen grundsätzlichen Ähnlichkeit in Aussehen und Lebensweise. Die mo24
Siehe dazu Kiesewetter: Geheimwissenschaften, S. 253.
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ralisch-ethische Kritik war dagegen schwerer zu entkräften. Die Gestirne, so Firmicus, werden von den Göttern regiert, und diese könnten durch Gebete veranlasst werden, einen Menschen vor gewissen negativen Einflüssen derselben zu schützen. Unsere Mängel und Fehler seien zwar durch die Gestirne verursacht, können aber durch den in uns wirkenden göttlichen Funken gemildert oder überwunden werden. Gesetze seien also durchaus sinnvoll und notwendig, aber auch sie stehen letztlich unter dem Diktat des Fatums und der Heimarmene, des (unabwendbaren) Verhängnisses. Dies bedeutet aber auch, dass Tugend keinen Schutz vor Ungerechtigkeit oder Unheil bietet. Dieser Versuch, die Ungerechtigkeit der Welt astrologisch zu erklären, ist zum Scheitern verurteilt. Konsequenterweise führt er zum Fatalismus und macht damit die Vorhaltungen des Sextus Empiricus wiederum relevant. Sollte hingegen eine göttliche Korrektur bzw. die eigene Willenskraft etwas gegen das Fatum und die Heimarmene ausrichten können, wie Firmicus einräumt, so wäre wiederum die Astrologie als Instrument der Schicksalsprognose unbrauchbar. Die Astrologen waren nie imstande, die inneren Widersprüche ihrer Lehre in Bezug auf die Religion und die gesellschaftliche Ethik auszuräumen. Man versuchte dem Dilemma zu entgehen, indem man eine abgeschwächte Gestirnwirkung annahm, gemäß der Regel: „Die Sterne machen nur geneigt, sie zwingen aber nicht.“ Wenn sie auch über die Materie und das ihr Verwandte herrschen, so kann sich doch der Geist dieser Herrschaft entziehen, sie mäßigen oder überwinden. Ferner können sogar „natürliche“ Einflüsse (die der Astrologe vielleicht nicht beachtet oder nicht erkannt hat), bestimmte Gestirnwirkungen aufheben. Dies war im Grunde nur eine Wiederholung der Position des Firmicus mit ebenderen Mängeln. Aus modern-naturwissenschaftlicher Sicht hat die Astrologie keine sachliche Grundlage. Ein auf dem Konzept der Makrokosmos-Mikrokosmos-Analogie beruhender Einfluss der Planeten und Fixsterne auf das menschliche Schicksal ist nicht nachweisbar und auch mit den Gesetzen der Physik nicht vereinbar. Sonne und Mond haben selbstverständlich eine erhebliche Wirkung auf die irdischen Lebensbedingungen, aber eben nicht aufgrund einer bestimmten Konstellation der Sterne und Planeten bei der Geburt. Nüchtern rational betrachtet ist die Astrologie reiner Humbug. Dies ändert jedoch nichts an ihrer Bedeutung als kulturelles Phänomen. Wenn in Europa heute immer noch nicht nur halb analphabetische Hinterwäldler glauben, dass an der Astrologie „irgendwas dran“ sein müsse, sondern Millionen durchaus nicht ungebildeter Zeitgenossen, wenn Firmenmanager, Börsenfachleute und sogar Staatspräsidenten (der französische Präsident Francois Mitterand ließ sich von der Astrologin Elizabeth Teissier beraten) ihre Entscheidungen zumindest gelegentlich von astrologischen Befunden abhängig machen, kann man sich nicht mit dem Hinweis auf mangelnde naturwissenschaftliche Rechtfertigung begnügen. Offensichtlich kommt die Astrologie einem tiefempfundenen Verlangen nach transzendentaler Geborgenheit entgegen. Der Wunsch, die eigene Zukunft zu erfahren, mag im Bewusstsein der Menschen im Vordergrund stehen, ist aber nur ein Aspekt der Sehnsucht der meisten Menschen, in ein kosmisches 75
Gesamtgefüge einbezogen, ja eingebettet zu sein, das der Existenz einen über das Individuum hinausreichenden und –wirkenden Sinn verleiht. Dieser Sehnsucht entsprang letztlich die Idee der Makrokosmos-Mikrokosmos-Analogie. Die Astrologie ist eine konkrete Anwendung dieses Konzepts, neben vielen anderen, etwa der Sympathiemagie. Anders als diese besitzt aber die Astrologie zudem den Anschein der Wissenschaftlichkeit, was sie für viele Menschen heute eher akzeptabel macht. In der Tat war die Astrologie die wohl früheste Form der geistigen Aneignung der Welt mittels eines naturgesetzlich konzipierten Regelwerks. Der Astrologe und Magier tritt an die Stelle des Schamanen – Wissen wird zur Macht. Es ist sicher keine Übertreibung zu behaupten, die Astrologie habe die Entstehung und Entwicklung der Astronomie nachhaltig beeinflusst. Das treibende Motiv aller Astronomie der Frühzeit war nicht astronomische Erkenntnis um ihrer selbst willen, sondern eine praktische Nutzanwendung: Erstellung eines Kalenders, Vorhersage von zyklisch wiederkehrenden Hochwässern, Festlegung von Terminen für die Aussaat – und eben auch die Bestimmung günstiger Zeitpunkte für Staatsaktionen oder private Handlungen sowie Voraussagen künftiger Ereignisse.
II.3 Plinius und die antiken Wurzeln der mittelalterlichen Magie Von besonderer Bedeutung für unsere Kenntnis der spätantiken Magie sowie für die magische Tradition des Mittelalters ist die „Naturgeschichte“ des Gaius Plinius Secundus des Älteren. Er wurde 22/24 u. Z. in Novum Comum (Como in Oberitalien) als Sohn einer wohlhabenden Familie geboren. Er kam früh nach Rom, wo er von Pomponius Secundus, der in seltener Verbindung sowohl Tragödiendichter als auch Feldherr war, in die vornehme Gesellschaft eingeführt wurde. Plinius begann eine Militärlaufbahn und diente u. a. 47–51 als Offizier in Germanien und stieg zum Kommandeur einer Kavallerieeinheit auf. Seit dem Jahr 52 trat er in Rom als Anwalt auf, setzte unter den Kaisern Titus und Vespasian seine unter Nero abgebrochene Militärlaufbahn fort und wurde Procurator in Syrien, Afrika, Spanien und Gallien. 76 kehrte er nach Rom zurück. Am 24. August 79 starb er beim Ausbruch des Vesuvs, dem die Städte Pompeji und Herculaneum zum Opfer fielen. Zwei Jahre zuvor stellte er seine „Naturalis Historia“ fertig, die in 37 Büchern (d. h. Hauptkapiteln) nicht nur naturkundliches, sondern auch ethnographisches und politisches Wissen enthält. Das große Werk des Plinius ist für unsere Kenntnis des Denkens der Spätantike von unschätzbarer Bedeutung, denn darin finden sich nicht nur die Ansichten des Autors, sondern der kompilatorische Aufbau des Werkes (Plinius gab an, er habe 2000 Bücher gelesen und in seinem Werk verarbeitet) liefert ein Bild der allgemeinen Vorstellungswelt seiner Zeit. Plinius betrachtete die griechischen Philosophen zurecht als Vermittler magischen Wissens. In der Tat haben griechische Denkschulen persische, babylonische und ägyptische Lehren auf76
genommen und einbezogen, dies unterstreicht die Offenheit des griechischen Geisteslebens. So bewunderte etwa Plato die Ägypter als Hüter alten und tiefen Wissens und für ihn und andere Philosophen war ägyptisch, nicht griechisch, die Sprache der hohen Gelehrtheit. Einige der namhaftesten griechischen Philosophenschulen, die Stoiker, Pythagoräer und Gnostiker, auch Plato, Aristoteles und deren Schüler und Anhänger, vertraten Vorstellungen, die von magischem Denken beeinflusst waren. Plinius kommt häufig auf die Magie zu sprechen, besonders aber im 30. Buch, wo er sie scheinbar sehr heftig kritisiert. Die Magie „diese trügerischste aller Künste“ gelte viel in der Welt und stehe schon seit Jahrhunderten in hohem Ansehen. Nach Ansicht aller von ihm (Plinius) herangezogenen Autoren habe der Perser Zoroaster sie erfunden. Jener Zoroaster solle nach Aussage des Aristoteles 6000 Jahre vor Plato gelebt haben, oder, nach Meinung des Hermippius von Smyrna (3. Jahrhundert v. u. Z.), 5000 Jahre vor dem Trojanischen Krieg. Diese sagenhaft klingenden Angaben sind falsch; der historische Zoroaster (Zarathustra) lebte vermutlich zwischen 628 und 551 v. u. Z. und begründete die Religion des Zoroastrismus oder Parsismus, eine monotheistische Lehre, die auf das Christentum nennenswert einwirkte. Entgegen der Annahme des Plinius, dass Zoroaster der Erzmagier schlechthin gewesen sei, lehnte dieser in Wirklichkeit die Magie ab. Allerdings gelangten viele magische Vorstellungen über persische Vermittlung nach Griechenland. Plinius macht einen Magier Ostanes als wichtigsten Vermittler der magischen Künste des Zoroaster nach Griechenland aus – auch das beruht nicht auf historischen Tatsachen. Zwar gab es einen Ostanes, der den Perserkönig Xerxes (519–465) auf seinen Kriegszügen begleitete, ob dieser sich aber mit Magie beschäftigte, ist nicht zu beweisen. Die Legende siedelte den Magier Ostanes auch nicht in Persien, sondern in Ägypten an und schrieb ihm den Satz zu: „Die Natur freut sich über die Natur, die Natur siegt über die Natur, die Natur herrscht über die Natur“. Dieser an sich ziemlich sinnlose Satz beschäftigte die Alchemisten und Magier späterer Zeiten recht häufig, galt er doch als tiefe Weisheit in verrätselter Form. Ebenso, wie Plinius hinsichtlich der Entstehung und Verbreitung der Magie vielfach legendenhafte Vorstellungen weitergibt, ist auch seine Haltung zu derselben aus heutiger Sicht zumindest widersprüchlich. Einerseits betont er immer wieder seine Ablehnung der Magie, andererseits ist seine ganze „Naturgeschichte“ ein Beweis des Gegenteils. Einige Beispiele mögen dies veranschaulichen. Schlangen werden durch brennendes Hirschhorn vertrieben, erläutert uns Plinius, weil es eine natürliche Feindschaft zwischen Hirschen und Schlangen gebe und erstere die letzteren zu ihren Löchern verfolgten und dort mit der Kraft ihres Atems zum Hervorkriechen zwängen. Eine gute Kur gegen Kopfweh bestehe in einer Pflanze, die auf dem Kopf einer Statue gewachsen sei und die man mit einem roten Faden an den Nacken binde. Will man das Dreitägige Fieber (evtl. ist Malaria gemeint) vertreiben, muss man vor Sonnenaufgang ein bestimmtes Kraut pflücken und es dem Patienten an den linken Arm binden, ohne dass dieser etwas davon merkt. Ein entzündliches Geschwür lasse sich durch einen Breiumschlag heilen, sofern dieser dem Patienten von 77
einer nackten Jungfrau angelegt werde, wobei sie und der Kranke fasten müssen. Neben medizinmagischen Rezepten glaubt Plinius auch an eine manchen Menschen innewohnende magische Kraft, die sich z. B. darin äußert, dass solche Personen mit ihrem Blick verzaubern oder Schlangen vertreiben können, oder einen Schlangenbiss nur durch Berühren der Wunde kurieren, auch Eier durch ihre bloße Anwesenheit faulen lassen. Hinsichtlich der magischen Kraft von Worten ist sich Plinius nicht ganz sicher; unsere Vorfahren, sagt er, haben immer daran geglaubt, und wenn man heute (d. h. zur Zeit von Plinius) glaube, dass die Vestalischen Jungfrauen durch eine Verwünschung imstande seien, entlaufene Sklaven aufzuhalten, solange diese innerhalb der Stadtgrenzen seien, so müsse man auch die Wortmagie insgesamt akzeptieren. Überhaupt glaubt Plinius an magische Kräfte in so ziemlich allen irdischen Stoffen und an bestimmte verborgene Kräfte von Sympathie und Antipathie zwischen denselben. Er kennt auch regelrechten Sympathiezauber. Falls eine Person bedauert, eine andere entweder durch einen Schlag oder ein Geschoß (Pfeil oder Stein etc.) verletzt zu haben, so solle sie sich auf die Fläche der Hand spucken, die die Verletzung bewirkt habe und der verletzten Person würden die Schmerzen sofort vergehen. Auch die Legende von jenem bestimmten kleinen Fisch, der auch das größte Schiff aufhält, indem er sich an dessen Kiel heftet, fehlt nicht. Diese Geschichte und Vieles andere, was in der Naturgeschichte berichtet wird, galt auch im Mittelalter als durchaus glaubwürdig. Plinius sah den Kosmos insgesamt als eine Gottheit an, „heilig, ewig, weit, Alles in Allem“. Die Sonne war für ihn der Geist und die Seele der ganzen Schöpfung und die Lenkerin der Natur. Wie die Astrologen sah auch Plinius eine wechselseitige Beeinflussung der Gestirne untereinander und damit auch auf die Erde und er übernahm die schon erläuterte Charakterisierung der Planeten (Saturn ist kalt, Mars feurig etc.). Die Gestirne sollten für das Wetter auf der Erde maßgeblich sein und auch das Leben von Pflanzen und Tieren beeinflussen. Übereinstimmend mit dem überlieferten römischen Pantheon betrachtete er den Planeten Venus, der auch die Liebesgöttin repräsentierte, als verantwortlich für alles neue Leben auf der Erde. Die verbreitete Vorstellung, wonach jeder Mensch seinen persönlichen Stern besitze, der bei der Geburt neu aufleuchte, mit den wechselnden Geschicken heller oder dunkler werde, und mit dem Tod verlösche, lehnte er ab. Er schloss aber den umgekehrten Fall, nämlich, dass die Gestirne das menschliche Leben beeinflussen, nicht aus, ohne sich dazu näher zu äußern. Allerdings hielt er die schlechte Vorbedeutung von Kometen und anderen Vorzeichen für gegeben.25 Man kann demnach sagen, daß Plinius zwar die Magier nicht mochte, ihre Vorstellungen aber teilte. Entgegen seinen wiederholten Beteuerungen lehnte er nicht die Magie ab, sondern eher deren Bindung an eine besondere Gruppe von Menschen, die für ihn und seine römischen Zeitgenossen 25
Angaben nach Fritz Graf: Gottesnähe und Schadenzauber. Die Magie in der griechisch-römischen Antike, München 1996, S. 48 ff.
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fremde Außenseiter waren, die im günstigsten Fall die Leute an der Nase herumführten und betrogen, im schlimmsten Fall ihre magischen Fähigkeiten zu allem möglichen Schadenzauber missbrauchten. Nicht ihr Glaube an die Magie machte die Magier verabscheuungswürdig, sondern im Gegenteil ihre unkontrollierbare magische Macht und die Gefahr, die deshalb von ihnen ausging. Plinius lehnt daher auch die Praxis der Geheimhaltung von Wissen ab; er übt scharfe Kritik daran, dass man zu wenig über die Heilwirkung von Pflanzen wisse, weil die Kundigen ihr Wissen nicht weitergäben, „als ob sie es verlören, wenn sie es mitteilten“.
II.4 Das alte Ägypten und die Entstehung der Alchemie Kann man Babylon als das Kernland der antiken Astrologie bezeichnen, so ist Ägypten die Wiege der Alchemie. Auch die Alchemie beruht auf einem metaphysischen Konzept, nur war hier nicht die Bestimmung der Gestirneinflüsse auf die Erde und die Menschen das Thema, sondern die Umwandlung der Materie. Auch die Alchemie ging von der Vorstellung eines verborgenen Wirkungsgefüges zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt aus, richtete ihr Augenmerk aber auf daraus abgeleitete Annahmen zur Umwandelbarkeit von Stoffen. Nun ist die Veränderung der Zusammensetzung verschiedener Substanzen an sich ein völlig alltäglicher Vorgang. Den Alchemisten ging es aber darum, auch Stoffe ineinander zu überführen, die wir heute als „Elemente“ bezeichnen und die deshalb so heißen, weil sie definitionsgemäß eben gerade nicht ineinander überführbar sind. Der Versuch, z. B. Kupfer in Gold zu verwandeln, ist aus naturwissenschaftlicher Sicht ebenso zum Scheitern verurteilt wie die Vorhersage künftiger Ereignisse aus den Eingeweiden eines Schafs. Aber ebenso, wie die Entwicklung der Astronomie wesentlich durch astrologische Zielsetzungen vorangebracht wurde, gäbe es keine moderne Chemie ohne die Alchemie. Die Wege der geistig-kulturellen Entwicklung des Menschen sind nicht geradlinig und die Straßenkarte der Kulturgeschichte kennt mehr Umwege und Sackgassen als Autobahnen – aber gerade das macht sie so interessant.
Die Götterwelt der Ägypter Ähnlich wie die babylonische, war auch die ägyptische Götterwelt vielfältig und komplex. Im Zentrum der Religiosität stand die Sorge um den schwierigen Übergang ins Totenreich – nur jene Seelen, die diese gefahrvolle Reise unbeschadet überstanden, gelangten zum ewigen Leben. Hier liegt der Grund für die aufwendigen Grabanlagen, die reichen Grabbeigaben und die komplizierten Totenrituale, bei denen die Einbalsamierung eine zentrale Rolle spielte. Beim Totengericht vor dem Herrscher der Unterwelt, Osiris, entschied sich schließlich, ob der Tote 79
das ewige Leben erhält, oder ob ihn die „Totenfresserin“ verschlingt, ein Monster mit dem Kopf eines Krokodils, dem Körper eines Löwen und dem Hinterteil eines Nilpferdes.
Abb. II.11: Der Gott Osiris. Darstellung aus einer ägyptischen Grabanlage des 13. Jahrhundert v. u. Z. Die große Muttergöttin Ägyptens ist Isis, die erste Tochter der Himmelsgöttin Nut und Schwester des Seth und des Osiris. Sie beherrscht die Erde, ist den Menschen grundsätzlich wohlgesonnen und eine Patronin der Magie. Wichtig für die ganze ägyptische Religion ist der Isis-Osiris-Mythos: Osiris ist der mythische Urkönig Ägyptens, der die Zivilisation bringt. Seine Schwesterfrau ist Isis. Seth tötet seinen Bruder Osiris und setzt diesen in einem Sarg auf dem Nil aus. Osiris treibt über das Meer bis in die phönizische Stadt Byblos. Mit Hilfe des schakal-köpfigen Anubis findet die trauernde Isis ihren Brudergemahl wieder und bringt ihn nach Ägypten zurück, wo Seth den Leichnam zerstückelt und die Teile verstreut. Der treue Anubis, Schutzgott der Balsamierer, hilft Isis erneut und es gelingt, Osiris zunächst zusammenzusetzen und dann wieder 80
zum Leben zu erwecken. Von Osiris empfängt Isis nun den falkenköpfigen Gott Horus, den Urahn der Pharaonen, die sich als Inkarnationen des Horus betrachteten. Osiris erlangt schließlich im Kampf mit Seth den Sieg und wird zum obersten Gott der Ägypter.
Abb. II.12: Statue des Gottes Horus im altägyptischen Tempel von Edfu in Oberägypten. Dieses Drama wiederholt sich im Jahreslauf stets aufs Neue und erklärt die Zeiten der Dürre und des Mangels (der tote Osiris) und der durch die Nilüberschwemmung eingeleiteten Periode der Fruchtbarkeit und der Fülle (der zum Leben erweckte und Horus zeugende Osiris). Dieser Mythos sollte, nach entsprechender Umformung, auch in der Alchemie von grundlegender Bedeutung werden. Die Verehrung der zauberkräftigen Isis und ihres Kindes Horus (ikonographisch analog zu Maria und Jesuskind) war während der hellenistischen Epoche auch außerhalb Ägyptens weit verbreitet, v. a. in Italien. Weitere wichtige Götter waren die häufig mit Isis gleichgesetzte Hathor und Ptah, der Hauptgott von Memphis und zusammen mit Thot der Gott der Wissenschaften und der Schrift. 81
Heka, der Zauber bzw. die Zauberkraft, auch die Personifikation der Magie, wurde als eine vor den Göttern vorhandene schöpferische Urkraft angesehen. Der Zauber war auch für die Götter und die Toten unverzichtbar, da er eine Art Lebenskraft darstellt („Ich bin jener, der die göttliche Neunheit belebt“). Zaubersprüche dienten dazu, diese Kraft zu behalten bzw. im Sinne magischer Beherrschung zu nutzen. Der Zauber kann auch als von den Göttern stammendes Wissen angesehen werden, mit dem der Mensch sich gegen das Schicksal wehren kann. Die Erfindung der Hieroglyphenschrift geht in ihren Anfängen schon auf vordynastische Zeiten (um 3200 v. Chr.) zurück. Sie wurde für die Magie insofern sehr wichtig, als man dem geschriebenen Wort eine besondere magische Kraft beimaß. So kam es zu einer Zweiteilung in eine gehobene und eine Volksmagie. Bei den Priestermagiern waren es die aus den Schriftrollen rezitierenden Vorlesepriester, denen eine besondere Zaubermächtigkeit zugeschrieben wurde, weil sie mit der Schrift eng vertraut waren. Der schriftlichen Fixierung eines Zauberspruches wurde eine Wirkungssteigerung zugetraut, da die Schrift selbst etwas Magisches war und man auch annahm, dass die Hieroglyphen selbst lebendig werden könnten. Aus diesem Grund wurden bestimmte Hieroglyphen auch verstümmelt dargestellt, um sie einer möglichen gefährlichen Wirkung zu berauben. Neben den Volks- und Priestermagiern war auch der Pharao quasi kraft Amtes ein Magier. Mittels der Magie sollten auch feindlich gesinnte Mächte vernichtet werden (Staatsmagie). Die Namen der fremden Herrscher oder Heerführer wurden in Theben auf Tongefäße geschrieben und diese dann zerbrochen (Sympathiezauber). Teils wurden auch Tonfiguren hergestellt und begraben, worauf der durch die Figuren abgebildete Mensch ebenfalls sterben sollte. Die ägyptischen Priester erlernten die Magie in den Tempeln (den „Lebenshäusern“), deren Bibliotheken anscheinend riesige Bestände an Zauberschriften besaßen, die nach der Christianisierung systematisch vernichtet wurden. Wir kennen dennoch zahlreiche Papyrustexte aus Grabbeigaben. Die Mehrzahl der Papyri ist „hieratisch“ geschrieben, einer vereinfachten Hieroglyphenschrift, die im sakralen Bereich bis in griechisch-römische Zeiten verwendet wurde, sowie in der noch weiter reduzierten demotischen Schrift, die seit dem 7. Jahrhundert v. u. Z. als Profanschrift gebraucht wurde. Daneben liegen viele Texte auch in koptischer Sprache (dem Ägyptisch der Spätzeit) bzw. auf Griechisch vor. Als Verfasser der Zaubertexte nahm man die Götter selbst an, oder Weise, die zu Göttern geworden waren. Meist erscheint Thot als Verfasser der Texte, die tatsächlichen Autoren waren die Tempelpriester, die behaupteten, solche Texte auf göttliche Eingebung hin geschrieben zu haben. Es handelte sich also nicht um Textfälschungen in unserem Sinn, sondern um „inspirierte“ Texte, deren Schreiber sich selbst nicht als deren Urheber verstanden.
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Dämonen und Gespenster Wie die Babylonier glaubten auch die Ägypter an durch Dämonen verursachte Krankheiten, die mit magischen Mitteln bekämpft werden mussten. Bestimmte Dämonen galten als Götterboten, d. h. als böse „Engel“ (griech. angelos = Bote), die Unheil oder Krankheit brachten.26 Viele Ärzte kamen daher aus der Priesterschaft und dienten z. B. der Göttin Sachmet, der die Verbreitung von Epidemien zugeschrieben wurde. Als deren Priester mussten sie sich schließlich am besten auf den Umgang mit der Göttin verstehen. Auch die erwähnten Vorlesepriester beschäftigten sich mit der Heilung von Kranken. Von den Dämonen zu unterscheiden waren die Gespenster, die Geister der Toten, die das Totenreich verlassen haben und dadurch den Lebenden gefährlich werden können. Die Toten mussten mit entsprechend ausgestatteten Gräbern bzw. geeigneten Ritualen daran gehindert werden, in die Welt der Lebenden einzudringen. Sie durften tagsüber auf der Welt wandeln, sollten aber nachts in ihr Reich zurückkehren. Die ägyptische Bezeichnung des im Neuen Reich (1552–1070) entstandenen „Totenbuches“, einer Sammlung von Ritualvorschriften und Schutzvorkehrungen bei der Reise ins Totenreich, lautet „Herausgehen am Tage“.27 Magische Praktiken zur Herbeizitierung der Gespenster wurden erst nach dem Ende des Neuen Reiches entwickelt. Man verwendete auch hier Sympathiezauber, indem man sich ein Stück von der Mumienbinde eines Toten besorgte und über diesem einen Zauberspruch aufsagte, der die Seele des Mumifizierten zu dem Magier brachte. Der Zweck der Totenbeschwörung war in erster Linie die Wahrsagung („Nekromantie“). Auch der Mumie selbst wurde Zauberkraft zugeschrieben und man benutzte in Europa seit dem Mittelalter das „Mumienpulver“ als Arznei. Die Toten konnten auch als hilfreiche Geister (spiritus familiaris) in Erscheinung treten. Nach Durchführung einer relativ komplizierten Beschwörung28 konnte man eine Art Schutzgeist zur persönlichen Verfügung erhalten; dieser „entfernt oder unterwirft andere Leute, verursacht Wind, verschafft Schätze, öffnet Türen, macht unsichtbar, organisiert prächtige Gelage, erwirkt die Liebe von Männern und Frauen“. Die Anleitung zum Erwerb eines derart nützlichen Hausgeistes entstammt einem griechischen Papyrus des 4. oder 5. Jahrhundert u. Z.
26 27 28
Vgl. László Kákosy: Zauberei im alten Ägypten, Leipzig 1989, S. 52. Kákosy, S. 70. Kákosy, S. 80.
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Die Ursprünge der Alchemie Die Alchemie ist die zweite große Geheimwissenschaft der Antike, die bis in die Neuzeit hinein geistig wirksam blieb. Ihre Entstehung fällt in die ersten Jahrhunderte unserer Zeit und ist mit dem ägyptisch-griechischen Kulturraum aufs Engste verbunden. Seit der Herrschaft der Ptolemäer öffnete sich die vorher sehr abgeschlossene ägyptische Kultur mehr und mehr fremden Einflüssen – es kam zum Hellenismus, einer ungemein fruchtbaren Epoche der gegenseitigen Durchdringung und Vermischung der uralten ägyptischen Hochkultur mit persisch-babylonischen und griechischen, später auch römischen Ideen und Vorstellungen. In diesem geistigen Klima liegen die Voraussetzungen für die Entstehung der Alchemie. Die ägyptische Hochkultur war seit ihren Anfängen eng mit komplizierten religiösen Vorstellungen verknüpft, in denen einerseits ein Weiterleben nach dem Tode eine wichtige Rolle spielte, andererseits aber auch zyklische Konzepte eines ständigen Wechsels von Tod und Wiedergeburt von hoher Bedeutung waren. Diese zyklischen Konzepte rührten vermutlich von den jährlichen Nilüberschwemmungen her, die für die Existenz der Staatsgemeinschaft von zentraler Wichtigkeit waren. Ihren mythologischen Niederschlag fanden sie insbesondere im schon geschilderten Isis-Osiris-Mythos. Die Priester der altägyptischen Religion waren nicht nur Seelsorger, sondern auch praktisch arbeitende Technologen. Die Ausschmückung der Tempel mit Statuen aus Edelmetallen, mit Edelsteinen und mit kostbar gefärbten Textilien oder Hölzern erfolgte durch von den Priestern betriebene Werkstätten innerhalb der heiligen Tempelbezirke. Wir wissen, dass die Kenntnisse der alten Ägypter in der Metallurgie, der Herstellung von Glas und der Bereitung hervorragender Farbpigmente diejenigen anderer Völker weit übertrafen. Wir wissen auch, dass man schon lange vor der Zeitenwende in den Tempelwerkstätten an Verfahren arbeitete, Edelmetalle, Edelsteine und Farben, insbesondere den kostbaren Purpur, nachzuahmen, d. h. ohne oder nur mit geringfügigem Einsatz echter Materialien Imitate zu erzeugen, die nicht als solche erkannt werden konnten. Naturgemäß unterlagen diese Verfahren der strengsten Geheimhaltung. Bei allem chemisch-technischem Geschick, das man den ägyptischen Priester-Technologen bescheinigen muss, betrieben sie doch noch keine Alchemie. Ihre Methoden beruhten auf experimentell gewonnenen Erfahrungen; die Frage, warum irgendeine Legierung gold- oder silberähnlich war, warum ein künstlich gewonnener Edelstein dem echten glich, stellte man sich nicht. Das Erfahrungswissen wurde nicht durch einen theoretischen Rahmen ergänzt. Erst die Verbindung der ägyptischen „Färbekunst“ – man betrachtete in der Tat die Imitation nicht allein von Farbstoffen, sondern auch von Edelmetallen und -steinen in erster Linie als einen Färbevorgang – mit spätantik-hellenistischer Philosophie führte zur Alchemie. Insbesondere die Elementenlehre des Aristoteles, die Gnosis und der Platonismus bzw. Neoplatonismus wurden für die Entwicklung der alchemischen Materietheorie prägend. 84
Die Elemente Betrachten wir zunächst die Elementenlehre. Heute versteht man unter einem Element eine bestimmte Atomsorte, also eine mit chemischen Mitteln nicht weiter in ihre Bestandteile zerlegbare Substanz. Die Frage nach den Grundbausteinen der stofflichen Welt wurde zuerst von den vorsokratischen Philosophen aufgeworfen. Anaximander (610–550) postulierte als Urprinzip das Unbegrenzte (apeiron), während Anaximenes (575–528) die Luft als dieses stoffliche Prinzip ansah. Empedokles (492–432) ging von vier verschiedenen „Prinzipien“ aus, nämlich Erde, Wasser, Luft und Feuer, die ungeschaffen, unveränderlich, unvergänglich und nicht ineinander umwandelbar sein sollten. Ihre Vereinigung stellte sich Empedokles als eine rein mechanische Mischung vor, die durch die „Liebe“ bewirkt werde, während der „Hass“ oder „Streit“ für ihre Trennung verantwortlich sei. Plato übernahm in seiner geometrischen Elementenlehre die Vierzahl von Empedokles. Er wählte als Bausteine zwei rechtwinklige Dreiecke, von denen sechs der einen Sorte ein gleichseitiges Dreieck bildeten, vier der anderen Sorte hingegen ein Quadrat ergaben. Aus vier gleichseitigen Dreiecken setzte er das Tetraeder zusammen, aus acht das Oktaeder, aus zwanzig das Ikosaeder und aus acht Quadraten den Würfel. Das Tetraeder wurde dem Feuer, das Oktaeder der Luft, das Ikosaeder dem Wasser und der Würfel der Erde zugewiesen. Aus geometrischen Gründen sollte eine Umwandlung von Feuer, Luft und Wasser ineinander möglich sein, die Erde aber war unwandelbar. Zur Bezeichnung dieser vier Elementarkörper insgesamt verwendete Plato den Begriff „stoicheion“; ihm entspricht im Lateinischen der Begriff „elementum“, von dem sich unser „Element“ ableitet. Man sieht deutlich, dass diese Annäherungen der griechischen Philosophen den Gegenpol zum Denken der Ägypter bilden. Diese befassten sich mit praktisch-experimenteller „Naturforschung“, die Griechen hingegen sahen diese als sozial degradierend an und verlegten sich auf die rein spekulativ-philosophische Beschäftigung mit der Natur. Ein ägyptischer Priester war sich, ungeachtet seines hohen sozialen Ranges, keineswegs zu schade, selbst zu laborieren – schließlich waren auch die Götter, insbesondere Anubis, aber auch Ptah und Thot, praktisch tätig. Die Griechen versuchten auch nicht, ihre Gedankenkonstrukte experimentell nachzuprüfen. Ihnen ging es grundsätzlich weniger um die Beschreibung der materiellen Realität, sondern um ein möglichst elegantes abstraktes Gedankengebäude. Aristoteles (384–322) ging von der Existenz einer Urmaterie (Materia prima) aus, die ähnlich einem Gas keinerlei konkrete Form oder sonstige Eigenschaften besitzt, allenfalls die der Undurchdringlichkeit.
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Abb II.13: Der Philosoph Aristoteles. Römische Kopie nach einer Skulptur des Bildhauers Lysippos. Ferner postulierte er vier „Grundqualitäten“, nämlich warm und kalt, feucht und trocken. Durch Aufprägung von jeweils zwei dieser Qualitäten auf die Urmaterie gelangte Aristoteles ebenfalls zu vier Elementen: Das Feuer ist warm und trocken, die Luft warm und feucht, die Erde kalt und trocken und das Wasser kalt und feucht. Diese vier Elemente sind das Substrat der irdischen „sublunaren“ Welt der Veränderungen, des Werdens und Vergehens. Die astralen Sphären bestehen nicht aus den irdischen Elementen, sondern aus der „Quinta essentia“, dem „Fünften Wesentlichen“. Dieses Himmelselement ging als „Quintessenz“ über die Alchemie in den allgemeinen Sprachgebrauch ein. Aristoteles betonte, dass die vier Elemente nicht mit den in der Natur vorkommenden gleichnamigen Stoffen identisch seien. So steht das natürliche Wasser dem Element „Wasser“ zwar sehr nahe, es kann aber auch gefrieren, enthält also auch Anteile des Elements Erde, und es kann verdampfen, weshalb auch das Element Luft 86
ein Teil des natürlichen Wassers sein muss. Das Element oder „Prinzip“ Wasser beschreibt hingegen alles Flüssige. Auch die Metalle enthalten dieses Element, da sie schmelzen können. Holz hingegen ist fest und brennbar, enthält also die Elemente Erde und Feuer. Die Elemente des Aristoteles sind keine konkreten Stoffe, sondern Eigenschaftsträger, die die Urmaterie formen und durch Änderung jeweils einer der beiden Qualitäten ineinander umgewandelt werden können. Wie diese Änderung zu bewerkstelligen sei, wird nicht erklärt. Die Elemente treten zu homogenen Körpern zusammen, wobei jeder homogene Körper alle vier Elemente enthalten sollte, allerdings in jeweils wechselnden Mischungsverhältnissen. Die homogenen Körper bilden dann ihrerseits durch mechanische Vermischung die inhomogenen Körper. Aristoteles unterschied begrifflich klar zwischen einer mechanischen Vermischung und einer stofflichen Umsetzung.
Die Gnosis Unter der Gnosis (griechisch für „Erkenntnis“) fasst man eine Reihe spätantiker religiös-mystischer Bewegungen zusammen, in denen sowohl christliche wie babylonische, persische und ägyptische Vorstellungen vereinigt wurden und die im 2. Jahrhundert u. Z. in Alexandria ihre Blütezeit erlebte. Die Gnostiker strebten nach der Erkenntnis aller Ursachen und Erscheinungen, um die schaffende Wirksamkeit Gottes nachzuahmen. Das Wissen, wie alle Dinge geschaffen wurden, soll dem Menschen eine Macht verleihen, die der göttlichen Schöpfungskraft gleichkommt. Allen gnostischen Vorstellungen ist der Dualismus von Gott und Materie als Gegensatz von Gut und Böse gemeinsam. Ein unerreichbar ferner höchster Gott überträgt das Schöpfungswerk der Welt untergeordneten Göttern, den Demiurgen, die den stufenweisen Abstieg des reinen, göttlichen Geistes in die Niederungen der sündhaften materiellen Welt bewerkstelligen. Die Demiurgen sind selbst nicht frei von Sünde und können daher keine vollkommene Welt schaffen. Nur die reine Seele stammt vom höchsten Gott, muss jedoch auf ihrem Weg ins Körperliche die Demiurgen passieren und dabei Mängel und Fehler aufneh men, aber ihr verbleibt ein „Göttlicher Funke“. Über verschiedene Stufen eines Erlösungswerkes soll diese Kluft überbrückt werden und die von allem Körperlichen befreite Seele zu Gott zurückkehren. Die Alchemisten griffen diesen Gedanken auf und wollten die „unreinen“ Metalle einem Reinigungs- und Veredelungsprozess unterwerfen, der quasi einer Erlösung entspricht. Die Gnosis übernimmt die persische, auf Zarathustra (um 630–533) zurückgehende Vorstellung vom Lichtgott Ahura Masda, der mit dem Herrscher der Finsternis, Ahriman, im Kampf liegt, der am Ende der Zeiten mit der Niederlage Ahrimans enden soll und verbindet sie mit dem Gegensatz von (göttlichem) Geist und schlechter Materie, wie ihn die griechi87
schen Stoiker lehrten. Die Erkenntnis wird dem Menschen dabei nicht durch Nachdenken zuteil, sondern durch Offenbarung. In der Vision (Ekstase) enthüllen sich dem Eingeweihten die verborgenen Beziehungen zwischen Mensch und Gott, und zwischen den Dingen und dem Kosmos. Daneben steht die Verheißung von Reichtum, Gesundheit und Unsterblichkeit durch Magie. Die Rituale der Kultgemeinden orientierten sich an den Zeremonien der Mysterienkulte und magischen Praktiken. Die Taufe mit einem „Wasser des Lebens“ als reinigendem Bad spielt eine große Rolle. Die Vorstellung des Demiurgen findet sich schon im „Timaios“ (ein Dialog über den Kosmos) von Plato. Hier erschafft der Demiurg die Welt, indem er einer ungeformten Urmaterie (khora) Form verleiht. (Ein Gedanke, den in abstrakterer Weise auch Aristoteles vertritt.) Plato vergleicht diese Urmaterie mit dem glattgestrichenen Ton eines Bildhauers, dem dieser dann eine bestimmte Form gibt. Für Plato ist die Welt ein Lebewesen, ausgestattet mit einer Seele und einem Körper, die sich in vollkommener Harmonie befinden. Die sieben Planeten, die Götter, die Tiere, die Organe des menschlichen Leibes, die Sinne und die Elemente bilden die körperliche Welt, den sinnlich wahrnehmbaren und fühlbaren Gott, der nach dem Vorbild des denkbaren Gottes geschaffen ist. Das Leben ist in jeder Art Materie gegenwärtig, und die Vorstellung von der Bildung und Neubildung der Metalle im Sinne eines Wachstums- und Reifungsprozesses im Anschluss an eine Zeugung derselben konnte sich entwickeln. Gleichzeitig verleiht die Beschäftigung mit der Urmaterie der Arbeit des Alchemisten eine kosmische Dimension – der Alchemist wird gewissermaßen selbst zum Demiurgen. Aus dem persisch-babylonischen Kulturkreis schließlich gelangten astrologisch-magische Vorstellungen in das Umfeld der Alchemie. Die Planeten wurden mit den Metallen in eine innere Beziehung gebracht, indem jedem Metall ein Planet zugeordnet wurde. Die Sonne wurde so zum astralen Gegenstück des Goldes und der Mond regierte das Silber; die übrigen Entsprechungen verbanden das Quecksilber mit dem Merkur, das Kupfer mit der Venus, das Eisen mit dem Mars, das Zinn mit dem Jupiter und das Blei mit dem Saturn. (Die Zuordnungen schwankten anfänglich; die genannte Anordnung setzte sich bei der Entstehung der Alchemie durch.) Damit besaßen alle der Antike bekannten Metalle ein kosmisches Analogon, das wiederum Rückschlüsse auf die innere Natur der Metalle erlaubte. Auch gab es bestimmte, astrologisch zu ermittelnde, günstige Zeiten für einzelne Operationen im Laboratorium. Der Alchemist war kein Magier im engeren Sinne, da er seine Ziele nicht in erster Linie durch die Hilfe von ihm beschworener Dämonen oder Geister zu erreichen trachtete. Wie der Astrologe verband auch der Alchemist die grundsätzlich magische Vorstellung der Makrokosmos-Mikrokosmos-Analogie und der Sympathie mit einer in ihren Grundzügen rationalen Theorie, die sich zudem auf praktisch-chemisches Erfahrungswissen stützte. Mit den „eigentlichen“ Magiern verband Astrologen und Alchemisten neben einer gemeinsamen Grundvorstellung auch die Praxis der Geheimhaltung ihres Wissens gegenüber Außenstehenden. 88
Grundvorstellungen der Alchemie Aus allen genannten (und einigen hier nicht erwähnten) geistigen Quellen formierte sich das Konzept der Alchemie. Absolut fundamental war die Annahme, dass man Gold oder Silber nicht nur imitieren, sondern erzeugen können müsse. Da die Metalle nicht als elementar angesehen wurden, sondern aus den vier „Elementen“ des Aristoteles zusammengesetzt sein sollten, stand dieser Idee prinzipiell nichts im Wege. Es ging nunmehr darum, eine Theorie der Metallgenese zu formulieren, aus der sich ein praktisch gangbarer Weg zum Ziel ableiten ließ. Diese Theorie besagte, kurz zusammengefasst, folgendes: Alle Stoffe bestehen aus einer an sich formlosen Ursubstanz (hyle, materia prima), die mittels einer Formkraft (pneuma) zu den vier Elementen wird, die sich ihrerseits zu den aktuell vorhandenen Körpern vereinigen. Die Unterschiede der konkreten Substanzen beruhen auf der unterschiedlichen Mischung der Elemente. Die Materie an sich wird passiv-empfangend und weiblich gedacht, das Pneuma erscheint aktiv-befruchtend und männlich. Die Materie ist letztlich die „Mutter Erde“, auf der wir leben, die Formkraft ist astralen Ursprungs. Beide werden als gegensätzliche Seinspole begriffen, die sich gegenseitig bedingen und vereinigen. Im Idealfall einer perfekten Verschmelzung entsteht Gold, in dem die vier Elemente vollkommen harmonisch vereinigt und geformt sind, in anderen Substanzen erfolgt diese Mischung und Vereinigung mehr oder weniger mangelhaft. Die Alchemie ermöglicht es nun dem Kundigen, diese imperfekten Naturstoffe zu veredeln. Dieses Grundkonzept wurde durch weitere Annahmen ergänzt und damit praktisch umsetzbar: 1) Man kann einen gewählten Ausgangsstoff, in den eben erläuterten Urzustand eines allgemeinen Substrats, die Materia prima, zurückführen. Welcher konkrete Körper sich dafür am besten eignet, ist unsicher. Von den frühen Autoren werden insbesondere das Blei, das Kupfer, oder die sog. „Tetrasomie“ genannt, eine Legierung der vier unedlen Metalle Blei, Kupfer, Zinn und Eisen. Die Hinzufügung eines kleinen Quantums echten Goldes oder Silbers als einer Art Metallsamen wird verschiedentlich empfohlen. 2) Die Neuverbindung von Substrat und Form erfolgt in mehreren Stufen, die durch unterschiedliche Farben gekennzeichnet sind. Der anfängliche, ungeformte oder chaotische Zustand wird als schwarz beschrieben. Es folgt die weiße Stufe des Silbers, die gelbe des Goldes und die rote der „Goldkoralle“ – ursprünglich als allerreinstes Gold betrachtet, wird daraus später der Lapis Philosophorum der sagenhafte Stein der Weisen, das Agens der Metallveredelung. 3) Die Alchemie geht in Anlehnung an weit ältere Annahmen davon aus, dass die Metalle im Schoß der Erde einen Reifungsprozess durchlaufen, der beim Blei beginnt und beim Gold endet. Mit seinem „Opus magnum“, dem „Großen Werk“, ahmt der Alchemist diesen Vorgang in stark beschleunigter Form nach. Der Alchemist imitiert in dieser Hinsicht die Natur, deren 89
inneres Gefüge er erkannt hat. Neu und in der Natur nicht vorgegeben ist jedoch der Stein der Weisen, der – modern ausgedrückt – als Katalysator wirkt. Durch den „Lapis“ bzw. durch sein Streben nach ihm, wird der Alchemist selbst zum Demiurgen und damit auch verantwortlich für mögliche problematische Folgen seines Handelns. Im Hinblick auf christliche Glaubensvorstellungen nimmt der Alchemist eine prekäre Position ein, indem er Gott „ins Handwerk der Schöpfung pfuscht“. Beides war maßgeblich für die von den Alchemisten stets gepflegte und ursprünglich von den Tempelpriestern übernommene Praxis der Geheimhaltung ihres Wissens. 4) In der alchemischen Praxis wird der Stein der Weisen – so man ihn denn erlangt hat – auf ein unedles Metall aufgebracht und verwandelt dieses praktisch sofort in Gold. Diesen Vorgang bezeichnet man als Projektion (das Aufbringen des Lapis auf ein unedles Metall) und Transmutation (die Verwandlung des Metalls in Gold). Im Laufe der Zeit wuchs die dem Stein der Weisen inhärente transmutierende Kraft beinahe ins Unermessliche. Eine winzige Menge desselben sollte in der Lage sein, gewaltige Quantitäten von Metall zu verwandeln. In seiner Arbeit wiederholt der Alchemist symbolisch den Isis-Osiris-Mythos: Zunächst wird die schon vorhandene gewöhnliche Materie in die Materia prima zurückgeführt, was symbolisch der Tötung und Zerstückelung des Osiris entspricht; die Urmaterie wird neu zusammengesetzt zur perfekten Substanz des Goldes bzw. des Steins der Weisen, analog der Zeugung des Horuskindes durch den wiederbelebten Osiris. Dieses Motiv lässt sich in der alchemischen Bildsprache durchgängig auffinden, wo die Rückführung zur Materia prima als Tötung eines Königs, gefolgt von dessen Wiederbelebung und seiner (sexuellen) Vereinigung mit der Königin dargestellt ist.
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Abb. II.14: Die Zerstückelung eines Menschen symbolisiert die Rückführung eines Stoffs in die Materia Prima. Darstellung in der Prunkhandschrift „Splendor Solis“ aus dem 16. Jahrhundert. 91
Abb. II.15: Die „Chymische Hochzeit“ als Vereinigung von Mann und Frau. Abbildung in der alchemischen Handschrift „Rosarium philosophorum“, die auf das 14. Jahrhundert zurückgeht. 92
Himmlische Lehrmeister Die Kenntnis der Alchemie wurde den Menschen nicht durch eigenes Nachdenken und Experimentieren bekannt, sondern durch die Vermittlung mythischer Wesen, die ähnlich dem Prometheus ihre Weisheit dem Menschengeschlecht offenbarten. Dazu zählen Agathodaimon und Hermes Trismegistus. Die ihnen zugeschriebenen Urtexte, deren Verfasser nicht bekannt sind, entstanden etwa im 3. Jahrhundert u. Z. Damit sollte der Alchemie der Charakter einer eigentlich göttlichen Lehre verliehen werden. Agathodaimon, der „gute Geist“ war der Stadtgott von Alexandria, dem Zentrum aller Gelehrsamkeit der Spätantike. Sein Symbol war der Ouroboros, die sich selbst in den Schwanz beißende Schlange.
Abb. II.16: Ouroborosdarstellung in einer alchemischen Handschrift von 1478 (Nationalbinbliothek Paris). 93
Der Ouroboros ist weitaus älter als die Alchemie, seit ca. 2300 v. u. Z. in Ägypten nachweisbar und auch bei anderen Kulturen des Altertums vorhanden, etwa in Form der altnordischen Midgardschlange. Er spielt in der Alchemie eine herausragende Rolle und steht für den ewigen Kreislauf der Natur, für den Wandel, aber auch für die Einheit des Kosmos. Dies ist so zu verstehen, dass die Natur sich zwar ständig verändert, aber essenziell gleichbleibt. Der Fortbestand des Kosmos wird nicht durch statisches Verharren erreicht, in dem nichts entsteht und nichts vergeht, sondern durch zyklischen Wandel, der wie Tag und Nacht oder die Jahreszeiten immer wieder einen Endpunkt erreicht, der zugleich ein Anfang ist. Daher steht der Ouroboros ebenso für das Dunkle, Zerstörende, wie für das Lichte, Schaffende. Er symbolisiert die Vereinigung der Gegensätze, das „Hen to pan“ (Eines ist das All) und steht nicht nur für die Möglichkeit der Transmutation, sondern versinnbildlicht auch deren Anfang (die Materia prima, das Chaos) und Ende (Materia ultima, Gold, Lapis). Zum eigentlichen mythischen Begründer der Alchemie wurde Hermes Trismegistus (der „Dreimalgrößte Hermes“).
Abb. II.17: Hermes Trismegistus in einem Fußbodenmosaik im Dom von Siena. 94
Ebenso wie bei Agathodaimon kennen wir auch von Hermes nur Übersetzungen aus dem arabischen und byzantinischen Mittelalter, der hellenistische Ursprung der Texte erscheint indes gesichert. In der Gestalt des Hermes Trismegistus fließen die ägyptischen Gottheiten Ptah und Thot, die als Götter der Schrift, des Schmelzens von Metallen, des Kalenders und der Wissenschaften und Künste schlechthin galten, zusammen mit dem griechischen Gott Hermes und dem römische Merkur. Für die Hellenisten war Hermes die göttliche Personifikation alles Wissens und des schöpferischen Geistes. Hermes Trismegistus wird zum Erz-Alchemisten, auch zum Namenspatron der Alchemie, die diesen Namen erst von den Arabern erhielt, jedoch vorher und auch später noch häufig als „Hermetische Kunst“ bezeichnet wurde. Ein zentraler Teil der hermetischen Schriften, die sich übrigens nicht nur mit Alchemie befassen, ist die rätselhafte „Tabula Smaragdina“, eine Chiffre des Geheimnisses der Alchemie, die zum Leittext aller mystisch bestimmten Alchemie wurde. Dies ist der Wortlaut der „Smaragdtafel“: Wahrlich, ohne Täuschung, sicher und das Allerwahrste. Was unten ist, ist so, wie das was oben ist: und was oben ist, ist so, wie das was unten ist, damit die Wunder des einen Dinges zustandegebracht werden. Und so, wie alle Dinge vom einen herstammten, durch die Meditation des einen, so kamen alle gewordenen Dinge von diesem einen Ding durch Ausgleichung. Sein Vater ist die Sonne, seine Mutter der Mond; der Wind hat es in seinem Bauch getragen. Seine Ernährerin ist die Erde. Der Vater aller Vollendung dieser Welt ist hier. Seine Kraft ist vollkommen, wenn sie sich der Erde zugewendet hat. Trenne die Erde vom Feuer, das Feine vom Dichten, sorgfältig mit großer Geisteskraft. Es steigt von der Erde in den Himmel und wiederum steigt es zur Erde herunter und nimmt die Kraft des Oberen und des Unteren in sich auf. So wirst du den Ruhm der ganzen Welt haben. Daher wird von dir alle Dunkelheit fliehen. Hier ist die starke Kraft der ganzen Stärke; da sie jegliches subtile Ding überwältigt und jedes feste Ding durchdringt. So ist die Welt erschaffen worden. Daher kamen die wunderbaren Angleichungen, deren Modus dieser ist. So bin ich Hermes Trismegistos genannt, der ich die drei Teile der Philosophie des Universums besitze. Das ist das Ende dessen, was ich über das Werk der Sonne sagte.29
Erstmals bei Hermes Trismegistus ist auch die Rede vom „Xerion“ (griech. Streupulver), das die Transmutation bewirken könne und als eine erste Form der Idee des Lapis zu betrachten ist. Damit wird ein grundsätzlich neuer Ansatz formuliert: Ziel des Großen Werkes ist es nun nicht mehr, eine gewisse Menge unedles Ausgangsmetall stufenweise zum Gold zu verfeinern, sondern die Herstellung eines „Pharmakon“ (wörtlich „Färbemittel“, sinngemäß Arznei), mit dem die unedlen, also defekten oder kranken Metalle zum Gold erhöht oder geheilt werden können. 29
Zitiert nach J. Ruska: Tabula Smaragdina. Heidelberg 1926, S. 2; es gibt diverse Übersetzungsvarianten.
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Man macht also nicht mehr Gold, sondern den Lapis, der dann seinerseits wie ein Ferment in geringer Dosierung große Mengen unedles Metall in Gold transmutiert.
Die ersten Alchemisten Maria die Jüdin, eine historisch kaum fassbare frühe Alchemistin, stellte die Vereinigung der Gegensätze in den Rahmen einer sexualisierten Metaphorik, die Vereinigung von Substanz und Form wird bei ihr zur „Chymischen Hochzeit“, als deren Resultat das „philosophische Ei“ entsteht, in dem alle vier Elemente enthalten sind und das zur vollendeten Frucht des Goldes heranreift. Dieses Ei wird im Feuer ausgebrütet – schließlich handelt es sich um Metalle – und dabei entsteht in mehreren Stufen der Stein der Weisen. Diese Stufen entsprechen symbolisch der Werdung eines Lebewesens aus dem befruchteten Samen. In ihren Umkreis gehört auch die Alchemistin Kleopatra, die eine Schrift über die Kunst der Goldherstellung verfasst hat („Chrysopoeia“) bzw. verfasst haben soll, die bis in die Neuzeit bei den Alchemisten in hohem Ansehen stand. Mit Zosimos von Panopolis gelangt die antike Alchemie zu einem gewissen Abschluss. Dieser älteste historisch fassbare Alchemist entstammte der oberägyptischen Stadt Panopolis und scheint schon in früher Jugend nach Alexandria gelangt zu sein. Seine Lebenszeit lässt sich auf das späte 3. und frühe 4. Jahrhundert eingrenzen. Zosimos ist es, der die Alchemie in eine innere, psychologische Beziehung zum Alchemisten setzt. Die Alchemie ist bei ihm keine vom Ausübenden unabhängige, prinzipiell von Jedem erlernbare Tätigkeit – vielmehr muss der Alchemist nicht nur Wissen besitzen, sondern auch charakterlich geeignet und sogar göttlich begnadet sein. Erkenntnis gewinnt er nicht mehr alleine aus dem Studium der Schriften und praktischer Laborarbeit sowie durch die Hilfe seines Lehrmeisters, sondern ebenso durch visionäre und intuitive Erfahrungen. Hierdurch erhält die Alchemie eine mystische Komponente. Zosimos schildert diesen innere Werdung des Alchemisten durch eine Traumvision, in welcher der noch unfertige „Kupfermensch“ zum „Silber“- und schließlich zum „Goldmenschen“ (Chrysanthropos) vervollkommnet wird. Hier wird erstmals eine unmittelbare Beziehung zwischen der Veredelung der Materie und derjenigen des Alchemisten hergestellt. Die Alchemie wird bei Zosimos zu einem Gesamtgebilde aus Mystik, Magie, Naturerforschung und Selbsterfahrung. Hier deutete sich eine Trennung an, die die Alchemie mehr oder weniger stark durch ihre ganze Geschichte aufweist, nämlich die mystisch-visionär ausgerichtete und die empirisch-praktische Alchemie. Beide Richtungen waren für unsere Vorstellungen vom Wesen der Natur und von unserem Platz in ihr mitbestimmend. Eine saubere Trennung der Alchemisten in Vertreter der einen oder anderen Richtung ist weder möglich noch sinnvoll. Es ist indes nicht zu bestreiten, dass die maßgeblichen Alchemisten des Mittelalters eher pragmatisch orientiert waren, die der Renaissance sich stärker metaphysisch ausrichteten. 96
Literaturhinweise Barnett, Mary und Dixon, Michael: Götter und Mythen des alten Ägypten. Gondrom, Bindlach u. a. 1998. Campion, Nicholas: A History of Western Astrology. 2 Bde, London u. New York 2008, 2009. Graf, Fritz: Gottesnähe und Schadenzauber, Die Magie in der griechisch-römischen Antike, München 1996. Haage, Bernhard D.: Alchemie im Mittelalter, Ideen und Bilder – von Zosimos bis Paracelsus, Zürich 1996. Haas, Volkert: Magie und Mythen in Babylonien. Von Dämonen, Hexen und Beschwörungspriestern, Gifkendorf 1986. Hamel, Jürgen: Begriffe der Astrologie. Von Abendstern bis Zwillingsproblem, Frankfurt/Main 2010. Jursa, Michael: Die Babylonier. Geschichte, Gesellschaft, Kultur, München 2004. Kákosy, László: Zauberei im alten Ägypten, Leipzig 1989. Kiesewetter, Karl: Die Geheimwissenschaften. 2. Aufl. Leipzig 1894, S. 275; siehe auch Neuauflage Wiesbaden 2013. Kopp, Hermann: Die Alchemie in älterer und neuerer Zeit, Heidelberg 1886, Nachdruck Hildesheim 1971. Lehmann, Alfred: Aberglaube und Zauberei von den ältesten Zeiten an bis in die Gegenwart, Stuttgart 1898, zahlreiche moderne Auflagen, z. B. Dresden 2014. Lippmann, Edmund O. v.: Entstehung und Ausbreitung der Alchemie, Berlin 1919, Nachdruck Hildesheim 1978. Priesner, Claus und Figala, Karin (Hg.): Alchemie, Lexikon einer hermetischen Wissenschaft, München 1998. Priesner, Claus: Chemie – Eine illustrierte Geschichte, Darmstadt 2015. Priesner, Claus: Geschichte der Alchemie, München 2011. Rankine, David: Heka: The Practices of Ancient Egyptian Ritual and Magic. Avalonia, London 2006. Roob, Alexander: Alchemie und Mystik, Köln 1996, 2006. 97
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Abbildungsnachweise Abb. II.1: wikimedia commons /Robert Fludd (1574–1637) – Fludd, Robert: Utriusque Cosmi Maioris scilicet et Minoris Metaphysica, Physica Atque Technica Historia. Oppenheim: Johann Theodor de Bry, 1617. Titelblatt Abb. II.2: wikimedia commons /Lubinski aus Iraq, USA. – Flickr, CC BY-SA 2.0, h Abb. II.3: akg-images /Erich Lessing Abb. II.4: wikimedia commons /Tla2006 in der Wikipedia auf Englisch – Übertragen aus en.wikipedia nach Commons Abb. II.5: wikimedia commons /BabelStone (Own work), CC0 Abb. II.6: akg-images /Bible Land Pictures Abb. II.7: Morris Jastrow jr., Bildermapper zur Religion Babyloniens und AssyriensGießen, 1912, Nr. 67 Abb. II.8: wikimedia commons /Unbekannt – Jastrow (2006) Abb. II.9: wikimedia commons /Brüder von Limburg – eigenes Werk Abb. II.10: wikimedia commons /Unbekannt – This reproduction is taken from Popular Science Monthly Volume 78, April, 1911, S. 316 Abb. II.11: wikimedia commons /Ignati – eigenes Werk Abb. II.12: wikimedia commons /Hajor (Diskussion, Beiträge) – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0 Abb. II.13: wikimedia commons /Nach Lysipp – Jastrow (2006) 98
Abb. II.14: akg-images /British Library Abb. II.15: akg-images Abb. II.16: akg-images /Fototeca Gilardi Abb. II.17: akg-images /Science Source
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Teil III Magisches Denken im Mittelalter Dieses Kapitel soll von der Magie im Mittelalter handeln. Der Begriff „Mittelalter“ entstand bei den italienischen Humanisten des 15. Jahrhunderts und sollte in abgrenzender und auch abfälliger Manier die Zeit zwischen der Antike und ihrer eigenen Epoche bezeichnen. Seit dem späten 17. Jahrhundert wurde der Begriff in Lehrbüchern als Epochenbezeichnung verwendet. Im Grunde handelte es sich dabei um eine Notlösung: Man wusste nicht recht, wie man die etwa 1000 Jahre zwischen dem Untergang des weströmischen Reiches 476 n. Chr. und der Entdeckung Amerikas für die Europäer durch Columbus 1492 eigentlich charakterisieren sollte. Die Antike, dass waren die Griechen und Römer, die Neuzeit, das waren Renaissance, Humanismus und geistiger Aufbruch, die Aufklärung und der absolutistische und moderne Staat. Aber was war dazwischen? Das ließ sich nicht so recht auf einen Nenner bringen und man einigte sich auf „Mittelalter“, eben die Zeit, die die Antike von der Neuzeit trennt. Aus der Sicht der Aufklärer, mit denen die moderne Geschichtsschreibung beginnt, war dies eine Zeit, die im Vergleich zur Antike und zur eigenen, der „neuen“ Zeit, eher von Stillstand, ja Rückschritt geprägt war und die man deshalb auch gerne mit dem Adjektiv „finster“ verband. Erst in den letzten Jahrzehnten setzte hier ein Gesinnungswandel ein, der jedoch teilweise ins andere Extrem führte und das Mittelalter als eine glückliche Epoche auffasst, in der der Mensch sich selbst noch nicht entfremdet war, seinen festen und gottgegebenen Platz im Schöpfungsganzen einnahm und nicht den Zwängen einer industrialisierten und hochdifferenzierten Gesellschaft unterworfen war. In Wahrheit war das Mittelalter natürlich sowohl düster, engstirnig und rückständig (gemessen an den Zivilisationen der Römer oder Mauren), wie auch geistig kraftvoll, von übernationaler, spirituell bestimmter Geschlossenheit und in seinen großen Momenten von faszinierender Ausstrahlung. Während des Mittelalters vollzog sich ein wahrhaft epochaler Wandel des Abendlandes, nämlich dessen Christianisierung. Dieser Wandel dauerte – je nach Region – mehr oder weniger lang, zog sich aber insgesamt über etwa die erste Hälfte des gesamten Zeitraums hin. Der Übergang zum Christentum hatte für das Denken der Menschen weitreichende Folgen, indem es nun eine Autorität gab, die bestimmte, was die Menschen zu glauben hatten, und was nicht. Dies war ein in der Antike völlig unbekannter Anspruch, sowohl im Mittelmeerraum wie in Europa insgesamt. Und er hatte vielfältige Auswirkungen auf das magische Denken; da die Menschen nicht gewillt waren, ihre überlieferten Götter mir nichts, dir nichts zu verlassen, nur, weil eine 100
ihnen unbekannte Institution namens „Kirche“ dies so wollte, vollzog sich ein Verdrängungsund Umdeutungsprozess, der Vieles zu „Magie“ und „Teufelswerk“ machte, was vorher einfach „Glaube“ gewesen war.
III.1 Die Sagas – Relikte vorchristlichen magiko-religiösen Denkens Ein grundsätzliches Problem bei der Erforschung vorchristlicher Kulte in Mittel- und Nordeuropa ist der Mangel an authentischen Quellen. In seiner eingehenden Studie „Eine Welt im Abseits. Zur niederen Mythologie und Glaubenswelt des Mittelalters“ stellt der Kulturhistoriker und Mediävist Claude Lecouteux fest, dass es nur wenige Texte gibt, die uns einen Einblick in die Vorstellungswelt des „germanischen Mittelalters“ geben. Diese Textzeugnisse seien überdies mit größter Vorsicht zu verwenden, „da manche Informationen nicht genuin sind“. Das soll heißen, dass hier die Sitten und Gebräuche bzw. Denkweise nicht objektiv geschildert werden, sondern aus der voreingenommenen Sicht der Prediger und Missionare. Deren Perspektive war naturgemäß nicht eine möglichst getreue Schilderung, sondern die Verdammung heidnischer Rituale. Daher kommt den nordischen Sagas eine besondere Bedeutung als Quelletexte zu, denn „wenigstens bis zum 13. oder 14. Jahrhundert hat das Christentum die Menschen des isländisch-skandinavischen Raumes nur wenig verändert“.1 Zu beachten ist auch die Einschätzung Lecouteux’, wonach es „keinen großen Unterschied zwischen den Nordgermanen und dem Menschen des klassischen Altertums [gibt]. Für beide ist der Raum voller Genien und Geister.“2 Mit dem Übergang von einer Jäger- und Sammlergesellschaft zur dauerhaften Niederlassung an bestimmten Orten geht ein fundamentaler Wandel im magischen Denken einher. Es gibt jetzt eine feste Grenze zwischen dem Kulturraum des „Innen“ und dem Naturraum des „Außen“. Mit der Landnahme entsteht ein neues Verhältnis der Menschen zur Anderswelt. Seine Sesshaftwerdung ist notwendigerweise mit der Besetzung eines gewissen Territoriums verbunden. Dies bedeutet, dass die bis dato dort wohnenden „Genien und Geister“ entweder vertrieben oder gnädig gestimmt werden müssen und – falls das gelingt – sogar als Schutzgeister fungieren können. Dabei kommt es zu einer Art „Vertrag“ zwischen den Menschen eines Dorfes und den dort wohnenden Wesen der Anderswelt. Dieser besagt im Wesentlichen, dass die Menschen dem oder den Ortsgeistern Opfer bringen und sie kultisch verehren, wenn diese dafür die Gemeinschaft zumindest nicht schädigen, bestenfalls vor anderen feindliche Wesen schützen. Der 1
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Claude Lecouteux: Eine Welt im Abseits. Zur niederen Mythologie und Glaubenswelt des Mittelalters, Dettelbach 2000, S. 14 Ebd.
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auf diese Weise geschützte Innenraum wird durch eine Einfriedung vom gefahrvollen Außenraum getrennt. Diese Einfriedung verheißt nicht nur Schutz und Frieden, sie bindet symbolisch auch die schützenden Genien an die Menschen; der eingefriedete Raum wird damit in gewisser Weise zum Heiligtum. Nicht nur der Ort, auch jedes Haus wird von Hausgeistern beschützt, die ebenfalls befriedete ursprüngliche Bewohner sind. Lecouteux zufolge ist „dieser Glaube gemeingermanisch“, also nicht nur in Skandinavien anzutreffen.3 Im Haus werden daher Opfergaben vergraben, wie ein schlesischer Zisterzienser namens Rudolf in einem zwischen 1235 und 1250 entstandenen Text berichtet: In den neuen Häusern oder in Häusern, in die sie neu einziehen sollen, graben sie Töpfe, die mit verschiedenen Dingen angefüllt sind, an verschiedenen Ecken und bisweilen unter dem Herde in die Erde ein für die Hausgötter, die das Volk Stetewalde [d. h. Walter des Platzes] nennt.4
Sie entsprechen den römischen Laren oder auch den Penaten. Der Hausgeist kann in späterer Zeit auch durch die Ahnen abgelöst werden. Es kommt also zu einer Vermischung der Landgeister mit den Toten. Das tote Familienoberhaupt wird unter der Schwelle des Hauses oder unter der Feuerstelle beerdigt, was jedoch zu Schwierigkeiten führen kann, wenn der Tote keines „guten“ Todes gestorben ist. In der „Saga der Leute aus dem Lachswassertal“ lässt sich Hrapp aufrechtstehend unter der Küchentür begraben. Bald danach geht er nachts um und schadet den Bewohnern. Er handelt, als wollte er sein Gut für sich alleine behalten, sobald Vigdis, seine Frau, es Thorstein dem Schwarzen zur Verwertung übergibt.5
Das Problem hier ist der „gute Tod“. Der „gute Tod“ bedeutete nicht nur, dass der Verstorbene auf Zugang zu den himmlischen Gefilden hoffen durfte, sondern auch, dass keine Gefahr bestand, dass er wieder zurückkehren werde. Vor einer solchen Rückkehr fürchteten sich beide, der sich auf den Tod vorbereitende oder ihn erwartende und seine Verwandten, Freunde und Nachbarn. Im Falle eines „schlechten Todes“ verharrte der Verstorbene in einem schattenhaften Zwischenreich, das das tatsächlich Unerreichbare, also im christlichen Kontext Himmel und Hölle, von der Menschenwelt des Diesseits schied. Der schon genannte Kulturhistoriker Claude Lecouteux beschreibt diesen Sachverhalt in seinem Buch „Die Geschichte der Vampire, Metamorphose eines Mythos“ mit folgenden Worten: 3 4 5
Lecouteux, Welt im Abseits, S. 20 Ebd. Ebd.
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Man muss also sein Leben zu Ende leben, sein Schicksal erfüllen, die von den Göttern gewährte Zeitspanne respektieren; geschieht dies nicht, so weist uns das Jenseits ab, und es findet kein „Hinscheiden“ im etymologischen Sinn des Wortes statt, das heißt, es gibt keinen „Übergang auf jene Seite, ins Jenseits“, auf die andere Seite einer unsichtbaren Grenzlinie, die eigentlich die Verstorbenen von den Lebenden trennt. […] [Diese Toten werden eingeschlossen] in einer Welt, die häufig der unseren gleicht, mit Wohnstätten und Ländern, eine Welt der Schatten, in Dämmerlicht getaucht, furchterregend, wesenlos oder glücklich, eine Welt unter einem Berg oder inmitten desselben, auf einer Insel jenseits des Ozeans, unter der Erde oder in einem unbestimmten Anderswo.6
Hrapp starb also einen „schlechten Tod“, konnte nicht vollständig in die Jenseitswelt hinübertreten und wurde zum Wiedergänger. Der Vorstellung vom Guten Tod liegt die Annahme eines erfüllten Lebens zugrunde, eines Lebens, in dem alle Stufen vom Kind bis zum Greis ordentlich durchlaufen werden und man nach gebührender Vorbereitung den Tod durch Altersschwäche erleidet. Wem ein solches Leben nicht beschieden war, der konnte im Tod von dieser Welt nicht vollkommen scheiden, mit der ihn nach wie vor die Fäden eines nicht erfüllten Lebens verbanden. Dies machte solche Tote zu potentiellen Wiedergängern. Nicht nur einzelne Gehöfte oder Dörfer werden umzäunt, sondern auch Bäume, Quellen oder Wiesen. Solche Orte heißen althochdeutsch harug, was „Kultstätte“ oder „Heiligtum“ bedeutet. Damit werden befriedete Zonen zwischen den oft weit auseinanderliegenden Wohnstätten geschaffen. Auf diese Weise wird Schritt für Schritt die „wilde Natur“ zurückgedrängt. Gleichzeitig liegt hierin die Erklärung für die Verehrung von Bäumen, Quellen oder sonstigen „Kraftorten“ in der Natur. Ein Netz von realen, von gesetzlich-religiösen und mythischen Verflechtungen strukturiert den Raum, macht aus ihm ein geschlossenes Ganzes, in dem jedes und jeder seinen festen Platz hat. Dank der entworfenen Struktur trennt der Mensch die Geisterwelt ab, zieht Demarkationslinien, behauptet sich gegen die Unsichtbaren und gegen die Unterirdischen. Das bedeutendste und bedeutungsträchtigste Grundmerkmal der Landschaft werden die Einhegungen, Einfriedungen, Hecken und Zäune, die im Konkreten das eingrenzen, was in den Glaubensvorstellungen für heilig gehalten wird.7
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Claude Lecouteux: Die Geschichte der Vampire. Metamorphose eines Mythos, Düsseldorf und Zürich 2001, S. 41. Ebd., S. 28.
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Der Übergang von der nomadisierenden zur sesshaften Lebensweise erfolgte also durch eine Befriedung und Domestizierung ursprünglich wilder und bedrohlicher Wesen der Anderswelt; aus bösen oder gefährlichen Dämonen wurden Schutzgeister.
III.2 Magie und Frühchristentum Mit der Kultur der Römer gelangten die ursprünglich aus dem Nahen und Mittleren Osten stammenden Geheimlehren und sonstiges magisches Wissen zu Kelten und Germanen und wurden relativ problemlos integriert. Die griechische und römische Antike kannte die Magie nicht als widergöttliche Macht, sondern als eine von den vielen Gottheiten wie Hekate oder Diana verliehene Eigenschaft, deren Anrufung allgemein gebräuchlich war.8
Nachdem Kaiser Konstantin I. (274–337), seit 323 Alleinherrscher des Römischen Reiches, im Jahr 313 ein Toleranzedikt erlassen hatte, das die heidnischen Kulte nicht verbot, aber dem Christentum volle Freiheit einräumte, nahm der Einfluss des neuen Glaubens auch im politischen Bereich rasch zu. Nunmehr wurden die Heiden zu Verfolgten und der Kaiser, der seine wichtigen Siege unter dem Zeichen Christi auf den Schilden seiner Soldaten gewonnen hatte, stand der neuen gesellschaftlich und staatspolitisch emporstrebenden Kraft aufgeschlossen gegenüber. Mit der Verbreitung des Christentums in Europa setzte ein tiefgreifender Wandel ein. Der Mythenforscher und Mediävist Werner Wunderlich erklärt dazu kurz und knapp: Erst Christentum und Mittelalter kennen das Moment des Verrats an Gott, der Verpfändung des Seelenheils.9
Der Alleinvertretungsanspruch der Kirche in Glaubensfragen grenzte die „Heiden“ rigoros aus. Im Rahmen ihrer Missionstätigkeit folgte die katholische Kirche zunächst einer radikalen Strategie, die auf die Ausrottung aller nichtchristlichen Kulte zielte. Als man im Laufe der Zeit einsah, dass es nicht so einfach war, die heidnischen Stämme und Volksgruppen mit Gewalt von ihren überkommenen Vorstellungen zu lösen, verlegte man sich auf eine flexiblere Haltung, die z. B. vorhandene Kultplätze als solche beließ, aber mit christlichen Kirchen besetzte. Zudem 8
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Werner Wunderlich: Verführer, Schurken, Magier. Mythos, Rezeption und Typologie sozialer Außenseiter. St. Gallen 2001, S. 13–26, hier S. 25. Ebd.
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wurden kirchliche Feste auf Zeiten gelegt, die schon in heidnischer Zeit von Bedeutung waren, etwa Weihnachten zur Wintersonnenwende und Ostern zur Zeit des Frühjahrsbeginns (Tagund Nachtgleiche). Gleichzeitig mit der Christianisierung erfolgte nicht nur eine Umdeutung älterer Kultplätze oder Festzeiten, sondern auch eine Dämonisierung älterer Gottheiten, die nun mit den christlichen Höllenmächten identifiziert wurden.
Abb. III.1: Darstellung des Teufels auf dem „Mömpelgarder Altar“, um 1540. 105
Mit der Gottesmutter kam auch ein Ersatz für die ansonsten in der Männerkultur des Christentums nicht repräsentierten heidnischen Mutter- und Fruchtbarkeitsgöttinnen in das Glaubensgefüge – allerdings in einer von jeder Sexualität gereinigten Form, gemäß dem nicht zuletzt von dem „Kirchenvater“ Augustinus verfochtenen Ideal der Körperfeindlichkeit. Auch die Mutterrolle Marias wurde durch das Konstrukt der „unbefleckten Empfängnis“ von der verhassten Sexualität gelöst und Maria so zur zwar empfangenden, aber gleichwohl „reinen“ Pseudogöttin stilisiert. Zudem näherte sich die Katholische Kirche mit ihrem im Mittelalter immer mehr ausufernden Heiligenkult schrittweise dem überkommenen polytheistischen Denken an. Umso entschlossener verfolgte die Kirche diejenigen, die insgeheim die alten, nichtchristlichen Kulte weiterpflegten. Ein Dekret des Kaisers Theodosius (reg. 379–95) vom Jahr 392, bestimmte: Einem jeden – welcher Art auch seine Familie, seine Stellung, seine Würde sein mögen, ob er nun öffentlichen Einfluss oder öffentliche Ämter innehat oder nicht, ob seine Geburt, sein Stand oder sein Vermögen beträchtlich oder bescheiden sind – ist hiermit auf das Strengste untersagt, an welchem Ort, in welcher Stadt auch immer, den Götzen zu dienen oder zu opfern, im Inneren seines Hauses Weihegeschenke darzubringen, sei es, indem er ein Feuer zu Ehren der Laren anzündet, sei es, indem er Wein zu Ehren des Genius vergießt, sei es, indem er für die Penaten Räucherstäbchen abbrennt; er darf auch kein Licht auf ihren Altar stellen, keinen Weihrauch darauf verbrennen und ihn nicht mit Blumengirlanden schmücken. Wer auch immer es wagt, ein Tieropfer zu bringen oder die Eingeweide von frisch getöteten Tieren zu befragen, macht sich des Verbrechens der Majestätsbeleidigung schuldig. Ein jeder hat das Recht, ihn anzuzeigen, und man wird über ihn die Strafe verhängen, die im Gesetz dafür vorgesehen ist, selbst wenn man ihn nicht wegen Verschwörung gegen Sicherheit und Leben des Herrschers anklagt. Denn um sich des Verbrechens der Majestätsbeleidigung schuldig zu machen, genügt es, die Regeln des Naturrechtes zu verletzen, unerlaubten Nachforschungen nachzugehen, geheime Angelegenheiten aufzudecken, zu tun, was verboten ist, zu versuchen, der Gesundheit anderer zu schaden oder ihnen nach dem Leben zu trachten.10
Wenn jemand Weihrauch Götzenbildern opfert, die von der Hand des Menschen stammen und verdammt sind, oder wenn er es wagt, eitle Bilder zu verehren, indem er einen Baum mit Bän10
Hervé Fillipetti und Janine Trotereau: Zauber, Riten und Symbole. Magisches Brauchtum im Volksglauben. Freiburg (Br.) 1992, S. 29.
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dern behängt oder im Freien einen Altar errichtet, so macht er sich damit, selbst wenn er eine Kultübung ausführt, nichtsdestoweniger einer Beleidigung gegen die Religion und eines Sakrilegs schuldig.“11 443 fasste eine Synode folgenden Beschluss: Ein Bischof darf in seiner Diözese nicht zulassen, dass die Ungläubigen Fackeln anzünden und Bäume, Quellen oder Felsen verehren. Unterlässt er es, diese Bräuche auszurotten, macht er sich des Sakrilegs schuldig.12
Das Konzil von Tours bestimmte 567 erneut: Alle, die an dem Unglauben festhalten, an irgendwelchen Steinen, Bäumen oder Quellen, also an Plätzen, deren Verbindung mit dem Heidentum wohlbekannt ist, kultische Handlungen zu begehen, die mit den kirchlichen Regeln unvereinbar sind, sollen aus der heiligen Kirche ausgeschlossen werden und es soll ihnen untersagt werden, sich dem heiligen Altar zu nähern.13
Die Bekämpfung der alten Kulte setzte sich auch in den folgenden Jahrhunderten fort. Noch im Jahre 1310 bestimmte das Konzil von Trier: Man darf keine günstigen oder ungünstigen Vorhersagen machen aus dem Flug oder dem Schrei der Vögel oder aus dem Aussehen eines Tieres.14
Auf derselben Kirchversammlung wurde auch der Dianakult verurteilt, was zwar nicht unbedingt bedeutet, dass es ihn noch gegeben hat, allerdings nichtchristliches kultisches Handeln belegt, das seitens der Kirche mit dem Dianakult gleichgesetzt wurde. Die römische Göttin Diana vertritt hier, wie auch in anderen Dokumenten kirchlicher Autoren, pars pro toto ältere einheimische Göttinnen. Bei Burchard von Worms (um 965–1025) heißt es in dessen Gesetzessammlung „Decretorum Libri XX“,15 entstanden zwischen 1012–1023, im 9. Buch, man solle Christinnen danach fragen, ob sie glaubten, dass Frauen mit der
11 12 13 14 15
Ebd., S. 29. Ebd., S. 30. Ebd. Ebd., S. 35. Hrsg. v. Gérard Fransen und Theo Kölzer: Burchard von Worms, Decretorum Libri XX, ergänzter Neudruck der Editio Princeps Köln 1548, neu 1992.
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heidnischen Göttin Diana in bestimmten Nächten auf Tieren ritten und dabei viele Länder durchquerten. Diese Frage zielt eindeutig auf eine magische Praxis, die später als Hexenflug bekannt wurde und bei den Hexenverfolgungen am Beginn der Neuzeit eine wichtige Rolle spielte. Die Altgermanistin und Kulturwissenschaftlerin Agnes Tuczay führt dazu weiter aus: An anderer Stelle erwähnte er [Burchard], dass diese dämonischen Frauen durch geschlossene Türen aus dem Haus gehen und in der Luft große Strecken zurücklegen, sich zum Himmel erheben konnten, wo sie sich mit anderen Kämpfe lieferten, ihnen Wunden beibrachten und von diesen empfingen. Sie töteten sogar getaufte Menschen, kochten deren Fleisch und verzehrten es und setzten anstelle ihres Herzens Stroh, Holz und anderes ein. Dann belebten sie die Gegessenen wieder und gaben diesen eine Lebensfrist, danach mussten die Opfer sterben. Die merkwürdige Schar der nachtfahrenden Frauen offenbarte die Zukunft, weshalb auch, einem Bericht des 15. Jahrhundert zufolge, Wahrsager mitgezogen sein sollen.16
Es liegt auf der Hand, dass es sich hierbei um eine faszinierende Vermengung schamanistischer mit neueren kultischer Vorstellungen handelt, die aber im Kern alle in der mittel- und nordeuropäischen Kulturtradition zu verorten sind. Nicht allein der Hexenflug deutet sich hier an, auch die „Wilde Jagd“. Dem Kulturhistoriker und Germanisten Claude Lecouteux zufolge handelt es sich bei der „Wilden Jagd, dem Wütenden Heer, der Höllischen Jagd“ um ein Phänomen der Volksmythologie, worunter er einen Komplex von Vorstellungen versteht, „die sicher älter als das Christentum“ sind Diese volksmythologischen Vorstellungen „prägten das Alltagsleben, hatten ihr gesellschaftliche Funktion, verfügten über einen inneren Zusammenhang und formten ein entwickeltes System der Weltdeutung“. Diese wurden allerdings durch eine „interpretatio christiana“ überlagert, damit umgedeutet bzw. ausgelöscht. Was wir heute vorfinden, sind nur noch Teile eines Puzzles.17 Der frühhumanistische Theologe und Philosoph Nikolaus von Kues (1401–1464) übte eine Vielzahl kirchlicher Ämter aus und war 1450–1464 auch Bischof von Brixen in Südtirol.
16 17
Tuczay: Geister, Dämonen Phantasmen – eine Kulturgeschichte. Wiesbaden 2015, S. 96. Lecouteux: Im Reich der Nachtdämonen. Angst und Aberglaube im Mittelalter. Düsseldorf, Zürich, 2001 S. 12 f.
108
Abb. III.2: Nikolaus von Kues. Holzschnitt aus der Schedelschen Weltchronik von 1493. Dort predigte er über eine im dortigen Fassatal aktive „Gesellschaft der Diana“. Der Bischof identifizierte volksmagisches Handeln dreier Frauen aus dem südtiroler Fassatal fälschlicherweise mit dem antiken Dianakult. Das Thema der Umdeutung bzw. Verketzerung überlieferter Glaubensinhalten18 zieht sich durch die gesamte abendländische Magiegeschichte und wird uns immer wieder beschäftigen.
18
Carlo Ginzburg: Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte. Berlin 1999, S. 96 f.
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III.3 Umdeutungen Während in den vorchristlichen Kulturen eine Einverleibung neuer, von außen kommender Vorstellungen und kultischer Normen weitgehend unproblematisch verlief, führte der spirituelle Alleinvertretungsanspruch der katholischen Kirche zum Zwang, die älteren spirituellen Traditionen auszulöschen. Die oben zitierten Konzilsbeschlüsse belegen diese über Jahrhunderte hinweg immer wieder erneuerten Bemühungen. Mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung bemühte sich die Kirche, alles was der christlichen Lehre zuwider war, sich aber nicht so leicht verbieten ließ, durch eine Art Adaption in den eigenen Glauben zu integrieren. Dazu waren neben der Diabolisierung älterer Gottheiten auch mannigfache Umdeutungen nötig. Was sind Dämonen, und was unterscheidet sie von Gespenstern? Bei den Babyloniern waren es namenlose Verursacher des Bösen, sie stehen für den Glauben an eine Vielzahl unberechenbarer, launischer und unheimlicher Mächte im Sinne personifizierter Naturgewalten. In ähnlicher Weise nahmen auch die Volksstämme Germaniens und Skandinaviens diese unter den Göttern rangierenden Geistwesen wahr. Dämonen konnten Krankheiten verursachen, was schon im schamanistischen Denken angelegt ist und bei den Babyloniern feste Gestalt annahm. Der Altorientalist Volkert Haas bemerkt dazu: Viele der [babylonischen] Krankheitsdämonen waren vermutlich ursprünglich Windoder Sturmdämonen, die, wie der Teufel noch im Mittelalter, in den Menschen durch Nase, Ohren, Mund und After einfahren.19
Gelingt es, einen gefährlichen Dämon mit magischen Mitteln zu zähmen, wird er zum Schutzgeist. Hier existiert eine deutliche Parallele zur schamanischen Initiation: Dabei wird der angehende Schamane zunächst von bösen, feindlichen Wesen bedroht und angegriffen, die danach zu Schutzgeistern und Verbündeten werden. Wie oben gesagt, waren es sieben Dämonen, die den Babyloniern Furcht und Schrecken einjagten. Die Siebenzahl hatte aber noch eine viel weitergehende zahlenmagische Bedeutung. Analog zu den sieben heiligen Planeten, in denen die Babylonier den Ausdruck göttlicher Äußerungen sahen, bildeten sie sieben Weltteile, sieben Flüsse, sieben Winde, sieben Metalle und sieben Farben. Weitere Beispiele für die Sieben in der babylonischen Kultur sind die sieben Himmel, die sieben kosmischen Türme mit sieben Stufen, die sieben Locken des Gilgamesch, die sieben Zweige des Lebensbaums, die sieben Hauptsterne am großen Himmelswagen, oder die sieben Tore der Unterwelt in der Höllenfahrt der Ištar. Über die Griechen und Römer gelangte die „magische Sieben“ auch in den nordeuropäischen Kulturkreis. 19
Volkert Haas: Magie und Mythen in Babylonien, S. 119.
110
Von den Dämonen zu unterscheiden sind Gespenster. Bei Ihnen handelt es sich um unterschiedliche Erscheinungsformen Verstorbener. Sie können als halbdurchsichtige, körperlose Wesen erscheinen, aber auch sehr handfest als „Untote“ bzw. Vampire oder „Wiedergänger“, wie Hrapp in der oben angeführten Saga. Auch die in allen Kulturen verehrten Ahnen werden häufig als wesenhaft präsent gedacht („Ahnenkult“).
Der Schrat Die erwähnten christlichen Umdeutungen hinterlassen freilich nur Trümmer einstiger Glaubensvorstellungen, was es schwierig macht, diese Wesen der Niederen Mythologie zu charakterisieren. Betrachten wir einige konkrete Beispiele solcher Umformungen und folgen wir dabei den Forschungen von Claude Lecouteux. Ausgehend vom „Corpus der althochdeutschen Glossen“ (einer umfangreichen Zusammenstellung von Wortbedeutungen in Texten der Zeit) stellt er eine Reihe von Zusammenhängen her, in denen der Schrat erscheint. Es kann sich demnach ursprünglich um einen friedlosen Toten, einen Wiedergänger gehandelt haben. Auch ein schädigender Geist erscheint möglich. Dann wandelt sich der zum Gaukler, oder Betrüger, auch zum Zauberer und Beschwörer. Als solcher dient er dem Teufel und wird auch selbst zum Teufel. Dabei wird „die wahre Natur des Schrates zuerst vertuscht, dann getilgt. Dieses Wesen wird der Zauberei und Schwarzkunst zugeordnet und verliert jeden Bezug zur Totenwelt“.20 Weiterhin wird der Schrat zu einem Traumgebilde, zum Nachtmahr, zum Aufhocker oder zum Incubus. In einer Schrift des Klosters St. Gallen aus dem 10. Jahrhundert trägt der Schrat eine Maske („larva scrato“) oder eine Totenmaske („thalamasca“). Im Mittelalter verurteilte die Kirche Masken im Allgemeinen, denn bei heidnischen Maskeraden wird der Mensch zu dem, was die Maske darstellt, verliert dabei seine Natur als Christenmensch und wird zum Dämon. In anderen Glossen wird der Schrat in die Nähe der Wald- und Feldgeister gerückt. Hier findet eine Verschmelzung des Schrats mit dem Faun, dem über und über behaarten Waldmenschen, den Satyrn und dem Incubus statt. Diese Konfusion rührt von Augustinus her, der in seinem „Gottesstaat“ (De cicitate Dei) feststellt: „Silvanos et faunos quos vulgos incubos vocant.“ (Waldmenschen und Faune, die man ‚incubos‘ nennt.) Unter „Incubus“ (Plural Incubi, von lateinisch ‚incubare‘ für ‚oben liegen‘, ‚ausbrüten‘), wird in der Mythologie ein männlicher, Albträume verursachender nachtaktiver Dämon, ein Waldgeist oder auch Sylvan verstanden, der sich nachts mit einer schlafenden Frau paart, ohne dass diese etwas davon bemerkt. Im 13. Jahrhundert wird der Schrat zum „Schrättel“, zu einem kuriosen Hausgeist, der kleinwüchsig gedacht wird und sogar Gutes tun kann. Um 1460 verzeichnet Michael Behaim (1420 bis nach 1472) folgenden Glauben: 20
Lecouteux: Welt im Abseits, S. 61
111
Auch etliche glauben haben, jeglichs Haus hab ein Schretlein; wer das ehrt, dem geb es gut und er [Ehre]21
Diese Sicht des Schrats als guter Hausgeist erscheint auch schon viel früher bei Burchard von Worms („Decretorum“). Lecouteux erkennt einen Bezug des Schrats zu den ursprünglichen Landdämonen, den landvaettir: Demzufolge glaube ich, dass der Schrat eine Abart bzw. ein Ausläufer des Totenkults ist und dass er den nordischen landvaettir entspricht, diesen Familiengenien – auch genius loci – die die Sippe beschützen und ins Leben der Menschen eingreifen, sobald sie einen Grund haben. […] Leider werden die Ahnen oft mit den Landgenien vermengt, sodass es beinahe unmöglich ist, zwischen ihnen zu unterscheiden.22
Der Bilwiz Zunächst, etwa bei Wolfram von Eschenbach (um 1160 – um 1220), ist der Bilwiz oder Bilwiß ein Dämon, der krankmachende Pfeile verschießt („Hexenschuss“). In einer Wiener Zauberhandschrift aus dem Jahr 1387 findet sich ein Hinweis auf die Göttin Diana, deren Krankheitspfeile volkstümlich als „pilwizzschos“ (Bilwizschuss) bezeichnet werden.23 Dieses Pfeileschießen scheint vom 13. bis 15. Jahrhundert das Hauptmerkmal des Bilwiz zu sein. Zugleich wurde er mit einem Zwerg oder kleinem Kobold verbunden, der das Haus schützte. Hier lebt der Bilwiz in einem beim Haus befindlichen „Bilwiz-Baum“ und wacht über den Wohlstand der Familie. Man brachte ihm die Kleider erkrankter Kinder oder schob letztere durch Astgabeln, um sie gesund zu machen.24Hier ergibt sich eine Brücke zur frühmittelalterlichen Baumverehrung.25 Im letzten Viertel des 14. Jahrhundert ist die Anthropomorphisierung und Diabolisierung des Bilwiz vollzogen. In den Gesetzen des Deutschordenshochmeisters Konrad von Jungingen (1355/60–1407) aus dem Jahr 1394 wird der Bilwiz mit den Hexenmeistern gleichgesetzt:
21 22 23 24 25
Ebd., S. 67. Ebd., S. 70. HDA I, Sp. 1314. Lecouteux: Welt im Abseits, S. 79. Ebd., S. 80.
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Auch wellen und gebieten wir, dass alle zauberer, weydeler, pilwitte [Singular pilwittus], schwarzkünstler undt wie diese gotteslesterer megen genennet werden [zu verfolgen sind].26
In einer Handschrift des 14./15. Jahrhundert aus dem niederschlesischen Zisterzienserkloster Leubus (poln. Opactwo Cysterskie w Lubiążu) werden Bilwize mit Ketzern und Milchdiebinnen bzw. Hexen gleichgesetzt. In späteren Abschriften des Textes wird die Verwandlung des Bilwiz in ein Weib bestätigt; im 16. Jahrhundert heißt es: „hyrnach folget ein experiment vor die pilweißen millichdiebyn genannth.“27 Um 1400 sagte der Dichter Hermann von Sachsenheim (1366/69–1458) über plötzlich verschwundene Frauen: die waren all bilwiß (sie waren alle Bilwize) die man unholden nent (die man [auch] Hexen nennt), uff einem kalb gerent (die sind auf einem Kalb geritten) gar snell gen Manpilier“ (gar schnell nach Montpellier)28
Das südfranzösische Montpellier war eine bedeutende Handelsstadt und stand in regem Austausch mit Spanien. Es galt es Zentrum der Zauberkunst, wie auch Toledo in Spanien. Andere Zauber(hoch)schulen befanden sich angeblich in Krakau und Salamanca. Nach der Rückeroberung Toledos von den Mauren anno 1085 etablierte sich dort eine rege Übersetzungstätigkeit arabischer und byzantinischer Werke ins Lateinische, die u. a. auch alchemische und magische Schriften einschloss. Der Mediävist Klaus Herbers erläutert dazu: Die Verbindung der Schwarzen Kunst mit Toledo seit dem ausgehenden 12. und besonders dem beginnenden 13. Jahrhundert verdeutlicht nicht nur das Interesse an Magie, Zauberwesen, Nigromantik. Die Zuordnung zu Toledo zeigt zugleich wie suspekt manchen Zeitgenossen offensichtlich auch das neue, aus Toledo stammende Wissen erschien. Man bezog nun – und das ist neu – die Zauberei auch auf das Wissen.29
26 27 28 29
Ebd., S. 82. Ebd. Ebd., S. 82, 83. Klaus Herbers: Wissenskontakte und Wissensvermittlung in Spanien im 12. und 13. Jahrhundert Sprache, Verbreitung und Reaktionen, in: Ursula Schaefer (Hg.), Artes im Mittelalter. Berlin 1999, S. 230– 248, hier S. 246.
113
Der oben genannte Ritt der Hexen bzw. Bilwize erfolgte nicht wie normalerweise üblich über Land, sondern durch die Luft, war also ein Hexenflug (mehr dazu weiter unten). Die Verbindung des Bilwiz zum Hexenwesen ist damit eindeutig sichtbar. Im Jahr 1529 wurde zu Schweidnitz in Schlesien ein „pielweiß“ als Hexer lebendig begraben. 1579 verbrannte man im schlesischen Glatz (heute Kłodzko in Polen) mehrere „Pilweissen“, weil sie sich angeblich mit Hexensalbe eingeschmiert hätten und zum Hexensabbat geflogen wären; vermutlich handelte es sich um Frauen.30 Im wahrscheinlich aus dem 13. Jahrhundert stammenden „Münchner Nachtsegen“ ist uns eine mittelhochdeutsche Beschwörungsformel überliefert worden, die klar zeigt, welcher heidnische Volksglaube damals noch in den schon viele Jahrhunderte lang christianisierten deutschen Gebieten herrschte. Der Spruch befand sich seit dem 17. Jahrhundert im Besitz der bayrischen Wittelsbacher, gehörte aber zuvor einem „Heinrich“, der aus Preußen stammte und in Kattowitz ansässig war. Im nachfolgenden Fragment wird um Schutz gebeten gegen Unholde, Hexen und Wodans Wilde Jagd. Ein Auszug lautet in modernem Deutsch: das müsse mich in dieser Nacht beschützen vor den bösen Kreaturen, der Dunkelheit; und müsse mich bekreuzigen gegen die Schwarzen und die Weißen die die Menschen nennen die Guten und auf den Brockelsberg gegangen sind, gegen die Bilwisse, gegen die Mondesser, gegen die Wegeschriten, gegen die Zaunreiter, gegen schallende Beschwörungen, gegen alle bösen Geister! Rachgierige und Feurige, Vertrauenweckende und Wütende. Das Wilde Heer und alle seine Teilnehmer, ihr sollt hier weg, von hinnen ziehn!31
30
31
Robert Böck: Der Bilwis, Bockreiter und verwandte Gestalten – Volksglaube, Sage, Mythos und Kult, in: Das Amperland 24. 1988, S. 90. Joseph Hansen: Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hexenwahns. Bonn 1901, Neudruck Hildesheim 1963, S. 639–41.
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Mit dem „Brockelsberg“ ist der Brocken oder Blocksberg im Harz gemeint, was für die Herkunft des „Segens“ auf Mitteldeutschland verweist; die Benennung des Blocksbergs hat für Bayern wenig Sinn als Teil eines Nachtsegens und man darf sich zurecht fragen, ob die Menschen im Süden damals überhaupt etwas mit den Namen des Berges anfangen konnten. Entscheidend ist, dass es sich beim Blocksberg um einen „klassischen“ Hexentanzplatz handelt. Der Bilwiz wird damit schrittweise von einem Krankheitsdämon zu einem Schutzgeist, dann zu einem (menschlichen) Zauberer und schließlich zur Hexe. Etymologisch wird die Silbe „bil“ mit einer übernatürlichen Kraft gleichgesetzt, die für sich genommen weder gut noch böse ist. Der Wortstamm könnte auch auf eine germanische Göttin „Bil“ verweisen, die aber seit dem 9. Jahrhundert nur noch als lähmende Kraft im Zusammenhang mit dem abnehmenden Mond erscheint. Es gibt einen Bezug zum Bilsenkraut, eine wegen ihrer halluzinogenen Inhaltsstoffe als zauberkräftig angesehene Pflanze, die den Geist verwirrt, bzw. betäubt. Bezeichnenderweise war das Bilsenkraut auch ein Bestandteil der Hexensalben, auf die noch einzugehen sein wird. In der Gegend von Dachau in Südbayern kommt der Name „Pilwis“ bereits im Spätmittelalter vor. Ein Herdstättenregister von 1451 nennt einen „Hänsl pilwis“ von Obersulzemoos, einen „pilbis“ von Rienshofen und die Witwe „pillwisin“ von Arnbach. In den Urkunden des Klosters Indersdorf erscheinen 1484 ein „Hans Pilbis“ zu Teyttenhofen, 1518 ein „Lienhart Pilbis“, ebenfalls aus der Hofmark Arnbach. In keinem der bisher genannten Zeugnisse findet sich ein Hinweis auf den Bilwiz als Kornräuber. Diese letzte Metamorphose erfolgt erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Gründe für diese neuerliche Wandlung sind unklar. Der Bilwiz, auch „Bockreiter“ genannt, wird nun zu einem halb menschlichen, halb tierisch-dämonischen Wesen, das nachts Kornfelder durchschreitet, die kurz vor der Erntereife stehen (dabei wohl auch Sicheln an den Füßen trägt), und einen Streifen Korn erntet. Hier kommt auch die Vorstellung der Tierverwandlung zum Ausdruck, die etwa im Werwolf-Mythos ihren Ausdruck findet. Durch diesen „Bilwizschnitt“ wanderte das Korn in den Speicher des zauberischen Bauern, der entweder selbst als Korndieb auftrat, oder mit dem Bilwiz-Dämon in Verbindung stand. Gegen diesen Schadenzauber versuchte man sich mit magischen Mitteln zu schützen. Der Propst des Augustiner-Chorherrenstifts Polling bei Weilheim, Franziskus Töpsel (1711–1796) vermerkt 1766 in einem Brief, ihm sei ein kleines Bildchen übergeben worden, das gegen jene helfen soll, welche, mit der Absicht zu schaden, ernten vor der Ernte, indem sie eine Diagonallinie von einem Ackerende zum anderen führen, in welcher Linie nichts von den fruchttragende Ähren am anderen Tag mehr da ist; es [das Bild] wird von den Jesuiten in Landsberg [am Lech] ausgeteilt.32
32
Böck, S. 85–92, 137–40.
115
Der Reiseschriftsteller und Gelehrte Heinrich Noé (1835–1896) schildert in seinem 1865 erschienenen „Bairischen Seebuch“ eine andere Variante kirchlicher Hilfe: Es ereignet sich nämlich oft, dass sich Übeltäter in der Nacht der Sommersonnenwende nackt rücklings auf einen schwarzen Esel setzen, sich eine Sichel an den Fuß binden und so durch das Getreidefeld eines anderen reiten. Der Übelgesinnte schneidet dadurch Furchen in die Saat, welche man den Bilwitzschnitt nennt. Das so abgeschnittene Getreide wächst durch des Teufels Hilfe in seinen eigenen Acker hinein, so dass dieser am Gehalt der Ähren gewinnt, was der andere an abgeschnittenen Halmen verloren hat. Andere, Ungläubigere, dagegen behaupten, es sei eine leidige Gewohnheit des Dachses, sich auf diese Weise während seiner mitternächtlichen Spaziergänge Vorräte zu sammeln. Dem mag sein wie immer, einem so Beschädigten helfen die Kapuziner in Altötting. Diese verkaufen „geweihtes“ Samengetreide, dem der Bilwitzschnitt nichts anhaben kann.33
In ähnlicher Weise wie der oben zitierte „Münchner Nachtsegen“ sollte auch ein geschriebener Bannspruch wirken, der in einem Balkenloch einer 1743 errichteten Scheune eines Bauernhofs bei Weiden (Oberpfalz) gefunden wurde, als man sie im späten 19. Jahrhundert abbrach. Der Abwehrsegen ist nicht datiert, dürfte aber aus der Zeit der Errichtung der Scheune stammen. Der Text lautet: I.N.R.I. Für den Pillmatzschneider. An einem heiligen Montag morgen drud und Trudin, drach und drachin, olb [Alp] und ölmin [weibl. Form von olb], Zauber und Zauberin, Pöß [der Böse] undt Pößin, teifl und teiflin, Pillmatzschneider und Pillmatzschneiderin, Da sey Dir verbotten, mein Gutt, mein stall, mein Hoffstath und alles was ich zu dorff und Felt hab in Nahmen der h. 3faltigkeith Gott Vatter + Gott Sohn + Gott h. Geist + mir +++34
Der Verfasser dieses Bannspruchs wollte offenbar auf Nummer sicher gehen und nannte alle bösen Mächte, die ihm einfielen. Interessant ist, dass stets die weibliche und die männliche Form genannt werden. Der Bilwiz wird so auch zur Bilwizzin, bzw. zur Hexe. Die Hexe stellt die Verbindung zum weiten Feld des Schadenzaubers her, der während der frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen eine wichtige Rolle spielte. Schadenzauber war stets mit den Bereichen Ernte, Stall, Haus und Hof sowie Fortpflanzung verbunden. Schon im römischen Zwölftafelgesetz aus der Zeit um 450 v. u. Z. war es verboten, durch „incantatio“, also durch Bezauberung bzw. Beschwö33
34
Heinrich Noé: Baierisches Seebuch. Naturansichten und Lebensbilder von den baierischen Hochlandseen, München 1865, S. 449. Böck, S. 90 f.
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rung die Ernte von anderen Äckern oder Weinbergen an sich zu bringen. Die Furcht vor dem Bilwiz ist in manchen Gegenden noch im 20. Jahrhundert belegt.
III.4 Mittelalterliche Volksmagie Die Versuche zur christlichen Umdeutung älterer Götter bzw. Dämonen vermochten keineswegs, den alten Glauben vollständig zu beseitigen. Die Hartnäckigkeit, mit der die Menschen an überlieferten magischen Bräuchen und Vorstellungen festhielten, erklärt sich relativ leicht: Es ging den einfachen Leuten keineswegs in erster Linie um etwas so Abstraktes wie die ewige Seligkeit, sondern um die Lösung recht konkreter, diesseitiger Probleme. Da auch die Kirche ständig vor den Versuchungen des Teufels und seiner Heerscharen warnte, beförderte sie ungewollt den Glauben an die Macht magischer Praktiken. Das eben genannte Beispiel von der Verteilung von Amuletten gegen den Bilwiz durch die Landsberger Jesuiten oder geweihten Getreides durch die Kapuziner von Altötting zeigt darüber hinaus, dass auch Kleriker mitnichten frei von sogenannten „abergläubischen“ Vorstellungen waren. Die Kirche versuchte zwar mit einigem Erfolg, die magischen Praktiken umzuleiten auf eine Vielzahl von Heiligen, die in allen Lebenslagen Hilfe boten, allerdings verwässerte man damit die eigene monotheistische Lehre, was die Protestanten zur Abschaffung des Heiligenkults veranlasste. Dies bewirkte aber wiederum die verstärkte Nutzung heidnischer Schutzrituale; auch sind Fälle bekannt, in denen in Gebieten mit zwei Glaubensbekenntnissen die Leute beim Verdacht einer Bezauberung lieber zum „richtigen“ Pfarrer, nämlich dem katholischen gingen, obwohl sie selbst Protestanten waren. In katholischen Regionen hielt sich der zumindest halb-magische Brauch des Wettersegens und des Wetterläutens bis ins 20. Jahrhundert.
Zwingmessen und Wettersegen Eindrucksvolle Zeugnisse für die Beteiligung von Priestern und Mönchen an magischen Ritualen im 19. Jahrhundert in Bayern liefert der schon erwähnte Autor Heinrich Noé. Ein nur als „Leonhard B.“ genannter Wilderer – „einer der bekanntesten Wildschützen Tegernsees“ – erlegte am 1. Januar 1862 eine große Gams, die sich aber merkwürdig verhielt: Sie lief nicht weg, blieb nach dem ersten Schuss stehen und fiel erst nach dem dritten Schuss endgültig nieder. Dies wurde als böses Omen gedeutet. In der letzten Oktoberwoche desselben Jahres ging Leonhard wieder auf die Pirsch, kehrte aber nicht mehr zurück. Nach drei Tagen begann man mit einer umfangreichen Suche, konnte aber den Leichnam nicht finden. In ihrer Not wandten sich die Eltern an die Mönche eines nicht genannten Franziskanerklosters und ließen sogenannte „Zwingmessen“ lesen. Was dabei vor sich geht, erläutert Noé so: 117
In der Zwingmesse beschwört der Priester einen Verstorbenen; dieser erscheint, nur ihm sichtbar, während des Gottesdienstes und gibt auf alle Fragen, welche an ihn gestellt werden, wahrheitsgetreu Auskunft. Die Franziskaner sagten nun, Leonhard habe sich in der Zwingmesse gestellt und habe mitgeteilt, dass er von rückwärts und, wie er gewiss wisse, von einem Jäger in den Kopf geschossen worden sei. Er war voller Blut und ganz bleich. Im Kopf war die klaffende Wunde sichtbar. Um seine Ruhestätte befragt gab er an, sie hätten ihn in den Glockensee (kleines aber tiefes Gewässer am Wallberg) versenkt.35
Besagter Glockensee existiert heute nicht mehr. Die ganze Prozedur erinnert an eine spiritistische Séance, mit dem Priester als Medium. Die Familie ließ noch eine ganze Reihe anderer Zwingmessen lesen, die ziemlich teuer waren und „mehrere hundert Gulden“ kosteten. Der See wurde anscheinend nicht durchsucht, was damals auch unmöglich gewesen sein dürfte. Schließlich erschien Leonhard seinem Vater und seiner Schwester in deren Haus als Gespenst. Er war blaß und trug eine große Wunde am Kopf; die Jäger, sagte er, hätten ihn in den Glockensee versenkt. Über die Täter wusste er weiter nichts, als dass es ein Jäger war. Kaum hatten sich die Angehörigen von ihrem Entsetzen erholt, verschwand er wieder. In einer weiteren Zwingmesse behauptete Leonhard, er sei verbrannt worden. Zudem listete er eine Reihe von Wirten auf, die ihm für geliefertes Wildpret noch Geld schuldeten.36
Heinrich Noé berichtet auch vom Brauch des „Wettersegens“, der Unwetter abhalten bzw. umlenken soll: Das Wettersegnen erfordert ein ganz bestimmtes ‚Gstudiren“, dem aber heutzutage leider nur wenige mehr obliegen. Einer der früheren Pfarrer von Schliersee [Gemeinde in Oberbayern am gleichnamigen See] soll sich auf diese nützliche Kunst ausgezeichnet verstanden haben. Oft gelang es ihm, dass er den Gewitterhagel von der Brecherspitze und den Graswiesen und Gärten Schliersees weg in die Wälder des Baumgarten und des Kreuzbergs ‚ummisegnen‘ konnte. […] Das ‚Ummisegnen‘ [Hinübersegnen] besteht eigentlich nur in der Kunst, die Hexen zu vertreiben, die das Wetter machen. Denn ein Gewitter ist nichts, als das infernale Concert dieser verdammten Weiber. Und gerade deshalb ist es eine schwere Arbeit – der unsichtbare Chor will den Priester mit fortwirbeln, in hineinziehen in das wilde Gjaid. [Die Wilde Jagd] Deshalb muss dieser immer eine oder mehrere fromme Personen um sich ha-
35 36
Noé, S. 300. Noé, S. 298–302.
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ben, die ihn festhalten, während er aus einem Buch die Formeln liest. Es kommt dessen ungeachtet vor, dass ihn die Gewalt der Dämonen fußhoch vom Boden in die Höhe schleudert.37
Die nahe beim Schliersee gelegene Brecherspitze galt allgemein als Hexenberg bzw. Hexentanzplatz. Einheimische wollten dort gelegentlich nackte Frauengestalten gesehen haben. Der Berg scheint als Hexentanzplatz sogar international bekannt gewesen zu sein, wie Noé berichtet: Als die bairischen Soldaten [mit der Armee Napoleons] in Rußland marschieren und sterben mussten, fiel es einmal einer russischen Bäuerin ein, einen todmüden Mann zu fragen, welches seine Heimat wäre. Er antwortete: ‚Ich bin aus Baiern, aus dem Gericht Miesbach.‘ ‚Das ist ja nicht weit von der Brecherspitz antwortete die Bäuerin.‘ ‚Jetzt weiß ich schon, was Du für eine bist! rief der erstaunte Soldat.‘ Die Russin aber schwieg.38
Heilige Bäume und Pflanzen Aus vorchristlichen Zeiten stammte die Verehrung von Bäumen und Pflanzen, die auch im Mittelalter nicht verschwand, trotz gegenteiliger Bemühungen der Kirche. Die kultische Verehrung heiliger Bäume war bei Griechen, Römern, Kelten und Germanen verbreitet; möglicherweise gibt es auch hier Verbindungen zum Schamanismus mit seinem Weltenbaum. Der bis heute in Bayern bekannte Maibaum steht in Beziehung zu den Floralia (Blumenfesten) der Römer, die ebenfalls am 1. Mai stattfanden, und dem Maja-Kult der Griechen. Maja, nach der unser Monat Mai benannt ist, war die Mutter der Natur und Tochter des Atlas. Ihr war der Monat des Aufblühens der Natur geweiht. Die Kirche machte daraus den Monat Marias, der Gottesmutter. Die Eiche ist bei den Römern Jupiter und bei den Griechen Zeus geweiht und bei den Germanen Thor. Überall steht sie in Verbindung mit Donner und Blitz. Aufgrund der heidnischen Verehrung wurde die Eiche bei den Christen zum bösen, unheimlichen Baum umgedeutet, der den Hexen zu ihrem verderblichen Zauberwerk diente: Die Hexen lesen Eichenlaub in einem Mannshemd zusammen und hängen es in einen Baum; sofort erhebt sich ein Wind der allen Regen vertreibt. Auch sollen Hexen Eichenlaub in einem Topf (mit Wasser?) zum Sieden bringen, um Sturm und Hagel zu erzeugen.39
37 38 39
Ebd., S. 343 f. Ebd., S. 342. Hanns Bächtold-Stäubli: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 10 Bde., Berlin und Leipzig 1927–1942, Nachdruck Berlin 2000, Bd. II, Sp. 646–655, hier Sp. 649.
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Auch die Esche ist ein Baum mit umfangreicher antiker Mythologie, der zum Unglücksbaum umgedeutet wurde. Hesiod, der Dichter der frühen griechischen Antike, der um 700 v. Chr. lebte, entwarf in seiner „Theogonie“ eine Genealogie des Pantheons. Zeus schuf danach „das dritte eherne Geschlecht“ (die Menschen des ehernen Zeitalters, also die Menschen der Zeit Hesiods) aus einem Baum μελία (melia), worunter wohl die Manna-Esche zu verstehen ist. Nach der Edda entstanden die ersten Menschen aus den Bäumen askr (Esche) und embla (Ulme?). Ebenfalls in der Edda erscheint die Weltenesche Yggdrasil, die den Himmel stützt und im Mittelpunkt der Welt steht. Der Name Yggdrasil bedeutet „Pferd des Schrecklichen“ und meint das Reittier Odins, der sich an der Weltenesche erhängte und dadurch zur Kenntnis der Runen gelangte. Die Wurzeln der Weltesche reichen in die Unterwelt, ihre Krone in den Himmel. Sie erscheint in den Mythen vieler eurasischer Völker und die Verwandtschaft mit dem schamanischen Weltenbaum ist unübersehbar.
Abb. III.3: Darstellung der Weltenesche Yggdrasil mit den verschiedenen Tieren, die in und bei ihr leben, in einer isländischen Handschrift des 17. Jahrhunderts.40 40
Bächtold-Stäubli: Aberglauben, Bd. II, Sp. 998–1002.
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Der Lorbeer ist der Baum Apolls, er schützt vor Blitz und Krankheit, ist ein Symbol des Lebens und bietet Schutz vor Schadenzauber. Die Zypresse ist dagegen bei den Römern und Griechen ein Symbol des Todes und der Ewigkeit (Friedhofsbaum). Man machte Särge aus Zypressenholz. Bei den Römern war sie dem Unterweltsgott Pluto geweiht. Der Nußbaum galt den Römern als arbor infelix, als Unglücksbaum. Der Weißdorn war ein schützender Strauch mit magischer Kraft gegen Blitz, Krankheit u. Zauber (wird bis heute geglaubt). Holunder vertrieb Schlangen und heilte kranke Tiere. Die Mistel war den Kelten besonders heilig und wurde von den Druiden als Heil- und Zauberpflanze gesammelt (man denke an Asterix und den Zaubertrank des Druiden Miraculix). Der Knoblauch steht seit der Antike im Ruf, Dämonen zu vertreiben und sein Sanskrit-Name lautet „Töter der Ungeheuer“.41Der Mediziner und Botaniker Leonhart Fuchs (1501–1566), einer der „Väter“ der Botanik, bemerkt dazu in seinem berühmten „New Kreüterbuch“ von 1543 (Cap. CCLXXXII): Knoblauch gessen widersteet allem gifft /darumb ihn Galenus nent ein Theriack der bauren.
(Theriack war in früheren Zeiten ein aus zahlreichen Ingredienzien zusammengesetztes, sehr teures Medikament, das als eine Art Allheilmittel verkauft wurde.) Der eidgenössische Gelehrter, Arzt, Medizinprofessor und Paracelsist Theodor Zwinger (1533–1588) ergänzt diese Angaben um weitere Wirkungen: Etliche schreiben: So man Knoblauch-Häupter an eine Schnur hänge, solche auf dem Tisch Circkelweise [kreisförmig] ausbreite, und in die Mitte eine Spinne legt, dörffe sie sich nicht aus dem Circkel begebn, und über den Knoblauch schreiten. So eine Schlange oder Heidöxe [Eidechse] dem Menschen im Schlaf wäre in den Leib geschloffen, der solle stäts Knoblauch essen, so muß sie fortweishen oder sterben.42
Zu den schützenden Kräutern gehörten auch das Johanniskraut, die Distel und die Hauswurz. Der magischen Bräuchen abholde Leonhart Fuchs musste konstatieren: Haußwurtz nennt man auch Donderbar / darumb das man vermeynet wo das kraut auf einem hauß wachse /da möge das wetter keinen schaden thuen /noch der blitz und donder darin schlagen.43
41 42 43
Bächtold-Stäubli: Aberglauben, Bd. V, Sp. 1–6. Theodori Zuingeri: Theatrum Botanicum: Das ist: Vollkommenes Kräuter-Buch etc. Basel 1744, S. 428. Leonhard Fuchs: New Kreüterbuch/in welchem nit allein die gantz histori/das ist/namen/gestalt/statt unbd zeit der wachsung (…) beschrieben/sonder auch aller derselben wurtzel/stengel/bletter (…) abgebildet ist, Basel 1543, Kap. X.
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Es gab viele andere Kräuter, Blumen und Wurzeln, die mit magischen Kräften ausgestattet sein sollten, etwa Tollkirsche und Alraune, worauf wir an anderer Stelle näher eingehen werden. Das volksmagische Brauchtum nicht nur des Mittelalters hatte vor allem den Schutz von Haus, Stall und Flur vor dämonischen Einflüssen zum Ziel, daneben die Heilung von kranken Menschen und Tieren, die Vorschau auf die Zukunft und gelegentlich auch Liebes- bzw. Schadenzauber. Bei den Häusern der Bauern wurden zahlreiche unterschiedliche Vorkehrungen zum Schutz gegen Dämonen und böse Einflüsse getroffen. Man vermauerte Katzen oder Kröten im Fundament, nagelte Käuzchen, Wildschweinpfoten oder verschiedene Hörner u. ä. über die Stalltür, malte Sonnenräder auf die Fassaden und befestigte Sträuße mit Schutzkräutern an den Außenwänden. Aus der Vielzahl von schützenden Regeln und Riten seien einige Bereiche beispielhaft herausgegriffen.
Eisen Ein in den Türstock eingeschlagener Nagel, vorzugsweise ein Sargnagel, wird schon von Plinius und dem römischen Geschichtsschreiber Titus Livius (59 v. Chr.–17 n. Chr.) als magisches Mittel zur Dämonenabwehr empfohlen und wurde bis in unsere Zeit in dieser Weise verwendet.44 Dem Eisen bzw. Stahl wurden vielfache apotropäische und schützende Wirkungen zugeschrieben. Besonders scharfe und spitze Eisengegenstände galten als wirksam, an ihnen schneiden oder stechen sich die bösen Geister oder Hexen. War man nachts unterwegs, war es ratsam, ein Stück Eisen oder Stahl mit sich zu führen. Man konnte auch kleine Windhosen mit einem hineingeworfenen Messer auflösen, allerdings ging dabei das Messer verloren. Neugeborene Kinder schützte man bis zur Taufe (evtl. auch noch länger) durch eiserne Beile oder Messer, die mit der Schneide oder Spitze nach oben in die Wiege gelegt wurden. In Bayern schwang man im Mittelalter in gezogenes Schwert um die Gebärende. Das Hufeisen besaß besondere Wirkmächtigkeit als Symbol Wotans, und bis heute gelten Hufeisen, vor allem gefundene, als Glücksbringer. Auch zur Sicherung des Viehs vor zauberischen Einflüssen bediente man sich eiserner Schutzgegenstände auf der Schwelle der Stalltüre. Wurde ein Tier krank, gab man ihm Wasser zu trinken, in dem glühendes Eisen abgelöscht worden war. Ein solcher Trank half auch bei menschlichen Gebrechen wie Unterleibsleiden, Ruhr, Milzsucht, Cholera und Magenbeschwerden. Eine am Euter erkrankte Kuh wurde auf eine glühende Kohlenschaufel gemolken. Um zu verhindern, dass in den Feldern Unkraut wuchs, umschritt man sie in der Johannisnacht mit einer Sense. Wollte die Milch nicht zu Butter gerinnen, so legte man einen Feuerstahl oder ein Stück glühendes Eisen hinein. Im Alpengebiet fertigte man aus ge44
Fillipetti, S. 25.
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fundenen Nägeln dünne Eisenringe, die vor Gespenstern schützen und gegen Epilepsie, Gicht und Fieber helfen sollten. Eine Verbindung von magischer und christlicher Symbolik bilden kleine Kreuze aus alten Sargnägeln, die Kinder zum Schutz vor Verhexung trugen. Auch der Eisenrost galt schon seit der Antike als heilsam. Äußerlich und innerlich gebraucht wurde er bei Ausschlag oder Geschwüren; der Übergang zu „echten“ pharmakologisch wirksamen Substanzen ist hier etwas fließend. Wegen seiner apotropäischen Kräfte ist Eisen oder Stahl bei Bezauberungen oder Beschwörungen zu meiden. Auch bei Ausgraben von Zauberkräutern wie der Alraune oder beim Schneiden einer Wünschelrute sollte man keine eisernen Werkzeuge benutzen.45
Steine Auch Steine in Form von Fossilien oder steinzeitlichen Werkzeugen galten seit der Antike als magische Schutzzeichen. Man konnte sich deren Herkunft nicht erklären und betrachtete sie als vom Himmel gekommen. Bei den Bestattungen der gallo römischen Zeit ebenso wie bei den Merowingern pflegte man den Toten bereits Werkzeuge aus dem Paläolithikum oder aus dem Neolithikum mitzugeben. Merkwürdig genug, dass man noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in vielen Familien dem Sterbenden die Kultaxt zum Kuß vorhielt; gelegentlich legte man sie sogar dem Toten auf den Mund.46
Der „Donnerkeil“ ist ein prähistorisches Steinwerkzeug in Form einer Axt oder einer Klinge (ohne den hölzernen Griff). Der germanische Thor trug eine Streitaxt, ebenso der keltische Sucellos. Der Glaube war allgemein verbreitet, dass der Donnergott (Donar/Thor oder Zeus) bei einem Gewitter Blitze schleudert und die Donnerkeile waren die materiellen Relikte dieses göttlichen Zorns. Nach dem Volksglauben dringen diese einige (sieben oder neun) Klafter in die Erde ein und wandern dann langsam wieder zur Oberfläche, wo sie nach sieben Jahren ein Hahn ausscharren kann.47 Es waren also die alten Götter, die hier ihre Spuren hinterlassen hatten, und indem man die steinzeitlichen Werkzeuge im Haus aufbewahrte oder sie in die Mauern einfügte, stellte man sich unter den Schutz dieser alten Götter. Weshalb man auch Fossilien wie Ammoniten magische Wirkung beimaß, ist nicht geklärt, es hat jedoch 45 46 47
Bächtold-Stäubli: Aberglauben, Bd. III, Sp. 717–731. Fillipetti, S. 120. Bächtold-Stäubli: Aberglauben, Bd. II, Sp. 326.
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nichts mit ihrer Seltenheit zu tun, da man ihnen auch in Gegenden, in denen sie häufig gefunden wurden, hohe Wertschätzung zollte.48 Eine plausible Vermutung ist, dass man sich die Form der Fossilien nicht als natürlich zustande gekommen vorstellen konnte und daher einen irgendwie übernatürlichen Ursprung vermutete, ähnlich wie auch antike Gemmen, deren Herkunft das Mittelalter ebenfalls nicht deuten konnte, als magische Schutzmittel betrachtet wurden. Steinzeitliche Werkzeuge und Fossilien dienten auch zu mannigfachen Heilzwecken. Nachdem man diese Steine in Öl oder Wasser erhitzt hatte, legte man sie auf die erkrankten Körperteile. Ein ebenso amüsanter wie aufschlussreicher Bericht des englischen Physiker Robert Hooke (1635–1703), eines Zeitgenossen (und Konkurrenten) von Isaac Newton und namhaften Mitglieds der Royal Society, schildert die Spekulationen, die bezüglich der Verbreitung und Bildung von Versteinerungen angestellt wurden – wohlgemerkt von der Elite der damaligen Forschung: Es ergab sich ein ausgezeichneter Diskurs über Versteinerung; etliche Beispiele zum Wachsen von Steinen wurden vorgebracht: einige, die in Glasphiolen eingeschlossen waren; andere, die offen auf Weideland lagen; andere die auf Kieswegen lagen; dies bewies sich dadurch, dass man einen Stein in die Öffnung einer Glasphiole einführte, durch die er nach kurzer Zeit keineswegs mehr passte. Ferner wurde der Bericht über ein Feld, das sich alle drei Jahre mit Steinen füllt, durch einige Fallbeispiele bestätigt. […] Daraufhin war die Rede von der Entstehung von Steinen oder steinerne Konkretionen in den Körpern von Tieren, und zahlreiche äußerst seltsame Beispiele wurden vorgebracht, wonach in verschiedenen menschlichen Körperteilen Steine gefunden wurden. Mr. Pell und einige andere erwähnten, irgendwo gelesen zu haben, einem Menschen seien derartige Steine entnommen worden, die sein Körpergewicht bei weitem überstiegen. […] Mr. Palmer berichtete von einem französischen Arzt, der in Dover krank an Land ging und nach einem Klistier eine unglaubliche Zahl kleiner und große Muschelschalen ausschied. Der Sachverhalt wurde von sehr vielen Mitgliedern der Society bestätigt, die entweder einen verläßlichen Bericht davon erhalten oder einige der Muscheln geshen hatten. Dr. Charlton fügte hinzu, sie wäre eine ganze Weile auf See gewesen und hätten nichts zu sich genommen, außer Käse (aus der Milche von Ziegen auf den Bergen von Bononia [Bologna], wo es von solchen Muscheln wimmelt) und Brandy.49
48 49
Fillipetti, S. 121. Alan Cutler: Die Muschel auf dem Berg. Über Nicolaus Steno und die Anfänge der Geologie. München 2004, S. 152 f.
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Wasser Die reinigende Wirkung von Wasser ist seit prähistorischen Zeiten Bestandteil magischer und religiöser Riten. Ein Beispiel dafür ist die christliche Taufe, für die es durchaus heidnische Vorbilder gibt ; rituelle Waschungen bzw. Reinigungen kannte und kennt man auch bei allen anderen Hochreligionen. Besonders verehrt wurden schon in vorchristlicher Zeit Quellen und Brunnen, die das Wasser in seiner reinsten Form bereitstellten. Das frühe Christentum baute nicht wenige seiner Kirchen über alten Quellheiligtümern, die so in die christliche Verehrung integriert wurden. Die dem Wasser eigene heilende Kraft existierte vielfach auch ganz real bei den zahlreichen Mineralquellen, die den Glauben an die Heiligkeit des lebensspendenden Wassers naturgemäß noch verstärkten. Die spiegelnde Oberfläche eines Brunnens oder eines wassergefüllten Gefäßes diente auch zur Vorhersage der Zukunft, zur Auffindung verlorener Gegenstände oder zur Sichtbarmachung entfernter Ereignisse. Papst Gregor III. verbot 731 der „germanischen Provinz“ derartige „fontium auguria“. Die Brunnen konnten aber auch in anderer Weise Künftiges vorhersagen: Wenn etwa ein Mädchen unter Beachtung bestimmter Maßregeln zu gewissen Zeiten das Wasser unterschiedlicher Brunnen trank, so konnte sie anschließend ein Bild ihres zukünftigen Mannes erblicken. Die Eisfiguren auf einem wassergefüllten Gefäß verraten zu bestimmten Zeiten künftige Ereignisse. Auch die Brunnen als solche konnten Vorhersagen machen. Begann beispielsweise ein „Hungerbrunnen“ im Frühjahr zu fließen, stand ein Dürrejahr bevor. Andere Brunnen versiegten zeitweise, was auf den Tod eines der Brunnenbenutzer hindeutete, oder sie trübten sich plötzlich, was ein bevorstehendes Unglück anzeigte.50
Salz Wie das Wasser nimmt auch das Salz eine hervorragende Stelle im volksmagischen Denksystem ein. Auch das Salz (Natriumchlorid) ist für das Leben unentbehrlich und daher ebenfalls Gegenstand sowohl kirchlicher wie volksreligiöser und -magischer Bräuche. In beiden Bereichen ist das Salz ein Utensil der Dämonen- und Teufelsabwehr. Salz musste immer im Haus sein, um es vor bösen Mächten zu schützen und wurde daher oft auch schon in die Mauern oder Fundamente eingearbeitet. Salz zu verschütten, bringt Unglück – ein Hinweis auf die frühere Kostbarkeit dieses Stoffes und ein noch heute anzutreffender Glaube. Gemeinsam genossenes Salz bei Tisch verbindet die Tischgenossen und ein Fremder steht unter 50
Siehe dazu den sehr umfangreichen Artikel „Wasser“ in Bächtold-Stäubli: Aberglauben, Bd. IX, 107– 122 und weitere Artikel im Verbindung mit Wasser.
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dem Schutz des Gastrechts, sobald er vom Salz des Hausherrn gegessen hat. Salz ist auch ein Symbol der Treue und Beständigkeit, was vielleicht mit den früher unentbehrlichen Eigenschaften des Salzes als Konservierungsmittel zusammenhängt. Brot und Salz als elementare Lebensmittel werden noch heute beim Einzug in ein neues Heim geschenkt, um Unheil und Mangel fernzuhalten. Salz kann allen bösen Zauber unwirksam machen. Besondere antidämonische Kraft billigte man, zumindest in späteren Zeiten, dem an kirchlichen Festtagen (Heiligdreikönig, Palmsonntag, Ostern) geweihten Salz zu und dieses wurde auch von geistlichen „Volksmagiern“, die meist den Bettelorden angehörten, zur Heilung von Vieh oder zu Teufelsaustreibungen verwendet. Zu beachten ist, dass das in den Kirchen verwendete Weihwasser auch Salz enthält.51
Der Hahn Der Hahn ist ein wichtiges Symboltier und im Gegensatz zur als ambivalent empfundenen Katze ein schützendes Geschöpf. Sein Krähen vertreibt im Morgengrauen die Gespenster der Nacht und sogar den Teufel selbst, wie in zahlreichen Märchen und Sagen belegt. Von der ägyptischen und griechischen bis zur christlichen Mythologie verkörpert er die Wiederauferstehung (ursprünglich wohl der Sonne, die er mit seinem Krähen begrüßt oder ankündigt) und die Wachsamkeit. Der Hahn war auch das Symboltier des slawischen Lichtgottes Swantewit, der als St. Veit christianisiert wurde. Hier spielte offenbar die Namensähnlichkeit die entscheidende Rolle, denn dieser Sankt Veit ist ein ansonsten nicht hervorgetretener Knabe, der unter Diocletian im Alter von 12 Jahren den Märtyrertod starb. Bischof Otto I. von Bamberg (um 1065–1139), der sich um die Christianisierung der Pommern bemühte, ließ die Gebeine des Heiligen in Silber fassen und das Bild eines Hahns darauf anbringen.52 So konnten die Pommern quasi gleichzeitig den christlichen Heiligen und den alten Swantewit anbeten. Die Verbindung des Hahns mit einer wichtigen heidnischen Gottheit kommt vielleicht auch in der Tatsache zum Ausdruck, dass eine rote oder schwarze Hahnenfeder am Hut eines der Kennzeichen des Teufels ist. Seit dem 9. Jahrhundert erscheint der Hahn auf Kirchturmspitzen, was auch mit der ihm zugeschriebenen Fähigkeit der Wettervorhersage zusammenhängen mag.
51 52
Bächtold-Stäubli: Aberglauben, Bd. VII, 897–917. Bächtold-Stäubli: Aberglauben, Bd. III, 1331; Adolf Wuttke, Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart, 2.A. Berlin 1869, S. 34.
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Abb. III.4: Wetterhahn auf einer Kirchturmspitze. Der Hahn als Symbol männlicher Potenz spielte bei unterschiedlichen Liebeszaubern eine Rolle; so sollten drei Federn eines Gockels, die diesem während der Begattung einer Henne ausgerupft wurden, die Gunst eines Mädchens gewinnen, wenn man mit ihnen dessen Haut berührte. Auch Hörner und Bocksfuß stehen mit dem Teufel in Verbindung, der diese Attribute als die dämonisierte Form des antiken Hirtengottes Pan erhielt. Die charakteristischen Merkmale des Teufels dienen – in sympathetischer Wechselwirkung – auch zu dessen Abschreckung, weshalb verschiedene Hörner und Tierpfoten an Bauerhäusern und Ställen angebracht wurden.53
Das Ei Das Ei genoss in vielen alten Religionen besondere Verehrung und nimmt im Arsenal bäuerlichen-magischen Brauchtums eine herausgehobene Position ein. Das Ei ist ein Symbol der Fruchtbarkeit und des Lebens. In der orphischen Kosmogonie wird ein Weltenei durch den zweigeschlechtlichen Chronos gezeugt. Aus dem zerbrechenden Ei wird Zeus geboren. Die obere Eischale verwandelt sich in den Himmel, die untere in die Erde. Eine ähnliche Eisymbolik tritt 53
Bächtold-Stäubli: Aberglauben, Bd. III.
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in den Schöpfungsmythen zahlreicher Völker auf. Die mit dem Ei verbundenen magischen Vorstellungen sind ungemein vielfältig und umfassen sowohl die Fruchtbarkeitssymbolik, wie auch die dämonenabwehrende Wirkung. Auf die nach wie vor überragende Bedeutung der Fruchtbarkeitssymbole Ei und Hase für das Osterfest braucht hier nicht eingegangen zu werden. Dieses Brauchtum ist ein geradezu klassisches Beispiel für die Integration heidnischer Vorstellungen in den christlichen Kontext.54 Andererseits ist auch das Ei ein ambivalentes Symbol, dem unter bestimmten Bedingungen auch Böses innewohnt. Dies kommt besonders in der Vorstellung des Hahneneis zum Ausdruck, aus dem der Basilisk entsteht, von dem u. a. schon Plinius berichtet und an dessen Existenz das ganze Mittelalter hindurch geglaubt wurde. Bei Hildegard von Bingen brütet eine trächtige Kröte ein Hühner- oder Schlangenei aus, bis sich in diesem Leben regt. Dann sucht die Kröte das Weite, denn in diesem „bösen“ Ei wirkt die Kraft der „Alten Schlange“, die im Paradies Adam und Eva verführte. Das Ei birst unter Getöse und Schwefeldampf (Satan lässt grüßen!) und der Basilisk schlüpft, der mit seinem Feueratem die Erde spaltet und 5 Ellen tief im feuchten Boden weiterwächst. Ausgewachsen erscheint er wieder auf der Oberfläche und vernichtet mit seinem Todesblick buchstäblich alles Lebende, das ihm unter die Augen kommt. Getötet werden kann er aber durch einen vorgehaltenen Spiegel, denn dann richtet sich sein Blick gegen ihn selbst. Ähnlich berichten auch Konrad von Megenberg in seinem „Buch der Natur“ (1340) und Theophilius Presbyter (das ist Roger von Helmarshausen) in seiner „Diversarum artium schedula“, die dem 11./12. Jahrhundert zugehört.
Feste Der Jahreslauf wurde durch Feste gegliedert, die heute meist mit dem christlichen Kirchenjahr zusammenhängen, ursprünglich jedoch heidnischen Kulten entstammen. Die Wintersonnenwende war den Römern Anlass zu ihren Saturnalien (Saturn = Sohn des Himmels und der Erde, Schöpfer der Landwirtschaft), die in unserem Fasching nachklingen. Die Wintersonnenwende ist dem Saturn zugeordnet, weil er der sonnenfernste Planet ist und dann regiert, wenn die Sonne ihren niedrigsten Stand hat, also am schwächsten ist. Die Sonnenwende bedeutet aber auch den Sieg des Lichtes über die Dunkelheit, des Lebens über den Tod (die Geburt der unbesiegten Sonne, natalis solis invicti). Die Saturnalien waren eine Zeit der Ausgelassenheit und Aufhebung sozialer Unterschiede. Dieser Brauch existiert auch während des Mittelalters weiter, nicht selten unter tatkräftiger Mitwirkung der lokalen Geistlichkeit und trotz aller Bemühungen der Kirche,
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Bächtold-Stäubli: Aberglauben, Bd. III, 595–644.
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dem Treiben Einhalt zu gebieten. Das christliche Weihnachtsfest sollte die heidnischen Sonnwendfeiern ersetzen und wurde vermutlich erstmals 336 in Rom gefeiert.55 Auch die Sommersonnwende wurde seit den ältesten Zeiten gefeiert, ebenfalls zum Missfallen der Kirche. So warnt im 7. Jahrhundert der Hl. Eligius: Findet euch nicht zusammen zur Feier der Sonnenwende; keiner von euch sollte am Tag des Hl. Johannes um das Feuer tanzen oder springen oder Lieder singen, diese Lieder sind des Teufels.56
Die Sommersonnenwende markiert den Höhepunkt des Lichtes und kündigt dessen langsamen Vergehen an, verweist aber zugleich auf die Früchte der lebensspendenden Sonne, nämlich die Ernte. Die Römer feierten die Palien, zu Ehren des Pales, Schutzgott der Hirten. Die Gallier entfachten für ihren Sonnengott Belenus Holzstöße auf Hügeln und Bergen. Die Sitte der Sonnwendfeuer ist bis heute in den Alpen weit verbreitet und eher wieder im Zu- als im Abnehmen begriffen. Mit Feuer verbundene Feste wurden durch das ganze Mittelalter gefeiert. Der Sprung über das Feuer hatte eine reinigende Wirkung. Bis in die Zeit der Französischen Revolution wurde in Frankreich bei den Sonnwendfeiern auch eine schwarze Katze geopfert, ein Rest der bei den Kelten zu diesem Anlass üblichen Tier- und auch Menschenopfer.57 Das Feuer ist sowohl reinigend als auch befruchtend – Jungfrauen überspringen das Feuer in der Hoffnung auf einen Gatten, junge Ehefrauen hoffen auf Schwangerschaft. So wie das Weihnachtsfest, die Geburt Christi, mit der Wintersonnenwende zusammenfällt, trifft die Geburt von Johannes dem Täufer auf die Sommersonnwende. Dionysos, auch Bakchos bzw. Bacchus genannt, war eine Gottheit der Fruchtbarkeit und Ekstase. Die Bacchanalien wurden im Winter gefeiert, zur Zeit der Reife des jungen Weines. Vor allem Frauen, die Mänaden, Bacchen (Bacchantinnen) oder Thyiaden, gaben sich dem Kult hin und durchschwärmten fackelschwingend und tanzend Wälder und Fluren. Bei ihren ekstatischen Festen wurden auch Tiere geopfert und roh gegessen. Dionysos wurde auch als der „Donnerer“ oder der „Stiergehörnte“ bezeichnet. Die Männer betrachteten diesen ursprünglich nur von Frauen geübten Kult mit Misstrauen, bis sie ebenfalls zugelassen wurden. Die daraufhin immer orgiastischer werdenden Feste veranlassten 186 v. Chr. den römischen Senat zu einem Verbot, das indes nur teilweise befolgt wurde. Die Feste ließen sich in der Tat so schwer unterdrücken, dass die Kirche die dem Bacchus/Dionysos in der Antike geweihten Tage in Form der
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Enc. Britannica, Christmas. Fillipetti, S. 19. Fillipetti, S. 19.
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Tagesheiligen St. Bachus und St. Dionys (7. und 9. Oktober) in ihren eigenen Festkalender integrierte.58 Riten mit deutlich heidnischem Charakter fanden bis ins 19. Jahrhundert statt. Die jahreszeitlich bezogenen Feste und Bräuche, zur Austreibung von Dämonen wie zur Sicherstellung guter Ernten und Schutz vor Unwetter oder Krankheit von Tier und Mensch, ähneln sich kulturübergreifend und verweisen auf prähistorische Formen der Naturverehrung. Sie stehen für einen zyklischen Zeitbegriff, der in der ewigen, ungeschaffenen Welt wurzelt und dem linearen, deterministischen Zeitbegriff des Christentums mit seinen inhärent chiliastischen Zügen entgegensteht. Die Christen erwarten – mal mehr, mal weniger sehnsüchtig – das Ende der Zeit, den Jüngsten Tag, und messen daher der irdischen Welt nur untergeordnete Bedeutung zu. Die vorchristlichen Religionen des Abendlandes verehrten die Natur als solche und sahen sie als Ausdruck der Schöpfung und Spiegelbild der Götter und Dämonen, wogegen die Christen in ihr lediglich ein marginales Beiwerk im göttlichen Heilsplan sahen. Ebenso war der Körper ein als lästig und sündhaft empfundener Käfig der unsterblichen Seele, die erst durch den Tod zu Gott zurückkehren konnte. Wenn die Natur überhaupt einen Zweck hatte, dann den, den (leider) unvermeidlichen körperlichen Bedürfnissen zu dienen. Ohne Wert an sich, wird die Natur zur sekundären, der Willkür des Menschen unterworfenen „Umwelt“ (im Gegensatz zur „Mitwelt“) die den Menschen einschließt, ihn gelegentlich bedroht, aber auch schützt.
III.5 Die mittelalterliche Alchemie Das frühe Mittelalter war geistig von den Dogmen der Kirche geprägt, die unabhängigem Nachdenken über die Natur und den Kosmos feindlich entgegentrat. Im 11. und insbesondere im 12. Jahrhundert setzte ein bemerkenswerter geistiger Aufbruch, eine „Renaissance des Mittelalters“ ein. Adelard von Bath (ca. 1070–1146) erklärte in seinen „Quaestiones naturales“ selbstbewusst, er habe von den arabischen Gelehrten gelernt, sich bei der Erforschung der Natur auf die eigene Vernunft zu stützen und sich nicht wie Vieh am Zügel irgendwelcher Autoritäten leiten zu lassen. In dieselbe Richtung gingen auch die Polemiken eines Alanus ab Insulis (ca. 1125–1203) oder des Petrus Abaelardus (1079–1142), der zu den Gründern der Pariser Universität gehörte und aus dessen dialektischer Methode des Denkens die Scholastik erwuchs (berühmter ist er heute allerdings wegen seiner Liebesgeschichte mit Heloise). Hier wird deutlich, dass der Einfluss arabisch-islamischen Weltverständnisses auch im katholischen Europa wirksam wurde. Auf diesem Weg gelangte auch die Alchemie in unseren Kulturraum und wurde zur ersten Form experimentalwissenschaftlicher Auseinandersetzung mit
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Fillipetti, S. 30.
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der natürlichen Schöpfung; der Begriff „wissenschaftlich“ ist hier natürlich nicht im modernen, sondern im Sinne der damaligen Auffassung von Naturforschung zu verstehen.
Die arabische Alchemie Während die Astrologie sich bereits in der Antike im Wesentlichen ausgeformt vorfindet, erfuhr die andere große metaphysische Naturlehre, die Alchemie, während des Mittelalters eine erhebliche Umformung. Maßgeblich dafür waren in erster Linie arabische Alchemisten. Die Anfänge der arabischen Alchemie sind historisch nur schemenhaft fassbar. Der Legende nach soll der erste arabische Alchemist ein Prinz namens Khalid ibn Yazid aus der Dynastie der Umayyaden gewesen sein, der an der Wende vom 7. zum 8. Jahrhundert lebte. Nach erfolglosen Bemühungen, selbst Kalif zu werden, zog sich Khalid nach Alexandria zurück und begann, sich mit Medizin, Astrologie und Alchemie zu beschäftigen. Der schiitische Gelehrte Ibn an-Nadim (gest. 995/98) widmete in seinem 938 fertiggestellten enzyklopädischen Werk „Kitab al-Fihrist“ („Buch des Katalogs“) der Alchemie breiten Raum. Hier erscheint Prinz Khalid als der Erste, der die Übersetzung griechischer Werke anordnete und sich selbst als Autor betätigte. Ihm wird ein „Paradies der Weisheit“ betiteltes Lehrgedicht zugeschrieben, von dessen 2315 Versen allerdings nur ein einziger erhalten blieb. In der Übersetzung von Edmund v. Lippmann lautet dieser: Nimm Talk, dazu ammonisch Salz, und was Du findest auf der Straße. Dann etwas, das dem Baurak [Alkali] gleicht, und mische es im rechten Maß. Was höchste Macht der Welt verleiht, das wird dem Mann gewährt, der alles dies genau vollbringt und fromm den Allah ehrt.59
Dies soll eine Anleitung zur Herstellung des Lapis sein, der „höchste Macht der Welt verleiht“, allerdings nur demjenigen, der alles „genau vollbringt“ und zudem „Allah ehrt“. Ob dieser Vers von Khalid stammt oder nicht, ist unsicher, bestimmt aber ist er ein gutes Beispiel für die Schreibweise der Alchemisten. Ein angehender Adept würde sich sogleich den Kopf zerbrechen, über dieses „was Du findest auf der Straße“ und jenes „das dem Baurak gleicht“. Selbst wenn diese höchst schwierigen Fragen geklärt wären, bliebe noch das Problem, die Zutaten „im rechten Maß“ zu mischen. Praktisch kann man mit einer solchen Anweisung leider überhaupt nichts anfangen.
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Edmund O. v. Lippmann: Entstehung und Ausbreitung der Alchemie, Berlin 1919, Nachdruck Hildesheim 1978, S. 357.
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Khalid soll sein alchemisches Wissen von dem legendären Mönch Morienus erlangt haben, der als sein Lehrer fungierte, wie der „Fihrist“ berichtet. Morienus ist sehr wahrscheinlich eine Kunstfigur, zeigt aber die Etablierung einer Traditionslinie vom griechisch-alexandrinischen Heidentum über das frühe Christentum bis zum Islam auf. Die Araber wirkten in hohem Maße als Bewahrer und Vermittler, aber auch als Weiterentwickler alchemischen Gedankengutes. Zwei Textsammlungen treten besonders hervor, die Werke des Jabir ibn Hyayyan und die Schriften der Treuen Brüder. Die Urheberschaft der Schriften Jabirs, den die Lateiner „Geber“ nannten, bot Anlass für langanhaltende Verwirrungen. Man vermutete nämlich hinter zwei zeitlich um mehrere Jahrhunderte auseinanderliegenden Textsammlungen denselben Autor, eben jenen Jabir ibn Hayyan, der am Ende des 8. und zu Beginn des 9. Jahrhunderts gelebt haben sollte. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts erkannte man, dass neben Jabir ibn Hyayyan gegen Ende des 13. Jahrhunderts in Italien ein Geber latinus existierte, der sich zwar auf Jabir stützte, aber eigenständige Werke schuf. Schon die arabischen Autoren und Kommentatoren schrieben dem Jabir eine Unmenge von Schriften zu, die er unmöglich alle hätte verfassen können. Heute nimmt man an, dass es sich bei Jabir vermutlich um eine historische Person handelt, von der aber kaum etwas bekannt ist. In seinem Umkreis entstand um das Jahr 800 eine alchemische Schule, von der eine Reihe von Büchern stammen dürfte; auch hier steht die Forschung vor dem Problem, die Werke zeitlich und inhaltlich ein- und zuzuordnen. Die unter Jabirs Namen zusammengefassten (und heute noch bekannten) Schriften bestehen aus mehreren „Büchern“, die deutlich auf byzantinische Vorlagen verweisen. Im „Buch der Könige“ wie es heißt „dem fünften aus der Reihe der Fünfhundert“, wird eine Art Fürstenalchemie beschrieben. Die Fürsten hätten, meint der Verfasser, nicht genug Geduld und Einsicht um langwierige Prozeduren durchzuführen. Ihnen sei an einem kurzen und leichten Weg zum Golde gelegen. Dieser sei sehr wohl möglich, müsse aber gerade deshalb besonders geheim gehalten werden, denn wer Gold so wohlfeil und gemein mache wie Glas, der stürze die ganze Welt in entsetzliches Verderben. Da das Geheimnis nicht offenbart wird, enthält das Buch der Könige nichts als leere Versprechungen ohne praktischen Nutzen. Etwas konkreter ist das „Buch der Gleichgewichte“. Jeder Körper enthalte alle vier Elemente, wobei hier das Feuer mit dem Geist (spiritus) und die Luft mit der Seele (anima) gleichgesetzt werden. Die eigentliche Aufgabe besteht in der Auswahl der richtigen Materien, die neu vermischt den „Stein der Weisen“ ergeben. Hierbei müsse man sowohl die Stellung der Gestirne beachten wie die Namen der Stoffe, die eng mit deren innerem Wesen verbunden sind. Besonders empfohlen als Ausgangsmaterial wird der Markasit. Was darunter genau zu verstehen ist bleibt leider erneut unklar, denn der Ausdruck Markasit bezeichnet eine nicht präzise definierte Gruppe glänzender, meist sulfidischer Mineralien. Der aus der rechten Vermischung der Elemente hervorgehende Lapis oder „Al-iksir“ sei purpurfarben, glänzend wie eine Perle, wachsweich und völlig feuerbeständig. Aus dem arabischen Al-iksir entstand unser heute noch gebräuch132
liches Wort Elixir, das ein pharmakologisch besonders wirksames Medikament bezeichnet. Im „Buch des Quecksilbers“ wird dessen besondere Bedeutung für die Bildung der Metalle betont, dieses selbst aber nicht zu den Metallen gerechnet. Interessant ist besonders der Hinweis, neben den richtigen Verfahren sei auch die Kenntnis der richtigen „Sprüche und Formeln“ von großer Wichtigkeit, was einmal mehr die enge Verwandtschaft der Alchemie mit anderen magischen Praktiken belegt. Um die Mitte des 10. Jahrhunderts entstand in Basra im heutigen Irak eine Geheimgesellschaft, die als die Treuen Brüder bekannt ist. Geheim war die Gruppe, weil sie sich neben der Wissenschaft auch religiös-politisch engagierte und eine Versöhnung der Naturmagie mit dem „wahren“ Islam herbeiführen wollte. Was die „Brüder“ dabei als wahren Islam betrachteten, stimmte allerdings nicht immer mit den Ansichten der orthodoxen Glaubenshüter überein. Die Gemeinschaft war in der für Geheimbünde typischen Weise in vier Einweihungsgrade gegliedert; die Erkenntnisse des höchsten Grades wurden in einer „Enzyklopädie des gesamten Wissens“ zusammengefasst, die aus 51 Einzelschriften bestand. Darin wurde im Wesentlichen Inhalt der Erfahrungsschatz der griechisch-byzantinischen Zeit wiedergegeben, also eine stark von metaphysischen Bezügen durchsetzte Alchemie, wobei wahrscheinlich nicht auf griechische Originaltexte, sondern auf syrische Übersetzungen aus dem 5. Jahrhundert zurückgegriffen wurde. Der Kosmos befindet sich im extraterrestrischen Bereich in steter Harmonie, ausgedrückt durch eine von der Weltseele initiierte ewige Kreisbewegung der Sphären, deren unterschiedliche Rotationsgeschwindigkeiten zu einer Art Reibung der Sphären aneinander führen, die die Klänge der Sphärenharmonie erzeugt, eine Vorstellung, die noch den eigentlichen Schöpfer der neuzeitlichen Astronomie, Johannes Kepler, intensiv beschäftigte. Die astralen Sphären bestehen nicht aus den irdischen vier Elementen, sondern aus der „Quinta Essentia“, dem „Fünften Wesentlichen“. Dieses Himmelselement ging als „Quintessenz“ über die Alchemie in den allgemeinen Sprachgebrauch ein. Von den irdischen Elementen steht das Feuer der Quintessenz nahe, die einem Feuer ohne Wärme gleicht, alles durchdringt und den Kosmos bis herab zur Mondsphäre erfüllt. Die Luft ist der unentbehrliche Lebensgeist, der das Herz erwärmt; sie kann aber auch, z. B. in Gruben und Bergwerken, ihre Natur ändern und erstickend werden. Durch Schwingungen in der Luft entstehen die Töne, die in Form der Musik unmittelbar auf die menschliche Seele einwirken. Das Wasser kann als Dunst emporschweben und als Tropfen niederfallen, steht also der Luft nahe, in Form von Eis und Schnee aber auch der Erde. Das Wasser ist das wandelbarste der Elemente und verantwortlich für den fruchtbringenden Regen oder die Bewässerung durch Flüsse und Bäche. Auch verändert das Wasser beim Eindringen in die Erde seine Eigenschaften und kann salzig, scharf oder sauer werden, indem es Stoffe aus der Erde aufnimmt. Aus solchen Salzlösungen können wiederum Mineralien oder Metalle entstehen und man kann sich die Eigenschaften 133
des Wassers bei der Destillation zunutze machen. Die Erde schließlich steht dem allgemeinen Substrat, der Matrix, der Urmaterie nahe, empfängt und gebärt. In ihr und auf ihr wächst und verändert sich alles und zwar kontinuierlich und ohne abrupte Sprünge. So formen sich die drei Reiche der Mineralien, Pflanzen und Tiere. Zu letzterem gehört auch der Mensch, das „erhabenste Tier“. Schon Aristoteles hatte die vier Elemente in zwei Gruppen unterteilt, Feuer und Luft auf der einen, Wasser und Erde auf der anderen Seite, erstere aktiv, die andere passiv wirksam. Bei den Treuen Brüdern wird dieser Gedanke fortgeführt und zwei Prinzipien werden postuliert, die zwischen den vier Elementen und den realen Substanzen stehen. Feuer und Luft gehören danach zum „Prinzip Sulphur“ wogegen Wasser und Erde das „Prinzip Mercurius“ bilden. Ich spreche hier bewusst von „Sulphur“ und „Mercurius“ um begrifflich von den Substanzen „Schwefel“ und „Quecksilber“ zu trennen. Zwar stehen diese den entsprechenden Prinzipien nahe, sind aber nicht mit ihnen identisch. Beide Prinzipien durchdringen sich und bilden die konkreten Substanzen. Wenn also von „Sulphur“ die Rede ist, ist das Prinzip gemeint und nicht die chemische Substanz, ebenso wird mit „Mercurius“ und Quecksilber verfahren.
Die Anfänge der Alchemie im Abendland Der schon als angeblicher Lehrer des Prinzen Khalid erwähnte legendäre Mönch Morienus erlangte in der europäischen Alchemie eine herausragende Stellung als angeblicher Verfasser der um 1144 von Robert von Chester (Robertus Castrensis) aus dem Arabischen übersetzten Schrift „De compositione alchimiae“, mit der die Alchemie Eingang in den katholischen (im Unterschied zum byzantinischen) Kulturraum Europas fand. Bei Morienus tauchen zahlreiche Arabismen auf, die sich, meist in leicht modifizierter Form, im chemischen Sprachgebrauch erhalten haben, etwa Alkali, Alnatron, Almagra (wurde zu Amalgam) und Al-iksir (der Stein) aus dem unser „Elixier“ wurde. Für die Übernahme antiken und arabisch überformten Denkens in West- und Mitteleuropa war eine sogenannte „Übersetzerschule“ bestimmend, die sich nach der Eroberung der spanischen Stadt Toledo durch christliche Glaubenskrieger anno 1085 entwickelte. Hier und im süditalienischen Salerno erfolgte die Weitergabe philosophischer, naturphilosophischer, naturmagischer und medizinischer Werke in den Kulturraum der Lateiner. Sprachlich verlief die Überlieferungskette vom Griechischen über das Syrische zum Arabischen und endlich zum Lateinischen. Dass dabei mannigfache absichtliche und unbeabsichtigte Veränderungen der ursprünglichen Texte vorkamen, liegt auf der Hand. Aber auch genuin arabische Ergänzungen ließen sich nicht ohne Weiteres lateinisch ausdrücken, weil den Übersetzern vielfach entsprechende Begriffe fehlten, was die zahlreichen Arabismen erklärt. Das „Buch der Alaune und Salze“ 134
(Liber de aluminibus et salibus) entstand vermutlich in Spanien und war zum Zeitpunkt seiner Übertragung ins Lateinische noch relativ neuen Datums. Auf der Basis der Sulphur-Mercurius-Lehre aufgebaut, ist das Werk weitgehend praktisch ausgerichtet, wobei der Mercurius mit dem Geist (spiritus), der Sulphur mit der Seele (anima) in Bezug gesetzt wird. Problematisch und folgenreich ist die Vermischung naturphilosophischer und empirischer Begriffe, konkret die Vermischung von Mercurius/Sulphur mit Quecksilber/Schwefel, die die Trennung zwischen der spekulativen Lehre und der praktischen Laborarbeit verwischte und zu einer dauerhaften Begriffsverwirrung führte. Die Reihe der bedeutenden Alchemisten des Mittelalters soll durch Geber latinus abgeschlossen werden. Wie schon gesagt, wurde dieser Autor lange Zeit mit Jabir ibn Hayyan gleichgesetzt; heute hält man einen biographisch nur mangelhaft fassbaren Franziskanermönch namens Paulus, der um das Jahr 1300 in Tarent (Taranto) in Apulien lebte, für den Autor zumindest der Hauptschrift des Geber latinus, der „Summa perfectionis magisterii“ (Höchste Vollendung des Meisterwerks). Wie bei Jabir, dem „Geber arabicus“, existieren auch hier mehrere Werke, die im Umfeld dieses Paulus von Taranto entstanden und unter dem Signum „Geber“ erschienen. Sämtliche Schriften bilden den „Geber-latinus-Corpus“, dessen Inhalt in kurzen Zügen erläutert werden soll, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob Paulus oder ein unbekannter anderer Verfasser dahintersteht. Geber misst der Alchemie das Potential zu, alles zu erzeugen, was nicht Leben und Seele hat. Damit wendet er sich von der Vorstellung einer allbelebten und allbeseelten Welt ab und unterscheidet zwischen zwei grundlegenden Erscheinungsformen der Materie, die aber beide aus den vier Elementen und den zwei Prinzipien bestehen sollen. Geber entspricht hier der modernen Begrifflichkeit mit ihrer Unterscheidung von lebender und toter Materie. Die tote Materie kann der Alchemist auch in ihren Primärqualitäten wandeln, also in der Mischung der Prinzipien grundlegend neu formen, während der „normale“ Metallurg nur Sekundärqualitäten wie die Farbe verändern kann. Wie Roger Bacon und Rhazes misst Geber dem Experiment große Bedeutung bei. Am Beginn steht die Theorie, die aber der Bestätigung durch das Experiment bedarf. Dieser Experimentbegriff geht indes von der faktischen Richtigkeit des theoretisch Geforderten aus und weicht insofern vom modernen Konzept einer „Frage an die Natur“ ab. Zwei weitere Neuerungen erscheinen in den Geber-Texten, eine an Geber arabicus (Jabir) und Rhazes anschließende Korpuskulartheorie und die hier erstmals formulierte „Reine Mercurius-Theorie“. Die Elemente selbst bestehen danach aus kleinsten Teilchen, den Korpuskeln, die sich zu den nächstgrößeren Basisteilchen, den Prinzipien zusammenfügen, die ihrerseits dann die realen Substanzen formen. Die Korpuskeln sind von unterschiedlicher Größe. Kleine sind leicht beweglich und daher flüchtig, große können sich nicht sehr dicht zusammenlagern, weil größere Zwischenräume bleiben (die von kleineren Korpuskeln gefüllt werden müssen, denn einen leeren Raum gibt es nicht). Ideal sind daher mittelgroße Korpuskeln, die die „mediocris substantia“ bilden. Die unter135
schiedlich dichte Zusammenlagerung von Korpuskeln führt zu der unterschiedlichen Dichte etwa der Metalle. Bei den Korpuskeln Gebers handelt es sich um reale, nicht um theoretisch denkbare letzte Teilchen. Aus der Korpuskularlehre leitet Geber die „Nur-Mercurius-Lehre“ ab. Natürliches Quecksilber enthält Verunreinigungen, die es volatil machen, der „Mercurius“ hingegen ist davon frei und das eigentlich metallbildende Prinzip. Im Gold, dem vollkommensten aller Metalle, wirkt der „Sulphur“ nicht mehr als echter Bestandteil, sondern kommt nur in Spuren als Färbestoff vor. Diese „Reine-Quecksilber-Lehre“ wurde nach einigen Jahrzehnten wieder verlassen, was der Bedeutung des Geber-Corpus für die weitere Entwicklung der abendländischen Alchemie indes keinen Abbruch tat. Dies hängt auch mit den recht beachtlichen praktisch-chemischen Kenntnissen und der unverschlüsselten Sprache der Geber-Texte zusammen. Hier wird die Darstellung einer ganzen Reihe von Salzen, Alkalien, Sulfiden und auch des Königswassers sowie der Schwefel- und Salpetersäure klar und verständlich gelehrt. Damit wurde die Alchemie von einer überwiegend im Schmelzofen stattfindenden Labortätigkeit zu einer Alchemie der Lösungen und Abscheidungen, die auch bei niedrigeren Temperaturen erfolgte. Entsprechend finden sich auch verbesserte Apparate und Verfahrensvorschriften zum Filtrieren, Sublimieren, Destillieren und Kristallisieren. Mit den Geber-Schriften emanzipierte sich die abendländische Alchemie von ihren griechisch-arabischen Lehrmeistern, auch wenn diese natürlich weiterhin in hohem Ansehen standen.
III.6 Gelehrte Magier des Mittelalters Die schon angesprochene „Renaissance des Mittelalters“ wirkte sich natürlich nicht nur im Hinblick auf die Alchemie aus, sondern führte zu einer umfassenden geistigen Belebung. An der Kathedralschule von Chartres begründete Fulbert von Chartres (950–1028/29), der Onkel von Heloise, einen Gelehrtenzirkel, der ein auf der Betonung individuellen Denkens und rationaler Vernunft beruhendes Schulkonzept pflegte und weiterentwickelte. Petrus Abaelardus ging davon aus, dass man nur glauben könne, was man auch begriffen habe, während die Kirche bisher die Maxime vorgegeben hatte, dass man glauben müsse um begreifen zu können. Verbunden mit dem neuen Rationalismus war ein neues Naturverständnis. Man baute nun auf den gesetzmäßigen Ablauf natürlicher Vorgänge, d. h. auf die Existenz von Naturgesetzen; dies machte die Natur zu etwas Autonomem, der göttlichen Willkür Entzogenem und so entstand die geistige Grundlage für die Erforschung dieser natürlichen Abläufe. Es entbehrt nicht der Ironie, dass genau so ein Naturverständnis der Mikrokosmos-Makrokosmos-Parallele zugrunde liegt, also schon Jahrtausende früher von den Sumerern entwickelt worden war. Auch die griechischen Philosophen setzten die Existenz gewisser gleichbleibender Gegebenheiten voraus, an die auch die Götter gebunden waren. Die Kirche allerdings sah durch Naturgesetze die absolute Macht Gottes eingeschränkt. 136
Die Neigung zu rationalem Denken wirkte zeitweise sogar bis in höchste kirchliche Kreise – so war Gerbert von Aurillac (ca. 950–1003, seit 999 Papst Silvester II.) in arabischer Arithmetik und Astronomie bzw. Astrologie bewandert und benutzte als einer der Ersten im Abendland arabische Ziffern. Bezeichnenderweise wurde ihm unterstellt, mit dem Teufel im Bund zu sein. Magische Vorstellungen lassen sich bei praktisch allen mittelalterlichen Gelehrten nachweisen. So akzeptierte etwa Thomas von Aquin (1225–1274) die Astrologie als Theorie, sah sie aber durch den freien Willen eingeschränkt. Astrologie war (in Verbindung mit der Astronomie) auch Unterrichtsfach in den mittelalterlichen Universitäten, galt als Höhepunkt mathematischer Kunst und als wesentlicher Bestandteil der Medizin.60 Der „Kirchenvater“ Isidor von Sevilla (um 560–636), dessen „Etymologiae libri viginti“ (20 Bücher der Erklärung der Worte, entstanden um 623) eine oft benutzte Realenzyklopädie in vielen Klosterbibliotheken war, nahm an, dass Wunder durch die Hilfe von Dämonen zu vollbringen seien, was er natürlich scharf verurteilte. Andererseits sah er kein Problem darin, bestimmten (Edel)Steinen Wunderkräfte zuzuschreiben; der Sirius (Hundsstern) sollte Krankheiten bringen und Kometen Seuchen, Hungersnöte und Kriege ankündigen. Auch hielt Isidor die in der Bibel genannten Zahlen für Chiffren, deren Entschlüsselung viele heilige Geheimnisse an den Tag bringen könnte.61 Alexander Neckam (1157–1217) schwelgte in seinem „De Naturis Rerum“ in der Harmonie der Himmelssphären und verband die sieben Planeten mit den sieben artes liberales und den sieben Gaben des Hl. Geistes. Er glaubte an eine mystische Bedeutung dieser und anderer Zahlen und an einen engen Bezug der einzelnen Planeten zu abstrakten Begriffen. Michael Scotus († 1235/36), Hofastrologe Kaiser Friedrichs II. (1194–1250) und herausragender Wissensvermittler arabischer und antiker Lehren, verfasste eine Einführung in die Astrologie für Studenten und übersetzte vermutlich auch alchemische Werke, etwa die „Ars alchimiae“ (Kunst der Alchemie).62 In seiner „Physiognomia“ vertrat er die Signaturenlehre, er erblickte in äußeren Zeichen des Körpers Merkmale für den inneren Seelenzustand, der durch Träume entschlüsselt werden kann.63 Dante verbannte Scotus wegen seiner magischen Künste in die unterste Hölle: Sieh Michael Scotto auch, den mageren, dünnen, Der jeden Trug des Zaubers klug gelenkt, Und solches Spiel verstanden zu gewinnen.64
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Lynn Thorndike: The Place of Magic in the intellectual History of Europe, New York 1905, S. 13. Ebd., S. 14. Hans-Werner Schütt: Auf der Suche nach dem Stein der Weisen. Die Geschichte der Alchemie, München 2000, S. 267. Thorndike: The Place of Magic, S. 17. Karl Kiesewetter: Die Geheimwissenschaft. 2. Aufl. Leipzig 1896, S. 309.
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Albertus Magnus Der wohl bedeutendste Universalgelehrte des Spätmittelalters war Albertus Magnus (1193–1280).
Abb. III.5: Albertus Magnus. Holzschnitt von Tobias Stimmer. Er studierte in Padua und trat dort 1223 dem 1216 vom Papst bestätigten Orden der Dominikaner bei. Den größten Teil seines Lebens verbrachte er in Köln. 1245/46 wurde er in Paris zum Doktor der Theologie promoviert und widmete sich, nach Köln zurückgekehrt, dem Aufbau eines Generalstudiums für seinen Orden (aus diesem Generalstudium ging später die Universität zu Köln hervor). Albert bekleidete zeitweise die Stelle des deutschen Ordensprovinzials und war nach 1260 kurze Zeit Bischof von Regensburg. Seit dem 14. Jahrhundert erhielt er – als einziger Gelehrter überhaupt – den Beinamen „Magnus“ (der Große), im Jahr 1931 erfolgte seine Heiligsprechung. Albert spielte eine entscheidende Rolle bei der Wiederentdeckung der Philosophie des Aristoteles und der Einführung der griechischen und arabischen wissenschaftlichen Literatur in die 138
mittelalterliche Universitätsgelehrsamkeit. Mit Aristoteles hatten die christlichen Theologen bis zu Albertus so ihre Schwierigkeiten. Einerseits konnte man nicht umhin, seine großartigen naturphilosophischen Leistungen zu bewundern, andererseits fügte er sich nicht in das christliche Weltbild. Dies hatte mit der maßgeblichen Interpretation des aristotelischen Gedankengebäudes durch den arabischen Gelehrten Ibn Ruschd (1110–85), von den Lateinern Averroës genannt, zu tun. Demnach gab es keinen personalen Gott, sondern eine allen gemeinsame Weltseele, die im Leben personalisiert, nach dem Tode wieder in das Weltganze integriert werde. Die Welt des Aristoteles war ewig, ungeschaffen, ohne Anfang und Ende. Das Aufgehen der personalen Seele in der Weltseele bedeutete auch, dass keine Belohnung oder Sühne im Jenseits zu erwarten sei. Solche Vorstellungen waren in der Tat mit der Lehre des Christentums unvereinbar. Der „Averroismus“ fand im 12. Jahrhundert geheime Anhänger unter den Intellektuellen der Universitäten Montpellier und Bologna. Seit dem Anfang des 13. Jahrhundert ergingen päpstliche Verbote des Studiums der Schriften des Aristoteles, was einem Verbot geistiger Auseinandersetzung überhaupt gleichkam. Nur Aristoteles bot jedoch einen Welt und Überwelt umfassenden systematischen Interpretationsansatz und eignete sich für eine rationale Deutung irdischer Zusammenhänge. Albert vermochte nun eine nicht-averroistische Deutung des Aristoteles zu entwickeln, die mit der Bibel vereinbar war und in der die Welt geschaffen und endlich blieb. Diese Leistung ermöglichte die Einbeziehung von Aristoteles und der griechischen Philosophie in das Denken des lateinischen Europa und die Entwicklung des individualistischen Denkens, das für Europa bestimmend wurde. Damit waren die Voraussetzungen für die Entwicklung naturwissenschaftlicher Vorstellungen geschaffen, bei Albert selbst, aber auch bei Robert Grosseteste, dem Kanzler der Universität Oxford, die zu einem Zentrum dieses Denkens wurde, oder bei Roger Bacon. Alberts wichtigster Schüler war Thomas von Aquin (um 1226–1274). In seiner „Summa theologiae“ versuchte dieser, die Welt in ihren verschiedenen Aspekten in einer geschlossenen Übersicht zusammenzufassen, die nicht nur enzyklopädisch war, sondern von einem einheitlichen geistigen Rahmen zusammengehalten wurde. Albert zählt zu den bekanntesten Autoritäten der mittelalterlichen Alchemie, seine Schriften wurden im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert vielfach gedruckt. Wie in der Alchemie nicht selten, hat er selbst jedoch kein eigentlich alchemisches Werk geschrieben; vielmehr wurden ihm Texte anderer Verfasser untergeschoben, unter Missbrauch der Autorität seines Namens. Die hinsichtlich der Alchemie wichtigste echte Schrift Alberts behandelt die Minerale („De Mineralibus“), worin er u. a. die Bildung von Metallen und die Möglichkeit einer Transmutation untersuchte. Er nahm an, dass natürliche wie künstliche Prozesse die Farbe, das Gewicht und den Geruch eines Metalls ändern können, hielt aber deren prinzipielle Natur für unveränderbar und eine echte Umwandlung eines anderen Metalls in Gold daher für nicht möglich. Er habe, sagt er, verschiedentlich erfolglos versucht, das innere Wesen des Goldes, seine Essenz, zu ver139
ändern. Er hielt ebenfalls die Sympathielehre für richtig und betonte die Kraft der Mineralien, Krebs zu heilen, Gifte zu neutralisieren, Herzen gewogen zu machen und Kämpfe zu gewinnen. War Albert gegenüber der Alchemie eher skeptisch eingestellt, so hielt er die Astrologie in hohen Ehren. Ganz im Sinne der Makrokosmos-Mikrokosmos-Parallele erblickte er in allen irdischen Dingen astrale Einwirkungen. Er betonte immer wieder, dass die Natur und das irdische Leben von den Bewegungen der Sterne bestimmt werden. Allerdings schränkte er die Macht der Gestirne insofern ein, als sie das Schicksal des Menschen nicht festlegen, da dieser über eine göttliche Seele verfügt und freien Willen besitzt. Ohne Willensanstrengung indes werde auch der Mensch zum von den Sternen geleiteten Naturobjekt. Das Geburtshoroskop eines Menschen, sofern korrekt erstellt, könne dennoch dessen Schicksal vorhersagen, soweit es die Gestirneinflüsse betreffe – die aber wiederum durch den freien Willen korrigierbar seien. Auch Albert vertritt hier die für die abendländische Astrologie typische Zwitterposition, wonach die Gestirne „geneigt machen, aber nicht zwingen“.65
Roger Bacon Roger Bacon (1214/20 – nach 1292) war einer der Begründer der abendländischen Naturforschung.
Abb. III.6: Roger Bacon. Kupferstich von Franz Cleyn (17. Jahrhundert). 65
Thorndike: History of Magic, Bd. II, S. 584–86.
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Vermutlich studierte er in Oxford und Paris, wo er um das Jahr 1240 den Grad eines „magister artium“ erworben haben könnte. Um 1257 trat Bacon dem Franziskanerorden bei und verfasste bis etwa 1270 seine Werke „Opus maius“, „Opus minus“ und „Opus tertium“. Einige Jahre später bekam er Schwierigkeiten mit seinem Orden und wurde möglicherweise in Klosterhaft genommen. Die Gründe dafür sind nicht näher bekannt, haben aber vermutlich weniger mit seinen alchemisch-astrologischen Interessen als mit theologischen Vorstellungen bezüglich der Apokalypse zu tun. Bacon rechnete damit, dass es auf die Dauer gelingen werde, Metalle zu transmutieren und das Leben zu verlängern. Er betonte die Wichtigkeit von Experimenten, ohne allerdings einen modernen Begriff dessen zu haben, was ein Experiment ist; mittels der Experimente sollte die von ihm abgelehnte Dämonomagie zum Verschwinden gebracht werden. Bacon glaubte an den Einfluss der Gestirne auf die Gesundheit. Die Sterne pflanzen bei der Geburt gute oder schlechte Dispositionen und gute oder weniger gute Talente in den Leib. Der Mensch kann diese Anlagen nach seinem freien Willen nutzen oder nicht. Er führte die Unterschiede zwischen einzelnen Völkern auf deren Lebensraum in unterschiedlichen Himmelsgegenden zurück und erblickte ausgerechnet in der Astrologie den Beweis der Überlegenheit des Christentums über andere Religionen. Ebenfalls mit siderischen Einflüssen erklärte er den Bösen Blick, den er als eine Art feinstofflichen Ausfluss, eine Emanation, aus den Augen ansah. In analoger Weise erklärte er die Wirkung der Gestirne auf dem Menschen. Als höchstes irdisches Lebewesen sei der Mensch sogar besonders geeignet, solche Emanationen zu erzeugen, auch durch das gesprochene oder geschriebene Wort. Bacons großes Interesse an der Alchemie wird vor allem im „Opus minus“ und dem „Opus tertium“ deutlich. Er unterscheidet zwischen der spekulativen oder theoretischen und der operativen oder angewandten Alchemie. Erstere ist die Grundlage der Medizin und der Naturphilosophie, da sie mit ihrer Materielehre die Basis anderer Naturlehren bildet. Erstmals im Abendland findet sich bei Bacon auch die Vorstellung, mittels der Alchemie das menschliche Leben zu verlängern. Seine Empfehlungen, alchemische Medikamente aus Blut, Quecksilber und anderen Zusätzen herzustellen, wurden von Paracelsus aufgegriffen und fortgeführt, fanden ihren Niederschlag aber auch in der Idee des Lapis als Allheilmittel (Panacee). Bacon war überzeugt, die perfekte Substanzmischung des „Steines“ könne den leidenden Menschenleib ebenso veredeln wie ein unvollkommenes („krankes“) Metall. Der berühmte Arzt und (angebliche) Alchemist Arnald von Villanova (um 1240–1311) verkündete, der Arzt müsse primär die Funktionen der Organe verstehen und hielt die Kenntnis einzelner Dinge für die Grundlage aller Wissenschaft (Empirismus), glaubte aber gleichzeitig an astrologische Heilmethoden und Oneiromantik (Traumdeutung), übersetzte Traktate über Beschwörungen und schrieb ein Buch über das „Tetragrammaton“, d. h. den unaussprechlichen Namen Gottes.66 Männer wie Albertus Magnus, Roger Bacon oder Arnald von Villanova trieben 66
Thorndike: The Place of Magic, S. 20.
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die allegorische (symbolistische) Interpretation heiliger Texte, die mit den Kirchenvätern begonnen hatte, auf die Spitze. Sie erblickten nicht nur in jedem in der Bibel geschilderten Ereignis eine Parabel oder Metapher, sie behandelten den Text selbst als Kryptogramm, d. h. sie nahmen an, dass er eine Verschlüsselung einer verborgenen „eigentlichen“ Offenbarung darstelle. Der Schlüssel zu dieser biblischen Chiffre bestand in der Tatsache, dass den hebräischen Buchstaben auch Zahlenwerte zukommen. Diesen besonderen Zweig der Bibelauslegung bezeichnet man als Kabbala, seine Vertreter als Kabbalisten. Das hebräische Wort Kabbala bedeutet wörtlich „Überlieferung“; es umfasst im weiteren Sinne die nicht im Pentateuch enthaltenen Geheimlehren des Judentums, im engeren Sinne eine gegen Ende des 12. Jahrhunderts im Umfeld der gnostisch beeinflussten Sekten der Katharer und Albigenser im südlichen Frankreich bekannt gewordene mystisch-theosophische Lehre. Mittels der Worte und Zahlen wird eine Verbindung der materiellen zur geistigen Welt hergestellt, die auch die Beschwörung der die unterschiedlichen Weltsphären bewohnenden Geistwesen erlaubt, sofern deren „wahrer“ Name dem Eingeweihten bekannt ist. Dies gilt prinzipiell auch für den wahren, verborgenen Namen Gottes. Damit offenbart sich in der Kabbala nichtjüdisches Gedankengut, das in der Gnosis wurzelt. In der Renaissance entwickelte sich aus diesen Anfängen die „christliche Kabbala“.
III.7 Mittelalterliche Mystikerinnen Bisher war hauptsächlich von Männern die Rede. Die Frauen wurden – nicht nur im Mittelalter, aber dort mehr als in der Antike und der Neuzeit – in eine soziale und geistige Randposition gedrängt. Die Kirche betrachtete Frauen als Wesen zweiter Klasse, eher der Natur und damit dem Chthonisch-Dämonischen nahe als dem Göttlichen. Es gab theologische Erörterungen zur Frage, ob Frauen überhaupt eine Seele haben. Den Frauen blieben nur wenige Möglichkeiten, ein eigenständiges gesellschaftliches Profil zu erringen. Eine davon war der Weg der Mystikerin, der direkt von Gott oder den Heiligen oder der Muttergottes Maria erleuchteten Frau. Dabei lief man allerdings Gefahr, nicht als Sprachrohr göttlicher Mächte, als lebende Heilige oder Prophetin angesehen zu werden, sondern als Ketzerin, Hexe und Ausgeburt der Hölle. Denn die Entscheidung, welche Macht vom Geist der frommen Frauen Besitz ergriffen habe, lag letztlich wiederum bei den Männern. Der österreichische Mediävist Peter Dinzelbacher hat in seiner Studie „Heilige oder Hexen? Schicksale auffälliger Frauen in Mittelalter und Frühneuzeit“ (1995) einige konkrete Fälle vorgestellt, bei denen diese gefährliche Gratwanderung exemplarisch deutlich wird. Am 30. Mai des Jahres des Herren 1431 wurde eine Hexe verbrannt. Der Prozess fand in der von englischen Truppen besetzten französischen Stadt Rouen statt und wurde von Pierre Cauchon, Bischof von Beauvais, geleitet. In den Prozessakten wird die Delinquentin u. a. als „Hexe und Zauberin, Weissagerin, Pseudo-Prophetin, Anruferin und Beschwörerin böser Geis142
ter, abergläubisch, hartnäckig den magischen Künsten ergeben, Frevlerin und Götzenanbeterin“ bezeichnet, „grausam dürstend nach Menschenblut“. Der Henker hatte bei der Urteilsvollstreckung ein ungutes Gefühl und bekannte noch am selben Tag: „Ich fürchte sehr, dass ich verdammt bin, denn ich habe eine Heilige verbrannt.“ Das Opfer ist uns unter dem Namen Jeanne d’Arc bekannt, bei uns auch als Jungfrau von Orléans.
Abb. III.7: Jeanne d’Arc, Miniaturmalerei eines unbekannten Meisters aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts; ein zu Lebzeiten entstandenes Bild ist nicht überliefert. 25 Jahre später befand ein anderes hohes kirchliches Gericht Prozess und Urteil für null und nichtig. Dann passierte einige hundert Jahre lang nichts weiter; 1894 erklärte die Kirche Jeanne d’Arc für verehrungswürdig, 1909 wurde sie selig-, 1920 heiliggesprochen. Nunmehr galt die vormalige Hexe, gemäß bischöflichem Attest, „für das herrlichste Geschöpf der Geschichte“. 143
In seinem Kanonisierungsdekret lobte Papst Benedikt XV. sie dafür, dass sie „zur Erfüllung der Aufträge Gottes die Familie verließ, die frauliche Beschäftigung aufgab, Waffen nahm und Soldaten zum Kampf führte“. Der Tag der Verbrennung Jeanne d’Arcs wird seit 1922 in Frankreich als Feiertag begangen. Wie ging es zu, dass ein und dieselbe Person für ein und dieselben Taten einmal verketzert und ermordet und dann zur Heiligen verklärt werden konnte? Die Erklärung klingt sehr nüchtern und wirft ein schlimmes Licht auf ihre Blutrichter, aber auch ein zumindest eigenartiges Licht auf ihre Heiligsprecher. 1431 musste Jeanne sterben, weil sich die Engländer, in deren Gefangenschaft Jeanne geraten war, für die Niederlage rächen wollten, die sie bei der Belagerung von Orléans 1429 von den Franzosen unter Jeannes Führung hatten hinnehmen müssen. Die Engländer konnten sich einfach nicht vorstellen, dass eine Frau sie besiegen könne, ohne eine Hexe und Teufelsbündlerin zu sein. Der Revisionsprozess und ihre Rehabilitierung erfolgten ohne den Druck englischer Streitkräfte. 1909 und 1920 waren die Beziehungen zwischen der Republik Frankreich und dem Vatikan ziemlich kühl. Die Selig- bzw. Heiligsprechung war als Geste des Entgegenkommens zur Verbesserung des politischen Klimas gedacht.67 Nun ließe sich – zurecht – bemerken, dass Jeanne d’Arc ein Sonderfall sei. Nur war sie keineswegs die Einzige, die, je nach den gerade herrschenden Umständen, als Heilige oder als Hexe angesehen wurde. So wurde 1391 Dorothea von Montau in Danzig vor ein Kirchentribunal beordert. Man verdächtigte sie der Ketzerei, da sie des Öfteren in ekstaseähnliche Zustände verfiel, in denen sie Visionen hatte. Ihrem Beichtvater Johannes Marienwerder erzählte sie „von Dingen, die Menschen ganz unbekannt sind“. Man drohte ihr mit dem Scheiterhaufen, der seit Kaiser Friedrich II. verbindlich vorgeschriebenen Strafe für Ketzer und Hexen. Dorothea blieb unbeeindruckt und erklärte: „Ich irre nicht und kann nicht irren, denn ich habe einen Lehrer und Meister, der mich und alle Menschen liebevoll unterweist.“ Sie erbot sich, das Holz zu ihrem Scheiterhaufen selbst zu kaufen, wenn es den Herren beliebe, sie hinrichten zu lassen. Dazu kam es dann jedoch nicht, anscheinend, weil Marienwerder sich erfolgreich für sie einsetzte. Dorothea wurde zur Patronin Preußens und 1976 heiliggesprochen – so bedächtig mahlen die Mühlen der Kirche. In Dorotheas Fall kommt etwas Typisches zum Ausdruck, nämlich die ambivalente Wirkung, die psychisch auffällige Frauen (auch Jeanne d’Arc behauptete von sich, Stimmen zu hören, die ihr Befehle gäben) auf die männliche Welt des Mittelalters ausübten. Peter Dinzelbacher bemerkt hierzu: Das heißt aber, dass die Reaktionen der „Normalen“ nicht einheitlich waren, sondern dass […] ein und dasselbe Symptom sowohl als Zeichen der Heiligkeit als auch als Zeichen der
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Peter Dinzelbacher: Heilige oder Hexen. Schicksale auffälliger Frauen in MA u. Frühneuzeit, Zürich 1995, S. 21 f.
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Ketzerei, der Zauberei, der Besessenheit ausgelegt werden konnte. Dies lässt sich aus den Biographien zahlreicher weiterer kanonisierter Seliger und Heiliger erweisen. Immer wieder berichten die Hagiographen, dass eben die Anzeichen, die ihnen Garantien der Heiligkeit waren, von anderen Mitchristen […] nicht positiv, sondern negativ gedeutet wurden. Die entscheidende Frage […] lautete: War es ein guter oder ein böser Geist [der sich hinter der Maske eines guten versteckte], der die Frau beherrschte.68
Je nachdem, wie die Antwort auf dies Frage ausfiel, war die betreffende Frau entweder eine Heilige oder eine Ketzerin bzw. Hexe. Die selige Christina von Stommeln († 1312) barg diese zwei Seelen wortwörtlich in ihrer Brust. Sie zeigte Symptome, die von ihr selbst und ihrer Umgebung abwechselnd als mystische Vision und als dämonische Besessenheit verstanden wurden. Christina war eine Begine, d. h. sie hatte sich einer religiösen Laienbewegung angeschlossen, die im Gebiet Köln-Aachen und in Flandern viele Anhängerinnen fand, die ihr Leben der religiösen Betrachtung und der Armenfürsorge weihten. Bei den Beginen waren mystische Ekstasen nicht ungewöhnlich, bei Christina zeigten sich aber auch Zeichen einer dämonischen Besitznahme. In ihrer Nähe flogen Steine durch die Luft, Fenster und Türen schlugen zu und Christina wurde durch die Luft gewirbelt – alles ohne erkennbare materielle Ursache. Die Nahrung, ja selbst die Hostie, scheint ihr aus Kröten, Spinnen und Schlangen zu bestehen. Ein offenbar kühler Stein fügt ihr Brandblasen zu. In einem zeitgenössischen Bericht heißt es: Der Dämon beißt nämlich wie ein Hund in die Fleischteile ihres Körpers, reißt Stücke davon heraus, verbrennt ihr die Kleider am Leibe. Durch ihren Mund stößt der Teufel Blasphemien aus. Andererseits zeigt Christina Merkmale außergewöhnlicher Frömmigkeit und Askese. Sie schläft in Kreuzform auf Stein, trägt den Bußgürtel, fastet, geht in Schuhen ohne Sohlen. In Visionen erscheint ihr das Christuskind in der Hostie.69
Ihre Mitschwestern, die Kölner Beginen, verspotteten sie und hielten sie für eine Schauspielerin, die Heiligkeit nur vortäusche. Auch andere, darunter ein Onkel, vermuteten betrügerische Machenschaften oder bezichtigten sie der Hexerei. Die solchermaßen Geplagte war sich selbst nicht sicher, ob ihre mystischen Visionen nicht ebenfalls Eingebungen des Teufels sein könnten. Die letzten 24 Jahre ihres Lebens verbrachte Christina in Ruhe, nachdem sowohl Visionen wie auch dämonische Besessenheit 1288 abrupt aufgehört hatten. Trotz der Hinweise auf teuflische Einflüsse oder auch Hexerei wurde sie nicht angeklagt – die Zeit der großen Hexenjagd sollte erst noch kommen. Heute ist sie seliggesprochen. 68 69
Dinzelbacher, S. 25. Dinzelbacher, S. 33.
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Die oben zitierte Ansicht, es sei von den jeweiligen Umständen und nicht so sehr von den konkreten Aussagen und Handlungen bestimmt, ob man zur Ketzerin oder zur Heiligen stilisiert wurde, bestätigt sich auch im Fall der Angela von Foligno (1248–1309). Die 1701 heiliggesprochene Nonne gehörte als Tertiarin dem Franziskanerorden an und nahm für sich nicht mehr und nicht weniger in Anspruch, als schon auf Erden im Paradies zu wandeln. Eine völlig frei, rein und einfach gewordene Seele lebe, so Angela, bereits im Zustand des Paradieses und könne, da mit dem göttlichen Willen gleichgestimmt, gar nicht mehr sündigen. Diese Vorstellungen entsprachen ziemlich genau denen der von der Kirche verfolgten Sekte der „Freien Geister“, die damals aktiv war und die ebenfalls die Idee der Selbstvergottung predigte, die die offizielle Theologie auch bei den Gnostikern kritisierte. Angela sagte von sich, sie „erkenne und habe die ganze Wahrheit, die im Himmel und in der Hölle und in der ganzen Welt und an jedem Ort und in jedem Ding existiert, und alle Freude, die im Himmel und in jeder Kreatur existiert“. So ein Mensch braucht natürlich weder Priester noch Kirche – er oder sie ist bereits bei Gott. Folgerichtig traf sie auch keine moralischen Unterscheidungen mehr, denn Gott befinde sich in der Hölle und im Dämon genauso wie im Himmel und im Engel, in Mord und Ehebruch ebenso wie in guten Taten. Derartige Ansichten konnten einen leicht auf den Scheiterhaufen bringen und man ermahnte Angela: „Schwester, kehre zur Heiligen Schrift zurück, denn was du sagst, sagt uns die Schrift nicht und wir verstehen dich nicht.“ Doch Angela fühlte sich durch ihre Visionen bestätigt, wenn sie auch manchmal selbst Zweifel befielen: Seht den Teufel meiner Seele und die Bosheit meines Herzens! Hört […] dass ich eine Schwindlerin bin und ein Gottesgreueldenn ich gab mich als Tochter des Gebets und war Tochter des Zorns und des Stolzes und des Teufels. […] Und wisset, dass ich mich in meinem ganzen Leben bemüht habe, angebetet und geehrt zu werden und in den Ruf der Heiligkeit zu kommen […] Glaubt mir nicht mehr – sehr ihr nicht, wie ich vom Dämon besessen bin?70
Mit einer solchen Selbstbezichtigung wäre eine Frau eineinhalb Jahrhunderte später der Inquisition zum Opfer gefallen. Auch bei Angela prüfte eine Theologenkommission aus acht Franziskanern unter Leitung von Kardinal Jakob Colonna die Frage der Herkunft ihrer Verkündigungen, kam jedoch zu dem Schluss, sie seien göttlichen Ursprungs. Aus heutiger Sicht besteht kaum ein Zweifel daran, dass Frauen wie Angela von Foligno, Dorothea von Montau oder Christina von Stommeln neurotisch-hysterische, wenn nicht paranoide oder schizophrene Charakterzüge aufwiesen. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf die 70
Dinzelbacher, S. 62.
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mittelalterliche Männergesellschaft, dass solche Frauen am ehesten die Chance hatten, aus ihrer geschlechtsspezifischen Bedeutungslosigkeit herauszutreten. Diese Frauen waren keine Magierinnen irgendwelcher Art; sie fielen auf, weil sie eine spezifische Form der Verbindung der „normalen“ Sphäre der menschlichen Welt mit dem Bereich des Über- oder Außernatürlichen repräsentieren, die einerseits an die Ekstasen der alten Schamanen und Schamaninnen erinnert und andererseits auf den Bereich der teuflischen Besessenheit oder des Teufelspakts hindeutet, den man bei den Hexen konstatierte. Die hier erwähnten Frauen waren Charismatikerinnen, waren sozial auffällig, hatten religiös geprägte Visionen und gehörten häufig Klostergemeinschaften an, standen also der Kirche nicht nur mental, sondern auch institutionell nahe. Die weiblichen Opfer der erst in der frühen Neuzeit massiv einsetzenden Hexenverfolgungen waren dagegen sozial eher unauffällig, waren meist keine Klerikerinnen und machten nicht durch ihr Benehmen auf sich aufmerksam, sondern durch ihr Wissen.
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Abbildungsnachweise Abb. III.1: wikimedia commons /Heinrich Füllmaurer – eingescannt aus: Württemberg und Mömpelgard: 600 Jahre Begegnung. Beiträge zur wissenschaftlichen Tagung vom 17. bis 19. September 1997 im Hauptsaatsarchiv Stuttgart. Herausgegeben von Sönke Lorenz und Peter Rückert. Leinfelden-Echterdingen, 1999, S. 84 (Kunsthistorisches Museum, Wien) Abb. III.2: akg-images Abb. III.3: wikimedia commons Abb. III.4: wikimedia commons /Arne Koehler Abb. III.5: akg-images Abb. III.6: akg-images /British Library Abb. III.7: wikimedia commons
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Teil IV Hexen
Abb. IV.1: Eine Hexe reitet auf einem teuflischen Ziegenbock durch die Luft. Anonymer Holzschnitt in: Ulrich Molitor, De lamiis et phitonicis mulieribus, 1489. Die Hexenverfolgungen, die am Ende des Mittelalters einsetzten und erst im späten 18. Jahrhundert endeten, stellen eines der abgründigsten Kapitel der europäischen Geschichte dar. Wie entstand der Gedanke, es könne eine Sekte von Teufelsanbeterinnen geben, die die Christenheit im diesseitigen und im jenseitigen (ewigen) Leben bedrohe und daher mit allen Mitteln zu vernichten sei? Eine einfache und präzise Antwort kann es auf ein derart kom151
plexes Geflecht von sozialen und persönlichen Ängsten, von Obrigkeit und Kirche organisiertem und gefördertem Denunziantentum, religiösen Wahnvorstellungen und einem den Herausforderungen nicht gewachsenen Rechtssystem und Rechtsverständnis nicht geben. In diesem Kapitel werden einige Antworten gegeben, die auf vernünftigen Thesen und historisch korrekt ermittelten Fakten beruhen, aber nicht den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben. Der dabei verfolgte Ansatz ist von religiöser und ideologischer Voreingenommenheit frei, soweit dies überhaupt möglich ist, vertritt aber eine dezidierte Position. Das Konstrukt der Hexensekte entstand demnach nach einer komplizierten und langdauernden Umdeutung vorchristlicher Glaubensinhalte, deren Ergebnis die Verwandlung gut gesinnter Wesen der niederen Mythologie in bösartige Schadenzauberinnen war. Durch die Kombination dieses Hexenbildes mit der von der katholischen Tradition der Ketzerverfolgungen geprägten Inquisition formte sich das Wahngebilde der Hexensekte. Damit kam eine unheilvolle Dynamik in Gang, die die sozialen, politischen und religiösen Ängste und Neurosen auf eine definierte Gruppe von Schuldigen fokussierte. Aufgrund der juristischen Struktur der Hexenprozesse entwickelte sich überall dort, wo man anfing einzelne Hexen anzuklagen ein ständig größer werdender Kreis von Beschuldigten, der am Ende niemanden mehr unbehelligt gelassen hätte. War dieser Punkt erreicht (manchmal auch schon eher) endeten die lokalen Verfolgungskampagnen.
IV.1 Metamorphosen – von der Hagazussa zur Hexe Der schon mehrfach genannte Kulturhistoriker und Germanist Claude Lecouteux sieht eine Verbindung zwischen der „Hexe“ bzw. „Hagazussa“ und einem kleinen Gott „Dusius“.1 Beide Namen verweisen auf eine reale Bedeutung bzw. ein Vorhandensein im Denken der Bevölkerung, auch wenn die Namen inhaltlich durchaus Wandlungen erlebt haben können. Aufgrund der fehlenden Trennung nach lokalen Vorstellungen bei den Aufzählungen verbotener Handlungen und Haltungen in kirchlichen Verbotskatalogen lässt sich oft nicht entscheiden wann und wo eine bestimmte volkstümliche Tradition bestand. Zu den vielfach missdeuteten ahd. Bezeichnungen von übernatürlichen Wesen gehört auch die hagazussa. Für das 11. Jahrhundert gibt es mehrere Belege für eine Beziehung zu den „Eumenides“, wohlwollenden, gütigen Wesen der niederen Mythologie, aus denen bezeichnenderweise später böse Wesen wurden, ähnlich den antiken Rachegöttinnen der Furien bzw. Erinnyen.
1
Lecouteux: Welt im Abseits, S. 117 ff.
152
Abb. IV.2: Orestes wird von Furien gehetzt. Ölgemälde von William Adolphe Bouguereau, 1862. Etwa gleichzeitig erscheinen aber auch Glossen die auf „Hure“ oder „Gaukler“ hindeuten. Erst im 13./14. Jahrhundert erscheint hagazussa in der Bedeutung von strix, also Hexe. Bei Gervasius von Tilbury heißt es um 1210: Lamias, quas vulgos masca aut in gallica lingua strias vocant. (Lamien, die volkstümlich Masken genannt werden, oder in gallischer Sprache Hexen.)2
Hier wird ein Zusammenhang zwischen Hexen und Masken hergestellt; der Begriff „thalamasca“ bezeichnet eine Maske „unter der man unverständliches Zeug redet“,3 was deutlich erkennbar auf Zaubersprüche verweist. Die Lamien (griechisch λάμιες) sollen nach einem Ungeheuer der griechischen Mythologie namens „Lamia“ benannt worden sein. Sie sind im griechischen Volksglauben noch heute dämonische, vampirähnliche Bestien. Weitere Namen für sie sind Empusen, Mormolycien oder Striges. 2 3
Lecouteux: Welt im Abseits, S. 121. Ebd.
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In der altnordischen Literatur, „in welcher die letzten Spuren heidnischer Bräuche weit besser erhalten sind, als auf deutschem Boden“ stößt man in der Saga von Erik dem Roten (Eiríks rauða saga) aus dem 14. Jahrhundert auch auf eine „kleine Wahrsagerin“, deren Kleidung ausführlich beschrieben wird. „Am folgenden Tag, bei der Abenddämmerung, wurde sie mit alledem ausgestattet, was sie für ihren Zauber benötigte.“ Es ist anzunehmen, dass die „kleine Wahrsagern“ einen öffentlichen Auftritt vor der versammelten Gemeinschaft hatte. Es liegt nahe, in der kleinen Wahrsagerin eine noch nicht negativ konnotierte Hexe zu vernuten.4 Das Wort „hagazussa“ ist zusammengesetzt. In ihm steckt einerseits das Wort „hag“, das eine Einfriedung, einen eingehegten Platz bezeichnet. Der Zaun steht für die Grenze zwischen dem Kulturraum und dem Naturraum und die Hexe reitet auf diesem Zaun. Der Wortteil „zussa“ bezieht sich nach Lecouteux auf einen Waldgeist „Dus“ oder „Dusius“, der auch bei Augustinus (De civitate dei) genannt ist. Dieser kommt auch in einer weiblichen Form vor (dusia). Hagazussa bedeutet also eigentlich die Dusia der Einfriedung, des eingehegten Platzes. Es handelt sich dabei um einen verweiblichten genus loci, wahrscheinlich identisch mit einer der keltischen Gottheiten unter deren Schutz die Besitzung stand.5
Dieser genius loci wurde christlich umgedeutet zu einem Menschen, der den Christen schadet (maleficium). Das Wort ‚Hexe‘ ist in literarischen Denkmälern bis zum 14. Jahrhundert selten nachweisbar; doch wird es in seiner alten Bedeutung als dämonisches Gespenst noch im 14. Jahrhundert in Flandern angewendet (‚hegetisse‘). Die völlige Vermenschlichung des Begriffs und seine Verbindung mit der Vorstellung vom schädlichen Zauber ist oberdeutschen Ursprungs, und zwar beginnt dieselbe vom 13. Jahrhundert ab im alemannischen, schweizerischen Sprachgebiet.6
Dieser Feststellung, die schon im Jahr 1901 formuliert wurde, stimmt Lecouteux zu und ergänzt: Mit den Ergebnissen meiner Untersuchung beweist sie [diese Aussage], dass die Hexe im heutigen Sinne des Begriffs keine deutsche Vorstellung ist, was schon die Vielfalt der
4 5 6
Ebd., S. 122. Ebd., S. 137. J. Franck: Geschichte des Wortes Hexe, in: Joseph Hansen: Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hexenwesens und der Hexenverfolgungen im Mittelalter. Bonn 1901, S. 614–70, zitiert nach Lecoutreux: Welt im Abseits, S. 137.
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Bezeichnungen nahelegt. Die alten Germanen kannten Zauberer, Hellseher Wahrsager(innen), Traumdeuter usw.; es ist anzunehmen, dass die Anhänger der weißen wie der schwarzen Magie von den Christen ad malam partem gedeutet wurden und sich folglich in Hexen und Hexenmeister verwandelten, also in die römische striga. Die Vorstellung des Dusius als kleiner Gottheit der Einfriedung muss sehr alt sein. Ihr Vorkommen in der Bretagne, in Italien, und in den deutschsprachigen Ländern bzw. Alemanien spricht für einen keltisch-romanischen Ursprung.7
Der Sprachforscher Roger Pinon hat die verschiedenen Metamorphosen wie folgt zusammengefasst: Der Dusius ist ein Waldgott, eine Gottheit der Rodungen und der Siedlungen, ein Dämon der Haine […] ein incubus, ein Genius, der eine menschliche Gestalt besitzt, eine Hydra, der Alpdruck, ein Wiedergänger oder ein Gespenst.8 In den deutschsprachigen Ländern scheint der Dusius einen lokalen Ortsgeist ersetzt und ihm seinen Namen gegeben zu haben. Lecouteux resümiert: Die Entwicklungsgeschichte von hagazussa [zeigt] auffällige Ähnlichkeiten mit der vom Bilwiz. Abermals wohnen wir dem Übergang von einer kleinen Gottheit zu einer menschlichen Gestalt bei. […] Die parallele Entwicklung beider Wesen dürfte keine zufällige Erscheinung sein, sondern einer Art Gesetz bzw. Entwicklungsgesetz entsprechen, wonach solche Kreaturen unter dem Druck der christlichen Religion und der Zeit ihres übernatürlichen Charakters allmählich entblößt werden.9
Die Nachtdämonen Sowohl beim Schrat, beim Bilwiz wie bei der Hexe folgen die Begriffsbildungen demselben Muster: Aus generell eher wohlgesinnten Wesen der niederen Mythologie werden böse und gefährliche Menschen. Besonders markant wird dieser Umdeutungsmechanismus bei den Nachtdämonen. Unter diesem Begriff fasse ich eine komplexe Gruppe von Geschöpfen der Anderswelt zusammen, die teils aus Wesen der niederen Mythologie und teils aus Totengeistern verschiedener Art bestehen. Zwei wesentliche Merkmale des von der Inquisition während der Verfolgungen vom späten 15. bis zum frühen 18. Jahrhundert gezeichneten Bildes der Hexen war der Hexensabbat, zu dem die Teilnehmerinnen nur durch die Luft, mittels des 7 8 9
Lecoutreux: Welt im Abseits, S. 137 f. Roger Pinon: D’un dieu gaulois á un nain melmédien etc., in: Ollodagos 3. 1992, S. 237–306. Zitiert nach Leconteux: Welt im Abseits, S. 138.
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Hexenflugs gelangen konnten. Beide Aspekte hängen inhaltlich eng zusammen und bedingen sich gegenseitig. Der Hexensabbat ist das verzerrte und zum Teufels(gottes)dienst umgedeutete Mahl wohlmeinender Feen, also guter Geistwesen, die vielfach in Märchen auftauchen. Claude Lecouteux widmete dem Thema eine umfangreiche Studie mit dem Titel „Das Reich der Nachtdämonen. Angst und Aberglaube im Mittelalter“ auf die ich mich immer wieder beziehe. Am Beginn steht ein im 9. Jahrhundert bezeugter Brauch „eines für höhere Wesen gedeckten Tisches“ in einem Bußbuch (Poenitentiale) aus Arundel in der englischen Grafschaft West Sussex.10 Dabei wurde in bestimmten Nächten des Jahres Speisen und Getränke auf den Tisch des Hauses gestellt, an dem sich diese Nachtgeschöpfe symbolisch gütlich tun konnten. Der scholastische Philosoph Wilhelm von Auvergne (1180–1249) gibt den „Nachtfrauen“ eine Herrin des Überflusses (Domina Abundia) als Anführerin: Man glaubt, dass sie den Häusern, in denen sie einkehren, Reichtum in Hülle und Fülle schenken. […] In den Nächten, in denen diese Frauen die Heime besuchen sollen, darf man die Trinkgefäße nicht zustopfen und die Speisen nicht zudecken, sonst werden jene Kreaturen zornig und entziehen dem Haus ihre Gunst.11
Der Sinn des Brauchs besteht darin, den guten Geistern des Hauses ein Opfer zu bringen, um dadurch ein gutes fruchtbares Jahr zu erlangen. Im 13. Jahrhundert ist das „Mahl der Feen“ in Frankreich gut belegt und sehr verbreitet.12 In Deutschland gibt es nur eine Quelle für diese Zeit, nämlich den Prediger Berthold von Regensburg (1210–72), der gegen den „Aberglauben“ der Bayern wettert: Du sollst nicht an diejenigen glauben, die des Nachts umhergehen, nicht an hulden, unhulden, pilwiz, nahtvaren, nahtvrouwen, maren und truten. Des Nachts sollst du keinen Tisch für die Felices Dominae decken. […] Die dummen Bäuerinnen glauben nämlich, dass die Nachtfrauen sie nachts besuchen, weshalb sie einen Tisch decken.13
10 11 12 13
Ebd., S. 139. Ebd., S. 142. Ebd., S. 144. Ebd., S. 145.
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Abb. IV.3: Der Franziskaner Berthold von Regensburg predigt dem Volk. Buchminiatur 1447. Um 1350 heißt es im „Gewissensspiegel“ eines unbekannten Autors: Es versündigen sich auch alle, die in der Nacht der Epiphanie (Hl. Drei Könige 6. Januar) Speisen und Getränke auf dem Tisch lassen, damit alles ihnen das ganze Jahr hindurch gelinge und damit sie Glück in allen Dingen haben. […] Alle [sündigen], die der Percht, dem Schrat oder Mahr Nahrung oder rote Schuhe schenken.14
In Süddeutschland wird die Domina Abundia als Satia Perchta oder Berchta bezeichnet. Im 15. Jahrhunderts wird das Fest der Feen zur „Perchtnacht“ und fällt auf den 25. Dezember oder den 6. Januar. Der „Thesaurus Pauperum“ von 1468 erklärt, es sei eine Sünde zu glauben, 14
Ebd., S. 147.
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dass in den Heiligen Nächten zwischen dem Geburtstag Christi und der Epiphaniasnacht gewisse Frauen, denen die Frau Perchta vorsteht, zu den Häusern kommen würden. Noch schlimmer ist es, wenn man glaubt, man hätte diese Personen tatsächlich gesehen, und dass in den oben genannten Nächten Brot, Käse, Milch, Fleisch, Eier, Wein und Wasser nach den Mahlzeiten auf Tischen stehenbleiben, die mit Löffeln, Tellern, Messern und Bechern gedeckt sind. Dies wird getan, damit der Perchta und ihrem Gefolge bei ihrem Besuch um Haus gefällt, es den Bewohnern wohlergeht und die Ernte des beginnenden Jahres gut wird.15
Es fällt auf, dass es in den meisten Fällen um weibliche Dämonen geht, die heidnische Fruchtbarkeitsgöttinnen oder weibliche Geister verkörpern. Vielleicht ist dies ein Grund, weshalb hauptsächlich Frauen als Hexen angesehen wurden. Claude Lecouteux stellt dazu fest: Alle hier angeführten Wesen […] sorgen für Reichtum und Fruchtbarkeit, sind Wohlstandmehrer oder –minderer, und alle sind […] feste Bestandteile der Weltanschauung der illiterati. Die Nachtfrauen sind nichts anderes als die Feen, die Hulden, zu denen sich [auch] Percht, Abundia und Satia zählen lassen. Unholde nennt man gewöhnlich die nichtliterarischen Zwerge, die Mahren (Alp oder Lamia) und den Schrat. Aber die nahtvaren, die dominae noctis wurden verteufelt und zu Hexen degradiert, und ab der zweiten Hälfte des 13. Jahrhundert gibt es nach der interpretatio christiana nur noch Unholde.16 […] Schließt man sich meinen Schlussfolgerungen an, so erlangt das Mahl der Feen eine weit bedeutsamere Dimension und entsteht an der Wende des 9. zum 10. Jahrhundert nicht aus dem Nichts: Es ist eine ökotypische [kulturell und regional beeinflusste Ausprägung eines Kultes] Form des früheren Ahnen-bzw. Totenkults, den die indogermanischen Völker im Winter und die Römer im Rahmen der Januarkalenden feierten.17
Aus den guten Geistern, die im Feenmahl ihren Pakt mit den Bewohnern des Hauses für ein weiteres Jahr erneuern, werden in der christliche Umdeutung Hexen, also Menschen aus Fleisch und Blut. Das Feenmahl wird zum Hexensabbat, zur Schwarzen Messe, in dem die Hexen ihren Pakt mit dem Teufel während eines wilden Bacchanals regelmäßig erneuern. Im Bild der Hexen fließen also unterschiedliche Wesen zusammen, die allesamt dem Schutz des Hauses bzw. des Kulturraums vor bösen Einflüssen dienten. Aus Geistwesen werden die Anhänger einer Teufelssekte, deren Ziel darin besteht, den guten Christen zu schaden, und zwar auch wieder in Haus, 15 16 17
Übersetzung von Lecouteux: Abseits, S. 149. Ebd., S. 81. Ebd., S. 152.
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Stalle und Feld. Die Idee, dass die Hexen (und Hexer, denn auch die gab es) einen formellen Pakt mit Satan schließen, war lediglich eine von den christlichen Kirchen erfundene Zutat, die die Kirchen berechtigte, gegen die so beschuldigten Menschen im Rahmen der Inquisition vorzugehen. Für die meisten Menschen spielte dieser Aspekt kaum eine Rolle, für sie stand der Schadenzauber im Zentrum, der wiederum lediglich eine Umkehr des glückbringenden Opferrituals des Feenmahles darstellt.
Die Feste und Taten der Guten Leute Nicht nur Feen versammelten sich zum Festmahl, auch Menschen trafen sich heimlich an verborgenen Orten, aßen und tranken, tanzten und musizierten wohl auch; sie standen dabei aber nicht im Dienst des Bösen, sondern empfanden sich als eine Art Schutzbund, der die Gemeinde vor den Einflüssen böser Mächte bewahrte. In seiner umfangreichen Studie „Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte“ aus dem Jahr 1989, schildert Carlo Ginzburg die Aktivitäten einer um 1570 den Behörden bekannt gewordenen „Sekte“, die sich in rituellen Kämpfen gegen böse Dämonen um die Sicherung guter Ernten bemühte. In Akten der Inquisition fand Ginzburg Material über die im Gebiet von Friaul (Norditalien) tätigen „Benandanti“. Diese „guten Wanderer“ kämpften nach eigenem Bekunden gegen die „bösen Wanderer“, die „Malandanti“, die Unheil über die Menschen brächten. Diese Kämpfe erfolgten nicht im realen, sondern im imaginären Raum und sie wurden mit magischen Waffen ausgefochten. Konnten die „guten Wanderer“ ihre Gegenspieler bezwingen, war die Ernte gut, unterlagen sie, fiel sie schlecht aus. Die Kämpfe erfolgten imaginativ, also spirituell, und die Benandanti verfielen während dieser Zeit in einen Zustand der Starre, was ein Hinweis auf den Gebrauch von Drogen sein könnte. Der friaulische Adelige Troiano de Attimis erzählte dem Inquisitor Fra Giulio d’Assisi und dem Generalvikar Giacomo Maracco, er habe den öffentliche Ausrufer Battista Moduco auf dem Marktplatz von Cividale sagen hören dass er Benandante sei und des Nachts, insonderheit an Donnerstagen, mit den anderen geht und sie sich zu gewissen Orten begeben, um zu hochzeiten, zu tanzen zu essen und zu trinken; und wann die Malandanti zurückkehren, gehen sie in die Keller, trinken und harnen dann in die Fässer; und wenn die dann nicht die Benandanti mämen, würde der Wein kippen, und andere dergleichen Scherze.18
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Ginzburg: Hexensabbat, S. 91.
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Die als Hexen und Hexer angeklagten Benandanti leugneten nicht, ihre nächtlichen Geisterkämpfe auszufechten, sie bestritten aber energisch, deswegen Hexen oder Hexer zu sein. Die Benandanti versammelten sich – entweder in ihrer Vorstellung oder auch wirklich – viermal im Jahr, zu den Tagundnachtgleichen und den Sonnenwenden. Wann die Benandanti entstanden sind, wissen wir nicht, es ist jedoch kaum anzunehmen, dass sich eine solche Gruppe erst kurz vor dem Zeitpunkt ihres offiziellen Bekanntwerdens im späten 16. Jahrhundert gebildet haben sollte. Entscheidend ist der Umstand, dass hier ein Schadenzauber mittels eines Schutzzaubers bekämpft wurde. Eine magische Bedrohung durch die nicht als Menschen, sondern als Geistwesen gedachten Malandanti, wurde mit magischen Mitteln abgewehrt. Dies unterscheidet die Benandanti grundsätzlich von der Kirche, die eine magische Bedrohung mittels eines Rechtsverfahrens (der Inquisition) abwehren wollte. Wie wir oben gesehen haben, griff v. a. die katholische Kirche aber durchaus auch auf magische Mittel zurück, allerdings nur inoffiziell. In beiden Fällen war der Erfolg nicht garantiert; die Malandanti konnten die Benandanti magisch besiegen, was immerhin eine Erklärung für schlechte Ernten lieferte, und die Bekämpfung der Hexen durch die Kirche und die weltliche Obrigkeit brachte zwar vielen Unschuldigen einen qualvollen Tod, aber niemals den Sieg über die Hexen. Die Benandanti waren keineswegs die einzige Gruppe magiko-religiöser Praktiker von der wir Kenntnis haben. Im Jahr 1428 wurden im von Friaul weit entfernten Wallis einige Bergbewohner wegen Hexerei angeklagt. Sie erklärten, sie drängen des Nachts in fremde Keller ein, tränken den dort lagernden Wein und schissen anschließend in die Fässer. Diese Aussage dürfte nicht freiwillig erfolgt sein. In einem 10 Jahre später im ebenfalls im Wallis gelegenen Ort Sion/Sitten geführten großen Prozess, dem am Ende mehr als hundert Personen zum Opfer fielen, hatten Angeklagte unter Folter gestanden, zu einer teuflischen Sekte zu gehören. Satan sei ihnen in Gestalt eines schwarzen Tiers, manchmal als Bär, dann wieder als Widder erschienen. Nachdem sie Gott, dem Glauben, der Taufe und der Kirche abgeschworen hatten, lernten die Mitglieder Sekte, wie man über Erwachsene und Kinder mit magischen Mitteln Tod und Krankheit verhängt. Einige behaupteten, sie könnten sich zeitweilig in Wölfe verwandeln, um Vieh zu reißen; andere, sie könnten sich unsichtbar machen, indem sie speziell, vom Teufel angezeigt Kräuter zu sich nähmen. Zu den Treffen flogen sie auf Stöcken und Besen: dann machten sie in Kellern halt, tranken den besten Wein und schissen in die Fässer. Zur Sekte, die seit 50 Jahren bestand, zählten den Angeklagten zufolge bereits 700 Adepten. Noch ein Jahr, sagten sie, und sie würden Herren und Herrscher werden über das Land, mit einem eigenen König.19
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Ebd., S. 77.
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Abb. IV.4: Der protestantische Geistliche Jakob Wick (1522–1588) schuf mit seinen „Wickiana“ eine der wichitigsten Sammlungen von Einblattdrucken seiner Zeit. Dazu zählen auch Darstellungen von angeblichen Hexenversammlungen. In dieser den Inquisitionsakten entnommenen Schilderung vermischen sich Charakteristika des schon sehr weit ausformulierten Konzepts vom Hexensabbat mit Elementen der Tierverwandlung. Der Hinweis auf unsichtbar machende Kräuter verdient besondere Aufmerksamkeit, bezieht er sich doch auf die zum Hexenflug verwendeten Hexenkräuter. Davon wird noch ausführlich die Rede sein. An dieser Stelle soll hervorgehoben werden, dass es sich in beiden Fällen um 161
durch die kirchliche und weltliche Obrigkeit in Malandanti verwandelte Benandanti handelt. Sie gestanden genau die Taten, die sie mittels ihrer magischen Rituale zu verhindern gesucht hatten. Schon gut 100 Jahre früher, anno 1319, erzählte Arnaud Gesli, genannt Botheler, Küster in einem kleinen Dorf in den Pyrenäen, dem Inquisitor Jaques Fournier (der zugleich Bischof von Pamiers war), er könne die Toten sehen und mit ihnen sprechen. Auch wenn die Seelen der Verstorbenen nichts essen, so trinken sie doch guten Wein und wärmen sich am Feuer, wenn sie ein Haus mit viel Brennholz finden; aber der Wein wird nicht weniger, wenn Toten davon trinken.20
Dies dürfte eine freiwillige Schilderung eines Mannes sein, der sich keines Unrechts bewusst war. Die Anklänge an das Feenmahl, bei dem die vorbereiteten Speisen und Getränke auch nicht weniger werden, fallen sogleich ins Auge. Was aus dem Küster wurde, ist nicht bekannt. Auch Jeanne d’Arc wurde während ihres Hexenprozesses gefragt, ob sie etwa zu jenen gehören, oder von ihnen wisse, „die mit den Feen durch die Lüfte ziehen“. Sie habe so etwas nie getan, erklärte sie, habe aber davon gehört. Diese fliegenden Scharen versammelten sich an Donnerstagen, sagte sie, und es handle sich dabei um Zauberei. Carl Ginzburg stellt dazu fest: Dies ist nur einer von unzähligen Zeugnissen der allmählichen, sich über Jahrhunderte hinziehenden Diabolisierung einer Glaubensschicht, von der durch Texte von Kanonisten, Inquisitoren und Richtern Bruchstücke bis in unsere Zeit erhalten geblieben sind. Das Leitfossil, das es uns erlaubt, diese Schicht zu erkennen, bilden die Hinweise auf geheimnisvolle, vor allem von Frauen verehrte weibliche Gestalten.21
Ausgehend von dieser Erkenntnis, sich nahtlos in die Resultate von Claude Lecouteux einfügt, lassen sich zwanglos Beziehungen zu den Hexenverfolgungen herstellen: Das Christentum als reine Männerreligion kam nicht umhin, auch dem Bedürfnis der Menschen nach einer Muttergottheit Rechnung zu tragen und erhob daher Maria als Muttergottes in einen quasigöttlichen Status, ergänzt durch diverse weibliche Heiligenfiguren. In diese sollten die Menschen ihre alten Göttinnen wiedererkennen, ganz im Sinne der ausführlich dokumentierten Umdeutungen. Diese Absicht wurde allerdings nur teilweise erreicht. Zwar wurde Maria zur mit Abstand wichtigsten spirituellen Größe des Katholizismus – weit vor der Person von Christus (von Gottvater und dem Heiligen Geist zu schweigen); aber die Erinnerung an die alten Göttinnen ließ sich nicht ganz auslöschen. Diese wurde in kirchlichen Dokumenten normalerweise unter Sammelbezeichnung „Diana“ oder 20 21
Ginzburg: Hexensabbat, S. 91. Ebd., S. 100.
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auch „Herodias“ zusammengefasst, repräsentierten in Wahrheit aber eine heterogene Gruppe von Wesen der niederen Mythologie, die sowohl in Bezug auf ihre jeweils spezifischen Merkmale wie auch hinsichtlich der geographischen Vorkommens nicht unwesentlich differierten. Der Umstand, dass diese mythischen Wesen meist weiblich waren, könnte auch ein psychosoziales Motiv für die Tatsache sein, dass weitaus mehr Frauen als Männer der Hexerei bezichtigt wurden. Der gelehrte Dominikaner Vinzenz von Beauvais (latinisiert Vincentius Bellovacensis, geb. 1184–1194, gest. um 1264 in Beauvais, Nordfrankreich) verfasste mit seinem „Speculum maius“ (Großer Spiegel) die früheste und umfassendste Enzyklopädie des Mittelalters. In seinem „Speculum morale“ (Sittenspiegel), einem Anhang zum „Speculum maius“, der späteren Ursprungs ist und vermutlich nicht von Vinzenz selbst geschrieben wurde, erwähnt der Autor neben Diana und Herodias auch „weitere Personen“, welche als „bonae res“ (wörtlich „gute Dinge“; gemeint sind aber keine Dinge, sondern Wesen) im Volk bekannt seien. Im „Roman de la Rose“, einem im 13. Jahrhundert verfassten Versroman zum Thema „Liebe“, der als das erfolgreichste und einflussreichste Werk der mittelalterlichen französischen Literatur gilt, ist die Rede von den „bonnes dames“, den „guten Frauen“, die zum Gefolge der „Frau Habonde“, einer Göttin, der Namen „Überfluss“ bedeutet und von lateinischen „Abundantia“ abgeleitet ist, gehören sollen.
Abb IV.5: Der Liebesreigen. Miniatur aus einem Manuskript des Rosenromans aus dem Jahr1420/30. 163
Jacobus da Voragine (1228/29–1298), Bischof im Gebiet von Genua in Norditalien, und Verfasser der „Legenda aurea“, einer im Spätmittelalter weitverbreiteten Sammlung von Heiligenleben, die auch in der Bevölkerung verbreitete Legenden enthält, spricht von den „guten Frauen, die nachts umgehen“. Eine Frau aus dem am Nordrand der Pyrenäen gelegenen Gebiet von Ariège erzählte den Inquisitoren, die „bonnes dames“ seien auf Erden reiche und mächtige Frauen gewesen, welche nun auf Wagen herumfahren würden, die Dämonen über Berg und Tal durch die Luft zögen. Die Frauen im schon von Nikolaus von Kues in seiner Predigt wider die Gesellschaft der Diana genannten Fassatal kannten eine Göttin oder Herrin „Richella“ (die Reiche, Wohlhabende). Auch in Schottland und Irland gibt es die „guten Frauen“, die dort „fairies“, also Feen, heißen. Die stete Betonung, es handle sich bei diesen Nachtdämonen um gute, wohlmeinende, Glück und Reichtum versprechende Wesen, zeigt sehr deutlich deren ursprünglichen Charakter als Schutzheister oder Schutzgöttinen, der trotz der Umdeutungsbemühungen erhalten blieb. Ein ungewöhnliches Beispiel für die quasi volkstümliche Christianisierung älterer weiblicher Göttinnen sind die „Heiligen“ St. Aubet, St. Cubet und St. Guere; in ihnen werden die vorchristlichen Göttinnen Ambet, Borbet und Wilbet vermutet. Im Oberinntal (in der Kirche St. Vigil in Obsaurs bei Schönwies) und in Südtirol (Meransen) existieren Kirchen, in denen sie verehrt werden. Der Abt Regino von Prüm stellte um 906 eine Sammlung von kirchlichen Rechtsvorschriften zusammen, die später von Burchard von Worms in dessen „Decretorum“ aufgenommen wurden und unter dem Namen „Canon Episcopi“ (Kanon der Bischöfe) bekannt wurden. Darin heißt es: Es gibt verbrecherische Weibsleute, die, durch die Vorspiegelungen und Einflüsterungen des Satans verführt, glauben und bekennen, dass sie zur Nachtzeit mit der heidnischen Göttin Diana oder der Herodias und einer unzählbaren Menge von Frauen auf gewissen Tieren reiten, über vieler Herren Länder heimlich und in aller Stille hinwegeilen, der Diana als ihrer Herrin gehorchen und in bestimmten Nächten zu ihrem Dienste sich aufbieten lassen.22
Der „Canon“ verurteilte den Glauben an diese Wesen – später galten sie als Hexen, weil die Kirche selbst an das glaubte, was sie hier als Irrglauben bekämpfte. Man könnte die Aufzählung solcher im Volk während des gesamten Mittelalters verbreiteter Glaubensvorstellungen mühelos ergänzen; es kommt aber hier nicht auf Vollständigkeit, sondern auf das Phänomen als solches an: Den volkstümlichen Glauben an wohltätige Wesen der niederen Mythologie, die von der Kirche zu menschlichen Wesen und damit zu Hexen uminterpretiert wurden. Man muss nicht der von Carlo Ginzburg vorgeschlagenen Annahme folgen, dass sich hier „ein Kult von eksta22
Wilhelm G. Soldan und Heinrich Heppe: Geschichte der Hexenprozesse. Aus den Quellen dargestellt, Stuttgart 1843, 1879, erw. 1911, Nachdruck 1960 u. ö., Bd. I, S. 112 f.
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tischem Charakter“ erkennen lässt.23 Eher wahrscheinlich erscheint mir, dass es eine in ganz Europa vorhandene Glaubenstradition gab, die sich auf die von Claude Lecouteux erforschten vor- bzw. nichtchristlichen Schutzgeister bzw. Götter und Göttinnen zurückführen lässt, und die die Folie bot, auf denen die Kirche ein Konglomerat aus Satanskult und Schadenzauber schuf. Dieses in seiner Art einmalige Konzept war aus meiner Sicht die Fortsetzung der diversen Umdeutungsbemühungen mit den Mitteln der Gewaltjustiz. Anders als den Menschen, die sogenannte Hexen der Obrigkeit anzeigten (und damit in der Regel deren Tod verursachten), ging es der Kirche – Katholiken wie Protestanten gleichermaßen – nicht um die Verhinderung von Schadenzauber, sondern um die endgültige Vernichtung ketzerischen Denkens. Man sollte dabei beachten, dass die Inquisition ursprünglich nicht zur Verfolgung der Hexen, sondern von ketzerischen Abweichlern vom kirchlichen Dogma, wie den Katharern, geschaffen worden ist.
Chonrad Stoeckhlin und die Nachtschar Ein höchst bemerkenswertes Beispiel magiko-religiöser Praxis ist aus der Frühen Neuzeit überliefert und wurde von dem Historiker Wolfgang Behringer, einem Experten für die Geschichte des Hexenwesens, eingehend untersucht. Seine Studie „Chonrad Stoeckhlin und die Nachtschar“ aus dem Jahr 1994 schildert das tragische Schicksal eines Hirten, der in Oberstdorf im Allgäu lebte und mit seinem Freund, einem anderen Hirten im Februar 1578 einen Pakt schloss: Wer von beiden zuerst sterbe, sollte dem anderen eine bestimmte Nachricht senden. Auf diese Weise wollten die beiden Freunde herausfinden, ob es ein Jenseits gebe und wie es dort ggf. zugehe. Unglücklicherweise starb sein Freund, der Ochsenhirt Jakob Walch, schon wenige Tage später unerwartet in jungen Jahren. Acht Tage nach dem Tod Walchs, am 20. Februar 1578 erschien Stoeckhlin sein toter Freund als Gespenst im Wald. Anstelle aber aus dem Leben im Jenseits zu berichten, übermittelte er lediglich ein ziemlich dröge Botschaft, die aus jeder Sonntagspredigt des Ortspfarrers hätte stammen können und der zufolge Stoeckhlin sein Leben ändern, seine Sünden bereuen und ein in jeder Hinsicht gottgefälliges Leben führen solle. Am Ende ließ er Stoeckhlin wissen, dass er, Walch, jetzt drei Jahre auf Erden umgehen müsse, ehe er für vier Jahre ins Fegefeuer käme, wo er „Pein und Marter leiden“ werde.24 Nun ist ein solcher „Rückkehrvertrag“ an sich nichts Ungewöhnliches und bildet einen Topos der Erzählforschung. Stoeckhlin und seine Familie hatten aber danach ein Erweckungserlebnis und traten, so Behringer, „in einen neuen Daseinszustand“. Sie wurden plötzlich extrem fromm, 23 24
Ginzburg: Hexensabbat, S. 101. Wolfgang Behringer: Hexen und Hexenprozesse in Deutschland, München 1988, 5. Aufl. 2001, S. 19.
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was auch tägliche Bußübungen einschloss. Daraufhin erschien Stoeckhlin viermal jährlich ein „Engel“, der ihn auf eine ekstatische Seelenreise mitnahm: Also Ime gleich als Ohnmechtig worden worden. Und also verzueckt [verzückt, d. h. in Ekstase] sei er mit ihme [dem „Engel“] an ein orth khommen, do er Pein und Freyd gesechen, seins Vermeinens des Fegfeuer und Paradeis. Di habe er viel leth gesechen aber niemdts khendt.25
Die Ekstase wurde alleine durch die Erscheinung des „Engels“ bewirkt, vermutlich hatten die Bußübungen und der insgesamt exaltierte Gemütszustand des Hirten dieselbe Wirkung, die ansonsten halluzinogene Drogen oder mentale Trancetechniken herbeiführen. Dies wird auch durch folgende Schilderung bestätigt, in der erstmals der Ausdruck „Nachtschar“ erscheint: Wenn ihm sein Führer erschien, fiel Stoeckhlin in eine Art Trance. Sein Körper blieb regungslos auf der Stelle liegen, während seine Seelesich vom Körper löste und seinem Seelenführer, dem Engel, folgte. Die Teilnahme an diese Reisen war nicht freiwillig und sie war nicht immer angenehm. Es wurden weite Strecken zurückgelegt. Die Fahrt, an der Männer wie Frauen teilnahmen, daierte Stunden. Und Stoeckhlin hatte einen präzisen Begriff für seine Gesellschaft, den er fortan hartnäckig beibehielt: Die ‚Nachtschar‘.26
Diese Reisen erinnern einerseits an die Seelenreisen der Schamanen und andererseits an die Reisen der Hexen um Hexensabbat, was für eine innere Verwandtschaft beider imaginierter Rituale spricht. Die Nachtschar ist nichts anderes als die Bezeichnung für ein Konglomerat von Totengeistern und Wesen der niederen Mythologie, für die es zahlreiche Bezeichnungen gibt, zu denen auch die Wilde Jagd, Frau Holle oder Frau Percht zählen. In jedem Fall hatte Stoeckhlin damit den Boden christlichen Dogmas verlassen und er wurde nun ein Fall für die Inquisition. 1586, acht Jahre nach dem Pakt mit Jakob Walch und Stoeckhlins Erweckungserlebnis, wurde ihm der Prozess gemacht. Ohne die geringste Kenntnis von der Glaubenswelt der einfachen Menschen und ohne jedes Gespür für die Aufrichtigkeit des Delinquenten, der sich selbst nach wie vor als besonders frommer Christ sah, wurde er dem präzise geregelten Ablauf des Inquisitionsverfahrens unterworfen. Getragen von der Überzeugung, nichts Unrechtes getan zu haben, widerstand Stoeckhlin lange Zeit auch schwersten Folterungen, ehe er im Dezember 1586 schließlich zusammenbrach und alles gestand, was man verlangte. Zusammen mit einer der Hexerei „überführten“ Frau, wurde Chon25 26
Ebd., S. 25. Ebd., S. 28.
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rad Stoeckhlin am 23. Januar 1587 in Oberstdorf verbrannt. Er war zu diesem Zeitpunkt 37 oder 38 Jahre alt.
IV.2 Die christlichen Wurzeln des Dämonenglaubens Obwohl das Christentum eine monotheistische Religion zu sein vorgibt und den Glauben fremde Götter, Dämonen und Geister manchmal vorsichtig, dann wieder gnadenlos, bekämpfte, besaß es seine eignen Dämonen. Der Grund dafür ist im Wesen des Monotheismus selbst zu suchen. Es ist dem menschlichen Denken kaum möglich, an einen umfassend gütigen Schöpfer zu glauben und gleichzeitig keinen anderen Verursacher des evidenten Übels in eben der Schöpfung zu akzeptieren. Wie immer, wenn Katastrophen oder Verbrechen unvorstellbarer Dimension geschehen, taucht die Frage auf, wie Gott dieses zulassen bzw. selbst bewirken konnte. Der allgemeine Hinweis, dass Gottes Wege für den Menschen leider nicht immer verständlich seien, reicht da nicht. Daher etablierte die offizielle Kirchenlehre eine ziemlich merkwürdige Erklärung: Im Alten Testament, in der Genesis, findet sich die Erzählung der „Gefallenen Engel“, die den Reizen der Töchter des Menschengeschlechts erlagen: Und es geschah, als die Menschen begannen sich zu mehren auf Erden und ihnen Töchter geboren wurden, da sahen die Söhne Gottes die Töchter der Menschen, dass sie schön waren, und nahmen sich Weiber von allen, die ihnen gefielen. – Zur selbigen Zeit waren Riesen auf der Erde; und auch nachdem die Söhne Gottes den Töchtern der Menschen beigewohnt, so gebaren sie ihnen (Söhne); das sind die Helden, die von alters her Männer von Ruhm gewesen.27
Die „Söhne Gottes“ waren nach allgemeiner Ansicht Engel, denen die Achtung und Aufmerksamkeit, die Gott den Menschen zollte, missfiel und die durch ihre fleischliche Vereinigung mit den Menschen von Gott verstoßene, „Gefallene Engel“ wurden. Damit war das Problem eigentlich nicht gelöst, denn wenn man diese Geschichte akzeptiert, muss man zugeben, dass Gott bei seiner Schöpfung imperfekte Engel erschuf. Deren Anführer war Luzifer („Lichtträger“), der – ein Rebell gegen Gott – zum Satan oder Teufel wurde. Die von den gefallenen Engeln mit den Menschen gezeugten Nachkommen waren Wesen mit übermenschlichen Fähigkeiten, die man als Dämonen ansah. Der Teufel, die gefallenen Engel und die Dämonen waren lange Zeit die Herren der Erde. Das frühe Christentum sah in der Heilsgeschichte Jesu die Befreiung von dieser Herrschaft gekommen: Der gläubige Christ war gegen die Einflüsse der bösen Mächte immun. 27
Soldan – Heppe, Bd. I, S. 71.
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Abb. IV.6: Der Sturz Luzifers in die Hölle. Illustration von Gustave Doré, 1865. Die Kirchenlehrer der ersten drei Jahrhunderte des Christentums entwickelten eine eigene Dämonenlehre, die, kurz zusammengefasst, folgendes besagte: Die Dämonen bewohnen die Lufthülle, besitzen ungemein feinstoffliche Leiber und beziehen ihre Nahrung aus dem Rauch heidnischer bzw. ketzerischer Opferfeuer. Sie können ihre Gestalt beliebig verändern, sowohl in den Geist wie in den Körper der Menschen eindringen und sich unvorstellbar schnell bewegen. An Macht und Wissen sind die Dämonen den Menschen unendlich überlegen und können daher auch die Zukunft vorhersagen. Sie erscheinen somit als gottähnliche Wesen und wurden von den Kirchenvätern mit den Göttern der Heiden gleichgesetzt, von deren sexueller Vermischung mit den Frauen des Menschengeschlechts schon die antiken Mythen der Griechen und Römer erzählen. Wundertaten heidnischer Götter oder ihrer Priester waren zwar real, wurden aber im Gegensatz zu den Wundern Jesu und der Heiligen als Dämonenwerk und durch die Hilfe des Teufels ermöglicht betrachtet. Diese Dämonen wurden als den Menschen übelgesinnt und als Verursacher von Missernten, Seuchen, Dürren und sonstigem Ungemach betrachtet. Schon 168
damals tauchte die Vorstellung auf, dass die Dämonen ihr geheimes Wissen gottlosen Weibern offenbaren, da diese – und nicht die Männer – mit den gefallenen Engeln Umgang (gehabt) hatten. Hier liegt der Grund für die Misogynie der Kirche. Frauen galten den Christen allgemein als anfälliger für Versuchungen und standen von ihrer Natur her dem Natürlich-Triebhaften und damit der Sünde näher. Und überdies: War es nicht Eva, die auf Einflüsterung des Teufels Adam den Apfel vom Baum der Erkenntnis reichte? Der Kirchenlehrer Lucius Lactantius übersetzte im 4. Jahrhundert die oben zitierte Stelle der Genesis folgendermaßen: Als sich die Zahl der Menschen gemehrt hatte, schickte Gott, damit sie nicht dem Trug des Teufels (dem er von Anfang an über die Erde Gewalt gegeben hatte) erliegen möchten, zu ihrem Schutze Engel auf die Erde. Diese Engel aber erlagen im Verkehr mit den Töchtern der Menschen selbst, indem sie sich mit ihnen vermischten und Söhne erzeugten. Infolgedessen wurden die gefallenen Engel, aus dem Himmel verstoßen, zu Dämonen des Teufels. Die von ihnen erzeugte Brut war nun eine zweite Art von Dämonen, unsaubere Geister, vom Volke „malefici“ [Übeltäter] genannt, die ebenfalls dem Teufel angehörten. Das ganze Streben dieser Dämonen und unsauberen Geister geht dahin, Gottes Reich zu zerstören und die Menschen zu schädigen. Zu diesem Zwecke haben sie durch scheinbare Wunder und Orakel den Völkern den Wahn beigebracht, dass sie Götter wären, und haben das Heidentum mit seiner Mythologie und seinem Kultus geschaffen. Auch sind sie die Urheber der Magie, Nekromantik, Haruspicin [die Methode der Prophezeiung aus Tiereingeweiden durch den Haruspex, den Seher], der Auguralkunst und Astrologie. Außerdem richten sie in allerlei Weise Verderben an. Doch braucht der Christ ihre Tücke nicht zu fürchten, indem vielmehr der Teufel und dessen Dämonen vor dem Christen fortwährend in Furcht sein müssen. Denn der Christ kann sie nicht allein überall austreiben, sondern er kann sie auch zwingen, ihre Namen zu nennen und zu gestehen, dass sie (als Jupiter, Juno, Merkur etc.) gar keine Götter sind, obschon sie in Tempeln verehrt werden.28
Nach dieser Version hätte es den Teufel von Anfang an gegeben, was eine gewisse Distanz zum Monotheismus nahelegt. Von besonderem Einfluss auf die Entwicklung des spätantiken christlichen Dämonenglaubens war der Bischof von Hippo, Aurelius Augustinus (354–430), zusammen mit Thomas von Aquin einer der größten Kirchenlehrer überhaupt. Er postulierte neben dem Reich Gottes („Civitas Dei“) ein Reich des Bösen („Civitas Diaboli“), das dem Teufel und den Dämonen zugehöre. Er erklärte die diversen Wundertaten heidnischer Priester, etwa das ewige Licht im Tempel der Venus zu Rom, mit der Hilfe der Dämonen. Diese würden den Magiern helfen, andere Leute zu verblenden oder Schaden zu bewirken. Augustinus 28
Soldan – Heppe, Bd. I, S. 75 f.
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glaubte an die Magie und warnte ausdrücklich vor ihrer Ausübung. Er habe, sagt er, in Italien Gastwirtinnen kennengelernt, die ihre Gäste mittels eines Zauberkäses in Tiere verwandeln könnten, die zur Feldarbeit verwendet würden. Augustinus bestätigt auch die übrigen schon genannten Eigenschaften der Dämonen, nämlich ihren ätherischen Körper, ihre Schnelligkeit und ihre ungeheure Geistesschärfe. Mit der Ausbreitung des Christentums vermischte sich der christliche Dämonen- und Zauberglaube mit den geschilderten vorchristlichen Glaubensinhalten. Bischof Agobard von Lyon (779–840) schildert in einer um 820 entstandenen Schrift gegen den Aberglauben eine in seinem Bistum verbreitete Vorstellung, wonach eine Gruppe von Wetterzauberern, die „Tempestarii“ (Sturmerreger) ehrlichen Bauern die Getreideernte stahlen und in Luftschiffen in das Fabelland „Magonia“ schafften.29 Agobard wendet sich gegen diesen Volksglauben und beklagt die Verblendung des Pöbels, der vier Unglückliche steinigen wollte, die angeblich aus den magonischen Wolkenschiffen gefallen waren. Neben dem Glauben an die Verwandlung von Menschen in Tiere (insbesondere Wölfe, „Lykantropie“) taucht nun auch die Vorstellung von der „Nachtfahrt“ auf. Die frühchristlichen Theologen konnten hier auf heidnisches Gedankengut aus dem eigenen mediterranen Kulturkreis zurückgreifen: Die griechische Göttin Hekate zog mit ihren Gefährtinnen nächtens über den Himmel und wurde zur Dämonin, in deren Bild auch alte germanische Gottheiten (Holda, Frau Holle, Perchta) oder die römische Diana bzw. Herodias einflossen. Die lateinische Bezeichnung „Striga“ für die Hexe leitet sich ab von „Strix“, dem lateinischen Wort für „Nachteule“, und deutet bereits auf das Motiv der nachts umherfliegenden Zauberin. Diese Strigen überkamen angeblich die Menschen unbemerkt im Schlaf, raubten ihnen Blut und Mark, Herz, Leber und Nerven und füllten die Leerräume mit Stroh; sie erscheinen in gleicher Form und mit gleichem Namen in den frühen Gesetzessammlungen der bekehrten Germanenstämme. Auf einer Synode in Rom im Jahr 367 ist schon von Weibern die Rede, die auf Tieren reitend weite Reisen unternehmen. Der Glaube an magische Praktiken wurde durchaus auch von hochrangigen Klerikern geteilt. Der Erzbischof Hinkmar von Reims erörterte anno 860 die Frage, ob es sein könne, dass „Frauen durch Malefizien unüberwindlichen Hass und geschlechtliches Unvermögen zwischen Eheleuten und unsägliche Liebe zwischen Männern und Weibern hervorrufen könnten“. Hinkmar kam zu dem Ergebnis, dass solcherlei Dinge sehr wohl möglich seien und zwar durch eine Verbindung einer Hexe mit dem Teufel. Überhaupt betrachtete man im Frühen Mittelalter nicht nur Impotenz und Unfruchtbarkeit, sondern Krankheiten generell eher als Ergebnis dämonischer Einflüsse denn als Störung von Körperfunktionen. Schon bei Plinius konnte man zahlreiche magische Heilverfahren nachlesen, die man nun insofern abänderte, als dass man eine „christliche Magie“ praktizierte, bei der sich Priester und Mönche durch 29
Soldan – Heppe, Bd. I, S. 85.
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Gebete, Handauflegen, Segensprüche, Besprengen mit Weihwasser oder Bestreichen mit geweihtem Öl (Chrisam) als Ärzte betätigten. Auch Reliquien, Rosenkränze oder das Symbol des Opferlamms (Agnus Dei) galten als bewährte Mittel. In späteren Zeiten kamen auf kleine Papierstreifen geschriebene Segensprüche in Gebrauch, die entweder verschluckt oder als Amulette getragen wurden. Dies konnte soweit gehen, dass der Einsatz natürlicher Heilmittel als gotteslästerlich angesehen wurde. Der Münchner Obermedizinalrat Johann Nepomuk v. Ringseis (1785–1880) behauptete noch in seinem 1841 erschienenen „System der Medizin“ rundweg, eine Vereinigung von Sakrament und Medikament sei die Grundlage der Heilkunst, denn Krankheit habe auch mit Sünde zu tun.30
IV.3 Die Verfolgung der Hexen Der Glaube an die Existenz zauberkräftiger Menschen ist alt und reicht in prähistorischen Zeiten zurück und zwar kulturübergreifend. Am Ende des Mittelalters ereignete sich indes ein fundamentaler Wandel dieses Glaubens, indem nun die kirchliche wie die weltliche Obrigkeit von einer massiven Bedrohung durch diese bislang eher marginal beachteten und teilweise durchaus akzeptierten beziehungsweise erwünschten magischen Praktiken ausgingen und ein ausgeklügeltes System zur Verfolgung und Beseitigung der Hexen und Hexer entwickelte, das an Perfidität durchaus mit totalitären Systemen der Gegenwart konkurrieren könnte.
Die Inquisition Der im Volk verbreitete Zauberglaube hatte während des Mittelalters gewöhnlich keine bedrohlichen Konsequenzen. Nur sehr vereinzelt kam es zu Übergriffen, so zu Köln im Jahr 1075, wo eine Frau von der Stadtmauer gestürzt wurde, weil sie durch Zauberkünste den Verstand der Menschen verwirrt haben sollte. Bei Weihenstephan in Bayern wurden 1090 drei angebliche Zauberweiber am Isarufer gelyncht. Auch in Flandern, Gent oder Beauvais kam es zu einzelnen Fällen von Lynchjustiz oder Todesurteilen wegen Zauberei. Der wirkliche Umschwung erfolgte mit Thomas von Aquin (um 1226–74), den Papst Johannes XXII. im Jahr 1323 heiligsprach und den Pius V. 1567 zum „Doctor ecclesiae“ proklamierte.
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Diethard Sawicki: Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770–1900, Paderborn 2002, S. 156.
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Abb. IV.7: Thomas von Aquin. Gemälde von Carlo Crivelli, 1476. Sein Wort konnte demnach höchstens ausgelegt werden, ihm jedoch zu widersprechen kam der Ketzerei gleich. Thomas verkündete, dass die bisherige Lehre falsch sei und die Annahme, der Dämonenglaube sei eine Illusion, selbst eine Täuschung. Zweifellos gebe es ein unter der Herrschaft des Teufels stehendes Dämonenreich (was auch schon Augustinus behauptet hatte) und die Dämonen besäßen dank göttlicher Zulassung die Fähigkeit, allen möglichen Schaden zu stiften. Neu hinzu kam die Theorie bzw. Lehre, wonach der Teufel oder seine Gefolgschaft als Incuben oder Succuben (Männer oder Frauen) mit den Menschen Geschlechtsverkehr treiben könnten und dabei Kinder erzeugt würden, die im wahrsten Sinn des Wortes „des Teufels“ wären. Zusammen mit dem ohnehin schon existierenden Volksglauben an Nachtfahrende Frauen, 172
Strigen, Hexen, Wetter- und Schadenzauber ergab sich eine höchst gefährliche Mischung, denn dieser Volksglaube wurde nun gewissermaßen theologisch legitimiert. Damit wurde die Bedrohung in den Augen der Amtskirche real. Lange vor der Verfolgung der Hexen bekämpfte die Kirche die „Ketzer“, also alle, die sich den von den Kirchführern verordneten Dogmen widersetzten und lieber etwas Anderes glaubten. Bei den Ketzern handelte es sich nicht um Heiden, sondern um Christen, die in bestimmten theologischen Fragen anderer Meinung waren. Die wichtigste Gruppe bildeten die Katharer („die Reinen“), die am Beginn des 11. Jahrhunderts als christliche Erneuerungsbewegung entstanden. Die wollten die alte Kirche zu ersetzen und ein neues Reich Gottes aufbauen, ohne den Prunk und die weltliche Macht der Päpste und Bischöfe. Eine solche Absicht, wie fromm auch immer, war für die Amtskirche höchst gefährlich, bedrohte sie doch die Macht der Kirche grundsätzlich. Unser Wort „Ketzer“ leitet sich von den Katharern ab. Sie konnten sich vor allem in Südfrankreich und der Westschweiz etablieren, drangen aber auch in den deutschen Sprachraum vor. Da nicht nur das einfache Volk, sondern auch Adlige und selbst Bischöfe sich der neuen Bewegung anschlossen, sah sich die Kirche in ihrem Bestand bedroht. 1198 bestieg Innozenz III. den Stuhl Petri, fest entschlossen, dem Spuk ein Ende zu bereiten. Er ließ einen Kreuzzug gegen die Ketzer predigen und von 1209–29 fanden grausame Religionskonflikte statt. Die Katharer und die in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts auftretenden Waldenser (die in Resten bis heute existieren) wurden gnadenlos verfolgt und kamen zu Tausenden auf dem Scheiterhaufen ums Leben. Zur ihrer Bekämpfung wurde 1183 eine Einrichtung geschaffen, die bis heute einen unheimlichen Klang hat, das Heilige Officium, besser bekannt als Inquisition. Die Inquisitoren (wörtlich „Ermittler“) konnten jeden Verdächtigen festnehmen und anklagen. Zunächst sollte die Inquisition durch die jeweiligen Bischöfe vor Ort ausgeübt werden, denen allerdings päpstliche Legaten als „Berater“ zur Seite gestellt wurden. 1232 übertrug Papst Gregor IX. (reg. 1227–41) die Inquisition dem Orden der Dominikaner, der in dieser Funktion dem Kirchenoberhaupt direkt unterstellt war. Im Heiligen Römischen Reich tat sich seit 1224 der Großinquisitor Konrad von Marburg hervor. Er machte sich der Bevölkerung, darunter auch vielen Vornehmen, derart verhasst, dass er am 30. Juli 1233 auf der Heide bei Marburg erschlagen wurde. Nach seinem Tod berichtete der Mainzer Erzbischof an Papst Gregor IX. über Konrads Schreckensregiment: Wer ihm in die Hände fiel, dem blieb nur die Wahl, entweder freiwillig zu bekennen und dadurch sich das Leben zu retten oder seine Unschuld zu beschwören und unmittelbar darauf verbrannt zu werden. Jedem falschen Zeugen wurde geglaubt, rechtliche Verteidigung war niemandem gestattet, auch dem Vornehmsten nicht; der Angeklagte musste gestehen, dass er ein Ketzer sei, eine Kröte berührt, einen blassen Mann oder sonst ein Ungeheuer geküsst habe. Darum ließen sich viele Katholische lieber um ihres Leugnens willen unschuldig ver-
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brennen, als dass sie so schändliche Verbrechen, deren sie sich nicht bewusst waren, auf sich genommen hätten. Die Schwächeren logen, um mit dem Leben davonzukommen, auf sich selbst und jeden beliebigen andern, besonders Vornehme, deren Namen ihnen Konrad als verdächtig suggerierte. So gab der Bruder den Bruder, die Frau den Mann, der Knecht den Herrn an; viele gaben den Geistlichen Geld, um Mittel zu erfahren, wie man sich entziehen könne, und es entstand auf diese Weise eine unerhörte Verwirrung.31
Teufelspakt und Hexensekte Die Ketzersekten dienten in den Augen der Kirche dem Teufel und verbanden sich mit ihm in ähnlicher Weise wie die Christen mit Gott, durch eine förmliche Erklärung bzw. eine entsprechende Handlung. Solche Teufelspakte sind auch aus frühchristlicher Zeit überliefert, allerdings als Handlungen Einzelner, nicht einer organisierten Sekte. Den Wandel der Kirche im 13. Jahrhundert macht auch der päpstliche Geschichtsschreibers Martin von Troppau († 1278) deutlich. In seinem vielbeachteten „Chronicon pontificum et imperatorum“ (Chronik der Päpste und Kaiser) behauptet er, Papst Silvester II. (Gerbert von Aurillac) habe sich mit dem Teufel verbündet, um auf den Stuhl Petri zu gelangen. Wir erinnern uns, dass Gerbert u. a. mit arabischen Ziffern rechnen konnte. Was in den Beschreibungen noch fehlte, war die sexuelle Vermischung mit dem Teufel, die Thomas von Aquin, wie schon erwähnt, für möglich erklärte. Diese tritt bei dem Prediger Cäsarius von Heisterbach (um 1180–1240) deutlicher in Erscheinung. In seinem „Dialogus miraculorum“, 1219–23 entstanden, geht er ausführlich auf den Teufelsglauben seiner Zeit ein und widmet der Unzucht des Teufels mit den Menschen breiten Raum. Nach Cäsarius ist der Teufel z. B. heimtückisch genug, mit einer Frau zu schlafen, ohne dass der danebenliegende Ehemann etwas mitbekommt. Der endgültige Übergang von der Ketzer- zur Teufels- bzw. Hexensekte erfolgte in der Mitte des 15. Jahrhunderts. Der Dominikaner Nikolaus Jacquier († 1472) fasste in seinem 1458 geschriebenen „Flagellum haereticorum fascinariorum“ (Geißel der ketzerischen Banden) die Ketzereien seiner Zeit zusammen und berichtet von einer neu entstandenen Sekte, die an Verruchtheit alle bisherigen überbiete. Die Mitglieder dieser Sekte handelten nicht aus Irrtum, sondern aus bösem Willen; sie versammelten sich zur Anbetung des Teufels und empfingen dabei verschiedene Zaubermittel, um damit den Menschen Schaden zuzufügen. Das außerordentliche Verbrechen (Crimen exceptum) bestand aus folgenden Einzeltatbeständen: Bund mit dem Teufel und gleichzeitiger Abfall von Gott; Teilnahme am „Hexensabbat“ einschließlich des Flugs zum Versammlungsort mittels einer Zaubersalbe; Verübung diverser Arten von Schadenzauber; sexuelle Vereinigung mit dem Teufel. 31
Soldan – Heppe, Bd. I, S. 140.
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Da in der Frühen Neuzeit ein Indizienbeweis keine Gültigkeit hatte und nur das Geständnis des oder der Angeklagten eine Verurteilung ermöglichte, war es grundsätzlich legal, Delinquenten zu foltern. Dabei galten allerdings bestimmte Vorschriften, sowohl was die Foltermethoden betraf, wie auch deren Dauer. Zudem durfte niemand öfter als dreimal der Folter unterworfen werden, gestand er oder sie dann immer noch nicht, galt das als Unschuldsbeweis. Bei den Hexenprozessen wurden diese Regeln außer Kraft gesetzt. Der Begriff „Crimen exceptum“ hatte also eine doppelte Bedeutung: Einmal bezog er sich auf die Art des Verbrechens, das ob seiner Abscheulichkeit alle anderen Delikte übertraf. Zudem bezog er sich auf die Außerkraftsetzung sonst geltender Normen des Strafprozesses. Da die Angeklagten natürlich nicht bereit waren, Dinge zu gestehen, die sie nie getan hatten und für die es keine „normalen“ Zeugen gab, musste ein Geständnis stets durch Folter erpresst werden. Hier setzte man die ansonsten in der „Peinlichen Halsgerichtsordnung“ (Constitutio Criminalis Carolina) von Kaiser Karl V. aus dem Jahr 1532 festgelegten Bestimmungen insofern außer Kraft, als man praktisch jede beliebige Foltermethode für legal erklärte und überdies die Zahl der Folterungen nicht beschränkte. Es ist klar, dass dadurch in jedem Fall ein Geständnis auch der absurdesten Vorwürfe zu erreichen war. Die einzige Sorge der Inquisitoren und der Folterer bestand darin, dass ihr Opfer vor einem Geständnis sterben könnte, denn dann war dessen Schuld nicht erwiesen, was ein Versagen der Justiz bedeutete. Manche Angeklagte gestanden schon bei der Vorstufe der Folter, dem „Zeigen der Folterinstrumente“ und der Schilderung ihrer Anwendung. Sie wussten, dass sie die Folter so oder so zu einem Geständnis bringen würde, was dann zu einem Todesurteil führen würde. Ein frühzeitiges Geständnis führte in der Regel dazu, dass die Hexe nicht lebendig verbrannt, sondern vorher erwürgt wurde. Die Hinrichtung einer Hexe war nicht einfach nur eine Strafe für ein Verbrechen; gemäß der im Mittelalter und der Frühen Neuzeit herrschenden Meinung wurde mit der Hinrichtung eines Verbrechers auch die Gemeinschaft entsühnt – der Hingerichtete, nahm symbolisch auch die nicht offiziell gesühnten Sünden der Gemeinschaft auf sich. Hier kommt das Motiv des „Sündenbocks“ zum Vorschein, das im Judentum an Jom Kippur eine wichtige Rolle spielte: Ein Ziegenbock wurde symbolisch mit den Sünden der Gemeinschaft beladen und dann in die Wüste gejagt. Sein Tod sollte Gotte mit den Menschen versöhnen. Diese metaphysisch-spirituelle Überhöhung des Hinrichtungsaktes wurde allerdings rasch ad absurdum geführt, als im Laufe der Zeit ganze Scharen von Hexen ins Feuer gehen mussten.
Ursachenforschung Die systematische Hexenverfolgung setzte in Deutschland mit den beiden Dominikanern Jakob Sprenger und Heinrich Institoris (latinisiert für Krämer) ein. Mit der Autorität der päpstlichen Bulle „Summis desiderantes affectibus“ des Papstes Innozenz VIII. von 1484 versehen, machten sie sich an die Verfolgung der Hexen, zunächst allerdings ohne großen Erfolg. Daraufhin schrieb 175
Institoris (Sprenger lieh nur seinen Namen) den berüchtigten „Hexenhammer“ (Malleus maleficarum, 1487), der zum Handbuch der Hexenverfolger wurde, wenn auch die theologisch-juristische Verfahrensordnung der Hexenprozesse erst durch Martin Delrio (1551–1608) und Jean Bodin (1529/30–1596) erfolgte. Der Hexenhammer erschien bis 1669 in insgesamt 29 Auflagen, eine deutsche Übersetzung erfolgte erst 1906. Nach derzeitigem Forschungsstand geht man im Gebiet des Heiligen Römischen Reiches deutsche Nation von etwa 25000 Opfern aus. Die teilweise weitaus höheren früheren Schätzungen wurden nach unten korrigiert.32Zweifellos ist die Konstruktion des „Crimen exceptum“ ein Produkt gelehrter Theologen und auch Juristen, die die praktische Seite der Verfolgungen, den Hexenprozess, ausgestalten und legitimieren mussten. Wie konnte dieses an sich phantastisch-bizarre Gedankenkonstrukt rund 200 Jahre virulent bleiben und Tausende von Opfern fordern? Unter Fachhistorikern herrscht heute die prominent von Wolfgang Behringer vertretene Theorie vor, wonach die durch die „Kleine Eiszeit“ eine maßgebliche Rolle spielte. Dies vom Beginn des 15. bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts anhaltende Klimaverschlechterung führte zu Seuchen, Hungersnöten und – zusammen mit den politisch-ökonomischen Umwälzungen der Renaissance – zu massiven Störungen der überlieferten Gesellschaftsstruktur. Diese vielfältigen Faktoren und nicht zuletzt die Spaltung der Kirche im Zuge der Reformation erschütterten den Glauben des Volkes an die Macht Gottes und die spirituelle Geborgenheit einer wohlgeordneten Schöpfung. Stattdessen wurde der Glaube an die zunehmende Macht des Teufels in der irdischen Welt bestärkt. Die Theologen boten mit der Hexensekte ein scheinbar plausibles Erklärungsmodell, für die die gesammelten Nöte und Leiden der sich feindlich zeigenden Welt. In seinem Buch „Hexen und Hexenprozesse“ (2001) das zahlreiche Dokumente zum Thema vorstellt und erläutert, konstatiert Wolfgang Behringer „eine zunehmende Verhärtung der Beziehungen der Menschen untereinander“. Weiter heißt es: Nur summarisch kann hier hingewiesen werden auf die Abschließung der Zünfte, so wie die der Adelsgesellschaft, die Aufstellung ideologisch verbindlicher Normen durch die Konfessionen, die Entmachtung oppositioneller Gruppen, die Gesetzgebungsmanie, den Trend zur absolutistischen Herrschaftsausübung, die Militarisierung und die beispiellose Brutalisierung der Strafjustiz, die keineswegs nur die magischen Delikte betraf, sondern viel mehr noch Gewalt‑, Eigentums‑ und Sittlichkeitsdelikte, welche über 90 Prozent der Hinrichtungen ausmachten. Nie vor‑ oder nachher wurden so viele Menschen so grausam hingerichtet wie zwischen 1560 und 1630.
32
Die Angabe wurde dem Wikipedia-Artikel „Hexenverfolgung“ entnommen und gibt die aktuelle Einschätzung wieder.
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Die Verhärtungen in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft korrespondieren in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit einem radikalen Mentalitätswandel, der sich offenbar weitgehend unabhängig von der konfessionellen Zugehörigkeit vollzog. Grob gesprochen handelte es sich dabei um eine Abkehr von einer mehr weltoffenen, lebenszugewandten, genussfreudigen und diesseitsorientierten ‚Renaissance‑Mentalität‘ mit weitverbreiteter volkstümlicher Festfreudigkeit und um eine Hinwendung zu dogmatischen, konfessionell‑religiösen, asketischen und jenseitsorientierten Denk‑ und Verhaltensweisen, die in einer als prekär empfundenen Situation Halt zu geben versprachen.33
Verfolgungswellen gab es zu Beginn der 1560er Jahre, nach einer großen Hungersnot 1570 und erneut nach 1580. Diese letzte Welle dauert mit kurzen Unterbrechungen ca. 50 Jahre und ebbte erst um 1630 ab, wahrscheinlich aufgrund der allgemeinen Folgen des 30-jährigen Krieges. Die schlimmste Zeit des Hexenwahns war demnach des späte 16. und frühe 17. Jahrhundert. Die letzte „Hexe“ in Europa, Anna Göldin, wird jedoch erst 1782 in Glarus hingerichtet, nachdem sie angeblich die Kinder des „Fünferrichters“ Tschudi verzaubert hatte. Es lässt sich zeigen, dass lokal begrenzte wie überörtliche Verfolgungswellen mit Naturkatastrophen einhergingen, die Missernten zur Folge hatten. Damit stieg der Preis des Grundnahrungsmittels Getreide, was Hungernöte und Seuchen bewirkte. Die Abhängigkeit der Bevölkerung vom Wetter macht man sich heute nur noch schwer klar, sie kann aber gar nicht überschätzt werden. Für viele Menschen war es buchstäblich eine Frage des Überlebens, ob das Wetter gut und die Ernten reichlich waren. Daher auch die verbreitete Angst vor Wetterzauber.
Moderne Hexenjagden Das Ende der Hexenverfolgungen bedeutete natürlich nicht das Ende des Glaubens an Hexerei, und zwar keineswegs nur bei den Ungebildeten. Der pommersche Pfarrer Ernst Mühe bedauerte in seinem Buch „Der Aberglaube. Eine biblische Beleuchtung der finsteren Gebiete der Sympathie, Zauberei, Geisterbeschwörung etc.“ (21886) das Verbot von Hexenprozessen: „Da leider [!] die neue Gesetzgebung den Obrigkeiten keine genügende Handhabe bietet, um diesem Frevel [der Hexerei] wirksam zu steuern“ bleibe nur Predigt und Belehrung.34In der Bevölkerung Europas und anderer Kontinente waren zahlreiche magische Vorstellungen fest verwurzelt, nicht zuletzt der Glaube an Hexen. 1879 ereignete sich in einem Dorf im russischen Teil des Kaukasus ein Fall von Lynchjustiz an einer vermeintlichen Hexe: 33 34
Behringer, S. 130. Soldan – Heppe, Bd. II, S. 340.
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In dem Dorfe Wratschewska lebte die Frau Katharina Ignatjew, die ihres hohen Alters und ihrer Kränklichkeit wegen als Hexe betrachtet wurde. Diese Frau benutzte den Schrecken, den sie verbreitete, um auf fremde Kosten zu leben, und dies sollte ihr schließlich übel bekommen. Es ereignete sich, dass zufällig mehrere Frauen nacheinander Nervenkrämpfe erlitten. Sofort wurde allgemein der alten Hexe die Schuld an diesen Erkrankungen gegeben. Die Ältesten des Dorfes zogen mit einer großen Schar der Bewohner vor die Hütte der Hexe. Man vernagelte hier alle Türen und Fenster mit Brettern, legte Holz und Stroh um die ganze Behausung und zündete das Dach an. An dem erhabenen Schauspiel beteiligten sich siebzehn der Ältesten als Gerichtsvollstrecker und Henker, während mehr als dreihundert Menschen als Zuschauer assistierten. Unter ihnen befand sich auch der Pope des Ortes. Alle meinten, dass sie ein wahres Gotteswerk ausgeübt; und als sie vor Gericht gestellt wurden, erfolgte die vollständige Freisprechung der meisten. Bloß drei wurden, sozusagen aus formalen Gründen, zu einer gelinden Kirchenbuße verurteilt.35
In Irland tötete ein Ehemann seine eigene Frau auf grausamste Weise: In Ballyvadlea bei Clonmel in Irland wurde am 15. März 1895 eine 26-jährige hübsche und unbescholtene Frau als Hexe verbrannt. Der Mann dieses armen Weibes, Michael Cleary, ein Fassbinder, war von der Überzeugung durchdrungen, dass ihm Hexen seine Frau entführt und an deren Stelle einen Dämon zurückgelassen hatten, der nur die Gestalt seines Weibes aufwies. Der eigene Vater des Opfers und mit diesem die ganze Sippe teilten die Meinung Cleary’s, und ein ‚Geisterdoktor‘ bestärkte sie darin. Um den Dämon aus dem Leibe der Frau zum Entweichen zu bringen, versuchte man erst allerlei Torturen und verbrannte schließlich den mit Petroleum begossenen Körper auf dem Rost über flackerndem Herdfeuer. Der Haupttäter Cleary und seine Helfer wurden zu ihrer großen Verwunderung von den Geschworenen zu langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt.36
Interessant ist auch die Beschreibung einer „Hexenküche“, die im Jahr 1877 im ungarischen Debrecin entdeckt wurde:
35
36
Soldan – Heppe, Bd. II, S. 356. Zit. nach Bernhard Stern: Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit in Rußland. Berlin 1907. Soldan – Heppe, Bd. II, S. 358.
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Vor einigen Jahren entdeckte in Debreczin die Polizei eine Hexenküche. Richtiger gesagt: eine Höllenküche; denn wahrlich, das, was dort gebraut wurde, das kochte bei teuflischem Feuer. Dort fand man Menschenschädel, auf denen noch die Haare waren; das alte Weib (die Besitzerin der Küche) kaufte vom Totengräber die Leichen und verbrannte deren Gebeine zu Medizinen. Da waren gedörrte Schlangen, Frösche und anderes ekelhaftes Getier; Totennägel, Stricke von Er hängten und deren Haare, und Gott weiß noch was alles, woraus Speisen, Getränke und Salben bereitet wurden.37
Im Tiroler Stubaital (bei Innsbruck) hatte man um die vorletzte Jahrhundertwende noch stark unter den Hexen zu leiden. Doch man wusste sich zu helfen: Was die Hexen anbetrifft, so gibt es solche in Stubai noch in großer Menge. jeden „Pfinstig“ (Donnerstag) versammeln sie sich zum Hexensabbat am Sailjoche. Sie machen die bösen Wetter, und wenn die große Glocke in Telfes nicht wäre, dann würden die Fruchtfelder schon längst in Murbrüche verwandelt sein. Besonders kräftig gegen das Verhexen der Früchte ist es, wenn man im Fruchtjahr geweihte Kohlen in die Erde legt. […] Die Glocke von Telfes aber hat eine solche Kraft gegen die verhexten Wetter, dass schon beim ersten Ton die Wolken nördlich gegen [das Dorf] Kreith ziehen. Aus diesem Grunde trugen die Kreither den Telfesern 2000 fl. unter der Bedingung an, dass sie die Glocke nimmer läuten. Die Telfeser aber natürlich, als die „Gescheitern“, gingen diesen Vertrag nicht ein.38
In San Juan de Jacobo (Mexico) wurde 1874 eine Frau und ihr Sohn von einem ordentlichen Gericht wegen Hexerei zum Tod durch das Feuer verurteilt. Im Bericht des Richters heißt es: „Der Fall war ein sehr trauriger, aber er war notwendig um den Bosheiten Einhalt zu tun, die zu verschiedenen Zeiten hier vorkamen.“ Leider werden auch heute noch Frauen und Mädchen als Hexen gebrandmarkt, verfolgt, ausgegrenzt und sogar getötet. Die Motivation ist die gleiche wie bei den europäischen Hexenverfolgungen, nämlich die Suche nach Sündenböcken für einzeln oder gemeinschaftlich erlittenes Ungemach. Es ist allemal leichter, Fremdverschulden anzunehmen, als den Fehler bei sich selbst oder bei einer Gottheit zu suchen, die man durch sündiges Betragen verärgert hat. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich um Probleme einer Person handelt, wie Impotenz, Sterilität, Krankheit, oder um die Krise einer Gemeinschaft, etwa Dürre und Missernte.
37 38
Soldan – Heppe. Bd. II, S. 359. Soldan-Heppe, Bd. II, S. 368,69, zitiert nach Paul R. Greußing: Im Stubaital, München o. J.
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IV.4 Hexensabbat und Schadenzauber
Abb. IV.8: Hexensabbat auf dem Brocken (Blocksberg) Kupferstich von Michael Herr, 1650. Auf den Versammlungen, für die sich der Ausdruck „Hexensabbat“ einbürgerte, erfolgte die „formelle“ Verbindung einer Hexe oder eines Hexers mit dem Teufel, die oft die Form einer Hochzeit annahm, die eine Karikatur der christlichen Eheschließung darstellte. War man erst einmal Mitglied der Hexensekte, traf man sich zu bestimmten Zeiten (gerne an hohen kirchlichen Feiertagen, zur Johannisnacht (Sommersonnwende), zur Walpurgisnacht oder in den „Rauhnächten“ zwischen Weihnachten und Hl. Drei König zum gemeinsamen Tanz und Gelage. Dabei ging es recht fröhlich zu, es wurde geschmaust und getanzt und schamlos und ohne Beachtung üblicher Regeln verkehrten die Teilnehmer(innen) untereinander und mit dem Teufel sexuell. Der Hexensabbat enthielt teilweise auch liturgische Elemente, die jene der Messe umkehrten, wird aber von den angeblichen Zeugen nur sehr selten als Schwarze Messe geschildert. Meist war es eine orgiastische Lustbarkeit, während der die sozialen und moralischen Normen keine Geltung hatten. Es ist unverkennbar ein Unterschied zwischen den Sabbatdarstellungen in der gelehrten Literatur und den Schilderungen der angeblichen Hexen. Erstere betonen den häretischen Charakter der Zusammenkunft, die in erster Linie der Anbetung des Teufels und der Verleugnung Gottes dient, letztere den herrschenden Überfluss an Nahrungsmitteln und Wein und die ungezügelte Sexualität. Die Vermutung drängt sich auf, dass in diesen Schilderungen des Sabbats die armen Leute aus Stadt und Land ihre Wünsche und Träume projizierten, die Loslösung von Not und Elend und 180
der strenger werdenden Sexualmoral, die die Kirchen predigten. So gesehen hat der Sabbat auch Ähnlichkeit mit dem Märchen vom Schlaraffenland. Der Hexensabbat ähnelt archaischen Verteilungsfesten der Naturvölker, bei denen der Häuptling Fleisch und andere Nahrungsmittel nach bestimmten rituellen Regeln verteilt. Auch bei den Kelten und Germanen verteilte der Stammesfürst die Jagdbeute, die vorher den Göttern geweiht worden war. Bei den Gelagen der Hexen wurden alle Speisen ungesalzen genossen. Dies hängt einerseits mit der Rolle des Salzes als antidämonisch wirksames Mittel zusammen; man weiß aber auch, dass bei den Initiationsriten noch lebender Naturvölker sowie bei den sibirischen Schamanen auf Salz in den Speisen verzichtet wird.39 Der Sabbat fand nicht nur bevorzugt zu bestimmten Zeiten, sondern auch an bestimmten Orten statt. Diese waren meist abgelegen und befanden sich, sofern topographisch möglich, auf Bergen (in sehr flachen Landstrichen kamen auch Sümpfe oder andere einsame und unheimliche Orte in Betracht). Der berühmteste Hexentanzplatz in Deutschland war der Brocken oder Blocksberg im Harz. Die 1611 der Hexerei beschuldigte Katharina Bruch aus Lebach (Saarland) bekannte, dass des andern tags darnach ermelter ihr boelh [Buhlteufel], der boeß feindt, ihn der nacht zu ihr bei die kue [gemeint wohl: in den Kuhstall] kommen, und ihr einen schwartz bock bracht, und sie heraußer gerissen, sagent sie sollte kommen und mitt ime uff den bockes bergh [Blocksberg], uff dass dantz platz fahren, gestalt alda ihre hochzeitt zuhalten, und alß sie hinauß kommen, hette er sie in des teuffels nahmen thun, zur lincken seitt daruff sietzen und also hiernachh gefahren, uff selbigen bockes bergh und alda ire hochzeitt gehellten, hetten hammel fleisch zueßen gehabt und weißen wein gedruncken, aber kein brodt und saltz gehabt, daselbsten hette ein befelchhaber sie in des teuffels nahmen zusamen geben. Darnach hetten sie mitt einander hinderrucks gedantzet, nach dem dantz er sie uff seits gefurt, und seinen willen geschaft, sein gemecht wehr geweßen wie eiß. Folgendts wehren ihrer geselschaft ein ziembliche anzalh hinunder in den Nalbacher dalh, genendt in den orth, ahn der briems gefahren, daselbsten hette sie in des teuffels nhamen heßel roden von jarligs [einjährige Triebe vom Haselstrauch, einer Zauberpflanze, um die sich zahlreiche Mythen ranken] abgebrochen, und in selbigen nahmen, in die briems geschlagen, und einen nebel gemacht, gestalt den ecker, darumb damitt zuverderben, wehr aber nitt vor sich gangen, weill die Nalbacher klocken gelaudt, also dass der teuffel wieder sie gesagt, die hundt bieldten [bellten], deßwegen kondten sie nichts außrichten, daruff der boeß feindt sie wiederumb uff selbigen bock gesetzt, und zurueck in ihr hauß gefurt.40
39
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Claudia Müller-Ebeling u. a.: Hexenmedizin. Die Wiederentdeckung einer verbotenen Heilkunst – schamanische Traditionen in Europa, Aarau 1998, S. 57. Richard van Dülmen (Hg.): Hexenwelten, Magie und Imagination, Frankfurt/Main 1987, S. 108.
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Der französische Inquisitor Pierre le Broussard beschrieb seine Erkenntnisse folgendermaßen: Wenn sie [die Hexen oder Hexer] zur Vauderie [gemeint ist hier der Hexensabbat, der Name bezieht sich auf die Sekte der Waldenser] gehen wollten, rieben sie einen Holzstecken mit einer Salbe ein, die ihnen der Teufel gegeben hat, sowie die Handflächen und die ganzen Hände; danach nehmen sie den Stecken zwischen die Beine und fliegen über Dörfer, Wälder und Wasser hinweg, wobei sie der Teufel selber zu den Orten führt, wo sie ihre Versammlung abhalten wollen. Dort treffen sie einander; die Tische sind beladen mit Wein und Speisen, und sie treffen auch den Teufel in Form eines Ziegenbocks, eines Hundes oder eines Affen, aber niemals in menschlicher Gestalt. Sie opfern und huldigen dem Teufel und beten ihn an. Viele geben ihm ihre Seele oder wenigstens etwas von ihrem Körper. Danach küssen sie den Teufel in Gestalt eines Zickleins auf das Hinterteil, mit brennenden Kerzen in den Händen. Nach der Huldigung schritten sie über ein Kreuz und spuckten darauf, um Christus und die Heilige Dreifaltigkeit zu verspotten. Danach zeigten sie ihr Hinterteil dem Himmel und dem Firmament als Zeichen ihrer Verachtung gegenüber Gott, und nachdem sie genügend gegessen und getrunken hatten, buhlten sie miteinander; und der Teufel nahm die Gestalt eines Mannes oder einer Frau an, und die Männer buhlten mit ihm, wenn er in Gestalt einer Frau, und die Frauen, wenn er in Gestalt eines Mannes war. Sie begingen auch die Sünden der Sodomie und der Homosexualität und andere verabscheuungswürdige Verbrechen gegen Gott und die Natur.41
Der Hexensabbat war ein unverzichtbarer Teil des Verschwörungsbildes der Teufelssekte. Hier wurde nicht nur der Pakt mit dem Bösen geschlossen und gefeiert, hier wurde Gott verleugnet und der Schadenzauber geplant, zu dem der Teufel die Mittel an die Hand gab, hier entstand erst das umfassende „Terrornetzwerk“ der Hexen. Ohne den Sabbat wären die Hexen geblieben, was sie schon immer gewesen waren, einzelne Frauen, gegen die man sich mit geeigneten magischen Mitteln wehren konnte. Durch die Zusammenkünfte wurden sie zur organisierten Gemeinschaft und so zur allgemeinen Bedrohung. Aus der Sicht der Kirche(n) war das Hauptverbrechen der Hexensekte der Teufelspakt und die Verleugnung Gottes. Aus der Sicht der meisten Zeitgenossen ging die größte Gefahr vom Schadenzauber aus. Dieser umfasste, wie oben schon angedeutet, den gefürchteten Wetterzauber und die Behexung von Mensch und Vieh. Dazu zählten angehexte Krankheiten, das „Verziehen“ der Ernte oder Milch von Acker und Stall in die Vorratskammern der Hexen, durch den Bösen Blick 41
Claus Priesner, Phantastische Reisen. Über Hexenkräuter und Flugsalben. Teil I, in: Kultur & Technik 3, 1993, S. 22–27.
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verursachte Unglücksfälle oder Leiden, der Austausch von ungetauften Kleinkindern gegen sog „Kielkröpfe“, auch Wechselbälge genannt, d. h. mit dem Teufel gezeugte Kinder und der Missbrauch von (Kinder)Leichen für magische Zwecke. Die beiden „Spezialisten“ Sprenger und Institoris erläutern unter der Überschrift „Von der Art, das gotteslästerliche Hexenhandwerk zu betreiben“ die unterschiedlichen Arten des Schadenzaubers, aber auch traditionelle magische Künste: Es gehören aber dahin diejenigen [Hexen], die gegen die Neigung der menschlichen Natur, ja aller Tiere, die Kinder der eigenen Art verschlingen und zu verzehren pflegen. Und das ist die schlimmste Sorte, was Hexenwerk betrifft. Sie sind es nämlich, die sich auch mit unzähligen anderen Schädigungen befassen: sie nämlich schicken Hagelschlag, böse Stürme und Gewitter, verursachen Unfruchtbarkeit an Menschen und Tieren, bringen auch die Kinder, die sie nicht verschlingen, den Dämonen dar oder töten sie sonst. Doch dies trifft nur die Kinder, die nicht durch das Naß der Taufe wiedergeboren sind; wenn sie jedoch, wie sich zeigen wird, auch wiedergeborene verschlingen, dann geschieht das nur mit Zulassung Gottes. Sie verstehen auch Kinder, die am Wasser spazieren gehen, ohne dass es einer sieht, vor den Augen der Eltern in das Wasser zu werfen; die Rosse unter den Reitern scheu zu machen, von Ort zu Ort durch die Luft zu fliegen, körperlich oder nur in der Vorstellung, die Geister der Richter und Vorsitzenden zu bezaubern, dass diese ihnen nicht schaden können; sich und anderen auf der Folter Verschwiegenheit zu bewirken; die Hände derer, die sie fangen wollen, und ihre Herzen mit gewaltigem Zittern zu treffen; das anderen Verborgene zu offenbaren; auch die Zukunft vorherzusagen nach des Teufels Unterweisung, was jedoch auch eine natürliche Ursache haben kann; Abwesendes wie gegenwärtig zu sehen, den Sinn der Menschen zu ungewöhnlicher Liebe und Haß zu wandeln; bisweilen, wenn sie wollen, durch Blitzschlag, gewisse Menschen oder auch Tiere zu töten; die Zeugungskraft oder auch die Fähigkeit das Beilager zu halten wegzunehmen; Frühgeburten zu bewirken; die Kinder im Mutterleib durch bloße äußerliche Berührung zu töten; bisweilen Menschen und Tiere durch den bloßen Blick, ohne Berührung zu behexen, und den Tod zu bewirken.42
An „Reste vorchristlicher Kulthandlungen“ mag etwa der Kulturhistoriker Richard van Dülmen beim Hexensabbat nicht glauben, und auch „Spuren einer untergegangenen Frauenkultur“ konnte er nicht aufspüren. Der Hexensabbat entsprach seiner Auffassung nach eher einer Wunschvorstellung als einem realen Geschehen. Bezeichnend sei auch, so van Dülmen weiter, dass „die Hexentanzvorstellung als Muster erst um 1500 greifbar wird“. Dieser Einschätzung kann man ohne Wei42
Jakob Sprenger und Heinrich Institoris: Der Hexenhammer, München 1982, 3. Aufl. 1985, Teil II, S. 27.
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teres folgen, sofern die eben beschriebenen Delikte der „Hexen“ gemeint sind. Das Szenario einer Zusammenkunft mit dem Ziel, magische Rituale zu begehen, lässt sich hingegen durchaus auf vor- bzw. nichtchristliche Kulte zurückführen. Dass der Hexensabbat erst um 1500 als vorgebliches oder tatsächliches Geschehen greifbar wird, hängt sicherlich mit der Tatsache zusammen, dass erst um diese Zeit die Hexenverfolgungen auf breiterer Front einsetzen.
Warum Hexen und nicht Hexer? Mehr als 75 Prozent der wegen Hexerei belangten Personen waren Frauen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Frauen wurde traditionell eine größere Nähe zur Magie unterstellt, die Hexen der klassischen Antike waren weiblich. Da das Christentum eine Männerreligion ist, in der die Frau eine entweder eine dienende bzw. mütterliche Rolle spielt (Maria) oder ein Werkzeug des Bösen und der Verführung ist (Eva), bleibt für die alten Göttinnen keine positive Rolle, es sei denn, sie werden in das Marienbild integriert, was aber meist kaum möglich ist. Die alten Göttinnen, ob Hekate oder Ishtar, Venus oder Artemis, waren keine völlig voneinander getrennten und von einander trennbaren Gestalten, sondern Ausprägungen einer Großen Göttin der schamanischen Urzeit, in denen sich jeweils unterschiedliche Aspekte dieser Allmutter konzentrierten, Weisheit und Tugend ebenso wie ungezügelte Erotik und Gewalt. Liebes- und Fruchtbarkeitsgöttinnen und deren Kulte wurden von der sexualfeindlichen Doktrin der Kirche ohnehin mit dem Bösen gleichgesetzt. Die Frau galt als sexuell zügellos und unersättlich, weshalb sie den Verführungskünsten des Teufels weit eher zugänglich war als der Mann. Die Zuordnung des Weiblichen zum Chthonisch-Untergründigen, zum Natur- und Triebhaften im Gegensatz zum kulturell entwickelten, Geistigen des Mannes, drückt auch tiefsitzende und durch die asketische Sexualethik des Christentums erheblich verstärkte männliche Potenzängste aus. Dieses Frauenbild kulminierte in der Behauptung, die Frau an sich sei kein vollwertiger Mensch, besitze vielleicht nicht einmal eine Seele. Im „Hexenhammer“ heißt es dazu: Diese Mängel [der Frauen] werden auch gekennzeichnet bei der Schaffung des ersten Weibes, indem sie aus einer krummen Rippe geformt wurde, d. h. aus einer Brustrippe, die gekrümmt und gleichsam dem Mann entgegen geneigt ist. Aus diesem Mangel geht auch hervor, dass, da das Weib nur ein unvollkommenes Tier ist, es immer täuscht. […] Also schlecht ist das Weib von Natur, da es schneller am Glauben zweifelt, auch schneller den Glauben ableugnet, was die Grundlage für die Hexerei ist.43
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Sprenger – Institoris: Hexenhammer, Teil I, S. 99.
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Der „Kirchenvater“ Johannes Chrysostomos („Goldmund“, 344/49–407) bewies seine Wertschätzung der Frauen mit folgenden Worten: Was ist das Weib anderes als eine Feindin der Freundschaft, eine unentrinnbare Strafe, ein notwendiges Übel, eine natürliche Versuchung, ein wünschenswertes Unglück, eine häusliche Gefahr, ein ergötzlicher Schade, ein Mangel der Natur, mit schöner Farbe gemalt?
Frauen sind also aus christlicher Perspektive besonders gefährlich, weil sie sich heimtückischerweise nicht einfach als böse, abstoßend und bedrohlich – also so, wie sie sind – zeigen, sondern sich als schön und angenehm tarnen, um die wehrlosen Männer zur Sünde zu verleiten.44 Dazu kommt noch die Rolle der Frau im häuslichen Leben und in der Gemeinschaft. Frauen besorgten die Küche und den Kräutergarten, Frauen waren Heilkundige und Hebammen. Diese Tätigkeiten waren mit einem Wissen über die pharmakologischen Wirkungen von pflanzlichen und tierischen Substanzen verbunden und auch mit einem Wissen über diverse Rituale von Heil- und Abwehrzauber. Daher bestand eine quasi natürliche Nähe der Frauen zur Magie und es bedurfte nur der Umdeutung durch das Hexenkonzept, um aus einer Heil- eine Schadenzauberin zu machen. Es gibt in der Kunstgeschichte zahlreiche Darstellungen von Hexen, die in einem Kessel wie er auch in der Küche üblich war, ihre üblen Gebräue kochen, aber keine einzige Darstellung, in der Hexer dies tun. In männlichen Versagensängsten und Profilneurosen, unter denen namhafte Kleriker offenbar besonders litten, formte sich jenes Frauenbild, das ein integraler Bestandteil der Hexenverfolgungen war. Neben den schon erörterten anderen Gründen für die Hexenverfolgungen spielten auch solche gesellschaftlichen und individuellen Sexualneurosen eine maßgebliche Rolle. Gleichzeitig erklären sie, weshalb Frauen den Hauptanteil der Verfolgten und Verurteilten ausmachen. Eine wichtige Ergänzung ist indes noch zu machen: Ein großer Teil der Prozesse wurde durch Anklagen aus der Bevölkerung ausgelöst, nicht auf Betreiben der Obrigkeit, und hier bezichtigten meist Frauen andere Frauen. Die Gründe dafür konnten Eifersucht oder andere Rivalitäten sein, aber auch misslungene medizinische Behandlungen oder der Vorwurf der Behexung von Kindern durch den Bösen Blick oder sonstige zauberische Mittel. Männliche Impotenz und weibliche Unfruchtbarkeit wurden auf die böse Macht der Hexen zurückgeführt. Auch der Stall war eine Domäne der Frau und bei Tierkrankheiten oder geringem Ertrag an Milch und Butter wurde generell Schadenzauber vermutet. In den Bereichen des täglichen Lebens, die von Frauen gestaltet wurden oder eng mit weiblichem Wissen und Wesen zusammenhingen, übernahmen Frauen das negative (männlich geprägte) Bild ihres eigenen Geschlechts und bezeichneten andere Frauen als Hexen. Die im Volksglauben an Magie angelegten Stereotype wandten sich ge44
Sprenger – Institoris: Hexenhammer, Teil I, S. 96.
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gen die Frauen, nachdem von seiten der gebildeten Oberschicht ein Konzept entwickelt worden war, das die Magie als Häresie und die magisch bewanderte Frau als Hexe definierte. Auffallend ist, dass ein hoher Prozentsatz der Beschuldigten mehr als 50 Jahre alt war (allerdings geht aus den Akten nicht immer das Alter der Angeklagten hervor). Man muß dabei beachten, dass die durchschnittliche Lebenserwartung in der Frühen Neuzeit weit unter der heutigen lag, und kaum über 45 Jahre hinausreichte. Zur Erklärung dieser Tatsache ist man auf Vermutungen angewiesen. Einerseits dürfte eine Rolle gespielt haben, dass das Hexenstereotyp auch in der Frühen Neuzeit eher auf alte und häßliche Frauen zutraf denn auf junge und attraktive, dass sich Verdächtigungen wegen Hexerei nur nach und nach aufbauten und dass man älteren und verwitweten Frauen eher als jungen und schönen zutraute, zur Befriedigung ihrer sexuellen Bedürfnisse die Hilfe des Teufels in Anspruch zu nehmen. (Sexuelle Lust wurde indes auch alten Frauen keineswegs abgesprochen.) Wichtiger erscheint mir aber die Überlegung, dass alte Frauen weit schlechter sozial geschützt waren als junge. Die „Hexen“ waren oft alleinstehend und lebten häufig in einer sozialen Randposition, die sie benachteiligte und ihnen das (Über) leben erschwerte, woraus leicht der Schluss zu ziehen war, dass sie sich dann eben zauberischer Mittel bedienten, um ihre Lage zu bessern oder um sich für Unbill zu rächen. Alte, hässliche, alleinstehende Frauen waren daher eine hervorragende Projektionsfläche für soziale Ängste und die Angst vor der Macht der Hexe machte sie zu gefährdeten Personen. Es gibt jedoch auch Fälle, wo sozial höherstehende, jüngere und verheiratete Frauen unter Anklage gerieten. Dies hängt mit der Eigendynamik von Hexenprozessen zusammen. War jemand angeklagt, so kam es, nach einem im Laufe des 16. Jahrhunderts weitgehend standardisierten Fragenkatalog, zu einer Befragung. Ein zentraler Bestandteil der Verhöre war dabei der Hexensabbat, auf dem sich eine mehr oder minder große Zahl von Hexen und Hexern zusammen mit dem Teufel vergnügte und auf dem die Hexen auch Zaubermittel zur Verübung ihres Schadenzaubers erhalten sollten oder selbst herstellten (z. B. unter Verwendung von Kinderfett). Es ging nun darum, herauszufinden, wer außer der jeweils Beschuldigten noch an diesen Sabbaten teilgenommen hatte. Wenn man auch den Aussagen der Angeklagten ansonsten nicht traute, so wurde ihren diesbezüglichen Angaben paradoxerweise unbedingt Glauben geschenkt, weil man ja keine andere Möglichkeit hatte, die Verschwörung der Hexensekte zu entdecken. Die zunächst beschuldigte Person gab unter der Folter mehrere Bekannte an, die dann ebenfalls angeklagt wurden und ihrerseits weitere Namen nannten. Auf diese Weise entwickelte sich in Form einer Kettenreaktion sehr rasch ein immer größer werdendes Heer der Hexerei verdächtiger Personen, was wiederum die Verfolger in ihrer Überzeugung bestärkte, einer geradezu überwältigenden Bedrohung ausgesetzt zu sein, die jedes Mittel der Bekämpfung als gerechtfertigt erscheinen ließ. Es handelt sich hier um den klassischen Fall einer „Self-Fulfilling-Prophecy“: Weil man glaubte, dass eine weitverzweigte Verschwörung bestand, fand man sie auch. Es ist klar, dass sich dieses Schema der ausufernden Beschuldigungen nicht auf die ursprünglich bedrohten 186
und verdächtigten Personen begrenzen lässt, auf jene also, die dem oben erläuterten Hexenstereotyp entsprachen. Daher gerieten im Verlauf größerer Verfolgungswellen zunehmend auch angesehene und wohlhabende Frauen in die Mühlen der Hexenjustiz. Man darf annehmen, dass auch das Motiv einer „sozialen Rache“ ins Spiel kam, wenn eine in jeder Hinsicht arme Frau behauptete, eine reiche Patrizierin oder deren Mann auf dem Sabbat getroffen zu haben. Manche Angeklagte beschuldigten auch Kleriker, Hexenrichter oder die Inquisitoren selbst, heimliche Hexer zu sein. Damit war ein Punkt erreicht, wo die Dinge aus dem Ruder zu laufen drohten und der Bestand der Gemeinschaft nicht mehr durch die Hexen, sondern durch deren Verfolgung bedroht war. Dies bedeutete in der Regel das Ende einer Verfolgungskampagne.
IV.5 Der Flug der Hexen
Abb. IV.9: Hexenflug der „Vaudoises“ (hier Hexen, ursprünglich Waldenser) auf dem Besen. Miniatur in einer Handschrift von Martin Le Franc, Le champion des dames, 1451. 187
Eines der merkwürdigsten, bislang allerdings nur unzureichend untersuchten Phänomene des Hexenwesens ist der Hexenflug und die damit verbundene Hexensalbe. Es war einleuchtend, dass die Hexen nur dann zum Hexensabbat gelangen konnten, wenn sie sich paranormaler Reisegefährte bedienten. Andernfalls wäre es unmöglich gewesen, innerhalb weniger Stunden die meist abgelegenen, schwer zugänglichen und von den Ansiedlungen weit entfernten Sabbatplätze zu erreichen, dort zu feiern und wieder zurückzukommen, ehe der Tag anbrach. Bei der Geistlichkeit setzte sich der Glaube an die Tatsächlichkeit des Fluges erst im 15. Jahrhundert durch, und auch dann nur teilweise. Das Volk hingegen übertrug den alten Glauben an die Nachtfahrt auf die Hexen. Im schon zitierten „Canon Episcopi“ findet sich die folgende Beschreibung: Es war dein Glaube, dass gewisse, um Satan versammelte Frauen glauben, als wahr behaupten und wissen: du hast dir vorgestellt, dass du in der Stille der Nacht, im Bette liegend und dein Ehemann an deiner Brust ruhend, fähig gewesen wärest, obwohl versehen mit einem wirklichen Körper, durch die geschlossene Tür hinauszufahren, und fähig gewesen wärest, zusammen mit anderen, vom selben Irrtum ergriffenen Frauen, bis zu den Enden der Welt zu eilen, ohne sichtbare Waffen getaufte und durch das Blut Christi erlöste Menschen zu töten.45
Die Verbindung zu den am Himmel fliegenden Nachtdämonen ist unverkennbar, hier allerdings korrumpiert durch die Unterstellung, die Frauen würden diese magischen Luftreisen als Satansdienerinnen erleben und dabei Menschen ermorden. Auch Richard van Dülmen betont die Unverzichtbarkeit des nächtlichen Flugs der Hexen für die Möglichkeit der Existenz einer Hexensekte: Zum Bild der Hexe gehört seit je der Hexenflug. Die Vorstellung des Fliegenkönnens hatte es gegeben, bevor die Dämonologen mit ihrer Hexenkonstruktion auftraten, die Verbindung mit der Hexerei haben aber sie geknüpft. Wichtig war dabei, dass eine Zauberin nicht aus eigener Kraft fliegen kann, sondern der Teufel ihr dabei hilft. Wenn in den vielen erhaltenen Akten keine Hexe bestritt, dass Hexen fliegen können – nur für ihre eigene Person stritt sie es oft ab – so besagt dies nichts über den Erfahrungshintergrund dieser Vorstellung. Die neuerdings wieder aufgelebte These, nach der Frauen vor allem durch ihre Salben ein Fluggefühl erzeugten, reicht als Erklärung für die Aussage des Fliegenkönnens nicht aus. Die Internalisierung des Hexenbildes mit den fliegenden Hexen und dem Tanz auf dem Hexenplatz durch mündliche Tradition ist seit dem 16. Jahrhun45
Zitiert nach Lecouteux: Nachtdämonen. S. 20.
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dert bereits so vollständig gelungen, dass es selbst für kritische Betrachter kaum einen Anlass gab, das Fliegenkönnen von Hexen als Absurdität zu bewerten. Selbst unter den versierten Juristen und Theologen gab es nur wenige, die diese Fähigkeit grundlegend bestritten, allerdings sei sie notwendig durch den Teufel verliehen. Ohne den Glauben an den Flug wäre überhaupt die ganze Konstruktion des Hexenbildes zusammengebrochen.46
Den Verweis van Dülmens auf bestimmte Drogen, die ein Fluggefühl erzeugen können, werden wir bald näher erörtern. Er bemerkt zurecht, dass die pharmakologische Wirkung dieser Substanzen alleine nicht ausreicht, um die vorgeblichen Erlebnisse der Hexen beim Hexensabbat zu erklären. Hier kommen zwei Phänomene zusammen, nämlich die physiologisch real vorhandene Wirkung halluzinogener Substanzen und bestimmte, vor deren Gebrauch vorhandene, Erwartungshaltungen, die wiederum vom schon länger bestehenden Glauben an die Nachtschar geprägt sind. Ein weiterer, von Carlo Ginzburg betonter Aspekt bleibt unbedingt beachtenswert, nämlich der „ekstatische Charakter“ dieser magischen Reisen. Er führt dazu aus: Die angeblichen schottischen Hexen fielen in regelmäßigen Abständen in ‚extaseis und transis‘ und verließen ihre leblosen Körper in Gestalt eines unsichtbaren Geistes oder eines Tieres (einer Krähe). Von den Gefolgsleuten der ‚dame Habonde‘ hieß es, sie verfielen in Totenstarre, bevor sie, Türen und Mauern überwindend, ihre Reisen unternähmen. Bereits der Corrector [ein Zusatztext zum Canon Episcopi] erklärte, verriegelte Türen stellten für die nächtlichen Flüge kein Hindernis dar. […] In die Welt der wohltätigen Frauengestalten, die freigebig Wohlstand, Reichtum, Wissen spenden, gelangt man durch einen provisorischen Tod.47
Dies entspricht bis in Einzelheiten der Seelenreise der Schamanen. Folgerichtig urteilt Ginzburg, dass „die ekstatische Reise der Lebenden in die Welt der Toten […] den in der Volkstradition liegenden Kern des Stereotyps vom [Hexen]Sabbat bilden“.48 Zu einem analogen Ergebnis gelangt auch Wolfgang Behringer. Er bezweifelt zwar die Vorstellung einer „Kontinuität geheimnisvoller Kulte bis in eurasische Urzeiten“, macht aber auch darauf aufmerksam, dass in der vormodernen Vorstellungswelt gewöhnlicher Menschen Zauberei und schamanisches Denken einen festen Platz hatten: 46 47 48
Van Dülmen, S. 112. Ginzburg: Hexensabbat. S. 101. Ginzburg: Hexensabbat S. 101.
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Eine die Bedürfnisse der Bevölkerung nur teilweise berücksichtigende religiöse Ideologie und das Hintergrundrauschen eines nichtchristlichen Mythenrepertoires mussten sogar mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit Erscheinungen erzeugen, die von der vergleichenden Religionswissenschaft als Schamanismus klassifiziert werden.49
Es liegt auf der Hand, dass ein solcher Flug – wenn überhaupt – nur mit magischen Mitteln möglich war. Eine entscheidende Rolle spielte hierbei der Teufel. Entweder nahm er die Hexe direkt mit sich, indem er ihr ein dämonisches Reittier, häufig einen Ziegenbock, sandte, das seinerseits den Teufel vorstellte, denn der Bock ist eine geläufige Erscheinungsform des Bösen, oder die Hexe benutzte eine sogenannte Flugsalbe. Diese Salbe wiederum erhielt sie nach Meinung der Inquisition ebenfalls vom Teufel. Haben die Hexen auf ihren Sabbaten dem Teufel gehuldigt, so der „Hexenhammer“, wird ihnen das Rezept einer Zaubersalbe mitgeteilt, deren Hauptbestandteil (nach Sprenger und Institoris) die „Knochen und Glieder von Kindern, und zwar besonders von solchen, die durch das Bad der Taufe wiedergeboren sind“ darstellen, „wodurch sie alle ihre Wünsche mit seinem [des Teufels] Beistande erfüllt sehen würden“. Ihr Wissen hatten die Inquisitoren von einer „jungen, aber bekehrten Hexe“ aus Breisach in der Diözese Basel. Diese sagte u. a. aus, dass sie „öfters in der Nacht über weite Strecken […] geflogen sei, ja sogar von Straßburg nach Köln“.50Derartigen Aussagen wurde „unbedenklich Glauben geschenkt“ nicht zuletzt, weil sie vorzüglich zu denen des bekannten Dominikaners und Verfassers des „Formicarius“ (Ameisenstaat), Johannes Nider (um 1380–1438) passten, jenes „hervorragenden Gelehrten, der sich noch zu unseren Zeiten durch wunderbare Werke hervorgetan“.
49 50
Behringer, S. 152. Sprenger – Institoris: Hexenhammer, Teil II, S. 31 f.
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Abb. IV.10: Johannes Nider in einem Kupferstich, der wohl kurz nach seinem Tod entstand (Nationalbibliothek Wien, Graphische Sammlung). Gedacht als Prediger- und Erbauungsbuch, ist diese dialogisch aufgebaute lateinische Abhandlung, die zugleich eine Exempelsammlung darstellt, ein Spiegel ihrer Zeit, in dem der Ameisenhaufen als Metapher für den idealen Staat steht. Jedem der fünf Kapitel ist eine Eigenschaft der Ameisen vorangestellt. Im letzten Abschnitt geht das Werk auch auf Magie und Zauberei ein und berichtet ausführlich über die Hexenverfolgungen des Berner Landvogtes Peter von Greyerz im Schweizer Simmental. Nider hatte aus dem Mund eines Kollegen erfahren, „dass im Herzogtum Lausanne einige Hexen die eigenen Kinder gekocht und gegessen hatten“.51 Nach Ansicht der Inquisition bestand die Wirkung der Salbe darin, dass sie die Hexe ohne weiteres durch die Luft zum Hexentanzplatz beförderte, nachdem sich diese vorher damit eingerieben oder einen Besenstiel oder Stecken, auf dem sie dann durch die Luft ritt, damit bestri51
Sprenger – Institoris: Hexenhammer, Teil. II, S. 31.
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chen hatte. Die Hexen flogen teils bekleidet, teils nackt, mit offenen Haaren, durften sich beim Flug weder umsehen noch reden, vor allem den Namen Gottes nicht aussprechen. Aus einem Prozess, der am Ende des 17. Jahrhunderts in Geisling, einem Dorf nahe Regensburg in Bayern, stattfand, stammt die folgende Schilderung: Man habe ganz gewisse Nachrichten, dass sie, [die] Hexenleuth vor der außfahrt sich nackhent ausgezogen, die Klaider in seiner Stuben auf die Offenbank gelegt, die Gablen und Pesen hergericht, alsdann mit der Salben, welche deß verhafften Weib [die verhaftete Frau] von dem Teuffl empfangen, die Hendt, den Kopf oder das gesicht wie auch die Brust geschmiert, alsdann nackhent auf der Gabl sizent gesprochen: ‚hul, oben auß und nirgents an.‘52
Die Aussage, sie habe die Flugsalbe vom Teufel bekommen, legt nahe, dass diese „Hexe“ eine solche Salbe nie besessen hat und ihr die Aussage in den Mund gelegt wurde. Man könnte die ganze Vorstellung von den fliegenden Hexen ebenso als Phantasiegebilde betrachten, wie den Teufelspakt und die Hexensekte, gäbe es nicht einige bemerkenswerte historische Quellen, die die Angelegenheit in einem anderen Licht erscheinen lassen. So erzählt der seinerzeit berühmte Rechtsgelehrte Johann Georg Godelmann (1559–1611) in seinem 1591 erschienenen „Tractatus de magis, veneficiis et lamiis“ (Abhandlung über die Magier, Giftmischer und Hexen) folgende Begebenheit: Ein Edelmann in Magdeburg hatte eine Magd. Die hatte ihm lange und treu gedient, war aber zuletzt der Zauberei und Blocksbergfahrt angeklagt worden. Von ihrem Herrn deshalb zur Rede gestellt, gestand sie ihm, dass sie die nächste Nacht durchaus auf den Brocken müsse. Der Edelmann rief den Pfarrer und einige andere Männer herbei, und sie bewachten die Frau während der Nacht auf das sorgfältigste. Nachdem sie sich gesalbt hatte, verfiel sie in einen so tiefen Schlaf, dass sie weder in der Nacht noch am folgenden Tag erweckt werden konnte. Als sie endlich wieder zu sich gekommen war, ließ sie sich nicht ausreden, dass sie wirklich auf dem Blocksberg zum Tanz gewesen sei.53
Einige Jahre früher, 1558, berichtet der gelehrte Humanist Giambattista della Porta (1535–1615) in seiner „Magia naturalis sive de miraculis rerum naturalium“ (Natürliche Magie oder von den Wundern der Natur) von einer Salbe, die von den allenthalben ihr Unwesen treibenden He-
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Van Dülmen, S. 111. Kiesewetter, Geheimwissenschaften, S. 576.
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xen benutzt werde, „bei welcher zwar viel und mancherley Aberglauben mit unterlauffe, doch gleichwohl auch viel natürliche Krafft dabey verborgen stecke“. Diese Salbe entfalte nach dem gründlichen Einmassieren in die Haut eine recht bemerkenswerte Wirkung: Beim Gebrauch werden die Glieder zuvor bis zur Röthe gerieben, damit die schnell aufgesogene Salbe ihre Wirkung umso kräftiger äußern könne. Auf diese Weise glauben sie des Nachts im Mondschein durch die Luft zum Schmaus, Spiel, Tanz und Buhlschaft mit jungen Gesellen, die sie besonders begehren, zu fahren. Und so gewaltig ist die Kraft der Imagination, dass der Theil des Gehirns, wo das Gedächtnis liegt, von dem Eingeprägten voll ist, und weil sie von Natur sehr leichtgläubig sind, so erfassen sie die Eindrücke gar schnell, so dass die Geister des Gehirns verändert werden, umso mehr, als sie Tag und Nacht an nichts anderes denken.54
Della Porta erklärt, die Menschen hätten sich dazu hinreißen lassen, „auch deren dingen / so von natur dem Menschlichen geschlecht zu nutz und frommen erschaffen sind / schendtlich und lesterlich [zu] missbrauchen“ und Kräuter, die eigentlich der Heilung dienen sollten, zu Hexensalben zu mischen. Genauere Angaben hinsichtlich der Bereitung der Salben fehlen bei Porta, er gibt aber immerhin Inhaltsstoffe an, wie sie nach seiner Kenntnis bei verschiedenen Salben vorkamen. Das erste Rezept Portas enthielt Kinderfett, Eleosilenum (Bedeutung unklar, könnte sowohl Sellerie, Pastinak, Petersilie wie Wasser‑ oder Fleckenschierling bedeuten), Aconitum (Eisenhut), Frondes populneas (Pappelblätter) und Fuligo (Ruß). Ein zweites Rezept erforderte Sium (Bedeutung ebenfalls nicht geklärt; könnte Ehrenpreis, Brunnenkresse oder Schierling sein), Acorum vulgare (Kalmus), Pentaphyllon (Fünffingerkraut), Vespertilionis sanguinem (Fledermausblut), Solanum somniferum (Nachtschatten allgemein, wahrscheinlich Bilsenkraut) sowie Oleum (Öl).55 Ermelte stück mischen sie [die Hexen] durcheinander / reiben alle glieder ihres Leibs / damit sie erhitzigen und /die Schweißlöchlein /so vor von kälte wegen beschlossen /sich auffthun /und schmieren sich allenthalben […]. Nachdem sie aber den karren dermassen gesalbt / schwüren sie tausend eyd / sie führen den aller nechsten dahin in posten weiß/ wie ein beschoren schwein /zu herrlichen malzeiten /Musicspiel /Täntzen und schönen
54 55
Kiesewetter: Geheimwissenschaften, S. 574. Johann Weier/Weyer: De praestigiisdaemonum. Von Teuffelsgespenst, Zauberern und Giftbereytern, Schwartzkünstlern, Hexen und Unholden etc. Erstlich in Latein beschrieben, nachmals von F.Fuglino verteutscht (…) auffs neuw ubersehen, Frankfurt 1586, S. 192 f.
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jungen Knaben / welche disen alten Mütterlin so noch nicht aller dingen erleidet sindt/ kurtzweiliger beywohnunge.56
Die Angabe, in der Salbe sei „Kinderfett“ enthalten, ist mit Sicherheit falsch. Dies war ein von der Inquisition erdichteter Zusatz, der lediglich den Zweck hatte, die Hexen verhasst zu machen, weil sie Kinder töten und deren Leichen auskochen sollten. Porta war Zeuge eines Experiments, zu dem „ein alte Vettel“ sich freiwillig bereit erklärt hatte. Nachdem sich die Frau mit einer Salbe, deren Zusammensetzung Porta nicht bekannt war, eingerieben hatte, verfiel sie In einen „tieffen schlaff “, Porta und andere Anwesende schlugen sie, „aber so hart [fest] hat sie geschlaffen /daß sie es nicht umb ein haar empfunden hette“. Nach dem Erwachen erzählte sie, „wie sie uber Berg unnd Thal gefahren sey“, und ließ sich auch durch die Striemen an ihrem Leib nicht davon überzeugen, in Wirklichkeit den Raum nicht verlassen zu haben.57 Andres de Laguna (1499–1560), der gelehrte spanische Mediziner und Leibarzt Kaiser Karls V., schildert in einer Schrift von 1529 einen Versuch, den er mit einer Probe einer Hexensalbe angestellt hatte, die in der Behausung eines Zauberers und einer Hexe gefunden worden war. Die Salbe enthielt Schierling, Nachtschatten, Bilsenkraut und Alraune. Mit der Frau des Henkers von Metz wurde daraufhin eine Probe durchgeführt. Nachdem sie von Kopf bis Fuß mit der Salbe eingerieben worden war, fiel sie in einen tiefen Schlaf, aus dem sie 36 Stunden nicht mehr erwachte. Anschließend beklagte sie sich bitter darüber, aus ihren herrlichen Träumen gerissen worden zu sein und bat um mehr Salbe, um weiterträumen zu können. In deutlichem Gegensatz dazu steht die Ansicht der Dämonologen. Ohne jede Ahnung von den Kräften und Wirkungen der heimischen Pflanzendrogen, wollten die Theologen und gelehrten Theoretiker zwar nicht leugnen, dass die Flugsalben eine Wirkung hatten, führten diese aber nicht auf die Ingredienzien der Salbe, sondern auf die magische Kraft des Teufels zurück. Martin Delrio etwa erklärte, dass „die verwendete Salbe aus mehreren unsinnigen Dingen zusammengemischt [sei], hauptsächlich jedoch aus dem Fett ermordeter Kinder; manchmal wird nur der Stab [der Besen oder die Mistgabel auf dem die Hexe reitet] eingeschmiert, manchmal die Schenkel oder andere Körperteile. Der Flug könnte auch ohne die Salbe stattfinden, aber der Teufel besteht darauf um den Kindsmord zu fördern“. Der Inquisitor Valle de Moura schrieb: „Die Gifte [der Hexen] bekommen ihre Giftwirkung nicht von den natürlichen Qualitäten der Ingredienzien, sondern von den Zaubersprüchen und Beschwörungen die bei ihrer Verfertigung gebraucht werden.“ Der Bußprediger Johann Geiler von Kaysersberg stellte fest: „Wenn eine Hexe auf einer Mistgabel sitzt, die sie mit der Salbe eingerieben hat und die vorgeschriebenen Worte spricht, kann sie fahren wohin sie will. Dies liegt nicht an der Kraft der Gabel oder der 56 57
Kiesewetter: Geheimwissenschaften, S. 574, zitiert nach Porta Magia Naturalis Buch II, Kap. 26. Ebd.
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Salbe, sondern es ist der Teufel, der dies vollbringt, er führt sie davon, weil er die Zeichen sieht, die die Hexe ihm macht.“58 Die Vorstellung, dass mit Hilfe einer geheimnisvollen Salbe ein tatsächlicher oder als Vision erlebter Flug möglich sei, taucht bereits in der antiken Überlieferung und in der Bibel auf. In der Erzählung „Der goldene Esel“ des Lucius Apuleius aus dem 2. Jahrhundert n. Chr. verwandelt sich die Hexe Pamphile, nachdem sie sich mit einer Zaubersalbe den Körper gerieben hat, in eine Eule und fliegt davon. Für die Dämonologen war eine Stelle aus dem Matthäus-Evangelium maßgebend, wo die Rede davon ist, dass der Teufel Jesus durch die Luft getragen und auf den Tempel in Jerusalem sowie den Gipfel eines Berges bei Jericho transportiert habe. Der berühmte Staatsrechtler, Historiker und Dämonologe Jean Bodin (1520–96) zog daraus den Schluss, dass „Satan, mit Zulassung Gottes, die Macht besitzt, einen Menschen durch die Luft zu tragen, denn es ist völlig klar, dass Jesus Christus ein echter Mensch und kein Geist war“.59 Der Gebrauch berauschender Drogen bei schamanischen Riten der Naturvölker ist vielfach und gut belegt (siehe Kapitel 1) und die Annahme, dass die Hexensalben ein volksmagisch-volksmedizinischer Rest dieser alten Tradition sind, erscheint plausibel. Schließlich waren gerade die Frauen in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaft Trägerinnen eines umfangreichen und bis heute nur teilweise erforschten Wissens um die pharmakologischen Wirkungen einer Vielzahl von Pflanzendrogen, die zu Heilzwecken ebenso eingesetzt werden konnten wie zu magischen Ritualen. Auf die zahlreichen Überlieferungen, die einige der als Bestandteile von Flugsalben wichtigen Pflanzen umgaben, werden wir gleich noch näher eingehen.
IV.6 Hexensalben und Hexenkräuter Im ersten Teil von Goethes „Faust“ besingt in der Walpurgisnacht-Szene der Chor der Hexen auch die „Hexensalbe“: Die Salbe gibt den Hexen Mut Ein Lumpen ist zum Segel gut, Ein gutes Schiff ist jeder Trog Der flieget nie, der heut nicht flog.60
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59 60
Alle Zitate siehe Sidky, Homayun: Witchcraft, Lycanthropy, Drugs and Disease. An Anthropological Study of the European Witch-Hunts, New York 1997, S. 202 Zit. nach Sidky, S. 189. Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Mit Einleitung und fortlaufender Erklärung, 2. Auflage, Heilbronn 1886, Vers 3655, S. 251.
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Worum handelte es sich bei diesem ganz besonderen Pharmakon? Hier muss man unterscheiden zwischen der magischen Bedeutung der Salbe und ihrer physiologischen Wirkung. Magisch gesehen, handelte es sich um ein Transportmittel, das den Hexen erlaubte, durch die Luft zu fliegen. Physiologisch gesehen, handelte es sich um eine äußerlich anzuwendende Mischung diverserer Halluzinogene. Der Hexenflug wird zwar als real erlebt, ist aber in Wahrheit einfach ein Drogentrip. Der Eindruck von Realität wird dabei durch die chemische Beschaffenheit der Drogenmischung ebenso bewirkt, wie durch die Erwartungshaltung der Nutzerinnen. Die Hexen benötigten ein Fluggerät. Dies konnte ein Besenstiel sein, eine Heugabel oder ein Ziegenbock – das Symboltier des Teufels. Dazu nochmals Goethe: Es trägt der Besen, trägt der Stock, Die Gabel trägt, es trägt der Bock Wer heute sich nicht heben kann Ist ewig ein verlorner Mann.61
Einer der wirkmächtigsten Kritiker der Hexenverfolgungen war Johannes Weier (auch Weyer, lat. Wierus, 1515–88). Weier war ein Schüler des Agrippa von Nettesheim und Leibarzt des Herzogs Wilhelm V. („der Reiche“) von Jülich-Kleve‑Berg. In seinem Werk „De praestigiis daemonum. Von Teuffelsgespenst / Zauberern und Gifftbereytern / Schwartzkünstlern / Hexen und Unholden“, das 1563 erstmals erschien und zahlreiche weitere Auflagen erlebte, wandte er sich mutig gegen die Praxis der Hexenprozesse und vertrat die Ansicht, dass die Hexen und Hexer für ihre Schadenshandlungen – deren Realität er nicht bestritt – nicht verantwortlich gemacht werden könnten, da sie selbst Opfer teuflischer Vorspiegelungen („praestigiis“) seien. Im 17. Kapitel des dritten Buches geht es um Hexensalben; einleitend bemerkt er: Damit aber an den Unholden [also den Hexen] /sie aufzumutzen [auszustatten] /nichts vergessen würde /hat ihnen der Sathan etwas natürlicher Artzney und Salben angegeben [eine Rezeptur genannt] / und beredt / so sie sich damit salben und schmieren / werden sie den nechsten [sogleich] oben zum Camin hinaus durch den lufft fahren /und an solche ort und ende kommen /da man mit tantzen /singen /und anderer kurtzweil aller frewden und lusts pflegen werde.62
Hier ist keine Rede von Schwarzer Messe oder Teufelskult. Weier gibt die Schilderungen wieder, die von jenen Hexen stammten, die freiwillig vom Gebrauch der Salbe berichteten. Dabei han61 62
Ebd., Vers 4000, S. 251. Weier, S, 192.
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delt es sich um eine kleine Minderheit der angeklagten (und verurteilten) Frauen, nämlich um jene, die nicht nur über ein entsprechendes Heilwissen verfügten, sondern auch an magischen Ritualen und Festen in Verbindung mit den verteufelten Nachtdämonen teilnahmen. Diese Frauen gehörten nicht zur schreibkundigen Schicht der Gebildeten, sondern waren Frauen des bäuerlichen Volkes. In der Hippiekultur sprach man von einem „Trip“, wenn man halluzinogene Drogen nahm. Auch die „Hexen“ machten Reisen mit ihren Salben, aber diese waren in vieler Hinsicht noch phantastischer, als es ein LSD-Trip je sein könnte. Wir kennen eine Reihe dieser „Hexenkräuter“, die in den Flugsalben eine Rolle spielten. Außer Mohnsaft handelt es sich dabei in der Regel um Alkaloide aus der Gruppe der „Anticholinergika“; diese verändern die Wirkungsweise des parasympathischen Nervensystems und heben dessen normale Funktion auf. Zu den typischen Hexenkräutern gehört die Tollkirsche, auch Atropa belladonna, Schlafbeere, Teufelskirsche oder Wolfbeere genannt, ferner das Bilsenkraut und die Alraune (Mandragora). Alle drei sind Nachtschattengewächse (Solanaceen), wie auch die Kartoffel, die Tomate, der Paprika und der Tabak. Sie enthalten die Alkaloide Atropin, 1‑Hyoscyamin und Scopolamin. Deren physiologische Wirkung besteht in der Erregung des zentralen und nachfolgender Lähmung des peripheren Nervensystems. Die zentral erregende Wirkung macht sich in lebhafter Munterkeit bemerkbar, die von heftigem Bewegungsdrang, Redefluss und Lachanfällen begleitet ist. Es folgen Halluzinationen, in denen häufig sexuelle Phantasien eine Rolle spielen. Schließlich geht die zentrale Erregung in eine zentrale Lähmung über, die zunächst zu tiefem Schlaf, bei zu großer Dosis zum Tod durch Lähmung des Atemzentrums führt. Die peripher lähmende Wirkung setzt schon bei geringen Gaben ein und betrifft vorwiegend das parasympathische System, das u. a. Verdauungsvorgänge, Speichelsekretion, Herzschlag und Pupillenkontraktion steuert. Die Halluzinationen ähneln den von LSD (Lysergsäurediethylamid) ausgelösten, aber im Gegensatz zu LSD haben die berauschten Personen den Eindruck, die Halluzinationen seien extern, d. h. sie fänden in der realen Welt statt (bei LSD bleibt das Bewusstsein, sich auf einem „Trip“ zu befinden, in der Regel erhalten). Dies führte dazu, dass jene, die die Flugsalben angewendet hatten, nicht nur aus psychologischen, sondern auch aus physiologischen Gründen der Meinung waren, dass während der Wirkungsdauer Erlebte habe sich tatsächlich ereignet. Auf diesen Umstand machte schon der bedeutende Toxikologe Louis Lewin (1850–1929) in den 1920er Jahren aufmerksam. Die Hexensalben „brachten Wirkungen hervor, die sogar nicht selten die Opfer [gemeint sind die Anwenderinnen, also die Hexen] selbst glauben und sagen ließen, dass sie mit bösen Geistern Umgang gepflogen, auf den Blocksberg geritten, auf dem Hexentanzplatz mit ihrem Buhlen gewesen seien oder andere durch Behexung zu Schaden gebracht hätten“.63 63
Louis Lewin: Phantastica. Die betäubenden und erregenden Genußmittel. 2. Auflage, Linden 1924, Nachdruck 1980, S. 175.
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Die umfangreichen Akten der Hexenprozesse erweisen sich als wenig nützlich, wenn es um die Frage der konkreten Zusammensetzung den Flugsalben geht. Der Inquisitor Pierre le Broussard etwa gab an, dass die zum Fliegen benutzte Salbe aus einer mit geweihten Hostien gefütterten Kröte, den pulverisierten Knochen eines Gehängten, dem Blute kleiner Kinder und „einigen Kräutern“ hergestellt sei. Der Hexenrichter Petrus aus Boltingen im schweizerischen Kanton Bern hatte von einer gefangenen Hexe etwas genauere Angaben zur Herstellung der Hexensalbe erhalten: Die Weise ist die folgende: Besonders stellen wir den noch nicht getauften Kindern nach, aber auch den getauften, besonders, wenn sie nicht mit dem Zeichen des Kreuzes oder durch Gebete geschützt werden. Diese töten wir, wenn sie in der Wiege oder an der Seite der Eltern liegen, durch unsere Zeremonien; und während man glaubt, dass sie erdrückt oder sonst aus einem Grunde gestorben sind, stehlen wir sie heimlich aus der Gruft und kochen sie in einem Kessel, bis nach Ausscheidung der Knochen das ganze Fleisch fast trinkbar flüssig wird. Aus der festen Masse machen wir Salben, um unsere Wünsche, Künste und Fahrten bequem ausführen zu können, die flüssige Masse aber füllen wir in eine bauchige Flasche; wer hiervon unter Hinzufügung etlicher Zeremonien trinkt, wird sofort Mitwisser und Meister unserer Sekte.64
Diese Rezeptur entsprach den Vorstellungen der Theologen und Inquisitoren, hatte aber mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Hinweise auf die tatsächlichen Ingredienzien der Flugsalben finden sich dagegen bei manchen Gegnern der Hexenverfolgungen und bei einigen gelehrten Magiern.
Hexensalben – Rezepturen und Wirkungsweise Die Verwendung von Pharmaka (bei den Griechen bedeutete „pharmakon“ sowohl Arznei als auch Gift, womit auf die Wichtigkeit richtiger Dosierung verweisen wurde) die Opium und Solanaceen enthielten, war schon in der Antike weit verbreitet: Das Bilsenkraut war bei den alten Griechen das Schlafmittel („Hypnotikon“) par excellence. Kretische Figurinen aus der Zeit um 1400 v. Chr. zeigen Mohnkapseln als Symbole des Schlafs und des Todes. Bei Homer verabreicht Helena, die Tochter des Zeus, den um Odysseus klagenden Anwesenden am Hof des Königs Menelaos einen „nephentes“ genannten Aufmunterungstrunk:
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Malleus, Teil 2, S. 31 f.
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[Helena] gab in den Wein, den sie tranken, sogleich ein bezauberndes Mittel (pharmakon), gut gegen Trauer und galliges Wesen: Für sämtliche Übel schuf es Vergessen. […] Ein solches Mittel tat sie hinein und ließ die Becher dann füllen.65
Ebenfalls bei Homer finden sich schon Hinweise auf der Hexensalbe ähnliche Flugsalben. Um vom Olymp herab über die Schneeberge Thrakiens, „über die obersten Gipfel, nie die Erde berührend“ zu Zeus auf den Idaberg zu gelangen, salbt Hera sich mit „Ambrosia“.66 Aristoteles nennt in seiner Schrift „De somno et vigilia“ (Über Traum und Wachen) als Hypnotika Papaver (Opium/Mohn), Mandragora (Alraune), Vinum und Lollium (Taumellolch). Der Arzt Artaios von Kappadokien (80/81–130/38) berichtet, dass die Nachtschattengewächse Mandragora und Hyoscyamus (Tollkirsche) einen Zustand der Manie auslösen. Der griechische Arzt Dioskorides (1. Jahrhundert n. Chr.), der in Rom als Militärarzt tätig war, verwendete die Samen des Bilsenkrautes zu schmerzlindernden Breiumschlägen (Kataplasmen) und fertigte aus den Blättern analgetische (schmerzlindernde) Pastillen. Aus der Wurzelrinde der Mandragora presste er einen Saft, der, vor einer Operation getrunken, verhinderte, dass der Patient Schmerzen verspürte. Nach dem Pharmakologen Franz Josef Kuhlen war die Anwendung narkotisierender und anästhesierender Pharmaka bei chirurgischen Eingriffen in der Antike allgemein üblich. Die Alraune war als Schlafmittel so gebräuchlich, dass ein schlafmütziger Mensch sprichwörtlich als „unter Mandragora schlafend“ genannt wurde. Galen (um 130–200) unterschied zwischen echten Schmerzmitteln, d. h. solchen, die die Ursache des Schmerzes beseitigen und den Anodyna und Hypnotika, die nur das Schmerzempfinden betäuben. Zu letzteren zählt er neben Papaver auch Hyoscyamus und Mandragora.67 Die Kirchenväter Origenes (um 185–254), Basileios (330–79) und dessen Bruder Gregor von Nyssa (4. Jahrhundert) sowie der aus Trier stammende Bischof Ambrosius von Mailand (340–97) erwähnen alle die Schmerzstillung und schlafmachende Wirkung von Opium und Nachtschatten (im Zusammenhang mit der Einnahme solcher Mittel bei den Christenverfolgungen). Der mittelalterliche Enzyklopädist Isidor von Sevilla (um 570–636) schreibt zur Mandragora: „Cuius cortex vino mixta ad bibendum datur, quorum corpus propter secandum est, ut soporati solorem non sentiant.“ (Diese Wurzel mit Wein gemischt und zu trinken dargereicht, bereitet den Körper für die Behandlung vor und bringt den Schlaf, macht den Schmerz nicht spürbar.) Aus dem 9. Jahrhundert stammt eine Vorschrift aus dem Kloster Montecassino, die die Herstellung eines „Schlafschwamms“ beschreibt: Eine halbe Unze Opium
65 66 67
Odyssee IV, 213–34. Ilias XIV, 299. Franz Josef Kuhlen und Rudolf Schmitz: Schmerz- und Betäubungsmittel vor 1600, Ein fast unbekanntes Kapitel der Arzneimittelgeschichte, in: Pharamzie in unserer Zeit 18, 1989, S. 11–19.
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wird mit 8 Unzen frisch gepresstem Saft von Alraunblättern, einer halben Unze Schierlingssaft und 3 Unzen Saft von Bilsenkraut vermischt und mit einem Schwamm aufgesogen. (Eine Unze hielt 8 Drachmen, 24 Skrupel oder 480 Gran und entspricht ca. 30 g) Diesen Schwamm lässt man trocknen; vor der Anwendung wird er mit Wasser angefeuchtet und dann in die Nase gesteckt, worauf eine Betäubung eintritt. Um die Narkose zu beenden wird ein mit Essig getränkter Schwamm verabreicht. Interessanterweise findet sich diese Vorschrift auch in einem Bamberger „Antidotar“ (Rezeptsammlung mit Mitteln gegen diverse Krankheiten) aus etwa derselben Zeit.68 Ein Schlafschwamm sowie ein einschläferndes Pflaster und ein Schlafumschlag werden auch in einem Arzneibuch der mittelalterlichen Medizin- und Arzneischule von Salerno (Ort nahe Neapel) vom Ende des 11. Jahrhunderts beschrieben. Ingredienzien waren hier der Saft von Bilsenkraut, Mohn, Hauswurz, Fetthenne und Dickblatt, Malve, Lattich, Stachellattich, Tollkirsche, Alraune sowie „omnes succos frigidatum herbarum“, also alle Säfte „kalter“ oder kühlender Kräuter. In diese Mischung taucht man einen Schwamm ein, trocknet ihn über dem Feuer, taucht ihn wieder ein, trocknet ihn usw., bis der gesamte Saft aufgenommen ist. Danach bewahrt man den Schwamm für den Bedarfsfall gut auf. Tritt dieser ein, so nimmt man Bilsenkraut und Mohn, kocht diese Kräuter in Wasser und hängt den präparierten Schwamm über den Kessel, wobei er das Wasser nicht berühren darf, jedoch den Dampf aufzunehmen vermag. Der fertig präparierte Schwamm ist alsdann dem Patienten auf das Haupt zu geben. Mit dem Wasser soll man Umschläge um Fuß und Schienbein machen, damit auch das Scheitelbein einreiben und den Hinterkopf darauflegen. Dies alles „ruft Schlaf hervor und hilft viel“.69 Der mittelalterliche Glaube an eine transzendentale Welt und göttliche Gerechtigkeit, der den diesseitigen Schmerz zwar stets als Leid, theologisch aber als auch Teilnahme am „Mysterium Crucis“, am Kreuzestod Christi, ansah, hätte die Menschen eigentlich in den Stand setzen sollen, ihn mit Gleichmut zu ertragen. Umso mehr fällt der ausgiebige Gebrauch von Opium und anderen Drogen mit narkotischen Inhaltsstoffen in der Fachliteratur des Mittelalters auf. Von den 140 Präparaten des in Salerno konzipierten „Antidotarium Nicolai“ (12. Jahrhundert) enthalten nicht weniger als 29 Opium, 19 Hyoscyamus und 14 Mandragora. Davon werden in 9 Zubereitungen alle drei Drogen verarbeitet. Eine der volkstümlichsten Salbenzubereitungen des Mittelalters war das „Unguentum populeon“, die Pappelsalbe, die neben aromatischen Pappelknospen und anderen Ingredienzien meist Mohn und Solanaceendrogen enthielt. Die
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Franz Josef Kuhlen und Rudolf Schmitz: Von Hexen und Drogenträumen, Arzneimittelmißbrauch in Mittelalter und früher Neuzeit, in: Dt. Apotheker Ztg. 124, 1984, S. 2195–2202. Kuhlen – Schmitz: Schmerz- und Betäubnungsmittel, S. 13.
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beiden folgenden Rezepte für solche Narkotika sind den Rezepturen der Hexensalben recht ähnlich: Das „Oleum mandragoratum“ (Alraunöl) war bei Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen sowie Phrenesis (Wahnsinn) indiziert und sollte auf die Stirn, in die Nase sowie auf den Puls der Arme und die Fußsohlen aufgebracht werden. Es besteht aus Olivenöl (2 Pfund), dem Saft von Alraunfrüchten (4 Unzen), weißem Bilsenkraut (2 Unzen), schwarzen Gartenmohnköpfchen (3 Unzen), Knospen frischer Veilchen, beiden Schierlingsarten (Wasser- und geflecktem Schierling, je 1 Unze) sowie Opium und Storax (je ½ Unze). Bei der Zubereitung waren alle Säfte in den größten Teil des Öls zu geben und 10 Tage der Sonne auszusetzen. Am 11. Tag sollte das Ganze gekocht, gekühlt und durch ein Tuch abgeseiht werden. Dem Filtrat war das im restlichen Öl gelöste Storaxharz hinzuzufügen und das Gemisch in einem verschlossenen Gefäß aufzubewahren. Bei der „Requies magna vel magna medicina“ (Große Ruhe oder große Medizin) handelt es sich um einen Sirup aus Rosen, Veilchen (je 3 Drachmen), Opium, Bilsenkraut, Mohnpresssaft, weißem Mohn, Alraune, Stachellattich, Lattich, Portulak‑ und Flohsamen, Muskatnuss, Zimt, Zucker (je 1 ½ Drachmen), weißem, rotem und gelbem Sandelholz, Knochenkohle und Traganth je 2 ¼ Skrupel)70. Auch Hildegard von Bingen (1098–1179) muss die toxische Wirkung der Solanaceen und anderer Narkotika gekannt haben, wenn sie vor dem innerlichen Gebrauch von Hyoscyamus (bei ihr ,,Bilsa“ genannt) warnt. Opium erwähnt sie überhaupt nicht, sieht die Gefährlichkeit der Nachtschattengewächse als Folge teuflischer Machenschaften: Die Tollkirsche („dolo“) hat Kälte in sich, aber zugleich auch Ekel und Betäubung, und auf die Gegend und auf den Boden, wo sie wächst, hat der Teufel seine diabolischen Einflüsse. Ihr Genuss ist dem Menschen gefährlich, weil sie den Geist zerrüttet, als ob er tot wäre [Hinweis auf die Phase der Betäubung bei den Hexensalben]. […] Der Alraun (Mandragora) […] stammt aus der Erde, von welcher Adam gemacht ist; die Wurzel ist dem Menschen etwas ähnlich, deswegen gerade ist die Pflanze den Einflüsterungen und Nachstellungen des Teufels mehr als andere Pflanzen ausgesetzt.71
Der Straßburger Wundarzt Hieronymus Brunschwig (um 1450–1512), veröffentlichte 1497 seine „Cirurgia. Hantwirckung der wund artzny“.
70 71
Ebd. Ebd., S. 14.
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Abb. IV.11: Titelblatt der Erstausgabe der „Cirurgia“. Dies war das erste in deutscher Sprache gedruckte Buch über Chirurgie. Darin finden sich an Schlaf‑ und Betäubungsmitteln ein Pflaster, eine Salbe („Unguentum populeon“) und ein Trank, der aus Tollkirschenwurzel, Bilsenkrautsamen, weißem und schwarzem Mohn, orientalischem Safran, Alraunwurzel, Aloeholz, Zimt und Bibergeil (von Bibern gebildetes Sekret zur Fellpflege; vielfache medizinische Anwendungen bis ins 19. Jahrhundert) zusammengesetzt war. Von diesem werden 2 Drachmen (ca. 8 Gramm) mit Malvasierwein gekocht und zu trinken gegeben. Ebenfalls in Straßburg erschien 1517 das „Feldtbuoch der wundtartzney“ des Hans von Gersdorff, gen. Schylhans (um 1455–1529), der wahrscheinlich aus Sachsen oder der Lausitz stammte und sich 40 Jahre lang auf Feldzügen v. a. in der Schweiz, dem Elsass und in Lothringen herumgetrieben hatte. Sein Buch kennt ebenfalls einen Schlafschwamm, ferner Hypnotika und Narkotika in Form eines Pflasters, einer Salbe, eines Tranks und dazu zwei Pillenvorschriften. Brunschwig warnt aber: 202
Ettlich geben inen opium allein on zusatz. Do hüt dich vor, dann sye werdent gern schöllig und unsinnig darvon.72
Der Arzt und Mathematiker Hieronymus Cardanus (Geronimo Cardano, 1501–76), teilt in seinem Werk „De subtilitate“ (1550) ebenfalls ein Salbenrezept mit. Seine Flugsalbe enthielt Kinderfett, Eppichsaft, Wolffskraut (Eisenhut), Tormentill (Blutwurz), Solano (Nachtschatten, wohl Bilsenkraut) und Ruß. Die Salbe bewirke, dass man wunderbare Dinge zu sehen meine: Die ding aber, ob welche sie ire augen verweitern /sind mehrertheils Spielhäuser /grüne Lustplätz /herrliche Malzeiten /viel und mancherley gezierde /hüpsche kleider /schöne Jüngling /König /Oberherrn /ja alles darnach ihnen bang und watz ist [wonach sie sich sehnen] /sie vermeinen auch nicht anders /denn daß sie solcher kurtzweil und wollusts gemessen und gefreuet werden.73
Aber auch unerfreuliche Erscheinungen kamen vor, bei denen einem „Teuffel /Raben /Kercker / Einödinen /und des Henckers oder Volterers [Foltermeisters] gauckelsack“ vor Augen stünden. Das aufwendigste und mit genaueren Angaben als sonst versehene Rezept stammt von Johannes Weier selbst bzw. von nicht genannten Gewährsleuten und findet sich in seiner Hexenschrift „De praestigiis“. Dazu benötigte man Semina lolli (Taumellolch), Hyosciami (Tollkirsche), Cicuta (Wasser‑ oder Fleckenschierling), Papaveris rubei et nigrae (roter und schwarzer Mohn), Lactuca (Lattich, wahrscheinlich Giftlattich), Portulaca (Portulak), jeweils vier Teile und Solanum (Nachtschatten allgemein, hier vermutlich Bilsenkraut), einen Teil. Die Bestandteile wurden mit Öl zu einer Salbe verrührt und abschließend mit einem Teil Opium versetzt. Ein Scrupel (etwa 1,2 Gramm) dieser Mischung verursachte eingenommen (nicht eingerieben!) einen zweitägigen „Schlaf “. Möglicherweise hat Weier die Rezeptur selbst nachgearbeitet und erprobt – allerdings fehlt ein direkter Hinweis auf einen Selbstversuch. Er kenne, so schreibt Weier, noch ein anderes Rezept, so wirksam, dass ein Tropfen davon eine Stunde Rausch bringe, doch „es bedünckt mich besser [zu] sein /dass es nicht jedermann kundtbar werde“74. Alle angeführten Rezepte enthalten hochwirksame pflanzliche Drogenstoffe, die durchaus diverse Halluzinationen erzeugen können. Wenn die Anwendung solcher Salben mit bestimmten rituellen Vorstellungen verbunden war, stellten sich ganz natürlicherweise auch entsprechende Traumbilder ein. Interessant ist der Umstand, dass die Rezepturen als Salben angewendet und nicht etwa geschluckt wurden. Dies spricht dafür, dass die „Hexensalben“ ursprünglich als Schmerzsal72 73 74
Ebd., S. 14. Weier, S. 193. Ebd.
203
ben und bei Operationen Verwendung fanden und nach ihrer Übernahme durch die Volksmedizin von magische Riten praktizierenden Frauen (und einigen wenigen Männern) als halluzinogene Drogen bei Zusammenkünften genutzt wurden; im Laufe der Zeit verlagerte sich der Gebrauch auf einzelne Personen und die rituellen Zusammenkünfte wurden nur noch imaginiert. Weier spricht von einem zweitägigen Rausch bei Einnahme von einem Scrupel bzw. einer einstündigen Wirkung für jeden Tropfen des nicht offenbarten Rezepts. Dies unterstreicht einerseits die relative Gefährlichkeit dieser Drogenzubereitungen und belegt andererseits die pharmakologischen Kenntnisse der Anwenderinnen; denn bei einer Einreibung setzte die Wirkung langsamer und dosierter ein und ließ sich besser steuern, da die Aufnahme der Substanzen durch die Haut erfolgte. Wesentliche neue Erkenntnisse zum Verständnis der Hexensalben und zum Gebrauch narkotisierender Substanzen aus der Familie der Nachtschattengewächse verdanken wir den Forschungen von Franz-Josef Kuhlen, einem Apotheker und Pharmaziehistoriker, der sich mit diesen Themen intensiv beschäftigt und selbst Flugsalben hergestellt hat. Die These Kuhlens lautet zusammengefasst wie folgt: Entgegen einer allgemein verbreiteten Ansicht gab es in der Antike, im Mittelalter und der Frühneuzeit bis etwa 1600 eine weitverbreitete Praxis der Anwendung schmerzstillender bzw. narkotisierender Mittel. Diese Präparate wurden in Apotheken hergestellt und enthielten in der Regel Mischungen aus Opium und Solanaceen nebst weiteren Bestandteilen. Die Zusammensetzung und auch die Anwendungsform als Salbe entsprach den Hexensalben. In den Kräuterbüchern des 16. und 17. Jahrhunderts ist allgemein ein starkes Zurücktreten des medizinischen Gebrauchs der Solanaceen zu konstatieren, während die Opiumpräparate überhandnehmen. Die Solanaceen geraten geradezu in Verruf. Kuhlen sieht die Gründe hierfür in den immer mehr ausufernden Hexenprozessen und dem damit im Zusammenhang stehenden öffentlichen Bekanntwerden der „Hexensalben“ bzw. von deren Gebrauch durch die „Hexen“. Welcher Arzt oder Wundarzt wollte in einer Zeit allgemeinen Hexenwahns und der Furcht vor Denunziation das Risiko eingehen, mit der Herstellung und Anwendung von Hexensalben in Verbindung gebracht zu werden? Um 1600 verschwinden Solanaceen‑Opium‑Kombinationen aus dem regulären Arzneischatz und werden durch allein auf Opium basierende Präparate ersetzt. Doch hierdurch konnte ein dem heute durch Kombination von Scopolamin und Morphinderivaten erzeugten „Dämmerschlaf “ entsprechender Zustand bei Operationen nicht mehr erreicht werden. Infolgedessen verzichtete man bis zur Einführung von Äther und Chloroform im 19. Jahrhundert ganz auf Betäubung, so dass ein chirurgischer Eingriff ohne Schmerz undenkbar wurde. Dieser Verlust pharmakologischen Wissens bewirkte für unzählige Menschen unnötiges Leid; es ist bisher kaum wahrgenommen worden, dass diese Entwicklung ursächlich mit den Hexenverfolgungen zusammenhängt. Die Bestandteile der Flugsalben stammten von Pflanzen, die stark mit magischer Bedeutung aufgeladen waren. Bei den wichtigsten, nämlich Tollkirsche, Bilsenkraut und Alraune, verbinden sich magisches und medizinisches Wissen zu einem Geflecht volksmagischer Vorstellungen. 204
Die Tollkirsche Der lateinische Gattungsname der Tollkirsche, Atropa belladonna, ist der griechischen Mythologie entlehnt, in der Atropos eine Schicksalsgöttin war, die den Lebensfaden durchschnitt. Belladonna wird von der pupillenerweiternden Wirkung des Atropins abgeleitet, die die Damen verführerisch und reizvoll erscheinen ließ. Es ist auffallend, dass alle Hexenkräuter Wirkstoffe enthalten, die sowohl halluzinogen als auch aphrodisierend wirken. Daher wurde die Tollkirsche schon in der Antike auch als Liebenszaubermittel benutzt.
Abb. IV.12: Die Frucht der Tollkirsche. Es waren insbesondere die Frauen, die sich mit Zauberei und Magie beschäftigten und sich in Liebesdiensten gefällig erwiesen [die Belladonna benutzten]. Die Menschen wurden selbst wider ihren Willen zur Liebe angetrieben, der Geschlechtstrieb gereizt und die moralische Zügelung gelähmt.75
Der Arzt und Botaniker Leonhard Fuchs (1501–66) erwähnt die Tollkirsche in seinem berühmten, 1543 in Basel erschienenen „New Kreüterbuch“ unter dem Namen „Dollkraut“. Er zählt sie zu recht zu den Nachtschattengewächsen, bringt sie aber auch in Verbindung mit der Alraune, die er als eigene Art betrachtet. Fuchs warnt eindringlich vor der Giftwirkung der Tollkirsche, die „schellig und unsinnig macht“ und sehr leicht zum Tod führt: 75
Schwamm, S. 265, zitiert nach Claudia Müller-Ebeling und Christian Rätsch: Lexikon der Liebesmittel, Aarau 2003, S. 675.
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Das Dollkraut ist ein feiner staud / etwan dreier elen [3 Ellen = ca. 1 Meter] hoch / mit neben ästen als ein böumlin (Bäumchen) gestalt. Die stengel seind zum teyl kestenbraun [kastanienbraun] /die bletter aber vergleichen sich mit dem zamen und gemeinen Nachtschatten/von welcher wegen es mag under die Nachtschatten gerechnet und gezelt werden. Sonst scheint es mehr zu sein ein geschlecht der Alraun.76
Das Bilsenkraut Das zweite Nachtschattengewächs ist das unheimliche Bilsenkraut, auch Teufelsauge, Teufelskraut, Teufelshoden, Schlafkraut oder Saubohne (nach griechisch Hyoskyamos) genannt.
Abb. IV.13: Die Blüte des Bilsenkrauts. 76
Fuchs, Cap. CCLXV.
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Es ist eine unangenehm riechende, düster wirkende Pflanze, die 1‑Hyoscyamin und daneben auch Scopolamin enthält, letzteres in höherer Konzentration als die Tollkirsche. Der Gesamtalkaloidgehalt liegt mit maximal 0,2 Prozent allerdings deutlich niedriger als bei dieser, weshalb tödliche Vergiftungen nicht bekannt wurden. Das Bilsenkraut wurde seit der Antike als Heil‑, Gift‑ und Zauberpflanze geschätzt und gefürchtet. Dank seines Gehalts an Scopolamin hat es noch stärker aphrodisierende Eigenschaften als die Tollkirsche. Bei den Kelten hieß das Bilsenkraut „Belinuntia“, was so viel wie „Kraut des Sonnengottes“ bedeutet. Auf die Bedeutung des Wortes „Bil“ als göttliche oder magische Kraft wurde schon oben hingewiesen; eine der Asen hieß Bil und „Bilröst“ oder „Bilfröst“ ist der Name der Regenbogenbrücke, die Midgard mit Asgard verbindet, also die Verbindung zwischen der Welt der Menschen und der himmlischen Wesen herstellt. Die Orakelpriester und Seherinnen des Sonnengottes Apollo richteten mit Hilfe des Bilsenkrauts den Blick in Vergangenheit und Zukunft; es war auch das Kraut der schauerlichen Hekate, die auf der Hexeninsel Samothrake in einer Höhle hausen sollte und als Mutter der Skylla und Schutzgöttin der berüchtigten thrakischen Hexen galt. Sie ist in der griechischen Mythologie die Göttin der Magie, der Theurgie und der Nekromantie (Totenbeschwörung). Sie ist die Göttin der Wegkreuzungen, Schwellen und Übergänge, die Wächterin der Tore zwischen den Welten, entspricht somit recht gut der mythologischen Bedeutung von „Bil“. Bei den alten Germanen war bilsa, pilsen oder pilsenkrut ein wichtiges Zaubermittel, das u. a. den sogenannten „Vergessenstränken“ zugemischt wurde. Die alten Ägypter, denen vermutlich die Erfindung des Bieres zu danken ist, fügten ihrem Gebräu gerne die verwandte Alraune bei. Vor der Einführung des Hopfens als – mild stimulierender und konservierender – Bestandteil des Bieres wurde diesem bei uns Jahrhunderte hindurch Bilsenkrautextrakt beigemischt, um die berauschende Wirkung zu erhöhen. Es heißt, dass die Stadt Pilsen ihren Namen vom Bilsenkraut habe. Mit der Verkündung des bayerischen Reinheitsgebotes für Bier von 1516 – so betrachtet nicht nur das erste Lebensmittel‑, sondern auch das erste Antidrogengesetz – sollte diesem Missbrauch gesteuert werden; nicht unbedingt mit Erfolg, denn ein bayerisches Polizeimandat von 1715 bestimmte: Wer aber andere Kräuter und Samen [als die im Reinheitsgebot erlaubten Hopfen und Malz], fürnehmlich Bilsen in das Bier tut, der soll, wie der Verkäufer solcher Kräuter, nach Ungnaden bestraft werden. 77
77
Compendium Electoralis Juris Bavarici. Das ist ein kurtze Verfassung der Landtrecht etc., Ingostadt 1715, S. 434.
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Die Alraune Das geheimnisvollste aller Hexenkräuter ist sicherlich die Alraune, auch Mandragora, Hundsapfel, Zauberwurzel, Atzmann, Hexenmännlein und Galgenmännlein genannt. Um kaum eine andere Pflanze ranken sich mehr Mythen und Sagen, ihr weich und dunkel klingender Name weckt auch heute noch eine schwache Ahnung jener magischen Kraft, die man ihrer scheinbar menschenähnlichen Wurzel einst zuschrieb. Im östlichen Mittelmeerraum beheimatet, verbreitete sich ihr Gebrauch durch ganz Europa, wobei auch zahlreiche Fälschungen vorkamen, d. h. andere, der Wurzel der Alraune ähnliche Wurzeln – z. B. die Zaunrübe – teuer verkauft wurden. Wie stark der Glaube an die übernatürlichen Kräfte der Alraune selbst in der heutigen Zeit noch ist, zeigt sich daran, dass im Jahr 1955 in Oberbayern ein Landfahrer für 30 bis 50 D-Mark pro Stück angebliche Alraunenwurzeln an die Bauern verhökerte, die sich als Wurzeln von Salat entpuppten. Der Name Alraune scheint mit dem gotischen Wort „runa“ (Geheimnis) zusammenzuhängen, von dem sich die Runenschrift und unser „raunen“ herleiten. Der im Altertum im eigentlichen Verbreitungsgebiet der Pflanze entstandene Name Mandragora soll aus dem Persischen abgeleitet sein und „Liebeskraut“ bedeuten, ein deutlicher Hinweis auf ihre aphrodisische Wirkung. Die besondere Bedeutung der Alraune als Zauberpflanze lässt sich auf zwei Umstände zurückführen, nämlich ihren Gehalt an psychogenen Alkaloiden und ihre Form.
Abb. IV.14: Alraune in Menschengestalt. Miniatur in einem Kräuterbuch des 16. Jahrhunderts. An die Füße der Alraunenfigur ist ein Hund gebunden, der die Alraune aus der Erde zieht und dabei stirbt. 208
Die Alraune enthält bis zu 0,4 Prozent Gesamtalkaloide, hauptsächlich Scopolamin, wirkt also in gleicher Weise wie die oben behandelten Nachtschattengewächse. Hinzu kommt bei ihr aber noch die auffallende Form der Wurzelknolle, die entfernt menschenähnlich ist. Schon Pythagoras nannte sie deswegen „Anthropomorphos“ (menschenähnliche Pflanze), und der griechischen Mythologie zufolge erwuchs sie aus dem zu Boden tropfenden Lebersaft des an den Felsen geschmiedeten Prometheus. Man erkennt hier den Bezug zu magischen Kräften der Alraune, die, wie ursprünglich alle Rauschdrogen, durch ihre Wirkung eine Verbindung zwischen der Welt der Menschen und jener der Götter schaffen und damit übernatürliche Kenntnisse – Weissagungen, Orakel – vermitteln sollte. Prometheus, der Gott, der den Menschen die Erkenntnis (in Form des Feuers) brachte und ihnen damit die Unabhängigkeit von den Göttern – aber auch den Verlust des paradiesischen Einklangs mit der Götterwelt – bescherte, stellt in seinem Leiden das Mittel bereit, das die zerbrochene spirituelle Verbindung, wenn auch nur temporär, neu erschafft. Die Alraune spielte nicht nur eine wichtige Rolle in der antiken Sagenwelt, sie war auch, zumindest seit dem Mittelalter, Bestandteil der Volksmagie. Dabei verwandelte sie sich von einer Götter‑ in eine Teufelspflanze, eine für viele nicht genuin christliche Glaubensvorstellungen und Verhaltensweisen des Abendlandes typische Entwicklung. Aufgrund ihrer menschenähnlich geformten Wurzel war sie ein ideales Objekt der sogenannten Signaturenlehre, die von der Annahme ausging, dass eine innere Beziehung zwischen der Form eines Gegenstandes und seiner innewohnenden Kraft bestehe, auf andere Gegenstände oder Geschehnisse zu wirken. Die Alraune teilte so eine magische Wesensverwandtschaft mit dem Menschen, die der Kundige entweder zum Guten oder Bösen nutzen konnte. Dieser Aspekt der magischen Anwendung der Alraune drückt sich in ihrem vielfachen Gebrauch als Talisman aus, wobei selbstverständlich ihr Alkaloidgehalt wirkungslos blieb. War man glücklicher Besitzer dieser Wurzel, so konnte man Verborgenes und Zukünftiges erkennen, oder damit im Sinne eines Sympathiezaubers anderen Menschen Schaden zufügen, indem man die Wurzel malträtierte, oder sie zur Liebe zwingen, indem man die Wurzel liebkoste. Später kam noch die Vorstellung vom „Galgenmännlein“ zum Komplex der Alraune‑Mythen hinzu. Danach wuchs die Wurzel aus dem auf den Boden tropfenden Samen eines Gehenkten – eine vielleicht auf germanische Glaubensüberlieferungen gegründete Modifikation der Prometheuslegende, die zudem eine Erklärung für die menschenähnliche Form der Wurzel bot. Eine Pflanze mit derartigen Kräften verlangte gehörige Vorsichtsmaßnahmen nicht nur im Gebrauch, sondern bereits beim Ausgraben. Theophrast, der Begründer der antiken Botanik und Schüler des Aristoteles, empfiehlt die Pflanze dreimal mit dem Schwert zu umschreiten um sie dann, mit dem Gesicht gegen Westen, auszugraben, während ein zweiter Mensch im Kreis um die Alraune tanzen und „viel von Liebeswerk“ sprechen solle. Aelian, ein spätantiker römischer Kompilator, spricht in seinem Werk „De natura animalium“ (Über das Wesen der Tiere) auch von der Mandragora, woraus ersichtlich ist, dass ihr eine Sonderstellung, eine animalische Lebendigkeit, eingeräumt wurde. Aelian sagte, die Pflanze sei tagsüber unsichtbar 209
und nur nachts aufzufinden, dann aber relativ leicht, da sie im Dunkeln leuchte. Allerdings war es inzwischen gefährlicher als zu Theophrasts Zeiten geworden, die Mandragora auszugraben, da derjenige, der sie aus dem Boden löste, dem Tode geweiht war. Aelian kennt aber auch eine Methode, trotzdem an die Wurzel zu gelangen: Stellvertretend für den Alraunengräber konnte ein Hund geopfert werden. Dieser sollte mit dem Schwanz an die weitgehend freigelegte Wurzel gebunden und dann mit einem saftigen Stück Fleisch fortgelockt werden; sobald der Hund die Alraune ausgerissen hatte, starb er, wobei nach einzelnen Angaben in anderen Überlieferungen auch ein markerschütternder Schrei der Alraune zu hören gewesen sein soll. Im 16. Jahrhundert begann man, die mit so vielerlei magischen Kräften befrachtete Pflanze etwas kritischer zu beurteilen. In seinem Kräuterbuch empfiehlt Leonhard Fuchs die Anwendung als Schlaf‑, Schmerz‑ und Narkosemittel: Es sein ettlich die sieden die wurtzel des Alrauns in wein biß der dritt teyl inseudt [um ein Drittel des ursprünglichen Volumens eindampfen] / seyhens hernach durch und geben darvon zutrincken ein kleins becherlein vol denen so nit schlaffen mögen / grossen schmertzen haben /und die man ohn alle empfindlichkeit will schneiden oder brennen.78
Fuchs zitiert das Gerücht, die Mandragora könne Elfenbein erweichen und formbar machen, ohne es jedoch zu bestätigen. Er glaubte nicht mehr an die übernatürlichen Kräfte der Wurzel, warnte vielmehr eindringlich vor den „Landbescheissern“, die den Leuten gefälschte Mandragoren andrehen. Darzu liegen [lügen] sie noch vil mehr /das man solche wurtzel muß under dem galgen graben /mit ettlichen Ceremonien und Teufels gespensten /hie on not zu erzelen/welchs lauter lug und betrug ist.79
Auf den festen Glauben an die Kraft der Alraune auch in Kreisen des städtischen Bürgertums lässt der Brief eines Leipziger Bürgers schließen, in dem dieser seinem Bruder die Hilfe der Zauberwurzel zur Behebung seiner großen Probleme anrät: Brüderliche Liebe und Treue und sonst alles Gute bevor, lieber Bruder. Ich habe dein Schreiben überkommen und zum Theile genug wohl verstahn, wie daß du, lieber Bruder, an deinem Huse oder Hove Schaden gelitten hast, daß deine Rinder, Schweine, Kühe, Pferde, Schaafe alles absterben, dein Wein und Bier versäure im Keller, und deine Nahrung ganz und gar zuruckgeht, 78 79
Fuchs, CCI. Ebd.
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und du ob dem allem mit deiner Hausfrauen in großer Zwietracht lebest, welches mir von deinetwegen ein groß Herzeleid ist zu hören. So habe ich mich nun von deinetwegen höchlich bemühet und bin zu den Leuten gangen, die solcher Dingk Verstand haben, hab Rath von deinetwegen bei ihnen suchen wöllen und hab sie auch darneben gefraget, woher du solches Unglück haben müßest. Da haben sie geantwortet, du hättest solches Unglück nicht von Gott, sondern von bösen Leuten, und dir könne nicht geholfen werden, du hättest denn ein Alruniken oder Ertmänneken, und wenn du solches in deinem Haus oder Hove hättest, so würde es sich mit dir wol bald anders schiken. So hab ich mich nun von deinetwegen ferner bemühet und bin zu den Leuten gangen, die solches gehabt haben, als bey unserm Scharffrichter und habe ihm dafür geben als nemlich mit 64 Thaler und des Budels Knecht ein Drinkgeld. Solches soll dir nu aus Liebe und Treue geschenket seyn. Und so solltu es lernen, wie ich dir schreibe in diesem Brieve. Wenn du den Erdmann in deinen Hause oder Hove überkömmest, so laß es drey Tage ruhen, ehe du darzu gehest. Nach den drey Tagen so hebe es uff und bade es in warmen Wasser. Mit dem Bade solltu besprengen dein Vieh und die Sullen [Schwelle] deines Hauses, da du und die Deinen übergehen, so wird es sich mit dir wol bald anders schiken und du wirst wol wiederum zu dem Deinen kommen, wenn du dieses Ertmänneken wirst zu Rate halten. Und du solt es alle Jahr viermal baden, und so oft du es badest, so solt du es wiederum in sein Seiden‑Kleidt winden und legen es bey deinen besten Kleidtern, die du hast, so darfstu Ihme nicht mehr thun. Das Bad, darinn du es badest, ist auch sonderlich gut, wann eine Frau in Kindsnöthen ist und nit geberen kann, daß sie ein Löffel voll davon trinket, so bärt sie mit Freuden und Dankbarkeit. Und wann du für Richt oder Rath zu thun hast, so steke den Ertmann bei dir unter rechten Arm, so bekömmstu eine gerechte Sach, sie sey recht oder unrecht. Hiemitt Gott befohlen. Datum Leipzig Sontag vor Faßnacht [17]75. Hanß N.80
Bemerkenswert ist neben dem enormen Preis der Alraune von 64 Talern auch der Scharfrichter als Bezugsquelle. Der Henker war, ebenso wie in den Dörfern die Kräuterweiber, in den medizinischen und magischen Wirkungen und Anwendungen von Drogenpflanzen wohl erfahren.
Fliegende Forscher In der neueren Zeit mangelte es nicht an mehr oder minder wagemutigen Selbstversuchen interessierter Wissenschaftler, die die Wirkungen der Salben an sich testen wollten. Der Pharmakologe Hermann Georg Fühner (1871–1944) kam nach solchen Versuchen im Jahr 1925 zu folgendem Ergebnis: 80
Behringer, Dokument 16.
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Es kann darum keinem Zweifel unterliegen, daß die narkotische Hexensalbe ihr Opfer nicht nur betäubt, sondern auch den ganzen schönen Traum von der Luftfahrt, vom festlichen Gelage, von Tanz und Liebe [so] sinnfällig erleben ließ, daß es nach dem Wiedererwachen von der Wirklichkeit des Erträumten überzeugt war.81
Der Volkskundler Will‑Erich Peuckert (1895–1969) bereitete 1927 eine „Hexensalbe“ aus Bilsenkraut, Tollkirsche, Sellerie und Pferdebohnen, mit der er sich Schläfen und Achselhöhlen einrieb. Seine Eindrücke beschrieb er 1967 so: Wenn die Zusammensetzung der Salben jedem Kundigen schon den Anhalt gibt, dass hier narkotisierende und betäubende Substanzen zu Verwendung kamen, so schien es mir doch richtig, diesbezügliche Versuche anzustellen. Ich ahmte, zusammen mit einem befreundeten Breslauer Rechtsanwalt, vor nunmehr 40 Jahren eine dieser Salben nach, indem wir einen Absud Hyoscyamus, das ist Bilsenkraut, Datura stramonium, das ist Tollkirsche [falsch: Datura stramonium ist der lateinische Name für den Stechapfel, der aber in seinem Alkaloidgehalt den anderen Hexenkräutern ähnelt] herstellten, zusammen mit Sellerie und Pferdebohnen [gemeint: Saubohnen] in eine ölige Mischung brachten und – wie die Hexen – Schläfen und Achselhöhlen damit salbten. Ja etwas Mohn und Aconit [Eisenhut] war noch mit dabei. Und das Ergebnis war ein jenen Salben der Hexen ungefähr entsprechendes; wir träumten erst wilde und dann noch ungehemmte Flüge, darauf wüste Feste, welche einem entfesselten Jahrmarktstreiben glichen und mündeten schließlich in erotische Zügellosigkeiten ein, auf welche das Erwachen und ein arger, ungemütlicher Kater folgte. Alles in allem waren es Träume, die dasjenige erleben machten, was Hexen auf ihren nächtlichen Fahrten und den Sabbathen erlebten, freilich gemäß der Zeit, in der sie und wir lebten. […] Für mich besteht nach diesem Experiment kein Zweifel mehr, dass es im Mittelalter Frauen gegeben hat, die vermutlich die gleiche oder eine ähnliche Salbe benutzt haben und entsprechende Rauscherlebnisse hatten. Hinterher haben sie dann vermutlich den Traum für bare Wirklichkeit gehalten.82
Auch wenn man nicht sagen kann, dass Peuckerts Versuch modernen Anforderungen genügen würde, bestätigen seine Erfahrungen das generelle Bild der physiologischen Wirkungen der Flugsalben.
81
82
Gerd und Marlene Haerkötter: Hexenfurz und Teufelsdreck. Liebes‑, Heil- und Giftkräuter: Hexereien, Rezepte und Geschichten. Frankfurt/M. 1986, S. 65. Haerkötter, w. o. S. 65 f.
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Hexen und Hexenverfolgungen – eine Zusammenfassung Durch die von Theologen und Kirchenrechtlern entwickelte Lehre vom Ausnahmeverbrechen der Hexerei wurde die Magie insgesamt in ein neues Licht gerückt. Nicht nur verschwindet die bis dahin zentrale Komponente der Schadensabwehr und des Heilzaubers, die Magie wird als Abfall von Gott, als Verbrechen an der menschlichen Gemeinschaft insgesamt und als grundsätzlich negativ dargestellt. Zu den im Volksglauben schon vorhandenen Elementen des Schadenzaubers und des Hexenflugs (letzterer allerdings in modifizierter Form als Nachtschar oder Wilde Jagd) kamen als neue Bestandteile der Teufelspakt, die Teufelsbuhlschaft und der Hexensabbat hinzu. Diese wurden von kirchlicher Seite eingeführt, weil nur so die These von der umfassenden, die zeitliche wie überzeitliche Existenz des Einzelnen und der Gemeinschaft gefährdenden Hexensekte plausibel zu machen war. Die ländliche Bevölkerung war seit alters her mit der Anwendung magischer Mittel durch bestimmte Personen vertraut und in den Städten und Klöstern kannte man gelehrte Magier, die sich etwa mit Alchemie und Astrologie beschäftigten. Die hergebrachte Magie wurde nicht als existentielle Bedrohung empfunden, da man darauf vertraute, dass es gegen jeden Schadenzauber auch einen Schutzzauber gebe und die gelehrte Magie sich ohnehin in Bereichen bewegte, die den meisten Menschen fremd waren und sie nicht kümmerten. Dies änderte sich mit der Vorstellung der Hexensekte, die ein Gefühl der ständigen latenten Bedrohung erzeugte. Die Magie wurde damit, zum ersten Mal seit den Zeiten des antiken Babylons, zu einem die ganze Gesellschaft bewegenden und alle Schichten erfassenden Phänomen. Es dauerte bis weit ins 16. Jahrhundert hinein, bis diese neue Wahrnehmung der Magie allgemein verbreitet war, dann jedoch waren die Folgen verheerend. Die traditionelle Form der Magie, die den Teufel keineswegs als notwendigen Teilnehmer voraussetzte, existierte als Volksmagie und als Zauberei weiter, verlor aber an Bedeutung, da ihre Ausübung leicht den Vorwurf der Hexerei mit sich brachte. In dem Maß, in dem Naturkatastrophen, Kriege oder Seuchen bestimmte Gebiete in Mitleidenschaft zogen, wuchsen dort die Hexenverfolgungen an. Die schlimmsten Auswüchse der Hexenjagd fanden in kirchlichen Fürstentümern statt, etwa in den Fürstbistümern Trier, Würzburg und Bamberg, gefolgt von den weltlich regierten Territorien, etwa dem Herzogtum Bayern. Am wenigsten betroffen waren die Freien Reichsstädte, insbesondere solche mit regen Handelbeziehungen. Festzuhalten ist, dass die meisten Menschen zwar die Bedrohung durch die Hexen für real hielten, ohne jedoch die Anschauung der Kirchen zu übernehmen, wonach das eigentlich Schwerwiegende am „Crimen exceptum“ der Teufelspakt und die damit verbundene Abkehr von der Kirche sei. Die Menschen sahen sich nach wie vor von Schadenzauber und gefährlichen dämonischen Einflüssen bedroht, nicht aber von Häretikern. Während des 17. Jahrhunderts verschafften sich in zunehmenden Maß auch Stimmen Gehör, die die Hexenjagd brandmarkten. Kritiker hatte es auch vorher gegeben, etwa Johannes Weier oder Friedrich von Spee (1591–1635), dessen „Cautio Criminalis“, erschienen 1631, die Hexen213
prozesse als der Form nach illegal und inhuman verurteilte. Doch diese Kritiker bekämpften nicht den Glauben an die Hexen, sondern die Art und Weise ihrer Verfolgung. Mit der Aufklärung setzte dagegen ein Denken ein, das das Hexenwesen per se für ein Produkt der Phantasie hielt, weil es sich mit den Normen der rationalen Vernunft nicht vereinbaren ließ.
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Abbildungsnachweise Abb. IV.1: akg-images Abb. IV.2: wikimedia commons /William Adolphe Bouguereau Abb. IV.3: akg-images Abb. IV.4: wikimedia commons /Johann Heinrich Meyer – Matthias Senn: Die Wickiana. Küsnacht 1975 Abb. IV.5: wikimedia commons / Meister des Rosenromans – The Yorck Project (2002) 10000 Meisterwerke der Malerei (DVD-ROM), distributed by DIRECTMEDIA Publishing GmbH. ISBN: 3936122202. Abb. IV.6: wikimedia commons / Gustave Doré – https://ebooks.adelaide.edu.au/m/milton/ john/paradise/complete.html Abb. IV.7: wikimedia commons /Carlo Crivelli – http://www.nationalgallery.org.uk/paintings/ carlo-crivelli-saint-thomas-aquinas 216
Abb. IV.8: wikimedia commons / Michael Herr (1650) – Germanisches Nationalmuseum Nuremberg Abb. IV.9: wikimedia commons /Martin Le France (1410-1461) – W. Schild. Die Maleficia der Hexenleut, 1997, S. 97 Abb. IV.10: wikimedia commons / Unbekannt – http://www.portraitindex.de/documents/obj/ oai:baa.onb.at:8362609 Abb. IV.11: wikimedia commons / Unbekannt – Hieronymus Brunschwig. Buch der Cirurgia, PD-alt-100 Abb. IV.12: wikimedia commons /Ragnar1904 – Own work, CC BY-SA 4.0. Abb. IV.13: wikimedia commons /H. Zell – eigenes Werk, CC BY-SA 3.0 Abb. IV.14: akg-images /British Library
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Teil V Naturmagie in der Renaissance Am Ende des Mittelalters in Europa steht eine Reihe umwälzender Veränderungen, die ganz unterschiedliche Daseinsbereiche betrafen und das Leben der meisten Menschen nachhaltig beeinflussten. In der Geschichte der Menschheit kommt es immer wieder vor, dass eine „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ zu beobachten ist. Mit diesem Ausspruch meinte dessen Schöpfer, der marxistische Philosoph Ernst Bloch (1885–1977), eigentlich, dass der Einzelne in einer je eigenen Zeit lebt, entsprechend seiner Sozialisation und seines ideologischen Bewusstseinsstandes. Diese Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen lässt sich aber auch auf das Nebeneinander epochenprägender kultureller Prozesse anwenden. Die finstere Welt der Inquisition existierte zeitgleich und parallel mit einem außerordentlichen geistigen Aufbruch der europäischen Völker, der sich aus gänzlich anderen Wurzeln nährte und in eine gänzlich andere Richtung zielte, nämlich der Renaissance. Die Hexenverfolgungen und das Bild der Hexe als Teil einer Verschwörung Satans gegen Gott und die Menschen und die Neubesinnung auf die Antike existierten nebeneinander. Die daraus resultierenden Konflikte und Spannungen prägten das 16. und 17. Jahrhundert und mündeten schließlich in die Epoche der Aufklärung, die zum Ende der Hexenprozesse führte. Die Magie gewann während der Renaissance ebenfalls ein neues Gesicht und trug direkt wie indirekt zum Entstehen des modernen Denkens bei. Im 15. Jahrhundert begann man in Italien damit, auch andere antike Denker als Aristoteles zu rezipieren und studierte die Werke der griechischen Philosophen in der Originalsprache, anstatt korrumpierte lateinische Abschriften zu verwenden. Mehr und mehr bestimmten Plato bzw. die spätantiken Neoplatoniker die Weltsicht der Renaissance. Doch wäre sie tatsächlich nicht mehr gewesen, als ein bloßer Rückgriff auf die Vergangenheit, hätte sie kaum die Kraft gehabt, das Abendland auf den Weg in die Moderne vorzubereiten. Die Renaissance war daher eher eine Wiederentdeckung antiker Kulturtraditionen als eine Wiedergeburt derselben und sie reicht in ihrem Anspruch und in ihren Konsequenzen weit darüber hinaus, indem sie ein neues, nie dagewesenes Bild des Menschen und seines Verhältnisses zur Gesellschaft, zur natürlichen und übernatürlichen Welt und zu sich selbst hervorbrachte. Der bedeutende Kenner des Spätmittelalters Erich Meuthen (1929–2018) bemerkt in seinem Standardwerk „Das 15. Jahrhundert“ (erschienen erstmals 1980) in der Renaissance hätten „in starkem Maße gerade nicht die ‚aufgeklärten‘ Seiten des antiken Heidentums, sondern das […] 218
Dunkle, Geheimnisvolle und Mythische“ gewirkt.1 Zu diesen „nicht aufgeklärten Seiten“ zählt auch die Magie. Meuthens Feststellung konstruiert allerdings einen Gegensatz, den es so nicht gegeben hat. Denn gerade aus der für das „Dunkle, Geheimnisvolle und Mythische“ stehenden und mittlerweile fest im abendländischen Denken verankerten Alchemie heraus entwickelte sich ein neues Konzept der Naturmagie, das über die Grenzen der Suche nach dem Stein der Weisen hinauswies und einen neuen, nicht theologisch-christlich bestimmten Blick auf die natürliche Schöpfung ermöglichte. Dafür war die Hinwendung zu neuplatonischen Ideen, insbesondere dem „Corpus Hermeticum“ maßgeblich. Ironischerweise führte daher gerade die Abkehr von der mittelalterlichen Aristotelik zu einer Vertiefung magisch-mystischer Naturkonzepte.
V.1 Eine Welt im Umbruch Ihren Anfang nahm die Renaissance in der Bildenden Kunst und der Architektur. Filippo Bruneleschi (1377–1446), der geniale Schöpfer der Kuppel des Doms zu Florenz, Lorenzo Ghiberti (1378–1455), dem wir die weltberühmte Bronzetür des Florentiner Baptisteriums verdanken und der Bildhauer Donatello (Donato di Nicolo di Betto Bardi, ca. 1386–1466) stehen am Anfang, Leonardo da Vinci, Michelangelo und Albrecht Dürer markieren ihren Höhepunkt. Neu an der künstlerischen Wahrnehmung sind die Entdeckung der Zentralperspektive und die genaue Wiedergabe der Natur als Vorbild künstlerischen Schaffens. Menschen werden als Individuen gezeigt, nicht mehr als Idealtypen. Neue ist auch, dass in der Renaissance die antike Geringschätzung praktisch-technischer Fähigkeiten verschwindet. Künstler und Ingenieure entwickeln ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein und beginnen ihre Werke zu signieren. Im Vordergrund steht nicht mehr die Philosophie, das Denken in rein abstrakten Kategorien, sondern die konkrete Nutzung mathematischer, physikalischer oder technischer Kenntnisse und Fähigkeiten. Die neuen „arabischen“ Ziffern waren die Voraussetzung für das Rechnen auf dem Papier oder einer Schreibtafel (mit den römischen Zahlen benötigte man ein Rechenbrett). Der erste Druck der Werke von Euklid erfolgte 1482 und in den Folgejahren erschienen eine Reihe weiterer Werke zur praktischen Arithmetik. Gegen Ende des 15. Jahrhundert begann das Zeitalter der Entdeckungen. Die kühnen Unternehmungen von Kolumbus, Vasco da Gama und Fernando Magellan bewiesen, dass die Erde viel größer war, als dies etwa der antike Geograph, Mathematiker und Astronom Claudius Ptolemäus (um 100 – nach 160) vermutet hatte und dass es Völker gab, die vollkommen anders lebten und dachten als die Menschen der Alten Welt. Um zu ihnen zu gelangen, musste man auch auf hoher See navigieren können (die antike Schifffahrt verlief stets in Küstennähe und nie auf 1
Zitiert nach Stuckrad: Astrologie, S. 277.
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den Weiten der Ozeane). 1455 begannen die beiden Astronomen Georg Peurbach (1423–61) und Johannes Müller, genannt Regiomontanus (1436–76) mit einer umfassenden Überprüfung und Neubearbeitung des „Almagest“, des astronomischen Hauptwerks von Ptolemäus. Obwohl Peurbach und Regiomontanus bei der Bearbeitung des Almagest zahlreiche Fehler entdeckten, zweifelten beide nicht an der Richtigkeit des ptolemäischen Systems, sondern nur an der Qualität der Beobachtungsdaten. Die vielleicht tiefgreifendeste Veränderung erfolgte durch Nikolaus Copernicus (1473–1543).
Abb. V.1: Kopernikus. Holzschnitt von Tobias Stimmer, gefertigt nach einem angeblichen Selbstporträt von Kopernikus, 1578. 220
Obwohl sein Name für die „Kopernikanische Wende“, also den Übergang vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltsystem steht, war er alles andere als ein Revolutionär. In Thorn an der Weichsel geboren, studierte er an den Universitäten Krakau und Bologna die Freien Künste und Jura; nach einem kurzen Aufenthalt in Frauenburg in Ostpreußen (heute Frombork, Polen) studierte er 1501– 1503 in Padua Medizin. Anschließend wurde er von der Universität Ferrara, an der er nie immatrikuliert war, zum Doktor des Kirchenrechts promoviert. Sein Onkel Lukas Watzenrode (1447–1512), Bischof des Ermlandes, der ihn schon bisher maßgeblich gefördert hatte, verschaffte ihm nun eine Sinekure in Breslau, die ihm den Lebensunterhalt sicherte, seine Anwesenheit jedoch nicht erforderte. Stattdessen lebte Copernicus bis an sein Ende im Jahr 1543 als Mitarbeiter seines Onkels an dessen Amtssitz Frauenburg, wo er sich in erster Linie mit Verwaltungsproblemen befasste und als Arzt tätig war. Obwohl er sich der Astronomie nur in seinen Mußestunden widmete, kam er zu Ansehen, und wurde 1514 nach Rom zum Dritten Laterankonzil eingeladen, um seine Vorstellungen bezüglich einer Reform des unbrauchbar gewordenen Julianischen Kalenders zu erläutern. In einem grundlegenden Gedankenexperiment versetzte Copernicus die Erde in eine Bewegung um die Sonne und prüfte dann, welche Folgen dies für die Bahnberechnung der Planeten habe. Den Anfang machte er mit der Venus und dem Merkur, deren permanente Sonnennähe (von der Erde aus gesehen), sehr leicht durch eine Kreisbahn um die Sonne erklärt werden konnte. Wenn aber diese beiden Planeten um die Sonne kreisten, war es nicht vorstellbar, dass deren „Sphären“ (kugelschalige Aufenthaltsräume der Planeten und Fixsterne, deren physikalische Realität Copernicus nicht in Frage stellte) ohne Überschneidung mit den Sphären anderer Planeten existieren könnten, sofern diese nicht auch die Sonne umrundeten. Nur durch die Anordnung der Sonne im Zentrum des Planetensystems und eine umlaufende Erde konnte das Sphärengebilde erhalten bleiben und auch die von Ptolemäus gegebene Abfolge der Planten beibehalten werden. Das neue Weltsystem war bis zum Jahr 1510 ausgearbeitet – und blieb dann volle 33 Jahre unveröffentlicht liegen. Offenbar drängte es Copernicus nicht, mit seinen Erkenntnissen an die Öffentlichkeit zu gehen. Dies kann kaum daran gelegen haben, dass er sich nicht der weitreichenden Konsequenzen seiner Theorie bewusst gewesen wäre, eher im Gegenteil. Der griechische Astronom und Mathematiker Aristarch von Samos hatte schon einmal – im 3. Jahrhundert vor Christus – ein heliozentrisches Weltsystem entworfen und sollte deshalb wegen Gottlosigkeit angeklagt werden. Vermutlich befürchtete Copernicus auch für sich ähnliche Anfeindungen, widersprach sein System doch den Worten der Heiligen Schrift. Vielleicht wäre er nie in die Geschichte der Wissenschaften eingegangen, wenn nicht Georg Joachim Rheticus (1514–76), Inhaber des Lehrstuhls für Mathematik und Astronomie an der Universität Wittenberg, der 1539–41 bei Copernicus in Frauenburg gewesen war, im Jahr 1540 einen Bericht, die „Narratio Prima“, über das kopernikanische System veröffentlicht hätte. Als daraufhin jedweder wütende Protest ausblieb, entschloss sich Copernicus wohl nun auch seinerseits zur Publikation, und im Jahr seines Todes, 1543, erschien in Nürnberg das Werk „De revolutionibus orbium coelestium“ (Über die Bewegungen der Himmelskörper), für 221
das die Bezeichnung „epochal“ tatsächlich angemessen ist. Die Aufsicht über den Druck führte in Nürnberg der Astronom und Theologe Andreas Osiander (1496–1552), der dem Text eine anonyme Vorrede anfügte, in der er betonte, dass es sich um eine rein mathematische Theorie handele, die keinen Anspruch erhebe, der physikalischen Realität zu entsprechen. Damit war die Gefahr einer Verfolgung des Autors durch die Kirche gebannt. Dass diese Vorrede ohne Zutun und Kenntnis des Verfassers geschrieben worden war, wurde erst im 17. Jahrhundert bekannt. Billigte man dem kopernikanischen Planetensystem eine physikalische Realität zu, stand die Erde, die Heimstatt des Menschen, nicht mehr im Zentrum des Kosmos und damit der göttlichen Schöpfung. (Dass die Sonne nur ein beliebiger Stern unter vielen anderen sein könnte, konnte sich Kopernikus nicht vorstellen. Giordano Bruno (1548–1600) endete nicht zuletzt wegen dieser Behauptung auf dem Scheiterhaufen.)
Abb. V.2: Giordano Bruno. Kupferstich von Johann Georg Mentzel, 1700. 222
Wenn Gott den Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hatte, so war es plausibel, dass dieser gottähnliche Mensch das eigentliche Ziel und der wesentliche Inhalt der Schöpfung ist und der restliche Kosmos sozusagen Beiwerk. Da war es nicht leicht zu verkraften, dass die Erde nicht mehr das ruhende Zentrum des Universums sein, sondern sich um die Sonne drehen sollte. Zudem gab es dann keine Erklärung für die Schwerkraft, also die Tatsache, dass ein in die Luft geworfener Stein wieder zur Erdoberfläche fällt. Nach Aristoteles geschah dies, weil er seinem „natürlichen Ort“, nämlich dem Zentrum des Kosmos zustrebte. Wenn aber die Erde außerhalb dieses kosmischen Zentrums lag, was sie zwangsläufig tat, indem sie die Sonne umkreiste, dann erhob sich die Frage, weshalb schwere Objekte zu Boden fielen. Außerdem war unklar, welche Kraft eigentlich die Erde auf ihrer Bahn um die Sonne bewegte. Wenn die Erde ein Planet ist (was sie nach dem ptolemäischen System weder im physikalischen noch im philosophischen Sinne war), sind dann nicht auch die übrigen Wandelsterne erdähnlich? Somit würde die Erde ihre Einzigartigkeit ein zweites Mal verlieren und die bisherige Trennung zwischen Himmel und Erde wäre nicht mehr haltbar. Am beunruhigendsten war vielleicht eine weitere Konsequenz, nämlich die fehlende Fixsternparallaxe. Die Fixsterne heißen so, weil sich ihre Stellung zueinander und relativ zur Erde nicht ändert. Solange die Erde im Zentrum des Kosmos ruht, ist das kein Problem; wenn aber die Erde im Jahreslauf einen ungeheuren Kreis um die Sonne beschreibt, sollte eine Winkelverschiebung (Parallaxe) beobachtet werden, was aber nicht der Fall war. (Wie sich viel später zeigte, existiert diese Parallaxe durchaus, allerdings ist so klein, dass sie mit den damaligen Beobachtungsmethoden nicht feststellbar war.) Dies konnte nur heißen, dass die Fixsterne unvorstellbar weit von der Erde entfernt waren. Alles in Allem würde ein „Kopernikanischer Kosmos“ von einem überschaubaren, wohl geordneten, in seinem Aufbau und nach seinem Wesen auf den Menschen bezogenen Ganzen zu einem im Wortsinn unvorstellbaren Gebilde werden, in dem die Erde und der Mensch keine zentrale oder auch nur deutlich bestimmbare Position mehr einnahmen. Die uralte Makrokosmos-Mikrokosmos-Parallele hätte aufgehört zu existieren. Auch wenn solche Folgerungen wohl nur von einigen wenigen, entsprechend gebildeten Personen angestellt wurden, wird ersichtlich, dass der Übergang zum heliozentrischen System weit mehr als nur eine den Menschen als solchen nur am Rande berührende Änderung eines astronomischen Konzepts darstellte, sondern die Fundamente des christlichen Glaubens und der auf ihm beruhenden Weltordnung in Frage stellte. Es kann hier nicht darum gehen, alle kulturellen Innovationen darzustellen, die den Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit ausmachten. Nikolaus Kopernikus wurde eingehender behandelt, weil sein System auch Auswirkungen auf die Naturmagie bzw. die Magie als Ganzes hätte haben müssen. Bemerkenswerterweise sind solche Wirkungen nicht erkennbar. Die Alchemisten und Astrologen scheinen sich um Kopernikus nicht weiter gekümmert zu haben, und auch die christlichen Kirchen ignorierten die Kopernikanische Wende so weit als möglich. Man tat einfach so, als komme dem neuen Planetensystem lediglich eine gewisse theoretische Bedeutung zu, denn beweisen lasse es sich ohnehin nicht. Solange dies so sei, gebe es keinen Handlungsbedarf. Erst als 223
Galileo Galilei (1564–1642) astronomische Beobachtungen machte, die mit dem geozentrischen System des Ptolemäus nicht mehr vereinbar waren, regte sich theologischer Widerstand.
Abb. V.3: Galileo Galilei. porträtriert von Justus Sustermans (1636). Im 15. und 16. Jahrhundert setzte sich allmählich eine geänderte Geisteshaltung durch, die die individuelle Erkenntnis höherstellte als das Vertrauen auf traditionell bekanntes Wissen und die Glaubensdogmen der Kirchen. Allerdings gab es eine Ausnahme, nämlich die mystisch geprägte Überzeugung, wonach die antiken Weisen tiefere Einsichten in das Weltgefüge besessen hätten, da sie der Zeit der Schöpfung von Himmel und Erde nähergestanden hatten. Dieser Glaube an die Prisca Sapientia, die reine ursprüngliche Weisheit, spielte in allen mystisch und okkult geprägten Lehren eine tragende Rolle und basiert auf dem Denken der Gnosis. Während der Renaissance kam es zu dem paradoxen Vorgang, dass einerseits bedeutende Geister den Weg zur modernen Experimentalwissenschaft bahnten, andererseits aber der Neuplatonismus und die Gnosis ebenfalls einen Aufschwung erlebten. 224
V.2 Magier und Alchemisten der Renaissance Am Ende des Mittelalters ändert sich auch das Wesen der Magischen Künste. Zwar werden die tradierten volksmagischen Bräuche und Rituale mehr oder weniger unverändert weitergepflegt, aber nun treten auch historisch greifbare Persönlichkeiten ins Licht der Geschichte, die sich entweder selbst mit irgendeiner Form von Magie beschäftigten, oder denen man dies nachsagte – was ihrem Ruf in der Regel schadete. Zwar gab es solche Gestalten auch schon früher, wie wir am Beispiel von Albertus Magnus gesehen haben, allerdings bildeten sie eine Ausnahme. Im späten 15. und im 16. Jahrhunderts begegnen uns hingegen zahlreiche Gelehrte, die dem Typus des Naturmagiers entsprechen. Eine derartige Form von Magie hatte vorher kaum existiert. Zwar gab es die Alchemie und die Astrologie schon sehr lange, aber speziell die Alchemie verlor nun ihren ganz auf die Suche nach dem Stein der Weisen ausgerichteten Charakter und entwickelte sich zu einer Vorform der Experimentalchemie. In analoger Weise entwickelte sich die Astrologie zur Astronomie. Das Experiment bzw. die Naturbeobachtung werden zu Schlüsselbegriffen der Naturerforschung. Es handelte sich jedoch nicht um Experimente im Sinne heutiger Naturwissenschaften, sondern allgemeiner um das Experiment als Frage an die Natur. Diese Frage war nicht notwendigerweise mit einer bestimmten Erwartungshaltung verbunden. Es war oftmals eher ein neugieriges Erproben: Was passiert, wenn ich dies oder jenes mache? In der „klassischen“ Alchemie gab es diesen Ansatz nicht. Der Alchemist arbeitete hier im Rahmen eines durch die orthodoxe Lehre vorgegebenen theoretischen Rahmens, der das zu erzielende Ergebnis von Anfang an festlegte. Stimmten die Versuchsergebnisse der Laborarbeit nicht mit den Vorgaben überein, war dies die Schuld des Alchemisten und nicht etwa die der ohnehin stets sehr unklaren Beschreibung des Opus Magnum in der Literatur. Sicher wurden auch dabei chemisch bedeutsame Entdeckungen gemacht (etwa die Schwefel- und die Salpetersäure und das „Königswasser“), aber dies geschah eher unbeabsichtigt und wurde nur im Hinblick auf die möglicherweise bessere Auslegung der Texte alchemischer Autoritäten für wichtig gehalten. Dieser Ansatz kehrte sich in der Frühen Neuzeit schrittweise um und öffnete die Alchemie für ihre Entwicklung hin zu naturwissenschaftlichen Chemie. Diese Offenheit für die inhaltlichen Änderungen und Zielsetzungen unterscheidet die Alchemie maßgeblich von der Astrologie. Diese blieb ihrem vorgegebenen Deutungsmuster treu und ignorierte weitgehend die durch Kopernikus und nachfolgend durch Johannes Kepler und Galileo Galilei bewirkten grundlegenden Änderungen, was zur schrittweisen Trennung von der nun viel stärker beobachtend-experimentell ausgerichteten Astronomie führte. Am Beispiel einiger berühmter – und teilweise berüchtigter – Naturmagier dieser Zeit soll der Typus des „gelehrten Magiers“ beschrieben werden. 225
Der Erzmagier Doktor Faust Im kollektiven Gedächtnis des deutschen Sprachraums ragt der Name „Faust“ als Verkörperung des Magiers, Zauberers und Teufelsbündlers hervor.
Abb. V.4: Faust. Der Teufelspakt, Stahlstich von Julius Nisle (um 1840) In dieser Figur vermischen sich die biographischen Spuren einer historischen Person mit den vielfachen Legenden, die sich um Faust ranken und diversen literarischen Bearbeitungen seines Lebens, unter denen die von Goethe natürlich den ersten Rang einnimmt. Zur Biographie Fausts liegen relativ wenige zuverlässige historische Belege vor. Sein Vorname war vermutlich Georg und nicht Johannes, wie oft angegeben, und er kam um das Jahr 1480 zur Welt. Sein Geburtsort ist aller Wahrscheinlichkeit nach das Städtchen Knittlingen in Baden-Württemberg nahe bei Bretten, der Geburtsstadt des Theologen und Mitbegründers der Reformation Philipp Melanchthon (1497–1560). Letzterer kannte ihn, wie sich aus einer Notiz seines Schülers Johann Manlius ergibt. Demnach habe Melanchton erklärt: Ich hab einen gekennet /mit namen Faustus von Kundling (ist ein kleines stettlein /nicht weit von meinem Vatterland) derselbige / da er zu Crockaw [Krakau] in die Schul ging /
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da hatte er die Zauberey gelernet /wie man sie dann vor zeiten an dem ort sehr gebraucht /auch öffentlich solche kunst geleeret hat. Er ging hin und wider allenthalben /und sagte viel verborgene ding.2
An der Universität von Krakau konnte man angeblich das Fach Schwarze Magie studieren.3 Der polnische Magier Johannes Twardowsky der keine historische Gestalt war, soll dort der Legende nach entsprechende Seminare abgehalten haben. Auch er habe einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und ein ähnlich trauriges Ende genommen wie Faust. Vermutlich lieferten die Geschichten um „unseren“ Faust die Vorlage für diesen „Polnischen Faust“. Faust erschien in vielen Städten im süddeutschen Raum. Er trat als Philosoph, Wunderheiler, Alchemist und Wahrsager auf. Viele sahen in ihm allerdings nur einen Betrüger und Hochstapler. Besondere Anfeindungen erfuhr er von Klerikern. Für die Zeit vor 1506 existieren keine gesicherten Belege für Fausts Wirken. 1506 war er in der Nähe von Gelnhausen in Hessen, wie sich aus einem im Jahr 1507 verfassten Brief des Abtes des Klosters Sponheim nahe Rüdesheim in Rheinland-Pfalz, Johannes Trithemius (1462–1516), an den Astrologen und Arzt Johann Virdung (1463–1538/39) ergibt: Als ich im vorigen Jahre aus der Mark Brandenburg zurückkehrte, traf ich diesen Menschen [Faust] in der Nähe der Stadt Gelnhausen an, woselbst man mir in der Herberge viele von ihm mit großer Frechheit ausgeführte Nichtsnutzigkeiten erzählte. Als er von meiner Anwesenheit hörte, floh er alsbald aus der Herberge und konnte von niemandem überredet werden, sich mir vorzustellen. Wir erinnern uns auch, dass er uns durch einen Bürger die schriftliche Aufzeichnung seiner Torheit, welche er dir gab, überschickte. In jener Stadt erzählten mir Geistliche, er habe in Gegenwart vieler gesagt, dass er ein so großes Wissen und Gedächtnis aller Weisheit erreicht habe, dass, wenn alle Werke von Platon und Aristoteles samt all ihrer Philosophie durchaus aus der Menschen Gedächtnis verloren gegangen wären, er sie wie ein zweiter Hebräer Esra durch sein Genie sämtlich und noch treffender wiederherstellen wolle. Als ich mich später in Speyer befand, kam er nach Würzburg und soll sich in Gegenwart vieler Leute mit gleicher Eitelkeit gerühmt haben, dass die Wunder unseres Erlösers Christi nicht anstaunenswert seien; er könne alles tun, was Christus getan habe, so oft und wann er wolle. In den Fasten dieses Jahres kam er nach Kreuznach, wo er sich in gleicher großsprecherischer Weise ganz gewaltiger Dinge rühmte und sagte, dass er in der Alchemie von allen, die je gewesen, der Vollkommenste sei und
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Johann Manlius: Locorum Communium Collectanea. Basel 1563, S. 42 f. (lat.), deutsch 1565 weitere Angaben siehe Paracelsus und Faust.doc. Siehe dazu Hanns Bächtold-Stäubli: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 10 Bde., Berlin und Leipzig 1927–1942, Nachdruck Berlin 2000, Bd. IV, Sp. 140 ff.
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wisse und könne, was nur die Leute wünschten. Während dieser Zeit war die Schulmeisterstelle in gedachter Stadt unbesetzt, welche ihm auf Verwendung von Franz von Sickingen, dem Amtmann deines Fürsten Kurfürst Philipp von der Pfalz (1448–1508)], einem nach mystischen Dingen überaus begierigen Manne, übertragen wurde. Aber bald darauf begann er mit Knaben die schändlichste Unzucht zu treiben und entfloh, als die Sache ans Licht kam, der ihm drohenden Strafe.4
In einem 1513 geschriebenen Brief des Humanisten Mutianus Rufus (1470–1526), der Faust in einer Herberge getroffen hat, wird dieser als „ein bloßer Prahler und Narr“ bezeichnet: Vor acht Tagen kam ein Chiromant nach Erfurt, namens Georgius Faustus Helmitheus Heidelbergensis, ein bloßer Prahler und Narr. Seine Kunst, wie die aller Wahrsager, ist eitel, und eine solche Physiognomie ist leichter als eine Wasserspinne. Die Dummen sind voller Bewunderung. Gegen ihn sollten sich die Theologen erheben, statt dass sie den Philosophen [Johannes] Reuchlin zu vernichten suchen. Ich hörte ihn im Wirtshaus schwatzen; ich habe aber seine Anmaßung nicht gestraft; denn was kümmert mich fremde Torheit?5
Der Namenszusatz „Helmitheus Heidelbergensis“ bezieht sich wohl auf Vermutungen, dass Faust an der Universität Heidelberg studiert haben könnte und sich dort als „Georg Helmstetter“ immatrikuliert habe. Diese Mutmaßungen werden aber nicht durch Fakten gestützt. 1520 erstellte Faust dem Bamberger Fürstbischof Georg III. Schenk von Limpurg ein Horoskop, wofür er 10 Gulden kassierte, wie sich aus einer Hofkammerrechnung ergibt.6 1528 taucht er in Ingolstadt auf, wird dort aber wegen Wahrsagerei ausgewiesen. Die Ratsprotokolle vermerken hierzu: Am Mittwoch nach viti [17. Juni] 1528 ist einem der sich genant Dr. Jörg Faustus von Heidelberg gesagt, dass er seinen Pfennig anderswo verzehre, und hat angelobt, solche Erforderung für die Obrigkeit nicht zu ahnden noch zu äffen.7
Das Todesdatum Fausts ist unbekannt, nicht einmal das Todesjahr lässt sich sicher angeben. Auch ist unbekannt, ob er ein christliches Begräbnis erhielt und wo er begraben wurde. Am
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Brief des Johannes Trithemius an Johann Virdung (1507). Brief des Mutianus Rufus an Henricus Urbanus 1513. Abschrift des Urbanus, Frankfurt/Main, Stadtund Universitätsbibliothek (Cod. lat. oct. 8, fol. 97r). Siehe dazu Volksbuch, S. 44. Günther Mahal: Faust. Die Spuren eines geheimnisvollen Lebens. Bern 1980, S. 235 ff.
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Gasthaus „Zum Löwen“ in Staufen im Breisgau findet sich eine Inschrift, nach der Faust anno 1539 dort verstarb bzw. vom Teufel geholt wurde, nachdem sein 24 Jahre dauernder Pakt mit Mephisto abgelaufen war. Andererseits weisen Angaben in der „Zimmerischen Chronik“, wonach Faust „um die Zeit“ des Regensburger Reichstags starb auf 1541 als Todesjahr hin.8 Ein solcher Mann, eher ein Schelm denn ein Magier, würde keine eingehendere Beachtung verdienen, wenn er nicht als literarische Figur zu solcher Bedeutung gelangt wäre. Um 1575 schrieb nämlich ein anonymer Verfasser eine überwiegend fiktive Biographie Fausts, betitelt „Historia und Geschicht Doctor Johannis Faustij“. Teils wortgetreu, teils leicht verändert und um einige Anekdoten erweitert, wurde die Geschichte des Doktor Faustus durch den Buchdrucker Johann Spiess (ca. 1540–1623) in Frankfurt am Main im Jahre 1587 erstmals als „Historia von Dr. Johannes Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler“ gedruckt.
Abb. V.5: Das Titelblatt der Erstausgabe der Historia von Dr. Johannes Fausten. 8
Froben Christoph von Zimmern: Zimmerische Chronik, hrsg. v. Karl August Barack, Freiburg, Tübingen 1881, Bd. III, S. 529 f.
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Noch im selben Jahr erschien eine Neuauflage mit acht neuen Kapiteln. Weiter ergänzte Druckfassungen kamen 1590 und 1599 heraus. Dieser als Volksbuch des Doktor Faust bekannte Text legte den Grundstein für die literarische Gestalt Fausts als „Erzzauberer“. Als Erster nahm sich Christopher Marlowe (1564–1593) in seinem wohl zwischen 1588 und 1593 entstandenen Drama „The Tragical History of Life and Death of Doctor Faustus“ des Themas an. Auch bei Shakespeare (The Tempest, 1611) und Ben Jonson (The Alchimist, 1610) finden sich Anspielungen. Ist bei Shakespeare der „Fürst Prospero“ noch ein wohlmeinender Magier, der sich gute Engel für das Wohl des Menschen dienstbar machen möchte, so stellt der Alchemist „Subtle“ in Jonsons Stück den sich selbst und andere betrügenden Scharlatan und Goldmacher dar. Von England aus gelangte das Faust-Drama nach Deutschland zurück und wurde ein Jahrhundert lang von wandernden Schauspielertruppen aufgeführt. Spätere Bearbeitungen, u. a. durch Lessing (1759) bereiteten den Boden für den monumentalen „Faust“ Goethes – der wohl bedeutendsten Dichtung deutscher Sprache überhaupt, an der dieser von 1773 bis 1832 arbeitete. Goethes Faust, vielleicht aber auch schon frühere dichterische Bearbeitungen, prägten das Bild des deutschen Gelehrten seit der Romantik maßgeblich. Das „Volksbuch“ weicht von der historischen Realität ab und verlegt Geburtsort und Wirkungskreis des Doktor Faust vom Südwesten Deutschlands nach Mitteldeutschland. Generell handelt es sich bei diesem Text nicht um eine mehr oder minder korrekte Lebensbeschreibung des historischen Fausts, sondern um ein Werk der Dichtung mit einem klaren Ziel: Die Warnung vor dem Abfall von Gott um irdischen Glückes willen. Faust, der Sohn armer Bauersleute, sei in der Grafschaft Anhalt geboren worden, heißt es. Ein wohlhabender Oheim habe sich des Knaben angenommen und ihm eine gute Ausbildung ermöglicht, die in einem Studium an der Universität Ingolstadt, der Verleihung der Magisterwürde und dem Doktorhut der Theologie gipfelte. Dennoch war der junge Doktor unzufrieden, denn er hatte „einen thummen unsinnigen und hoffertigen Kopf /wie man ihn denn allezeit den Speculierer genennet hat“. Er kümmerte sich nicht mehr und die Religion und die Heilige Schrift und geriet in schlechte Gesellschaft: Zu dem fand D.[oktor] Faustus seines gleichen / die gingen mit Chaldeischen / Persischen /Arabischen und Griechischen Worten /figuris /chrarcetribus /coniurationibus /incatntationibus /und wie solche Namen der Beschwerung und Zauberes genennet werden [um].9
Faust wollte seinen Wissensdrang mit Hilfe der Magie stillen, den Theologie und Religion nicht befriedigen konnten. Damit machte er sich schuldig, weil er die Grenzen der gottgegebenen Einsicht in die Welt überschreiten wollte. In gewisser Weise wiederholte Faust die Erbsünde, indem 9
Volksbuch, S. 14. Siehe: Historia von D. Johann Fausten. Kritische Ausgabe Stuttgart 2006; künftig nur als „Volksbuch“ zitiert.
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er vom Baum der Erkenntnis naschte. Faust wandte seine magischen Künste an, um den Teufel zu beschwören. Dazu ging er in einen Wald bei Wittenberg: Kame also zu einem dicken Waldt / wie etliche auch sonst melden / der bey Wittenberg gelegen ist /der Spesser Wald genandt [damit kann nicht der Spessart gemeint sein, evtl. der bei Wittenberg gelegene „Speckwald“] wie dann [später] D. Faust selbst bekandt hat. In diesem Wald gegen Abend [im Westen des Waldes] in einem vierigen Wegschied [an einem Kreuzweg] machte er mit einem Stab etliche Circkel herumb […] beschwure also den Teuffel in der Nacht /zwischen 9. und 10. Uhren.10
Die Beschwörung war erfolgreich – der Teufel erschien und bot dem angehenden Magier allerhand erschreckende wie auch verlockende Erscheinungen. Bei einer zweiten Beschwörung schlägt Faust dem Teufel einen Pakt vor, den dieser aber ablehnt, weil er nicht ermächtigt sei, diesen Handel zu schließen. Dazu bedürfe es der Zustimmung des Lucifer persönlich. Nach weiteren Verhandlungen kommt schließlich folgender Teufelspakt zustande: Ich Johannes Faustus D. bekenne mit meiner eygen Handt offentlich /zu einer Betsettigung /und krafft dieses Brieffs /Nachdem ich mir fürgenommen die Elementa zu speculieren / und aber auß den Gaben / so mir von oben herab bescheret / und gnedig mitgetheilt worden /solche Geschickligkeit in meinem Kopff nicht befinde /und solches von dem Menschen nicht erlernen mag / so hab ich gegenwärtigen gesandten Geist / der Mephostopheles [sic] nennet /ein Diner deß Hellischen Printzen im Orient /mich untergeben /auch demsebigen /mich solches zu berichten und zu lehren /mir erwehlet / der sich auch gegen mir versprochen in allem underthenig unnd gehorsam zuseyn. Dagegen aber ich mich hinwider gegen ihne verspriche und gelobe / daß so 24. Jahr / von Dato diß Brieffs an /herumb und fürüber gelauffen /er mit mir nach seiner Art und wieß /seines Gefallens /zuschalten /walten /regieren /führen /gut gemacht haben soll /mit allem /es sey Leib /Seel /Fleisch /Blut und gut /und das in sein Ewigkeit. Hierauff absage ich allen denen / so da leben / allem Himmlischen Herr / und allen Menschen / und das muß seyn. Zu festem Urkundt unnd mehrer Bekräfftigung / hab ich diesen Receß [altertümlich für „Vergleich“, gemeint ist „Vertrag“] eigner Hand geschrieben / underschrieben /und mit meinem eygen Blut /meines Sinns /Kopffs /Gedancken und Willen /verknüpfft /versiegelt und bezeuget.11
10 11
Ebd., S. 15. Volksbuch, S. 23.
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Ein solcher Vertrag musste jedem guten Christen abscheulich vorkommen und das war wohl auch die Absicht des „Volksbuches“. Wenn es den Teufel gibt, muss es auch Gott geben und niemand käme auf die Idee, ewige Höllenqualen gegen 24 Jahre irdischen Glücks zu tauschen. Sein teuflischer Partner Mephistopheles musste ihm nun zu Diensten sein; er gab Faust ein Zauberbuch, das dieser in seinem Testament seinem Famulus Wagner vermachte. Mit diesem Buch und Mephistos Hilfe konnte Faust nun nach Belieben allerlei magische Künste praktizieren. Fausts weltlicher Erkenntnisdrang wird in wenigen Abschnitten abgehandelt und erschöpft sich in Trivialitäten. Auf Fausts Frage, was an der Astrologie Wahres sei, erklärt Mephisto, dass zwar er und seine teuflischen Gefährten in der Lage seien, die Zukunft vorherzusagen, weil sie „unter dem Himmel schweben /die Vergängnuß [Ratschlüsse] Gottes sehen /abnemmen /und ergründen können“. Die alten Astrologen, die selbst 500 oder 600 Jahre alt geworden seien, hätten aufgrund ihrer langen Erfahrung Ähnliches zu leisten vermocht, „aber alle Junge und unerfahrne Astrologi machen ihre Practica nach gutem Wohn und Gutdüncken“.12 Auf solche Weisheit hätte man auch ohne Teufelspakt kommen können. Von gleicher Naivität ist Fausts Frage, wieso es Winter und Sommer gäbe. Mephisto antwortet darauf: „Mein Herr Fauste /Kannst du solches als ein Physicus / nicht selbsten sehen?“13 Er gibt dann jedoch eine Erklärung, die die realen Verhältnisse auf den Kopf stellt, indem er sagt ,,solange die Sonne niedrig stehe, sei es heiß und Sommer, stehe sie hoch, sei es kalt und Winter“. Fragen nach Gott, den Engeln und Teufeln, nach Himmel und Hölle, die Faust viel mehr zu interessieren scheinen, lässt Mephisto nicht zu. Immerhin bringt ihn Mephisto auf drei „Fahrten“ in die Hölle, „unter das Gestirn [aber] über die Wolken“ und „in etliche Königreich und Fürstenthumb“. Diese Reisen erfolgten durch die Luft, entsprachen also den Hexenfahrten. Bei der letztgenannten verwandelte sich Mephisto in ein Pferd, „doch hatte er Flügel wie ein Dromedar“.14 Das „Volksbuch“ schildert Faust nicht als den von unbändigem Wissensdrang erfüllten Forscher, sondern als einen lebenslustigen Schelm und Gaukler, der allerhand groben Schabernack treibt, aber dabei zumindest niemandem ernsthaft schadet. Eine gewisse Ausnahme davon bildet eine Episode auf der Frankfurter Messe, auf der eine Gauklertruppe das Publikum verblüffte. Einige Mitglieder der kleinen Gauklerschar ließen sich mit einem Schwert köpfen und anschließend den Kopf wieder ordnungsgemäß aufsetzen und zum Leben erwecken. Dabei bedienten sie sich keines billigen technischen Tricks, sondern verloren ihre Köpfe wirklich, was Fausts Eifersucht weckte. In einer Vase am Rande der Bühne befand sich eine Lilie für jeden Geköpften, an der dessen Leben hing. Sobald nämlich der abgeschlagene Kopf – nachdem ihn das Publikum gebührend untersucht hatte – wieder auf den Rupf gesetzt war und gewisse Beschwörungsfor12 13 14
Volksbuch, S. 45. Volksbuch, S. 46. Volksbuch, S. 60.
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meln gesprochen waren, sprang eine Lilie in der Vase hoch und das Leben kehrte in den Geköpften zurück. Um diesen Zauberern eins auszuwischen, machte sich Faust unsichtbar und knickte den Kopf der Lilie des Anführers der Truppe, als diesem der Kopf abgetrennt worden war. Zum Entsetzen seiner Genossen blieb daraufhin ihr Meister tot liegen. Hier verübte Faust einen Mord, allerdings an einem Menschen, der, wie er, seine Seele schon dem Teufel verschrieben haben musste, andernfalls wäre ihm solche Zauberei nicht möglich gewesen. 15 Es fällt auf, dass sich die zauberischen Taten Fausts, abgesehen von dem eben geschilderten Vorfall, stets auf lustige Zechereien und üppige Gastmahle beziehen, in denen er sich mit seiner Studentenschar und guten Freunden vergnügt. Ähnlich wie in der Geschichte vom Schlaraffenland, die im Kern eine soziale Utopie darstellt, werden auch hier in Zeiten allgemeinen Mangels Überflussphantasien ausgelebt. Faust verzichtet vollkommen auf Macht und Einfluss, er lebt einfach gut. Erst recht spät, im 19. und 20. Jahr seines Teufelspaktes, „gab er an, ein Säuisch und Epicurisch leben zu führen / und berüfft ihm 7 teuflische Succubas / die er alle beschlieffe“.16 Um seine erotischen Wünsche zu befriedigen, verschaffte ihm Mephisto die legendäre „schöne Helena auß Griechenland“ als Bettgenossin. Helena gebar ihm im letzten Jahr des Paktes sogar einen Sohn, den Faust passenderweise „Justus“ (d. h. der Gerechte) nannte. Nachdem Faust vom Teufel geholt worden war, verschwanden auch Helena und das Kind spurlos. Eine der Anekdoten, die das Volksbuch zu Fausts Taten erzählt, ist insofern bemerkenswert, als sie die Beschwörung eines Toten vor einer illustren Persönlichkeit betrifft. Der Tote ist Alexander d. Große, die illustre Persönlichkeit Kaiser Karl V. Der Kaiser befand sich mit seinem Gefolge in Innsbruck, wohin sich auch Faust begab und mit seinen Heilkünsten etliche Adelige kurierte. Der Kaiser habe ihn daraufhin zu sich zitiert, ihm gesagt, er habe von seinen magischen Künsten viel gehört und ihn gefragt, ob er bereit sei, eine Probe seiner Fähigkeiten zu zeigen. Faust bejahte dies, worauf der Kaiser verlangte, Faust möge ihm Alexander und dessen Gemahlin Roxane herbeizitieren. Faust habe erklärt, er könne die Toten nicht auferstehen lassen, „aber die uhralte Geister /welche Alexandrum und sein Gemahlin gesehen /die können solche Form und Gestalt an sich nehmen und sich darein verwandeln“. Das Vorhaben glückte, der Kaiser konnte Alexander und dessen Frau „in aller Gestalt /wie er im Leben [aus]gesehen“ vor sich erblicken. Er durfte die Gespenster allerdings nicht ansprechen. Als Beweis, dass es sich bei den Erscheinungen tatsächlich um die Genannten handele, diente eine Warze, die Roxane im Nacken gehabt haben sollte und die das Gespenst auch aufwies. Karl V. zeigte sich beeindruckt. Historische Belege für einen Aufenthalt Fausts am Hof Karls liegen nicht vor. Karl V. war zwar in der Tat auch in Innsbruck; allerdings war Faust zu dieser Zeit (1552) schon nicht mehr am Le-
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Volksbuch, S. 100 f. Volksbuch, S. 109.
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ben. Die Geschichte ist auch insofern bemerkenswert, als eine ganz ähnliche Beschwörung dem Abt Trithemius von Sponheim angedichtet wurde, auf den noch eingegangen werden wird.17 Als Fausts Ende nahte, machte er im Beisein eines Notars und weiterer Zeugen sein Testament. An dieser Stelle (also erst am Ende des Volksbuchs) wird sein Famulus Wagner vorgestellt: Doct. Faustus hatte diese Zeit hero bis in diß 24. und letzte Jahr seiner Versprechung / einen jungen Kanben aufferzogen /so zu Wittemberg wohl studierte /der sahe alle seins Herrn Doct. Fausti /Abentheur /Zauberey und Teuffelische Kunst /war sonst ein böser verloffner Bube /der anfang zu Wittemberg mit Betteln umbgangen /unnd ihne /seiner bösen art halben / niemandt auffneghemn wollte. Dieser Wagener ward nun deß Doct. Fausti Famulus / hielte sich bey ihm wol / daß ihn Doct. Faustus hernach seinen Son nannte. 18
Dem Testament zufolge war Faust ein wohlhabender Mann, der seinem Diener und Schüler sein Haus, ein Bauerngut und beträchtliche Geldmittel vermachte. Wagner hingegen wollte etwas Anderes: Er wollte ein ebensolcher Zauberer werden wie Faust. Zu diesem Zweck vermachte ihm Faust seine Zauberbücher (was bis ins 19. Jahrhundert hinein zu einer Vielzahl von „Höllenzwängen“ führte, die so taten, als würden sie von Fausts Zauberbibliothek stammen). Wagner begehrte zudem ebenfalls einen Dämon als Diener. Faust erklärte ihm zunächst, dass dies nicht in seiner Macht stünde, ließ aber drei Tage später einen Teufel in Gestalt eines Affen erscheinen. Dieser würde Wagner zu Diensten sein, aber erst nach Fausts Tod und auch nur nach einem entsprechenden Vertrag, wie Faust ihn geschlossen hatte. Was aus Wagner wurde, berichtet das Volksbuch nicht. An seinem letzten Tag auf Erden begibt sich Faust mit „seinen vertraweten Gesellen /Magistris /Baccalaureis /und andern Studenten mehr […] in das Dorf Rimlich /eine halb Meil wegs von Wittenberg gelegen“ und logiert im dortigen Gasthaus. Nach dem Abendessen hält er eine erbauliche Rede, in denen er seine Freunde warnt, seinem Beispiel zu folgen. Er zieht sich dann in sein Zimmer zurück, während seine Begleiter in einer anderen Kammer logieren. Es geschahe aber zwischen zwöff und ein Uhr in der Nacht /daß gegen dem Hauß her ein grosser ungestümer Wind gingr / so das Hauß an allen orten umbgabe / als ob alles zu grunde gehen /unnd das Hauß zu Boden reissen wollte. […] Die Studenten lagen nahendt bey der Stuben /da D. Fausten jnnen war /sie hörten ein greuwliches Pfeiffen und Zischen
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Volksbuch, S. 77 f. Volksbuch, S. 111.
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[…] in dem geht D. Fausti thür auff in der Stuben /der hub an umb Hülff und Mordio zu schreyen /aber kaum mit halber Stimm /bald hernach höret man ihn nicht mehr.19
Am Morgen finden die Freunde Fausts einen grässlich zugrichteten Leichnam auf einem Misthaufen vor dem Haus. Die Freunde bestechen den Wirt der Herberge mit einem beträchtlichen Schweigegeld, nähen den zerstückelten Leichnam in ein Leintuch ein und lassen ihn durch den Dorfpfarrer in aller Eile und Stille beerdigen. Die arme Seele Fausts ging dann noch eine Weile als Gespenst um und unterhielt sich zuweilen mit seinem alten Diener Wagner. Den Nachbarn wurde jedoch der Geist wegen seines Polterns lästig und endlich beschwor Wagner den Geist Fausts, worauf Ruhe einkehrte. Soweit das „Volksbuch“. Faust wurde im „Volksbuch“ ebenso wie in Marlowes Drama zum Prototyp des Magiers und Teufelsbündlers stilisiert und diente als abschreckendes Beispiel, für die Folgen eines gegen Gott gerichteten Lebens. Die Betonung liegt hier im Abfall vom rechten Glauben und der damit verbundenen Strafe. Der Magier als Typus wird als Feind des Glaubens und der Kirche(n) gezeichnet. In der Aufklärung wurde diese Denkweise als naiv und fortschrittsfeindlich empfunden. Faust ist nun nicht mehr der Ketzer, sondern der Rebell gegen Gott. Goethe greift diesen Faust auf und konfrontiert ihn mit seiner Kritik am technisch-wissenschaftlichen Fortschrittsglauben der Aufklärung, der ihm (Goethe) ebenfalls naiv erscheint und außerdem zu gefährlichen Allmachtsphantasien führt, wie der zweite Teil des Dramas zeigt. Durch Goethe wird Faust zum Prototyp des nur seinem Erkenntnisdrang folgenden und ohne moralische Skrupel agierenden Wissenschaftlers. In dieser Gestalt wird Faust aber auch zum einsamen Helden, zum Übermenschen, der der nationalsozialistischen Ideologie als Kulturbringer erscheint. In den letzten vier bis fünf Jahrzehnten hat sich das Bild nochmals gewandelt, indem der „faustische Mensch“ als Rollenvorbild verschwindet. Forschung und Technik werden vielfach eher als Bedrohung denn als Verheißung wahrgenommen. Insofern nähern sich die heutigen Wissenschaftler und Ingenieure wieder den früheren Magiern, indem man ihre Macht bewundert und anerkennt, sie aber auch fürchtet. Trotz seiner überragenden Bedeutung als Träger des Klischeebilds des Magiers war der historische Doktor Faust ebenso wie der Faust des Volksbuchs und – mit einigen Einschränkungen – auch der Faust der diversen Dramen, kein Abbild der realen Naturmagier und ihrer Rolle in der Geschichte der Wissenschaften. Weder als historische Figur noch als Protagonist literarischer Bearbeitung erscheint Faust als Naturforscher. Die echten Naturmagier seiner Zeit sind Teil einer frühen „Scientific Community“, die Theorien entwickeln, forschen und publizieren. Faust hat nichts von alledem gemacht, und wurde dennoch zum kulturellen Prototyp und (teilweise) zum Leitbild des modernen Menschen, seiner Gottferne und seines rücksichtslosen Erkenntnisstrebens. 19
Volksbuch, S. 122.
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Marsilius Ficinus (Marcilio Ficino, 1433–99) Die Renaissance war eine Blütezeit der Magie und der Magier und wir wollen einige prägende Vertreter dieser Epoche etwas eingehender betrachten. Schon in Kapitel II.4 wurde der mythische Gründervater der Alchemie, Hermes Trismegistus, kurz vorgestellt.
Abb. V.6: Mercilio Ficino. Holzschnitt von Tobias Stimmer, 1577. Von ihm sollte eine Reihe von Texten stammen, die als Corpus Hermeticum bekannt wurden und aus dem 2. oder 3. Jahrhundert unserer Zeit stammen. In der Renaissance wurden diese in griechischer Sprache verfassten Schriften wiederentdeckt und erregten beachtliches Aufsehen, da man irrtümlich annahm, sie seien vielleicht sogar älter als das Alte Testament und enthielten die Kenntnisse uralter Weiser, die nahe am Beginn der Schöpfung gewirkt hätten. Ausgelöst wurde die Begeisterung für das Corpus Hermeticum durch Marsilius Ficinus, wie die latinisierte Form seines Geburtsnamens lautet. Im toskanischen Figline geboren, wurde er auf Kosten von Cosimo de’ Medici, genannt il Vecchio (1389–1464), erzogen und studierte Philosophie, Theologie, Medizin und Musik. Ficinus befasste sich intensiv mit den Werken Platos und bemühte sich – aus seiner Sicht erfolgreich – um die Harmonisierung der Philosophie Platos mit der christlichen Glaubenslehre. Er ist der Begründer des „christlichen Neoplatonismus“, der die Geistesgeschichte der Renaissance maßgeblich beeinflusst hat. Neben Platos Werken übersetzte er auch die antiken Neuplatoniker Plotin, Proklus und Dionysios. Dabei stieß er auch auf das Corpus Hermeticum. Hermes Trismegistos galt ihm als der Lehrmeister Platos und er erblickte in dessen Schriften einen Ausfluss ursprünglicher und unverfälschter Weisheit. 1463 übersetzte 236
Ficinus das Corpus Hermeticum ins Lateinische und legte damit das Fundament für das naturmagische Denken der Renaissance. Ein zentraler Gedanke der hermetischen Schriften ist die Mikrokosmos-Makrokosmos-Parallele, die folglich auch Ficinus betonte und als Grundlage der Magie ansah. Weil sie existiert, kann der Magier die inneren Zusammenhänge der Natur enträtseln und letztlich beherrschen. 1459 schenkte Cosimo dem von ihm hochgeschätzten Ficinus ein Haus in Careggi bei Florenz, in dem sich ein nicht fest umrissener Kreis von Gelehrten versammelte, um die Lehren Platos, der antiken Neoplatoniker und des Hermes zu erörtern. Ficinus nannte diesen Zirkel die „Platonische Akademie“. Dort dürfte auch ein nachmals viel Aufsehen erregender junger Mann den Diskursen gelauscht haben, der der bekannteste Schüler von Ficinus wurde, nämlich Pico della Mirandola.
Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) Pico entstammte einer adeligen Familie, die in dem Städtchen Mirandola in der Nähe von Modena ansässig war.
Abb. V.7: Giovanni Pico della Mirandola. Ölgemälde eines unbekannten Malers in den Uffizien.
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Sein Gelehrtenname verweist auf diese Herkunft. Obwohl er nur 31 Jahre alt wurde, übte er beträchtlichen Einfluss auf das Geistesleben seiner Zeit aus. Pico war eine Art Wunderkind: mit 14 Jahren nahm er bereits das Studium des kanonischen Rechts an der Universität Bologna auf, wandte sich aber bald der weniger trockenen Philosophie und Theologie zu. Er wanderte als Student sieben Jahre durch Italien und Frankreich, besuchte die führenden Hohen Schulen und erlernte neben Latein auch Griechisch, Hebräisch, Syrisch und Arabisch. Der brillante junge Gelehrte zog 1486 in Rom ein und verkündete dort publikumswirksam 900 von ihm aufgestellte Thesen zur Philosophie, Kabbala und Theologie („Conclusiones philosophicae, cabalisticae et theologicae“). Er forderte jeden zum öffentlichen Disput auf, der sich zutraute, seine Thesen zu widerlegen. Dieses Unterfangen rief bei den dortigen Gelehrten einen gewissen Unwillen hervor, denn man war der Meinung, dass ein so junger Mann kaum geeignet sei, sich so schwerwiegenden Fragen, wie der Bewertung der Philosophie des Aristoteles gegenüber derjenigen Platos zuzuwenden. Ganz im Sinne Ficinos betonte Pico den Einfluss der Gestirne auf Wesen und Charakter des Einzelnen und ganzer Völker. Die Kirche verdamme die Magie in Form der Zauberei zu Recht, jedoch nicht die „natürliche“ Magie, denn diese sei sogar der edelste Teil der Naturkunde und könne alle Naturkräfte verfügbar machen. Die provozierendste seiner Thesen lautete, dass es keine Wissenschaft gebe, die besser geeignet sei, die Göttlichkeit Jesu zu belegen, als Magie und Kabbala. Die Kabbala bestätige die christliche Lehre der Dreieinigkeit, erlaube die Vorhersage des Weltendes und habe in Verbindung mit der Astrologie gezeigt, dass der Sonntag den Samstag als Feiertag ersetzen müsse. Der unsachgemäße Gebrauch der Kabbala könne den Magier allerdings auch in Todesgefahr bringen. Magie und Religion stehen nach Pico also in einem komplementären Verhältnis, schließen einander jedenfalls nicht aus. Er sah in allen natürlichen Dingen Symbole Gottes. Das menschliche Individuum, so Pico, ist ein Mikrokosmos im Makrokosmos und es hängt von jedem Menschen selbst ab, ob er sich in der Hierarchie der Schöpfung auf die Stufe des Tieres herab begibt, oder sich zu gottähnlicher Höhe aufschwingt. Pico war klar, dass seine Thesen nicht ungefährlich waren, dennoch machte er sich über die Dummheit seiner kirchlichen Widersacher lustig: Schon beim Hören des Namens Kabbala schien meine Gegner ein Entsetzen zu überschleichen. Unter den Kabbalisten stellten sie sich offenbar nicht Menschen, sondern Zaubertiere, Kentauren oder irgendwelche Wunderwesen vor. Wie oberflächlich meine Gegenredner mit dem Wesen der Kabbala vertraut waren, erhellt die folgende amüsante Episode. Einer der gegnerischen Gelehrten wurde gefragt, wer denn Kabbala sei? Da antwortete er: ‚Das war ein abtrünniger Wicht und ein dämonischer Gesell und der Verfasser vieler Schriften gegen Christum.‘ Kann jemand, der diese Auskunft hört, das Lachen unterdrücken?20
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Michael Kuper (Hg.), Karl Kiesewetter: John Dee und der Engel vom westlichen Fenster, Korrigierte Fassung der Ausgabe Leipzig 1893, Berlin 1993, S. 11.
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Picos 900 Thesen wurden von einer Gutachterkommission, die Papst Innozenz VIII. einsetzte, teilweise für häretisch erklärt, worauf er mit einer Rechtfertigungsschrift („Apologia“, 1487) antwortete. Auch diese wurde durch eine päpstliche Bulle verdammt, Pico jedoch wegen einer Unterwerfungserklärung zunächst nicht weiter belangt, dann aber während einer Reise nach Frankreich in Vincennes vorübergehend festgehalten. Wieder auf freiem Fuß, blieb Pico in Florenz unter dem Schutz von Lorenzo de’ Medici, bis ihn der neue Papst Alexander VI. freisprach und die Inquisition anwies, ihn unbehelligt zu lassen. Pico zog sich nun mehr und mehr aus der Öffentlichkeit zurück und geriet unter den Einfluss des Predigers Girolamo Savonarola (1452– 1498), der nach Picos Tod auch die Grabrede halten sollte.
Abb. V.8: Girolamo Savonarola, Bildnis von Fra Bartolommeo, ca. 1498. Die Haltung Picos wandelte sich daraufhin grundlegend. Er rückte von seinen früheren Positionen vollständig ab und bezeichnete seine Hochschätzung der chaldäischen und ägyptischen Weisen als jugendliche Verirrung. Er ging soweit, sogar Albertus Magnus zu kritisieren, weil dieser vorgeschlagen hatte, nicht alle magischen Bücher zu verbrennen, sondern einige Exemplare zu Forschungszwecken aufzubewahren.
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Giambattista della Porta (1535–1615) Eine in der Verquickung von naturwissenschaftlich-experimentellem und wundergläubig-okkultem Denken für die Renaissance typische Gestalt war auch Giambattista della Porta.
Abb. V.9: Giambattista della Porta, Kupfertstich auf dem Titelblatt der Humana Physiognomia von 1576. Er entstammte einer wohlhabenden Familie, die in der Gegend von Neapel ansässig war. Sein Vater, Nardo Antonio della Porta, stand seit 1541 in den Diensten von Kaiser Karl V. Porta erhielt eine sehr gute Erziehung, wenn er auch anscheinend keine Universität besuchte. Schon mit 10 Jahren soll der hochbegabte Junge Aufsätze in Latein verfasst haben. Interessiert an allen Naturerscheinungen erstellte Porta 1558 ein Kompendium, die „Magia naturalis“, in der er sich bemühte, allen Phänomenen eine rationale Erklärung zu geben, die auf einem von ihm konzipierten und später noch weiter verfeinerten System der Wechselwirkungen von reiner Materie und der und für deren unterschiedliche Eigenschaften verantwortlichen Formkraft beruhten. Dabei unterschied Porta nicht zwischen „natürlichen“ und „übernatürlichen“ Vorgängen – alles sollte sich einem ganzheitlichen Konzept unterordnen. Das Werk wurde ein 240
voller Erfolg, erschien während der nächsten 10 Jahre in fünf weiteren Auflagen und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. 1589 wurde eine von vier auf zwanzig „Bücher“ erweiterte und korrigierte Version gedruckt, die neben vielen anderen Beobachtungen und Experimenten auch eine Beschreibung der „Camera obscura“, des Vorläufers unseres Fotoapparates, mit einem Linsenobjektiv enthielt; auch Vorarbeiten zu der Erfindung des Teleskops sind in dieser ergänzten Version enthalten. Insgesamt ist die „natürliche Magie“ eine erstaunliche Mischung aus physikalischen Beobachtungen, mathematischen Überlegungen, technischen Neuerungen und wunderbaren Erscheinungen. 1560 gründete Porta in Neapel die Accademia dei Segreti oder Academia secretorum naturae (Akademie der Naturgeheimnisse), die jedoch 1578 auf Weisung der Inquisition wieder aufgelöst wurde. Um aufgenommen zu werden, musste jeder Aspirant eine neue Beobachtung oder eine neue Erkenntnis vorstellen. Die „Akademie der Naturgeheimnisse“ war das Modell für die viel bekanntere Accademia dei Lincei (Akademie der Luchse, 1600–1630) und die Accademia del Cimento (Akademie der Probe /des Wagnisses, 1657–67) – der Gedanke einer Gelehrtengesellschaft ließ sich auch durch die Macht der Kirche nicht mehr verhindern. Wie Pico glaubte auch Porta nicht an eine Trennung von „natürlichen“ und „übernatürlichen“ Phänomenen. Die Schöpfung ist einheitlich, und im heutigen Sinne magische Vorgänge oder Wirkungen sind für Porta ebenso real und grundsätzlich einer vernünftigen Erklärung zugänglich wie alles Andere. Grundlage dieses Ansatzes war eine Theorie der Materie, aus der Porta sinnlich wahrnehmbare Eigenschaften derselben ebenso herzuleiten versuchte wie verborgene, unsichtbare Kräfte und Wirkungen. Daneben allerdings, und auch das zeigt die „Magia naturalis“, war auch Porta der Hang der Renaissancephilosophen zum Wunderbaren durchaus eigen. In gewisser Weise kann man das große Werk Portas der „Naturgeschichte“ von Plinius an die Seite stellen in ihrer Mischung aus brauchbaren Angaben und Überlegungen, kaum oder wenig verstandenen Beobachtungen und Vermutungen und den Zitaten antiker Autoren.
Agrippa von Nettesheim (1486–1535) Verlassen wir nun Italien und blicken wir nach Köln, wo sich 1499 ein Mann an der Universität einschrieb, der in mancher Hinsicht das Modell des Erzmagiers Faust abgab – Agrippa von Nettesheim.
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Abb. V.10: Agrippa von Nettesheim. Agrippa studierte Jura und Medizin, interessierte sich aber auch für Optik, Mechanik, Sprachen, Astrologie und Alchemie. Wie damals üblich, reiste er als fahrender Scholar durch die Lande, weilte 1507 in Paris und hielt 1509 an der Universität von Dôle in Burgund eine umstrittene Vorlesung über eine Schrift des Humanisten und Begründers der deutschen Hebraistik Johannes Reuchlin (1455–1522) In diesem Werk mit dem Titel „De verbo mirifico“ (Über das wunderbare /wunderwirkende Wort, 1514) behauptet Reuchlin, dass die wesentlichen Gedanken des Christentums schon bei den griechischen Philosophen zu finden seien. Reuchlin war hier von Pico della Mirandola beeinflusst, den er in Italien kennengelernt hatte und der sein Interesse für das Studium des Hebräischen geweckt hatte. Papst Leo X. verbot 1520 Reuchlins Schriften. Agrippa vertrat in seiner Vorlesung Reuchlins Position und geriet dadurch in den Ruf eines Ketzers, worauf er es vorzog, Dôle zu verlassen. Nach einigen Jahren in Pavia kehrte er nach Deutschland zurück und traf 1510 in Würzburg mit Trithemius von Sponheim zusammen, der ihn ermutigte, sein Wissen über die verschiedenen Geheimlehren zusammenzufassen und niederzuschreiben. 242
Innerhalb weniger Monate entstand so 1510 die Trithemius gewidmete Erstfassung seiner okkulten Philosophie („De occulta Philosophia“), die zu einem Standardwerk der Renaissancemagie werden sollte und an der Agrippa bis ca. 1515 weiterarbeitete. Auch das weitere Leben Agrippas verlief recht unstet. 1512 kämpfte er in einem Heer Kaiser Maximilians I. gegen die Republik Venedig und wurde wegen seiner Tapferkeit noch auf dem Schlachtfeld zum Ritter geschlagen. Im darauffolgenden Jahr sollte er an einem geplanten Konzil in Pavia teilnehmen, das jedoch nicht zustande kam. Über mehrere Zwischenstationen gelangte er 1518 als Stadtsyndikus nach Metz, wo er in einem aufsehenerregenden Prozess die Freilassung einer der Hexerei angeklagten Frau erreichte. Dieser juristische Erfolg machte ihm viele Feinde und er musste Metz verlassen. Weitere Stationen waren Köln und Lyon, wo er als Leibarzt der Mutter des französischen Königs Franz I., Luise v. Savoyen, wirkte. Schließlich wurde er Arzt in Antwerpen und kurze Zeit Archivar und Historiograph am Hof der Statthalterin der Niederlande, Margarethe von Österreich in Mecheln. Nach weiteren Reisen durch Deutschland kam Agrippa 1535 erneut nach Frankreich und wurde in Lyon verhaftet. Er starb im gleichen Jahr in Grenoble und wurde in der dortigen Dominikanerkirche beigesetzt. Mit dem den Kabbalisten eigenen Hang zur Systematisierung entwickelte Agrippa in seiner „Occulta Philosophia“ eine Art wissenschaftliches Gerüst aller magischen Gelehrsamkeit. Volksmagie und Schwarze Magie (Beschwörungskunst) schloss er dabei aus seinen Betrachtungen aus. Agrippa verband den christlichen Neuplatonismus, die Hermetik, die Astrologie, die Zahlenmystik und die Kabbala zu einem System zur Erkenntnis und Beherrschung des Kosmos. Diese „okkulte (verborgene) Philosophie“ bzw. „Okkultismus“ genannte Lehre wurde zum Sammelbegriff für alle Lehren der Natürlichen oder Weißen Magie. Mit dem Bezug auf das Verborgene wollte Agrippa ausdrücken, dass die innere Struktur und Wirkungsweise der Natur nicht offen zutage tritt, sondern sich nur dem kundigen „Philosophen“, also Naturforscher, zu erkennen gibt. Nicht gemeint war damit, dass diese Lehren an sich geheim seien. Dagegen standen jedoch die nach wie vor von den Alchemisten gepflegte Geheimhaltungsethik und auch die Warnung von Trithemius, wonach „das Höhere und die Geheimnisse nur hervorragenden Männern und vertrauten Freunden“ vorbehalten sein sollten. Alchemie, Kabbala und andere mystisch-theosophische Lehren blieben daher auch weiterhin „Arkanwissenschaften“, die nur Eingeweihten zugänglich und verständlich waren und gar nicht oder nur sehr eingeschränkt an den Universitäten gelehrt wurden. Da bald verfälschende Abschriften der „Occulta Philosophia“ in Umlauf kamen, entschloss sich Agrippa 1530, das Werk zu überarbeiten und in Druck gehen zu lassen. 1531 erschien der erste Teilband in Antwerpen, zwei weitere Bände folgten 1533 in Köln (ein viertes Buch, 1559 erschienen, stammt nicht aus Agrippas Feder). Nun geschah etwas sehr Merkwürdiges, denn gleichzeitig mit der Druckfassung der „Occulta Philosophia“ erschien ein weiteres Buch Agrippas mit dem Titel „De incertitudine et vanitate scientiarum atque artium“ (Über die Unsicherheit und Eitelkeit der Wissenschaften und Künste). Darin verurteilt Agrippa alle Wissenschaften, einschließlich 243
der Naturmagie. Überdies enthält es eine kritische Bewertung der allgemeinen Befindlichkeit der Gesellschaft und scharfe Attacken auf die Kirche. Beide Werke machten Agrippa zur Zielscheibe von Angriffen – des eine wegen seines magischen Inhalts, das andere wegen seiner Kirchenkritik. Was in Agrippa vorgegangen sein mag, als er gleichzeitig seine scharfzüngige Abrechnung mit der Wissenschaft schrieb und sein hochkomplexes Werk über die „Krone der Weisheit“, wie er die Magie einmal nannte, überarbeitete und zum Druck vorbereitete, wird sich nie klären lassen. Agrippa war stets ein Gegner der Hexenverfolgungen. Er war 1532/33 der Lehrer von Johann Weier (1515–88), von dem in IV. Kapitel 6 schon ausführlicher die Rede war. Dieser verteidigte später seinen Lehrmeister und trat Gerüchten entgegen, die Agrippa als Teufelsbündler bezeichneten. Besonders der französische Jurist und eifrige Befürworter der Hexenverfolgung, Jean Bodin (1529/30–96) sorgte für die Verketzerung Agrippas. Er behauptete z. B., dass Agrippas Hund ein Höllengeist sei und verwarf in seinem Werk „De la Démonomanie des sorciers“ (Über die Dämonomanie der Zauberer, 1580) die magische Kunst, mit der sich Agrippa so intensiv beschäftigt hatte. Auch der Humanist Paul Jovius (Paolo Giovio, 1483–1552) behauptete, dass Agrippa von einem Teufel in Gestalt eines schwarzen Pudels begleitet worden sei, der bei seinem Tod verschwand. Der spanische Jesuit Antonio Martinez Del Rio (1551–1608) assoziierte Agrippa mit der Figur des Fausts und stellte ihn als Zauberer und Schwindler dar, der sein Wissen benutzt, um andere zu betrügen. In seinem „Disquistionum Magicarum Libri Sex“ (Untersuchung der Magie in sechs Büchern“, 1593, zahlreiche weitere Auflagen) erzählt Del Rio wüste Geschichten. Agrippa habe, wie auch Faust und Paracelsus, seine Zeche mit „verblendetem Geld“ bezahlt, das sich später in Hornstücke verwandelte. Ein Student habe in Agrippas Studierstube in Löwen in dessen Abwesenheit den Teufel beschworen und sei dabei umgekommen. Bei seiner Rückkehr habe Agrippa einen Teufel in den Leichnam zitiert und ihn auf den Marktplatz hinabgehen lassen, wo der Teufelsgeist wieder ausfuhr und der Student, scheinbar vom Schlag getroffen, zusammensank.21 Offenbar scheute Del Rio keine Absurdität, um jemand der Zauberei oder Teufelsbeschwörung bezichtigen zu können. Auch Christopher Marlowe stellt in seinem Faust- Drama Agrippa als dessen Lehrmeister dar. Agrippa wiederfuhr ein ähnliches Schicksal wie Albertus Magnus vor ihm: Was man nicht verstand, war eben „Teufelswerk“ und Naturforschung an sich schon Sünde. Diese Ansicht vertrat Del Rio auch explizit, indem er betonte, dass keinerlei Art von Zauberei ohne Ketzerei vorstellbar sei. Somit stellte auch Agrippas Weiße Magie für ihn ein verfolgungswürdiges Verbrechen dar. Die „Occulta Philosophia“ ist in erster Linie eine Enzyklopädie der Magie, weniger ein Werk, das eigene Theorien Agrippas darstellt. Am Ende wendet sich Agrippa an seine Leser mit der auch für alchemische Werke typischen Feststellung, dass wahre Weisheit nur den Kundigen zuteilwerde: 21
Karl Kiesewetter, Geschichte des Neueren Occultismus. Geheimwissenschaftliche Systeme von Agrippa von Nettesheim bis zu Carl du Prel, Leipzig 1891, S. 5 bzw. Del Rio Lib. II, cap. 29, sect. I.
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Ihr allein werdet die für Euch bestimmte Unterweisung und die unter vielem Rätselhaften verhüllten Geheimnisse finden, die nur einer tieferen Einsicht sich erschließen; wenn ihr aber diese erlangt, so wird die magische Wissenschaft in ihrer ganzen Macht vor eure Augen treten und es werden euch jene Kräfte sich zeigen, die einst Hermes, Zoroaster, Appolonius und die übrigen Wunderthäter besaßen.22
Natürlich ist auch für Agrippa die Parallelität der Großen und der Kleinen Welt (Mikrokosmos-Makrokosmos-Parallele) ein zentraler Bestandteil des Weltverständnisses. Er sagt dazu an einer Stelle: Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde; denn wie die Welt das Bild Gottes ist, so ist der Mensch das Bild der Welt. Daher legen es Einige so aus, dass der Mensch […] Mikrokosmos, d. h. kleine Welt genannt wird. […] Der Mensch heißt daher die zweite Welt und das Ebenbild Gottes, weil er alles in sich enthält, was in der großen Welt enthalten ist. […] In ihm ist der ätherische Körper als Vehikel der Seele, in ihm ist die vegetative Kraft der Pflanzen, die empfindende der Tiere, der himmlische Geist, die höhere Vernunft und der göttliche Gedanke.23
Hier mischt sich christliches und neuplatonisches bzw. gnostisches Gedankengut in einer für die abendländische Magie recht typischen Weise. Die Idee eines unsichtbaren, aber dennoch irgendwie materiellen Körpers als Vehikel der Seele kennen auch die Platoniker. Der „göttliche Gedanke“ ist analog dem vom Gott der Bibel dem Menschen eingeblasenen Odem. Der materiell körperliche Teil des Menschen, sein Geist und seine Seele – sein „göttlicher Gedanke“ verbinden sich zu einem Ganzen. Damit reicht der Mensch sowohl zum Göttlichen hinauf, wie zum rein Materiellen hinab, weshalb ihm die Erkenntnis der Welt und der Schöpfung möglich ist – und nach dem Glauben der Gnostiker auch deren Beeinflussung. Agrippa bezieht zu verschiedenen magischen Phänomenen ziemlich klar Stellung, was auch deshalb von Wichtigkeit ist, weil er seine Zeitgenossen und Nachfolger wesentlich beeinflusste. Agrippa behauptete beispielweise, dass es mit reiner Gedankenkraft möglich sei, der Schwerkraft zu trotzen (Levitation). Man müsse dabei seine Gedanken auf Gott richten, dann könne man so sehr mit dem göttlichen Licht erfüllt werden, dass der Körper sich in die Lüfte erhebt und an weit entfernte Orte getragen wird. Dies erinnert an die Hexenflüge, die allerdings nicht durch Gottes Hilfe, sondern durch jene des Teufels möglich wurden. Bei Agrippa hingegen wird die Bewegung durch die Kraft bewirkt, die die Seele über den Körper oder der Geist über die Materie besitzt:
22 23
Ebd., S. 9f. Ebd., S. 16, bei Agrippa lib. III, S. 36.
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So groß ist die innere Gewalt der Seele über den Körper, dass sie den Körper selbst hinweg führt und ihn überall hinbringt, wohin sein Gedanke geht oder wohin er träumt.24
Auf ähnliche Weise sei auch die Telepathie möglich, „allerdings nur denen, deren Imagination und denkende Kraft sehr stark ist“. Dabei geht es nach Agrippa durchaus mit rechten Dingen zu: Auf eine ganz natürliche Art, ohne allen Aberglauben und ohne die Vermittlung eines Geistes ist es möglich, dass ein Mensch dem anderen auf jede noch so weite, ja sogar unbekannte Entfernung in der kürzesten Zeit seine Gedanken mitteilen kann. […] Ich verstehe dieses Kunststück und habe es öfter probiert; auch der Abt Trithemius versteht dasselbe und hat es ausgeführt.25
Johannes Trithemius (1462–1516)
Abb. V.11: Johannes Trithemius, Relief von Tilman Riemenschneider, ca. 1516. 24 25
Kiesewetter: Occultismus, S. 20; zitiert nach Agrippa, De Occulta Philosophia, Köln 1533, Teil I, S. 64. Ebd., S. 21; zitiert nach Agrippa, w.o., Teil I, S. 6.
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Auch der oben schon als Mentor Agrippas erwähnte Johannes Trithemius, Abt des Benediktinerklosters Sponheim, ein hochgelehrter Theologe und Humanist wurde zum Gegenstand von Verdächtigungen, die ihn als Teufelsbündler brandmarkten. 1462 in Trittenheim (Rheinpfalz) geboren, lautete sein Taufname Johannes Heidenburg. Später gab er sich in zeitüblicher Humanistenmanier selbst den Gelehrtennamen „Trithemius“ nach seinem Geburtsort. Er trat 1482 in die bei Bad Kreuznach gelegene Benediktinerabtei Sponheim als Novize ein und wurde schon im folgenden Jahr – mit nur 21 Jahren – zum Abt gewählt. Er reformierte das Klosterleben, führte eine strenge Klosterzucht ein und bemühte sich besonders um den Aufbau der Klosterbibliothek. Ohne je studiert zu haben, wurde Trithemius zu einem hochberühmten Humanisten, allerdings war er bei seinen Sponheimer Mitbrüdern zunehmend unbeliebt, weil er ihr bisher beschauliches Leben arg streng reglementierte. Schließlich verließ er 1506 seine Abtei und wurde Abt des Würzburger Schottenklosters, wo er 1516 verstarb. Zu seinem großen Leidwesen konnte er die Klosterbibliothek, die inzwischen mit etwa 2000 Bänden eine der größten Bibliotheken im Heiligen Römischen Reich war, nicht mitnehmen. Hier hatte Agrippa von Nettesheim die Erstfassung seiner „Occulta Philosophia“ erarbeitet. Trithemius schrieb eine Vielzahl theologischer Werke, mit denen er zum Teil auch Kontroversen auslöste, als Magier verschrien wurde er aber wegen eines Traktats über „Steganographie“, also über Geheimschriften und Geheimcodes. In den ihm zugeschriebenen magischen Fähigkeiten und den dazu erfundenen Geschichten spiegeln sich manche Klischees wieder, die auch bei Albertus Magnus, Faust und Agrippa bzw. Paracelsus auftauchen. Auch Trithemius besaß angeblich einen teuflischen dienstbaren Geist, der ihn mit Wein und Speisen versorgte, die er anderswo klaute. Auch soll er sich aus Holz eine Dienerin geschnitzt haben, welche alle häuslichen Arbeiten erledigte und eine aus Papier gefaltete Taube, die seine Briefe expedierte. Besonders bekannt wurde er aber durch eine Totenbeschwörung, ähnlich der von Faust für Kaiser Karl V. Angeblich bot Trithemius Kaiser Maximilian I. (1459–1519) an, seine Gattin Maria von Burgund, die 1482 im Alter von nur 25 Jahren bei einem Reitunfall ums Leben gekommen war, was Maximilian zutiefst betrauerte, als Geist zu zitieren.
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Abb. V.12: Maria von Burgund, Gemälde von Michael Pacher um 1479. Der Kaiser zögerte zunächst, ließ sich aber schließlich überreden. Zusammen mit einer dritten Person begaben sich beide in ein abgesondertes Gemach und der Abt vollzog die Beschwörung. Der Geist der toten Kaiserin erschien auch tatsächlich: Maria spaziert fein säuberlich vor ihnen herum, neigt sich gegen den Kaiser, liebäugelt und lächelt ihn an, der lebendigen Maria so ähnlich, dass gar kein Unterschied daran war und nicht das geringste daran mangelte.26
Maximilian erinnerte sich an einen kleinen schwarzen Fleck, den seine tote Gattin „hinten am Halse“ gehabt hat – und fand diesen Fleck an der richtigen Stelle der gespenstischen Erscheinung. Auch dieses Detail entspricht der Beschwörung Roxanes durch Faust und unterstreicht das kolportagehafte der Beschwörungserzählung.
26
Leander Petzold (Hg.), Historische Sagen von der Antike bis zur Gegenwart, Wiesbaden 2008, S. 226; entnommen J. G. Th. Grässe, Sagenbuch des preußischen Staates Bd. II, 1871, S. 113.
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Da ist den Kaiser ein Grausen angekommen, er hat dem Abt gewinkt, er solle das Gespenst wegtun, und darauf hat er mit Zittern und voll Zorn zu ihm gesprochen: ‚Mönch, mache mir derlei Possen keine mehr‘.27
Natürlich wurde Trithemius auch beschuldigt, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen zu haben, und zwar „aus Ehrgeiz und Ruhmsucht“ – ganz wie Goethes „Faust“. Es wurde sogar erzählt, er habe dies in seinen eigenen Schriften bestätigt: Da ich mit dem Gedanken umging, wie ich doch etwas erfinden und hervorbringen möchte, das noch kein Mensch wüsste und worüber sich alle verwundern müssten, legte ich mich einstmals des Abends mit solchen Gedanken schlafen. Da kommt einer des Nachts zu mir, ich weiß, wer er war, reizt mich, in solchem Vornehmen und Nachtrachten fortzufahren, er wolle mir dazu helfen, wie er denn auch getan.28
John Dee (1527–1608)
Abb. V.13: John Dee, Kupferstich aus dem Jahr 1659. 27 28
Ebd.
Petzold w.o. S. 226; Grässe w.o. S. 112.
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Von Agrippa und seiner „Occulta Philosophia“ stark beeindruckt war auch der englische Gelehrte, Alchemist und Magier John Dee. Er kam 1527 als Sohn eines wohlhabenden Hofschneiders aus altem walisischem Adel zur Welt, besuchte die Universität Cambridge und erwarb dort 1548 den Magistergrad. Während seiner anschließenden Reisen auf dem europäischen Kontinent studierte er u. a. bei Gerhard Mercator und Gemma Frisius Mathematik und Geographie sowie 1548–50 in Löwen die Rechte. Wegen des Verdachts auf Majestätsbeleidigung und Hexerei wurde er im Juli/August 1555 in England eingekerkert, gelangte aber bald darauf wegen seiner astrologischen Kenntnisse zu beträchtlichen Einfluss am Hof der Königin Elisabeth I. (1533 geb., reg. 1558–1603). So wurde er dazu ausersehen, den günstigsten Zeitpunkt für die Krönung der jungen Königin zu bestimmen.
Abb. V.14: Ölgemälde von Henry Gillard Glindoni, (19. Jahrhundert), das John Dee bei einem Experiment in Mortlake vor Königin Elisabeth I. zeigt. Dee befasste sich nicht nur mit Agrippas „Occulta Philosophia“, sondern studierte auch ausgiebig das von Marcilio Ficino aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzte „Corpus Hermeticum“ und die Schriften von Pico della Mirandola. Dee war aber kein reiner Theoretiker, sondern richtete in seinem Landsitz Mortlake (heute ein Teil von Großlondon) auch ein Labor für mechanische und (al)chemische Experimente ein. Alles andere als ein weltfremder Träumer, arbeitete er an der Verbesserung 250
nautischer Instrumente und empfahl Elisabeth I. dringend den Aufbau einer starken Flotte, um sich gegen die spanische Übermacht zu wehren und neue Länder zu entdecken bzw. zu kolonisieren. 1577 erstellte er für sie ein Handbuch der Schiffsnavigation („General and rare memorial pertayning to the Perfect Art of Navigation“). Überhaupt war Dee ein echter Polyhistor, der sich mit Geographie, Medizin, Philosophie, Mathematik, Alchemie und Magie befasste – immer auf der Suche nach der einen, der alles umfassenden „Wahrheit“ der Naturerkenntnis. In seinem Denken existierten wohl keine säuberlich getrennten Wissensgebiete, sondern er verband alles mit allem, getreu der naturmagischen Denkungsart. Dee besaß die vermutlich größte Privatbibliothek seiner Zeit, die mit 4000 Bänden jene der Universitäten von Oxford und Cambridge weit hinter sich ließ. Neben den Autoren der klassischen Antike besaß Dee auch eine Abschrift des Korans und zahlreiche mittelalterliche Manuskripte. Naturgemäß hatte Dee auch eine Menge Neider und Feinde. So brandmarkte ihn der höchst einflussreiche puritanische Prediger John Foxe (1516–87) 1563 als „großen Zauberbeschwörer“ und begründete so eine langdauernde Tradition der Verunglimpfung und Verteufelung Dees. Das vermutlich wirkmächtigste und auch für Dee selbst wichtigste Ergebnis seiner Suche nach Erkenntnis ist die 1564 in Antwerpen verfasste Schrift „Monas hieroglyphica“. Dabei handelt es sich um ein aus mehreren graphischen Elementen zusammengesetztes Zeichen, das in sich die Symbole der Planeten, der Elemente und des Tierkreises vereinigt. Alle Teile lassen sich auf die beiden Einheiten Gerade und Kreis zurückführen, die Dee als geometrische Grundbausteine ansieht. Obwohl Dee sein Monadensymbol in 24 „Theoremen“ erklärt, bleibt die Deutung rätselhaft. Dees „Monas“ beeinflusste sowohl den englischen „Magiosophen“ Robert Fludd (1564–1637) wie den Alchemisten Michael Maier (1568–1622) und die „Rosenkreuzer-Manifeste“ des Johann Valentin Andreae (1586–1654). 1562 erhielt Dee eine Abschrift der erst 1606 gedruckten „Steganographia“ des Johannes Trithemius, die ihn enorm faszinierte. Die Verknüpfung von Zeichen mit Zahlen, die geheime Bedeutung eines scheinbar belanglosen Textes, war auch Thema der Kabbala und Trithemius bot zusätzlich eine theologisch-philosophische Rechtfertigung für die magische Beschäftigung mit Geistern, Engeln und Dämonen. Wie Faust wollte auch Dee dort, wo ihm die irdische Gelehrsamkeit auf der Suche nach der „absoluten Wahrheit“ nicht mehr weiterhalf, mit den Mitteln der Magie Kontakt zu Jenseitswesen aufnehmen. Seine diesbezüglichen Versuche blieben indes lange Jahre erfolglos. Erst am 9. März 1582 wendete sich das Blatt. An diesem Tag erhielt Dee den Besuch eines Mannes, der sich Edward Talbot nannte und dem man wegen angeblicher oder tatsächlicher Betrügereien beide Ohrläppchen abgeschnitten hatte. Wie sich zeigte, war dieses „Schlitzohr“ in Wahrheit der Kristallseher und Alchemist Edward Kelley (1555–97). Dee nahm Kelley in seine Dienste und begann mit seinen berühmt-berüchtigten Versuchen zur „Engelsmagie“. Zusammen mit seiner Frau Jane und Kelley veranstaltete er zahlreiche Séancen, über die er ein genaues Tagebuch führte. Nach Dees Überzeugung wurden ihm dabei Offenbarungen von Engeln zuteil, nach Meinung seiner Kritiker verkehrte er dagegen mit bösen Dämonen oder gar dem Teufel persönlich. 251
Abb. V.15: John Dee und Edward Kelley beschwören den Geist eines Toten; undatiert, wohl aus dem 19. Jahrhundert. Interessant sind Dees magische Versuche auch aus zwei weiteren Gründen. Einmal handelt es sich bei den Kontakten zu den „Engeln“ nicht um eigentliche magische Beschwörungen, sondern um Séancen – die Geister wurden nicht herbei gezwungen, sie wurden „gerufen“ und antworteten, sofern sie Lust hatten. Dee und Kelley wirkten eher als Spiritisten denn als Geisterbeschwörer. Der echte Magier braucht kein Medium, seine Beschwörungen verschaffen ihm selbst Zugang zur Jenseitswelt und die beschworenen Engel, Geister oder Dämonen stehen ihm auch nach Wunsch zur Verfügung (zumindest, solange er keine Fehler macht, wie sie die Legenden um die „Zauberlehrlinge“ berichten). Der andere auffallende Umstand ist, dass Dee sich im Besitz zweier von ihm so genannter „Zeigesteine“ befand, die bei den Séancen benutzt wurden, aus Mexiko stammten, und 252
dort einheimischen Schamanen als Zauberuntensilien dienten. Er maß diesen beiden Objekten – einer Glaskugel und einer Scheibe aus poliertem Obsidian – daher magische Kräfte bei. 1583 wurde Dee mit der Reform des Julianischen Kalenders beauftragt, ein Jahr nach der Einführung des Gregorianischen Kalenders in den katholischen Territorien. Das von Dee vorgeschlagene Reformkonzept ähnelte naturgemäß dem katholischen, was den Erzbischof von Canterbury dagegen aufbrachte; die Reform unterblieb und England hatte bis 1752 einen Kalender, der mit dem kontinentalen nicht übereinstimmte. Das Scheitern der Reform signalisierte auch seinen zunehmend schwindenden Einfluss bei Hofe und Dee und Kelley folgten dem polnischen Adeligen, Alchemisten und Paracelsisten Albert Laski (1536–1605) nach Polen. Laski bereiste England und hatte auch Giordano Bruno in seinem Gefolge. Er war bei einigen der Séancen Dees und Kelleys zugegen und ließ sich von der magischen Begeisterung der beiden anstecken. In Krakau schrieb Dee 1584 einen Traktat über die Hierarchie der Engel. Darin erläuterte er auch die bei den Séancen zur Herbeirufung der Engel benutzten Formeln in der „Engelssprache“ Henochisch, die Dee von den Engeln beigebracht worden war. Nachdem sich die finanzielle Lage des Fürsten Laski (ein wichtiger Grund für dessen alchemische Interessen war die Hoffnung auf Beendigung seiner Geldnöte mittels des Steins der Weisen) mehr und mehr verschlechterte, begaben sich Dee und Kelley nach Prag an den Hof von Kaiser Rudolph II. (1552–1612), des berühmten Magiers und Alchemisten auf dem Kaiserthron. Dort geriet Dee in die Fallstricke einer von den päpstlichen Nuntien Malaspina und Sega angezettelten Intrige, die Dee als Ketzer und Hexer der Inquisition überantworten wollten. 1586 wurde Dee per Dekret ausgewiesen und kehrte nach einigen Zwischenstationen drei Jahr später nach England zurück. Während Dee in Prag weilte, war seine großartige Bibliothek von aufgebrachten und aufgehetzten Nachbarn, die ihn als Zauberer fürchteten und hassten, zerstört worden. Kelley blieb in Böhmen, erlangte dort mit seinen alchemischen Experimenten zeitweise hohe Gunst, wurde sogar zum Ritter geschlagen, fiel jedoch danach in Ungnade, wurde 1591 verhaftet und starb vermutlich gegen Ende 1597 unter nicht geklärten Umständen. In England war Dee nicht mehr sehr willkommen, seine Feinde hatten an Boden gewonnen und er wurde nun auch verdächtigt, ein verkappter Katholik zu sein. Die Lage verschlimmerte sich nach dem Tod von Königin Elisabeth I. im Jahr 1603 noch weiter, denn der Sohn Maria Stuarts, Jakob I., der nunmehr den Thron bestieg, misstraute Dee und fürchtete dessen magische Künste. Schon Elisabeth hatte ihn auf einen relativ unbedeutenden Posten als Vorsteher des „Christ College“ in Manchester abgeschoben, den er 1605 ebenfalls räumen musste. Dee geriet in bittere Not und war gezwungen die kümmerlichen Reste seiner Bibliothek Stück um Stück verkaufen. Im Dezember 1608 erlöste ihn der Tod von seinem irdischen Ungemach. 1659 veröffentlichte der Theologe und Humanist Meric Casaubon (1599–1671) einen Auszug aus Dees bis dahin unpublizierten Tagebüchern und Séance-Protokollen. Casaubon war der Meinung, dass es sehr wohl Engel gebe, ebenso wie Geister oder Dämonen. Dee habe aber 253
keineswegs mit Engeln verkehrt, sondern mit den Geschöpfen der Hölle und sei somit ein übler Schwarzmagier gewesen. Casaubons „Wahrer und schicksalsschwerer Bericht über das, was sich vor vielen Jahren zwischen John Dee und einigen Geistern abspielte“ (A true and faithful relation of what passed for many years between Dr. John Dee and Some Spirits) geriet schnell in den Ruf eines Zauberbuchs und prägte die Wahrnehmung Dees bis ins 20. Jahrhundert.
Robert Fludd (1574–1637) Die Konzeption der Makrokosmos-Mikrokosmos-Parallele als Grundlage des magischen Denkens wie als kosmologisches Prinzip wurde von keinem neuzeitlichen Naturmagier nachdrücklicher vertreten als von Robert Fludd.
V.16: Robert Fludd. 254
Er entstammte einer vornehmen walisischen Familie; sein Vater, Sir Thomas Fludd, war Kriegsschatzmeister von Königin Elisabeth I. in den Niederlanden. Fludd studierte am St. John’s College in Oxford, erhielt dort 1596 das Baccalaureat und wurde 1598 Magister artium. Anschließend bereiste er Frankreich, Deutschland, Spanien und Italien. Nach seiner Rückkehr immatrikulierte er sich am Christ Church College in Oxford und wurde 1605 zum Doktor der Medizin promovierte. Danach eröffnete er in London eine Praxis als „trismegistisch-platonisch-rosenkreuzerischer“ Arzt, die so erfolgreich war, dass er einen eigenen Apotheker zur Bereitung seiner naturmagisch konzipierten Arzneien einstellen konnte.29 Sein Antrag auf Aufnahme in das „Royal College of Physicians“ wurde indes mehrfach abgelehnt, weil seine Kritik an der galenischen Krankheitslehre ebenso missbilligt wurde wie sein anmaßendes Auftreten. 1609 wurde er schließlich doch noch aufgenommen und wirkte 1618, 1627 und 1633/34 als „Zensor“. Als im Jahr 1614 die „Fama Fraternitatis“, das erste der sogenannten „Rosenkreuzer-Manifeste“ im Druck erschien, fühlte sich Fludd sogleich angesprochen. Die vorgebliche Geheimgesellschaft der Rosenkreuzer, auf die noch einzugehen sein wird, trat mit drei Schriften an die Öffentlichkeit, in denen der Anschein erweckt wurde, es existiere eine kleine, exklusive Gruppe von Naturmagiern, die nicht nur das Geheimnis des Steins der Weisen kennen würden, sondern mit Hilfe der Naturmagie und eines reformierten Christentums eine bessere Welt erschaffen wollten. Da mitgeteilt wurde, die Rosenkreuzer würden geeignete Bewerber in ihre Reihen aufnehmen, verfassten zahlreiche Gelehrte, die sich selbst für geeignet hielten, öffentliche Antworten an die Rosenkreuzer, in denen sie um Aufnahme baten. Auch Fludd wäre gerne der Bruderschaft beigetreten, deren Vorstellungen und Ziele er unterstützte.30 Zu Verteidigung der Rosenkreuzer gegen deren Kritiker verfasste er 1616 seine „Apologia“, der 1617 der „Tracatus apologeticus“ folgte. Nun begann Fludd auch mit der Arbeit an seinem Opus Magnum, der „Utriusque cosmi maioris scilicet et minoris, metaphysica, physica atque technica historia“ (Metaphysische, Physikalische und technische Geschichte sowohl des Makrokosmos wie natürlich auch des Mikrokomos).
29
30
Siehe Graham Burnett: The cosmogonic experiments of Robert Fludd, in: Ambix 46/3, 1999, S. 113. Burnett, S. 114.
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V.17: Titelblatt von Robert Fludds „Utriusque Cosmi Historia“ aus dem Jahr 1617. Die Abbildung bringt die Idee der Einheit von Makrokosmos und Mikrolosmos sehr plastisch zu Ausdruck. Ähnlich wie Agrippas „Occulta philosopia“ war auch die „Historia“ eine Kompilation metaphysischer und praktischer Naturforschung, verbunden zu einem komplexen System der Naturund Schöpfungsdeutung. Nach ihrer Fertigstellung 1624 umfasste sie zwei massive Quartbände mit 1661 Seiten Text und hunderten von Abbildungen. Der britische Historiker Graham Burnett urteilt in Anspielung auf die Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (Enzyklopädie oder ein vernünftiges Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Handwerke, 35 Bände, 1751–1780) die „Historia“ sei „the most encyclopedic text in pre-Encyc256
lopedic Europe“.31 Im ersten Band „De Macrocosmo“ werden u. a. der Ursprung des Kosmos, seine Struktur, die Musik der Sphären und die Geschöpfe, die die himmlischen und irdischen Sphären bevölkern beschrieben. Der zweite Band behandelt den Mikrokosmos, also den Menschen und seine irdische Lebenswelt. Hier werden „Göttliche Zahlen“ und Prophezeiungen ebenso behandelt wie der Bau des menschlichen Körpers, Physiognomie oder Chiromantie. Die Urmaterie oder Prima Materia der Alchemisten definiert Fludd so: Die Urmaterie nenne ich jenes formlose, uranfängliche Wesen, welches die Möglichkeit alles Seins und alles Nichtseins in sich hält, keine Eigenschaft noch Dimension besitzt, weil es weder groß noch klein, weder fein noch grob, noch überhaupt wahrnehmbar, eigenheits- und neigungslos, weder bewegt noch ruhend, weder mit Farbe noch mit irgendeiner elementaren Eigenschaft begbt, genannt werden muss, aber doch aller Handlungen, alles Leidens und aller Dinge voll, so dass es die Mutter der Welt darstellt.32
Diese Definition vermittelt sehr plastisch die Denkweise Fludds und vieler anderer Renaissance-Alchemisten. Sie formuliert ein Paradox, wie auch die ältere, schon in der Anfangszeit der Alchemie entwickelte Vorstellung der Prima Materia als „Substanz an sich“, ist aber elaborierter und stärker mystisch geprägt. Diese Tendenz setzt sich bei der Erklärung der Elemente fort: Himmel und Erde sind aus der Urmaterie geschaffen, welche – im Empyreum in höchster Feinheit vorhanden – sich stufenweise vergröbert und in allen Sphären nach der Natur der Elemente geartet ist. Die Elemente finden sich nicht allein in der gröberen Elementarwelt, sondern – in größerer Feinheit – auch in der ätherischen und himmlischen Welt. Alle Elemente sind von einem, ihnen entsprechenden geistigen Leben beseelt und Vehikel von Geistern und Seelen, welche das eigentlich Leben der Elemente sind.33
In typisch neoplatonischer Manier geht Fludd von einer „Platonischen Kette“ aus die alles im Kosmos Vorhandene, angefangen vom höchsten Himmel – dem Empyreum – bis zu den einfachsten und alltäglichsten Substanzen, in einen universellen Seinszusammenhang stellt und somit ein allbeseeltes und von göttlichem Geist durchdrungenes Ganzes postuliert. Zusätzlich verkompliziert wird sein Modell des Kosmos dadurch, dass er die biblische Erzählung der Gene-
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33
Burnett, S. 113. Fludd: Historia, Bd. I, Kapitel 1, Abschnitt 4, zitiert nach der Übersetzung von Kiesewetter, Geschichte des Neueren Occultismus S. 233. Fludd: Historia, Bd. I, Kapitel 1, Abschnitt 10, zitiert nach der Übersetzung von Kiesewetter, Occultismus, S. 235.
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sis als Basis für die Entstehung der Elemente verwendet. Gemäß dem ersten Kapitel der Genesis betrachtet er Dunkelheit, Licht und Wasser als die wahren Urelemente, aus denen sich die vier aristotelischen Elemente und die „Prinzipien“ Sulphur, Sal und Mercurius ableiten. Auch Fludds Vorstellung vom Planetensystem ist recht eigenwillig. Eine im Zentrum stehende Erde wird von der Sonne und den Planeten umgeben, wobei die Sonne ihrerseits in der Mitte zwischen der Erde und Gott steht (wobei Gott mit dem Empyreum gleichgesetzt wird, also jenseits der Sphäre der Fixsterne angesiedelt ist). Mit Marin Mersenne (1588–1648) und Pierre Gassendi (1592– 1655) die beide seine alchemische Interpretation der Schöpfungsgeschichte ablehnten, focht er Kontroversen aus, ebenso mit Johannes Kepler, der Fludds mystische Kosmologie angriff. Die für Fludd charakteristische Verschmelzung von beobachtbaren Objekten oder Vorgängen mit metaphysischer Spekulation lässt sich auch an zwei weiteren Beispielen verdeutlichen. Fludd setzte die Sonne mit dem Heiligen Geist gleich, denn von dort komme das Licht und die Lebenskraft. Wegen der kreisförmigen Bewegung der Sonne, sei dieser Lebenskraft ein Kreislauf aufgeprägt. Deshalb müsse auch das Blut im menschlichen Körper zirkulieren. Diesen Gedanken formulierte er 1623 in seiner Schrift „Anatomiae Amphitheatrum“. Dies ist insofern bemerkenswert, als Fludd damit schon fünf Jahre vor William Harveys Werk „Exercitatio Anatomica de Motu Cordis et Sanguinis in Animalibus“ (Anatomische Studien über die Bewegung des Herzens und des Blutes, 1628) die Existenz des Blutkreislaufs postulierte. Harvey war seit 1607 Mitglied des „Royal College of Physicians“ und Fludd, der ebenfalls Mediziner war, kannte dessen Untersuchungen, die allerdings erst später begannen. Völlig anders als bei Harvey basiert Fludds Begründung für die Existenz des Blutkreislaufs auf Spekulationen, die mit den tatsächlichen Gegebenheiten nichts zu tun hatten. Ähnliches gilt für das zweite Beispiel, den Magnetismus. Er erklärte nämlich die Wirkung der sogenannten „Waffensalbe“ mit einer dem Magnetismus entsprechenden Fernwirkung. So wie ein Magnet Eisen über eine gewisse Entfernung anzieht, ohne dieses zu berühren, sollte diese Salbe mittels „sympathetischer Fernwirkung“ eine durch eine Waffe zugefügte Wunde heilen, wenn man damit die Waffe (!) einschmierte. Aus diesem Grund befasste er sich eingehend mit den Experimenten William Gilberts (1544–1603) und dessen im Jahr 1600 erschienenem Werk „Tractatus, sive physiologia nova de magnete, magneticisque corporibus et de magno magnete tellure“ (Abhandlung oder neue Physiologie des Magneten, der magnetischen Körper und dem großen Magnet der Erde). Gilbert wie Harvey stellten als Naturforscher das exakte Gegenteil von Fludd dar: Wo dieser sich mit physiko-theologischen Spekulationen herumschlug und versuchte, die gesamte Schöpfung mit einem christlich-neoplatonisch bestimmten Naturverständnis zu erklären, arbeiteten sie rational-empirisch, ohne ihre Experimente als Bestätigung eines schon vorher festgelegten Naturkonzepts zu verwenden. Dies markiert den grundsätzlichen Unterschied zwischen der Naturmagie und der Naturwissenschaft. Die Naturmagie, sei es die Alchemie oder die Astrologie oder die Kabbala, oder die vielen Spielarten der Mantik, gingen von einem bestimmten Denksystem aus, das durch die Erfahrung lediglich bestätigt, aber nicht widerlegt werden konnte. Die Ex258
perimente der Alchemisten wurden mit dem Ziel durchgeführt, den Stein der Weisen zu erlangen; gelang das nicht, lag der Fehler beim Experimentator. Mit den Naturmagiern der Renaissance kam auch ein Naturverständnis auf, das diesen Ansatz zunehmend in Frage stellte und das Experiment als Frage an die Natur verstand. Die modernen Naturwissenschaftler schließlich entwickeln Theorien, die mittels Experimenten entweder bestätigt oder widerlegt werden können bzw. müssen und im letzteren Fall zu neuen Theorien führten. Fludd gehörte vor diesem Hintergrund sicher nicht zu den Neuerern wie die oben schon genannten Renaissancemagier. Er weigerte sich hartnäckig, die Welt so zu sehen, wie sie sich einem vorurteilslosen Blick darbot, sondern suchte in ihr die Bestätigung seines vorgefassten theologisch-metaphysisch-mystischen Konzepts. Fludd gehört kulturhistorisch in eine Reihe mit Theosophen wie Jakob Böhme (1575–1624), Emanuel von Swedenborg (1688–1172) oder Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782), die ebenfalls ein Interesse an der natürlichen Schöpfung mit religiös-mystischen Spekulationen verbanden.
V.3 Alchemie, Naturmagie und Medizin bei Paracelsus (1493/94–1541) Der bedeutendste Naturmagier der Renaissance war ohne Zweifel Theophrastus Bombastus von Hohenheim, bekannt unter seinem Gelehrtennamen Paracelsus.
Abb. V.18: Paracelsus. 259
In ihm verbinden sich in geradezu exemplarischer Weise zwei grundlegende Tendenzen der Renaissance, nämlich das Vertrauen in die eigenen geistigen Fähigkeiten und die grundlegende Erkenntnis, dass die Alten die Welt nur zum Teil gekannt und nur sehr unvollkommen verstanden hatten, einerseits, und das Aufblühen mystisch-magischen Denkens andererseits. Nicht nur sein Denken, auch sein unstetes und leidvolles Leben machen diesen Mann zu einem Wanderer an den Grenzlinien zwischen der mittelalterlichen und der frühmodernen Welt. Er war ein Getriebener, einer der Bewunderung ebenso wie Ablehnung, ja Hass, auslöste, anderen und vielleicht auch sich selbst oft ein Rätsel und nicht wirklich verstanden, auch wenn viele ihn heute gerne für sich vereinnahmen wollen.
Sein Lebensweg Geboren wurde Paracelsus als Theophrastus Bombast von Hohenheim bei der Teufelsbrücke an der Sihl, in der Nähe des Ortes Einsiedeln in Schwyz. Seine namentlich nicht bekannte Mutter war Aufseherin des Hospizes des Benediktinerklosters zu Einsiedeln und wahrscheinlich dessen Leibeigene.
Abb. V.19: Kloster Einsiedeln, Ansicht von 1630. 260
Sein Vater war der Arzt, Naturforscher und Alchemist Wilhelm Bombast von Hohenheim (wahrscheinlich 1457–1534), der seinerseits ein unehelicher Sohn des Georg Bombast von Hohenheim (1453–1499) war, eines Komturs des Johanniterordens in Rohrdorf bei Calw im Nordschwarzwald. Da seine Eltern nicht verheiratet waren, ging der rechtliche Status der Mutter auch auf ihren Sohn über. Nach deren frühem Tod zog der Vater mit seinem Sohn 1502 nach Villach in Kärnten, wo er als Stadtarzt fungierte. Durch seinen Vater erhielt Paracelsus erste Einblicke in Medizin, Bergbau und Scheidekunst. Zu seinen Lehrern zählt Paracelsus mehrere Bischöfe und Äbte, darunter auch den Abt von Sponheim, allerdings ohne dessen Namen zu nennen; ob damit Trithemius gemeint ist, steht nicht fest, erscheint aber plausibel. Ob er je eine Universität besucht hat ist unsicher. Er selbst behauptete, an mehreren Universitäten studiert zu haben „bei den Teutschen, bei den Italischen, bei den Frankreichischen“ und dort „den grunt der arznei gesucht“ zu haben. Er gab an, in Ferrara den medizinischen Doktortitel erworben zu haben, konnte dies aber nicht beweisen, da er die entsprechenden Dokumente angeblich verloren hatte und an der Universität von Ferrara keine entsprechenden Belege existieren. Allerdings bezeichnete ihn ein 1514 nachweislich in Ferrara promovierter Arzt namens Wolfgang Thalhauser in einem Begleitbrief zur Druckausgabe der „Großen Wundarznei“ des Paracelsus, erschienen im Jahr 1536, als „beider arznei doctori“ (gemeint ist damit die „eigentliche“ Medizin der inneren Organe und die Chirurgie oder Wundmedizin). Nach seinen medizinischen Lehrjahren praktizierte Paracelsus als Feldarzt. Er nahm an mehreren Feldzügen teil und zog 1520 mit den Truppen des dänischen Königs Christian II. (1481–1559) in das eroberte Stockholm ein. In diesen Jahren konnte Paracelsus ohne Zweifel profunde Kenntnisse in der Behandlung von Verletzungen und der Wundheilung erwerben, nutzte aber die Gelegenheit auch zu montanistischen Studien, wo immer dies möglich war, da er wohl damals schon glaubte, dass in den Salzen, Erzen und Mineralien auch Heilkräfte steckten. Heilwissen zu erwerben war sein Bestreben, aber „nicht allein bei den doctoren, sondern auch bei den scherern, badern, gelerten ärzten, weibern, schwarzkünstlern […] bei den alchimisten, bei den klöstern, bei edlen und unedlen, bei den gescheiden und einfeltigen“.34 Sein Interesse am Erzbergbau und der Metallverhüttung führte Paracelsus um 1522 auch nach Schwaz in Tirol, einem Zentrum des Silberbergbaus. Hier erwarb er eingehende alchemisch-metallurgische Kenntnisse und studierte auch die Auswirkungen diverser Chemikalien auf den Organismus. Um diese Zeit begann er auch, sich den gräcolateinischen Humanistennamen „Paracelsus“ zuzulegen, dessen Bedeutung nicht ganz klar ist; wahrscheinlich handelt es sich um die Übersetzung von „Hohenheim“ nach „para“ für hoch und „celsus“ von „cella“, die Zelle bzw. das Haus. Und er schrieb das erst lange nach seinem Tod gedruckte Werk „Von der Bergsucht“, d. h. 34
Rudolf Werner Soukup: Chemie in Österreich. Bergbau, Alchemie und Frühe Chemie. Wien, Köln und Weimar 2007, S. 209.
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den durch die Arbeit in den Berg- und Hüttenwerken verursachten Krankheiten. Der enge Kontakt mit Berg- und Hüttenleuten und Bauern bedingte wohl auch seine Sympathie für deren Aufstand anno 1525. (Der Anführer des Tiroler Aufstands, Michael Gaismair (1490–1532, ermordet), war ursprünglich Bergschreiber.) Der Aufstand brach nach wenigen Monaten zusammen. Paracelsus war vom Sommer 1524 bis zum Frühsommer 1525 in Salzburg, wo er sich intensiv mit der Lehre Luthers auseinandersetzte. In einem Brief an Luther und Melanchton vom März 1525 beklagt sich Paracelsus, er sei Verfolgungen ausgesetzt, weil er die Bevölkerung aufgewiegelt haben sollte. Zu dieser Zeit herrschte in Salzburg der Erzbischof Mathias Lang von Wellenburg (1468–1540), der nicht alleine die aufständischen Bauern und Bergleute, sondern auch alle Protestanten gnadenlos verfolgte. Wenig später musste Paracelsus Salzburg fluchtartig verlassen, unter Zurücklassung einiger unbezahlter Rechnungen und einer Anzahl von Büchern und Gerätschaften, die sein Hauswirt in Verwahrung nahm. Zu den Büchern zählten auch eigene Manuskripte, was die Eile des Aufbruchs nachdrücklich unterstreicht. Man darf dabei nicht vergessen, dass Paracelsus als Leibeigener des Klosters Einsiedeln keinerlei rechtlichen Schutz besaß. Paracelsus schrieb seinem Wirt, er möge die Kleider verkaufen, die übrigen Sachen aufbewahren, und ging vermutlich zunächst nach Nürnberg und über Ingolstadt und Baden-Baden nach Straßburg, wo er sich Ende 1526 aufhielt. Am 5. Dezember erlangte er sogar das Bürgerrecht und die Möglichkeit, sich niederzulassen. Nun bot sich die Möglichkeit, in den Kreis der Honoratioren aufzusteigen, da kam ein noch verlockenderes Angebot aus Basel. Paracelsus hatte dort den bekannten Verleger und Drucker Johannes Froben (1460–1527) medizinisch erfolgreich behandelt und Froben verschaffte ihm eine Anstellung als Stadtarzt und die Berufung als Professor der Medizin an die Universität Basel. Im März 1527 traf Paracelsus in Basel ein, schon ein knappes Jahr später, im Februar 1528 musste er die Stadt wieder verlassen. Vorangegangen war ein geradezu legendärer Streit mit der Basler Ärzteschaft, der von beiden Seiten mit rigoroser Härte ausgetragen wurde. Der neue Medizinprofessor erregte zunächst das Missfallen seiner Kollegen, indem er seine Vorlesungen in deutscher Sprache hielt. Die damals übliche Gelehrtensprache war Latein und Paracelsus ist der erste Professor, der diese Regel brach – auch hier seiner Zeit weit voraus. Schlimmer war, dass er die galenische „Säftelehre“, wonach ein Ungleichgewicht der vier Körpersäfte Blut, Schleim, Schwarze und Gelbe Galle die Ursache innerer Leiden sein sollte, für falsch erklärte und mit all’ seiner beachtlichen Fähigkeit zu provozierenden Formulierungen nicht nur die Lehre, sondern auch deren Vertreter bekämpfte. Seine Auftritte gipfelten am 24. Juni 1527 in der öffentlichen Verbrennung eines „offiziellen“ Lehrbuchs. Sollte Paracelsus wirklich geglaubt haben, mit solchen Methoden seine eigenen Ansichten erfolgreich durchsetzen zu können, wurde er enttäuscht. In einer anonymen Schmähschrift – in lateinischer Sprache – wurde er als „Cacophrastus“ tituliert und als eine Schande für die Medizin und die Ehrbarkeit der Gelehrten dargestellt. Da sein Gönner Froben am 26. Oktober 1527 starb wurde seine Lage zunehmend schwieriger und Anfang Februar 1528 räumte Paracelsus schließlich das Feld. 262
Er nahm nun sein unstetes Leben wieder auf, gelangte über Colmar nach Nürnberg, wo er zwei Schriften über die Heilung der Syphilis drucken ließ, und kam über etliche weitere Zwischenstationen 1530 nach St. Gallen. Der dortige Bürgermeister, Christian Studer, wird sein Patient und nimmt ihn bei sich auf, verstirbt aber Ende Dezember 1531. 1534 war Paracelsus kurze Zeit in Innsbruck und wirkte als Pestarzt in Sterzing in Südtirol. Weiter ging es nach Meran, St. Moritz, Pfäfers (heute Bad Ragaz), ins Allgäu und schließlich nach Ulm und Augsburg. Hier erschien 1536 eine der wenigen zu seinen Lebzeiten gedruckten Schriften, die „Große Wundartzney“. Über Bratislava gelangte er 1537 nach Wien. In einer Lebensbeschreibung des Paracelsus mit dem melodischen Titel „Rhapsodia vitae Theophrasti Paracelsi“, die der Alchemist Peter Payngk (1575–1645) verfasste, seines Zeichens Laborant am Hofe Kaiser Rudolphs II. in Prag und später Hofchymicus des Dänenkönigs Christian IV. in Kopenhagen, wird ein interessanter Vorfall geschildert, der ein bezeichnendes Licht auf die Art und Weise wirft, in der Paracelsus sich verhielt. Offenbar begann er in Wien zu praktizieren, d. h. medizinische Behandlungen vorzunehmen und Medikamente herzustellen. Dazu brauchte er aber die Zustimmung der medizinischen Fakultät der Universität von Wien. Paracelsus hatte diese Genehmigung nicht eingeholt, weshalb eine Abordnung bei ihm vorstellig wurde, um eine Disputation oder eine Examinierung seiner Kenntnisse zu fordern. Paracelsus fertigte die Delegation kurz und schroff ab: „Er beweise seiner kunst mit der thatt. Er sei ein alchimist, trag seine apotecken in der tasche. Sie sollten in 14. tagen oder dergleichen wiederkommen.“35 Als die Herren einige Tage später erneut anklopften wurde er anscheinend im Schlaf überrascht, erklärte, er müsse sich erst anziehen – und verschwand durch den Hinterausgang. Dem Wirt trug er auf, der Abordnung zu bestellen, „daz er ihnen gnug geantwortet hett“. In einem Brief an den Arzt und erklärten Paracelsisten Theodor Zwinger (1533–1588) berichtet der Arzt und Humanist Crato von Crafftheim (1519– 1585), ein ebenso entschiedener Gegner von Paracelsus, dass jener in Wien zweimal mit Kaiser Ferdinand I. (1503–1564) zusammengetroffen sei und diesem gegenüber bemerkt habe, er wolle nicht mit den Professoren diskutieren, da diese ihre Medizin hätten und er die seine.36 Es ist nicht anzunehmen, dass Paracelsus der Diskussion aus Angst aus dem Weg ging, eher schon, dass er ohnehin nicht mit einem positiven Resultat, also seiner Praxiszulassung, rechnete und eingedenk seines cholerischen Temperaments persönliche Schwierigkeiten befürchtete. Merkwürdig bleibt die Flucht aber doch, besonders, wenn man bedenkt, dass zwei Unterredungen mit dem Kaiser – falls diese tatsächlich stattgefunden haben – den meisten Wiener Professoren niemals zuteilwurden. Der Kaiser hätte Paracelsus auch als Leibarzt bestallen können – eine Zustimmung der Fakultät wäre dann belanglos gewesen.
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Soukup, S. 224. Soukup, S. 224.
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Wir nähern uns den letzten Stationen auf dem Lebensweg von Paracelsus. Von Wien wandte er sich nach Villach, wo er vier Jahre nach dem Tod seines Vaters, am 12. Mai 1538 seine Erbschaftsansprüche beurkunden ließ. Er widmete den Kärtner Landständen drei Schriften, in der Hoffnung, dadurch seine Stellung zu festigen, was allerdings nicht gelang. Er zog daher durch verschiedene Orte in Kärnten und Krain (dem heutigen Slowenien) und gelangte über die Steiermark im Frühjahr 1541 schließlich nach Salzburg.37 Kurz vorher war der Herzog Ernst v. Bayern (1500–1560), der Administrator der Bistümer Salzburg und Passau, in Salzburg eingezogen, und wie es scheint, hat Paracelsus diesen auch behandelt. Jedenfalls existiert ein Rezept in der Österreichischen Nationalbibliothek, das besagt, Paracelsus habe „dise nachfolgende pillulas Hertzog Ernsten, Bischofen zue Saltzburg, verehrt“.38 Allerdings ging es nun auch mit Paracelsus’ eigener Gesundheit bergab. Woran er starb ist nicht bekannt; sicher haben sein unsteter Lebenswandel und seine Alkoholsucht eine wichtige Rolle gespielt. Indizien sprechen zudem für eine chronische Quecksilbervergiftung, was bei seiner intensiven Beschäftigung mit Quecksilber und Quecksilberverbindungen naheliegend erscheint. Am 21. September 1541 machte Paracelsus im Wirtshaus „Zum Weißen Roß“ in der Kaigasse in Salzburg im Beisein einiger Freunde sein Testament, „zwar schwachen Leibes und auf einem Reisebett sitzend, aber bei vollem Verstand und guter geistiger Verfassung“.39 Drei Tage später starb er. Seine Hinterlassenschaft umfasste etliche ziemlich wertvolle Stücke gediegenes Gold, Golderz, in Silber gefasste Kristalle, eine Anzahl Bücher und erstaunlicherweise auch ein offenbar selbst konstruiertes Modell einer sog. Wasserkunst, d. h. einer Vorrichtung zum Abpumpen von Grubenwasser aus Bergwerksstollen. Dies belegt Paracelsus’ anhaltendes Interesse am Bergbau. In Peter Payngks Biographie heißt es dazu: „Die Venediger haben ihm 18000 Kronen nur für die probe [gemeint ist wohl das Modell] geben wollen des waßerwergks.“40 Wenn das stimmt, dann war Paracelsus im Besitz außergewöhnlicher technischer Kenntnisse, denn die Venezianer waren selbst bergmännisch sehr versiert und hätten keine derart hohe Summe für ein reines Technikspielzeug geboten. Der im Haus neben dem „Weißen Ross“ wohnende und mit Paracelsus befreundete Michael Setznagel (1490–1558), seines Zeichens Notar, Salzburger Hofgerichtsschreiber sowie hochfürstlicher Beamter und Mitglied des äußeren Rates der Stadt Salzburg, war bei der Testamentsabfassung zugegen; er stiftete das heute noch zu besichtigende Epitaph am Grab von Paracelsus im Friedhof der Sebastianskirche in Salzburg.
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Soukup, S. 228. Soukup, S. 231. Soukup, S. 231. Soukup, S. 232.
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Paracelsus der Mensch – Charakter, Persönlichkeit, Erscheinung Den historischen Quellen nach zu urteilen, war Paracelsus kein sonderlich sympathischer Mensch. Er wirkte verschroben, führte beispielsweise stets ein großes Henkersschwert mit sich, mit dem er bei Wutanfällen auch herumfuchtelte. Er war häufig schlecht gelaunt und ließ das seine Umgebung auch ohne Selbstbeherrschung merken. Generell wird immer wieder seine Grobheit hervorgehoben, wobei Paracelsus keinen Unterschied zwischen hoch- und niedriggestellten Zeitgenossen machte. Ein wichtiger Umstand könnte auch eine Bemerkung in der „Rhapsodia“ sein, wonach er gestottert habe: „Ehr hatt nicht woll reden kont. Hatt […] daz maul hin und her geworfen, ehe ehr hats heraus gebracht, dz offt große heren gemeinet haben, er spotte ihr.“41 Er litt zeitweise an Halluzinationen, die nicht nur durch seine Alkoholsucht bedingt waren, sondern auch auf eine chronische Schwermetallvergiftung zurückzuführen sind. Eine 1990 durchgeführte Analyse noch vorhandener Knochenteile ergaben Werte von bis zu 10 Mikrogramm Quecksilber je Gramm Knochenmasse. Derart hohe Belastungen führen u. a. zu der von Paracelsus bekannten nächtlichen Ruhelosigkeit und zu Halluzinationen bzw. Angstzuständen, die wiederum das Umsichschlagen mit dem Schwert hervorriefen. Bei der erwähnten Skelettuntersuchung wurden am Becken und dem Schädel Hinweise auf anatomisch weibliche Merkmale gefunden, was auf das sog. „androgenitale Syndrom“ hinweist. Dabei handelt es sich um einen angeborenen Enzymdefekt, der bei einem chromosomal weiblichen Organismus eine Minderproduktion weiblicher und eine Überproduktion männlicher Hormone bewirkt. Die Folge ist eine Ausbildung männlicher Geschlechtsmerkmale, Stimmbruch, Bartwuchs und frühzeitige Glatzenbildung, allerdings in einem genetisch weiblichen Körper. Die beobachteten Skelettanomalien könnten Aussagen erklären, nach denen Paracelsus keinen sexuellen Verkehr mit Frauen hatte, was wiederum zu Gerüchten Anlass gab, er sei als Kind kastriert worden. Paracelsus äußerte seinem Freund, dem Reformator Leo Jud (1482–1542) gegenüber „in wahrheit, so habe ich mein leben lang kein weibeßbild beruret“.42 Sein zeitweiliger Schüler, der Basler Humanist, Buchdrucker und Verleger Johannes Oporinus (1507–1568) schrieb dazu: „Es zog ihn überhaupt nichts zu den Frauen, sodass ich glaube, dass er überhaupt nie eine erkannt hat.“43 Die vorhandenen Indizien reichen nicht aus, um ein androgenitales Syndrom bei Paracelsus sicher zu diagnostizieren, sie legen aber eine solche Vermutung nahe. Ein Mensch, 41 42 43
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der sich seiner sexuellen Identität nicht sicher sein kann, wird wahrscheinlich eher zu dem unangepassten, schroffen, teilweise exzessiven Verhalten neigen, das Paracelsus kennzeichnet. Nimmt man noch die körperliche Belastung durch den Umgang mit giftigen Substanzen, den übermäßigen Alkoholkonsum und die Mühen der ständigen Wanderschaft hinzu, ist es nicht zu verwundern, dass Paracelsus auf Viele abstoßend wirkte. Er muss aber in seinem Wesen auch Züge besessen haben, die faszinierten. Sein enormer Wille, seine weit über das normale Maß hinausreichende Bildung, seine Bereitschaft, Menschen nicht nach ihrem sozialen Rang, sondern nach ihrem individuellen Wert zu beurteilen und auch von Leuten zu lernen, die andere Gelehrte gar nicht zur Kenntnis nahmen, seine Verachtung für gesellschaftliche Konventionen, und nicht zuletzt seine Überzeugung, den Menschen helfen zu wollen, zu können und zu müssen – das alles macht Paracelsus zu einer Ausnahmepersönlichkeit. Einer so vielschichtigen Gestalt kann man sich nur mit großer Behutsamkeit und auch nur bis zu einem bestimmten Punkt annähern, schnell gefällte Urteile werden immer falsch sein. In der Wiener „Albertina“, die eine der bedeutendsten graphischen Sammlungen der Welt beherbergt, befinden sich zwei Kupferstichporträts, die als die einzigen authentischen von Paracelsus gelten. Das eine stammt von 1538, das andere von 1540, beide wurden von dem Monogrammisten AH (vermutlich Augustin Hischvogel) signiert.
Abb. V. 20: Paracelsus im Alter von 45 Jahren. 266
Abb. V. 21: Paracelsus im Alter von 47 Jahren, kurz vor seinem Tod. Die Profilansicht von 1538 zeigt einen ernst und nachdenklich blickenden Menschen mit ausdrucksstarken Zügen und über dem Haupt das Motte des Hohenheimers „Alterius non sit qui suus esse potest“ – Wer in sich selbst bestehen kann, gehöre keinem anderen an. Dieses Motto passt sehr gut zu einem Mann, der zeitlebens seinen eigenen Weg ging. Das zweite Porträt zeigt ihn von schräg links, in einem ganz ähnlichen einfachen Gewand, die Hände auf sein Schwert gestützt. Die Mundwinkel sind leicht nach unten gezogen, der Gesichtsausdruck melancholisch, der Blick nicht zum Betrachter, sondern in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Vielleicht spürte Paracelsus zu dieser Zeit schon, dass sein Leben sich dem Ende näherte und er muss wohl das Gefühl gehabt haben, nicht viel von dem erreicht zu haben, was er sich vorgenommen hatte. In einer seiner späten Schriften drückt er dieses Gefühl des Scheiterns so aus: „Ich gedenk, dass ich Blumen sah in der Alchimey, vermeinte, das Obst wäre auch da. Aber da war nichts. Viel habe ich verloren …“44 Die Blütenträume hatten keine Früchte getragen. Der ernste, sogar fast abweisende Charakter beider Porträts stimmt noch nachdenklicher, wenn man 44
Soukup, S. 235.
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weiß, dass Paracelsus diese Bilder sehr wichtig nahm. Er äußerte sich dazu in einer seiner Schriften, die im selben Jahr entstand wie das erste Porträt mit den Worten: Ein mensch, der sich abconterfeten [malen oder zeichnen] laßt und sein conterfet [Bild, Konterfei] gesehen wird, vil lieber ist dan sonst. Und so er stirbt und sein biltnus und sein conterfet vor augen stet, wird sein vil weniger, ja gar nicht vergessen, das dan sonst gar balt geschicht.45
Paracelsus wollte nicht vergessen werden, aber er wollte sich auch nicht für die Nachwelt verbiegen; wie stets kam es ihm nicht auf Sympathie an, sondern auf Wahrhaftigkeit.
Paracelsus – der Arzt als Alchemist oder der Alchemist als Arzt Worin besteht eigentlich die schon mehrfach angesprochene außerordentliche Bedeutung von Paracelsus, die ihn bis heute berühmt macht? Sie liegt, kurz gesagt, nicht in einer herausragenden Entdeckung (obwohl er die Chemie bzw. Alchemie durchaus mit einigen neuen Errungenschaften bereicherte), sondern in seinem revolutionären Verständnis von Krankheit und Therapie. Bislang stütze sich die gelehrte Ärzteschaft auf die von dem antiken griechischen Arzt Galen (eigtl. Galenos von Pergamon, um 129 – um 216) entwickelte „Vier-Säfte-Lehre“.
Abb. V.22: Die antiken Ärzte Galenos von Pergamon und Hippokrates. Fresko aus dem 13. Jahrhundert in der Krypta des Doms von Anagni (Latium, Italien). 45
Liber de imaginibus Theophrasti Paracelsi, 1538, zitiert nach Soukup, S. 235.
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Diese, in Anlehnung an die Vier-Elemente-Lehre des Aristoteles entstandene Theorie besagte, dass vier Körpersäfte (Humores, davon leitet sich auch unsere Wort „Humor“ ab) die Körperfunktionen kontrollieren. Diese sind Blut, Schleim, Schwarze und Gelbe Galle. Stehen diese vier Säfte nicht in einem für jeden Menschen individuellen Gleichgewicht, wird man krank. Die Therapie erfolgt durch eine Behandlung, die entweder einen im Überschuss vorhandenen Saft reduzierte, z. B. das Blut durch Aderlass, oder den Körper zur Bildung eines zu wenig vorhandenen Saftes anregt. Je nachdem, welcher der vier Säfte bei einer bestimmten Person geburtsbedingt überwog, unterschied Galen vier Persönlichkeitstypen, den Sanguiniker (von lat. sanguis, das Blut), den Phlegmatiker (griech. phlegma, der Schleim), den Choleriker (griech. chole, Galle) und dem Melancholiker (griech. melas chole, schwarze Galle). Ein weiterer wichtiger Punkt der galenischen Lehre war die Annahme, dass die Natur die Heilmittel für jede Art von Krankheit bereitstelle, so wie sie auch die Krankheit hervorbringe. Es handle sich also darum, die Arzneien zu finden, nicht, sie zu erzeugen. Gesucht wurden sie nahezu ausschließlich im Tier- und Pflanzenreich. Besondere neue Forschungen wurden, in Übereinstimmung mit der Kirche, für überflüssig erachtet; Galen und seine antiken Interpreten hatten alles Wesentliche gesagt, die Medizin war, wie die Theologie, dazu da, die alten Texte richtig auszulegen, hier und dort vielleicht ein Komma einzufügen oder ein Wort zu ergänzen, mehr aber nicht. Paracelsus stellte dieser Auffassung eine vollständig andere Lehre gegenüber. Er entwickelte sein Krankheitskonzept von der Alchemie ausgehend und gründete seine Therapien häufig auf alchemisch hergestellte mineralische Arzneien, vorrangig Antimon- und Quecksilberpräparate. Damit wurde der Alchemie eine ganz neue Zielsetzung gegeben: Anstatt der Herstellung des legendären Steins der Weisen, der unedle Metalle in Gold verwandeln sollte, propagierte Paracelsus den Arzt-Alchemisten, auch Chemiater oder Iatrochemiker genannt. Krankheiten entstehen nach ihm nicht durch ein gestörtes Säftegleichgewicht, sondern durch die fehlerhafte Funktion eines Organs, ein völlig neuartiger Standpunkt. Jedes Organ wird von einem Archeus, einem „inneren Alchemisten“ gesteuert, der im Körper eben jene Art von Stoffumwandlung bewirkt, die der Alchemist im Labor praktiziert – nur verwandelt er Nahrung in körpereigene Substanzen. Der Arzt muss zunächst einmal herausfinden, welches Organ, bzw. welcher Archeus nicht richtig arbeitet um ihn dann zu kurieren. Dieses aus der Alchemie abgeleitete Krankheitskonzept führt konsequenterweise auch zu alchemischen Heilmitteln, die eng an die Substanzen gebunden sind, mit denen die damalige Alchemie umging und die mit den damals bekannten (al)chemischen Labormethoden hergestellt wurden. Da er sich nicht auf die literarische Tradition der galenischen Lehre stützen konnte, ersetzte Paracelsus die Textexegese durch Experiment und Beobachtung. Gegen den trüben Schein uralter Schriften setzte Paracelsus das helle „Licht der Natur“. Und er schaute dem Volk aufs Maul. Bergleute und Kräuterweiber waren ihm eine oft genutzte Quelle der Er269
kenntnis. Wichtig war nicht in erster Linie eine konsequent durchstrukturierte, in sich widerspruchsfreie Theorie, sondern der Heilerfolg. Und der stellte sich bei der nichtakademischen Medizinpraxis keineswegs seltener ein, als bei den Doctores der Universitäten. Während letztere stets sehr gut erklären konnten, warum eine Therapie leider versagt hatte, wussten Kräuterfrauen und Hebammen oft nicht so recht, warum ein bestimmtes Mittel half, nahmen das aber gerne in Kauf. Mit Paracelsus gelangt die Volksmedizin erstmals in den Bereich des akademischen Diskurses, und somit ist Paracelsus der Begründer der Medizin als Erfahrungswissenschaft. Seine Krankheitslehre legte er in dem 1529/30 verfassten „Opus Paragranum“ (Titel schwer übersetzbar, etwa: über, neben, entsprechend dem Samen) und seinem „Opus Paramirum“ (etwa: über, neben, entsprechend dem Wunder) dar, an dem er schon 1520 zu arbeiten begann und das er 1531 abschloss. Zu einer Erfahrungswissenschaft gehört unabdingbar auch das Experiment und Paracelsus war ein begeisterter Experimentator. Getreu seiner Auffassung vom Arzt als Alchemist stellte er fest: Also ist auch not, der Arzt sei ein Alchemist; will er nun derselbig sein, muss er die Mutter sehen, aus der die mineralia wachsen. Nun gehen ihm die Berg nicht nach, sondern er muss ihnen nachgehen.46
Die Arzneien kamen aus den Mineralien, die im Inneren der Erde – ihrer Mutter – heranwuchsen, reiften und sich langsam veränderten. Sein großes Interesse für das Bergwesen war entweder die Ursache, oder Folge seiner Krankheitslehre. Ein langjähriger Famulus von Paracelsus namens Ägidius von der Wiesen beschrieb dem Chemiater Johannes Popp (1577–1629) den Laborbetrieb des Paracelsus: So sagte er [Ägidius] mir, dass Paracelsus öftermals seinen Discipulis [Schülern] allerlei Erz unter die Hände gegeben, er aber vor seine Person hätte eigentlich […] nichts Sonderliches gearbeitet, ohne [außer] wenn sie etwas verfertiget hätten, hätten sie es ihm überantworten müssen, davon hätte er wieder Mixturen gemacht und ihnen ferner zu arbeiten untergeben. Er aber hätte einen verschlossenen Ofen gehabt, darinnen wären unterschiedliche Phiolen gestanden, da hätte niemand dazukommen können noch wissen mögen, was for Materialia er darinnen gehabt, er könne aber leicht erachten, was er müsste unter Händen gehabt haben.47
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Soukup, S. 200. Oliver Humberg (Hg.): Johann Agricola, Chymische Medicin. Ein Kompendium der Bereitung und Anwendung alchemistischer Heilmittel; nach der Erstausgabe 1638, Elberfeld 2000, S. 646.
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Paracelsus ließ also Standardprozeduren von seinen Laboranten ausführen und nahm selber nur die entscheidenden Handgriffe vor. Dass er dabei Wert auf Geheimhaltung legte, ist leicht zu verstehen. Wie Ägidius weiter berichtete, habe ihn der Meister einmal 16 Wochen an einem Antimonpräparat arbeiten lassen; als es fertig war, meinte Paracelsus zu ihm: Ägidi, wenn Du wüßtest, wie du jetzt gearbeitet, nimmermehr würdest du es mir gegeben haben.48
Als Ägidius heiraten wollte, habe Paracelsus nicht gerade begeistert reagiert, „denn er hielte von dem Weibernehmen nicht viel“, zahlte seinem Famulus aber immerhin den stolzen Betrag von 400 Salzburger Dukaten als Lohn, „welche er neulich selber hatte münzen lassen“. Paracelsus war also im Besitz einer beträchtlichen Menge Silber, was Gerüchte nährte, er kenne das Geheimnis des Steins der Weisen. Weit davon entfernt, solche Vermutungen zu bestreiten, erklärte er stattdessen, er könne wohl auch Metalle verwandeln, aber das sei gar nicht sein Bestreben, sondern eher mal Mittel zum Zweck. Interessant ist auch die Gabe, die Ägidius außer den Dukaten erhielt: [Er] lehrte mich daneben das Opodeltoch recht zuzurichten und sagte, damit könne ich mich reichlich ernähren. Und befahl mir daneben, ich sollte mir diese beide Stücke, den Mercurium [das Quecksilber] und Antimonium befohlen sein lassen, denn wenn ich recht damit umgehen würde, so könnte ich Zeit meines Lebens genug daran haben.49
Hier tauchen wieder die beiden wichtigsten Arzneien, Quecksilber und Antimon auf; gemeint sind aber nicht die Elemente selbst, sondern unterschiedliche Salze derselben. Der „Opodeltoch“ (Opodeldok) ist eigentlich kein paracelsisches Medikament, sondern ein typisches Geheimmittel, wie es damals viele Ärzte besaßen und unter wohlklingenden Namen verkauften. Die Erfindung dieses Präparates, das aus einer alkoholische Auflösung von Seife unter Zusatz von Salmiakgeist, Kampfer sowie Rosmarin- und Thymianöl bestand, wird Paracelsus zugeschrieben, wofür aber keine ausreichenden Belege existieren. Es wurde gerne als Rheumamittel oder gegen die Gicht benutzt und galt Mitte des 19. Jahrhunderts noch als anerkanntes Apothekenpräparat.50 Die Aussage des Laboranten zeigt, dass mit einem solchen Mittel gutes Geld zu verdienen war.
48 49 50
Ebd. Ebd. Wittstein II, 197.
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Paracelsus der Alchemist Paracelsus veränderte nicht nur die Medizin nachhaltig, sondern auch die Alchemie. Beide sind für Paracelsus eng miteinander verwandt, aber letztlich nur Teilbereiche eines umfassenderen Naturkonzepts. Paracelsus unterschied fünf hierarchisch angeordnete Seinsebenen der geschaffenen Welt, die in neuplatonischer Manier eine Verbindung des höchsten Gottes mit der niedrigsten Materie herstellten. Von diesen fünf „Entien“ ist nur die unterste, das „Ens corporale“, mit der praktischen Alchemie verknüpft, doch wirken auch die höheren, geistigen Ebenen in die Alchemie hinein, die als gottbegnadete menschliche Kunst begriffen wird. Die Vorstellung, der Alchemist könne kraft seiner Einsicht in das verborgene Sinngefüge der Natur diese in mancher Hinsicht vervollkommnen, teilt Paracelsus. Zwei unmittelbar auf die Alchemie bezogene Aspekte sind die Lehre von den drei „Prinzipien“ (Tria prima) und die Idee der „Quintessenz“. Die Materietheorie der Alchemie ging zunächst von den vier Elementen des Aristoteles, Feuer, Wasser, Luft und Erde, aus. Diese wurden im Mittelalter von arabischen Alchemisten durch die zwei „Prinzipien“ Sulphur und Mercurius ergänzt, die mit den chemischen Elementen Schwefel (dem Feuer verwandt) und Quecksilber (dem Wasser und der Luft verwandt) verbunden wurden. Diese Prinzipien bildeten eine Zwischenstufe zwischen den vier aristotelischen Elementen und den konkret existierenden Stoffen. (Siehe Teil II, Kapitel 4) Paracelsus fügte das Prinzip „Sal“ (Salz) hinzu. Darunter verstand er die unbrennbaren und (mehr oder weniger) unschmelzbaren Substanzen – modern ausgedrückt die Metalloxide (weniger die Stoffe, die heute als Salze bezeichnet werden). Die Einführung dieses dritten Prinzips ordnete auch die Rückstände einer Verbrennung einer Materiekategorie zu und ergänzte somit die bisherige Lehre, in der sich solche Rückstände (Caput mortuum, „Totenkopf “) weder dem Schwefel noch dem Quecksilber sinnvoll zuweisen ließen. Paracelsus erfand hierbei nichts völlig Neues; ähnliche Konzepte finden sich schon bei der alexandrinischen Alchemistin Kleopatra und bei dem mittelalterlichen Alchemisten Geber latinus sowie in dem im 15. Jahrhundert niedergeschriebenen „Buch der Heiligen Dreifaltigkeit“, das Paracelsus mit Sicherheit kannte und rezipierte. Er machte aus der Dualität der Prinzipien eine Trinität von Geist (Spiritus, steht dem Schwefel nahe), Seele (Anima, verwandt mit Qucksilber) und Körper (Corpus, bzw. Salz). Dies erleichterte nicht nur die praktische Interpretation der Prinzipienlehre, sondern führte die Alchemie insgesamt auch näher an die christliche Trinitätslehre heran. Wie alle Gnostiker und Neoplatoniker glaubte auch Paracelsus an eine durchweg belebte und mit geistigen Kräften ausgestattete Körperwelt. Dies führte ihn zu der, schon bei Johannes von Rupescissa (um 1300 – 1365/66) nachweisbaren Idee einer in den gewöhnlichen Stoffen enthaltenen Quintessenz. Diese sollte die Wesensmerkmale einer Pflanze, eines Tieres oder eines Minerals enthalten, während der Rest lediglich eine Art stofflicher Matrix darstellt. Mittels der Alchemie sollten diese verschiedenen Quintessenzen isolierbar und als Arznei 272
nutzbar gemacht werden können. Bis zu Paracelsus ging die herrschende Meinung dahin, diese Quintessenz als ein „Fünftes Wesentliches“ Element in den astralen Himmelssphären zu vermuten. Paracelsus holte die Quintessenz auf den Erde und vervielfältigte sie, indem er jedem Geschöpf und jeder Substanz eine spezifische Quintessenz zuwies. Die höchste all dieser Quintessenzen, gewissermaßen die Quintessenz der Quintessenzen, ist für Paracelsus der Lapis, der zugleich das Allheilmittel, die Panacee, darstellt. Die Gewinnung dieser Quintessenzen im Labor sollte mittels der Ars spagyrica erfolgen. Dabei handelt es sich um eine Wortschöpfung des Paracelsus, in der die griechischen Worte für „trennen“ (spao) und „vereinigen“ (ageiro) zusammengeführt sind; eigentlich ist es nichts weiter als eine Übertragung der klassischen lateinischen Maxime der Alchemie „solve et coagula“ ins Griechische. Diese Haltung ebnete den Weg, der von den berühmt-berüchtigten Kombinationspräparaten, dem Theriak und Mithridat, wegführte und spezifisch wirkende Einzelsubstanzen in den Mittelpunkt der Arzneibereitung rückte. Die Alchemie ist für Paracelsus also in doppelter Weise eine tragende Säule der Heilkunst (die für ihn auch im heutigen Wortsinn eine Kunst war): Einmal wirkt der Alchemist bzw. Chemiater als Arzt und Apotheker und dann verwandelt der Innere Alchemist die Nahrung in körpereigene Stoffe. Die spagyrischen Medikamente beeinflussen die Tätigkeit des Inneren Alchemisten – funktioniert dieser wieder normal, ist der Patient geheilt. Gott habe dem Menschen zwar die Arzneien für alle Krankheiten an die Hand gegeben, lehrt Paracelsus, aber nicht immer in gebrauchsfertiger Form. Er erläutert das „Amt Vulcani“, wie er die Alchemie auch nennt, in seiner Schrift „Labyrinthus medicorum errantium“ (das Labyrinth der irrenden Ärzte): Es muß ein arzt betrachten, dieweil got nicht bis an das end beschaffen hat, das weiter den vulcanis [den Alchemisten] befolen ist, dieselbigen ding bis zum end zu bringen und nit schlacken und eisen miteinander schiden. dan merket ein exempel: brot ist uns beschaffen und geben von got, aber nit wie es vom becker kompt, sonder die drei vulcani, der baur, der mülner und der beck die machen brot daraus. also muß es auch mit der erznei beschehen.51
Magische Heilungen Paracelsus betrachtete durch schwarzmagische Kräfte verursachte Leiden als ebenso real wie gewöhnliche Erkrankungen. Der kluge Arzt müsse daher zunächst einmal die wahre Ursache von Beschwerden herausfinden:
51
Haage: Alchemie im Mittelalter, S. 188.
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Erstens soll er den Patienten fragen, wie ihm solches zugestoßen sei, wie und wann, wie solches einen Anfang genommen habe, was die Ursach sein könnte: Fallen, Werfen, Schlagen oder Stoßen, oder ob sonst eine natürliche Ursach – aus den Flüssen [Schlaganfällen] oder bösem Geblüt – gespürt werden möchte. Ists nun deren keines, so frag er, ob der Patient einen Feind oder Mißgönner, der im Geschrei oder Verdacht wäre, etwa für einen Zauberer oder Hexer gehalten würde, hab. Sagt er ja dazu, jetzt kannst du annehmen, daß ihm so, wie oben gemeldet worden ist, geschehen wäre.52
War jemand von einer angehexten Krankheit befallen, halfen natürliche Mittel nicht. Hier musste nach den Prinzipien der „Sympathielehre“ gehandelt werden: Wie aber einem solchen wiederum geholfen werden mag, ist einem jeden Arzt, der da ein perfekter medicus sein will, hoch und von nöten zu wissen. Denn weder Galen noch Avicenna haben von dieser Kur gewußt noch geschrieben. Deshalb folgt nun die Kur auf diese Weis: daß demselben anders nicht geholfen werden kann als wiederum, wie ihm der Schad oder Schmerzen zugefügt worden ist, das ist durch den Glauben und durch die Imagination, und ist der Proceß so, daß er gleich ein solch Glied, Hand oder Fuß oder ein anderes dergleichen Glied mache, wie das seine ist, an dem er Schmerzen leidet. Oder ein ganzes Bild von Wachs, und dasselbige schmiere, salbe, verbinde, und den Menschen nit; wo dann Schmerzen wie Beulen, Striemen, blaue Mäler sind, da hilfts, und wird dem Menschen solches vergehen. Ist aber der Mensch dermaßen bezaubert, daß er sorgt, er komme um ein Aug, um das Gehör, um seine Mannheit, werde stumm, krumm, lahm, so soll er in festem Glauben ein ganzes Bild von Wachs machen, und die Imagination stark in das Bild gesetzt und im Feuer nach rechter Ordnung gar verbrannt! Und laßt euch das hie nicht verwundern, daß einem verzauberten Menschen so leicht zu helfen sei, tut nicht wie die Sophisten der hohen Schulen, die ihr Gespött darauf treiben und sprechen, es sei impossibile, sei auch wider Gott und die Natur, – dieweil es auf keiner Hohen Schule gelehrt werde.53
Paracelsus hat auch selbst mit solchen Verfahren gearbeitet. Während er in St. Gallen den Bürgermeister Christian Studer behandelte, wurde er von dessen Schwiegersohn Bartholomäus Schobinger dabei ertappt, wie er magische Zeichen aufmalte und Dämonen beschwor. Zur Rede gestellt erklärte Paracelsus, er habe diese Sprüche in Südtirol kennengelernt. Die Astrologie spielte für ihn in zweifacher Hinsicht eine wichtige Rolle, nämlich einmal als Mittel zur Vorhersage künftiger Ereignisse und zweitens als Teil der Rezepturen für seine spagyrischen Arzneien, 52 53
Behringer: Hexen, S. 32 f., zitiert aus W. E. Peuckert: Paracelsus Werke, 1976, Bd. 5, S. 169–74. Behringer, w. o.
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da es wichtig war, bestimmte Arbeiten zu astrologisch günstigen Zeiten durchzuführen, weil ansonsten die Wirkung schwächer war oder ganz ausblieb. Der Grundgedanke der hier geschilderten magischen Heilmethode besteht in der Annahme, dass es eine verborgene, aber dennoch irgendwie kausale Beziehung zwischen Täter und Opfer gebe. Diese Beziehung nennt man im magischen Kontext Sympathie, was nicht im heutigen Wortsinn zu verstehen ist, sondern eine Wechselwirkung beschreibt, die sowohl freundlich als feindlich sein kann. Hergestellt werden sympathiemagische Beziehungen meistens durch ein der verzauberten Person gehörendes Objekt oder einen Teil von deren Körper (Blutstropfen, Haare, Fingernägel etc.). Diese werden in ein von Wachs geformtes Bild dieser Person eingebracht und dann die Beschwörung vollzogen. Paracelsus hebt in seiner Anleitung diesen Zauber durch einen analogen Gegenzauber auf. Eine ähnliche Methode der Wundheilung war die Anwendung der berühmten Waffensalbe. Anstatt ein wächsernes Abbild der verletzten Glieder zu machen, musste man dabei die Waffe mit der die Verletzung zugefügt worden war, salben und verbinden. Auch hier besteht eine magische Fernwirkung, denn der Verletzte konnte beliebig weit entfernt sein, lediglich die Waffe musste diejenige sein, mit der die Verletzung zugefügt wurde. Aus der Sympathiemagie leitet sich auch die Signaturenlehre ab, die zwar in der Volksmagie und Volksheilkunde schon lange eine Rolle spielte, aber erst durch Paracelsus und Giambattista della Porta (1538–1615) in die gelehrte Welt Eingang fand. Die Signaturenlehre beruht auf der Vorstellung, dass Ähnlichkeiten der äußeren Form von ganz unterschiedlichen Objekten auf eine „innere“ Verwandtschaft, eine okkulte Beziehung, hinweisen. Wie schon oben gesagt wurde, gibt es im magischen Denken keinen Zufall. Jedes Ereignis, jedes Gebilde, jeder Vorgang steht in einem verborgenen Kontext mit anderen Wesen oder Objekten und trägt eine Botschaft in sich, die man allerdings zu lesen verstehen muss. Paracelsus erklärt dazu grundsätzlich: Die Natur zeichnet ein jegliches Gewächs, so von ihr ausgeht, zu dem [für] was es gut ist.54
So besitzt das Leberblümchen leberförmige Blätter, weshalb es bei Leberleiden helfen sollte. Nieren-, Blasen- oder Gallensteine bilden sich im Körper auf dieselbe Weise wie der Weinstein im Fass. Da dieser lateinisch „Tartarus“ heißt, spricht Paracelsus von den „tartarischen“ Krankheiten. Ein anderes Beispiel ist das Knabenkraut: Seht an die Wurzel Satyrion [Knabenkraut]! Ist sie nicht gestaltet wie eines Mannes Scham? […] Darum, dass sie anzeigt, dass sie den Mannen ihre verlorene Mannschaft und Un-
54
Bächtold-Stäubli, VII, 1711.
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keuschheit wieder bringt. […] Also die Siegwurz, hat Geflecht um sich wie ein Panzer. Das ist auch ein magisch Zeichen und Bedeutung, dass sie behüt vor Waffen wie ein Panzer.55
Die Signaturenlehre hat sich als bis heute besonders wirkmächtiger Teil paracelsischen Denkens erwiesen, denn auf der Vorstellung, dass Ähnliches Ähnliches heilt, basiert auch die Homöopathie, eine bis heute weit verbreitete Heilmethode.
Der „Liber de Nymphis“ Einen besonders tiefen Einblick in sein naturmagisches Weltbild bietet Paracelsus mit seiner Schrift über die Nymphen (Liber de nymphis). Er versteht darunter eine Gruppe von Elementargeistern, die dem Element „Wasser“ zugehören. Neben den titelgebenden Nymphen werden darin aber auch die mit den anderen drei Elementen verbundenen Geistwesen vorgestellt und beschrieben und ferner eine generelle Einordnung des Daseinszwecks der Naturgeister vorgenommen. Einleitend verweist er auf das „Licht der Natur“, also den der Natur selbst eigenen „Schein, dordurch sie mag erkannt werden“. Dieses „Licht der Natur“ ist dem vernünftigen Denken zugänglich, leuchtet das Dunkel der Naturgesetze aus und macht sie erkennbar. Darüber hinaus gibt es aber das „Licht des Menschen“: Das selbig ist das Licht dordurch der Mensch übernatürlich Dinge erfart, lernt und ergrünt. Die im Licht der Natur suchen, die reden von der Natur, die im Licht des Menschen suchen, die reden über die Natur. Dann der Mensch ist mehr dan die Natur; er ist die Natur, er ist auch ein Geist, er ist auch ein Engel, deren aller dreien Eigenschaften hat er.56
Der Mensch steht für Paracelsus insofern über der Natur, als er vermag, auch deren „okkulte“ verborgene Seite zu erkennen und zu verstehen, alles das, was sich hinter der vom Licht der Natur erhellten Oberfläche befindet. Gleichzeitig ist er aber auch ein Teil der Natur, insoweit seine körperlich-materielle Beschaffenheit betroffen ist. Durch Geist und Seele hebt er sich indes von der irdischen Körperwelt ab. Dies entspricht dem neuplatonischen Modell von den drei Leibern des Menschen, dem materiellen, dem feinstofflichen – auch Astralleib genannt – und dem Seelenleib. Zudem entspricht diese Dreiteilung den drei Prinzipien der Alchemie.
55 56
W. o. Liber de nymphis, zitiert nach: Karl Sudhoff: Paracelsus. Sämtliche Werke, Bd. XIV, Das Volumen primum der Philosophia magna, München 1933, S. 116.
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Das Werk besteht aus einem Prolog und sechs Traktaten. Darin werden die Erschaffung der vier Arten von Elementargeistern, deren Wohnorte und ihre Verbindungen zu den Menschen geschildert. Im vierten Traktat werden die Liebesbeziehungen von Nymphen zu Männern und den dabei geborenen Kindern untersucht. Der fünfte Traktat behandelt andere Formen von Elementargeistern und der sechste Traktat geht der Frage nach, welche Rolle die Elementargeister im Schöpfungsganzen spielen. Die Elementargeister sind Personifikationen der Vier Elemente. Paracelsus verlässt hier den Rahmen alchemischen Denkens und entwickelt eine mystische Interpretation der materiellen Welt, die durch die Elemente repräsentiert wird. Die Elementargeister sind über bestimmende Wesensmerkmale den Elementen zugeordnet, aber anders als in der Alchemie, in der die Qualitäten warm und kalt, feucht und trocken rein physikalische Eigenschaften darstellen, sind die Elementargeister Verkörperungen eines mit den Elementen verbundenen und ihnen innewohnenden Schöpfungsgedankens – sie stehen quasi für die der Materie eingeschriebene göttliche Absicht. Paracelsus definiert die Elementargeister aber nicht als reine Geistwesen, sondern als materiell, allerdings von anderer, weniger grober Materie als derjenigen, aus der die Menschen geformt sind: Das Fleisch muss also verstanden werden, das sein zweierlei ist, das Fleisch aus Adam und das so nit aus Adam. Das Fleisch aus Adam ist grob Fleisch, dan es ist irdisch und sonst nichts als allein ein Fleisch […] das ander Fleisch, das nit ist aus Adam, das ist ein subtil Fleisch […] dan es ist nit aus der Erden gemacht. Der Mensch aus Adam der ist grob wie die Erden, die selbig ist compact, also das der Mensch nit mag durch ein Mauren, noch durch ein Want [gehen], er muss ihm ein Loch machen. Aber das Fleisch, so nit aus Adam ist, dem weicht das Gemeuer, das ist die selbigen Fleisch [be]dörfen keiner Türen keines Lochs.57
Äußerlich sind die Elementargeister wandlungsfähig und können den normalen Menschen zum Verwechseln ähnlich sein: [Sie sind wie] Menschen und Leut, sterben mit dem Vich, wandeln mit den Geistern, essen und trinken mit den Menschen […] also sind die unter allen Tieren dem Menschen die Nechten und so nahe, dass sie Leut geheissen werden und Menschen […] sonderlich wunderbarlich Geschöpf.58
57 58
Sudhoff, S. 120. Sudhoff, S. 123 f.
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Die Elementargeister stehen demnach zwischen der rein materiellen und der rein geistigen Sphäre und verbinden beide. Der Gedanke einer solchen Verbindung scheint für Paracelsus entscheidend zu sein, denn damit wird die Platonische Kette der Schöpfungswesen vervollständigt. So wie die aristotelischen Elemente für die physikalischen Eigenschaften der Materie stehen, stellen die Elementargeister deren mystische Dimension dar. Besonders menschenähnlich sind die Wassergeister oder Nymphen, die menschliche Gestalt annehmen können und dann Frauen gleichen, aber auch Zwitterwesen aus Fisch und Mensch. Die der Erde zugehörigen Geschöpfe sind klein, lediglich zwei Spannen groß; dem Feuer sind die Salamander zugeordnet, die „lang, schmal und dürr“ sind; die Luft- und Waldgeister („Sylvestres“) dagegen sind von rauer und grober Gestalt. Jede Gruppe von Elementargeistern existiert in dem ihr zugehörigen Bereich der Natur, von Paracelsus als „Chaos“ bezeichnet: Nun aber ihr stet und wonung [Wohnstätte] seind in irem chaos. Als die nymphen im wasser, fließenden bechen oder dergleichen, so nahet, dass sie die leut ergreifen, so durchreiten oder darin baden. Die bergleut sind im bergchaos und do machen sie ihr geheus [Wohnung] in. Dorum dass man oft fint [findet] das estrich, gewelb und dergleichen in der erden in höhe eines elnbogens […] dieselbigen sind von diesen leuten gebauen worden. […] Auch in den bergwerken bei gutem ertz und dergleichen werden die selbigen gefunden [gemeint: die Berggeister] und also bei den wassern die selbigen auch, und beim Aethna [Vulkan Ätna] die vulcanischen [Feuergeister, Salamander].
Allerdings haben die Elementargeister keine Seele. Daher sind sie den Menschen zwar unter Umständen äußerlich ähnlich, dennoch von anderer Art. Sie sind keine „Nachkommen Adams“, sondern „andere Geschöpfe“. Paracelsus stellt die Elementargeister, aber auch andere „Monstra“ als Teil der göttlichen Schöpfung dar, und nicht als Teufelswerk. Titelgebend für Paracelsus’ Abhandlung sind die Nymphen, die Wassergeister. Wassergeister gibt es in unterschiedlichen Kulturen weltweit und sie personifizieren zunächst das Wasser als solches. In seinem „Liber de Nymphis“ beschreibt Paracelsus die Elementargeister als Zwischenwesen und er stellt die Beschäftigung mit ihnen als sinnvoller dar, als die Beschäftigung mit den typischen Institutionen der Gesellschaft: Seliger ist es zu beschreiben die nymphen, dan zu beschreiben die orden; seliger ist es zu beschreiben den ursprung der Risen, dan zu beschreiben die hofzucht; seliger ist zu beschrieben melosinam, dan zu beschreiben reutereei und artellerei […] da in den dingen wird der geist braucht zu wantlen [wandeln] in göttlichen werken.59 59
Sudhoff, S. 117.
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Besonders die Wassergeister suchen die Nähe des Menschen, denn durch geschlechtliche Vereinigung können sie Nachkommen bekommen, die wie der Mensch über eine Seele verfügen. Durch das Sakrament der Ehe können auch die Nymphen selber eine Seele erlangen und dadurch zum Ewigen Leben gelangen: So ist es mit den Wasserleuten, sie kommen aus ihren Gewässern heraus zu uns, lassen sich kennenlernen und handeln und wandeln mit uns, gehen wieder fort in ihr Wasser, kommen wieder, das alles, damit der Mensch Gottes Werke betrachte. Nun sind sie zwar Menschen, aber nur im Tierischen (Sinne) ohne Seele. Darauf folgt nun aber, dass sie mit den Menschen verheiratet werden können, also dass eine Wasserfrau einen von Adam stammenden zum Manne nimmt, mit ihm Haus hält und ihm Kinder gebärt. Was nun die Geburt der Kinder betrifft, so wisset nun, dass sie dem Manne nachgeraten. […] Nun aber ist auch das mit rechtem Wissen zu erfassen, dass auch solche Frauen eine Seele empfangen dadurch, dass sie vermählt werden. Also dass sie wie andere Frauen vor Gott und durch Gott erlöst sind. Denn das wird auf mancherlei Art erprobt, dass sie nicht ewig sind und dass sie aber den Menschen verbunden ewig werden, das heißt, beseelt werden, wie der Mensch. […] So geben sie ein Beispiel, dass sie ohne den Menschen Tiere sind und also wie sie sind, so ist der Mensch ohne göttliches Bündnis nichts.60
Die Idee einer ehelichen Verbindung von Nymphen und Männern erscheint schon im Mittelalter. Paracelsus greift zwei solcher „wahrhaftiger Historien“ auf. In der Versnovelle des Egenolf von Staufenberg aus der Zeit um 1300 wird der Fall eines seiner Vorfahren geschildert, der mit einer Nymphe verheiratet war, diese aber aufgrund des Drucks der Familie verließ und eine adlige Dame ehelichte. Bei der Hochzeit erschien der Fuß der Nymphe durch die Zimmerdecke gestreckt. Kurz danach tötet die Nymphe den Ritter. Paracelsus rechtfertigt das Verhalten der Nymphe: Es ist ein mensch gesein und ein nympha, wie beschrieben ist, zun ern ein frau und nicht zun unern, darumb sie die pflicht und treu hat wollen gehalten haben. Do es aber nit beschehen ist noch war, do straft sie den ebruch aus göttlicher verhenknus selbst.Auf solchs ward ir von got die straf, die einem ebruch gebürt zugelassen und selbst do richter zu sein, dieweil und die welt sie verwarf als einen geist und teufelin.61
60 61
Sudhoff, S. 132 f. Sudhoff, S. 141.
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Der Mann hatte seine Ehe gebrochen und es spielte keine Rolle, dass diese mit einem nichtmenschlichen Wesen geschlossen worden war. Diese Haltung wird auch in der Versnovelle vertreten, wo die Erscheinung des Fußes nicht als erschreckend dargestellt, sondern vielmehr dessen Schönheit gepriesen wird. Mittelalterliche Berichte von Nymphen stellen diese eher als mächtige Wesen dar, die Gutes tun, aber hart reagieren, wenn sie beleidigt werden. „Zur Teufelin wird die Fee nur in der Redestrategie der Geistlichen“, so Renate Böschenstein in ihrer Ausgabe der Novelle aus dem Jahr 2001.62 Der Berner Patrizier Thüring von Ringoltingen schuf 1467 einen umfangreichen Roman mit dem Titel „Melusine“. Darin erzählt er die Geschichte des Herrn von Schloss Lucinien in Frankreich, der ebenfalls eine Wassernymphe ehelicht, aber einen Tabubruch begeht, indem er sie im Bad überrascht und dabei sieht, dass sie einen Schlangenunterleib hat. Die Ehe kann daraufhin nicht mehr fortgeführt werden, die Melusine tötet aber ihren Mann nicht, sondern fliegt davon, nachdem ihr Flügel gewachsen sind. Der Roman bezieht ein weiteres Motiv mit ein, nämlich das von Fluch und Erlösung: Auf Melusines Familie lastet ein Fluch, der sie dazu zwingt, zeitweise den Unterleib eines Drachens („Wurmes“) zu tragen. Hätte ihr Mann das Geheimnis nicht entdeckt, wäre sie erlöst gewesen. Melusine wird hier „zur leidenden Frau, die verzweifelt versucht, die Schuld ihrer Familie zu überwinden“.63 Unklar ist hierbei, ob die „Familie“ eine menschliche oder eine der Elementargeister ist. Paracelsus ordnet die Zauberkunst der Nymphen in einen Kontext mit den Hexen ein, die für ihn ebenfalls Opfer des Teufels sind. Wie die Nymphen müssten auch die Hexen als „incantiert“, also bezaubert, verstanden werden. Damit teilt er die Position des schon oben erwähnten Arztes und Verfolgungskritikers Johann Weyer (1515/16–1588), der die Hexen ganz analog beurteilt. Bei den Geschichten über Nymphen aus dem Mittelalter ist zu beachten, dass die Ehe christlicher Prägung erst gegen dessen Ende fest etabliert war. Vorher galten außereheliche Beziehungen bzw. nicht von der Kirche geschlossene Ehen als akzeptabel. Der 6. Traktat des „Liber“ trägt den Titel „Von den ursachen solcher Geschöpfen“; er ist besonders interessant, denn er zeigt die Einordnung der paracelsischen Elementargeister in das politische, soziale und religiöse Weltbild von Paracelsus und er verweist auf dessen sozialpolitische Utopie. Mit den „Ursachen“ meint Paracelsus den ontologischen Daseinszweck der Elementargeister. Bemerkenswert ist dabei besonders die Schutzfunktion dieser Wesen: Während der Mensch tendenziell die Natur (heute: die Umwelt) schädigt, haben die Elementargeister die Aufgabe, diese zu schützen und wurden mit dieser Aufgabe von Gott betraut. Sehr interessant
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Siehe Bea Lundt: Wassergeister als universales Motiv. Paracelsus’ Deutung der Nymphengestalt und die Figur Mami Wara in Afrika, in: Nova Acta Paracelsica. Beiträge zur Paracelsus-Forschung, NF Bd. 28, 2018, S. 9–40. Lundt, S. 21.
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ist der Gedanke der Nachhaltigkeit – die Bodenschätze müssen bis zum Jüngsten Tag reichen, dürfen also nicht rücksichtslos ausgebeutet und verschwendet werden. Diese Schutzfunktion bezieht sich auf die Natur insgesamt, deren unterschiedliche „Reiche“ von den Elementargeistern beherrscht werden. Die Vorstellungen von Paracelsus reichen über die Bewahrung der Natur weit hinaus in den politischen und sozialen Bereich. Der Paracelsus-Experte Pirmin Meier nimmt dazu in seinem Buch „Paracelsus. Arzt und Philosoph“ wie folgt Stellung: An echter Radikalität lassen die paracelsischen poltischen Visionen nicht zu wünschen übrig. […] Unter seinen Vorstellungen finden wir die Abschaffung der Ständeprivilegien bei gleichzeitiger Bejahung der Monarche; Aufhebung der Todesstrafe; Ächtung des Krieges; Infragestellung des Privateigentums an Grund und Boden; Heiligung der Arebit als Gottesdienst; Zerschlagung der sogenannten Mauerkirche und Errichtung einer Geistkirche. […] Ziel der paracelsischen gesellschaftlichen Visionen ist ein neuer Mensch im Einklang mit Gott, mit der Natur und mit dem Geisterreich. […] Im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Martin Luther, ist dieses Geisterreich nicht einfach dem Satan anheimgegeben, sondern Ausdruck der Herrlichkeit der Herrlichkeit der Schöpfung.64
Paracelsus fügt sich mit seinem Denken nahtlos – wenn auch vielleicht entschiedener als andere Naturmagier – in die alchemisch-naturmagische Ethik ein. Im Gegensatz zur Naturwissenschaft versteht die Naturmagie den Menschen vor allem als Teil der Schöpfung und nicht als deren Krone. Seit der Aufklärung nimmt der Mensch für sich in Anspruch, die Welt nicht nur zu erklären, sondern auch zu gestalten; es ist demnach ethisch und moralisch legitim, die vorgefundene Schöpfung zu „optimieren“, d. h. den Bedürfnissen des modernen Menschen anzupassen. Die Naturmagier, und mit ihnen auch die Philosophen der deutschen Romantik, insbesondere Friedrich Wilhelm Schelling, sahen die Rolle des Menschen ganz anders. Die Schöpfung sollte nicht optimiert werden, sie war von Gotte bereits als „beste aller möglichen Welten“, so der Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) gestaltet. Die Suche nach dem Stein der Weisen war daher viel mehr als ein Forschungsvorhaben – sie war ein Eindringen in die innere Struktur der Welt, sowohl rational-logisch wie metaphysisch-intuitiv. Der Stein der Weisen war in diesem Weltbild nicht einfach nur eine chemische Substanz mit fabelhaften Eigenschaften, sondern ein Symbol für die Erlösung der Welt von allem Übel. Diese Erlösung erfolgte aber nicht, indem sich der Mensch zum Herren der Schöpfung aufschwang, sondern durch ein vertieftes Verständnis der Natur, wie es durch die Naturmagie möglich war. Ebenso, wie Gott nicht nur die Krankheiten geschaffen hatte, sondern auch ein Heilmittel für 64
Pirmin Meier: Paracelsus. Arzt und Prophet, Zürich 1993, S. 333.
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jede Krankheit, das zu finden Aufgabe des Menschen war, so sollte der Stein der Weisen nicht nur Blei in Gold verwandeln, sondern auch den Menschen vervollkommnen. Dies war die geistige Grundlage auch der paracelsischen Sozialutopie, die von seinen Anhängern begierig aufgegriffen wurde, wie wir noch sehen werden.
Wasser im Volksglauben Das Wasser war im alpenländischen Volksglauben, den Paracelsus mit Sicherheit gut kannte, nicht nur im Hinblick auf dort lebende Elementargeister bekannt, sondern auch in diversen anderen Zusammenhängen. Auch in diesem Fall kann man, wie schon oben näher ausgeführt wurde, von Umdeutungen heidnischer Heiligtümer ausgehen. Christian Caminada (1876–1962) war von 1941–1962 Bischof von Chur (Graubünden) und ein Kenner alpenländischen Brauchtums und Volksglaubens. In seinem Werk „Die verzauberten Täler. Kulte und Bräuche im alten Rätien“ befasst er sich ausführlich mit dem alten Wasserkult. Er bemerkt dazu: Die Tatsache, dass das Wasser Gegenstand kultischer Verehrung war, lässt sich aus den Wahrnehmungen erweisen, dass das Wasser als heilig galt, dass man ihmgöttliche Kräfte zuschrieb, Gottheiten in ihm suchte, vielleicht sogar dieselben mit ihm identifizierte, dass manaus dem Wasser die Zukunft weissagte, dass man dort Opfer darbrachte und kultische Handlungen verrichtete.65
Selbstverständlich betont auch Caminada die zentrale Rolle, die das Christentum der heiligenden und reinigenden Wirkung des Wassers einräumt, sowohl in der Taufe wie beim Weihwasser, das zudem noch mit ebenfalls reinigendem Salz versetzt ist. Ein churrätisches Rechtsbuch aus dem Mittelalter bestimmte, dass jemand, der „Vater oder Mutter, Bruder oder Schwester, Sohn oder Tochter“ getötet hat, in einen aus Fellen gefertigten Sack eingenäht und dann dem Wasser übergeben werden solle, „damit sein Körper niemals der Beerdigung teilhalftige werde.“66 Bäche oder Flüsse bzw. Quellen konnten auch als Gerichtsorte dienen. Die drei Zürcher Stadtpatrone Felix, Regula und Exuperantius sollen „zu Zürich, auf der rechten Richtstatt an der Limmat und bei der Brücke, wo jetzt das Helmhaus und die Wasserkirche stehen“, als Märtyrer enthauptet worden sein. Caminada bestätigt auch, dass „Die Überwindung des heidnischen Wasserkultus erst dadurch gelang, es [die Kirche] die Quellen selber christianisierte, ihnen einen christlichen 65
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Christian Caminada: Die verzauberten Täler. Kulte und Bräuche im alten Rätien, Freiburg (Br.) 1961, Chur 2006., S. 27. Ebd., S. 30.
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Sinn gab.“67 Als Fruchtbarkeit spendendes Element genoss das Wasser auch besondere Verehrung bei Frauen mit Kinderwunsch. Das „Krumbad“ im schwäbischen Kurort Krumbach, das seit dem Ende des 14. Jahrhunderts existiert, galt traditionell als ein „balneum salubre mulieribus“, ein Bad für die Gesundheit der Frauen.68 Auf vorchristliche Zeiten verweisen auch Sagen, die Wasserläufe mit übernatürlichen Wesen in Verbindung bringen. Neben den Nymphen zählen dazu auch Drachen, Wassermänner und Unholde. Keineswegs alle Wasserwesen waren dem Menschen so wohlgesonnen wie die Nymphen. Der Nix oder Nöck ist ein Wassermann, der besonders Kinder zu sich ins Wasser hinab zieht und ihre Seelen behält. Hier schimmert sowohl eine Umdeutung älterer Elementarwesen durch, wie eine Warnsage, die dazu dient, Kinder vor dem Ertrinken zu schützen.
Paracelsus – eine Einordnung Die Epoche der Renaissance brachte zahlreiche Gelehrte hervor, die für die Kultur- und Wissenschaftsgeschichte bedeutsame Leistungen vollbracht haben. Einige davon wurden oben vorgestellt und behandelt. Nur zwei Personen haben indes eine bis in die Gegenwart wirkende allgemeine Bekanntheit erreicht, nämlich Faust und Paraceslsus. Faust hat diesen Status nicht durch eigenes Verdienst erlangt, sondern nur als Metapher, als Gegenstand literarischer und künstlerischer Bearbeitung, durch die er zur Verkörperung der Schattenseite menschlichen Erkenntnisstrebens unter Missachtung göttlicher Gebote wurde. Paracelsus dagegen hatte eine Botschaft, mehr noch, eine Mission. Er war mit der Welt, die er vorfand und in die er sich so schwer einfügen konnte, zutiefst unzufrieden. Anders als heute bei uns üblich, zog er daraus nicht den Schluss, er selbst müsse sich ändern, müsse flexibel, anpassungsfähig und belastbar werden, wie das moderne Credo der bürgerlichen Tugenden lautet – ganz im Gegenteil: Paracelsus wollte bleiben wie er war und die Welt ändern. Wenn das heute jemand versucht, wird er als Spinner belächelt. Paracelsus erging es da nicht anders, er wurde aber nicht nur belächelt, er wurde auch massiv verfolgt. Und obwohl er zu seinen Lebzeiten seine hochgesteckten Ziele nicht erreichen konnte, hat er posthum eine geradezu unglaubliche Wirkung entfaltet. Paracelsus wollte die Welt verändern und er hat sie verändert. Allein diese Tatsache rechtfertigt eine Auseinandersetzung mit seiner Person und seinem Leben. Die Wirkung, die Paracelsus bis heute auf das Denken vieler Menschen ausübt, hängt nicht primär mit seinen Schriften zusammen; diese liegen zwar – was die medizinisch-naturmagisch-alchemischen Texte anlangt – zum größten Teil gedruckt vor (im Gegensatz zu den meist ungedruckten theologisch 67 68
Ebd., S. 34. Ebd., S. 40.
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orientierten Werken), sie werden aber von kaum jemandem gelesen. Zu schwer verständlich ist seine Sprache für uns, zu verwirrend und rätselhaft ihr Inhalt. Zwei Gründe sind für das anhaltende Interesse an Paracelsus maßgeblich: Einmal die Tatsache, dass er mit seinem Denken sowohl die Medizin wie auch die Alchemie veränderte und beide in eine bis dahin unbekannte aber in gewisser Weise bis heute fortdauernde enge Verbindung setzte, was ihm eine breite Anhängerschaft bei seinen Zeitgenossen ebenso verschaffte wie viele erbitterte Gegner. Beides trug erheblich zu seiner Popularität vor allem im 16. und 17. Jahrhundert bei, also in der Epoche der Aufklärung, die im folgenden Teil behandelt werden soll. Der zweite Grund ist der moderne Zeitgeist. Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert, besonders aber im 20. Jahrhundert formierte sich eine gegen die technokratisch-utilitaristische Weltsicht von Kapitalismus und Kommunismus gerichtete Kulturtendenz, die ein naturnahes, friedliches, von Profitstreben weitgehend freies Lebensmodell vertrat, das in der Breite der Gesellschaft niemals realisiert wurde. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stand dafür die „Lebensreform-Bewegung“, später die Hippiekultur und heute der Versuch, die Welt vor den Folgen menschlicher Zivilisation zu schützen. Zu allen diesen Bestrebungen passen die grundlegenden Gedanken von Paracelsus sehr gut, und sie wurden und werden – in stets modifizierter und den Zeitbedürfnissen angepasster Interpretation in die Gesellschaft hinein vermittelt. Paracelsus steht heute für die Idee der Bewahrung der Schöpfung, für die Ablehnung technologischen Machbarkeitswahns, für die Sehnsucht nach einem Leben im Einklang mit der Natur. Als Urahn der Homöopathie wird er zum Aushängeschild einer Medizin, die ohne Apparate und „ohne Chemie“ auskommt. Mit Paracelsus als historischer Gestalt hat das alles nur am Rande zu tun, aber das ist sowohl Folge wie Voraussetzung für seine ungebrochene Popularität.
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Teil VI Magie im Zeitalter der Vernunft Mit dem 17. Jahrhundert setzte eine neue Ausrichtung des philosophischen Denkens ein, die heute allgemein als die Epoche der Aufklärung bezeichnet wird.
Abb. VI.1: Der Mensch durchbricht symbolisch die Grenzen des herkömmlichen Wissens. Holzschnitt eines unbekannten Künstlers aus Camille Flammarions Werk „L’atmosphère. Météorologie populaire“ aus dem Jahr 1888. Die englische Bezeichnung lautet enlightenment, was man als „Erleuchtung“ übersetzen könnte. Dieser Ausdruck trifft vielleicht den Kern dieser geistigen Strömung am genauesten. Die geistige Elite Europas verbreitete das „Licht der Vernunft“ – so eine gängige Metapher – um damit das „Dunkel des Aberglaubens“ zu durchdringen und zu erhellen. Mit besagtem Dunkel war nicht nur der Aberglauben im Sinne theologischer Definitionen gemeint (die je nach Zugehörigkeit 288
zu einer bestimmten Richtung des Christentums sehr unterschiedlich ausfallen konnten), sondern die Religion als solche. Mit der Vernunft, der „Ratio“ nicht nachvollziehbare oder verständliche Gedanken und Behauptungen wurden als wertlos oder schädlich angesehen, nicht vernünftig erklärbare menschliche Verhaltensweisen betrachtete man als Geistesstörungen und nicht rational verständliche Naturphänomene wurden entweder als Sinnestäuschungen oder als zumindest grundsätzlich (wenn auch nicht aktuell) rational erklärbar gewertet. Für über- oder außernatürliche Kräfte oder Wesenheiten war in dieser Sichtweise kein Platz, die Welt war buchstäblich entzaubert. Gott, Teufel und Dämonen hörten auf zu existieren, sobald man nicht mehr an sie glaubte, denn sie verfügten über keine vom Menschen unabhängige Existenz, sondern waren Produkte veralteter Welterklärungsmodelle, die den „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“, so Immanuel Kants Definition der Aufklärung, nicht mehr länger zu behindern vermochten. Und dennoch, das werden wir in diesem Kapitel sehen, war die „Aufklärung“ ebenso wenig eine Zeit einseitiger Vernunftlehren, wie die „Renaissance“ eine Wiedergeburt der Antike gewesen war. In Wirklichkeit verschwanden weder die Magie noch die Religion; sie änderten nur ein wenig ihre Konzepte und passten sich an. Das Zeitalter der Vernunft weist eine seltsame Doppelnatur auf: Einerseits existiert es bis heute und das logische Denken und Handeln kontrolliert weite Bereiche des modernen Lebens. Andererseits nimmt der Hang zu und die Attraktivität von dezidiert unlogischen oder sogar irrationalen Ansichten und Haltungen seit Jahrzehnten eher zu denn ab. Wie es scheint, ist dem Menschen der „Ausgang aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ nicht so recht geglückt. Wir befinden uns in einem sozialen, psychischen und ökologischen Dilemma. Wir sehen zwar deutlich die Mängel und Probleme, die mit dem Siegeszug der Aufklärung einhergehen, finden aber keinen auf den Grundlagen vernünftigen Denkens aufgebauten Ausweg und suchen Zuflucht bei rückwärtsgewandten und nur scheinbar naheliegenden Fluchten in imaginierte „bessere Zeiten“.
VI.1 Cogito ergo sum – René Descartes und die Philosophen der „Aufklärung“ Am 10. November 1619 befand sich am Beginn des 30-jährigen Krieges ein französischer Soldat in Diensten des bayerischen Herzogs Maximilian I. (1573–1651, seit 1623 Kurfürst von Bayern) in dem Städtchen Neuburg an der Donau. Im November wurde gewöhnlich nicht gekämpft und der Soldat hatte eine bequeme und gut geheizte Unterkunft. Anders als die meisten seiner Gefährten nutzte der Soldat die Zeit, um über philosophische Fragen nachzudenken. Er gedachte mit Hilfe der Philosophie die Welt verstehen; in den Worten seines Biographen, des Aufklärers Bernard le Bovier de Fontenelle (1657–1757), wollte er 289
in einem kühnen Sprung zur Quelle des Seins vordringen und sich selbst zum Meister der ersten Prinzipien machen, um von dort mit Hilfe bestimmter klarer und grundlegender Ideen zu den Naturphänomenen vorzudringen und damit auch zu den notwendigen Konsequenzen dieser Prinzipien.1
Der Name dieses Soldaten lautet René Descartes.
Abb. VI.2: Rene Descartes, undatierter Kupferstich Balthasar Moncornet. Er wurde 1596 als drittes Kind einer kleinadeligen Familie in der Nähe von Tours (Frankreich) geboren. Sein Vater, Joachim Descartes (1563–1640), war Gerichtsrat (Conseiller) am Obersten Gerichtshof der Bretagne in Rennes. Seine Mutter, Jeanne Brochard, starb 1597 nach der Geburt ihres letzten Kindes, das ebenfalls nicht überlebte. Da der Vater rasch wieder heiratete, verbrachte Descartes seine Kindheit bei seiner Großmutter mütterlicherseits und einer Amme, 1
Eigene Übersetzung, zitiert nach DSB IV, S. 51.
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die ihn erzog und überlebte und die er liebevoll in seinem Testament bedachte. Mit acht Jahren kam er als Internatsschüler auf das jesuitische Collège Henri-IV de La Flèche, das er acht Jahre später mit einer klassischen sowie mathematischen Ausbildung verließ. Anschließend studierte Descartes seit 1612 Jura in Poitiers und legte dort 1616 ein juristisches Examen ab. Statt eine juristische Karriere einzuschlagen, absolvierte er an einer Pariser „Académie“ für junge Adelige einen Lehrgang in Fechten, Reiten, Tanzen und gutem Benehmen und verdingte sich noch im selben Jahr bei dem Feldherrn Moritz von Nassau (1567–1625) im niederländischen Breda. Dort begegnete er dem sechs Jahre älteren Arzt und Naturforscher Isaac Beeckman (1588–1637), der ihn für die Physik begeisterte und dem er sein erstes naturwissenschaftliches Werk widmete, das mathematisch-physikalisch orientierte „Musicæ compendium“ (1618). Nach Reisen durch Dänemark und Deutschland verdingte sich Descartes 1619 erneut als Soldat, nun bei Herzog Maximilian von Bayern, unter dem er auf kaiserlich-katholischer Seite an den ersten Kämpfen des Dreißigjährigen Krieges und so auch an der Eroberung Prags 1620 teilnahm. An besagtem 10. November erlebte Descartes einen Moment besonderer geistiger Klarheit, und ihm wurde bewusst, dass er, wenn er zu „wahrer“ Erkenntnis vordringen wollte, dies alleine vollbringen müsse und dass dies nur gelingen könne, wenn methodisch alle Sätze der bekannten Philosophen anzweifelte. In der folgenden Nacht hatte Descartes drei Träume: Im ersten stand er auf einer Straße durch die ein Sturm wehte. Er konnte sich nicht auf den Beinen halten, weil sein rechtes Bein zu schwach war. Im zweiten Traum sah er sich in einem Raum voller Funken und hörte einen Donner; im dritten blickte er auf ein Wörterbuch und auf ein anderes Buch, in dem geschrieben stand „Quid vitae sectabor iter?“ (welchem Weg soll ich folgen?). Diese Träume und seine vorherige Vision hatten zunächst keine besonderen Folgen. Ob es diese Vision und die erzählten Träume tatsächlich gegeben hat. ist fraglich. Diesbezügliche Berichte stammen von dem Historiker und Theologen Adrien Baillet (1649–1706) und finden sich in dessen 1691 erschienener Lebensbeschreibung Descartes’. Jedenfalls begann Descartes erst 10 Jahre später ernsthaft mit der Entwicklung seines eigenen philosophischen Systems. Er begab sich in die Niederlande, wo ein Klima großer geistiger Freiheit herrschte. An unterschiedlichen Orten lebend, verbrachte er dann weitere acht Jahre mit der Abfassung seiner Hauptwerks, des „Discours de la méthode pour bien conduire sa raison et chercher la vérité dans les sciences, plus la Dioptrique, les Météores et la Géométrie qui sont des essais de cette méthode“ (Abhandlung über die Methode, seine Vernunft gut zu gebrauchen und die Wahrheit in den Wissenschaften zu suchen, dazu die Lichtbrechung, die Meteore und die Geometrie als Versuchsanwendungen dieser Methode, Leiden 1637; in deutscher Übersetzung erschienen unter dem Titel: Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung). Descartes hatte die meisten seiner Werke in Latein verfasst, den „Discours de la méthode“ hingegen auf Französisch, wodurch das Werk auch für Laien zugänglich war. Im vierten Teil schrieb Descartes: 291
Nun hatte ich beobachtet, dass in dem Satz: „Je pense, donc je suis“ (Ich denke, also bin ich) überhaupt nur dies mir die Gewissheit gibt, die Wahrheit zu sagen, dass ich klar einsehe, dass man, um zu denken, sein muss.2
1644 fasste Descartes diese Erkenntnis in seinen „Principia philosophiae“ (Prinzipien der Philosophie) mit der lateinischen Formulierung „ego cogito, ergo sum“ zusammen. Die Textstelle in deutscher Übersetzung: Indem wir so alles nur irgend Zweifelhafte zurückweisen und für falsch gelten lassen, können wir leicht annehmen, dass es keinen Gott, keinen Himmel, keinen Körper gibt; dass wir selbst weder Hände noch Füße, überhaupt keinen Körper haben; aber wir können nicht annehmen, dass wir, die wir solches denken, nichts sind; denn es ist ein Widerspruch, dass das, was denkt, in dem Zeitpunkt, wo es denkt, nicht bestehe. Deshalb ist die Erkenntnis: ‚Ich denke, also bin ich’von allen die erste und gewisseste, welche bei einem ordnungsmäßigen Philosophieren hervortritt.3
Die heute zitierte Formulierung „cogito, ergo sum“ bildet also eine Verkürzung der Formulierung von Descartes. Das wesentlich Neue an diesem Satz ist die Einsicht, dass nur ein möglichst voraussetzungsloses Herangehen an die Wirklichkeit deren Verständnis ermöglicht. Ein weiterer, vielleicht noch wichtigerer Aspekt kommt hinzu, nämlich die Abkehr von einem Menschenbild, das den Menschen nur in Verbindung mit Gott denkbar erscheinen lässt. Der Mensch wird nun zum Wesen sui generis, nicht mehr nur ein Geschöpf Gottes. Daher bildet dieser Satz von Descartes den Ausgangspunkt der Aufklärung als kulturhistorischer Epoche. Descartes hatte versucht, einen rationalen Beweis für die Existenz Gottes zu führen, dabei aber erkennen müssen, dass dies nicht möglich ist, und danach seine im „Discours“ dargelegten Vorstellungen entwickelt. Danach ließ sich die Existenz eines Schöpfergottes zwar nicht beweisen, aber auch nicht ausschließen. Man würde eine solche Haltung wohl zutreffend als agnostisch beschreiben. In seinem „Discours“ formuliert Descartes einige grundlegende Prinzipien des vernünftigen Denkens. Er verlangt, dass nur das als richtig bzw. existent akzeptiert wird, was durch die eigene schrittweise Analyse und logische Reflexion als plausibel verifiziert wurde. Er geht dabei deduktiv vor, schließt also von allgemeinen Erkenntnissen auf Einzelphänomene. Moralisches Verhalten wird nicht durch göttliche Gebote, sondern durch gemeinschaftlich vereinbarte Normen begründet. Die Natur, als
2
3
René Descartes: Philosophische Schriften in einem Band. Hamburg 1996, Discours de la methode, Teil IV, Abschnitt 3, S. 55. Die Prinzipien der Philosophie, Elzevier Verlag Amsterdam 1644, Kap. 1. Über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Absatz 7.
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der sichtbare Teil der Schöpfung, wird durch allgemein gültige Gesetze geregelt. Der Mensch hat die Aufgabe, diese Gesetze zu erforschen, was letztlich zur Beherrschung der Natur führt. Mit seiner Haltung nimmt Descartes, vermutlich ohne es zu bemerken, wesentliche Aspekte naturmagischen Denkens auf. Auch die Naturmagie geht – aufgrund der Mikrokosmos-Makrokosmos-Parallele – von der Existenz allgemeingültiger Naturgesetze aus, an die auch Geschöpfe und Wesen der nicht sichtbaren „Anderswelt“ gebunden sind. Und die Naturmagie setzt sich ebenso zum Ziel, diese Gesetze zu erforschen und mit diesem Wissen die Natur zu beherrschen. Allerdings ist die geistige Ausgangsbasis der Naturmagie eine ganz andere. Die Existenz Gottes wird nicht nur als Möglichkeit, sondern als Voraussetzung der Schöpfung gesehen. Als Abbild der Schöpfung (Mikrokosmos) kommt dem Menschen quasi ontologisch die Aufgabe zu, die Natur zu beherrschen. Er darf sie aber nicht nach Belieben umgestalten, sondern muss sie im Sinne des von ihm erkannten göttlichen Schöpfungsplans bewahren. Dies drückt sich u. a. in der naturmagischen Geheimhaltungsethik aus, die besonders in der Alchemie eine wichtige Rolle spielt. Mit dem „Discours“ schuf Descartes die Grundlagen der Epoche der Aufklärung. Mit dem Entstehen der modernen Naturwissenschaften verbunden war der Versuch, die Welt nach „vernünftigen“ Erkenntnissen zu gestalten, sowohl sozial wie politisch, ökonomisch und ökologisch. Dieser Versuch muss heute als zumindest in Teilen gescheitert betrachtet werden. Mit seinen Werken stieß Descartes bei den Theologen in Utrecht und Leiden auf so heftige Ablehnung, dass er 1645 einen Umzug nach England erwog und in den Folgejahren Holland mehrmals fluchtartig zu Reisen nach Frankreich verließ. Im Spätsommer 1649 folgte er einer Einladung der jungen Königin Christina von Schweden (1626–1689), mit der er seit etwa 1645 Briefe gewechselt hatte, und reiste nach Stockholm. Dort musste er jedoch mehrere Wochen auf die abwesende Königin warten und bekam erst im Januar 1650 einige Audienzen, um der Königin seine Philosophie zu erklären. Anfang Februar erkrankte er und starb zehn Tage später im Haus seines Gastgebers, des französischen Botschafters. Descartes’ Grab befindet sich nach mehreren Umbettungen seit 1819 in der Abtei Saint-Germain-des-Prés in Paris. Dort liegt sein Leichnam bis auf den Schädel, den seit 1878 das Pariser „Musée de l’Homme“ aufbewahrt. Die von Descartes formulierte Konzeption des mittels seines Verstandes die Welt verstehenden und erklärenden Menschen wurde u. a. von John Locke (1632–1704) und David Hume (1711–1776) zur Philosophie des „Empirismus“ weiterentwickelt, der den Sinneswahrnehmungen eine grundlegende Rolle bei der Erkenntnis zuschreibt, aber Probleme hat, objektive und subjektive Wirklichkeit zu trennen (das Problem besteht grundsätzlich bis heute). Mit Baruch Spinoza (1632–77) erfolgte eine noch weitergehende Entpersonalisierung Gottes, der nunmehr als identisch mit dem Schöpfungsganzen gedacht wurde. Für diese Denkweise prägte John Toland (1670–1722) anno 1709 den Begriff des Pantheismus. Die Erforschung der Natur und ihrer Gesetze war für Spinoza gleichbedeutend mit der Annäherung an Gott, der sich in seiner ge293
samten Schöpfung abbildet und nicht allein im Menschen. Gott steht für Spinoza (einen Juden sephardischer Abstammung, der von seiner Gemeinde wegen Gotteslästerung ausgeschlossen wurde) nicht über der Schöpfung, er ist die Schöpfung. Daher gelten die Naturgesetze auch für Gott, sie bilden sogar die Essenz seines Wesens.
Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) Der Philosoph, Mathematiker, Physiker, Historiker, Bibliothekar, Jurist und Diplomat Gottfried Wilhelm Leibniz, der sich zeitweise auch recht intensiv für die Alchemie interessierte, wird zurecht als Universalgelehrter bezeichnet und war für die Entwicklung der abendländischen Philosophie ebenso von Bedeutung wie etwa für die Mathematik, die ihm die Erfindung der Differential- und Integralrechnung und des dualen Zahlensystems verdankt, das die Grundlage der gesamten Computertechnik darstellt.
Abb. VI.3: Gottfried Wilhelm Leibniz, Porträt von Christoph Bernhard Francke, um 1700; Herzog Anton Ulrich-Museum, Braunschweig. 294
Die Leibnizsche Philosophie wird oft durch das Schlagwort von der „besten aller möglichen Welten“ beschrieben bzw. missverstanden. Leibniz versuchte eine Metaphysik zu entwickeln, die die Descarteschen Prinzipien vernünftigen Denkens ebenso einschloss wie die Vorstellung einer von Gott geschaffenen und daher notwendigerweise grundsätzlich „guten“ Welt. Er unterscheidet in seiner Erkenntnislehre zwischen aus sich selbst heraus wahren, a priori bestehenden und daher unbezweifelbaren „Vernunftwahrheiten“ und den aus der Erfahrung resultierenden „Tatsachenwahrheiten“, die stimmen können, aber nicht müssen. Dies bedeutet eine Relativierung des schon der Renaissance entwickelten und von Descartes zu Ende geführten Konzepts der Wahrheitsfindung durch das Experiment; wenn man den Tatsachen nicht vertrauen kann, weil man seiner eigenen Wahrnehmung nicht vertrauen darf, ist es sehr schwer, sinnvolle Aussagen zu machen. Eigentlich verstehen kann man die Welt nach Leibniz – wenn überhaupt – nur durch a priori gültige, d. h. aus dem reinen Denken abgeleitete Sätze. Die Metaphysik von Leibniz bestimmen zwei Begriffe, die „Monade“ und die „prästabilierte Harmonie“. In einer sehr seltsamen Abwandlung des antiken Atombegriffs versteht Leibniz unter Monaden unteilbare und ausdehnungslose geistige Krafteinheiten, die die Eigenschaft besitzen, Vorstellungen zu entwickeln oder diese von vornherein haben. Jede der unendlich vielen Monaden ist ein in sich geschlossener Mikrokosmos, ein eigenes Universum. Die Monaden unterscheiden sich voneinander durch den Entwicklungsgrad der ihnen innewohnenden Vorstellungen, die einen mehr oder minder aktiven Charakter aufweisen, woraus sich eine Stufenleiter ergibt, die in der höchsten, der Gottesnomade, endet. Mit seiner „prästabilierten Harmonie“ versucht Leibniz die Frage zu beantworten, wie es sein kann, dass die für sich alleine existierenden und nicht miteinander agierenden Monaden eine nicht-chaotische Welt bilden. Nach ihm kommt dies daher, weil die Monaden bereits bei Ihrer Schöpfung so angelegt wurden, dass jede nur ihren eigenen Gesetzen zu folgen braucht um von selbst ein harmonische Ganzes zu bilden. In der besten aller möglichen Welten leben wir nicht, weil es kein Übel auf Erden gibt, sondern weil eine solche perfekte Welt nicht möglich, nicht denkbar ist. Zudem sieht Leibniz die Welt in einem beständigen Wandlungsprozess eingebunden, der ein Potential zur schrittweisen Vervollkommnung der realen Welt birgt, ohne aber notwendigerweise auf einen Zustand der Vollkommenheit zu zielen. Der Versuch Leibniz’, die unübersehbare Mangelhaftigkeit der Welt mit den Mittel vernunftbasierten Denkens mit den Dogmen des Christentums, insbesondere der Vorstellung eines einzigen, guten Gottes, in Einklang zu bringen, musste misslingen. Das Ergebnis war ein hochkompliziertes barockes Gedankengebäude von beeindruckender äußerer Form, aber arm an einleuchtenden und überzeugenden Argumenten. Glaube und rationales Denken beziehen sich auf unterschiedliche Seinsebenen, die sich allenfalls partiell überschneiden. 295
Immanuel Kant Am Anfang dieses Kapitels stand eine Definition der „Aufklärung“ von Immauel Kant. Kant führte den von Descartes begründeten und von den oben genannten Denkern weitergeführten Versuch, die Welt mit Hilfe des Verstandes zu beschreiben, zu verstehen und zu erklären, zu einem bis heute anerkannten Abschluss. Zwar gibt es eine Philosophie (und Philosophen) nach Kant, aber keine ohne Kant.
Abb. VI.4: Immanuel Kant, Gemälde von Gottlieb Doebler, 1791. Immanuel Kant wurde 1724 in Königsberg geboren und starb dort auch anno 1804. Er weigerte sich beharrlich, seine Vaterstadt zu verlassen und schlug lukrative Angebote, an anderen Orten zu lehren, aus. Kants Leben verlief äußerlich ohne besondere Ereignisse, seine Ideen wirken aber auf das Denken des modernen Menschen nicht nur in Deutschland oder Europa bis heute ein. Ich möchte hier keine Beschreibung der Kantschen Philosophie im Allgemeinen versuchen und werde daher auch den berühmten „kategorischen Imperativ“ seiner Lehre zur Ethik nicht erläutern; für unser Thema wichtig und unerlässlich ist hingegen Kants Erkenntnistheorie. Kant legt sich in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ (1781, stark erweiterte zweite Auflage 1787) die 296
Frage vor „Was kann ich wissen?“. Er unterzieht den u. a. von Leibniz vertretenen Rationalismus (hier als Name einer philosophischen Denkschule zu verstehen) ebenso wie den diesen ablehnenden Empirismus einer kritischen Prüfung mit dem Ergebnis, dass zwar eine vor aller Erfahrung „a priori“ liegende Erkenntnis möglich sei, dass es diese aber erst in Verbindung mit der konkreten Anschauung erlaube, die Welt geistig zu erfassen: „Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.“ Kann es eine Metaphysik, d. h. eine Lehre von den Grundfragen menschlicher Existenz, geben, die nach den Prinzipien der Mathematik oder der Physik arbeitet? Zur Klärung dieser Frage muss zunächst untersucht werden, wie eigentlich Erkenntnisse über die uns umgebende Welt zustande kommen. Wir verfügen, so Kant, über einen äußeren Sinn, der uns eine Vorstellung vom Raum gibt, und über einen inneren Sinn, der uns eine Vorstellung von der Zeit gibt. Beides zusammen ermöglicht uns erst Erkenntnis, denn kein Gegenstand kann ohne Raum und Zeit vorhanden sein. Allerdings nehmen wir mit unseren Sinnen nicht „das Ding an sich“ wahr, sondern dessen Erscheinung, d. h. ein von unserem Verstand nach bestimmten Regeln, die Kant Kategorien nennt und die aus dem reinen Denken entstehen, erzeugtes Bild. Zu diesen Kategorien gehört beispielsweise die Kausalität. Wir nehmen zwei aufeinanderfolgende Ereignisse wahr, nicht aber die Verbindung derselben in Form von Ursache und Wirkung. Der Schluss, dass das eine Ereignis die Ursache des anderen ist, erfolgt durch unseren Verstand. Wir sehen, dass sich die Sonne um die Erde dreht, sind aber imstande durch unser Denken und den Gebrauch von durch reines Denken ermittelten Begriffen zu erkennen, dass in Wirklichkeit die Erde um die Sonne kreist. Die Grenze von Vernunftschlüssen liegt dort, wo der Boden der sinnlich wahrnehmbaren Erscheinungen und der daraus ableitbaren Schlussfolgerungen verlassen wird und der Bereich der Spekulation beginnt. In diesen Bereich gehören die transzendentalen (über die natürlichen Dinge hinausreichenden) Ideen der Unsterblichkeit der Seele, der von Gott verliehenen Willensfreiheit des Menschen und der Existenz Gottes selbst. Diese Vorstellungen entziehen sich dem Zugriff der Vernunft und können weder bewiesen noch widerlegt werden. Damit soll die kurze Skizze der Philosophie der Aufklärung beendet werden. Wichtig erscheint mir – neben den geschilderten Überlegungen und Vorstellungen einzelner Philosophen – die Tatsache, dass die Aufklärung deren Gedanken erst ermöglichte. Ohne die Grundvoraussetzung, dass der Mensch in einem von Naturgesetzen bestimmten Kosmos lebt und die Überzeugung, dass diese Naturgesetze durch logisches Denken erfassbar und die Schöpfung somit verstehbar ist, hätte sich jede über Aristoteles und die Scholastik hinausgehende Philosophie erübrigt. In der Renaissance war der Gedanke an universell gleiche und gleichbleibende Naturgesetze erst in Ansätzen vorhanden und die Naturforschung war eher eine Magia naturalis als eine Philosophia naturalis (wenn auch der Grundsatz, dass die Natur bestimmten Regeln folgt schon viel älter ist und die Magie als Erkenntnismethode erst ermöglicht). Da wesentliche Phänomene der physischen Welt, wie Elektrzität, Magnetismus, Wärme und Licht im 17. und 297
18. Jahrhundert entweder ganz ubekannt, oder nicht plausibel erklärbar waren, litt die Naturlehre der Aufklärung an erheblichen Defiziten. Die damalige Naturforschung, sofern sie nicht naturmagisch geprägt war, glaubte an die alleinige Existenz mechanischer Kausalwirkungen und begriff unbelebte Objekte ebenso wie Organismen als mehr oder weniger kompliziert Maschinen. Die Magia naturalis hingegen glaubte nicht an eine mechanische Welt, sondern an eine Welt, die von verborgenen, okkulten Kausalsystemen beherrscht ist, deren Wirkzusammenhang auf nicht-rationalen Beziehungen beruhte. Erinnert sei hier an die Sympathie oder Antipathie von Objekten oder Zuständen zueinander. In der Aufklärung wurden Naturgesetze als inhärente und unveränderliche Regeln des Zusammenwirkens der einzelnen Teile des mechanistisch gedachten Kosmos interpretiert, was nach Auffassung mancher aufklärungskritischeren Geister die Allmacht Gottes begrenzte und daher als ketzerisch anzusehen war.
VI.2 Der skeptische Chymiker Robert Boyle Für die Erforschung der Natur genügte es nicht, ein philosophisch-rationales Konzept bezüglich des Vorhandenseins von Naturgesetzen zu haben. Man musste sich vielmehr mit einigen konkreten Fragen auseinandersetzen, die die Frage nach der Beschaffenheit der Materie und der Art und Weise der Einwirkung materieller Körper aufeinander zum Gegenstand hatten. Woraus bestand die Materie eigentlich? War sie unendlich teilbar, oder existierten Atome (von griechisch atomos, unteilbar)? Wenn es Atome geben sollte, waren diese alle von einer Art oder gab es unterschiedliche Atomsorten? Gab es so etwas wie Elemente und wie waren diese ggf. zu definieren? Welche Kräfte wirkten zwischen unterschiedlichen Stoffen? Warum reagierten manche Substanzen mehr oder minder heftig miteinander, sobald sie in Kontakt gebracht wurden, warum passierte in anderen Fälllen aber auch gar nichts? Welche Kräfte schließlich bewirkten, dass ein in die Luft geworfener Stein wieder zur Erde fiel und was war die Ursache der Bewegung der Planeten um die Sonne oder des Mondes um die Erde? Zahlreiche Naturphilosophen wandten sich diesen Fragen zu und die Debatten dauerten noch an, als die Zeit der Aufklärung sich dem Ende zuneigte und mit dem 19. Jahrhundert die Moderne die Bühne der Geschichte betrat. Ich möchte zwei Persönlichkeiten eingehender vorstellen, die beide sowohl für die Geschichte der exakten Naturwissenschaften wie für die Geschichte der Magia naturalis von großer Bedeutung sind, nämlich Robert Boyle und Isaac Newton. Der erstere wurde lange Zeit als der Begründer des chemischen Atomismus angesehen, der zweite erlangte als Entdecker des Gravitationsgesetzes und Schöpfer der Klassischen Physik unsterblichen Ruhm. Beide waren jedoch, wenn auch mit etwas unterschiedlicher Ausrichtung, dem magischen Denken allgemein und der Alchemie im Besonderen eng verbunden. Gerade diese Vermischung scheinbar unvereinbarer Vorstellungswelten in jeweils ein und derselben Person macht beide für unsere Be298
trachtung zur Geschichte der Magie so interessant. Zeigt sich doch hier exemplarisch, dass es in der Geistesgeschichte keine Sprünge und radikalen Schnitte gibt und Neues immer aus dem Vorangegangenen entsteht und neben diesem besteht. Robert Boyle entstammte einer der wohlhabendsten Familien Großbritanniens.
Abb. VI.5: Rober Boyle, kolorierter Kupferstich von George Vertue, 1739. 1627 kam er als das 14. Kind und siebter Sohn von Richard Boyle, Great Earl of Cork, mit dessen zweiter Frau Catherine, Tochter des Sir Geoffrey Fenton, des Staatssekretärs für Irland zur Welt. Er besuchte die Eliteschule Eton und begab sich 1639 mit seinem Bruder Francis und begleitet von seinem Hauslehrer Isaac Marcombes auf eine Bildungstour durch Frankreich, die Schweiz und Italien. Aufgrund der Rebellion in Irland der Jahre 1641/42 kehrte Francis 1642 nach Hause 299
zurück, während Robert seine Studien im Genfer Domizil von Marcombes fortsetzte. 1644 ließ er sich in Stalbridge (Dorset) auf einem Landsitz seiner Familie nieder und begann mit der Niederschrift einer Reihe von ethischen und religiösen Traktaten. 1649 führte er erstmals naturwissenschaftliche Experimente aus, die ihn sogleich fesselten. Während dieser frühen Jahre stand er in Verbindung mit dem aus Ostpreußen stammenden, deutsch-englischen Naturforschers und Volkspädagogen Samuel Hartlib (um 1600–62), der sich sowohl um eine Versöhnung der unterschiedlichen christlichen Konfessionen bemühte, wie auch um die Schaffung einer als „Office of Publick Adresse“ bezeichneten Sammelstelle für Erkenntnisse und Erfahrungen aus allen Gebieten des Wissens. Dieses „Informationsbüro“ kam zwar nicht zustande, bildete kenzeptionell aber einen Vorläufer der Royal Society. Zugang zur Alchemie fand er u. a. durch George Starkey (1628–65), der unter dem Pseudonym „Irenäus Philaletha“ vielbeachtete alchemisch-iatrochemische Schriften veröffentlichte, und durch den Naturphilosophen, Okkultisten und Alchemisten Sir Kenelm Digby (1603–65). Besonders die Schriften von des bedeutenden Alchemisten Johann Baptist van Helmont (1579– 1644) beeinflussten Boyles eigenes wissenschaftliches Denken. In philosophischer Hinsicht wurden Francis Bacon (1561–1626) und René Descartes für ihn maßgebend. 1656 wurde Boyle nach Oxford eingeladen, wo er bis 1668 blieb und eine wissenschaftlich sehr produktive Tätigkeit entfaltete. Mit Hilfe von Robert Hooke (1635–1703) baute er 1659 eine Vakuumpumpe, mit der er pneumatische Experimente durchführte. Dabei stellte er fest, dass bei gleichbleibender Temperatur der Druck eines (idealen) Gases umgekehrt proportional zu seinem Volumen ist. Diese physikalische Beziehung, die unabhängig auch von Edme Mariotte (um 1620–84) entdeckt wurde, ist als Boyle-Mariottesches Gesetz bekannt. Nachdem Boyle Oxford verlassen hatte, verbrachte er den Rest seines Lebens als Privatgelehrter im Hause seiner Schwester Catherine, Lady Ranelagh, in London. Er richtete sich ein Laboratorium ein, empfing zahlreiche Besucher (mit denen zusammen er auch experimentierte) und zählte 1660 zu den Gründungsmitgliedern der Royal Society. Boyle war die meiste Zeit seines Lebens kränklich, litt unter Sehschwäche und zitternden Händen, wiederkehrenden Erkrankungen und erlebte möglicherweise auch einen oder mehrere Schlaganfälle. Die ihm angetragene Präsidentschaft der Royal Society lehnte er ebenso ab, wie die Bischofswürde. Er starb 1691, eine Woche nach dem Tod seiner Schwester. Eine umfangreiche Sammlung unveröffentlichter Papiere befindet sich im Besitz der Royal Society. Robert Boyle war ein sehr religiös empfindender Mensch und wollte das spirituelle Bewusstsein einer ihm zu profan denkenden Gesellschaft erneuern. Obwohl er „Voluntarist“ war, d. h. zu jenen Aufklärungskritikern zählte, die der behaupteten Existenz von Naturgesetzen skeptisch gegenüberstanden, weil sie hier die Allmacht Gottes eingeschränkt sahen, lehnte er die Erforschung der Natur keineswegs ab. Er war vielmehr der Ansicht, dass die mechanistische Philosophie auch theologisch vorteilhafter sei als die überkommene aristotelische Denkweise. 300
Mit der Konzentration auf die Eigenschaften und Kräfte der Materie als solcher bleibe Gott gewissermaßen unangetastet. Die zielgerichteten „Prinzipien“ etwa der Paracelsisten hingegen könnten als eine Art Vermittler zwischen Gott und der Schöpfung betrachtet werden, so Boyle, und damit – ähnlich der Naturphilosophie der Renaissance –Gott an den Rand seiner Schöpfung drängen (als Unbewegten Beweger). Mit den von ihm gestifteten „Boyle-Lectures“, die bis heute stattfinden, sollte dem Unglauben mit naturwissenschaftlichen Argumenten entgegentreten werden. Zu dieser Haltung passt gut seine Betonung der Notwendigkeit von Experimenten und die ausgeprägte Zurückhaltung gegenüber umfassenden Theorien. Robert Boyle gilt als einer der Väter der naturwissenschaftlichen Chemie, was v. a. mit seinen Ansichten bezüglich der Existenz von Atomen begründet wird. Diese Einschätzung wird den historischen Tatsachen indes nicht ganz gerecht. In seinem 1661 erschienen Hauptwerk „The Sceptical Chymist“ (Der skeptische Chymiker oder Chymist) behandelt Boyle auch die Frage, was man unter einem Element zu verstehen habe. Der Ausdruck Chymiker wird in der neueren Forschungsliteratur verwendet, um Persönlichkeiten zu bezeichnen, die keine eigentlichen Alchemisten bzw. Chymiater mehr waren, andererseits aber auch noch keine Chemiker im modernen Sinne. Boyle ist ein Repräsentant dieses Typus. Die aristotelischen Elemente (Erde, Wasser, Feuer, Luft) hält Boyle für reine Erfindungen, ebenso die drei Prinzipien Sal, Sulphur und Mercurius. Nach Boyles Definition sind Elemente „gewisse einfache, vollständig ungemischte Körper, aus denen die wahrhaft gemischten Körper aufgebaut sind“. Als wahrhaft gemischte Körper („perfectly mixt bodies“) betrachtet er alle Substanzen, die keine einfache Mischung darstellen (wie etwa Salz und Pfeffer) also mechanisch nicht weiter in ihre Bestandteile zerlegt werden können. Dies ist die Definition einer chemischen Verbindung. Kochsalz etwa besteht aus Natrium und Chlor, ist also eine chemische Verbindung, die mechanisch nicht weiter zerlegt werden. Chemische Elemente wären also demnach die chemisch nicht weiter zerlegbaren Bestandteile chemischer Verbindungen. Von einem modernen Konzept des chemischen Elements kann bei Boyle dennoch keine Rede sein, denn er fährt in oben angeführter Stelle fort: „… ob nun solche Körper immer wieder angetroffen werden können, die man als Elementarkörper bezeichnet, ist die Frage die es zu untersuchen gilt.“ Boyle gab damit eine Definition eines hypothetischen Objekts von dessen Existenz er keineswegs überzeugt war. Dazu wäre noch anzuführen, dass er mitnichten an die Existenz zahlreicher unterschiedlicher und isoliert vorkommender Elemente glaubte, sondern an eine Universalmaterie, die sich nur durch die Form ihrer Atome und deren Bewegungszustand ausdifferenziert und als solche kaum oder gar nicht zugänglich ist. Die Verbindungen, die „perfekt gemischten Körper“, bestehen zudem stets aus allen Elementen oder unterschiedlich geformten und bewegten Atomen. Auch ohne nähere Analyse wird deutlich, dass Boyle hier dem aristotelischen Konzept vom Bau der realen Stoffe nähersteht als dem modernen Element- und Verbindungkonzept. Dennoch hat er mit seiner Betonung der Wichtigkeit chemischen Experimentierens, mit seiner Unterstüt301
zung einer mechanistischen Betrachtungsweise der Natur und mit seiner Überzeugung von der praktischen Nützlichkeit wissenschaftlicher Forschung wesentlich zur Entwicklung der Physik und Chemie beigetragen. Dass Boyle den modernen Elementbegriff nicht vorwegnahm, wird auch durch seinen festen Glauben an die Möglichkeit der Metalltransmutation unterstrichen. Er erläutert dies in seiner 1666 erschienenen Abhandlung „Origine of Formes and Qualities“ Ursprung der Formen und Qualitäten), wo er auch von einer seiner Meinung nach erfolgreichen Umwandlung von Gold in Silber (also einer umgekehrten Transmutation) mittels eines kraftvollen Lösungsmittels berichtet, das er „menstruum peracutum“ nennt. Er glaubte aber auch an die Transmutation mittels des Steins der Weisen und bemühte sich zeitlebens, das Geheimnis zu ergründen. Boyle vertraute den Kräften des Steins so sehr, dass er – unter dem Einfluss von John Dees „Engelsmagie“ – sogar annahm, der Lapis könne die Kommunikation mit den Engeln erleichtern. Er war Zeuge mehrerer, von fahrenden Adepten durchgeführter Transmutationen und verfasste einen „Dialogue on Transmutation“ worin er sich entschieden für die Möglichkeit einer Transmutation mittels des Steins der Weisen ausspricht (ein Fragment dieses Textes wurde 1678 anonym unter dem Titel „A Degradation of Gold by an Anti-Elixir“ veröffentlicht). Seine Zusammenarbeit mit Starkey hatte ihm eine Substanz verschafft, von der glaubte, es handle sich dabei um den „Merkur der Philosophen“. Was genau er damit meinte ist unklar, denn er lehnte ja die Tria Principia, zu denen Mercurius gehört, eigentlich ab. Jedenfalls experimentierte er mit diesem Stoff an die 40 Jahre lang und veröffentlichte 1675 in den Philosophical Transactions einen verschleierten Bericht darüber. 1689 erreichte er die Aufhebung eines 1404 erlassenen Gesetzes gegen die „Multiplikation“, also die Darstellung von Gold mit alchemischen Mitteln, vermutlich, weil es ihm unrecht dünkte, evtl. gegen ein Gesetz zu verstoßen, selbst wenn dieses schon 285 Jahre alt war. Ob dieser „Merkur“ mit einer anderen, geheimnisvollen Substanz aus Boyles Hinterlassenschaft identisch war, wissen wir nicht. In seinem Nachlass fand sich nämlich eine „rote Erde“, der er offenbar transmutatorische Kräfte beilegte. Die Substanz gelangte in die Hände Isaac Newtons, der sie, oder einen Teil davon, an den Philosophen John Locke sandte. In einem diesbezüglichen Brief an Locke vom Januar 1692 schrieb Newton, er vermute, dass diese rote Erde Boyle veranlasst habe, für die Aufhebung des obigen Gesetzes zu sorgen. Dies beweist alles klar und deutlich, dass Robert Boyle über sein ganzes wissenschaftliches Leben hinweg an die Alchemie und ihr Potential glaubte. Überdies führte er eine umfangreiche Korrespondenz mit anderen praktizierenden Alchemisten in ganz Europa, von denen er offenbar bereits zu Lebzeiten als experimentell erfahrene Autorität geschätzt wurde. Sein Denken verlief auf der Grenzlinie zwischen der hergebrachten, metaphysisch geprägten Naturphilosophie und einem neuen, naturwissenschaftlich-rationalen Weltbild. Für ihn war es offenkundig möglich, aus heutiger Sicht unvereinbare Vorstellungen nebeneinander zu kultivieren. Und er war damit keineswegs alleine, wie wir gleich sehen werden. 302
VI.3 Das Licht, die Schwerkraft und der Stein der Weisen, Isaac Newtons Weltbild Isaac Newton, das sei vorausgeschickt, gehört zu den bedeutendsten Naturforschern aller Zeiten. Er formulierte die fundamentalen Gesetze der Gravitation, entwickelte die Korpuskulartheorie des Lichts und erfand (unabhängig von Leibniz) die Methode der Integral- und Differentialrechnung, ohne die die weitere Entwicklung der Physik unmöglich gewesen wäre. Hier soll jedoch nicht der geniale Physiker und Mathematiker im Vordergrund stehen, sondern Newton der Alchemist, der Naturphilosoph und auch der Theologe und Ketzer Isaac Newton.
Abb. VI.6: Isaac Newton. 303
Isaac Newtons Vater, er hieß ebenfalls Isaac und war ein relativ wohlhabender Gutsbesitzer, starb noch vor der Geburt seines Sohnes, der an Weihnachten 1642 oder Anfang Januar 1643 in Woolsthorpe (Lincolnshire) das Licht der Welt erblickte. Das Kind wuchs überwiegend bei den Großeltern in Woolsthorpe auf, da die Mutter sich erneut verheiratete und wegzog. Nach dem Tod ihres zweiten Ehemanns 1653 kehrte auch Newtons Mutter ins elterliche Haus zurück, der Knabe kam auf die Grammar School in Grantham und begann 1661 ein Universitätsstudium am Trinity College in Cambridge, das er 1665 als Bachelor of Arts abschloss. Kurz danach musste er sich für zwei Jahre in sein Heimatdorf zurückziehen, da die Universität wegen der 1665 in London ausgebrochenen Beulenpest geschlossen wurde. Schon auf der Universität und verstärkt in den Jahren seines privaten Studiums zuhause ließ Newton das aristotelische Lehrgebäude seiner Zeit hinter sich. Er entdeckte die Schriften von Descartes mit ihrer radikal neuen mechanistischen Weltsicht und stürzte sich voller Eifer auf dessen „Discours de la méthode“ und besonders die dort als Anhang behandelte Lehre von der Geometrie, in der Descartes die Algebra und die Geometrie verband. (Heute nennen wir diesen Zweig der Mathematik die Analytische Geometrie; es sei vermerkt, dass das Cartesische Koordinatensystem bei Descartes nicht erwähnt ist.) Da er keinen Lehrer zur Verfügung hatte, brachte sich Newton die ganze zum Verständnis von Descartes’ Text nötige Mathematik selbst bei, indem er immer gerade so weit las, bis er nicht mehr verstand, worum es ging. Dann wiederholte er die Lektüre, bis er den Stoff erfasst hatte und fuhr dann fort bis zur nächsten schwierigen Stelle. In nur einem Jahr erlangte der junge Mann das gesamte mathematische Wissen seiner Zeit und entwickelte es bis Ende 1666 selbst weiter zur Integral- und Differentialrechnung, allerdings ohne seine Ergebnisse zu publizieren, was viel später zu einer ebenso unerfreulichen wie ergebnislosen Prioritätskontroverse mit Gottfried Wilhelm Leibniz führte. Neben den Werken von Descartes las er auch die Schriften des französischen Astronoems und Philosophen Pierre Gassendi (1592–1655) und die Werke von Robert Boyle, mit dem ihn im Laufe der Zeit eine recht enge Freundschaft verbinden sollte. 1667 kehrte er nach Cambridge zurück, erwarb den Grad eines Master of Arts und trat 1669 die Nachfolge seines verehrten Lehrers Isaac Barrow (1630–77) als Professor für Mathematik auf dem „Lucasian Chair“ an. In einer für ihn typischen Weise erlahmte nach der enormen intellektuellen Leistung der Infinitesimalrechnung sein Interesse an der Mathematik und Newton wandte sich der Physik zu, indem er sich mit der Frage der gegenseitigen Wirkung von bewegten Massen aufeinander befasste. Er konnte zeigen, dass die anziehende Kraft der Erde am Äquator die Fliehkraft um rund das Dreihundertfache übersteigt und widerlegte damit einen bekannten Einwand gegen das Kopernikanische System. Er studierte auch die Lichtbrechung in Linsen und Prismen und gelangte, ganz im Sinne der mechanistischen Lehre, zu der Ansicht, das Licht bestehe aus winzigen Korpuskeln, deren Größe und Bewegungszustand die Ursache für die unterschiedlichen Lichtfarben sei. Er trug diese Theorie bei seiner Antrittsvorlesung in 304
Cambridge vor und publizierte sie 1672 in den „Transactions“ der Royal Society, deren Mitglied er seit kurzem war. Binnen kurzem in eine Kontroverse u. a. mit Robert Hooke (1635–1703) verwickelt, zog sich Newton von der Royal Society zurück und wandte sich verstärkt alchemischen und theologischen Problemen zu. Den Höhepunkt seiner Cambridger Zeit bildete die Ausarbeitung der neue Dimensionen eröffnenden Himmelsmechanik, dargelegt in den wahrhaft epochalen „Philosophiae Naturalis Principia Mathematica“, die Newton 1687 auf Drängen des Mathematikers und Astronomen Edmond Halley (1656–1742, entdeckte 1705 die Periodizität des nach ihm benannten Kometen) widerstrebend publizierte. Die intellektuelle Anspannung, wahrscheinlich aber auch der Umgang mit giftigen Chemikalien, führte 1693 zu einem Nervenzusammenbruch und geistiger Verwirrung. Newton zog sich vom akademischen Leben zurück und betrat eine neue Laufbahn als Oberaufseher (1695) und Leiter (1699) der königlichen Münze in London. Erst jetzt veröffentlichte er zahlreiche bereits früher erarbeitete Schriften. Auszeichnungen, Titel und eine geradezu hymnische Verehrung wurden ihm als dem Genius der Physik nun zuteil. 1703 wurde er Präsident der Royal Society, 1705 folgte die Erhebung in den Adelsstand. 1704 erschien als letztes großes Werk die Monographie „Opticks or a Treatise of the Reflections, Refractions, Inflections and Colours of Light“. Nach seinem Tod 1727 wurde Isaac Newton in der Westminster Abbey beigesetzt, eine Ehre, die nur ganz wenigen Wissenschaftlern je zuteil wurde. Wenden wir uns nun, nach diesem kurzen und notwendigerweise sehr fragmentarischen Überblick etwas eingehender den intensiven alchemischen Studien zu, die Newton zeitlebens betrieb. Mit 27 Jahren erwarb er erste alchemische Werke, darunter das sechsbändige Sammelwerk „Theatrum Chemicum“ (gedruckt zu Straßburg 1659–61), und entsprechende Laborgerätschaften. Die ursprünglich auch von ihm verfochtene Idee eines Äthers als vermittelndem Medium zwischen den Materieteilchen verließ Newton zugunsten der Entwicklung eines Kraftkonzeptes der Anziehung und Abstoßung zwischen Partikeln im Vakuum. Die in der Lehre der Alchemie maßgebenden, in der Natur wirksamen „Prinzipien“ (Sal, Sulphur und Mercurius) und die Vorstellung von Sympathie und Antipathie schienen Newton besser zum christlichen Gottesverständnis zu passen, als die bewegten Korpuskeln der mechanistischen Philosophen. Diese alchemischen Wirkungsprinzipien formte Newton letztlich zu anziehenden bzw. abstoßenden Kräften um, die wiederum die Grundlage der Gravitationsgesetze bildeten. Ein verwandtes Modell der Anziehung bzw. Abstoßung findet sich z. B. bei dem bekannten Alchemisten Michael Sendivogius (1566–1636), mit dessen Schriften sich Newton ausgiebig beschäftigte. Anziehung und Abstoßung spielen als „Sympathie“ und „Antipathie“ auch in den, ihm wohlbekannten, okkulten Schriften der Renaissance eine große Rolle. 305
Newton veröffentlichte keine alchemischen Abhandlungen, legte aber einige seiner alchemischen Spekulationen in den „Queries“ (Fragen), im Anhang zu den „Opticks“ nieder (Query 23, 1704, später erweitert zu Query 31, 1717). Das beachtliche Ausmaß seiner alchemisch-okkulten Forschungen wurde lange Zeit verschwiegen, nicht zuletzt, weil spätere Biographen glaubten, das Ansehen des großen Genies werde sonst beschädigt. Erst in den letzten Jahrzehnten wurde das wahre Bild dieses überragenden Geistes unter diesen verzerrenden Darstellungsschichten freigelegt. Nur wenige Freunde, darunter John Locke und Robert Boyle kannten seine okkult-naturmagischen Neigungen. Newton glaubte an einen lebensspendenden „Geist“, verstanden als einen Teil der Trias Körper – Seele – Geist (corpus, anima, spiritus), der den Wachstums- und Reifeprozess der Materie in Gang setzt und kontrolliert. Diesen Geist wollte Newton erforschen; derlei Arbeiten verlangten alchemischer Tradition und Ethik zufolge strenge Geheimhaltung. Die Einhaltung dieser Regel war vielleicht, neben dem Bestreben jeder persönlichen Kontroverse aus dem Weg zu gehen, und der Furcht, sein gesellschaftliches und wissenschaftliches Ansehen zu gefährden, maßgebend für Newtons Verheimlichung seiner alchemischen Forschungen. (Sein Freund Boyle hingegenhegte keine derartigen Befürchtungen und zeigte Gästen gerne sein gut ausgestattetes Alchemie-Labor.) Eine Rolle könnten aber auch Newtons theologische Ansichten gespielt haben. Er war nämlich bestrebt, ein System der Weltdeutung zu entwickeln, das sich auf den als ketzerisch geächteten Arianismus stützte. Diese von dem frühchristlichen Priester Arius (um 280–336) in Alexandria verkündete Lehre erblickte den Urgrund alles Seienden und allen Geschehens in dem einen Gott. Jesus sei mit diesem nicht wesensgleich gewesen, sondern ein von Gott erschaffener Mittler. Eine solche Position war zu Lebzeiten Newtons nicht ungefährlich und hätte ihm zumindest den Verlust aller Ämter eingebracht, wäre sie öffentlich bekannt geworden. Newton glaubte, dass der Schlüssel zu Erkenntnis der wahren Natur der Materie und des inneren Gefüges der Natur in antiken Texten zu finden sei. Robert Boyle dagegen vertraute auf eigenes Nachdenken und kluges Experimentieren. Newton betrachtete die Alchemie und auch die Schöpfungslehre eher als ein philologisches oder exegetisches Problem, Boyle als ein naturwissenschaftliches. Folgerichtig legte Newton eine bedeutende Sammlung alchemischer Werke an, und studierte mit besonderem Eifer die Schriften des legendären Gründers der Königlichen Kunst, Hermes Trismegistus (siehe Teil II). Dem Mediziner, Alchemisten, neulateinischen Dichter und Schriftsteller Michael Maier (1569–1622), widmete Newton sein längstes alchemisches Manuskript. Wie Maier erhoffte auch er sich von der „richtigen“ Deutung antiker Texte den Schlüssel zum Stein der Weisen. Zudem studierte Newton die antike Göttermythologie, durch deren Dechiffrierung sich alchemische Erkenntnisse gewinnen lassen sollten. Maiers „Göttergenealogie“, der eine Generationsfolge der Metalle entspricht, findet sich in abgewandelter und weiterentwickelter Form in Newtons Entwicklungskonzept der Metalle wieder. Die bereits genannten „Opticks“ (in der Fassung von 1717) enthalten auch seine „exakte 306
Kompositionslehre der Materie“. Dabei werden hierarchisch gegliederte Stoffpartikeln durch große Kräfte zusammengehalten. Jedes Partikel ist dabei von einem kugelförmigen Leerraum umgeben. Die unteilbaren Korpuskeln der untersten Ordnungsstufe vereinigen sich zu teilbaren Gebilden höherer Stufen, die aus Teilchen und Leerraum bestehen, wobei der Anteil des leeren Raums (Vakuum) mit zunehmender Komplexität der Strukturen wächst. Dieses Modell des Stoffaufbaus dürfte seiner berühmten Definition I in den „Principia“ zu Grunde gelegen haben, bei der die Körpermasse durch das Produkt aus Dichte und Volumen bestimmt wird. Die einfachen Materieteilchen repräsentieren für Newton das alchemische Prinzip des Sulphur, die zusammenhaltende Kraft des Prinzip Mercurius. Hier erfolgt also eine Verbindung des physikalischen Kraftkonzepts mit der alchemischen Prinzipienlehre. Kaum irgendwo wird die Eingebundenheit des Newtonschen Denkens sowohl in die aristotelische wie in die mechanistische Vorstellungsweise deutlicher als hier. Newton war beileibe kein reiner Theoretiker. Wie sein Vertrauter Boyle arbeitete er auch intensiv im Labor. Ein die Jahre 1678–96 umfassendes Laborjournal protokolliert seine praktischen Arbeiten, denen er sich für je sechs Wochen, meist im Frühling und Herbst, widmete. Er führte hunderte alchemischer Experimente durch, in denen er systematisch versuchte, die Rezepte und theoretischen Vorgaben der Alchemieliteratur nachzuvollziehen und zu optimieren. Genau wie Boyle konnte auch Newton aus unserer heutigen Sicht unvereinbare Theorien in einer Weise verschmelzen, die letztlich den Blick nach vorn öffnete. Die Annahme, dass derlei geistige Zwischenschritte notwendige Bestandteile des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses sind, erscheint mir recht naheliegend. Auf der Basis eines solchen heuristischen Modells der Geistesgeschichte lässt sich die Entwicklung von der Magie der Babylonier bis zur exakten Wissenschaft der Gegenwart jedenfalls plausibel darlegen. Unsere Betrachtung zeigt aber auch noch etwas anderes, nämlich ein anderes Verständnis des Begriffs „Wissen“ bei vielen bedeutenden Geistern der Aufklärung. Wissen bedeutete ihnen zwar einerseits, ganz im Sinne von Descartes, die Erforschung einer als grundsätzlich mechanistisch gedachten Natur, darüber hinaus strebten Sie aber auch nach einem „höheren“ Wissen im Sinne von „Wahrheit“. Man wollte nach wie vor nicht nur Mechanismen erkennen, sondern einen Sinnzusammenhang.
VI.4 Kometen, Wunder, Sterndeuter – Aufklärung und Astrologie Am 19. November 1644, dem 44. Geburtstag des englischen Königs Charles I. (1600–1649), mitten in der Auseinandersetzung des Monarchen mit dem Parlament, erblickte man am Firmament drei Sonnen. 307
Abb. VI.7: Nebensonnen am Hoherodskopf, Hessen. Sofort wurde höchst intensiv die Frage erörtert, wie dieses Zeichen in Bezug auf die Lage des Königreichs und jene des Königs zu werten sei. Man ging ganz selbstverständlich davon aus, dass zwischen der politischen Situation und dem Himmelsereignis ein Zusammenhang bestehen müsse. Als der Astronom Gian Domenico Cassini (1625–1712) knapp 50 Jahre später, 1693, ebenfalls drei Sonnen am Himmel stehen sah, erklärte er diese Erscheinung mit der Brechung der Sonnenstrahlen an Eiskristallen in der Atmosphäre. Aus einem Vorzeichen war ein Naturphänomen geworden. Im Gegensatz zur Alchemie war die Astrologie lange Zeit ein Lehrfach an den Universitäten des Abendlandes. Dies liegt nicht etwa daran, dass die Astrologie ein von der Astronomie nur schwer zu trennendes Beiwerk darstellte, sondern daran, dass man die Astronomie als eine Hilfswissenschaft der Astrologie betrachtete, die die eigentlich interessierenden Aussagen lieferte. Dies änderte sich im Laufe des 17. Jahrhunderts, als sich nämlich nicht nur das kopernikanische Modell des Sonnensystems immer klarer als das zutreffende herausstellte (damit hätte die Astrologie durchaus leben können, worauf Kepler aufmerksam machte), sondern die Konzeption der Makrokosmos-Mikrokosmos-Parallele immer mehr an Glaubwürdigkeit verlor. Auffallend ist, dass in England, anders als auf dem Kontinent, die Astrologie nicht so stark in die Defensive geriet. Dies war nicht zuletzt eine Folge der Abschaffung der Pressezensur anno 1641 in den politisch turbulenten Zeiten der Regierung von König Karl I. von Großbritannien. 308
Eine Flut astrologischer Schriften gelangte auf den Markt und in der Bevölkerung, die von den Problemen der Aufklärung wenig mitbekam, erfreuten sich Horoskope aller Art größter Beliebtheit. Der berühmteste englische Astrologe war William Libby (1602–81), der mit spektakulären Aktionen Aufsehen erregte. Er erstellte beispielsweise das Horoskop eines Vorfalls, bei dem ein Pferd abhandenkam oder gestohlen wurde, indem er Ort und Zeit des Verschwindens des Rosses als Basis nahm. Er war daraufhin nicht nur in der Lage vorherzusagen, dass das Pferd seinem Besitzer wieder zugestellt werden würde, sondern konnte sogar angeben, aus welcher Himmelsrichtung es kommen würde. Trotz derartiger „Erfolge“ verlor die Astrologie in wissenschaftlichen Kreisen ihr Ansehen. Dies hinderte indes die nicht wissenschaftlichen Kreise keineswegs am Festhalten an astrologischem Gedankengut. Goethe etwa war sehr gut mit den okkulten Wissenschaften der Astrologie und Alchemie vertraut; vor allem letztere spielte in seiner Jugend eine wichtige Rolle, nachdem er von einem befreundeten Arzt mittels eines alchemischen Geheimmittels von schwerer Erkrankung geheilt worden war. (Diese Vertrautheit wirkte später wesentlich am Zustandekommen des Versepos „Faust“ mit.) Der 1811 erschienenen ersten Teil von Goethes Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ beginnt mit der glückverheißenden Gestirnkonstellation bei seiner Geburt: Am 28. August 1749, mittags mit dem Glockenschlage zwölf, kam ich in Frankfurt am Main auf die Welt. Die Konstellation war glücklich: die Sonne stand im Zeichen der Jungfrau und kulminierte für den Tag; Jupiter und Venus blickten sie freundlich an, der Merkur nicht widerwärtig., Saturn und Mars verhielten sich gleichgültig; nur der Mond, der soeben voll ward, übte die Kraft seines Gegenscheins um so mehr, als zugleich seine Planetenstunde eingetreten war. Er widersetzte sich daher meiner Geburt, die nicht eher erfolgen konnte, als bis diese Stunde vorübergegangen.4
Nicht nur der Himmel hielt geheime Botschaften bereit, deren Verständnis dem Eingeweihten vorbehalten blieb (der sie gewinnbringend für interessierte Mitmenschen deutete). Auch auf der Erde gab es vielerlei Dinge, die unverständlich waren oder zu sein schienen. Diese nicht der Alltagserfahrung entsprechenden Phänomene galten als „Wunder“. Wunder gab es natürlich schon viel früher, wie das Alte und Neue Testament hinreichend belegten. Das Besondere war die Reaktion der Aufklärung auf das Wunderbare. Galten (Natur)wunder noch in der Renaissance als Beweis für die Größe Gottes und seiner Schöpfung, traten sowohl Aufklärer wie Theologen ihnen nun weitaus skeptischer entgegen, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven. Gemeinsam war beiden Gruppen die Ablehnung des sogenannten Aberglaubens bzw. der „Schwärme4
Kocku von Stuckrad: Geschichte der Astrologie. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 2003, S. 281.
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rei“. Die Vertreter der Kirchen bekamen in einer Epoche der Vernunftgläubigkeit Angst, als Repräsentanten obskurer und lächerlicher Heilswirkungen betrachtet zu werden, konnten aber andererseits nicht bestreiten, dass der christliche Glaube essentiell auf gewisse Wunder Gottes gegründet war. Man behalf sich mit der Behauptung, die Zeit der Wunder sei nunmehr vorbei, da die Botschaft Christi dank der Kirche(n) auch so schon fest Fuß gefasst habe. Die Aufklärer steckten ebenfalls in einem Dilemma: Einerseits wollten sie dartun, dass auf der Welt und auch im Himmel alles mit rechten, verstandesmäßig fassbaren, Dingen zugehe, andererseits waren sie weit davon entfernt, alle natürlichen Erscheinungen und Vorgänge zufriedenstellend erklären zu können. Beiden Seiten gemeinsam war die Befürchtung, durch abergläubische Vorstellungen könne „das Volk“ – zu dem sich weder die Theologen noch die intellektuellen Aufklärer rechneten – zu unkontrollierbaren Ausschreitungen verleitet werden. Als der später nach dem Astronomen Edmund Halley (1656–1742) benannte Komet anno 1680 wieder einmal am Firmament erschien, wurde wie üblich lebhaft und kontrovers diskutiert, welche Konsequenzen diese Himmelerscheinung für die leidende Menschheit habe. Das französische „Journal des Sçavans“, an sich eine Gelehrtenzeitschrift, nahm Kommentare jeglicher Couleur entgegen, wohl weil man in der Redaktion selbst nicht wusste, was man von der Sache zu halten habe. Der Philosoph Pierre Bayle (1647–1706) veröffentlichte 1681 ein „Pensées diverses“ (Verschiedene Meinungen) betiteltes Buch, in dem er u. a. gegen einen Professor der Pariser Universität Sorbonne zu Felde zieht, der behauptet hatte „Kometen seien wie die Herolde von Armeen, die anrücken, um dem Menschengeschlecht im Namen Gottes den Krieg zu erklären“. Bayle fand eine solche Denkweise eines Professors der Sorbonne unwürdig. Der Danziger Astronom Johannes Hevelius (1611–87), der als Erster eine Karte der Mondoberfläche erstellte, hielt Kometen nicht für Wunder aber für wunderbar. Hevelius glaubte, Kometen seien Erscheinungen der translunaren Planetenräume und vermutete, sie würden sich auf Parabelbahnen bewegen in deren einem Brennpunkt die Sonne stehe. Er meinte, sie sollten „eher bewundert denn gefürchtet werden, da sich in der Tat kein zwingender Grund dafür findet, warum der Urheber der Natur sie nicht eher als Sinnbilder seines Ruhmes und seiner Größe, statt seines Zorns oder Missfallens, angelegt haben sollte“. Hier ist von der aristotelischen Weltharmonie des ewigen Gleichmaßes, in der Kometen zwangsläufig als Störung und damit als existentiell bedrohlich galten, nichts mehr zu spüren. Die Natur ist sowohl schön wie schrecklich, aber nicht voller Zeichen und Wunder, sondern im Kern erklärbar. Die Natur ist auch nicht mehr allein für den Menschen geschaffen, sondern besteht aus sich selbst und unabhängig von ihm. Dennoch waren die Dinge nicht bei allen so klar und übersichtlich, wie bei Hevelius. Der Theologe und Kirchenhistoriker Pierre Lebrun (1661–1729) vertrat beispielsweise die Ansicht, es sei abergläubisch, den Korallen (in Form von Schmuck) eine gewitterverhindernde Wirkung beizulegen, meinte aber auch, die Wünschelrute erhalte ihre Kraft von bestimmten Dämonen. Er brandmarkte die Annahme okkulter Naturkräfte als Aberglauben, ging aber selbst von der 310
Existenz guter und böser Geister und deren Wirken aus. Der Grund für diese paradoxe Haltung war theologischer Natur. Wenn es etwas Unerklärliches gab, hatte dies nichts mit verborgenen aber letztlich natürlichen Ursachen zu tun, sondern mit Dämonen und mit dem Teufel als dem Herrn aller Dämonen. Für den Teufel war aber die Kirche zuständig und nicht die Philosophie. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich eine Literaturgattung, die „Aufklärungsliteratur“, die sich zum Ziel setzte, scheinbar über- oder außernatürliche Vorgänge rational zu erklären. Damit sollte der „wahre“ Glaube gestärkt und gleichzeitig das vernünftige Denken beim „Volk“ gefördert werden. Folgerichtig waren es nicht selten Theologen, die sich in dieser Form literarisch äußerten. Der „herzoglich Braunschweig-Lüneburgische Superintendent“ und „Prediger in der Landstadt Calvörde“ Johann Heinrich Helmuth (1731–1813) war einer von ihnen. Er verfasste 1785 eine „Volksnaturlehre zur Dämpfung des Aberglaubens“, die beim Lesepublikum so beliebt war, dass der ersten Auflage bis 1803 vier weitere folgten. Helmuth behandelt in 15 Kapiteln alle möglichen Naturerscheinungen und gibt in Form von Fragen und Antworten Erklärungen und Erläuterungen. Der Zweck des Buches ist nicht in erster Linie die Verbreitung von Wissen an sich, sondern die Botschaft, dass auch scheinbar Unerklärliches keineswegs übernatürlich sein müsse, sondern ganz rational erklärbar sei. Daher folgt immer wenn es ihm passend erscheint, eine „Anwendung auf den Aberglauben“. Bei der Erklärung des Regens ergibt sich eine solche Gelegenheit: Der Landmann bemerkt bisweilen auf den Blättern der Bäume, den Gebäuden, und wol gar auf seiner Kleidung, rothe Tropfen, wie Blut. Er hält solche für blutige Regentropfen, und wird durch deren Anblick in Furcht und Schrecken gesetzt, weil er sich einbildet, daß es Blut geregnet habe. Allein da der Regen entsteht, wenn die wässerigen Dünste so nahe an einander kommen, daß sie in Tropfen zusammenfließen: so kann es auch nur Wasser regnen. Blut befindet sich nur in lebendigen Körpern und nicht in der Luft. Die rothe Tropfen, die bisweilen fallen, können also ihren Ursprung nicht aus der Luft haben. Die wahre Ursache davon sind die Schmetterlinge, welche der Landmann Buttervögel nennt. Es ist eine bekannte Sache, daß die Raupen sich einspinnen und sich darauf in Schmetterlinge verwandeln. Indem sie nun ihr Puppengehäuse verlasssen: so geben sie blutige Tropfen von sich, welche von den Abergläubigen für einen Blutregen gehalten werden.5
Nun, hier irrte der Herr Superintendent. Aber die tatsächliche oder zumindest die heute gültige Erklärung für den Blutregen (Sand aus der Sahara) wäre ihm und seinen Zeitgenossen wahrscheinlich nicht weniger phantastisch vorgekommen als die Vorstellung, der Herr (oder der Teufel) lasse Blut regnen, den Sündigen zur Mahnung. 5
Johann Heinrich Helmuth: Volksnaturlehre zur Dämpfung des Aberglaubens, Braunschweig 1803, S. 283.
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Die Erkenntnis, dass in der Natur höchst wunderbare und seltsame Erscheinungen wie die (statische) Elektrizität oder der Magnetismus vorkommen, die sich aber, wenn schon nicht wirklich verstehen, zumindest ganz gut beherrschen lassen, trug vielleicht mehr zur „Dämpfung des Aberglaubens“ bei, als die Schriften Helmuths und seiner Gesinnungsgenossen. Man fing nämlich an, allerlei Schabernack zu treiben. Mit Elektrisiermaschinen und Camerae obscurae erschreckte, mit chemischen und physikalischen Effekten verblüffte und täuschte man das Publikum. Zum Ende des 18. Jahrhunderts entstand das, was wir heute Zauberkunst nennen, nämlich die mehr oder weniger gekonnte Vorführung scheinbar „magischer“ Kräfte oder Vorgänge, etwa das „Zersägen einer Jungfrau“ oder der „Indische Seiltrick“. Im Unterschied zu Faust, der sich wahrhaft magischer Mittel bediente, kommt diese „Magie“ augenzwinkernd einher. Der „Magier“ und sein Publikum wissen beide, dass das sprichwörtliche Kaninchen nicht wirklich aus dem Hut gezaubert wird. Über diese Art von „natürlicher“ Magie und auch über den literarischen Ersatz „echter“ Dämonen durch menschgemachte („Frankenstein“) werden wir im nächsten Kapitel mehr erfahren.
VI.5 Freimaurer, Rosenkreuzer und Illuminaten. Die Geheimbünde der Aufklärungszeit. Die Aufklärung brachte neben einem philosophischen und einem naturkundlich-experimentellen auch ein gesellschaftspolitisches Programm hervor. Dies ist allgemein bekannt, soweit es die politischen Beziehungen des Einzelnen zum Staat regelt und die Rechte und Pflichten von Herrscher und Beherrschten betrifft. Auf die Rolle, die die Aufklärung für die Grundlegung demokratischer Gesellschaften und die Formulierung allgemeiner Menschenrechte gespielt hat, soll auch nicht näher eingegangen werden. Weniger bekannt und für unser Thema von Interesse ist die Beziehung zwischen der Aufklärung und dem utopischen Denken. Die Überzeugung des aufgeklärten Zeitgeistes, dass der Mensch selbst seines Glückes Schmied sei, bedeutet ja nicht nur, dass bestimmte religiöse Dogmen abgestreift wurden zugunsten einer freien Entfaltung des Individuums, sondern auch, dass an die Stelle eines göttlichen Erlösungsplanes das Konzept eines durch menschliche Vernunft, Einigkeit und Gleichheit erreichbaren Zustandes der Erlösung von Hunger, Krieg und Not treten musste. Nun kann man aber nicht einfach ein himmlisches Paradies ins Reich der Fabel verweisen, ohne irgendeinen Ersatz zu schaffen. Wenn die Welt die Geborgenheit der Gottesnähe verliert, muss dieser Verlust an transzendenter Sinnsetzung durch eine auf den Grundsätzen des aufgeklärten Denkens beruhende, erreichbar scheinende Utopie eines „irdischen Paradieses“ ersetzt werden. Die maßgeblichen Denker der Aufklärung waren keine modernen Atheisten und ein Leibniz gab sich, wie schon erzählt, die größte Mühe, diese Welt als die beste aller möglichen Welten zu stilisieren. Dennoch rückte Gott im Zeitalter der Aufklärung in den Hintergrund; er 312
wirkte nicht mehr permanent auf jeden Einzelnen ein, beschränkte sich vielmehr auf die Rolle des Schöpfers, der sich an seine eigenen Gesetze gebunden fühlt, es vielleicht sogar auch wirklich ist, oder auf die Rolle des Großen Uhrmachers, der die Weltmaschine schuf. Somit musste die Aufklärung auch ihre spezifischen Utopien hervorbringen. Schon Plato entwarf in seinen Werken vom „Staat“ und in den „Gesetzen“ eine ideale Gesellschaft, verstand darunter aber eher die moralische Begründung einer bestimmten Autoritätsstruktur. Einen idealen Staat beschrieb auch Thomas Morus (1478–1535) in seinem 1516 veröffentlichten Roman „Utopia“, der von solchem Einfluss war, dass sich der Titel als Begriff etablierte.
Abb. VI.8: Titelholzschnitt der Erstausgabe von Morus‘ „Utopi“ aus dem Jahr 1516. 313
Die Insel Utopia wurde von den Utopiern in demokratischer Gemeinschaft regiert, es herrschte Gemeineigentum und Arbeitspflicht (für 6 Stunden täglich außer Sonntags). Geld wurde nur für den Außenhandel benötigt, denn jeder Utopier erhielt alles was er brauchte umsonst (als Gegenleistung für die geleistete Arbeit). Morus’ „Utopia“ gehört chronologisch in die Zeit der Renaissance, nimmt aber schon gesellschaftliche Vorstellungen der Aufklärung vorweg. Der Prototyp der „aufgeklärten“ Utopie ist Francis Bacons „Nova Atlantis“ (geschrieben 1624, publiziert 1627). Auch Bacon beschreibt in seinem Neuen Atlantis (er bezieht sich auf das antike Atlantis Platos) einen Idealstaat.
Abb. VI.9: Titelblatt der Erstausgabe von Francis Bacons „Nova Atlantis“. 314
Der wesentlichste Unterschied zu älteren Utopien besteht dabei in der Art, wie das Ziel allgemeinen Glücks und Wohlergehens erreicht wird, nämlich mit Hilfe von Wissenschaft und Technik. Das „Haus Salomons“, zugleich Machtzentrum und Forschungsinstitut, entwickelt die Verfahren und Produkte zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse. Im Gegensatz zu Morus verlangt Bacon auch keine moralische Höherentwicklung des Menschen. Er geht im Gegenteil davon aus, dass jeder derartige Versuch lediglich Zeitverschwendung sei. Man müsse den Menschen nehmen wie er ist, könne ihn aber mit Hilfe von Wissenschaft und Technik glücklich machen. Diese Überzeugung Bacons prägt das Denken des modernen Menschen bis heute. Die moralische Höherentwicklung des Menschen wurde von den meisten Aufklärern allerdings nicht von vornherein geleugnet, eher dachte man an einen Prozess, der mit der Befreiung von Zwängen und Existenznöten quasi automatisch einhergehen werde. Die Ziele der atlantischen Wissenschaft und Forschung reichten über die Erlangung eines materiellen Glückszustandes indes weit hinaus. Bacon beschreibt sie so: „The End of our Foundation is the knowledge of Causes, and secret motions of things; and the enlarging of the bounds of Human Empire, to the effecting of all things possible.“ (Das Ziel unserer Stiftung ist die Kenntnis der Ursachen und der geheimen Bewegungen der Dinge; und die Ausdehnung der Grenzen des Reiches des Menschen bis hin zur Beherrschung all’ dessen was möglich ist.) Damit rückt der Mensch an die Stelle Gottes und der Wissenschaftler verwandelt sich in den Magier. Wie wir gesehen haben, ist auch die Magie von der Vorstellung beherrscht, durch die Kenntnis der „Ursachen und der geheimen Bewegungen der Dinge“ übernatürliche Macht zu erlangen. Die gemeinsame Utopie von Naturmagie und Aufklärung erwies sich als wichtiges Motiv bei der Gründung mehr oder minder geheimer Zirkel, die im 17. und 18. Jahrhundert kulturgeschichtliche Bedeutung erlangten.
Die hochlöbliche Bruderschaft des Christian Rosenkreutz, oder der Orden der nie existierte Um das Jahr 1610 verbreitete sich vornehmlich in Deutschland eine unerhörte Neuigkeit. Es gebe, so hieß es, eine geheime Bruderschaft weiser Männer, die im Besitz höchst machtvollen Wissens seien und die dieses zum Wohle der geplagten Christenheit einsetzen wollten. Nach ihrem Gründer Christian Rosenkreutz würden sie sich „Rosenkreuzer“ nennen. In der „Fama Fraternitatis dess Löblichen Ordens des Rosenkreutzes“, die zunächst als anonymes Manuskript kursierte und 1614 gedruckt erschien war von einem Unbekannten die Rede, der nur als „C.R.C.“ erschien, was man als „Christian Rosenkreutz“ aufschlüsselte.
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Abb. VI.10: Erste Seite der Originalausgabe der Fama Fraternitatis, 1614.
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Dieser sagenhafte Mann hatte angeblich die arabischen Länder bereist und dort die geheimen und magischen Künste und Wissenschaften studiert. Nach der Rückkehr habe Rosenkreutz die Bruderschaft des Rosenkreuzes gegründet, die sich der Heilung von Kranken widmete. Das erworbene Geheimwissen, das offenkundig auch die Kenntnis des Steins der Weisen einschloss, habe Rosenkreutz an einen kleinen Kreis ausgesuchter Personen weitergeben. Nach seinem Tod ging viel von seinem Wissen und auch die Kenntnis seiner Grabstelle verloren, aber, so die „Fama“, die jetzt lebenden Brüder hätten vor kurzem die Gruft gefunden und darin neben dem Leichnam eine Anzahl von Schriften und Gegenständen entdeckt. Diese Entdeckung bot den Anlass zur Publikation der „Fama“, da man nunmehr in Kürze den Anbruch eines neuen Zeitalters erwarte. Der Orden wurde weder personell noch räumlich lokalisiert, aber jeder, der dem Orden etwas mitteilen wolle, würde gehört werden. Wer stand hinter dieser Geschichte, die größtes Aufsehen erregte? Die Hauptrolle spielte wohl ein junger lutherischer Theologe namens Johann Valentin Andreae (1586–1654), der einem um 1610 in Tübingen gebildeten Kreis um den Paracelsisten Tobias Heß (1568–1614) angehörte.
Abb. VI.11: Johann Valentin Andreae in einem zeitgenössischen Kupferstich. 317
Die Geisteshaltung dieses Kreises war geprägt von Vorbehalten gegenüber der in Orthodoxie erstarrten lutherischen Amtskirche und einem teilweise schwärmerischen Verlangen nach einer durchgreifenden Reform der christlichen Gesellschaftsordnung. Man strebte nach einer Erneuerung des schulischen und universitären Bildungswesens unter Einbeziehung der neuen Naturwissenschaften. Ganz im Sinne der utopischen Literaturtradition fanden diese Überlegungen in einigen Schriften Andreaes ihren Niederschlag, zu denen neben der schon genannten „Fama“ noch zwei weitere Texte gehören, nämlich die „Chymische Hochzeit Christiani Rosenkreutz“ (entstanden um 1607–9, gedruckt 1616) sowie die „Confessio Fraternitatis Rosae Crucis“ (um 1612, gedr. 1615). In der „Confessio“ wird der Besitz geheimer Kenntnisse durch die Bruderschaft unterstrichen und der Anbruch eines Neuen Zeitalters wo „weise und verstendige Leute darin herrschen“ wird angekündigt. Durch die Bruderschaft sollte eine Gemeinschaft der Gelehrten auf der Basis einer in der Antike wurzelnden allumfassenden Wissenstradition errichtet werden. Der Tyrannei des Papstes würde ein Ende gemacht werden und ein Reich des Lichtes werde anbrechen. In der der Metaphorik der Aufklärung wird das Licht der Vernunft gegen das Dunkel des Aberglaubens gesetzt. Bei den Rosenkreuzerschriften wird das Licht als Erleuchtung verstanden und gegen die Verblendung (Blindheit) gesetzt. Die „Chymische Hochzeit“ stellt eine komplexe Allegorie des zentralen Mysteriums der Alchemie, der Vereinigung der Gegensätze, des Mysterium Coniunctionis, zur vollkommenen Materie dar. Das Bild der geschlechtlichen Verbindung von Mann und Frau ist ein dafür häufig genutzter Topos, den auch Andreae einsetzte. Veröffentlicht wurden die sogenannten „Rosenkreuzer-Manifeste“ wohl ohne dessen Zutun. Die namentlich in der „Fama“ enthaltene Aufforderung an die Gelehrten Europas, sich zu Gedanken und Zielen der vorgeblichen Rosenkreuzer-Bruderschaft zu äußern, zeitigte in den Jahren nach 1614 ein enormes literarisches Echo. Ausgelöst und getragen wurde es nicht zuletzt von dem Wunsch, an den alchemischen Kenntnissen zu partizipieren, deren Eröffnung die Bruderschaft in Aussicht gestellt hatte. Unter dem Druck der Amtskirchen, die Sympathisanten des Rosenkreuzes als religiöse Abweichler verketzerten und vielfach die weltliche Obrigkeit gegen sie mobilisierten sowie wegen des Ausbruchs des 30-jährigen Krieges, verstummte die öffentliche Debatte in Deutschland zu Beginn der 20er Jahre des 17. Jahrhunderts beinahe ebenso abrupt, wie sie aufgeflammt war, ging aber in England und Frankreich weiter. Auch ihr geistiger Urheber Andreae distanzierte sich, blieb allerdings dem Gedanken an die Gründung einer christlichen Bruderschaft ein Leben lang treu. Die Bewegung der Rosenkreuzer kann ohne Zweifel als frühaufklärerisch betrachtet werden. Man wollte weg vom Festhalten an unhinterfragten Dogmen, akzeptierte die Vernunft als (wenn auch nicht alleiniges) Kriterium der Wahrheitsfindung, dachte konfessionsübergreifend und entwarf das Konzept einer Art von Gelehrtenrepublik. Generell glaubte man an die Möglichkeit eines fruchtbaren Zusammenwirkens von Religion und Naturerforschung. Dem Rosenkreuzertum lag, wie gesagt, eine Utopie zugrunde, allerdings nicht so sehr im Sinne von Bacons New Atlantis, als vielmehr in dem von Thomas Morus oder im 1602 erschienenen „La città del Sole“ (1623 lat. als 318
„Civitas solis“) des Tommaso Campanella (1568–1639) vertretenen Ideal. Der Hinweis auf den bevorstehenden Anbruch eines neuen Zeitalters zur Begründung der Bekanntgabe der Existenz des Rosekreuzerordens zeigt eine bisher nicht erwähnte Seite utopischen Denkens, nämlich den „Chiliasmus“, d. h. die Erwartung eines Tausendjährigen himmlischen Reiches auf Erden, stets verknüpft mit einem Endzeitdenken. (Die Heilserwartung des Nationalsozialismus, der ebenfalls ein Tausendjähriges Reich heraufziehen sah, steht als schrecklichstes Beispiel für die mit dem Chiliasmus verbundenen Gefahren.) Der Chiliasmus ist nicht eigentlich utopisch, da das ideale Reich nicht vom Menschen geschaffen wird, sondern von Gott selbst kommt, dennoch drückt sich in beiden dieselbe Sehnsuchtshaltung aus. Andreae bezieht sich wahrscheinlich auf den Visionär (und Gründer des Ordens der Florenser) Joachim von Fiore (1130/35–1202), wonach die deterministisch gedachte Weltgeschichte sich in drei Zeitalter aufgliedert, nämlich das des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Man lebte im Zeitalter des Sohnes und erwartete das Zeitalter des Geistes, dessen Anbruch Joachim allerdings schon für das Jahr 1260 angekündigt hatte. Mochte sich auch das große Aufsehen in den Jahren nach 1620 wieder gelegt haben, die Vorstellung der Existenz einer geheimen Vereinigung mächtiger Männer faszinierte die Menschen und regte ihre Phantasie an. Obwohl die Bruderschaft des Rosenkreuzes niemals wirklich existiert hat, gewann sie auf diese Weise im kollektiven Bewusstsein einen festen Platz und wurde so – als self-fulfilling prophecy – zur realen Gegebenheit. Wie wir noch sehen werden, diente das vom Rosenkreuzerorden bzw. Andreae geschaffene Muster bei zahlreichen nachfolgenden Geheimbünden bis in das 20. Jahrhundert als Vorbild.
Freie Maurer, böse Maurer, böse Freimaurer? Man kann nicht über geheime Gesellschaften reden, ohne auf die Freimaurer einzugehen. Dabei haben sie genaugenommen mit unserem Thema gar nichts zu tun, denn weder verfolgen die Freimaurer utopische oder revolutionäre Ziele noch sind sie eine Geheimorganisation. Dass sie trotzdem immer wieder mit dunklen Machenschaften in Verbindung gebracht wurden und werden, ist allerdings ein klein wenig auch ihre eigene Schuld. Entstanden ist die Freimaurerei vermutlich aus den mittelalterlichen Dombauhütten, bei denen sich die Steinmetze (nicht die Maurer) zu Gilden zusammenschlossen, also einen Berufsverband bildeten. Der Begriff „Freemason“ erscheint erstmals im Jahr 1396 in Dokumenten die die Kathedrale von Exeter in England betreffen; 1537 nannte die Londoner Steinmetzgilde ihre Mitglieder Freemasons, was übersetzt eigentlich „Freimetze“ und nicht Freimaurer bedeutet. Im 16. und 17. Jahrhundert ging die Bautätigkeit im Bereich der Kathedralen und Dome zurück und bei den barocken Neubauten waren Steinmetze weniger gefragt als Stuckateure. Die alten Steinmetzgilden verloren an Bedeutung und um das Jahr 1600 wurden in England erstmals auch Mitglieder aufgenommen, die 319
keine gelernten Handwerker mehr waren, dafür aber über eine gewisse Bildung verfügten. Der Charakter der einzelnen Ortsgruppen, der „lodges“ (eigentlich „Hütten“, zu deutsch „Logen“), wandelte sich dadurch im Laufe der Zeit, jedoch wurden die überlieferten Symbole, Zeichen und Erkennungswörter weiter benutzt und dienten als Merkmale, die Freimaurer von anderen Menschen unterschieden. Die Logen waren, der Tradition der Gilden entsprechend, grundsätzlich egalitär und religiös tolerant. Adelige und bürgerliche Mitglieder hatten gleiche Rechte und Pflichten. Man hatte sich als Mitglied einem gewissen Wertekanon zu verpflichten, der im Wesentlichen humanistisch geprägt war. Es gab gewisse Stufen der Initiation, also eine Art gestaffelter Mitgliedschaft, die beim Lehrling begann, zum Gesellen führte und beim Meister endete. Am 24. Juni 1717 entstand aus dem Zusammenschluss von vier Logen in London die erste Großloge und mit ihr begann die Geschichte der modernen Freimaurerei. In Frankreich entstand um 1730 das stärker hierarchisch aufgebaute „Hochgradsystem“ bzw. die „ritterliche“ oder „schottische“ Freimaurerei. Hierbei spielte der schottische Emigrant Andrew Michael Ramsay (1686–1743) eine nicht unwichtige und langfristig unheilvolle Rolle. Ramsay, der enge Verbindungen zum englisch-schottischen Thronprätendenten Prince James Francis Edward Stuart (1688–1766) hatte und später als Erzieher am Hofe des Comte d’Evreux aus dem Hause LaTour d’Auvergne wirkte, entwickelte die Theorie, die Freimaurerei sei von den Rittern des Templerordens erfunden worden. Die Idee dazu kam ihm wohl, weil die Familie des Grafen d’Evreux mit dem Geschlecht des Gottfried von Bouillon, einstigen Königs von Jerusalem, verwandt war. Von dieser völlig absurden Idee waren nicht nur der Graf d’Evreux und die französischen Freimaurer angetan, sie legte den Grundstein zu der „theosophische Maurerei“, die im Gegensatz zur ursprünglichen Maurerei eng mit einem mystisch-geheimnisumwehten Christentum verbunden war. Somit konnte der Gedanke entstehen, die Freimaurer würden die Geheimnisse der untergegangenen Tempelritter bewahren, wüssten vielleicht sogar, wo deren sagenhafter Schatz versteckt war. In Frankreich bildeten sich verschiedene Gruppen dieser Orientierung die von den christlichen Mystikern Jakob Böhme (1575–1624), Emanuel Swedenborg (1688–1772) und dem ehemaligen Benediktinermönch Antoine Joseph Pernety (1716–96) beeinflusst waren. Letzterer gründete einen eigenen Orden, die „Illuminés d’Avignon“. Neben der eben beschriebenen Richtung gab es in der Freimaurerei natürlich noch die auf Gleichheit und religiöse Toleranz gegründete, eng mit der Aufklärung verbundene Strömung.
Der Aufrichtig Wiedergeborene Samuel Richter Es gab Menschen, die sich nach dem Verschwinden der Rosenkreuzer von der öffentlichen Bildfläche nicht damit abfinden wollten, dass ein solcher Orden entweder nie existiert habe oder wieder im Dunkel verschwunden sei. Einer dieser Menschen war ein gewisser Samuel Richter, der sich 320
auch mit dem Pseudonym Sincerus Renatus schmückte, was nichts anderes als „der Aufrichtig Wiedergeborene“ bedeutet. Zu Person Richters und seinem Leben ist kaum etwas bekannt; er kam gegen Ende des 17. Jahrhunderts zur Welt und starb irgendwann nach 1722. Richter orientierte sich stark an der „christlichen Hermetik“ Jakob Böhmes und strebte eine Verbindung von Theosophie, Mystik, Medizin und Alchemie an. 1710 veröffentlichte Richter seinen Traktat „Die wahrhaffte und vollkommene Bereitung des Philosophischen Steins“. Er sagt dazu im Vorwort, diese Schrift sei ihm von einem ungenannten „Professore der Kunst“ (d. h. einem Eingeweihten, einem Adepten) zur Abschrift überlassen worden. Damit setzt Richter eine Tradition fort, die vorgibt, altes und tiefes Wissen bekannt zu machen. Die Alchemie ist aus seiner Sicht eher eine Sache des Glaubens als der eigenen Einsicht, Erkenntnis eher eine Gnade, als das Resultat eigenen Nachdenkens und Experimentierens. In dieser Schrift erscheint zum ersten Mal der Name einer Bruderschaft des „Gölden- und Rosenkreuz“ sowie die Fortsetzung der geheimen Geschichte der Rosenkreuzer. Richter zufolge seien die letzten Mitglieder des alten Rosenkreuzes nach Indien abgesegelt, keiner sei in Europa verblieben und es habe nun an deren Stelle eine Neugründung gegeben, eben den Orden der Gold- und Rosenkreuzer. Dieser werde von einem „Imperator“ geführt und gliedere sich in zwei Zweige, das „Goldene Kreuz“ und das „Rosenkreuz“ mit jeweils 31 Mitgliedern, insgesamt also 63 Mitgliedern (incl. Imperator). Zugelassen sind ausdrücklich auch Katholiken, aber keine „Sekten“. Richter fühlte sich also wohl nicht, wie Andreae und Heß, als Vertreter einer reformorientierten Minderheit innerhalb des Protestantismus, sondern als Traditionswahrer. Es gibt keinen konkreten Hinweis darauf, daß sich irgendwo eine derart organisierte Gruppe gebildet hätte. Das heißt aber nicht, dass es keine Einzelpersonen und Gruppen gegeben hat, die sich selbst als Goldund Rosenkreuzer bezeichneten. Es bestand aber kein organisatorischer Überbau, der diese selbsternannten Gold- und Rosenkreuzer verbunden hätte. Seine unter dem Pseudonym „Sincerus Renatus“ verfasste „Theo-Philosophia Theoretica-Practica“ (1711) ist ebenfalls eine Mischung aus alchemischem und theosophischem Gedankengut. Ein entschiedener Gegner der Aufklärung, polemisiert Richter gegen die „natürliche Vernunft“, die nur die Oberfläche, nicht aber die Tiefe der Naturerkenntnis (die in diesem Sinne immer auch Gottes- und Selbsterkenntnis ist) erfassen kann. Diese Position schließt indes vernünftiges Denken und Folgern nicht aus. Richter lehnt z. B. in der „Theo-Philosophia“ die drei überkommenen „Prinzipien“ Sal, Sulphur und Mercurius ab und setzt an deren Stelle zwei andere: Licht und Feuer. Denn es „können solche 3 Principia schwer in der Chymischen Resolution gezeiget werden, sondern ist unmöglich in den Vegetabilibus; da hingegen unsere 2 Principia sich leicht finden in allen Cörpern, wenn sie resolvieren“. Damit wird nicht die Vernunft schlechthin verworfen, sondern deren Autonomie, d. h. das nicht an dogmatische Einschränkungen gebundene Denken der Aufklärung. Naturforschung und Christentum verbinden sich bei zur Physikotheologie: „Hierinnen tun die meisten unserer heutigen Christlichen Theologen und Philosophen übel, dass sie GOtt nicht durch die Natur, und die Erkänntniß der Natur durch GOtt suchen 321
wollen; selbst die Schrifft offenbahret uns ja den ewigen GOtt nicht anders als durch die Natur.“6 Richter bietet uns auch eine quasi alchemische Interpretation der Schöpfungsgeschichte. Zwar habe Adam beim Sündenfall „die Tinctur der Göttlichen Liebe“ eingebüßt, aber Gott habe in seiner Liebe „den geheiligten Namen JESUS in den Samen des Weibes“ gesprochen (die Schöpfung ist das Wort Gottes) und daher Jesus zum Wesensbestandteil des Menschen gemacht. Er ist „der rechte Lapis Philosophorum, so unsern innern Menschen tingiret“, d. h. zur Vollkommenheit emporhebt.7 Die Christus-Lapis Parallele wird von Richter auch ganz direkt formuliert, wenn er sagt: „Wir bekräftigen und bezeugen, daß GOtt auch der verderbten äussern Natur einen irdischen Heyland gegeben, eine Tinctur aus dem Blute der Natur […] Also hat sich GOtt wohl recht liebreich gegen uns erwiesen und uns nach unserm zweyfachen Verderben, dem innern seelischen und dem irdischen leiblichen, auch einen doppelten Heyland, eine zweyfache Tinctur, eine himmlische und irdische gegeben.“8 Die „verderbte Natur“ ist für Richter eine Folge des Sündenfalls, der nicht nur den Menschen, sondern – da der Mensch der Mikrokosmos im Makrokosmos ist – auch die übrige Natur aus dem Paradies fallen ließ.
Von der Legende zur Realität – das Gold- und Rosenkreuz entsteht Samuel Richter mag sich danach gesehnt haben, den erloschenen Rosenkreuzerorden wiederzubeleben, Erfolg hatte er nicht. Es mussten noch einige Jahrzehnte vergehen, ehe seine Hoffnungen sich erfüllten. Blicken wir zunächst nach Frankreich, wo 1762 eine Freimaurervereinigung, der „Conseil des Chevaliers d’Orient“, in Erscheinung trat, und einen Baron Theodore Henri de Tschoudy beauftragte, eine „Lehrakte“ für die in sieben Hochgrade eingeteilte Loge zu entwerfen. Dieser sog. adonhiramitische Ritus kannte als höchsten Grad den „Chevalier Rose-Croix“, den „Ritter vom Rosenkreuz“. Die besagte Lehrakte wurde 1765 fertiggestellt und 1766 publizierte Tschoudy ein Buch mit dem Titel „L’etoile flamboyante ou la société des Francs-Maçons“ (Der flammende Stern oder die Gesellschaft der französischen Freimaurer), worin u. a. die „Statuten und Verordnungen der cabbalistischen Gesellschaft der unbekannten Philosophen“ dargelegt waren. (Das Buch ist bis heute als Nachdruck im Internet erhältlich.) Daraus lässt sich ersehen, dass der neue Freimaurerzweig sich hermetisch-kabbalistisch orientierte. Bei der Gründung der deutschen Gold- und Rosenkreuzer verbanden sich dann die Vorstellungen Richters mit der französischen Schöpfung der „Chevalier Rose-Croix“, die wiederum von der Legende maßgeblich beeinflusst worden war,
6
7 8
Zitiert nach Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur Hermetischen Tradition des 18. Jahrhundert. München 1969, S. 107. Zimmermann, S. 113. Zimmermann, S. 113.
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die Andrew Michael Ramsay hinsichtlich der Verbindungen zwischen Freimaurern und Templern in die Welt gesetzt hatte. Wahrscheinlich formierte sich die erste Loge, oder der erste „Zirkel“ der (deutschen) Gold- und Rosenkreuzer um 1765. Einer der maßgeblichen Initiatoren der Gold- und Rosenkreuzer war Bernhard Joseph Schleiß von Löwenfeld (1731–1800), der als kurpfälzischer Hofrat in Mannheim tätig war. Tschoudy wiederum war im relativ nahe gelegenen Metz ansässig.
Macht, Geheimnis und Gehorsam – der Aufbau der Ordens der Gold- und Rosenkreuzer Schon bei der Entstehung des Hochgradsystems der Freimaurer war zusammen mit der Tempelritterlegende die Vorstellung von einem Schatz geheimen Wissens, gehütet von ebenso geheimen Oberen, in die Köpfe der einfachen Logenmitglieder eingepflanzt worden. Der nach dem gleichen hierarchischen System aufgebaute Orden der Gold- und Rosenkreuzer griff diese Konzeption auf, was umso einfacher war, als die älteren Rosenkreuzer ebenfalls im Besitz von „Arkanwissen“ gewesen sein sollten. Zusammen mit dem Hochgradsystem wurde auch die sogenannte „Strikte Observanz“, der unbedingte Gehorsam, von den Freimaurern übernommen. Jedes neu eintretende Mitglied wurde vereidigt und im Rahmen einer streng festgelegten Zeremonie in die unterste Stufe der Ordenshierarchie aufgenommen. Zunächst gab es sieben, später neun Stufen. Mit jeder Stufe waren bestimmte Initiationsrituale verbunden, insbesondere aber die Einweihung in immer tiefere Geheimnisse der Natur und Gottes. Dabei wurden weitreichende Versprechungen gemacht, die nicht „nur“ den Besitz des „Lapis philosophorum“ einschlossen, sondern in der höchsten Stufe eine Stellung übermenschlicher Allmacht verhießen. In einer 1790 in Leipzig veröffentlichten Schrift „Die wahrhaffte u. vollkommene Bereitung des Philosophischen Steins der Brüderschaft aus dem Orden des Gülden- und Rosen-Creutzes“ wird behauptet, jeder in den Orden neu aufgenommene Bruder sei nach Ablegung seines Eides „mit dem Lapide abgefertigt worden (dann man ihm allezeit so viel gibt, dass er 60 Jahr reichlich davon leben kann“.9 Der anonyme Autor dieses Pamphlets war entweder ein Lügner oder ein Dummkopf, denn 1790 existierte der Orden gar nicht mehr. Es handelt sich offenbar um reine Propaganda, die entweder zu Lebzeiten des Ordens ungedruckt kursierte oder um den verzweifelten Versuch, den Orden mit derartigen Verheißungen wieder zu beleben. Eine Quelle aus dem Jahr 1767 gibt dagegen eine wohl zutreffende Beschreibung der einzelnen Grade und der diesen zugeschriebenen Einweihungsstufen:10 9
10
Hermann Kopp: Die Alchemie in älterer und neuerer Zeit, Heidelberg 1886, Nachdruck Hildesheim 1971. Teil II, S. 33. Zitiert nach C.C.F.W. v. Nettelbladts „Geschichte freimaurerischer Systeme“ (Berlin 1879).
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Erster Grad
Junior:
nichts
Zweiter Grad
Theoreticus:
Theorie und Zeichen
Dritter Grad
Practicus:
Erste Praxis, Kennenlernen des „Chaos“
Vierter Grad
Philosophus:
Weiße Tinktur
Fünfter Grad
Minorus:
Kenntnis der „philosophischen Sonne“,
Sechster Grad
Majorus:
Rote Tinktur
Siebter Grad
Adeptus exemptus:
Kabbala, Magia naturalis
Achter Grad
Magister:
Beherrschung aller drei Hauptwissenschaften
Neunter Grad
Magus:
Meister über Alles, wie Moses oder Hermes
Man sieht, dass die mit den einzelnen Stufen verbundenen Eröffnungen recht vage und phantastisch klingen, mit Ausnahme der Grade vier und sechs, mit denen die Kenntnis der weißen und roten „Tinktur“, d. h. der Transmutation unedler Metalle in Silber bzw. Gold verknüpft wurde. Die Eidesformel umfasste sieben Punkte; neben der Verpflichtung zu einem moralisch einwandfreien, christlichen Leben wurde besonderer Wert auf die Verschwiegenheit der Mitglieder, ihre Treue und ihren absoluten Gehorsam gelegt. Überdies musste man schwören, den Ordensoberen das eigene Wissen rückhaltlos und vollständig zu offenbaren. In seiner Bewertung des Eides kommt der Kulturhistoriker Horst Möller zu dem Schluss, „dass der einzelne Ordensbruder in ein perfektes Herrschaftssystem eingebunden wurde. Die Spitze dieses Systems stellten die Oberen dar, die unbekannt und unfehlbar waren, denen absoluter Gehorsam entgegengebracht werden musste und deren Stellung nicht angezweifelt werden konnte noch durfte.“11 Die Basis der Organisation bildeten die maximal neun Mitglieder zählenden, von einem Direktor geleiteten Zirkel. Die Direktoren unterstanden einer Hauptdirektion, diese einer Oberdirektion und darüber standen die „Oberen“, auch als Generalat bezeichnet. Wer dieses Generalat bildete, war den übrigen Ordensangehörigen unbekannt – de facto war es fiktiv. Informationsfluss und Leitungssystem waren streng vertikal. Nicht nur durften die einzelnen Zirkel untereinander keinen Kontakt pflegen, sogar einzelne Gold- und Rosenkreuzer, die nicht demselben Zirkel angehörten, durften untereinander nicht über den Orden sprechen. Innerhalb des Zirkels galt dasselbe Prinzip, d. h. ein Mitglied durfte über seine eigenen Erkenntnisse oder praktischen Erfahrungen nur dem Zirkeldirektor Mitteilung machen. Sollte ein Mitglied bemerken, dass ein anderes Mitglied gegen diese Vorschriften verstieß, war es zur umgehenden Denunziation verpflichtet. Die „Oberen“ besaßen somit den kompletten Überblick, die Einzelmitglieder waren nahezu vollständig voneinander isoliert. Das Gold- und Rosenkreuz funktionierte – zumindest in der Theorie – wie ein totalitäres 11
Horst Möller: Die Gold- und Rosenkreuzer. Struktur, Zielsetzung und Wirkung einer anti-aufklärerischen Geheimgesellschaft, in: P. C. Ludz (Hg.): Geheime Gesellschaften. Heidelberg 1979, S. 153–202.
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System. In einem solchen Verein freiwillig Mitglied zu werden, erforderte ein enormes Maß an Selbstverleugnung, die man wohl nur aufbrachte, wenn man von der Möglichkeit überzeugt war, dadurch in den Besitz äußerst wertvoller Informationen zu gelangen. Eindeutig alchemisch geprägt waren die Reinigungsvorschriften für die Brüder, die nicht nur eine Form der Körperhygiene darstellten, sondern, im Sinne einer äußerlichen wie seelisch-geistigen Reinigung, den Ablauf des Opus Magnum, der Erzeugung des Steins der Weisen, wiederspiegelten. Der „Tod“ der Materie, ihre Rückführung in das Chaos der Materia prima und deren nachfolgende Neuformung zur Materia ultima des Lapis waren hier präsent: Gleichwie unser hohes Geheimnis, das Mond- und Sonnen-Geschöpf gereinigt wird, auch sterben, faulen, verwesen und wieder aufstehen muss und hernach mit dem kräftigen himmlischen Wasser, als dem Balsam des Lebens, begossen und dadurch zu einem herrlichen Mond- und Sonnen-Leib verklärt wird, ebenso [sollen die Brüder] sich täglich reinigen, auch täglich sterben, faulen, verwesen und im Licht und in einem neuen Leben auferstehen […].12
Der Urgrund dieser Vorstellungen eines Kreislaufs von Tod und Wiedergeburt, der für die Alchemie von fundamentaler Bedeutung ist, liegt im ägyptischen Isis-Osiris-Mythos. Es war sehr kostspielig, in den Orden aufgenommen zu werden und seine Mitglieder gehörten durchweg höheren sozialen Schichten an; sie waren Naturforscher, Ärzte, Offiziere und insbesondere Theologen. Zur komplexen Hierarchie des Gold- und Rosenkreuzes kam eine ebenso komplexe, für den Einzelnen kaum überschau- oder nachvollziehbare Lehre. Das pansophische Grundkonzept, wonach die Natur „ein Ausfluss der Schöpferkraft Gottes und somit selbst ein Stück Gottheit“13 ist und das schon bei Samuel Richter erscheint, wurde beibehalten. Die Fortschritte in den modernen Naturwissenschaften wurden als irrelevant angesehen bzw. als gefährlicher Irrweg betrachtet, der von der „eigentlichen“ Erkenntnis der Schöpfung wegführe. Stattdessen hielt man an der spiritualistischen Naturbetrachtung des 16. und 17. Jahrhunderts fest. Insgesamt zeigt sich das Gold- und Rosenkreuz sowohl strukturell, als auch intentional und methodisch als konservativ-fortschrittsfeindlich. Kritisches, selbständiges Denken war nicht erwünscht, stattdessen forderte man geistige Unterwerfung. Von einem Junior (1. Grad) erwartete man „nicht Zweifel und Raissonements (Argumente), sondern Verleugnung weltlicher Wissenschaften und Verehrung der Urteilsprüche der weisen Meister“.14 Der Orden verweigerte sich nicht nur der modernen Naturwissenschaft, er hatte auch keinerlei alchemische Kenntnisse, die über das hinausreichten, was
12 13 14
F. Runkel: Geschichte der Freimaurerei in Deutschland, Bd. II, Berlin 1932, S. 9. Möller, S. 167. Möller, S. 167, zitiert nach F. J. Schneider: Die Freimaurerei und ihr Einfluß auf die geistige Kultur in Deutschland am Ende des 18. Jahrhunderts., Prag 1909, S. 122.
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in wohlbekannten und im Druck erschienen Werken zu finden war. Bedingt durch die Struktur des Gold- und Rosenkreuzes dauerte es allerdings mehr oder minder lang, bis ein Mitglied dieses merken konnte, da man wenigstens bis zum vierten Grad aufgestiegen sein musste, um die Hohlheit der Versprechungen der Oberen auch konkret zu erfahren. Das nicht zuletzt durch die Gold- und Rosenkreuzerbewegung angefachte Interesse an der Alchemie führte im späten 18. Jahrhundert zu einem letzten Aufblühen der Königlichen Kunst und zu einer Vielzahl von alchemischen Büchern, die allerdings inhaltlich nichts Bemerkenswertes mehr bieten. Der Modetrend zur Alchemie rief auch Kritiker auf den Plan. Der Pseudonymus Wilhelm ab Indagine kommentierte dieses Phänomen mit den Worten: „Heut zu Tage schleicht die Pest [der Alchemie] im Finstern und wüthet vielleicht mehr als je: denn sie hat selbst das Mark der Völker, den Handwerker und Landmann, befallen.“15 Dieses Zitat ist zugleich ein Hinweis auf das Eindringen alchemischen Gedankenguts auch in untere soziale Schichten. Viele dieser späten Alchemica bezogen sich direkt oder indirekt auf die Freimaurerei bzw. die Goldund Rosenkreuzer. Der 1779 veröffentlichte „Compaß der Weisen“ erfreute sich bei den Goldund Rosenkreuzern ganz besonderer Wertschätzung, wohl auch deshalb, weil er eine fiktive Ordensgeschichte enthält, die den uralten Ursprung der Bruderschaft erneut zu belegen schien. Ferner wird darin bestritten, dass alle Gold- und Rosenkreuzer auch Adepten seien, wenngleich andererseits alle Adepten dem Gold- und Rosenkreuz angehören würden. Einem Gold- und Rosenkreuzer sei es „weit leichter, als einem, auch dem unvergleichlichsten profanen Gelehrten, durch Gottes Gnade und unsere brüderliche Belehrung, auch in der Verwandlungskunst der Metallen unterweilen die herrlichsten Wahrheiten zu entdecken; indessen werden diese Entdeckungen bey uns für nichts anderes als Nebensachen und unverdiente Gnadengeschenke […] angesehen.“16 Dieser Anspruch wurde bereits in der „Fama“ um 1610 erhoben, wo es heißt: Was sonderlich zu unserer Zeit das gottlose und verfluchte Goldmachen belangt […] so bezeugen wir hiermit öffentlich, dass […] es mit den wahren Philosophis also beschaffen, dass ihnen Gold zu machen ein Geringes und nur ein Parergon [eine Nebensächlichkeit] ist, derengleichen sie noch wohl andere etliche tausend bessere Stücklein haben.17
Das Opus Magnum wird hier also als etwas simpel-profanes hingestellt. Die abschätzige Bewertung scheint zwei Gründe zu haben: Einmal die tatsächlich gehegte Überzeugung, dass die Alchemie ein
15
16 17
W. ab Indagine: Neue Erläuterungen, die Gesch. d. Rosenkreuzer u. Goldmacher betreffend, Stuttgart 1783, S. 556, zitiert nach: J. Telle: Zum Opus mago-cabbalisticum et theosophicum von Georg v. Welling, in: Euphorion 77, 1983, S. 359–79, hier S. 359. Hermann Kopp: Die Alchemie in älterer und neuerer Zeit, Heidelberg 1886, Tl. II, S. 29. Ebd., S. 4.
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Schlüssel zu einer umfassenden und über die Metalltransmutation weit hinausreichenden Naturerkenntnis sei, zum andern aber auch die Reaktion auf die sich bereits andeutende Vertrauenskrise bezüglich der Realisierbarkeit des Steins der Weisen. Galt das Opus der mittelalterlichen Alchemie als Vollendung und Beweis der höchsten Erkenntnis, wird es von Paracelsus dem Zweck der Gewinnung heilkräftiger Arzneien untergeordnet bzw. selbst als Panacea gesehen. Mit den im ausgehenden 16. Jahrhundert wachsenden Zweifeln an der Möglichkeit der – theoretisch nach wie vor durchaus denkbaren – Metalltransmutation ging eine Abwertung derselben durch die Alchemisten einher. Dies ist jedoch keine Kritik an der Alchemie als philosophischer Erkenntnismethode, sondern eine Uminterpretation der Bedeutung des Lapis. Dieser steht hier für das Verständnis der materiellen Welt, das gegenüber dem Verständnis der spirituellen Welt minder wichtig erscheint. Bald nach seiner Gründung um 1765 blühte der Orden des Gold- und Rosenkreuzes auf und erlangte vor allem in Preußen auch politisch eine beträchtliche Machtposition, vor allem, nachdem sich 1781 der Kronprinz und spätere König Friedrich Wilhelm II. (1744–97, regierte seit 1786) als Mitglied aufnehmen ließ (sein Ordensname lautete „Ormesus“).
Abb. VI.12: Porträt (um 1765) des Kronprinzen Friedrich Wilhelm, dem späteren preussischen König Friedrich Wilhelm II. 327
Zwei führende Ordensbrüder spielten hierbei eine ebenso wichtige wie fragwürdige Rolle. Johann Rudolf von Bischoffwerder (1741–1803) stammte aus einer kursächsischen Offiziersfamilie, diente selbst während des Siebenjährigen Krieges in der preußischen Kavallerie, stand in sächsischen und danach erneut in preußischen Diensten und brachte es trotz eher geringer militärischer Fähigkeiten bis zum Rang eines Generalleutnants. 18Von eindrucksvoller Statur und formvollendetem Auftreten erwarb er sich nach und nach das Vertrauen des Kronprinzen Friedrich Wilhelm und verstand es, sich unentbehrlich zu machen. Der Prinz zeigte, anders als sein Onkel König Friedrich II., starkes Interesse an alchemischen und okkulten Ideen, was ganz dem Geschmack Bischoffswerders entsprach. Dieser war der eifrigste Schüler des Geisterbeschwörers Johann Georg Schrepfer (1730–74) aus Nürnberg, der 1768 in Leipzig ein Kaffeehaus eröffnete und sich als Gold- und Rosenkreuzer ausgab. Schrepfer führte Seancen durch, deren spektakulärste 1773 im Dresdener Schloss des Herzogs Carl von Kurland stattfand. Schrepfer sollte den Geist des verstorbenen Onkels des Schlossherrn herbeizitieren, dessen Schatz irgendwo im Palais versteckt sein soll. Nach Aussage von Zeugen gelang die Beschwörung und der alte Marschall Moritz von Sachsen erschien in einem Rauchvorhang. Des Betrugs überführt, beging Schrepfer 1774 Selbstmord und vermachte Bischoffswerder seine zum Zwecke der Geisterbeschwörung entwickelten Apparate, der die Seancen fortsetzte. An diesen war auch Friedrich Wilhelm beteiligt; u. a. ließ man im Charlottenburger Schloss den Geist des „Großen Kurfürsten“ Friedrich Wilhelm von Brandenburg (1620–1688) erscheinen und setzte diese Praxis auch noch fort, „nachdem [man] das Goldmachen längst als nutzlos aufgegeben“ hatte.19 Einen verwandten Geist fand Bischoffwerder in Johann Christoph Wöllner (1732–1800), einem Pastorensohn, der selbst auch Theologie studierte, eine Pastorenstelle in der Nähe Berlins übernahm und seit 1754 zusätzlich als Hauslehrer bei dem preußischen General Friedrich v. Itzenplitz (1693–1759) beschäftigt war. Nach dem Tod von Itzenplitz legte Wöllner seine kirchlichen Ämter nieder und pachtete dessen Landgut. Mit der 1768 erfolgten Heirat mit der Witwe des Generals sah Wöllner sich materieller Sorgen enthoben und glaubte auch, nunmehr zur Hofgesellschaft zu gehören. Dies erwies sich indes zunächst als Irrtum, da Friedrich II. den „hinterlistigen und intriganten Pfaffen“ partout nicht leiden konnte.20 Unmittelbar nach dem Tod des Alten Fritz am 17. August 1786 wurde Wöllner vom neuen König zum Geheimen Finanz- Kriegs- und Domänenrat sowie zum Oberhofbau-Intendanten ernannt und am 2. Okto18
19 20
Siehe Artikel „Bischoffwerder, Hans Rudolf von“ von Otto Graf zu Stolberg-Wernigerode, in: Neue Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 2, 1955, S. 266. Kopp: Alchemie, Teil II, S. 27, Fußnote. Siehe Artikel „Woellner, Johann Christof von“ von Paul Bailleu in: Allgemeine Deutsche Biographie, herausgegeben von der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 44, 1898, S. 148–158.
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ber desselben Jahres in den Adelsstand erhoben. Alle dies verdankte Wöllner der Tatsache, dass der neue König sein Ordensbruder im Berliner Zirkel der Gold- und Rosenkreuzer war. Wöllner und Bischoffswerder spielten auch in der Politik Friedrich Wilhelms eine nicht unwichtige Rolle, letzterer in diplomatischen Missionen bei der Annäherung Preußens an Österreich und ersterer bei dem nach ihm benannten Wöllnerschen Religionsedikt vom 9. Juli 1788, das darauf abzielte, die lutherische Landeskirche zu unterdrücken und den antiaufklärerischen Zielen der Goldund Rosenkreuzer Vorschub zu leisten. Nach dem Tod Friedrich Wilhelms verloren sowohl Bischoffswerder wie Wöllner innerhalb weniger Monate jeden Einfluss bei Hofe. Es wäre indes falsch, das Gold- und Rosenkreuz nur mit Geistersehern und -beschwörern, religiösen Fanatikern und Wirrköpfen zu identifizieren, denn der Bruderschaft gehörten auch geistig herausragende Persönlichkeiten an. Ein solches Mitglied des Berliner Zirkels war Martin Heinrich Klaproth (1743–1817), einer der hervorragendsten Chemiker seiner Zeit.
Abb. VI.13: Martin Heinrich Klaproth, Lithographie von J. Lanzedelli d. Ä. 329
Klaproth war Freimaurer und gehörte (wie übrigens auch König Friedrich II.) der Loge „Zu den drei Weltkugeln“ an, die sich „um die Mitte der 1780er Jahre den Rosenkreuzern völlig überliefert hatte“ und zu deren besonders eifrigen Brüdern „ein Klaproth“ gehörte.21 Er scheint eine recht hohe Position eingenommen zu haben, denn er war bei einem Experiment zugegen, das dem 9. Grad von den Oberen aufgegeben worden war. Der Versuch fand um 1787 statt und führte zur Einstellung weiterer Arbeiten. Das „Allgemeine Handbuch der Freimaurerei“ (3. Auflage, 1900) berichtet dazu: In Berlin erfolgte der Schluss der Arbeiten, als dem neunten Grade von den weisen Vätern ein chemischer Proceß vorgeschrieben war, und glücklicherweise der Chemiker Klaproth zugegen war, welcher bewies, daß das ganze Gebäude, in dem sich das Laboratorium befand, in die Luft gesprengt werden müsse, wenn man den Proceß unternähme. Prinz Friedrich von Braunschweig, in dessen Palaste das Laboratorium war, wurde nun überzeugt, daß er es mit Leuten zu tun habe, welche sich Kenntnisse auf Anderer Kosten und Gefahr verschaffen wollten; er ließ das Laboratorium niederreißen und der Zirkel wurde aufgelöst.22
Klaproth wurde später zu einem energischen Gegner der Gold- und Rosenkreuzer, die er mit dem Ziel bekämpfte, die von ihm geschätzte Freimaurerbewegung von dieser Geistesrichtung zu reinigen. Die Gold- und Rosenkreuzer florierten bis in die frühen 1780er Jahre. 1787 verkündeten die unbekannten Ordensoberen ein „Silanum“, womit die Bruderschaft bis auf weiteres ihre Tätigkeit einstellte, 1792 wurde durch einen neuen Erlass der Oberen der Orden offiziell aufgehoben.
Glaube, Hoffnung, Enttäuschung – vom Schicksal zweier Gold- und Rosenkreuzer Dem schon genannten Kasseler Zirkel der Gold- und Rosenkreuzer gehörten auch zwei anerkannte Wissenschaftler an, nämlich Georg Forster und Samuel Thomas Sömmering. Forster wurde 1754 als Sohn des Predigers Johann Reinhold Forster (1729–1798) in der Nähe von Danzig geboren.
21 22
Kopp: Alchemie, Teil II, S. 45. Ebd., S. 46.
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Abb. VI.14: Georg Forster, Gemälde von J. H. W. Tischbein. Sein Vater, „ein Mann von vielseitigem Wissen, reizbarem und störrigem Charakter“23 begab sich 1770 nach London, wo ihm eine Stelle bei der „East India Company“ in Aussicht gestellt worden war, die er indes nicht erhielt und von da an seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie mit schlecht bezahlten literarischen Arbeiten zu sichern versuchte. 1772–75 begleitete er James Cook (1728–1779) auf dessen zweiter Weltumsegelung, zu der er auch seinen Sohn Georg mitnahm. Schon 1765 hatte Georg den Vater auf einer Reise nach Südrußland begleitet. Nach der Rückkehr von der Weltumsegelung kam es zwischen dem älteren Forster und der Londoner Admiralität zu Differenzen wegen der Herausgabe des Reiseberichtes, die den Vater ins Schuldgefängnis brachten. Georg trat nun als Verfasser des seinem Vater untersagten Reiseberichtes auf, der 1777 in englischer, 1779 und 1780 in ergänzter deutscher Fassung erschien und ihm zu internationaler Anerkennung, ja Berühmtheit, verhalf.24 Um den Vater aus der Schuldhaft zu befreien und der Familie finanziell unter die Arme zu greifen, begab sich Georg 1778 nach Deutschland und erhielt im folgenden Jahr (mit 25 Jahren) eine Professur für Naturgeschichte am Collegium Carolinum in Kassel. 1784 übernahm er eine gleichlau23 24
Kopp, Teil II, S. 46 f. Georg Forster: A voyage round the world. London 1777; dt. 1778/80.
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tende Professur in Wilna, 1788 wurde er Oberbibliothekar an der Mainzer kurfürstlichen Bibliothek. Forster war weniger Naturwissenschaftler als vielmehr Literat. Das Buch, das ihn berühmt machte, enthält keine von ihm gefundenen Resultate, seine später gerühmten Werke befassen sich nicht mit Naturwissenschaften. Er lehnte den Absolutismus entschieden ab, trat begeistert für die Französische Revolution ein und strebte einen Anschluss der „Mainzischen Republik“ an Frankreich an. Seit 1793 war er „Agent du conseil exécutif “ in Paris, wo er 1794 starb. Seine radikale politische Haltung führte wohl u. a. zur Trennung von seiner Gattin Therese, die sich in die Schweiz begab und einen Freund der Familie, Ludwig Ferdinand Huber, ehelichte und zur Entfremdung von Sömmering.25 Samuel Thomas Sömmering (1755–1830) war Arzt und Anatom.
Abb. VI.15: Samuel Thomas von Sömmerring, Porträt von Carl Wilhelm Bender.
25
A. Dove: Allgem. Dt. Biographie, Bd. VII, Leipzig 1878, S. 172–81; Kopp (Anm. 6) Teil II, S. 46–48; G. Steiner: Neue Dt. Biographie Bd. V, Berlin 1961, S. 301 f.; M. E. Hoawe: Dictionary of Scientific Biography, Bd. V, New York 1972, S. 75 f.; zu Forsters Beziehungen zu den Gold- und Rosenkreuzern siehe: G. Steiner, Freimaurer u. Rosenkreuzer – Georg Forsters Weg durch die Geheimbünde, Berlin 1985.
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Wie Forster war auch er 1779–84 Professor am Kasseler Collegium Carolinum und dann an der Universität Mainz. 1792 reiste er nach Wien und kehrte nicht mehr in das von französischen Truppen bald besetzte Mainz zurück. Er ließ sich in Frankfurt als praktischer Arzt nieder, hielt aber bis 1797 in Mainz gelegentlich Vorlesungen. 1805 wurde er Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und siedelte nach München über, wo er bis 1820 blieb. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er wiederum in Frankfurt.26 Forster war 1778 in London zu den Freimaurern gestoßen. Sömmering hatte Forster schon in diesem Jahr in London besucht und war von ihm bei den Freimaurern eingeführt worden. Die Maurerlogen in Deutschland unternahmen unter Federführung des Herzogs Ferdinand von Braunschweig mehrfach Sammlungen zugunsten von Forsters Vater. In Kassel traten Forster und Sömmering der Loge „Zum gekrönten Löwen“ bei, die der strikten Observanz folgte. Die Loge befasste sich aber nicht mit Alchemie, die Gold- und Rosenkreuzer waren davon getrennt. Zu diesen scheinen Forster und Sömmering durch den späteren Direktor der Kasseler Loge, Wilhelm v. Canitz, gekommen zu sein und zwar vermutlich schon bald nach 1779. Der Landesfürst, Landgraf Friedrich II. (1720–85, reg. seit 1760) war den Geheimwissenschaften und der Alchemie keineswegs zugetan. Er sicherte seine Einnahmen durch eine staatliche Lotteriegesellschaft und den Verkauf seiner Untertanen an die Engländer im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Von einer Tätigkeit Forsters und Sömmerings im Gold- und Rosenkreuz war lange Zeit nichts bekannt. Erst Forsters Exgattin, Therese Huber, erwähnt diese Tatsache in dem von ihr 1829 veröffentlichten Briefwechsel Forsters, in dem sie auch biographische Nachrichten bringt. Huber erklärt das Interesse ihres Gatten an den Gold- und Rosenkreuzern mit seinem Bedürfnis, seine in England notleidende Familie finanziell unterstützen zu können.27 Karl Christoph Schmieder, der 1812 Direktor der Kasseler Bürgerschule und Schulinspektor geworden war, erwähnt in seiner „Geschichte der Alchemie“ (Kassel 1832) keinerlei Aktivitäten in Kassel. Der Kasseler Zirkel operierte also streng geheim, aber mit erheblichem Fanatismus, wie die von Hermann Kopp in seiner nach wie vor wichtigen Darstellung „Die Alchemie in älterer und neuerer Zeit“ (1886) zitierten Briefe Forsters an Sömmering belegen. Im Orden hatte Forster den Namen „Amadeus“. Das Ziel der Arbeiten war der Lapis, dessen Gewinnung man sich nur mittels göttlicher Gnade erhoffen durfte, weshalb intensive Gebetsübungen, die sich teilweise bis zur Verzückung steigerten, abgehalten wurden. Hier wird wieder die mystisch-pietistische Komponente der Gold- und Rosenkreuzer sehr deutlich. Die Mate26
27
Zur Biographie Sömmerings siehe W. Stricker: Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte, Bd. V, Berlin 1962, S. 329 f.; Kopp (Anm. 6) Teil II, S. 46; E. Hintzsche: Dictionary of Scientific Biography, Bd. XII, New York 1975, S. 509 f. Th. Huber (Hg.): J. G. Forsters Briefwechsel; nebst einigen Nachrichten von seinem Leben, Leipzig 1829.
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ria prima, den Rohstoff des Steins der Weisen, suchte man in einer Sternschnuppenmaterie, die Forster und seine Freunde in einem auf betauten Wiesen in feuchten Gründen vorhandenen Gallertstoff erblickten, bei dem es sich wohl um Krötenlaich handelte. Eine mit „A“ (für Amadeus) unterzeichnete Notiz Forsters an einen unbekannten Ordensbruder, das wohl vom Herbst 1780 stammt, schildert eine erfolglose Suchaktion nach dieser Materie.28 In einem Brief an Sömmering vom 14. Mai 1784 schrieb Forster über seine und Sömmerings Beweggründe, den Gold- und Rosenkreuzern beizutreten folgendes: Danke Dir herzlich für Deine trefflichen Bemerkungen über das Spüken, den Aberglauben und die Kunst zu täuschen. Ich glaube, bei uns conspirirte alles, uns hineinzuziehen, Mangel an Erfahrung, Geist der Wiß- und Neugierde, blindes Zutrauen zu gut und ehrlich scheinenden Characteren und Unbestimmtheit unserer eigenen Gedanken vom Wahrscheinlichen und Unwahrscheinlichen, vom Möglichen und Unmöglichen.29
Und am 5. Juni 1784 an denselben: Wahrheitsliebe, brennender Durst nach Gewissheit und Überzeugung von gewissen Wahrheiten, mit etwas schwärmerischem Hange, sie gern für möglich und wahr zu halten - das war’s ja einzig, was mich bewegen konnte, 4 Jahre lang in C. [Kassel] zu laboriren […] mich zu kasteien, allen unschuldigen Freuden des Lebens zu entsagen […] Geld und Ruhm in die Schanze zu schlagen, kurz alle Kräfte aufzubieten, um das Ziel zu erringen, welches man mir als erreichbar gezeigt hatte.30
Es unterliegt demnach keinem Zweifel, dass Forster und wohl auch Sömmering an die Metalltransmutation glauben wollten und für den pietistisch-theosophischen Rahmen, in dem sich die Alchemie der Gold- und Rosenkreuzer darbot, ebenfalls empfänglich waren. Leitend dabei war neben der Hoffnung, geheimes und tiefes Wissen über die Natur zu erlangen sicher auch eine idealistische Geisteshaltung, die sich aber nicht an den Idealen der Aufklärung orientierte, sondern an den Utopien der alten Rosenkreuzer. Die beträchtlichen Mittel, die die Arbeit im Gold- und Rosenkreuz verschlang bewirkten bei Forster nicht die Abkehr, sondern die tiefere Verstrickung – er wollte sich lange nicht eingestehen, dass er Geld für eine sinnlose Hoffnung ausgegeben hatte und warf daher dem schlechten Geld lange Zeit gutes hinterher. (1782 beispielsweise gab Forster für diverse Schmelzöfen und andere Laborgeräte die beträchtliche Sum28 29 30
Kopp, Teil II, S. 275. Alle Briefe zitiert nach Kopp: Alchemie, Teil 2, S. 86 ff. Ebd.
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me von 156 Talern aus.) Bei Forster lässt sich eine, auch für Mitglieder heutiger Sekten typische Beglückung erkennen, die auf der Überzeugung beruht, den trivialen Realismus und Skeptizismus der „Anderen“ durch eigene Einsichten längst überwunden und hinter sich gelassen zu haben. Forster spricht bezeichnend von den „Irrthümern, die den Sinnen und der Vernunft schmeicheln“ und meint damit die rationalen Argumente Außenstehender. Im Laufe des Jahres 1783 trat bei Forster dennoch eine gewisse Ernüchterung ein, er begann an den Gold- und Rosenkreuzern und an der Erreichbarkeit ihrer Ziele zu zweifeln. An einen nicht näher bekannten Johann v. Müller, vermutlich ein Ex-Mitglied des Kasseler Zirkels, schreibt Forster am 20. Dezember 1783: Ich lasse die Frage unentschieden, ob es wahre geheime Wissenschaften gebe oder nicht; aber das ist ausgemacht, dass das Meiste, was von dieser Art in der Welt herumgetragen wird, falsche Vorspiegelung, Lug und Trug, oder, wenn wir das Gelindeste glauben, fromme Selbstverblendung ist.31
Kurze Zeit später erfolgte die Trennung von den Gold- und Rosenkreuzern. Bei Forster und auch bei Sömmering trat mit der Abkehr von den Gold- und Rosenkreuzern auch eine Abkehr von der Religion ein. Forster wandelte sich hier radikaler als Sömmering, der am 21. März 1788 an Forster schrieb: Aber liebster Bruder, wie kömmt’s? Sonst [d. h. füher] waren Dir die Ungläubigen zuwider (wie hasstest Du Lichtenberg), jetzt die Gläubigen. Mir sind beide gleich recht, ich gönne jedem sein Vergnügen, weil die Ordnung der Natur es für Verschiedene verschieden bestimmte.32
Auch Forsters radikales Eintreten für die Französische Revolution belegt den fundamentalen Wandel seiner Überzeugungen und Wertmaßstäbe nach der Trennung von den Gold- und Rosenkreuzern. Nach ihrem Ausscheiden plagte Forster und Sömmering eine beträchtliche Angst vor den mächtigen, unbekannten Ordensoberen, die ihnen wohl gedroht hatten. (Forster an Sömmering am 14. Mai 1784: „Die unausbleiblichen Brandbriefe habe ich wohl vermuthet.“) Um die Mitte des Jahres 1784 erhielten beide ein „Exemptionspatent“, d. h. eine offizielle Entbindung von ihren Ordensgelübden.
31 32
Ebd. Ebd.
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Interessanterweise verlor Forster nach seiner Abwendung von den Gold- und Rosenkreuzern nicht den Glauben an die Metallumwandlung. Aus Wien berichtet er in einem Brief an Sömmering vom 14. August 1784 von einer Geschichte, die sich dort zugetragen haben sollte. Der oberste Bergrat Graf Stampfer („weder F. M. noch R. C.“ – weder Freimaurer noch Rosenkreuzer) habe einen namentlich nicht genannten Kopisten eingestellt. Als dieser bemerkte, dass sich Stampfer mit der Alchemie befasste, habe er ihm ein Fläschchen mit Tinktur gezeigt und mit ihm zusammen einen „großen Zayn [d. h. einen Metallbarren] ächtes Gold“ fabriziert. Dann habe der Mann sich mit unbekanntem Ziel entfernt, Stampfer aber etwas von seiner Tinktur überlassen, womit dieser einen weiteren Zayn transmutiert habe. Es wird nicht gesagt, was das Ausgangsmetall war. Der Mann sei einfach gekleidet und von bescheidenem Auftreten gewesen, habe aber über beträchtliche Geldmittel verfügt. Dies entspricht bis in die Einzelheiten dem Erscheinungsbild und der Verhaltensweise anderer vorgeblicher Adepten. Es ist erstaunlich, dass Forster diese Tatsache nicht aufgefallen ist. Nachdem der Kopist beim „Berwerkscollegium“ angestellt war, hätte sich zumindest sein echter oder angenommener Name ermitteln lassen müssen. Forster hielt am Glauben an die Machbarkeit des Steins der Weisen fest, versuchte aber nun, diese Haltung nicht mehr okkultistisch, sondern rationalistisch zu begründen: [Die] Möglichkeit der Projection [d. h. der Transmutation] kann ich nicht geradezu bezweifeln. Man verwandelt doch nicht sehr heterogene Körper in Gold, sondern Kupfer, Blei, Quecksilber, Silber u. dgl. Die Zunahme spezifischer Schwere kann ja vielleicht auf solche Art bewirkt werden, daß das sich verwandelnde Metall, sobald die Tinktur es im Feuer auflöst, eine erstaunliche Menge Theile aus der Luft und aus dem Feuer selbst, worin die Operation geschieht, anzieht und mit sich figirt [mit sich fest verbindet]. Wie die Natur Metalle hervorbringt, ist unbegreiflich. Aber gewiss [ist], dass, wo sich ein Gang mit Arsenik und einer mit Eisenerz kreuzen, da ist im Kreuz Silbererz, so ist’s ausgemacht in Ungarn.33
Wer an die Alchemie und den Stein der Weisen glauben wollte, fand immer einen Weg – daran hat sich bis heute nichts geändert.
33
Ebd.
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Adolph v. Knigge, die Illuminaten und die Weltverschwörung Anno 1776, drei Jahre nach der Auflösung des Jesuitenordens durch Papst Clemens XIV. (1705– 1774), bildete sich in Bayern (wie immer an der Spitze des Fortschritts) an der Universität Ingolstadt eine kleine Gruppe von Studenten um den Professor für Kirchenrecht Adam Weishaupt (1748–1830).
Abb. VI.16: Adam Weishaupt, undatierte Lithographie vin Christph Wilhelm Bock. Zunächst nannten sie sich die „Perfectibilisten“, änderten ihren Namen aber später in „Illuminaten“ (Erleuchtete). Die Gruppe war als freimaureruscher Geheimbund organisiert und verfolgte 337
das Ziel, Staat und Gesellschaft nach den Vorstellungen der Aufklärung umzugestalten. Allerdings mangelte es Weishaupt offenbar an Charisma und die Gruppe fand wenig Zulauf. Dies änderte sich, als im Jahr 1780 der Freiherr Adolph v. Knigge beitrat.
Abb. VI.17: Adolf Freiherr von Knigge, zeitgenössischer Kupferstich mit faksimilierter Unterschrift. 338
Heute ist Knigge nur noch vage als jemand bekannt, der ein Buch mit Benimmregeln verfasst haben soll. Sein 1788 erschienener Traktat „Über den Umgang mit Menschen“ ist aber weit mehr als eine Anleitung wie man sich kleiden oder den Fisch essen soll, und stellt in Wahrheit eine einsichtsvolle Studie über die Regeln des menschlichen und gesellschaftlichen Miteinanders dar. Knigge entstammte einer alten Adelsfamilie und kam 1752 in Bredenbeck bei Hannover zur Welt.34 Er verlor früh seine Eltern und erbte einen enormen Schuldenberg. Die Familiengüter wurden von den Gläubigern beschlagnahmt, ihm jedoch eine standesgemäße jährliche Rente von 500 Talern zugestanden. Knigge studierte Jura und trat 1772 am Kasseler Hof in die Dienste des Landgrafen Karl von Hessen-Kassel. Dort lernte er Friedrich Josef Wilhelm Schröder (1733– 78) kennen, der ihn tief beeindruckte. Zunächst Badearzt bei den Mineralquellen von Hofgeismar, wurde Schröder 1762 von der Universität London „in absentia“ zum Doktor der Medizin promoviert, 1764 übernahm er eine Professur für Medizin in Marburg. Er war ein eifriger Verfechter der Alchemie, die er vor ihren aufgeklärten Kritikern in Schutz zu nehmen trachtete. Seine „Neue Alchymistische Bibliothek für den Naturkundiger unsers Jahrhunderts ausgesucht.“ (5 Teile, 1771–74) bildet eines der letzten Sammelwerke alchemischer Literatur und steht in der Tradition des 17. Jahrhunderts. Zwischen 1766 und 1774 dürfte er für die Gold- und Rosenkreuzer als „Propagandist und Zirkeldirektor“ in Marburg gewirkt haben. Nach Knigges Worten war Schröder fähig, „auch den kältesten Mann für Theosophie, Magie und Alchemie in Bewegung zu setzen“35 und Knigge begann, sich mit Alchemie zu befassen. Ein Freund Knigges, der ansonsten wenig bekannte Arzt Johann Georg Wendelstadt, hatte sich bereits um die Mitgliedschaft bei den Gold- und Rosenkreuzern bemüht und Schröder hatte seinen Aufnahmeantrag unterstützt. Leider hatten die „Oberen“ befunden, dass Wendelstadt noch nicht reif für eine Aufnahme sei und weitere Studien empfohlen. Knigge hatte Schröder noch kurz vor dessen Tod am 27. Oktober 1778 in Marburg besucht und die Mitteilung von Wendelstadts Ablehnung erhalten. Er unterrichtete seinen Freund von der Entscheidung der Ordensleitung, fügte aber hinzu, dass Schröder „ihnen beiden“ helfen wolle und dass Schröder plane, Knigge Privatunterricht zu geben. Es kann demnach kein Zweifel daran bestehen, dass auch Knigge beabsichtigte, in den Orden aufgenommen zu werden. Nach außen lehnte Knigge die Beschäftigung mit der Alchemie ab, heimlich arbeitete er aber zusammen mit Wendelstadt recht intensiv und bemühte sich um die Beschaffung vielversprechender Vorschriften zur Bereitung des Lapis, beide mussten jedoch einsehen, dass sie ohne fachkundige Hilfe wohl nicht weiterkommen würden. Nach Schröders Tod bemühte sich Knigge zusammen mit dem Kasseler Freimaurer Wilhelm v. Canitz und mit Georg Forster um die Gründung einer neuen Freimaurerloge, die die Ideale der Freimaurerei in reinerer Form vertre34 35
Zur Biographie Knigges siehe: NDB XII, S. 184–86. Kopp, Teil II, S. 97.
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ten sollte. Der Plan scheiterte und Canitz, Forster und (etwas später) auch Sömmering wurden Gold- und Rosenkreuzer. Knigge und Wendelstadt wandten sich den Illuminaten zu. Wie es scheint, gab Knigge seine Pläne und Wünsche bezüglich der Alchemie auf, denn hätte er weiter daran geglaubt, dass die Gold- und Rosenkreuzer im Besitz des Lapis seien, hätte er sich wohl ebenfalls um eine Aufnahme bemüht. Knigge wurde im Januar 1780 Mitglied der Illuminaten und verfasste ein Jahr später eine Streitschrift „Über Jesuiten, Freymaurer und deutsche Rosenkreuzer“, in der er letztere überaus scharf angriff: Einige Betrüger behaupteten noch mit dieser noch immer existierenden verborgenen Gesellschaft [gemeint sind die älteren Rosenkreuzer] in Verbindung zu seyn, machten die Leute glauben, die Freymaurerey habe von Anfang an mit der Rosencreutzerey in Gemeinschaft gestanden, und zogen auf diese Art Leichtgläubige, Neugierige und Schwärmer auf ihre Seite. Doch riss dieser verderbliche Betrug nicht sobald allgemein ein, sondern fand nur wenig Anhänger, bis vor etwa fünfzehn Jahren, bey einer gewissen Revolution der Freymaurerey der redliche, aber betrogene und schwärmerische, verstorbene Professor Schröder in Marburg in Hessen auftrat, sich öffentlich für einen aufgenommenen ächten Rosencreutzer ausgab, andere Maurer aufnahm, aber endlich bekannte, er sey nicht mehr mit den Oberen in Verbindung. Bei dieser Gelegenheit wachte der Geschmack an einer solchen mystischen Gesellschaft aller Orten wieder auf. Endlich nützten vor wenig Jahren ein Paar Aventuriers [Abenteurer] diesen Wahn, traten in ein enges Bündnis zusammen, formierten eine neue Gesellschaft, gaben diese für die ächte Fortsetzung der alten Rosencreutzer aus, erweckten dadurch noch andere Rosencreutzereyen, deren es jetzt unzählige giebt, griffen aber selbst so geschwind um sich, dass es Zeit ist, redliche Leute für [vor] diesem Betrug zu warnen. […] Wenn nun die Neugier einen Mann [Frauen wurden nicht aufgenommen] in ihre Hände liefert, so halten sie [die unbekannten „Oberen“] denselben in einem solchen Gehorsam, reden aus einem so übermüthigen Tone mit demselben, dass er nicht einmal das Herz hat an ihrer Aechtheit, Rechtmäßigkeit und Weisheit zu zweifeln, und da sie mit großem Eifer werben, und nie jemand weiter kömmt, bis er neue Mitglieder […] verschafft hat; so würde durch sie bald die ganze Welt in die Gewalt von ein Paar Betrügern kommen. […] Wer ihnen im Weg ist und Aufklärung verbreiten will, der wird auf die schändlichste, rachgierigste Art verfolgt. Um die Leute beständig in der Abhängigkeit zu erhalten, verbrennen sie ihnen das Gehirn durch die lächerlichsten Schwärmereyen, verleiten sie zu religiösen Träumen und Fanatismus, zum Geistersehen […]. Auf diese Art nun bleiben die Leute beständig in ihrer Gewalt und hoffen immer auf Offenbahrung. Unterdessen geben sie ihnen allerley alchymistische Processe, welche sie auf eigene Kosten [nach]arbeiten, und über den Erfolg berichten müssen. Führen diese Processe zu irgend einer guten Entdeckung, so bereichert sich die Gesellschaft mit diesen Kenntnissen; gerat-
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hen sie nicht, so hat es am Mangel an Frömmigkeit und Gebet der Arbeitenden gelegen. Sodann theilen sie Artzneyen aus, und zwar oft die armseligsten, aus Ofen-Ruß, Urin oder dgl. gezogene Tropfen und Essenzen. Ihre Untergebenen müssen damit an Profanen den Versuch machen und über die Wirkung Nachricht geben. Crepirt ein solcher Profaner, ey nun! so ist wieder Mangel an Frömmigkeit die Ursache; geht es gut, so wird die Artzney mehreren mitgetheilt, um die Versuche zu vervielfältigen.36
Auch wenn man berücksichtigt, dass Knigge von den Gold- und Rosenkreuzern enttäuscht war, erscheint seine Behauptung, wonach der Orden Menschenversuche anordnen würde, nicht glaubwürdig. Die Struktur des Ordens, das Klima der Kontrolle und Abhängigkeit sowie dessen leere Versprechungen sind indes zutreffend geschildert. Woher Knigge sein intimes Wissen bezogen hat bleibt ungeklärt; Forster und Sömmering scheiden als Quelle aus, beide waren 1781 noch eifrige Ordensmitglieder. Knigge nennt keine Gewährsleute, was durchaus verständlich ist, denn jedes Ordensmitglied wäre nach solchen Eröffnungen in echter Gefahr gewesen, hätten die „Oberen“ seine Identität gekannt.37 Mit dem Eintritt Knigges nahmen die Illuminaten einen unerhörten Aufschwung. Er vergrößerte – nach eigenen Angaben – die Zahl der Mitglieder um mehr als 500. Weishaupt machte Knigge zu seinem Vertrauten und beauftragte ihn mit der Ausarbeitung einer formellen Ordensakte, in der sowohl die Prinzipien und Regeln der Bruderschaft wie auch ihre Struktur festgelegt werden sollten. Weishaupt wollte eine am Hochgradsystem der Freimaurer orientierte hierarchische Ordnung einführen. Knigge trug dies anfänglich mit, vermutlich weil das Konzept viele Mitglieder brachte. Auf der Freimaurerkonferenz von Wilhelmsbad anno 1782 war die Strikte Observanz mit dem Hochgradsystem beseitigt worden und viele Freimaurer, wandten sich, damit unzufrieden, den Illuminaten zu. Knigge nahm als Repräsentant der Illuminaten an dem Kongress teil und gewann zahlreiche hochgestellte Persönlichkeiten für den Illuminatenorden, darunter Herzog Ferdinand v. Braunschweig, Herzog Ernst II. v. Sachsen-Gotha-Altenburg und Landgraf Karl v. Hessen-Kassel. Auch Herzog Carl August von Sachsen-Weimar (1757–1828) und sein Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe traten dem Orden bei, allerdings eher mit dem Ziel, den Orden auszuforschen. Später nutzten Goethe und der Herzog ihre Mitgliedschaft zum Schaden des Ordens, indem sie verhinderten, dass Weishaupt auf eine Professur an der Universität Jena berufen wurde. Die Beziehung zwischen Weishaupt und Knigge wurde im Lauf der Zeit angespannter, da Weishaupt einen Orden wollte, der nach dem Muster der Gold- und Rosenkreuzer funktionier-
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Kopp, Teil II, S. 286 f. Kopp, Teil II, S. 286 f.
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te, mit unbekannten Oberen und einer strengen Hierarchie.38 Knigge gefiel dies zunehmend weniger und er schlug 1783 vor, ein allgemeines Treffen aller Illuminaten einzuberufen, auf der die künftige Organisationsform beschlossen und die Identität der Oberen, also von Weishaupt und Knigge, bekanntgegeben werden sollte. Weishaupt lehnte diesen Vorschlag strikt ab und es kam zum Bruch, worauf Knigge die Illuminaten verließ. Anscheinend war Weishaupt eher an persönlicher Macht interessiert, als an einem grundlegenden Wandel von Staat und GesellschaftGesellschaft. Die Illuminaten wurden durch Knigges Ausscheiden schon vor dem offiziellen Verbot durch Kurfürst Karl Theodor im Jahr 1785 deutlich geschwächt. Die Illuminaten hatten zwar zahlreiche prominente Mitglieder, der Geheimbund besaß aber niemals auch nur annähernd jenen Einfluss, den ihm Verschwörungstheoretiker bis heute zuschreiben.
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Siehe zu Knigge und den Illuminaten: Marian Füssel: Weishaupts Gespenster oder Illuminati.org revisited, Zur Geschichte, Struktur und Legende des Illuminatenordens, 2020. Siehe: https://epdf.pub/ weishaupts-gespenster-oder-illuminatiorg-revisited.html
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Abbildungsnachweise Abb. VI.1: wikimedia commons /Anonym – Camille Flammarion, L’Atmosphère: Météorologie Populaire (Paris 1888), S. 163 Abb. VI.2: wikimedia commons /Balthasar Moncornet – Österreichische Nationalbibliothek Abb. VI.3: wikimedia commons / Christoph Bernhard Francke – Herzog Anton Ulrich-Museum, online Abb. VI.4: wikimedia commons / Gottlieb Doebler – http://www.philosovieth.de/kant-bilder/ bilddaten.html Abb. VI.5: akg-images /Paul D Stewart /Science Photo Library Abb. VI.6: wikimedia commons /attributed to ‚English School‘ – Bonhams, Public Domain Abb. VI.7: wikimedia commons /Neptuul – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0 Abb. VI.8: akg-images Abb. VI.9: wikimedia commons /Francis Bacon Abb. VI.10: wikimedia commons /Johann Valentin Andreae – Norman MacKenzie, Secret Societies, London 1967 Abb. VI.11: Quagga Media UG /akg-images Abb. VI.12: wikimedia commons / Friedrich Reclam – Friederisiko. Friedrich der Große. Die Ausstellung, ed. Generaldirektion der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (Munich: Hirmer, 2012), S. 231 Uploader: James Steakley Abb. VI.13: wikimedia commons /Joseph Lanzedelly der Ältere – Foto einer Originallithographie der Albertina (Wien) 344
Abb. VI.14: wikimedia commons /Johann Heinrich Wilhelm Tischbein – http://www.payer.de/ religionskritik/forster0101.gif Abb. VI.15: wikimedia commons / Carl Wilhelm Bender [1] – http://www.sil.si.edu/digitalcollections/hst/scientific-identity/fullsize/SIL14-S005-06a.jpgfirst upload to de.wp as de:Bild:Samuel Thomas von Soemmering.jpg original Timestamp: 20:32, 13. Aug. 2004 Abb. VI.16: wikimedia commons /Adam Weishaupt.jpg Abb. VI.17: akg-images
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Teil VII Vampire, Geister, Spiritisten – Magisches Denken in der Moderne Mit der Aufklärung verschwand im 18. Jahrhundert das traditionelle magische Denken weitgehend aus dem Bewusstsein der Menschen. Zwar hielten sich viele volksmagische Gebräuche recht hartnäckig (teilweise bestehen sie bis heute), aber das Bürgertum orientierte sich an den Maximen der Rationalität. Dabei gab es aber ein Problem: Wenn der Mensch, was die Aufklärung mehr oder weniger schlüssig bewiesen hatte, kein „Mikrokosmos“, kein Abbild des „Makrokosmos“ mehr sein konnte und durfte, was war er dann? Ein von einem „göttlichen Funken“ belebter und angetriebener Apparat? Wozu lebte der Mensch als solcher und als Individuum in einer nicht von einem Heilsplan, sondern von den Gesetzen der Mechanik bestimmten Welt? Gab es keinen höheren Sinn seiner Existenz, sondern lediglich das Funktionieren eines biologischen Organismus und dessen inhärenten Trieb zur Fortpflanzung und Selbsterhaltung? Die erbitterte Ablehnung der Evolutionslehre Charles Darwins durch die meisten seiner Zeitgenossen und die noch heute bestehende Zurückweisung durch christliche Fundamentalisten vor allem in den USA zeigt beispielhaft, wie schwer es ist, sich mit einer rein physikalisch-biologistischen Weltsicht abzufinden. Demzufolge entwickelten sich gesellschaftliche und intellektuelle Strömungen, die den Grundsätzen der Aufklärung ablehnend gegenüberstanden. Im 18. Jahrhundert wurde ein im Kern schon sehr viel älterer Glaube wieder lebendig, nämlich die Vorstellung, dass ein gestorbener Mensch unter bestimmten Umständen nicht wirklich tot ist. Wenn es solche Untoten gab, stellte sich die Frage, wo sie sich aufhielten. Die Antwort lautete: In einem Zwischenreich zwischen Himmel und Hölle einerseits und der Welt der Lebenden anderseits. Dieses Zwischenreich – die „Anderswelt“ – war traditionell auch der Aufenthaltsort für Geister aller Art wie Zwerge, Elfen, Klopfgeister, Gespenster oder Dämonen. Ein ebenso prominenter wie furchteinflößender „Untoter“ war der Vampir. Im 18. und 19. Jahrhundert wurde dieser Vampirglaube nicht nur im Bereich volksmagischen Denkens und Handelns virulent, sondern spielte auch für die Literatur und – später – für den Film eine wichtige Rolle. Interessanterweise bewirkte der Glaube an die Existenz einer irgendwie gearteten Zwischenwelt um die Mitte des 19. Jahrhunderts auch eine seltsame Form von Naturforschung, die sich 346
zum Ziel setzte, mittels naturwissenschaftlicher Verfahren und Untersuchungen nicht nur Kontakt zu den Wesen und Kräften dieses „Nahen Jenseits“ aufzunehmen, sondern dessen Existenz auch wissenschaftlich zu beweisen.
VII.1 Die Wiederkehr der Toten. Vampirglauben im 18. und 19. Jahrhundert Traditionell bestand im Abendland zu den Toten ein ambivalentes Verhältnis. Einerseits liebte und betrauerte man sie, war vielleicht auch stolz auf sie, fühlte sich ihnen jedenfalls zugetan und eng verbunden. Andererseits fürchtete man fast nichts so sehr, wie ihre Wiederkehr. Die Zahl der Vorkehrungen, die man teilweise bis ins 20. Jahrhundert traf, um eine Rückkehr der Toten als Gespenst oder Wiedergänger zu verhindern, ist Legion. Mit der Aufklärung schwand zwar der Glaube an böse Dämonen, gute Feen und als ambivalent aufgefasste Naturgeister (Zwerge, Kobolde etc.), die mehr und mehr ins Reich der Märchen verwiesen wurden, aber die Furcht vor den Toten blieb lebendig. Eine besonders wirkmächtige Form des Glaubens an Totengeister ist die Vorstellung, Verstorbene könnten unter bestimmten Umständen als Vampire wiederkehren. Die Bezeichnung „Vampir“ erscheint in Deutschland erstmals 1732. Der Begriff scheint sich aus dem Polnischen herzuleiten. Der zu Beginn des 18. Jahrhunderts schreibende polnische Jesuit Gabriel Rzaczynski (1664–1737) schildert den in seiner Heimat verbreitenden Glauben an die Untoten wie folgt: „Ich habe oft von zuverlässigen Zeugen gehört, dass man Leichen gefunden hat, die nicht nur lange Zeit unversehrt, geschmeidig und rot (incorruptum, flexibile, rubicundum) geblieben sind, sondern die auch Mund, Zunge und Augen bewegten, die das Leichentuch verschlangen, in welchem sie beerdigt worden waren, und die selbst Teile ihres eigenen Körpers verzehrten. Unterdessen hat sich die Nachricht von einem solchen Leichnam verbreitet, der sein Grab verließ, an den Kreuzwegen und vor den Häusern umherschweifte, sich dem einen und dem anderen zeigte und nicht wenige angriff, um sie zu erwürgen. Handelt es sich um den Kadaver eines Mannes, heißen ihn die Leute Upier, ist es aber eine Frau, so nennt man sie Upierzyca, das heißt in etwa ‚gefiederter, leichter und flinker Körper‘.“1
1
Claude Lecouteux: Die Geschichte der Vampire. Metamorphose eines Mythos, 2001, S. 99.
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Antike Vorbilder des Vampirs Die Vorstellung vampirartiger Geschöpfe ist schon in der Antike belegt und zwar in Form von menschenfressenden Ungeheuern in Menschengestalt. Um das Jahr 217 unserer Zeitrechnung berichtet Flavius Philostratos in seiner Biographie des Apollonios von Tyana (ca. 40–120), dass der als Magier geltende Apollonios eine „Empuse“ erkannte, die sich als verführerische Frau zeigte und ihren Gatten Menippos beinahe gefressen hätte. „Ihr sollt wissen, dass diese schöne Gattin eine Empuse ist, eines dieser Wesen, das im Volk Lamien oder Gulen genannt wird. Sie sind liebesbereit und streben nach den Freuden der Liebe, besonders aber nach dem Fleisch der Menschen und verführen diejenigen, welche sie verzehren wollen, indem sie ihnen alle Wonnen der Liebe bieten.“2
Dies ist die Erläuterung des Apollonios. Hier tritt uns der Vampir in einer noch recht urtümlichen Variante gegenüber, als Menschenfresser(in) und auch nicht als Untoter, sondern als Dämon.
Abb. VII.1: Appolonius von Tyana, Kupferstich aus dem Jahr 1659 (British Library). 2
Philostratos: Leben des Apollonios von Tyana 4, 25; Vroni Mumprecht (Hrsg.): Philostratos: Das Leben des Apollonios von Tyana, Berlin 1983, 2014, griech. Text mit dt. Übersetzung.
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Untot oder scheintot? Wann ist ein Mensch wirklich tot? Diese Frage stellt sich nicht nur im Zusammenhang mit einer möglichen Wiederkehr als Vampir, sondern auch ganz praktisch: Niemand möchte gerne in einem Sarg aufwachen und feststellen, dass er irrtümlich für tot gehalten und beerdigt wurde. In seiner „Naturgeschichte“ (Buch VII, Kapitel 52) berichtet Plinius d. Ä. u. a. von einem Konsul namens Aviola, der als tot auf den Scheiterhaufen gelegt wurde um feuerbestattet zu werden. Als die Flammen bereits hochschlugen, kam der vermeintlich Tote wieder zu sich, man konnte jedoch das Feuer nicht mehr löschen und er verbrannte bei lebendigem Leib. Dies sei nicht der einzige derartige Fall, so Plinius, man habe von zahlreichen weiteren Vorfällen gehört. Von Marcus Terentius Varro (116–27 v. Chr.) stamme ein Bericht, wonach ein Mann in Capua, der zum Scheiterhaufen getragen wurde, rechtzeitig wieder erwacht und zu Fuß nach Hause zurück gegangen sei. So sei das Schicksal der Sterblichen, klagt Plinius, „wir wissen nichts sicher, nein, nicht einmal ob ein Mensch tot ist“. War ein Mensch scheintot, blieben Leib und Seele miteinander verbunden. Ein anderer Fall ist das temporäre Heraustreten der Seele aus dem Körper, wie wir es bereits bei den Schamanen kennengelernt haben und wie es – in modifizierter aber äußerlich gleicher Form – auch bei den Hexen nach Anwendung der Flugsalbe erscheint: Der Körper bleibt lebendig, aber regungslos und ohne Empfindung zurück, während die Seele ihre Geistreise antritt. Plinius schildert das traurige Schicksal eines gewissen Hermotinus von Clazomenae. Dieser habe oftmals seine Seele zu weit entfernten Orten gesandt, von wo sie mit Berichten zurückgekehrt sei, von denen man nur Kenntnis gehabt haben konnte, wenn man dort gewesen war. Während dieser „Seelenwanderungen“ sei der Körper offenkundig leblos zurückgeblieben. Schließlich hätten Feinde des Hermotinus dessen Leib während der Abwesenheit der Seele verbrannt, weshalb die Seele leiblos geworden sei und ins Reich der Toten einging. Die Furcht vor dem Lebendig-Begraben-Werden verursachte im 19. Jahrhundert zeitweise eine regelrechte Hysterie, die durch entsprechende Medienberichte genährt wurde und die zur Patentierung von Vorrichtungen führte, mit denen man sich zuverlässig bemerkbar machen können sollte, falls man eines Tages aufwachte und feststellte, dass man in einem Sarg lag.
Der Gute Tod In Zeiten starker religiöser Bindung hatten die Menschen des Abendlandes weniger Angst vor dem Tod als vor dem Sterben. Wollte man, nach einem zumindest einigermaßen christlichen Erdenleben, ohne allzu viele Hindernisse ins Jenseits gelangen, musste man einen sogenannten „guten Tod“ erleiden. Und das war gar nicht so einfach. Die Welt der Lebenden und der Toten 349
war nie wirklich eindeutig durch eine unüberwindliche Schranke getrennt, sondern im Glauben der meisten Menschen waren beide Welten ineinander verzahnt und die Trennlinie auf vielfältige Weise passierbar. Auch darin liegt ein wichtiger Zugang zum Gesamtkomplex des magischen Denkens. Der „gute Tod“ bedeutete nicht nur, dass der Verstorbene auf Zugang zu den himmlischen Gefilden hoffen durfte, sondern auch, dass keine Gefahr bestand, dass er wieder zurückkehren werde. Vor einer solchen Rückkehr fürchteten sich beide, der sich auf den Tod vorbereitende oder ihn erwartende und seine Verwandten, Freunde und Nachbarn. Im Falle eines „schlechten Todes“ war der Verstorbene nicht wirklich völlig tot, sondern verharrte in einem Schwebezustand, in einem schattenhaften Zwischenreich, das das tatsächlich Unerreichbare, also im christlichen Kontext Himmel und Hölle, von der Menschenwelt des Diesseits schied. Der Kulturhistoriker Claude Lecouteux beschreibt diesen Sachverhalt in seinem Buch „Die Geschichte der Vampire. Metamorphose eines Mythos“ (2001), auf das ich mich bezüglich meiner Darstellung des Vampirglaubens vielfach stütze, mit folgenden Worten: „Man muss also sein Leben zu Ende leben, sein Schicksal erfüllen, die von den Göttern gewährte Zeitspanne respektieren; geschieht dies nicht, so weist uns das Jenseits ab, und es findet kein „Hinscheiden“ im etymologischen Sinn des Wortes statt, das heißt, es gibt keinen „Übergang auf jene Seite, ins Jenseits“, auf die andere Seite einer unsichtbaren Grenzlinie, die eigentlich die Verstorbenen von den Lebenden trennt. […] [Diese Toten verharren] in einer Welt, die häufig der unseren gleicht, mit Wohnstätten und Ländern, eine Welt der Schatten, in Dämmerlicht getaucht, furchterregend, wesenlos oder glücklich, eine Welt unter einem Berg oder inmitten desselben, auf einer Insel jenseits des Ozeans, unter der Erde oder in einem unbestimmten Anderswo.“3
Das Problem des richtigen Todeszeitpunktes ist heikel, denn es offenbart einen inkonsistenten Schicksalsbegriff. Ist das Schicksal von Gott oder den Göttern vorherbestimmt, kann es an sich keinen falschen Zeitpunkt geben. Der Gläubige legte, gerade in Zeiten der Bedrängnis, sein Schicksal gerne „in Gottes Hand“. Wenn er dann aber an einer Krankheit wie Pest oder Cholera oder den Folgen eines Unfalls hinweggerafft wurde, sollte das eigentlich der Wille Gottes sein. Nach allgemeiner Ansicht war es dennoch ein „schlechter Tod“, auch wenn der Betroffene gar nichts dafür konnte – sein „ordnungsgemäßes“ Schicksal hatte sich nicht erfüllt, denn dieses sah keinen solchen Tod vor. Selbstverständlich starb auch der Selbstmörder einen schlechten Tod, denn er griff in das Schicksal unter unzulässiger Nutzung seines freien Willens ein. Dieser Vorstellung vom unzeitigen Tod liegt die Annahme eines erfüllten Lebens zugrunde, eines Lebens, in dem alle Stufen vom Kind bis zum Greis ordentlich durchlaufen werden und man 3
Ebd., S. 41.
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nach gebührender Vorbereitung den Tod durch Altersschwäche erleidet. Wem ein solches Leben nicht beschieden war, der konnte im Tod von dieser Welt nicht vollkommen scheiden, mit der ihn nach wie vor die Fäden eines nicht erfüllten Lebens verbanden. Dies machte solche Tote zu potentiellen Wiedergängern. Die Zahl derer, die einen schlechten Tod erlitten, ist erstaunlich hoch und dürfte die Zahl derjenigen, die eines guten Todes starben, deutlich übertreffen. Folgen wir der Zusammenstellung von Claude Lecouteux: „Es besteht also ein Grundprinzip, ein wirkliches Theorem: jeder, der nicht seine vorgeschriebene Zeit lebte, kann nicht ins Jenseits übergehen, er steckt fest zwischen dem Hier und dem Dort. Diese Konzeption bezieht sich mithin auf Selbstmörder, auf Menschen, denen das Leben durch das Eisen, den Strick, das Wasser, das Feuer abgeschnitten wurde, kurz, auf vor der Zeit Getötete. Aus ihnen rekrutiert sich die Hauptmasse der Geister und Wiedergänger. Hinzu kommen Personen, deren Leben die Gemeinschaft ängstigte, Leute also, die man „Hexen“ nennen könnte, Menschen üblen Charakters, mit einem besonderen körperlichen Merkmal, einem Geburtsfehler, solche, die zu bestimmten Daten auf die Welt kamen oder zu einer bestimmten Stunde, die mit Haaren bedeckt geboren wurden oder etwa mit einem doppelten Gebiss, schließlich Menschen, die ein besonderes Gewerbe ausübten, Schmiede und Holzfäller waren gefürchtet, Hirten wurden mit Misstrauen betrachtet, folglich alle, die sich nicht zwanglos in die Masse ihrer Mitmenschen einfügen ließen: Menschen am Rande der Gesellschaft, Frevler, missgünstige Leute, von ihrer Umgebung schlecht behandelte Leute, die deshalb zu Racheakten neigen konnten, Menschen, die eines ungewöhnlichen Todes starben oder deren Begräbnis nicht nach den üblichen Riten ablief; nicht beerdigte Tote, ohne Sakramente oder an einem unschicklichen Ort Bestattete, vielleicht neben einem verhassten Nachbarn; Verstorbene, deren Totenhemd oder Leichentuch ihrem Status nicht angemessen war. Der schlechte Tod betraf auch Menschen, die eine Aufgabe unvollendet gelassen hatten, kleine Kinder hinterließen, die starben, ohne ein gegebenes Versprechen oder ein Gelübde eingehalten zu haben, selbst solche, die man allzu sehr beweinte: unsere Tränen benetzen das Leichentuch des Verstorbenen und verhindern so, dass er in Frieden ruhen kann.“4
Dazu kamen noch alle jene, die eine nicht gebüßte Schuld mit in den Tod nahmen. Auch sie konnten wiederkehren und die Lebenden erschrecken und behelligen. Um einen „schlechten Tod“ möglichst zu vermeiden, konnte man sich auf das Sterben vorbereiten, wobei Sterbebücher gute Dienste leisteten. Vor dem Begräbnis mussten bestimmte Rituale beachtet werden, 4
Lecouteux, Vampire, S. 42
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die einerseits dazu dienten, den Verstorbenen zu ehren, aber nicht minder auch dazu, seine Rückkehr als Gespenst oder Vampir zu verhindern. Der Tote wurde gewaschen und so im tatsächlichen wie übertragenen Sinn von Unreinheit befreit, Nägel und Haare wurden geschnitten und er wurde frisch eingekleidet, entweder in ein Totenhemd oder ein Leichentuch. Allgemein verbreitet war der Glaube, dass die Seele des Toten sich noch einige Tage in der Nähe des Leichnams befinde. Daher stellte man Kerzen im Sterbezimmer auf, um der Seele zu leuchten, hielt eine Totenwache und verhielt sich pietätvoll in Rede und Tat. Ging es zum Begräbnis, wurde streng darauf geachtet, dem Toten den Rückweg zu versperren. Man trug ihn mit den Füßen voran aus dem Haus, schloss nach dem Sarg rasch die Türe, kehrte die Stube aus und warf Besen und Kehricht auf den Friedhof, streute Salz hinter der Leiche in die Stube und fegte es weg. Auch nahm man oft nicht den kürzesten oder üblichen Weg zum Friedhof, sondern wählt Umwege, um dem Toten die Orientierung zu erschweren. Der Glaube an die Wiederkehr der Toten bestand in Mitteleuropa nachweislich bis ins 20. Jahrhundert und besteht in Einzelfällen wohl immer noch.5 Der Theologe Albert Freybe stellte in seiner Abhandlung „Der deutsche Volksaberglaube in seinem Verhältnis zum Christentum und im Unterschiede von der Zauberei“ aus dem Jahr 1910 fest: „Vom Standpunkt der Offenbarung aus wird man die Realität dieser heillosen modernen Nekromantie und Magie – des Spiritismus – keinen Augenblick leugnen. […] [Wir wissen] dass die Seelen, welche Gott vergessen haben, oder gar bewusst Christum verwerfen, ihre Selbständigkeit einbüßen, also vom Teufel und seinen Werkzeugen, sei es diesseits oder jenseits des Grabes leicht in ihre Gewalt gebracht und auch zum Wiedererscheinen […] genötigt werden können. Dass die Toten wiederkommen können lehrt uns das Alte Testament ganz bestimmt.“6
In der von ihm herausgegebenen und neu bearbeiteten „Geschichte der Hexenprozesse“ von Wilhelm Gottlieb Soldan und Heinrich Heppe (erschienen 1843, 1879) aus dem Jahr 1911 nannte der Publizist Max Bauer (1861–1932) Freybe „einen der bedeutendsten jener modernen Theologen, nach denen der leibhaftige Gottseibeiuns noch lebt und wirkt wie in der finstersten Zeit der Hexenbrände“ und den „Geschichtsschreiber des Todes“. Auf den Spiritismus, den Freybe als „heillose moderne Nekromantie und Magie“ bezeichnete, werden wir noch näher zu sprechen kommen.
5
6
Bächtold-Stäubli, Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, 10 Bde., 1927–1942, Nachdruck 2000, Artikel „Nachzehrer“ in Bd. 6, Sp. 818 f. Hier werden diesbezügliche Gebräuche als gegenwärtig geschildert. Zitiert nach Soldan – Heppe, Hexenprozesse Bd. II, S. 336.
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Vampirmerkmale. Das Bild des Vampirs Nicht alle, die eines schlechten Todes gestorben waren, wurden zu Vampiren, aber der schlechte Tod war eine notwendige Bedingung. Hatte man den Verdacht, ein Toter könnte als Vampir wiederkehren, musste dessen Grab geöffnet werden. Dies war ein schwerwiegender Akt, denn die Störung der Totenruhe ist stark tabuisiert. War der Leichnam ein Vampir, war dies jedoch relativ leicht zu erkennen. Der Körper erschien intakt und nicht verwest, auch wenn der Tod schon länger zurücklag. Die Gesichtsfarbe war frisch, das Blut flüssig. Alles in Allem wirkte der Tote nicht wie ein Leichnam, sondern eher wie ein schlafender, wohlgenährter und gesunder Mensch. Tagsüber verblieb der Vampir in seinem Grab, nachts indes verließ er es und suchte die Lebenden heim, insbesondere seine Verwandten, und saugte ihnen das Blut aus, wobei er sie meist am Hals mit seinen vergrößerten und spitzen Eckzähnen – ein weiteres Vampirmerkmal – biss. Die Unverweslichkeit ist hier interessanterweise ein Merkmal des Unreinen. Auch manche Heilige zeigen diese Eigenschaft, bei ihnen wird sie allerdings positiv gedeutet. Beim Vampir ist dagegen die Einheit von Körper, Geist und Seele nicht ganz aufgehoben und die Leichname sind als Folge des „schlechten Todes“, noch mit der Diesseitswelt verbunden. Um den Vampir zu bekämpfen, muss man diese Verbindung beenden, ein schwieriges und gefährliches Unterfangen. Der dänische Geschichtsschreiber Saxo Grammaticus (* um 1140, † um 1220) schildert in seinen „Gesta Danorum“ sowie in der Saga vom einhändigen Egill und dem Berserkertöter Asmund den einen in jeder Hinsicht gespenstischen Fall. Asvit erliegt einer Krankheit und wird unter einem Grabhügel mit seinem Pferd, seinem Hund und mit Nahrungsmitteln bestattet; Asmund lässt sich mit ihm zusammen lebendig begraben, denn er hatte ihm Bruderschaft geschworen. Bald darauf wird Asmund von Grabräubern befreit: „Ich musste eine schlimme Prüfung erdulden, denn, wieder zum Leben erwacht, zerkratzt mich Asvit mit seinen Fingernägeln, kämpft mit all seiner Kraft und begeht, zurückgekehrt aus dem Reich der Toten, schreckliche Angriffe […]. Mit seinen grauenhaften Zähnen fraß er das Pferd, schlang – welche Abscheulichkeit – den Hund in seinen Schlund hinunter. Aber Roß und Hund genügten ihm nicht, und er wandte sich mit scharfen Nägeln gegen mich, öffnete damit meine Wangen, raubte mir mein Ohr […]. Aber dieses Grauen wurde bald bestraft: mit entschlossenem Schlag schlug ich ihm den Kopf ab und durchbohrte mit einem Pfahl seinen üblen Körper.“7
7
Lecouteux: Vampire, S. 85.
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Der neuzeitliche Vampir ist ein Untoter, der in der Zeit zwischen Sonnenuntergang und Morgengrauen zum Leben erwacht, seinen Sarg und sein Grab verlässt, in die Häuser der Menschen (vorwiegend seiner früheren Verwandten) eindringt und den Menschen im Schlaf durch einen Biss in den Hals mit seinen unnatürlich großen und spitzen Eckzähnen das Blut aussaugt. Die Betroffenen sterben daran nicht sofort, sondern werden nach und nach schwächer, bis sie durch Entkräftung ihr Leben aushauchen. Die so Getöteten werden dabei selbst zu Vampiren und tragen das Unheil weiter. Der Vampir kann durch das Blut der Lebenden seine Existenz im Zwischenreich fristen; er ist in gewisser Weise unsterblich. Das Blut steht hier als Metapher für die Lebenskraft, die lebende von toten Geschöpfen unterscheidet. Die Frage, wie der Vampir es schafft, aus seinem Sarg und dem Grab herauszukommen, ist nicht recht geklärt. In der Regel wird gesagt, er habe die Fähigkeit, seinen Leib auf magische Weise so schmal und klein zu machen, dass er durch irgendeine Ritze entkommenen kann. Dem Grab entstiegen, nimmt er seine Gestalt als lebender Mensch wieder an. Um einen Vampir sicher zu erkennen, muss man bei Tag sein Grab öffnen. Befindet sich darin anstelle einer mehr oder weniger stark verwesten Leiche ein scheinbar gesunder, kräftiger Mensch, der nur zu schlafen scheint, hat man es mit einem Vampir zu tun.
Die Tötung von Vampiren Hat man einen Vampir entdeckt, muss er unschädlich gemacht werden; er muss aus dem Zwischenreich der Anderswelt endgültig ins Jenseits befördert werden. Die hierfür bevorzugte Methode erscheint schon in der oben zitierten Saga von Asmund und Asvit, nämlich die „Hinrichtung“ des Toten durch einen Pfahl, der durch sein Herz getrieben wird. Erst damit, oder durch die Enthauptung des Leichnams oder dessen Verbrennung werden die Untoten endgültig ins Jenseits befördert. Die Enthauptung Toter wird von archäologischen Funden bestätigt, und die Pfählung zur Fixierung eines Toten im Grab wird von den altskandinavischen Gesetzen bezeugt, die hierfür den Ausdruck „bestatten unter dem Pfahl“ verwenden. Eine Passage aus der dem 14. bzw. 15. Jahrhundert zuzurechnenden Saga von Erik dem Roten (um 950–1003), dem die Besiedlung Grönlands durch die Wikinger zugeschrieben wird, schildert Begräbnisformen im zur Zeit der Niederschrift der Saga bereits mehr oder minder christianisierten Grönland, wo ein Verstorbener nicht jederzeit in geweihter Erde bestattet werden konnte. Man beerdigte die Toten abgelegener Höfe zunächst in ungeweihter Erde und durchbohrte die Brust der Leichname mit einem Holzpfahl. Damit sollte verhindert werden, dass der noch nicht ritualgerecht beerdigte Tote aufersteht und umgeht. Wenn dann der Priester kam, wurde das Grab wieder geöffnet, der Pfahl herausgezogen, die Leiche mit Weihwasser
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besprengt und eine Totenmesse gelesen. Dann war der Tote ins Jenseits eingegangen und stellte keine Gefahr mehr dar.8 Der früheste Bericht über die nachträgliche Exekution eines Vampirs, hier noch als „Blutsauger“ bezeichnet, findet sich bei William von Newbury (1136–1198). Der als Verursacher einer Seuche betrachtete Leichnam wurde exhumiert; der intakte, stark angeschwollene Körper enthielt Mengen von frischem Blut. Ehe man den Leichnam verbrannte, riss man dessen Herz heraus, zerhackte es und verbrannte es ebenfalls.9 Höchst bemerkenswert ist ein nahezu gleichlautender Bericht aus der Bukowina in Rumänien, der über Ereignisse in den Jahren 1919 oder 1920 (!) berichtet, also ca. 750 Jahre später: „In der Nähe von Cusmir ereigneten sich einige kurz aufeinander folgende Todesfälle in ein und derselben Familie. Der Verdacht richtete sich gegen einen bereits vor langer Zeit verstorbenen alten Mann. Als man ihn exhumierte, fand man ihn in hockender Stellung und ganz rot. Hatte er nicht schließlich seine ganze Familie verzehrt, junge, kräftige und gesunde Männer? Als man ihn aus seinem Grab holen wollte, leistete er Widerstand, das war furchtbar und schrecklich. Man versetzte ihm einen Axthieb und zog ihn aus der Grube, man konnte aber seinen Körper mit einem Messer nicht öffnen. Also nahm man eine Sichel und ein Holzfällerbeil, entfernte sein Herz und seine Leber, verbrannte beide und gab sie den Kranken zu trinken. Sie tranken davon und erholten sich. Der alte Mann wurde erneut begraben und niemand mehr kam zu Tode.“10
Die Methode, Tote in der Erde festzunageln, bestand auch in Mitteleuropa. Um 1007 verurteilte Bischof Burchard von Worms (um 965–1025) die Unsitte, dass Frauen beim Tod eines ungetauften Kindes dessen Leichnam mit einem Stab durchbohren. Es handelt sich dabei offensichtlich auch um uneheliche Kinder, denn die Frauen tragen die kleinen Leichen „an einen verborgenen Ort“. Hier könnte also auch Kindsmord hinzukommen, was aber wohl weniger gerügt wurde als die Durchbohrung. Die Frauen, so der Bischof, behaupteten, wenn sie dies nicht täten, würden die Kinder zurückkehren und Böses tun. Und ferner: „Wenn eine Frau ihr Kind nicht zur Welt bringt und in den Wehen stirbt, durchbohrt man die Frau und ihr Kleines, selbst noch im Grab, mit einem Stab und nagelt sie so an der Erde fest.“11
8 9 10 11
Lecouteux: Vampire S. 86 Ebd., S. 144 f. Ebd., S. 145. Ebd., S. 86.
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Über einige Fälle aus dem 20. Jahrhundert (!) berichtet Lecouteux: „In Lichtenau bei Jena entdeckt man 1901 den Leichnam eines Landstreichers und legt ihn ins Spritzenhaus der Feuerwehr; am folgenden Morgen findet man ihn gefesselt: die jungen Leute des Dorfes erklären, sie hätten ihn gebunden, um ihm die Lust am Herumstreichen zu nehmen. Im Jahre 1913 stirbt eine alte Frau im preußischen Regierungsbezirk Putzig. Sieben rasch hintereinander auftretende Todesfälle ereignen sich darauf in ihrer Familie; man erklärt, die Tote finde keine Ruhe und ziehe ihre Verwandtschaft mit ins Grab. Als sich ein Sohn der Verstorbenen unwohl fühlt, folgt er einem Ratschlag: Er gräbt den Leichnam aus, enthauptet ihn und legt den Kopf an den Füßen des Leichnams nieder – und, oh Wunder, bald darauf verkündet er, es gehe ihm schon viel besser!“12
Die mehrfach erläuterte Angst der Menschen vor der Rückkehr der Toten kontrastiert merkwürdig mit dem christlichen Heilsversprechen, das sich gerade durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten erfüllt. Zudem glauben die Christen an eine persönliche Auferstehung „im Fleische“ am Jüngsten Tag. Die Vorstellung einer Auferstehung und Himmelfahrt ist kein genuin christliches Motiv und schon in der vorchristlichen Antike (etwa im Zoroastrismus, aber auch im Judentum) bekannt. Ebenso ist die Angst vor den Toten sicherlich ebenfalls älter als christliche Auferstehungslehre. Die Auferstehung von den Toten bzw. deren Wiedererweckung ist also einerseits eine uraltes, schon aus vorchristlicher Zeit bekanntes kulturelles Stereotyp und zudem als zentrales Glaubensdogma des Christentums positiv konnotiert, andererseits aber mit archaischen Ängsten befrachtet. Dieser Widerspruch zeigt das Fortwirken archetypischer Denkfiguren in weiten Teilen der Bevölkerung auch lange nach der Übernahme des Christentums. Weder die christliche Heilsbotschaft noch die Aufklärung konnten diese Ängste beseitigen.
12
Lecouteux: Vampire, S. 51.
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Historische Vampirjagden und Vampirtötungen
Abb. VII.2:Der Nachtmahr, Gemälde von Johann Heinrich Füssli aus dem Jahr 1790. Der Vampir (er erscheint fast durchweg in männlicher Gestalt) nährt sich also von der Lebenskraft der Lebenden. Im folgenden Fall erscheint er aber nicht als Blutsauger, sondern als Würger, was in der Zeit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert nicht selten war: der Vampir wird zum Alp, zum „Aufhocker“, der sich auf eine schlafende Person setzt und ohne diese äußerlich zu verletzen deren Lebenskraft aufsaugt. Der anno 1700 in Güldengossa bei Leipzig geborene evangelische Geistliche und Vampirforscher Michael Ranft veröffentliche 1728 seine Abhandlung „De Masticatione mortuorum in tumulis (oder von dem Kauen und Schmatzen der Todten in Gräbern)“ in der u. a. ein Bericht des kaiserlichen Amtmanns des Distrikts Gradiska in Ungarn enthalten ist. Im Sommer 1725 starb in dem Dorf Kisilova ein gewisser Peter Plogojovitz und wurde wie üblich begraben. „Danach hat sich Folgendes zugetragen: neun Personen, alte wie junge, sind in einem Abstand von nur acht Tagen an einer sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden ausbreitenden Krankheit gestorben. Als sie noch lebend auf ihrem Totenbett lagen, haben sie angegeben, dass der oben genannte Plogojovitz (gestorben vor zehn Wochen) in ihrem Schlaf erschienen sei, habe sich auf sie gelegt und sie so stark am Hals gewürgt, dass sie jetzt ihre
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Seele aushauchen würden. Die zutiefst erschrockenen Dörfler wurden in ihrer Furcht noch bestärkt, als die Frau des Peter Plogojovitz, von ihnen befragt, gestand, dass ihr Ehemann gekommen sei und nach Schuhen verlangt habe, weil er Kisilova verlassen und sich in ein anderes Dorf begeben wolle. Bei solchen Personen, die man auch vampyri nennt, gibt es verschiedene Anzeichen für die Abwesenheit der körperlichen Verwesung […]. Auch die Bewohner des Dorfes waren sich einig, das Grab des Peter Plogojovitz zu öffnen, um feststellen zu können, ob die vorgenannten Zeichen existierten. Deshalb haben sie sich an mich gewandt, um mich davon in Kenntnis zu setzen und zu fragen, ob ich, gemeinsam mit dem Popen, bei der Visitation anwesend sein könnte. Ich antwortete ihnen, eine solche Visitation bedürfe der Genehmigung der Verwaltung, ich wolle aber der Bitte nachkommen; davon wollten sie jedoch nichts wissen. Sie gaben mir diese kategorische Antwort: ich solle tun, was mir beliebt, und wenn ich nicht wolle, dass eine solche Visitation ohne Genehmigung der Obrigkeit durchgeführt werde, sähen sie sich gezwungen, ihre Häuser zu verlassen, denn in der Zeit bis zum Bescheid aus Belgrad liefe das ganze Dorf Gefahr, von dem bösen Geist ausgerottet zu werden.“13
Der Amtmann führte daraufhin die Visitation ohne Erlaubnis seiner Vorgesetzten auf eigene Verantwortung durch. Im Mund des Leichnams fand sich zum Erstaunen des Amtmanns frisches Blut, das, so sagten die Dorfbewohner, von denen stamme, die Peter Plogojovitz getötet und ausgesaugt hatte. Die Dorfbewohner spitzten einen Pfahl an und durchbohrten damit das Herz des Leichnams, der „nach herrschendem Brauch“ anschließend verbrannt wurde. Das von Ranft im Titel seiner Abhandlung erwähnte „Kauen und Schmatzen“ der Toten gab auch Anlass, sie als Nachzehrer zu bezeichnen. Man glaubte, gelegentlich aus manchen Gräbern Kau- und Schmatzgeräusche zu vernehmen; diese Geräusche sollten ebenfalls von Vampiren verursacht werden, die im Grabe liegend an ihrem Leichentuch oder ihren eigenen Gliedmaßen saugen und diese scheinbar verzehren. Die Nachzehrer sind also Vampire, die sich nicht aus dem Grab erheben, ansonsten aber die typischen körperlichen Merkmale von Vampiren (frisches Aussehen, sehr blutvoll) aufweisen. Ein solcher Vampir zieht auf geheimnisvolle Weise seine noch lebenden Verwandten zu sich ins Grab, indem er ihnen ohne sie nachts daheim aufzusuchen die Lebensenergie raubt. Dabei wird eine zwischen dem Nachzehrer und seinem Opfer bestehende sympathiemagische Beziehung hergestellt bzw. wirksam. Dies wird auch dadurch belegt, dass jene Lebenden besonders bedroht sind, die sich etwas vom Eigentum des Toten verschafft haben oder die dem Toten etwas von sich mit ins Grab gegeben haben.
13
Lecouteux: Vampire, S. 88 f., zitiert nach Ranft: Diese Geschichte auch in Horst, Zauberbibliothek, Bd. I, S. 251–61.
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Besonders unheimlich mutet eine Schilderung an, die erstmals 1737 erschien und die Johann Georg Theodor Grässe (1814–1885) in sein „Sagenbuch des Preußischen Staats“ (1871) übernahm: „Der Bürger Johannes Cuntze aus Bennisch bei Jägerndorf, ein allseits geachteter Mann, wurde von einem Pferd getreten und sah seine letzte Stunde gekommen. Weil er Verfehlungen nicht gebeichtet hatte, gab er die Hoffnung auf die göttliche Gnade auf. Sein Sohn, der in der Nacht bei ihm wachte, bemerkte um die dritte Stunde eine Katze, die das Fenster aufstieß und auf das Gesicht des Sterbenden sprang, als wollte sie ihn mitnehmen, dann machte sie sich wieder davon. In diesem Augenblick kam der Tod über ihn. Man verschwieg Cuntzes schreckliches Ende und bestattete ihn in der Kirche in der Nähe des Altars. In der Stunde seines Todes und während der Beerdigung gingen starke Regenschauer nieder. Drei Tage später zeigte sich ein Gespenst, das wie der Tote aussah; es quälte die Schlafenden in ihren Betten und das Vieh in den Ställen. Dies wiederholte sich mehrmals: das Gespenst sprang auf die Leute und würgte sie dermaßen, dass die Würgemale noch lange sichtbar blieben; es zerquetschte die Frauen im Wochenbett und raubte ihre Kinder aus den Wiegen. Weil die einfachen Leute glaubten, in Gräbern von Zauberern und Hexenmeistern seien Mauselöcher zu finden, untersuchten sie Cuntzes Grab und entdeckten dort welche, aber sooft man sie auch verstopfte, am nächsten Morgen standen sie wieder offen. Sogar an der Altardecke erschienen Blutflecken. Das Gespenst saugte den Kühen die Milch aus den Eutern. Schließlich grub man ihn wieder aus: der Leichnam war unversehrt und hatte eine neue, frisch gewachsene Haut; die Augen waren einmal geschlossen, einmal offen; der Kopf war am ersten Tag nach Norden gewendet, am zweiten Tag nach Süden. Als man eine Wunde in den Leichnam schlug, quoll frisches Blut heraus, obwohl der Tote vom 8. Februar bis zum 20. August in der Erde geruht hatte. Man legte den Leichnam auf einen Scheiterhaufen, aber der Henker mußte ihn den ganzen Tag brennen lassen, bis der Leichnam endlich vollständig zu Asche verfallen war, und die Asche streute man in den Fluss.“14
Hier spielen zwei Faktoren zusammen, nämlich der sündige Zustand zum Zeitpunkt des Todes und das Erscheinen eines Zaubertieres. Die Katze wird oft mit Hexen assoziiert, hier bewirkt sie die Verwandlung des Sterbenden in einen Vampir. Der Vampir hat in diesem Beispiel Eigenschaften, die nicht mit der heute gängigen Vorstellung übereinstimmen, denn er saugt den Lebenden nicht das Blut aus, sondern er entspricht mehr der Figur des Würgers oder des Aufhockers, ähnlich dem Vampir Peter Plogojovitz, von dem Ranft berichtete. Das Motiv des Aussaugens der Kuheuter passt eher zur Hexe als zum Vampir. 14
Zitiert nach Lecouteux: Vampire, S. 68 f.
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Die Vampire von Medvegia Geographisch wurden die Vampire meist auf dem Balkan, in Ungarn, Bulgarien und Rumänien verortet. Geradezu stilbildend wirkte die Geschichte von den Vampiren in Medvegia, einem Ort an der serbisch-türkischen Grenze, aus dem Jahr 1732. Der Grund dafür mag nicht zuletzt darin zu finden sein, dass es sich hierbei um eine offizielle Untersuchungskommission der kaiserlichen Regierung in Wien handelte, die Serbien als Protektorat verwaltete. In dem Ort war es zu einer Reihe verdächtiger Todesfälle gekommen und die Dorfbewohner vermuteten dahinter einen oder mehrere Vampire. Daher wurde eine Untersuchungskommission eingesetzt, die von „Premierleutnant“ Büttner (kein Vorname bekannt) geleitet wurde. Die weiteren Mitglieder waren der „Kornett“ (Regimentstrompeter) J. H. v. Lindenfels und die drei Regimentschirurgen Johannes Fluchinger, J. H. Sigl und Johann Friedrich Baumgarten. Es handelte sich also um eine zumindest dem äußeren Anschein nach höchst seriöse Gutachtergruppe. Betrachten wir nun deren Bericht: „Nachdem gemeldet worden war, dass in Medvegia solche, die man Vampire nennt, einige Personen durch Aussaugen ihres Blutes getötet hätten, hat mich der sehr ehrenwerte Oberkommandierende beauftragt, die Sache gründlich zu untersuchen. Ich […] habe diese Untersuchung im Beisein des Hauptmanns Gorschitz von der Heiduckenkompanie Stallhaltar, des Hadnagi Bariactar [wohl eines örtlichen Würdenträgers], sowie der Dorfältesten durchgeführt. Ich habe sie als Zeugen gehört. Nach ihren einmütigen Erklärungen hat es sich zugetragen, dass sich vor etwa fünf Jahren ein Heiduck des Ortes namens Arnold Paole bei einem Sturz von einem Heuwagen das Genick gebrochen hat. Als er noch lebte, hatte er häufig vernehmen lassen, dass ihn in der Gegend von Gossowa im türkischen Serbien ein Vampir verfolgt habe, weil er Erde vom Grab des besagten Vampirs heruntergeschluckt hatte, von dessen Blut befleckt worden sei und dieser Geißel ausgeliefert wäre. Am zwanzigsten oder dreißigsten Tag nach seinem Hinscheiden klagten mehrere Personen, sie seien von Arnold Paole heimgesucht worden. Wie dem auch immer sei, vier Untertanen sind durch seine Taten zu Tode gekommen. Um dieser Plage ein Ende zu setzen, haben sie, auf Ratschlag ihres Hadnagi, der schon bei ähnlichen Vorfällen dabei war, Arnold Paole vierzig Tage nach seinem Tod exhumiert; sie stellten fest, dass er sich in perfektem Zustand befand und nicht verwest war. Frisches Blut floß aus seinen Augen, seiner Nase, aus Mund und Ohren; sein Hemd, sein Leichentuch und sein Sarg waren in Blut getränkt. Seine Hand und Fußnägel waren mit der Haut abgefallen, andere waren nachgewachsen, woraus man schloß, er müsse ein echter Vampir sein. Gemäß ihres Brauchs haben sie sein Herz mit einem Pfahl durchbohrt; darauf seufzte
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er gut hörbar und blutete. Sodann haben sie seinen Leichnam noch am selben Tag eingeäschert und seine Asche ins Grab gestreut. Die vorgenannten Leute betonen auch, dass jeder, der von einem Vampir bedrängt oder getötet wurde, selbst wiederum zu einem Vampir werden müsse. Folglich haben sie die vier besagten Personen ausgegraben und sie in der nämlichen Weise behandelt. Sie bekräftigen zudem, Arnold Paole habe nicht nur Menschen angegriffen, sondern auch Vieh und habe auch deren Blut gesaugt. Da die Leute von dem Fleisch dieser Tiere gegessen haben, scheint es, dass sich wiederum einige Vampire in dieser Gegend aufhalten, weshalb siebzehn Junge und Alte im Verlauf von drei Monaten zu Tode gekommen sind, von denen einige in zwei oder drei Tagen starben, ohne krank gewesen zu sein.“15
Der Vampirismus verbreitete sich also wie eine Seuche, indem jedes Vampiropfer selbst zum Vampir wurde. Bei einer Inspektion zahlreicher Leichen auf dem Friedhof von Medvegia wurde erwartungsgemäß eine ganze Reihe von Toten mit vampirtypischen Merkmalen entdeckt, während unverdächtig Gestorbene normal verwest vorgefunden wurden. „Nach abgeschlossener Untersuchung haben die am Platze anwesenden Zigeuner die Köpfe der Vampire vom Rumpf getrennt und sie, wie auch die Körper, verbrannt und die Asche in den Fluß Morava geworfen; sie haben die verwesten Leichen in ihre Gräber zurückgelegt.“16
Offizielle Berichte wie dieser gaben der Annahme, es könne tatsächlich Vampire geben, natürlich beträchtlichen Auftrieb. Was Büttner und seine Kommission bei jenen Graböffnungen wirklich gesehen haben, und wie sie zu derartigen Aussagen gelangten, bleibt rätselhaft; offenbar war auch die Kommission der Meinung, Vampire existieren und wurde ebenso ein Opfer ihrer vorgefassten Meinung, wie die Dörfler, deren Überzeugung ohnehin eindeutig war. Die Vorgänge in Medvegia erregten beträchtliches öffentliches Aufsehen und veranlassten eine Menge mehr oder minder gelehrter Kommentare. Die preußische Akademie der Wissenschaften veröffentlichte noch im Jahr 1732 eine recht kritische Stellungnahme. Die Gutachter erklärten die von der Kommission nur dem Hörensagen nach mitgeteilten Angaben für generell nicht brauchbar und versuchten, die bei den Graböffnungen gemachten Beobachtungen auf
15 16
Lecouteux: Vampire, S. 183 f. Dieter Sturm und Klaus Völker: Von denen Vampiren oder Menschensaugern. Dichtungen und Dokumente, München 1994, S. 451–56.
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natürliche Vorgänge zurückzuführen. Die Existenz von Vampiren wird grundsätzlich in Frage gestellt: „Übrigens ist es gewiß, dass die Erscheinung dieser Blutsauger, auch worinne selbige bestanden, mit nichts dargethan und wir keine Spuren davon in der Historie, und in den hiesigen sowenig als andern Evangelischen Landen jemals gefunden, ausser dass in den vorigen Zeiten hin und wieder von Einschluckung der Grabetücher und Schmatzen in den Gräbern Erzehlungen geschehen, solches aber bey der Untersuchung unrichtig befunden, und als schädlicher Irrthum und Aberglaube verworffen worden.“17
Der Vampirforscher Augustin Calmet Auch einer der namhaften Gelehrten und Theologen der Zeit, der Benediktinerpater Augustin Calmet (1672–1757) befasste sich ausführlich mit der Frage, ob es Vampire geben könne bzw. welche Ursache die vorhandenen Fallberichte sonst haben könnten. Calmet war ein hochgebildeter, aufgeklärt denkender Mann, der sich als Lehrer und Abt der in den Vogesen liegenden Abtei von Senones großes Ansehen erworben hatte. 1746 veröffentlichte Calmet seine „Dissertation sur les apparitions des esprits et sur les vampires ou les revenants de Hongrie, de Moravie“, die 1751 ins Deutsche übersetzt und seitdem mehrmals neu ediert wurde (Gelehrte Verhandlung der Materi, von Erscheinungen der Geisteren, Und denen Vampiren in Ungarn und Mähren, 1751). Das Werk besteht aus zwei Teilen; der erste Teil behandelt Zauberei, Hexerei und Geistererscheinungen, wobei ein generell skeptischer Ansatz erkennbar ist. Der zweite Teil behandelt speziell die Vampire. In der Vorrede zum zweiten Teil bemerkt Calmet zunächst, dass jede Zeit ihre Moden und Vorlieben habe. So habe es einige Zeit Kreuzzüge gegeben, dann seien Geißler gekommen oder man habe Hexen verfolgt. Alles sei im Laufe der Zeit wieder abgeklungen. So ähnlich müsse man auch die derzeitige „Vampirmode“ bewerten:
17
Ebd., S. 457 f.
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Abb. VII.3: Porträt von Augustin Calmet; Kupferstich aus einer 1762 erschienenen Biographie von Calmet. „Seit ungefähr sechzig Jahren hat sich in Ungarn, Polen, Schlesien und Mähren ein neues Schauspiel hervor gethan; indem allda Leut, die schon mehrere Jahr oder Monat zuvor verstorben sind, wider zurück kommen, reden, gehen, die Dörfer beunruhigen, Menschen und Thier mißhandlen, ihren Verwandten das Blut aussaugen, ihnen Kranckheiten und endlich gar den Tod verursachen, sich auch von solchen überlästigen und schädlichen Besuchungen nicht zuruck halten lassen, bis man ihre Leiber wider ausgrabt, spißt, ihnen das Haupt abschlagt, das Hertz ausreyßt, oder sie verbrennt. Man nennt sie Upiren oder Vampiren, das ist Blutsauger. Hilft ihnen vielleicht ein Engel, ein Teufel, oder ihre abgeleibte [aus dem Leib gefahrene] Seel also aus ihrem Grab und wider hinein? wie kann aber die Seel also nach eigener Willkür wieder in [den] Leib kehren, selbigem etwa auf eine Viertelstund das Leben widergeben, und ihn alsdann wieder verlassen? kann vielleicht ein Engel oder Teufel einem Todten das Leben wider einblasen? nein fürwahr! ohne Befehl oder Zulassung Gottes kann solches
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niemahl geschehen, massen [was] schon anderwärts erwiesen worden, dass solches weder in der [Heiligen] Schrift noch in der Vernunfft einigen Grund habe.“18
„Um nichts, was zur Erläuterung dieser Angelegenheit dienstlich sein kann, zu übergehen“ hatte Calmet einen namentlich nicht genannten Experten zu Rate gezogen. Dieser spricht Calmet als „Vetter“ an, was auf eine Verwandtschaft hindeutet, aber auch als Redewendung im Sinne von „nahestehender, wohlbekannter Mann“ gemeint sein kann. „Weil der Herr Vetter den eigentlichen Bericht verlangt, was von den Verstorbenen in Ungarn, welche dort nach dem Tode zurückkommen, und vielen Leuten den Tod verursachen, zu glauben sei, so kann ich ihm darauf umso gründlicher dienen, weil ich mehrere Jahre in den dortigen Gegenden gewesen, und von Natur aus neugierig bin. […] Die ungarischen Vampire belangend, geschieht, dass eine Person erschwache, die Lust zum essen verliere, augenscheinlich ausgezehrt werde, und nach acht, zehn, oder zuweilen fünfzehn Tagen dahinsterbe, ohne dass man ein Fieber, oder eine andere Krankheit als die Austrocknung, und Auszehrung an ihr wahrnehmen könne. Die Ursache dessen aber schreibt man im Lande den Vampiren zu, welche sich an solche Personen machen, und einem das Blut aussaugen. […] Als wir im Banat von Temeswar bei Wallachen einquartiert waren, starben zwei Reiter von der Kompanie, unter welcher ich Fähnrich war, an dieser Krankheit, und mehrere andere lagen daran krank, und würden unfehlbar auch gestorben sein, wenn nicht der Korporal sich des allgemeinen Landesmittels dagegen bedient hätte. Dieses ist seltsam, und wird in keinem Ritual gefunden, doch in seiner Wirkung unfehlbar: Man setzt einen Knaben, den man noch von aller fleischlichen Sünde rein zu sein glaubt, auf einen ungesattelten schwarzen Hengst, welcher noch keine Stuten besprungen hat, und lässt ihn auf dem Gottesacker über die Gräber reiten; und wenn der Hengst allem Antreiben ungeachtet nicht über ein Grab will, so glaubt man, es liege ein Vampir in jenem. Wenn man auch das Grab öffnet, findet man darin einen so schönen fetten Mann, dass man glaubt, er schlafe ganz sanft, und gesund; und wenn man ihm den Kopf mit einem Beil abschlägt, fließt das schönste Blut in der Menge heraus, dass man schwüre, man hätte an jenem den gesündesten, lebendigsten Menschen enthauptet. Nach diesem wirft man das Grab wieder zu, und ist sicher, dass die Krankheit aufhöre.“19
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Abraham und Irina Silberschmidt (Hg.): Augustinus Calmet, Gelehrte Verhandlung der Materi, von Erscheinungen der Geisteren, Und denen Vampiren in Ungarn und Mähren, Augsburg 1751, bearbeitet und mit Anmerkungen versehen, Rudolstadt 2006, 2. Tl. Kap. 1. Ebd., Kap. 15.
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Ungewöhnlich an diesem Bericht ist die Variante der Auffindung des Vampirs mittels eines unbefleckten Knaben auf einem ebensolchen Hengst. Zwei „reine“ Geschöpfe vermögen das Grab des unreinen Vampirs nicht zu überschreiten (wären also umgekehrt auch vor ihm gefeit). Bemerkenswert ist die Attitüde, den Vampirismus als ganz normale Krankheit zu sehen; man kann von einem Vampir ebenso angesteckt werden wie von der Cholera. Dies passt ganz gut zu der Vorstellung, dass Vampire etwas mit der Entstehung von Seuchen zu tun haben. Der Vampir erscheint hier als ein nahezu normaler Bestandteil des Lebens. Calmet kommt nach umfangreichen weiteren Überlegungen und Fallschilderungen endlich zu dem Schluss, dass es sich beim Vampirismus um einen in der Natur nicht möglichen Vorgang handle, der der Phantasie und der Angst der Menschen entspringe: „Was man aber von den ungarischen, mährischen und polnischen Vampiren erzählt, dass sie den Leuten erscheinen, sie beunruhigen und quälen, ihnen das Blut aussaugen, sie töten und durch Winken von der Welt abrufen etc., wie sehr und genau solches auch von Richtern untersucht und durch das Ansehen derselben bestätigt worden sei, halte ich für eine lautere Täuschung und Wirkung einer heftigen und verwirrten Einbildung, weil man keinen verständigen, ernsthaften und nicht schon zuvor vom allgemeinen Wahn eingenommenen Zeugen nennen kann, der die Sache gesehen oder gründlich untersucht habe und daher versichern könne, dass die Vampire wirklich so aus ihren Gräbern auferstehen und das oben Beschriebene tun. […] Dergleichen Zeugen aber wird man, wie ich fest glaube, keine finden.“20
Für Calmet ist der Vampirismus die Folge der Unterernährung der balkanischen Völker, die ihrer Phantasie Flügel verleiht. Diese rationalistischen und positivistischen Erklärungen bestimmen auch den Stichworttext, den Voltaire für sein „Dictionnaire philosophique“ von 1764 schrieb. Der Vampir als Objekt der Vorstellung ist in einigen Gebieten Europas schon lange vorhanden, ohne eine besondere Rolle zu spielen. Mit der Aufklärung tritt er im 18. Jahrhundert als Gegenstand der Verblüffung und der Kontroverse in Erscheinung, die nach einer rational akzeptablen Erklärung verlangte, auch wenn diese nur schwer zu finden war. Die Schilderungen Calmets enthalten Hinweise auf eine Krankheit, die bis ins 20. Jahrhundert Angst und Schrecken verbreitete: die Tuberkulose oder Schwindsucht. Die Erkrankten wurden zunehmend schwächer und sterben in 30–40 Prozent aller Fälle. Eine Heilung war nicht möglich. Die Tuberkulose ist sehr ansteckend, was erklären könnte, dass nacheinander mehrere Verwandte einer an Tuberkulose verstorbenen Person ebenfalls sterben. Natürlich bleiben be20
Ebd., Kap. 57.
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stimmte Merkmale des Vampirbildes dabei unberücksichtigt, etwa die Tatsache, dass Vampire im Grab gesund und wohlgenährt erscheinen. Dennoch könnten lokal ausbrechende Seuchen wie die Tuberkulose zur Verfestigung des Vampirmythos beigetragen haben. Hierzu passt auch der Umstand, dass in neuerer Zeit die Zahl von Vampirfunden bei archäologischen Grabungen stark steigt. Dies scheint damit zusammenzuhängen, dass man heute weniger Bedenken hat, ein Skelett, bei dem der Totenschädel einen Stein im Mund hat, bei dem der Schädel auf der Brust oder bei den Füßen liegt, oder bei dem sich Hinweise auf eine Pfählung oder eine andere Art der Fixierung im Grab finden, mit dem Glauben an Vampire und deren posthume „zweite Tötung“ in Verbindung zu bringen. Die Hinweise mehren sich, dass der Glaube an Untote nicht nur auf dem Balken, sondern auch in Westeuropa stärker präsent war als gedacht.21 Im Jahr 2014 entdeckten US-amerikanische Archäologen auf dem Friedhof von Drawsko Pomorskie, einem Ort ca. 100 Kilometer östlich von Stettin in Polen die Skelette von sechs Personen, die im 17. oder 18. Jahrhundert begraben worden waren. Alle waren auf die für Vampire typische Weise in ihren Gräbern fixiert. Einer der vermuteten Wiedergänger war ein erwachsener Mann, bei dreien handelte es sich um erwachsene Frauen. Dann fanden die Forscher das Skelett einer jungen Frau, beim letzten fixierten Toten handelt es sich um einen Jugendlichen unbestimmten Geschlechts. Bei fünf von ihnen waren scharfe Sicheln über Hals oder Oberkörper gelegt. Bei Zweien hatte man zusätzlich noch schwere Steine auf dem Kinn deponiert. Damit sollte es den Vampiren unmöglich gemacht werden zuzubeißen; außerdem war so der Hals blockiert, so dass sie ihre Nahrung nicht hinunterschlucken konnten. Die Begräbnisse waren gleichmäßig über das Friedhofsgelände verteilt.
Gerard van Swietens Kampf gegen den Vampirismus Auch der aus den Niederlanden stammende Arzt und Aufklärer Gerard (Gerhard) van Swieten (1700–1772) trat energisch gegen den Glauben an Vampire auf. Als Erzherzogin Anna von Lothringen (1718–1744), die zeitweilige Statthalterin der österreichischen Niederlande (darunter ist hauptsächlich das heutige Belgien zu verstehen) und Schwester der österreichischen Kaiserin Maria Theresia, am Kindbettfieber erkrankte, ließ man van Swieten, der mit der Kaiserin in Briefaustausch stand, rufen. Van Swieten konnte deren Tod nicht verhindern, gleichwohl zeigte sich Maria Theresia beeindruckt und berief van Swieten 1745 als Nachfolger ihres bisherigen Leibarztes Jean Baptiste Bassand (1680–1742) nach Wien. Dort entfaltete er eine umfangreiche und höchst erfolgreiche Tätigkeit bei der Neuordnung des österreichischen Gesundheitswesens 21
Siehe dazu: Angelika Franz und Daniel Nösler: Geköpft und gepfählt. Archäologen auf der Jagd nach den Untoten, Darmstadt 2016, S. 80.
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und der medizinischen Hochschulausbildung. Er veranlasste die Einrichtung eines botanischen Gartens, eines „Theatrum anatomicum“ sowie eines chemischen Labors und reformierte den klinischen Unterricht. Die Summe seiner Aktivitäten machte ihn zum Gründer der „Älteren Wiener Medizinischen Schule“.
Abb. VII.4: Gerard van Swieten, Schabkunstblatt aus dem Jahr 1755. Van Swieten kam erst Jahre nach den geschilderten Vorfällen in Medvegia nach Österreich, musste aber feststellen, dass der Vampirglaube nach wie vor virulent war. Von der Kaiserin 1755 nach Mähren entsandt, um dort die Stimmung und das Denken der Bevölkerung zu untersuchen, nahm er entschieden den Kampf gegen entsprechende Umtriebe auf. Er sprach von einer „Barbarei der Unwissenheit“, die es auszumerzen gelte. Wie schon andere Gelehrte vor ihm führte er den ungewöhnlichen Zustand der als angebliche Vampire exhumierten Leichen, das aus dem Mund tretende Blut, füllige Leiber oder rosige Haut, auf Gärungsprozesse sowie Luftmangel, der die Verwesung verhinderten, zurück. In der Vorrede seiner „Abhandlung des Daseyns der Gespenster“, erschienen 1768, schrieb er, „dass der ganze Lärm von nichts andern 367
herkömme, als von einer eitlen Furcht, von einer aberglaubischen Leichtglaubigkeit, von einer dunklen und bewegten Phantasey, Einfalt und Unwissenheit bei jenem Volke.“ Andere Mediziner stützten seine Theorie oder identifizierten andere Ursachen für das vermehrte Sterben in den Dörfern, zum Beispiel Seuchen. Aufgrund seines Berichtes erließ Maria Theresia noch im Jahr 1755 einen Erlass, der alle traditionellen Abwehrmaßnahmen gegen Vampire wie das Pfählen, Köpfen und Verbrennen verbot.
Vampire in der Literatur und im Film Im 19. Jahrhundert entwickelte sich der Vampir zu einem literarischen Topos von beachtlicher Anziehungskraft. Im Zeitalter des Rationalismus bot sich hier eine Möglichkeit, die nach wie vor lebendigen Ängste vor dem Unheimlichen und Unerklärlichen einerseits rationalistisch zu persiflieren, wie das etwa Augustin Calmet tut, wenn er den Vampirglauben auf Unterernährung zurückführt, andererseits aber auch als literarisches Erfolgskonzept zu instrumentalisieren. Der erste Vampirroman der Literaturgeschichte stammt aus der Feder von John William Polidori (1795–1821). Polidori wurde 1816 Leibarzt und Reisebegleiter von George Gordon Noel Byron (1788–1824), bekannt als Lord Byron. Den (infolge des Ausbruchs des Vulkans Tambora im Jahr 1815 und der damit verbundenen weltweiten Klimaabkühlung) dauerhaft verregneten Sommer 1816 verbrachte beide in der Villa Diodati am Genfer See.
Abb. VII.5: Lord Byron im Garten der Villa Diodati am Genfer See. Stahlstich, um 1833, nach einer Zeichnung von William Purser. 368
In ihrer Gesellschaft befanden sich auch Mary Wollstonecraft Godwin (1797–1851) und deren Verlobter Percy Bysshe Shelley (1792–1822). Die spätere Mary Shelley brachte hier die Erstfassung des Romans „Frankenstein or the Modern Prometheus“ (Frankenstein oder der Moderne Prometheus) zu Papier, der ein Welterfolg werden sollte. Der Roman behandelt zwar nicht unmittelbar das Thema „Vampir“, ordnet sich aber in das Genre der „Gothic Novel“ ein.
Abb. VII.6: Mary Shelley, Gemälde aus den Jahr 1840–1843 von Richard Rothwell. Bei ihren Gesprächsrunden entwarf Lord Byron eine Vampirgeschichte, die Polidori für seine eigene Erzählung heranzog. In seinem Roman „The Vampyre, a tale“, erschienen 1819 spielt der Vampir „Lord Ruthven” die Hauptrolle. Der Name ist ein scherzhafter Bezug zu Byron, denn in der Erzählung „Glenarvon“ von Lady Caroline Lamb (1785–1828) aus dem Jahr 1816 heißt eine nach Byron geformte Figur „Lord Ruthven“. In Polidoris Geschichte verliebt sich der junge Engländer Aubrey in Griechenland in die schöne Ianthe; diese wird ermordet, ihr Hals weist Bissspuren auf und ist blutbefleckt. Es gibt Hinweise, dass jener Lord Ruthven der Täter war. Ruthven wird bei einem Überfall von Räubern verletzt und stirbt anscheinend, sein Leichnam verschwindet aber spurlos. Zurück in London sieht Aubrey den düsteren Lord erneut, der sei369
ner Schwester Avancen macht. Aubreys Versuche, die Ehe zu verhindern, scheitern und seine Schwester wird ebenfalls ein Opfer des Vampirs. Mit dem Lord Ruthven, schuf Polidori zugleich den Prototyp des adeligen Vampirs, der die Vampire des Volksglaubens ersetzte.22 Nikolai Wassiljewitsch Gogol (1809–1852) schrieb 1835 die Erzählung „Der Wij“, die sich eng am überlieferten Volksglauben orientiert. Alexei Konstantinowitsch Tolstoi (1828–1910) verfasste mit seiner in Französisch geschriebenen Kurzgeschichte „Die Familie des Wurdalak“ (1839) und der Erzählung „Der Vampir“ (1841) bereits sehr typische Vampirgeschichten. Der irische Schriftsteller Sheridan Le Fanu (1814–73) erzählte in seinem 1872 erschienen Roman „Carmilla“, die Geschichte eines weiblichen und lesbischen Vampirs.
Abb. VII.7: Bram Stoker in einer Photographie ca. 1906. 22
Lecouteux, S. 18 f., http://en.wikipedia.org/wiki/The_Vampyre.
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Inspiriert von der Vampirin Carmilla, dem slawischen Vampirglauben und möglicherweise auch durch einige historische Personen wie z. B. den walachischen Fürsten Vlad III. Drăculea, (um 1431 – Jahreswende 1476/77) verfasste ein weiterer irischer Autor, Abraham „Bram“ Stoker (1847–1912), seinen 1897 erschienenen Roman „Dracula“ – die bis heute bekannteste und für das moderne Bild des Vampirs prägende Geschichte (deutsche Erstausgabe 1908). Der recht komplizierte Handlungsverlauf soll hier nicht geschildert werden. Zentral ist der Umstand, dass der siebenbürgische Adelige Graf Dracula, der sich als Vampir entpuppt, von seinem unheimlichen Bergschloss in den Karpaten nach London gelangt und damit die „Seuche“ des Vampirismus die zivilisierte westliche Welt erreicht. Zwar gelingt es, Dracula unschädlich zu machen, aber eines seiner Opfer, die selbst zum Vampir gewordene Lucy verliert ebenfalls ihr Leben und wird rituell gepfählt. Die latente Bedrohung indes bleibt bestehen. Graf Dracula wurde zu einem Synonym für den Typus des literarischen Vampirs. Stoker erfindet für den Roman auch erstmals einen ebenbürtigen Gegenspieler des Vampirs: den holländischen Gelehrten und Vampirexperten Professor Abraham van Helsing. Der Autor kontrastiert damit die moderne, wissenschaftlich orientierte Welt mit der archaischen Welt des Mystischen. Bram Stokers Roman diente auch als Vorlage für den Stummfilm „Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens“ aus dem Jahr 1922. Der Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau (1888–1931) orientiert sich in seiner Bildsprache am Expressionismus und erzählt die Geschichte des Grafen Orlok (Nosferatu), eines Vampirs aus den Karpaten, der in Liebe zur schönen Ellen entbrennt und Schrecken über ihre Heimatstadt Wisborg bringt. Nosferatu gilt als einer der ersten Vertreter des Horrorfilms und übte mit seiner visuellen Gestaltung einen großen Einfluss auf das Genre aus. Zugleich gilt das Werk mit seiner dämonischen Hauptfigur und seiner traumartigen, gequälte Seelenzustände spiegelnden Inszenierung als eines der wichtigsten Werke des Kinos der Weimarer Republik. Der Film sollte nach einem verlorenen Urheberrechtsstreit 1925 vernichtet werden, überlebte aber in unzähligen Schnittversionen und ist heute in mehreren restaurierten Fassungen verfügbar. Der Film wurde sowohl in Wismar wie in den Karpaten, in der Awaburg in der Slowakei, gedreht. Mit seiner Darstellung des Grafen Orlok erlangte der Schauspieler Max Schreck (1879–1936) bleibenden Ruhm. Der Regisseur Roman Polanski (geboren 1933) griff den Plot in seiner höchst erfolgreichen Horrorkomödie „Tanz der Vampire“ aus dem Jahr 1967 wieder auf. Hier wird dem Thema die düstere Schärfe genommen, die Komik besiegt das Unheimliche. Allerdings wird in diesem Film der Vampir nicht besiegt, sondern die „Seuche“ in die Welt getragen. In den letzten Jahren haben sich die Filme der „Twilight Saga“ als endgültige Abkehr vom klassischen Vampirmythos erwiesen. Der Vampir wird hier zum netten jungen Mann mit einigen Besonderheiten. Schließlich wird die Geschichte zum üblichen Kampf Gut gegen Böse.
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VII.2 Gespenster, Geister und Gelehrte – der Spiritismus Die Bewohner des Zwischenreichs zwischen den Lebenden und dem Himmel oder der Hölle sind teilweise böse und gefährlich, es gibt aber auch die sprichwörtlichen „guten Geister“. Im 19. Jahrhundert glaubte kaum jemand mehr an die wirkliche Existenz von Vampiren, zumindest in Westeuropa. Diese bevölkerten Romane und – später – Filme, ebenso wie die übrigen Schreckgestalten der „Gothic Novels“. Sehr viele Menschen gerade in Westeuropa und den USA glaubten jedoch, dass sich ganz in unserer Nähe die Geister der Ahnen aufhalten und dass es möglich sei, mit diesen in Kontakt zu treten. Dabei verstand man unter diesen Geistern nicht mehr nur die Seelen derjenigen, welche einen „schlechten Tod“ erlitten hatten, sondern alle Verstorbenen. Der Kontakt mit diesen Ahnengeistern diente ebenso der Selbstvergewisserung wie der Selbsttranszendierung: Man erlebte ihn als Bestätigung der Sinnhaftigkeit des eigenen Seins, das in ein zwar unsichtbares aber dennoch vorhandenes Bezugssystem eingebettet schien, das die alte Mikrokosmos-Makrokosmos-Parallele in Teilen ersetzte, und man erlebte den Kontakt als Beweis für die eigene Fortexistenz über den physischen Tod hinaus. Die Bildungseliten befassten sich vielfach mit der Frage, inwieweit es einen Kontakt mit diesen Geistern geben könne und griffen dabei auf tradiertes Wissen über die Geisterwelt und die Magie zurück, das mit zeittypischen philosophisch-naturwissenschaftlichen Theorien verbunden wurde und so neue Deutungsmuster ergab. Der Glaube an eine Anderswelt blieb also im Kern unangetastet, allerdings existierten darin im Wesentlichen nur noch die Ahnengeister. Viele Gebildete waren davon überzeugt, dass man mit diesen Ahnengeistern in Kontakt treten könne, mehr noch, dass es für die Existenz des Zwischenreichs naturwissenschaftliche Belege geben müsse. Der allgemeine Zugangsweg zu diesem Geisterreich erfolgte durch Medien, Männer und Frauen, die sich aufgrund einer nicht näher bekannten und untersuchten, sondern als gegeben hingenommenen besonderen Sensitivität in einen normalerweise als Trance bezeichneten Bewusstseinszustand versetzen konnten, in dem sie die Botschaften der Zwischenwelt empfangen und zudem ansonsten nicht mögliche Handlungen (Telekinese, Gedankenlesen etc.) ausführen konnten. Damit wurde eine völlig neue Methode der Kontaktaufnahme mit dem Jenseits geschaffen, die nichts mehr mit Beschwörung oder Magie zu tun hatte, sondern sich auf innerpsychische Kräfte gewisser Personen stützte. Mutatis mutandis könnte man sagen, dass das Medium eine Wiederbelebung des Schamanen darstellt. Das moderne Konzept des Geisterreichs ist bezeichnend für eine Epoche, in der man versuchte, die Triebkräfte menschlichen Handelns in der Seele bzw. dem Geist zu verorten. Die Anfänge der Psychologie, geschaffen von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung, sollten sich mit dem Bemühen verbinden, die Welt naturwissenschaftlich rational zu erklären.
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Geist und Geister Was genau sind eigentlich Geister, gibt es einen Unterschied zwischen einem Geist und einem Gespenst? Sind Feen, Kobolde und Zwerge aber auch Engel oder Teufel ebenfalls Geister? Das lateinische Wort für Gespenst lautet „spectrum“ und wird heute im Zusammenhang mit unterschiedlichen physikalischen Messverfahren verwendet, bei denen Stoffe mittels elektromagnetischer Strahlung untersucht werden, sowie als Begriff für die durch ein Prisma erzeugte Auffächerung weißen Lichtes. Die lateinische Bezeichnung ist trotzdem für uns aufschlussreich, weil ja das Spektrum des Prismas ebenfalls eine für den ahnungslosen Betrachter unwirkliche, aus dem Nichts kommende, Erscheinung darstellt. Ein von der Natur erzeugtes Spektrum ist der Regenbogen, auch er real und gleichzeitig unwirklich und ungreifbar. Der Begriff „Geist“ ist mit einer Vielfalt unterschiedlicher Bedeutungsinhalte verbunden, zu denen neben den jedermann geläufigen (Welt-, Zeit-, Ungeist) auch die in der antiken griechischen Philosophie bzw. den Geheimwissenschaften wichtigen Ausdrücke „anima“, „pneuma“ oder „spiritus“ zählen, die auch mit der „Seele“ verwandt sind bzw. mit dieser und dem Körper die Trias des menschlichen Seins abbilden. Im jetzt behandelten Kontext wird mit dem Begriff „Geist“ oder „Gespenst“ prinzipiell ein immaterielles oder „feinstoffliches“ (d. h. nicht aus gewöhnlicher Materie bestehendes und dennoch sichtbares) Wesen beschrieben, das in der Regel in der Lage ist, sich einem Medium gegenüber zu äußern. Mit dieser Definition ist die Vorstellung erfasst, die bei geistergläubigen Menschen im 19. und 20. Jahrhundert bestand. Geister sind danach ein Teil der natürlichen Schöpfung. Einen inhaltlichen Unterschied zwischen Geistern und Gespenstern gibt es dabei nicht. Geister lassen sich nicht herbeizwingen sondern erscheinen aus freien Stücken und oft auf Anrufung durch ein Medium. Auf diese Weise kann jeder Mensch mit Hilfe eines Mediums Verbindung zu den Geistern aufnehmen. Solche Medien, aber in Ausnahmefällen auch andere Menschen, verfügen zudem über Kenntnisse bzw. Fähigkeiten, die gewöhnlichen Menschen normalerweise nicht zu Gebote stehen, und als „paranormal“ oder „parapsychisch“ bezeichnet werden. Der Ausdruck wurde 1889 von dem in Berlin arbeitenden Psychologen Max Dessoir (1867–1947) vorgeschlagen und sollte den Teil der Psychologie bezeichnen, der weder dem gewöhnlichen noch dem pathologischen Bereich zuzuordnen ist – also wieder ein Zwischen[be] reich. Diese paranormalen Fähigkeiten erlangen dafür geeignete Personen im Zustand der Trance. Sie sind dann in der Lage Gedanken zu lesen, Gegenstände ohne Berührung zu bewegen oder Hellzusehen. Die Geister des 19. Jahrhunderts unterscheiden sich markant von Dämonen, Engeln oder Teufeln, die der „wahren“ Jenseitswelt zuzurechnen sind. Der Unterschied zu Feen und Kobolden, d. h. alten Naturgeistern, ist systematisch nicht so eindeutig zu beschreiben. Hier weist der Geisterglaube des 19. Jahrhunderts eine unerwartete Berührung mit sehr viel älteren, animistischen Vorstellungen auf. 373
Eine sehr interessante Theorie hinsichtlich der Beschaffenheit und Entstehung von Geistern durch die Einwirkung Satans verdanken wir dem Münsteraner Theologieprofessor Joseph Bautz (1843–1917). In seiner 1882 erschienenen Abhandlung über „Die Hölle“ (1905 erneut gedruckt) erläutert er: „Der Teufel ist imstande, die einfachen Elemente in mannigfacher Weise zusammenzubringen, damit sie sich chemisch unter den gewöhnlichen Erscheinungen (Licht, Wärme, Feuer, Schall, Elektrizität) verbinden. […] Er bildet aus geeigneten Stoffen für sich selbst oder für andere Zwecke Körper, die menschlichen oder tierischen Leibern nachgebildet sind, und gibt ihnen durch mechanische Kraftanwendungen die entsprechenden äußeren Qualitäten: Schwere, Festigkeit, Wärme, Farbe. Er lässt in rapider Bewegung solche Körper plötzlich erscheinen oder verschwinden, versetzt sie oder andere Gegenstände durch unsichtbare Gewalt von Ort zu Ort, lässt sie in Wirklichkeit oder zum Schein durch andere Körper hindurchgehen. Was die teuflische oder schwarze Magie betrifft, so ist sie von der weißen oder natürlichen sorgfältig zu unterscheiden. Wir verstehen unter ihr das gottlose Bestreben eines Menschen, auf Grund eines ausdrücklichen oder stillschweigenden Paktes mit dem Satan Wirkungen zu setzen, die über die Kraft des Menschen hinausgehen. Dass derartige Dinge tatsächlich vorkommen, kann ohne Irrtum im Glauben nicht geleugnet werden.“23
Der Teufel erscheint hier als geschickter Chemiker, der aus den Elementen der Natur Wesen formt, die sich von „normalen“ Menschen materiell kaum unterscheiden. Abgesehen davon, dass Bautz den Teufel hier die göttliche Schöpfung des Menschen imitieren lässt – für einen Theologieprofessor sehr merkwürdig – verrät das Zitat den gründlichen misslungenen Versuch, naturwissenschaftliches Halbwissen mit kruden Satanslehren in Übereinstimmung zu bringen.
Das neue Bild des Jenseits Für die Entwicklung der Vorstellung des oben beschriebenen Zwischenreichs der Ahnengeister war insbesondere der Mystiker und Visionär Emanuel Swedenborg maßgeblich.
23
Wilhelm G. Soldan und Heinrich Heppe: Geschichte der Hexenprozesse. Aus den Quellen dargestellt, Stuttgart 1843, 1879, erw. 1911, Nachdruck 1960 u. ö., Bd. II, S. 343.
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Abb. VII.8: Emanuel Swedenborg. Punktierstich um 1815 nach einem zeitgenössischen Porträt. 1688 in Stockholm als Sohn Jesper Swedbergs, des Bischofs von Västergötland, geboren, studierte er an der Universität Uppsala Philologie und Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften, daneben auch Theologie. 1710–1714 bereiste er England, Holland, Frankreich und Deutschland, 1716 wurde er Assessor des Bergwerkskollegiums zu Stockholm. Zunächst alles andere als ein Mystiker, erfand Swedenborg Maschinen und verfasste Schriften über die Algebra, den Wert von Münzen, den Planetenlauf, Ebbe und Flut. Als 1718 der schwedische König Karl XII. (1682–1718) die Stadt Frederikshald (heute Halden) an der norwegisch-schwedischen Grenze belagerte, ließ Swedenborg sieben Schiffe auf Rollen über Berg und Tal transportieren. Die Stadt konnte erobert werden, wobei der König allerdings den Tod fand. 1719 wurde Swedberg unter dem Namen „Swedenborg“ in den Adelsstand erhoben. Swedenborg war naturwissenschaftlich-technisch bestens gebildet und entwickelte ein System der natürlichen Welt, das auf dem inneren Zusammenwirken aller Teile der Natur fußte. Die spätere Romantische Naturphilosophie griff manche seiner Gedanken auf. Vor 1744 hatte 375
Swedenborg ein religiöses Erweckungserlebnis. Er glaubte sich von Gott berufen, eine auf einer vom Christentum abweichenden Interpretation der Bibel beruhende neue Religion zu verkünden. Um seine religiösen Ideen ungestört verwirklichen zu können, gab er 1747 seine amtliche Stellung auf. In den nachfolgenden Jahren lebte er von einer königlichen Pension. Am 19. Juli 1759 beschrieb er von Göteborg aus den zeitgleich 400 Kilometer entfernt stattfindenden Stadtbrand seiner Heimatstadt Stockholm, um damit zu beweisen, dass er über hellseherische Fähigkeiten verfüge. Swedenborg starb 1772 während einer Reise zur Verkündung seiner Lehren in London. „Ich sehe voraus, dass viele, welche das hier Folgende und die Denkwürdigkeiten hinter den Kapiteln lesen, dieselben für Erfindungen der Phantasie halten werden; allein ich versichere in Wahrheit, dass sie keine Erfindungen, sondern wirklich Geschehenes und Gesehenes sind. Gesehen nicht in irgendeinem Betäubungszustande des Gemüths, sondern im Zustande des völligen Wachens.“24
Dies erklärt Swedenborg in der Einleitung zu seinem Buch „Die Eheliche Liebe“ (dt. Übers. 1845, lat. Original 1768). Diese Sätze beschreiben nicht nur die Befürchtungen, die Swedenborg – zurecht – hegte, sondern sie sind auch typisch für das Problem der Geisterseherei insgesamt: Diejenigen die „etwas gesehen“ hatten, waren subjektiv von der Wahrheit ihrer Beobachtung und deren Deutung überzeugt, wurden jedoch immer wieder mit den Zweifeln der anderen konfrontiert. Beachten sollte man auch den Hinweis Swedenborgs, er sei im „Zustande des völligen Wachens“ gewesen, denn auch die Trance wurde, wie wir noch sehen werden, als Zustand besonderer geistiger Klarheit und keineswegs als eine Art von Benommenheit oder Berauschung interpretiert. In einem Werk mit dem sprechenden Titel „Der Himmel und seine Wunder und das Inferno, gehört und gesehen“ (De coelo et eius mirabilibus et de Inferno, ex auditis et visis, London 1758) entwickelte Swedenborg eine Bibeldeutung, die u. a. die Idee enthält, dass es eine Geisterwelt gebe. Hier treten bereits die wesentlichen Züge des späteren Spiritismus in Erscheinung: „Die Geisterwelt ist nicht der Himmel, auch nicht die Hölle, sondern ein Mittelwert und ein Mittelzustand zwischen beiden; dorthin kommt der Mensch zuerst nach seinem Tode,
24
Zitiert nach Alfred Lehmann: Aberglaube und Zauberei von den ältesten Zeiten an bis in die Gegenwart, Stuttgart 1898, S. 221.
376
und nach vollbrachter Zeit wird er dann gemäß seines Lebens in der Welt entweder in den Himmel erhoben oder in die Hölle geworfen.“25
Während der Gedanke eines Zwischenreichs an sich nicht sonderlich originell ist, erscheint eine andere Behauptung Swedenborgs außergewöhnlich. Nach ihm gibt es nämlich weder Engel noch Teufel oder sonstige Dämonen, sondern nur die Seelen der Toten. Auf Wunsch der Geister teilte Swedenborg der Welt mit, „dass es im ganzen Himmel keinen einzigen Engel gibt, welcher von Anfang an geschaffen ist, und in der Hölle ebenfalls keinen Teufel, welcher als ein Engel des Lichtes erschaffen und dann hinabgeworfen wurde“.26 Swedenborg zufolge existiert kein Unterschied zwischen Dies- und Jenseits; der Mensch merkt zunächst gar nicht, dass er tot ist. Die fünf Sinne, das Körpergefühl, Wünsche, Ängste und Willen – alles besteht fort. Einen Unterschied zwischen Lebenden und Toten gibt es faktisch nicht. Das Jenseits stellt zumindest in dem Zwischenreich der Toten eine nahtlose Fortsetzung des irdischen Daseins dar. In diesem Raum kann sich der Tote charakterlich bessern und so irdische Sünden abbüßen; nach einer mehr oder weniger langen Frist kann er dann in den eigentlichen Himmel gelangen, oder – bei hartnäckiger Besserungsresistenz – in die Hölle. Auch der Philosoph und Begründer das „Jüdischen Aufklärung“ (Haskala) Moses Mendelssohn (1729–1786) erörterte in seinem 1767 erschienen Traktat „Phädon oder über die Unsterblichkeit der Seele“ die Idee eines moralischen Besserungsprozesses im Jenseits (nicht zu verwechseln mit der Bußzeit im Fegefeuer). Swedenborg hatte auf seinen visionären Seelenreisen auch andere Planeten und deren Bewohner besucht. Giordano Bruno (1548–1600), der radikalste Philosoph der Renaissance, hatte als Erster behauptet, die Erde sei keineswegs der einzige bewohnte Himmelskörper im Universum und war unter anderem wegen dieser Ansicht den Tod auf dem Scheiterhaufen gestorben. Der Aufklärer Bernard Le Bovier de Fontenelle (1657–1757) hatte diesen Gedanken in seinen „Gespräche[n] über die Vielzahl der Welten“ (1686) erneut aufgegriffen. Hier zeigt sich eine bemerkenswerte intellektuelle Überschneidung: Die besonders rationalistischen Denker der Renaissance und der Aufklärung trafen sich mit dem Antiaufklärer und Mystiker Swedenborg in der Annahme einer Vielzahl bewohnter Welten und der Vorstellung eines nicht von Himmel und Hölle dominierten Jenseits. Dessen recht irdisches Jenseits war an sich so beschaffen, dass der Tod keinen Übergang darstellte sondern die Fortsetzung der irdischen Existenz auf unabsehbare Zeit in einem Zustand latenter Unsterblichkeit.
25 26
Lehmann: Aberglaube, S. 221. Ebd.
377
Abb. VII.9: Giordano Bruno. Bronzestatue von Ettore Ferrari auf dem Campo de Fiori in Rom. Swedenborgs Visionen erregten allerhand Aufsehen und veranlassten auch Kant, den wichtigsten Protagonisten des rationalen Denkens, sich 1766 in der Schrift „Träume eines Geistersehers“ mit Swedenborg, den er als einen „Kandidaten des Hospitals“, der ihn mit seinen Berichten aus der Welt jenseits des Todes in ein „Schlaraffenland der Metaphysik“ verschleppen wolle, kritisch auseinanderzusetzen. Diethard Sawicki bemerkt dazu in seinem 2002 erschienen aufschlussreichen Werk „Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770–1900“:
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„Auch er [Kant] definierte Geister gemäß der zeitgenössischen Schulphilosophie als vernunftbegabte, körperlose Wesen, zu denen er Gott ebenso wie die menschliche Seele zählte. Das theologische Moment, das Kant durch Rückgriff auf diese Definitionen in seine Überlegungen aufnahm, blieb auch bei ihm nicht folgenlos. Er philosophierte, es sei eine immaterielle Welt denkbar, die alle Geister – mit und ohne Körper – umfasse. Der lebende Mensch könne dann als ein Wesen begriffen werden, das einerseits der materiellen Körperwelt angehöre und gleichzeitig mit seiner Seele ein Teil der immateriellen Welt der Geister sei, aus der er auch in gewissem Maße Einflüsse empfange.“27
Kant stellt im Folgenden die Frage, ob es sein könne, dass der Einfluss der Geisterwelt auf die Lebenden der Quell von deren „sittlichem Gefühl“ sei; im 18. und 19. Jahrhundert wurde dieser Ansatz immer wieder herangezogen, wenn es um eine moralische Begründung der Bemühungen, mit der Geisterwelt in Kontakt zu kommen, ging. Die Geisterwelt ist eigentlich kein Jenseits sondern umgibt uns bereits hier und jetzt und kann unter gewissen Voraussetzungen auch wahrgenommen werden. Aufgegriffen wurde Swedenborgs Konzept u. a. auch von dem Arzt, Kameralisten und Dichter Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817) einem der deutschen „Pneumatologen“, d. h. Geisterkundler. Anders als Swedenborg, der seine Erkenntnisse aus seinen Visionen herleitete, versuchte Jung-Stilling, die Verbindung der Lebenden mit den Toten durch eine besondere Form der Hypnose zu erklären. Als Arzt übernahm er die Annahme von der besonderen Sinnenschärfe im somnambulen (trancehaften) Zustand, der durch Hypnose erreicht werden könne. Nach Jung-Stilling besteht der Mensch aus Körper, Seele („Nervengeist“) und Geist. Der Geist ist göttlichen Ursprungs und daher prinzipiell unbegrenzt, er wird allerdings durch den Nervengeist an den Körper gebunden und somit eingeschränkt. Im somnambulen Zustand wird die Verbindung zwischen Geist und Nervengeist partiell aufgehoben und daher erlangt der Mensch übersinnliche Fähigkeiten. (Telekinese, Hellsehen, Reisen durch Raum und Zeit etc.) Der Geist bzw. die Geister können sich auch sichtbar machen, indem sie mit Hilfe des Nervengeistes Materie an sich ziehen.28 Eine klare begriffliche Trennung zwischen dem Geist als Bestandteil des lebenden Menschen und dem Geist als Manifestation eines Toten fehlt bei Jung-Stilling.
27
28
Diethard Sawicki: Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770–1900, Paderborn 2002, S. 45. Lehmann, S. 223 f.
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Abb. VII.10: Johann Heinrich Jung-Stilling. im Alter von 60 Jahren. Aqurell von Marquard Wocher.
Franz Anton Mesmer und der Tierische Magnetismus Jung-Stillings Hypnosetheorie gründete nicht zuletzt auf einer aus heutiger Sicht recht seltsamen Kombination von Physik und (Para)Psychologie, dem Tierischen Magnetismus des Arztes und Wunderheilers Franz Anton Mesmer (1734–1815). Mesmer zufolge gibt es ein den menschlichen Körper umhüllendes Fluidum, eine protomaterielle oder feinstoffliche Wirkungssphäre, die im Falle einer Erkrankung gestört ist. Dieses Fluidum besitzt ähnliche Eigenschaften wie das Feld eines Eisenmagneten – daher der Ausdruck „Tierischer Magnetismus“. Ein medial begabter Arzt –beispielsweise Mesmer selbst – könne durch Handauflegen oder Streichen mit den Händen (auch ohne direkte Berührung) die das Magnetfluidum wieder in Ordnung bringen und somit Krankheiten heilen. 380
Abb. VII.11: Franz Anton Mesmer in einem zeitgenössischen Kupferstich. Wie kam Mesmer auf diese Idee? Er begann 1759 ein Medizinstudium in Wien, wo er zunächst Jura studierte und dann zur Medizin wechselte. Sein Lehrer war der schon oben genannte kaiserliche Leibarzt und Bekämpfer des Vampirglaubens Gerard van Swieten. Mesmer glaubte an astrologische Einflüsse der Gestirne auf den Menschen. In seiner Dissertation „De planetarum influxu in corpus humanum“ (Der Einfluss der Planeten auf den menschlichen Körper) vertrat er, die Ansicht, die Planeten verbinde ein subtiles Fluidum, als Vermittler bzw. Überträger der zwischen ihnen wirkenden Kräfte. Dies ähnelt stark der bis ins 20. Jahrhundert vertretenen sogenannten „Äthertheorie“. Man konnte sich physikalische Kraftwirkungen nicht ohne eine den Raum erfüllende feinstoffliche Substanz vorstellen. Mesmer sah eine Verbindung zwischen den Einflüssen der Gestirne auf den menschlichen Körper und dessen Gesundheit bzw. Krankheit. Dies entspricht klassischem astrologischem Denken, unterscheidet sich davon aber insofern, als Mesmer eine dem naturwissenschaftlichen Kenntnisstand seiner Zeit entsprechende rationale
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Erklärung für diese Einflüsse entwickelte. 1766 erlangte er, unter dem Vorsitz von van Swieten, den medizinischen Doktorgrad.
Abb.VII.12: Karikatur auf Mesmer und seine Kuren in einem Kupferstich um 1790. Auf Anraten des Wiener Hofastronomen und Jesuitenpaters Maximilian Hell (1720–1792) behandelte Mesmer seine Patienten mit Eisenmagneten, die er über ihren Körper strich. Damit wollte er das den Körper umgebende Fluidum wieder ins Gleichgewicht bringen. Da Hell ähnliche Kuren durchführte und Mesmer deshalb des Plagiats beschuldigte, verzichtete dieser auf den Eisenmagneten und sprach fortan von einem Tierischen Magnetismus, der ganz ohne die Hilfe eines echten Magneten durch seine Hände auf den Körper der Kranken wirkte. Mit diesen Kuren erregte Mesmer einiges Aufsehen und zog die Kritik der etablierten Ärzteschaft auf sich. Nach einem Skandal um die blinde Patientin Maria Theresa v. Paradi(e)s, verlegte Mesmer seine Praxis nach Paris, wo er mit seinen „Séancen“ rasch berühmt wurde. Dabei versammelte er eine Gruppe von Menschen um einen Holzbottich, der mit „magnetisiertem“ Wasser gefüllt 382
war und Eisenstangen enthielt, die durch Bohrungen im Deckel des Bottichs ragten. Die Patienten ergriffen die Eisenstangen, Mesmer schritt um den Bottich und berührte die Menschen, die daraufhin in Konvulsionen verfielen, die als heilende Krisen gedeutet wurden. Einige seine Anhänger gründeten die „Société de l’Harmonie Universelle“, die rasch Zulauf erhielt und Züge einer Sekte annahm. Daraufhin wurde eine öffentliche Untersuchungskommission eingesetzt, die 1784 einen Bericht vorlegte, wonach das von Mesmer behauptete Fluidum gar nicht existiert und somit seine Magnetkuren auch nicht heilen könnten. Mesmers Stern sank daraufhin, auch wenn er weiterhin viele Anhänger hatte, in Deutschland etwa die von der Romantischen Naturphilosophie geprägten Ärzte Justinus Kerner (1786–1862) und Gustav Carus (1789–1869). 1815 starb Mesmer in Meersburg am Bodensee. 1784 gelang Armand Chastenet de Puységur (1751–1825), einem Schüler Mesmers, die Versetzung von Personen in Trance; ein Zustand, der häufig auch als Somnambulismus bezeichnet wurde, da er an das Schlafwandeln erinnerte. Der Berliner Chirurg Karl Alexander Ferdinand Kluge (1782–1844) verfasste 1811 eine Schrift „Versuch einer Darstellung des animalischen Magnetismus als Heilmittel“ die auf breites Interesse stieß, mehrfach neu aufgelegt und in mehrere Fremdsprachen übersetzt wurde. Darin unterschied Kluge sieben Grade des „magnetischen Schlafs“, d. h. der Trance; der vierte Grad „Somnambulismus“ erlaubt es einer Person, in eine geistige Verbindung („Rapport“) mit einer anderen Person – gewöhnlich dem „Magnetiseur“ – zu treten. Dabei kommt es zu einer Art Zusammenschaltung der beiden Gehirne. Im folgenden fünften Grad „Clairvoyance“ tritt die Person in einen Zustand des „erhöhten, hellsehenden“ Bewusstseins ein, der sich im 6. Grad, der „Ekstase“ zu einem „Zustand einer höheren Verbindung mit der gesamten Natur, Überwindung von Raum und Zeit, Wahrnehmung entfernter, vergangener und zukünftiger Dinge“ steigert. In der nachfolgenden 7. Phase „Entzückung“ sinkt die magnetisierte Person wieder in sich selbst zurück. Die Ideen Kluges wurden von einem anderen Vertreter des romantisch-naturphilosophischen Mesmerismus, dem Jenaer Medizinprofessor Dietrich Georg Kieser (1779–1862) weiterentwickelt. Kieser entwarf ein allgemeines „Lebensschema“ das einen negativen und einen positiven Pol und dazwischen einen „Indifferenzpunkt“ vorsah. Dem positiven Pol entsprach die Sonne und eine von ihr ausgehende „solare Kraft“, dem negativen Pol entsprach die Erde und die mit ihr verbundene „tellurische Kraft“. Den tierischen Magnetismus betrachtet Kieser nicht wie Mesmer als von einem feinstofflichen Fluidum bewirkt, sondern als eine „tellurisch-magnetische Kraft“. Kieser erklärte, im Zustand der Clairvoyance (Hellsehen) stellten die normalen Sinnesorgane ihre Tätigkeit ein und an deren Stelle trete das vom Willen unabhängige „vegetative Nervensystem“. Die Bezeichnung existiert bis heute und umfasst alle unbewusst ablaufenden Prozesse zur Steuerung des Organismus. Sie stammt von Marie Françoise Xavier Bichat (1771– 1802), bzw. von Johann Christian Reil (1759–1813); Reil war ein Hauptvertreter des sogenannten Vitalismus. Das autonome Nervensystem steigert Kieser zufolge im Zustand der Trance seine 383
Aktivität und wird zum „Allsinn“, der die Möglichkeiten der normalen Sinne bei weitem übertrifft und Raum wie Zeit überwinden könne. Dennoch war Kieser nicht der Ansicht, der Tierische Magnetismus stelle eine „Brücke ins Geisterreich“ dar; er nannte einschlägige Berichte von Somnambulen „Phantasiespiele der Traumbildung“.
Abb. VII.13: Dietrich Georg Kieser. Holzstich um 1860. Alle diese Vorstellungen, ob bei Mesmer, Kluge, Kieser oder bei anderen Forschern sind stets auf ein in der Natur vorhandenes System von Kräften und Wechselwirkungen bezogen. Dies ist gewissermaßen die naturwissenschaftlich modifizierte Version der Makrokosmos-Mikrokosmos-Parallele. Anders als die Naturmagier der Renaissance postulierten die Naturphilosophen des 18. und 19. Jahrhunderts zwar bestimmte Kräfte bzw. Wechselwirkungen, gaben aber nicht vor, sie wirklich zu kennen und zu verstehen, geschweige denn, sie beherrschen zu können. Häufig trat bei dieser Haltung der Effekt ein, dass man mit der Postulierung irgendeiner Kraft oder eines Fluidums etc. bereits eine Erklärung für ein angebliches oder tatsächliches Phänomen gefunden zu haben glaubte. 384
Die Romantische Naturphilosophie, die bemüht war, eine Verbindung zwischen vormodernem und modernem Naturverständnis herzustellen und beides zu vereinen, hielt das Vorhandensein eines Geisterreichs und die Möglichkeit, mit diesem in Verbindung zu treten, für glaubwürdig. Sie stütze sich dabei auf nicht bewiesene psychophysische Kräfte, die man nicht ihrem Wesen nach, aber in ihren Wirkungen zu erkennen glaubte. Anders als im „alten“ Denken, ging man nicht mehr von einer im christlich-religiösen Sinn göttlich bestimmten Schöpfungsordnung aus, wohl aber von einem spirituell aufgeladenen und von Seelenkräften durchwirkten Kosmos. Ein besonders interessantes Beispiel für diese Haltung ist dabei einer der Hauptvertreter der Romantischen Naturlehre, der Philosoph Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775–1854). Nachdem Schellings Gattin Caroline 1809 an der Ruhr starb, setzte er sich intensiv mit der Frage auseinander ob und wie man mit den Toten in Verbindung treten könne. Er kam zu dem Ergebnis, die Lebenden seien beständig von Geistern umgeben, die ihnen prinzipiell wohlgesinnt seien. Starke emotionale Bande zu Lebzeiten wirkten über den Tod eines Menschen hinaus weiter und stellten eine besondere Beziehung zu den Hinterbliebenen her. Es gebe, so Schelling, einen weder rein psychischen noch rein physischen Teil des Leibes, der die Substanz der Geister ausmache und den er als das „Dämonische“ bezeichnete: „Dieses Dämonische […] ist das, was wir in der Volkssprache (und hier gilt eigentlich: vox populi vox Dei) nicht den Geist, sondern einen Geist nennen; wenn z. B. gesagt wird, es sey einem Menschen ein Geist erschienen.“29 Im somnambulen Zustand könne die unsichtbare Schranke zwischen Diesseits und Geisterreich, die eigentlich nicht in einer Trennung beider, sondern in einer eingeschränkten Wahrnehmungsfähigkeit besteht, überwunden werden, weil die inneren Sinne durch die Ausschaltung der äußeren bei gleichzeitiger vollkommener Wachheit entsprechend geschärft würden. Theologisch bezog sich Schelling auf eine Stelle der Apostelgeschichte, worin Petrus erklärt, dass in den letzten Tagen der Menschheit der Geist Gottes analog dem Pfingstwunder über die Menschen kommen werde, worauf die Menschen weissagen und Gesichte haben würden. Solche Gedanken spielten eine Rolle bei den Séancen, die der Schriftstelle und Philosoph Friedrich Schlegel (1771–1829), der erste Gatte von Caroline, ehe diese 1806 Schelling heiratete, mit dem nazarenischen Maler Ludwig Schnorr v. Carolsfeld (1788–1853) und einer polnischen Gräfin veranstaltete. Alle diese Vorstellungen und Erklärungsversuche, von Swedenborg bis zu Kieser oder Schelling, betrafen eine eng begrenzte Gruppe von Intellektuellen und Gelehrten. Der Großteil der Bevölkerung in Europa blieb davon unberührt. Der Anstoß, der den Geisterglauben zu einer Breitenbewegung machte, kam aus den USA.
29
Sawicki, S. 148.
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Abb. VII.14: Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. Kolorierte Daguerrotype von 1848.
Die Anfänge des Spiritismus in den USA30 In Hydesville, einem kleinen Ort im Bundesstaat New York, wurden im Februar 1848 im Hause eines Mr. Fox seltsame Klopfgeräusche vernommen. Eine der drei Töchter des Herrn Fox antwortete spontan durch Fingerschnippen auf die Klopfgeräusche und erhielt als Antwort gezielte Klopflaute, die zu einem Frage- und Antwortspiel führten. Es stellte sich heraus, dass die Klopflaute von einem Geist stammten, der früher in diesem Haus gelebt hatte, ermordet wurde und im Keller begraben sei. Wir haben es also hier mit einem ganz klassischen Klopfgeist zu tun, der, weil Opfer eines Verbrechens, einen „schlechten“ Tod erlitten hatte und daher im Jenseits keine 30
Nach Lehmann: Aberglaube, S. 234 ff. und www.prairieghosts.com/stratford.html.
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Ruhe fand. Bei einer Untersuchung des Kellers förderte man tatsächlich ein Skelett zutage, was für beträchtliches Aufsehen sorgte und der Familie Fox den Ruf einbrachte, vom Teufel besessen zu sein. Auch diese Reaktion ist noch ganz traditionell und nimmt den Kontakt mit einem Geist als etwas Bedrohliches und Böses wahr. Die Familie übersiedelte nach Rochester, wo die Klopfgeräusche weitergingen, allerdings nur in Anwesenheit der Kinder. Trotz diverser Bemühungen war es nicht möglich, die Ursache der Laute ausfindig zu machen, doch wurde dabei eher beiläufig die Methode des Tischrückens entdeckt. Dabei setzten sich die Teilnehmer um einen Tisch und legen locker die Hände auf den Tischrand; manchmal geriet der Tisch nach einiger Zeit tatsächlich in Bewegung. Diese allgemein als Séancen bezeichneten Zusammenkünfte kamen regelrecht in Mode, und je mehr Séancen es gab, desto mehr übersinnliche Phänomene ereigneten sich und wurden berichtet. Eine Welle kam ins Rollen, die bald auch nach Europa überschwappte. Bald nach den Ereignissen in Hydesville bzw. Rochester, erregten äußerst seltsame Vorgänge in Stratford, Connecticut, die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Hier handelte es sich nicht um eine Kommunikation mit einem oder mehreren Geistern, sondern um die sehr handgreiflichen Aktivitäten eines Poltergeists. Der Geistliche Dr. Eliakim Phelps kaufte im Februar 1848 eine Villa in Stratford, die sich ein exzentrischer ehemaliger Handelsschiffkapitän namens George Dowell gebaut hatte. Zunächst ereignete sich nichts Besonderes, bis der 59-jährige Phelps sich entschloss, eine wesentlich jüngere Frau zu heiraten, die zwei Kinder in die Ehe brachte. Am 10. März 1850 stellte die Familie bei der Rückkehr vom Sonntagsgottesdienst fest, dass die zuvor verschlossenen Haustüren offenstanden und im Haus Möbel umgeworfen, Geschirr zerbrochen und Bücher verstreut worden waren. Einbrecher schieden aus, da weder Schmuck noch Geld fehlten. Am selben Tag blieb Phelps alleine im Haus um zu sehen, ob sich weitere Vorfälle ereignen würden, vernahm aber nichts. Bei einem Rundgang stellte er fest, dass im Speisezimmer eine Gruppe von lebensgroßen Frauenfiguren versammelt war, die Kleidungsstücke aus dem Besitz der Phelps’ anhatten und völlig lebensecht wirkten. Wer diese Figuren geschaffen hatte und wie sie in das Zimmer gelangt waren, blieb ein Rätsel. Nun begannen auch Gegenstände durch die Luft zu fliegen oder plötzlich aus dem Nichts aufzutauchen und die Kinder, besonders der 11-jährige Henry, wurden attackiert. Nach mehreren Monaten verließ die entnervte Familie das Haus und verbrachte den Winter in Philadelphia. Nach der Rückkehr im Frühjahr ereigneten sich keine weiteren Vorfälle mehr. Alle Versuche, die Ursache der offenbar paranormalen Geschehnisse zu ergründen, scheiterten. Allerdings hatte der lebhaft an Mystik, Mesmerismus und dem neu aufgekommenen Spiritismus interessierte Dr. Phelps einige Tage vor dem ersten Auftreten des Poltergeists zusammen mit einem gleichgesinnten Freund eine Art Séance veranstaltet. Dabei habe er, so mutmaßten spiritistische Kreise, ungewollt den Poltergeist auf den Plan gerufen. Interessant ist die Geschichte in Stratford vor allem, weil ein gewisser Andrew Jackson Davis die Phelps’ besuchte und in der Folge eine Theorie der Geisterwelt entwarf, die für die Entstehung der „Spiritismus“ oder „Spiritualismus“ genannten Kulturströmung bestimmend wurde. 387
Davis wurde 1826 in Blooming Grove im Staat New York geboren. Sein Vater hielt sich mit diversen Handwerksarbeiten über Wasser, seine Mutter war streng religiös eingestellt. Davis erhielt nur eine einfache Schulbildung. 1838 hörte er einen Vortrag über Mesmerismus bzw. Hypnose und wurde kurz darauf von einem ortsansässigen Schneider in Trance versetzt. Dabei zeigte sich seine große Begabung als Medium und als Magnetheiler. In dieser Funktion wirkte er mit großem Erfolg und schrieb zudem eine Reihe von Büchern, die Enthüllungen jenseitiger Wesen enthielten, die ihm in Trance zuteil geworden waren. 1847 erschien sein Buch „The Principles of Nature, Her Divine Revelations and a Voice to Mankind“, 1850 schrieb er unter dem Eindruck seiner Erlebnisse in Stratford eine “Philosophy of spiritual Intercourse“ (Die Philosophie des geistigen Verkehrs, eine Erklärung moderner Geheimnisse, Leipzig 1884), zwischen 1850 und 1861 erschien in 6 Bänden sein Hauptwerk „The Great Harmonia“ (Die große Harmonie, Leipzig 1867 ff.). Nach den 1850er Jahren trat Davis nicht mehr prominent in Erscheinung, 1910 verstarb er. Davis zählt zu den wichtigsten Vertretern der spiritistischen Lehre in den USA. Er nahm geistige Anleihen bei Sewedenborg, dessen Methode der visionären Erkenntnisfindung er ebenfalls praktizierte, war ansonsten aber wenig mit den geistesgeschichtlichen Entwicklungen vertraut.
Abb. VII.15: Andrew Jackson Davis. Photograhie als Frontispiece zu seiner Autobiographie, 1882. 388
Nach Davis ist die Menschheit ein lebendiges Ganzes, der Einzelne ist Teil einer Gesamtbeseeltheit, die nur durch den jeweiligen Körper physisch unterteilt wird. Dieses Ganze steht in engstem Kontakt mit der Geisterwelt, die sich von der Diesseitswelt nur durch die fehlende materielle Präsenz unterscheidet. Ungerechtigkeiten einzelnen Menschen gegenüber verletzten die Menschheit insgesamt; um dies zu verhindern, sei eine neue soziale Ordnung nötig. Der wahre Spiritist bzw. Spiritualist sei daher notwendigerweise auch ein Philanthrop und allen Lastern abhold (als Laster zählen dabei so unterschiedliche Kategorien wie eheliche Untreue, Krieg und Tyrannei). In Deutschland fielen die Lehren von Davis auf fruchtbaren Boden, indem sie u. a. den angesehenen Naturforscher und Naturphilosophen Christian Gottfried Nees v. Esenbeck (1776–1858) in dessen späten Lebensjahren stark beeinflussten. In der Person Nees’ verbinden sich spiritistische mit religiösen und sozialistischen Vorstellungen und Bestrebungen. Nees fühlte sich als Verfechter des sog. „Deutschkatholizismus“ angesprochen, der 1844 von dem Priester Johannes Ronge (1813–1887) ins Leben gerufen worden war. Ronge und seine Anhänger wollten einen „romfreien“ Katholizismus, der sich durch eine aufklärerische und den päpstlichen Primat ablehnende Haltung auszeichnete. Auch Ronge war ein Anhänger des Spiritismus und stand mit dem schon genannten Schriftsteller, Geisterkundler und Arzt Justinus Kerner in Verbindung, der durch seine Berichte über die sog. „Seherin von Prevorst“, Friederike Hauffe (1801–1829) bis heute eine gewisse Bekanntheit genießt.
Abb. VII. 16 Christian Gottfreid Nees von Esenbeck. Undatiertes Porträt, Holzstich. 1848 war Nees einer der Gründer des Breslauer Arbeitervereins und als Abgeordneter in der preußischen Nationalversammlung vertrat er die äußerste Linke. Auch in dieser Hinsicht passten die 389
Lehren von Davis sehr gut zu seinen Ideen. Interessant ist, dass es auch Beziehungen zur politischen Bewegung des Sozialismus gab. Auf den ersten Blick haben Spiritismus und Sozialismus wenig gemeinsam, suchte doch letzterer durch gesellschaftliche Reformen das Glück im Diesseits zu verwirklichen, während der Spiritismus unbezweifelbar auf das Jenseits, die Anderswelt, konzentriert war. Berührungspunkte ergaben sich dennoch, weil die Beschaffenheit des spiritistischen Geisterreichs der sozialistischen Sozialutopie nahekam. Im Geisterreich gab es keine Monarchen und keinen Adel, dort herrschte Gleichheit und republikanischer Geist. Dies übte paradoxerweise nicht zuletzt auf adelige Intellektuelle, die die Klassengesellschaft kritisierten, einen gewissen Reiz aus. Auch die durch naiven politischen Radikalismus und persönlichen Charme bekannte Bettina v. Arnim (1785–1859) war zeitweise eine im Wortsinn begeisterte Anhängerin spiritistischer Séancen.
Helena Blavatsky und die „Theosophische Gesellschaft“. „Theosophie“ ist grundsätzlich der Oberbegriff für alle mystisch orientierten Systeme mit dem Ziel der Erkenntnis Gottes in der Welt. Im 19. Jahrhundert spielte die Theosophie insbesondere im Zusammenhang mit der „Theosophischen Gesellschaft“ der Helena Petrowna Blavatsky eine Rolle.
Abb. VII.17: Helena Petrowna Blavatsky. Photographie ca. 1860. 390
1831 in Jekaterinoslaw in der Ukraine als Tochter des deutsch-russischen Obersten Graf Peter v. Hahn-Rottenstern geboren, zeigte sie angeblich schon als Kind einen Hang zu somnambulen Zuständen und Halluzinationen und wurde offenbar von ihrem Umfeld in diesem Verhalten bestärkt. 1848 heiratete sie den General Nikifor Blavatsky, ließ sich aber nach drei Jahren wieder scheiden und reiste nun zwölf Jahre lang in der Welt umher. 1851 soll es in London zu einer Begegnung mit einem geheimnisvollen Inder gekommen sein, der die junge Dame auf den Weg der Erleuchtung führte. Eigenen Angaben zufolge hielt sie sich danach sieben Jahre in Tibet auf (sicherlich spielt der magische Charakter der Sieben dabei eine Rolle). Bei dort lebenden weisen Mönchen, von ihr als „Mahatmas“ bezeichnet, erlernte sie eine Reihe von tantrisch-magischen Praktiken, zu denen alle damals gängigen mediumistischen Fähigkeiten zählten. Darüber hinaus sollten die Mahatmas, von ihr auch „Adepten“ genannt, telepathische Fähigkeiten besitzen und Seelenreisen durch Raum und Zeit unternehmen können. Diese Weisen Männer hätten bisher ihre Lehren nur untereinander weitergereicht, nun aber sei der Zeitpunkt gekommen, wo sie diese der Welt mitteilen wollten. Madame Blavatsky sei auserkoren, dies ins Werk zu setzen. Diese Geschichte ist von den Rosenkreuzermanifesten beeinflusst, die Blavatsky sicher gekannt hat. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Blavatsky niemals in Tibet war, sie bewies aber mit der von ihr erzählten Geschichte feines Einfühlungsvermögen in die geistigen Strömungen ihrer Zeit. 1875 gründete sie in New York mit dem Anwalt und überzeugten Spiritisten Henry S. Olcott (1832–1907) die Theosophische Gesellschaft. Diese war gedacht als eine alle Rassen und Religionen umfassende Vereinigung zum Studium alter „arischer, brahmanischer, buddhistischer und zoroastrischer“ Lehren sowie zur Erforschung der Natur, „namentlich der psychischen Kräfte, die im Menschen schlummern“. Olcott wurde Präsident der Theosophischen Gesellschaft und verlegte deren Sitz 1879 nach Bombay (heute Mumbai), 1882 nach Adyar nahe Madras in Indien. Vorausgegangen waren Kontakte mit einem indischen Yogi oder Swami namens Dayananda Saraswati (1824–1883) mit dem Ziel einer Vereinigung der Theosophischen Gesellschaft mit Saraswatis „Arya Samaj“ (Gemeinschaft der Arier), die indes nicht zustande kam. 1877 erschien mit finanzieller Unterstützung Olcotts Blavatskys Hauptwerk „The Isis unveiled“ (Die entschleierte Isis), eine umfassende Darstellung ihrer theosophischen Lehren. Die Theosophische Gesellschaft fand regen Zulauf. 1879, auf dem Weg nach Indien, gründeten Blavatsky und Olcott eine Zweigstelle in England, 1884 entstand in Anwesenheit beider die erste deutsche „Loge“ in Elberfeld. Etwa zu dieser Zeit beschuldigte im indischen Hauptsitz der Theosophischen Gesellschaft ein Ehepaar namens Coulomb Blavatsky betrügerischer Machenschaften, was zu erheblicher Unruhe bei den anderen Mitgliedern führte. Die 1882 in London gegründete „Society for Psychical Research“, die erste gelehrte Gesellschaft zur Untersuchung paranormaler Phänomene, entsandte daraufhin eines ihrer Mitglieder, den Juristen Richard Hodgson (1855–1905) nach Indien. Der „Hodgson-Report“ fiel für Blavatsky vernichtend aus, zahlreiche Mitglieder verließen die Theosophische Gesellschaft, viele Ortsgruppen sagten sich von der Zentrale in Indien los. Blavatsky 391
wurde von dieser Entwicklung auch persönlich schwer getroffen, zog sich weitgehend zurück und verstarb wenig beachtet 1891 in London. Der Hodgson-Report wurde kontrovers diskutiert, die darin enthaltenen Anschuldigungen konnten aber nie wirklich widerlegt werden, auch wenn 1986 der Physiker und Fälschungsexperte Vernon Harrison (1912–2001) auf Unstimmigkeiten hinwies. Seine Schrift zur Rehabilitierung Blavatskys wurde im Journal der Society for Psychical Research gedruckt, deren Mitglied Harrison war. (1998 erschien eine ergänzte deutsche Fassung unter dem Titel „H. sP. Blavatsky und die SPR. Eine Untersuchung des Hodgson Berichts aus dem Jahre 1885“. Es ist allerdings zu beachten, dass Harrisons Einschätzung vom Verlag der Theosophischen Gesellschaft herausgebracht wurde, der ein Interesse an der Rehabilitierung Blavatskys haben dürfte.)
Abb. VII.18: Rudolf Steiner. Photographie von 1916. 392
Die Theosophische Gesellschaft besteht bis heute. 1912 gründete Rudolf Steiner (1861–1925), damals Leiter der deutschen Sektion, in Köln seine Anthroposophische Gesellschaft. Der Name ist ein Gegenprogramm zur Theosophischen Gesellschaft, die Steiner verließ, weil er sich nicht mit der starken Hinwendung zum Hinduismus, die unter der Präsidentin Annie Besant (1847–1933) erfolgt war, anfreunden konnte. Steiner wurde Ehrenpräsident der neuen Vereinigung, gehörte aber nicht dem Vorstand an. Als Zentrum baute man in Dornach bei Basel das von Steiner entworfene erste „Goetheanum“, welches am 31. Dezember 1922 durch Brandstiftung zerstört wurde. 1923 wurde die Gesellschaft in Dornach unter der Bezeichnung „Allgemeine Anthroposophische Gesellschaft“ mit Steiner als Vorsitzendem neu gegründet. Nach Steiners Tod im Jahr 1925 übernahm Albert Steffen (1884–1963) deren Vorsitz.
Die „Society for Psychical Research“ Die oben schon erwähnte „Society for Psychical Research“ geht auf eine Initiative des Journalisten Edmund Dawson Rogers (1823–1910) zurück. Rogers kam über das Studium der Schriften Swedenborgs zum Spiritismus. Seit 1869 besuchte er Séancen und zählte 1873 zu den Gründern der „British National Association of Spiritualists“. 1882 spaltete sich die „Society for Psychical Research“ mit Rogers als eigene Gruppierung ab. Zu den Gründungmitgliedern zählten neben Rogers der Physiker William F. Barrett (1844–1925) und der Altphilologe, Dichter und Essayist Frederick Myers (1843–1901). Myers, der zeitweise an der Universität Cambridge lehrte, prägte im Gründungsjahr der „Society“ den Begriff Telepathie; bis dahin hatte man von „thought transference“, also Gedankenübertragung, gesprochen. Die Gesellschaft besteht bis heute und befasst sich nach wie vor mit der Untersuchung „paranormaler“ Phänomene. Die Liste ihrer Präsidenten enthält zahlreiche namhafte Gelehrte: als erster Präsident amtierte der Moralphilosoph Henry Sidgwick (1838–1900), auf ihn folgte der Physiker Balfour Stewart (1828–1887). Weitere Präsidenten waren der Physiker Sir Oliver Lodge (1851–1940), der französische Physiologe Charles Richet (1850–1935, Nobelpreis für Medizin 1913) und auch eine Frau, die Mathematikerin Eleanor Sidgwick (1845–1936); sie war die Ehefrau von Henry Sidgwick und die Schwester des nachmaligen britischen Premierministers Arthur Balfour (1848–1930). Auch der Literaturnobelpreisträger Henri Bergson (1859–1941) und der Physiker und Chemiker William Crookes (1832–1919) standen an der Spitze der Gesellschaft; auf letzteren werden wir noch zurückkommen.
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Die „Dialektische Gesellschaft“ Im 19. Jahrhundert war man mit der physikalischen Erklärung der als Imponderabilia bezeichneten Erscheinungen der Wärme, des Lichtes, der Elektrizität und des Magnetismus noch nicht weit gekommen. Der Begriff Imponderabilia ist lateinisch und bedeutet „unwägbare Stoffe“; er sollte ausdrücken, dass diese Erscheinungen nicht auf wägbare Substanzen zurückgeführt werden können. Erst gegen Ende des Jahrhunderts, im Jahr 1886 gelang Heinrich Hertz (1857–1894) der Nachweis elektromagnetischer Wellen. Das fundamental Neue dabei war die Erkenntnis, dass diese Wellen, zu denen u. a. das sichtbare Licht, Radiowellen oder Röntgenstrahlen zählen, kein Medium benötigen um sich zu verbreiten. Zehn Jahre später, 1896, entdeckte Henri Becquerel (1852–1908) die radioaktive Strahlung von Uran. Ein Jahr zuvor gelang Conrad Wilhelm Röntgen (1845–1923) der Nachweis der später nach ihm benannten Strahlen. Innerhalb weniger Jahre wurde durch diese Entdeckungen die Physik revolutioniert. Während man lange Zeit an der Vorstellung festhielt, dass alle physikalischen Phänomene mittels der Klassischen Mechanik Newtons zu erklären seien, entstand nun eine Physik, die sich auf unsichtbare Kraftfelder stützte. Viele Naturwissenschaftler fragten sich in dieser Situation, ob es nicht noch weitere physikalische und/oder psychische Kräfte und Wirkungen geben könnte, die für unterschiedliche „paranormale“ Vorgänge verantwortlich sein könnten. Wenn es nachgewiesene physikalische Erscheinungen gab, deren Natur und Wirkungsweise (noch) nicht recht verstanden werden konnten, erschien es durchaus denkbar, dass man auch noch weitere Kraftwirkungen entdecken könnte. Die Frage nach der Existenz „paranormaler“ Phänomene wie Telepathie, Telekinese und die über ein Medium vermittelte Verbindung mit der Geisterwelt wurde in vielfacher Weise und von unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen diskutiert. In diesem geistigen Klima gründete der Bankier und Philanthrop William Lubbock (1834– 1913), der auch als Archäologe und Ethnologe anerkannt war, im Jahr 1867 die „London Dialectical Society“ (Dialektische Gesellschaft). Die Vereinigung war keine spiritistische Gruppe, sondern hatte sich als Vereinszweck die Aufgabe gestellt, interessante Phänomene unterschiedlicher Art möglichst vorurteilslos zu untersuchen. Zu ihren prominenteren Mitgliedern zählten der Jurist Edward William Cox (1809–1879), der anglikanische Priester und bekennende Spiritist Charles Maurice Davies (1828–1910), der Elektroingenieur Cromwell Varley (1828–1883) und der Naturforscher und Evolutionsbiologe Alfred Russel Wallace (1823–1913). Schon bald nach ihrer Gründung beschloss die Gesellschaft, die Realität der diversen „paranormalen“ Vorgänge zu erforschen, von denen allenthalben die Rede war. Ein dafür eingesetztes „Komitee“ sollte sich dieser Aufgabe annehmen. 1870 legte das Komitee dem Verwaltungsrat der Dialektischen Gesellschaft seinen Abschlussbericht vor. Entgegen den Erwartungen dieses Gremiums fiel dieser eindeutig im Sinne der Existenz paranormaler Phänomene aus, weshalb es die Gesellschaft ablehnte, den Bericht wie 394
geplant in Druck zu geben. Dies erboste die Mitglieder des Komitees, die daraufhin beschlossen, den Bericht selbst zu publizieren. Die umfangreiche, in drei Teile gegliederte Dokumentation wurde zunächst in englischer Sprache publiziert und, von Gregor Constantin Wittig übersetzt, als Band 9 der von Alexander Aksakow herausgegebenen „Bibliothek des Spiritualismus“ 1875 in Leipzig veröffentlicht. Die folgenden Zitate sind der deutschen Übersetzung entnommen. Die Untersuchungskommission stellte u. a. fest: „1. Dass Töne von einem sehr verschiedenartigen Charakter, welche augenscheinlich von Möbeln, Fussböden und Zimmerwänden ausgehen – und deren sie begleitende Vibrationen oft deutlich für das Gefühl wahrnehmbar sind – auf eine Weise entstehen, welche von keiner Muskeltätigkeit, noch von mechanischer Erfindungskunst herstammt. 2. Dass Bewegungen schwerer Körper stattfinden ohne mechanische Kunstgriffe irgendwelcher Art, oder entsprechende Anstrengung von Muskelkraft seitens der Anwesenden, und häufig ohne alle Berührung oder Verbindung mit irgendeiner Person. […] 5. Dass die Umstände, unter denen die Erscheinungen stattfinden, veränderlich sind, wobei die hervorragendste Tatsache die ist, dass die Gegenwart gewisser Personen für ihr Vorkommen notwendig erscheint, diejenige anderer aber gewöhnlich hinderlich ist; dass jedoch dieser Unterschied keineswegs vom Glauben oder Unglauben an diese Erscheinungen abzuhängen scheint.“ […] Dreizehn Zeugen bestätigen, dass sie schwere Körper – in einigen Fällen sogar Menschen – sich langsam in die Luft erheben und daselbst ohne irgendwelche sichtbare oder fühlbare Unterstützung einige Zeit verweilen gesehen haben. Vierzehn Zeugen bekunden, Hände oder Gestalten, die keinem menschlichen Wesen angehörten, wohl aber an Aussehen und Beweglichkeit lebensähnlich waren, wahrgenommen zu haben, ja dass sie dieselben zuweilen berührten oder selbst ergriffen, und dass sie in Folge dessen überzeugt wurden, dieselben seien kein Resultat des Betrugs oder der Einbildung. […] Fünf Zeugen bestätigen, dass sie rothglühende Kohlen auf die Hände oder Köpfe mehrerer Personen gelegt gesehen haben, ohne denselben Schmerz oder Brandwunden zu verursachen; und drei Zeugen bestätigen, dass dieselbe Probe bei ihnen selbst mit gleicher Unverletzbarkeit angewendet worden ist. […]
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Sechs Zeugen erklären, dass sie Auskunft über zukünftige Ereignisse erhalten haben, und dass ihnen in einigen Fällen sogar die Stunde und die Minute, Tage und Wochen zuvor, genau vorhergesagt worden sei. […] Als Hinzufügung zu dem Vorhergehenden sind Zeugnisse geliefert worden von verzücktem Sprechen, von Heilungen, von automatischem (ganz von selbst erfolgendem) Schreiben, von in verschlossene Zimmer hereingebrachten Blumen und Früchten, von Stimmen in der Luft, von Visionen in Krystallen und Gläsern und von einer Entrückung des menschlichen Körpers.“31
Wie man sieht, ließ der Bericht nichts aus, was in der Palette spiritistischer Erscheinungen sozusagen Rang und Namen hatte. Es ist daher verständlich, dass die Führung der Dialectic Society gewisse Schwierigkeiten hatte, den Bericht ihres Komitees zu publizieren. Man ersieht aber auch, welche Glaubensstärke und Lauterkeit den Feststellungen innewohnt; die reputierlichen Herren und Damen (auch Frauen waren zugelassen) waren von ihren Erlebnissen nicht nur überzeugt, man vermeint auch einen gewissen missionarischen Drang zu vernehmen. Der Bericht ist auch deshalb bemerkenswert, weil er einen Eindruck von der damals herrschenden Gefühlslage bei vielen Angehörigen der gebildeten Schichten wiedergibt. Man war grundsätzlich bereit, auch Dinge zu glauben, die der Vernunft widersprachen – entweder, weil man naturwissenschaftlichen Erklärungen ohnehin misstraute, oder weil man im Gegenteil vom Potential der Naturwissenschaften überzeugt war und daher annahm, dass es durchaus möglich sei, auch für „paranormale“ Phänomene wissenschaftlich einwandfreie Erklärungen finden zu können. Beide Standpunkte hatten durchaus ihre Berechtigung. Schließlich war es gerade in den Naturwissenschaften üblich, einen nicht erklärbaren Vorgang zunächst zu beschreiben, um ihn anschließend zu erforschen. Auf die Ehrlichkeit und Seriosität der Kommissionsmitglieder wurde ausdrücklich hingewiesen: „Alle Mitglieder des Comités waren Personen von sozialer Stellung, von unbestechlicher Redlichkeit, ohne Geldabsichten, die durch Betrug nichts gewinnen, vielmehr durch irgendwelche Entdeckung einer Täuschung zu verlieren hatten.“32
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Bericht über den Spiritualismus von Seiten des Comité’s der Dialektischen Gesellschaft zu London etc., 3 Tle., hg. v. Alexander Aksakow, übers. v. G. C. Wittig, Leipzig 1875, S. 12 f. Ebd., S. 17.
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Interessanterweise legte der Vorsitzende des Komitees, der Mediziner Dr. James Edmunds, ein Sondervotum vor, das sich sehr kritisch äußert und der Aussage des offiziellen Berichts widerspricht. In seiner ausführlichen Stellungnahme erklärte Edmunds, „niemals bin ich im Stande gewesen, etwas der Betrachtung Würdiges zu sehen, was nicht aus unbewusster Tätigkeit, Täuschung oder Betrug erklärbar gewesen wäre“. Eine zumindest teilweise Erklärung für die vielen positiven Zeugnisse respektabler Personen fand Edmunds in der Ausnützung der psychischen Befindlichkeit der zum Spiritismus geneigten Zeitgenossen durch gewisse betrügerische „Medien“: Wenn eine Gruppe von Menschen sich zusammenfindet, um gemeinsam einen Tisch in Bewegung zu versetzen, bzw. eine Kraft zu aktivieren, die eben dies tut, dann ist es gut möglich, dass jemand sagt: „Jetzt hat er sich bewegt!“ Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird dann ein anderes Gruppenmitglied dies bestätigen und so entsteht durch gegenseitige Versicherung eine Beobachtung. Man muss nur die Erfahrungen von Kriminalisten mit Zeugenaussagen studieren, um zu sehen, dass die Schaffung subjektiv geglaubter „Fakten“ aus der Einbildungskraft sehr gut möglich ist, zumal in einer Gruppensituation wie oben beschrieben. Es erfordert dann schon eine ziemliche Widerstandsfähigkeit, sich wie Edmunds, einer solchen Gruppendynamik zu entziehen. Bei der skizzierten sozialpsychologischen Befindlichkeit vieler Intellektueller ist es nicht überraschend, dass sich auch etliche namhafte Naturwissenschaftler dem Thema „Spiritismus“ zuwandten. Dabei gingen alle davon aus, dass es zunächst nicht um eine Theorie zur Erklärung spiritistischer Phänomene gehe, sondern um den Beweis von deren Vorhandensein. Man sagte also nicht: Die Naturwissenschaften können derartige Vorgänge mit Sicherheit ausschließen, deshalb braucht man sie auch nicht zu erforschen. Vielmehr argumentierte man so: Die Naturwissenschaften können prinzipiell alles erklären was in der materiellen Welt passiert. Man hat viele neue, seltsame Kräfte und Strahlen entdeckt, die man –zumindest der Laie – auch nicht wirklich versteht. Warum soll es dann nicht möglich sein, dass weitere, noch unentdeckte Kräfte existieren? Das diese Kräfte irgendwie mit psychischen Energien zusammenhängen, erschien klar und passte problemlos zum etablierten Glauben an die Zwischenwelt der Geister. Wie bei anderen Geisteshaltungen, etwa dem Glauben an die Machbarkeit des Steins der Weisen, war auch hier vielfach der Wunsch der Vater des Gedankens. Man wollte an das Geisterreich glauben und auch an die Möglichkeit, mit diesem in Verbindung zu treten. Wenn dies aber möglich war, weshalb sollten dann nicht auch Telepathie oder Telekinese möglich sein? So oder so ähnlich dachten etliche Naturforscher von Rang, deren Versuche, die Realität des Spiritismus zu beweisen, nun erzählt werden sollen.
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Alfred Russel Wallace und das Geisterreich Einer dieser Forscher war der ohne Zweifel bedeutende Biologe und Naturforscher Alfred Russel Wallace (1823–1913). Wallace entwickelte unabhängig von Charles Darwin die Evolutionstheorie und ist der Begründer der Biogeographie. Gleichzeitig trat Wallace für die Schaffung eines demokratischen und sozial gerechten Staatswesens ein, das die Prinzipien der Evolution, d. h. die schrittweise Entwicklung neuer Lebensformen, beachten sollte. Hier ist, wie schon bei Nees v Esenbeck und anderen, wieder die sozialutopische Komponente des Geisterglaubens sichtbar. In einer Zuschrift an die Londoner „Times“, die am 4. Januar 1873 abgedruckt wurde, berichtet Wallace, dass er seit etwa 1865 eigene Untersuchungen durchgeführt habe, die „das Vorkommen von auf keine bekannte oder denkbare [!] physikalische Ursache zurückzuführenden Töne und Bewegungen“ ergeben hätten. Dass Wallace nicht nur bekannte sondern auch denkbare physikalische Ursachen ausschließt, sondert ihn von anderen Wissenschaftlern ab, indem dann nur die Möglichkeit außernatürlicher Eingriffe in die Diesseitswelt bleibt.
Abb. VII.19: Alfred Russel Wallace, Porträt vor tropischem Hintergrund. 398
Zur Widerlegung der Kritik von James Edmunds hielt Wallace vor der Dialektischen Gesellschaft einen Vortrag „Über vorgebrachte Beweisgründe gegen die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit von Wundern“. Zunächst greift Wallace darin die Form des Arguments an, mit dem Ungläubigkeit begründet wird. Dieses folge dem Schema: „Wenn ein Mensch mir erzählt, er komme von New York auf dem Telegraphendrahte, so glaube ich ihm nicht. Wenn fünfzig Menschen mir erzählten, sie kämen von New York auf Telegraphendrähten, so glaube ich Ihnen nicht. Wenn eine beliebige andere Zahl von Menschen mir dasselbe erzählten, so glaube ich ihnen nicht.“33
Die implizite Bedeutung sei, „dass es gewisse so absurde und so unglaubliche Dinge gibt, welche keine Summe von Zeugnissen einem gesunden Menschenverstande glaublich machen kann“. Daraus nun zu folgern, die von den Anhängern des Spiritismus bezeugten Vorgänge seien von dieser Art, sei jedoch ein totaler Trugschluss, der auf einem unbewiesenen Satz beruhe. Dieser Satz laute, so Wallace, „dass eine große Anzahl unabhängiger, ehrlicher, mit gesunden Sinnen begabter und vernünftiger Zeugen eine klare Tatsache bezeugen könnte, welche sich überhaupt niemals ereignete“. Diesen Satz zu beweisen, wäre einfacher als Wallace sich das dachte, denn die Abläufe von Massensuggestionen wurden im 20. Jahrhundert im Rahmen totalitärer Regime umfangreich in der Praxis getestet. Wallace verwechselt hier auch die Beweiskategorien. Die Auffindung eines schon lange begrabenen, aber nicht verwesten Leichnams in der Erde mag unerklärlich sein, sie beweist jedoch nicht, dass es sich dabei um einen Vampir handelt. Sie wird aber so interpretiert, wenn sie in einem psychosozialen Umfeld erfolgt, das eine solche Erklärung für vernünftig hält. Die Erklärung wird dann mit der Beobachtung als solcher verwechselt. Dazu kommt, dass es nicht Aufgabe der Kritiker und auch nicht ihre Absicht war, die subjektive Aufrichtigkeit der Zeugen zu bestreiten. Stattdessen wäre es die Aufgabe von Wallace gewesen, zu beweisen, dass ein von unabhängigen, ehrlichen, mit gesunden Sinnen begabten und vernünftigen Zeugen beschriebener Vorgang tatsächlich so wie beschrieben stattgefunden hat. Dies wäre jedoch nur möglich, wenn sich dieser Vorgang nach bestimmten festlegbaren Regeln hätte reproduzieren lassen. Mit einer scheinbar plausiblen Schlussfolgerung erreicht Wallace also die Umkehrung der Beweislast: Nicht die Gläubigen müssen etwas beweisen, sondern die Ungläubigen etwas widerlegen. Wallace sagt dies auch unumwunden: „Die Last des Beweises liegt Denen ob, welche behaupten, dass ein solcher Beweis [i. e. die Zeugenaussagen] möglicherweise trügerisch sein könnte.“34 33 34
Wittig – Aksakov, S. 90. Ebd., S. 92.
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Bei den Verfechtern des Spiritismus gab es keine Uneinigkeit über die Realität der unterschiedlichen Phänomene, sondern lediglich über deren Zustandekommen. Die meisten führten die Existenz nicht erforschter psychophysischer Kräfte als Erklärung an; einige, darunter Wallace, betrachteten übernatürliche Einflüsse als maßgeblich. Diese ließen sich grundsätzlich nicht naturwissenschaftlich erforschen, weshalb für Wallace auch die Zeugenaussagen eine so wichtige Rolle spielten.
William Crookes, der Geisterphotograph William Crookes (1832–1919) entstammte der Familie eines Schneiders und hatte die auch für die damalige Zeit ungewöhnlich große Zahl von 15 (jüngeren) Geschwistern. Mit 16 Jahren trat er ohne besondere Vorbildung in das von August Wilhelm Hofmann (1818–1892), einem der namhaftesten Chemiker seiner Zeit, geleitete Chemische Institut der „Royal School of Miners“ (das spätere „Royal College of Chemistry“) in London ein. 1850–1854 fungierte er als Assistent Hofmanns. Nach einem kurzen Intermezzo am „Radcliffe Observatorium“ in Oxford kehrte er nach London zurück und ließ sich als selbständiger Chemiker nieder, was einerseits für sein Selbstvertrauen, aber auch für seinen guten Kenntnisstand spricht. Mit Hilfe der von Robert Bunsen und Gustav Kirchhoff entwickelten Spektralanalyse entdeckte er 1861 das Element Thallium. Ferner befasste er sich intensiv mit elektrischen Gasentladungen und untersuchte bzw. beschrieb insbesondere die dabei auftretenden Kathodenstrahlen (von der Kathode ausgesandte Elektronen). Bei der Entdeckung der X-Strahlen 1895 kam ihm zwar Wilhelm Conrad Röntgen zuvor, er blieb aber dem Gebiet der Strahlenforschung treu und fand 1903 unabhängig von und zeitgleich mit Julius Elster (1854–1920) und Hans Geitel (1855–1923) die Szintillation, d. h. die durch das Auftreffen von α-Strahlen auf einem mit Zinksulfid beschichteten Schirm erzeugten Lichtblitze. Auf diesem Effekt beruhten alle Fernsehbildschirme bis zur Einführung der Flachbildschirme, die ab der letzten Jahrhundertwende auf den Markt kamen. 1863 wurde er zum Mitglied der Royal Society gewählt, einer der angesehensten Wissenschaftlervereinigungen der Welt, 1913–1915 war er sogar deren Präsident. Als Physikochemiker unzweifelhaft ausgewiesen, interessierte sich Crookes auch für die spiritistischen Erscheinungen, die durch die von der „Dialectical Society“ angestellten Versuche und deren kontrovers diskutierte Resultate in aller Munde waren. Er beschloss, sich auf bestimmte Phänomene zu konzentrieren, nämlich die Telekinese und die Geisterphotographie. Beide Untersuchungsreihen wurden in enger Zusammenarbeit mit dem bekannten Medium Daniel Dunglas Home (1833–1886) durchgeführt und in den Jahren 1871–1874 im „Quarterly Journal of Science“, einem anerkannten Fachjournal, veröffentlicht.
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Abb. VII.20: William Crookes; undatierte Phtpographie. Crookes konstruierte einen einfachen Apparat, der aus einem Mahagonibrett bestand, dessen eines Ende auf einer festen Unterlage ruhte, währen das freie Ende an einer Federwaage hing. Durch Auflegen der Fingerspitzen konnte Home das Brett am freien Ende so absenken, als würde man dort ein Gewicht von 3 bis 6 Pounds aufgelegt haben (1 Pound = 373 Gramm). Der Apparat wurde danach so modifiziert, dass Home gar keine direkte Verbindung mit dem Brett mehr hatte, sondern seine Hände nur in ein Wassergefäß tauchte, das auf dem aufliegenden Ende des Brettes befestigt war. Durch ein seitlich separat befestigtes Kupfersieb wurde verhindert, dass Home den Boden des Wassertopfs berühren konnte. An der Federwaage wurden ein Schreibzeiger und eine geschwärzte Glaswalze angebracht, die durch ein Uhrwerk langsam gedreht wurde. An der Walze konnten die Zeigerbewegungen aufgezeichnet werden. Auch mit dieser Anordnung konnte Crookes mehrfach deutliche Zeigerausschläge registrieren, die ihm durch die Einwirkung von Home ausgelöst zu sein schienen. Als Zugabe konnte Home noch auf 401
einer in einem Drahtkäfig befindlichen Ziehharmonika spielen, die er nur mit einer Hand hielt, und war so, dass das Instrument nach unten hing und die Tasten unten waren. Die Harmonika spielte zeitweise sogar ganz ohne eine menschliche Berührung. In seinen publizierten Berichten erweckt Crookes den Eindruck, als seien die beschriebenen Phänomene mehr oder weniger glatt und problemlos hervorgerufen worden. In den „Proceedings of the Society for Psychical Research“ veröffentlichte Crookes 1889, also 18 Jahre nach den Sitzungen mit Home, einen Teil der Laborprotokolle. Daraus ergibt sich ein etwas anderes Bild, sowohl hinsichtlich der Versuchsabläufe wie der Beobachtungsbedingungen. Nimmt man an, dass Crookes diejenigen Laborprotokolle publizierte, die seine Ansichten am ehesten unterstützten, kann man zumindest sagen, dass seine Versuchsreihen nicht unter einwandfreien Bedingungen erfolgten. Ein sehr schlagender Beweis für die Existenz der Geister und deren Verbindung zur Diesseitswelt wären Materialisationen. Wenn man einen Geist sehen und evtl. sogar berühren kann, ist ein Zweifel an seinem Vorhandensein kaum noch möglich. Die damals noch relativ neue Erfindung der Photographie sollte eingesetzt werden, um Geistererscheinungen zu belegen und einer dieser „Geisterphotographen“ war William Crookes. Als Medium wählte er in diesem Fall nicht Home, sondern die damals 15-jährige Florence Cook (ca. 1856–1904), mit der zusammen er über mehr als zwei Jahre Séancen abhielt. Bei diesen Sitzungen erschien häufig eine Geistergestalt, die sich selbst „Katie King“ nannte und die Materialisation einer Hofdame der Königin Anna Stuart (1665–1714) sein sollte. Auffallend ist, dass sich das Medium und die Geistererscheinung nie gleichzeitig zeigten; wenn der Geist der Katie King erschien, befand sich Cook in einem abgedunkelten und durch einen Vorhang abgetrennten Nebenzimmer. Beide sahen sich recht ähnlich, allerdings war King einen halben Kopf größer und hatte helleres Haar. Man darf sich diesen Geist nicht wie einen üblichen Geist vorstellen, als ätherisches, mehr oder weniger durchsichtiges Etwas, sondern als eine Gestalt, die von einem lebendigen Menschen nicht zu unterscheiden war. Crookes befühlte ihren Puls, lauschte ihrem Atem, schnitt eine Haarlocke ab und ging soweit, sie – mit ihrem Einverständnis – zu küssen. Die naheliegende Annahme, dass ein so menschlich-handgreiflicher Geist vielleicht gar kein Geist sei, sondern eben doch ein Mensch, lehnte Crookes ab. Er hielt es für ausgeschlossen, dass ein junges unschuldiges Mädchen fähig sei, ihn jahrelang zu hintergehen und zu täuschen. Lieber sah er es als plausibel an, dass Katie King eine Emanation des Mediums, ein Ergebnis ihrer psychischen Kraft sei. Wer oder was Katie King war, ist nicht mit letzter Sicherheit belegt. Allerdings steht fest, dass Florence Cook gelegentlich einer Vorführung bei der „British Association of Spiritualists“ als Katie King entlarvt wurde, was die Spiritisten verschämt aber zutreffend als „Pseudomaterialisation“ bezeichneten. Die Vermutung liegt indes recht nahe, dass Cook entweder selbst oder, was wahrscheinlicher ist, mit Hilfe einer zweiten Person den Geist „Katie King“ vortäuschte. Crookes fotografierte den „Geist“ auch, was naturgemäß nicht schwer war, wenn er sich anfassen und küssen ließ. Es 402
ist natürlich klar, dass eine solche Geisterphotographie vollkommen ohne Belang ist. Insgesamt waren die Untersuchungen Crookes’ wohl anfänglich von Skepsis geprägt. Wie andere vor und nach ihm erlag er aber relativ bald der persönlichen Faszination der Medien und dem Wunsch, das Beobachtete möge echt sein.
Albert v. Schrenck-Notzing Von anderer Art waren die Geisterphotographien, die Albert v. Schrenck-Notzing (1862–1929) in großer Zahl anfertigte. Er stammte aus vornehmer adeliger Familie und erwarb 1888 den medizinischen Doktorgrad mit einer Dissertation „zur therapeutischen Verwertung des Hypnotismus“. In seiner Münchner Arztpraxis stellte er, ganz in der Tradition des Tierischen Magnetismus, Versuche zur Mentalsuggestion an, worunter er die Telepathie verstand. 1885–1889 stand Schrenck-Notzing in engem Kontakt mit dem Münchner Philosophen und Spiritisten Carl du Prel (1839–1899), der sich mit den weltanschaulichen Implikationen des Spiritismus befasste. 1886 gehörte er zu den Gründern der in Bezug auf die gesellschaftliche und kulturelle Akzeptanz „okkulter“ Phänomene einflussreichen „Psychologischen Gesellschaft“, deren Schriftführer er jahrzehntelang war. 1889 spaltete sich diese Gruppe nach einem Zerwürfnis zwischen Schrenck-Notzing und du Prel, und letzterer gründete eine „Gesellschaft für Experimentalpsychologie“, die ungeachtet ihres Namens stärker spiritistisch orientiert war. In den folgenden Jahren trat Schrenck-Notzing mit zahlreichen Arbeiten auf dem Gebiet der forensischen Psychiatrie und Sexualpathologie sowie als Gerichtsgutachter hervor. Er wurde international bekannt als einer der bedeutendsten praktischen und theoretischen Vorkämpfer der Hypnosetherapie und fungierte 1896 als Generalsekretär des von ihm organisierten „III. Internationalen Kongresses für Psychologie“ in München. 1892 heiratete Schrenck-Notzing Gabriele Siegle (1872–1953), deren Vater Gustav eine chemische Fabrik besaß und zu den Gründern der BASF gehörte. Seine Gattin trat als Luftfahrtpionierin hervor. Durch die Heirat wurde Schrenck-Notzing wirtschaftlich unabhängig und war 1926–1929 sogar Mitglied des Aufsichtsrats der IG Farbenindustrie, damals das weltgrößte chemische Unternehmen. Schrenck-Notzing verlagerte sein Interesse mehr und mehr auf das Gebiet der Telekinese (Fernbewegung) und der Materialisationsphänomene und richtete in seinem Münchner Palais ein Privatlaboratorium ein, in dem er die berühmtesten Medien seiner Zeit untersuchte (u. a. Eusapia Palladino), wobei er zunehmend Wert auf objektive Kontrollbedingungen (z. B. Verwendung der Photographie) legte. Schrenck-Notzing stand mit zahlreichen interessierten Forschern in Verbindung, so seit 1894 mit dem französischen Physiologen Charles Richet (1850–1935), der uns schon als Mitglied der „Society for Psychical Research“ begegnet ist. Richet erhielt 1915 den Nobelpreis für Medizin für seine Forschungen zur „Ana403
phylaxie“ (Allergie). Wie Schrenck-Notzing war auch Richet sowohl Mediziner wie auch Parapsychologe. Er führte den Begriff Ektoplasma in die Parapsychologie ein, der in der Physiologie eine äußere Zellschicht bedeutet. Richet und Schrenck-Notzing bezeichneten damit eine feinstoffliche Substanz die bei in Trance befindlichen Medien aus den Körperöffnungen austreten sollte. Unter anderem mit dem „Materialisationsmedium Eva C.“ führte Schrenck-Notzing eine Reihe von Séancen durch, die großes öffentliches Aufsehen erregten. Dabei entstanden Photographien dieses „Ekto-“ oder „Teleplasmas“. Die Frage, wie diese Aufnahme zustandekamen und was darauf eigentlich zu sehen ist, wird bis heute kontrovers diskutiert. Man geht indes davon aus, dass Schrenck-Notzing keinen absichtlichen Betrug inszenierte, wie andere Geisterphotographen. Er könnte aber selbst Opfer von Machenschaften geworden sein. In der Weimarer Republik wurde Schrenck-Notzing zum einflussreichen, aber auch umstrittenen („Geisterbaron“), Vertreter der deutschen Parapsychologie (u. a. seit 1926 als Finanzier und Herausgeber der „Zeitschrift für Parapsychologie“). Die von ihm organisierten Séancen waren gesellschaftliche Ereignisse, an denen zahlreiche Wissenschaftler, Gelehrte und Literaten (so auch Thomas Mann) teilnahmen. Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die Auseinandersetzung zwischen Spiritisten, die davon ausgingen, dass es Geistwesen real gebe und man mit ihnen in Verbindung treten könne, und den Animisten, die die bei Séancen (angeblich) beobachteten Vorgänge keineswegs bezweifelten, dafür aber nicht „die Geister“ verantwortlich machten, sondern bisher unbekannte und näher zu erforschende innerpsychische Kräfte der lebenden Menschen, nicht unwesentlich zur Entwicklung der Psychologie beitrug.35 Immerhin lautete der Titel der Doktorarbeit von Carl Gustav Jung (1875–1961) im Jahr 1902 „Zur Psychologie und Pathologie sogenannter occulter Phänomene“. Seinen eigenen Angaben zufolge hatte er zwei paranormale Ereignisse beobachtet, nämlich das plötzliche Auseinanderbrechen eines Tisches ohne erkennbare Ursache und ein ebensolches Zerspringen eines Brotmessers. Außerdem besuchte Jung von 1894 bis 1899 Séancen seiner Cousine Helly Preiswerk, die in Trance mediale Fähigkeiten zu haben schien, sowie zwei Jahre lang, von 1895 bis 1897, die wöchentlichen Séancen eines „Tischrücker-Kreises“, der sich um ein 15-jähriges „Medium“ gebildet hatte. Die Verbindung von paranormalen Erscheinungen und der menschlichen Psyche kommt auch im Namen der schon erwähnten „Society for Psychical Research“ zum Ausdruck.
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Priska Pytlik, Okkultismus und Moderne, Diss. Regensburg 2003, S. 46 f.
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Abb. VII.21: Carl Gustav Jung. Photographie aus dem Jahr 1930.
Karl v. Reichenbach und die Od-Lehre Karl v. Reichenbach (1788–1869) stammte aus Stuttgart, sein Vater war dort Bibliothekar und Archivar. Schon als Gymnasiast sammelte Reichenbach Pflanzen, Insekten und Mineralien und machte physikalische Versuche. 1807 begann er ein Kameralistik-Studium in Tübingen, wurde 1808 demokratisch-revolutionärer Umtriebe verdächtigt und kurze Zeit inhaftiert; er setzte sein Studium danach nicht mehr fort. 1810 heiratete er und widmete sich fortan, dank der Mitgift seiner Frau, eigenen wissenschaftlich-technischen Studien. 1818 ließ sich Reichenbach in Hausach im Schwarzwald nieder und errichtete dort eine Holzverschwelungsanlage, die mit einem von ihm erfundenen neuen Verfahren eine wesentlich bessere Ausbeute an Holzkohle, Holzgeist (Methanol) und Holzteer ermöglichte. Wohl auch deshalb wurde er 1821 in Tübingen ohne re405
guläres Studium promoviert. Im selben Jahr übernahm Reichenbach die Leitung der Berg- und Hüttenwerke der Grafenfamilie Salm-Reifferscheid-Krautheim in Blansko bei Brünn (Mähren). Es gelang ihm, diese Industriebetriebe zu führenden Unternehmen des österreichischen Kaiserreichs zu entwickeln. Der von ihm durchgeführte Bau einer zwar innovativen, aber nicht profitablen Zuckerfabrik führte 1840 zu seinem Ausscheiden, doch Reichenbach war zu diesem Zeitpunkt bereits ein sehr wohlhabender Mann, der neben einigen Landgütern und Fabrikbeteiligungen auch das Schloss Reisenberg bei Wien erworben hatte. Reichenbach machte eine Reihe chemischer Entdeckungen, darunter das Paraffin (1830), dessen Eignung als Kerzenmaterial er erkannte, und das „Kreosot“, ein desinfizierend wirkendes Phenolgemisch. 1839 wurde er in den württembergischen Adelsstand erhoben.
Abb. VII.22: Karl von Reichenbach. Undatierte Lithgraphie. 406
Inspiriert durch die Erscheinungen des Polarlichtes, wandte sich Reichenbach seit 1844 der Erforschung der Wirkung von Magnetfeldern auf Menschen zu. Er vermutete, dass ähnliche, wenn auch sehr viel schwächere, Lichterscheinungen auch bei großen Eisenmagneten auftreten würden. Tatsächlich sah er selbst zwar nichts, aber bestimmte „sensitive“ Personen wollten schwache Lichter gesehen haben. Nicht genug damit, stellten diese Sensitiven auch Temperaturunterschiede zwischen den Polen fest und „Hypersensitive“ fühlten sich sogar von dem Magneten angezogen. Reichenbach nahm das alles für bare Münze und entwickelte seine Od-Lehre, wonach es eine universelle, naturwissenschaftlich noch nicht erkannte bzw. erklärbare Od-Kraft gebe, die u. a. auch für telekinetische Erscheinungen verantwortlich sein und bei der Materialisation von Geistern eine Rolle spielen sollte. Sein Werk „Der sensitive Mensch und sein Verhalten zum Ode“ erschien 1854/55. Von der etablierten Wissenschaft wurde das Od (der Name ist eine Schöpfung Reichenbachs, der der Ansicht war, man solle neue Kräfte mit einfachen Ausdrücken bezeichnen) nicht anerkannt, was ihn ziemlich verbitterte. Zu diesen persönlichen Enttäuschungen kamen große wirtschaftliche Verluste. Reichenbach musste sein Schloss verkaufen und lebte zuletzt zurückgezogen in Leipzig.
Friedrich Zöllner und die Vierte Dimension Bemühten sich die namhaften Spiritisten üblicherweise darum, die Phänomene der Wechselwirkung zwischen den „Geistern“ und der normalen Welt als physikalisch nachweisbare Realität zu belegen, ging der Leipziger Astrophysiker Karl Friedrich Zöllner (1834–1882) einen Schritt weiter. Ihm reichte es nicht, zu beweisen, dass es parapsychische Vorgänge objektiv gab – das betrachtete er im Wesentlichen als gesichert – sondern um eine physikalische Erklärung ihrer Existenz. Von sehr streitbarem Charakter, verband Zöllner stets naturwissenschaftliche Forschung mit philosophischen Deutungsversuchen. Zöllner stammte aus Berlin, wo er das Gymnasium absolvierte und anschließend auch das Studium der Physik aufnahm. Schon als Student publizierte er erste eigene Arbeiten zur Photometrie; er beendete sein Studium in Basel und richtete sich danach ein Privatlaboratorium in Schönweide bei Köpenick ein. Er befasste sich weiterhin intensiv mit photometrischen Untersuchungen und legte 1861 ein umfangreiches Werk „Grundzüge einer allgemeinen Photometrie des Himmels“ vor. Darin werden Verfahren und Geräte zur Messung der Lichtstärke von Sternen ebenso behandelt wie die physiologisch-physikalischen Grundlagen des Erkennens von Licht- und Farbunterschieden durch das Auge. 1862 trat Zöllner eine Stelle als „Wissenschaftlicher Hilfsarbeiter“ (so nannte man damals einen Assistenten) an der Sternwarte der Universität Leipzig an, habilitierte sich 1865 und erhielt noch im selben Jahr eine außerordentliche Professur. Anlässlich des 300. Geburtstages von Johannes Kepler erschien 1871 Zöllners Traktat „Über die Natur der Cometen. Beiträge zur Geschichte und Theorie der 407
Erkenntnis“. Diese Schrift erregte viel Aufsehen, da Zöllner darin die These vertritt, dass viele der wichtigsten Entdeckungen der Naturwissenschaften bereits vorher von der Philosophie mehr oder minder exakt vorhergesagt worden seien. Ähnlich wie Crookes war auch Zöllner ein anerkannter Naturwissenschaftler, weshalb seine „psychophysikalischen“ Experimente mehr Beachtung in wissenschaftlichen Kreisen fanden als jene wissenschaftlicher Laien.
Abb. VII.23:Karl Friedrich Zöllner. Undatierte Zeichnung. Zöllner interessierten hauptsächlich zwei paranormale Erscheinungen, die sog. Psychische Schrift und die Durchdringung von Materie durch andere materielle Objekte ohne gegenseitige Beschädigung oder Veränderung. Die Experimente Zöllners begannen im Dezember des Jahres 1877 und wurden bis zu seinem Tod fortgesetzt. Wie alle anderen Spiritismus-Erforscher, bediente sich auch Zöllner diverser Medien, namentlich arbeitete er mit dem seinerzeit sehr bekannten Henry Slade (1835–1905) zusammen. Jener Henry Slade durchlief eine recht wechselwolle Karriere. Er wurde im Staat New York geboren und erregte schon als junger Mann Aufmerksamkeit durch seine angebliche Fähigkeit, Objekte ohne Berührung zu bewegen. Wirklich bekannt 408
wurde er aber als Medium für die Psychische Schrift. Darunter versteht man das Beschreiben eines Blattes oder einer (Schiefer)tafel durch einen Schreibstift oder Griffel ohne dass derselbe von einer menschlichen Hand geführt wird. Ein solcher Vorgang wurde erstmals 1857 von dem livländischen Baron Ludwig von Güldenstubbe und dessen Schwester Julie beschrieben. Der Baron war nach eigener Aussage selbst ein Medium und er beobachtete, dass auf Papier, das er zusammen mit einem Bleistift in ein verschlossenes Kästchen gelegt hatte, seltsame Zeichen erschienen. Später fand er heraus, dass man auch ohne Zugabe eines Schreibgerätes beschriebene Blätter erhielt. Mit seiner Schwester fertigte er im Laufe der Zeit tausende solcher Psychogramme durch Auslegen von Papier an unterschiedlichen Orten (u. a. im Antikensaal des Louvre, im British Museum oder in der Westminster-Kathedrale) an. Die von den Geschwistern erzielten Resultate sorgten für erhebliches Aufsehen, konnten aber nie reproduziert werden. Slade benutzte im Prinzip dieselbe Methode wie die Güldenstubbes, er forderte aber stets das Vorhandensein eines Bleistifts oder Griffels. Slade kam im Juli 1876 nach London und veranstaltete dort aufsehenerregende Séancen. Im September geriet er in ernsthafte Schwierigkeiten, weil ein Teilnehmer seiner Séancen bemerkte, dass die Schiefertafel bereits beschrieben war, ehe das Medium Kontakt zu den Geistern aufgenommen hatte. Slade wurde daraufhin zu drei Monaten Haft mit harter Arbeit verurteilt, konnte aber in der Berufung wegen Formfehlern im Verfahren einen Freispruch erreichen und verließ daraufhin umgehend das Land. Er verbrachte die folgenden Monate auf dem Kontinent und kam im Herbst 1877 nach Berlin, wo ihm die allgemeine Aufmerksamkeit ebenfalls sicher war. Im November 1877 besuchte er Zöllner in Leipzig und beide experimentierten zusammen bis zum Juni 1878. Die Versuche überzeugten Zöllner vollständig von den Fähigkeiten Slades und darüber hinaus von der Existenz von Geistwesen, d. h. intelligenten Geschöpfen außerhalb der physikalisch normalen Welt, die mit dieser aber unter geeigneten Umständen in Verbindung treten konnten. Leider verwendete Zöllner weniger Mühe auf die präzise Darlegung seiner mit Slade angestellten Versuche, als auf polemische Angriffe auf alle Fachkollegen, die der Existenz paranormaler Erscheinungen misstrauten und annahmen, Zöllner sei das Opfer eines fortgesetzten Betrugs. Der Ärger Zöllners ist in gewisser Weise verständlich, denn seine Kritiker unterstellen ihm de facto, dass er dumm oder naiv genug sei, sich andauernd übers Ohr hauen zu lassen. Andererseits schmälern seine Polemiken den Wert seiner Angaben, weil sie zeigen, dass Zöllner nicht mehr in der Lage war, objektiv zu urteilen. Er hatte sich festgelegt und verteidigte sich (und Slade, oder andere Medien) nicht aus sachlichen, sondern aus persönlichen Gründen. Zöllner ging zu einer weiteren Gruppe von Versuchen über, in denen es darum ging, Knoten in ein Seil zu machen, dessen Enden verbunden sind, das also ein geschlossenes Band darstellt. Wenn man in eine offene Schnur von endlicher Länge einen einfachen Knoten machen will, so gelingt dies nur, wenn man ein Ende der Schnur von einer ebenen zweidimensionalen Fläche abhebt. Betrachtet man die Schnur idealisiert als zweidimensional, so kann man nur durch 409
einen Durchgang durch die dritte Dimension einen Knoten fabrizieren bzw. diesen Knoten wieder lösen. Man mache einen einfachen Knoten in ein Stück Schnur und verbinde dann die Enden der Schnur: Es ist jetzt unmöglich, den Knoten zu lösen oder einen weiteren zu knüpfen. Ebenso wie es zweidimensionalen Wesen unmöglich wäre, einen normalen Knoten in ein offenes Stück Schnur zu machen, ist es dreidimensionalen Wesen unmöglich einen solchen Knoten in einem geschlossenen Band zu knüpfen oder zu lösen. Für räumlich vierdimensionale Wesen wäre dies hingegen ebenso einfach, wie es für uns dreidimensionale Wesen ist, ein offenes Stück Schnur zu verknoten. Dies war in etwa der Gedankengang Zöllners bei seinen einschlägigen Versuchen mit Slade: „Dieser Versuch – einen Knoten an einer endlosen Schnur zu schlagen – ist im Laufe von wenigen Minuten in Leipzig den 17. Dez. 1877, vorm. 11 Uhr, in Gegenwart des Amerikaners Henry Slade gelungen“ stellt Zöllner in seinen „Wissenschaftlichen Abhandlungen“ fest, einem vierbändigen Opus, in dem er 1878–1881 alle seine Arbeiten publizierte. Da es physikalisch unmöglich ist, dass ein Mensch dieses Kunststück zuwege bringt, kann auch kein Trick vorliegen, argumentierte Zöllner. Dies ist allerdings nur richtig, wenn sichergestellt ist, dass keine Vertauschung mit einer gleich aussehenden, vorher verknoteten Schnur möglich ist. Dies konnte Zöllner jedoch nicht sicherstellen; überdies konnte Slade dieses Kunststück auch nur während seiner Zeit bei Zöllner ausführen. Dieser hatte schon 1871 in seiner Abhandlung „Über die Natur der Cometen“ gefordert, eine Physik des vierdimensionalen Raums zu entwickeln. Mit den Ergebnissen seiner Versuche mit Slade glaubte er, die Tür zu dieser neuen Physik aufgestoßen zu haben. Er stellte die Hypothese auf, dass es sich bei den „Geistern“ um Wesen handle, die mit Intelligenz begabt seien und in einem vierdimensionalen Raum lebten. (Dies ist nicht zu verwechseln mit dem vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum, als das wir unser Universum derzeit begreifen – hier bestehen drei Raum-Dimensionen und die Zeit, Zöllner ging von vier Raum-Dimensionen aus.) Diese vierdimensionalen Geschöpfe könnten mit uns in Verbindung treten und genau dies passiere bei den Séancen. Wie dies vonstattengehe, sei noch zu erforschen. Die gesamten paranormalen Phänomene sind Zöllner zufolge nichts anderes als die Aktivitäten besagter vierdimensionaler Wesen und der Spiritismus im Grunde eine Disziplin der Physik. Damit bildet Zöllner den Höhe- und Schlusspunkt der Bemühungen, Spiritismus und Paraphysik mit naturwissenschaftlichen Experimenten zu erforschen bzw. nachzuweisen. Für ihn war das Ziel, das Rätselhafte und Unerklärliche aus dem Bereich des Magischen oder Numinosen herauszulösen und der rationalen Weltsicht einzugliedern, nun erreicht und ein neues Forschungsfeld eröffnet, in dem sich ernsthafte Naturwissenschaftler betätigen würden und kein Platz für esoterisch-mystische Schwärmerei mehr bliebe. Aus dieser Perspektive steht Zöllner am Ende einer Kette naturwissenschaftlich gebildeter Gelehrter, die mit Swedenborg beginnt, mit Franz Anton Mesmer einen ersten Höhepunkt erreicht, und über eine ganze Reihe hervorragender Intellektueller bis zu ihm führt.
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Daher sollte man Zöllner auch nicht einfach als Spinner abtun, wie es zu seinen Lebzeiten vielfach geschah. Immerhin hatte er den ernsthaften Versuch unternommen, physikalisch unerklärliche Phänomene ohne Rückgriff auf irrationale Erklärungsmuster zu deuten und hatte sich innerhalb seiner Deutungsebene konsequent wissenschaftlich verhalten. Auch erkannte er lange vor Albert Einstein und Max Planck, dass die klassische Physik eventuell nicht ausreicht, um die physische Welt zu beschreiben. Sein Problem bestand darin, dass er viel zu leicht die Realität der von den Medien erzeugten Erscheinungen anerkannte. Die oben vorgestellten Wissenschaftler waren übrigens nicht die Einzigen, die sich mit entsprechenden Forschungen befassten. So beschäftigte sich beispielsweise auch der russische Chemiker Alexander Butlerow (1828–1886) intensiv mit spiritistischen Untersuchungen. Mit Zöllner waren zeitweise der Physiker Wilhelm Eduard Weber (1804–1891), dem grundlegende Erkenntnisse über den Elektromagnetismus zu verdanken sind, und der Sinnesphysiologe und Begründer der Psychophysik Gustav Theodor Fechner (1801–1887) an den Experimenten beteiligt. Alle diese hervorragenden Wissenschaftler haben sich überzeugen lassen, dass es Dinge wie Teleportation, Telekinese, Telepathie oder Hellsehen tatsächlich gibt oder doch geben könnte. Man würde es sich zu einfach machen, wenn man schlicht feststellte, diese ebenso klugen wie gebildeten Forscher hätten sich eben täuschen lassen. Die Frage lautet vielmehr, weshalb sich geschulte Experimentatoren derart in die Irre führen lassen konnten. Eine plausible Antwort darauf gibt es wohl nicht, aber man versteht ihre Verhaltensweise bestimmt besser, wenn man das zeitgenössische geistige Umfeld einbezieht. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war eine Zeit des Glaubens an das unbegrenzte Erklärungspotential der Naturwissenschaften, in denen (noch) eindeutige Kausalitäten und klare Gesetze jeden Zufall ausschlossen und Unerklärbares als Beleidigung des menschlichen Verstandes gewertet wurde. Und in der Tat wurden quasi ständig neue, höchst bemerkenswerte Entdeckungen gemacht, grundlegende Theorien geformt, entstanden ganz neue Wissenszweige. Zudem entwickelte sich die Kenntnis des Menschen selbst, seines Organismus und seiner Psyche, stürmisch fort. Wenn in einem solchen geistig-psychologischen Umfeld ein von sich selbst und der Wissenschaft überzeugter Naturforscher erlebt, dass sich Dinge scheinbar von selbst bewegen oder Schriftzüge wie von Geisterhand entstehen, wird er nicht einfach akzeptieren, dass hier Unerklärliches vorgeht. Er wird zunächst versuchen zu prüfen, ob er hinters Licht geführt wurde, wenn er dies aber ausschließen zu können meint, wird er nach einer in seinen Augen plausiblen Erklärung suchen. Dieser Wissenschaftler wird sich auch nicht gerne vorwerfen lassen, er sei von einem betrügerischen Medium ausgetrickst worden, sondern eher seine Kritiker der Unwissenheit oder Verbohrtheit bezichtigen. Bis heute andauernde Versuche, Phänomene wie Telepathie oder Telekinese nachzuweisen, benützen rein statistische Verfahren und zählen nicht mehr zum Bereich naturwissenschaftlicher Forschung. Die Existenz von in einem Zwischenreich lebenden Geistwesen, wird nur noch von Esoterikern und Okkultisten behauptet. 411
Sir Arthur Conan-Doyle, der Feendetektiv Schließlich soll noch ein Mann vorgestellt werden, der praktisch jedem Leser durch seine literarische Schöpfung, den Meisterdetektiv Sherlock Holmes, bekannt sein dürfte, der britische Arzt und Schriftsteller Sir Arthur Conan Doyle (1859–1930). Doyle stammte aus Edinburgh und war nach seinem Medizinstudium einige Zeit als Schiffsarzt unterwegs, ehe er sich 1882 im südenglischen Portsmouth als praktischer Arzt niederließ. 1887, mit 28 Jahren, veröffentlichte er die erste Geschichte des Detektivs Sherlock Holmes und seines Freundes Dr. Watson. Die von Doyle in seinen Romanen beschriebenen Methoden einer wissenschaftsbasierten Kriminalistik, beispielsweise die Daktyloskopie, waren den Polizeimethoden ihrer Zeit voraus. 1890 gab Doyle seine Arztpraxis auf und übersiedelte nach London, wo er sich fortan seiner nur noch seiner schriftstellerischen Tätigkeit widmete. 1896 nahm er als Freiwilliger in Südafrika am sogenannten Zweiten Burenkrieg teil. In seinem erfolgreichen Propagandawerk „The Great Boer War“ (1900) verteidigte er die britische Taktik der Verbrannten Erde, wofür er 1902 als Sir Arthur Conan Doyle in den Adelsstand erhoben wurde. Im Ersten Weltkrieg fiel sein Sohn Kingsley, was Doyle zutiefst erschütterte und ihn dazu veranlasste, sich dem Spiritismus zuzuwenden. Er hoffte, auf diesem Weg mit seinem toten Sohn wieder in Verbindung treten zu können.
Abb.VII.24: Arthur Conan-Doyle. Photographie aus dem Jahr 1913. 412
Doyle war überzeugt davon, dass sich bei den Séancen tatsächlich übernatürliche, rational nicht erklärbare Vorgänge abspielten und hielt bis an sein Lebensende am Glauben an Ahnengeister und paranormale Erscheinungen fest. Insbesondere beschäftigte ihn die Geisterphotographie und daher spielte er eine tragende Rolle in der Affäre der Cottingley-Feen. Im Sommer 1917 war die 9-jährige Frances Griffiths zu Besuch bei ihrer 16-jährigen Cousine Elsie Wright in Cottingley, einem nordenglischen Dorf in der Grafschaft West Yorkshire. Durch den Garten der Wrights floss der kleine Cottingley Creek, an dem die Mädchen auffallend viel Zeit verbrachten. Sie berichteten, sie hätten dort mehrere Feen gesehen und präsentierten einige Tage später eine Aufnahme, die sie mit einer von Elsies skeptischem Vater Arthur Wright geliehenen Kamera gemacht hatten. Darauf war deutlich Frances zu sehen, wie sie von fünf Feen in Gestalt kleiner Menschen mit schmetterlingsähnlichen Flügeln und luftigen Kleidern umringt wurde. Zwei Monate später zeigten die Kinder eine zweite Aufnahme vor, die Elsie mit einem ebenfalls geflügelten Zwerg mit spitzem Hut zeigten. 1920 fanden Abzüge der Fotos ihren Weg zu Edward Louis Gardner (1869–1969), einem prominenten Mitglied der englischen Sektion der Theosophischen Gesellschaft und führendem „Geisterkundler“. Gardner legte die Bilder dem Fotografie-Experten Harold Snelling zur Prüfung vor. Dieser fertigte professionelle Abzüge an (was spätere Untersuchungen komplizieren sollte) und erklärte die Aufnahmen für echt: „Diese Platte ist nur einmal belichtet worden … Diese tanzenden Gestalten bestehen weder aus Papier noch aus irgendeinem Gewebe; sie sind nicht auf einen photographierten Hintergrund gemalt – aber was mich am meisten überzeugt, ist, dass all diese Gestalten sich während der Belichtung bewegt haben.“36
Daraufhin wurden von den Aufnahmen Dias angefertigt und bei Vorträgen gezeigt. Auf diesem Weg gelangten die Bilder auch zur Kenntnis von Sir Arthur Conan Doyle, der sich mit Gardner in Verbindung setzte. Beide beschlossen, die Firma Kodak mit einem zweiten Gutachten zu beauftragen; dieses fiel unentschieden aus; der Gutachter bezweifelte zwar die Echtheit der Aufnahmen („Da es schließlich keine Feen gibt, müssen die Aufnahmen irgendwie gefälscht worden sein“), war aber außerstande, eine konkrete Fälschung nachzuweisen, auch wenn er eine technisch plausible Erklärung für eine mögliche Manipulation fand. Conan Doyle hingegen war davon überzeugt, einen Beweis für die Existenz übernatürlicher Mächte in der Hand zu haben. Daraufhin stattete Gardner der Familie mehrere Besuche ab und lieh den Kindern eine Kamera mit Stativ und 24 markierten Fotoplatten, woraus drei weitere Aufnahmen hervorgingen. 36
Zitiert nach dem Wiki-Artikel https://de.wikipedia.org/wiki/Cottingley_Fairies.
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1920 veröffentlichte Conan Doyle in der Weihnachtsausgabe seines Stammblattes „The Strand Magazine“ einen Artikel unter dem Titel „Epochales Ereignis – Feen photographiert“. Der Artikel zeigte und beschrieb die ersten beiden Bilder und markierte den Beginn einer turbulenten Kontroverse. Bis 1924 ließ Doyle noch weitere Artikel folgen und veröffentlichte auch die restlichen Bilder. Vielfach wurde nun an der geistigen Gesundheit des berühmten Autors gezweifelt. 1921 sandte Gardner einen gewissen Geoffrey Hodson, seines Zeichens Medium und Spiritist, nach Cottingley, der von gesichteten Feen berichtete, aber keine fotografisch festzuhalten vermochte. Conan Doyle ließ sich vom Spott und der Ungläubigkeit der kritischen Mehrheit nicht beeindrucken und veröffentlichte 1922 das Buch „The Coming of the Fairies“. Darin kombinierte er die Geschichte der Fotografien und ihrer Entdeckung mit einer Sammlung von Feensichtungen und Feengeschichten aus aller Welt.
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Literaturhinweise Aksakow, Alexander (Hg.): Bericht über den Spiritualismus von Seiten des Comité’s der Dialektischen Gesellschaft zu London etc., 3 Tle., übers. v. G. C. Wittig, Leipzig 1875. Cranston, Sylvia: Leben und Werk der Helena Blavatsky, Begründerin der Theosophie, Satteldorf 1995 Drury, Nevill: Magie. Vom Schmanismus und Hexenkult bis zu den Technoheiden, Aarau 2003. Grässe, Georg Theodor: Sagenbuch des Preußischen Staats, Dresden 1866–1871. Lecouteux, Claude: Die Geschichte der Vampire, Metamorphose eines Mythos, Düsseldorf und Zürich 2001. Lehmann, Alfred: Aberglaube und Zauberei von den ältesten Zeiten an bis in die Gegenwart, Stuttgart 1898. Sawicki, Diethard: Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770–1900, Paderborn 2002. Silberschmidt, Abraham und Irina (Hg.): Augustinus Calmet, Gelehrte Verhandlung der Materi, von Erscheinungen der Geisteren, Und denen Vampiren in Ungarn und Mähren, Augsburg 1751, bearbeitet und mit Anmerkungen versehen, Rudolstadt 2006. Soldan, Wilhelm G. und Heppe, Heinrich: Geschichte der Hexenprozesse. Aus den Quellen dargestellt, Stuttgart 1843, 1879, erw. 1911, Nachdruck 1960 u. ö. Stuckrad, Kocku v.: Was ist Esoterik? Kleine Geschichte des geheimen Wissens, München 2004. Sturm, Dieter und Völker, Klaus: Von denen Vampiren oder Menschensaugern. Dichtungen und Dokumente, München 1994.
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Abbildungsnachweise Abb. VII.1: akg-images /British Library Abb. VII.2: akg-images Abb. VII.3: akg-images /British Library Abb. VII.4: akg-images Abb. VII.5: akg-images Abb. VII.6: akg-images /BODLEIAN MUSEUM/OXFORD UNIVERSITY IMAGES/SCIENCE PHOTO LIBRARY Abb. VII.7: akg-images /Pictures From History Abb. VII.8: akg-images Abb. VII.9: akg-images /Universal Images Group /SeM Abb. VII.10: wikkimedia commons /Marquard Fidel Dominikus Wocher Abb.VII.11: Heritage Images /Fine Art Images /akg-images Abb.VII.12: akg-images Abb.VII.13: akg-images Abb.VII.14: akg-images Abb.VII.15: akg-images /British Library Abb.VII.16: Quagga Media UG /akg-images Abb.VII.17: akg-images /Archive Photos Abb.VII.18: akg-images Abb.VII.19: akg-images /Erich Lessing Abb.VII.20: akg-images /Science Photo Library/SHEILA TERRY Abb.VII.21: akg-images
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Abb. VII.22: akg-images /Science Source Abb. VII.23: Quagga Media UG /akg-images Abb. VII.24: akg-images /Archive Photos
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Epilog Damit endet dieser Überblick über die Kulturgeschichte des magischen Denkens. Mit dem Abflauen des Spiritismus verschwand der Glaube an übersinnliche Phänomene, geisterhafte Zwischenreiche und gespenstische Kontakte mit Toten aus dem öffentlichen Bewusstsein und folgte so dem Glauben an Dämonen und Kobolde oder die naturmagischen Fähigkeiten der Alchemisten und Astrologen ins kulturelle Abseits. Dennoch sind alle diese Vorstellungen keineswegs verschwunden – sie fristen nur ein Schattendasein in den zahlreichen „esoterischen“ Winkeln des Internets, oder in mehr oder minder geheim agierenden Zirkeln von „Neuheiden“, selbsternannten Hexen oder Satanskulten. Diese kulturelle „Unterwelt“ würde eine eigene Untersuchung erfordern, die aber eher von Soziologen und Psychologen als von Historikern zu leisten wäre. Die Tatsache, dass viele Menschen in der westlichen Welt immer noch an allerlei „Dinge zwischen Himmel und Erde“ glauben, obwohl keinerlei Anhaltspunkte für deren Vorhandensein existieren, beweist ein tiefgreifendes Unbehagen mit der kalten Vernunft der Aufklärung. Niemand lebt gerne in einer Welt, die letztlich von quantenphysikalischen Zufallsprozessen bestimmt wird. Weil das so ist, und weil die Aufklärung bzw. das von ihr geprägte moderne Weltbild die Frage nach dem Sinn der Schöpfung nicht nur offenlässt, sondern die Frage als prinzipiell irrational ansieht, wird es auch in Zukunft Menschen geben, die Trost und Halt im magischen Denken finden. Dies ist selbstverständlich legitim und kein Problem, solange daraus keine Heilslehre entsteht, die Persönliche Rechte und Freiheiten einschränkt. Eine solche Gefahr ist durchaus vorhanden, wie zahlreiche esoterisch-religiöse Sekten beweisen, die ihre Mitglieder in eine psychische Abhängigkeit von den jeweiligen Führern bringen, die bis zur völligen Selbstaufgabe reichen kann. Diese Rückgriffe auf das magische Denken sind nicht zu verwechseln mit religiösem Fundamentalismus, etwa im Islam oder dem Christentum. Diese resultieren zwar auch aus einem tiefreichenden Unbehagen mit der Welt an sich, verbinden dieses aber mit dem Anspruch, die politischen, sozialen und ökonomischen Strukturen gewaltsam zu verändern. Hier reicht das Spektrum von militanten Abtreibungsgegnern oder gewaltbereiten Umweltschützern bis zu Selbstmordattentätern. Diese Gruppen treten zwar für gesamtgesellschaftliche Ziele ein, blenden aber konkurrierende Zielsetzung einfach aus und befürworten militantes Vorgehen. Das Kernproblem der modernen Welt scheint der Zerfall von gesellschaftlichen Organisationen mit sozialer Bindungswirkung zu sein. Nach dem Motte „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“ läuft ein Prozess der extremen Individualisierung und der Fokussierung auf die jeweils eigenen Interesse ab, der keine Loyalität zum Ganzen der Gesellschaft mehr kennt. Diese 418
Tendenz wird nicht – wie in der Vergangenheit – durch allgemein anerkannte moralische Instanzen, etwa die christlichen Kirchen, aufgefangen. Wir haben es unverkennbar mit einer Krise der Moderne zu tun, die zur Auflösung demokratischer Strukturen, zum Zerfall ganzer Gesellschaften und zur fortschreitenden Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen führen kann bzw. schon geführt hat. Diese Krise wird sich bestimmt nicht durch einen nostalgischen Rückgriff auf die Vergangenheit überwinden lassen. Der Satz „Früher war alles besser“ stimmt nicht, aber „früher“ war Vieles anders und Manches vielleicht wirklich besser. Wir müssen die mit dem „Ausstieg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“, den Kant so hoffnungsvoll begrüßte, verbundene individuelle und gesellschaftsumgreifende Eigenverantwortung schon auf uns nehmen. Einen Weg zurück gibt es nicht. Genauso sicher ist aber, dass auch das magische Denken in einer jeweils zeitangepassten Form weiter bestehen wird. Auch diese Geschichte wird, wie alle Geschichte(n), nicht enden.
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