Zwischen Himmel und Erde: Körperliche Zeichen der Heiligkeit 3515102833, 9783515102834

Heiligkeit ist heute zumeist mit einer moralisch vorbildlichen Lebensführung verbunden; ihre Konstruktion mittels physis

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
VORBEMERKUNG
1. MODELLE UND IHRE MODIFIKATION – AUSDRÜCKLICHKEIT DER ZEICHEN
EKSTASE, DAS ZENTRALE KÖRPERLICHE PHÄNOMEN DER MYSTIK
DIE STIGMATA DES FRANZISKUS VON ASSISI
EKSTASE UND POLITISCHE MISSION. DIE STIGMATA DER CATERINA VON SIENA (1347–1380)
MYSTIKERINNEN DES 19. JAHRHUNDERTS – EIN NEUER TYPUS?
2. DIMENSIONEN DES KÖRPERINNEREN – EINDRINGLICHKEIT DER ZEICHEN
INNERE SCHAU UND/ODER NABELSCHAU – BLICKE AUF DIE NAHRUNGSABSTINENTEN DER FRÜHEN NEUZEIT
HERZENSWÄRME, HERZENSBLUT UND HERZELEID. INTERDISZIPLINÄRE „KARDIOLOGIE“ IM ROM DER GEGENREFORMATION
SCHMERZEN ALS (UN)SICHTBARE ZEICHEN VON HEILIGKEIT: STIGMATA IM TEXT (FRANKREICH, 1630–1730)
3. ZEICHEN DER HEILIGKEIT HEUTE – ETHNOLOGISCHE PERSPEKTIVEN
STIGMATISATION, STIGMATISIERUNG UND EKSTASE IM PALERMO DER GEGENWART. PADRE PIO UND DIE SOZIALPOLITISCHE UND RELIGIÖSE ANEIGNUNG DES HEILIGEN
INCORRUPTIO CORPORIS INDICAT NOBIS SANTAM VITAM PERENNEM: DIE MUMIEN VON VODNJAN/DIGNANO UND IHRE INSTRUMENTALISIERUNG
4. FROMME LEIBER – MEDIZINISCHE PERSPEKTIVEN
MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN EINER RETROSPEKTIVEN DIAGNOSE
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Zwischen Himmel und Erde: Körperliche Zeichen der Heiligkeit
 3515102833, 9783515102834

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Zwischen Himmel und Erde Körperliche Zeichen der Heiligkeit Herausgegeben von Waltraud Pulz

Geschichte Franz Steiner Verlag

Beiträge zur Hagiographie 11

Waltraud Pulz (Hg.) Zwischen Himmel und Erde

Beiträge zur Hagiographie -----------------------------------------herausgegeben von Dieter R. Bauer, Klaus Herbers, Volker Honemann und Hedwig Röckelein Band 11

Zwischen Himmel und Erde Körperliche Zeichen der Heiligkeit Herausgegeben von Waltraud Pulz in Zusammenarbeit mit Jan Marco Sawilla und Dieter R. Bauer

Franz Steiner Verlag

Umschlagbild: Antonio del Pollaiolo, Elevation der Magdalena mit Engelskommunion (um 1460), Staggia Senese, Museo della Pieve (Wikipedia, URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Staggia_Senese)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 978-3-515-10283-4 Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2012 Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Printed in Germany

INHALTSVERZEICHNIS

Waltraud Pulz Vorbemerkung ...............................................................................................

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1. MODELLE UND IHRE MODIFIKATION – AUSDRÜCKLICHKEIT DER ZEICHEN Peter Dinzelbacher Ekstase, das zentrale körperliche Phänomen der Mystik ............................... 17 Ulrich Köpf Die Stigmata des Franziskus von Assisi ........................................................ 35 Jörg Jungmayr Ekstase und politische Mission. Die Stigmata der Caterina von Siena (1347–1380) ............................................................. 61 Nicole Priesching Mystikerinnen des 19. Jahrhunderts – ein neuer Typus? ............................... 79

2. DIMENSIONEN DES KÖRPERINNEREN – EINDRINGLICHKEIT DER ZEICHEN Waltraud Pulz Innere Schau und/oder Nabelschau – Blicke auf die Nahrungsabstinenten der Frühen Neuzeit ................................................ 101 Catrien Santing Herzenswärme, Herzensblut und Herzeleid. Interdisziplinäre „Kardiologie“ im Rom der Gegenreformation............................................... 123 Xenia von Tippelskirch Schmerzen als (un)sichtbare Zeichen von Heiligkeit: Stigmata im Text (Frankreich, 1630–1730) .................................................................. 145

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Inhaltsverzeichnis

3. ZEICHEN DER HEILIGKEIT HEUTE – ETHNOLOGISCHE PERSPEKTIVEN Annemarie Gronover Stigmatisation, Stigmatisierung und Ekstase im Palermo der Gegenwart. Padre Pio und die sozialpolitische und religiöse Aneignung des Heiligen ........................................................... 167 Waltraud Pulz Incorruptio corporis indicat nobis santam vitam perennem: Die Mumien von Vodnjan/Dignano und ihre Instrumentalisierung .............. 181

4. FROMME LEIBER – MEDIZINISCHE PERSPEKTIVEN Michael Stolberg Möglichkeiten und Grenzen einer retrospektiven Diagnose.......................... 209

VORBEMERKUNG Körperliche Zeichen der Heiligkeit – das befremdet, da Heiligkeit heute im Wesentlichen mit einer moralisch vorbildlichen Lebensführung verknüpft wird. Körperliches und Geistig-Geistliches erscheinen zumeist getrennt. Der bereits in der Antike formulierte und durch Descartes verschärfte Leib-Seele-Dualismus erschwert ein Verständnis für Konzeptionen, in denen physische und spirituelle Zustände eine Einheit bilden, für Denk- und Verhaltensformen, in denen über den Körper Zugang zum Göttlichen gesucht wird. Somatische Erscheinungen können vor diesem Hintergrund als Gnadenerweise begriffen werden und Heiligkeit manifestieren. Die bekanntesten körperlichen Zeichen von Heiligkeit sind wohl Stigmata wie auch ins Körperinnere eingeprägte Bilder, Nahrungslosigkeit und Unverweslichkeit, daneben Levitation und das Verströmen süßen Duftes bzw. die Ausscheidung duftender Flüssigkeiten, auch jungfräuliche Laktation und mystische Schwangerschaft zählen dazu. Dabei fällt nicht nur hinsichtlich der beiden letztgenannten Erscheinungen, sondern auch in Bezug auf Stigmata und Nahrungslosigkeit auf, dass insbesondere die von der männlichen Kultur in historisch je spezifischer Weise als Körpermaterie begriffenen Frauen den eigenen Körper durch Selbstmodellierung zum Ort der Inkarnation des Göttlichen machten. Wegen ihres Zeichencharakters sind freilich all diese Phänomene mehrdeutig. „Natürliches“ und Künstliches, „Realität“ und Phantasien durchdringen sich, so dass keine klaren Grenzziehungen möglich sind. Aufgrund seiner trügerischen Natürlichkeit ist der Körper lange nicht in den Blick der Kulturwissenschaften gekommen. In den letzten Jahrzehnten sind jedoch – nicht zufällig vor dem Hintergrund von Frauenforschung und zunehmender wissenschaftlicher Aufmerksamkeit für Geschlecht als Analysekategorie1 – in zahlreichen Disziplinen Studien entstanden, die sich mit der Geschichte des menschlichen Körpers, seiner gesellschaftlichen Konstruktion wie auch symbolischen Aufladung befassen2. Ebenfalls jüngeren Datums ist zumindest im deut1

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Als Natur begriffen, wurden Frauen und Geschlecht im Wissenschaftsverständnis des 19. Jahrhunderts aus der Kultur/Geschichte ausgegrenzt. S. hierzu Claudia HONEGGER, Die Ordnung der Geschlechter. Die Wissenschaft vom Menschen und das Weib, 1750–1850, Frankfurt a. M., New York 1991. Den Beginn neuerer Forschung im deutschen Sprachraum markieren einige von Dietmar Kamper seit der zweiten Hälfte der 70er-Jahre des letzten Jahrhunderts herausgegebene Sammelbände sowie die Dissertation von B. Duden (1987), die auch eine Bibliographie zur Körpergeschichte vorgelegt hat: Barbara DUDEN, Body History. A Repertory = Körpergeschichte (Reihe Tandem Kultur- und Sozialgeschichte 1), Wolfenbüttel 1990. Mittlerweile ist die Forschung längst nicht mehr überblickbar, weshalb in diesen Vorbemerkungen auch nur sehr selektiv auf Studien verwiesen werden kann, die in engerem Zusammenhang mit dem Tagungs-

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schen Sprachraum das sozialhistorische Interesse für religiöse Verhaltensmuster3. Allerdings existieren zum Forschungsbereich Frömmigkeit, gerade zur engen Verbindung mit Leiblichkeit, seitens der älteren Volkskunde wertvolle, wenngleich – das ist freilich keineswegs immer ein Nachteil – mitunter vorwiegend deskriptive Detailstudien4. Heute sind sozialgeschichtlich bzw. historisch-anthropologisch orientierte Untersuchungen zu den beiden hier genannten Gebieten fächerübergreifende Projekte5. Vorreiterin bei der Verbindung von Frömmigkeitsforschung und Körpergeschichte ist angesichts der leiblichen Dimension mittelalterlicher Frömmigkeit die Mediävistik; die von Klaus Schreiner herausgegebenen Tagungsbände, welche die Körperbezogenheit der spätmittelalterlichen praxis pietatis in den Blick nehmen, belegen das eindrucksvoll6. Ein transdisziplinäres Konzept lag auch der hier dokumentierten Tagung zugrunde, auf der ein Detailaspekt körperbezogener Frömmigkeit fokussiert wurde. Mit der Frage nach Gotteserfahrung am eigenen Leib und damit verbundenen,

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thema stehen. Für einen Überblick s. Jacques GÉLIS, Le Corps, l’Église et le sacré, in: Histoire du corps, sous la dir. de Alain CORBIN, Jean-Jacques COURTINE, Georges VIGARELLO, vol. 1, Paris 2005, 17–107 u. 480–485. Vgl. hierzu den Forschungsüberblick von Wolfgang SCHIEDER, Einleitung, in: Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte (Geschichte und Gesellschaft, Sonderh. 11), hg. v. DEMS., Göttingen 1986, 7–13, hier: 7. S. in diesem Zusammenhang auch die jüngste, auf Spätmittelalter und Frühe Neuzeit zentrierte Überblicksdarstellung von Karl VOCELKA, Frömmigkeitsforschung Mittelalter und Frühe Neuzeit. Forschungsüberblick und bibliographische Einführung, Frühneuzeit-Info 20, 1/2 (2009), 15–52. Zu denken ist hier in erster Linie, aber nicht nur, an die prominente Rolle der Volkskunde in der Wallfahrtsforschung. Bei der Wallfahrt als Akt der Begehung geht es, wie auch bei den körperlichen Zeichen der Heiligkeit, um Verleiblichung von Spirituellem; betont wird dieser Aspekt von Lenz u. Ruth KRISS-RETTENBECK / Ivan ILLICH, HOMO VIATOR – Ideen und Wirklichkeiten, in: Wallfahrt kennt keine Grenzen. Themen zu einer Ausstellung des Bayerischen Nationalmuseums und des Adalbert-Stifter-Vereins, München, hg. v. Lenz KRISSRETTENBECK u. Gerda MÖHLER, München, Zürich 1984, 10–22. Für die jüngeren Entwicklungen in der Volkskunde vgl. indes die Bilanz von Peter HERSCHE, Religiöse Volkskunde – Stille Bestattung oder Phönix aus der Asche?, Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 102 (2008), 393–414. Neuerdings wurde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde eine Arbeitsgruppe/Kommission zu „Religiosität und Spiritualität“ gegründet, wobei sich in den aktuellen Forschungsprojekten und Ausstellungen die seit längerem zu beobachtende Enthistorisierung des Fachs widerspiegelt. Seitens der Theologie, vor allem der Kirchengeschichte, wie auch der Kunstgeschichte und der Literaturwissenschaft lässt sich eine zunehmende Öffnung gegenüber körper- und frömmigkeitsgeschichtlichen Themen feststellen. Das Innovationspotential der im Grenzgebiet der Disziplinen angesiedelten Arbeiten ist enorm. Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, hg. v. Klaus SCHREINER u. Norbert SCHNITZLER, München 1992; Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, hg. v. Klaus SCHREINER in Zusammenarbeit mit Marc MÜNTZ, München 2002. Schreiner sind mehrere frömmigkeitsgeschichtliche Forschungsberichte zu verdanken; für die hier thematisierten Zusammenhänge sei insbesondere verwiesen auf Klaus SCHREINER, Frommsein in kirchlichen und lebensweltlichen Kontexten. Fragen, Themen und Tendenzen der frömmigkeitsgeschichtlichen Forschung in der neueren Mediävistik, in: Die Aktualität des Mittelalters (Herausforderungen 10), hg. v. Hans-Werner GOETZ, Bochum 2000, 57–106.

Vorbemerkung

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als Zeichen der Heiligkeit gedeuteten körperlichen Zeichen, wird sowohl an ältere Darstellungen, insbesondere die von Joseph von Görres und Herbert Thurston7, angeknüpft als auch an eine Reihe von neueren Untersuchungen, die sich mit dem Wandel der Repräsentations- und Wahrnehmungsweisen des menschlichen Körpers und den einschlägigen frommen Praktiken befassen. Zu erwähnen sind hier zunächst die Arbeiten von André Vauchez, in erster Linie sein auf der systematischen Analyse von Kanonisationsprozessen des 12.–15. Jahrhunderts basierendes opus magnum. Der Autor kann dort u. a. zeigen, dass sich die den Heiligen von Gott verliehene Kraft (virtus) in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters im Körper manifestierte, und zwar zunehmend nicht erst nach dem Tod, in Unverweslichkeit etwa, wundersamen Einprägungen im Körperinneren, einem dem Leichnam entströmenden Wohlgeruch oder einer aus dem Grab austretenden kostbaren Flüssigkeit; die „wunderbaren physiologischen Erscheinungen“, die zunächst mit den sterblichen Überresten von Heiligen verbunden waren, kennzeichneten allmählich auch deren irdisches Leben8. Anregend auf die Konzeption der Tagung haben daneben vor allem die Studien der Mediävistin Caroline Walker Bynum gewirkt, die sich mit religiösen Vorstellungen vom Körper – vom Nexus Speise/Fasten/Eucharistie bis zum Körper in Verwesung bzw. zur Auferstehung des Leibes – und insbesondere mit somatischen Frömmigkeitsformen von Frauen im Spätmittelalter befassen9. Dass mystisch-charismatisch inspirierte Heiligkeitsmodelle durchaus nicht nur im Mittelalter, sondern auch in der Frühen Neuzeit noch verbreitet waren, hat Gabriella Zarri in ihrer Pionierstudie über die als politische Beraterinnen an italienischen Fürstenhöfen des 16. Jahrhunderts fungierenden sante vive dargelegt; der von ihr herausgegebene Tagungsband über die Simulation von Heiligkeit beleuchtet dann die zunehmende Skepsis, die sich u. a. gegenüber den – leichter als moralische Vorbildlichkeit imitierbaren – körperlichen Zeichen der Heiligkeit entwickelte10. 7

Joseph von GÖRRES, Die christliche Mystik, Bd. 1–4,2, Regensburg 1836–1842; Herbert THURSTON, Die körperlichen Begleiterscheinungen der Mystik (Grenzfragen der Psychologie 2), hg. v. J[oseph] H[ugh] CREHAN, mit e. Vorw. v. Gerhard FREI, übers. v. Clemens MÜLLER, Luzern 1956. 8 André VAUCHEZ, La Sainteté en occident aux derniers siècles du Moyen Age d’après les procès de canonisation et les documents hagiographiques (Bibliothèque des Écoles françaises d’Athènes et de Rome 241), Roma 1981; der „Sprache des Körpers“ ist ein eigenes Kapitel gewidmet: Ebd., 499ff. 9 Zentral im skizzierten Zusammenhang sind die beiden Monographien über die spirituellen Aspekte von Nahrung und über unterschiedliche Interpretationen der Lehre von der Auferstehung des Leibes: Caroline Walker BYNUM, Holy Feast and Holy Fast. The Religious Significance of Food to Medieval Women, Berkeley, Los Angeles 1987; DIES., The Resurrection of the Body in Western Christianity, 200–1336 (Lectures on the History of Religions, N.S. 15), New York 1995; einen guten Überblick bieten die in deutscher Übersetzung vorliegenden Essays: DIES., Fragmentierung und Erlösung. Geschlecht und Körper im Glauben des Mittelalters (Edition Suhrkamp, N.F. 731=1731), aus d. Amerikan. v. Brigitte GROSSE, Frankfurt a. M. 1996. 10 Gabriella ZARRI, Le sante vive. Cultura e religiosità femminile nella prima età moderna (Sacro/santo 2), Torino 1990; Finzione e santità tra medioevo ed età moderna (Sacro/santo 7), a cura di Gabriella ZARRI, Torino 1991.

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Wie Adriano Prosperi erläutert, waren es die Inquisitoren, welche die wunderbaren Erscheinungen immer häufiger für Illusionen oder Betrug hielten: Durch und durch menschlichen Ursprungs seien sie auf „weibliche Schwächen und männliche Leichtgläubigkeit“ zurückzuführen. Im Rückgriff auf eine berühmte Passage aus ‚Die Brüder Karamasow‘ bringt der italienische Historiker das paradox anmutende Geschehen prägnant auf den Begriff: „Die ‚Entzauberung‘ der Welt hatte Verbündete in der Inquisition gefunden“11. War die somatische Frömmigkeit der Frauen damit endgültig zurückgedrängt oder wirkte sie – viele Konflikte der Vergangenheit sind auch heute präsent – gleich einem unterirdischen Fluss weiter, vielleicht hinter Klostermauern? Was die im 19. Jahrhundert stattfindende Vitalisierung bzw. Neubildung körperbezogener Frömmigkeitsformen betrifft, so weist die Forschung hinsichtlich deren historischer und kultureller Spezifik noch beträchtliche Lücken auf12. Das gilt auch für entsprechende Phänomene in der Gegenwart, obgleich die Konstruktion von Heiligkeit mittels physischer Zeichen heute selten geworden ist. Der 2002 heilig gesprochene Pater Pio (1887–1968), der das mystisch-charismatische Heiligkeitsmodell gegenwärtig wie kein anderer verkörpert und neben Franziskus von Assisi (1181/82–1226) der einzige durch eine sichtbare Stigmatisation mit den fünf Wunden des Crucifixus ausgezeichnete Mann zu sein scheint, ist spätestens nach dem Erscheinen des Buchs von Sergio Luzzatto ins Zwielicht geraten13. Aber schließt die Anwendung ätzender Säure zur Erzeugung der Wundmale eine wahre religiöse Erfahrung aus? Wo ist die Grenze zwischen „guter“ imitatio und „böser“ simulatio? Es waren die hier nur grob skizzierten Anregungen und Fragestellungen, die Verschränkungen und Übergänge zwischen Heiligem und Profanem, die Dieter Bauer und mich motivierten, eine Studientagung zum Thema „Körperliche Zeichen der Heiligkeit“ zu planen, auf der die zentralen physischen Manifestationen 11 Adriano PROSPERI, L’elemento storico nelle polemiche sulla santità, in: Finzione (wie Anm. 10), 88–118, hier: 115. 12 Wesentliche Beiträge haben bereits vor geraumer Zeit Mitglieder vom „Schwerter Arbeitskreis für Katholizismusforschung“ vorgelegt: Wunderbare Erscheinungen. Frauen und katholische Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Irmtraud GÖTZ VON OLENHUSEN, Paderborn [u. a.] 1995. N. Priesching schließt in ihrer Dissertation über die wohl berühmteste Stigmatisierte des 19. Jahrhunderts sowie einer einschlägigen Quellenedition unter anderem an diese Studien an: Nicole PRIESCHING, Maria von Mörl (1812–1868). Leben und Bedeutung einer „stigmatisierten Jungfrau“ aus Tirol im Kontext ultramontaner Frömmigkeit, Brixen 2004; Unter der Geißel Gottes. Das Leiden der stigmatisierten Maria von Mörl (1812–1868) im Urteil ihres Beichtvaters, Brixen 2007. Mit der Feminisierung der Religion im 19. Jahrhundert bzw. einer bewussten kirchlichen Förderung weiblicher Frömmigkeit sowie dem den Ultramontanismus kennzeichnenden Ineinandergreifen von Tradition und Moderne befasst sich auch Bernhard GISSIBL, Frömmigkeit, Hysterie und Schwärmerei. Wunderbare Erscheinungen im bayerischen Vormärz (Münchner Studien zur neueren und neuesten Geschichte 23), Frankfurt a. M. 2004. Ein verstärktes Interesse an den erwähnten Fragen zeichnet sich ab: Die Forschungen von Hubert Wolf zu einem Inquisitionsprozess wegen Mordes und „angemaßter Heiligkeit“ (1859–1862) werden 2013 in die Publikation einer einschlägigen Monographie sowie eines den analysierten Fall kontextualisierenden Tagungsbands münden. 13 Sergio LUZZATTO, Padre Pio: miracoli e politica nell’Italia del Novecento (Einaudi storia 18), Torino 2007.

Vorbemerkung

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beleuchtet und zu einem interdisziplinär ausgerichteten Forschungsgegenstand gebündelt werden sollten. Nicht für alle ins Auge gefassten Themenfelder ist es damals gelungen, ReferentInnen zu finden, ein Faktum, das zum einen auf Forschungsdesiderate verweist, zum anderen auf einen Anspruch der die Tagung ausrichtenden Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart zurückzuführen ist: Die Vorträge sollten einem breiteren Publikum offenstehen und daher in deutscher Sprache gehalten werden. Um so erfreulicher war dann, dass sich für die Tagung, die vom 2.–5. Oktober 2008 in Weingarten stattgefunden hat, ein Schwerpunkt zum vielschichtigen Problemkomplex der Stigmata ergeben hat14. Das schmerzhafte, (un)sichtbare, dauernde oder zyklische Auftreten der Wundmale Christi auf dem Körper auserwählter Personen wurde aus ganz unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, wobei der Bogen von Franziskus, dem zweifellos berühmtesten, nicht aber ersten Stigmatisierten15 bis zu einer nur im engeren Umfeld bekannten Charismatikerin aus dem heutigen Palermo gespannt werden konnte. Der Streit über die Bewertung des zu Franziskus überlieferten Quellenmaterials dauert bis heute an. In der Forschung wird diskutiert, ob es sich bei den Wundmalen um eine unwillkürliche Stigmatisation oder um eine Selbstverletzung in ekstatischem Zustand, eventuell um eine Kreuzigung bzw. Selbstkreuzigung in bewusster Passionsnachfolge gehandelt habe. Die Stigmatisation wird in den Quellen ganz unterschiedlich dargestellt, aber noch nicht einmal darüber ist man sich einig in der Diskussion, die durch das Erscheinen von Chiara Frugonis Buch über die „Erfindung der Stigmata“ (1993) wieder angefacht wurde. Zweifel an der Authentizität der Stigmata wie auch der Vorwurf der Blasphemie angesichts der Erhöhung von Franziskus zu einem Ebenbild Christi kamen freilich bereits bei den Zeitgenossen auf. So bestritten etwa die mit den Franziskanern rivalisierenden Dominikaner einerseits die Realität der Stigmata, suchten andererseits aber gleichzeitig nach Stigmatisierten in den eigenen Reihen. In Katharina von Siena (1347–1380) wurden sie fündig, selbst wenn diese – jedenfalls zu Lebzeiten – nur mit unsichtbaren Wundmalen aufwarten konnte. Nirgendwo wird deutlicher als am Beispiel der Stigmata, wie eng äußerlicher und innerlicher Nachvollzug der Leiden Christi in der historischen Wirklichkeit zusammengehören, wie sehr inneres Geschehen und körperliche Vorgänge bis weit in die Frühe Neuzeit hinein miteinander verwoben sind – in der Gliederung dieses Bands nur deshalb analytisch getrennt, um sie wieder in ihrer Verschränkung zusammenzudenken. Auch die der Stigmatisation ähnelnde Einprägung von Zeichen ins Körperinnere ist vor diesem Hintergrund zu sehen: Aus dem Rom der Gegenreformation wurden spektakuläre Beispiele für 14 In den letzten Jahren sind hierzu wesentliche und überaus anregende Beiträge erschienen: Stigmates (L’Herne 75), dir. par Dominique de COURCELLES, Paris 2001; Stigmata. Poetiken der Körperinschrift, hg. v. Bettine MENKE u. Barbara VINKEN, [Paderborn], München 2004; Peter J. BRÄUNLEIN, Passion / Pasyon. Rituale des Schmerzes im europäischen und philippinischen Christentum, Paderborn, München 2010. 15 Die physische Identifikation mit dem gekreuzigten und leidenden, dem menschlichen Christus in seiner Leiblichkeit war das zu jener Zeit aufkommende Heiligkeitsideal, das nicht zuletzt durch den von Franziskus gegründeten Orden verbreitet wurde. S. hierzu wie auch für das Folgende die Belege im Beitrag von Ulrich Köpf in diesem Band.

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eine ebenso religiös wie wissenschaftlich motivierte Suche nach den Geheimnissen heiliger Herzen angeführt. Fragen nach dem Zusammenhang zwischen Gezeigtem und Verborgenem, zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem warfen auch die bildlichen Darstellungen auf, über die eine Annäherung gesucht wurde an das in den letzten Jahrzehnten wiederholt und multidisziplinär behandelte, mitunter jedoch allzu kurzschlüssig in die Nähe der Anorexia nervosa gerückte Phänomen der Abstinenz von „irdischer“, nicht aber spiritueller Nahrung16. Während in der älteren Medizingeschichtsschreibung ähnliche Versuche einer Medikalisierung/ Psychiatrisierung der hier zur Diskussion stehenden Phänomene sehr verbreitet waren, kam es als Reaktion auf Etikettierungen, welche die kulturelle Konstruktion von Krankheitseinheiten ignorierten, allerdings nicht selten zu einer pauschalen Verurteilung retrospektiver Diagnosen durch heutige Medizinhistoriker. Die behutsame und differenzierte Relativierung dieser Position im Hinblick auf die Frage nach dem Erkenntnisgewinn hob ein Denkverbot auf. Leider konnten nicht alle Tagungsbeiträge in diesen Band aufgenommen werden. Bedauerlich war von Beginn an das Fehlen eines Referats zur Levitation, selbst wenn die Lücke z. T. durch den ins Zentrum mystisch-charismatischer Heiligkeit führenden Vortrag über Ekstase gefüllt werden konnte, z. T. auch durch Catrien Santings Kommentar zu einem Film über den hl. Joseph von Copertino (1603–1663), der 1753 ausgerechnet vom „aufgeklärten“ Benedikt XIV. (1740– 1758) selig gesprochen wurde17. Lediglich in Form von Referaten konnten die Themenbereiche Marienmilch und Geruch der Heiligkeit abgedeckt werden, da es Klaus Schreiner und Jan Marco Sawilla aus zeitlichen Gründen nicht möglich war, ihre Beiträge für den Druck auszuarbeiten18. Auch der Vortrag von Christoph 16 Ein kurzer Forschungsüberblick findet sich bei Waltraud PULZ, Nüchternes Kalkül – Verzehrende Leidenschaft. Nahrungsabstinenz im 16. Jahrhundert (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 64), Köln, Weimar, Wien 2007, 3–10. 17 S. hierzu Catrien SANTING, Tirami sù: Pope Benedict XIV and the Beatification of the Flying Saint Giuseppe da Copertino, in: Medicine and Religion in Enlightenment Europe, ed. by Ole Peter GRELL and Andrew CUNNINGHAM, Aldershot [u. a.] 2007, 79–99. Für das Ausleihen einer Videokassette des Films ‚Ein sonderbarer Heiliger’ (USA 1962), in dem Maximilian Schell unter der Regie von Edward Dmytryk die Hauptrolle spielt, danke ich dem Münchner Filmemacher Haro Senft; die erforderliche technische Nachbearbeitung dieser Kassette hat freundlicherweise Tomislav Helebrant übernommen. Am 25./26. September 2010 hat in Osimo, jenem Ort, an dem Joseph von Copertino in seinen letzten Lebensjahren isoliert wurde, eine vom „Centro Studi e documentazione San Giuseppe da Copertino di Osimo“ organisierte Tagung über „Levitatione: paranormalità o santità“ stattgefunden, deren Beiträge noch nicht im Druck vorliegen. Zur Levitation besteht nach wie vor dringender Forschungsbedarf, hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf die Monographie über Rita von Cascia von Lucetta SCARAFFIA, La santa degli impossibili. Vicende e significati della devozione a Santa Rita (sacro/santo 3), Torino 1990, 71ff. u. 137ff. 18 Zur Marienmilch s. Klaus SCHREINER, „Deine Brüste sind süßer als Wein“. Ikonographie, religiöse Bedeutung und soziale Funktion eines Mariensymbols, in: Pictura quasi fictura. Die Rolle des Bildes in der Erforschung von Alltag und Sachkultur des Mittelalters und der frühen Neuzeit (Forschungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit 1), internationales Round-Table-Gespräch, Krems an der Donau, 3. Oktober 1994, Wien 1996, 87–127; DERS., Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin, München, Wien 1994,

Vorbemerkung

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Daxelmüller über „Blutige Frömmigkeit“ konnte nicht in den Tagungsband aufgenommen werden19; hinzugekommen ist indes ein Beitrag der Herausgeberin über drei aus Venedig stammende unverweste Heiligenleiber20, die im heutigen Kroatien Himmel und Erde verbinden sollen. Die Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart hat durch ihre exquisite Gastfreundschaft die Voraussetzungen für diese Tagung geschaffen. Danken möchte ich an dieser Stelle nochmals Gabriella Signori, die den Ertrag der Tagung zusammengefasst und so die abschließende Diskussion vorbereitet und strukturiert hat. Den Autorinnen und Autoren, die ihre Beiträge für die Publikation bearbeitet und zur Verfügung gestellt haben, sei ebenfalls herzlich gedankt. Für alles Folgende gilt mein Dank in erster Linie Jan Marco Sawilla, der sich während der Tagung spontan bereit erklärt hat, beim Lektorat mitzuwirken. Für einen Druckkostenzuschuss und Unterstützung bei der Herstellung des Tagungsbands ist der Forschungsstiftung für Spätmittelalter und Reformation und ihrem Vorsitzenden Ulrich Köpf sowie der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart zu danken, für die Aufnahme in die Beiträge zur Hagiographie den Reihenherausgebern. München, im Januar 2012

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175–210. Zum Thema Jungfrauenmilch als Repräsentation zweier gegensätzlicher Entfaltungsmöglichkeiten des weiblichen Körpers s. zuletzt Gianna POMATA, A Christian Utopia of the Renaissance. Elena Duglioli’s Spiritual and Physical Motherhood (ca. 1510–1520), in: Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500–1850) (Selbstzeugnisse der Neuzeit 9), hg. v. Kaspar von GREYERZ, Hans MEDICK u. Patrice VEIT unter Mitarb. v. Sebastian LEUTERT u. Gudrun PILLER, Köln, Weimar, Wien 2001, 323–353. Wie zur Levitation so besteht auch zum Geruch der Heiligkeit, einem der gebräuchlichsten hagiographischen Topoi, erheblicher Forschungsbedarf. Die Wendung wird zumeist im übertragenen Sinn gebraucht, besitzt jedoch einen „materiellen Kern“: Im Zentrum der Thematik steht der Leib Christi, der mit Reinheit und wunderbarem Wohlgeruch assoziiert war. Auch zahlreichen Heiligen wurde vor dem Hintergrund ihrer imitatio Christi ein paradiesischer Duft zugeschrieben, manchmal schon zu Lebzeiten, gewöhnlich aber im Moment ihres Martyriums bzw. im Zusammenhang mit der Unverweslichkeit ihres Leibes. Vgl. hierzu JeanPierre ALBERT, Le Parfum et le sang, Apocrypha 4 (1993), 225–243 sowie – sich weitgehend damit überschneidend – DERS., Le Sang et le ciel. Les saintes mystiques dans le monde chrétien, [Paris] 1997, 183ff.; Simon SCHAFFER, Piety, Physic and Prodigious Abstinence, in: Religio Medici. Medicine and Religion in Seventeenth-Century England, ed. by Ole Peter GRELL and Andrew CUNNINGHAM, Aldershot 1996, 171–203, insbesondere 183f.; Piero CAMPORESI, La carne impassibile. Salvezza e salute fra Medioevo e Controriforma, Milano 1994, 211ff.; Thomas PRATSCH, Der hagiographische Topos (Milennium-Studien 6), Berlin 2005, 219f.; Uta KLEINE, Schätze des Heils, Gefäße der Auferstehung. Heilige Gebeine und christliche Eschatologie im Mittelalter, Historische Anthropologie 14 (2006), 161–192, hier: 176. 19 Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auf Christoph DAXELMÜLLER, „Süße Nägel der Passion“. Die Geschichte der Selbstkreuzigung von Franz von Assisi bis heute, Düsseldorf 2001. 20 Es handelt sich hier nicht um jene gewöhnlich als Heilige Leiber bezeichneten Skelette aus den römischen Katakomben, die man für Reliquien frühchristlicher Märtyrer hielt, sondern um mumifizierte Körper, deren Unverwestheit/Unverweslichkeit als Zeichen für Heiligkeit gedeutet wurde.

1. MODELLE UND IHRE MODIFIKATION – AUSDRÜCKLICHKEIT DER ZEICHEN

EKSTASE, DAS ZENTRALE KÖRPERLICHE PHÄNOMEN DER MYSTIK Peter Dinzelbacher

Zusammenfassung: Praktische Mystik und ekstatische Erfahrung sind im lateinischen Christentum fast untrennbar verbunden. Sie treten in unterschiedlichem Grad auf, von der traumähnlichen Trance, aus der der Seher von außen geweckt werden kann, bis zum nahtodähnlichen Stupor, bei dem keinerlei äußere Sinnesreize rezipiert werden. An Beispielen aus der mittelalterlichen Frauenmystik werden diese Formen und die Reaktion der Umwelt auf sie vorgeführt. Die Echtheit des Zustandes wurde durch mannigfache und brutale Proben erkundet, und diskutiert wurde auch die Frage nach ihrer theologischen Bewertung im Sinne der „Unterscheidung der Geister“. Während in der Hagiographie diese Erlebnisse stets als Zeichen der Heiligkeit beschrieben wurden, finden sie in Kanonisationsprozessen nur knappe Erwähnung. Eine Übersicht über ältere und modernere Erklärungsmodelle führt von der Ekstase als übernatürlicher Gnade bis zur Deutung als psychopathologische Erscheinung.

Forschungsstand Die philosophische und theologische Beschäftigung mit diesem Phänomen in der Vormoderne hintangesetzt1, dürfte als erste bis heute beachtenswerte Arbeit zur Ekstase im Christentum die Darstellung im zweiten Band der ‚Christlichen Mystik‘ von Johann Joseph von Görres (1776–1848) zu nennen sein2. Sein Bestreben, katholisch-theologische, philosophische und naturwissenschaftliche Aspekte zu einer allumfassenden Erklärungssynthese zu verschmelzen, wirkt heute nur wunderlich, wichtig aber bleiben die von ihm zitierten Quellen, zumal er sie, soweit 1

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Analysen mit psychologischen Ansätzen avant la lettre finden sich bereits bei Theresa von Avila, dann in den katholischen Lehrbüchern der Aszetik, wie sie bis ins 19. Jahrhundert teilweise in vielen Auflagen erschienen (GODINEZ, SCARAMELLI, RIBET [u. a.]). Joseph von GÖRRES, Die christliche Mystik, Bd. 2, Regensburg, Landshut, Wien 1837. Eine zweite Auflage erschien 1879, Neuausgaben 1960 und 1989.

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durch Stichproben zu erhellen, durchgehend korrekt zitierte. Wir übergehen hier die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht ganz vernachlässigte Ekstaseforschung vor allem psychologischer Provenienz, um nur jene moderneren Studien zu nennen, deren Kenntnis für die Beschäftigung mit diesem Phänomen durchaus unentbehrlich ist. Hier ist gleich auf den umfangreichen Sammelartikel im ‚Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique‘ zu verweisen, eine Übersicht von bleibender Qualität3. Das grundlegende Werk für unser Thema stammt allerdings von dem schwedischen Religionswissenschaftler Ernst Arbman; auf etwa 2000 Seiten wird dort wissenschaftlich hochqualifiziert, aber ermüdend, eine unerreichte Fülle an Informationen vor allem der psychologischen und ethnologischen Ekstaseforschung ausgebreitet4. Speziell für die mittelalterliche Frauenmystik sind grundlegend die Quellennachweise von Bardo Weiß, der alle einschlägigen Texte systematisch verarbeitet5. Die jüngste Untersuchung legte Christa Tuczay mit ihrer Habilitationsschrift vor6. Sie behandelt ekstatische Manifestationen verschiedenster Ausformung, etwa unter anderem im Berserkerwesen, im Schamanismus, in der Mystik und in der Literatur, jeweils im Zusammenhang mit den kulturspezifischen Gegebenheiten, wobei es auch ihr primär um das europäische Mittelalter geht. Meine Aufgabe kann es an dieser Stelle nur sein, für die Leser des vorliegenden Bandes einen kurzen Begriff des ekstatischen Phänomens zu geben, wie es in mittelalterlichen Quellen figuriert, nicht aber neue Hypothesen zu formulieren, was angesichts der Einlässlichkeit der eben zitierten Sekundärliteratur wenig Chancen hätte. Dabei kommen die zitierten Texte aus dem Bereich der Frauenmystik7 – was freilich nicht zu dem Irrtum verleiten soll, Ekstasen wären von Männern nicht erlebt worden; man denke etwa an Franziskus (1181/82–1226), Giovanni della Verna (1259–1322), Richard Rolle (um 1300–1349) oder den „doctor ecstaticus“ der Catholica, den Roermonder Kartäuser Dionysius von Rijkel (1402/03–1471), der Cusanus (1401–1464) auf seiner Reise durch die Niederlande und die Rheingegend begleitete. Selbst der Haptischem eher abgeneigte Thomas von Aquin (um 1225–1274) soll, nach seinem wichtigsten Biographen,

3 4 5 6 7

Extase, in: Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique. Doctrine et histoire, Bd. 4, Paris 1961, 2045–2189. Ernst ARBMAN, Ecstasy, or Religious Trance, in the Experience of the Ecstatics and from the Psychological Point of View, Vol. 1–3, Stockholm 1963–1970. Bardo WEISS, Ekstase und Liebe. Die unio mystica bei den deutschen Mystikerinnen des 12. und 13. Jahrhunderts, Paderborn [u. a.] 2000. Christa TUCZAY, Ekstase im Kontext. Mittelalterliche und neuere Diskurse einer Entgrenzungserfahrung (Mediaevistik, Beih. 9), Frankfurt a. M. [u. a.] 2009. Vgl. Peter DINZELBACHER, Mittelalterliche Frauenmystik, Paderborn 1993. Zu den einzelnen im Folgenden erwähnten Persönlichkeiten s. Wörterbuch der Mystik (Kröners Taschenausg. 456), hg. v. DEMS., Stuttgart 21998 und, einlässlicher, DERS., Christliche Mystik im Abendland. Ihre Geschichte von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters, Paderborn [u. a.] 1994 sowie DERS., Deutsche und niederländische Mystik im Mittelalter, Berlin [u. a.] 2012. Die feministische Literatur zur Frauenmystik hat sich in den letzten Jahren vor allem im amerikanischen Bereich ins Unüberschaubare ausgedehnt.

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Wilhelm von Tocco (um 1280–1335), nicht nur meditative Trancen, sondern auch Ekstasen gehabt haben8.

Definition Vorab ist der Begriff festzulegen, wie er in diesem Beitrag verwendet wird (es sind schließlich auch andere Bestimmungen möglich): Ekstase9 ist ein außerordentlicher Bewusstseinszustand, bei dem es zu ungewöhnlichem innerseelischen Erleben kommt. Er ist verbunden mit einer extremen Affektbesetzung und wird vom Subjekt als unabweisbar und ununterbrechbar empfunden. Was den Körper betrifft, so kommt es in der Regel zu einer Suspendierung der Sinneswahrnehmungen, er zeigt keine Reaktion auf Reize, was einen völligen Kontrollverlust impliziert. Vielmehr befindet sich der Körper im Rigor (völlige Gliederstarre), in der Katalepsie (Glieder nur von außen bewegbar) oder im Stupor (krasse Verlangsamung aller Vorgänge). Es muss aber angemerkt werden, dass es seltene Fälle gibt, bei denen trotz der exzeptionellen Situation im seelischen Bereich ein aktiver Kontakt mit der Umwelt möglich ist, z. B. Singen oder Glossolalie, und ebenso ein passiver (nämlich Reaktion auf Weckreize). Hier werden wir besser von Trance10 sprechen. Abzugrenzen ist die Ekstase von der Hypnose, bei der eine Referenzperson den Zustand auslöst, und von Nahtod-Zuständen, bei denen die Vitalfunktionen suspendiert sind; es haben dies unter den Mystikerinnen z. B. Mechthild von Magdeburg (um 1208–1282/97) oder Francesca Romana (1384–1440) erlebt. Die geläufigsten Termini im Mittellatein waren nach dem mystischen, hagiographischen und philosophischen (bes. Viktoriner) Schrifttum: Ecstasis, Raptus, Excessus, Exitus, Transitus und Alienatio. Sed Caveat: Ekstasis bedeutet in der ekklesialen Sprache auch nicht selten etwas anderes, bei Gregor von Nyssa (331/40–um 395) z. B. das monastische Leben des Aufstiegs zu Gott, etc.

Mittelalterliche Ekstase- und Tranceschilderungen Ekstasen werden in den Quellen im Zusammenhang mit den antiken Mysterien beschrieben (Dionysuskult), bei Plato und im Neoplatonismus (Plotin), auch im Judentum (Daniel 10,7ff.). Sie traten auch im islamischen Sufismus auf, im germanischen und außereuropäischen Schamanismus, in Mischkulten wie dem Voodoo usw.

8

GUILELMUS de Tocco, Ystoria sancti Thome de Aquino de Guillaume de Tocco (1323) (Studies and Texts 127), éd. critique, introd. et notes Claire Le BRUN-GOUANVIC, Toronto 1996, 162, 181. 9 Von gr. ek-histanai, heraus-treten (der Seele aus dem Leib). 10 Wahrscheinlich von lat. trans-ire, in den Tod hinübergehen.

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Wir wollen jedoch sogleich aus den autobiographischen Visionsschriften einer Nonne des 12. Jahrhunderts zitieren, die diesen Zustand fast täglich erlebte. Die Rede ist von der Benediktinerin Elisabeth von Schönau (1129–1164), aus deren Beschreibungen deutlich genug hervorgeht, was Ekstasen sind, weswegen etwas ausführlicher aus ihrem Visionsbuch zitiert wird11: Es wurde ihr nämlich gewährt, im Geiste entrafft zu werden und die Visionen der Geheimnisse des Herrn zu schauen, die vor den Augen der Sterblichen verborgen sind. Dies aber geschah nicht ohne deutliches Wunder. Häufig nämlich, und geradezu gewöhnlicherweise kam über sie an den Sonntagen und anderen Festtagen zu jenen Stunden, in denen die Andacht der Gläubigen am heißesten brennt, ein Leiden in der Herzgegend, sie wurde von heftiger Angst erfaßt und ruhte schließlich wie entseelt, so daß an ihr bisweilen kein Hauch oder Lebenszeichen mehr bemerkt werden konnte. Kehrte ihr Geist aber nach langer Ekstase wieder ein wenig zurück, brach sie sofort in lateinischer Rede in ganz göttliche Worte aus (1, 1). An der Vesper der Allerheiligenvigil litt ich lange an Krampfschmerzen, und während ich von diesem heftigen Leiden gequält wurde, drückte ich das Kreuzeszeichen des Herrn fest an meine Brust und wurde endlich, in die Ekstase fallend, ruhig. Dann wurde mir auf ungewöhnliche Weise gezeigt, als ob mein Geist in die Höhe entrafft würde, und ich sah die Pforte im Himmel offen (1, 31). Es geschah am ersten Sonntag zur Fastenzeit am Beginn der Vesper, daß plötzlich wie üblich die körperliche Starre über mich kam, und ich fiel in die Ekstase. Und ich sah […] (1, 40). Als aber die Vesperzeit anbrach, begann ich sehr schwach zu werden, und alle Kräfte meines Körpers ließen nach, und die Schwestern legten mich in den Kapitelsaal, wo sie das Gebot der Waschung feiern sollten. Und als die Antiphon begonnen wurde, die lautet: Vor dem Festtage, brach ich plötzlich in heftigstes Schluchzen aus und begann zu leiden, und nach vieler Mühe wurde ich in der Ekstase ruhig. Dann schaute ich […] (1, 46). Eine geringe Zeit danach begannen die Brüder den Gottesdienst zu feiern, und nachdem sie bis zur Lesung der Passion vorangekommen waren, begann ich in Schmerzen zu fallen und über jedes Maß gequält zu werden, so daß ich es keinem Menschen ganz darlegen könnte. Gewiß, mein Bruder12, wenn mein ganzes Fleisch in Teile zerrissen würde, würde ich es, scheint mir, leichter ertragen. Als ich dann endlich in die Ekstase kam, sah ich […] (1, 48). Danach am Fest der Reinigung zur ersten Vesper tat mir Gott etwas Neues und Ungewohntes. Als ich nämlich in gewohnter Weise in meiner Entraffung war und im Geiste zum Herrn betete und meine Herrin, die ich durch den Geist schaute, grüßte und vor ihr andächtige Gebete verströmte, hörten die Schwestern, die um mich herum waren, klar den ganzen Wortlaut meines Gebetes. Ich aber, als ich wieder zu mir gekommen war, wollte ihnen, da sie dies erzählten, nicht glauben, bis sie eben die Worte, die ich im Gebet gebraucht hatte, der Reihe nach wiederholten (1, 63). Als ich in der Sonntagsnacht vor dem Fest der Apostel Petrus und Paulus an meinem Gebetsplatz stand und die gewohnten Leiden beginnen spürte, fürchtete ich mich sehr, weil ich am Geburtstag des heiligen Johannes des Täufers sehr erschöpft worden war. Dieser erschien mir glorreich nach einer dreitägigen Erstarrung und tiefen Erschöpfung, die ich an seiner Vigil erlitt. Ich wollte also dieses Mal, wenn irgend möglich, vermeiden, daß mich das Leiden ergreife, und ging von dem Platz, an dem ich stand, weg und wollte aus der Kapelle hinaus11 Für die folgenden Übersetzungen aus dem mittellateinischen Original s. ELISABETH von Schönau, Werke, eingel., komm. u. übers. v. Peter DINZELBACHER, Paderborn [u. a.] 2006. 12 Elisabeths Ansprechpartner ist ihr Bruder Egbert, Abt des Doppelklosters Schönau.

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gehen. Als ich ein wenig vorangekommen war, kam das Leiden so schwer über mich, daß ich nicht weitergehen konnte, und ich kam kaum zu meinem Platz zurück. Und bald fiel ich zu Boden. Sofort also stand der Engel des Herrn bei mir und sagte in unserer Sprache: Oh du Arme, wieso erträgst du dies so ungern? […] Und ich sagte: Mein Herr, diese Ungeduld kommt mir von meiner großen Gebrechlichkeit […]. Und er sagte: Komme und schaue und betrachte die Freude, die dir von deinem Gott kommen wird. Und sofort erhob er mich hoch hinauf in die obere Luft, und ich sah durch die Lichtpforte hinein und schaute in gewohnter Weise die Herrlichkeit der seligen Gottesstadt. Dann wurde ich wieder zum armseligen Leib zurückgeführt und atmete ein wenig auf (1, 76).

Was Elisabeth noch nicht kannte, die Vereinigung der Seele mit der Gottheit, die Unio mystica13, wird später von vielen Frauen erlebt. In den Sammelviten aus spätmittelalterlichen Frauenkonventen z. B. finden sich nicht selten Berichte über eine solche Vereinigung, in der die Nonnen in stundenlanger Liebesekstase versunken waren. So etwa die Dominikanerin Adelheid von Breisach (13./14. Jh.), die im Kreuzgang stolpert, worauf ein großes Fass über sie fällt. Dar vunder wart si verzucket. Vnd wart vereinbert mit Gotte, da si kam zuo dem kusse. Vnt lag da vntz zuo vesperzite14. Oft dauert das mit der Ekstase verbundene Glücksgefühl lange Zeit an, während sein Aufhören dann umso schmerzlicher empfunden wird – die berüchtigte Zeit der Trockenheit, der dunklen Nacht, eine Phase teilweise intensiver Depressionen15. Wie sonst in fast jeder Hinsicht erweist sich auch hier Elisabeths Ordensgenossin und Bekannte Hildegard von Bingen (1098–1179) als außerhalb der Norm stehend. Bei ihr, Empfängerin so vieler visueller und auditiver Offenbarungen, liest man eine Distanzierung gegen die ekstatische Schau, wohl eine Reaktion auf den Versuch von Kritikern, ihre Gesichte als krankhafte und belanglose Träume abzutun16: Meine Seele steigt, wie Gott will, in dieser Schau bis in die Höhe des Firmaments und die verschiedenen Sphären empor und hält sich bei verschiedenen Völkern auf, obgleich sie in fernen Gegenden und Orten weit von mir entfernt sind. Ich sehe dies aber nicht mit den äußeren Augen und höre es nicht mit den äußeren Ohren, auch nehme ich es nicht mit den Gedanken meines Herzens wahr noch durch irgend eine Vermittlung meiner fünf Sinne, vielmehr einzig in meiner Seele, mit offenen Augen, so daß ich niemals die Bewußtlosigkeit einer Ekstase erleide, sondern wachend schaue ich dies bei Tag und Nacht (Vita 1, 8)17.

13 S. Anm. 46. 14 J[oseph] KÖNIG, Die Chronik der Anna von Munzingen, Freiburger Diözesanarchiv 13 (1880), 127–236, hier: 155. 15 Vgl. Michael PLATTIG, (Nacht.) II. Mystisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7, Freiburg i. Br. [u. a.] 31998, 617f. 16 Vgl. Jean-Claude SCHMITT, Hildegard von Bingen oder die Zurückweisung des Traums, in: Hildegard von Bingen in ihrem historischen Umfeld, Internationaler wissenschaftlicher Kongreß zum 900jährigen Jubliläum, 13.–19. Sept. 1998, Bingen am Rhein, hg. v. Alfred HAVERKAMP, Mainz 2000, 351–374. 17 Vita sanctae Hildegardis (Corpus Christianorum, Continuatio Mediaevalis 126), hg. v. Monika KLAES, Turnholti 1993, 15.

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Wie sah nun eine religiöse Trance aus? Die Vita der südfranzösischen Begine Douceline von Digne († 1274), geschrieben von einer Mitschwester, entwirft folgendes Bild: In ihren Entraffungen schaute Douceline Visionen besonders des leidenden Christus und Marias; ihr Mitleiden war so intensiv, dass man ihre Schreie weit in der Umgebung hörte. Ihre glühende Verehrung galt dem stigmatisierten Franziskus; oft wurde sie bei der Lektüre seines Lebens verzückt. Es kam vor, dass sie das Geschehen ihrer Visionen durch ihren Körper ausdrückte. Es muss eine eindrucksvolle Szene gewesen sein, wie Douceline, in Trance vom Neuen Jerusalem singend, das Dormitorium ihres Beginenkonvents durcheilte, von Wand zu Wand, hin und zurück, hin und zurück, und die Schwestern ihr nach, in Prozessionsordnung und mit brennenden Kerzen. Garant für tagelange Entraffungen war der Eucharistieempfang, der als Liebesvereinigung mit Gott geschildert wird: Einmal fühlt sich Douceline in das Tabernakel entrafft und in großer Süße in Herzliebe mit der heiligen Hostie vereint. Aber auch eine Portion Kalbfleisch auf dem Tisch führt die Selige in eine viele Stunden dauernde Ekstase vermittels der Erinnerung an das alttestamentliche Opfertier und weiter an das österliche Opfer Christi18. Man sieht daran, wie sehr im Mittelalter die Objekte der Welt als in die Überwelt weisende Zeichen wahrgenommen zu werden vermochten, wie es schließlich seit den Kirchenvätern unablässig gepredigt wurde. Nicht umsonst war die Typologie, jenes exegetische Vorgehen, das alles mit allem verknüpfte, was sich nur irgend assoziativ aufeinander beziehen ließ, vor allem aber Szenen und Figuren des Alten mit solchen des Neuen Testaments, die beliebteste Methode beim Umgang mit der Bibel. Besonders beeindruckend müssen die Trancen der Elisabeth von Spaelbeek (ca. 1248–1316) gewesen sein, über die ein Augenzeugenbericht erhalten ist. Er zeigt: Auch das völlige Durchstehen der Passion am eigenen Leib kann mit einer – über die Stigmatisation hinausgehenden – vollkommenen Identifikation mit dem paradigmatischen Leidenden gleichgesetzt werden, ohne dass jedoch von einer Verschmelzung von Gott und Mensch die Rede wäre. Dies illustriert der erschütternde Bericht des Abtes Philip von Clairvaux19, der 1267 die zwanzigjährige Elisabeth besuchte. Sie war durch körperliches, mimetisches Miterleiden der Passion, Nahrungslosigkeit, Stigmata (auch Wunden der Dornenkrone) berühmt geworden. Das Mädchen trägt ganz eindeutig die Stigmata unseres Herrn Jesu Christi an seinem Körper: in seinen Händen und Füßen sowie in der Seite befinden sich ohne Täuschung, Betrug, Hinterlist und Zweifel ganz deutlich frische Wunden, aus denen oft und besonders an den Freitagen ein Strom Blut hervorbricht [...] Außer diesen Stigmata zeigt der Bräutigam der Jungfrauen [...] jeden Tag zu den Horen auf wunderbare Weise die Darstellung seiner seligsten und seligmachenden Passion: Um Mitternacht steht sie auf, um wunderbar den Beginn der Passion des Herrn zu bekennen, nämlich wie er gefangen und hin und her gezerrt und von den Händen der Ruchlosen grausamst behandelt wurde. Ich meine, ich darf auch nicht verschweigen, daß sie sowohl zu dieser Stunde als auch zu den anderen, ehe sie aufsteht, entrafft wird. Und in eben der Haltung, in der sie entrafft wird, verharrt sie vollkommen steif keine geringe Weile wie eine hölzerne oder steinerne Statue ohne Empfindung, Bewegung und Atem 18 DINZELBACHER, Christliche Mystik (wie Anm. 7), 215f. 19 Ebd., 201–203.

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[...] [Wiewohl sie sonst nicht einmal bei einem Brand aufstehen könnte,] erhebt sie sich um Mitternacht [...], geht ununterbrochen in ihrem Zimmer auf und ab und schlägt sich mit beiden Handflächen wieder und wieder auf die Wangen, wodurch ein beständiger und harmonischer Ton entsteht. Und so feiert sie lange die Vigil der ersten Nokturn statt eines Psalmgesanges wie mit wohltönenden Pauken und Zimbeln. Danach aber, wie anstelle der Lectio, stellt sie mit ihren Gebärden den Beginn der Passion des Herrn dar, nämlich wie er gefangen wurde. Da sieht man, wie sie bald mit der rechten Hand das eigene Kleid vor ihrer kleinen Brust ergreift und sich selbst nach rechts zieht, bald mit der linken Hand gleicherweise nach links. Dann aber wendet sie sich, wie mit Gewalt gezogen, genau nach vorn, durch verschiedene, wechselnde Stöße fast kopfüber, als ob sie von anderen ganz boshaft und gewaltsam gezogen würde [...] Dann streckt sie den rechten Arm aus, ballt die Hand zur Faust und schüttelt sie wie in Wut. Erschreckend sind die Blicke ihrer Augen. Mit Augen und Händen, mit Zeichen und Gebärden drückt sie Angst und Schrecken aus. Dann schlägt sie sich bald so hart auf die Wange, daß der ganze kleine Körper sich von dem heftigen Schlag auf die andere Seite zur Erde biegt, dann auf den Hinterkopf, dann zwischen die Schultern, dann auf den Hals. Dann wirft sie sich selbst kopfüber nach vorne und schlägt mit erstaunlich gekrümmtem Leib den Kopf auf den Boden. Manchmal reißt sie sich auch mit Gewalt die ziemlich kurzen, da eben geschnittenen Haare über der Stirn aus und schlägt, ohne die Beine zu bewegen – ein Wunder –, mit dem Kopf auf den Boden [...] Dann dreht sie den Arm auch gegen die eigenen Augen, streckt den Zeigefinger gerade aus (wobei sie die anderen Finger zusammenballt) und preßt ihn immer wieder gegen die Augen, als ob sie sie ausdrücken oder durchbohren möchte. Man sieht daraus, daß sie auf eine unerhörte und neue Weise in sich zugleich die Person des leidenden Herrn darstellt und die des wütenden Verfolgers oder Folterknechtes: die Person des Herrn, wenn sie leidet, die des Verfolgers, wenn sie schlägt, zerrt, haut oder droht.

Ähnlich geht es zu den anderen kanonischen Horen weiter, z. B.: Dann kann sie nicht gehen, ja sich nicht einmal auf die Beine erheben, sondern wälzt und windet sich auf dem Boden. Oft wirft sie auch mit harten Stößen den Kopf auf den Boden, und so, wie sie sich fast andauernd Haupt, Hände und Arme zerrt und verdreht, tut sie es auch mit dem ganzen Leib. Man kann nur darüber weinen, nicht aber es beschreiben [...] Oft bricht sie auch unter den Qualen in Schreie und Stöhnen aus, wie Sterbende, als ob sie die Schmerzen einer Gebärenden, nein, eher einer Sterbenden erlitte. Sie sind aber, wenn man sich das vorstellen kann, schwerer als bei einer Sterbenden. Ich wage zu sagen, daß ich mich nicht erinnere, unter all den Sterbenden und im Todeskampf Liegenden, die ich gesehen habe, jemanden von so großen und so heftigen Qualen gepeinigt gesehen zu haben20.

So stellte Elisabeth die Stationen des Leidensweges dar, auch die Kreuzigung, wobei sie abwechselnd den Heiland, Maria und Johannes verkörperte, und dann die Grablegung. Dabei bluteten ihre Stigmen, auch aus den Augen und unter den Fingernägeln strömte Blut hervor. Wird diese wahrhaftige Imitatio der Passion auch in einem Trancezustand vollzogen, so hat die Selige dies doch nicht ohne vorhergehende Meditation mit Hilfe eines Bildes getan und wahrscheinlich nicht ohne von den gleichzeitigen Passionsschauspielen beeindruckt worden zu sein. Elisabeths Verhalten ist gewiss extrem, ordnet sich aber trotzdem in einen Zug der generellen spätmittelalterlichen Frömmigkeit ein, der als Typicum für jene Epoche zu bezeichnen ist, nämlich die Gebundenheit von Religiosität an körperliche

20 Zit. nach ebd.

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Ausdrucksformen21. – Derartige christomimetische Trancen sind selten in der Geschichte der Mystik, aber nicht singulär. So wird Ähnliches etwa von der italienischen Dominikanertertiarin Vanna von Orvieto († 1306) oder von der französischen Ursulinernonne Johanna von Jesus Maria († 1652) berichtet.

Bildliche Darstellungen Es gibt im Rahmen der gotischen Heiligen-Ikonographie manche Darstellungen von Ekstasen, z. B. in den illuminierten Handschriften der ‚Revelationes‘ Birgittas von Schweden (1303–1373), oder – fiktiv auf frühmittelalterliche Heilige zurückprojiziert – in den Holzschnitten zu den ‚Heiligen aus der Sipp-, Mag- und Schwägerschaft des Kaisers Maximilian I.‘ (1517)22. Besonders eindrucksvoll ist die Statue des Nikolaus von Flüe (1417–1487) im Stamser Rathaus (1504)23. Bilder, die ohne Bezug auf eine bestimmte Person nur die mystische Vereinigung der als Frau personifizierten Seele mit der Gottheit zu formulieren versuchen, wie in den ‚Rothschild Canticles‘ (um 1300), scheinen dagegen exzeptionell zu sein24. Die berühmteste Darstellung einer ekstatischen Situation ist freilich die Skulpturengruppe des Gianlorenzo Bernini (1598–1680) in Rom, Santa Maria della Vittoria25. Der für den Barock normgebende Bildhauer setzte in Stein um, was die Karmelitin Teresa de Jesús (1515–1582) aufgezeichnet hat. Von den Erscheinungen, Visionen und sonstigen Gnadengaben der Kirchenlehrerin aus Avila ist am bekanntesten die Transverberatio (wörtlich: Durchschlagung) ihres Herzens, die sie 1562 ein erstes Mal erlitt. Im Gegensatz zu den mittelalterlichen MystikerInnen ist von Teresa ein eigenhändig geschriebenes Exemplar ihrer im nämlichen Jahr begonnenen und drei Jahre später abgeschlossenen Autobiographie erhalten. Ich sah einen Engel in körperlicher Gestalt bei mir an der linken Seite […] nicht groß war er, sondern klein, sehr schön, sein Gesicht war so entflammt, daß er einer der ganz hohen Engel zu sein schien, die alle entzündet erscheinen […]. In seinen Händen sah ich einen langen Goldpfeil, und an der Eisenspitze schien er mir etwas Feuer zu haben. Diesen schien er mir einige Male ins Herz zu tauchen, daß er mich bis in die Eingeweide verwundete. Beim Herausziehen, schien mir, nahm er sie mit sich und verließ mich ganz entflammt in großer Gottesliebe. So groß war der Schmerz, daß ich mehrmals aufstöhnte, und so überwältigend die Süße, in die mich dieser sehr tiefe Schmerz versetzte, daß man nicht wünschen kann, er möge aufhören. Die Seele ist dann mit nichts anderem als mit Gott zufrieden. Kein körperlicher, sondern ein geistiger Schmerz ist dies, obschon der Körper daran Anteil hat, und zwar ziemlichen […]26.

21 DERS., Körper und Frömmigkeit in der mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte, Paderborn [u. a.] 2007. 22 DERS., Christliche Mystik (wie Anm. 7), 228. 23 DERS., Himmel, Hölle, Heilige. Visionen und Kunst im Mittelalter, Darmstadt 2002, 146f. 24 Ebd., 116f. 25 Abb. z. B. http://www.romaculta.it/det/theresa-von-avila-bernini.html. 26 Libro de la Vida 29, 12: DINZELBACHER, Himmel (wie Anm. 23), 148f.

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Es bedarf keiner detaillierteren Kenntnisse der Tiefenpsychologie, um diese Zeilen als die Beschreibung eines Sexualakts zu lesen; schon eine zeitgenössische Schrift nannte die Dinge beim Namen, indem sie auf die Skulptur mit dem Vorwurf antwortete, Bernini habe damit eine reine Jungfrau in die irdischen Niederungen herabgezogen und aus ihr eine hingestreckte, prostituierte Venus gemacht27. Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Bernini war ein tieffrommer Katholik, der Auftraggeber ein Kardinal, und die Skulptur steht in einer stadtrömischen Kirche. Trotzdem war ein solcher Sinnenrausch in Marmor in der Gegenreformation möglich. Es scheint hier der richtige Ort, einen Ausspruch von Simone Weil (1909–1943) zu zitieren – und dieser könnte als Motto über diesem ganzen Abschnitt stehen: „Mystikern vorzuwerfen, sie liebten Gott mit der Kraft der sexuellen Liebe, das ist so, als würde man einem Maler vorwerfen, Bilder mit Farben zu malen, die aus materiellen Substanzen bestehen. Wir haben nichts anderes, womit wir lieben können“28.

Echtheitsprüfungen Da das Phänomen Erlebnismystik nach der Spätantike in der westlichen Kirche bis ins späte 11. Jahrhundert unbekannt war, sah sich die Hierarchie lange nicht in Konkurrenz mit Menschen, die einen unmittelbaren Kontakt zu Gott zu haben behaupteten. Ab dem 13. Jahrhundert wurde die Geistlichkeit jedoch immer kritischer, aufgerüttelt durch ihre Infragestellung durch Sekten, aufgeweckt durch die Rezeption antik-arabischen wissenschaftlichen Denkens. Gebildete Laien entwickelten eine ähnliche Einstellung. Während noch niemand die Echtheit der Ekstasen etwa der genannten Elisabeth von Schönau mittels physischer Prüfungsmethoden untersuchte, passierte genau dies im späteren Mittelalter und in der Frühneuzeit immer öfter. Es gab ja nicht nur die Möglichkeit, die Aussagen und Schriften einer Frau mit auffälligem religiösen Verhalten auf ihre theologische Rechtgläubigkeit hin zu untersuchen. Wenn diese die ‚körperlichen Begleiterscheinungen der Mystik‘ an den Tag legte, konnte man ja auch bei diesen ansetzen, um festzustellen, ob die Phänomene echt oder nur vorgetäuscht seien. In letzterem Fall nahm man Hypokrisie an und bestrafte die Schwindlerin. Diese Untersuchung geschah meist in brutaler Weise: So versuchte man immer wieder, die ebenfalls bereits genannte Douceline aus ihren langen Verzückungen zu reißen, bei denen ihr jede sensuelle Perzeption nach außen unmöglich war. Ihre genannte altprovenzalische Vita berichtet: In vielen Weisen prüfte man die Gewißheit, daß ihre Entraffungen echt waren: manche Leute stachen sie mit Pfriemen und piekten sie mit Nadeln, ohne daß sie etwas gespürt oder sich irgend bewegt hätte. Dies praktizierte man auch, wenn sie in der Kirche betete; und Douceline behielt die Wunden und Narben dieser Behandlung durchaus am Leibe zu27 Ebd. 28 Simone WEIL, Cahiers = Aufzeichnungen, hg. u. übers. v. Elisabeth EDL u. Wolfgang MATZ, Bd. 3, München, Wien 1996, 152f.

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rück. Dann aber, wenn die Heilige wieder zu sich gekommen war, dann spürte sie oft großen Schmerz und großes Leid, wiewohl sie nicht klagte. Als König Karl, damals Graf der Provence, sie das erste Mal sah, wollte er prüfen, ob sie wirklich in Ekstase war. Er ließ eine Quantität Blei schmelzen und vor seinen Augen kochendheiß auf ihre bloßen Füße gießen. Sie aber spürte nichts. Darob empfing der König solche Zuneigung zu ihr, daß er sie als Gevatterin hielt. Aber danach, als sie aus ihrer Ekstase zurückgekehrt war, fühlte sie sehr großen Schmerz an den Füßen, so sehr, daß sie es nicht ertragen konnte. Und lange Zeit blieb sie leidend und konnte nicht gehen29. Besonders genau hat der Beichtvater der Osanna von Mantua († 1505) geschildert, welchen Proben man dieses ekstatische Kind unterzog: Manche nämlich brachten Flammen an ihre jungfräulichen Glieder, andere zogen sie an der Nase, andere verdrehten ihr die Arme. Einige schlugen sie sogar ohne Rücksicht auf ihre Heiligkeit ins Gesicht und quälten sie auf unterschiedliche Weise […] Auch wenn sie das Fleisch der Jungfrau sosehr [!] zusammenschnürten, daß sie es wie Kohle schwarz werden ließen, spürte sie doch keinen Schmerz, ehe sie nicht nach langer Verzögerung die Sinne wiedererlangte. Einmal wollte eine verrückte Frau in der Kirche unbedingt erproben, ob sie ihre Entraffung vortäusche: sie stieß eine schreckliche Nadel von der Art, die man zum Zusammennähen von Säcken braucht, fast ganz in ihren Schenkel. Sie aber bewegte sich ebensowenig wie eine Leiche. Erst als sie nach vielen Stunden erwachte, wurde sie von heftigstem Schmerz überfallen […]30. Der Erweis der Authentizität ihrer Entraffungen sollte ein, wenn nicht das entscheidende Moment für ihre spätere Karriere werden, die die santa viva zeitweise bis zur Regentschaft über ihre Heimatstadt führte. Schon Augustinus (354–430) hatte von ähnlichen Peinigungen des ekstatischen Priesters Restitutus berichtet, und sich dieses Phänomens durch Schmerzzufügung zu vergewissern reizte immer wieder die „Normalen“. Mit Nadeln gestochen wurden so auch Paola Antonia Negri (1508–1555), Arcangela Panigarola († 1525), Magdalena vom Kreuz (1487–1560) u. a. Bei Ursula Benincasa (1550– 1618) gebrauchte man zusätzlich Lanzetten, verbrannte sie und riss sie an den Haaren, was sie in der Trance nicht bemerkte, was ihr aber nachher Schmerzen verursachte. Coletta von Corbie (1381–1447) biss eine ihrer Mitschwestern in die Zehen, um sie aus ihrer totenähnlichen Ekstase herauszureißen. Vergleichsweise gut ging es da noch Dorothea von Montau (1347–1394), die man bloß mit Wasser übergoss, was sie gleicherweise erst nach dem Erwachen aus der Ekstase fühlte. Dasselbe Verfahren wandte man auch gegen Besessene an, die in Ohnmacht fielen. Ein Beispiel ist das Schicksal der fünfzehn- oder sechzehnjährigen Nicole Obry (Mitte 16. Jh.) in Laon, die die Priesterschaft 1566 feierlich auf öffentlicher Bühne inmitten tausender Zuschauer exorzierte (was bis 1788 jährlich in der Kathedrale gefeiert wurde): Wenn sie kollabierte, wurde mit Nadeln getestet, ob der Anfall echt war31. 29 DINZELBACHER, Christliche Mystik (wie Anm. 7), 216. 30 DERS., Heilige oder Hexen? Schicksale auffälliger Frauen, Düsseldorf 52004, 266. 31 Ebd., 266f.

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Alte und moderne Erklärungen Fragt man danach, wie ekstatische Phänomene erklärt wurden und werden, ist man mit diversen Modellen konfrontiert. Im theologischen Verständnis (das auch das der Erlebenden war) galt die Ekstase frommer Gläubiger als Zeichen der Heiligkeit, als donum dei, gratia gratis data (von Gott umsonst geschenkte Gabe). Das wird im Osten von Pseudo-Dionysius (5./6. Jh.) genauso gesagt wie im Westen von Gregor dem Großen (um 540–604) oder den Viktorinern und vielen anderen32. Um nur aus der ‚Summa Theologiae‘ einen Beleg zu geben: Est autem extasim faciens divinus amor33. (Die göttliche Liebe verursacht die Ekstase.) Der Aquinate zitiert hier wörtlich aus Pseudo-Dionysius (den er für einen Schüler des Apostels Paulus hielt). Und wenn man ein modernes katholisches Nachschlagewerk einsieht, liest man s. v. Ekstase, sie sei „nicht aktiv“, sondern „von Gottes Gnaden“ generiert34. Also eine ununterbrochene Erklärungstradition. Nun machten es aber nicht alle MystikerInnen der Kirche leicht, ihren wahren Charakter zu erkennen. Da diese dem Teufel die Macht zuschrieb, ebenfalls alles das zu bewirken, was Gott bewirken konnte, musste sie Unterscheidungskriterien entwickeln, die Discretio spirituum, die Unterscheidung der guten von den bösen Geistern. Ein Fall langen Schwankens war etwa der der Christina von Sint Truiden († 1224). Nicht nur Außenstehende, sondern auch ihre eigene Familie hielten sie zunächst für besessen, weswegen sie, wie bei solchen Menschen damals üblich, in Ketten gelegt wurde. Ihr Verhalten war in der Tat so auffällig, dass sie den Beinamen „die Wunderbare“ erhalten sollte. Man liest in ihrer zeitnahen Vita: Wenn von Christus gesprochen wurde, fiel sie in Trance, rapiebatur a spiritu, vom Geiste entrafft. Ihr Leib rotierte in Drehungen wie der Kreisel spielender Kinder, daß wegen der übergroßen Geschwindigkeit der Drehung ihre Körperglieder nicht mehr unterscheidbar waren. Nachdem sie ziemlich lange so herumgewirbelt war, ruhten alle ihre Glieder, als ob ihre Kraft zu Ende wäre. Zwischen ihrer Kehle und der Brust entsprang ihr dann ein Ton von erstaunlicher Harmonie, den kein Sterblicher verstehen oder durch irgend einen Kniff nachahmen konnte […]. Aus der Trance erwacht, fühlte sie sich wie trunken. Erst nach und nach wurde die ganze Stadt von Christinas Heiligkeit überzeugt, und sogar Graf Ludwig von Loo machte sie zu seiner geistlichen Beraterin und beichtete (!) vor seinem Tod bei ihr. Dass sie offenbar katharisches Gedankengut aufgenommen hatte (sie prophezeite den Zorn Gottes, da fast das ganze Menschengeschlecht durch die Ausgießung des Samens verdorben sei), störte anscheinend weder ihre Zeitgenossen, noch hinderte es ihre Verehrung als Heilige35. Dieselben Symptome, die in ihren frühen Jahren als Zeichen der Besessenheit galten, gelten nun als 32 Extase (wie Anm. 3). 33 Summa Theologiae IIa IIae, qu. 175. 34 Gotthard FUCHS, Praktisches Lexikon der Spiritualität, hg. v. Christian SCHÜTZ, Freiburg, Basel, Wien 1988, 283–286, hier: 285, 286. 35 DINZELBACHER, Heilige (wie Anm. 30), 169ff.

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Manifestationen der Heiligkeit. Letzterer Meinung kann nicht mehr widersprochen werden: in der offiziösen ‚Bibliotheca Sanctorum‘ des Istituto Giovanni XXIII wird sie als „santa“ geführt. Christinas Verhalten war sicher extrem, aber nicht ganz singulär. Um 1300 wurde das Krampfleiden der ekstatischen Lukardis von Oberweimar (um 1276– 1309) von ihrem Hagiographen als Vorbereitung Gottes auf ihre Existenz als mystische Heilige gedeutet, bei manchen Verständnislosen und Außenstehenden galt sie jedoch als von einem Geist getrieben, also als besessen. Denn bisweilen pflegte sie sich mit den Händen zu schlagen, dass es widerhallte, im Bett krümmte sie sich zu einem Bogen, stand auf dem Kopf, raste im Kreis herum und schlug sich an die Wände. Solche Erscheinungen haben auch die Nervenärzte des 19. und 20. Jahrhunderts als „hysterischen Bogen“ beschrieben. Dies und Ähnliches mehr bezeichnet der Verfasser ihrer Vita jedoch ausdrücklich als Tot et tanta opera, quae Deus in famula sua mirabiliter operatus est (So viele und so große Werke, die Gott in seiner Dienerin wunderbarerweise gewirkt hat)36. Im Katholizismus wird sie als Selige verehrt. Es sei nur angemerkt, dass die Hierarchie ab dem späten 14. Jahrhundert aus verständlichen Gründen eine durchgängige Skepsis an den Tag legte, die im Zeitalter der Gegenreformation noch zunahm. Ganz klar ist die Tendenz, die mögliche Bedeutung der Epiphänomene zu minimieren, sie als diabolisch zu erklären, oder, häufiger, als Hypokrisie eitler Frauen37. Es ist nun auch die Ekstase als donum diabolice datum kurz zu beleuchten. Sie kam nicht nur in Einzelpersonen vor; ungefähr zwischen 1400 und 1750 werden Ekstasen und Trancezustände nun bisweilen auch von den Hexen geschildert: Schon der spanische Theologe Alfonso Tostado (Tostat) bemerkte in seinem Genesiskommentar (nach 1435), dass die Hexen seiner Heimat Salben verwenden würden, die sie in einen tiefen Schlaf versetzten, aus dem sie nicht einmal Feuer aufwecken könne. Es wird auch im Hexenhammer ausführlich die Fähigkeit der bösen Frauen diskutiert, nur im Schlaf am Sabbat teilzunehmen; dazu müssen sie sich im Namen ihres Teufels und aller Dämonen auf die linke Seite legen. Dann geschieht es, dass ihnen die Einzelheiten in bildhafter Schauung (imaginaria visione) gezeigt werden. Allen Ernstes wird behauptet, die Ausfahrt in der Phantasie beweise, dass es auch eine körperliche gäbe. Eine in Breisach von den Inquisitoren befragte Hexe bestätigte ihnen, sie verfüge wahlweise über beide Möglichkeiten: illusorie aut corporaliter. Im 1521 gedruckten ‚Opus de magica superstitione‘ des Pedro Ciruelo (1470–1548), der dreißig Jahre als Inquisitor in Saragossa tätig war, liest man, dass die Körper der Hexen völlig steif liegen, völlig ohne Gefühl, kalt und wie tot, wenn sie ihre Halluzinationen vom Sabbat erleben. Der Teufel, der in sie eingefahren ist, gibt ihnen ihre Visionen vom Sabbat ein, und wieder

36 Ebd., 172. 37 Ebd., pass.

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erwacht, erinnern sie sich daran. Phänomenologisch sind Frauen, die tatsächlich solche Zustände zeigten, ebenfalls als Ekstatikerinnen anzusprechen38. Nach und nach gewannen neben den Theologen auch Mediziner eine Deutungskompetenz für das hier diskutierte Phänomen39. Aufgrund der immer komplexer werdenden Anforderungen für Kanonisationen mussten sich damit befasste Theologen, die ja in der Regel nicht von der Aristotelesrezeption der Zeit und damit der Entstehung protonaturwissenschaftlicher Erklärungsmodelle unberührt blieben, doch die Frage stellen, ob nicht natürliche, also rein medizinisch zu interpretierende Gründe für Ekstasen, Erscheinungen, Einsprachen usw. vorliegen konnten. Der Pariser Erzbischof Wilhelm von Auvergne († 1249), ein guter Kenner antiker und arabischer Gelehrsamkeit, brachte den Empfang von Visionen ausdrücklich mit der Krankheit der Melancholie wie auch der körperlichen und seelischen Konstitution in Verbindung, die besonders Frauen für diese Erfahrung geeignet mache. Die Krankheiten ihrerseits könnten freilich von Dämonen hervorgerufen sein (tatsächlich gibt es fast keine Mystikerin ohne schwerwiegende Krankheitsgeschichte). Der Aquinate wird dann, bestimmend für die künftige Diskussion, drei Gründe für Entraffungen als möglich bezeichnen, nämlich körperliche Erkrankung, dämonische Einflüsse, göttliche Einflüsse: ex causa corporali […] propter aliquam infirmitatem […] ex virtute daemonum […] ex virtute divina40. Damit lag ein wohlgeordnetes Schema der möglichen – und miteinander konkurrierenden – Alternativen vor. Doch kommen wir zur pathologischen Interpretation des mystischen Lebens zurück, mit der sich die Charismatikerinnen im Laufe des ausgehenden Mittelalters und während der Neuzeit mehr und mehr konfrontiert sahen. Die Mediziner hatten ja schon im Mittelalter oft das Renommee, Skeptiker oder sogar Agnostiker zu sein, was freilich nicht pauschalisiert werden darf41; mancher von ihnen fiel angesichts der Ekstasen einer Mystikerin demütig auf die Knie, anstatt die Frau zu untersuchen (so z. B. der „notable medechin“ Hugo Picotel vor der entrafften Coletta Boillet [1381–1447])42. Paradigmatisch für die neue, zunehmend skeptische Einstellung ist vielleicht die (nach 1300 niedergeschriebene) Bemerkung zum gynäkologischen Werk ‚Secreta mulierum‘ seitens eines Kommentators, der sich mit der Behauptung von Frauen befasst, ihre Seele habe in einer Ekstase das Jenseits durchwandert. Das ist lächerlich. Die Krankheit kommt aus natürlichen Gründen […], weil Dämpfe ins 38 Ebd., 209. 39 DERS., Mystische Phänomene zwischen theologischer und medizinischer Deutung in Spätmittelalter und Frühneuzeit, in: Mystik und Natur. Zur Geschichte ihres Verhältnisses vom Altertum bis zur Gegenwart (Theophrastus Paracelsus Studien 1), hg. v. DEMS., Berlin, New York 2009, 61–85. Weniges bei E. Ann MATTER, Theories of the Passions and the Ecstasies of Late Medieval Religious Women, in: The Representation of Women’s Emotions in Medieval and Early Modern Culture, hg. v. Lisa PERFETTI, Gainesville [u. a.] 2005, 23–42. 40 Summa Theologiae II/2, 175, 1 resp. 41 Peter DINZELBACHER, Unglaube im „Zeitalter des Glaubens“. Atheismus und Skeptizismus im Mittelalter, Badenweiler 2009, 78ff. 42 DERS., Heilige (wie Anm. 30), 68.

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Gehirn hochsteigen. Dichte Dämpfe verursachen Höllen- und Dämonenvisionen, feine dagegen Himmels- und Engelsvisionen43. Dass das Thema von einer Ekstatikerin selbst angesprochen wird, kommt eigentlich nur in apologetischer Funktion vor. So hatte Birgitta von Schweden eine Offenbarung, in der Christus sie ihrer Begnadung versichert, um ihr dann auch ein medizinisches Argument zur Erklärung ihres auffallenden Verhaltens zu geben: Wenn meine Freunde zuweilen wie von Sinnen (amentes) erscheinen, so ist dies doch nicht eine Folge einer dämonischen Bedrängung, noch der glühenden Andacht in meinem Dienste, sondern wegen eines zerebralen Defekts (propter defectum cerebri) oder auch einer anderen verborgenen Ursache […]44. Warum lässt der Herr solches bei denen zu, die ihn so besonders verehren? Natürlich zu ihrer gnadenbringenden Verdemütigung. Man sieht jedenfalls, Birgitta besaß als Abkömmling des höchsten schwedischen Adels eine sehr vielseitige Bildung; vielleicht hört man hier aber auch etwas die gelehrten Aufzeichner ihrer Revelationen heraus. Die oben genannte Osanna von Mantua hatte ihre ersten Visionen des blutüberströmten Schmerzensmannes mit sechs Jahren. Als sich ihre Eltern, auch sie Angehörige der städtischen Oberschicht, mit den ekstatischen Zuständen ihrer Tochter konfrontiert sahen, vermuteten sie Epilepsie oder irgend eine andere Krankheit. Als sie aber die Sache gründlicher bedachten und in ihr etwas Göttliches erkannten […] und sie genau beobachteten, dass sie sie nur mit gebeugten Knien wie eine Betende und oftmals vor dem Altar entrafft antrafen, führten sie diese Ekstase nicht [mehr] auf eine Krankheit zurück, wie zunächst, sondern auf Gott als ihren Urheber. Darob dankten sie dem höchsten Gott für ein solches Geschenk an die Sterblichen. Dass es sich bei Osannas Ekstasen nicht um Symptome einer Krankheit handeln könne, war ihrem Beichtvater deswegen klar, weil sie mit keiner Gewalt aus ihren Entzückungen herausgeholt werden konnte, was bei Kranken nur selten vorkomme. Es reagierte die Umwelt dieser kindlichen Mystikerin also zunächst so, wie wir es auch tun würden: Man dachte anfangs an eine pathologische Ursache, nicht an eine übernatürliche. Erst der religiöse Zusammenhang (Körperhaltung, Ort) führte sie auf die „richtige“ Spur. Dabei ist eine anscheinend überzeitliche Rollenverteilung zu bemerken: Der Vater behandelte das Mädchen, wie mehrfach hervorgehoben wird, mit großer Härte, griff aber auch „rational“ zu verschiedenen medizinischen Behandlungsweisen und Arzneimitteln, um das, was er für eine Krankheit hielt, zum Verschwinden zu bringen und Osanna dann verheiraten zu können. Die Mutter war zwar derselben Meinung und fürchtete die Schande für ihr Haus, zeigte aber eher Mitleid. Über die anderen Leute in ihrer Umgebung sagt Osanna selbst: Von allen wurde ich verspottet und verlacht […] sogar die Dienerschaft hasste mich […]45. 43 Dyan ELLIOTT, Proving Woman. Female Spirituality and Inquisitional Culture in the Later Middle Ages, Princeton 2004, 207f. 44 Revelationes caelestes 1, 4, 9, ed. Carl-Gustav UNDHAGEN (http://www.umilta.net/bk1.html). 45 DINZELBACHER, Heilige (wie Anm. 30), 70f.

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Dies sind Episoden aus einem kontinuierlichen Entwicklungsgang, der sich an sehr vielen Beispielen nachzeichnen ließe. Seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts beschäftigen sich dann primär Nervenärzte mit Menschen, die Symptome von Erlebnismystik zeigen. Um die Jahrhundertwende lautete die übliche Diagnose bei mystisch-ekstatischen Phänomenen auf Hysterie. Der stigmatisierten Visionärin Therese von Konnersreuth (1898–1962) z. B. bescheinigten 1918 nicht weniger als vier Ärzte schwerste Hysterie mit Blindheit und teilweiser Lähmung. Seitdem der Begriff Hysterie bzw. Hysteroepilepsie unmodern geworden ist, dominieren Suggestion und Autosuggestion, seltener parapsychologische Erklärungsmodelle. Da einen zentralen Bereich der christlichen Mystik die Brautmystik darstellt (Unio mystica der Seele mit Jesus), liegen hierfür sexualpsychologische Deutungen nahe, die mehrfach von der gewählten Sprache, in der die Erlebnisse berichtet werden – etwa bei Mechthild von Magdeburg, Hadewijch (2. Viertel 13. Jh.), Margareta Ebnerin (um 1291–1351), Friedrich Sunder (1254–1328) u. a. – gestützt werden; diese Sprache lässt sich keinesfalls als bloße Bildsprache wegdiskutieren46. Doch haben Mediziner und Psychologen ein Problem: Der Kern des naturwissenschaftlichen Erklärens ist das Experiment. Religiöse Ekstasen sind aber experimentell nicht wiederholbar. Anders als bei sonstigen somatischen oder psychischen Normabweichungen, d. h. körperlichen und seelischen Erkrankungen, stehen Ekstatiker nicht zur Beobachtung zu Verfügung. Allerdings sind ähnliche Zustände in der Tat mit Drogen induzierbar. So kann etwa das unter Chloroform oder LSD als beseligend oder erschreckend Perzipierte als religiöse Erfahrung empfunden werden47. „Die Drogenwirkungen führen in vielen Fällen zu einem ekstatischen Bewußtseinswandel, der eine Entgrenzung des Ich ist, [...] ein innerpsychisches und innerkosmisches Erlebnis“48. Nahe an die durch Askese und Meditation hervorgerufene Ekstase scheinen Zustände zu kommen, die sich durch Gaben von Psilocybin erreichen lassen. Dies ist ein Indolalkaloid aus der Gruppe der Tryptamine, welches in einigen PilzArten vorkommt (namentlich in Mexiko); diese werden landläufig als Zauberpilze oder „Magic Mushrooms“ bezeichnet. Der Konsum von Psilocybin bewirkt Halluzinationen, die denen von LSD ähneln, in der Regel jedoch kürzer und weniger intensiv sind. Diese Pflanzen wurden traditionell von indianischen Stämmen Südamerikas eingenommen, sind eindeutig unschädlich, aber heute trotzdem verboten. In die Mystikforschung wurden sie von Walter N. Pahnke M.D., Ph.D. (1931–1971) eingeführt, einem Geistlichen, Arzt und Psychiater mit Ausbildung 46 DERS., Die Psychohistorie der Unio mystica, in: DERS., Körper (wie Anm. 21), 111–146. Vgl. Ralph FRENKEN, Kindheit und Mystik im Mittelalter (Beihefte zur Mediaevistik 2), Frankfurt a. M. [u. a.] 2002; DERS., Leiden und Heilung. Zur Phantasiewelt der mittelalterlichen Mystik, in: DINZELBACHER, Mystik und Natur (wie Anm. 39) 199–227. 47 David WULFF, Mystical Experience, in: The Varieties of Anomalous Experience. Examining the Scientific Evidence, hg. v. Etzel CARDEÑA, Steven Jay LYNN u. Stanley KRIPPNER, Washington DC 32004, 397–440, hier: 400, 428; Gebhard FREI, Probleme der Parapsychologie (Imago mundi 2), Innsbruck 31985, 199. 48 Ebd.

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in Harvard. Im „Good Friday Experiment“ (auch „Miracle of Marsh Chapel“), das 1962 während eines Karfreitag-Gottesdienstes durchgeführt wurde, bekamen zehn Studierende der Theologie von ihm 30 mg Psilocybin, zehn weitere ein Placebo. Neun Probanden der ersten Gruppe berichteten von religiösen bzw. mystischen Erlebnissen, nur einer aus der zweiten Gruppe. In einem Interview, welches neunundzwanzig Jahre später stattfand, sagten sieben Versuchspersonen aus, sie hätten damals Höhepunkte in ihrem spirituellen Leben und echte mystische Erfahrung gehabt. Diese führten bei der Mehrzahl zu einer Vertiefung des Glaubens, und die meisten von ihnen waren Geistliche geworden49. Die Vergleichbarkeit der mystischen Ekstase mit der drogeninduzierten wird von Gläubigen gern vehement bestritten. Wissenschaftlich gesehen ist dies nicht haltbar. Es gibt zwar in den mittelalterlichen Quellen keinen Hinweis darauf, dass psychogene Substanzen zur Einleitung solcher Zustände verwendet worden wären. Vielmehr schufen Askese (Nahrungs- und Schlafentzug, Selbstverletzung), Meditation (Autosuggestion) bzw. Ruminatio (unablässige Wiederholung derselben Gebete) die Voraussetzungen für den Eintritt in diesen Zustand. Da aber „echte Mystiker“ im katholischen Sinn und „Drogenmystiker“ dieselben somatischen Zustände zeigen und ihre jeweiligen Erlebnisse von beiden Gruppen als eindeutig von höchster religiöser Intensität beurteilt werden, ist zu schließen, dass die spirituelle und die drogeninduzierte Ekstase ein- und dasselbe psychosomatische Phänomen sind, jedoch mit jeweils anderem Auslöser. Denn solange keine Differentialkriterien angebbar sind, sind Phänomene als identisch zu betrachten, wie es dem Grundsatz der Gültigkeit der einfachsten Hypothese (bis zu einer eventuellen Falsifizierung) entspricht. Nach meiner Kenntnis der entsprechenden Biographien, findet sich praktisch keine Mystikerin, die nicht unter gravierenden Erkrankungen gelitten hätte50. Manche, wie z. B. Alpais von Cudot († 1211) oder Liedwy von Schiedam (1380?– 1433), waren überhaupt ans Bett gefesselt. Dass speziell Fieberanfälle Ekstasen einleiten konnten, wird man annehmen dürfen. Unter diesen Frauen kennen wir sowohl zu Halluzinationen neigende, schwerkranke Menschen von mangelnder Entscheidungskraft und Konzentrationsfähigkeit usw. wie etwa Elisabeth von Schönau, ein Mensch, auf den das „isoliert im Kokon seiner Vorstellungen“ Arbmans gut passt51. Wir finden aber auch das Gegenteil, nämlich trotz mannigfacher körperlicher Beschwerden gut organisierte, starke Persönlichkeiten wie etwa Katharina von Siena (1347–1380) und Birgitta von Schweden. Ekstasen können, müssen aber nicht pathologische Symptome sein. Sie müssen aber auch keineswegs notwendige körperliche Begleiterscheinung für eine mystische Erfahrung sein, eine solche kann sich etwa auch in der Trance oder im Schlaf vollziehen (vgl. den „Großen Traum“ bei Carl Gustav Jung).

49 WULFF (wie Anm. 47), 404. 50 Beispiele bei WEISS (wie Anm. 5), 76ff. 51 ARBMAN (wie Anm. 4), Vol. 1, 149.

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Sind Ekstasen mit frommem Inhalt ein Zeichen der Heiligkeit im Sinne der katholischen Hagiologie? Für die mittelalterliche Umwelt einer Ekstatikerin und für ihre Hagiographen: in der Regel durchaus. Für die Amtskirche seit dem Großen Schisma: Nur sehr bedingt – die Revelationen der Birgitta von Schweden z. B. wurden auf dem Konzil von Basel keineswegs mit besonderer Begeisterung aufgenommen und sind in ihrer Kanonisationsbulle nur am Rande erwähnt, während die kirchlichen Tugenden wie Gehorsam hervorgehoben werden52. Die Widerstände gegen jüngere Ekstatikerinnen wie Therese von Konnersreuth sind bekannt. Anstelle eines Schlusswortes ist es vielleicht nicht unpassend, zwei katholische Theologen zu zitieren, wurde doch die Deutungshoheit über mystische Phänomene stets diesem Berufsstand zugeordnet. Der zeitgenössische Dogmatiker Bardo Weiß schrieb in seinem Werk über die Ekstase in der deutschen Frauenmystik des 12. und 13. Jahrhunderts: „Ein Beweis für das Gottgewirkt-Sein dieser Ekstasen und Visionen läßt sich wissenschaftlich nicht führen“53. Dies ist in der Linie, die bezüglich der Privatoffenbarungen bereits der gelehrte Prosper Lambertini gegeben hatte, ehe er als Benedikt XIV. (1740–1758) den Heiligen Stuhl bestieg: Pro regula statutum, ut, quidquid per naturae vires obtineri potuit, non sit miraculo adscribendum54.

52 Vgl. HEYMERICUS de Campo, Dyalogus super Reuelacionibus beate Birgitte. A Critical Ed. with an Introd. by Anna Fredriksson ADMAN (Acta Universitatis Upsaliensis: Studia latina Upsaliensia 27), Uppsala 2003, 15–69. 53 WEISS (wie Anm. 5), 83. 54 „Als Regel gilt: Was immer auch durch natürliche Kräfte erlangbar ist, darf nicht einem Wunder zugeschrieben werden.“ (BENEDICTUS XIV. Papa, De servorum Dei beatificatione et beatorum canonizatione, lib.4, 24, in: DERS., Opera omnia 1, Romae 1766, 389.)

DIE STIGMATA DES FRANZISKUS VON ASSISI Ulrich Köpf

P. Oktavian Schmucki in Freundschaft und Verehrung zum 85. Geburtstag

I. Die gängigen Vorstellungen über die Stigmata Wo über körperliche Begleiterscheinungen intensiven religiösen Erlebens gesprochen wird, da drängt sich unvermeidlich der Gedanke an das Phänomen der Stigmata auf, und wo wir über Stigmata reden, da denken wir wohl zuerst an ihren bedeutendsten Träger Franziskus von Assisi (1181/82–1226). Die Überlieferung von der Entstehung dieser Auszeichnung des Heiligen ist nach den franziskanischen Quellen allgemein bekannt1. Dennoch rufe ich als Ausgangspunkt meiner Überlegungen ihre Grundzüge so in Erinnerung, wie sie in der ältesten Franziskus-Biographie, der 1228 verfassten ‚Vita prima‘ des Thomas 1

Die wichtigsten lateinischen Quellen über Franziskus sowie über Klara von Assisi sind jetzt leicht greifbar in: Fontes Franciscani, hg. v. Enrico MENESTÒ / Stefano BRUFANI [u. a.] (Medioevo Francescano, Testi 2), S. Maria degli Angeli – Assisi 1995, abgekürzt: FF. Als textkritische Edition ist noch immer grundlegend: Legendae S. Francisci Assisiensis saeculis XIII et XIV conscriptae, edd. Patres Collegii S. Bonaventurae (Analecta Franciscana 10), Quaracchi 1926–1941, abgekürzt: AFranc 10, im Folgenden ohne die Hervorhebungen in der Edition zitiert. Die grundlegende Ausgabe der Schriften des Franziskus liegt vor in: Die Opuscula des hl. Franziskus von Assisi. Neue textkritische Edition (Spicilegium Bonaventurianum 13), hg. v. Kajetan ESSER, 2. Aufl. besorgt v. Engelbert GRAU, Grottaferrata 1989. Die Franziskus betreffenden Quellen sind jetzt in einer gegenüber den FF um zahlreiche kleinere Zeugnisse von innerhalb und außerhalb des Ordens sowie um nützliche Beigaben erweiterten deutschen Ausgabe leicht zugänglich: Franziskus-Quellen. Die Schriften des heiligen Franziskus, Lebensbeschreibungen, Chroniken und Zeugnisse über ihn und seinen Orden, hg. v. Dieter BERG, Leonhard LEHMANN [u. a.], Kevelaer 2009, abgekürzt: FQ. Diese Ausgabe beruht auf den Übertragungen einzelner Werke in der Reihe: Franziskanische Quellenschriften, Werl 1952ff., und ersetzt sie, macht aber die dort gebotenen ausführlichen Einleitungen nicht überflüssig. Gebrauchte Abkürzungen der Quellen (wie in FF): Actus = Actus b. Francisci et sociorum eius; 1 Bon = Bonaventura, Legenda maior; 2 Bon = Bonaventura, Legenda minor; 3 Bon = Tractatus de miraculis; 1 Cel = Thomas von Celano, Vita prima; 2 Cel = Thomas von Celano, Vita secunda; 3 Cel = Thomas von Celano, Tractatus de miraculis; 3 Soc = Legenda trium sociorum.

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von Celano (um 1190–1260), festgehalten sind. Danach weilte Franziskus zwei Jahre vor seinem Tode auf dem Berg Alverna (La Verna nördlich von Arezzo). Hier wurde ihm eine Vision zuteil, die ihm einen über ihm schwebenden Mann zeigte, einen Seraphen mit sechs Flügeln, der mit ausgespannten Händen und aneinandergelegten Füßen an ein Kreuz geheftet war. Diese Vision erregte in Franziskus zugleich Freude und Trauer. Während er noch über ihre Bedeutung nachdachte, wurden an seinen Händen und Füßen die Male von Nägeln sichtbar, wie er sie zuvor an dem gekreuzigten Mann über sich gesehen hatte2. Die Stigmata des Franziskus sind in der Überlieferung sehr schnell zu dem wohl wichtigsten Einzelphänomen im Leben und in der äußeren Erscheinung des schon 1228, zwei Jahre nach seinem Tode, Heiliggesprochenen geworden. Sie sind auch in fast allen bildlichen Darstellungen seiner Person zu sehen, und der Vorgang ihres Empfangs ist zu einem wichtigen Motiv in den Bildzyklen seines Lebens, aber auch vieler Einzelbilder geworden3. Dabei haben die Maler ergänzt, was in der schriftlichen Überlieferung fehlt. So hatte Thomas von Celano einen Kausalzusammenhang zwischen der Vision und den Stigmata nicht hergestellt. Doch jedem, der etwa Giottos (1266–1337) Fresken in der Oberkirche von S. Francesco in Assisi und in der Cappella Bardi von Santa Croce in Florenz oder sein Tafelbild im Louvre4 kennt, dem dürfte sich die Vorstellung eingeprägt haben, die Wundmale seien gleichsam durch eine Art äußerer Einwirkungen hervorgerufen, die von dem Gekreuzigten direkt zu den Extremitäten und zur Seite des Franziskus hinführten. Dabei werden in unterschiedlicher, erst bei näherer Betrachtung und Vergleichung auffallender Weise die Wunden des Gekreuzigten an seinen Händen und Füßen durch sich überkreuzende Linien mit den jeweils andersseitigen oder aber in einer die Überschneidung vermeidenden Linienführung mit den jeweils entsprechenden Extremitäten des Franziskus verbunden5. Doch auch ungeachtet solcher Feinheiten der Darstellung erwecken die Bilder den Eindruck, die Stigmata seien Ergebnis einer äußeren Einwirkung des Gesehenen, sie 2 3

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1 Cel 94 (AFranc 10, 72). Für die Geschichte der bildlichen Darstellung der Stigmata vgl. jetzt die umfassende Darstellung von Chiara FRUGONI, Francesco e l’invenzione delle stimmate. Una storia per parole e immagini fino a Bonaventura e Giotto (Saggi 780), Torino 1993. Servus GIEBEN erwähnt in seiner Besprechung des Buches (Collectanea Franciscana 65 [1995], 279–281, hier: 279), dass bereits 1924 Damiano NERI in einem Frugoni anscheinend unbekannten Beitrag die lange und verwickelte Geschichte der Ikonographie vor Bonaventura und Giotto behandelt hat: Iconografia delle Stimate di S. Francesco nel secolo XIII, Studi Francescani 10 (1924), 283– 322. Auf diesen Aufsatz hatte längst Oktavian SCHMUCKI hingewiesen, dessen grundlegende Arbeiten (unten Anm. 17) Frugoni leider ignoriert. Von den Auseinandersetzungen mit ihr vgl. Pietro ZERBI, „L’ultimo sigillo“ (Par. XI,107). Tendenze della recente storiografia italiana sul tema delle stigmate di S. Francesco. A proposito di un libro recente, Rivista di Storia della Chiesa in Italia 48 (1994), 7–42; STANISLAO da Campagnola, L’„invenzione“ delle stimmate di Francesco. Una storia per ipotesi da frate Elia a san Bonaventura, Commentari d’arte 1 (1995), 21–34; Giovanni MICCOLI, Considerazioni sulle stimmate, Franciscana 1 (1999), 101–121. Zusammengestellt von FRUGONI, L’invenzione (wie Anm. 3), Abb. 19–21. Schematisch skizziert ebd., 214.

Die Stigmata des Franziskus von Assisi

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seien von dem Seraphen ausgelöst, den Franziskus auf dem Berg La Verna geschaut habe. Damit verbindet sich in der herkömmlichen Vorstellung vieler Gläubiger die Überzeugung, die Stigmata hätten den Charakter eines Wunders und seien ein in der Geschichte einmaliges und einzigartiges Ereignis. In diesen körperlichen Zeichen scheint zugleich die singuläre Heiligkeit des Franziskus begründet. Trotz mancher Bedenken kirchlicher Autoritäten gegen ihre Rolle in der Frömmigkeit hat sich ihre Hochschätzung in der franziskanischen Familie wie im gesamten Katholizismus gehalten. Doch die Vorstellungen von den Stigmata sind nicht nur Inhalt eines allgemeinen und bis heute bestehenden, auch von der Amtskirche anerkannten Glaubens. Für die Geschichte der franziskanischen Gemeinschaft nach dem Tode ihres Stifters hatten die Wundmale eine sehr präzise und auch theologisch sorgfältig reflektierte, heilsgeschichtlich begründete Bedeutung. André Vauchez hat durch eine umfassende Studie gezeigt, dass ihre Auffassung, ja ihre Anerkennung zunächst keineswegs unwidersprochen war und sich erst im Laufe langwieriger Auseinandersetzungen durchsetzen konnte6. Es gab Widerstände gegen die Stigmata und ihre Deutung von außerhalb des Ordens wie innerhalb der franziskanischen Gemeinschaft – Widerstände allerdings nicht auf der Grundlage einer historischen Kritik, die damals noch gar nicht existierte, sondern wegen der in ihnen ausgedrückten Annäherung des Franziskus an Christus oder wegen der damit verbundenen Ehrung der franziskanischen Gemeinschaft, die bei anderen Gruppen Konkurrenzgefühle auslöste. Von 1236 bis 1291 hielten es die Päpste nicht weniger als neunmal für nötig, sich in feierlichen Erklärungen für die Anerkennung der Wundmale einzusetzen und ihre Leugnung mit schweren Strafen zu bedrohen7. Widerspruch erhob sich insbesondere auch gegen die suggestiven bildlichen Darstellungen, die das unerhörte Wunder jedermann vor Augen stellten. An manchen von ihnen wurden die Stigmata wieder entfernt, und es gab Verbote, sie überhaupt darzustellen. Wenn sie sich dennoch durchsetzten, dann drückt sich darin der Wille der franziskanischen Gemeinschaft wie der Päpste aus, an der Auszeichnung des Franziskus unbedingt festzuhalten. Klaus Krüger hat die Kultbilder des stigmatisierten Franziskus treffend als „Beweisbilder“ bezeichnet; durch ihre Suggestivkraft sollten sie die Wirklichkeit des Bezweifelten und Umstrittenen sichern8. Die kontroverse Diskussion über die Stigmata spiegelt sich bereits im 2. Kapitel des ‚Tractatus de miraculis‘ wider, den Thomas von Celano bald nach der Jahrhundertmitte (1250 bis 1252) verfasst hat. In der Kreuzestheologie des Generalministers Bonaventura (um 1217–1274), die seine am 20. Mai 1263 vom Generalkapitel in Pisa als einzig verbindliche Biographie approbierte Darstellung des Franziskuslebens durchzieht, bildet der Empfang der Stigmata das zentrale Datum: als das Siegel des Hohenpriesters Christus, um dessentwillen seine Worte 6 7 8

André VAUCHEZ, Les stigmates de saint François et leurs détracteurs dans les derniers siècles du moyen âge, Mélanges d’archéologie et d’histoire 80 (1968), 595–625, hier: 601ff. Ebd., 601–604. Klaus KRÜGER, Der frühe Bildkult des Franziskus in Italien. Gestalt- und Funktionswandel des Tafelbildes im 13. und 14. Jahrhundert, Berlin 1992, 47–50.

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und Taten von allen als wahr und authentisch anerkannt werden sollten9, und als Höhepunkt der sieben Erscheinungen des Kreuzes im Leben des Heiligen, der den vorhergehenden Visionen Glaubwürdigkeit verleiht, wie er umgekehrt durch sie das Wahrheitszeugnis empfängt10. Mit gutem Grund stellte Bonaventura an die Spitze seiner Miracula, die er der ‚Legenda maior‘ als Anhang anfügte, ein Kapitel Et primo de virtutibus sacrorum stigmatum11, in dem er weitgehend dem ‚Tractatus de miraculis‘ des Thomas von Celano folgte und an dessen Ende er im Anschluss an jenen12 kategorisch erklärte, an den heiligen Stigmata dürfe es keinen Zweifel geben13. Dass Grund zu diesem Verbot bestand, das nicht nur für die franziskanische Gemeinschaft gelten sollte, haben wir gesehen. Bonaventura festigte und vertiefte mit seinen Ausführungen zugleich eine Tendenz, die seit dem Tod des Franziskus immer deutlicher zutage getreten war. Die Stigmata des Ordensgründers wurden in wachsendem Maß als Anlass dafür genommen, Franziskus nicht nur als großen Heiligen zu verehren, sondern ihn auch als „Engel des sechsten Siegels“ aus Offenbarung Johannis 7,2 und in seiner wachsenden Christusähnlichkeit sogar als „zweiten Christus“ zu deuten, woran sich vielfältige Spekulationen anschlossen14. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts setzte eine theologische Überhöhung des Ordensgründers ein, die im späten 14. Jahrhundert in dem monumentalen Werk des Bartholomaeus von Pisa (um 1338–um 1401) ‚De conformitate vitae Beati Francisci ad vitam Domini Jesu‘ („Über die Gleichförmigkeit des Lebens des heiligen Franziskus mit dem Leben des Herrn Jesus“) gipfelte. Nun ist es an dieser Stelle nicht möglich, die komplexe Geschichte der angedeuteten Entwicklung auch nur in ihren Grundzügen darzustellen oder gar näher zu beleuchten. Ich werde mich deshalb im Folgenden ganz auf die schwer zu durchschauenden Anfänge des Glaubens an die Existenz der Stigmata konzentrie9 10 11 12 13

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1 Bon 13,9 (AFranc 10, 619,3f.): Fer nihilominus sigillum summi pontificis Christi, quo verba et facta tua tamquam irreprehensibilia et authentica merito ab omnibus acceptantur! 1 Bon 13,10 (AFranc 10, 620,15f.): praedictis dat firmitatem fidei et ab eis accipit testimonium veritatis. 3 Bon 1 (AFranc 10, 627–630). 3 Cel 2,5 (AFranc 10, 274): Nulli sit ambiguitati locus, nulli sempiternae huius largitio bonitatis dubia videatur! 3 Bon 1,6 (AFranc 10, 630): De sacris ergo stigmatibus nulli sit ambiguitati locus, nullius in hoc, quia Deus bonus est, nequam sit oculus quasi huiusmodi doni largitio sempiternae bonitati non congruat. Die Geschichte dieser Entwicklung hat zuletzt Paul BÖSCH ausführlich in einem sehr kenntnisreichen, aber auch mit zahlreichen Hypothesen arbeitenden Buch dargestellt: Franz von Assisi – neuer Christus. Die Geschichte einer Verklärung, Düsseldorf 2005. Den Begriff „Hypothese“ gebraucht der Verfasser selbst häufig (29, 39, 41, 67, 92, 93, 107, 132, 145, 167, 194). Vgl. auch seine Antwort auf die Rezension seines Buches durch Paul ZAHNER, Collectanea Franciscana 75 (2005), 699–704: Paul BÖSCH, Opinationes de stigmatibus Francisci. Annotationes ad quaestionem disputatam, Collectanea Franciscana 76 (2006), 561–565. Es überrascht, dass Bösch nach seinem Ausfall gegen Oktavian Schmucki, „der mit seinen akribischen und oft auf Lateinisch abgefassten Studien zum Hüter der offiziellen WundmalLegende geworden“ sei (Franz von Assisi, 24), hier einen in durchaus problematischem Latein verfassten Artikel vorzulegen wagt.

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ren und die späteren Deutungen beiseite lassen müssen. Diese Beschränkung setzt voraus, dass ich aus der Beschäftigung mit der Entwicklung der mittelalterlichen Deutungen und Theorien die Überzeugung von einer geschichtlichen Grundlage dieses Glaubens gewonnen habe und ihn nicht als das Ergebnis bloßer Inszenierung aus religiösen und politischen Motiven betrachten kann15. Ich halte die Stigmata für ein Datum in der Biographie des Franziskus von Assisi, das nicht nur als deren Anhang betrachtet, aber auch nicht ungeprüft übernommen werden sollte. Der Biograph des Franziskus darf sich weder mit den zum Allgemeingut volkstümlicher Frömmigkeit gewordenen Vorstellungen begnügen noch das von Bonaventura ausgesprochene Verbot jeden Zweifels akzeptieren. Zu den grundlegenden Werkzeugen der historischen Kritik gehört der methodisch begründete Zweifel, der bei den Quellen einsetzt.

II. Die Stigmata in der schriftlichen Überlieferung Da die wirkungsgeschichtlich so aufschlussreichen Bilder durchweg sekundären Charakter gegenüber den schriftlichen Quellen haben und auch Missverständnisse hervorrufen können16, darf sich die Betrachtung des Biographen allein auf diese stützen. Aber auch im Blick auf die schriftlichen Quellen zwingt mich der vorgegebene Rahmen zu starker Beschränkung. Und selbst wenn ich mich mit der Analyse weniger Texte begnüge, werde ich dabei nur auf ausgewählte Aspekte eingehen können. Vor allem ist es mir nicht möglich, mich näher mit der von Jahr zu Jahr wachsenden und heute fast unüberschaubaren Literatur zu meinem Thema oder gar über die franziskanischen Quellen im Allgemeinen auseinanderzuset-

15 Für unbegründet halte ich auch die Hypothese, Elias von Cortona habe die beim Tode des Franziskus sichtbar gewordenen Wunden aus seinen letzten Krankheiten in das Wunder der Stigmata uminterpretiert und propagiert: Vgl. FRUGONI, L’invenzione (wie Anm. 3), 82f.: „sono propensa ad addebitare a Elia, sollecito compagno nel vegliare le ultime malattie e presente alla fine del santo, la decisione di tramutare in miracolo il compianto dei frati sul corpo morto e martoriato di Francesco, le piaghe finalmente visibili in stimmate, e di divulgare il prodigio con la massima risonanza possibile. [...] Per Elia, il riconoscere nelle piaghe di Francesco morto le stimmate fu il modo di placare il ricordo del fondatore scoraggiato e incupito, di ricomporre i patimenti fisici di Francesco, trasformandoli nel privilegio accordato da Dio in modo unico e irripetibile.“ Noch weiter von den kritisch befragten Quellen entfernt sich DIES., Franz von Assisi. Die Lebensgeschichte eines Menschen, Zürich 1997, 160: „Die Wülste der Fleischnägel, die Thomas beschreibt, könnten in Wahrheit lepröse Wucherungen gewesen sein.“ Ebd., 161: „Damals beschloß er, die endlich sichtbar gewordenen Wunden zu Wundmalen zu erheben. Er hat das Wunder mit größtmöglichem Echo in Umlauf gebracht [...].“ 16 Vgl. Michael F. CUSATO, Of Snakes and Angels: The Mystical Experience behind the Stigmatization Narrative of 1 Celano, in: DERS., The Early Franciscan Movement (1205–1239). History, Sources, Hermeneutics (Medioevo francescano. Saggi 14), Spoleto 2009, 209–248, hier: 209–211 mit dem Ergebnis, „that the iconographical representations, while certainly compelling and illuminating, can also at the same time be open to misreading and misinterpretation“ (ebd., 211).

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zen17. Inzwischen ist es auch nicht mehr nötig, vor jeder Arbeit mit Texten die „franziskanische Frage“ nach dem Verhältnis der verschiedenen Quellen zueinander erneut aufzuwerfen, die seit Paul Sabatier unablässig die Forschung bewegt hat und durch den Fund einer Reihe neuer, nur in einzelnen Handschriften überlieferter Schriften oder besser Textkompilationen immer komplizierter geworden ist18. Immerhin lassen sich vorweg zwei Ergebnisse aus der Diskussion festhalten: Erstens muss bei der Beschäftigung mit dem historischen Franziskus dessen eigenen Schriften grundsätzlich der Vorrang vor Zeugnissen Dritter, insbesondere vor den Biographien, eingeräumt werden. Dieser Grundsatz klingt heute selbstverständlich. Es hat aber erstaunlich lange gedauert, bis er sich in der FranziskusForschung durchgesetzt hat19. Zweitens gilt zwar auch hier zunächst einmal der Grundsatz, dass ältere biographische Schriften den Vorrang vor späteren haben müssen. Doch hat sich in den letzten Jahrzehnten an neugefundenen Quellen gezeigt, dass später entstandene Werke wie z. B. die Textsammlung von Perugia, die auch als ‚Compilatio Assisiensis‘ u. a. bezeichnet wird, altes, zuverlässiges Material enthalten können, das nur in ihnen überliefert ist. Die frühere Bevorzugung der vom Papst oder vom Orden in Auftrag gegebenen Werke, wie der Viten des Thomas von Celano und der Legenden Bonaventuras, gegenüber nicht autorisierten Werken hat sich zunehmend als problematisch erwiesen. Es ist keine bloße Vermutung, sondern ein Faktum, dass nicht autorisierte Literatur vom Orden unterdrückt wurde und deshalb oft nur in einzelnen oder wenigen Handschriften auf uns gekommen ist. Das zeigt sich am deutlichsten am Schicksal der Werke des Thomas von Celano. Mit der Abfassung einer ersten ‚Vita‘ betraute ihn Papst Gregor IX. (1227–1241)20 17 Zum Thema muss an erster Stelle der gelehrte Schweizer Kapuziner Oktavian SCHMUCKI (von Rieden) genannt werden, der in mehreren Veröffentlichungen die Forschungsgeschichte seit Karl von Hase (1856) und die sachlichen Probleme historisch-kritisch aufgearbeitet hat. Grundlegend ist jetzt sein umfassendes Werk: The Stigmata of St. Francis of Assisi. A Critical Investigation in the Light of Thirteenth-Century Sources. Translated by Canisius F. CONNORS (Franciscan Institute Publications. History Series 6), St. Bonaventure, N.Y. 1991, die Übersetzung der ergänzten Fassung seines Aufsatzes: De Sancti Francisci Assisiensis stigmatum susceptione: Disquisitio historico-critica luce testimoniorum saeculi XIII, Collectanea Franciscana 33 (1963), 210–266, 392–432; 34 (1964), 5–62, 241–338. Ferner: DERS., Die Stigmatisation des hl. Franziskus von Assisi im Licht der ältesten Quellenzeugnisse und der neuesten Literatur, in: Wondtekenen, Wondertekenen. Over de stigmatisatie van Franciscus (Scripta Franciscana 10), hg. v. W[illem] M[arie] SPEELMAN, Assen 2006, 1–29; zuletzt DERS., Die Wundmale des hl. Franziskus von Assisi nach den ältesten Quellenzeugnissen, in: DERS., Beiträge zur Franziskusforschung. Zum 80. Geburtstag hg. v. Ulrich KÖPF u. Leonhard LEHMANN (Franziskanische Forschungen 48), Kevelaer 2007, 465–492, hier besonders 466– 469. Zu Schmuckis historisch-kritischer Arbeitsweise vgl. Ulrich KÖPF, Oktavian Schmuckis Beitrag zur Franziskusforschung, in: ebd., IX–XXV. 18 Eine vorzügliche Einführung auf dem neuesten Stand der Forschung gibt Leonhard LEHMANN, Die franziskanische Frage, in: FQ 165–179. Er zeigt, dass die Frage sich heute „in erster Linie um die Dreigefährtenlegende“ dreht (ebd., 173). 19 Vgl. z. B. SCHMUCKI, Wundmale (wie Anm. 17), 485; LEHMANN, Franziskanische Frage (wie Anm. 18), 166. 20 1 Cel Prol. 1 (AFranc 10, 3): iubente domino et glorioso papa Gregorio.

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wohl bald nach der Heiligsprechung des Franziskus im Juli 1228 und approbierte das Werk spätestens am 25. Februar 122921. Seine auf der Grundlage neuer Materialien ausgearbeitete und 1247 auf dem Generalkapitel von Lyon angenommene zweite ‚Vita‘ (ein Memoriale in desiderio animae zur Ergänzung der ersten) geht auf den Befehl zurück, den ihm der Generalminister Crescentius von Jesi († 1263) erteilt hatte, während er mit der Abfassung des ‚Tractatus de miraculis‘ in den Jahren 1250/52 dem Wunsch des Generalministers Johannes von Parma (1208– 1289) gehorchte. Doch bereits 1260 beauftragte das Generalkapitel von Narbonne den Generalminister Bonaventura, ein neues Franziskusleben in längerer und kürzerer Fassung zu schreiben. Nachdem die ‚Legenda maior‘ und die für die liturgische Lesung bestimmte ‚Legenda minor‘ 1263 vom Generalkapitel in Pisa approbiert worden waren, verfügte drei Jahre später das Generalkapitel in Paris, dass allein sie gebraucht werden dürften und alle früheren Viten vernichtet werden sollten. Dieser Verfügung ist ein großer Teil der Handschriften des Thomas von Celano – vor allem aus Franziskanerklöstern – zum Opfer gefallen. Wenden wir uns nach diesen notwendigen Vorbemerkungen über die Quellen der Bezeugung der Stigmata zu. Dabei ergibt sich zunächst, dass weder die Stigmata noch die Vision auf dem Berg La Verna in den ‚Opuscula‘ des Franziskus irgendwelche Spuren hinterlassen haben. Auch im Testament mit seinen wertvollen autobiographischen Mitteilungen spielen sie keine Rolle. Damit bleiben allein die Aussagen Dritter als Quelle für unser Thema übrig. In der Forschung werden meist drei Quellen als die ältesten Zeugnisse für die Stigmata behandelt: ein Brief des Bruder Elias (um 1180–1253), die ‚Vita prima‘ des Thomas von Celano und eine persönliche Aufzeichnung Bruder Leos22. Sie müssen im Zusammenhang der frühen Quellen betrachtet werden.

II. 1. Thomas von Celano Die mit Sicherheit älteste unter allen Quellen ist die ‚Vita prima‘ des Thomas von Celano. Bei ihrer Lektüre muss bedacht werden, dass Thomas einerseits ein gebildeter Schriftsteller war23, andererseits aber wenig persönliche Kenntnis von Franziskus besaß. Erst 1215 der Gemeinschaft beigetreten, gehörte er 1221 zu der 21 AFranc 10, 115 im Apparat mit Anm. 10. 22 Z. B. von MICCOLI (wie Anm. 3), 102: „Credo si possa dire che per le stimmate di Francesco disponiamo di tre testimonianze definibili come originarie o primarie, nel senso che da esse dipendono tutte le altre.“ Schmucki, Wundmale (wie Anm. 17). Dagegen legt CUSATO (wie Anm. 16), 211f., seiner Rekonstruktion der Ereignisse auf La Verna als „primary accounts“ (211) fünf Quellen zu Grunde: 1 Cel 91–96; 3 Soc 69–70; 3 Cel 2–13; 1 Bon 13,1–9; Actus 9. 23 Vgl. über ihn zuletzt (mit neuerer Literatur): Oktavian SCHMUCKI, Religiöse Erfahrung in Thomas’ von Celano Vita prima Sancti Francisci, in: Religiöse Erfahrung und wissenschaftliche Theologie. Festschrift für Ulrich Köpf zum 70. Geburtstag, hg. v. Albrecht BEUTEL u. Reinhold RIEGER, Tübingen 2011, 379–396, hier: 395: „Br. Thomas von Celano verfügte auf Grund einer guten Bildung nicht nur über eine ausgezeichnete stilistisch-rhetorische Fähigkeit zum literarischen Ausdruck und über eine beneidenswerte Kenntnis der spirituellen Tradition.“

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Brüderschar, die nach Deutschland ausgesandt wurde, ist danach Franziskus nicht mehr begegnet und hat die Wundmale sicher nicht selbst gesehen24. Er war also für seine Lebensbeschreibung weitgehend auf Berichte anderer angewiesen, hat aber daneben offenbar die Schriften des Franziskus gut gekannt und in seiner Darstellung verwendet25. In ihr werden die Stigmata an drei Stellen erwähnt: In der mit hymnischen Worten deutenden Einleitung zum II. Buch betont der Verfasser, Franziskus sei an fünf Teilen seines Körpers mit dem Zeichen des Leidens und des Kreuzes gezeichnet gewesen, als ob er zusammen mit dem Gottessohn am Kreuz gehangen hätte26. Sodann berichtet er von seinem Erlebnis auf dem Berg La Verna27 und zuletzt von der Entdeckung der Wundmale nach seinem Tode28. Auf den Bericht über den Empfang der Stigmata, den ich eingangs zitiert habe, muss ich jetzt noch einmal genauer eingehen. Nach Thomas verweilte Franziskus in einer Einsiedelei auf dem Berg La Verna, als ihm die Vision eines an ein Kreuz gehefteten Seraphen zuteil wurde. Diese Vision, deren Bedeutung er nicht erkennen konnte, rief in Franziskus abwechselnd die beiden einander entgegengesetzten Affekte Freude und Trauer hervor – Freude über die Schönheit des Seraphen und Trauer darüber, dass er leidend am Kreuz hing. „Beunruhigt dachte er (cogitabat) über der Sinn der Vision nach, und in der Bemühung um ihr Verständnis (intelligentia) ängstigte sich sein Geist (spiritus) sehr. Während er sie mit seinem klaren Verstand (liquido intellectu) nicht begreifen konnte und ihre Neuartigkeit sehr sein Herz bedrückte, begannen an seinen Händen und Füßen die Male der Nägel sichtbar zu werden, wie er es kurz zuvor an dem gekreuzigten Mann über sich gesehen hatte.“29 Die vergebliche intellektuelle Bemühung um Verstehen bedrängte ihn seelisch so sehr, dass sich ein Teil des Geschauten unwillkürlich an seinem eigenen Körper widerspiegelte. Und nun beschreibt Thomas das Aussehen der Wundmale ausführlich so, wie sie nur ein Augenzeuge wahrgenommen haben konnte, den es nach seinem Bericht aber nicht gab30. Da Franziskus bei dem Er24 Engelbert GRAU, Einführung, in: Thomas von Celano, Leben und Wunder des heiligen Franziskus von Assisi. Einführung, Übersetzung, Anmerkungen v. Engelbert GRAU (Franziskanische Quellenschriften 5), Werl 41988, 29–71, hier: 31–34. 25 SCHMUCKI, Religiöse Erfahrung (wie Anm. 23), 381. 26 1 Cel 90 (AFranc 10, 69,13–15): Revera in quinque partibus corporis passionis et crucis signaculo pater venerabilis est signatus ac si in cruce cum Filio Dei perpendisset. 27 1 Cel 94f. 28 1 Cel 112f. 29 1 Cel 94 (AFranc 10, 72,8–18): Cumque ista videret beatus servus Altissimi, admiratione permaxima replebatur, sed quid sibi vellet haec visio advertere nesciebat. Gaudebat quoque plurimum et vehementius laetabatur in benigno et gratioso respectu, quo a Seraphim conspici se videbat, cuius pulchritudo inaestimabilis erat nimis, sed omnino ipsum crucis affixio et passionis illius acerbitas deterrebat. [...] Cogitabat sollicitus, quid posset haec visio designare, et ad capiendum ex ea intelligentiae sensum anxiabatur plurimum spiritus eius. Cumque liquido ex ea intellectu aliquid non perciperet et multum eius cordi visionis huius novitas insideret, coeperunt in manibus eius et pedibus apparere signa clavorum, quemadmodum paulo ante virum supra se viderat crucifixum. 30 1 Cel 95. Die Gestalt der Stigmata an den Extremitäten muss später noch eigens betrachtet werden.

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lebnis offenbar allein war, muss er den Inhalt seiner ohnehin rein innerlichen Schau und ihre körperlichen Folgen anderen mitgeteilt haben, damit überhaupt eine Überlieferung davon entstehen konnte – offenkundig dem einen oder anderen der Gefährten, die ihn auf den Berg begleitet hatten. Es gibt aber keinen Hinweis darauf, dass er sich bereits kurz nach dem Erlebnis offenbart hätte. An die Beschreibung der Seitenwunde fügt Thomas vielmehr die Bemerkung an, nur wenige seien gewürdigt worden, sie zu seinen Lebzeiten wahrzunehmen31, und nennt anschließend nur die Brüder Elias, der sie gesehen, und Rufinus, der sie berührt habe32. Daneben betont Thomas, der Poverello habe die Wundmale zu Lebzeiten selbst vor seinen nächsten Freunden mit größter Sorgfalt verborgen33. Erst nach seinem Tode wurden sie vielen sichtbar34. Die genaue Kenntnis vom Aussehen der Wundmale, wie Thomas sie zu besitzen vorgibt, kann demnach nur aus der Zeit nach dem Tod des Franziskus stammen, als seine Stigmata denen, die seinen Leichnam betrachteten, sichtbar waren. Es scheint daher, ihre Beschreibung anlässlich der Vision auf dem Berg La Verna habe ihren ursprünglichen Ort in einem späteren Bericht über ihre Aufdeckung nach dem Tode des Franziskus. Das gilt in besonderem Maße von den Ausführungen über die Seitenwunde: „Auch seine rechte Seite, wie von einer Lanze durchbohrt, war mit einer Narbe bedeckt; sie sonderte häufig Blut ab, so dass sein Habit und sein Beinkleid oftmals mit dem heiligen Blut besprengt wurden.“35 Hier handelt es sich offenbar nicht um eine frisch entstandene, sondern um eine ältere, nicht vollständig vernarbte Wunde, wie sie erst einige Zeit nach dem Ereignis von La Verna zunächst nur von einzelnen Mitbrüdern, nach dem Tode des Franziskus jedoch von vielen Menschen wahrgenommen werden konnte. Aus diesen Beobachtungen am Text drängt sich mir die Vermutung auf, der Bericht des Thomas von Celano von der Vision und ihren körperlichen Folgen sei keineswegs ein Augenzeugenbericht aus einem Guss. Während ich keinen Grund sehe, an der Vision selbst im Rahmen eines an intensivsten religiösen Erfahrungen reichen Lebens36 zu zweifeln, stellt sich mir unabweisbar die Frage, ob die Erzählung von den Ereignissen auf La Verna nicht durch Thomas für seine ‚Vita prima‘ aus zwei unterschiedlichen Stücken der Überlieferung zusammengesetzt worden ist. Es gibt aber noch weitere Gründe im Text, diese Verbindung für sekundär, für ein theologisches Konstrukt, zu halten. 31 1 Cel 95 (AFranc 10, 73,8–10): Heu quam pauci, dum viveret crucifixus servus Domini crucifixi, sacrum lateris vulnus cernere meruerunt! 32 Ebd., 10–15. 33 Ebd., 16–18: Studiosissime namque abscondebat haec ab extraneis, celabat cautissime a propinquis, ita ut et collaterales fratres et eius devotissimi secutores haec per multum temporis ignorarent. 34 1 Cel 112f. (AFranc 10, 87–89). 35 1 Cel 95 (AFranc 10, 73): Dextrum quoque latus quasi lancea transfixum, cicatrice obducta, erat, quod saepe sanguinem emittebat, ita ut tunica eius cum femoralibus multoties respergeretur sanguine sacro. 1 Cel 112 (AFranc 10, 88) steht lediglich: dextrum latus quasi lancea vulneratum. 36 Dargestellt von SCHMUCKI, Religiöse Erfahrung (wie Anm. 23).

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Die enthusiastische Schilderung des toten Franziskus in der ‚Vita prima‘ gipfelt in der Aussage: „Er hatte das Aussehen und die Gestalt eines Seraphen, und durch seine Beharrlichkeit am Kreuz verdiente er es, sich auf die Stufe der erhabenen Geister aufzuschwingen. Denn immer hing er am Kreuz, wobei er sich keiner Mühe und keinem Schmerz entzog, nur damit er in sich und an sich den Willen des Herrn erfüllen konnte.“ Und nach einer Schilderung seines intensiven Verkehrs mit Jesus fährt Thomas fort: „Weil er in wunderbarer Liebe immer Christus Jesus, und zwar den Gekreuzigten, in seinem Herzen trug und bewahrte, wurde er vor allen übrigen Menschen mit seinem Zeichen [dem Kreuz] auf herrlichste Weise gezeichnet.“37 – In der ‚Vita secunda‘ vertieft Thomas diesen Ansatz weiter. Hier werden die Vision und Audition des Franziskus vor dem Kruzifixus von S. Damiano zu seinem Schlüsselerlebnis erklärt38: „Wunderbares und in unserer Zeit unerhörtes Ereignis! [...] Wer zweifelt daran, dass Franziskus schon auf dem Heimweg in seine Vaterstadt als Gekreuzigter erschien, zu dem [...] Christus in einem neuen und unerhörten Wunder vom Holz des Kreuzes herab geredet hat. Von jener Stunde an, da der Geliebte zu ihm gesprochen hat, zerschmolz seine Seele. Bald danach offenbarte sich die Liebe seines Herzens durch die Wundmale seines Körpers.“39 Indem Thomas die zweite Lebenshälfte des Franziskus, gut 20 Jahre, in eine kurze Zeitspanne (paulo post) zusammenzieht, kann er diese gesamte Zeit vom Empfang der Stigmata her sehen. In die Mitte seiner Biographie stellt er die Vision des Bruders Silvester, der im Traum ein goldenes Kreuz aus dem Mund des Franziskus hervorkommen sah, dessen Spitze den Himmel berührte und dessen weit ausgestreckte Arme die beiden Hälften der Welt umschlossen. „Was Wunder, wenn Franziskus als Gekreuzigter erschien, der immer so sehr mit dem Kreuz verbunden war?“40 Und kurz vor der Schilderung seines Heimgangs schreibt er über den Schwerkranken: „Ein Kreuz waren ihm die Vergnügen der Welt, da er Christi Kreuz in seinem Herzen verwurzelt trug. Und deshalb glänzten die Stigmata äußerlich in seinem Fleisch, weil ihre Wurzel tief37 1 Cel 115 (AFranc 10, 90f.): Haec omnia beatissimus pater Franciscus perfectissime adimplevit, qui Seraphim imaginem tenuit atque formam, et in cruce perseverans ad sublimium spirituum gradum meruit advolare. Semper enim in cruce fuit, nullum subterfugiens laborem atque dolorem, tantum ut posset in se et de se voluntatem Domini adimplere. [...] Et quia miro amore semper in corde suo gerebat et conservabat Christum Iesum et hunc crucifixum, propterea signaculo suo gloriosissime supra caeteros est signatus. 38 Gegen das Zeugnis des Franziskus, der in seinem Testamentum 1–3 (Opuscula 438) einem Erlebnis mit Aussätzigen eine solche Rolle zuweist. Vgl. dazu Ulrich KÖPF, Leidensmystik in der Frühzeit der franziskanischen Bewegung, in: Von Wittenberg nach Memphis. Festschrift für Reinhard Schwarz, hg. v. Walter HOMOLKA u. Otto ZIEGELMEIER, Göttingen 1989, 137–160. 39 2 Cel 11 (AFranc 10, 137): Mira res et nostris saeculis inaudita! [...]. Quis Franciscum iam redeuntem ad patriam apparuisse dubitat crucifixum, cui [...] novo et inaudito miraculo de ligno crucis loquitur Christus? Ab ea igitur hora liquefacta est anima eius, ut dilectus ei locutus est. Patuit paulo post amor cordis per vulnera corporis. 40 2 Cel 109 (AFranc 10, 195): Videt namque in somnis crucem auream de ore prodeuntem Francisci, cuius summitas caelos tangebat, cuius brachia protensa in latum utramque mundi partem amplexando cingebant. [...] Sed quid mirum, si Franciscus crucifixus apparuit, cui tantum semper cum cruce fuit?

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innerlich in seiner Seele emporwuchs.“41 Den von Thomas eingeschlagenen Weg, das Leben des Franziskus konsequent von seiner Vollendung durch die Kreuzeswunden her darzustellen, hat Bonaventura mit seiner ausgeprägten Kreuzestheologie noch weiter verfolgt. Auf ihn gehe ich jedoch nicht mehr ein, da er immer weiter vom historischen Franziskus wegführt. Das stellt auch Oktavian Schmucki fest, der dem ‚Leiden Christi im Leben des hl. Franziskus‘ eine grundlegende Untersuchung gewidmet hat42. Die Schriften des Poverello zeugen zwar von seiner großen Jesusliebe und seiner innigen Passionsfrömmigkeit; doch steht „[n]icht einmal in seinem ‚Officium Passionis‘ der Leidensgedanke Jesu ausschließlich und beherrschend im Vordergrund“ wie bei Thomas von Celano und Bonaventura43. Wenn aber die Biographen in diesem wichtigen Punkt so stark von dem Gedankengut des Franziskus abweichen, dann muss ihre Darstellung und Deutung gerade der Stigmata und ihrer Entstehung mit Vorsicht aufgenommen werden. Auf keinen Fall dürfen sie unkritisch ausgewertet oder gar einfach nacherzählt werden, wie das noch in vielen modernen Franziskus-Biographien geschieht. Das führt aber erneut zu der Überlegung, ob die Überlieferung von der Vision auf dem Berge La Verna und die von den Stigmata tatsächlich zusammengehören. Zwar werden sie auch in anderen frühen Werken, die nach der ‚Vita prima‘ des Thomas entstanden sind, miteinander verbunden: so in Julians von Speyer († um 1250) noch in den frühen dreißiger Jahren verfassten, ganz auf der ‚Vita prima‘ beruhenden Lebensbeschreibung44 und in der 1246 abgeschlossenen45 selbstständigeren Dreigefährtenlegende46. Beide Texte haben jedoch gegenüber Thomas keinen eigenen Zeugniswert.

II. 2. Bruder Leo Allerdings scheint es ein gewichtiges primäres Zeugnis für die von Thomas behauptete Verbindung zu geben: einen Vermerk Bruder Leos, eines engen Vertrauten des Franziskus47, auf einem der beiden Autographen des Heiligen, einer heute im Sacro Convento von Assisi verwahrten Reliquie48. Es handelt sich um ein bei41 2 Cel 211 (AFranc 10, 252): Crux illi erant mundi deliciae, quia Christi crucem radicatam gerebat in corde. Et ideo stigmata exterius fulgebant in carne, quia intus radix altissima excrescebat in mente. 42 Oktavian SCHMUCKI, Das Leiden Christi im Leben des hl. Franziskus von Assisi, in: DERS., Beiträge (wie Anm. 17), 3–99. 43 SCHMUCKI, Wundmale (wie Anm. 17), 484; dazu DERS., Leiden Christi (wie Anm. 42), 92. 44 JULIAN von Speyer, Vita S. Francisci, 61f. (AFranc 10, 363f.). 45 Ich halte die relative Frühdatierung für richtig, die auch Leonhard LEHMANN, Einleitung (FQ 602–609, hier: 603) vertritt. 46 3 Soc 69 (FF 1441f.). 47 Enrico MENESTÒ, Leone e i compagni di Assisi, in: I compagni di Francesco e la prima generazione minoritica. Atti del XIX Convegno internazionale (Atti dei Convegni N.S. 2), Spoleto 1992, 31–58. 48 Edition mit Untersuchung in: Opuscula 134–146; mit Einleitung von Leonhard LEHMANN in FQ 36–39.

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derseits beschriebenes etwa 13x10 cm großes Stück Pergament. Auf seine Vorderseite schrieb Franziskus einen Lobpreis Gottes, auf seine Rückseite einen Segen für Bruder Leo. Unter den Segen zeichnete er einen Kopf, auf dem ein Tau steht. Die Lesung und Deutung der letzten Segensworte ist bis heute umstritten49. Wichtiger ist in unserem Zusammenhang, dass Leo mit roter Tinte in kleinerer Schrift drei Bemerkungen hinzufügte. In der ersten hält er fest, Franziskus habe den Lobpreis während seines vierzigtägigen Fastens auf La Verna nach der Vision und Anrede eines Seraphen und nach der Einprägung der Stigmata Christi in seinen Körper verfasst50. Interessant ist dabei, dass Leo die beiden Ereignisse nur lose aneinander reiht und nicht als Ursache und Wirkung miteinander verknüpft: post visionem et allocutionem Seraphim et impressionem stigmatum Christi in corpore suo, andererseits aber neben der in der ‚Vita prima‘ Celanos beschriebenen Vision auch eine Anrede (allocutio)51 erwähnt. In zwei weiteren Bemerkungen bezeugt er, Franziskus habe den Segen aus Num. 6,24–26 für ihn, Bruder Leo, aufgeschrieben und ebenfalls eigenhändig das Zeichen Tau mit dem Kopfe angefertigt52. Daran, dass diese Eintragungen von Leo stammen, kann kein ernster Zweifel sein; dementsprechend ist man geneigt, dem Dokument hohen Zeugniswert zuzuschreiben. Der erste Eindruck von der besonderen Zuverlässigkeit dieses Zeugnisses verflüchtigt sich allerdings, wenn man es näher betrachtet. Leo hat das Blatt als eine Reliquie des Franziskus bis zu seinem Tode nach dem 14. November 127853 bei sich getragen. Es ist freilich völlig unbekannt, wann er seine Bemerkungen eingetragen hat. Die Meinung, es könne schon relativ bald nach der Niederschrift von

49 Siehe zuletzt die abenteuerliche Deutung von CUSATO (wie Anm. 16), der in der Zeichnung des Franziskus den mit einem Turban bekleideten Kopf seines „Freundes“ Sultan Malek alKamil sieht und meint, die Segensworte seien für diesen bestimmt (ebd., bes. 236–243), während er das Gotteslob des Franziskus als „Francis’ personalized version of The Ninety-nine Beautiful Names of Allah“ interpretiert (ebd., 238). Vgl. dagegen die christliche Interpretation des Gebets durch Leonhard LEHMANN, Tiefe und Weite. Der universale Grundzug in den Gebeten des Franziskus von Assisi (Franziskanische Forschungen 29), Werl 1984, 249–277. 50 Text nach Opuscula 136: Beatus Franciscus duobus annis ante mortem suam fecit quadragesimam in loco Alvernae ad honorem beatae Virginis matris Dei et beati Michaelis archangeli a festo assumptionis sanctae Mariae virginis usque ad festum sancti Michaelis septembris; et facta est super eum manus Domini; post visionem et allocutionem Seraphim et impressionem stigmatum Christi in corpore suo fecit has laudes ex alio latere chartulae scriptas et manu sua scripsit gratias agens deo de beneficio sibi collato. 51 Von SCHMUCKI, Wundmale (wie Anm. 17), 481, sicher zu Recht als „das tröstliche Zusprechen einer anderen Person gegenüber“ erläutert. 52 Text in Opuscula 136. 53 So mit guten Gründen Engelbert GRAU, Einführung in die Dreigefährtenlegende, in: Die Dreigefährtenlegende des heiligen Franziskus von Assisi von Bruder Leo, Rufin und Angelus und Anonymus Perusinus (Franziskanische Quellenschriften 8), Einführung, Übersetzung und Anmerkungen v. Engelbert GRAU u. Hanspeter BETSCHART, Werl 1993, 29–75, hier: 35, gegen die verbreitete Behauptung, Leo sei am 14. oder 15. November 1271 gestorben (vgl. auch MENESTÒ [wie Anm. 47], 51: 13. November 1271).

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Gebet und Segen durch Franziskus auf La Verna geschehen sein54, wird durch die Beobachtung unwahrscheinlich gemacht, dass die Worte Leos wesentlich besser erhalten sind als die des Franziskus. Leo hat das Pergament kreuzweise gefaltet bei sich getragen und vermutlich immer wieder betrachtet und verehrt, es dadurch aber auch abgegriffen. Seine eigenen Bemerkungen hingegen dürfte er erst in fortgeschrittenem Alter hinzugefügt haben, um sein Zeugnis der Nachwelt zu erhalten. Wann und aus welchem Anlass das geschah, darüber sind sich die Franziskus-Forscher nicht einig; doch schlagen die meisten einen Zeitpunkt nach der ‚Vita secunda‘ des Thomas von Celano (1247) vor55. Auf jeden Fall dürften die Bemerkungen erst in größerer zeitlicher Entfernung von dem bezeugten Geschehen eingetragen worden sein, und es lässt sich nicht ausschließen, dass es unter dem Einfluss der inzwischen gängigen Version geschehen ist. Daher lassen sich die Bemerkungen Leos nicht als sicheres Zeugnis für den Zusammenhang von Vision und Stigmataempfang auf dem Berge La Verna nehmen56. Nachdem die Beweiskraft der Einträge Leos für ihre innere Verbindung hinfällig geworden ist, stellt sich erneut die schon an Celanos ‚Vita prima‘ aufgebrochene Frage, ob die Stigmata tatsächlich mit der Vision von La Verna zusammenhängen. Es fällt auf, dass in verschiedenen nach dieser ‚Vita‘ entstandenen Quellen die von Thomas von Celano so eng miteinander verbundenen Ereignisse vereinzelt dargestellt werden57. So berichtet etwa Thomas von Eccleston (13. Jh.) in seiner Chronik zum Jahr 1258 unter Bezugnahme auf Celanos ‚Vita prima‘, Bruder Leo habe Petrus [von Tewkesbury], dem Minister der Provinz Anglia, von der Erscheinung des Seraphen in quodam raptu contemplationis erzählt, ohne den Ort des Geschehens zu nennen und den Empfang der Stigmata überhaupt zu erwähnen58. In seiner zwischen 1263 und 1271 verfassten ‚Vita beati fratris Egidii‘ berichtet Bruder Leo, als Bruder Ägidius den Ort Cetona als besonders verehrungswürdig hervorhob, habe ihm ein Gefährte entgegengehalten, groß sei, was Franziskus auf dem Berg La Verna von dem Seraphen geschehen sei, ohne dabei mit einem Wort die Stigmata zu erwähnen59. In der späten ‚Compilatio Perusina‘, die manches alte Gut enthält, wird ausführlicher über einen Aufenthalt des Franziskus auf La Verna erzählt. Dabei wird „unter vielen anderen verborgenen und offen54 SCHMUCKI, Wundmale (wie Anm. 17), 481, vermutet ohne nähere Begründung: „nicht allzu lange nach der Heiligsprechung des Ordensgründers (1228)“. 55 Eine Sammlung von Belegen bei Paul BÖSCH, Eine Notiz von Bruder Leo und ihre Beweiskraft für die Stigmatisierung auf La Verna, Laurentianum 51 (2010), 259–270, hier: 262 Anm. 10. 56 Zu diesem Ergebnis kommt mit vielen weiteren Argumenten jüngst auch BÖSCH, ebd. 57 Schon bei MICCOLI (wie Anm. 3), 113–116 erwähnt, von BÖSCH, Eine Notiz (wie Anm. 55), aufgegriffen. 58 THOMAS von Eccleston, Tractatus de adventu fratrum minorum in Angliam, c. 92. Da mir die kritische Ausgabe von A[ndrew] G[eorge] LITTLE, Manchester 1951, nicht zur Verfügung steht, zitiere ich nach AFranc 10, 247 A. 3. Die Bemerkung des Chronisten: quod cum a longe videret Angelum, nimis territus fuit, et quod eum dure tractavit scheint mir viel zu allgemein, um sie auf die Einprägung der Stigmata zu beziehen. 59 Vita beati fratris Egidii 12 nach Scripta Leonis, Rufini et Angeli sociorum S. Francisci, hg. v. Rosalind B. BROOKE, Oxford 1970, 304–349, hier: 336: Pater, magnum fuit, quod accidit in monte Aluerne beato Francisco de Seraphim.

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kundigen Tröstungen, die ihm der Herr erwies“, die Schau eines Seraphen erwähnt, „aus der er die ganze Zeit seines Lebens viel Trost in seiner Seele in seinem Verhältnis zum Herrn hatte“60. Im Übrigen werden die Stigmata in der ganzen Sammlung nur einmal beiläufig erwähnt – anlässlich einer Waschung der Hände und Füße des Heiligen in Fonte Colombo: „Zu jener Zeit hatte der selige Franziskus Narben an seinen Händen, an seinen Füßen und an seiner Seite.“61 Daneben kann auch von den Stigmata ohne jede Erwähnung der Vision gesprochen werden. So erwähnt der wohl noch vor der Dreigefährtenlegende, in den frühen vierziger Jahren62 aufgezeichnete, neuerdings Johannes von Perugia zugeschriebene Anonymus Perusinus nur die Einprägung der Wundmale und übergeht die Vision von La Verna63. Salimbene (1221–1288) betont in seiner Chronik, wie Christus durch die fünf Wunden Franziskus in einzigartiger Weise sich ähnlich gemacht habe. Wie ihm Bruder Leo selbst gesagt habe, der zugegen gewesen sei, als der tote Franziskus gewaschen wurde, habe dieser wie ein vom Kreuz Abgenommener ausgesehen64. Es scheint mir beachtenswert, dass gerade in diesen mit dem Namen Bruder Leos verbundenen Überlieferungen die Vision von La Verna und die Stigmata jeweils allein erscheinen. Solche Beobachtungen bestärken die Vermutung, ihre Verbindung auf dem Segenspergament sei erst später, unter dem Einfluss der Konstruktion des Thomas von Celano, vollzogen worden.

II. 3. Elias von Cortona Auch in einem dritten wichtigen Text, der in die früheste Zeit zurückführt, ist allein von den Wundmalen ohne jede Andeutung ihrer Entstehung die Rede. Es handelt sich um das Dokument eines sicheren Augenzeugen, der nach Thomas von Celano bereits zu Lebzeiten des Franziskus zumindest seine Seitenwunde wahrgenommen haben soll65. Bruder Elias von Cortona66, damals Vikar des Fran60 Compilatio Perusina (Compilatio Assisiensis) 118,13; in: FF 1684: inter alias multas consolationes occultas et manifestas, quas sibi contulit Dominus, ostensa est sibi a Domino visio Seraphyn, de qua multam habuit consolationem in anima sua inter se et Dominum toto tempore vite sue. 61 Ebd., 94,8, in: FF 1620: in illo tempore habebat beatus Franciscus cicatrices in manibus et pedibus et latere. 62 Nach Leonhard LEHMANN, [Einleitung], in: FQ 570–577, hier: 573. 63 Anonymus Perusinus 46,5, FF 1350: Volens autem Dominus ostendere dilectionem quam habebat in eum, posuit in membris eius et latere eius Stigmata dilectissimi Filii sui. 64 Cronica fratris Salimbene de Adam Ordinis minorum, hg. v. Oswald HOLDER-EGGER (Monumenta Germaniae historica. Scriptores 32), Hannover 1905/13, 195,23–26: Nunquam enim in hoc seculo fuit nisi unus, scilicet beatus Franciscus, cui Christus ad similitudinem sui V plagas impresserit. Nam sicut dixit michi frater Leo, socius suus, qui presens fuit, quando ad sepeliendum lavabatur in morte, videbatur recte sicut unus crucifixus de cruce depositus. 65 1 Cel (AFranc 10, 73,10): Sed felix Helias, qui, dum viveret sanctus, utcumque illud videre meruit. 66 Vgl. Giulia BARONE, Frate Elia, Bullettino dell’Istituto Storico Italiano per il Medio Evo e Archivio Muratoriano 85 (1974/75), 89–144; Dieter BERG, Elias von Cortona. Studien zu Le-

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ziskus, soll nach dem Tod des am Abend des 3. Oktober 1226 verstorbenen Franziskus den Brüdern im gesamten Orden Trostschreiben gesandt haben, in denen er sie gemäß dem Auftrag des Heiligen segnete und von allen Sünden freisprach. „Darüber hinaus gab er eine Erklärung bezüglich der Wundmale und anderer Wunder ab, die der Allerhöchste nach dem Tode des seligen Franziskus an ihm zu geschehen erlaubte.“ Außerdem befahl er den Ministern und Kustoden, zur Wahl eines Generalministers zusammenzukommen. Diese Nachricht, die von größtem Gewicht für die Geschichte der jungen franziskanischen Gemeinschaft ist, findet sich erstaunlicherweise weder bei Thomas von Celano noch in Textsammlungen mit altem Material, sondern erstmals in der bald nach 1262 verfassten Chronik Jordans von Giano (um 1195–nach 1262)67. Nun besitzen wir auch noch den Text des erwähnten Schreibens – oder zumindest einen Text, der an Bruder Gregor von Neapel, den Minister der Provinz Francia, gerichtet ist. Dass dieser Text sich auch in den kritischen Ausgaben der Quellen findet, suggeriert bei flüchtigem Zusehen den Eindruck eines zuverlässigen Zeugnisses. In Wahrheit war er aber bis 1620 völlig unbekannt. Damals hat ihn der Franziskanerobservant Wilhelm Spoelberch (1569–1633) in seiner Ausgabe des ‚Speculum Vitae B. Francisci et Sociorum eius‘ veröffentlicht68. Als seine Quelle nannte er eine Handschrift, die er im Konvent der Franziskanerrekollekten von Valenciennes gefunden haben wollte. Doch diese Handschrift ist heute verschwunden, und es gibt neben der Aussage des Herausgebers kein Indiz dafür, dass sie sich jemals dort befunden hat69. Der umben und Werk des zweiten Generalministers im Franziskanerorden, Wissenschaft und Weisheit 41 (1978), 102–126; Giulia BARONE, Frate Elia: suggestioni da una rilettura, in: I compagni di Francesco (wie Anm. 47), 59–80; DIES., Elias von Cortona und Franziskus, in: Franziskus von Assisi. Das Bild des Heiligen aus neuer Sicht (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 54), hg. v. Dieter R. BAUER, Helmut FELD u. Ulrich KÖPF, Köln, Wien, Weimar 2005, 183–194. 67 Chronica fratris Jordani 50, ed. Heinrich BOEHMER (Collection d’études et des documents 6), Paris 1908, 45f.: Defuncto ergo beato Francisco frater Helyas vicarius beati Francisci fratribus turbatis super obitu tanti patris per totum ordinem litteras consolatorias destinavit, denuncians singulis et universis, quod omnibus, sicut ipsi beatus Franciscus preceperat, ex parte beati Francisci benediceret et [eos] ab omnibus absolveret culpis, insuper declarans de stigmatibus et aliis miraculis, que post mortem suam ad beatum Franciscum operari dignatus est Altissimus, insuper mandans ministris [et custodibus] ordinis, ut convenirent ad eligendum generalem ministrum. 68 Antwerpen 1620, 103–106. 69 Vgl. Felice ACCROCCA, Un apocrifo la „Lettera enciclica di frate Elia sul transito di S. Francesco“?, Collectanea Franciscana 65 (1995), 473–509, der in einer sorgfältigen Untersuchung der Überlieferungslage zu dem Ergebnis kommt, der von Spoelberch gebotene Text könne nicht das Schreiben des Elias sein, er sei aber vielleicht vom Herausgeber als Antwort auf die protestantische Polemik gegen die Verehrung des stigmatisierten Franziskus geschaffen worden. Diese Hypothese halte ich für unwahrscheinlich, da der Text keineswegs geeignet ist, die protestantischen Bedenken zu beheben. Doch enthält Accroccas Untersuchung viele treffende Beobachtungen zur äußeren und inneren Kritik des Schreibens. Nach Johannes SCHLAGETER, FQ 182 Anm. 20, wies Accrocca inzwischen „selbst auf den Zugang hin, den auch L. Wadding zum Exemplar des Briefes in Valenciennes hatte“: Felice ACCROCCA, L’Epistolario di Angelo Clareno nel Ms. 1924 della Biblioteca Oliveriana di Pesaro e la lettera enciclica di

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fangreiche, fast weitschweifige Text wirft aber auch formale und inhaltliche Fragen auf. Er ist aus zwei unterschiedlichen Teilen zusammengesetzt, die beide jeweils mit der Bekräftigung „Amen“ enden. Der erste (1–7), eine hymnische Deutung der Erscheinung des Heiligen in der Welt, gipfelt in der Mitteilung über die Stigmata, während der zweite (8–10) mit der nüchternen Angabe über den Todeszeitpunkt des Franziskus beginnt und die Brüder dazu anleitet, recht mit der Tatsache seines Heimgangs umzugehen. Die so naheliegende, bei Jordanus überlieferte Aufforderung, nach dem Tode des Franziskus einen neuen Generalminister zu wählen, fehlt in dem Rundschreiben seltsamerweise. Dagegen weist die Überfülle der Bibelzitate und der geprägten Formeln vor allem im ersten Teil auf ein theologisch vertieftes und deshalb erst später entstandenes Verständnis des Heiligen hin, das zumindest im Keim die Auffassung von Franziskus als einem zweiten Christus enthält. Nach den Worten über den Heimgang des Franziskus, bei dem er wie ein zweiter Jakob alle seine Söhne gesegnet und allen ihre Schuld erlassen habe, fährt der Verfasser fort: „Nach diesen Worten verkündige ich euch eine große Freude und ein neues Wunder. Seit Ewigkeit ist kein solches Zeichen gehört worden, außer am Sohne Gottes, welcher der Herr Christus ist. Nicht lange vor seinem Tode erschien unser Bruder und Vater gekreuzigt, die fünf Wunden, die wahrhaft die Wundmale Christi sind, an seinem Körper tragend.“ Und nun folgt eine knappe, nüchterne Beschreibung der Wundmale, auf die noch genauer eingegangen werden muss70. An diese Schilderung schließt sich ein Vergleich des toten und des lebenden Franziskus an. Während er zu Lebzeiten am ganzen Körper von Leiden (passio) gekennzeichnet gewesen sei, habe er nach seinem Tode überaus schön ausgesehen. Dann hätten sich seine Glieder aus der Totenstarre gelöst71. Wenn man das Schreiben näher betrachtet und die Arbeitsweise seines Herausgebers Spoelberch berücksichtigt72, dann wird klar, dass es in der vorliegenden Fassung nicht vollständig und wörtlich von Bruder Elias stammen kann. Es muss auch überraschen, dass ein Schreiben von so großer sachlicher Bedeutung von keiner Quelle vor Jordanus von Giano erwähnt und selbst im Streit um die Stigmata nicht als Beweis benutzt wird. Man hat für seine Echtheit ins Feld geführt, dass es sich an vier Stellen mit der ‚Vita prima‘ des Thomas berühre, und daraus geschlossen, Thomas zitiere das Schreiben viermal73. Aber das ist – methodisch gesehen – ein Zirkelschluss ohne Wert, der nur unter der Voraussetzung dessen

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frate Elia sul transito di S. Francesco, in: Editori di Quaracchi 100 anni dopo. Bilancio e prospettive, hg. v. Alvaro CACCIOTTI u. Barbara FAES DE MOTTONI, Roma 1997, 249 Anm. 10 (leider mir nicht zugänglich und deshalb nicht überprüfbar). Absatz 5, AFranc 10, 526f.: Et his dictis annuntio vobis gaudium magnum et miraculi novitatem. A saeculo non est auditum tale signum, praeterquam in Filio Dei, qui est Christus Dominus. Non diu ante mortem frater et pater noster apparuit crucifixus, quinque plagas, quae vere sunt stigmata Christi, portans in corpore suo. Nam manus eius et pedes quasi puncturas clavorum habuerunt, ex utraque parte confixas, reservantes cicatrices et clavorum nigredinem ostendentes. Latus vero eius lanceatum apparuit et saepe sanguinem evaporavit. Absatz 6, ebd., 527. Vgl. ACCROCCA, Un apocrifo (wie Anm. 69), 477–482. 1 Cel 107, 109, 112, 113.

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gilt, was er beweisen soll: der Existenz eines von Elias verfassten Rundschreibens. Genausogut kann der spätere Herausgeber Spoelberch Formulierungen aus der ‚Vita prima‘ und die spätere Vorstellung von der Christusförmigkeit des Franziskus in den von ihm überarbeiteten oder gar verfassten Brief eingefügt haben. Ein wichtiges Argument spricht allerdings für das höhere Alter zumindest jener Partie des Briefes, in der über die Wundmale berichtet wird: die schlichte, ursprünglich wirkende Beschreibung ihres Aussehens. Damit stellt sich die Aufgabe, noch einmal gesondert die Quellen über das Aussehen der Stigmata zu befragen. In ihren Aussagen stimmen sie keineswegs miteinander überein. Einige sprechen einfach von den Wundmalen, ohne sie näher zu beschreiben, wie die Textsammlung von Perugia, die sagt, Franziskus habe Narben (cicatrices) an Händen und Füßen und an der Seite gehabt74. Nach Jordanus erwähnte Elias in seinem Rundschreiben die Wundmale lediglich mit einem Wort (stigmatibus)75. In dem von Spoelberch herausgegebenen Rundbrief beschreibt er jedoch die fünf Wunden, die wahrhaftig die Stigmata Christi waren, so: „Seine Hände und Füße hatten gleichsam die auf beiden Seiten zugefügten Einstiche von Nägeln, trugen Narben und wiesen die Schwärze von Nägeln auf. Seine Seite aber erschien wie mit einer Lanze verletzt und sonderte oft Blut ab.“76 Das ist für den unbefangenen Leser das Bild von Extremitäten mit vernarbten Stichen und einer noch nicht ganz verheilten Seitenwunde. Wenn diese Partie des Texts wirklich ursprünglich ist, dann kann sie Thomas von Celano als Grundlage seiner Schilderung gedient haben. Thomas entwirft von vornherein ein viel ausführlicheres, geradezu spektakuläres Bild von den Malen, die nach der Vision bereits auf La Verna entstanden sein sollen: „Seine Hände und Füße schienen in der Mitte von Nägeln durchbohrt, wobei die Köpfe der Nägel auf den Handflächen und den Fußrücken erschienen, während ihre Spitzen auf der Gegenseite hervortraten. Die Male waren nämlich an den Handflächen rund, auf den Handrücken aber länglich. Und ein Stückchen Fleisch zeigte sich, als ob die Spitze der Nägel zurückgebogen und zurückgeschlagen sei. So waren auch in die Füße die Nagelmale eingedrückt und vom umgebenden Fleisch abgehoben.“ Die Seitenwunde wird als vernarbter Lanzenstich beschrieben, der oft Blut absonderte und die Kleidung befleckte77. In der Szene nach dem Tod spricht Thomas zunächst von einem Aussehen, als sei Franziskus

74 Compilatio Perusina (Assisiensis) 94,8, in: FF 1620: in illo tempore [d. h. während seines Aufenthalts in der Einsiedelei von Fonte Colombo] habebat beatus Franciscus cicatrices in manibus et pedibus et latere. 75 Chronica fratris Jordani 50 (wie Anm. 67). 76 Oben Anm. 70. 77 1 Cel 95 (AFranc 10, 72): Manus et pedes eius in ipso medio clavis confixae videbantur, clavorum capitibus in interiore parte manuum et superiore pedum apparentibus, et eorum acuminibus exsistentibus ex adverso. Erant enim signa illa rotunda interius in manibus, exterius autem oblonga, et caruncula quaedam apparebat quasi summitas clavorum retorta et repercussa, quae carnem reliquam excedebat. Sic et in pedibus impressa erant signa clavorum et a carne reliqua elevata. Dextrum quoque latus quasi lancea transfixum, cicatrice obducta, erat, quod saepe sanguinem emittebat, ita ut tunica eius cum femoralibus multoties respergeretur sanguine sacro.

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frisch vom Kreuz abgenommen, steckten Nägel in Händen und Füßen und sei die rechte Seite wie von einer Lanze verwundet78. Anschließend beschreibt er die Stigmata nochmals, als ob er die Schilderung des Elias korrigieren wolle: „In der Mitte von Händen und Füßen waren nicht nur die Einstiche der Nägel zu sehen, sondern die Nägel selbst, aus seinem Fleisch gebildet und in der Schwärze von Eisen gehalten, und die rechte Seite war rot von Blut“79. Über diese anschaulichen Schilderungen ist viel gerätselt worden. Man wollte in ihnen sogar – ohne jeden Anhaltspunkt – „verkapselte Holzpflöcke“ sehen80. In Wirklichkeit stellt auch die etwas phantasievolle Schilderung des Thomas von Celano nichts anderes dar als verkrustete, mehr (an den Extremitäten) und weniger (an der Seite) abgeheilte Wunden. Dick verkrustetes Blut pflegt eine schwarze Farbe anzunehmen. Mit ihrer gewölbten Blutkruste kann eine runde Wunde wie der Kopf eines schwärzlichen eisernen Nagels aussehen, während eine längliche verkrustete Wunde einem umgebogenen Nagel gleichen mag. In der Erregung, in der die Betrachter die Wundmale an den Extremitäten des Franziskus erblickten, konnten sie in ihnen leicht die Form und Farbe von Kreuzesnägeln erkennen. Es handelte sich aber auch nach der ‚Vita prima‘ des Thomas von Celano offensichtlich um nichts anderes als um Gebilde aus Fleisch und Blut, die durch Verletzungen hervorgerufen worden waren. In der zweiten ‚Vita‘ nimmt Thomas die Formulierungen der ersten auf und ergänzt die Bemerkung, die Wundmale seien „aus seinem Fleisch gebildet“, durch den kurzen Zusatz: „ja, aus dem Fleische selbst natürlich entstanden“81, wodurch wohl der Gedanke an eine äußerliche Zufügung ausgeschlossen werden soll. Da schon die frühesten biographischen Quellen von Zeugen berichten, die vor wie nach dem Tode des Franziskus seine Stigmata wahrgenommen haben sollen, fragt man nach Dokumenten, in denen Aussagen dieser Zeugen festgehalten sind. Weitere Zeugnisse, die sich an Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit mit dem im Brief des Elias von Cortona vergleichen ließen, gibt es allerdings nicht, obwohl schon Thomas von Celano behauptet, Franziskus sei bei seinem Hinscheiden in der Portiuncula von vielen Brüdern umgeben gewesen82 und nach seinem Tod seien aus Assisi viele Menschen herbeigeströmt83, die seinen Leichnam sahen84. Später hat man sich bemüht, Namen von Augenzeugen festzuhalten. So findet

78 1 Cel 112 (ebd., 88): Resultabat revera in eo forma crucis et passionis Agni immaculati, qui lavit crimina mundi, dum quasi recenter e cruce depositus videretur, manus et pedes clavis confixos habens et dextrum latus quasi lancea vulneratum. 79 1 Cel 113 (ebd., 88): cernere mirabile erat in medio manuum et pedum ipsius non clavorum puncturas sed ipsos clavos ex eius carne compositos, ferri retenta nigredine, ac dextrum latus sanguine rubricatum. 80 Helmut FELD, Franziskus von Assisi und seine Bewegung, Darmstadt 1994, 265. 81 2 Cel 217a (AFranc 10, 256): immo carni eidem innatos. 82 1 Cel 110 (AFranc 10, 86): Convenientibus itaque multis fratris [...] reverenter adstantibus et exspectantibus omnibus exitum beatum et consummationem felicem. 83 1 Cel 112 (AFranc 10, 87): Factus est propterea concursus populorum multorum [...]. Catervatim tota civitas Assisii ruit, et omnis accelerat regio videre magnalia Dei. 84 Ebd., 87f.: oculis monstrabatur.

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sich im Archiv des Sacro Convento di San Francesco in Assisi ein Pergamentblatt mit den Namen weltlicher Personen, die an Franziskus die Stigmata vor und nach seinem Tod gesehen haben sollen85. Dieses Blatt könnte 1237 zur Bekräftigung zweier Bullen Papst Gregors IX. angelegt worden sein86. Es lässt sich schwer vorstellen, dass die Aufzeichnung historischer Personen in einem solchen Dokument einfach erfunden wurde – noch weniger als die namentliche Nennung von Brüdern in den Legenden. Erstaunlich ist freilich, dass Papst Gregor IX., der erste Kardinalprotektor des Ordens, der Franziskus gut gekannt und ihm persönlich nahegestanden hatte, erst spät von den Wundmalen spricht. Er gehörte zwar nicht zu den Augenzeugen; aber man muss davon ausgehen, dass er über alles, was Franziskus betraf, informiert war – zumal über einen so wichtigen und spätestens seit dem Tode des Poverello so bekannten Sachverhalt. Um so mehr muss es überraschen, dass der Papst in der Heiligsprechungsbulle Mira circa nos vom 19. Juli 1228 die Stigmata mit keinem Wort erwähnt87. Erst 1237 verteidigte er sie in drei Bullen gegen Angriffe von Seiten des Bischofs von Olmütz und der Dominikaner sowie im Allgemeinen und bezeichnete sie als Grund der Heiligkeit des Franziskus88. Bonaventura behauptete deshalb in dem seiner ‚Legenda maior‘ angefügten Mirakelbuch, Gregor habe vor der Heiligsprechung des Franziskus Zweifel an dessen Seitenwunde in seinem Herzen getragen, von denen er durch einen Traum geheilt worden sei89; doch handelt es sich bei dieser späten Aussage offenbar nicht um sicheres Wissen, sondern um einen freien Rückschluss aus dem langen Schweigen des Papsts. Dagegen hat Bonaventura das Zeugnis Papst Alexanders IV. (1254–1261), eines Neffen Gregors IX., festgehalten, den er in einer Predigt behaupten hörte, er habe die Stigmata des Heiligen zu seinen Lebzeiten mit eigenen Augen gesehen90.

85 Michael BIHL, De quodam elencho Assisiano testium oculatorum S. Francisci stigmatum, Archivum Franciscanum historicum 19 (1926), 931–936 mit Tabula XXXII, hier: 931f.: Isti sunt qui viderunt stigmata Beati Francisci dum viveret in carne et post mortem: [...]. 86 Ebd., 936. 87 Bulle „Mira circa nos“: Bullarium Franciscanum, hg. v. Joannes Hyacinthus SBARALEA, Tom. 1, Romae 1759 (Nachdr. Santa Maria degli Angeli – Assisi 1983), 42–44. Die Formulierung se Illi conformans (§ 3; ebd., 43aC) bezieht sich auf sein Leben in Armut, nicht auf die Angleichung an den Gekreuzigten, während die Angabe [carne sua] cum vitiis et concupiscentiis crucifixa (ebd., 43aD) seine sexuelle Askese meint. 88 Bullen „Usque ad terminos“ vom 31. März 1237 (Bullarium Franciscanum, ebd., 1, 211f.); „Non minus dolentes“ vom 31. März 1237 (ebd., 1, 213) und „Confessor Domini“ vom 5. April 1237 (ebd., 1, 214). 89 3 Bon 2 (AFranc 10, 627f.): Gregorius Papa nonus [...] scrupulum quemdam dubitationis in corde gerebat de vulnere laterali. 90 1 Bon 13,8 (AFranc 10, 619): Summus etiam Pontifex Alexander, cum populo praedicaret coram multis fratribus et me ipso, affirmavit, se, dum Sanctus viveret, stigmata illa sacra suis oculis conspexisse.

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II. 4. Ergebnis Als Ergebnis unseres knappen Überblicks über die ältesten Quellen lässt sich festhalten: a) Während Franziskus in seinen ‚Opuscula‘ die Stigmata auch nicht andeutungsweise erwähnt, sind sie ein fester und wichtiger Bestandteil der biographischen Überlieferung seit der ‚Vita prima‘ des Thomas von Celano. Seine Ausführungen über die Entdeckung der Stigmata nach dem Tode des Franziskus sind so eindeutig und berufen sich auf so viele Augenzeugen91, dass man sich schlecht vorstellen kann, sie seien vollständig erfunden und ihre Wahrheit habe sich allein durch die Propaganda des Ordens bewährt. Aber auch die von Thomas unabhängigen Überlieferungen bürgen für die Existenz der Wundmale. Unter ihnen scheint der Bericht des Augenzeugen Elias von Cortona an den Orden am gewichtigsten. Er lässt sich aus einem vom ersten Herausgeber vermutlich stark erweiterten Text als historischer Kern herauslösen. Schließlich spricht auch die Erwähnung anderer Zeugen gegen eine bloße Erfindung. Andererseits argumentieren die Gegner der Stigmata bezeichnenderweise nicht historisch, indem sie die Einsichtigkeit des Geschehens oder die Zuverlässigkeit der Zeugen bezweifeln, sondern stets mit theologischen Argumenten. Man wird daher noch heute dem vor über hundert Jahren gefällten Urteil Karl Hampes zustimmen, das „Vorhandensein der Wundmale schon in den letzten Lebenszeiten des hl. Franz“ sei „dasjenige Ereignis [...], zu dem eine gewissenhafte Quellenkritik nach dem heutigen Stande der Wissenschaft unzweifelhaft hinführt“92. b) In manchen Zeugnissen wird allein das Faktum der Stigmata erwähnt93. Die ursprünglichste Beschreibung ihrer Gestalt dürfte der Augenzeuge Elias gegeben haben, während bereits im ersten Bericht des Thomas von Celano, der kein Augenzeuge war, offenkundig die Phantasie am Werk ist, die auch später an einer weiteren Ausmalung der Phänomene tätig ist. Offenbar hatten die Wundmale an den Extremitäten das Aussehen vernarbter Einstiche, während die Seitenwunde bis zuletzt nicht voll abgeheilt war. c) Der Vorgang der Entstehung der Stigmata wird in den frühen Quellen nicht geschildert und vor allem nicht erklärt. Im Brief des Elias wie in anderen Quellen wird allein die Tatsache ihres Vorhandenseins behauptet. Seit Thomas von Celano werden sie auf die Vision des Jahres 1224 auf dem Berg La Verna zurückgeführt. Doch bietet auch Thomas keine kausale Begründung der Stigmata durch die Vision des Seraphen, sondern suggeriert lediglich durch seine Aussage über die zeitliche Abfolge einen inneren Zusammenhang

91 Im Tractatus de miraculis 5 (3 Cel 5; AFranc 10, 274) schreibt er: Plures nobiscum fratres, dum viveret sanctus, id aspexerunt, in morte vero ultra quam quinquaginta cum innumeris saecularibus venerati sunt. 92 Karl HAMPE, Die Wundmale des hl. Franz von Assisi, Historische Zeitschrift 96 (1906), 385– 402, hier: 390. 93 Z. B. in der Aufzeichnung Bruder Leos.

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der Ereignisse, der erst später durch die bildliche Gestaltung konkretisiert wird. Die Darstellung des Thomas und seine wiederholte Verbindung der Stigmata mit der Rolle des Kreuzes Christi im Leben des Franziskus lässt vermuten, dass erst dieser Biograph auf Grund theologischer Überlegungen einen Zusammenhang zwischen Vision und Stigmatisation hergestellt hat.

III. Die Stigmata als Ereignis in der Biographie des Franziskus Nachdem wir die ältesten Zeugnisse überprüft haben, bleibt die Aufgabe, aus ihren durchaus uneinheitlichen und lückenhaften Aussagen eine Erklärung für das nicht zu leugnende Faktum der Stigmata zu gewinnen. Die mittelalterlichen Quellen betrachten den Vorgang als ein Wunder. Elias beginnt seine Mitteilung über die Stigmata mit den Worten: „Ich verkündige euch eine große Freude und ein neues Wunder (miraculi novitatem). Seit Ewigkeit ist von keinem solchen Zeichen gehört worden außer am Sohn Gottes, welcher der Herr Christus ist.“94 Als Thomas von Celano in der ‚Vita prima‘ die Klage der Mitbrüder über den Tod des Franziskus beschrieben hat, fährt er fort: „Doch eine unerhörte Freude linderte ihre Trauer, und die Neuheit des Wunders (miraculi novitas) versetzte sie in übergroßes Staunen.“95 In der ‚Vita secunda‘ verstärkt er die Beschreibung ihrer Wirkung auf die Brüder: „Doch die Neuheit des Wunders veränderte ihre Klage in Jauchzen und ihre Trauer in Jubel.“96 Im ‚Tractatus de miraculis‘ streicht er den Wundercharakter und die Einzigartigkeit der Stigmata verständlicherweise besonders heraus97. Der Charakter des Wunderbaren durchzieht auch die Schilderung der Ereignisse von La Verna; der Zusammenhang zwischen der Vision und dem anschließenden Empfang der Wundmale bleibt hier ein nicht näher erklärtes Geheimnis. Die für mittelalterliches Denken verständliche Auffassung von einem Wunder hat sich bis in unsere Zeit gehalten – auch bei manchen Franziskus-Forschern, zumal bei solchen aus den franziskanischen Orden. Selbst der so nüchterne, historisch-kritisch abwägende Oktavian Schmucki betonte noch 1991, für einen Christen, der sich mit Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte beschäftige, seien selbst unter strengsten Kriterien Wunder möglich98. Doch wollte er in seiner Untersu94 Absatz 5, AFranc 10, 526f. (oben Anm. 70). 95 1 Cel 112 (AFranc 10, 87): Sed temperebat moestitiam gaudium inauditum, et miraculi novitas eorum mentes in stuporem nimium convertebat. 96 2 Cel 217a (AFranc 10, 256): Verumtamen miraculi novitas planctum vertit in iubilum et luctum in iubilationem. 97 3 Cel 2–13 (AFranc 10, 272–278); vgl. hier bes. § 2 (ebd., 272): Non est quaerenda ratio, quia mirabile, nec petendum exemplum, quoniam singulare. 98 Oktavian SCHMUCKI, The Stigmata (wie Anm. 17), 78: „It should suffice to note that, for a Christian who studies church history and the history of spirituality, miracles in the past and in the present are possible, even if the most severe criteria have to be applied to verify them. A miracle can be accepted only when, on the basis of interdisciplinary collaboration of experts, the possibility of a merely natural explanation is excluded unequivocally.“

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chung auf ein Urteil darüber verzichten, ob die „mystische Kreuzigung“ des Franziskus ein wunderbares Eingreifen voraussetze, wie es die frühen Quellen annehmen, und die historischen Berichte von der religiös-theologischen Interpretation durch ihre Autoren ablösen99. Hier ist in vorbildlicher Weise das Dilemma des religiös gebundenen Wissenschaftlers charakterisiert. Das Wunder als Durchbrechung der jeweils bekannten Naturzusammenhänge ist allein ein religiöstheologischer Sachverhalt. Dagegen spielt es als Kategorie geschichtlicher Erklärung, als ein Argument, das es erlaubt, den natürlichen Erklärungszusammenhang zu durchbrechen, für den historisch-kritisch arbeitenden Geschichtsforscher keine Rolle. Schon Ferdinand Christian Baur, der Begründer einer konsequent historischen Geschichtsbetrachtung in der Theologie, hatte vor 150 Jahren mit Recht festgestellt: „Bei dem Wunder hört alles Erklären und Begreifen auf“100. In seiner letzten einschlägigen Veröffentlichung hat sich auch Oktavian Schmucki eindeutig zu diesem Standpunkt bekannt: „Sofern meine nun ganz klar vorgelegte Interpretation begründet ist, entfällt die Berechtigung, [...] von der kirchengeschichtlichen Einzigartigkeit der Stigmatisierung unseres Heiligen und damit von der Notwendigkeit eines Wunders zu sprechen.“101 Angesichts der umfangreichen Literatur über die Stigmata des Franziskus und über neuere Stigmatisierte ist man versucht, hier innezuhalten und sich der resignierten Einsicht des italienischen Historikers und Franziskus-Biographen Raoul Manselli anzuschließen. Er meint, „daß man über die Feststellung der Realität der Wundmale nicht hinausgehen kann und darf“102. Das halte ich aber doch nicht für der Weisheit letzten Schluss, gerade im Zusammenhang einer Tagung über „Körperliche Zeichen der Heiligkeit“, und stelle deshalb zum Abschluss noch einige weiterführende Überlegungen vor. Für eine gewissermaßen natürliche Erklärung, die sich im Rahmen des menschlichen Erfahrungshorizonts hält, sehe ich in der Literatur grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Zum einen wird eine Entstehung der körperlichen, äußerlich wahrnehmbaren Male aus einem seelischen, unsichtbaren Vorgang erwogen. Diese Auffassung wird schon von den mittelalterlichen Biographen vertreten. Wenn Thomas von Celano schreibt: „Es offenbarte sich wenig später die Liebe seines Herzens durch 99 Ebd., 78f.: „The study does not consciously intend to investigate the origin of the Poverello’s Stigmata in detail. It is not our task to decide if his mystical crucifixion demands a miraculous intervention by God – as the early sources assume. The validity of our research demands we examine the sources to isolate the historical report on the stigmatization and the form of the wounds from the religious, theological and interpretive framework of the author.“ 100 Ferdinand Christian BAUR, Die Tübinger Schule und ihre Stellung zur Gegenwart, Tübingen ²1860, 45. 101 Oktavian SCHMUCKI, Wundmale (wie Anm. 17), 487, Anm. 76; vgl. dazu auch 487 im Text. 102 Raoul MANSELLI, Franziskus: der solidarische Bruder, Zürich, Einsiedeln, Köln 1984, 339: „Wie Franziskus sie [die Wundmale] erhielt, was genau sie waren, wie seine persönliche Reaktion war, wissen wir nicht und werden wir nie wissen. Die Interpretationen, die man davon geben kann – von den skeptischsten bis zu den übernatürlichsten –, bleiben gezwungenermaßen schlicht und einfach Hypothesen angesichts der Feststellung einer Tatsache: Der Heilige hüllte sich in vollkommenes Schweigen und verlangte dies auch von anderen.“

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die Wunden an seinem Leibe“103, dann muss man das als Hinweis auf einen kausalen Zusammenhang zwischen Seele und Körper verstehen, auf den Ausdruck innerer Emotionen im Leiblichen. Bonaventura hat den Gedanken aufgenommen, wenn er – eine Andeutung in der ‚Legenda maior‘104 fortführend – in der ‚Legenda minor‘ schreibt, nach der Vision des Seraphs sei die Seele des Franziskus innerlich so von Glut entflammt gewesen, dass sein Leib äußerlich mit dem Bilde des Gekreuzigten gezeichnet war, als ob die Schmelzkraft dieses Feuers den Eindruck eines Siegels hervorgerufen hätte105. Zur sachlichen Beurteilung solcher und ähnlicher psychosomatischer Erklärungen ist eine naturwissenschaftlich-medizinische Kompetenz nötig, über die ich freilich nicht verfüge. Immerhin lässt sich aus der reichen einschlägigen Literatur über Franziskus und die zahlreichen Stigmatisierten nach ihm106 erkennen, dass die „Ansichten in der psychologischen und medizinischen Deutung zum Teil bedeutend voneinander abweichen“107, was auch das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Tatsachenberichte nicht erhöhen kann – zumal wenn man sieht, dass die Autoren meist naiv-unkritisch mit den historischen Quellen umgehen. Hier soll aber wenigstens eine Deutung erwähnt werden, die wegen ihres Erfinders bemerkenswert ist und durch Oktavian Schmucki aufgegriffen wurde: eine durch Joseph Görres eingeführte Idee. In seiner Darstellung der christlichen Mystik108 geht Görres auch ausführlich auf psychophysische Phänomene ein und behandelt unter dem Titel „Die Ecstase im unteren Leben, und die durch sie gewirkte Transformation der Leiblichkeit“109 die Stigmatisation und die „mystische Plastik“. Als ersten Fall der „vollen Stigmatisation“ stellt er – in ganz unkritischem Umgang mit den Quellen – Franziskus dar110, um später, doch ohne Bezugnahme auf den Poverello, über die mit der Stigmatisation verwandte und verbundene „mystische Plastik“ zu handeln111. Nicht in unmittelbarer Übernahme, wohl aber 103 2 Cel 11 (AFranc 10, 137): Patuit paulo post amor cordis per vulnera corporis. 104 1 Bon 13,3 (AFranc 10, 616): Disparens igitur visio mirabilem in corde ipsius reliquit ardorem, sed et in carne non minus mirabilem signorum impressit effigiem. 105 2 Bon 6,2 (AFranc 10, 673): Disparens igitur visio post arcanum ac familiare colloquium, mentem ipsius seraphico interius inflammavit ardore, carnem vero Crucifixo conformi exterius insignivit effigie, tamquam si ad ignis liquefactivam virtutem praeambulam sigillativa quaedam esset impressio subsecutiva. 106 Vgl. die Angaben bei SCHMUCKI, Wundmale (wie Anm. 17), 483 Anm. 65; dazu DERS., The Stigmata (wie Anm. 17), 330–380. 107 SCHMUCKI, Wundmale (wie Anm. 17), 483. 108 Joseph GÖRRES, Die christliche Mystik, Bd. 1–5, Regensburg 1836–1842. 109 Ebd., Bd. 2, 1837, 407–468. 110 Ebd., 421–423. 111 Ebd., 456: „Eine andere, der Stigmatisation verwandte Erscheinung, bietet sich uns noch im unteren Lebensgebiete dar: das Hervortreten von mancherlei plastischen Gebilden, in und an der Leiblichkeit; in denen sich die Gegenstände, die allstets vor der betrachtenden Seele schweben, gleichsam incarniren; so daß ihr nun, was sie sich innerlich eingelebt, auch äußerlich eingeleibt entgegentritt.“ Ebd., 458f.: „Wir finden uns durch diese unmittelbare Erscheinung zu jener neuen Form leiblicher Umbildung, von Innen heraus, übergeleitet; die, wie aus dem, was mit der s. Osanna von Mantua sich begeben, sich abnehmen läßt, in weiterem Fortschritt, an die Stigmatisation sich schließt.“

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im Anschluss an Görres spricht Schmucki von einer „Ideoplastik des Geistes“112. Nun soll auf Görres’ für das romantische Denken typische Ausführungen, die mit vorwissenschaftlichen Überlegungen Zusammenhänge zwischen Seele und Körper zu erfassen suchen, nicht weiter eingegangen werden. Doch sehe ich in Schmuckis Anwendung der Idee auf Franziskus einen richtigen Gedanken, der sich aber nur im Rahmen eines Versuchs bewähren kann, die Stigmata mit den genuinen Mitteln des Historikers zu erklären. Verstehen und erklären lassen sich nur historische Phänomene und Vorgänge, die nicht – wie „Wunder“ – außerhalb jeder Analogie stehen. Nun ist schon längst darauf hingewiesen worden, dass Franziskus nicht – wie von den mittelalterlichen Quellen und besonders von der franziskanischen Tradition seit dem Brief des Elias behauptet – der erste Träger von Stigmata des Gekreuzigten war. Seit mehr als einem Jahrhundert sind der Forschung „zeitgenössische Analogiefälle“ bekannt113. Es ist nicht nötig, sie hier im Einzelnen aufzuführen. Es mag genügen, an einen Fall von Selbstbeibringung der Stigmata zu erinnern, der auf dem Konzil von Oxford 1222 abgeurteilt wurde114. „Der Oxforder Fall von 1222 ist der einzige, dem man ohne jeden Zweifel die Priorität vor der Stigmatisation des hl. Franz zuzuweisen hat.“115 Es ist nicht anzunehmen, dass Franziskus von diesem Fall gewusst hat oder gar beeinflusst wurde. Angesichts der zwar nachgewiesenen, aber doch äußerst spärlichen Fälle von Selbstkreuzigung oder Selbstbeibringung von Kreuzeswunden zu seinen Lebzeiten ist es auch maßlos übertrieben, zu behaupten: „Francis stood within a tradition of stigmata.“116 Doch lässt sich auf jeden Fall feststellen, dass Franziskus in einer Zeit intensiver Passionsfrömmigkeit gelebt

112 SCHMUCKI, Wundmale (wie Anm. 17), 488. 113 Karl HAMPE, Altes und Neues über die Stigmatisation des hl. Franz von Assisi, Archiv für Kulturgeschichte 8 (1910), 257–290, hier: 284–290, das Zitat 284. Ähnlich DERS., Die frühesten Stigmatisationen und der hl. Franz von Assisi, Internationale Wochenschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 4 (1910), 1485–1494. Die von Hampe erwähnten Fälle werden in der neueren Literatur immer wieder angeführt und z. T. vermehrt, etwa von Peter DINZELBACHER, Diesseits der Metapher: Selbstkreuzigung und -stigmatisation als konkrete Kreuzesnachfolge, Revue Mabillon N.S. 7 (1996), 157–181, erweitert abgedruckt in: DERS., Körper und Frömmigkeit in der mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte, Paderborn [u. a.] 2007, 51– 77; Christoph DAXELMÜLLER, „Süße Nägel der Passion“: die Geschichte der Selbstkreuzigung von Franz von Assisi bis heute, Düsseldorf 2001; Richard C. TREXLER, The Stigmatized Body of Francis of Assisi: Conceived, Processed, Disappeared, in: Frömmigkeit im Mittelalter: Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen, hg. v. Klaus SCHREINER, München 2002, 463–497. Trexler möchte wegen der analogen Fälle die Behauptung des Elias von der Neuheit des verkündeten Wunders nicht auf die Stigmata, sondern auf das anschließend geschilderte unversehrte Aussehen des Franziskus beziehen; vgl. ebd., 488: „Now there should be little doubt as to what Elias is saying: The miraculi novitatem was not primarily the stigmata. The truly wondrous novelty was that Francis’ body changed from a mass of torment, of which the stigmata were one part, to a beautiful rosy white body.“ 114 HAMPE, Altes und Neues (wie Anm. 113), 284–288. 115 Ebd., 288. 116 TREXLER (wie Anm. 113), 496.

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hat117, in der zugleich Askese und Selbstverletzung verschiedenster Art nicht ungewöhnlich waren118. Die seit langem bekannten Fälle zeigen, dass die Selbstbeibringung von Kreuzeswunden keineswegs etwas völlig Unerhörtes war, sondern sich im Rahmen der damaligen Kreuzverehrung wie der damaligen Askesepraktiken bewegte. Nun wissen wir von Franziskus, dass er seinen Körper nicht selten mit äußerster asketischer Strenge behandelt hat.119 Wir wissen von seiner innigen Christusfrömmigkeit, die nicht nur die Andacht zum Leiden Christi120, sondern ebenso zum Geheimnis seiner Geburt121 umfasste. Dass er das Bild des Gekreuzigten nicht nur unzählige Male äußerlich vor sich sah, sondern auch stets im Herzen trug, ist ebenso sicher. Aus seinen eigenen Schriften wissen wir auch von seiner Bemühung um lebendige Nachfolge Christi. So beginnt das erste Kapitel der ‚Regula non bullata‘ mit der Aufforderung, Christi Lehre und Vorbild zu folgen (doctrinam et vestigia sequi).122 Eine andere Eigenschaft ist das, was Oktavian Schmucki „eine einzigartig ‚ideoplastische‘ Anlage“123 oder „Veranlagung“124 nennt und so beschreibt: „Wer sodann die psychologische Veranlagung des Poverello in Rechnung stellt, wird seine ungewöhnliche Sensibilität und Phantasie, seinen poetischen Sinn wie auch seine erstaunliche Fähigkeit, seelische Erfahrungen im Körperbereich auszudrücken, nicht übersehen.“125 Wenn nach einer zusammenfassenden Charakterisierung durch Thomas von Celano Franziskus bei seiner Verkündigung „seinen ganzen Körper zu seiner Zunge machte, um seine Zuhörer nicht weniger durch sein Beispiel als durch sein Wort zu erbauen“126, so lässt sich das in vielen Situationen anschaulich nachvollziehen. Als er einmal, in einer Angelegenheit seiner Gemeinschaft nach Rom gereist, vor Papst Honorius III. (1216–1227) und den Kardinälen auftrat, da redete er mit so glühender Begeisterung, dass er beim Sprechen vor Freude nicht an sich halten konnte, sondern seine Füße wie beim Tanzen bewegte127. Wenn der Geist über ihn kam, dann brach er in einen französischen Jubelge117 Einige Hinweise bei Ulrich KÖPF, Art. Passionsfrömmigkeit, in: Theologische Realenzyklopädie 27 (1997), 722–764. 118 Vgl. Giles CONSTABLE, Attitudes Toward Self-Inflicted Suffering in the Middle Ages, Brookline, Mass., 1982. 119 So berichtet z. B. 2 Cel 116 (AFranc 10, 199) von der Geißelung des Körpers (des „Bruders Esel“) bei einer fleischlichen Anfechtung. 120 SCHMUCKI, Leiden Christi (wie Anm. 42). 121 DERS., Das Geheimnis der Geburt Jesu in der Frömmigkeit des hl. Franziskus von Assisi, in: DERS., Beiträge (wie Anm. 17), 145–167. 122 Regula non bullata 1,1 (Opuscula 377f.) Die Formulierung vestigia sequi in Bezug auf den Herrn findet sich auch in Regula non bullata 22,2 (ebd., 395); Epistola ad fideles II,13 (ebd., 208); Epistola toti ordini missa 51 (ebd., 263); Epistola ad fratrem Leonem 3 (ebd., 222). 123 SCHMUCKI, Wundmale (wie Anm. 17), 490. 124 Ebd., 492. 125 Ebd., 490. 126 1 Cel 97 (AFranc 10, 74): Replebat omnem terram Evangelio Christi, ita ut una die quatuor aut quinque castella vel etiam civitates saepius circuiret, evangelizans unicuique regnum Dei, et non minus exemplo quam verbo aedificans audientes, de toto corpore fecerat linguam. 127 1 Cel 73 (AFranc 10, 54).

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sang aus und hob manchmal sogar ein Stück Holz vom Boden auf, legte es über seinen linken Arm und führte einen kleinen Bogen darüber, während er sich entsprechend bewegte und in französischer Sprache vom Herrn sang128. Bei Bevagna im Spoletotal hielt er eine Predigt an die dort versammelte Vogelschar129, und als er in dem Ort Alviano das Wort Gottes verkünden wollte und von den dort nistenden Schwalben durch ihr Zwitschern gestört wurde, da gebot er ihnen erfolgreich Stille130. Drei Jahre vor seinem Tod feierte er beim Dorfe Greccio im Rietital das Fest der Geburt Jesu, wobei er eine Krippe voll Heu mit Ochs und Esel aufstellen ließ131. Wenn wir diese Weisen körperlichen Ausdrucks seiner tiefsten Empfindungen betrachten, so wird verständlich, wie er sich in einer Situation stärksten Mitleidens mit dem Leiden Christi die fünf Kreuzeswunden selbst zufügen konnte. Diese Lösung kann freilich nur mit größter Zurückhaltung und unter genauer Beachtung der Quellen erwogen werden. Alle Spekulationen über den Seelenoder Geisteszustand des Franziskus132 sind hier fehl am Platze. Keinerlei Anhaltspunkte in den Quellen hat auch die Vermutung, die mit den umgebogenen Nagelspitzen argumentiert, Franziskus habe „sich die Wundmale in mystisch-ekstatischem Zustand, während eines liturgischen Spieles selbst“ zugefügt „oder von seinen Mitbrüdern in Form einer Kreuzigung zufügen“ lassen, ja er sei dabei vielleicht sogar „einem Unfall aus Unwissenheit zum Opfer“ gefallen: „Denn die Nägel bogen sich um und waren nicht mehr aus den Wunden zu ziehen.“133 Die älteste Darstellung eines Augenzeugen, der Bericht des Bruders Elias, spricht nur von vernarbten und verfärbten Einstichen an Händen und Füßen sowie von einer noch nicht verheilten Seitenwunde134. Warum und wie Franziskus sich diese Verletzungen beigebracht haben könnte, darf man mit gebotener Vorsicht aus der Kenntnis seiner Frömmigkeit und aus dem deutlichen Unterschied zu analogen Fällen erschließen. Die Zeitangabe des Elias „nicht lange vor seinem Tode“ lässt sich ohne Künstlichkeit nicht auf eine Zeitspanne von zwei Jahren ausdehnen, die es erlaubt, den Empfang der Stigmata mit der Vision von La Verna in Verbindung zu bringen. Im Übrigen handelt es sich um ein Geschehen, von dem Franziskus allein wusste und dessen Spuren an seinem Körper er sogar vor seinen nächsten Gefährten sorgfältig zu verbergen suchte, auch wenn ihm das nicht vollständig gelang. Auch dieser Umstand weist auf einen Zeitpunkt nicht lange vor seinem Tode hin. Doch das Ergebnis, zu dem der Historiker mit einiger Sicherheit vorstößt, ist allein das Faktum der Stigmata. Die näheren Umstände ihrer Entstehung bleiben ein Geheimnis, das man nur mit Vermutungen zu lüften versuchen kann. 128 129 130 131 132

2 Cel 127 (AFranc 10, 205). 1 Cel 58 (AFranc 10, 44f.). 1 Cel 59 (AFranc 10, 45f.). 1 Cel 84–86 (AFranc 10, 63f.). So FELD (wie Anm. 80), 265: „Ich halte es dagegen für wahrscheinlicher [als eine Entstehung durch Autosuggestion], daß sich Franziskus in dem abnormen und krankhaft-ekstatischen Zustand, in den er sich wochenlang hineinsteigerte, die Male auf mechanische Weise beibrachte.“ 133 DAXELMÜLLER (wie Anm. 113), 117. 134 Abs. 5; oben Anm. 70.

EKSTASE UND POLITISCHE MISSION. DIE STIGMATA DER CATERINA VON SIENA (1347–1380) Jörg Jungmayr Die zweite wichtige Stigmatisation1 des Mittelalters, die nach manchen Widerständen von der Kirche anerkannt wurde, ist die der Caterina von Siena. Ihr geht die Stigmatisation des Franz von Assisi (um 1181–1226) im September 1224 am Monte Alverna voraus, die zwar nicht die früheste2, aber diejenige ist, die sich in 1

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Die Begriffe Stigmatisierung und Stigmatisation werden häufig nicht präzise auseinandergehalten, und das nicht nur im alltagssprachlichen Gebrauch, wie der Artikel ‚Stigmatisierung‘ von Peter GERLITZ in der Theologischen Realenzyklopädie, Bd. 32, Berlin, New York 2001, 174–178 zeigt. Es geht in diesem Artikel gerade nicht um den in der Soziologie oder Psychologie verwendeten Terminus Stigmatisierung, der die Ausgrenzung von einzelnen Gruppen oder Individuen in einer Gesellschaft meint, sondern um den religionswissenschaftlichen Terminus, der das Auftreten von Stigmata (Eigentums-, Brand-, Wundmale) als Ausdruck der Zugehörigkeit zu einer Gottheit beschreibt, eine Zugehörigkeit, die freilich ihrerseits wieder zu einer Ausgrenzung führen kann. Vgl. hierzu die beiden terminologisch korrekten Artikel ‚Stigma, Stigmatisation‘ von Andreas-Pazifikus ALKOFER und ‚Stigmatisierung‘ von Gerhard DROESSER im Lexikon für Theologie und Kirche, 3., völlig neu bearb. Aufl., Bd. 9, Freiburg i. Br. [u. a.] 2000, 1004–1005 bzw. 1006–1007. Zur Einführung in das religionswissenschaftliche Phänomen Stigmatisation vgl. in Ergänzung zu den oben erwähnten Artikeln und der dort aufgeführten Literatur: Christoph DAXELMÜLLER, „Süße Nägel der Passion“. Die Geschichte der Selbstkreuzigung von Franz von Assisi bis heute, Düsseldorf 2001; Peter DINZELBACHER, Körper und Frömmigkeit in der mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte, Paderborn [u. a.] 2007; David GANZ, Medien der Offenbarung. Visionsdarstellungen im Mittelalter, Berlin 2008 (s. vor allem T. 3, 281ff.: „Körper-Zeichen. Visionsbilder und die Logik des Abdrucks“); Ted HARRISON, Stigmata. A Medieval Mystery in a Modern Age. New York [u. a.] 1996; Stigmata. Poetiken der Körperinschrift, hg. v. Bettine MENKE u. Barbara VINKEN, München 2004; Helmut MÖDRITZER, Stigma und Charisma im Neuen Testament und seiner Umwelt. Zur Soziologie des Urchristentums, Freiburg/Schweiz 1994. – Zur Einführung in den soziologischen bzw. psychologischen Gebrauch des Begriffs Stigmatisierung vgl. Anton J.M. DIJKER / Wim KOOMEN, Stigmatization, Tolerance and Repair: an Integrative Psychological Analysis of Responses to Deviance, Cambrigde [u. a.] 2007; Erving GOFFMAN, Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität, [Repr.:] Frankfurt a. M. 2008; Wolfgang LIPP, Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten (Religion in der Gesellschaft 26), Würzburg 22010. Vor Franz von Assisi sind zwei Stigmatisationen überliefert, die der Marie von Oigniès (1177–1213) und die des Dodo von Haska († 1231). Vgl. hierzu die ‚Vita B. Mariae Oigniacensis‘ des JACOBUS de Vitriaco (in: Acta Sanctorum, Juni 4, Antverpiae 1707, 636–666, hier: 642) und die ‚Vita B. Dodonis de Hascha‘ (in: Acta Sanctorum, März 3, Antverpiae 1668, 851–852, hier: 852). Während über Dodo von Haska lediglich erzählt wird, dass sein Körper bereits viele Jahre vor seinem Tod die fünf Wunden Christi aufwies, ist der Bericht

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das kollektive Bewusstsein der Zeitgenossen und Nachgeborenen am nachhaltigsten eingeprägt hat3. In seiner um 1320 abgeschlossenen ‚Divina Comedia‘ bezeichnet Dante (1265–1321) die Stigmata von Franz als Siegel Christi: Nel crudo sasso intra Tevere ed Arno Da Cristo prese l’ultimo sigillo, Che le sue membra due anni portarno4.

Francesco Petrarca (1304–1374) äußert in einem Brief an seinen Freund Tommaso del Garbo (um 1305–1370), der Mitte des 14. Jahrhunderts als Pestarzt in Florenz wirkte, die Ansicht, dass man sehr wohl am ekstatischen raptus des Paulus († nach 60) zweifeln könne, während die Stigmatisation des hl. Franz ein körperlicher Ausdruck seiner völligen Übereinstimmung mit dem Leiden Christi sei: [...] de Pauli quidem raptu dubitari potest, [...] sed profectò Francisci stigmata, hinc principium habuere, CHRISTI mortem tam iugi & ualida meditatione complexi, ut cum eam in se iamdudum animo transtulisset, & cruci affixus ipse, sibi suo cum domino uideretur, tandem ab animo in corpus ueram rei effigiem, pia transferret opinio5.

Wenn wir die für dieses Ereignis wesentlichen Quellen, den Bericht von Bruder Leo6, die ‚Epistola encyclica‘ des Elias von Cortona (um 1180–1253)7, die ‚Vita prima S. Francisci‘ des Thomas von Celano (um 1190–um 1260)8, die ‚Legenda trium sociorum‘9 und die ‚Legenda Perusina‘10 in der Synopse betrachten, so können wir feststellen, dass die Stigmatisation des hl. Franz in der Bipolarität nicht nur zwischen Christus und Adam, sondern ebenso zwischen Lichtengel und DäJakobs von Vitry über Marie von Oigniès aufschlussreicher. Der Zusammenhang von Selbstverstümmelung, mit der körperliche Begierden bestraft werden sollen, und Stigmatisation ist hier evident. Es ist durchaus möglich, dass Franz von Assisi diesen Bericht kannte, denn sein Verfasser, Jakob von Vitry, ist ihm mindestens zweimal begegnet. 3 Zur Stigmatisation des Franz von Assisi vgl. den Beitrag von Ulrich Köpf in diesem Band. 4 DANTE Alighieri, Die göttliche Komödie. Italienisch und Deutsch, übers. v. Hermann GME2 LIN, 3. Teil: Das Paradies, XI, Stuttgart 1975, 106–108: Und er empfing im Felsen zwischen Tiber || Und Arno Christi letzte Wunderzeichen, || Die er zwei Jahre trug auf seinen Gliedern. 5 Fran. Petrarcha Thomæ de Garbo Florentino, De opinione & fortuna, in: Francesco PETRARCA, Opera quae extant omnia, tom. 2, Basileae 1554, [Repr.:] Ridgewood, N.J. 1965, 923f. 6 Der Bericht über die Stigmatisation des Franz von Assisi befindet sich auf der sog. Chartula, einem Pergamentblatt, das zwei Autographen des hl. Franz, die ‚Laudes‘ und die ‚Benedictio fr. Leonis‘, enthält. Den beiden Autographen hat Bruder Leo nach dem Tod des hl. Franz seinen Bericht hinzugefügt. Vgl. hierzu Duane LAPSANSKI, The Autographs on the „Chartula“ of St. Francis of Assisi, Archivum franciscanum historicum 67 (1974), 18–37; zum Bericht Bruder Leos ebd., 35. 7 ELIAS de Cortona, Epistola encyclica de transitu S. Francisci ad omnes provincias ordinis missa, Analecta franciscana 10 (1926/41), 523–528. 8 THOMAS de Celano, Vita prima S. Francisci, ebd., 1–117. 9 Théophile DESBONNETS, Legenda trium sociorum. Edition critique, Archivum franciscanum historicum 67 (1974), 38–144. 10 Compilatio Assisiensis dagli scritti di fr. Leone e compagni su S. Francesco. Prima ed. integrale dal ms. 1046 di Perugia con versione italiana a fronte (Pubblicazioni della Biblioteca francescana, Chiesa Nuova, Assisi 2), a cura di Marino BIGARONI, Assisi 1975.

Ekstase und politische Mission

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mon der Finsternis, d. h. zwischen Seraph und Luzifer steht. Helmut Feld11 hat sehr überzeugend aufgezeigt, dass Franz mit seiner Stigmatisation eine Aufhebung dieses Spannungsverhältnisses anstrebte, und zwar in dem Sinn, dass die Erlösung nicht nur Adam, sondern auch Luzifer zuteil werden sollte. Wenn wir zu diesen zeitgenössischen Quellen noch den ‚Arbor vitae crucifixae‘ des Franziskanerspiritualen Ubertino von Casale (1259–nach 1328)12 heranziehen, in dem Franz die Mission zugeschrieben wird, die durch Luzifer zerstörte Engelshierarchie wiederherzustellen, so werden hier die Konturen einer an die Apokatastase (Wiederbringung, Wiederherstellung) des Origenes (um 185–253/54) anknüpfenden universellen Inkarnations- und Erlösungslehre sichtbar, die weit über die katholischen Dogmen hinausgeht und die, so Feld, „vom Standpunkt kirchlicher Orthodoxie her gesehen, glatte Häresie“13 ist. In einem völlig anderen Kontext bewegt sich die Stigmatisation der Caterina von Siena. Sie fand der Überlieferung zufolge am 1. April 1375, dem 4. Fastensonntag (Letare) dieses Jahres, in Pisa statt, und zwar in der am linken Arnoufer gelegenen Bartholomäus und Cristina geweihten Kirche14. Das Datum ist deswegen bedeutsam, weil es den Beginn der politischen Tätigkeit der damals 28-Jährigen markiert. Sie geht daran, ihr bereits vorher in Grundzügen entwickeltes Konzept zur Befriedung Italiens in die Tat umzusetzen15.

11 Helmut FELD, Franziskus von Assisi und seine Bewegung, 2., überarb. Aufl., Darmstadt 2007, 256–277. 12 UBERTINUS de Casali, Arbor vite crucifixe Iesu, Venetiis: Andrea Bonetti 1485: Intellexi fuisse reuelatum sanctissimo patri quod ipse singulariter erat missus in mundum ad restaurandum ruinam seraphici ordinis. Non enim est dubium quod de illo ordine fuisset lucifer si stetisset summus: unde magnam stragem suorum incomparium in illo ordine fecisse creditur que de flammeis membris iesu reparari debebit (V, 4, D7ra). 13 FELD (wie Anm. 11), 276. 14 Angiolo Maria CARAPELLI bemerkt zu diesem Datum in seinem aus dem 18. Jahrhundert stammenden, handschriftlich überlieferten ‚Sommario della Vita di S. Caterina‘ (Siena, Biblioteca Comunale: Ms. B VII.11): Dicono tutti gli scrittori della di Lei vita, che tal fatto successe in Domenica, onde da questo e dalle tre ultime parole dell’iscrizione [in S. Cristina; J.J.], si cava secondo le calende di quell’anno 1375, che fu il primo giorno d’Aprile, domenica quarta di quadragesima, avendo la sacra Vergine compiti anni ventotto e giorni sei (S. 439). Carapelli bezieht sich auf die Inschrift eines 1617 von Fabio Orlandini gestifteten Altars in der Kirche S. Cristina. Hier heißt es u. a.: Diva Caterina virgo [...] ad hanc aram sanctissimi Iesu crucifixi stigmata donatur anno reparatae salutis MCCCLXXV mense Aprili ineunte (Epistelseite). Vgl. hierzu Niccola ZUCCHELLI / Eugenio LAZZARESCHI, S. Caterina da Siena e i Pisani, Il Rosario: memorie domenicane 34 (1917), 154–167, 196–209. 15 Zum Beginn des politischen Engagements Caterinas vgl. Jörg JUNGMAYR, Die Legenda Maior (Vita Catharinae Senensis) des Raimund von Capua. Edition nach der Nürnberger Handschrift Cent. IV, 75, Übersetzung und Kommentar, Bd. 2, Berlin 2004, 796–803. Hierzu vgl. außerdem: Eleonore von SECKENDORFF, Die kirchenpolitische Tätigkeit der heiligen Katharina von Siena unter Papst Gregor XI. (1371–1378). Ein Versuch zur Datierung ihrer Briefe (Abhandlungen zur Mittleren und zur Neueren Geschichte 64), Berlin, Leipzig 1917, 40–84; Niccola ZUCCHELLI / Eugenio LAZZARESCHI, S. Caterina da Siena e i Pisani, Il Rosario: memorie domenicane 33 (1916), 168–178, 262–266, 320–342, 379–391, 516–527, 578–585, 629–642; 34 (1917), 18–31, 154–167, 196–209. Auch selbstständig ersch.: Firenze 1917.

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Den ausführlichsten Bericht über die Stigmatisation hat Raimund von Capua (um 1330–1399), ihr Beichtvater16, in seiner großen Lebensbeschreibung Caterinas, der ‚Legenda Maior‘, hinterlassen. Im sechsten Kapitel des zweiten Teils, das er um 1390 niedergeschrieben und dem er die Überschrift De mirabilibus excessibus mentis eius et magnis reuelationibus sibi factis a domino (‚Von ihren wundersamen Ekstasen und den großen Offenbarungen, mit denen sie der Herr beschenkte‘) gegeben hat, erzählt er von dem Ereignis, wobei er die Stigmatisierte persönlich zu Wort kommen lässt und somit den Anschein unmittelbarer Authentizität erweckt. Im Folgenden wird der mittellateinische Text mit der deutschen Parallelübersetzung zitiert17: 194. Sane pro continacione huius materie, lector bone, vnum tibi narrare compellor, quod [...] accidit me presente pariter et cernente in ciuitate Pissana. Dum enim ipsa illuc venisset et quam plures cum ea, quorum ego extiti vnus, jpsa hospicio est recepta cuiusdam ciuis, qui habitabat iuxta ecclesiam siue capellam sancte Christine. Jn hac ecclesia quadam die dominica ego ad eius instanciam celebraui eamque, ut comuni modo loquendi dixerim, comunicaui.

194. Unser Gegenstand zwingt mich, mein lieber Leser, gleich hier von einem Vorkommnis zu berichten, das sich [...] in der Stadt Pisa ereignet hat und bei dem ich als Augenzeuge zugegen war. Als sie einmal in zahlreicher Begleitung, darunter auch ich, die Stadt besuchte, fand sie gastliche Aufnahme bei einem gewissen Bürger [Gerardo Buonconti; J.J.], der in der Nähe der Christinenkirche wohnte. In dieser Kirche feierte ich auf ihre Bitten hin an einem Sonntag die Messe und ließ sie, um den dafür gebräuchlichen Begriff zu verwenden, kommunizieren.

Quo facto ipsa iuxta consuetudinem suam diu ibidem mansit absque corporeorum sensuum usu, quia spiritus eius suum creatorem summum, scilicet spiritum sanctum siciens, quantum poterat, se a corporeis sensibus elon-

Danach blieb sie ihrer Gewohnheit entsprechend noch lange Zeit in der Kirche und verlor dabei das körperliche Bewusstsein, weil sich ihr Geist, den es mit aller Kraft nach seinem höchsten Schöpfer, d. h. nach dem

16 Zu Raimund von Capua vgl. Angelo DELLA CIOPPA, Series chronologica rerum praecipuarum ad vitam B. Raymundi Capuani pertinentium, in: RAIMUNDUS de Capua, B. Raymundi Capuani XXIII magistri generalis ordinis praedicatorum opuscula et litterae, Romae 1899, 144– 169; Hyacinthe-Marie CORMIER, Le bienheureux Raymond de Capoue, XXIIIe maître général de l’ordre des frères-prêcheurs. Sa vie, ses vertus, son action dans l’eglise et dans l’ordre de saint Dominique, 2. éd. rev. et augm., Rome 1902; A. W. van REE, Raymond de Capoue. Éléments biographiques, Archivum fratrum praedicatorum 33 (1963), 159–241. 17 JUNGMAYR (wie Anm. 15), Bd. 1, Berlin 2004, 272–275. Vgl. außerdem DERS., Bd. 2, 803–818. Zur Stigmatisation Caterinas vgl. auch Robert FAWTIER, Sainte Catherine de Sienne. Essai de critique des sources, 1 (Bibliothèque des Écoles Françaises d’Athènes et de Rome 121), Paris 1921, 50–53.

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gabat. Nobis autem expectantibus redditum eius ad sensus corporeos, ut quitpiam consolacionis spiritalis reciperemus ab ea, sicut consueueramus quondoque, subito nobis uidentibus corpusculum eius, quod prostratum iacuerat, se paulisper erexit et super genua stans brachia extendit et manus facie rutilante.

Hl. Geist, dürstete, von seinem Körper entfernt hatte. Unterdessen warteten wir, bis sie wieder zu Bewusstsein käme, da wir hofften, sie würde uns einen geistlichen Zuspruch geben, wie sie das hie und da zu tun pflegte. Doch plötzlich sahen wir, wie sich ihr Körperchen, das niedergestreckt auf dem Boden lag, langsam erhob. Sie kniete sich hin und breitete ihre Arme weit aus, während ihr Gesicht wie von Feuerschein errötet zu glühen begann.

Cumque sic diu staret totaliter rigidum et oculis clausis, tandem, acsi fuisset quasi letaliter uulneratum, nobis cernentibus cecidit quodammodo ininstanti. Et post paruam moram reducta est anima eius ad sensus corporeos.

So verharrte sie lange, völlig starr und die Augen geschlossen, bis sie jählings vor unseren Augen umfiel, als ob sie tödlich getroffen wäre. Kurz darauf kam sie jedoch wieder zu Bewusstsein.

195. Post quod mox me fecit uocari et secrete me alloquens ait: „Noueritis, pater, quod stigmata domini Ihesu sua misericordia iam ego in corpore meo porto [Gal. 6,17].“ Cumque respondissem, quod ad gestus corporeos eius, dum esset inextasi, de hoc perpendissem, petiui, qualiter hoc adomino factum fuisset, at illa respondit: „Dominum vidi crucifixum super me magno cum lumine descendentem, propter quod ex impetu mentis volentis suo creatori occurrere corpusculum coactum est erigere se.

195. Wenig später rief sie mich zu sich, um mir im Vertrauen etwas mitzuteilen. „Wisset mein Vater“, sagte sie, „der Herr Jesus hat sich über mich erbarmt, und ich trage jetzt seine Wundmale an meinem Leibe.“ Ich erwiderte, ich hätte es aus ihrem Verhalten während der Entrückung erraten. Als ich sie fragte, wie der Herr das getan habe, antwortete sie: „Ich schaute über mir den Herrn am Kreuz in strahlendem Glanze. Er neigte sich zu mir herab, und ich wollte ihm, meinem Schöpfer, stürmisch entgegeneilen; deswegen musste ich mich aufrichten.

Tunc ex sacratissimorum suorum cicatricibus uulnerum quinque inme radios sanguineos vidi descendere, qui admanus, pedes et cor mei tendebant corpusculi. Quapropter aduertens misterium continue exclamaui: ‚Ha, domine, Deus meus, non appareant, obsecro,

Nun brachen fünf blutrote Strahlen aus seinen fünf hochheiligen Wunden hervor, die auf meine Hände, meine Füße und mein Herz zielten. Im gleichen Augenblick durchfuhr es mich, was dies bedeute, und ich schrie ohne Unterlass: ‚Ach Herr, mein Gott, niemand

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cicatrices incorpore meo exterius, sufficit michi habere interius!‘ Tunc ad huc me loquente, antequam dicti radij peruenissent adme, colorem sanguineum mutauerunt in splendidum et in forma pure lucis peruenerunt ad quinque loca corporis mei, manus scilicet et pedes et ad cor.“

soll diese Wunden an mir sehen, ich flehe dich an. Es reicht mir, dass ich sie in mir trage!‘ Ich redete noch, als sich das blutige Rot der Strahlen, bevor sie mich erreicht hatten, in gleißende Helle wandelte, und als reines Licht trafen sie auf fünf Stellen meines Körpers, nämlich auf die Hände, die Füße und das Herz.“

Tunc ego: „Igitur non peruenit aliquis illorum radiorum ad latus dextrum?“ At illa, „non“, inquit, „sed ad sinistrum directissime supra cor meum, nam linea illa lucida procedens a latere suo dextro non transuersaliter, sed recto tramite me percussit.“ Et ego: „Sentis ne nunc in locis illis dolorem sensibilem?“ Jlla uero post grande suspirium ait: „Tantus est dolor, quem sensibiliter pacior in omnibus quinque locis, sed specialiter circa cor, quod, nisi nouum miraculum dominus faciat, non uidetur michi possibile uitam corpoream stare posse cum tanto dolore, quin diebus breuibus finiatur.“

Darauf fragte ich sie: „Also gelangte keiner dieser Strahlen zu deiner rechten Seite?“ „Nein“, erwiderte sie, „ich wurde auf der linken Seite direkt über meinem Herzen getroffen. Denn der Lichtstrahl, der aus seiner rechten Seite hervorkam, verlief nicht quer, sondern er durchbohrte mich in direkter Linie.“ Auf meine Frage, ob sie denn nicht an jenen Stellen einen deutlich wahrnehmbaren Schmerz verspüre, antwortete sie mit einem tiefen Seufzer: „Den Schmerz, der an diesen fünf Stellen, besonders aber am Herzen auftritt, kann ich kaum mehr aushalten. Wenn der Herr nicht ein Wunder tut, dann habe ich wohl kaum mehr als ein paar Tage zu leben.“

Raimund hat zwar die ausführlichste Darstellung zur Stigmatisation Caterinas hinterlassen, aber es gibt noch weitere Berichte von Zeitgenossen zu diesem Ereignis, die zwischen 1411 und 1416 für den sogenannten Processo Castellano, der die Zeugenaussagen zur angestrebten Kanonisierung Caterinas enthält, zusammengestellt wurden18. Bartolomeo von Ferrara, von 1411 bis 1414 Prior des Dominikanerkonvents SS. Giovanni e Paolo in Venedig, schreibt in seiner Deposition, d. h. in seiner Zeugnisniederlegung, dass der gekreuzigte Christus eines Sonntagmorgens Caterina in der Kirche S. Cristina, nachdem sie den Leib Christi im Sakrament empfangen habe, erschienen sei und ihr auf wundersame Weise seine Wunden aufgedrückt habe: 18 Der Processo Castellano ist benannt nach dem venezianischen Stadtviertel Castello. Die Aussagen wurden auf Betreiben des in Castello residierenden Bischofs Francesco Bembo gesammelt und zusammengestellt. Die Kirche San Pietro di Castello (und nicht San Marco!) war bis 1807 venezianische Bischofskirche.

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Inter que unum fuit quod sumpto semel per virginem Sacramento in ecclesia S. Christine de Pisis, cum ipsa esset ibidem, et hoc quodam mane diei dominice, apparens sibi Christus veluti cruci affixus, ut hic supra tactum est, stigmata sua sibi modo miro impressit19.

Die Zeugenaussage Tommaso Caffarinis (ca. 1350–1434/35), eines der wichtigsten Propagandisten Caterinas, basiert unter Verzicht auf Zeit- und Ortsangaben auf der ‚Legenda Maior‘, die er als Quelle eigens erwähnt. Caffarini verweist außerdem auf seine Darstellung im ‚Supplement‘ zur ‚Legenda Maior‘ und auf sonstige Zeugenaussagen. Er legt Wert auf die Feststellung, dass die Wundmale neben ihrer immateriellen auch eine physische Beschaffenheit gehabt hätten und für Caterina sehr wohl sichtbar und spürbar gewesen seien. Sie habe die Stigmata kniend und mit ausgebreiteten Händen vom gekreuzigten Christus empfangen; ihr Gesicht habe während des Empfangs der Wunden rötlich geschimmert – ein deutlicher Hinweis auf ihren ekstatischen Zustand, der in einer tiefen physischen Ohnmacht endet: Ad primi evidentiam facere potest receptio quinque stigmatum in virgine desuper a Christo sibi cruci affixo et cum lumine apparenti et hoc tam ad intra quam aliquo modo ad extra pro quanto etsi non fuerint visibilia aliis attamen sibi non fuerunt insensibilia secundum dolorem sensibilem etiam usque ad mortem inferentia, [...] recipiens illa in quinque partibus sui corporis correspondentibus ad quinque stigmata corporis Christi crucifixi, a quibus visibiliter etiam virgo vidit quinque lineas sive radios primo sanguinolentos deinde solares effectos emanare, quattuorque ex illis ad suas manus et ad suos pedes pertingere, quintum vero de directo super cor eius, corpore virginis quod prius stratum erat se tunc erigente ac super genua stante braciaque crucialiter extendente cum facie rutilante necnon et post moram quasi fuisset letaliter vulneratum cadente, quod gestum etiam a pluribus fuit corporaliter visum, de quibus singulariter et seriose habetur in cap. VI secunde partis legende sed plenius in legende prefato supplemento ac etiam in contestationibus aliquorum20.

Bartolomeo Dominici (1343–1415), einer der Beichtväter Caterinas, gibt den bemerkenswerten Hinweis, dass Caterina als Ausdruck der vollständigen Wesensgleichheit mit Christus die äußerlich nicht sichtbaren, aber innerlich schmerzhaft spürbaren Stigmata erbeten habe. Diese Bitte sei ihr erfüllt worden, und während der Stigmatisation, die in Ekstase nach der begierig empfangenen Kommunion erfolgt sei, habe sie die Hände und Füße so ausgebreitet, wie es auf den bildlichen Darstellungen der Stigmatisation des hl. Franz anzutreffen ist: Hiis tamen non plene contenta virgo sancta instanter petebat ut dignaretur eam sibi conformare non in pedum et manuum ac etiam lateris foris patenti fossura, sed in dolore vulnerum prefatorum ita ut dolores tales sentiret in corde et tamen nulla de his apparerent exterius signa in oculorum visione. Nec passus est sponsus eius etiam ipsam defraudari in prefata tam devota petitione sua. Nam dum esset Pisis die quadam, in ecclesia S. Christine virginis et martyris, post communionem more suo in extasi posita, cum hoc donum a sponso suo devotius exposceret atque ferventius, visa est a circumstantibus manus et pedes extendere, sicut

19 Il Processo Castellano (Fontes vitae S. Catharinae Senensis historici 9), a cura di MarieHyacinthe LAURENT, con appendice di documenti sul culto e la canonizzazione di S. Caterina da Siena, Milano 1942, 16. 20 Ebd., 144.

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Jörg Jungmayr depingi consuevit B. Franciscus cum sacra stigmata scribitur recepisse. Et cum aliquandiu sic stetisset, tandem usui sensuum reddita, est domum reversa21.

Agostino von Pisa, Dominikaner aus dem venezianischen Konvent S. Domenico di Castello, erwähnt die Stigmatisation Caterinas lediglich beiläufig und wiederholt nur das, was Bartolomeo von Ferrara ausgesagt hat: Adverti etiam qualiter erat orationis assidue et contemplationis precipue nec non et quomodo frequentissime totaliter abstracta a sensibus rapiebatur. In quo raptu, quodam die dominico in ecclesia S. Christine de Pisis, sumpta communione, stigmata domini nostri Ihesu Christi quodam mirabili modo recepit22. Bemerkenswert ist, dass Caterina nirgendwo in ihren Briefen oder in ihrem ‚Dialogo‘ zu dem Ereignis von Pisa Stellung bezieht. Es gibt aber zwei Passagen, die als ein direkter Reflex auf die angestrebte bzw. vollzogene Stigmatisation bewertet werden können. In dem undatierten, wohl aber auf vor Mai 1374 anzusetzenden Brief 92 (Epistolario 19) schreibt sie an einen Spiritualen in Florenz: Ma io mi rivolgo poi e apogiomi all’alboro della santissima croce di Cristo crocifisso, e ine mi voglio conficare; e non dubito che, s’io starò confitta e chiavellata con lui per amore e con profonda umilità, che le dimonia non potranno contra me, non per mia virtù, ma per virtù di Cristo crocifisso23. In dem Brief 142 (Epistolario 26), an Sano di Maco di Mazzacorno im Frühjahr 1375 von Pisa aus geschrieben, äußert sie sich folgendermaßen: Nella memoria della santa croce diventiamo amatori delle vertù e spregiatori de’ vitii. E perché noi siamo quella pietra dove fu fitto quello gonfalone, non potiamo dire di non averla, però ch’ell’ è fermata in noi. Sapete che né chiovo né croce né pietra avarebbe tenuto Dio e Uomo confitto in croce, se l’amore ch’egli ebbe all’uomo non l’avesse tenuto24. Die Stigmatisation Caterinas unterscheidet sich in wesentlichen Punkten von der des Franz von Assisi. Während seine Stigmatisation den Endpunkt seines Lebens markiert, nachdem er sich von der Ordensleitung in die Einsamkeit zurückgezogen hat, bezeichnet die Stigmatisation Caterinas den Eintritt in die Welt und den Beginn ihres (kirchen-)politischen, ganz Italien umfassenden Engagements. Es geht ihr dabei auf der einen Seite darum, Gregor XI. aus Avignon nach Rom 21 Ebd., 314. 22 Ebd., 362. 23 CATHARINA Senensis, Epistolario di Santa Caterina da Siena, 1 (Fonti per la storia d’Italia 82: Epistolari, secolo 14), a cura di Eugenio DUPRÉ THESEIDER, Roma 1940, [Repr.:] Torino 1966, 81: Aber dann wende ich mich hin und lehne mich an den Stamm des heiligsten Kreuzes des gekreuzigten Christus, an das ich geschlagen werden will. Wenn ich dort mit ihm in Liebe und tiefer Demut durchbohrt und festgenagelt bin, so zweifle ich nicht daran, dass die Dämonen nichts wider mich vermögen, aber nicht, weil ich so stark wäre, sondern kraft des gekreuzigten Christus. (Übers. Verf.) 24 Ebd., 109: Im Gedenken an das heilige Kreuz werden wir Liebhaber der Tugenden und Verächter der Laster. Und weil wir jener Felsen sind, auf dem das Banner aufgerichtet wurde, können wir nicht sagen, dass wir das Kreuz nicht besitzen, denn es befindet sich in uns. Wisst, dass weder Nagel noch Kreuz noch Felsen Gott und den ans Kreuz genagelten Menschensohn gehalten hätten, wenn ihn nicht seine Liebe zu den Menschen dort festgebunden hätte. (Übers. Verf.)

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zurückzuholen und ihn zu einer radikalen Reform der Kirche zu bewegen, auf der anderen Seite darum, Pisa und Lucca von einer antipäpstlichen Allianz mit Florenz abzuhalten, die marodierenden Söldnertruppen aus dem Land abzuziehen und sie in einem Kreuzzug zu binden. Franz erscheint ein sechsflügliger Seraph, während Caterina ihre Stigmata von Christus erhält. Franziskus’ Wundmale sind sichtbar und werden genau beschrieben, während Caterinas Wunden unsichtbar bleiben. Noch radikaler vielleicht verhält es sich bei Gertrud von Helfta, die während eines Gebets in ihrem Herzen die Stigmata empfängt. In ihrem ‚Legatus divinae pietatis‘ heißt es: [...] sensi quasi divinitus collata mihi indignissimae quae in antedicta oratione dudum petieram, scilicet intus in corde meo quasi corporalibus locis per spiritum cognovi impressa colenda illa et adoranda sanctissimorum vulnerum tuorum stigmata25. Wenn wir uns den Erzählverlauf des sechsten Kapitels in Teil 2 der ‚Legenda Maior‘, aus dem der Stigmatisationsbericht stammt, näher ansehen, so können wir feststellen, dass Raimund den Empfang der Wundmale als das Ergebnis höchster innerer Anspannung darstellt, der sich in vier Schritten vollzieht; am Beginn des Kapitels steht der Herztausch – Christus und Caterina tauschen ihre Herzen26 –, dann folgen Herzverwundung (Domine, uulnerasti cor meum, domine, vulnerasti cor meum!27), Stigmatisation der rechten Hand28 und schließlich in Pisa Stigmatisation des ganzen Körpers29. Bei letzterem Vorgang kommt dem Herzen eine besondere Bedeutung zu: der Strahl von der rechten Seitenwunde Christi verläuft nicht diagonal, sondern trifft Caterina in direkter Linie auf der linken Seite, und zwar oberhalb des Herzens (sed ad sinistrum directissime supra cor meum30). Durch den vorangegangenen Herztausch ist in der Herzgegend bereits eine verharschte Wunde (cicatrix obducta31) zurückgeblieben. Mit der Stigmatisation ist allerdings dieser Prozess noch nicht abgeschlossen. In der ihm eigenen Fähigkeit zur großen dramatischen Spannung beendet Raimund das sechste Kapitel mit dem Bericht über die mors mystica, den mystischen Tod Caterinas32.

25 GERTRUDIS de Helfta, Œuvres spirituelles, T. 2: Le Héraut (livres I et II) (Sources chrétiennes 139) (Série des textes monastiques d’Occident 25), introd., texte crit., trad. et notes par Pierre DOYÈRE, Paris 1968, liber 2, 4, S. 244. 26 Legenda Maior (wie Anm. 15), Bd. 1, T. 2, 6, 180. 27 Ebd., 6, 186. Zu dem Zitat vgl. auch Canticum Canticorum 4,9: vulnerasti cor meum soror mea sponsa vulnerasti cor meum. In der Stuttgarter Einheitsübersetzung geht dieses Bildfeld vollständig verloren: Verzaubert hast du mich,/ meine Schwester Braut; / ja verzaubert. 28 Legenda Maior (wie Anm. 15), Bd. 1, T. 2, 6, 193: „[...] Jtaque gracia domini mei Ihesu Christi ego iam habeo stigma eius in manu dextra, quod licet est alijs inuisibile, tamen michi non est insensibile, sed continue afflictiuum“ (S. 272). 29 Ebd., 6, 194f. 30 Ebd., 6, 195, S. 274, Z. 17. 31 Ebd., 6, 180, S. 258, Z. 22. 32 Ebd., 6, S. 294–303.

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212. Quicquid tamen sit ad materiam huius uirginis redeundo: postquam hec passio in eius corpore facta est, que pluribus durauit diebus, decreuerunt haud dubium vires corporee, jpseque amor cordis multipliciter augmentatus. Experta namque fuerat experimento sensibili, quantum eam saluator simul et humanum genus dilexerat ex sustinendo tam accerbissimam passionem, ex quo fiebat in corde suo tanta violencia caritatiua et amorosa, quod fas non erat cor illud in sua integritate manere, quin scinderetur ex toto.

212. [...] Aber um wieder zu Caterinas Geschichte zurückzukehren: ihr mehrere Tage anhaltendes Leiden erschöpfte zweifellos ihre Kräfte, steigerte aber die Liebe in ihrem Herzen um ein Vielfaches, denn sie erfuhr nun am eigenen [stigmatisierten; J.J.] Leib, wie sehr ihr Erlöser sie und alle Menschen lieben musste, wenn er dieses bittere Leiden auf sich nahm. Liebe und Hingabe brachen mit solcher Macht über ihr Herz herein, dass es nicht mehr unversehrt bleiben konnte, sondern gänzlich zerreißen musste.

Sic enim contingit, cum vas aliquod continet liquorem magne uirtutis siue uigoris uirtualiter excellentis, quod scilicet ex vi contenti frangitur continens et uirtus artata dissipato artante diffunditur, quia non erat inter locum et locatum equa proporcio.

So geschieht es auch, wenn ein Gefäß eine besonders stark gärende Flüssigkeit enthält: das Umschlossene zerbricht gewaltsam das es Umschließende. Weil ein Gleichgewicht zwischen Form und Inhalt nicht mehr gegeben ist, verbreitet sich die eingeengte Kraft, indem sie das Einengende zertrümmert.

213. Quid plura, quid plura, quid amplius inmorer? Tanta fuit uis illius amoris, quod cor virginis scissum est asummo usque deorsum [Mt 27,51; Hebr 10,19 und 20], hoc est ab una extremitate ad aliam sicque fractis venis uitalibus expirauit ex vehemencia diuini amoris, precise nullaque alia naturali causa cogente.

213. Aber wozu noch der vielen Worte? Die Kraft der Liebe zerriss das Herz der Jungfrau von oben an bis unten hin, ihre Lebensadern sprangen, und sie hauchte ihr Leben aus. Natürliche Ursache dafür war nichts anderes als die übermächtige, göttliche Liebe.

Miraris, lector? Noueris de hoc plures fuisse et esse testes et non modo testes, sed eciam contestes, qui et que in eius expiracione fuerunt presentes, qui seu que primo hoc michi retulerunt, quorum nomina infra ponentur.

Schüttelst du den Kopf, lieber Leser? Du musst dir jedenfalls im Klaren sein, dass mehrere Männer und Frauen zugegen waren, als Caterina den letzten Atemzug tat. Sie können das gemeinsam bezeugen und haben mir zuerst von ihrem Tod berichtet; ihre Namen werde ich am Schluss des Kapitels anführen.

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Die mors mystica beschreibt Raimund als einen Seinsakt, der willentlich und aus Liebe vollzogen wird, um die Grenzen der kreatürlichen Bedingtheiten zugunsten eines Lebens in absoluter Freiheit zu überschreiten. In der Spannung von Tod und Leben kommt dem individuellen Willen eine entscheidende Rolle zu, er kann sich durch den freiwilligen Verzicht auf die Zufälligkeiten der kreatürlichen Existenz für ein Leben ohne Tod in Freiheit mit Gott entscheiden. Mit der mors mystica schneidet Raimund ein Thema an, das seinen Bogen von der Spätantike bis zur Philosophie des deutschen Idealismus im 19. Jahrhundert, von Ambrosius von Mailand bis zu Hegel spannt. Theodor Kobusch bemerkt dazu in seiner Abhandlung ‚Freiheit und Tod‘: „Die Idee des mystischen Todes als der dem Moralischen eigene Seinsakt stellt schließlich das Herzstück der Religions- und Rechtsphilosophie Hegels dar, insofern die religiöse und sittliche Existenz durch diese Willensbewegung konstituiert wird. Im Hinblick auf den so verstandenen Grundakt des sittlichen Seins stellt die Hegelsche Philosophie die Vollendung der mystischen Tradition dar. [...] Der mystische Tod ist das Sein der Freiheit selbst. Denn die Freiheit sucht nicht das Ihre. Sie ist vielmehr das, was man nur hat, wenn man es anderen schenkt“33. Doch zurück zu den Stigmata Caterinas. Die Vorstellung, dass Caterinas Wundmale gleichsam immateriell und unsichtbar gewesen seien, muss auch unabhängig von Raimund vorhanden gewesen sein. Das 6. Kapitel im 2. Teil der ‚Legenda Maior‘ ist um 1390 anzusetzen, aber bereits unmittelbar nach Caterinas Tod hat der Maler Andrea Vanni (1330–1413/14) für die Cappella delle Volte in S. Domenico in Siena um 1380/81 ein Fresko Caterinas angefertigt, das für den Verfasser zu den schönsten Darstellungen der Heiligen zählt34. Das Fresko zeigt eine ganz in sich versunkene und doch ganz zugewandte Caterina im schwarzweißen Ordenshabit. Zwei Finger ihrer Rechten bietet sie einer vor ihr knienden Anhängerin zum Kuss dar, in der Linken hält sie eine Lilie. Auf den elfenbeinfarbenen Handrücken sind ganz zart die Wundmale angedeutet und nur bei genauem Hinsehen zu entdecken. Möglicherweise hat sich Raimund von diesem Fresko inspirieren lassen, als sich in ihm die Vorstellung festsetzte, die Wundmale Caterinas seien unsichtbar gewesen. Aber hier bewegen wir uns auf dem schwankenden Boden der Spekulation. Mit Sicherheit kann man jedoch sagen, dass Raimund seine Behauptung von der Unsichtbarkeit der Stigmata mit Bedacht aufgestellt hat. Er wollte damit auf die Andersartigkeit der Stigmatisation Caterinas hinweisen und gleichzeitig ordenspolitische Rivalitäten mit dem Franziskanerorden vermeiden, die aber spätestens mit der systematischen Propagierung des Stigmatisationswunders durch Tommaso Caffarini, den Schüler Caterinas, einsetzten. Seine Propaganda-Aktion ist wohl als direkte Reaktion auf den zwischen 1385 und 1390 entstandenen ‚Liber de conformitate vitae beati Francisci ad vitam Domini Iesu‘ zu verstehen, in dem der Autor, Bartholomäus von Pisa († um 33 Theodor KOBUSCH, Freiheit und Tod. Die Tradition der „mors mystica“ und ihre Vollendung in Hegels Philosophie, Theologische Quartalschrift 164 (1984), 185–203, hier: 195 und 203. 34 Vgl. hierzu Lidia BIANCHI / Diega GIUNTA, Iconografia di S. Caterina da Siena, 1, Presentazione di Giorgio PETROCCHI, Roma 1988, Tafel 1 und 155–158.

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1401), den Ordensgründer als einen zweiten Christus dargestellt hatte35. 1396 predigte Caffarini die ganze Fastenzeit hindurch und an Ostern in der venezianischen Dominikanerkirche SS. Giovanni e Paolo über die Stigmatisation Caterinas, wobei er auf die Parallelität zwischen Franz und Caterina abhob36. In seinem zwischen 1411 und 1417 entstandenen ‚Supplement‘37 zur ‚Legenda Maior‘ widmete er einen ganzen, in sechs Artikel gegliederten und mit einem Vorwort versehenen Traktat der Stigmatisation Caterinas38. Er führte darin aus, dass der Franziskanerorden nur einen Stigmatisierten aufzuweisen habe, während im Dominikanerorden nicht nur Caterina von Siena, sondern auch Helena von Ungarn und Walter von Straßburg die Wundmale Christi empfangen hätten. Die Legende der ca. 1270 verstorbenen Helena von Ungarn, die Erzieherin Margaretes von Ungarn, der Nichte Elisabeths von Thüringen, war, kannte Caffarini aus einem Manuskript, das sich heute unter der Signatur T.I.1. in der Biblioteca Comunale in Siena befindet – es heißt dort lapidar: Habuit cicatrices in ambabus manibus et pedibus et pectore39 –, während er die Stigmatisation Walters von Straßburg den ‚Vitae fratrum ordinis praedicatorum‘ von Gerhard von Frachet entnahm40. Um die unterschiedlichen Formen der Stigmatisation anschaulich zu

35 BARTHOLOMAEUS Pisanus (de Rinonico), De conformitate vitae beati Francisci ad vitam Domini Iesu, Liber 1–3, Analecta franciscana 4.5 (1906–1912). Zu Bartholomaeus von Pisa s. den Artikel ‚B. von Pisa (de Rinonico)‘ von Heribert ROßMANN in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1, München, Zürich 1980, 1496f. 36 Processo Castellano (wie Anm. 19): Item dico qualiter non solum in tribus diebus dominice Resurrectionis prefate [1396; J.J.], sed etiam per totam precedentem quadragesimam in prefato conventu SS. Iohannis et Pauli, ego de virgine ista sub similitudine seraphici crucifixi S. Francisco seraphice apparentis cotidie aliquid tamquam de seraphica et Christi seraphici crucifixi ymitatrice precipua predicavi, quod nusquam de sancto alio reperi auditum vel factum [...] (S. 59). 37 THOMAS Antonii de Senis „Caffarini“, Libellus de supplemento legende prolixe virginis beate Catherine de Senis, primum ediderunt Iuliana CAVALLINI, Imelda FORALOSSO (Testi cateriniani 3), Roma 1974. 38 Septimus tractatus, qui est principaliter de stigmatibus huius virginis et de omnibus speciebus stigmatum et proprietatibus sive conditionibus eorundem contentivus, ac etiam tam ex supradictis quam aliis sacris scripturis collectus. Distinguitur in sex principales articulos, quodam prologo seu proemio parvo premisso, in: ebd., 121–211. Die Nachwirkung Caffarinis beruht hauptsächlich auf diesem Traktat. Bei AMBROSIUS de Altamura, Bibliothecae dominicanae accuratis collectionibus, primo ab ordinis constitutione usque ad annum 1600 productae hoc seculari apparatu incrementum ac prosecutio, Romae 1677, ist unter den Eintragungen für das Jahr 1434, das Todesjahr Caffarinis, zu lesen: Beatus Thomas Caffarinus, sive Antonii, liber de veritate stigmatum Sanctae Catharinae Senensis [...]. Vgl. hierzu auch THOMAS (wie Anm. 37), vii–viii. 39 Vgl. Robert FAWTIER, La vie de la bienheureuse Hélène de Hongrie, Mélanges d’archéologie et d’histoire 33 (1913), 3–23, hier: 15. 40 Vgl. Gerhard von FRACHET, Vitae fratrum ordinis praedicatorum necnon cronica ordinis ab anno MCCIII usque ad MCCLIV (Monumenta Ordinis Fratrum Praedicatorum Historica 1), ad fidem codicum ms. accurate recogn., notis brev. ill. Benedictus Maria REICHERT, Lovanii 1896, 223: Idem frater [Walter von Straßburg; J.J.], cum esset in Columbaria [Colmar; J.J.] in domo fratrum minorum orans volvebat in corde amaritudinem dominice passionis; et ex tunc

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machen, ließ Caffarini vier Illustrationen für das ‚Suppplement‘ anfertigen, die Franz von Assisi, Walter von Straßburg, Helena von Ungarn und Caterina von Siena während des Empfangs ihrer Wundmale zeigen41. Caffarini bemerkt dazu, dass er die bewusst dezent gestalteten Zeichnungen habe anfertigen lassen, um der Wahrheit eine größere Anschaulichkeit zu verleihen: Et ideo, ut pateat modus decens depingendi iuxta supradicta scripta de eiusdem, immediate post, has prefatas quattuor personas beatas duxi modo prefato hic depingendas, pro maiori evidentia veritatis42. Mit seinem Stigmatisationstraktat, den er wohl als eigenständige Veröffentlichung vorsah, löste Caffarini einen lang anhaltenden Streit aus, der zu den unerfreulichsten Kapiteln in der Geschichte beider Orden gehört und über dem das spirituelle Verständnis dessen, um was es bei Franziskus wie bei Caterina ging, völlig ins Hintertreffen geriet. Nachdem Pius II. (1458–1464), Enea Silvio Piccolomini, in seiner Kanonisierungsbulle von 146143 die Stigmatisation Caterinas nicht erwähnt hatte – lediglich in seinen ‚Versus ad laudem Katerinae de Senis‘ war er darauf eingegangen (Illa crucem memori portans sub pect[o]re semper || Stigmata passa fuit dictu mirabile christi44) –, untersagte der aus dem Franziskanerorden stammende Papst Sixtus IV. (1471–1484) 1473 zunächst, Caterina mit blutenden Wundmalen darzustellen45. Am 25. Juli 1475 verbot er kurzerhand jede bildliche Darstellung der Stigmatisation Caterinas und deren Propagierung in Wort und Schrift; bereits vorhandene Bilder waren zu übermalen bzw. zu zerstören46.

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sensit in suo corpore V locis vulnerum domini tantum dolorem, quod se continere non potuit, quin cum magno rugitu clamaret. Unde in illis quinque locis sepius amaritudinem senciebat. Siena, Biblioteca Comunale, Ms. T.I.2, S. 81. Eine Reproduktion dieser vier Zeichnungen findet sich bei FAWTIER, Sainte Catherine (wie Anm. 17), Abb. zwischen S. 52 und 53, außerdem bei THOMAS (wie Anm. 37), Abb. zwischen S. 176 u. 177. THOMAS (wie Anm. 37), 181. Vgl. hierzu: La bolla di canonizzazione di Santa Caterina. Testo latino e traduzione italiana, nota archivistica di Ubaldo MORANDI, S. Caterina da Siena 16 (1965), H. 3, 7–16. Abgedruckt in CATHARINA Senensis, Dialogo dela diuina prouidentia, Uenetia 1494, Anhang, x6v. Vgl. hierzu Siena, Staatsarchiv, Concistoro, 1690, 31r. Am 3. Februar 1473 teilt die Regierung der Stadt, das sogenannte concistoro, dem Kardinal von Siena den Inhalt der Bulle Sixtus’ IV. mit. Edmond MARTÈNE / Ursin DURAND, Veterum scriptorum et monumentorum historicorum, dogmaticorum, moralium, amplissima collectio, Tom. 6, Parisiis 1724, [Repr.:] New York 1968, 1382: [...] sub excommunicationis poena, [...] districtius inhibuimus, ne praefatam sanctam stigmata hujusmodi habuisse, in suis praedicationibus & sermonibus ad populum asserere auderent; immo & de picturis hujusmodi praefatae sanctae jam factis amoverent & delerent & deleri facerent ubilibet, [...] nec licere voluimus alicui eamdem sanctam Catharinam cum hujusmodi stigmatibus depingi facere, donec sedes ipsa stigmata hujusmodi approbaret. Vgl. hierzu ergänzend: Lucas WADDING, Annales minorum seu trium ordinum a S. Francisco institutorum, Tom. 14 (1472–1491), editio tertia accuratissima auctior et emendatior, Ad Claras Aquas 1933, LXIX, S. 41; LXXIII, S. 47; LXXIV, S. 47; LXXV–LXXIX, S. 48–51.

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Durch das päpstliche Verbot von 1475 wurde der Dominikanerorden in eine Defensivposition gedrängt. Es war der Kontroverstheologe Ambrosius Catharinus (Lancellotto de’ Politi, 1484–1553)47, der wieder in die Offensive ging und in seiner italienischen Fassung der ‚Legenda Maior‘ von 152448 den Stigmatisationsstreit aus dominikanischer Sicht aufgriff. Gleichzeitig bemühte er sich um eine Annäherung an die Franziskaner, indem er argumentierte, man könne nicht die franziskanische Position gegen die dominikanische ausspielen und umgekehrt. In der deutschen Version seiner italienischen Übersetzung von 1618/19 liest sich das folgendermaßen: Vnd demnach nun jhre vil/ vber die Wundenmähler dieser gebenedeyten Junckfrawen/ so vermessenlich gestritten/ das darauß vil vnformlichs/ zur vnehr Gottes/ in seinen Heyligen erfolgt/ also gedunckt mich billich zu sein/ all diese/ welche Diener vnsers Herren Jesu Christi sein wöllen/ in guter meinung zu warnen/ damit sie dergleichen eifer/ vnd streit/ welche mehr auß haß oder neid/ weder nach der kunst der vernunfft beschehen/ fahrenlassen/ vnd sich daruor hütten wöllen/ dann S. Franciscus/ S. Dominicus/ vnd S. Katharina seind alle [...] einssen und deß jenigen Diener/ welcher der lebendige Felsen/ [...] ist/ er allein wurd für vns gecreutzigt/ [...] Es genüst S. Katharina/ der wundenmähler deß glorwürdigen Francisci/ vnd nit weniger Franciscus die Wundenmähler der gebenedeyten Katharinae/ und weilen sie im Himmel mit einanderen wol zufriden/ was haben wir dann für vrsach deßhalber auff Erden zustreitten/ oder vns vneinig zu erzeigen/ dann wann wir jhre wahre Kinder vnd nachfolger sein wöllen/ warumben thun wir nit gleichfals auch diese werck/ die sie gewürckt/ was kan es doch der Kirchen schaden/ [...] was nachtheil möcht es der glorwürdigkeit deß heiligen Francisci oder seinen Ordens=Personen gebüren/ das die heylig Katharina auch die wundenmähler jhres Herren empfangen/ [...].49

Der Stigmatisationsstreit zwischen Franziskanern und Dominikanern schlug so hohe Wellen, dass er auch Eingang in die deutsche Literatur des 16. Jahrhunderts gefunden hat, und zwar durch den protestantischen Satiriker und kongenialen Rabelais-Übersetzer Johann Fischart (1546–ca. 1590)50. Fischart war während 47 Zu ihm vgl.: Vincenzo CRISCUOLO, Ambrogio Catarino Politi (1484–1553), teologo e padre al Concilio di Trento, Roma, Diss. Pontif. Univ. Gregoriana 1985; August FRANZEN, Ambrosius Catharinus, in: Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl., Bd. 1, Freiburg i. Br. 1957, 426–427; Ulrich HORST, Ambrosius Catharinus OP (1484–1553), in: Katholische Theologen der Reformationszeit, 2 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 45), hg. v. Erwin ISERLOH, Münster 1985, 104–114; Josef SCHWEIZER, Ambrosius Catharinus Politus (1484–1553), ein Theologe des Reformationszeitalters. Sein Leben und seine Schriften (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte 11/12), Münster 1910. 48 Vita di S. Catherina da Siena, Siena: Michelangelo di Bartolomeo Fiorentino, 10. Mai 1524. Im gleichen Jahr erschien ein zweiter Druck: Vita miracolosa Della Seraphica S. Catherina da Siena, Siena: Simione di Niccolo, 1. September 1524. 49 Höchst wunderbarliches Leben/ vnd allerseligstes absterben/ [...] Katharinae von Siena/ [...] Anfangs durch ihren Beichtvatter Beatum Raymundum de Capua, [...] inn Latein beschriben/ vnd durch F. Ambrosium Catharinum in die Welsch: An ietzo aber durch Hanßen Gaßner/ trewlich inn vnser Teutsche Sprach gebracht und verfertigt, Augsburg 1619, 188f. Es gibt einen anderen, ebenfalls bei Sara Mang erschienen Druck, der nur im Kolophon mit 1619 datiert ist, auf dem Titelblatt jedoch die Jahreszahl 1618 trägt. 50 Zu Fischart vgl. Hans-Jürgen BACHORSKI, Fischart, Johan, gen. Mentzer, in: Literaturlexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache, hg. v. Walther KILLY, Bd. 3, Gütersloh, München 1989, 384–387; Adolf HAUFFEN, Johann Fischart. Ein Literaturbild aus der Zeit der Gegen-

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seiner Studienzeit in Siena mit den negativen Seiten des Streites konfrontiert worden, die er dann später in einer Flugschrift, die sich gegen den heruntergekommenen Zustand des Franziskanerordens richtet, verarbeitete. Diese den Franziskaner Johannes Nas (1534–1590)51 frontal angreifende Flugschrift war ca. 1570/71 in Straßburg unter dem Titel ‚Der Barfüsser Secten vnd Kuttenstreit‘ erschienen. Auf dem von Tobias Stimmer stammenden Titelholzschnitt wird dargestellt, wie Franz von Assisi von gierigen Gestalten misshandelt und ausgeplündert wird. Unter den Schändern der ursprünglichen franziskanischen Idee befindet sich auch eine Nonne, Caterina von Siena, die dem Ordensgründer die Stigmata abspenstig zu machen versucht. Auf Caterina hat Fischart die folgenden Verse gemünzt: Aber die Nunn die da steht Vnd mit Francisci Hand vmbgeht Das sie jhm seine Wundt verstreich Mit jhrem pensel/ das sie weich/ Jst Catharina von Senis zwar/ Die eins Thuchferbers Tochter war/ Dieselbig da sie merckt vnd hört Wie sehr Franciscus würt geehrt Vmb sein fünff Wunden groß vnd feücht/ (Die er jm selbst hat kratzt vieleicht) (Dann die Mönch daruon gschriben haben Christus habs jm selbst eingegraben) Da hat sie auff ein list getracht Vnd jhr auch selbst fünff Wunden gmacht/ Vnd gsagt/ das da sie war verzuckt Hab jhr Maria die eingetruckt/ Aber Franciscus hab sein Wunden Selber gekratzt/ vnd selbst verbunden. Hiemit hat sie dem armen Mann Groß schaden vnd abbruch gethan/ Also/ das sie ohn alle scham Ein grossen anhang gleich bekam Von Prediger Mönchen und Rotten/ Die alle des Francisci spotten/ Vnd loben jhre Kätt dargegen, Wer will den Wundenstreit zerlegen52.

reformation, Bd. 1–2, Berlin, Leipzig 1921–22; Hugo SOMMERHALDER, Johann Fischarts Werk. Eine Einführung (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker N.F. 4 = 128), Berlin 1960. 51 Zu Nas vgl. Josef GELMI, Nas, Johann, in: Lexikon für Theologie und Kirche (wie Anm. 1), Bd. 7, 1998, 646; Bibliographie zur deutschen Geschichte im Zeitalter der Glaubensspaltung 1517–1585, hg. v. Karl SCHOTTENLOHER, Bd. 2, Stuttgart 21956, 87–89. 52 Der ‚Barfüsser Secten vnd Kuttenstreit‘ (1570/71 = Fassung A) ist auch abgedruckt in: Johann FISCHART, Sämtliche Werke, hg. v. Hans-Gert ROLOFF u. Ulrich SEELBACH, Bd. 1, bearb. v. U. SEELBACH, Bern [u. a.] 1993, 107–125, hier: 112f.; zur Textüberlieferung S. 426–429. Zum ‚Barfüsser Secten vnd Kuttenstreit‘ s. auch HAUFFEN (wie Anm. 50), Bd. 1, 107–120; SOMMERHALDER (wie Anm. 50), 1–11.

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Um den auch Ende des 16. Jahrhunderts noch weiterschwelenden Wundenstreit zu entschärfen, untersagte Clemens VIII. (1592–1605) in einer Bulle vom 27. November 1599 jegliche Stellungnahme zu diesem Thema bis zu einer definitiven Klärung durch eine von ihm eingesetzte Kardinalskommission53. Auf Befehl Clemens VIII. stellte Gregorio Lombardelli alle Gesichtspunkte und Dokumente zusammen, die für eine Stigmatisation Caterinas sprachen und veröffentlichte sie 1601 in Siena unter dem Titel ‚Sommario della disputa a difesa delle sacre stimate di Santa Caterina da Siena‘. Schließlich setzte Urban VIII. (1623–1644) am 16. Februar 1630 dem Streit ein Ende und verkündigte in den ‚Lectiones die festo S. Catharinae virginis Senensis ab omnibus recitandae‘, dass Caterina von Lichtstrahlen stigmatisiert worden sei und dass ihre Stigmata zum besseren Verständnis der Gläubigen bildlich dargestellt werden dürften. Deutlich ist festzustellen, dass bei der Formulierung der Bulle der Bericht Raimunds von Capua aus der ‚Legenda Maior‘ Pate gestanden hat: Cum Pisis immoraretur die Dominico refecta cibo Caelesti, & in estasim rapta, vidit Dominum Crucifixum magno cum lumine advenientem, & ex ejus vulnerum cicatricibus quinque radios ad quinque loca sui Corporis descendentes, ideoque mysterium advertens, Dominum precata ne cicatrices apparerent, continuo radii colorem sanguineum mutaverunt in splendidum, & in formam purae lucis pervenerunt ad manus, pedes & cor ejus, ac tantus erat dolor quem sensibiliter patiebatur, ut nisi Deus minuisset, brevi se crederet morituram. Hanc itaque gratiam amantissimus Dominus nova gratia cumulavit, ut sentiret dolorem illapsa vi vulnerum, & cruenta signa non apparerent. Quod ita contigisse cum Dei famula Confessario suo Raymondo retulisset, ut oculis etiam repraesentaretur, radios in Imaginibus B. Catharinae ad dicta quinque loca pertingentes, pia Fidelium cura pictis coloribus expressit54.

*** Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es von Caterina selber keine Äußerungen gibt, die sich direkt und eindeutig auf ein Stigmatisationserlebnis beziehen ließen. Unsere Informationen über den Erhalt der Wundmale stammen aus einem Text, der Caterina literarisiert und stilisiert und aus der santa storica eine santa costruita gemacht hat. Wenn wir dem Darstellungskonzept von Kapitel 6 im zweiten Teil der ‚Legenda Maior‘ folgen, so können wir feststellen, dass Raimund eine Klimax gestaltet hat, die sich vom Herztausch über die Stigmatisation bis hin zur mors mystica aufbaut. Im Verlauf der Offenbarungen, die Caterina in vollkommener Ekstase erlebt, wird der Körper Caterinas zunehmend entmaterialisiert und im Gegenzug dazu spiritualisiert. Das hat zur Folge, dass sie immer massiveren psychosomatischen Erschöpfungszuständen ausgesetzt ist, die schließlich zum (zeitweiligen) exitus in der mors mystica führen. 53 Siena, Staatsarchiv: Resti, Compagnia di S. Caterina in Fontebranda, 421, Bl. 273r. 54 Bullarium ordinis fratrum praedicatorum, hg. v. Thomas RIPOLL, Tom. 8, Romae 1740, 492. Die Promulgation der ‚Lectiones‘ wurde in San Domenico in Siena mit einem festlichen Gottesdienst gefeiert, und Francesco Buoninsegni verfasste zu diesem Anlass den ‚Trionfo delle stimmate di Santa Caterina da Siena‘ (Siena 1640).

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Die systematische Propagierung der Stigmatisation Caterinas durch Tommaso Caffarini wurde zum Politikum. Sie führte zu einem heftigen Streit zwischen Franziskanern und Dominikanern, in dessen Verlauf die Verkörperlichung einer religiösen Grunderfahrung in den Hintergrund trat und aus den Stigmata ein Fetisch mit Warencharakter wurde, eine Tatsache, auf die Fischart in seinem antikatholischen ‚Kuttenstreit‘ genüsslich hinwies. Ob Symbol oder Fetisch, allemal handelte es sich um eine Auseinandersetzung, bei der es um die theologische Deutungshoheit oder, im Sinne der Foucaultschen Diskurstheorie55, um die Institutionalisierung einer spezialisierten Denkordnung ging. Verdrängt wurde dabei, dass sowohl Caterina von Siena als auch Franz von Assisi ein zunächst zutiefst verstörendes psychosomatisches Trauma um eine spirituelle Dimension erweitert hatten, die sich nicht in orthodoxen Ordnungsmustern und Denkkategorien verorten ließ.

55 Vgl. hierzu Michel FOUCAULT, Die Ordnung des Diskurses (Fischer-Wissenschaft 10083), aus dem Franz. v. Walter SEITTER, mit einem Essay von Ralf KONERSMANN, Frankfurt a. M. 11 2010.

MYSTIKERINNEN DES 19. JAHRHUNDERTS – EIN NEUER TYPUS? Nicole Priesching

Der Begriff Mystik bezeichnet die unterschiedlichsten Phänomene und ist alles andere als klar. Hier ist nicht der Ort, um auf die breite Debatte über Mystik in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen einzugehen1. Für diesen Beitrag mag es genügen, unter Mystik zu verstehen, dass es um eine wie auch immer geartete Gotteserfahrung geht, die allein schon, indem sie dieses behauptet, gedeutete Erfahrung ist2. Sie ist für mich insofern Gegenstand einer Erfahrungs- und Deutungsgeschichte, der quellenmäßig entweder über Texte von Mystiker(inne)n oder Texte über Mystiker(innen) zu erfassen ist. Wer Mystiker ist oder nicht, entscheidet sich über eine Anerkennung solcher Erfahrungen durch die Umwelt und im christlich-katholischen Fall nochmals speziell durch das kirchliche Lehramt, wobei die kirchliche Anerkennung nicht unbedingt in dieselbe Epoche gehören muss wie das Auftreten des Mystikers oder der Mystikerin3. Dies führt zur Betrachtung des Faktors Zeit. Auch wenn Mystik an und für sich zeitlos ist – es geht schließlich um die Erfahrung des Überzeitlichen – so sind es die Mystiker keineswegs. Sie sind vielmehr geprägt von den Erfahrungsräumen und Deutungsan1

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Grundlegend zum Thema Mystik und „mystische Erfahrungen“ sind: Alois M. HAAS, Mystik als Aussage. Erfahrungs-, Denk- und Redeformen christlicher Mystik (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 1196), Frankfurt a. M. 1996; Reinhard MARGREITER, Erfahrung und Mystik. Grenzen der Symbolisierung, Berlin 1997; William JAMES, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, hg. u. mit e. Nachw. vers. v. Eilert HERMS, Olten, Freiburg i. Br. 1979 (engl. Original 1902); Kurt RUH, Vorbemerkungen zu einer neuen Geschichte der abendländischen Mystik im Mittelalter (Bayer. Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Histor. Klasse, Sitzungsberichte 1982,7), München 1982; Paul MOMMAERS, Was ist Mystik? [Übers. v. Franz THEUNIS], Frankfurt a. M. 1979. Zum Begriff der „Erfahrung“ in der Geschichtswissenschaft ist grundlegend: Klaus LATZEL, Vom Kriegserlebnis zur Kriegserfahrung. Theoretische und methodische Überlegungen zur erfahrungstheoretischen Untersuchung von Feldpostbriefen, Militärgeschichtliche Mitteilungen 56 (1997), 1–30. Ein „Erlebnis“ wird danach erst zur „Erfahrung“, wenn es vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wissens mit Sinn versehen werden kann (vgl. ebd., 14). Insofern gilt auch für religiöse Erfahrungen, dass sie stets gedeutete Erfahrungen sind. Zu religiösen Erfahrungen im engeren Sinne vgl. Andreas HOLZEM, Bedingungen und Formen religiöser Erfahrung im Katholizismus zwischen Konfessionalisierung und Aufklärung, in: „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte (Historische Zeitschrift, Beih. N.F. 31), hg. v. Paul MÜNCH, München 2001, 317–337. Zum Prozessverfahren eines Selig- und Heiligsprechungsverfahrens siehe: Stefan SAMERSKI, „Wie im Himmel so auf Erden“? Selig- und Heiligsprechung in der Katholischen Kirche 1740 bis 1870 (Münchener kirchenhistorische Studien 10), Stuttgart 2002.

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geboten ihrer Gesellschaft. Sie übernehmen bewusst oder unbewusst je nach den Zeitumständen andere Rollen, werden anders inszeniert, drücken sich anders aus. Deshalb erscheint es phänomenologisch legitim, Mystiker in verschiedene Typen einzuordnen, um so ihre gesellschaftliche Funktion näher zu beschreiben. Im Zentrum dieses Beitrags steht die Frage, ob die Mystikerinnen des 19. Jahrhunderts einen neuen Typus bildeten und wenn ja, wie dieser zu charakterisieren wäre. Dass hier von Mystikerinnen und nicht geschlechtsneutral von Mystikern und Mystikerinnen die Rede ist, verrät schon, dass ich von einem solchen Typus ausgehe und dass ein prägendes Merkmal dieses Typus darin besteht, dass es sich bei den bekannten Fällen von Mystikern im 19. Jahrhundert fast ausschließlich um Frauen handelte4. Die These scheint nicht zu gewagt, dass dies kein Zufall ist. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit erheben zu wollen, wurden für diesen Beitrag folgende „Mystikerinnen“ in die Untersuchung einbezogen, wobei eine Verdichtung in Tirol und dort in den 1830er-Jahren festzustellen ist: –

Mystikerinnen aus Tirol: – Maria von Mörl (1812–1868), Kaltern – Domenica (Dominika) Lazzeri (1815–1848), Capriana – Krescentia Nig(g)lutsch (1816– nach 1853), Tscherms – Theresia Steiner (1813–1862), Taisten – Hieronyma Strobl, Kaltern – Ursula Mohr, Eppan – Theresia Krescentia Partoll (1754–1820/24), Fließ – Maria Krescentia Tamisari (1809–?), Völs – Maria Margaretha Matzler (1800–1841), Wilten5



Weitere Mystikerinnen in alphabetischer Reihenfolge: – Maria Giuliana Arenare (1816–1857), Pistoia – Franziska Barthel (1824–1878), Elsass – Marguerite (Margit) Bays (1815–1879), La Pierraz (Schweiz) – Louise Beck (1822–1879), Altötting/ Gars am Inn – Marie-Marthe Chambon (1841–1907), Chambéry – Anna Katharina Emmerick (1774–1824), Dülmen (Westfalen) – Apollonia Filzinger (1801–?, 1824 stigmatisiert), Elsass – Viktoria Hecht (1840–1890), Wolpertswende (Württemberg) – Josepha Kümi(n) (1763–1817), Wallerau (Schweiz) – L(o)uise Lateau (1850–1883), Bois d’Haine (Belgien) – Elisabeth Canori Mora (1774–1825), Rom

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Bei IMBERT-GOURBEYE wird als Ausnahme nur Firmin Heigny SJ (1793–1859) genannt. Mit einzelnen Fällen männlicher Stigmatisierter muss man also für das 19. Jahrhundert rechnen. Antoine IMBERT-GOURBEYRE, La Stigmatisation. L’Extase divine et les miracles de Lourdes. Réponse aux libre-penseurs, T. 1, Clermont-Ferrand 1894, 28 u. 475f. Angaben zu Partoll, Tamisari und Matzler, über deren Existenz bislang nichts bekannt war, in: Unter der Geißel Gottes. Das Leiden der stigmatisierten Maria von Mörl (1812–1868) im Urteil ihres Beichtvaters, hg. v. Nicole PRIESCHING, Brixen 2007, 274–279.

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Mystikerinnen des 19. Jahrhunderts – ein neuer Typus?

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Pauline de Nicolay (1811–1868), Frankreich Beatrix Schumann (1823–1887), Pfarrkirchen (Bayern) Juliana Weiskircher (1824–1862), Oberösterreich

Der Zugang zu einem Typus von Mystikerinnen könnte methodisch auf drei Ebenen geschehen: Erstens wäre ein vergleichender phänomenologischer Zugang möglich. Die Biographien der Frauen wären in den Blick zu nehmen und die körperlichen Begleiterscheinungen mystischen Erlebens (Stigmata, Ekstasen, Visionen etc.) zu untersuchen. Wie der Begriff schon sagt, handelt es sich um „Begleiterscheinungen“, die für eine Bewertung als echte Mystik nicht notwendig sind6. Es gehört aber zum Typus dieser Jungfrauen, dass ihre Umwelt sie vor allem über diese Begleiterscheinungen als Mystikerinnen identifizierte. Insofern kommt den körperlichen Zeichen eine große Bedeutung zu. Die Texte über solche Begleiterscheinungen sind massiv von Erwartungshaltungen und Topoi geprägt. Das führt dazu, dass Historiker und Historikerinnen einen immer stärker normierten Katalog von Phänomenen finden, der zur Vergewisserung der Echtheit vor dem Hintergrund einer umstrittenen Person dienen sollte. Es ist demnach bei der gegenwärtigen Forschungs- und Quellenlage kaum möglich, mit Hilfe eines solchen Zugangs Aussagen über die Mystikerinnen selbst – unabhängig von diesem Diskurs über die Echtheit, das heißt über die wunderbare Ursache, der Begleiterscheinungen – zu treffen. Zweitens wäre nach einem Typus von Mystikerin als Konstruktion im Mystikdiskurs des 19. Jahrhunderts zu fragen, also nach der Schablone, welche an die Frauen angelegt wurde, um sie als Mystikerin zu identifizieren. Hier taucht das Problem auf, dass man ein solches Bild mit dem Leben und den Erfahrungen der Mystikerinnen verbinden sollte, da der wissenschaftliche Diskurs sonst leicht über die sozialhistorischen Gegebenheiten hinwegzugehen und die dort zu beobachtenden Phänomene zu übersehen droht. Auch hierbei stößt man also auf das Problem der gegenwärtigen Forschungs- und Quellenlage zu den Biographien dieser Frauen. Ein dritter Zugang wäre, über die Seelenführung der Beichtväter an das Wechselspiel von Formung und Deutung näher heranzukommen. Welche Konzeptionen von Mystik prägten die Seelsorge der Beichtväter solcher Frauen und wie deuteten sie vor diesem Hintergrund deren körperliche Erscheinungen? Diese drei Zugänge, die im Idealfall zu kombinieren wären, machen die Größe der Aufgabe deutlich, einen Typus von Mystikerin zu erfassen. In diesem Beitrag können angesichts dessen nur einige dominant erscheinende Motive exemplarisch aufgezeigt werden. Dabei werde ich mich vor allem an der stigmatisierten Maria von Mörl orientieren, was folgende Gründe hat: Maria von Mörl kann mit Otto Weiß zu Recht als die „berühmteste Stigmatisierte ihrer Zeit“ gelten7. Dabei stammte sie zudem aus Tirol (genauer aus Kal6 7

Herbert THURSTON, Die körperlichen Begleiterscheinungen der Mystik, hg. v. J[oseph] H[ugh] Crehan, mit e. Vorw. v. Gerhard Frei, übers. v. Clemens Müller, Luzern 1956. Otto WEISS, Die Redemptoristen in Bayern (1790–1909). Ein Beitrag zur Geschichte des Ultramontanismus, St. Ottilien 1983, 664.

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tern), wo es in den 1830er-Jahren viele ihr vergleichbare Fälle gab. Dies waren vor allem Hieronyma Strobl aus Kaltern8, Ursula Mohr aus Eppan9, das sogenannte Schusterkind aus Jenesien10, Theresia Steiner aus Taisten11, Krescentia Nigglutsch aus Tscherms12 und Domenica Lazzeri aus Capriana im Fleimstal13. Das Bekanntwerden der ekstatischen Zustände der Maria von Mörl löste eine ungeheure Dynamik aus. 40.000 Besucher sollen zwischen Juli und Oktober 1833 bei ihr gewesen sein14. Die oben genannten Frauen, die ebenfalls stigmatisiert gewesen sein sollen, traten zeitlich nach ihr auf, und es ist zu vermuten, dass das Beispiel der Mörl viele von ihnen zur Nachahmung motiviert hat. Diese Ausstrahlungskraft der Mörl ging auch über die Grenzen Tirols hinaus. So hat Bernhard Gißibl nachweisen können, dass es in den späten 1830er-Jahren auch in Bayern eine Reihe eksta8

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Hieronyma Strobl lebte und arbeitete im Spital von Kaltern und war Vinzentinerin. Im Gegensatz zu Maria von Mörl blieb sie weitgehend unbekannt. Nur einige Vinzentinerinnen von Kaltern scheinen Hieronyma Strobl verehrt zu haben. Bei Buol ist von einem lebensgroßen Kruzifix im Gang des Spitals die Rede, „von dem die Überlieferung behauptet, es habe mit Schwester Hieronyma gesprochen“. Maria BUOL, Ein Herrgottskind. Lebensbild der ekstatischen Jungfrau Maria von Mörl aus dem Dritten Orden des hl. Franziskus. Nach authentischen Quellen dargestellt, Innsbruck 1928, 100. Ursula Mohr war eine Bauerntochter aus Eppan. Nach BUOL führte sie „nach außen hin völlig erstarrt und scheinbar gefühllos, innerlich von unsagbaren Peinen heimgesucht, ein in Gott verborgenes an mystischen Gnaden und Leiden reiches Leben“. Ebd., 100. Von diesem Mädchen ist nicht einmal der Name überliefert, nur dass es sich um die Tochter eines armen Schusters aus dem Bergdorf Jenesien bei Bozen handelte. Nach BUOL war sie bettlägerig, blind und dabei mystisch sehend. Vgl. ebd., 100f. Bei Rubatscher werden neben der „Schustertochter von Jenesien“ auch noch ein „Gnadenkind von Lusern“ und ein „Nonsberger Hirtenmädchen“ als weitere Fälle überliefert. Vgl. Maria Veronika RUBATSCHER, Dunkle Wege ins Licht, Mödling bei Wien [ca. 1949], 59–61. Theresia Steiner war eine Bauerntochter aus Taisten im Pustertal. Sie trat bei den deutschen Klarissinnen in Assisi ein und erhielt den Namen Agnes. Die Seher- und Wundergaben der Mutter Agnes Steiner standen bei Papst Pius IX. in hohem Ansehen, dem sie als Bischof von Imola die Tiara vorausgesagt haben soll. Vgl. BUOL (wie Anm. 8), 103; Josef GELMI, Die Seherin Maria von Mörl, in: Konferenzblatt 1997/3, 182f.; IMBERT-GOURBEYRE (wie Anm. 4), 477–479. Vgl. RUBATSCHER (wie Anm. 10), 62–64. Krescentia Nig(g)lutsch lebte in Tscherms, einem Dorf zwischen Meran und Bozen. Sie war seit 1835 stigmatisiert. In den 1840er-Jahren kam sie in den Ruf, eine Betrügerin zu sein. Domenica Lazzeri lebte im italienischen Teil Südtirols (Capriana im Fleimstal). 1837 erschien über die drei stigmatisierten Jungfrauen Mörl, Lazzeri und Nigglutsch die Schrift von Antonio RICCARDI, Le tre mirabili vergini viventi nel Tirolo, Milano 1837; Geschichte der durch die Wundmale Christi wunderbar begnadigten, annoch lebenden zwei tyroler Jungfrauen: Maria von Mörl, von Kaltern, und M. Dominica Lazzari [sic!], von Capriana. Zweite, theils nach dem Italienischen des Herrn Probst Riccardi, theils nach authentischen OriginalMittheilungen bearbeitete, sehr vervollständigte und durchaus berichtigte Auflage, Augsburg 1843. Zur Lazzeri vgl. auch Ignaz GRANDI, Dominika Lazzeri, die Stigmatisierte aus Capriana im Fleimstal, Trient 1978. Zur Massenwallfahrt 1833 vgl. Nicole PRIESCHING, Maria von Mörl (1812–1868). Leben und Bedeutung einer „stigmatisierten Jungfrau“ aus Tirol im Kontext ultramontaner Frömmigkeit, Brixen 2004, 126–136.

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tischer Frauen gegeben hat, die sich sogar ausdrücklich auf Maria von Mörl als Vorbild beriefen15. Da sie über 30 Jahre als Stigmatisierte wirkte und sich die Liste ihrer Besucher(innen) bis zu ihrem Tod 1868 wie ein Who is who des Ultramontanismus aus ganz Europa liest, ging ihr Bekanntheitsgrad weit über Tirol hinaus16 und ließ sie zu einer erfolgreichen Vertreterin einer Mystikerin werden. Neben der Ausstrahlungskraft der Mörl spricht ferner die Quellenlage für sie. Wir wissen wie gesagt wenig bis gar nichts über die Mystikerinnen des 19. Jahrhunderts. Fromme Erbauungsschriften von Besuchern zeigen im Grunde immer nur das Bild der Außenstehenden. Doch was passierte, wenn die Frauen allein waren? Was sprachen sie mit ihren Beichtvätern? Was bedrückte sie? Was hofften sie? Welche persönlichen Beziehungen unterhielten sie zu ihren Mitmenschen? Welchen Quellen können wir trauen? Was wurde verschwiegen? Es liegt bei der spezifischen Rolle der Frauen als herausgehobene Vertreterinnen ihrer Kirche in der Natur der Sache, dass das Individuelle in den Hintergrund der Aufmerksamkeit geriet. Die Alternative von „Echtheit“ und „Betrug“, der die Frauen ausgesetzt waren, ließ kaum Spielraum für ein rollenabweichendes Verhalten. Das heißt nicht, dass es dieses nicht im Verborgenen gegeben hatte, wofür wiederum Quellen fehlen – außer bei Maria von Mörl. Hier ermöglichen die Tagebuchaufzeichnungen ihres Beichtvaters, die bis vor Kurzem verschollen waren, selten intime Einblicke17. Dabei finden sich auch explizite Hinweise auf das Mystikverständnis des Beichtvaters, das heißt auf die Perspektive, in der er die Mörl sah und unter der er sie anleitete. Auch bei den anderen bekannten Stigmatisierten oder Visionärinnen des 19. Jahrhunderts scheinen die Beichtväter – wie freilich schon in zahlreichen mittelalterlichen Fällen – einen sehr starken Einfluss auf die Frauen ausgeübt zu haben, so dass auch dies ein gemeinsames Merkmal darstellt. Vor den 1830er-Jahren konnte diese Rolle dabei auch von einem mystisch interessierten Laien ausgefüllt werden, wie das Beispiel von Clemens Brentano (1778–1842) bei der Emmerick zeigte18. Von 1818 bis zum Tode der Emmerick im Jahr 1824 hatte 15 Bernhard GISSIBL, Frömmigkeit, Hysterie und Schwärmerei. Wunderbare Erscheinungen im bayerischen Vormärz (Münchner Studien zur neueren und neuesten Geschichte 23), Frankfurt a. M. 2004. 16 Eine Netzwerkanalyse ihrer Besucher findet sich in: PRIESCHING, Maria von Mörl (wie Anm. 14), 278–358. 17 PRIESCHING, Geißel Gottes (wie Anm. 5). 18 Zu Anna Katharina Emmerick vgl. Joseph ADAM, Clemens Brentanos Emmerick-Erlebnis. Bindung und Abenteuer, Freiburg i. Br. 1956; Anna Katharina Emmerick. Die Mystikerin des Münsterlandes. Symposion 1990 der Bischöflichen Kommission „Anna Katharina Emmerick“, Münster, hg. v. Clemens ENGLING, Hubert FESTRING u. Hermann FLOTHKÖTTER, Dülmen 1991, darin auch Quellen und weitere Literatur; Nicole PRIESCHING, Die Mystikerin aus dem Münsterland. Anna Katharina Emmerick zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung, in: Anna Katharina Emmerick (1774–1824). Fremde Lebensspuren. Eine historische und theologische Spurensuche. Dokumentation einer Kooperationstagung der Akademie Franz Hitze Haus mit d. Emmerick-Bund, Dülmen, v. 6.–7. Nov. 2004 i. d. Akademie Franz-Hitze-Haus (edition akademie franz hitze haus 9), hg. v. Veronika HUESMANN u. Gabriele OSTHUES, Münster 2005, 11–27.

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sich Brentano fast ununterbrochen in Dülmen aufgehalten und ihre Visionen aufgezeichnet19. Auch wenn sein romantisches Weltbild nur zum Teil mit demjenigen eines P. Kapistran Soyer (1797–1865) deckungsgleich war, so gab es bei Emmerick und Mörl eine auffällige Gemeinsamkeit: Beide wurden von ihren Betreuern in gewisser Hinsicht mundtot gemacht. Darauf wird noch einzugehen sein. Bei der Emmerick hat das für ihren Ruf als Visionärin beträchtliche Folgen: Ihre Visionen (bzw. Offenbarungen) flossen aus der Feder des Dichters, was Historiker vor ein unüberwindbares Quellenproblem stellt, da nicht mehr nachvollziehbar ist, wie weit die dichterische Freiheit das von ihr Gesagte überformte20. Nach diesen Vorbemerkungen wende ich mich nun den Mystikerinnen des 19. Jahrhunderts zu. In einem ersten Schritt soll ein kurzer biographischer Vergleich der bekanntesten Fälle erfolgen, um so erste Hinweise auf prägende Gemeinsamkeiten zu erhalten. In einem zweiten Schritt wird auf die Tugenden eingegangen, welche die Erbauungsschriften der Zeit zur strengen Befolgung ans Herz legten. Diese prägten, wie zu zeigen sein wird, nicht nur die geistige, sondern auch die leibliche Frömmigkeit der betreffenden Frauen. In einem dritten Schritt wird die Rolle des Beichtvaters am Beispiel von P. Kapistran bei der Mörl näher beleuchtet und sein Mystikverständnis vorgestellt. Und schließlich soll in einem vierten Schritt kurz auf die Botschaft der Mystikerinnen des 19. Jahrhunderts eingegangen werden.

1. Die Mystikerinnen des 19. Jahrhunderts – ein biographiegeschichtlicher Vergleich Obwohl sich in Lebensbeschreibungen der Mystikerinnen häufig der Topos findet, dass diese aus einfachen, armen Verhältnissen stammten, wies die soziale Herkunft eine große Spannbreite auf. Juliana Weiskircher aus Oberösterreich21, Anna Katharina Emmerick aus Dülmen in Westfalen und Agnes Steiner aus Taisten waren Bauernkinder. Josepha Kümin war die Tochter eines wohlhabenden Mül-

19 WEISS (wie Anm. 7), 1035. 20 Nach Wolfgang FRÜHWALD sind die Emmerick-Schriften Brentanos aus der romantischen Überzeugung des Dichters zu verstehen, dass die eigentliche Wahrheit jenseits der Tageswirklichkeit in der Dichtung liege. Wolfgang FRÜHWALD, Das Spätwerk Clemens Brentanos (1815–1842). Romantik im Zeitalter der Metternich’schen Restauration (Hermaea 37), Tübingen 1977. „Die in kirchlichen Kreisen viel diskutierte Frage nach der ‚Echtheit‘ der ‚Offenbarungen‘ war dabei im Grunde irrelevant. Verhängnisvoll war nur, dass die Mit- und Nachwelt – was ähnlich auch für die ‚Mystik‘ von Görres gelten mag – die romantische Grundkonzeption des Werkes nicht mehr verstand“. WEISS (wie Anm. 7), 1036. 21 Zu Juliana Weiskircher (1824–1862) existiert als Hauptquelle Philipp MAHLER, Enthüllungen über die ekstatische Jungfrau Juliana Weiskircher aus Ulrichskirch-Schleinbach. Eine ernste Sprachlehre für ihre Freunde und Feinde, Wien 1851. Diese Schrift und weitere Quellen sind bereits kritisch aufgearbeitet von Walter STRAUSS, Juliana Weiskircher. Eine österreichische Stigmatisierte, Salterrae 1993.

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lers im Dorf Wallerau im Kanton Schwyz22, Domenica Lazzeri Tochter eines armen Müllers aus Capriana im Fleimstal (Diözese Trient). Maria von Mörl aus Kaltern in Südtirol war die Tochter eines Adligen, ebenso Elisabeth Canori-Mora aus Rom23. Pauline de Nicolay war die Tochter eines französischen Grafen24, Maria Giuliana Arenare Tochter eines Arztes25 – um nur einige Beispiele zu nennen. Eine prägende Gemeinsamkeit war hingegen eine schwere Kindheit und Jugend, bedingt durch Krankheiten und Todesfälle in der Familie. Josepha Kümin verlor ihre Mutter als Achtjährige, vier Jahre später ihre Großmutter, die ihr die Mutter bis dahin ersetzt hatte. Sie litt bereits als Kind an heftigen Schmerzen, besonders an Zähnen und Nerven. Ihr Vater erblindete, als sie 17 Jahre alt war. Maria von Mörl verlor ihre Mutter mit 13 Jahren, als diese bei der Geburt des zehnten Kindes starb. Auf dem seit ihrem fünften Lebensjahr kränklichen Mädchen lastete neben der Trauer auch die Sorge um die jüngeren Geschwister26. Der Vater der Louise Lateau aus Bois d’Haine in Belgien starb bald nach ihrer Geburt27. Mit 12 Jahren erlitt sie innere Verletzungen, nachdem sie von einer Kuh verwundet worden war28. Marguerite Bays aus La Pierraz bei Fribourg in der Schweiz litt bereits als junge Frau an Darmkrebs. Sie bat die Muttergottes um Heilung, die sie als 39-Jährige auch erfuhr29. Die Elsässerin Franziska Barthel war durch eine unheilbare Verrenkung des Oberschenkels auf Krücken angewiesen. Auch sie führte ihre Heilung auf Maria zurück30. Andere erfuhren jedoch kein Heilungswunder. Beatrix Schuhmann aus Pfarrkirchen in Bayern war seit einem Unfall mit darauf folgender Krankheit in ihrem 27. Lebensjahr bettlägerig31.Viktoria Hecht aus dem württembergischen Wol22 Paul LETTER, Josepha Kümin (1763–1817). Heilige Heldin. Schwester Maria Josepha Kümin, Mystikerin, stigmatisierte Visionärin, Sühneseele, Heldin der christlichen Liebe, Hauteville/ Schweiz 1991. 23 Anton PAGANI, Die Visionärin Roms. Die Selige Elisabeth Canori Mora (1774–1825). Ihr Leben – ihre Visionen, Lauerz/ Schweiz 21999. 24 Zu Pauline de Nicolay (1811–1868) heißt es bei Imbert-Gourbeyre, sie sei „Fille d’un marquis et pair de France“. IMBERT-GOURBEYRE (wie Anm. 4), 488f. 25 Zu Maria Giuliana Arenare (1816–1857) vgl. ebd., 475. 26 BUOL (wie Anm. 8), 17. 27 Zu Louise Lateau vgl. Paul MAJUNKE, Louise Lateau, ihr Wunderleben und ihre Bedeutung im deutschen Kirchenconflicte, Berlin 21875; Ferdinand J. M. LEFÈBVRE, Louise Lateau de Bois-d’Haine. Sa vie, ses extases, ses stigmates. Étude médicale, Louvain 21873; Johannes Maria HÖCHT, Träger der Wundmale Christi. Eine Geschichte der Stigmatisierten, hg. u. erg. v. Arnold GUILLET, Stein am Rhein 41986, 368–380. 28 MAJUNKE (wie Anm. 27), 4. 29 Zu Marguerite Bays vgl. HÖCHT (wie Anm. 27), 361–367; IMBERT-GOURBEYRE (wie Anm. 4), 521–522; Robert LOUP, Margrit Bays, die stigmatisierte Näherin, 1815–1879 [Übertr. ins Dt. v. Otto ISERLAND], Freiburg/ Schweiz 1955. 30 Zu Franziska Barthel vgl. HÖCHT (wie Anm. 27), 384–385; IMBERT-GOURBEYRE (wie Anm. 4), 503–521. Ebenfalls aus dem Elsass kam die stigmatisierte Apollonia Filzinger (geb. 1801, 1824 stigmatisiert), die von Clemens Brentano und Josef Görres 1825 besucht worden ist. Vgl. Clemens BRENTANO, Gesammelte Schriften, hg. v. Christian BRENTANO, Bd. 9, Frankfurt a. M. 1855, 114–118. 31 Zu Beatrix Schuhmann vgl. HÖCHT (wie Anm. 27), 385f.

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pertswende erlitt mit 17 Jahren nach einem Unfall eine Gehirnerschütterung. Ein Jahr später hatte sie einen weiteren Unfall, in dessen Folge auch sie bettlägerig wurde32. Unfälle und Krankheiten kennzeichnen also fast alle Biographien. Weitere Beispiele ließen sich anführen33. Insofern waren diese Mädchen in mehrerer Hinsicht „arm“, wobei die wirtschaftlichen Verhältnisse nicht das Entscheidende waren. Handelt es sich um eine fromme Variante des Aschenputtelmärchens, wobei die arme Magd durch ihre Tugend (statt Schönheit) dem himmlischen Bräutigam (statt des irdischen Prinzen) gefällt und mit Gnaden belohnt wird? Der Topos des „armen Mädchens“ stellt sie von vornherein in eine tugendhafte Sphäre, da das Motiv der „Bewährung“ bereits mitschwingt. Er unterstreicht ferner ihre Passivität innerhalb der Verhältnisse, ihre Opfer-Rolle. Ein weiteres Merkmal dieser Mädchen und Frauen ist, dass sie alle mit sogenannten dämonischen „Anfechtungen“ zu tun hatten, die begleitend zu den jeweiligen Schicksalsschlägen aufgetreten waren und das Erfahrene in den Rahmen eines kosmischen Kampfes zwischen himmlischen und dämonischen Kräften einordneten. Damit wurde dem Leid ein spezifischer religiöser Sinn zugesprochen. Eine weitere auffällige Parallele ist das Alter. Die meisten Frauen machten in ihrer Pubertät ihre ersten mystischen Erfahrungen, wobei in der Anfangszeit überwiegend von dämonischen Anfechtungen die Rede ist. Dies ist vermutlich kein Zufall. Gerade der Bereich des Sexuellen wurde im 19. Jahrhundert sehr negativ bewertet und nicht selten dämonisiert.

2. Die Performanz der weiblichen Tugendideale Das 19. Jahrhundert gilt insgesamt als prüdes Zeitalter, in dem ein vergleichsweise offener Umgang mit Sexualität, der noch im 17. Jahrhundert vorgeherrscht habe, „in den monotonen Nächten des viktorianischen Bürgertums“34 endete. Die Chronik der Unterdrückung der Lust hing wohl auch mit der Entwicklung der katholischen Pastoral und des Bußsakramentes nach dem tridentinischen Konzil zusammen, in welcher minutiöse Regeln der Selbstüberprüfung eingeführt wur-

32 Zu Viktoria Hecht vgl. ebd., 387f. 33 So zum Beispiel Juliana Weiskircher, die mit dreizehn Jahren ihren Vater verlor. Vgl. STRAUSS (wie Anm. 21), 45 oder Klara Moes aus Bous bei Remich (Luxemburg). Zu Klara Moes (1832–1895) vgl. Jean MALGET, Ein Leben zwischen Hammer und Amboss. Schwester Maria Dominika Klara vom hl. Kreuz, geb. Anna Moes (1832–1895), Luxembourg 1995. (Malget benutzte für seine Aufzeichnungen das Archiv der Dominikanerinnen in Limpertsberg.); Dominik HENGESCH, Briefe an P. Nikolaus Nilles SJ, Innsbruck, bearb. v. Jean MALGET, Luxemburg 1990–93; Willibrord SCHONS, La Stigmatisée de Luxembourg et sa mission, o.O. 1934. 34 Michel FOUCAULT, Der Wille zum Wissen (DERS., Sexualität und Wahrheit 1) (SuhrkampTaschenbuch Wissenschaft 448), übers. v. Ulrich RAULFF u. Walter SEITTER, Frankfurt a. M. 1983, 11.

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den35. So empfahl Alfons von Liguori (1696–1787) den Beichtvätern schon im Umgang mit Kindern bei der Beichte, diese zu fragen, bei wem sie schlafen, ob bei ihren Brüdern oder Schwestern; ob sie im Bette spielend sich mit den Händen berührt u. s. w.36. Die Erbauungsliteratur des 19. Jahrhunderts legte besonderen Wert darauf, sexuelle Wünsche und Triebe zu zähmen und den Körper somit rein zu erhalten. Der Wiener Redemptorist Anton Passy (1788–1847) gab zum Beispiel in seinem ‚Lese- und Gebetbuch für christkatholische, weltliche und geistliche Jungfrauen‘ den weiblichen Gläubigen (und den Beichtvätern für ihre Leitung) den Rat: Betrachte deinen Leib, als wenn du keinen hättest; fürchte ihn, als deinen allergefährlichsten Feind37. Die Verdammung des Körperlichen konnte jedoch dazu führen, dass sexuelle Phantasien als von außen kommende dämonische Anfechtungen erfahren wurden, wie der Fall Luise Beck belegt38. „Die Sinne galten als offene Türen der Versuchung, der Sünde, des Dämonischen“39. Da die sexuellen Phantasien vor allem nachts oder morgens kamen, wenn der Mensch nach Ansicht der Beichtväter noch schwach war, sollte auch zu diesen Zeiten gebetet werden. „Im Bett waren starre Positionen keuscher Unbeweglichkeit einzunehmen und die Hände um Rosenkranz oder Kreuz zu falten“40. Diese starre Haltung erinnert an Maria von Mörl (vgl. Abb.41), die von ihren Besuchern oft als Marmorstatue beschrieben wurde42. Sie nahm eine nach vorne gebeugte kniende Haltung auf ihrem Bett ein, die als unnatürlich – manchmal im Sinne von krankhaft, manchmal im Sinne von übernatürlich – beschrieben wurde. Gerade diese für sie charakteristische Haltung kann somit als asketische Übung im Sinne praktizierter Keuschheit interpretiert werden. Dieses Beispiel zeigt die performative Wirkung der Erbauungsliteratur bis in die Körperhaltung hinein. Das 35 Ebd., 24f. 36 Alfonso Maria de’ LIGUORI, Der Beichtvater, unterrichtet in den wichtigsten Gegenständen der christlichen Moral, neu aus d. Ital. übers. u. hg. v. e. Priester aus d. Versammlung d. allerheiligsten Erlösers, 3., sorgfältig rev. Aufl., Regensburg 1858, 27. 37 Zit. nach GISSIBL (wie Anm. 15), 78. 38 Aloisia Beck, genannt Luise, wurde 1822 als Tochter des Gerichtarztes und Apothekers Dr. Benno Beck in Altötting geboren. Sie starb 1879. Zur Biographie dieser Seherin siehe WEISS (wie Anm. 7), 552–672. 39 Michela DE GIORGIO, Die Gläubige, in: Der Mensch des 19. Jahrhunderts, hg. v. Ute FREVERT u. Heinz-Gerhard HAUPT, Frankfurt a. M. [u. a.] 1999, 120–147, hier 134. 40 Ebd. 41 Die Abbildung ist eine Zeichnung der Mörl eines unbekannten Künstlers. Sie befindet sich im Privatbesitz von Andreas von Mörl (Brixen) und ist bisher noch nicht publiziert worden. Typisch ist die kniende Haltung der Mörl. Deutlich sind auf ihren Händen die Stigmata zu erkennen. 42 Als Beispiel sei der Besucherbericht von John TALBOT, 16. Earl von Shrewsbury (1791– 1852), in einem Brief an Ambrose Lisle PHILLIP(P)S (1809–1878) vom 27. Mai 1841 erwähnt: Wir fanden sie [die Mörl, N. P.] in ihrem gewöhnlichen Zustande der Ekstase, wie sie auf dem beigefügten Kupfer dargestellt ist, auf ihrem Bette knieend, mit emporgerichteten Augen und die Hände gefalten in betender Stellung, regungslos wie eine Marmorstatue. John TALBOT, Lord Shrewsbury’s gesammelte Mittheilungen über einige noch lebende ekstatische und stigmatisierte Jungfrauen. Aus dem Englischen übersetzt, Münster 1846, 1–8. Zu den Besuchereindrücken bei der Mörl vgl. PRIESCHING, Maria von Mörl (wie Anm. 14), 390–399.

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Erscheinungsbild einer stigmatisierten Jungfrau sollte nicht nur Abbild zum Beispiel des leidenden Christus, sondern auch Ausdruck katholischer Moralvorstellungen sein.

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Askeseübungen wie Fasten gehörten zu einem frommen Leben. Bei den stigmatisierten Frauen fällt hierbei ein Hang zum Extrem auf. Josepha Kümin43 geißelte sich mit spitzen Stacheln, von Marie-Marthe Chambon aus Chambéry sind harte Selbstkasteiungen bekannt. Sie schlief auf dem Boden, trug einen Bußgürtel und eine spitze Dornenkrone44. Bußübungen, begleitet von inneren „Anfechtungen“, sowie ein kränklicher körperlicher Zustand gehörten stets zur Vorgeschichte des „mystischen“ Lebensweges. Maria von Mörl war hier kein Einzelfall, auch wenn die Tagebuchaufzeichnungen Kapistrans eine in dieser Deutlichkeit selten zu findende Dokumentation darstellen. Diese Ausführungen zeigen, wie P. Kapistran die Mörl von 1832, dem Jahr, in welchem ihre Ekstasen begannen, bis 1842 begleitet hat. Dieses Tagebuch erlaubt einige intime Einblicke in die Rolle, die ein Beichtvater in Hinblick auf Prägung und Deutung der körperlichen Zustände einer sogenannten „begnadeten Seele“ haben konnte. Im Folgenden soll deshalb näher auf diese Deutungen eingegangen werden.

3. Das Selbstverständnis des Beichtvaters P. Kapistran als Werkzeug Gottes 10. November 1832: Der Wunsch zu leiden wurde [in ihr; N.P.] stärker, es wurde ihr aufs Neue eingeschärft, mir Gehorsam zu leisten, dass ich fortfahren soll, [sie zu; N.P.] martern, was geschehen wird, ohne Verletzung der Keuschheit, was ihr Gott in der Krone versicherte45.

Diese Worte P. Kapistrans46 stammen aus dem Jahr, als die 20-jährige Maria von Mörl ihre sogenannten Ekstasen bekam. Ein Jahr später sollten ihre sonderbaren Zustände eine Massenwallfahrt nach Kaltern auslösen, die der Bischof nur mit Mühe unterdrücken konnte. Im Februar 1834 wurde aus der Ekstatikerin die stigmatisierte Maria von Mörl. Mit den Ekstasen von 1832 fing also das an, was von P. Kapistran als Fortschreiten auf einem mystischen Gnadenweg interpretiert wurde. Das schloss Prüfungen durch dämonische Mächte mit ein. Diese waren geradezu ein Gradmesser: Je mehr sich der Teufel um ihre Seele riss, desto begnadeter würde sie werden,

43 DE GIORGIO (wie Anm. 39), 111. 44 Die Stigmatisierte aus den savoyischen Alpen hatte bereits seit ihrer Kindheit Visionen des Gekreuzigten. Nach einer harten Jugend trat sie 1862 in den Orden der Heimsuchung Mariä zu Chambéry ein. Berühmt wurde sie, weil sie der Verehrung der heiligen Wunden des Herrn wieder zu mehr Verbreitung verhalf. Seit 1874 war sie selbst stigmatisiert. Vgl. HÖCHT (wie Anm. 27), 420–422. 45 Zit. nach PRIESCHING, Geißel Gottes (wie Anm. 5), 130. 46 P. Johannes Kapistran Soyer (auch Sojer), als Sebastian Soyer geboren am 24.1.1798 in Schwaz am Inn, 1816 Eintritt in den Franziskanerorden und Annahme des Namens Johannes Kapistran, 1822 Priesterweihe, seit etwa 1829 Beichtvater der Maria von Mörl, gestorben am 4.5.1865 in Kaltern. Biographische Daten zu ihm in Florentin NOTHEGGER, Geschichte der Tiroler Franziskanerprovinz, Hall 1979 [Masch.], 993f.

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denn der Krieg zwischen den himmlischen und dämonischen Mächten muss ja letztendlich zugunsten Gottes ausgehen. Gott ist unbesiegbar. Der allmächtige Gott, der es zulässt, dass der Teufel um die Seelen wettet, ist ein uraltes Motiv, das schon im Buch Hiob begegnet. Für uns heute ist das ein befremdliches Gottesbild. Der Wunsch zu leiden wurde [in ihr] stärker, es wurde ihr aufs Neue eingeschärft. Für Kapistran war es Gott selbst, der in Maria von Mörl diesen Wunsch erweckte. Und dieses Leiden sollte unter Aufsicht geschehen, denn es sei ihr nach Kapistran auch befohlen worden, ihm Gehorsam zu leisten, dass [er] fortfahren solle, [sie zu] martern, was geschehen werde, ohne Verletzung der Keuschheit. Hier spricht ein selbstbewusster Seelenführer, der keine Skrupel hat, sich selbst als Werkzeug Gottes zu verstehen, wenn er zur Geißel greift, um Maria von Mörl zu martern. Fraglich ist, wie der Einschub ohne Verletzung der Keuschheit zu verstehen ist. Hat er sich die Augen dabei verbunden oder sollte er ihren Anblick in Keuschheit aushalten? Dieses Beispiel macht bereits deutlich, welch große Rolle die Seelenführung einer sogenannten Ekstatikerin spielte. Auch wenn es zu weit ginge zu behaupten, dass der Beichtvater die Mystikerin machte, so formte er sie doch nicht unerheblich. Dies war in gewisser Hinsicht auch seine Aufgabe als „Seelenführer“. Es ist insofern notwendig, neben dem, was die Mystikerin erlebte und ausdrückte, auch stets nach den Einflüssen zu fragen, die sie prägten, bzw. nach den Deutungsmustern, welche für die Mystik zu ihrer Zeit zur Verfügung standen. Das Mystikverständnis Kapistrans war hauptsächlich von dem Buch ‚Il direttorio mistico‘ (‚Anleitung in der mystischen Theologie‘) des Jesuiten Giovanni Battista Scaramelli (1687–1752)47 geprägt. Die mystischen Schriften Scaramellis wurden in Italienisch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts veröffentlicht. In Tirol waren seine Bücher im 19. Jahrhundert als Lehrbücher für Seelenführer offenbar bekannt. 1855 wurde in Regensburg eine deutsche Ausgabe des ‚Direttorio‘ gedruckt. P. Kapistran hatte noch die italienische Ausgabe benutzt. Während für die Besucher der Mörl ab 1836 etwa ‚Die christliche Mystik‘ von Joseph von Görres (1776–1848)48 viel prägender für ihre Erwartungen und Deutungen wurde, ist für die Seelenführung selbst Scaramelli höher zu veranschlagen. Doch auch nach ihrem Tod, als ein weiterer Franziskaner und Beichtvater der Mörl, P. Gaudenz Guggenbichler (1829–1901)49, die Tagebuchaufzeichnungen Kapistrans 47 1706 Eintritt bei den Jesuiten in Rom, 1717 Priesterweihe, 1722 endgültige Aufnahme in den Orden. Scaramelli war als Prediger, Volksmissionar und Exerzitienmeister im Kirchenstaat tätig. Vgl. PRIESCHING, Geißel Gottes (wie Anm. 5), 17. 48 Joseph von GÖRRES, Die christliche Mystik, Bd. 1–4, Regensburg, Landshut, Wien 1836– 1842. Speziell zur Mörl darin: Bd. 2, 495–510, Bd. 3, 468–470 u. Bd. 4, 397–404. Zum Leben von Görres: Heribert RAAB, Joseph Görres, ein Leben für Freiheit und Recht. Ausw. aus seinem Werk, Urteile von Zeitgenossen, Einf. und Bibliogr., Paderborn [u. a.] 1978; Joseph von Görres, Gesammelte Schriften 19 = Briefe 1, bearb. u. hg. v. Monika FINK-LANG, Paderborn [u. a.] 2009. 49 1848 Eintritt bei den Franziskanern, 1852 Priesterweihe; Guggenbichler war 1853/54 und von 1859 bis 1881 in Kaltern. Er schrieb zahlreiche Erbauungsbüchlein und beschäftigte sich in-

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sammelte und den Versuch unternahm, die Mörl mystisch zu deuten, stützte er sich auf Scaramelli. Ein Beispiel für diese mystische Deutung findet sich in folgendem Abschnitt: Hier sollte nun gehandelt werden von jenen Graden oder Stufen des übernatürlichen, eingegossenen Gebetes oder der Kontemplation, durch welche Gott seine auserwählten Seelen während des Reinigungsvorganges hindurchführt, bis sie endlich zur innigsten Liebesgemeinschaft mit Ihm gelangen durch die letzte dieser Stufen, das Matrimonium Spirituale. Von Mystikern werden, wie Scaramelli sagt, gewöhnlich zwölf solcher Stufen des übernatürlichen oder eingegossenen Gebetes erwähnt, welche die Heiligen u. die Lehrer erfahren haben u. die in ihren Büchern aufgezeichnet sind. Es sind folgende: die erste Stufe der Kontemplation ist das Gebet der Sammlung; dann folgen das geistige Stillschweigen, das Gebet der Ruhe, die Trunkenheit der Liebe, der geistige Schlaf, Sehnsucht und Durst der Liebe, die Berührung der Seele durch Gott. Diese sieben Stufen werden von den Geisteslehrern die minder vollkommene Beschauung im Dunkel genannt, – die fünf folgenden Stufen des übernatürlichen Gebetes aber der vollkommenen Beschauung beigezählt: Die einfache Liebesvereinigung, die Ekstase […], die Verzückung […], die Verlobung der Seele mit Gott u. […] die Vermählung der Seele mit Gott50.

Es fällt auf, dass die letzten fünf Stufen allesamt Bilder von Liebesvereinigung bis Vermählung benutzen, das heißt in der Tradition mittelalterlicher Brautmystik stehen, die unter anderem Uta Störmer-Caysa näher charakterisiert hat. Nun ist „dem Christentum des Mittelalters […] der Leib verdächtig, nicht nur in der Mystik. […] Der Leib gilt als Antrieb zu vielfältigen Verirrungen, als Störfaktor im Bemühen um geistige Vervollkommnung. Die Körperverdrängung im Leben führt dazu, dass unausgesetzt über den Körper gesprochen wird, die einfachsten und natürlichsten Regungen sind, weil sie als Sünden gelten, beichtpflichtig und damit sprachpflichtig. Andererseits wird die Auferstehung der Toten auch leiblich begriffen, und die Höllenstrafen werden zumindest fürs Volk als Leibstrafen geschildert, obgleich ja eine körperlose Seele eigentlich keine körperliche Pein spüren kann. Diese Art mit dem Körper umzugehen, kehrt den empirischen Befund um: Der Lebende soll sich idealerweise verhalten, als habe er keinen Leib, aber für den Toten soll man um seine Seele fürchten, als könne ein Teufel ihr am Leib schaden. Das ideale Leben wird leiblos, der Zustand nach dem Tod körperhaft modelliert. Wenn die Seele im Jenseits (aber) körperlich empfinden kann, zumindest so, als sei sie körperlich, dann muss sie das im Diesseits auch schon können,

tensiv mit Mystik. Nach dem Tod der Maria von Mörl wurde er vom Provinzial der Franziskaner damit beauftragt, eine Biographie über sie zu schreiben. Da auch der Redemptorist P. Karl Schmöger, Beichtvater der Luise Beck, eine Biographie über die Mörl schreiben wollte, kam es zwischen beiden um die mystische Deutung der Mörl zu einem Streit, der ihre Anhängerschaft spaltete und letztlich dazu führte, dass das Unternehmen der Biographie fallengelassen wurde. Im Nachlass von P. Gaudenz Guggenbichler im Provinzarchiv der Franziskaner in Schwaz am Inn befinden sich die Quellen, die P. Gaudenz für sein Projekt gesammelt hat. Darunter ist auch das handschriftliche Tagebuch des P. Kapistran über die Mörl. Diese Quellen wurden ediert in PRIESCHING, Geißel Gottes (wie Anm. 5). 50 Zit. nach ebd., 63–64.

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denn die Seele verändert sich in ihrem Wesen nicht durch den Tod.“51 Die Brautmystik funktioniert also nur unter der Voraussetzung, dass es gewissermaßen einen Leib der Seele gebe. P. Kapistran ging in seiner Seelenführung von dem Stufensystem Scaramellis aus. So schrieb der Beichtvater im Juli 1833: Am 16. und 17. Juli wiederholte sie vor vielen die Elevationen des Körpers und das geistige Gebet, unter anderem vor dem Herrn Joseph von Morandell, dann schrieb (ich) ihr die Zeit vor, in der ihr zu beten erlaubt sei. – Es ist offenkundig, dass sie schon im Herzen verwundet ist, und die Vermählung da ist52. Die Vermählung mit Gott ist nach Scaramelli die 12. und damit die höchste Stufe im sogenannten Reinigungsprozess der Seele. Wenn sich Scaramelli also bereits in die Tradition mittelalterlicher Brautmystik stellte, dann kann davon ausgegangen werden, dass P. Kapistran in Maria von Mörl auch eine Vertreterin einer Brautmystik sah. Allerdings – und hier besteht ein großer Unterschied zwischen ihr und vielen mittelalterlichen Mystikerinnen, vielleicht sogar ein Traditionsbruch – war sie nicht in der Lage, über ihre inneren Erlebnisse zu schreiben. Wir haben von ihr keine Texte wie von einer Mechthild von Magdeburg (‚Das fließende Licht der Gottheit‘)53 oder einer Margaretha Ebner54. Wird „Brautmystik“ heute geradezu als literarische Gattung bestimmter mystischer Texte aufgefasst, wobei man sich über deren Erfahrungshintergrund streiten kann, so haben wir es hier mit einer schweigenden „Braut Christi“ zu tun. Den Besuchern wurde erklärt, dass der Mörl von Gott der Mund verschlossen worden sei. Das war allerdings inszeniert. Was die Besucher nicht wussten, nämlich dass ihr das Schweigen aufgetragen worden war, erfährt man bei der Mörl zum Beispiel aus einem Brief von Joseph Görres, der mit Kapistran vertraulich gesprochen hatte, an seinen Freund Joseph von Giovanelli (1784–1845)55: Er [Kapistran] hat

51 Uta STÖRMER-CAYSA, Entrückte Welten. Einführung in die mittelalterliche Mystik (ReclamBibliothek 1634), Leipzig 1998, 138–139. Vgl. auch Peter DINZELBACHER, Brautmystik, in: Wörterbuch der Mystik (Kröners Taschenausgabe 456), hg. v. DEMS., Stuttgart 1989, 71f. 52 Zit. nach PRIESCHING, Geißel Gottes (wie Anm. 5), 155. 53 Ursprünglich ist das Werk ‚Das fließende Licht der Gottheit‘ von Mechthild von Magdeburg in ihrem heimischen Dialekt abgefasst worden, wobei diese Fassung allerdings verloren ist. Heinrich von Halle, seit 1250 Berater der Mechthild, hatte geholfen, die Schrift zu verbreiten, von der wir heute eine lateinische Übersetzung besitzen, die bald nach Mechthilds Tod (1282) entstanden ist (1290). Vgl. Mechthild von Magdeburg, Das fließende Licht der Gottheit. Nach der Einsiedler Handschrift in kritischem Vergleich mit der gesamten Überlieferung (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters 100; 101), hg. v. Hans NEUMANN u. Gisela VOLLMANN-PROFE, Bd. 1–2, München [u. a.] 1990–1993. 54 Die ‚Offenbarungen‘ der Margaretha Ebner wurden ediert von Philipp STRAUCH, Margaretha Ebner und Heinrich von Nördlingen. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Mystik, Freiburg i. B., Tübingen 1882. 55 Zu Joseph von Giovanelli und Maria von Mörl siehe Nicole PRIESCHING, Der Konflikt zwischen Ennemoser und Giovanelli um die Deutung der Maria von Mörl, in: „Für Freiheit, Wahrheit und Recht!“ Joseph Ennemoser und Jakob Philipp Fallmerayer. Tirol von 1809 bis 1848/49 (Schlern-Schriften 349), hg. v. Ellen HASTABA u. Siegfried de RACHEWILTZ, Innsbruck 2009, 141–150.

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aber schon Recht, daß er um die Fassung sich nicht sehr bekümmert und nur auf das von ihr gehaltene Metall seine Sorge wendet; seine Schweigsamkeit darin, und die ihr [der Mörl] angelegte Maulsperre, sind das Beste was ihr wieder fahren konnte. So wirkt sie durch Anschauen, wie irgend ein Gnadenbild, ohne selbst vergriffen und verschlissen zu werden56.

4. Die Botschaft der Mystikerinnen des 19. Jahrhunderts Zu Beginn des 19. Jahrhunderts, nach der Französischen Revolution, den napoleonischen Kriegen, dem Untergang des Ancien Régime und tief greifenden Prozessen der Säkularisation und Säkularisierung fühlten sich viele Menschen zutiefst verunsichert und viele waren vom schlechten moralischen Zustand der Welt überzeugt. Der Untergang des Alten und das Heranbrechen der Moderne wurden häufig als Katastrophen erlebt, die letztlich nur als Strafen Gottes zu deuten seien. Diese mentalitätsgeschichtliche Zäsur ist vielfach beschrieben worden und soll deshalb hier nur für den Hintergrund in Erinnerung gerufen werden57. Als ein Ventil dieser Angst können die nun sich häufenden Marienerscheinungen interpretiert werden58. Ob in Paris 1839, La Salette 1846, in Lourdes 1859 oder Pontmain 1870: Immer ging es darum, dass die Mutter Gottes zur Umkehr ermahnte, sonst könne sie den strafenden Arm des gerechten Gottes nicht mehr zurückhalten59. Wenn wir diese Visionärinnen einmal als Mystikerinnen gelten lassen wollen, dann wäre Mystik des 19. Jahrhunderts keineswegs „stumm“, sondern unter den neuen Möglichkeiten der Massenmedien geradezu ein „Medienereignis“60. Allerdings waren auch diese Visionärinnen „Medien“ – in diesen Fällen für Maria.

56 Görres an Joseph von Giovanelli, 14. Juli 1837, in: GÖRRES, Gesammelte Schriften (wie Anm. 48), 245–248, hier 246. 57 Zur Beschreibung dieses Umbruchs vgl. Werner K. BLESSING, Staat und Kirche in der Gesellschaft. Institutionelle Autorität und mentaler Wandel in Bayern während des 19. Jahrhunderts (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 51), Göttingen 1982. 58 Nach D. Blackbourn lassen sich drei Erscheinungswellen ausmachen. David BLACKBOURN, „Die von der Gottheit überaus bevorzugten Mägdlein“ – Marienerscheinungen im Bismarckreich, in: Wunderbare Erscheinungen. Frauen und katholische Frömmigkeit im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Irmtraud GÖTZ VON OLENHUSEN, Paderborn [u. a.] 1995, 171–201. 59 Zu den Marienerscheinungen HÖCHT (wie Anm. 27), 420–422. 60 Zum Verhältnis von Katholizismus und Moderne in sozialgeschichtlicher Perspektive: Urs ALTERMATT, Katholizismus und Moderne. Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der Schweizer Katholiken im 19. und 20. Jahrhundert, Zürich 1989; Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert (Industrielle Welt 54), hg. v. Wolfgang SCHIEDER, Stuttgart 1993. Frömmigkeit wurde von Religionssoziologen und Sozialhistorikern als Teil der Herrschaftsgeschichte untersucht. M. N. Ebertz beschrieb die religiösen Legitimationsstrategien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als „Organisierung der Massenreligiosität“. Vgl. Michael N. EBERTZ, Die Organisation der Massenreligiosität im 19. Jahrhundert. Soziologische Aspekte zur Frömmigkeitsforschung, Jahrbuch für Volkskunde N.F. 2 (1979), 38–72.

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Gehören die Erscheinungen und die „stummen“ Stigmatisierten typologisch zusammen? Die Stigmatisierten schrieben selbst nichts, so dass die Deutung ihrer Erscheinungen (auch sie hatten Visionen, Auditionen etc.) auf die Außenperspektive angewiesen war. Die Botschaften flossen durchaus mit jenen der Marienerscheinungen zusammen, stellten inhaltlich keine Widersprüche zu ihnen dar, ergänzten sie vielmehr. Es gibt Hinweise darauf, dass die ekstatischen Frauen ihre eigenen dämonischen Anfechtungen durchaus in einem engen Zusammenhang mit den weltlichen Ereignissen begriffen. Sie litten nicht nur für sich zur Reinigung ihrer eigenen Seele, sondern sie wurden gewissermaßen Büßerinnen ihrer verunsicherten Gesellschaft und Zeit. Eine diesbezügliche Aussage Anna Katharina Emmericks wird von ihrem Hausarzt übermittelt: Ich habe es immer als eine besondere Gnade von Gott mir erbeten, dass ich für die leide und womöglich genugtue, die aus Irrtum oder Schwachheit auf dem Irrwege sind. Da mich aber diese Stadt [gemeint ist Dülmen; N.P.] und das hiesige Kloster als ein armes Bauernmädchen aufnahm, wo mich schon mehrere Klöster abgewiesen hatten, so habe ich mich auch für diese Stadt besonders aufgeopfert61. Auch die seit 1805/06 stigmatisierte Josepha Kümin soll der Auffassung gewesen sein, dass sie ihre Höllenqualen erdulden müsse, um andere zu retten62. In den Briefen der Maria von Mörl finden sich darüber hinaus vereinzelt Bezüge zu geschichtlichen Ereignissen. Dabei galt ihre Sorge vor allem dem Papst – Pius IX. (1846–1878) – und Kaiser Franz Joseph I. (1848–1916)63. Freilich ist methodische Vorsicht geboten, wenn in zeitgenössischen Quellen berichtet wird, dass die Stigmatisierten ihr Leiden als stellvertretende Sühne deuteten. Das erste Problem besteht in Unsicherheiten, ob solche Aussagen tatsächlich von der betreffenden Frau selbst gemacht oder ob sie von ihr überliefert wurden. Und selbst wenn die Aussage aus ihrem Munde oder ihrer Feder stammte, bleibt das zweite Problem, dass hier auch die Erwartungshaltung der Adressat(inn)en zu berücksichtigen ist. Dennoch spricht einiges dafür, denn im Grunde spiegeln solche Sätze eine grundsätzlich fromme Haltung angesichts eines Leidens wider, das Sinn stiften sollte. Für eine Stigmatisierte, die als Frömmigkeitsvorbild dienen sollte, war eine solche Haltung quasi selbstverständlich. Unabhängig davon also, ob diese Frauen auch mit ihrem Schicksal gehadert haben – davon wird in der Regel nichts berichtet –, bestand ihre Funktion darin, eine stellvertretende Büßerin zu sein. Bei den Stigmatisierten wurde die stellvertretende Buße in der Regel nicht verbal, sondern vor allem über die körperlichen Begleiterscheinungen der Mystik kommuniziert. Die Mystikerin erlitt zum Beispiel mit dem Herrn am Freitag den Kreuzestod – Ausdruck dafür waren neben den Gebärden die blutenden Stigmata –, und der Betrachter konnte dieses Mitleiden als Ausdruck stellvertretender Sühne61 Franz Wilhelm WESENER, Tagebuch des Dr. med. Franz Wilhelm Wesener über die Augustinerin Anna Katharina Emmerick, hg. v. Winfried HÜMPFNER, Bd. 1, Aschaffenburg 21973, 110 (Eintrag 26. September 1815). 62 LETTER (wie Anm. 22), 147. 63 Vgl. PRIESCHING, Maria von Mörl (wie Anm. 14), 256–260.

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leistung verstehen. So sahen einige Besucher in Maria von Mörl eine „Heilige“, deren Leiden im katholischen Sinne für das Seelenheil verdienstvoll war. Adolph Kolping (1813–1865) etwa schrieb 1841 nach seinem Besuch bei ihr: Ja, auch ich kann sagen, ich habe eine Heilige gesehen, und wenn ihre Nähe auch auf andere heilsam wirkt, so glaube ich, daß ich nicht umsonst an ihrem Lager gestanden und ihre Leiden annäherungsweise mitgefühlt habe64. Ein weiterer Aspekt wäre die Frage, inwiefern auch die „stummen“ Stigmatisierten als Prophetinnen wirkten und welche Rolle die Beichtväter dabei spielten65. Otto Weiß hat den äußerst interessanten Fall der Seherin Luise Beck aufgearbeitet, bei dem sich die Marienbotschaften als Ergebnis einer symbiotischen Beziehung zwischen Luise Beck und ihren Beichtvätern fassen lassen66. Diese Luise Beck war eine enge Freundin der bereits alten Maria von Mörl67. Beide Frauen waren in Wesen und Temperament sehr unterschiedlich, gehören aber beide unter den Mystikerinnen des 19. Jahrhunderts zum Typus „ekstatische Jungfrau“. P. Kapistran hatte die Mörl in ihren jungen Jahren wie eine Seherin behandelt, wie sein Tagebuch zeigt. Er befragte sie immer wieder über Ereignisse und Mitmenschen und war offenbar davon überzeugt, über sie himmlische Botschaften zu empfangen. Ihre Reaktionen darauf wären näher zu untersuchen. Irgendwann hörten seine Nachfragen auf. Warum? Auf Druck von außen oder auf ihren Wunsch hin? Kann das als Widerstandsakt ihrerseits gewertet werden, oder lag dem ein Erkenntnisprozess des Beichtvaters zu Grunde? Das ist aus den Quellen nicht eindeutig zu entnehmen.

5. Fazit: Ein neuer Typus von Mystikerinnen im 19. Jahrhundert Maria von Mörl kann als repräsentative Vertreterin eines im 19. Jahrhundert neu entstehenden Typus von Mystikerinnen betrachtet werden, den ich mit den Zeitgenossen als „ekstatische Jungfrau“ bezeichnen möchte. Wie ist dieser Typus zu charakterisieren?

64 Kolping hatte in Neumarkt am 10. September 1841 in seinem Reisetagebuch den Eindruck festgehalten, den der Besuch bei Maria von Mörl am Freitag den 9. September 1841 auf ihn gemacht hatte. Freitags erlebte die Mörl immer die Passionsekstase. Adolph Kolping [über Maria von Mörl (10. September 1841), in:], Adolph-Kolping-Schriften, Kölner Ausgabe, Bd. 1, hg. v. Hans Joachim KRACHT, Köln 1975, 142f. u. 179f., Zitat 143. 65 Durch die Edition des Tagebuchs Kapistrans kann dies nun im Falle der Mörl besser nachvollzogen werden. Meist ist für eine Beurteilung der Beichtväter die Quellenlage sehr schwierig. Es gibt im 19. Jahrhundert eine publizistische Polemik gegen Beichtväter, so zum Beispiel Theodor GRIESINGER, Die heilige Maria von Mörl oder das glaubenstreue Tyrol. Ein Beitrag zur Kenntnis des jesuitischpfäffischen Theaterapparats, Stuttgart 1868. Inwiefern die Polemiken gegen Beichtväter auch sachliche Grundlagen enthielten, wäre zu überprüfen. 66 WEISS (wie Anm. 7), 552–652. 67 Zu dieser Freundschaft siehe ebd., 663–671; PRIESCHING, Maria von Mörl (wie Anm. 14), 175–187, 204–234, 238–243.

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Zunächst einmal standen auch die Mystikerinnen des 19. Jahrhunderts in einer langen Tradition. Wir finden bei ihnen zum Beispiel Elemente der mittelalterlichen Brautmystik und auch Elemente der ebenfalls nicht neuen Leidensmystik. Schon im frühen Mittelalter galt „die Berührung mit Christus im Leiden […] als eine Vorübung oder gar als eine Form der unio mystica, die Übereinstimmung im Leiden bereitete die Angleichung des Wesens vor“68. Harte Selbstkasteiungen finden sich in vielen Heiligenviten. Bei der Frage nach dem „Neuen“ ist insofern mehr auf eine Mischung traditioneller Elemente zu achten, die vielleicht für das 19. Jahrhundert als typisch angesehen werden kann: 1. Vor dem moralischen Tugendkatalog der Zeit wurden die Mystikerinnen des 19. Jahrhunderts vor allem auf die drei Standestugenden für Jungfrauen, das heißt für ledige Frauen, eingeschworen: Demut, Keuschheit und Gehorsam. Dies klingt wie eine Abwandlung der drei klassischen Mönchsgelübde Armut, Keuschheit und Gehorsam. Die Armut schwang in spiritualisierter Form, wie oben gezeigt, auch noch im Erwartungshorizont mit. Doch wurden diese drei „Tugenden“ in konkrete Verhaltensvorschriften für die Jungfrauen umgesetzt, die sich in einer leiblichen Frömmigkeit ausdrückten: Selbstgeißelungen – manchmal sogar geißeln lassen wie bei der Mörl –, die Körperhaltungen auf dem Bett, die dann bei den Mystikerinnen wiederum als bestimmte mystische Erscheinungsbilder gedeutet werden konnten. Das Leben als keusche Jungfrau galt als besonders verdienstvoll auf dem sogenannten Weg zur Heiligkeit. Viele suchten den traditionellen Weg der ledigen Frau ins Kloster, viele wurden aber wegen ihrer Leiden nicht aufgenommen und wirkten außerhalb. In jedem Fall kann als ein Merkmal dieses Mystikerinnentypus festgehalten werden, dass es sich um „ekstatische Jungfrauen“ handelte, wobei unter Ekstasen verschiedene körperliche Begleiterscheinungen der Mystik zu verstehen sind. 2. Mystik steht stets in der Spannung zwischen Emanzipations- und Instrumentalisierungspotential. Die Mystiker(innen) stehen in unmittelbarer Verbindung mit dem Göttlichen. Ihre Frömmigkeit musste seitens der Kirche notwendigerweise vor dem Hintergrund der katholischen Lehre bewertet und kontrolliert werden. Mystiker(innen) sind nur dann Mystiker(innen), wenn sie als solche anerkannt werden. Das Spannungsfeld zwischen Mystik und kirchlicher Kontrolle konnte jedoch auch für die kirchliche Frömmigkeit inspirierend wirken, gerade dann, wenn festgefahrene Strukturen über mystisch inspirierte Texte aufgebrochen wurden. Heute erfreuen sich oft gerade die Mystiker(innen) großer Beliebtheit, die mit ihren kirchlichen Instanzen Konflikte austrugen. Die Mystikerinnen des 19. Jahrhunderts erscheinen demgegenüber als domestiziert und kontrolliert. Sie verzichteten auf eigene Texte. Sie fügten sich ihrem Schicksal, nachdem sie zum Austragungsort des Kampfes zwischen himmlischen und dämonischen Mächten geworden waren, und gestalteten ihre Rolle nach den vorgegebenen Möglichkeiten. Frauen, die sich dem 68 STÖRMER-CAYSA (wie Anm. 51), 150.

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Gehorsam nicht beugten – wie zum Beispiel Krescentia Nigglutsch aus Tscherms –, wurden rasch als nicht demütig genug bewertet und verloren ihre Reputation als „echte“ Mystikerin. Der Typus von Mystikerinnen war also von großer Passivität gekennzeichnet. 3. Am Ende ist es vielleicht leichter zu sagen, was die Mystikerinnen des 19. Jahrhunderts nicht waren: Sie waren weder Dichterinnen noch Intellektuelle. An die Tradition einer intellektuellen Mystik wurde im 19. Jahrhundert bewusst nicht angeknüpft. Man denke nur an die Texte des mittelalterlichen Dominikaners und Mystikers Meister Eckhart (1260–1328), denen zufolge Gott wesentlich mit dem Intellekt zu tun haben musste. Das Wichtigste und Höchste für den Menschen war nach Eckhart seine Gottebenbildlichkeit. Das Bild Gottes stelle sich in der Seele unvermittelt her und werde nicht erzeugt. Es sei wesentlich göttlich, aber nicht Gott. Es sei unbedingt vernünftig. Mystik bedeutet hier die Bewahrung der Vernunft vor ihrer Instrumentalisierung. Die Vernunftmystik ist im 13. Jahrhundert auch Kritik an der instrumentalisierenden Vernunft einer eingerichteten Welt und einer streitsüchtigen Kirche69. Diese Traditionslinie steht im größten Kontrast zur kirchenpolitisch den Ultramontanismus – als die dominante Strömung innerhalb des deutschen Katholizismus – fördernden Mystik des 19. Jahrhunderts. Man könnte insofern festhalten, dass der neue Typus von Mystikerinnen in seiner gesellschaftlichen Funktion antiaufklärerisch war und durch eine starke Betonung der körperlichen Begleiterscheinungen das Gefühl gegen den Verstand setzte. Der hier beschriebene Typus von Mystikerinnen deckt freilich nicht die ganze Bandbreite der Mystik des 19. Jahrhunderts ab. Es mag auch Frauen und vereinzelt Männer gegeben haben, die mittels des hier beschriebenen Modells nur teilweise oder gar nicht erfasst werden können70. Inwiefern die Mörl stilbildend für diesen Typus war, wäre weiter zu untersuchen. Die Orientierung an ihr hatte zunächst vor allem pragmatische Gründe. Sie wären im Laufe weiterer Studien über andere Frauen dieses Typus zu hinterfragen. Auch regionale Unterschiede wären noch stärker zu berücksichtigen. Eine abschließende Beurteilung ist vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Forschungslage nicht möglich. Wenn es dennoch gelungen sein sollte, einen Typus von Mystikerinnen des 19. Jahrhunderts zu beschreiben, den der – wesentlich durch körperliche Zeichen der Heiligkeit ausgezeichneten – „ekstatischen Jungfrau“, der in der Wahrnehmung der Zeitgenossen das Bild von Mystik nicht unmaßgeblich geprägt hat, dann wäre dies ein erster Schritt für weitere vergleichende Forschungen zu diesem frömmigkeitsgeschichtlichen Thema.

69 Ebd., 137. 70 Zu erwähnen wäre zum Beispiel eine Therese von Lisieux (1873–1897). Von ihr gibt es zahlreiche Schriften, zum Beispiel: THÉRÈSE DE L’ENFANT JÉSUS, Selbstbiographische Schriften. Authentischer Text (Lectio spiritualis 1), nach d. v. FRANÇOIS DE SAINTE-MARIE bes. u. komm. Ausg. ins Dt. übertr. v. Otto ISERLAND u. Cornelia CAPOL. Geleitw. v. Hans Urs von BALTHASAR, Einsiedeln, Trier 111988.

2. DIMENSIONEN DES KÖRPERINNEREN – EINDRINGLICHKEIT DER ZEICHEN

INNERE SCHAU UND/ODER NABELSCHAU – BLICKE AUF DIE NAHRUNGSABSTINENTEN DER FRÜHEN NEUZEIT Waltraud Pulz

Langwährende Nahrungslosigkeit im Sinne einer totalen Abstinenz von „irdischer“ Speise wurde in Spätmittelalter und Früher Neuzeit vor dem Hintergrund eines mystisch gefärbten hagiographischen Modells als Charisma und körperliches Zeichen der Heiligkeit gedeutet. In den letzten Jahrzehnten hat sich die Forschung mehrfach und aus unterschiedlichen Perspektiven mit diesem Phänomen befasst1. Dass Nahrungslosigkeit bzw. die ausschließliche Ernährung von eucharistischer Speise immer wieder und fast ausnahmslos Frauen zugeschrieben wurde, dass „heilige“ Frauen extreme Nahrungsabstinenz in Orientierung an vorgängigen Mustern praktizierten und/oder simulierten, wurde mehrfach hervorgehoben; beleuchtet wurde vor dem Hintergrund der Konkurrenz religiöser und naturphilosophischer Deutungen auch die Rolle der Ärzte, die im 16. Jahrhundert in Fällen von (vorgeblicher) Totalabstinenz seitens der Obrigkeit herangezogen wurden – zur Überprüfung, nicht zur Heilung. Noch nicht gesondert ins Blickfeld gerückt wurden allerdings die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bilddarstellungen, die von den mit göttlicher Speise genährten Frauen überliefert sind. Ich denke hier insbesondere, aber nicht nur an eine Reihe von illustrierten Flugblättern des 16. und frühen 17. Jahrhunderts. In diesem Medium, das sich durch ein komplexes Geflecht aus Bild und Wort auszeichnet 2, wird mehrfach und mit detaillierten biographischen Angaben – zumeist Name, Alter, Wohnort, sozialer Kontext – von zeitgenössischen Frauen berichtet, durchweg religiöse Laien aus dem deutschen Sprachraum, die z. T. über Jahrzehnte nichts gegessen und getrunken haben sollen. Die Texte beleuchten die Umstände zu Beginn der behaupteten Totalabstinenz, genau beschrieben und gedeutet finden sich auch die körperlichen 1

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S. hierzu Waltraud PULZ, Nüchternes Kalkül – Verzehrende Leidenschaft. Nahrungsabstinenz im 16. Jahrhundert (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 64), Köln, Weimar, Wien 2007, 3–10. Explizit genannt sei die innovative Studie von Caroline Walker BYNUM, Holy Feast and Holy Fast. The Religious Significance of Food to Medieval Women, Berkeley, Los Angeles 1987. Zur Definition des illustrierten Flugblatts s. Wolfgang HARMS / Michael SCHILLING, Zum illustrierten Flugblatt der Barockzeit, in: Illustrierte Flugblätter des Barock. Eine Auswahl (Deutsche Neudrucke, Reihe: Barock 30), hg. v. Wolfgang HARMS, John Roger PAAS [u. a.] Tübingen 1983, VII–XVI; Wolfgang HARMS, Einleitung, in: Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts, hg. v. DEMS., I. Die Sammlung der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel. Kommentierte Ausgabe, 1: Ethica. Physica, Tübingen 1985, VII–XXX.

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und geistigen Begleiterscheinungen sowie die Reaktionen der gesellschaftlichen Umgebung. Angesichts dieser konkreten Informationen, die durch andere Quellen, z. T. durch auf persönlicher Beobachtung beruhende medizinische „Fallgeschichten“ (observationes), erhellt und ergänzt werden können, mag es zunächst befremden, dass die graphisch formulierten Aussagen der Blätter nicht selten auf Unsichtbares, auf eine sinnlich nicht wahrnehmbare Wirklichkeit zu zielen scheinen. Es fällt auf, dass die abgebildeten Frauen – es handelt sich hier zumeist um einen Typus, nicht um individuelle Züge wiedergebende Darstellungen – trotz langwährender Totalabstinenz gewöhnlich keineswegs ausgezehrt wirken3. Die einschlägigen Texte bestätigen diesen Eindruck. So wird etwa in der Überschrift eines ins Jahr 1574 datierten Blatts (Abb. 1) mitgeteilt, dass sich die zehnjährige Barbara Kremers (um 1563–?) aus Unna seit Monaten ohn speise vnd tranck am Leben erhalte. In der Folge wird dann betont, es sei zuuorwundern das dis Kind ohn speise vnd tranck noch leben kan / vnd alle seine farbe vnd schönheit behalten / an seinen lippen vnd beiden wangen / wie ein Milch vnd Blut so schön bleiben soll / als ein Mensch der nie kranck gewesen / vnd darzu den besten tisch hette vnd die edelste Kost vnd tranck teglichen genösse vnd gebrauchte das lasse mir ein gross Gottes wunder sein4. Auch Catharina Binder (um 1557–?), die jahrelang nichts gegessen haben soll, war dem Bericht der eingesetzten Untersuchungskommission zufolge zur Verwunderung ihrer Eltern wol bey Leib vnd volkommen5. Ähnliche „Speisewunder“ waren in der Frühen Neuzeit vom Spätmittelalter her vertraut. Im Zusammenhang mit der seit dem 14. Jahrhundert wachsenden Bedeutung eucharistischer Frömmigkeit waren sie zum einen Ausdruck des Wunsches (wie auch des Verbots)

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Im Folgenden wird exemplarisch eines dieser Blätter vorgestellt; für weitere Bildbeispiele verweise ich auf meine in Anm. 1 angeführte Monographie, in der ich auf die hier im Vordergrund stehenden Aspekte nicht näher eingehen konnte. Eine vberaus Wunderliche Historia vnd Geschichte / wie Gott der Herr in vorgangnem vnd jetzigem 74. Jare / ein junges Megdelein / ohn speise vnd tranck / etzlige Monden lang / beim leben erhalten hat vnd noch erhalten thut, Dortmund [1574]. Standort: Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung: PAS II 11/5. Beim Anführen frühneuzeitlicher Texte beschränke ich mich auf die bibliographisch notwendigen Angaben. Was Veränderungen der ursprünglichen Textgestalt betrifft, so werden diese möglichst gering gehalten, da sie in den meisten Fällen mehr Probleme aufwerfen als lösen. Unvermeidlich ist die Wiedergabe von Fraktur durch Antiqua, wobei ich darauf verzichte, jene Textteile, die im Original aufgrund ihrer Fremdsprachigkeit in Antiqua gesetzt sind, eigens hervorzuheben; sz gebe ich stets durch ß, übergeschriebenes e durch zwei Punkte und die e caudata durch ae wieder. Angesichts meiner Zielsetzung werden auch Ligaturen und eindeutige Kürzungen stillschweigend aufgelöst. Gründtlicher Bericht vnd Anzeig Einer warhafften Histori / welcher massen zu Schmidtweyler [...] ein Mägdlin siben Jahr lang weder gessen noch getruncken / vnd doch von Gott wunderbarlicher weyß bey Leben erhalten worden. Auß Befelch der Oberkeit / damit menniglich die Wunderwerck Gottes zu behertzigen / vnd ihne darfür zu preisen Vrsach habe / Jn offnen Truck verfertiget, Heydelberg 1585: Jacob Müller, A3r.

Innere Schau und/oder Nabelschau

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Abb. 1: Wunderbare Speisung der Barbara Kremers durch die Taube des Hl. Geistes (1574), Zürich, Zentralbibliothek

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hinsichtlich eines häufigen Empfangs der Kommunion; zum anderen bewiesen sie die Realpräsenz Christi im Sakrament6. Das erwähnte Flugblatt über den „Fall“ Barbara Kremers knüpft hier an: Das Mädchen habe sich vmb Mitfasten, um Lätare also des Jahres 1573, etwa 14 Tage lang aller jrdischen speise vnd trancks enthalten. Auf die Frage der Eltern, warum es nicht esse / hat es geantwortet / Gott wer das bekent / der es wol wüste zuerhalten / das keine jrdische speise bedürffte / vnd hat bekandt wie alle Mittage vnd Abends eine schnee weisse Taube zu jm geflogen keme (welche doch niemandt sehe denn das Kind alleine) die brechte jhm / im schnabel etwas süsses: dauon jm aller hunger vnd durst vorgienge / darumb es keiner andern speise nach trancks bedürffe7. Die Taube wurde auf dem Flugblatt ins Bild gesetzt. Die Botschaft von der Interaktion zwischen körperlicher und geistiger Sinnlichkeit wird auf diese Weise eindrücklich vor Augen geführt. Barbara Kremers wird von Gott, vom in der Taube figurierten Hl. Geist, nicht durch jrdische speise genährt, sondern durch etwas süsses, womit traditionsgemäß weniger eine sinnlich wahrnehmbare denn eine theologische Qualität bezeichnet wird8. Die Süße des göttlichen Wortes wird in den Psalmen (118,103) gepriesen; diese Bildlichkeit wurde in der christlichen Spiritualität und Mystik aufgegriffen und weiterentwickelt. Über die Spiritualisierung des Geschmacksinns wurde die Erfahrung einer besonders innigen Verbundenheit, ja Verschmelzung mit Gott ausgedrückt. Das Kreatürliche vermag die Seele jedoch an der Vereinigung mit Gott zu hindern. Barbara Kremers, die keiner jrdischen speise bedurfte und – damit einhergehend – aufgrund eines Verschlusses der unteren Körperöffnungen9 von allem Leiblichen gereinigt war, ist indes frei von fleischlichen Begierden. Ihre privilegierte religiöse Erfahrung besteht aber nicht – im Text scheint immer wieder die Tradition der Frauenmystik des 12. und 13. Jahrhunderts durch – in einer rein geistigen Erkenntnis, Geistiges und Sinnliches durchdringen sich wechselseitig in der imaginären Schau. Auf den Einbruch des Ewigen in die eigene Gegenwart folgten schwere Krankheit und monatelanger Sprachverlust. Vor dem Hintergrund der Enthaltung von materieller Nahrung und der wunderbaren Speisung waren auch diese Erscheinungen körperlich erbrachte 6

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S. hierzu Peter BROWE, Die eucharistischen Speisewunder des Mittelalters (1928), in: DERS.: Die Eucharistie im Mittelalter. Liturgiehistorische Forschungen in kulturwissenschaftlicher Absicht (Vergessene Theologen 1), mit einer Einf. hg. v. Hubertus LUTTERBACH u. Thomas FLAMMER, Münster, Hamburg, London 2003, 213–218; Joseph DUHR, Communion fréquente, in: Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique. Doctrine et histoire, T. 2, Paris 1953, insbes. 1260ff. Eine vberaus Wunderliche Historia (wie Anm. 4). Vgl. Friedrich OHLY, Süße Nägel der Passion. Ein Beitrag zur theologischen Semantik, in: Collectanea Philologica. Festschrift für Helmut Gipper zum 65. Geburtstag (Saecula spiritalia 15), hg. v. Günther HEINTZ u. Peter SCHMITTER, Bd. 2, Baden-Baden 1985, 403–613, hier: 477ff. u. 536ff. Dem Flugblatt zufolge hat man der warheit zu gutte das Megdelein durch verordnete Personen / allenthalben besichtigen lassen / vnd ist befunden / das es an geheimen örten beiderseits verwachsen / daraus zu spüren das es keine jrdische speise geniessen mus / vnd wie es der keine zu sich nimpt / also auch von jm wiederum nichtes kömmet. Eine vberaus Wunderliche Historia (wie Anm. 4).

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Beweise einer Heiligkeit, die sich nicht auf das Wort beschränkte. Das Unsagbare entfaltete gleichwohl oder gerade deshalb große Wirkung. In der Zeit ihres Verstummens soll sich Barbara Kremers schriftlich geäußert haben, und mit den einschlägigen Utensilien wurde sie – das erhöhte die Plausibilität – dann auch abgebildet. Sie habe das alte vnd newe Testament fur sich genommen / darinne gelesen / vnd solche wunderware ding von Gott dem grösten vnd Allerheiligsten Gottes wercken / des geschehen vnd noch künfftig geschehen sollen / mit solchen grosten [!] trefflichen vnd mechtigen worten geschrieben / das sie gar manchen Christen Menschen der nur solches hat hören lesen / damit eingenommen / vnd vieler Hertzen also erweichet das sie darüber geweinet / vnd sich solcher hoher vnd mechtiger dinge die Gott durch sein Kindt hat offenbaren lassen / verwundern müssen10. Barbara Kremers’ „Totalabstinenz“ ist kein gewöhnliches Fasten, sondern eine Ersetzung „irdischer“ durch spirituelle Speise. Sie basiert nicht auf asketischer Selbstdisziplin und mortificatio, ist vielmehr eine unabhängig von menschlichem Verdienst und Wollen verliehene göttliche Gnadengabe. Im Mittelpunkt der Darstellung stehen die zentralen Medien der Heilsvergewisserung, Schrift und Sakrament, von denen sich das Mädchen gleichermaßen nährt. Wie auch in anderen Schilderungen von „Fastenwundern“11 wird dabei auf Dt 8,3 bzw. Mt 4,4 verwiesen: Der Mensch lebet nicht von Brodt alleine / sondern von einem jetzlichen wort das durch den mund Gottes gehet. Barbara Kremers, sprechender Körper und lebende Bibel, verkündete das Wort in der Sprache des Körpers und der Heiligen Schrift, welche sie sich einverleibte und verkörperte, ebenso wie die durch die Taube des Heiligen Geistes gereichte göttliche Nahrung. Es ist ganz buchstäblich 10 Ebd. 11 Die Begriffe Fasten und Fastenwunder, die sich in der Forschung für die im Folgenden diskutierten Erscheinungen eingebürgert haben, sind problematisch: Sie erlauben nämlich keine Unterscheidung zwischen dem Fasten (jejunium) als willentlicher Askeseleistung und einer z. T. „natürlichen“ Ursachen zugeschriebenen Abstinenz von „äußerer“ Nahrung, z. T. aber auch als unverdiente Gnadengabe gedeuteten materiellen, nicht jedoch spirituellen Nahrungslosigkeit. Auch dort, wo es sich um unterschiedliche Aspekte desselben Phänomens, der Aufladung von Nahrung bzw. Nahrungsabstinenz mit religiöser Bedeutung, handelt, werden diese im zeitgenössischen Sprachgebrauch selten vermischt. Die für die causae naturales zuständigen Mediziner ziehen ohnehin den neutralen Terminus inedia dem religiös konnotierten jejunium vor. Nur scheinbar eine Ausnahme bildet das zuerst 1577 erschienene Werk des Arztes Johannes WIER, De lamiis liber: item de commentitiis jejuniis, in: DERS., Opera omnia, Editio nova, Amstelodami 1660, 667–769; da Wier hier von der simulierten und zur Schau gestellten Nahrungsabstinenz spricht, erscheint ihm, der sich aufgrund seiner religiösen Orientierung gegen die verschiedenen Formen von Werkfrömmigkeit und Veräußerlichung wendet, der Begriff jejunium wohl passend. Indes erscheint das Kompositum Fastenwunder durch sein Grundwort geeignet, auf einen göttlichen Eingriff zu verweisen; eindeutig ist diese Beziehung allerdings nicht, da unter Wunder sowohl ein miraculum als auch ein mirabile verstanden werden kann. Dieses Oszillieren des Begriffs bietet zwar den Vorteil, die zwischen der Rückführung auf natürliche und nichtnatürliche Ursachen, zwischen heiliger Scheu und Neugier schwankende Haltung der Zeitgenossen zu erfassen, aufgrund seiner mangelnden Präzision verwende ich den Terminus jedoch allenfalls in Distanz signalisierenden Anführungszeichen.

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eine Gabe des – von CharismatikerInnen mit Vorliebe herangezogenen und von der Amtskirche stets ein wenig in den Hintergrund gedrängten – Hl. Geistes, die Barbara Kremers nährt; gratia infusa erleuchtet sie, macht sie zur weisen Jungfrau, zur exegetisch begabten Prophetin, zur Seherin. Als Erleuchteter wird ihr die Gnade der Schau Gottes zuteil, ihr Blick ist auf die Heilswahrheiten, das GeistigGeistliche und Unsichtbare gerichtet, während die körperlichen Augen der sie umgebenden Personen nur körperliche Gegenstände, nicht aber die Essenz der Dinge wahrnehmen können. Durch das Wort Gottes genährt – ein deutlicher Hinweis auf das Mysterium der Inkarnation und die christliche Vergottung des Menschen –, hat Barbara Kremers Gott in sich, materialiter. Der Mensch ist, was er ißt12 – das berühmte Diktum Feuerbachs lässt Zusammenhänge aufscheinen, um die man auch in der Naturphilosophie der Frühen Neuzeit wusste, vor dem Hintergrund der Lehre von den Beziehungen zwischen Makro- und Mikrokosmos13. Eucharistische Wunder, Erscheinungen, die dem „Fall“ Barbara Kremers ähneln, sind insbesondere in der Vita der hl. Katharina von Siena (1347–1380) belegt, die hinsichtlich der Ersetzung „irdischer“ durch spirituelle Speise zum Modell wurde; Katharina soll durch 50-tägige Nahrungsabstinenz die biblischen Beispiele 40-tägigen Fastens übertroffen haben14 – ein Versuch, die Unerreichbarkeit des Göttlichen, die aufgrund der Zwei-Naturen-Lehre unmögliche imitatio Christi, 12 Die Formulierung findet sich zunächst in Feuerbachs Rezension von Jac[ob] MOLESCHOTT, Lehre der Nahrungsmittel. Für das Volk, Erlangen 1850, taucht allerdings andeutungsweise schon in den Arbeiten zur Unsterblichkeitsfrage auf. Vgl. Ludwig FEUERBACH, Die Naturwissenschaft und die Revolution, in: DERS., Gesammelte Werke, hg. v. Werner SCHUFFENHAUER, 10, Berlin 1971, 367; DERS., Die Unsterblichkeitsfrage vom Standpunkt der Anthropologie, in: Ebd., 230. Erst nach einem guten Jahrzehnt sah sich der Philosoph veranlasst, dem Wortspiel eine Abhandlung zu widmen, zu deren Beginn er auf das antike Wissen und die unterschiedlichen Speisen von Göttern und Menschen bei Homer Bezug nimmt. Ein die hier skizzierten Zusammenhänge erhellender Passus sei an dieser Stelle wiedergegeben: Gott ist, was er ißt; er ißt Ambrosia, d. h. also Unsterblichkeit oder unsterbliche Speise, also ist er ein Unsterblicher, ein Gott; der Mensch dagegen ißt Brot, ißt Früchte der Erde, also Irdisches, Nicht-Ambrosisches, Sterbliches, also ist er ein Mensch, ein Sterblicher. Ludwig FEUERBACH, Das Geheimnis des Opfers oder Der Mensch ist, was er ißt, in: DERS., Gesammelte Werke 11, 1982, S. 28. 13 So formuliert etwa Paracelsus: [...] so ist hierauf zuwissen, das ein ietlich ding seins gleichen annimpt. dan wo der mensch nicht dermaßen gemacht wer aus dem ganzen kreis, aus allen stucken, so möchte er nit sein die klein welt, so möcht er auch nicht fehig sein anzunemen, was in der großen welt wer. dieweil er aber aus ir ist, alles das das er aus ir isset, dasselbig ist er selbst [...] also auf das folget, aus dem er gemacht ist, aus dem muß er leben. Theophrastus PARACELSUS, Sämtliche Werke, hg. v. Karl SUDHOFF, [Abt. 1] Bd. 9, MünchenPlanegg 1925, 94. 14 Auch Katharina von Siena wird in Verbindung zu einer weißen Taube gebracht, wie Barbara Kremers soll sie ein ungewöhnliches, ein „heiliges“ Kind gewesen sein, das im Alter von sieben Jahren die Reife einer Siebzigjährigen besessen habe; und auch im Katharinenmodell wird die Nahrungsenthaltung bzw. Sättigung durch das Sakrament als Gabe des Hl. Geistes und – von Ärzten beglaubigtes – Wunder dargestellt. Vgl. RAIMUNDUS de Capua, Vita S. Catharinae Senensis, in: Acta Sanctorum Aprilis, Tom. 3, Antuerpiae 1675, 30. Apr., 853–959, hier: 861ff., 866ff. u. 896; Il processo Castellano, a cura di M[aria]-H[yacinthus] LAURENT, con appendice di documenti sul culto e la canonizzazione di S. Caterina da Siena (Fontes vitae S. Catharinae Senensis historici 9), Milano 1942, 34.

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durch aemulatio zu überwinden. Von einer weißen Taube soll ihrer – durch die Aufnahme in die ‚Legenda aurea‘ überaus verbreiteten – Legende zufolge auch die hl. Katharina von Alexandrien (3./4. Jh.), die als Patronin der TheologInnen und PhilosophInnen in den Frauenklöstern des späten Mittelalters besonders verehrt wurde, während ihrer Kerkerhaft mit himmlischer Speise gestärkt worden sein15. Von der hl. Elisabeth von Schönau (um 1129–1164) ist überliefert, sie habe die Taube des bei der Wandlung gegenwärtig geglaubten Hl. Geistes in ihrem Kloster zu Pfingsten die Kommunion austeilen sehen; auch zur sel. Alpais von Cudot († 1211) kam „der Gott in der Taube“, und der sel. Ida von Leuven (1220/30–um 1300) hatte eine wiederum schneeweiße Taube Leib und Blut Christi gereicht16. Nicht immer muss es die Taube sein, die göttliche Nahrung spendet. Der Magdalenenlegende zufolge, an die sich das Katharinenmodell anlehnt17, soll die als Eremitin in einer Höhle lebende Magdalena – jeweils zu den sieben Gebetstunden – von Engeln in den Himmel entrückt und mit göttlicher Nahrung gespeist worden sein (Abb. 2)18. Von der sel. Veronica von Binasco (1445–1497) und der sel. Columba von Rieti (um 1467–1501), zwei sante vive, die auf der italienischen Halbinsel gelebt haben, sind uns Darstellungen überliefert, auf denen die Kommunion durch einen Engel oder durch Christus gereicht wird (Abb. 3 und 4)19. Auf anderen Bildern spendet eine Hand Columba von Rieti das Sakrament vom Himmel herab (Abb. 5); angelehnt an eine Schilderung in der von Sebastiano Angeli († 1521) verfassten und in die ‚Acta Sanctorum‘ aufgenommenen Vita wurde darüber hinaus die Realpräsenz Christi im Sakrament sichtbar gemacht, indem Columba aus dem Tabernakel das in der Hostie leibhaft präsente Kind entgegenfliegt (Abb. 6), changierend zwischen Brot und Gott – Brot und Gott

15 Vgl. Gertrud Jaron LEWIS, By Women, for Women, about Women. The Sister-Books of Fourteenth-Century Germany (Pontifical Institute of Mediaeval Studies: Studies and Texts 125), Toronto 1996, 119. 16 Nachweise bei Peter BROWE, Die eucharistischen Wunder des Mittelalters (Breslauer Studien zur historischen Theologie, N.F. 4), Breslau 1938, 15f. In seiner auf das Mittelalter begrenzten Darstellung stellt der Verfasser fest, dass diese Taubenwunder nach 1250 kaum mehr anzutreffen seien. Vgl. ebd., 16. 17 Katharina von Siena wurde von ihrem Beichtvater und Hagiographen Raimund von Capua als altera Maria Magdalena bezeichnet. RAIMUNDUS de Capua (wie Anm. 14), 884. 18 Bildliche Darstellungen der elevatio mit Engelskommunion sind eher selten. Das wiedergegebene Altarbild (um 1460) von Antonio del Pollaiolo (um 1432–1498) – die Spuren der Askese, hier Bußleistung und Entsagung, sind nicht gänzlich getilgt – befindet sich im Museo della Pieve von Staggia Senese. Aufgrund des Schwebens zwischen Himmel und Erde, der Osmose zwischen Heiligem und Profanem, der Humanisierung des Sakralen und Sakralisierung des Menschlichen, hat es bereits die Einladung und das Programm zu der diesem Band vorausgegangenen Tagung geschmückt. 19 G. Zarri, der ich den Hinweis auf diese zwei Darstellungen verdanke, spricht in beiden Fällen von durch Engel gereichter Kommunion, übersieht jedoch im Fall von Veronica von Binasco das Spruchband (ACCIPE CORPVS MEVM FILIA MEA), woraus eindeutig hervorgeht, dass es Christus ist, der hier die Kommunion spendet. Vgl. Gabriella ZARRI, Le sante vive. Cultura e religiosità femminile nella prima età moderna (Sacro/santo 2), Torino 1990, 106 sowie Fig. 6 u. 7.

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Abb. 2: Antonio del Pollaiolo, Elevation der Magdalena mit Engelskommunion (um 1460), Staggia Senese, Museo della Pieve

zugleich20. Gemeinsam ist den hier gezeigten Darstellungen die Visualisierung von Spirituellem, die bildliche Erschließung einer sinnlich nicht wahrnehmbaren, einer meta-physischen Wirklichkeit. Dabei wird nicht nur in der Abbildung der übernatürlichen Mächte, welche die göttliche Speise reichen bzw. sind, Unsichtbares sichtbar gemacht, sondern, wie an einem Beispiel gezeigt werden kann, auch in der Repräsentation der aufgrund der Materialisierung von Spirituellem (verbum caro factum est) wohlgenährt erscheinenden Frauen.

20 Acta Sanctorum Maii, Tom. 5, Antuerpiae 1685, 20. Mai, 319–398, hier: 332. Bildbeispiele finden sich bei Raffaele ARGENZIANO, Iconografia della beata Colomba a Perugia, in: Una santa, una città. Atti del Convegno storico del V centenario della venuta a Perugia di Colomba da Rieti, Perugia 10-11-12 novembre 1989 (Quaderni del Centro per il collegamento degli studi medievali e umanistici nell’Università di Perugia 24), a cura di Giovanna CASAGRANDE ed Enrico MENESTÒ, Spoleto 21991, Fig. 3, 4, 11 u. 13.

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Abb. 3: Marco d’Oggiono, Christus reicht Veronica von Binasco die Eucharistie (1518)

Die Techniken, die bei der Visualisierung des Visionsakts zur Anwendung kommen, sind unterschiedlich, aber keineswegs originell21. In der nicht nur die Titelrückseite des Werks von Isidoro Isolani (um 1480–um 1528) schmückenden, sondern dann auch dem Liber Septimvs. De frequenti sumptione Diuinae Eucharistiae vorangestellten Darstellung öffnet sich der Himmel, und Christus schwebt in eine Wolke gehüllt und von Engeln begleitet herab, um Veronica von Binasco mit eigener Hand (manu Saluatoris) die Eucharistie zu reichen (Abb. 3)22. Ein dieser

21 S. hierzu insbesondere die Arbeiten von Victor I. STOICHITA, Das selbstbewußte Bild. Vom Ursprung der Metamalerei, aus d. Franz. v. Heinz JATHO, München 1998; DERS., Das mystische Auge. Vision und Malerei im Spanien des goldenen Zeitalters, aus d. Franz. v. Andreas KNOP, München 1997. 22 Isidoro ISOLANI, Inexplicabilis mysterii gesta Beatae Veronicae Virginis praeclarissimi Monasterii Sanctae Marthae urbis Mediolani, Mediolani 1518, aa1v u. CIIIIv sowie CVv u. CVIIIr.

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Abb. 4: Amico Aspertini, Columba von Rieti empfängt die Kommunion von einem Engel (1521)

Graphik von Marco d’Oggiono (um 1475–um 1530) ganz ähnlicher, eventuell auch von ihr inspirierter Holzschnitt von Amico Aspertini (1474–1552), eine Engelskommunion (Abb. 4), findet sich wenig später in der – sehr freien – italienischen Übertragung von Sebastiano Angelis Vita der Columba von Rieti durch Leandro Alberti (1479–um 1552)23. Nicht so schwungvoll, aber keinesfalls weniger wunderbar geht es auf dem Flugblatt über Barbara Kremers zu (Abb. 1). Die 23 Leandro ALBERTI, Vita della beata Colomba da Rieto, Bologna 1521, 4v. S. dazu den Ausstellungskatalog Amico Aspertini, 1474–1552, artista bizzarro nell’età di Dürer e Raffaello, a cura di Andrea EMILIANI e Daniela SCAGLIETTI KELESCIAN, Milano 2008, 325f.

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Abb. 5: Giannicola di Paolo (?), Columba von Rieti empfängt die Hostie (Anfang 16. Jh.), Perugia, Galleria Nazionale dell’Umbria

Taube sitzt dort im – sie hervorhebenden wie auch abgrenzenden – Fensterrahmen, einem Ort des Übergangs, der Öffnung und Offenbarung, einem Durchbruch aus dem prächtig ausgestatteten Raum des Hier und Jetzt nach „draußen“, in eine Leere, die auf eine andere, jenseitige und daher nicht repräsentierbare Wirklichkeit verweist. Vor diesem Hintergrund versteht es sich von selbst, dass Barbara Kremers den Blick nicht auf die Taube richtet, die als inneres Bild, als (Re-)Präsentation des Heils, für die körperlichen Sinne unsichtbar ist. Durch die geistigen Augen wird dann naheliegenderweise auch die Protagonistin gesehen: wohlgenährt, märchenhaft schön und vornehm gekleidet spiegelt sie ihre Auserwähltheit.

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Abb. 6: Wunderbare Kommunion der Columba von Rieti (1777)

Wir wissen nicht, wie die Zeitgenossen die hier diskutierten Bilder sahen. Der Holzschnitt des Flugblatts gibt dazu allerdings, wie eben schon angedeutet, bildintern einen Hinweis: So wie die kontemplativ versunkene Barbara Kremers den Blick nach innen richtet, so sollen wohl auch die frommen BetrachterInnen das Unsichtbare jenseits des Sichtbaren wahrnehmen. Während „Eingebungen“ des Hl. Geistes heute aller Wahrscheinlichkeit nach kurzum als nach außen projiziertes inneres Erleben begriffen würden, schöpften Menschen des 16. Jahrhunderts, die immer wieder Hungersnot erfuhren, beim Anblick von wie das blühende Leben dargestellten Nahrungslosen vermutlich Hoffnung auf ein Speisewunder oder sahen in den abgebildeten Frauen einen tröstlichen Hinweis auf eine bessere Zukunft im Jenseits. Die Texte der einschlägigen Flugblätter legen derartige Deutungen nahe. So wird Barbara Kremers als gross Gottes wunder, als klarer vnd warer beweis und Bestätigung des Gottesworts in Psalm 36,19 präsentiert, dem zufolge Gott die Frommen auch in bösen Zeiten ernähren werde. Das wunderbare Geschehen war demnach ein untrügliches Zeugnis für die Wahrheit der Offenba-

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rung. Es sollte die allseits verbreiteten Ängste vor drohender Hungersnot lindern und das Durchhaltevermögen stärken. Neben dieser systemstabilisierenden Botschaft konnte das Beispiel – gestützt auf Dt 8,3 bzw. Mt 4,4 – freilich auch noch eine ganz andere Lehre vermitteln, nämlich die Notwendigkeiten und Mächte dieser Welt zu missachten und auf diese Weise in eine neue Ordnung einzugehen, die nicht von der Sorge um das tägliche Brot, um das Materielle, gekennzeichnet ist. Dass Barbara Kremers und ihre unmittelbare Umgebung einen anderen als den frommen Weg zur Linderung von Hunger und der Angst davor eingeschlagen haben könnten, vermuteten dem Arzt Johannes Wier (Weyer) zufolge nur wenige. Wier (um 1515–1588), einer der ersten und entschiedensten Gegner des Hexenund Zauberglaubens, hatte – nach einer Studienzeit bei Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486–1535) – in Paris und Orléans Medizin studiert und war um 1550 als Leibarzt in den Dienst Herzog Wilhelms (1516–1592) von KleveJülich-Berg berufen worden24. Nach eigener Aussage hat er den Berichten über Barbara Kremers von Anfang an keinen Glauben geschenkt, hielt die langwährende Nahrungslosigkeit für ein lautere Jmpostur vnd Beschiesserey25. Bereits im Dezember des Jahres 1573 hat er sich nach Unna aufgemacht, um die Angelegenheit zu erforschen. Er berichtet, dass die zehnjährige Barbara bei ihrer Mutter und deren drittem Ehemann lebe und der Mutter zufolge Anfang Februar schwer erkrankt sei, wochenlang nur ein wenig Wein, Bier und Milch zu sich genommen habe und schließlich auch verstummt sei. Im Oktober habe sie wieder zu sprechen begonnen, in der Folge aber weder gegessen, getrunken noch Ausscheidungen gehabt. Die Mutter habe die außerordentliche Frömmigkeit ihrer Tochter gepriesen und im Übrigen klargestellt, dass Überprüfungen durch hochgestellte Personen keinerlei Hinweise auf Betrug ergeben hätten. Wie der anonyme Verfasser des einschlägigen Flugblatts, so hebt auch Wier die frische Gesichtsfarbe des sich ihm auf Krücken präsentierenden Mädchens hervor, schließt daraus jedoch keineswegs auf ein Wunder. Barbaras Bauch schildert der Arzt dann auch als sehr dünne vnd eyngefallen, als sei jr der Nabel vnd Rückmeisel (wie dann die Mutter / daß es also were / fürgab) zusammengewachsen. Als Wier jr den Bauch zu begreiffen anfieng, habe das Mägdlein von stundt an gantz schrecklich geschrihen vnd sich [...] nicht wöllen begreiffen lassen. Die Mutter schwur zu allen Heyligen / es hette jre Tochter in etlichen Monaten keinerley Speiß noch Tranck zu sich ge24 Für die vita J. Wiers stütze ich mich vor allem auf die Darstellung von Rudolf van NAHL, Zauberglaube und Hexenwahn im Gebiet von Rhein und Maas. Spätmittelalterlicher Volksglaube im Werk Johan Weyers (1515–1588) (Rheinisches Archiv 116), Bonn 1983, 37ff. Der Verfasser hat die älteren Biographien untereinander und mit Wiers autobiographischen Angaben verglichen. 25 Johannes WIER, De lamiis. Das ist: Von Teufelsgespenst Zauberern vnd Gifftbereytern / kurtzer doch gründtlicher Bericht [...] Samt einem angehängten kleinen Tractätlein von dem falschen vnd erdichten Fasten [...] in vnsere gemeine Teutsche Sprach gebracht / Durch Henricum Petrum REBENSTOCK, Franckfort am Mayn 1586, 74. Im Folgenden beziehe ich mich stets auf den Traktat ‚Von dem falschen vnd erdichten Fasten‘, der Anschaulichkeit halber in seiner zeitgenössischen Übertragung, die jeweils mit dem lateinischen Original (‚De commentitiis jejuniis‘; s. oben, Anm. 11) verglichen wurde.

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nommen / hette auch gar nichts / weder durch Stulgang oder sonsten von sich gehen lassen26. Zur Begründung seiner Position greift Wier auf die hippokratischen Aphorismen zurück und vertritt die Auffassung, dass Heranwachsende, insbesondere Knaben, aufgrund ihrer Wärme mehr Nahrung brauchen als andere; ein Mädchen könne zwar wegen feuchter Körperbeschaffenheit durchaus eine Zeitlang ohne Nahrung auskommen, auf diese Weise jedoch nach einer auszehrenden Krankheit nicht zunehmen und aufblühen. Ausnahmen stellten lediglich gewisse vom Geist Gottes erleuchtete Personen dar, wobei die in diesem Zusammenhang stets genannten biblischen Beispiele 40-tägigen Fastens angeführt werden, von Moses über den Propheten Elias bis hin zu Jesus. Barbara Kremers sei indes nicht unter diese Exempel zu rechnen, sie sei nicht von dem Engel deß Tobiae geführet / sondern allein von dem Lügengeist […] getrieben vnd angeleytet worden27. Wier, der Barbara Kremers einige Tage bei sich zu Hause untersucht und bei dieser Gelegenheit als Betrügerin entlarvt hatte28, beobachtete und argumentierte damit auf der Basis zeitgenössischen medizinischen und theologischen Wissens. Vor diesem Hintergrund schloss er göttliche Eingriffe in die Natur keineswegs prinzipiell aus. Barbaras Verhalten führte er indes nicht auf eine Form leibhafter Nachfolge Christi und schon gar nicht auf eine – für einige Heiligkeitsmodelle charakteristische – Assimilation/Aufhebung von Gegensätzen zurück29, sondern auf den Lügengeist. Simulation wird von Wier als Teufelstrug begriffen, eine Deutung, die durchaus in Einklang mit seinem übrigen Werk steht, in dem er bekanntlich dem – auf natürlicher Basis agierenden – Teufel starken Einfluss zuschreibt. Der Arzt war also bemüht, zwischen einem übernatürlichen, d. h. göttlichen Wunder(zeichen) und dessen dämonischer Kontrafaktur zu unterscheiden; er hatte zwischen Natürlichem und Nichtnatürlichem zu differenzieren. Das war eine zu jener Zeit oft unlösbare Aufgabe, die sich keineswegs nur Wier stellte: Die Kategorie des Außernatürlichen (praeternaturalis), die von der Tradition her auf seltenes Naturgeschehen, sogenannte Naturwunder (mirabilia), wie auch auf das Wirken von Engeln oder Dämonen verwiesen hatte, nahm im 16. Jahrhundert an Umfang und Bedeutung zu und wurde – man denke z. B. an Wiers Betonung teuflischer Macht – immer enger mit dämonischen Aktivitäten verbunden30. Die Konsequenzen hat Lorraine Daston aufgezeigt: Die Beziehung des Außernatürlichen zu natürlichen wie auch zu übernatürlichen Erklärungen lockerte sich. Die als

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Ebd. Ebd., 75. Vgl. PULZ (wie Anm. 1), 78ff. Vgl. ebd, 168ff. Zum Problem der Unterscheidung von miraculum und mirabile in Sachen Nahrungsabstinenz s. Peter DINZELBACHER, Mirakel oder Mirabilien? Heilige und unheilige Anorexie im ausgehenden Mittelalter, in: Das Wunderbare in der mittelalterlichen Literatur (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 606), hg. v. Dietrich SCHMIDTKE, Göppingen 1994, 177–208, hier: 177ff. Zur zunehmenden Dämonisierung der Welt im 16. Jahrhundert s. etwa H[ans] C[hristian] Erik MIDELFORT, A History of Madness in Sixteenth-Century Germany, Stanford 1999, 51ff.

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außernatürlich klassifizierten Phänomene wurden zunächst als „wahre“, d. h. göttliche Zeichen in Frage gestellt und am Ende naturalisiert31. Neu im Hinblick auf den traditionellen Dualismus Gott–Teufel erscheint bei Wier dann auch die besondere Aufmerksamkeit, die er der Frage nach menschlichem Betrug widmet, am Ende seines Traktats noch einmal ganz prägnant: Alles nun was ich hierin vom Fasten geschrieben / ist nicht böser oder arger Meinung / wie etliche dencken mögen / von mir geschehen / sondern habe es allein dessenhalben gethan / daß / gleich wie ich in sechs Büchern die praestigias deß Teuffels inquisirt vnd außgeforschet / also auch auff denselbigen Betrug der Menschen desto fleißiger acht haben / vnd denselbigen beschreiben wöllen. Denn was das rechte Christliche Fasten anlanget / sol dasselbige in allem von mir in Ehren gehalten werden [...]32. Der Prozess der „Naturalisierung“ und „Humanisierung“ verlief freilich keineswegs geradlinig und widerspruchsfrei. Wie auch in den Schriften der Zeitgenossen stützt sich die Argumentation bei Wier auf eine Reihung äußerst heterogener Belege, die kaum miteinander konfrontiert werden. Von der totalitären Reduktion des Spezifischen und Ungewöhnlichen auf abstrakte universale Konzepte ist man noch weit entfernt. Ausgenommen von der etwas vagen Skepsis, die sich offenbar auf betrügerisches Fasten nicht durchschauende Berichte bezieht, bleibt das mysterium vnsers christlichen Glaubens33. Dieses wird durch die Fülle der humoraltheoretischen Erörterungen zwar deutlich an den Rand gedrängt, doch die Einheit zwischen Theologie und Naturphilosophie bleibt weitgehend erhalten. So ist Wier trotz des Selbstversuchs, bei dem er und sein Bruder mehrere Tage ohne Nahrungsaufnahme lebten, kein Vertreter der modernen Wissenschaft. Die Erfahrung wird bei ihm nicht zur dominierenden Erkenntnismethode und Basis von Theoriebildung, auch werden ihre subjektiven Bedingungen nur ansatzweise reflektiert. Das gilt auch für Wiers – z. T. ähnlich renommierte – Kollegen, welche die Obrigkeit in Fällen (vorgeblicher) Totalabstinenz regelmäßig heranzog. Hellhörig macht allerdings, dass sich die Bemerkung vom am Rückgrat angewachsenen Nabel in einem anderen Fall von ärztlich observierter Totalabstinenz gleich mehrfach wiederholt. Über die laut Eltern, Verwandten und Nachbarn seit Februar/März des Jahres 1601 totalabstinent lebende Bauerntochter Apollonia Schreier (um 1584–?) aus Gals im Berner Seeland berichtet der Berner Stadtphysikus Paullus Lentulus († 1613), der die junge Frau im Auftrag des Berner Rats 1602 wie auch in den Folgejahren untersucht hat, wobei u. a. der bekannte Chirurg Wilhelm Fabricius (1560–1634), später bernischer Stadtwundarzt, hinzugezogen wurde: Nulla enim macies toto corpore apparebat; praeterquam circa pectus, & sternum; vbi Costae omnes eminebant, sola arida cute obtectae, instar sce-

31 Vgl. Lorraine DASTON, Marvelous Facts and Miraculous Evidence in Early Modern Europe, in: Questions of Evidence. Proof, Practice, and Persuasion across the Disciplines, ed. by James CHANDLER, Arnold I. DAVIDSON u. Harry HAROOTUNIAN, Chicago, London 1994, 243–274, hier: 245ff. 32 WIER (wie Anm. 25), 89. 33 Ebd., 76.

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leti: quin & ipsum abdomen, & tota Ventris regio adeo exinanita, & vacua apparebat, ac si exenterata fuisset. Vmbilicus quoque maximopere ad dorsum defixus erat34. Fast gleichlautende Bemerkungen finden sich dann auch in Lentulus’ Berichten über seine 1603 und 1604 wiederholten Besuche in Gals35. Ärzte wie Wier und Lentulus haben die (vorgeblich) Nahrungsabstinenten nicht mit den geistigen Augen gesehen. Sie verließen sich offenbar allein auf die körperlichen Sinne, u. a. auch auf den Tastsinn, der in der Hierarchie der Sinne weit unter dem Sehsinn rangierte, zur Vergeistigung wenig geeignet36. Ergänzt wurde der Befund extremer Magerkeit schließlich auch durch seine graphische Dokumentation. Bei Lentulus’ zweitem Besuch in Gals (1603) wurde vom Steinmetz und Baumeister Daniel Heinz eine Zeichnung Apollonia Schreiers angefertigt, auf der aller Wahrscheinlichkeit nach der dem Werk des Stadtarzts beigefügte Kupferstich37 wie auch die Bilddarstellung eines im beginnenden 17. Jahrhundert in verschiedenen Fassungen erschienenen Flugblatts beruhen38; beide machen Lentulus’ Vergleich des Rumpfs der jungen Frau mit einem Skelett anschaulich (Abb. 7 und 8). Der lutherische Pfarrer Jakob Gilbert (1553–um 1617) sah das wenig später wieder anders: In seinem ‚Speculum Viduarum, Oder: Widwen Spiegel‘ (1613) erwähnt er, Lentulus habe einen Bericht über Anna [!] Schreyrin samt einem Bildnis an einen anderen Arzt gesandt, der dann wiederum ihm die Geschichte der langjährigen Nahrungslosigkeit erzählt habe, aus der tröstlicher-

34 Paullus LENTULUS, Historia admiranda, de prodigiosa Apolloniae Schreierae, virginis in agro Bernensi, inedia, Bernae Helvetiorvm 1604, 5; s. ferner ebd., 6. Zur Biographie von Lentulus s. Yvonne THURNHEER, Die Stadtärzte und ihr Amt im alten Bern (Berner Beiträge zur Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften 4), Bern 1944, 46f. 35 Vgl. LENTULUS (wie Anm. 34), 18 u. 22. 36 Vgl. allerdings den für die hier diskutierten Zusammenhänge erhellenden Beitrag von Otto LANGER, Die übersinnlichen Sinne, in: Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld (18. bis 20. März 1999) (Körper, Zeichen, Kultur 11), hg. v. Klaus RIDDER u. Otto LANGER, Berlin 2002, 175–192, hier: 176 u. 181. 37 Vgl. LENTULUS (wie Anm. 34), 16f. Im Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München (Res/4 Anat. 112) ist der Stich zwischen den Geleitgedichten und der narratio prima eingefügt. 38 Natürlicher Abtruckt auch eigentlicher kurtzer Bericht / von Apollonia / Stephan Schreiers / vnnd Maria Jung zu Gals [...] ehlichen Tochter / welche ohne Speyß vnd Tranck / von Faßnachten deß 1601. Jahrs / auff gegenwirtigen Früling deß 1608. Jahrs gelebt hat / darby auch ein schön Gebätlied, Bern [1608]: Johannes le Preux. Standort: Zentralbibliothek Zürich EDR 1608 Schreier II,1. Eine frühere Fassung (Winter 1607) dieses Blatts ist durch ein im Bilderarchiv des Staatsarchivs des Kantons Bern befindliches Fragment (TG. D 115) belegt; eine französische Fassung erwähnt W[ilhelm] DRUGULIN, Historischer Bilderatlas. Verzeichniss einer Sammlung von Einzelblättern zur Cultur- und Staatengeschichte vom fünfzehnten bis in das neunzehnte Jahrhundert, T. 2 (Lager-Katalog des Leipziger Kunst-Comptoirs ) Abt. 4), Leipzig 1867, 99. Zu J. le Preux d. J. (*1574) und seiner Tätigkeit in Bern s. die Untersuchung von C[harles] F[rédéric] von STEIGER, Jean le Preux. Der erste obrigkeitliche Buchdrucker der Stadt Bern 1600–1614 (Bibliothek des Schweizerischen Gutenbergmuseums 15), Bern 1953.

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Abb.7: Wahres Bildnis der Apollonia Schreier (1604)

weise zu schließen sei, dass Gott ebenso wie diese Frau auch eine Witwe am Leben erhalten könne39. Wir haben es hier also mit radikal unterschiedlichen, ja konträren Sichtweisen/Darstellungen desselben Phänomens, derselben Person zu tun – eine Chance, sowohl die traditionalen als auch die innovativen Elemente in den Blick zu bekommen und die Brüche genauer zu beleuchten. Deutlich geworden ist, dass in Bezug auf die – von ihrer prinzipiellen Möglichkeit her in der Zeit nicht angezweifelte – „Totalabstinenz“ sich überlagernde Erklärungsmuster und Deutungsangebote vorliegen. Wie ich an anderer Stelle näher ausgeführt habe, meinte nichts essen in der auf eine Auflösung des Definierten zielenden mystischen Tra-

39 Vgl. hierzu Britta-Juliane KRUSE, Witwen. Kulturgeschichte eines Standes in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Berlin, New York 2007, 593f. In diesem Beleg zeichnet sich bereits ab, was hier nicht näher ausgeführt werden kann, nämlich dass Konfessionszugehörigkeit und Bildungsvoraussetzungen der Autoren im Sinne eines spezifisch „katholischen Wunderglaubens“ (Renate Haftlmeier-Seiffert) bzw. einer Dichotomie zwischen Volks- und Elitenfrömmigkeit die unterschiedlichen Sichtweisen nicht befriedigend erklären. Bedauerlicherweise nimmt Haftlmeier-Seiffert in ihren Kommentaren der „Fastenwunder“-Blätter der Wickiana nicht nur mit leichter Hand retrospektive Diagnosen (Anorexia nervosa) vor, sondern vermittelt auch ein Bild des Luthertums vor 1700, das von der Rückprojektion moderner Konzeptionen (Wunderglaube = katholisch) auf die Frühe Neuzeit geprägt ist. Vgl. Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts, hg. v. Wolfgang HARMS, VII. Die Sammlung der Zentralbibliothek Zürich. Kommentierte Ausgabe, 2: Die Wickiana II (1570–1588), Tübingen 1997, 116, 330 u. 332.

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Abb. 8: Bericht über Apollonia Schreier (1608), Zürich, Zentralbibliothek

dition die Aufhebung des Gegensatzes zwischen materieller und geistlicher Speise40 und war körperliches Zeichen eines göttlichen Mandats. Die zunehmende Aufdeckung von Teufelstrug bzw. immer öfter auch menschlichem Betrug als Gegenstück der „guten“ imitatio zeigt allerdings, dass sich die Denk- und Wahrnehmungsmuster – und damit auch die bildlichen Traditionen – in der Frühen Neuzeit allmählich verschieben. Seit dem letzten Viertel des 16. Jahrhunderts finden sich in ärztlichen observationes Bemerkungen über eine extreme Magerkeit der untersuchten Frauen, ein Befund, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts auch graphisch dokumentiert wird, wohl nicht zufällig unter ärztlicher Ägide. Mit ihren akribischen Schilderungen intimer körperlicher Details tendierten die für das Physische zuständigen Ärzte deutlich zu „natürlichen“ Erklärungen des Phänomens langwährender Nahrungsabstinenz und damit zu einer Erweiterung ihres Kompe40 Vgl. PULZ (wie Anm. 1), insbesondere 173f.

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tenzbereichs auf das Feld des vermeintlich Übernatürlichen, Metaphysischen – im eigenen berufspolitischen Interesse, aber freilich ohne dabei je die Möglichkeit eines direkten göttlichen Eingreifens in den Lauf der Natur zu bestreiten. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Ambivalenz des keineswegs im „Dienst des Fortschritts“, sondern im Dienst der Obrigkeit handelnden Lentulus, der die Nahrungsabstinenz von Apollonia Schreier – Betrug schien aufgrund der mehrwöchigen Überwachung im Berner Inselspital ausgeschlossen – mehrfach als prodigiosum morbum bezeichnet41. Schließlich legt aber auch er eine natürliche, nämlich ökologische Erklärung nahe. Der Berner Stadtphysikus schildert die Lage von Gals, das zwischen dem Bielersee und dem Neuenburgersee gelegen ist, in einer Gegend, die bis zur ersten Juragewässerkorrektion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und auch noch danach immer wieder großflächig überschwemmt wurde. Die feuchte, im Sommer stark riechende Luft und das sumpfige Gelände werden als ungesund bezeichnet. Lentulus suggeriert durch seine Bemerkungen – der als Mikrokosmos konzipierte menschliche Leib wurde als porös42 und in osmotischem Austausch mit seiner aus demselben Stoff bestehenden „Mitwelt“, dem Makrokosmos, begriffen –, dass die umgebende Feuchtigkeit Apollonias Säftemischung aus dem Gleichgewicht gebracht habe. Die junge Frau bedürfe keiner Nahrungszufuhr von außen, da sie – als Grundlage aller Lebensprozesse galt die sich von einer natürlichen Feuchtigkeit (humidum radicale) nährende innere Wärme (calor innatus)43 – von ihrer überschüssigen Feuchtigkeit zehre. Indem der Arzt seine persönlichen Beobachtungen auf diese Weise in den flexiblen theoretischen Rahmen der Humorallehre einordnen kann, gelingt es ihm, der seine Erfahrungen nicht isoliert, sondern zusammen mit denen zeitgenössischer Kollegen publizierte, die unsichere kausale Herleitung und die problematische Verbindung von empirischem und theoretischem Wissen auch noch durch die antiken Autoritäten abzusichern. Einmal mehr wird hier deutlich, dass in den medizinischen Traktaten der Zeit zwar der Anspruch auf eine Deutung und Kausalerklärung der zur Diskussion stehenden ungewöhnlichen Erscheinungen bestand, sich aber bereits eine Bestimmung dieser Phänomene als natürliche, außernatürliche oder übernatürliche als problematisch erwies, weil die Grenzen zwischen den einzelnen Bereichen unscharf waren und sich die verschiedenen zeitgenössischen Deutungsmuster

41 LENTULUS (wie Anm. 34), 14. Dieser die Ambiguität des Autors prägnant auf den Begriff bringende Terminus fällt bereits zweimal in der Vorrede an den Leser; auch im Widmungsbrief an den nach dem Tod von Elisabeth I. 1603 zum englischen König gekrönten James I. – Lentulus soll zwei Jahre lang Leibarzt Königin Elisabeths gewesen sein – legt sich der Mediziner in Bezug auf die Physicas rationes und das Dei consilium nicht fest. 42 Zur zentralen Bedeutung der poroi in der antiken Humorallehre, welche die medizinischen Lehren bis weit ins 18. Jahrhundert bestimmte, s. Ruth PADEL, In and Out of the Mind. Greek Images of the Tragic Self, Princeton 1992, 41f. 43 S. etwa Everett MENDELSOHN, Heat and Life. The Development of the Theory of Animal Heat, Cambridge, Mass. 1964 und Michael STOLBERG, Die Lehre vom „calor innatus“ im lateinischen Canon medicinae des Avicenna, Sudhoffs Archiv 77 (1993), 33–53.

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Abb. 9: Hans Holbein d. Ä., Anna Laminit, die nicht(s) isst (um 1511), Berlin, Kupferstichkabinett SMPK

nicht ausschlossen. Man unterschied ein göttliches Wunder(zeichen) von teuflischem Blendwerk bzw. Besessenheit sowie von Betrug und Krankheit; die Erklärung der Nahrungslosigkeit durch natürliche Ursachen war jedoch vereinbar mit ihrer Deutung als göttliches Zeichen, die auf einer höheren Stufe der Wahrheit angesiedelt war. Vor diesem Hintergrund konnte Lentulus die Nahrungsabstinenz von Apollonia Schreier als Krankheit und als Prodigium, als prodigiosum morbum, verstehen. Solange die – nicht der Ordnung des Sichtbaren angehörende – Wahrheit Gottes die eigentliche Realität war, ist die Grenze zwischen Realität und Phantasie, zwischen dem, was jeweils als „Wirklichkeit“, und dem, was als Imagination galt, vergleichsweise fluide. So wurde etwa Apollonia Schreier im Unterschied zur ähnlich abgemagert befundenen Barbara Kremers nie des Betrugs überführt. Beide Frauen, und übrigens auch die eingangs erwähnte Catharina Binder, haben – die Grenzen zwischen imitatio, aemulatio und simulatio waren ebenso porös wie die zwischen Mikro- und Makrokosmos – irgendwann wieder zu essen „angefangen“44. Nit essen, der Terminus, den Hans Holbein d. Ä. (um 1465– um1524) auf seiner Silberstiftzeichnung der vorgeblich totalabstinenten, von den Zeitgenossen als sancta viva45 verehrten Anna Laminit (um 1480–1518) benutzte (Abb. 9), konnte nicht oder nichts essen bedeuten – in einer noch nicht durchmathematisierten Welt war nicht(s) essen jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Aufnahme von 0,00 Kalorien. Die symbolische Ordnung der Moderne wird indes 44 Vgl. PULZ (wie Anm. 1), 66ff., 120ff. u. 83ff. 45 Vuolphangus KYRIANDER [d.i. Wolfgang HERMANN], Perseqvvtiones ecclesiae, Ingolstadij 1541, L3r. S. dazu auch PULZ (wie Anm. 1), 17ff.

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durch eine Verschärfung dualistischer Oppositionen und eine Logik strukturiert, welche das Gleiten zwischen entgegengesetzten Polen wie auch ihre gleichzeitige Präsenz ausschließt bzw. nicht erfassen kann46. Für die hier vorgestellten Vermittlerinnen zwischen Himmel und Erde, zwischen der Ordnung des Sichtbaren und der des Unsichtbaren, für mystische Paradoxien und ein ungewöhnliches Essverhalten, das in einer weitgehenden Reduktion „irdischer“ Nahrung (bei den hier genannten Frauen etwa auf Konfekt und Specereyen47) und deren Ersatz durch – nicht vollkommen davon unterschiedene – „göttliche“ Speise bestand, gab es da immer weniger Raum.

Bildnachweis Abb. 1: Deutsche illustrierte Flugblätter des 16. und 17. Jahrhunderts, hg. v. Wolfgang HARMS, VII. Die Sammlung der Zentralbibliothek Zürich. Kommentierte Ausgabe, 2: Die Wickiana II (1570–1588), Tübingen 1997, 117. Abb. 2: Wikipedia, URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Staggia_Senese (abgerufen am 12.11.2011) Abb. 3: Isidoro ISOLANI, Inexplicabilis mysterii gesta Beatae Veronicae Virginis praeclarissimi Monasterii Sanctae Marthae urbis Mediolani, Mediolani 1518, aa1v u. CIIIIv. Abb. 4: Amico Aspertini, 1474–1552, artista bizzarro nell’età di Dürer e Raffaello, a cura di Andrea EMILIANI e Daniela SCAGLIETTI KELESCIAN, Milano 2008, 325. Abb. 5 u. 6: Raffaele Argenziano, Iconografia della beata Colomba a Perugia, in: Una santa, una città. Atti del Convegno storico del V centenario della venuta a Perugia di Colomba da Rieti, Perugia 10-11-12 novembre 1989 (Quaderni del Centro per il collegamento degli studi medievali e umanistici nell’Università di Perugia 24), a cura di Giovanna CASA2 GRANDE ed Enrico MENESTÒ, Spoleto 1991, Fig. 3 u. 13. Abb. 7: Paullus LENTULUS, Historia admiranda, de prodigiosa Apolloniae Schreierae, virginis in agro Bernensi, inedia, Bernae Helvetiorvm 1604, im Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München (Res/4 Anat. 112) vor S. 1 eingefügt. Abb. 8: Waltraud PULZ, Nüchternes Kalkül – Verzehrende Leidenschaft. Nahrungsabstinenz im 16. Jahrhundert (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 64), Köln, Weimar, Wien 2007, Abb. 20. Abb. 9: Waltraud PULZ, Nüchternes Kalkül – Verzehrende Leidenschaft. Nahrungsabstinenz im 16. Jahrhundert (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 64), Köln, Weimar, Wien 2007, Abb. 1.

46 Vgl. Luisa MURARO, Ir libremente entre sueño y realidad, Acta historica et archaeologica mediaevalia 19 (1998), 365–372. 47 Vgl. PULZ (wie Anm. 1), 51 u. 87.

HERZENSWÄRME, HERZENSBLUT UND HERZELEID. INTERDISZIPLINÄRE „KARDIOLOGIE“ IM ROM DER GEGENREFORMATION* Catrien Santing

Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz (Lk 12,34). Diese Textstelle zitierte der hl. Antonius von Padua einst auf der Trauerfeier eines für seinen Geiz berüchtigten Mannes. Als ein Wundarzt anschließend mit der Öffnung der Leiche beauftragt wurde, stellte sich heraus, dass das Herz des Mannes verschwunden war. Selbstverständlich wusste der hl. Antonius, wo es gefunden werden konnte, nämlich in der Schatztruhe mit allen anderen Kostbarkeiten des Verstorbenen. Pietro Damini (1592–1632) hielt die Szene auf einer großen Tafel für die Kirche San Canciano in Padua fest (Abb. 1). Sie zeigt uns einen Anatomen, der die Brust des Geizhalses aufschneidet und dabei von mehreren Personen beobachtet wird. Die Zuschauer sind Edelmänner, Heilige, Mönche und in feierliches Schwarz gekleidete Männer, bei denen es sich um Vertreter von Paduas angesehener Medizinfakultät handeln könnte. Obwohl Damini die Geschichte eines der bekanntesten Antoniuswunder wortgetreu wiedergibt, verbinden sich in seiner Darstellung ehrfürchtige Heiligenverehrung mit dem zeitgenössischen Interesse für die Anatomie. Anstatt auf einer Bahre liegt der Leichnam auf einem Seziertisch1, das Bild zeigt die in der Renaissance übliche Praxis der Leichenzerlegungen, mit denen die Todesursache einer Person in Erfahrung gebracht werden sollte2. In Padua, wo berühmte Anatomen wie Hieronymus Fabricius ab Aquapendente (1537–1619) und Julius Casserius (um 1552–1616) im anatomischen Theater des Palazzo del Bo ihre Sektionen ausführten, dürfte dies nicht unüblich gewesen sein. Die Suche nach dem Herzen und die Deutung seiner Geheimnisse waren im Italien der Renaissance sehr beliebt und wurden aus religiösen wie wissenschaftlichen Gründen betrieben. In diesem Beitrag sollen die verschiedenartigen Motive für die Herzforschung und ihre wechselseitigen Beziehungen untersucht werden.

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1

2

Dieser Aufsatz ist eine überarbeitete Fassung von: Catrien SANTING, De affectibus cordis et palpitatione: Secrets of the Heart in Counter-Reformation Italy, in: Cultural Approaches to the History of Medicine. Mediating Medicine in Early Modern and Modern Europe, hg. v. Willem de BLECOURT u. Cornelie USBORNE, Basingstoke 2004, 11–35. Caterina FURLAN / Stefania MASON, Scienza e miracoli nella pittura veneta del Seicento, in: Scienza e miracoli nell’arte del ‘600. Alle origini della medicina moderna, hg. v. Sergio ROSSI, Mailand 1998, 116–133, hier: 118. Katherine PARK, The Life of the Corpse: Division and Dissection in Late Medieval Europe, Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 50 (1995), 111–132.

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Abb. 1: Pietro Damini, Leichenöffnung bei einem Geizhalz ohne Herz (1618), Padua, San Canciano

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Der hl. Antonius von Padua (um 1190–1225) war natürlich nicht der Erste aus der langen Reihe heiliger Männer und Frauen, bei denen von einer starken Herzverbundenheit, sei es mit dem Herzen Jesu, Marias oder dem eigenen, gesprochen werden kann. Bereits in der Bibel tritt das Herz als eine Metapher für die Erleuchtung durch Gottes Liebe in Erscheinung. Ezechiel 36,26 lobt den Herrn, der seinem Volk ein neues Herz gebe, um ihm einen neuen Geist zu verleihen: Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz von Fleisch. Da die Essenz eines Heiligenlebens darin besteht, Christus und seinem Leiden nachzueifern, diente dieser auch als Vorbild für die wunden Herzen der Heiligen. Als Jesus am Kreuz hing, durchbohrte Longinus’ Lanze seine Seite und versehrte so das Herz des Erlösers, aus dem Wasser und Blut flossen. Um 1100 begann die Verehrung für das Herz des Gottessohnes dank Bernhards von Clairvaux (um 1090–1153) langlebiger Herzensmystik konkretere Formen anzunehmen. Das Herz in den Mittelpunkt stellende Emblembücher aus dem 17. Jahrhundert und Andachtsübungen wie Benedictus van Haeftens (1588–1648) ‚Schola cordis‘ waren auf Bernhards Behauptung zurückzuführen, dass der Mensch nur in corde Jesu dulcissimo Befreiung finden könne3. Dies kulminierte letztlich in der HerzJesu-Verehrung, die offiziell allerdings erst 1856 Eingang in die katholische Liturgie fand4. Im eigentlichen Sinne ist der Herz-Jesu-Kult vor allem ein Phänomen der Zeit nach der Gegenreformation; dennoch ist nicht zu leugnen, dass sich das Herz – von Jesus, Heiligen oder tief gläubigen Menschen – ab dem Hochmittelalter zu einem der wichtigsten religiösen Instrumente und Symbole entwickelte und in erbaulichen Schriften thematisiert wurde. Es überrascht daher nicht, dass die ‚Legenda aurea‘ (um 1260) des Jacobus de Voragine (um 1230–1298), die meistbenutzte mittelalterliche Sammlung von Heiligenviten, der Legende vom hl. Ignatius von Antiochien († um 110) zu großer Popularität verhalf. Als der von Kaiser Trajan (98–117) verurteilte Ignatius zu Tode gemartert wurde, wiederholte der Heilige während seiner Qualen stets den Namen von Jesus, weil dieser, wie er seinen Henkern erklärte, in sein Herz geschrieben sei. Der Vita zufolge hatte sich dies als wahr erwiesen. Als Neugierige später sein Herz zweiteilten, fanden sie darin in Goldbuchstaben den Namen Jesu Christi. Bilder des hl. Ignatius waren im späten Mittelalter fast so beliebt wie die des hl. Antonius. Botticelli (1445–1510) etwa malte die Entnahme von Ignatius’ Herz im Jahr 1485 auf eine Predellentafel seines Barnabas-Altars. Doch es war der hl. Antonius von Padua, der am stärksten mit dem flammenden Herzen als Zeichen der Liebe zu Gott in Verbindung gebracht wurde. In der Gegenreformation übernahmen Philipp Neri (1515–1595) 3

4

Einen allgemeinen Überblick über die Geschichte des Herzens bieten Gerard T. HANEVELD, Het mirakel van het hart, Baarn 1991; Scott Manning STEVENS, Sacred Heart and Secular Brain, in: The Body in Parts. Fantasies of Corporeality in Early Modern Europe, hg. v. Carla MAZZIO u. David HILLMANN, New York 1997, 263–284; Eric JAGER, The Book of the Heart, Chicago 2000. Zur Darstellungsgeschichte des Herzens vgl. Pierre VINKEN, Shape of the Heart, Amsterdam 1999. Zur modernen Geschichte dieser Verehrung vgl. Daniele MENOZZI, Sacro Cuore. Un culto tra devozione interiore e restaurazione cristiana della società, Rom 2001.

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und die Jesuiten dieses Symbol. Inzwischen waren es vor allem die weiblichen Religiosen gewesen, wie die Mystikerinnen Katharina von Siena (1347–1380) und die umbrische Äbtissin Klara von Montefalco (1268–1308), die das eigene Herz mit dem von Jesus vertauschten5. Auch im wörtlichsten und eigentlichen, nämlich physischen Sinne erlangte das Herz von (zukünftigen) Heiligen immer mehr Bedeutung und wurde für fromme Anhänger zu etwas überaus Begehrenswertem. Als zum Beispiel der Körper Klaras von Montefalco nach ihrem Tod im Jahr 1308 nicht in Verwesung überging, öffneten Mitschwestern den Leichnam, nahmen die Eingeweide heraus und verwahrten das Herz in einem Behältnis. Nach einiger Zeit beschlossen die Ordensfrauen, das noch unversehrte Organ aufzuschneiden, und sie entdeckten im Herzinneren ein gleichsam inkarniertes Kreuz mit den anderen ebenso Fleisch gewordenen Foltergeräten Jesu Christi6. Danach hat es viele ähnliche Operationen gegeben, bei denen der Körper heiliger Männer und Frauen in Stücke geschnitten und unter einer möglichst großen Verehrerschar verteilt wurde. Es scheint sich um eine weit verbreitete Sitte gehandelt zu haben, insbesondere im 16. und frühen 17. Jahrhundert, als die Gegenreformation das Band zwischen Körper und Seele noch stärker hervorhob und das Herz zunehmend als Medium und Motor des religiösen Eifers verstanden wurde. Die Seherin Katharina von Ricci (1531–1590) soll angeblich Blut aus der Seitenwunde des Gottessohnes getrunken haben. Diese mystische Erfahrung widerfuhr ihr immer wieder, und dann füllte sich ihr eigenes Herz jedes Mal spontan mit Blut und zerbarst fast7. Vergleichbares passierte dem sel. Angelo del Pas (1540–1596). Als dieser 1596 in dem römischen Kloster San Pietro in Montorio starb, hörten die Brüder ein lautes Geräusch: Während er seinen letzten Atemzug tat, wurde sein Herz von der Heiligen Lanze durchbohrt, auf seiner Brust klaffte eine offene Wunde. Bei der daraufhin durchgeführten Sektion wies das Herz tatsächlich eine Verletzung auf, die aussah, als ob sie vom Passionswerkzeug zugefügt worden sei. Hagiographen fanden eine sinnfällige Erklärung: Nach den Stigmata an seinen Händen und Füßen, mit denen der Selige etliche Jahre gelebt hatte, habe er auf dem Totenbett die Wundmale von Christi Leidensweg auch innerlich empfangen. Es versteht sich von selbst, dass sein Herz entnommen, präpariert und in ein Reliquiar gelegt wurde8. Die Begeisterung für heilige Herzen, die vor religiöser Inbrunst brannten, brachte zahlreiche heute makaber anmutende Begebenheiten hervor. In dem Moment, in dem ein nach Heiligkeit strebender Mensch seine Seele ausgehaucht hatte, stellte sein Herz bereits ein wichtiges „Sammelobjekt“ dar. Als Teresa von 5

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Über religiöse Gefühle und ihren eventuellen körperlichen Ausdruck: Peter DINZELBACHER, Körper und Frömmigkeit in der mittelalterlichen Mentalitätsgeschichte, Paderborn 2007; zu diesem Phänomen insbesondere unter Frauen: Carolyn Walker BYNUM, Die Frau als Körper und Nahrung, in: Stigmata. Poetiken der Körperinschrift, hg. v. Bettine MENKE u. Barbara VINKEN, München 2004, 113–143. Katharine PARK, The Criminal and the Saintly Body: Autopsy and Dissection in Renaissance Italy, Renaissance Quarterly 47 (1994), 1–33, hier: 2–3. Bert TREFFERS, Il cuore malato, in: Scienza e miracoli (wie Anm. 1), 146–156, hier: 146f. DERS., Een hemel op aarde. Extase in de Romeinse Barok, Nijmegen 1995, 38f.

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Ávila (*1515), die ihrer Autobiographie zufolge lange Zeit ein Herzleiden hatte, im Jahr 1582 starb, holte eine der Schwestern rasch ein Küchenmesser, schnitt plump das Organ heraus und trug die kostbare Reliquie unter Hinterlassung einer Blutspur in ihre Zelle. Wie durch ein Wunder schlug das Herz weiter und zerbrach durch sein kräftiges Pochen verschiedene Kristallgefäße, ehe es in einem Reliquienbehälter zur Ruhe kam9. Für das 16. Jahrhundert, eine Zeit, in der sich die Anatomie zur führenden medizinischen Disziplin entwickelte, muss der grobschlächtig-laienhafte Umgang mit Teresas Leiche freilich als seltener Ausnahmefall eingestuft werden. Die Zerlegung des toten Körpers kontrastiert deutlich mit den professionellen Sektionen bei anderen zeitgenössischen Heiligen, zum Beispiel Ignatius von Loyola (1491– 1556) und Philipp Neri (1515–1595), die wie Teresa auch am 12. März 1622 kanonisiert wurden10. Wir werden sehen, dass die sterblichen Überreste dieser Männer den Händen erfahrener, angesehener und sogar hochberühmter Anatomen anvertraut wurden. Diesem Beitrag liegt die Hypothese zugrunde, dass verschiedene Faktoren, die aus heutiger Perspektive vermutlich je für sich und insgesamt ganz anders wahrgenommen würden, in der Frühen Neuzeit oftmals fast bis zur Unkenntlichkeit miteinander verflochten waren und deshalb nicht einzeln untersucht werden sollten. Das Geflecht unterschiedlicher Beweggründe und Interessen lässt sich anhand eines unveröffentlichten Werks von Andrea Cesalpino (1525–1603) illustrieren. Nach einer strapaziösen Lehrveranstaltungszeit im Jubeljahr 1600 hatte dieser römische Medizinprofessor das Bedürfnis, so formulierte er das wenigstens, zur geistigen Erholung das strenge Studium der Naturphilosophie mit dem der historischen und politischen Literatur zu vertauschen. Das Ergebnis war ein persönliches Geschenk für seinen Dienstherrn, Papst Clemens VIII. (1592–1605), mit dem dieser für die Wiederherstellung des kirchlichen und weltlichen Gleichgewichts geehrt werden sollte. Cesalpinos kurze Kirchengeschichte erklärt den Verlauf der Historie mehr oder weniger anhand von Krankheit, Heilung und Gesundheit11. Dank der Bemühungen Clemens’ VIII., der die Kirche, so Cesalpino, von inneren und äußeren Lastern wie Korruption, Krieg, Materialismus und der Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse gereinigt habe – er war einer der erfolgreichsten und demzufolge mächtigsten nachtridentinischen Päpste –, sei das Ende der Zeiten nahe. Die zwei apokalyptischen Tiere, der Kalvinismus und das Luthertum, würden erlegt werden und gänzlich verschwinden. Somit sei auf Erden binnen kurzem mit der Rückkehr des Goldenen Zeitalters zu rechnen. Der Verfasser beteuert in seiner von zahlreichen medizinischen Analogieschlüssen gekennzeichneten Abhandlung, dass der Mensch in dieser glückseligen Urzeit kraftvoll und gesund gewesen sei. Aus diesem Grund werde die Heilkunst der Zukunft eine 9 Ebd., 130–135. 10 Giovanni PAPA, Le cause di canonizzazione nel primo periodo della Congregazione dei riti (1588–1634), Vatikanstadt 2001, 109–111, 275–286. 11 Andrea CESALPINO, Historiae ecclesiasticae. Compendium usque ad Annum Iubilei MDC. Traduzione e presentazione di Luigi CONDORCELLI, Rom 1985.

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unbedeutende Rolle spielen, was für einen Arzt eine bemerkenswerte Feststellung ist. Mediziner seien, wie der Wein, im Paradies unbekannt gewesen, da ursprünglich Körper und Seele des Menschen in sich stark genug gewesen seien. Nach dem Genuss der Frucht vom Baum der Erkenntnis sei der Mensch von Kriegen und Krankheiten heimgesucht worden, was im 16. Jahrhundert in den auf italienischem Boden ausgetragenen Konflikten und in der von französischen Soldaten eingeschleppten Syphilisepidemie gegipfelt habe. Die Feier des Jubeljahres 1600 symbolisiere die Erneuerung der Kirche und des Kirchenstaats. Zwei Männer, Clemens VIII. und Philipp Neri, personifizierten diese religiöse, gesellschaftliche und politische Verjüngung, und so endet Cesalpinos Werk mit einer Ausführung über die enge Freundschaft zwischen beiden Religionsführern. Indirekt wirft dies ein positives Licht auf Cesalpino selbst, da er Leibarzt der beiden war, was in Bezug auf seine Forschungsarbeit sehr bezeichnend war und gleichzeitig den Kurs seiner medizinischen Beweisführung bestimmte, wie ein Zitat aus seinen ‚Historiae ecclesiasticae‘ ersichtlich macht: Betrachten wir die Sicherheit der Grundlagen, auf der die Begründung beruht, so betrifft sie ganz und gar die Sinne, die mannigfaltiglich irreführen können. Sollten wir deshalb nicht die sicherere, vom Schöpfer aller Dinge kommende Einsicht stärker berücksichtigen? Doch der stets von Wissbegier ergriffene Mensch hat sich im Versuch zur Erkundung der Dinge, die sein Verstand nicht erreicht, vom Glauben entfremdet und vertraut, von menschlichen Illusionen verführt, auf seine eigenen Sinne12.

Das 16. Jahrhundert ist eine Epoche, die von großen gesellschaftlichen, religiösen und wissenschaftlichen Umwälzungen geprägt war. Cesalpinos medizinischekklesiastische Geschichte enthüllte bereits das allgemeine geistige Klima der Wiederbelebung und Vertiefung von Erkenntnis und Emotion. Sowohl das Denken als auch das Fühlen schienen um eine Anatomisierung in Fragmente und deren Zusammenfügung zu einem neuen „corpus“ zu kreisen. Diese Mentalität, die Jonathan Sawday in seinem Buch ‚The Body Emblazoned‘ anschaulich als „autoptic vision“ beschreibt, durchdrang sämtliche Aspekte des Lebens13. Alles musste zergliedert und neu geordnet werden: die Gesellschaft, die Religion und hier insbesondere die Art und Weise, in der Frömmigkeit gelebt und erfahren werden sollte. Und schließlich galt es, die Natur zu erobern und zu klassifizieren. Diese Neigung manifestierte sich vor allem im Bereich der Medizin, der es dank ihrer Unterdisziplinen Botanik und Anatomie mehr und mehr gelang, sich von der Naturphilosophie zu emanzipieren und einen großen Schritt nach vorne zu machen. Neben Geschichte, Kirchengeschichte, Medizin und Philosophie war Cesalpino denn auch von der Botanik fasziniert. In seinem Werk ‚De plantis libri XVI‘ (1583) wird das Pflanzenreich unter physiologischen und anatomischen Gesichtspunkten klassifiziert und somit das Fundament für Linnaeus’ Pflanzenbestimmung

12 Ebd., 5. 13 Jonathan SAWDAY, The Body Emblazoned. Dissection and the Human Body in Renaissance Literature, London 1995, Kapitel 1 „The Autoptic Vision“, 1–15.

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gelegt14. Es gab zahlreiche anatomische Bücher, die Wörter wie Atlas, Spiegel oder Theater im Titel führten. In ihnen wurden der menschliche Körper und seine einzelnen Teile so detailliert wie möglich präsentiert. Das anatomische Interesse war groß und dementsprechend breit gefächert. Besonders hoch im fachlichen Ansehen standen bei den römischen Ärzten das Herz und der Blutkreislauf. Dank neu entdeckter Handschriften erreichte die aristotelisch-galenische Kontroverse über die Vorrangstellung von Gehirn beziehungsweise Herz einschließlich der Frage, wo die Seele ihren Sitz habe, einen neuen Höhepunkt. Man kann daraus schließen, dass das Herz, das in philosophischen, naturkundlichen und religiösen Zusammenhängen eine gleichermaßen wichtige Rolle spielte, im Kontext dieser Diskurse untersucht werden muss. Gleiches gilt für die Kunst und Literatur der Renaissance und des Barock, deren Produkte das Herz berühren, bewegen, erwärmen, verletzen und an allererster Stelle entflammen wollten, um der Seele die Gelegenheit zu bieten, sich selbst zu befreien und in Ekstase zu Gott zu fliegen15. Diese in unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft und diversen akademischen Disziplinen wahrzunehmende universelle Hochschätzung des Herzens legt nahe, dass die mit der Herzforschung verbundenen Intentionen der italienischen Ärzte im 16. Jahrhundert ebenfalls gemischter Natur gewesen sein dürften16. Als humanistisch gebildete Gelehrte sorgten sie für die Verbreitung neu entdeckter philosophischer und medizinischer Texte der Griechen und setzten sich aktiv mit diesem Wissen auseinander. Als Professoren der Anatomie waren sie Exponenten der vesalischen Wende und gingen davon aus, dass Beobachten und Experimentieren die Grundlage für neue Entdeckungen im menschlichen Körper darstellten. Als Ärzte der Päpste und Kardinäle machten sie sich ihre Fähigkeiten rhetorisch zunutze, um die eigene Position innerhalb der Kurie zu verbessern, und waren darin recht erfolgreich. Wenn der päpstliche Hofstaat in der Sixtinischen Kapelle zur Messe zusammenkam, hatte jeder Hofangehörige einen bestimmten, seinem Rang entsprechenden Platz; der so genannte archiater papalis saß in der ersten Bankreihe auf der linken Seite, was seine überragende Stellung bewies. Als treue Christen engagierten sich die Ärzte ferner oft rege in den sektenhaft anmutenden Gruppierungen der Gegenreformation, die um religiöse Persönlichkeiten wie

14 Giovanni P. ARCIERI, La circolazione del sangue scoperta da Andrea Cesalpino d’Arezzo, Mailand 1939; englische Ausgabe: John P. ARCIERI, The Circulation of the Blood and Andrea Cesalpino of Arezzo, New York 1945; zu ‚De plantis‘ s. ebd., 161–165. 15 Mein Kollege Bert TREFFERS war der Erste, der dies festgestellt hat, und ohne seine detaillierte Untersuchung des physischen Ausdrucks der Barockfrömmigkeit wäre der vorliegende Beitrag nicht möglich gewesen. Eine Erörterung der Rolle von Herz und Körper als „Glaubensmaschinen“ im italienischen Barock bietet sein Buch: Een hemel op aarde (wie Anm. 8) und sein Beitrag Het lichaam als geloofsmachine. Beeld, metafoor en werkelijkheid in de Italiaanse Barok, in: De grenzen van het lichaam. Innerlijk en uiterlijk in de Renaissance, hg. v. Arie-Jan GELDERBLOM u. Harald HENDRIX, Amsterdam 1999, 91–115. 16 Jan Hendrik van den BERG wies bereits in Het menselijk lichaam. Een metabletisch onderzoek, Nijkerk 1959–1961 auf den Zusammenhang zwischen der Herzverehrung und dem medizinischen Interesse an diesem Organ hin.

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Ignatius von Loyola, Karl Borromäus (1538–1584) und Philipp Neri entstanden waren. Im Folgenden wird es darum gehen, die aus modernem Blickwinkel heterogen anmutenden Motive darzustellen, die hinter dem medizinischen und insbesondere anatomischen Wirken des 16. Jahrhunderts standen. Wichtigste Grundlage hierfür bilden das leibliche wie geistige Leben und die Werke der bedeutendsten Ärzte der römischen Gegenreformation sowie ihrer päpstlichen und heiligmäßigen Patienten. Die Diskussion wird sich dabei auf den „italienischen Entdecker des Blutkreislaufs“ Andrea Cesalpino und das Verhältnis zu seinem berühmtesten Patienten, dem hl. Philipp Neri, konzentrieren.

Heilige Herzen im medizinischen Diskurs Wie oben erörtert nahm das Herz im medizinischen und religiösen Diskurs des 16. Jahrhunderts einen markanten Platz ein, und daher dürften Ärzte die Chance, einen Blick ins Herz von Heiligen werfen zu können, als eine einmalige Gelegenheit betrachtet haben. In ihrer Eigenschaft als rechtmäßige Zeugen bekleideten und bekleiden akademisch ausgebildete Mediziner in den Kanonisationsverfahren eine zentrale Position 17. Verschiedene päpstliche Ärzte, die, vielfach auf Anordnung ihrer Dienstherren, am Krankenbett manch eines Heiligen der Gegenreformation standen, waren zugleich die Hauptakteure bei der Entdeckung des Blutkreislaufs, die mit William Harveys (1578–1657) Abhandlung ‚De motu cordis‘ (1628) abgeschlossen wurde. Realdo Colombo (um 1516–1559), den Papst Paul III. (1534–1549) von seinem Pisaner Katheder nach Rom berufen hatte, war seit 1548 archiater papalis und Professor der Medizin an der Sapienza. Als berühmtestem Arzt der Ewigen Stadt wurde ihm 1556 die ehrenvolle Aufgabe übertragen, eine Leichenöffnung am Leib des hl. Ignatius von Loyola vorzunehmen18. Angelo del Pas behauptete später, dass in Loyolas Herz, wie bei seinem Namensvetter Ignatius von Antiochien, der Name von Jesus Christus eingeschrieben gewesen sei, doch in Colombos Buch ist kein Hinweis darauf zu finden19. 17 Eine allgemeine Diskussion dieser Gepflogenheit findet sich bei Joseph ZIEGLER, Practitioners and Saints: Medical Men in Canonization Processes in the Thirteenth to Fifteenth Centuries, Social History of Medicine 12 (1999), 191–225; PARK (wie Anm. 6). Im Hinblick auf die in diesem Artikel erwähnten Heiligen siehe Nancy SIRAISI, Signs and Evidence. Autopsy and Sanctity in Late Sixteenth-Century Italy, in: DIES., Medicine and the Italian Universities, 1250–1600, Leiden 2001, 356–380. 18 Vgl. Carlo COLOMBERO, Colombo, Realdo, in: Dizionario biografico degli Italiani, Bd. 27, Rom 1982, 241–243; Jerome J. BYLEBYL, Colombo, Realdo, in: Dictionary of Scientific Biography, hg. v. Charles Coulston GILLISPIE, Bd. 3, New York 1971, 354–357. Vgl. auch Roger FRENCH, Dissection and Vivisection in the European Renaissance, Aldershot 1999, 185–187, 196–200, 202–211. 19 Angelo DEL PAS, Breve trattato del conoscere et amar’ Iddio, Rom 1596, 110. Siehe dazu TREFFERS, Een hemel (wie Anm. 8), 77. JAGER (wie Anm. 3), 90–93, erörtert die ins Herz eingravierte Körperinschrift als ein beliebtes, mit der Legende des Ignatius von Antiochien einsetzendes Motiv der Hagiographie.

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In Rom arbeitete Colombo eng mit Michelangelo (1475–1564) zusammen, der sich stark für die Anatomie interessierte und versprochen hatte, Colombos Buch zu illustrieren. Bedauerlicherweise war Michelangelo zu beschäftigt mit der Sixtinischen Kapelle und dem Bau des neuen Petersdoms, während Colombo schon bald darauf starb. Seine Söhne sorgten 1559 für die Veröffentlichung von ‚De re anatomica‘, aber bis auf das Frontispiz erschien das Werk ohne jegliche Abbildung. Auf dem Titelblatt zieht ein Putto Michelangelo zu dem steinernen Sezierblock und erinnert den Künstler an seine Pflichtvernachlässigung20. Das Ziel Colombos, seinen alten Lehrer und späteren Widersacher Andreas Vesalius (1514–1564) in den Schatten zu stellen, war fehlgeschlagen. Viel Platz nehmen in Buch VII seines Werks die Ausführungen über das Herz ein, zu dessen Funktion und Struktur er sich äußert. Die beschriebenen Herzbewegungen werden mit anatomischen Beweisen untermauert. Auf diese Weise wurde erstmals der als Kleiner Blutkreislauf oder Lungenkreislauf bezeichnete Teil der Blutzirkulation erklärt und belegt. Damit korrigierte Colombo Galen (um 129–216), der behauptet hatte, das Blut gelange durch unsichtbare Poren im Herzseptum von der rechten zur linken Kammer. Colombos Lehrer Andreas Vesalius hatte bereits die Hypothese aufgestellt, dass es diese Poren nicht gebe, aber nun war ihre Nichtexistenz an einem lebenden Hund durch Freilegung des Brustkorbs experimentell nachgewiesen worden. Dabei war zu sehen, wie das Herz anschwoll, wenn sich die Arterien zusammenzogen, und schrumpfte, wenn sich die Arterien ausdehnten. Dies führte zu der Schlussfolgerung, das Blut fließe von der rechten Herzkammer in die Lungen und kehre, nachdem es mit Luft vermischt worden sei, über die Lungenarterie zur linken Herzkammer zurück. In der Abhandlung ‚De motu cordis‘ würdigte William Harvey die Beiträge des Grundsteinlegers seiner Entdeckung21. Auffallend ist auch, dass Colombo dem Herz ein separates Buch widmet, während das Gehirn zusammen mit der Leber, den Nieren und der Lunge in Buch XI als Viscera behandelt wird. Bei Karl Borromäus war Giambattista Carcano (1536–1606) für die postmortale Untersuchung zuständig. Auch dieser Anatomieprofessor aus Pavia hegte ein besonderes Interesse für das Herz. Ablesen lässt sich dies an dem von ihm verfassten Traktat ‚De cordis vasorum in foetu unione‘, in dem er auf die sich schließenden Gefäße des fetalen Herzens einging22. In diesem Werk wurde erstmals

20 Andrea CARLINO, Books of the Body. Anatomical Ritual and Renaissance Learning, Chicago 1999, 62f. 21 Vgl. dazu K. RUSSELL, The ‚De re anatomica‘ of Realdus Colombus, The Australian and Zealand Journal of Surgery 22 (1953), 508–528; Edward D. COPPOLA, The Discovery of Pulmonary Circulation. A New Approach, Bulletin of the History of Medicine 21 (1957), 44– 77, hier: 48–59; Jerome J. BYLEBYL, Disputation and Description in the Renaissance Pulse Controversy, in: The Medical Renaissance of the Sixteenth Century, hg. v. Andrew WEAR, Roger K. FRENCH u. Ian M. LONIE, Cambridge 1985, 223–245, hier: 236. 22 Giovanni Battista CARCANO LEONE, Anatomici libri duo, Pavia 1575. Vgl. hierzu Antonio SCARPA, Elogio storico di Giambattista Carcano Leone, professore di Anatomia nella Università di Pavia, Mailand 1813.

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bewiesen, dass das sogenannte Foramen ovale bei einem zwei Monate alten Baby nicht mehr offen war, weil sich der Ductus arteriosus in der Zeit nach der Geburt verschloss. Carcano zeigte auf, wie die großen Gefäße im Herzen des Fötus zusammenwirken, und lieferte so gleichfalls einen Beitrag zur Entdeckung des Blutkreislaufs. 1584 wurde Carcano gebeten, die Sektion an Karl Borromäus auszuführen. Der gottesfürchtige Arzt betrachtete dies als eine außerordentliche Ehre und hielt unter dem Titel ‚Exenterationis cadaveris illustrissimi cardinalis Borrhomaei [...] enarratio‘ (Mailand, 1584) seine Erinnerungen an dieses denkwürdige Ereignis unmittelbar danach fest23. Er entfernte Borromäus’ Eingeweide und balsamierte den Leichnam, wodurch der im Geruch der Heiligkeit Verstorbene drei Tage lang aufgebahrt werden konnte. Dies habe, wie Carcano erklärt, eine besondere Wirkung auf die Mailänder gehabt. Sie seien herbeigeströmt und hätten sich auf die Brust geschlagen, als ob ihr Herz in unsagbarer Leidenschaft für Borromäus schlagen würde und mit Vehemenz aus dem Gefängnis des Körpers ausbrechen wolle. Dass das Herz des Heiligen unmittelbar zum Gegenstand der Verehrung werden würde, war leicht zu erkennen. Carcano wurde mit der Entnahme des Organs beauftragt und zerteilte es, da – so behauptet er in seinem Bericht – ganz Italien auf ein Stückchen Herz erpicht war. Tatsächlich erhielt die römische Kirche Santi Ambrogio e Carlo an der Via del Corso, ebenso wie viele andere italienische Gotteshäuser, am 22. Juni 1614 ein beträchtliches Stück (Abb. 2). Die Straßen der ewigen Stadt waren damals mit Herzen geschmückt, Dichter deklamierten rührende Herzgedichte. Solche Emotionen finden sich auch bei Professor Carcano. Er schildert eingehend die Empfindungen, die sich seiner bemächtigten, als er in der rechten Hand sein Seziermesser hielt und in der linken das Herz, das so viele andere Herzen erleuchtet habe. Mit einem rohen Eiseninstrument in dieses einst die Lebensgeister (spiritus vitales) verströmende und somit Leben spendende Herz einzudringen, sei für ihn eine sehr schmerzliche Erfahrung gewesen. Borromäus’ Geist habe einer gesamten Diözese Wohltaten erwiesen und eine kalte Zeit mit Wärme versehen, die viele Menschen bewogen habe, neue und bessere Christen zu werden. Auf diese Kommentare folgt eine Beschreibung der äußeren Erscheinungsform des Herzens, das zwar nicht besonders umfangreich und eigentlich nur mittelgroß, aber anatomisch in einem absolut tadellosen Zustand gewesen sei. Nichtsdestoweniger habe es bei der Operation seine Heiligkeit bewiesen, indem es an Größe zunahm, sich, wie Carcano es formulierte, plötzlich wie ein Meer ausweitete24. Der Arzt gibt sich als perfekter Exponent der gegenreformatorischen kardiologischen Rhetorik. In der vom Herzen ausgehenden Wirkung gewahrt er die dem Feuer des Heiligen Geistes fast gleichkommenden Lebensgeister

23 Vgl. zu diesem Ereignis SIRAISI (wie Anm. 17), 357, 362f. 24 CARCANO, Exenterationis enarratio, zitiert nach Marco Aurelio GRATTAROLA, Successi Maravigliosi della Veneratione di San Carlo, Mailand 1614, 493–495. Zum Empfang eines Herzteils von Karl Borromäus in Rom vgl. Bert TREFFERS, Il cuore di San Carlo. Una festa e una orazione nella Roma del Seicento. Oratorio dei Lombardi di SS. Ambrogio e Carlo al Corso, Rom 1998.

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Abb. 2: Reliquiar (1614) mit einem Stückchen des Herzens von Karl Borromäus, Rom, Santi Ambrogio e Carlo

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und preist das Herz als Sitz der menschlichen Seele. Gleichwohl blieb Carcano auch Anatom und Mediziner, der Brust und Herz gemäß chirurgischen Regeln aufschneidet und das Herz im Sinne der galenischen Terminologie als Produzent des Lebenspneumas beschreibt.

Philipp Neri und die Geheimnisse seines Herzens Der hl. Philipp Neri war der charismatischste Anführer der römischen Gegenreformation. Sein Ruhm als Deuter von Herzensgeheimnissen machte ihn zu einem gefragten Beichtvater, der aufgrund seiner Beliebtheit bei Päpsten und wichtigen Kardinälen auch die Politik des Kirchenstaates maßgeblich beeinflusste. Er plädierte in seinen Predigten und durch sein eigenes Vorbild für eine physisch gelenkte Religiosität, bei der die Kontaktaufnahme mit dem Heiligen Geist ausschlaggebend war. Auf ihren Treffen ehrten Neris Oratoriumsbrüder den Heiligen Geist als ihren speziellen Beschützer, und in Streitgesprächen diskutierten sie über die besonderen Werkzeuge Gottes: das die Herzen entflammende Feuer, den Hoffnung bringenden Glauben und das Gehorsam erzwingende Eisen. Da sich die Menschenseele das Herz als Sitz erwählt habe, werde sie dort vom Heiligen Geist erwärmt. Göttlicher Eifer ließ Neri regelrecht entflammen, und aufgrund seiner konstant erhöhten Temperatur benötigte er dann auch im Winter keine warmen Kleidungsstücke25. Auf seinem Totenbett betete er zu Gott: Tui amoris in me ignem accende (Entzünde in mir das Feuer deiner Liebe)26. Die göttliche Glut auf seinem Gesicht habe seine innerliche Perfektion widergespiegelt. In der Gegenreformation wurde der Dienst an Gott für gewöhnlich als Dienst an der Gemeinschaft interpretiert27. Neris Streben äußerte sich daher auch auf praktische Weise. Er bemühte sich um die Renovierung alter Spitäler und um den Bau neuer Einrichtungen für Pilger und soziale Randgruppen wie Syphilitiker, Waisen und reuige Prostituierte. Zur Förderung ihrer Demut wurden seine Anhänger nicht nur angewiesen, die Kranken zu pflegen, sie mussten auch deren schmutzige Kleider reinigen und die Nachttöpfe leeren28. 25 Antonio GALLONIO, Vita di San Filippo Neri. Pubblicata per la prima volta nel 1601. Edizione critica dell’Oratorio di S. Filippo Neri di Roma, a celebrazione del IV centenario della morte del Santo, con introduzione e note di Maria Teresa BONADONNA RUSSO, Rom 1995, 28f.; Antonio CISTELLINI, San Filippo Neri, l’Oratorio e la Congregazione oratoriana. Storia e spiritualità, Brescia 1989; San Filippo Neri nella realtà romana del XVI secolo, hg. v. Maria Teresa BONADONNA RUSSO u. Niccolò DEL RE, Rom 2000; Jetze TOUBER, Emblemen van Lijdzaamheid. Recht, geneeskunde en techniek in het hagiografische werk van Antonio Gallonio (1556–1605), Amsterdam 2009. 26 GALLONIO (wie Anm. 25), 351 27 Ludwig von PASTOR, Geschichte der Päpste seit dem Ausgang des Mittelalters, Bd. 9, Freiburg i. Br. 1923, 121, 132. Im 16. Jahrhundert kam es in Rom zu einer umfassenden Umgestaltung und Erneuerung der Hospitäler, vgl. hierzu John F. D’AMICO, Renaissance Humanism in Papal Rome. Humanists and Churchmen on the Eve of the Reformation, Baltimore 1983, 107–110. 28 Louis PONNELLE / Louis BORDET, Saint Philippe Néri et la société romaine de son temps (1515–1595), lettre-préf. de Alfred BAUDRILLART, Paris 31929, 171f.

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Philipp Neri, der 80 Jahre alt geworden ist, hatte aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit viel mit akademisch geschulten Ärzten zu tun. Die medizinische Betreuung des zukünftigen Heiligen muss allerdings eine zwiespältige Angelegenheit gewesen sein. Einer der ersten Krankenbesuche, die Cesalpino als Herzspezialist nach seiner Übersiedelung in die Ewige Stadt zu absolvieren hatte, galt dem Patienten Neri, dem die Behandlung jedoch keine Besserung brachte. Trotzdem wurde Professor Cesalpino, was erstaunen mag, zu Beginn des Kanonisationsverfahrens für Neri sofort zur Kurie zitiert, und in seiner offiziellen Stellungnahme erklärte er, das Herzproblem des Verstorbenen sei eine Fügung des Himmels gewesen29. Neris zahlreiche Gegengutachten in schweren Krankheitsfällen und die publikumswirksame Darstellung seiner medizinischen Erfolge bei Leiden, bei denen die Ärzte versagt hatten – ganz zu schweigen von seinen Auferweckungen –, müssen für ein gewisses Maß an Berufsneid gesorgt haben und bringen die Funktionsweise des von vielen uneinheitlichen Gruppen und verschiedenen Faktoren bestimmten medizinischen Marktes im Rom der Frühen Neuzeit auf den Punkt. Jedes Mal, wenn sich eine Prognose des Heiligen bewahrheitete, seien die Ärzte stupefatti gewesen, wie in der italienischen Version seiner Vita wiederholt und nicht ohne Süffisanz bemerkt wird. Nach Ansicht Neris neigten Mediziner gerne dazu, die Dinge schlimmer zu machen; Reliquien und für Klöster gespendete Almosen seien wirkungsvoller. Manchmal war der Rat des heiligen Mannes rein medizinischer Natur, etwa wenn er, in Übereinstimmung mit hippokratischgalenischen Prinzipien, Hygienemaßnahmen empfahl oder eine Luft- und Ortsveränderung vorschlug. Bei anderer Gelegenheit bat er um eine Intervention Gottes und heilte wundertätig durch Handauflegen oder gar durch Körperkontakt: Neri streckte sich oft mit seinem ganzen Leib auf den Kranken aus, zur Weitergabe des Erleichterung bringenden göttlichen Feuers in seinem Herzen30. Obwohl Neris heilende Kräfte das medizinische Fachwissen berühmter Ärzte mehr als einmal ausgestochen hatten, war das Verhältnis im Großen und Ganzen eng und freundschaftlich. Nicht unwichtig dürfte in diesem Zusammenhang gewesen sein, dass es selbst bei erkrankten Ärzten verschiedentlich zu einer Genesung kam, die laut Fachurteil nicht für möglich gehalten worden war. Michele Mercati (1541-1593) beispielsweise hatte sich, als er schwer erkrankt war, eine nur noch kurze Lebenserwartung attestiert, was von seinem Vater, ebenfalls einem Arzt, bestätigt worden war. Neri dagegen hatte eine völlig andere Auffassung vertreten und gesagt, er werde nicht sterben. So sollte es auch kommen: Der Tod stellte sich nicht ein. Mercati lebte weiter, übrigens ohne dass sein berufliches Renommee sichtbar durch diesen Vorfall gelitten hätte. Er wurde nach wie vor ans Krankenbett Gregors XIII. (1572–1585) gerufen und diente später Clemens VIII. als Leib-

29 Giovanni INCISA DELLA ROCCHETTA / Nello VIAN in Zusammenarbeit mit Carlo GASBARRI, Il primo processo per San Filippo Neri nel Codice Vaticano Latino 3798 e in altri esemplari dell’Archivio dell’Oratorio di Roma, Bd. 1, Vatikanstadt 1957, 35. 30 PONNELLE / BORDET (wie Anm. 28), 112f.

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arzt31. Doch auch bei der Behandlung dieses Patienten kam Mercati nicht ohne die Hilfe des Heiligen aus. Es war Neri und nicht er, der die Gicht in den Handgelenken des Papstes kurierte32. Die Ekstase war in früheren Zeiten ein zentraler Bestandteil der religiösen Erfahrung. Sie implizierte Loslösung von allem Irdischen und dadurch Nähe zu Gott. Die auserwählten Gläubigen, die von diesem Zustand ergriffen wurden, machten die Erfahrung, dass sie in mentaler Hinsicht und von körperlichen Phänomenen begleitet in den Himmel emporstiegen. Im Falle Neris, der als einer der prominentesten Vertreter dieses „erhebenden“ Gottessehnens gelten kann, bedeutete ekstatische Verzückung ein Entbrennen in Liebe zu Gott. Durch die sogenannte eingepflanzte Wärme wurde er in die Luft gehoben, bis zu ein paar Handbreit über den Boden. Dies geschah vor allem, wenn Neri beim Zelebrieren der heiligen Messe den Leib Christi emporhielt. In solchen Momenten soll sein Herz leidenschaftlich gezittert haben, als ob es darum bitte, die Brust verlassen und gen Himmel fliegen zu dürfen33. Mit dieser „Warmherzigkeit“ stand Neri übrigens nicht alleine da, denn auch andere zeitgenössische Heilige wie Stanislaus Kostka (1550–1568) und Francisco de Xavier (1506–1552) konnten aufgrund ihrer permanenten Fieberhaftigkeit im Winter ohne wärmende Brustbedeckung auskommen34. Der Unterschied war der, dass Neri ein Herzleiden hatte: Es verursachte Palpitationen, also ein starkes, schmerzhaftes Herzklopfen, und hatte im Gegensatz zu den heftigen Erregungszuständen der anderen eine eindeutig medizinische Komponente, zu der sich die das Herz erforschenden Ärzte wissenschaftlich äußerten. Dieses Herzrasen hatte sich erstmals bemerkbar gemacht, als Neri gerade in den Katakomben von S. Sebastiano predigte. Der Heilige Geist war in Form einer Feuerkugel durch den atemlos geöffneten Mund in ihn gefahren und hatte sich in seiner Brust niedergelassen. Von der Hitze dieses fuoco d’amore zu Boden geschleudert, konnte Neri erst nach einer längeren Abkühlungsphase wieder aufstehen. Doch das Gefühl großer Freude blieb, und das Zittern hielt an. Dann wurde beim Abtasten seiner Brust ein faustgroßer Tumor entdeckt. In den verbleibenden fünfzig Lebensjahren manifestierte sich die Verbindung zu Gott in einem schweren, mit Schmerzen verbundenen Pochen des Herzens. Das fehlerhafte Funktionieren dieses Organs löste im Leben des Heiligen viele Krisen aus und war schließlich für seinen Tod verantwortlich. Während seiner letzten Krankheiten musste er regelmäßig große Mengen Blut husten, was er der Tatsache zuschrieb, dass Hitze und Herzklopfen eine Überproduktion an Blut angeregt hätten. Die Flüssigkeit wurde von dem Oratorianer Francesco Zazzara sorgfältig eingesammelt. Verzweifelt verschrieben die Ärzte allerlei Medikamente, durch die sich die Lage aber nur verschlechterte. Neri verspottete sie für ihre Torheit: Das Blut wolle 31 GALLONIO (wie Anm. 25), 199f.; Pietro Giacomo BACCI, Vita di San Filippo Neri. Fondatore della Congregazione dell’Oratorio, Rom 1818 [Erstausg. 1622], 220. 32 GALLONIO (wie Anm. 25), 292–294. 33 Ebd., 48–51. 34 Ebd.

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aus Liebe zu Gott seinen Körper verlassen, um das Leiden der Menschheit zu lindern35. Am Ende entschlief der Heilige gelassen und heiter im Beisein seiner Oratoriumsbrüder am 26. Mai 1595. Es war natürlich nicht zufällig die Nacht nach dem Fronleichnamsfest. Die Verknüpfung von Medizinischem und Religiösem wird klarer, wenn man die oben erwähnte Stellungnahme, die Andrea Cesalpino in seiner Eigenschaft als Herzspezialist abgab, eingehender untersucht. Cesalpino hatte in Pisa bei Realdo Colombo studiert und war 1592 auf Empfehlung seines früheren Schülers Michele Mercati nach Rom gekommen. Dort wirkte er als Arzt Clemens’ VIII. und als Professor an der Sapienza. Im Rahmen des Kanonisationsverfahrens für Neri erklärte der Gelehrte, die gewissenhafte Brustuntersuchung des Heiligen habe ihm die Ursache für das starke und schmerzhafte Schlagen des Herzens gezeigt. Die Beschwerden hätten sich jedes Mal eingestellt, wenn Neri in Ekstase geraten sei. Daraufhin habe sich das Herz mit Blut gefüllt, und die Arterie, die die Flüssigkeit zu den Lungen befördere, sei doppelt so groß wie normal geworden. Schließlich hätten die häufigen Visionen an zwei linken Rippen – den beiden dem Herzen am nächsten stehenden – eine Fraktur herbeigeführt. Das Knorpelgewebe der Rippen habe den Herzbeutel berührt, der sich durch das Herzklopfen wie eine Orgelpfeife aufgebläht habe und dann wieder zusammengefallen sei. Diese Kombination von Defekten habe auf der linken Seite des Brustkorbs einen Tumor wachsen lassen. Obwohl Cesalpino das Befinden Neris minutiös in medizinischen Termini beschreibt, urteilte er letztendlich, das Herzleiden habe einen überirdischen Ursprung. Schließlich seien die Palpitationen nur aufgetreten, wenn sich der Heilige auf göttliche Dinge konzentrierte, und hätten nachgelassen, wenn er sich wieder diesseitigen Angelegenheiten zuwandte. Eine Einwirkung Gottes stelle die einzig mögliche Erklärung dar, denn andernfalls hätte Neri kein derart hohes Alter erreichen können. Das sei ein Wunder gewesen und somit ein weiterer Grund, ihn als Heiligen zu betrachten36. Cesalpinos Schlussfolgerungen bestätigten sich unmittelbar nach dem Tod des Heiligen bei der Leichenöffnung. Diese Prozedur war eine seit dem Hochmittelalter bei Päpsten und Königen gängige Praxis. Man nahm die Eingeweide heraus, um eine schnelle Zersetzung zu verhindern. So konnten die Menschen am aufgebahrten Leichnam auf geeignete Weise von dem Toten Abschied nehmen. Zugleich gab es so Zeit, die Wahl des Nachfolgers vorzubereiten37. Neris Sektion übernahmen der päpstliche Wundarzt Giuseppe Zerla (1521–1605) und der örtliche Bader Marcantonio del Bello unter Aufsicht von Angelo Vittori, Arzt Gregors XIII. und medico di casa der Oratorianer, sowie von Bernardino Castellano,

35 Ebd. 295f. 36 INCISA DELLA ROCCHETTA / VIAN (wie Anm. 29), Bd. 1, 235f. 37 Agostino PARAVICINI BAGLIANI, Il corpo del Papa, Turin 1994, 194–196. Zu den Ritualen von päpstlichen Bestattungen im Allgemeinen: Minou SCHRAVEN, Festive Funerals: Funeral Apparati in Early Modern Italy, Particularly in Rome, Groningen 2006.

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dem obersten Medicus des Hospitals Santo Spirito38. Nachdem man den Brustkorb aufgeschnitten hatte, sah man, dass sich das Innere in einem einwandfreien Zustand befand und durch nichts entstellt war. Das Herzleiden hatte keine Narben hinterlassen. Zwar wurde der Umfang des Herzens als verhältnismäßig groß empfunden, doch das war für einen angehenden Heiligen ein überaus positives Zeichen. Dass das normalerweise im Herzbeutel anzutreffende Wasser fehlte, wurde Neris überbordender Inbrunst, der fiamma dell’amor divino, zugeschrieben. Die Organe aus Brust- und Bauchhöhle wurden herausgenommen, in ein Gefäß gelegt, mit Sand bedeckt und auf dem Friedhof der Oratorianerkongregation begraben. Nachdem er drei Tage aufgebahrt worden war, wurde der Leichnam in der von den Oratorianern erworbenen Kirche S. Maria in Vallicella im Boden des Chorraums beigesetzt39. Im Gegensatz zum Herzen von Karl Borromäus verschwand Neris Herz mit den anderen vergänglichen Eingeweiden sozusagen sang- und klanglos von der Bildfläche. Ärzte und Anhänger bereuten allerdings schon bald diesen bedauerlichen Fauxpas. Bereits acht Monate später bat Kardinal Agostino Cusano († 1598) um Reliquien seines Glaubenshelden; am liebsten wollte er ein Stück des Herzens. Da der Wunsch eines bedeutenden Prälaten nicht abgeschlagen werden konnte, wurde das Gefäß mit den Eingeweiden ausgegraben. Erneut wurde Angelo Vittori als Fachmann bemüht, doch es gelang ihm nicht, in der Masse toter Organe das Herz ausfindig zu machen40. Einer der Ärzte, die den Leichnam später aus Anlass von Neris Umbettung in eine ihm gewidmete Seitenkapelle untersuchen mussten, beklagte sich über die Nachlässigkeit bei der Sektion. Wäre Neris Herz aufbewahrt worden, so Antonio Porti, hätte man mit Sicherheit den Nachweis führen können, dass es so oft von Gott entfacht worden sei41. Der noch intakte Brustraum übernahm nun als einstige Hülle des Herzens dessen Funktion zur Offenbarung des Wunderbaren. Unter Bezugnahme auf Aristoteles (384–322 v. Chr.), für den das Herz der Sitz der menschlichen Seele war, betonte auch Cesalpino den einwandfreien Zustand, in dem sich die Brust des exhumierten Körpers befand, und verwies auf ihre schneeweiße Farbe und das weiche Fleisch, das noch immer na-

38 INCISA DELLA ROCCHETTA / VIAN (wie Anm. 29), Bd. 2, Vatikanstadt 1958, Nr. 223, 218– 220 (del Bello), Nr. 224, 220–222 (Zerla) und Bd. 4, Vatikanstadt 1963, 207, Anm. 1234. Die Angaben hierzu sind nicht eindeutig. GALLONIO (wie Anm. 25), 310–312 bezieht auch Cesalpino mit ein, doch Angelo VITTORI schreibt in seiner Medica disputatio de palpitatione cordis, fractura costarum, aliisque affectionibus B. Philippi Neri, Rom 1613, 5f., dass er die Aufsicht gehabt habe. Cesalpino erwähnt er nicht. Dazu: SIRAISI (wie Anm. 17), 364–365 und meinen Beitrag Secrets of the Heart: The Role of Saintly Bodies in the Medical Discourse of CounterReformation Rome, in: Roman Bodies. Antiquity to the Eighteenth Century, hg. v. Andrew HOPKINS u. Maria WYKE, London 2005, 201–213. 39 GALLONIO (wie Anm. 25), 316. 40 Ebd., 222–236; INCISA DELLA ROCCHETTA / VIAN (wie Anm. 29), Bd. 2, Nr. 162, 48f., Nr. 163, 49–52, Nr. 189, 137–139 und Nr. 229, 235f. Eine ausführlichere Behandlung des Sektionsthemas bietet mein Beitrag Secrets of the Heart (wie Anm. 38). 41 INCISA DELLA ROCCHETTA / VIAN (wie Anm. 29), Bd. 3, Vatikanstadt 1960, Nr. 42, 439–445.

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türlich aussehe. Abermals konnte dies nicht als Natur- oder Menschenwerk erklärt werden, sondern musste seinen Ursprung bei Gott haben42.

Cesalpino und der Blutkreislauf Drei der Ärzte, die Philipp Neri behandelt hatten beziehungsweise an der Sektion und den späteren Untersuchungen seines Leichnams beteiligt gewesen waren, äußerten sich schriftlich zum Herzleiden des Heiligen43. 1613 veröffentlichte Angelo Vittori seine ‚Medica disputatio de palpitatione cordis, fractura costarum, aliisque affectionibus B. Philippi Neri’, in der er Neris gesamte Krankengeschichte besprach, und Antonio Porti war 1594 von Kardinal Federico Borromeo (1564– 1631) gebeten worden, seine Befunde zu Papier zu bringen44. Beide Ärzte konzentrierten sich auf die Gottgegebenheit der Herzbeschwerden, die sie als ein himmlisches Werkzeug deuteten, mit dem Gott seinen Einfluss ausübe. Den medizinisch-fachlichen Standpunkt verloren sie dennoch nicht aus den Augen. Alle relevanten das Herz betreffenden Quellen aus dem Altertum und arabischen Mittelalter treten in den Texten prominent in Erscheinung, einschließlich der spezifischen Erkrankungen und jeweiligen therapeutischen Maßnahmen. Diese Haltung bezieht überraschenderweise auch den unterstellten überirdischen Charakter von Neris körperlichen Problemen mit ein. Vittori erinnert den Leser daran, dass bereits Hippokrates (um 460–um 370 v. Chr.) in seinem ‚De morbo sacro‘ zwischen göttlichen und menschlich-natürlichen Krankheiten unterschieden habe. Selbstverständlich wurde aber zwischen Neris Herzklopfen und den normalen Gesetzmäßigkeiten des Herzens keinerlei Zusammenhang gesehen. Entsprechend wurde gefolgert, dass die Ärzte bei Neris Herz aufgrund der göttlichen Bedingtheit des Leidens mit ihrem herkömmlichen medizinischen Heilungsansatz zwangsläufig scheitern mussten45. An der Universität von Pisa war Andrea Cesalpino der vielversprechendste Schüler Realdo Colombos gewesen. Außerdem studierte er bei dem GalenÜbersetzer Guido Guidi (1509–1569), damals Professor der theoretischen Medizin in Pisa, und wurde von Simone Porzio (1496–1554) in der aristotelischen Philosophie unterrichtet. In seiner berühmten Abhandlung ‚Quaestionum peripateticarum libri quinque‘ (Erstausg. Florenz 1569) setzte Cesalpino das Werk dieser drei Lehrmeister fort. Es handelt sich um eine Summa, in der er Methode, Wissensorganisation, die Prinzipien des Universums, die Erklärung der Welt und ihres Laufs sowie organische und geistige Phänomene darstellt. Das gesamte Wissen der Menschheit wird unter Aristoteles’ Schirmherrschaft präsentiert. Der Verfas-

42 DIES., Bd. 1, 222f. 43 Siehe hierzu SIRAISI (wie Anm. 17). 44 Dieser Bericht wurde nie veröffentlicht und befindet sich heute in der Mailänder Biblioteca Ambrosiana, Cod. Ambros. G 70. Vgl. hierzu Luigi BELLONI, L’aneurisma di S. Filippo Neri nella relazione di Antonio Porti, Mailand 1950, mit einer Transkription. 45 VITTORI (wie Anm. 38), 6–18, 21.

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ser gibt vor, die wahren Lehren des griechischen Philosophen wiederherzustellen, und zeichnet das Bild eines naturalistischen, experimentellen und empirischen Aristoteles, der von traditionellen, sprich mittelalterlichen Interpretationen freigelegt sei. Alle behandelten Themen würden, wie Cesalpino nachdrücklich im Vorwort ankündigt, in Übereinstimmung mit den Meinungen des Fürsten der Peripatetiker untersucht werden. Nur in den Punkten, in denen er von der Heiligen Schrift abweiche, werde der Philosoph ausgeklammert. Dies wurde denjenigen überlassen, deren Aufgabe das Studium der Theologie war. Vermutlich schützte sich Cesalpino damit vor den Gefahren der Inquisition. Unabhängig davon, ob er über Mineralien, Pflanzen oder Körperteile und ihre Beeinträchtigungen schreibt, verfährt Cesalpino in all seinen Werken beschreibend, analysierend durch Vergleich, neu ordnend und klassifizierend. Er ist noch sehr stark der Mentalität und Denkweise des traditionellen, gleichermaßen als Philosoph und Arzt wirkenden Gelehrten verhaftet. Am deutlichsten zutage tritt dies in den ‚Peripateticae Quaestiones‘, wo Cesalpino nicht wie Galen (129–200) dem Gehirn, sondern dem Herz eine führende Rolle beimisst. Das Herz sei der unbedingte Mittelpunkt des menschlichen Organismus. Das Blut gelange in einer den gesamten Körper nährenden Dauerbewegung von den Venen ins Herz, passiere die Herzklappen und setze dann seinen Weg durch die Arterien fort. Cesalpino bezeichnet diesen Prozess, den er, wie er sagt, durch Sektion bewiesen habe, als circulatio. Ob zu Recht oder nicht, auch in seiner Lebensbeschreibung im ‚Dizionario biografico degli Italiani‘ aus dem Jahr 1980 wird nicht William Harvey, sondern Cesalpino als Entdecker des Blutkreislaufs gewürdigt46. Ihm zufolge werden die Körperteile ständig mit Nahrung versorgt, weil das Herz kontinuierlich Lebensgeister erzeuge. Anhand des Pulsschlags könne das Strömen des Blutes überprüft werden47. Des Weiteren wird die Bedeutung der Luftaufnahme durch das Blut in den Lungen hervorgehoben, was die von Galen befürchtete Überhit-

46 Augusto DE FERRARI, Cesalpino, Andrea, in: Dizionario biografico (wie Anm. 18), Bd. 24, Rom 1980, 123–125; Karl MÄGDEFRAU, Cesalpino, Andrea, in: Dictionary of Scientific Biography (wie Anm. 18), Bd. 15=Suppl. 1, New York 1978, 80f.; ARCIERI (wie Anm. 14). Die Entdeckung des kleinen und großen Blutkreislaufs gab Anlass zu zahlreichen patriotischen Auseinandersetzungen, die im Rahmen des vorliegenden Beitrags jedoch außer Acht gelassen werden. Vgl. hierzu Roger BAINTON, The Smaller Circulation: Servetus and Colombo, Sudhoffs Archiv für Geschichte der Medizin 24 (1931), 371–374. Die Diskussion konzentrierte sich auf die Frage, ob Cesalpino der Entdecker des Blutkreislaufs war oder nicht. Eine Übersicht der Diskussion findet sich bei Walter PAGEL, The Philosophy of Circles – Cesalpino– Harvey. A Penultimate Assessment, Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 12 (1957), 140–157; DERS., The ‚Claim‘ of Cesalpino and the First and Second Edition of his ‚Peripatetic Questions‘, History of Science 13 (1975), 130–138. Ferner: Mark Edward CLARK / Stephan A. NIMIS / George R. ROCHEFORT, Andreas Cesalpini, Quaestionum peripateticarum, Libri V, Liber V, Quaestio IV, Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 33 (1978), 185–213. 47 Quaestiones Peripateticarum, Buch V, Quaestio IV, siehe CLARK / NIMIS / ROCHEFORT (wie Anm. 46), 207f. Eine weitere Ausgabe: Maurice DOROLLE, Césalpin. Questions Péripatéticiennes, Paris 1929.

Herzenswärme, Herzensblut und Herzeleid

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zung verhindere. Daraus zog Cesalpino den Schluss, dass das Herz als zentrales Organ für alle Gefäße, für das gesamte Blut und sogar für die Nerven fungiere. Was Cesalpino hier darlegt, ist die Beschreibung einer kreisförmigen Bewegung des Blutes durch den Körper, die er aber nicht empirisch erhärtet. Da wird von Vervollkommnung gesprochen, und es werden Vergleiche angestellt. Beobachtungen allerdings werden fast keine gemacht, obwohl dies als ein für Ärzte höchst wichtiges Verfahren bezeichnet wird. Die Begründung ist in ihrem Lobpreis von Aristoteles und der Entlarvung Galens sehr rhetorisch und bleibt vollständig innerhalb teleologischer und qualitativer Begriffe. Man könnte sagen, dass Aristoteles dem Mediziner mit einem Modell zur Erforschung der Natur beigesprungen ist. Cesalpino war in Anlehnung an sein griechisches Vorbild überzeugt, die lebensnotwendigen Funktionen des Körpers würden von einem einzigen, obersten Prinzip geregelt, analog zu demjenigen, das die makrokosmischen Phänomene organisiere. Dieses Prinzip manifestiere sich in einer Hitze (calor), deren Sitz im Herzen sei. Dort würden durch ihre Kraft aus rohem Blut die Lebensgeister (spiritus vitales) hergestellt und über die Arterien im Körper verteilt. Die nach Ansicht Cesalpinos durch Wärme wirkende Seele müsse ebenfalls als ein biologischer Faktor verstanden werden, der alle wesentlichen Phänomene des Lebens erkläre. Selbst sie, die Seele, könne nicht ohne Materie existieren. 1602 erschien die ‚Praxis universae artis medicae‘, die Cesalpino seinem Gönner Clemens VIII. zueignete. Diese ‚Ars medica‘ ist ein recht bezeichnender klinischer Leitfaden, in dem verschiedene Krankheitsgruppen gemäß ihrer Verortung im Körper behandelt werden. Buch VI, De morbis thoracis, erörtert die Beschaffenheit des Herzens und die für dieses Organ charakteristischen Leiden, wie etwa Palpitationen, einschließlich der sie betreffenden Therapiemöglichkeiten. In dem mit De constitutione cordis überschriebenen Kapitel VI.19 geht der Verfasser ausführlich auf den Sitz der Lebenskraft – Thorax sedes est facultatis vitalis – und auf die diesbezüglichen Meinungsunterschiede zwischen Aristoteles und Galen ein. Ausgiebig wiederholt Cesalpino seine Anschauungen über das Herz und die Blutzirkulation, wobei er sich gewissenhaft aller relevanten medizinischen Quellen aus dem Altertum bedient. Einmal mehr stoßen wir hier auf den continuus motus, der seinen Weg von den Venen ins Herz und von dort in die Arterien zurücklegt48. Kapitel VI.20, das den Titel De affectibus cordis et palpitatione trägt, listet, sorgfältig in verschiedene Kategorien untergliedert, die vielen Herzstörungen auf. Im Hinblick auf die Krankheiten der Seele, die perturbationes, zu denen Zorn, Furcht, Trübsal, große Freude, Begierde, Liebe und Neid gehörten, die, wie bereits von Galen dargelegt, vom Herzen regiert würden, sei indes nur eine korrekte Schlussfolgerung möglich. Sie befänden sich außerhalb des Arbeitsbereichs der Mediziner, da sie nicht vom Körper abhängig seien49. Das Ende dieses wissen48 Andrea CESALPINO, Ars medica. Pars Prima. De morbis universalibus. Ad sanctiss. patrem D. N. Clementem 8. Pont. Max., Rom 1602, 471f. 49 Ebd., 473. Cesalpino beschrieb seine Ansichten zu diesem Punkt, und insbesondere zum Problem der Besessenheit durch Dämonen, in seinem Werk Daemonum investigatio peripate-

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schaftlich ausgerichteten Kapitels mag den modernen Leser verblüffen. Cesalpino wiederholt die Geschichte von den Herzbeschwerden des hl. Philipp Neri in Momenten der Ekstase. Seine Darstellung entspricht dem oben Geschilderten: Die verstärkte Herzaktion müsse auf göttliches Zutun zurückgehen, da der Patient sonst keine 80 Jahre alt geworden wäre, schon lange vorher hätte dahinscheiden müssen50. Philipp Neris Herzleiden wurde als eine übernatürliche Krankheit klassifiziert. Sie war ein Zeichen für seine Auserwähltheit. Daher ist es folgerichtig, dass diese Beobachtung Cesalpino nicht davon abhielt, auf mehreren Seiten zu beschreiben, wie „normale“ Palpitationen geheilt werden können. Bei einer natürlich auftretenden, also nicht durch Gott verursachten Erweiterung der Arterie auf das Doppelte ihrer ursprünglichen Größe schaffe ein Aderlass am rechten Arm Abhilfe51.

Schmerzhafte Erlösung Die Geheimnisse des Herzens waren für die akademischen Ärzte im Rom der Frühen Neuzeit von grundlegender Bedeutung. Die ihrem fachlichen Streben zugrunde liegenden Motive müssen vor dem Hintergrund der Gegenreformation interpretiert werden und konstituierten sich in der Kombination philosophischer, naturkundlicher und religiöser Elemente. Fast verzweifelt versuchte Cesalpino, die Idee der Einheit von Körper und Seele zu retten. Da er ständig die physische Welt der Sterblichen mit den ewigen Körpern des Himmels verquickte, müssen seine Ansichten in den Kontext des mehrstufigen kosmologischen Ordnungsprinzips der Großen Seinskette gesetzt werden52. Cesalpino mag bei vordergründiger Lektüre einen recht „modernen“ Eindruck machen. Doch faktisch waren seine Auffassungen weit davon entfernt, das Herz als ein reines Muskelorgan in Augenschein zu nehmen. Das exzeptionelle Herz Neris galt ihm daher nicht nur als Zeichen für die Auserwähltheit/Heiligkeit der Person. Vielmehr eröffnete es ihm auch die Möglichkeit, die verschiedenen Systeme des Wissens miteinander zu verschalten. Während des 16. Jahrhunderts wurden Galens und Aristoteles’ Experimente wiederholt. Beide wurden korrigiert, aber ihr Einfluss ging mit Sicherheit nicht gänzlich verloren. Einer der Gründe dafür, dass die galenischen und aristotelischen Lehrmeinungen nicht umstandslos aufgegeben wurden, war just die Unmöglichkeit, einen mechanistischen Menschenkörper zu konzipieren. Weit mehr als im Mittelalter und in letztlich paradoxer Weise kreiste die Frömmigkeit zur

tica, Florenz 1580. Vgl. hierzu Mark Edward CLARK / Kirk M. SUMMERS, Hippocratic Medicine and Aristotelian Science in the ‚Daemonum investigatio peripatetica‘ of Andrea Cesalpino, Bulletin of the History of Medicine 69 (1995), 527–541. 50 CESALPINO, Ars Medica (wie Anm. 48 ), 478. 51 Ebd., 476. 52 PAGEL, The ‚Claim‘ of Cesalpino (wie Anm. 46), 131f.

Herzenswärme, Herzensblut und Herzeleid

Abb. 3: Alessandro Algardi, Marmorstatue von Philipp Neri (1636–1638), Rom, Chiesa Nuova

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Zeit der Gegenreformation um eine sehr leibliche Erfahrung der Religiosität mit dem Ziel, die unbedingte Erhabenheit des Göttlichen zu beweisen. Diese Religiosität konzentrierte sich vor allem auf das Herz; sein Treibstoff, das menschliche Blut mit den von ihm beförderten spiritus vitales, wurde nahezu zu einer menschlichen Variante des Heiligen Geistes. In gewissem Sinne erlangte der menschliche Körper die Funktion einer Glaubensmaschine, und deshalb war Schmerz ein positives Signal aus dem Himmel. Philipp Neri hatte seine Leiden begrüßt und eine direkte Beziehung zwischen seinem körperlichen und seinem geistigen Zustand gefühlt, fast so, als ob sie kommunizierende Röhren seien. Eines der von dem Oratorianer Francesco Zazzara aufgezeichneten Gebete Neris, ein Vers aus Psalm 50,12 der Vulgata – Cor mundum crea in me Deus || et spiritum rectum innova in visceribus meis (Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz, || und gib mir einen neuen, beständigen Geist!) –, unterstreicht die leibliche Grundlage der damaligen Frömmigkeit53. Körperlicher Schmerz war das einzige Mittel, das zu geistiger Erlösung führte, eine Tendenz, die in den Herzbeschwerden verschiedener Heiliger des 16. und 17. Jahrhunderts gipfelte. Genau dies ist es, was wir in medizinischen Abhandlungen und in hagiographischen Schriften lesen können und was auch in Gemälden und Bildwerken des Barocks anzutreffen ist. Als Zeugnis und Huldigung für das überströmende Herz Philipp Neris schuf Alessandro Algardi (1595– 1654) 1640 eine große Marmorstatue des Heiligen (Abb. 3), die bis auf den heutigen Tag in der als Chiesa Nuova bekannten Kirche Santa Maria in Vallicella zu sehen ist. Ein zu Füßen Neris kniender Engel hält ein geöffnetes Buch mit Psalm 118,32 aus der Vulgata: viam mandatorum tuorum cucurri || cum dilatasti cor meum (Ich eile voran auf dem Weg deiner Gebote, || denn mein Herz machst du weit). Diese Zeilen referieren gleichzeitig auf die wundersame Herzerweiterung des Heiligen und wurden zur Gabenbereitung am Festtag von Philipp Neri gesungen. Pietro Boncompagni, der die Statue in Auftrag gegeben hatte, muss diesen Vers mit großer Sorgfalt ausgewählt haben54.

Bildnachweis Abb. 1: Caterina FURLAN / Stefania MASON, Scienza e miracoli nella pittura veneta del Seicento, in: Scienza e miracoli nell’arte del ‘600. Alle origini della medicina moderna, hg. v. Sergio ROSSI, Mailand 1998, 118. Abb. 2: Bert TREFFERS, Il cuore di San Carlo. Una festa e una orazione nella Roma del Seicento. Oratorio dei Lombardi di SS. Ambrogio e Carlo al Corso, Rom 1998. Abb. 3: Jennifer MONTAGU, Alessandro Algardi, vol. 1, New Haven, London 1985, 48, Colour Pl. III.

53 GALLONIO (wie Anm. 25), 349–351. 54 Jennifer MONTAGU, Alessandro Algardi, vol. 2, New Haven, London 1985, Nr. 75, 380–381; Olga MELASECCHI, Nascita e sviluppo dell’iconografia di S. Filippo Neri dal Cinquecento al Settecento, La regola e la fama. San Filippo Neri e l’arte, hg. v. Roberta RINALDI u. Anna SABITINO, Mailand 1995, 34–49, hier: 39.

SCHMERZEN ALS (UN)SICHTBARE ZEICHEN VON HEILIGKEIT: STIGMATA IM TEXT (FRANKREICH, 1630–1730) Xenia von Tippelskirch

Ein Stigma ist ein körperliches Zeichen, welches eingeschrieben ist in ein spezifisches Ritual: Nur durch eine Reihe von bedeutungsverleihenden Praktiken wird die körperliche Wunde zum göttlichen Zeichen1. Im Folgenden soll dem Nexus zwischen dem Zeichen und seinen Bedeutungen, der Spannung zwischen individueller und kollektiver Wahrnehmung, den Möglichkeiten der Bedeutungsverschiebung im Kontext einer jeweils rituell und textuell festgelegten Signifikanz nachgespürt werden. Dabei wird hier Körpererfahrung und insbesondere Leidenserfahrung nicht als humanbiologische Konstante, sondern als historisch genau zu situierende, kulturell geprägte Variable begriffen2. Körper und Text sind eng miteinander verknüpft, die spezifische Erfahrung entsteht in ihrer körperlichen Realität nur dank eines besonderen (Text-)Wissens und erschließt sich auch nur in einem besonderen Kontext. Im Laufe der Geschichte floss nicht immer Blut aus Wunden, die denen Christi ähnlich schienen, nicht immer wurden Fälle von spontanen Blutungen und plötzlichem Schmerz an Händen, Füßen und der Seite dem „Kanon anerkannter Stigmatisationen“ zugeschrieben. In der Tat erscheint es notwendig, den Moment der Zuschreibung, den Kontext des „Aufschreibens“ und der „Veröffentlichung“ ernst zu nehmen. Konzentrieren möchte ich mich in den folgenden Ausführungen 1

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Der Jesuit Thurston bezeichnet Stigmatisation als die am häufigsten besprochene körperliche Begleiterscheinung asketischen Lebens: Herbert THURSTON, Die körperlichen Begleiterscheinungen der Mystik (Grenzfragen der Psychologie 2), hg. v. J[oseph] H[ugh] CREHAN, mit e. Vorw. v. Gerhard FREI, übers. v. Clemens MÜLLER, Luzern 1956, 53. Neuere Literatur zur Stigmatisation: Stigmates (L’Herne 75), dir. par Dominique de COURCELLES, Paris 2001, 103–118; Nicole PELLEGRIN, L’Écriture des stigmates (XVIe–XVIIIe siècles), in: La Blessure corporelle. Violences et souffrances, symboles et représentations, Table ronde, Poitiers – Juin 2000 (Les Cahiers du GERHICO 4), hg. v. Pierre CORDIER u. Sébastien JAHAN, Poitiers 2003, 41–62; Stigmata. Poetiken der Körperinschrift, hg. v. Bettine MENKE u. Barbara VINKEN, München 2004. Vgl. dazu unter anderem: Iris RITZMANN, Leidenserfahrung in der historischen Betrachtung. Ein Seiltanz zwischen sozialem Konstrukt und humanbiologischer Konstanz, in: „Erfahrung“ als Kategorie der Frühneuzeitgeschichte (Historische Zeitschrift, Beih., N.F. 31), hg. v. Paul MÜNCH, München 2001, 59–72; Jakob TANNER, Körpererfahrung, Schmerz und die Konstruktion des Kulturellen, Historische Anthropologie 2 (1994), 489–502. Eine Herangehensweise, die die historische Verankerung körperlicher Schmerzerfahrungen im Rahmen von Stigmatisationen postuliert, liegt nicht zuletzt auch deshalb nahe, da das Phänomen der Stigmatisation erst ab dem 13. Jahrhundert auftritt und in der Regel Katholiken trifft.

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auf eine Reihe von Fällen, die sich zwischen der Mitte des 17. und dem Beginn des 18. Jahrhunderts in Frankreich ereignet haben. Kontext und Hintergrund der Einzelfälle sind also die massive Rekatholisierungskampagne von Ludwig XIV., die politisch-theologische Kontroverse zwischen Jansenisten und Jesuiten, das Zurückdrängen mystisch inspirierter Religiosität sowie die Frühaufklärung: eine Zeit, in der die Bedeutung von Zeremoniell und Ritual, die Notwendigkeit von sichtbaren Zeichen des christlichen Glaubens3 neu verhandelt wurde und Versuche von Intellektualisierungen religiöser Erfahrung für heftige Auseinandersetzungen sorgten. Die sich in dieser Zeit manifestierenden Zeichen einer Nachfolge Christi wurden im Laufe der Geschichte unterschiedlich gedeutet. Von den Zeitgenossen zum ersten Mal aufgezeichnet, erfuhren die hier diskutierten Fälle unterschiedlich starke Beachtung in der Folgezeit. Häufig wurden sie erst zu einem späteren Zeitpunkt explizit als Stigmatisation bezeichnet und eingeordnet. Besonders empfänglich für diese Art von Berichten scheint das 19. Jahrhundert gewesen zu sein. So ist denn auch für eine Beschäftigung mit der Geschichte der frühneuzeitlichen Stigmatisation und mit der sich damit befassenden französischen Historiographie ein Werk des ausgehenden 19. Jahrhunderts unumgänglich, ‚La Stigmatisation‘ (1894) von Antoine Imbert-Gourbeyre (1817–1912). Dieser Band, der lange Zitate aus den von ihm benutzten Quellen enthält – und von fast allen historiographischen Nachfolgewerken genutzt wurde, wenn auch häufig ohne explizit zitiert zu werden –, ist 1996 neu ediert worden. Herausgeber ist der Historiker Joachim Bouflet, der im Vatikan als Berater in Kanonisationsprozessen wirkt und den Text mit unterschiedlich ausführlichen Kommentaren versehen hat. Pierre Adnès und Jacques Le Brun haben zu Recht davor gewarnt, das Werk von Imbert-Gourbeyre lediglich als Steinbruch zu verwenden4. In der Tat muss es vor dem Hintergrund seiner Entstehung betrachtet werden: Imbert-Gourbeyre war Arzt, stark beeindruckt von der belgischen Stigmatikerin Louise Lateau (1850–1883) und fühlte sich dazu berufen, in dem sich um diesen Fall entspinnenden Streit zwischen unterschiedlichen Instanzen und Autoritäten Position zu beziehen und gegen die Hysterie-Hypothese von Jean Martin Charcot (1825–1893) und dessen Schülern anzuschreiben5. „Die Wissenschaft hat mich zum Glauben gebracht“, erklärte er

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Vgl. zur Bedeutung der Zeichen (marques) in dieser Periode: Michel de CERTEAU, Die Förmlichkeit der Praktiken, in: Lire Michel de Certeau. La formalité des pratiques (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 12), hg. v. Philippe BÜTTGEN u. Christian JOUHAUD, Frankfurt a. M. 2008, 26f. Pierre ADNÈS, Stigmates, in: Dictionnaire de spiritualité ascétique et mystique. Doctrine et histoire, Bd. 14, Paris 1988, 1211–1243, hier: 1214; Jacques LE BRUN, Les Discours de la stigmatisation au XVIIe siècle, in: Stigmates (wie Anm. 1), 103–118. Involviert waren nicht nur Kirchenvertreter, sondern auch unterschiedliche medizinische Institutionen; unter anderem war Rudolf Virchow aufgefordert worden, Louise Lateau zu untersuchen, lehnte dies aber vehement ab und bestritt die bloße Möglichkeit von Stigmatisationen. Rudolf VIRCHOW, Über Wunder, Breslau 1874. Zu diesem Fall siehe: Sofie LACHAPELLE, Between Miracle and Sickness: Louise Lateau and the Experience of Stigmata and Ecstasy, Configurations 12 (2004), 77–105, insbesondere 93, 96.

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in der Einleitung seines Werkes6. Um dies auch anderen zu vermitteln, unternahm er eine – keineswegs wertungsfreie, in seinen Augen aber wissenschaftliche – Kompilation aller ihm zur Verfügung stehenden Quellen zu Phänomenen der Stigmatisation. Er versuchte also, so viele Fälle wie nur irgend möglich in seine Sammlung aufzunehmen, und kam auf diese Weise immerhin auf 321. Dabei schöpfte er in der Hauptsache aus französischen Quellen, beschränkte sich aber nicht ausschließlich auf diese. Indem er das Kriterium der Authentizität zugrunde legte, glaubte er, den Ansprüchen der Wissenschaftlichkeit genügen zu können. Authentisch waren für ihn die von ihm berichteten Fälle auf Grund von Zeugenaussagen und (auto)biographischen Berichten, soweit sie von kirchlichen Autoritäten approbiert waren. Dieser unerschütterliche Glaube an die Zuverlässigkeit kirchlich geprüfter Aussagen wurde ihm schon bald nach Erscheinen des Werkes auch von katholischer Seite angekreidet7. In seinen Augen ausschlaggebend für eine Beurteilung der Zeugnisse war zusätzlich der Lebenswandel der betroffenen Person, nur moralisch gute Personen konnten auch Empfänger des sie auszeichnenden Stigmas sein. Dabei trug er Ausschnitte aus sehr unterschiedlichen Quellen zusammen, ohne auf den Entstehungszusammenhang der jeweiligen Texte Rücksicht zu nehmen8. Angebliche Augenzeugenberichte wechseln sich ab mit hagiographischen Angaben, die erst im 19. Jahrhundert publiziert wurden. Schon allein durch seine imposante Sammlung verlieh Imbert-Gourbeyre den Berichten einen ganz neuen Stellenwert. Sie wurden de facto zu – nicht weiter zu hinterfragenden – Beweisen (montrer pour démontrer9). Was diesem Verfahren zugrunde lag, war dabei alles andere als eine überzeitlich gültige Kategorisierung mystischer Erfahrung. Wenn hier Imbert-Gourbeyres Auswahl als Ausgangsbasis für die Konstitution eines Quellenkorpus herangezogen wird, dann kann das nur im Bewusstsein der präzisen historischen und ideologischen Einordnung seiner Arbeit geschehen. Dementsprechend soll hier keineswegs die Verifikation seiner Liste von „wahrhaft Stigmatisierten“ (eine solche Verifikation war das erklärte Anliegen von Bouflet) versucht werden. Vielmehr geht es um die Frage, wann und wo eine Stigmatisation angenommen wurde und wie das zum Ausdruck gebracht wurde. 6

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„On ne me reprochera pas d’avoir dissimulé les faits; j’ai tout fouillé, tout produit. Cette maladie extraordinaire, je l’ai étudiée dans ses sujets, ses causes, ses prodromes, dans toute sa symptomatologie avec ses accidents annexes […]. La science m’a amené à conclure que la maladie ne relevait ni de l’hystérie ni de l’hypnose. La science m’a conduit à la foi.“ Antoine IMBERT-GOURBEYRE, La Stigmatisation. L’extase divine et les miracles de Lourdes. Réponse aux libres-penseurs, Clermont-Ferrand 1894, 35. Hier wie im Folgenden stammen die Übersetzungen aus dem Französischen von der Verfasserin. Neben Louise Lateau spielten auch Marie-Julie Jahenny (Bretagne) und Palma-Maria Matarelli (Apulien) eine entscheidende Rolle für die Überzeugung Imbert-Gourbeyres. Vgl. etwa Études Carmélitaines 21,2 (1936). So bezieht er sich häufig auf die Chroniken der Orden, aus denen als Stigmatiker bekannte Figuren stammten. Antoine IMBERT-GOURBEYRE, La Stigmatisation (1894), édition établie par Joachim BOUFLET, Grenoble 1996, 36.

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Es erscheint dazu unumgänglich, die von Imbert-Gourbeyre nur auszugsweise zitierten Werke (die z. T. inzwischen in kritischen Editionen vorliegen), wo dies möglich ist, jeweils in ihrem Kontext zu betrachten und durch weitere Texte zu ergänzen. Im Rahmen dieses Aufsatzes macht dieser Ansatz eine relativ enge zeitliche und geographische Eingrenzung notwendig.

Unsichtbare Zeichen Imbert-Gourbeyre nennt für die hier ins Auge gefasste Zeit (Sterbedaten zwischen 1630 und 1730) für den französischen Raum insgesamt 39 Stigmatisierte, davon nur zwei Männer. Das Gros der Fälle gehört ins 17. Jahrhundert, nur wenige Ausnahmen reichen ins 18. Jahrhundert hinüber. Fast ausnahmslos handelt es sich um Ordensmitglieder (genannt wird lediglich eine Laiin), darunter sind eine Reihe von Dominikanerinnen und Mitgliedern der neuen Orden der katholischen Reform: vorrangig Ursulinen und Visitantinnen10. Von zehn Frauen sind auch eigene Schriften (in publizierter Form) überliefert11, in denen sie jedoch – und das ist unter der hier eingenommenen Perspektive interessant – nicht immer auf die Stigmatisationen zu sprechen kommen. Keine von ihnen hat Tausende von Seiten verfasst wie die italienische Kapuzinerin Veronica Giuliani (1660–1727)12. Bouflet hält in seiner Neuedition nur noch eine äußerst geringe Anzahl der von Imbert-Gourbeyre erwähnten Figuren für „Stigmatiker im eigentlichen Sinne“, dafür fügt er fünf neue Fälle hinzu. Aussortiert hat Bouflet vor allem die „unsichtbaren Stigmata“, von denen er an anderer Stelle sagt, es wäre korrekter, von „inneren Stigmata“ zu sprechen13. Er erkennt also nur die Fälle als echt an, in denen die Hingabe an Gott zu „Äußerlichkeiten“ (extériorités) geführt hatte, die ephemeren Zeichen sichtbar waren. Doch auch er ist auf die Quellen der Zeit angewiesen, die, wie er bedauert, zuweilen recht „vage“ (flou) bleiben14. Nun

10 In der Zeit vor der hier betrachteten Untersuchungsperiode – in Spanien auch während des gleichen Zeitraums – waren Stigmatikerinnen in der Hauptsache Franziskanerinnen oder Dominikanerinnen. 11 Dabei handelt es sich um die Texte von Marguerite du Saint Sacrement, Anne-Marguerite Clément, Marie Paret, Jeanne Marie Pinczon de Cacé, Anne-Séraphine Boulier, MargueriteMarie Alacoque, Jeanne-Bénigne Gojos, Marcelline Pauper, Gertrude Elisabeth d’Origny, Suzanne Marie de Riants de Villerey. 12 Vgl. Veronica GIULIANI, Il diario, hg. v. Maria Teresa CARLONI, Siena 1993; Monique COURBAT, Dico e ridico e non dico niente: il fenomeno del diario sdoppiato in Santa Veronica Giuliani, Siena 1994; Enzo MATTESINI / Ugo VIGNUZZI, Dall’oralità alla scrittura. Primi accertamenti sulla lingua di santa Veronica Giuliani „grafomane contro voglia“, in: Il „sentimento“ tragico dell’esperienza religiosa. Veronica Giuliani (1660–1727) (Pubblicazioni del Dipartimento di Scienze Storiche dell’Università degli Studi di Perugia 9), hg. v. Maria DURANTI, Neapel 2000, 303–381. 13 Joachim BOUFLET, Les stigmates, gages de l’Amour divin? La relation des stigmatisés au signe, in: Stigmates (wie Anm. 1), 141–166, hier: 147. 14 Joachim BOUFLET, Commentaire, in: IMBERT-GOURBEYRE (wie Anm. 9), 294.

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kommt es aber nicht von ungefähr, dass gerade in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Stigmata fast nie als sichtbare Wunden auftauchen. Der Historiker Jacques Le Brun hat eindrücklich gezeigt, inwiefern die Bedeutung, die der Imagination (Einbildungskraft) in der Philosophie und Anthropologie der Zeit zugeschrieben wurde, den Blick auf die Stigmata beeinflusste15. So wurde ab dem 16. Jahrhundert immer wieder darauf hingewiesen, von Montaigne (1533–1592) ebenso wie von Franz von Sales (1567–1622), dass Imagination körperliche Auswirkungen haben könne (âme forme et maîtresse du corps)16. Dadurch wurde, zunächst noch ohne antireligiöse Stoßrichtung, dem körperlichen Zeichen in gewisser Weise das Mirakulöse aberkannt. Erst im Laufe des 18. und vor allem des 19. Jahrhunderts – vor dem Hintergrund der zunehmenden Deutungsmacht von experimenteller, wissenschaftlicher Beweisführung – gewinnt das körperliche Zeichen erneut an Bedeutung. Parallel zu dieser philosophisch begründbaren Entwertung des körperlichen Zeichens wird auch im religiösen Diskurs des 17. Jahrhunderts der Stigmatisation eine recht marginale Rolle zugewiesen. Selbst in Predigten über Franz von Assisi wird wenig Gewicht auf seine Stigmata gelegt, gehören sie doch nicht zu den eindeutigen Kriterien für Heiligkeit17. Kirchliche Autoritäten schenkten dem Phänomen – bis auf einige spektakuläre Ausnahmen18 – wenig Aufmerksamkeit oder befürchteten Simulationen19. Andererseits bedeutete dies auch, dass bewusste „Manipulationen“ nicht unbedingt gleich als Betrug gedeutet wurden und dass ein Bezug auf Stigmata durchaus auch bei Krankheit hergestellt werden konnte20.

15 LE BRUN, Discours (wie Anm. 4). 16 Beide beziehen sich hierbei auf Franz von Assisi: Michel de MONTAIGNE, Les Essais, I, 21, hg. v. Pierre VILLEY; V[erdun]-L[ouis] SAULNIER, Paris 1965, 99; FRANÇOIS de Sales, Traité de l’amour de Dieu, Buch 6, Kap. 15, prés. par Etienne-Marie LAJEUNIE, Paris 1996, 414f. 17 Vgl. LE BRUN, Discours (wie Anm. 4), 109. 18 Veronica Giuliani war sicherlich eine solche Ausnahme. 19 Grundlegend zum Phänomen der Simulation: Gabriella ZARRI, „Vera“ santità, „simulata“ santità: ipotesi e riscontri, in: Finzione e santità tra medioevo ed età moderna (Sacro/santo 7), hg. v. DERS., Torino 1991, 9–36. Zur Angst der Kleriker vor Simulationen siehe Isabelle POUTRIN, Les Stigmatisées et les clercs: interprétation et répression d’un signe (Espagne, XVIIe siècle), in: Les Signes de Dieu aux XVIe et XVIIe siècles. Actes du colloque organisé par le Centre de Recherches sur la Réforme et la Contre-Réforme (Faculté des Lettres et Sciences humaines de l’Université Blaise Pascal, N.S. 41), réunis et présentés par Geneviève DEMERSON u. Bernard DOMPNIER, Clermont-Ferrand 1993, 189–199. Bekannt geworden ist insbesondere ein Fall von Simulation durch Judith BROWN, Immodest Acts. The Life of a Lesbian Nun in Renaissance Italy, New York 1986. 20 Auch medizinische Operationen konnten Verletzungen hervorrufen, die den Wundmalen Christi in nichts nachstanden: die Visitantin Louise-Angélique de Choisy musste an einem Abszess operiert werden. „Ihr Schmerz lässt sich ableiten von der einen halben Fuss langen Wunde, die so tief war, dass man ihr Herz schlagen sah. Sie war voll süßer Andacht vor Freude, dass sie nun wie der hl. Paulus sagen konnte, sie trage die Stigmata des Herren, und freute sich in gewisser Weise über die Öffnung ihrer Seite“. Die Leidende konnte also den Bezug selbst herstellen, ohne dass das die Zeitgenossen irritiert hätte. Vgl. Jacques LE BRUN, A Corps perdu. Les biographies spirituelles féminines du XVIIe siècle, in: Corps des dieux

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Eng damit verknüpft scheint die Frage der Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit von Stigmata zu sein. Bereits Franz von Assisi hatte – nach allen dazu überlieferten Berichten – seine Stigmata (1224) versteckt, und Katharina von Siena hatte von Gott die Gnade erwiesen bekommen, dass ihre Stigmata unsichtbar wurden. Im Allgemeinen wird in den Darstellungen dieses Verbergen der Stigmata mit dem Topos der humilitas der Stigmatisierten verbunden. Aus frommer Bescheidenheit suchten die Stigmatisierten ihre Wunden nicht den Blicken und der Bewunderung anderer auszusetzen. In Wirklichkeit ist die Spannung zwischen Zeigen und Verbergen häufig noch komplizierter. Bettine Menke betont zu Recht: „Stigmata […], Übertragungen einer geistigen Erfahrung in ein leibhaftiges Zeichen, in dem diese Evidenz gewinnt, ‚gibt es‘ allererst und zuletzt nur in der Doppelung von und Spannung zwischen Innerem und Äußerem, Geistigem und Körperlichem, Figuration und Realpräsenz“21. Ist das Stigma doch immer Zeichen für das Kreuz, die Kreuzigung, die gleichzeitig und für den christlichen Glauben notwendig auf die Auferstehung und Erlösung aller Sünder verweist. Die Körpererfahrung, das Körperzeichen ist immer schon Verweis auf das Transzendente. Gleichzeitig haben die Berichte von diesen ins Transzendente verweisenden Körperzeichen eine ganz konkrete soziale Relevanz, die Aufzeichnungen über Stigmatisationen kreieren selbst eine spezifische Realität – in dem Unterfangen, das Verborgene sichtbar zu machen.

Vorbilder: Einübung von Schmerz Die Berichte über Stigmatisationen evozieren in der Regel einen Kontext der religiösen Meditation, des gedanklichen Durchlebens der Leidensstationen Christi – und das auf zwei unterschiedlichen Ebenen: Einerseits erfahren die Leser und Leserinnen dieser Berichte, dass Stigmatisierte durch eben solche Meditationen auf ihre Erlebnisse vorbereitet waren, andererseits beeinflusste dieser Kontext entscheidend die Rezeption solcher Berichte22. Modellcharakter hatten hierbei die Erlebnisse der Katharina von Siena (1347–1380): War deren Stigmatisation noch bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts Anlass für hitzige Auseinandersetzungen zwischen Franziskanern und Dominikanern, wurde sie 1630 unter Urban VIII. (1623– 1644) in das ‚Breviarium Romanum‘, das römische Brevier, aufgenommen und konnte im Anschluss daran breit rezipiert werden23. In der von Raimund von (Le Temps de la réflexion 7), hg. v. Charles MALAMOUD u. Jean-Pierre VERNANT, Paris 1986, 389–408, hier: 405. 21 Bettine MENKE, Nachträglichkeiten und Beglaubigungen, in: Stigmata (wie Anm. 1), 25–43, hier: 31. 22 Vgl. etwa Reflexions sur la passion où l’on voit d’une manière courte & edifiante, & toute tirée des saints Peres, dans quels sentimens on doit entrer en voyant les souffrances de JesusChrist, Paris 1683. 23 1375 soll die Stigmatisation stattgefunden haben, es entbrannte daraufhin ein Streit zwischen Dominikanern und Franziskanern, die darauf beharrten, dass nur Franz allein Stigmata empfangen habe. Sixtus IV. (1471–1484) versuchte, dem Streit Einhalt zu gebieten, indem er von

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Capua (um 1330–1399) verfassten und von Ambrosius Catherinus (Lancellotto de’ Politi, 1484–1553) überarbeiteten Vita der Katharina ist die Spannung zwischen sichtbarem und unsichtbarem Geschehen bereits angelegt. Diesem Bericht nach erläuterte Katharina im unmittelbaren Anschluss an die Stigmatisation das zuvor Erlebte. Raimund von Capua beteuert, man habe aufgrund ihrer Gesten und ihres Verhaltens gesehen, dass sie die Stigmata erhalten habe, er habe dann aber noch einmal nachgehakt und sie gefragt, ob es sich bei den unsichtbaren Stigmata um ein dauerhaftes – und schmerzhaftes – Phänomen handele: „Ach, sprach sie, der Schmerz und das Martyrium, das ich ertrage, ist so stark und groß, dass ich an allen Körperteilen leide, und besonders erfahre ich einen großen, unaufhörlichen Schmerz am Herzen“24. Die bereits 1615 ins Französische übersetzte Vita zirkulierte in Frankreich bei frommen Laien ebenso wie in Klöstern, wie wir monastischen Bibliothekskatalogen und zahlreichen biographischen Berichten entnehmen können25. Daneben gab es eine Reihe von Nacherzählungen, die sich im Allgemeinen sehr eng an Raimund von Capua anlehnten26. Die Schmerzerfahrung der Katharina wurde sowohl für einige „auserwählte“ meditierende Nonnen als auch für diejenigen, die über Stigmatisationen berichteten, zur eindeutigen Referenz. Unmittelbar nach der offiziellen Anerkennung der Erlebnisse Katharinas ereignete sich die unsichtbare Stigmatisation der Marguerite du Saint-Sacrement (1619–1648), einer Karmeliterin in Beaune27. So heißt es in ihrer 1679 erschienenen Vita relativ knapp: Sie habe die „Wundschmerzen“ des Gottessohnes durchlebt, die ihr „unsichtbar übermittelt“ (invisiblement communiquées) worden seien,

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1472 bis 1478 in verschiedenen Bullen festlegte, dass Katharina nicht mit Stigmata darzustellen sei – und den Gläubigen auch nicht von ihren Stigmatisationen berichtet werden dürfe. Die Dominikaner ließen jedoch nicht locker, Clemens VIII. (1592–1605) rief 1595 erneut zum Stillschweigen auf, Urban VIII. schließlich entschied für Katharina. Vgl. den Beitrag von Jungmayr in diesem Band; Francis Thomas LUONGO, The Saintly Politics of Catherine of Siena, Ithaca, N.Y. 2006. Helas dit-elle, la douleur & le martyre que j’endure est si extreme & si grand que ie souffre en tous les membres de mon corps, & notamment j’experimente une tres grande douleur incessamment de cœur. Da ich mich hier auf die in Frankreich rezipierte Vita beziehe, zitiere ich aus der französischen Übersetzung: RAIMUNDUS de Capua, La vie miraculeuse de la seraphique et devote Ste Catherine de Siene. Avec ses divines meditations sur la passion de Notre Seigneur pour chacun jour de la sepmaine. Traduict de l’italien en françois par R. P. F. Jean BLANCONE, Lyon 1615; 2s.l. 1632, 327. Vgl. etwa Sonia ROUEZ, Les Pratiques de la lecture chez les visitandines aux XVIIe et XVIIIe siècles, in: Visitation et Visitandines aux XVIIe et XVIIIe siècles. Actes du Colloque d’Annecy 3–5 juin 1999, hg. v. Bernard DOMPNIER u. Dominique JULIA, Saint-Etienne 2001, 321– 334. So etwa: Jean de GIFFRE DE RECHAC, La vie les graces, et les merveilles de la seraphique vierge Ste Catherine de Sienne […] composée par le R. P. Jean de RECHAC, dit de S. Marie, Paris 1647; Salomon de PRIEZAC, La Vie de Sainte Catherine de Sienne, Paris 1666. Es handelt sich um eine der drei Stigmatisierten (neben Joseph Surin und Margareta Maria Alacoque), die Höcht für das Frankreich des 17. Jahrhunderts erwähnt. Johannes Maria HÖCHT, Träger der Wundmale Christi: eine Geschichte der Stigmatisierten, hg. u. erg. v. Arnold GUILLET, Stein am Rhein 52000, 199–208.

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sie sei eine Viertelstunde lang wie tot liegen geblieben und habe ihren Schwestern tiefen Respekt dem Erlöser gegenüber vermittelt, sie staunten über die Wunder, die sich ihnen zeigten28. Es handelt sich hierbei also um eine relativ zurückhaltende Formulierung (auch die in der Vita enthaltene Illustration des Moments begnügt sich mit einer allegorischen Darstellung: Marguerite empfängt einen Crucifixus). Bouflet äußert sich sehr vorsichtig über die visionäre Begründerin des Kind-Jesu-Kultes in Beaune. Es sei schwierig, meint er, die äußeren Merkmale, die ihre Teilnahme an der Passion Christi unterstrichen, einzuschätzen29. ImbertGourbeyre nimmt sie hingegen wie selbstverständlich in seinen Katalog auf, wobei er wohl in erster Linie einer Vita aus dem 19. Jahrhundert folgt, die Marguerite du Saint-Sacrement als Schmerzensfrau darstellt30. Während bei Marguerite der Bezug zu Katharina nur aus der Form ihrer Stigmatisation erschlossen werden kann – wobei dies besonders für die späteren Fassungen der Vita gilt, die sich noch stärker an dem bekannten Vorbild orientieren, während in der ersten Vita relativ wenig darüber zu erfahren ist –, ist bei anderen der Bezug deutlicher: Bei Jeanne Perraud (1631–1676) wird er explizit durch ihren Biographen hergestellt. Diese Frau war – überspitzt formuliert – Zeit ihres Lebens damit beschäftigt, in religiöse Gemeinschaften ein- und wieder auszutreten. Unter anderem verbrachte sie als fille de chœur neun Monate bei den Schwestern der hl. Katharina von Siena in Saint Maximin. In ihrer postum (1680) veröffentlichten Vita, welche die zwei Jahre später erfolgte Publikation ihrer Texte vorbereitete, wurde sie als eine sehr fromme, als eine vorbildliche und womöglich heilige Terziarin des Augustinerordens dargestellt. Die körperlichen Zeichen ihres göttlichen Auftrags, heftige Schmerzen an der Seite und an den Händen, wurden dementsprechend ausführlich kommentiert und begründet. Sie seien „in etwa den Stigmata ähnlich“ gewesen. Der Biograph zeigt, dass ihm die theologischen Debatten bekannt sind. Er zitiert einschlägige Referenzen, um zu dem Schluss gelangen zu können, es sei durchaus glaubwürdig, dass Jeanne ebenso wie Katharina von Siena und wie Marie de l’Incarnation (1599–1672) nicht nach außen sichtbar, aber doch „innerlich und unsichtbar“ gezeichnet gewesen sei –

28 Les douleurs des playes du Fils de Dieu luy furent invisiblement communiquées: Elle demeura un quart d’heure comme morte, imprimant dans l’esprit des Sœurs un profond respect envers le Redempteur du monde, une sainte admiration de tant de merveilles, qu’elles contemplerent de leurs yeux. Denis AMELOTE, La vie de sœur Marguerite du S. Sacrement, religieuse carmélite du Monastère de Beaune, Paris 1679, 239. 29 IMBERT-GOURBEYRE (wie Anm. 9), 282. 30 Er zitiert nach Louis de CISSEY, Vie de Marguerite du St-Sacrement, Paris 31862; dort wird das meditative Nacherleben der Passion Christi detailgenau geschildert, von Marguerites Schmerz wird aus der Sicht der Mitschwestern berichtet. Ebd., 144–155. Erst in jüngeren Darstellungen ist die Rede von fünf „reinen“ Strahlen, die auf ihren Händen, Füßen und an ihrer Seite Schmerz verursacht hätten, ohne dabei sichtbar gewesen zu sein. Zudem wird betont, sie sei ein Bild des Gekreuzigten gewesen. Vgl. Emile DEBERRE, Histoire de la vénérable Marguerite du Saint-Sacrement, carmélite de Beaune (1619–1648) d’après des documents nouveaux, Paris 1907, 107.

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durch die Schmerzen, die sie ohne äußere Ursache verspürt habe31. Nicht unerheblich für die Beschreibung dieser Auszeichnung dürfte dabei gewesen sein, dass Jeanne in Konkurrenz zu Marguerite du Saint-Sacrement, die einen Kind-JesuKult in Beaune etabliert hatte, die Verehrung des Jesuskindes im nahe gelegenen Aix lancieren wollte. Auch sonst scheint sie diesem Vorbild in vielem nachgefolgt zu sein. Trotz der Bemühungen ihres Beichtvaters und Biographen gelang es ihr jedoch nicht, in den Katalog von Imbert-Gourbeyre und Bouflet aufgenommen zu werden. Die Tatsache, dass sie sich als wankelmütige Terziarin am Rande des Ordenslebens bewegte und deshalb auch nicht in den Ordenschroniken Erwähnung findet, war dafür wohl ausschlaggebend. Von Imbert-Gourbeyre hingegen genannt wird eine Ursuline aus Beaune, Etiennette Guyot (1626–1649), mit dem sprechenden Ordensnamen Etiennette de Sainte-Catherine, die sich sicher ähnlich wie Jeanne Perraud am Vorbild der Marguerite du Saint-Sacrement orientierte, als sie in der Karwoche 1646 um die Gnade bat, die Passionsschmerzen erleiden zu dürfen. Bouflet kommentiert, sie sei keine Stigmatisierte im eigentlichen Sinne32. Auch beim folgenden Fall ist der Bezug zum Vorbild deutlich: Die Visitantin Anne Marguerite Clément (1593–1661), Äbtissin des Visitantinnen-Klosters in Melun, hatte, laut ihrer 1667 auf Latein verfassten und 1686 in erweiterter französischer Übersetzung veröffentlichten Vita, über die Stigmatisation von Franz und Katharina meditiert und genau in diesem Moment einen solchen Schmerz im Herzen verspürt, als sei dieses an fünf Stellen durchstoßen worden33. Der Autor der Vita, Giovanni Agostino Gallicio (1592–1681), der im Jahr der Veröffentlichung zum Ordensgeneral der Barnabiten wird, ordnet diese Erfahrung als eine „Art Stigmatisation“ ein und berichtet, was Anne Marguerite Clément selbst dazu gesagt hatte: Ein göttliches Licht habe ihr Herz verbrannt und gleichzeitig ihren Geist erhellt. Solchermaßen erleuchtet, fiel ihr die Interpretation leicht. Die fünffache Herzenswunde erinnerte sie auch in späteren Meditationen über die Passion Christi an die fünfstufige Liebe Jesu und an die Botschaft, dass man aus Liebe für 31 Ce n’est pas que nous veuillions dire absolument que la Sœur Jeanne les ait reçues extérieurement, & visiblement […]. Néanmoins puisque […] S. Antonin Archevêque de Florence, & les autres Autheurs de la vie de sainte Catherine de Sienne disent qu’elle les reçut au moins intérieurement & invisiblement […]; nous pouvons dire de même que la Sœur Perraud en a eu du moins quelque participation, & quelques marques intérieures & invisibles par les douleurs violentes qu’elle a ressenties plusieurs fois au coté & aux mains, sans aucune cause extérieure de ces souffrances. [RAPHAEL de la Vierge Marie,] La vie et les vertus de la sœur Jeanne Perraud; dite de l’enfant Jesus, religieuse du tiers-ordre de Saint Augustin, par un religieux Augustin déchaussé, Marseille 1680, 148–153. Zu Jeanne Perraud vgl. außerdem Dinah RIBARD, Religieuses philosophes, religieuses sans clôture, ermites et vagabondes: appartenances et dissidences au XVIIe siècle, L’Atelier du Centre de recherches historiques 4 (2009) (http://acrh.revues.org/index1367.html). 32 IMBERT-GOURBEYRE (wie Anm. 9), 288. 33 Je sentis dans le moment une douleur au fond du cœur aussi violente que s’il eut esté percé en cinq endroits. La vie de la venerable Mère Anne Marguerite Clément, première supérieure du Monastère de la Visitation de sainte Marie de Melun, Paris 1686. Siehe zu dieser Figur LE BRUN, A Corps perdu (wie Anm. 20), 403; sie wird erwähnt von IMBERT-GOURBEYRE (wie Anm. 9), 307.

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denjenigen, der selbst aus Liebe gestorben war, sterben müsse34. Sie habe diese Herzwunde, die an die transverberatio der Teresa von Avila (1515–1582) erinnert, „anstelle“ einer Stigmatisation, so wie sie Franz und Katharina erfuhren, erhalten. Im Moment der Durchbohrung habe sie die Stimme Jesu vernommen, der ihr erklärte, er wolle ihr fünf Liebeszeichen einprägen, die sie an seinen Tod und seine Liebe erinnern sollten. In allen bisher beschriebenen Fällen ist von stigmatischen Erfahrungen in publizierten Viten die Rede: Hervorgerufen werden sollte offensichtlich eine Verehrung der beschriebenen Figuren, sie wurden jedoch auch Vorbilder, die zur Nachahmung einladen konnten. Die stigmatische Erfahrung hatte unmittelbare Auswirkungen auf die soziokulturelle Positionierung der beschriebenen Figur, beeinflusste aber nicht weniger die des beschreibenden Autors. Die göttlich inspirierte Lesart der Erfahrung wird bei Anne-Marguerite Clément gleich mitgeliefert, es handelt sich um eine Nachahmung der in jeder Hinsicht außergewöhnlichen Figuren Franz und Katharina – in abgewandelter Form. Auch bei anderen ist die Verbindung mit den Vorbildern visionär festgeschrieben. So erschien die hl. Katharina der Dominikanerin Agnès de Jésus (1602–1634) aus Langeac, um sie zu bestärken. Die Nonne hatte, so berichtet ihr Beichtvater, einem Engel gedroht, sie würde das Kloster verlassen, wenn die Stigmata nicht verschwänden; sehr verärgert habe sie dem Engel mitgeteilt: „Ich will nicht diese sichtbare Gnade, ich verlange nur nach inneren Kreuzen. Mir sichtbare Gnadenerweise! Mir, die ich die niedrigste Kreatur der Welt bin? Nein, das will ich auf keinen Fall“35. Dass Agnès ganz besonders Franz von Assisi verehrte, bestimmte sicherlich ihre Visionen und die Tatsache, dass sie selbst als Trägerin von – wenn auch unsichtbaren – Zeichen bekannt wurde. Meditationen konnten also auf die Erfahrung der Stigmatisation vorbereiten, ebenso wurde das Leiden in der Nachfolge Christi auch geradezu als „Körpertechnik“36 eingeübt. Marcelline Pauper (1666–1708) beschreibt in ihren autobiographischen Aufzeichnungen, Katharina sei ihr im Jahre 1701 in einer Vision er-

34 Souffrez pour luy, & mourez d’amour pour celuy que l’amour même a fait mourir. Siehe dazu auch LE BRUN, A Corps perdu (wie Anm. 20), 403; IMBERT-GOURBEYRE (wie Anm. 9), 307. 35 Je ne veux point de ces graces visibles, je ne demande que les croix intérieures, à moi, des graces visibles! à moi qui suis la plus misérable créature du monde? non, non je n’en veux point. So heißt es in der Abschrift der Vita von 1661: Esprit PANASSIÈRE, Mémoires sur la vie d’Agnès de Langeac. Introd. par Bernard PEYROUS u. Jean-Claude SAGNE, annot. par Martin de FRAMOND, texte rev. par Bertrand LAVAUR, Paris 1994, 259f. Agnès de Jésus wurde am 20. 11. 1994 selig gesprochen. Vgl. außerdem zu dieser Figur – und zu der immer wieder dargestellten Szene: Jacques BRANCHE, La vie des Saincts et Sainctes d’Auvergne et de Velay. Recueillie et divisée en trois Livres (1652), Clermont 1859, 367f., 404; Renée de TRYONMONTALEMBERT, Agnès de Langeac, Paris 1994; Joachim BOUFLET, Petite vie d’Agnès de Langeac, Paris 1994; PELLEGRIN (wie Anm. 1), 41. 36 Zum ursprünglich von Marcel Mauss eingeführten Begriff der Körpertechnik vgl. Bewegtes Leben. Körpertechniken in der Frühen Neuzeit, hg. v. Rebekka von MALLINCKRODT, Wolfenbüttel 2008.

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schienen und habe sie angehalten, dem gekreuzigten Christus nachzufolgen37. Marcelline war als ‚Caritas-Schwester von Nevers’ Mitglied einer kurze Zeit zuvor durch den Benediktiner Jean-Baptiste Delaveyne (1653–1719) gegründeten Kongregation, die sich der Armenfürsorge, Krankenpflege und Mädchenbildung widmete; im Gegensatz zu den bislang erwähnten Frauen gehörte sie also keinem kontemplativen Orden an. Auf Geheiß ihres Beichtvaters verfasste sie einen umfangreichen Gewissensbericht, der innerhalb der Kongregation aufbewahrt wurde und erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zur Veröffentlichung gelangte38. Um dem visionären Auftrag zu folgen, heißt es in diesem Bericht, habe sie die Vita der Katharina gelesen und ihr nachgeeifert in den härtesten Bußübungen: Dreimal täglich geißelte sie sich, schlief auf einer Leiter in der Haltung des Gekreuzigten, trug Dornenkreuz und Dornenkranz39. Sie fügte sich also selbst schlimmste Schmerzen zu, um Katharina – und damit mittelbar und nach ihrer Weisung Christus40 – nachzufolgen, fand es aber beinahe unmöglich, sich meditativ auf die Passionsstationen zu konzentrieren. Auch andere Frauen unterzogen sich ähnlichen Kasteiungen: Jeanne-Marie Pinczon du Houx (1616–1677) fügte sich viele Schmerzen bewusst selbst zu (sie trug ein härenes Gewand, einen Bußgürtel und in späteren Jahren immer wieder einen Dornenkranz). So machte sie sich zum eindringlichen Bild (image sensible) des gekreuzigten Jesus. Auch die Tatsache, dass sie im Bett stets (wie am Kreuz) die Arme ausbreitete und die Füße übereinander legte, passte in dieses Bild41. Die bereits erwähnte Agnès de Jésus litt, so berichtet ihr Beichtvater, fünf Tage lang unerträgliche Schmerzen auf einem unsichtbaren Kreuz ausgestreckt, von Zeit zu Zeit hörte man ein Krachen, als habe man ihre Knochen zerbrochen, die Füße lagen so fest übereinander, dass es unmöglich gewesen wäre, sie voneinander zu lösen. Die Schmerzen verschlimmerten sich so sehr, dass diejenigen, die dabei 37 Marcelline PAUPER, L’Expérience mystique de Marcelline Pauper. Religieuse de la Congrégation des Sœurs de la Charité et de l’Instruction chrétienne de Nevers. Etude critique de ses écrits avec le concours du P. André Ravier, Nevers 1982, 57. Vgl. auch André RAVIER, Pauper, in: Dictionnaire de spiritualité (wie Anm. 4), Bd. 12,1, Paris 1984, 611–613. 38 Marcelline PAUPER, Vie de Marcelline Pauper de la Congrégation des sœurs de la Charité de Nevers / écrite par elle-même; précédée d’une introd. du Dr Dominique BOUIX, et publ. par son frère le P. Marcel BOUIX, Nevers 1871. Diese Publikation bietet die Grundlage für die Edition von 1982. 39 Später kritisierte sie die Selbstkasteiungen, die sie ihrer Meinung nach von ihrem „Inneren“ abgelenkt hätten. PAUPER, L’Expérience (wie Anm. 37), 50. 40 Ab den Aufzeichnungen zum Jahr 1697 spricht sie von conformité à Jésus crucifié. 41 Bestätigt wurde der mirakulöse Charakter ihrer Kopfschmerzen durch eine Vision der berühmten Jeanne des Anges aus Loudun. Nach Mme du Houx’ Tod wurde eine Reihe von Zeugnissen zu ihrer Person gesammelt und 1713 mit ihrer Vita vom Chevalier d’Espoy publiziert, wohl in Hinblick auf die Vorbereitung eines römischen Beatifikationsprozesses. Lediglich zwei der Zeugen sprechen von den Kopfwunden, wobei sie allerdings betonen, dass diese nur einen Schmerz neben vielen darstellten: Sie habe sich vom Kreuz ihres Lebens nie befreit, ihre inneren Schmerzen wären unvorstellbar gewesen. Chevalier d’ESPOY, La vie de Madame du Houx, surnommée l’épouse de la croix. Décédée après avoir fait les Vœux de Religion au Second Monastère de la Visitation Sainte Marie de Rennes, & pris le nom de Sœur Jeanne Marie Pinczon, Paris 1713, 199, 121.

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waren, von Mitleid ergriffen in Tränen ausbrachen und nur noch den Tod erwarteten42. Schmerzen wurden im Kontext der Klostergemeinschaft erhofft, erlebt und genauestens beobachtet.

Zeugen des Schmerzes Wenn stigmatische Wunden unsichtbar waren oder unmittelbar nach der Stigmatisation gleich wieder verschwanden, was blieb dann von der Körperlichkeit der Gotteserfahrung übrig? In der Tat spielten in der Passionsmystik des 17. Jahrhunderts in zunehmendem Maße auch Seelenschmerzen eine Rolle. Eine Reihe von Autoren sprach sich dafür aus, dass Christus mehr unter Seelenschmerzen und weniger unter körperlichen Schmerzen gelitten habe43. Doch auch in dem Moment, in dem Gotteserfahrung mehr und mehr verinnerlicht wurde, gab es Möglichkeiten, diese von außen zu erfassen, zu beobachten und zu beschreiben. In den von mir untersuchten Beispielen lässt sich folgendes Muster wiederfinden: Die Wunden sind unsichtbar bzw. verschwinden sofort nach dem Stigmatisationsereignis. Es fließt kein Blut – und doch ist der Schmerz ein zutiefst körperliches Geschehen, das nach außen dringen kann. Die Leidende ist in der Lage, selbst darüber zu berichten, der Schmerz wird aber auch dann sichtbar und hörbar, wenn die „Stigmatisierte“ aufschreit, zuckt oder erstarrt. Diese Elemente nehmen im Bericht über die zeitlich meist genau festgelegten Stigmatisationen breiten Raum ein. Die Visitantin Marie-Angélique de la Grave (1607–1689) erlebte in der Karwoche, so heißt es in ihrer Vita, jeweils so unerhörte Schmerzen, dass die Mitschwestern „annehmen mussten“, Christus würde sie an seinen Schmerzen teilhaben lassen44. „Beweis“ für die inneren Stigmata der Franziskaner-Terziarin Jacquette Bachelier (1559–1635) sind die Schmerzen, die fromme Zeitgenossen beobachten45. Die unsichtbaren Stigmata der Dominikanerin Jacqueline du Saint Esprit (1588-1638) waren nur für den Beichtvater sichtbar46. Dass und welche Zeugen zugegen waren, wird im (auto)biographischen Bericht ausführlich erläutert. 42 Vgl. BRANCHE (wie Anm. 35), 367f. 43 Vgl. hierzu Flavio DI BERNARDO, Passion (mystique de la), in: Dictionnaire de spiritualité (wie Anm. 4), Bd. 12,1, Paris 1983, 312–338. Bedeutend für das 17. Jahrhundert war hier in erster Linie Johannes vom Kreuz. 44 Abrégé de la vie & des vertus de notre très-honorée sœur Marie-Angélique de Lagrave, décédée en notre Monastère d’Alby, le 24 mai 1689, agée de 82 ans, dont 66 de profession, in: Année sainte des religieuses de la Visitation Sainte Marie, Annecy, Lyon 1868, 561–579. Vgl. IMBERT-GOURBEYRE (wie Anm. 9), 349f. 45 In ihrer Vita heißt es, dass besonders fromme Personen glaubten, sie sei von inneren Stigmata gezeichnet gewesen: CASIMIR de Tolose, La vanité combattue et surmonté par la fille forte ou La Vie pénitente de sœur Jacquette de Bachelier, Béziers 1698, zit. nach IMBERT-GOURBEYRE (wie Anm. 9), 264. Von „Beweis“ (preuve) spricht der Bearbeiter Jean ESCARGUEIL, La Vanité combattue et surmontée par la fille forte, ou Vie de Jacquette de Bachelier de l’ordre de Saint-Francois d’après le r. p. Casimir, Toulouse 1875, 178. 46 IMBERT-GOURBEYRE (wie Anm. 9), 269.

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Als von Unbekannten das Ziborium aus der Ordenskirche gestohlen worden war, bot sich die bereits erwähnte Marcelline als Opfer an, um diesen Frevel zu sühnen; sie unterzog sich einer Reihe von Selbstgeißelungen und erlebte schließlich eine „Kreuzigungsszenerie“: Am 26. April 1702 fühlte sie sich so unwohl, dass sie sich in ihre Zelle zurückziehen musste, um sich hinzulegen. Die Schwestern waren beunruhigt, mehrere Ärzte wurden gerufen, die jedoch nichts ausrichten konnten. Die Schwestern beharrten darauf, über die Kranke zu wachen, zwei dames de qualité beobachteten von einem Versteck aus das Geschehen. Marcelline berichtet: „Ganz plötzlich wurde ich mit solcher Gewalt in Kreuzesform ausgestreckt, dass es mir schien, als reiße man mir die Glieder aus; ich fühlte unmittelbar sehr starke Schmerzen in den Händen, den Füßen und der Seite, als ob man ein Eisen mit großer Gewalt hineinbohrte; mein Kopf steckte fest wie in einem Eisenkranz, der mir unbegreifliche Schmerzen im Schädel verursachte; da ich mit Gewalt ausgestreckt lag, schien es mir, als hätte ich die Brust offen und die Schultern vom Körper gelöst; mein gesamter Körper war nur Schmerzen und mein Mund mit Bitterkeit erfüllt, das geschah sehr plötzlich, und das Übermaß an Schmerzen ließ mich einige Male aufschreien, was meine Schwestern und jene Damen näher kommen ließ, die meine Arme wieder in das Bett legen wollten, aber es wäre einfacher gewesen, meine Glieder zu zerbrechen, als ihnen ihre Beweglichkeit wieder zurückzugeben. Ich hatte alles Bewusstsein für die Außenwelt verloren, während meine Natur [gemeint ist hier der Körper im Gegensatz zum Geist; X.v.T.] große Schmerzen erlitt, sich beklagte, denn man sagt mir, dass ich nicht aufgehört habe, zu klagen. Dahingegen stimmte mein Inneres mit Jesus überein, der mich schon viel früher in sein Herz aufgenommen hatte. Ich schreibe hier diese Einstellungen nicht im Detail auf, das führte zu weit. Wenn Sie es jedoch wünschen sollten, mein verehrter Pater, werde ich alles tun, was Sie mir auftragen. Dieser Vorgang dauerte drei Stunden, danach war ich befreit von dieser starren Stellung, aber es war nur für einen Moment, denn mein göttlicher Herr sprach: ‚Willst Du, meine Tochter, ebensoviel erleiden für alle Sünder?‘ Ich war sofort einverstanden, antwortete sogar mit richtig artikulierten Worten, obwohl ich keineswegs frei war und kein Bewusstsein der Außenwelt hatte. Meine Einsamkeit war so groß, dass ich allein mit Gott war. In diesem Moment wurde ich mit großer Gewalt auseinandergezogen, die, die dabei waren, hörten alle meine Knochen knacken. Ich erlitt die gleichen Schmerzen, von denen ich soeben schon berichtet habe, und ich verspürte von Zeit zu Zeit solche Schwäche, dass ich daran gestorben wäre, wenn sie eine halbe Viertelstunde gedauert hätte. Ich schrie in diesem Moment: ‚Oh mein teurer Erlöser, die Natur vergeht, wenn Ihr wollt, dass ich noch weiter leide, helft mir oder nehmt mich auf.‘ Danach fühlte ich mich wie neu, und mein Leiden erreichte neue Spitzen. […] Dieser zweite Vorgang dauerte ebenfalls drei Stunden. Als ich schließlich wieder zu Bewusstsein kam, fühlte ich mich zerschlagen und so erschöpft, dass ich es nicht aushalten konnte. Es dauerte eine ganze Weile, bis meine Glieder wieder ihre Beweglichkeit zurückerhalten hatten und die natürliche Wärme zurückkam, die fast völlig verschwunden war. Meine Hände und Füße waren gezeichnet und stark geschwollen; ich fühlte noch starke Schmerzen. Erst am folgenden Tag bemerkte ich die Markierungen; ich bat unseren Herrn unter Tränen, sie auszulöschen, wobei ich bereit war, allen Schmerz zu bewahren. Ich wurde erhört, seit dieser Zeit verspüre ich einen ständigen Schmerz an der Seite. Es war eine große Beschämung [mortification], zu erfahren, dass meine Schwestern bemerkt hatten, was geschehen war, und dass noch andere alles gesehen hatten; ich konnte meine Tränen darüber nicht zurückhalten. Die Ärzte kamen wieder, ich sagte ihnen, dass es mir besser gehe, dass dies ihre Aufmerksamkeit nicht verdiene. Ich hatte den hef-

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Xenia von Tippelskirch tigen Wunsch, zur Kommunion zu gehen, aber um den Schein zu wahren, blieb ich den ganzen Tag im Bett“47.

Dieser autobiographische Bericht wechselt ständig zwischen einer Innen- und einer Außenperspektive. Der Bericht über den entrückten Zustand nimmt immer wieder Bezug auf die Äußerungen der Mitschwestern, die die Leidende von außen beobachtet haben. Diese zeigt sich bestürzt über die Tatsache, dass es ihr nicht möglich gewesen war, den Schmerz zu verbergen. Dadurch wird ebenfalls hervorgehoben, dass sich das Geschehen in der Gegenwart mehrerer Zeuginnen abgespielt habe. Marcelline unterlässt es auch nicht zu erwähnen, dass die hinzugezogenen Ärzte die Bedeutung des Ereignisses nicht begreifen konnten. In einigen

47 Je fus dans le moment étendue en croix avec tant de force qu’il semblait qu’on m’arrachait les membres; je sentis dans le moment de très vives douleurs dans les mains, les pieds et le côté, comme si on m’y eût enfoncé un fer à grande force; j’avais la tête prise et serrée comme dans un cercle de fer qui me causait d’inconcevables douleurs dans le crâne; comme j’étais étendue avec force, il me semblait avoir la poitrine ouverte et les épaules détachées du corps; tout mon corps n’était que douleurs et ma bouche remplie d’amertume; cela arriva subitement et l’excès des douleurs me fit jeter quelques cris, ce qui fit approcher mes sœurs et ces dames qui voulaient me remettre les bras dans le lit; mais il eût été plus facile de me rompre les membres que de leur donner de la flexibilité. J’avais perdu toute connaissance pour l’extérieur; cependant la nature qui souffrait de grands maux s’en plaignait, car on me dit que je n’avais cessé de me plaindre. Pour mes dispositions intérieures elles étaient toutes d’union à celles de mon divin Sauveur qui m’avait fait entrer bien avant dans son divin cœur. Je ne mets point ici en détail ces dispositions, cela me mènerait trop loin. Cependant si vous le souhaitez, mon très honoré Père, je ferai tout ce que vous m’ordonnerez. Cette opération dura trois heures; après quoi je me trouvai relâchée de cette posture si bandée, mais ce ne fut que pour un moment, car mon divin Maître me dit: „Veux-tu, ma fille, en souffrir autant pour tous les pécheurs?“ J’acceptai dans le moment, et même avec des paroles articulées, quoique je ne fusse point libre et n’avais aucune connaissance extérieure. Ma solitude était telle que j’étais seule avec Dieu seul. Je fus donc dans le moment tirée avec grande force; ceux qui étaient présents entendirent craquer tous mes os. Je souffrais les mêmes douleurs que je viens de rapporter et j’éprouvais de temps en temps de certaines défaillances qui m’auraient fait mourir si elles avaient duré un demi-quart d’heure. Je criais dans ces moments: „O mon cher Sauveur, la nature succombe; si vous voulez que je souffre encore, soutenez-moi ou me recevez.“ Je me sentais ensuite comme renouvelée et mes souffrances recevaient comme de nouvelles pointes. […] Cette seconde opération dura aussi trois heures. Lorsque je revins à moi je me trouvai comme brisée et si épuisée que je n’en pouvais plus. Il fallut bien du temps pour redonner de la souplesse à mes membres, et ranimer la chaleur naturelle qui était presque éteinte. Mes mains et mes pieds étaient marqués et fort enflés; j’y sentis encore de vives douleurs. Ce ne fut que le lendemain que je m’aperçus des marques; je priai notre Seigneur avec larmes de vouloir bien les effacer, acceptant de conserver toute la douleur. Je fus exhaucée; depuis ce temps je porte une continuelle douleur au côté. Ce fut pour moi une grande mortification d’apprendre que mes sœurs s’étaient aperçu de ce qui s’était passé et que d’autres qu’elles avaient tout vu; je n’en pus retenir mes larmes. Les médecins revinrent, je leur dis que je me portais mieux, que cela ne méritait pas leurs attentions [in allen Handschriften – bis auf eine Ausnahme: que ce n’était que des vapeurs]. J’avais un extrême désir de communier, mais pour sauver les apparences je restais tout le jour au lit. PAUPER, L’Expérience (wie Anm. 37), 71–73.

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Fassungen suchen diese die Ursache in den Dämpfen (vapeurs)48. Die Expérience mystique verweist also bewusst auf ein anderes Erklärungsregister, wobei Marcelline die Ärzte anscheinend gerne in ihrem Glauben beließ, um Zeit und Raum für ihr Gespräch mit Gott zu gewinnen. Das Ereignis, der Schmerz, die Schwellungen, sind vergänglich, und ihnen wird nur im Text „Haltbarkeit“ verliehen. Um das un-sichtbare Zeichen zu beschreiben, ist das Festhalten des Zeugnisses anderer unumgänglich. Das Aufschreiben verleiht dem punktuellen Ereignis Dauerhaftigkeit, auch wenn es fast noch größere Mühsal als der körperliche Schmerz selbst bereitet: „Es ist mir nicht möglich, mein sehr teurer Pater, eindeutig zu erklären, was in mir vorging; es sind unsagbare Dinge. Es ist einfacher sie zu fühlen, als über sie zu sprechen. Und könnte ich wählen, dann würde ich sie lieber noch einmal durchleben, als darüber zu sprechen“49. Das Leiden selbst grenzt ans Unbeschreibliche, und doch ist es eminent wichtig, es in Worte zu fassen, handelt es sich doch um ein Leiden in der direkten Nachfolge Christi – gespiegelt in einer Metaphorik, die der KatharinenHagiographik entlehnt ist. Der Anglist Harold Schweizer hat auf die grundsätzliche Bedeutung von Zweifeln an der Wahrhaftigkeit jedes Berichts über Schmerzen hingewiesen. Während das Leiden für den Leidenden subjektive Gewissheit ist, bleiben dem Zuhörer stets Zweifel, hört er doch ohne zu „verstehen“. Das führt dazu, dass Schmerzen wie Geschichten erzählt werden müssen. Die Berichte haben alle einen Charakter, der fiktionalem Erzählen ähnelt. Im hier erläuterten Zusammenhang versuchten Leidende und Zeugen gleichermaßen, diese grundlegenden Zweifel auszuräumen50. Doch nicht immer waren sie sich dabei ihrer Sache so sicher: Marcelline Paupers Bericht ist erst Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlicht worden, bis zu diesem Zeitpunkt wurde er lediglich handschriftlich (in mehreren Kopien) innerhalb ihres Ordens tradiert. Dass Marcelline Paupers Schriften nicht unmittelbar nach ihrem Tod (1708) veröffentlicht wurden, sondern bis Ende des 19. Jahrhunderts auf eine Wiederentdeckung warten mussten, lag sicher auch daran, dass man befürchtete, das bezeugte Erlebnis könne als Simulation missverstanden werden.

48 Es gab im frühneuzeitlichen Frankreich Ärzte, die der Überzeugung waren, dass fromme Praktiken (wie Meditation und Zurückgezogenheit) durch Gärung von Salzen im Körper Dämpfe (vapeurs) hervorrufen und so zu Ekstasen und Visionen führen konnten: [Christian Johann] LANGE, Traité des vapeurs où leur origine, leurs effets, et leurs remèdes sont mécaniquement expliquez, Paris 1689, 185–201. Vgl. dazu aus medizinhistorischer Sicht: Michael STOLBERG, Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, Köln, Weimar, Wien 2003. 49 Il ne m’est pas possible, mon très cher Père, d’expliquer clairement ce qui se passait en moi; ce sont des choses ineffables; il est plus aisé de les ressentir que d’en discourir; et s’il était de mon choix, j’aimerais mieux l’éprouver encore que d’en parler. PAUPER, L’Expérience (wie Anm. 37), 72. Zum grundsätzlich Unsagbaren mystischer Erfahrung vgl. Michel de CERTEAU, La Fable mystique: XVIe–XVIIe siècle, Paris 1982, 243f. 50 Harold SCHWEIZER, To Give Suffering a Language, Literature and Medicine 14 (1995), 210– 221, hier: 212, 218.

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Das Verschwinden des Schmerzes Dass die eindeutige Einordnung von beobachtbaren Schmerzen Jahrzehnte dauern konnte, lässt der folgende Fall vermuten. Dabei handelt es sich um die Leiden der Schäferin von Laus, Benoîte Rancurel (1647–1718), deren Marien- und Christusvisionen ab 1664 bereits zu ihren Lebzeiten zu Pilgerströmen geführt hatten51. Der Wundercharakter ihrer Visionen ist erst neuerdings (2008) vom Bischof der Diözese anerkannt worden – anscheinend im Zuge von Bemühungen, die einfache Schäferin nun doch selig sprechen zu lassen52. Eine der bedeutendsten Visionen hatte sie im Juli 1673. Während der Getreideernte, vermerkten ihre Beichtväter, fühlte sie sich zu einem in der Nähe des Feldes stehenden Kreuz hingezogen. Sie sah dort Christus angenagelt, in einem so beklagenswerten Zustand, dass sie ausrief: „Wenn ihr noch lange in diesem Zustand bleibt, werde ich sterben vor Schmerz!“ Der Herr antwortete daraufhin: „Meine Tochter, ich zeige mich so, damit Ihr an den Leiden meiner Passion teilnehmt“53. Seit dieser Zeit wurde sie jede Woche zwischen Donnerstagabend und Samstagmorgen neun Uhr „gekreuzigt“. Das heißt, sie lag auf ihrem Bett, mit ausgestreckten Armen (en croix), ein Fuß über dem anderen, die Hände etwas angewinkelt, aber starr, ihr ganzer Körper unbeweglich wie eine Eisenstange. Keine Bewegung deutete auf Leben hin. Als Monseigneur Genlis, der zuständige Erzbischof, eines Freitags einen Arzt mit in die Stube führte, in der Benoîte lag, diagnostizierte dieser Epilepsie. Der Bischof war bereit, für ihre Heilung zu zahlen, die Schäferin aber sagte – als sie am Tag darauf wieder sprechen konnte –, er solle das Geld lieber den Armen spenden. Ihr selbst habe die Muttergottes bereits in einer Vision angekündigt, dass sie nach dem Besuch des Bischofs von diesen körperlichen Schmerzen erlöst würde – und dafür schlimmere, innere Schmerzen auf sich nehmen müsse. (Auch schon früher waren ihre Leiden von Maria unterbrochen worden, als Benoîtes Hilfe beim Bau der neuen Kapelle gebraucht wurde.) Quellen zu Benoîtes Leben sind die handschriftlichen Berichte zweier Beichtväter, die aber wohl schon vor Benoîte gestorben sind und von denen einer vermerkt hatte, man solle nach dem Tode von Benoîte nach eventuellen Wundmalen, die sie bei diesen wöchentlichen Kreuzigungen erhalten haben könnte, suchen. Diese Untersuchung wurde aber bei ihrem Tode versäumt. In der 1736 veröffentlichten Vita, die dazu gedacht war, weiterhin Pilgerströme in das Alpendorf Laus zu ziehen, wird der Bericht über diese Leiden nicht mit der Möglichkeit einer „Stigmatisation“ in Verbindung gebracht54. Erst 1856 veröffentlicht Abbé Pron 51 Marie-Hélène FROESCHLÉ-CHOPARD, Notre-Dame de Laus au diocèse d’Embrun. Cristallisation d’une religion des montagnes au XVIIe siècle?, in: Montagnes sacrées d’Europe. Actes du colloque „Religion et montagnes“, Tarbes, 30 mai–2 juin 2002 (Histoire moderne 49), hg. v. Serge BRUNET, Dominique JULIA u. Nicole LEMAÎTRE, Paris 2005, 137–149. 52 Ein Seligsprechungsprozess ist im Jahre 1981 initiiert worden. 53 F. PRON, Histoire des merveilles de Notre-Dame-du-Laus, tirée des archives du vénérable sanctuaire, Gap 31875, 266. 54 Pierre-Antoine FARNAUD, Recueil historique des merveilles que Dieu a opérées à NotreDame-du-Laus, près Gap en Dauphiné, par l’intercession de la Sainte Vierge et des princi-

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seine ‚Histoire des merveilles de Notre-Dame-du-Laus‘, in der er ein grundlegendes Kapitel über Stigmatisationen im Allgemeinen dem Bericht vorausschickt – und damit die Interpretation dieser periodischen Leidensphasen ganz eindeutig vorgibt55. Der Fall der Benoîte, der Hirtin von Laus, verdeutlicht, inwiefern unsichtbare Zeichen des 17. Jahrhunderts erst im 19. Jahrhundert sichtbar werden: Er steht in besonderer Weise für die „Nachträglichkeit“, die für die Deutung von Stigmata grundsätzlich konstitutiv ist56. Im 19. Jahrhundert scheint eine regelrechte reinvention of stigmata einzusetzen, die die Quellen des 17. Jahrhunderts umdeutet. In der Auseinandersetzung mit der auf körperliche Zeichen angewiesenen Medizin sind auch Mystiker und ihre Bewunderer auf den Körper zurückverwiesen57. Diese veränderte Sichtweise hat ihre Ursprünge im 18. Jahrhundert. Die Darstellung von mit stigmatischen Erlebnissen eventuell verbundenen Schmerzen verschwindet während des 18. Jahrhunderts fast ganz aus den ohnehin relativ raren Berichten, gibt es doch in diesem Zeitraum nur wenige Phänomene, die als Stigmata gedeutet wurden. In den 30er-Jahren des 18. Jahrhunderts erfahren wir von einer potentiellen Stigmatisierten im Zusammenhang mit einem Skandal: Eine Seitenwunde, aus der die Visitantin Anne-Madeleine Rémusat (1696–1730) geblutet haben soll, wurde von manchen Zeitgenossen als Vorwand betrachtet, den der sie betreuende Jesuit genutzt hätte, um sie zu entkleiden. In den zahlreich publizierten Pamphleten verführt das Körpermal zu unsittlichen Handlungen – und ist für die antijesuitische Propaganda Stein des Anstoßes58. Auch etwa 30 Jahre später erlauben die Quellen, die uns über angebliche Stigmatisationen informieren, keine Ausführungen über Schmerzen. Die Jansenistinnen, die sich

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paux traits de la Vie de Benoiste Rencurel, surnommé la Bergere du Laus, Grenoble 1736, 100. Weitere Berichte: Henri-Cyrille-Adrien JUGE, Sœur Benoite ou cinquante-quatre ans d’apparitions de la Tres-Sainte Vierge à la pieuse Bergère du Laus. Esquisse historique, Lyon 1869; Auguste-Jean-Baptiste MARTEL, Histoire du Sanctuaire de Notre-Dame du Laus et de la pieuse bergère qui l’a fondé, Digne 1850. PRON (wie Anm. 53). Imbert-Gourbeyre stützt sich auf diesen Bericht und ordnet Benoîte als Stigmatikerin ein, was Bouflet hingegen kritisiert. Vgl. IMBERT-GOURBEYRE (wie Anm. 9), 376. Dieser treffende Begriff findet sich auch bei Bettine Menke: „Nachträglichkeit ist die eigentümliche Ironie der vorgeblich unmittelbaren, korporealisierten, d. h. referentiell kurzgeschlossenen Evidenz“. Bettine MENKE, „Mund“ und „Wunde“. Zur grundlosen Begründung der Texte, in: Stigmata (wie Anm. 1), 269–294, hier: 269f. Eine detaillierte Analyse der Konfiguration von Wissenschaft und Religion im 19. Jahrhundert in Auseinandersetzung über den Fall Lateau liefert LACHAPELLE (wie Anm. 5). Vgl. zum Kontext des 19. Jahrhunderts auch Nicole PRIESCHING, Maria von Mörl (1812–1868). Leben und Bedeutung einer „stigmatisierten Jungfrau“ aus Tirol im Kontext ultramontaner Frömmigkeit, Brixen 2004. Vgl. zu diesem Fall etwa: Henri-Francois-Xavier de BELSUNCE, Lettre de M. l’évêque de Marseille à la très honorée sœur Marie-Agnes de Greard […], au sujet de la Sœur AnneMarie-Madeleine Remusat, Marseille [1732]. Im 19. Jahrhundert findet diese Nonne einen eifrigen Interpreten ihrer Wunden (ganz in Analogie zu dem Fall der Benoîte de Laus): Oswald VAN DEN BERGHE, Anne-Madeleine de Rémusat. La seconde Marguerite-Marie, Paris 1877, 125–132.

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1760 für eine Stunde lang auf ein Kreuz nageln ließen, behaupteten – in Anwesenheit der sie betreuenden Beichtväter –, keine Schmerzen zu verspüren, gestanden nach der Festnahme allerdings, dass das nicht der Wahrheit entspreche. Ärztliche Gutachten bestätigten, dass die Hände durchbohrt seien, die Narben an den Füßen allerdings eher den üblichen Narben nach einem Aderlass ähnelten59. Das Wundersame konnte zu diesem Zeitpunkt – und im Gegensatz zu den Erfahrungen einer Mme Houx – in der Schmerzlosigkeit bestehen, und zwar gerade dort, wo Schmerz von allen erwartet wurde – einschließlich der Polizisten. Das körperliche Mal war für die gläubigen Jansenisten und Jansenistinnen zum ikonischen, oberflächlichen Zeichen geworden, das keine Schmerzerfahrung erforderte. Zu Recht hat David Morris auf die kulturelle Prägung von Schmerzerfahrungen hingewiesen. Am Beispiel von Katherina von Siena und Teresa von Avila zeigt er, dass Schmerzerfahrungen eine große Bedeutung in der vormodernen christlichen Lebenswelt zugeschrieben wurde60. Wir können nach den hier ausgeführten Beispielen noch präziser formulieren: Schmerz ist im 17. Jahrhundert ein körperliches Zeichen, das in sich die Spannung zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, Innerlichem und Äußerlichem trägt, ein Zeichen für das Leiden und die Erlösung. Wenn von Stigmatisationen die Rede ist, dann braucht das Blut nicht in Strömen zu fließen. Ganz im Gegensatz zu den mortifications, den Selbstgeißelungen, die zur gleichen Zeit weiterhin die Bedeutung des Blutes zeigen61, schafft das Medium des biographischen Textes auch ohne Blut die Verknüpfung zwischen dem leidenden Christus und der – ihn nachahmend – Schmerz empfindenden Gläubigen. Es soll hier nicht behauptet werden, dass Stigmatisierte – ob ihre Stigmata göttlichen Ursprungs waren oder durch Menschenhand zugefügt wurden, ist dabei völlig zweitrangig – nicht auch schon vor oder nach der hier etwas genauer betrachteten Zeit gelitten hätten. Wohl aber soll die Hypothese aufgestellt werden, dass der Schmerz gerade im 17. Jahrhundert einen Zeichencharakter hatte, der die 59 Dazu Archives Nationales, Paris, Série Y 10216 (Châtelet de Paris, chambre criminelle) und Gérard DUDOYER DE GASTELS, Relation touchant les convulsionnaires et la séance de ces jansénistes, le vendredi-saint de l’année 1760, in: Maurice COUSIN DE COURCHAMPS, Souvenirs de la marquise de Créquy, Bd. 3, Paris 1840, 227–239. Vgl. Catherine MAIRE, Les Convulsionnaires de Saint-Médard. Miracles, convulsions et prophéties à Paris au XVIIIe siècle, Paris 1985; DIES., De la cause de Dieu à la cause de la nation. Le jansénisme au XVIIIe siècle, Paris 1998. 60 David B. MORRIS, The Culture of Pain, Berkeley, Los Angeles, Oxford 1991. Zur Geschichte des Schmerzes im 17. Jahrhundert vgl. auch Roselyne REY, Histoire de la douleur, Paris 1993, 105f.; Rey unterstreicht, im 17. Jahrhundert sei ausgiebig über den Sinn von menschlichem Leiden debattiert worden – und verweist dabei auf Blaise Pascal, der Gott bat, ihn äußerliche Krankheiten als Zeichen für eine kranke Seele begreifen zu lassen. Nur bezüglich seiner Schmerzen könne er Christus ähnlich sein. 61 Dass die Praxis der Selbstgeißelung von einigen zeitgenössischen Klerikern durchaus kritisch betrachtet wurde, zeigen Publikationen wie: Jacques BOILEAU, Histoire des Flagellants. Le bon et le mauvais usage des flagellations parmi les chrétiens (1701). Prés., notes et dossier établis par Claude LOUIS-COMBET, Montbonnot-Saint-Martin 1986.

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realen blutenden Wunden sogar übertreffen konnte. Der Nexus scheint sich im 18. Jahrhundert bereits zu ändern. Im 19. und 20. Jahrhundert wird dann zunehmend auf die nach außen hin wahrnehmbare Körperlichkeit des Phänomens hingewiesen. So verliert sich auch in der akribisch positivistischen Sammlung des Arztes Imbert-Gourbeyre die Bedeutung subjektiven Schmerzempfindens in der Masse der zusammengetragenen Beispiele von stigmatischen „Erkrankungen“ (maladies). Imitatio Christi durch das Nach- und Mitleiden erfahrbar (und nachahmbar) zu machen, war das Anliegen, das die Autoren und Drucker von hagiographisch inspirierten Viten, die Verfasserinnen von Gewissensberichten oder von Viten, die nur für den klosterinternen Gebrauch kopiert wurden, einte. Die Lektüren dieser Texte wurden in spezifische Körperpraktiken übersetzt, die in nach außen deutlich wahrnehmbaren Schmerz mündeten, dessen Beobachtung eine entscheidende Rolle spielte: konnte er doch zum Zeichen von Heiligkeit erklärt werden.

3. ZEICHEN DER HEILIGKEIT HEUTE – ETHNOLOGISCHE PERSPEKTIVEN

STIGMATISATION, STIGMATISIERUNG UND EKSTASE IM PALERMO DER GEGENWART. PADRE PIO UND DIE SOZIALPOLITISCHE UND RELIGIÖSE ANEIGNUNG DES HEILIGEN Annemarie Gronover

Im vorliegenden Beitrag wird anhand zweier ethnographischer Fallbeispiele aus Palermo dargestellt, wie im italienischen Süden Armut, Leid und politische Destabilisierung im Rekurs auf religiöse Sachverhalte verhandelt werden. Es soll sichtbar werden, wie die durch die Medien oftmals holzschnittartig transportierten italienischen Verhältnisse – unter der problematischen Präsidentschaft Silvio Berlusconis1 – den Alltag kleiner Leute prägen. Die dabei zu thematisierende Wechselwirkung zwischen sozialer und politischer Stigmatisierung zum einen und religiöser Stigmatisation zum anderen überlagert sich, wie es zu zeigen gilt, mit symbolischen Formen der Repräsentation des Heiligen und mithin virtuosen Formen, sich dieses in bestimmten umweltlichen Zusammenhängen anzueignen. Anhand des ersten Beispiels gilt es zu zeigen, wie Bewohner eines mafios organisierten Armutsviertels in Palermo ihre soziale und politische Stigmatisierung mit Hilfe des hl. Padre Pio und einer Statue desselben zu bewältigen suchen. Ähnliche Strategien werden im Handeln von Gläubigen einer katholischen Kirchengemeinde gespiegelt. Diese stehen mit ihrer persönlichen Beziehung zu Padre Pio und einer seiner „Nachahmerinnen“ im Zentrum des zweiten Beispiels. Die Gläubigen suchen in ihr, die über dessen göttliche Gabe der Stigmata verfügt, das eigene Leid zu lindern. Beide Gruppen handeln aus ekstatischer Erregung, aus Ärger und auf der Suche nach Heil. Die beiden Fälle stammen aus einer zwischen 2001 und 2002 unternommenen Feldstudie2. In dieser Zeit lebte und arbeitete die Verfasserin im Altstadtviertel La Kalsa. Im Zentrum meiner Datenerhebung stand die teilnehmende Beobachtung, die oftmals als der methodische Königsweg in der Ethnologie dargestellt wird. In meiner Feldforschung über religiöse Weltbilder und Praxis stellte die teilnehmende Beobachtung durch den Wechsel zwischen Innen- und Außenperspektiven für mich ein ständiges, dem Forschungsprozess inhärentes methodisches Kernprob1 2

Vgl. Alexander STILLE, Land unter. Italien war mal eine echte Erfolgsgeschichte. Lange her, Süddeutsche Zeitung Magazin, 13. Februar 2009, 20–22. Annemarie GRONOVER, Religiöse Reserven: eine Ethnographie des Überlebens in Palermo (Forum europäische Ethnologie 10), Berlin, Münster 2007, zugl.: Tübingen, Diss., 2006. Ethnographische Beschreibungen sind im Folgenden kursiv gesetzt, die Übersetzungen stammen von der Verfasserin.

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lem dar. Die qualitative Leistung liegt in den beiden Strategien der idealerweise objektiven Außenposition gegenüber sozialen Situationen und der gleichzeitigen intersubjektiven Teilnahme an ihnen. Der Spagat zwischen Nähe und Distanz lässt sich nicht aufheben. Um als Forscherin nicht rein auf dieser Schnittstelle der gemachten Erfahrungen, die als Rohdaten ebenfalls die Datenproduktion bestimmen, zu verharren und Gefahr zu laufen, eine subjektive Nabelschau zu liefern, führte die Verfasserin zudem lebensgeschichtliche Interviews und Experteninterviews durch und analysierte Archiv-, Foto- und Filmdaten. Die Felderlebnisse der teilnehmenden Beobachtung sind im Folgenden kursiv gesetzt, um sie von der Interpretation abzuheben.

Padre Pio in San Giovanni Rotondo – Frieden und Wohlstand San Giovanni Rotondo, September 2001. Ich gehe mit Gläubigen einer katholischen Kirchengemeinde in Palermo auf dem Kreuzweg des bedeutendsten Wallfahrtsortes Europas. Hier befindet sich der größte Sakralbau Italiens nach dem Petersdom, und riesige Menschenmassen drängen sich auf dem heiligen Gelände. Um neun Uhr morgens hat es bereits 30 Grad im Schatten. Die gleißende Sonne macht den Weg beschwerlich. Uns schwitzenden Pilgern stockt der Atem, Lieder und Gebete kommen nur mühsam über die Lippen, da der trockene Hals die Worte zu verschlingen droht. Die körperlichen Herausforderungen nehmen die Gläubigen auf dem Passionsweg gerne in Kauf. Einige von ihnen berichten mir von ihrer persönlichen Beziehung zu Padre Pio. Eine fünffache Mutter schildert, dass Padre Pio ihr in launigen Momenten in der Abenddämmerung auf dem Küchenfensterbrett aufmunternde Worte zuflüstert. Eine eigenartige Kraft durchströmt sie dann, und sie kann beruhigt zu Bett gehen. Für einen Witwer verbreitet der Heilige im Wohnzimmer in den dunkelsten Momenten seiner Trauer einen wohlriechenden Rosenduft, der seinen Körper angenehm durchdringt. Eine seit Jahren allein stehende Dame unterhält sich mit Padre Pio. Sie flüstert seiner Statue sanft ihre Trauer über die Einsamkeit ins Ohr und beschwört, dass seine Lippen sich zu einer Antwort bewegen. Eine ältere Frau würde beide Hände ins Feuer legen, um zu beteuern, dass bei der Lektüre der Biographie von Padre Pio ihre Hände und ihre Knie schmerzen. Eine junge Mutter dankt dem Heiligen, da er ihr letztes Jahr Zwillinge geschenkt hat und die Geburt für alle Beteiligten gut verlief. Der hl. Padre Pio ist in den Alltag der Gläubigen integriert. Er nimmt an ihren Sorgen wie Nöten teil und lindert ihr Leid. Die für Außenstehende außergewöhnlichen beziehungsweise außeralltäglichen Erlebnisse mit ihm sind für diese Gläubigen reale Tatsachen ihres Lebens. Warum Padre Pio die Herzen der Gläubigen erobern konnte, bleibt letzten Endes unergründlich, doch die ihm zugesprochene göttliche Gabe der Stigmata und seine angebliche Fähigkeit, Wunder zu wirken, machen ihn zu einem der beliebtesten religiösen Magnete der Gegenwart – zumindest in Italien. Der Heilige verdankt seine Karriere in der kargen Wüstenlandschaft des Garganogebirges den Bauern. Sie schufteten sich auf den Feldern für einen Kanten

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Brot ab. Aber auch ihr Hunger nach Erlösung war groß, und es waren unter anderem die Not leidenden Landbewohner, die den fingerlose Handschuhe tragenden Mönch in den Fußstapfen des hl. Franz von Assisi zu dem machten, was er heute ist. Der aus einer armen Bauernfamilie stammende Padre Pio war einer von ihnen. Er wurde am 25. Mai 1887 im kampanischen Pietrelcina als Francesco Forgione geboren. Als zum ersten Mal seine Stigmata hervortraten, war er 23 Jahre alt. Er lebte damals bereits in einem Kloster und nannte sich Pio, der Fromme. Als er 1916 nach San Giovanni Rotondo kam, litt er nicht unter beschwerlicher körperlicher Arbeit; er war kränklich und eigenbrötlerisch. Einsam kämpfte er in seiner Zelle mit einem Lungenleiden, Nahrungs- und Schlafmangel, Atemnot, Kopfschmerzen, Schwächeanfällen und vor allem mit eigenartigen körperlichen Manifestationen. Der angebliche Kampf mit dem Teufel hinterließ Spuren auf seinem Körper, den lebensnotwendigen Kastigationspraktiken der Bauern vergleichbar, die in sengender Hitze unfruchtbaren Boden bearbeiteten. Padre Pio wurde von seinen Verehrern zu einer Erlöserfigur gemacht und trug das Seine dazu bei. Der mittlerweile als Säureheiliger bekannte Pater machte mit der Gabe der Stigmata Furore. Von seinen ekstatischen Zuständen zeugen heute noch in San Giovanni Rotondo blutverschmierte Kleidungsstücke und blutgetränkte Handschuhe. Der über Jahrzehnte nicht versiegende Pilgerstrom verlieh diesem durch Padre Pio geheiligten Ort ungemeinen Reichtum. So gehört das in San Giovanni Rotondo errichtete Krankenhaus gegenwärtig zu den besten in ganz Italien. Der Durchschnittslohn der Beschäftigten im Tourismus- und Pilgergewerbe liegt 30% höher als in der Region3. Dennoch war und ist Padre Pio nicht unumstritten. Die Aufhebung der sonst heiligen Totenruhe durch seine Exhumierung im Frühjahr 2008 sollte widersprüchliche Stimmen zur Ruhe bringen: die der gläubigen Seelen, der kritischen Zweifler und die ambivalente Haltung des Vatikans. Ob der Wunderheilige seine Stigmata durch Säure hervorrief oder ob die ekstatischen Zustände auf seine Psyche, die von Zweiflern auch als pathologisches Museum analysiert wird, zurückzuführen sind, spielt für die hier zu Wort kommenden Gläubigen in Palermo keine Rolle. Für sie stehen Padre Pio sowie die von ihnen verehrte „Nachahmerin“ im Zentrum. Aus der Sicht der Akteure gilt es zu fragen, welche gesellschaftlichen, religiösen wie individuellen Funktionen Stigmata und Ekstase, Eigenschaften, die Heiligen zugeschrieben werden, übernehmen können. Stigmata und Ekstase sind Phänomene aus den religiösen Reserven tradierter Praktiken, mittels deren brüchiges, leidvolles Leben sowie instabile gesellschaftliche Strukturen gekittet werden können. Gläubige arbeiten sich an Pater Pio ab, sie reiben sich an seiner Übernatürlichkeit und seinem Menschsein, an der Tatsache, dass er einer von ihnen war und doch ganz anders. Sie nutzen seine Kräfte, um die sich stets verändernden Grenzen menschlichen Zusammenlebens zu regulieren und einen vorläufigen Zustand von Ruhe und Geborgenheit, wenn nicht gar Frie-

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Vgl. Bernd HARDER, Pater Pio und die Wunder des Glaubens, München 2003; Franco RUFFO, Padre Pio da Pietrelcina, Mailand 2000.

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den herbeizuführen4. Der Heilige fungiert als Relais zwischen Himmel und Erde. In der Wahrnehmung – und Erfahrung – der Gläubigen vermag er es, sie und ihre Umwelt zu heilen und zu heiligen5.

Padre Pio auf der Piazza Magione in Palermo – Mafia und Armut Im Frühjahr 2002 flimmert am Nachmittag der Staub auf der Piazza Magione. Sie liegt im Altstadtviertel La Kalsa, einer der ärmsten Gegenden in Palermo. Ich stehe mit einem arbeitslosen Vater von drei Kindern auf dem Balkon seiner baufälligen Wohnung. Rauchend sieht er missmutig auf die Padre-Pio-Statue auf der Piazza Magione. Jedem Zigarettenzug folgen wütend herausgestoßene Worte: „Es ist absurd, die einzige gute Sache, die wir wollen, nämlich Padre Pio auf unserer Piazza, die will uns die Verwaltung nehmen. Die Statue soll jetzt dennoch versetzt werden, obwohl sie gar nicht an der Stelle von Falcone steht! Der Platz, den wir wählten, der ist doch schön. Und der Pfarrer steht auch auf unserer Seite. Leute halten bei Padre Pio an und bringen ihm Blumen dar und beten, das ist eine schöne Sache […] Für das Treffen mit Berlusconi vor kurzem, da hat man die ganze Piazza gesäubert, all den Müll weggeschafft. Nur weil Politiker kommen. Sonst kümmern die sich doch um nichts. Und nun wollen sie uns Padre Pio nehmen, und dann vergisst man uns wieder in all dem Müll hier.“ Die Piazza Magione ist einer der vielen widersprüchlichen Orte, an denen Mafia und Zivilgesellschaft, Armut und Reichtum, Analphabetentum und Bildung widerspenstig Hand in Hand gehen und sich im Zeichen des Heiligen, hier in der Padre-Pio-Statue, symbolisch vereinen. Er, der für alles zuständige Heilige, soll auch auf der Piazza beziehungsweise für deren Bewohner eines seiner unzähligen Wunder vollbringen: Er soll den Menschen ermöglichen, in angemessenem Wohnraum mit Arbeit, Brot und Wasser zu leben. Die Ruinen um die Piazza Magione – in einer von ihnen haust der arbeitslose Vater – stammen noch aus dem Zweiten Weltkrieg, z. T. handelt es sich auch um nicht behobene Erdbebenschäden. Bis 1991 sammelte sich in Ermangelung der öffentlichen Müllentsorgung der gesamte Unrat der anliegenden Bewohner auf der Piazza. Der Pfarrer der Basilica della Magione, ein so genannter Antimafiapriester, ließ den Platz in Zusammenarbeit mit einem reuigen Mafioso reinigen. Im Auftrag des Antimafiapriesters wurde die Fläche begrünt; sie gehört heute zu den schönsten Parkanlagen Palermos und wird gleichsam, wie der erboste Vater erklärt, je nach politischer Stimmungslage von der Kommune betreut oder vernachlässigt. Dass seit 2000 immer mehr Bars, Restaurants und Läden um die Piazza entstehen, zählt zu den Strategien, das Gesicht des Viertels zu verschönern. Dies kann jedoch nicht darüber hinwegtäu4

5

Vgl. Ernesto DE MARTINO, Land der Gewissenspein, Antaios 3 (1962), 105–124; Karl-Heinz KOHL, Kulthöhlen verschiedener Art. Eine Geschichte von heiligen Dingen, Neue Rundschau 115, H. 1 (2004), 9–24. Vgl. William A. CHRISTIAN, Apparitions in Late Medieval and Renaissance Spain, Princeton, New Jersey 1981, 4.

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schen, dass die Bewohner bis zu 70% arbeitslos sind und z. T. in Ruinen und Häusern ohne Wasseranschluss und Elektrizität leben. Kinder aus armen Familien gehen selten zur Schule, sie treiben sich tagsüber auf den Straßen herum; die Jugendlichen verdienen nicht selten Geld mit Dealen oder Prostitution, Erwachsene sichern ihr Dasein mit Schwarzarbeit und Autoschiebereien. So ambivalent wie sich das architektonische Gesicht des Viertels gestaltet, so widersprüchlich sind die Lebensbedingungen und Schicksale der Bewohner6.

Erinnerung an Giovanni Falcone und Paolo Borsellino auf der Piazza Magione Aus dem Altstadtviertel La Kalsa stammen Paolo Borsellino und Giovanni Falcone. Die beiden Staatsanwälte arbeiteten im Antimafia-Pool mit. Der „Pool“ war in den 1970er-Jahren von der zweiten Richtergeneration nach dem Zweiten Weltkrieg eingerichtet worden; sie hatte sich nicht mehr über reziproke soziale Beziehungen mit den Mafiosi etabliert. Der „Pool“ sollte mafiose Verbrechen rekonstruieren und dokumentieren, um sie strafrechtlich verfolgen zu können; er war auch an der Vorbereitung und Durchführung der einschlägigen „Maxi-Prozesse“ (Februar 1986 bis Dezember 1987) beteiligt. Falcone und Borsellino wurden 1992 durch die Mafia ermordet. Sie waren Palermitaner, kamen nicht aus dem Norden und verkörperten somit kein hegemoniales Vorgehen im Kampf gegen die Mafia, waren in deren Milieu aufgewachsen. Für die Palermitaner bedeuteten sie Zivilgesellschaft, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung. Die Empörung über die Attentate erfasste breite Bevölkerungsschichten. Die Antimafiabewegung, die zu diesem Zeitpunkt in ihren Aktionen erlahmte, wurde durch neue soziale Bewegungen revitalisiert7. Die Piazza Magione ist einmal im Jahr am Gedenktag der Attentate auf Giovanni Falcone und Paolo Borsellino Ort zivilgesellschaftlicher Demonstrationen gegen die Mafia. Auf der Westhälfte der Piazza, zwischen der Basilica Santissima Trinità – La Magione und dem Konvent der Mutter-Teresa-Schwestern, steht ein unscheinbarer kniehoher Kalkstein, neben dem eine ebenso große breitblättrige Kaktee wächst. Auf dem Stein steht mit hellroter, von der Sonne ausgeblichener Farbe in ungelenken Lettern „Giovanni“ und „Paolo“. Der Stein erinnert an das Denkmal für die beiden Staatsanwälte, das kurz nach deren Tod hier aufgestellt, aber binnen vierundzwanzig Stunden von Bewohnern des Viertels zerstört wurde. Auch wenn ein Großteil der palermitanischen Bevölkerung, vornehmlich die Bildungsschicht, sich für den Antimafiakampf engagierte, so ist das 6

7

Vgl. GRONOVER (wie Anm. 2), 73ff.; Jane SCHNEIDER / Peter SCHNEIDER, From Peasant Wars to Urban ‚Wars‘: The Anti-Mafia Movement in Palermo, in: Between History and Histories: The Making of Silences and Commemorations, hg. v. Gerald M. SIDER u. Gavin SMITH, Toronto, Buffalo, London 1997, 230–262, hier: 243f. Vgl. Anita BESTLER, Chancen und Grenzen lokaler Bewegung. Die Antimafiabewegung in Palermo, unveröff. Manuskript, Vortrag gehalten auf der Workshop-Tagung „Politische Partizipation und Protestmobilisierung im Zeitalter der Globalisierung“, 30. Juni bis 1. Juli 2000 im Wissenschaftszentrum Berlin.

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Leben vor allem in den historischen Stadtvierteln bis heute von der Mafia durchdrungen. Ein neuer Gedenkstein wurde errichtet und unter Polizeischutz gestellt. Dennoch gelang es Widersachern, auch diesen zu beschädigen. Das Relikt stand bis 2008 vernachlässigt auf der Piazza. Falcone und Borsellino kommen zwar aus dem Viertel La Kalsa, aber sie stehen der mafiosen Realität diametral entgegen. Hier regieren, wie in anderen Stadtvierteln auch, Bosse mit unsichtbarer Hand und regulieren soziales, politisches und wirtschaftliches Leben bis in die kleinste Mikrozelle. Die Mafia verhindert zum Beispiel die Renovierung von Wohnraum, um sich als Wohltäter für die Armen hervorzutun, indem sie für die Wasserzulieferungen in die „Häuser“ die Verantwortung übernimmt. Sie bindet arbeitslose Jugendliche in ihre kriminellen Netzwerke ein und hält sie so bewusst von der Schule fern, um ihren Aufstieg in einer (möglichen) Zivilgesellschaft zu verhindern8.

Stigma und Ekstase – Mafia und Zivilgesellschaft In La Kalsa vermochten es einige einflussreiche Männer, den Bewohnern des Viertels mittels Gründung eines Komitees Spenden im Wert von über 1000 Euro aus der Tasche zu ziehen, um eine Padre-Pio-Statue zu kaufen. Diese sollte genau an den Ort des beschädigten Gedenksteins für Falcone und Borsellino gestellt werden. Die Stadtverwaltung verweigerte jedoch ihr Einverständnis. In einer Nachtaktion entschlossen sich daher einige Männer, die Statue in die Piazza einzubetonieren. Als die Polizei davon erfuhr, war der Zement trocken und Padre Pio behauptete unverrückbar seinen Posten auf der Piazza Magione. Als Polizeikräfte sich am Heiligen zu schaffen machten, kreischten einige Frauen auf der Piazza, rannten in die Kirche La Magione und holten den dortigen Priester, der die Polizeiaktion verhindern sollte, während einige Männer gegenüber den Polizisten handgreiflich wurden. Am Ende blieb die Statue stehen – illegal und als Zeichen, dass auf dieser Piazza die Bewohner kraft des Heiligen ihre Interessen zu verteidigen wissen. Der Streit zwischen der Stadtverwaltung und den Wortführern aus dem Viertel wurde in der Presse ausgetragen. Journalisten staunten, dass in diesem verwahrlosten Stadtteil, der sich nach ihrer Meinung durch eigene Kräfte erneuern sollte, der Heilige Wunder wirke. Sie fürchten, dass die Statue des Heiligen instrumentalisiert wird, denn um die Denkmäler des jungen Falcone und Borsellino, die auf der Piazza spielten, kümmerte sich niemand. Die Vermittlungsversuche des Pfarrers zwischen der Stadtverwaltung und den „ehrenwerten Leuten“ blieben erfolglos. Der Priester setzte sich zwar für die Bewohner ein, agierte aber gegen die Bosse, um das Andenken an Falcone und Borsellino zu bewahren. Währenddessen nahmen die Bewohner um die Piazza Padre Pio in ihre Lebensgemeinschaft auf. Sie bauten ihm um seinen Betonsockel eine 8

Vgl. Nino ALONGI, Palermo. Gli anni dell’utopia (Problemi aperti 35), Soveria Mannelli 1997, 33; Jane SCHNEIDER / Peter SCHNEIDER, Reversible Destiny. Mafia, Antimafia, and the Struggle for Palermo, Berkeley 2003, 32, 47f.

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Holzüberdachung, pflanzten Koniferen an und brachten ihm zu Ehren und in Erbittung von größeren und kleineren Wundern täglich Blumensträuße. Schlussendlich beschloss die Stadtverwaltung, dass die Statue an einen anderen Ort gestellt werden müsse. Der Zeitpunkt werde in naher Zukunft festgelegt. Der Priester nutzte die Pattsituation zwischen der Kommune, die den Fall erst einmal zur Seite legte („in naher Zukunft“ bedeutet ad acta, bis jemand protestiert), und den Bossen, die sich sicher fühlten, dass es keine weiteren Sanktionen geben würde. Am Palmsonntag, den 24. März 2002, organisierte der Priester eine Prozession um die Piazza Magione und durch La Kalsa. Er exorzierte durch die Prozession und das Segnen der Häuser den mafiosen Geist, vertrieb ihn zugunsten zivilgesellschaftlicher Kräfte aus dem Viertel: „Herr, segne diese Straße, segne diese Häuser und segne die Kinder und all die Freiwilligen, die sich um sie kümmern und deren Mühen nicht anerkannt werden! Heilige Rosalia, sei mit uns.“ Er winkt in Richtung des Monte Pellegrino und fährt fort: „Herr, segne diese Kinder, die nicht lesen können und die es niemals lernen werden! Sie werden es nicht lernen, weil es hier Menschen gibt, die nicht wollen, dass sie es lernen.“ Anschließend segnete der Priester die Statue in Anwesenheit der Presse und gliederte sie durch den Segen seiner Gemeinde ein. Er eliminierte das politisch Anrüchige; Padre Pio sei, so der Priester, Sinnbild für Reichtum, Wohlstand und Menschen, die in Frieden und im Heil leben können, so wie in San Giovanni Rotondo. Ein eben solcher Ort solle die Piazza Magione auch werden. Im Mai 2008 stand Padre Pio immer noch dort, wo Falcone-Gegner ihn in die Piazza betoniert hatten. Die Stadtverwaltung gab sich geschlagen, verzichtete darauf, den Standort zu verändern. Im Juni 2008 wollte sie die Piazza Magione in „Piazza Falcone“ umbenennen, wogegen die Bewohner entschieden protestierten. Padre Pio wurde aus Sicht der Bewohner und des Priesters Sinnbild für einen heilen Ort, eine Oase, in der kein Leid, kein Argwohn herrscht, in der jede Sperrigkeit des irdischen Daseins überwunden werden kann. Dass die Bosse mit der Inanspruchnahme des Heiligen in Form der Padre-Pio-Statue unheilige Interessen durchsetzten, um das Andenken an Falcone und Borsellino zu tilgen, steht nicht in Widerspruch zu den Zielen des Priesters. Beide agieren im Zeichen des Heiligen. Das Stigma des Viertels, Armut, Verwahrlosung, Arbeitslosigkeit, Bildungsausschluss und Kriminalität, hervorgerufen durch die mafiose Regulierung des sozialen Lebens, ist in den Stigmata des Heiligen aufgehoben. Das Stigma des Viertels impliziert, dass die Träger des Stigmas, die Bewohner, die Verantwortung für ihren Defekt tragen9. Der Defekt ist körperlich nicht sichtbar, wirkt sich aber durch die beschädigte soziale, wirtschaftliche, politische und kulturelle Umwelt auf den physischen Bereich des Daseins aus10. Die vom Stigma ausgehende Aggressivität, die Anklage gegen das erfahrene Unrecht, beruhigt sich in den Stigmata Padre Pios. Anders gesagt: die Stigmatisierten griffen das Symbol auf und verwandelten es in eine Waffe gegen ihre Stigmatisierung – Stigmata gegen 9

Vgl. Wolfgang LIPP, Stigma und Charisma. Über soziales Grenzverhalten (Schriften zur Kultursoziologie 1), Berlin 1985, 98. 10 Vgl. ebd., 96.

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Stigmata11. Die Unverletzlichkeit, die Ganzheit des Heiligen drückt sich paradoxerweise in dessen unnatürlichen Körperöffnungen aus und ist gerade deshalb religiöser Magnet für die Ausgestoßenen. Deren Verletzlichkeit, Mangel an Bildung, Gesundheit und Arbeit, der brutale Alltag, ähnlich dem der Bauern im Garganogebirge, wird im Leid des Heiligen gelindert. Das Kaputte und Defekte12 kumuliert im Blut des Heiligen, das Ausdruck von Gewalt, aber auch von Heil, von Perfektion ist und sinnbildlich für ein Kitten sozialer Strukturen und persönliches Leid und Ängste steht13. Der Ärger der Bewohner, ihr ekstatischer Zorn über die Bevormundung durch die Stadtverwaltung, erhebt sie über ihr armseliges Dasein, entrückt sie mittels des Heiligen aus ihrer sozialen Realität und schafft durch das Symbol des Padre Pio einen Ort des Friedens. Stigma und Ekstase, hier keine göttliche, sondern eine rebellische Energie, haben in diesem Fallbeispiel, der Dramatisierung der Stigmata, ihr eigenes Gesicht. Sie sind nicht in erster Linie als ein Bekenntnis der Zugehörigkeit zu Christus zu verstehen. Stigmata stehen hier nicht für Male und Schläge, die man als Lohn für das Bekenntnis erhält, sondern ganz real für den Wunsch, sich des Elends zu entledigen, indem man politisch kampfbereit im Zeichen des Heiligen agiert und ihn als Quelle neuer Macht und Energie nutzt. Das Paradox, dass gerade die Befehlshaber, die die elenden Lebensbedingungen zu verantworten haben, die Statue als Symbol des politischen Widerstandes gegen Zivilgesellschaftlichkeit deuten, steht weder dem Anliegen des Priesters entgegen, sich für Zivilgesellschaftlichkeit einzusetzen, noch dem Wunsch der Bewohner, im Heiligen Heil zu finden. Im Gegenteil, hier handelt es sich um ein meisterhaftes Verwalten der heiligen Kräfte nach den jeweiligen Anliegen, die in ihrer Widersprüchlichkeit in der Figur des Heiligen harmonisiert werden.

Mimesis des Padre Pio Während in der Dramatisierung und Skandalisierung der Padre-Pio-Statue auf der Piazza Magione Stigmata in einem politisch ekstatischen Kontext verhandelt wurden, stehen im folgenden Beispiel die individuellen Bedürfnisse von Gläubigen im Zentrum. Die Stigmata einer „Nachahmerin“ von Padre Pio oder einer Frau, die die Techniken der Mimesis beherrscht, stehen für den Erlösungsgedanken der Einzelnen, die an den göttlichen Gaben einer heilig geglaubten Frau partizipieren wollen. Auch hier soll über das Medium des defekten religiösen Körpers das eigene Kaputte und Kranke geheilt, wenn nicht gar geheiligt werden. Die Doppelung beziehungsweise die Verdoppelung der Person des hl. Padre Pio geschieht durch Mimesis. Der religiös begnadete Mensch schiebt sich im ekstatischen Zu11 Vgl. ebd., 76. 12 Vgl. Alfred SOHN-RETHEL, Das Ideal des Kaputten. Über neapolitanische Technik, Bremen 1992. 13 Vgl. Thomas HAUSCHILD, Der Sinn der Rituale. Eine Antwort auf Bernhard Streck, Paideuma 47 (2001), 195–201.

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stand in den Körper des Heiligen hinein und macht diesen für seine Mitmenschen lebendig und fassbar14.

Wunderbare Zeichen Im Frühjahr 2002 stehe ich auf dem Kirchplatz der Gemeinde La Magione und unterhalte mich mit einer Frau, deren Handrücken offene Narben mit austretendem Wundwasser aufweisen. Ich bin von ihrer Offenheit, mich zum Geburtstag einer ihrer Töchter einzuladen, überrascht, da wir uns nicht kennen. Gerne nehme ich die Einladung an, kaufe ein Geschenk für die Tochter und Ringelblumensalbe in der Apotheke, die ich der Frau für ihre offenen Stellen auf den Handrücken schenken möchte. Als ich jedoch ihr Haus betrete, beschleicht mich ein seltsames Gefühl, ich vergrabe die Salbe tief in meiner Handtasche und krampfe meine Hände ineinander. Ich scheine mich nicht in einem Fünfpersonenhaushalt zu befinden, sondern in einer Gnadenkapelle. Neben der Eingangstür wurde die Grotte von Lourdes nachgebaut, die Madonna im blau-weißen Gewand steht betend darin. An der gegenüberliegenden Wand hängt ein Herz-Jesu-Bild, darunter ein steinernes großes Wasserbecken. Unzählige Heiligenbilder, Votivgaben und Schmuckstücke zieren die Wände in Flur, Küche und Wohnzimmer. Zwei weiße Taschentücher, die in Glasrahmen gefasst sind, wecken meine Neugier. Sie hängen in der Küche über dem Sofa. Auf einem Taschentuch steht in hellroten Buchstaben „Jesus“, auf dem anderen ist ein Kreuz abgebildet. Die jüngste Tochter des Hauses stellt sich neben mich und erklärt: „Mama hat geschwitzt und sich mit den Taschentüchern die Stirn abgewischt. Sie legte die Tücher unachtsam auf den Küchentisch. Später entdeckten wir, dass das gar kein Schweiß war.“ Mir muss mein Befremden im Gesicht stehen, doch bevor ich eine Frage stellen kann, sehe ich, wie die Frau einer Freundin geheimnisvoll ihre inneren Handflächen zeigt. Sie weisen dieselben Wundstellen wie die Handrücken auf. Ich bitte um ein Glas Wasser und setze mich verwundert auf einen Küchenstuhl. Der Ehemann der Frau gesellt sich zu mir. Lässig nimmt er auf dem Sofa Platz, sieht mich ernst an und beginnt zu erzählen. Ungefragt. Seine Frau und er würden seit Jahren Gebetskreise mit Familie und Freunden in ihrem Garten, wo eine kleine Gnadenkapelle steht, und in der Wohnung abhalten. Als wieder einmal alle im Garten versammelt waren, ging seine Frau ins Haus, um für Neuankömmlinge Stühle zu holen, und im Vorbeigehen am Herz-Jesu-Bild bekreuzigte sie sich. Plötzlich floss Wasser aus dem Bild, so als ob dahinter jemand stehen und es ausgießen würde. Daher habe er später das Wasserbecken darunter gebaut. Aus dem Bild ströme in den letzten Jahren des Öfteren Wasser. Ebenso habe die Maria von Lourdes, der er eine Kapelle neben dem Hauseingang baute, mehrmals beim Gebet große Tränen geweint. Jedenfalls, er kommt auf seine Frau zurück, als zum ersten Mal Wasser aus dem Bild floss, wurde seine Frau gleichzeitig ohnmächtig. Er und zwei weitere Männer legten sie vorsichtig auf das Sofa und stellten erstaunt fest, dass ihre 14 DE MARTINO (wie Anm. 4), 115.

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Kleidung unerklärlicherweise trocken war, wo sie doch in die Wasserlache unter dem Bild niedergesunken war. Und dann habe sie begonnen, in Zungen zu sprechen, und geschrien. Er zitiert: „Ich verbrenne, ich verbrenne mir die Brust. Mir tun die Hände und Schultern weh. Helft mir, öffnet mir mein Hemd.“ Daraufhin sahen sie Zeichen auf ihrer Haut. Auf der Brust und auf dem Rücken formten sich Kreuze. Sie kamen von innen über die Haut nach außen. An ihren Händen öffneten sich Stellen, und es begann Blut zu fließen. Seine Frau hörte eine Stimme, die ihr gegen die Brust schlug und ihr zuflüsterte: „Sei ganz ruhig. Ich bin der Herr. Ich bin es, Jesus.“ Ich bitte um ein weiteres Glas Wasser, weil mir nichts einfällt. Erstaunlich, wo ich doch seit Jahren über katholische Heiligenkulte forsche, doch dass „mittelalterliche“ Geschichten lebendig werden könnten, daran verliere ich keinen Gedanken. Der Ehemann lächelt, steht auf und überlässt mich mir selbst. Später, als die meisten Geburtstagsgäste gegangen waren, nimmt die Ehefrau sich Zeit für mich. Ich frage lakonisch: „Was hast du an den Händen?“ Sie deutet die Stellen als göttliche Gaben. Als bekannt wurde, dass sie über solche verfüge, begannen ihre Probleme. Feinde hatten sie in aller Öffentlichkeit bedroht. Auf ihrem Ehebett fand sie eine Puppe, in der zahllose Nadeln steckten. Ihre Katze lag vergiftet auf dem Balkon, dann der Schäferhund tot im Garten. Aber sie konnte sich auch aus anderen Gründen nicht in der Öffentlichkeit zeigen, denn fanatische Gläubige griffen sie körperlich an. Sie wollten Stücke aus ihrer Kleidung als Erinnerung schneiden. Gott sei Dank sei sie in die Gemeinde La Magione gekommen, in der der Priester sie als eine „normale“ Person behandle. Die Gläubigen in der Gemeinde könnten mit ihren Gaben umgehen. Auch die Anfeindungen des Teufels würden sie nicht als teuflische Besessenheit sehen, sondern hätten Vertrauen, dass der Priester sie wieder zur Ruhe bringe. Denn manchmal suche sie der Teufel heim, schlage sie und sie müsse Blut spucken. Organisch sei sie in bester Verfassung, so die Untersuchung von Ärzten. Jedenfalls hätten die Gläubigen in der Gemeinde keine Probleme mit den offenen Stellen auf ihren Handrücken. Abends lege ich die Ringelblumensalbe auf meinen Nachttisch und versuche, diesen Tag zu vergessen. Allerdings werde ich am nächsten Morgen zu einem charismatischen Gebet eingeladen, und die wunderbare Sache nimmt ihren Lauf. Im Hinterland von Palermo treffen sich Ehepaare, die mit dem Priester zusammen beten und den Heiligen Geist empfangen wollen. Jedes Paar betet nach einer gemeinsamen Anleitung für sich in einer stillen Ecke des Gartens. Die Frau mit den offenen Handflächen kniet sich mit ihrem Mann und dem Priester gemeinsam nieder. Als nach geraumer Zeit die Ehepaare wieder in einem Kreis versammelt sind, führt der Priester das Ehepaar in die Runde und sagt: „Das bedeutet, Jesus ist mitten unter uns.“ Ich verstehe gar nichts. Die Gläubigen werden unruhig, gehen auf die Frau zu, wollen die offenen Stellen ihrer Hände, aber vor allem den Schriftzug auf ihrer Stirn berühren. Dort leuchtet in hellen, in der Sonne glitzernden Lettern „Jesus“. Der Ehemann hält die Gläubigen mit den Worten zurück: „Nicht anfassen, man verbrennt sich.“ Wem es dennoch gelingt, der führt seine Hand an den Mund, küsst sie und bekreuzigt sich. Mir fällt nichts Besseres ein, als an meine Ringelblumensalbe zu denken, der letzte Anker der Rationalität, der

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mich vor meiner Ohnmacht schützen soll, denn mein Unverständnis entlarvt mich als vollkommene Idiotin in Sachen sizilianischer Glaubenspraxis.

Blut und Heilsein Nach ein paar Tagen wagte ich es, den Priester auf dieses Ereignis anzusprechen. Ich verstand nicht, wie derartige Phänomene hervorgerufen werden und Gläubige in einen ekstatischen Zustand geraten konnten. Auch wenn ich zahlreiche Berichte über diese religiösen Erscheinungen gelesen hatte: sie leibhaftig zu erleben überforderte mich. Der Pfarrer bezichtigte mich eines typisch deutschen rationalen Weltbildes, das diese Phänomene vor dem Hintergrund von Aufklärung und Protestantismus abtue. Nach dem enttäuschenden Gespräch setzte ich mich wochenlang zu den Frauen in die Kirche und lauschte ihren Gesprächen über die Frau mit dem Schriftzug auf der Stirn und den offenen Stellen auf Handrücken und Handinnenflächen. Einige glauben, sie würde einmal so berühmt werden wie Padre Pio und sei eine ganz besondere Person. Ich erfuhr, dass sie für Kranke und Leidende bete, diese auch zu Hause besuche und die Bedürftigen sich danach besser fühlten. Auch Heilungen habe es durch ihre Hände bereits gegeben. Die Frau sei in der Mission tätig, sie gehe mit Gebetsgruppen in die Häuser, um Einzelnen oder Familien von Jesus Christus zu erzählen. Sie verfüge über seherische Gaben, in den Gebetskreisen nehme sie Kontakt mit einzelnen Betenden auf und sage ihnen auf den Kopf zu, wo ihr Problem liege. Feuer und Flamme waren diejenigen, die das Blut dieser Frau berühren durften. Dieses Blut, so erklärten sie mir, heile, reinige, es bewirke ein Heilsein des Geistes und Körpers. Es erinnere an das Blut Christi. Dass die Frau heilig sei, erschließe sich auch aus ihren ekstatischen Zuständen, die nicht nur aus dokumentarischen Gründen von Ärzten untersucht worden seien, sondern auch, um zu beweisen, dass sie kein gewöhnlicher Mensch sei. Körperliche Krankheiten konnte man nämlich nicht nachweisen, auch bei ärztlichen Experimenten habe die Frau keine Schmerzen verspürt. Einmal stach man ihr anscheinend bei einer Vision mit Nadeln in die Augen (!), sie fühlte nichts, und das Auge war danach unversehrt. Einer frommen Frau zufolge wurde die Ärztin daraufhin eine überzeugte Christin. Viele in der Gemeinde suchen die Nähe dieser Frau: Sie hört zu, betet, heilt und lässt die Gläubigen an ihren göttlichen Gaben teilhaben. Die Probleme der Gläubigen sind vielfältig: Ehestreit, Kindererziehung, Krankheit – von Kopfschmerz bis Krebs –, Angst vor Reisen, Arbeitslosigkeit, Schulabbruch usw. Um die profane Welt zu kontrollieren, bietet sich die „Nachahmerin“ von Padre Pio aus Sicht der Gläubigen geradezu an. Sie sehen in ihr eine Heilige, im Gegensatz zu Kritikern, die jedoch ebenfalls in religiösen Kategorien denken, wenn sie sie – mittels der von Nadeln durchbohrten Puppe und des Vergiftens von Katze und Hund – der Hexerei beschuldigen15. Ihrer Macht und Fähigkeiten kann 15 Die Frau ist eine Schwellenbedrohung: Neben der Konnotation Heiligkeit symbolisiert sie den Kampf mit dem Teufel, dem Bösen im Leben und in der Welt. Ihre Gegner schlossen sie als

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man sich mittels magisch-religiöser Praktiken versichern, die gleichermaßen Emotionen besänftigen und diese Kontrolle in Körperbildern sichtbar machen. Die Taschentücher mit dem Wundwasser zeugen von übernatürlichen Kräften; sie werden in Krisenmomenten von Gläubigen ebenso berührt wie Devotionalien, die die Frau in der Hand hatte. Die Analogiebildung zu Padre Pio und im übertragenen Sinne zu Christus geschieht zunächst über den erfahrenen Schmerz in der Ekstase: Die heilig geglaubte Frau ist immun gegen natürliche Einflüsse wie Wasser, körperliche Angriffe durch den Teufel und Experimente durch Ärzte. Ihr Körper ist Kontaktstelle zwischen Himmel und Erde. Göttliche Kraft findet ihren Platz auf dem menschlichen Körper. Die Inszenierung des Körpers ist nicht wie im ersten Beispiel ein exorzistisches Drama. Der performative Prozess gleicht einer periodischen Krisenbewältigung. Die Aufschrift auf der Stirn versinnbildlicht, wie das Wort Fleisch wird. Das Fleisch beziehungsweise der Körper ist Ausdrucksgestalt des Geistes und Wohnort des Wortes. Es geht um eine buchstäbliche Einschreibung des göttlichen Zeichens in den Körper. Das Blut kann ähnlich wie im ersten Beispiel als Wiederherstellung – durch Reinigung oder Wiedergutmachung – eines Urzustandes gelesen werden, nach dem sich die Gläubigen sehnen. Das aus dem Bild strömende Wasser untermalt die Sehnsucht nach einem heilen Urzustand, deutet man das Bild als Quelle, als Urstrom, der Leben spendet. Stigmata stehen hier nicht wie im Beispiel von Padre Pio auf der Piazza Magione für die Kompensation des sozialen Stigmas, sondern für Erneuerung der heiligen Spuren, ein Nachspüren und Erinnern des Leidens Christi, um sich durch ihn zu heilen, in diesem Fall mittels des Umwegs über die Stigmatisierte, die „Nachahmerin“. Die Erfahrung der Wunde, im übertragenen Sinne bzw. stellvertretend für die Wunden der Einzelnen, ist Erlebnisraum, in dem sich Realität und Transzendenz überschneiden. Das Feuer, von dem die Frau bei ihrer Initiation sprach und das während der Ekstase beim charismatischen Gebet vom Inneren ihres Körpers über die Grenze der Haut nach außen kam, ist ein Augenblick der Verdoppelung des Göttlichen, ein Augenblick reinigender Bindung der Menschen an diese Frau; sie werden von diesem Feuer angesteckt und können somit dem Göttlichen begegnen. Stigmata und Ekstase werden in diesem Beispiel als Techniken der Selbstvergewisserung verstanden. In ihnen artikulieren und verdichten sich Erfahrungen der alltäglichen und göttlichen Besessenheit sowohl der Gläubigen als auch der Heiligen. Gläubige binden sich an Heilige und werden von ihnen besessen. Ekstase und Stigmata sind Imagination eines heilen und heiligen Lebens. Sei es nun in Gestalt des hl. Padre Pio, der die widersprüchlichen Kräfte von Mafia und Zivilgesellschaft in sich vereint, oder in Gestalt einer seiner „Nachahmerinnen“, die als lebende Heilige Gläubige vermeintlich heilt und heiligt. Italiens Süden greift in seiner sozialpolitischen und religiösen Performanz auf diese religiösen Reserven zurück. Die Verarbeitung der eingangs angedeuteten Verletzungen und EnttäuHexe aus der Gemeinschaft aus, indem sie die symbolisch getötete Puppe auf ihr Ehebett warfen und die Haustiere vergifteten. Im mafiosen Kontext gelten Haustiere als Familienmitglieder, ihre Tötung ist als eine ernsthafte Warnung zu verstehen.

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schungen ist damit keineswegs ein Verharren in verstaubten „mittelalterlichen“ Strukturen, sondern ein virtuoser Umgang mit Krisen und ein Versuch, durch ekstatische Zustände sozialpolitische und persönliche Stigmata zu heilen.

INCORRUPTIO CORPORIS INDICAT NOBIS SANTAM VITAM PERENNEM: DIE MUMIEN VON VODNJAN/DIGNANO UND IHRE INSTRUMENTALISIERUNG1 Waltraud Pulz

A Loredana che mi rivela sempre nuovi segreti di Venezia

Seit dem Auffinden von Ötzi (1991) hat das Thema „Mumien“ in der Forschung Konjunktur und stößt auch in breiten Bevölkerungskreisen auf beträchtliches Interesse. Im Rahmen der Europäischen Akademie Bozen (EURAC) wurde 2007 ein eigenes „Institut für Mumien und den Iceman“ gegründet, in dem man nicht nur die Forschung zu der Gletschermumie koordiniert, sondern sich momentan auch intensiv mit den Mumien in den Palermitaner Kapuzinerkatakomben befasst. Ein weiterer Zufallsfund hat die Forschung beflügelt: Im Depot der Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen hat man 2004 bei Umstrukturierungsarbeiten 20 Mumien entdeckt, die zum Teil als Kriegsverlust galten. Der Versuch, die Informationslücken bezüglich Herkunft und Alter der Mumien zu schließen, die notwendige Restaurierung und die Frage nach einer ethischen Richtlinien entsprechenden Aufbewahrung und Präsentation mündeten in ein durch internationale Kooperation ausgezeichnetes Mumienforschungsprojekt (German-MummyProject), in dem Mediziner, Chemiker, Physiker und Biologen zusammenarbeiten. 2007 kam es in Mannheim unter dem Titel ‚Mumien. Der Traum vom ewigen Leben‘ zu einer Ausstellung2, in der über 60 Mumienfunde präsentiert wurden; vergrößert tourt diese Ausstellung seit 2010 für drei Jahre durch die USA. 1

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Vorgestellt werden hier Ergebnisse eines durch die mangelnde Kooperationsbereitschaft des Vodnjaner Pfarrers Marijan Jeleniü ins Stocken geratenen Projekts, an dem wir zu dritt geraume Zeit gearbeitet haben. Ich danke Susanne Büttel für ihre Unterstützung bei den (Bibliotheks-)Recherchen in Venedig und Vodnjan/Dignano sowie Tomislav Helebrant für die Auswertung der Mirakelaufzeichnungen von M. Jeleniü. Der Katalog bietet einen beeindruckenden Überblick: Mumien. Der Traum vom ewigen Leben (Publikationen der Reiss-Engelhorn-Museen 24), hg. v. Alfred WIECZOREK, Michael TELLENBACH u. Wilfried ROSENDAHL, Mainz 2007. Mit der Problematik der Ausstellung menschlicher Überreste befasst sich eine von Wiebke Ahrndt geleitete Arbeitsgruppe, die im Auftrag des Deutschen Museumsbunds Empfehlungen für einen verantwortungsvollen Umgang mit diesbezüglichen Sammlungsbeständen erarbeiten soll.

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In engem Zusammenhang mit den hier skizzierten Forschungsaktivitäten erschien Mitte 2011 der erste Band eines einschlägigen Jahrbuchs: Das ‚Yearbook of Mummy Studies‘ ist die erste und einzige akademische Zeitschrift, die sich ausschließlich dem multidisziplinären Feld der Mumienforschung widmet, den Herausgebern zufolge in all seinen Aspekten3. Kulturwissenschaftliche Forschungen sucht man in dem auf Beiträgen zum „First Bolzano Mummy Congress“ (2009) beruhenden Band allerdings vergebens. Über aktuelle Forschungen zum kirchlichen Umgang mit Gebeinen bzw. Mumifizierung, zur Theologie der fleischlichen Auferstehung wie auch zur musealen Präsentation präparierter Körper wurde indes in einem Workshop zum Thema „Immortal Bodies“ berichtet, der 2010 am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte stattfand4. Das interdisziplinäre Gespräch ist beim Thema Unverwestheit/Unverweslichkeit nicht weniger kompliziert als anderswo. Als Beispiel für die Vielschichtigkeit der Probleme sei hier auf die traditionell getroffene Unterscheidung zwischen natürlicher und künstlicher Mumifizierung verwiesen. Diese Einteilung trägt nur den Extremen, nicht aber den im konkreten Fall häufigen Mischformen Rechnung. So waren es die besonderen Bedingungen einer in den Tuff geschlagenen Begräbnisstätte der seit 1534 in Palermo ansässigen Kapuziner, die eine natürliche Mumifizierung bewirkten: Die aus den toten Körpern austretende Feuchtigkeit wurde durch das poröse Gestein aufgesogen, so dass die Leichname austrockneten. Bei im Jahr 1599 stattfindenden Erweiterungsmaßnahmen wurden 45 Mumien entdeckt, die dem Göttinger Archäologen und Kunsthistoriker Andreas Ströbl zufolge als göttliches Zeichen gedeutet und zum Gedächtnis und als Memento mori an den Wänden der neuen Grabstätte aufgestellt wurden. In der Folge machte man sich die Eigenschaften des Tuffs systematisch zunutze und richtete beim Ausbau der Katakomben zahlreiche Abtropfräume ein, in denen man jeweils maximal 10 Leichname auf Terracotta-Roste legte und die Kammern dann für ein knappes Jahr verschloss. Ströbl spricht hier immer noch von natürlicher Mumifikation, betont gleichzeitig aber, dass man „doch noch abschließend Hand an die Toten [legte], indem man sie unter Schutzdächern noch circa zwei Wochen“ der frischen Luft aussetzte, „mit Essig wusch, endgültig trocknen ließ und dann wieder einkleidete“5. Vor diesem Hintergrund erscheint die von einer binären Opposition ausgehende Unterscheidung natürliche vs. künstliche Mumifizierung zumindest für die in Mittelalter und Früher Neuzeit praktizierten Konservierungstechniken als zu eng, zu denken wäre eher an ein Kontinuum zwischen zwei Extremen. 3

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Heather GILL-FRERKING / Wilfried ROSENDAHL / Albert ZINK / Dario PIOMBINO-MASCALI, Editorial: The Yearbook of Mummy Studies, Yearbook of Mummy Studies 1 (2011), 5. Den Hinweis auf diese Publikation verdanke ich Elke Humml. Für das Programm s. Immortal Bodies, Workshop, January 13–15, 2010, Max Planck Institute for the History of Science, URL: http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/PDF/Immortal% 20Bodies%20Jan%202011.pdf (abgerufen am 15.9.2011); ich danke Jozo Džambo für den Hinweis auf die Besprechung von Helmut Mayer, Auferstehung des Fleisches als klassische Form, Frankfurter Allgemeine Zeitung 2011, Nr. 15 (19. Jan.), N3. Andreas STRÖBL, Die „Catacombe dei Cappuccini“ in Palermo, Friedhof und Denkmal 52, H. 2 (2007), 3–16, hier: 11.

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Neuerdings tendiert man daher dazu, eine „zufällige“ von einer „intentionelle[n]“ bzw. „intendierte[n] natürliche[n]“ Mumifizierung zu unterscheiden6. Gelegentlich entsteht allerdings der Eindruck, dass die durch die terminologische Verschiebung ins Zentrum gerückten Intentionen weiterhin ein blinder Fleck bleiben. In den Palermitaner Kapuzinerkatakomben wurden offenbar schon seit Beginn des 17. Jahrhunderts vereinzelt auch dem Kloster verbundene religiöse Laien bestattet. Die Nachfrage, dort beigesetzt zu werden, scheint immer stärker geworden zu sein, so dass die Gruft 1783 für die Allgemeinheit geöffnet wurde. Obwohl die skizzierten Bestattungsbräuche seit 1881 verboten waren, gab es bis in die 30er-Jahre des 20. Jahrhunderts in den Katakomben gelegentlich noch Nachbestattungen7. In spektakulären Fernsehbeiträgen wurde 2010 über die Entdeckung des formalinhaltigen Geheimrezepts berichtet, mittels dessen der palermitanische Arzt Alfredo Salafia (1869–1933) noch 1920 die kleine Rosalia Lombardo (1918– 1920) so perfekt konserviert hat, dass es aussieht, als ob sie schlafe – oder eine wächserne Puppe sei8. Die Assoziation Schneewittchen bleibt nicht aus, wenn man Rosalia in ihrem Glassarg in den Palermitaner Katakomben liegen sieht, oft wurde sie als schönste Mumie der Welt bezeichnet. Weil sich jedoch in den letzten Jahren erste Spuren von Verwesung in Form von Flecken im Gesicht gezeigt haben, wurde Rosalia im Zusammenhang mit den EURAC-Studien unter enormem Aufwand – auch das konnte man im Fernsehen verfolgen – in einen hermetisch abgeschlossenen Glassarg umgebettet. Fasziniert das rosig-weiße Schneewittchen mehr als die dunkel verschrumpelten Mumien? Verliert der Tod hier an Brutalität? Werden bei Rosalias Anblick Hoffnungen auf Unsterblichkeit bzw. Auferstehung wach? Seitens der Kulturwissenschaften stellen sich hier Fragen nach den Funktionen und Bedeutungen, nach unterschiedlichen, nicht nur religiösen Vorstellungswelten, die sich mit unverwesten menschlichen Körpern verbanden und verbinden. Die Idee eines diesbezüglichen Forschungsprojekts hat sich der Ethnologin Susanne Büttel und mir vor einigen Jahren bei der Besichtigung einer bedeutenden Sammlung sakraler Kunst in der kroatischen Kleinstadt Vodnjan/Dignano aufgedrängt. Der gegen Eintrittsgeld zugängliche Teil der Sammlung befindet sich in mehreren Räumen hinter dem Altar der Pfarrkirche Sv. Blaž. Die Ausstellung wurde bereits in den Jahren 1983/84 konzipiert, später allerdings umstrukturiert.

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Vgl. Wilfried ROSENDAHL, Mumia, Mumien und Mumifizierung – eine Einführung, in: Mumien (wie Anm. 2), 1–2, hier: 1; Andreas STRÖBL, Mumien und Mumifizierung – Hintergrundinformationen, Friedhof und Denkmal 54, H. 5 (2009), 9–12, hier: 11. Vgl. STRÖBL (wie Anm. 5). S. hierzu wie auch für eine Abbildung Dario PIOMBINO-MASCALI / Arthur C. AUFDERHEIDE / Melissa JOHNSON-WILLIAMS / Albert R. ZINK, The Salafia Method Rediscovered, Virchows Archiv 454 (2009), 355–357; Dario PIOMBINO-MASCALI, Il maestro del sonno eterno (Le pietre 24), pres. di Arthur C. AUFDERHEIDE; pref. di Albert R. ZINK, Palermo 2009. Der Volkskundlerin sei der Hinweis gestattet, dass Salafia neben anderen Palermitaner Honoratioren auch den Ethnographen Giuseppe Pitrè (1841–1916), Gründer des nach ihm benannten sizilianischen Volkskundemuseums, einbalsamiert hat.

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Abb. 1: Präsentation der mumifizierten Heiligen und weiterer Körperreliquien, Vodnjan/Dignano, Pfarrkirche

Die Sammlung enthält auffallend viele Körperreliquien, unter anderem drei unverweste heilige Leiber, die man zunächst nicht innerhalb der Ausstellungsräume, sondern – eingedenk ihres ursprünglichen Kontexts – in der Kirche plazierte9. Deplaziert werden sie nun, unter ständiger (Video-)Überwachung durch den örtlichen Pfarrer, in einem abgedunkelten Raum präsentiert, begleitet von Audiokassetten mit akustisch kaum verständlichem Text, dafür aber um so feierlicherer Musik (Abb. 1). Vielversprechend im Hinblick auf die eben skizzierten Fragen erschien uns freilich nicht so sehr die Existenz von – in Italien überaus zahlreich vorhandenen – unverwesten heiligen Leibern als vielmehr der Standort der Sammlung im postsozialistischen und durch Mehrsprachigkeit/Mehrfachidentitäten gekennzeichneten Istrien10, zudem die glanzvolle Inszenierung der Leiber als Wun9

Marijan JELENIû / Vesna GIRARDI JURKIû / Ivo LENTIû, Inventario della Collezione d’arte sacra della chiesa parrocchiale di S. Biagio, in: Collezione d’arte sacra della chiesa parrocchiale di S. Biagio, Dignano [Mitarb.: Vesna GIRARDI JURKIû u. a.], Pula 1984, 14–26, hier: 14. 10 Historisch hat die Küste Istriens mit Hinterland drei Jahrhunderte lang zur venezianischen Republik gehört, das Landesinnere stand seit dem 14. Jahrhundert unter österreichischer Herrschaft, die sich dann von 1815 bis 1918 über ganz Istrien ausdehnte. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Istrien Teil des italienischen Territoriums, auf die antiitalienische und philoslawische Politik der Habsburgermonarchie folgte nun Italianisierung, insbesondere nach der Machtübernahme durch die Faschisten im Jahr 1922. Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurde Istrien zunächst zwischen Jugoslawien und dem in Zone A und B unterteilten Freien Territorium Triest aufgeteilt; 1953/54 kamen Triest und die unmittelbare Umgebung dann zu Italien, die Zone B indes zu Jugoslawien, wodurch das Exil von 350.000 istrischen Italienern besiegelt wurde – selbst wenn der Verlauf der Staatsgrenze zwischen Italien und Jugoslawien erst Mitte der 70er-Jahre vertraglich festgelegt wurde. Innerhalb Jugoslawiens war Istrien auf der Grundlage der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung zwischen den beiden Republiken Kroatien und Slowenien geteilt, deren Grenze wurde mit dem Zerfall Jugoslawiens Staatsgrenze.

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der und wundertätig durch den in Personalunion als Kassierer, Museumswärter und Führer fungierenden Pfarrer Marijan Jeleniü, der zahlreiche einschlägige Schriften zum Thema verfasst hat, allesamt im Selbstverlag erschienen. Aus der multiethnischen Gemengelage resultieren nicht nur bis heute unterschiedliche Interessen, sie ist seit Generationen mit traumatisierenden Verwerfungen verbunden, mit Verletzungen und ideologischen Differenzen in komplexen Verflechtungen und Überlappungen11. Die Geschichte der corpi santi, der „heiligen Leiber“ von Vodnjan/Dignano, wie auch ihre gegenwärtige Bedeutung sind von den hier angedeuteten Verwerfungen gezeichnet. Die mumifizierten Körper sind nach dem Ende der venezianischen Republik vor dem Hintergrund der napoleonischen Auflösung von Klöstern und Kirchen aus Venedig nach Dignano/Vodnjan in Istrien gelangt. Gaetano Grezler (Gresler; Griessler; Greizner) (1765–nach 1839), ein aus Verona stammender, in Venedig tätiger Maler, hat die Leiber wie auch zahlreiche Kunstwerke und weitere Reliquien mitgebracht. Zusammen mit seiner Ehefrau ist er im Juni 1818 – auf dem Seeweg12 und dann wahrscheinlich von Maricchio/Mariü aus mit einem Ochsenkarren – ins ehemals venezianische und inzwischen durch den Wiener Kongress zu Österreich geschlagene Dignano gekommen, um dort die neu errichtete Pfarrkirche auszuschmücken. Man hat ihm in der Kirche oberhalb der Sakristei eine Wohnung und ein Atelier eingerichtet. Vor seiner Ankunft soll er einen Unterhaltsvertrag abgeschlossen haben; dem aus Dignano stammenden Lexikographen Giovanni Andrea Dalla Zonca (1792–1857) zufolge überließ er darin seine Sammlung verschiedenen Privatpersonen, Antonio Alisi (1876–1954) berichtet indes von einem Vertrag mit Kapitel und Stadtgemeinde13. Auf welche Weise Grezler, Mitglied der Kaiserlich-Königlichen Akademie der Schönen Künste in Venedig14, in den Besitz der Reliquien gelangt ist, ließ sich 11 Ich denke hier etwa an das langjährige Schweigen über den Neid, das gegenseitige Misstrauen und die Verbitterung, welche die zurückgebliebenen von den zwischen 1945 und 1956 vertriebenen bzw. geflohenen istrischen Italienern trennen, die weder in der neuen noch in der alten Heimat wohlgelitten waren. Ich denke auch an die historischen Vorbilder des Romans ‚Blindlings‘ von Claudio Magris, an die Vita des italienischen Kommunisten, der zuerst im KZ Dachau und dann als Stalinist in Titos Straflager Goli Otok gefangen war, eine Biographie, in der sich die Traumata der Region wie in einem Brennglas spiegeln. Ich denke daran, dass die kroatischen Pfarrer die italienische Minderheit in Istrien nicht gestützt haben, und ich denke an ein Foto, das uns unsere kroatische, nahezu perfekt italienisch, nein triestinisch sprechende Vermieterin vor einigen Jahren gezeigt hat: ihr Vater und andere Partisanen, bewaffnet und in Uniform bei der Fronleichnamsprozession, im Hintergrund die Aufschrift „Es lebe Tito“. 12 Vgl. Giuseppe DEL TON, Cenni storici sui „Corpi Santi di Dignano“, Dignano 2004, 32. 13 Vgl. Giovanni Andrea DALLA ZONCA, Dignano. IV. Chiesa Parrocchiale, L’Istria 4, 1849, 57/58(10. Nov.), 225–230, hier 230; Antonio ALISI, Istria. Città minori, pres. di Giuseppe RAVANELLO, trascrizione e note di aggiornamento di Maria WALCHER, Trieste 1997, 67 u. 69. 14 Vieles zu danken ist im Folgenden Alberto CRAIEVICH, Il pittore veronese Gaetano Grezler, le sue collezioni e il suo soggiorno a Dignano, Arte in Friuli, arte a Trieste 16/17 (1997), 345–366, hier: 345; Craievich hat – selbst wenn dies vom damals wie heute zuständigen Pfarrer M. Jeleniü bestritten wird – vor Jahren zumindest kurzfristig und partiell Zugang zum Pfarrarchiv Vodnjan/Dignano erhalten, ein offenbar bis heute einmaliges Zugeständnis, aufgrund dessen hier wenigstens indirekt auf Selbstzeugnisse Grezlers Bezug genommen werden kann.

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bisher ebenfalls nicht mit Sicherheit klären, wohl auch, weil es sich hier – um mit Dalla Zonca zu sprechen – um ein argomento delicato handelt15. Zum Teil scheint der Maler seine Schätze französischen Soldaten abgekauft oder ersteigert zu haben16, in den Wirren der Suppression von Kirchen und Klöstern und auch noch nach seinem Umzug, mit Geldern aus frommen Spenden17. Die napoleonische Regierung interessierten Reliquien beziehungsweise die zu ihrer Aufbewahrung dienenden Reliquiare nur hinsichtlich ihres pekuniären Werts; die Inszenierung ihrer Zerstörung diente der Repräsentation religiösen und gesellschaftlichen Wandels. Insofern überließ man die aus den aufgelösten Klöstern, Laienbruderschaften (scuole) und Kirchen stammenden Schätze wem auch immer zum Erwerb, der Kirche wie auch Privatpersonen. Nicht wenige Bürger sind auf diese Weise in den Besitz von Reliquien gekommen – und haben so zu deren Erhalt beigetragen; einige haben umfangreiche Sammlungen angelegt18. Zu ihnen gehörte der Maler Grezler. Die Äbtissin des reichen Benediktinerinnenklosters S. Lorenzo soll ihm 1810 einen der drei nun in Vodnjan befindlichen unverwesten Leiber anvertraut haben. Diese stammen in der Tat zum einen aus der Kirche S. Lorenzo bzw. der angrenzenden Kapelle und einstigen Pfarrkirche S. Sebastiano, zum anderen aus dem Besitz der unter napoleonischer Herrschaft mit den Nonnen von S. Lorenzo zusammengeschlossenen Benediktinerinnen von S. Anna19. Es handelt sich um die Leiber von Leone Bembo (11./12. Jh.) (Abb. 2a), dem sogenannten Giovanni Olini (13./14. Jh.) (Abb. 2b)20 und von Nicolosa Borsa (Bursa) († 1512) (Abb. 2c). 15 DALLA ZONCA (wie Anm. 13), 230. Der Verfasser ist Zeitgenosse Grezlers und Autor des ‚Vocabolario dignanese-italiano‘. 16 Marijan JELENIû / Vesna GIRARDI JURKIû / Ivo LENTIû, Cenni storici sulla chiesa parrocchiale di S. Biagio, sul Tesoro e sugli oggetti preziosi sacri, in: Collezione d’arte sacra (wie Anm. 9), 9–13, hier: 12; ALISI (wie Anm. 13), 67. 17 DALLA ZONCA (wie Anm. 13) bemerkt unmittelbar nach dieser Feststellung, dass er seine Feder „weder in Honig noch in Galle tauchen wolle“ (S. 230). 18 Vgl. Rodolfo GALLO, Reliquie e reliquiari veneziani, Rivista di Venezia 13 (1934), 3–29, hier: 8–10. 19 Craievich zufolge berichtet Grezler, der Leib von Nicolosa Borsa sei ihm 1810 von der Äbtissin des Klosters S. Lorenzo Levita übergeben worden. Vgl. CRAIEVICH (wie Anm. 14), 361, Anm. 5. Zur mittlerweile weitgehend zerstörten Kapelle S. Sebastiano s. Alvise ZORZI, Venezia scomparsa, Milano 21984, 317f.; [Antonio Simon ROTA,] Memorie intorno alla vita, morte, sepoltura, scoperta e venerazione delle sacre spoglie del B. Giovanni Olini fu piovano di S. Giovanni Decollato circa l’anno 1265. Tratte da monumenti antichi, e da varj scrittori, che ne fanno menzione, e raccolte insieme da un divoto del Beato, Venezia 1795, 28f. mit Anm. Zu S. Lorenzo, S. Sebastiano und S. Anna s. auch Elena BASSI, Tracce di chiese veneziane distrutte. Ricostruzioni dai disegni di Antonio Vicentini, Venezia 1997, 184–197 u. 212–225; Tre monasteri scomparsi a Venezia sestiere di Castello (S. Daniele, S.M. delle Vergini, S. Anna), a cura di Odilla BATTISTON, Venezia 1991, 45. 20 In der Vita von Fiamma aus dem Jahr 1645 taucht der Familienname Olini nicht auf, es ist stets nur vom sel. Giovanni, Pfarrer von S. Giovanni Decollato, die Rede. Vgl. Paolino FIAMMA, Vita, et miracoli del beato Giovanni piouano di San Giovanni Decolato [!], in: DERS., La vera origine delle chiese de gloriosi martiri San Lorenzo, et San Sebastiano […]. Con le vite di S. Leone Bembo, & del Beato Giouanni piouano di San Giouanni Decollato, che nella chiesa di S. Sebastiano riposano, Venetia 1645, 14–22 der zweiten Zählung. Dassel-

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Abb. 2a: Leone Bembo, Vodnjan/Dignano, Pfarrkirche

Abb. 2b: Sog. Giovanni Olini, Vodnjan/Dignano, Pfarrkirche

Abb. 2c: Nicolosa Borsa, Vodnjan/Dignano, Pfarrkirche

Alle drei gehören dem venezianischen Heiligenhimmel an. In der Kirche Madonna dell’Orto in Venedig befinden sich unter den 28 Darstellungen venezianischer Heiliger und Seliger, die 1622 im Auftrag des Patriarchen Giovanni Tiepolo (1619–1631) angefertigt wurden, auch Bildnisse von Leone Bembo und dem fälschlich mit dem Familiennamen Olini versehenen Giovanni (Abb. 3a und 3b). Von beiden sind im Zeitraum zwischen 1645 und 1856 verschiedene Viten im Druck wie auch Neudruck überliefert. Die 1645 von Paolino Fiamma verfassten Schriften fanden z. T. Eingang in die ‚Acta Sanctorum‘ – mit kritischen Überlegungen des Bollandisten Conrad Janninck (1650–1723) versehen. Biographische be gilt auch für die der Chronologie Fiammas kritisch gegenüberstehende Zusammenfassung von Giovanni MARANGONI, Thesaurus parochorum seu vitae, ac monumenta parochorum, qui sanctitate, martyrio, pietate, virtutibus, dignitatibus, & scriptis catholicam illustrarunt ecclesiam, T. 1, Coloniae Munatianae 1733, 308f.

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beziehungsweise hagiographische Notizen über Nicolosa Borsa finden sich Mitte des 18. Jahrhunderts in rudimentärer Form bei dem venezianischen Kirchenhistoriker und Hagiographen Flaminio Corner (1693–1778) sowie in einer Handschrift des venezianischen Pfarrers und Doktors der Theologie Antonio Simon Rota. Von diesem erschien 1795 anonym, im Neudruck von 1856 dann aber unter seinem Namen auch eine Vita von Giovanni21. Im ‚Thesaurus parochorum‘ des Giovanni Marangoni (1673–1753) wie auch kurz darauf bei Janninck und in der Folge dann bei Corner werden starke Zweifel hinsichtlich der chronologischen Einordnung Giovannis angemeldet, der Fiamma zufolge 1325 geboren sein soll22. Es ist dann allerdings der überaus wirkmächtige Corner, der einem immer noch nachwirkenden Lesefehler anheimfällt: In dem zur Diskussion stehenden Kataster ist von dem seligen Giovanni Olim Piovan, also „einst Pfarrer“ der Kirche S. Giovanni Decollato die Rede; olim wurde als Olini gelesen und für einen Familiennamen gehalten. Unter diesem figuriert Giovanni in den Hochglanzpublikationen von Pfarrer Jeleniü bis heute, auch wenn sich die Korrektur des Irrtums längst (und nicht nur) in der ‚Bibliotheca sanctorum‘ niedergeschlagen hat23. Was die erwähnte handschriftliche Vita Nicolosas aus dem Jahr 1759 betrifft, so befindet sie sich im Pfarrarchiv von Vodnjan/Dignano, dessen Bestände uns jedoch nicht zugänglich gemacht wurden. Zurückgegriffen werden kann hier aber auf einen bei Domenico Grandis (1709–1776) gegebenen Überblick sowie auf einen 1929 entstandenen Text des aus Dignano stammenden und mit den Beständen des dortigen Pfarrarchivs vertrauten Apostolischen Protonotars Monsignor Del Ton (1900–1997). Vor seiner 1932 begonnenen römischen Karriere hatte der zunächst in Parenzo/Poreþ tätige Priester eine erst 2004 von der italienischen Gemeinde in Vodnjan/Dignano publizierte Schrift über „Die heiligen Leiber von Dignano“ verfasst24. 21 S. die in Anm. 19 und 20 angeführten Werke von Rota und Fiamma sowie die einschlägigen Neudrucke: [Paolino FIAMMA,] A solennizzare le faustissime nozze Bembo – Grimani questa vita di San Leone Bembo appare alla pubblica luce, [Venezia] 1822; Antonio Simon ROTA, Memorie intorno alla vita, morte, sepoltura, scoperta e venerazione delle sacre spoglie del B. Giovanni Olini fu piovano di S. Giovanni Decollato circa l’anno 1265. Tratte da monumenti antichi, e da varj scrittori che ne fanno menzione e raccolte insieme, Venezia 1856. Der Neudruck der von Fiamma verfassten Vita von Leone Bembo aus dem Jahr 1822 ist eine Hochzeitsgabe für einen Nachkommen Leone Bembos, in welcher der Verfassername unterdrückt wurde. S. ferner Conrad JANNINCK, De BB. Joanne Plebano et Leone Bembo, in: Acta Sanctorum Augusti, Tom. 2, Antuerpiae 1735, 9. Aug., 475–482; Flaminio CORNER, Notizie storiche delle chiese e monasteri di Venezia, e di Torcello, Padova 1758, 108. 22 Vgl. FIAMMA, Vita Giovanni (wie Anm. 20), 15 der zweiten Zählung; MARANGONI (wie Anm. 20), 309; JANNINCK (wie Anm. 21), 481a; CORNER (wie Anm. 21), 144f.; s. in diesem Zusammenhang auch, wenngleich verwirrend, Antonio NIERO, Giovanni [Olini], beato, in: Bibliotheca sanctorum, Bd. 6, Roma 1965, 856–858, hier: 856. 23 Corner ordnet Giovanni so selbstverständlich und nebenbei in die Familie Olini ein, als handele es sich hier um gesichertes Wissen. S. hierzu CORNER (wie Anm. 21), 143. Als Lesefehler enttarnt wurde die irrtümliche Zuordnung durch Emmanuele Antonio CICOGNA, Delle inscrizioni veneziane, vol. 2, Venezia 1827, 412f. S. in diesem Zusammenhang auch NIERO (wie Anm. 22), 856 sowie Silvio TRAMONTIN, Breve storia dell’agiografia veneziana, in: DERS. [u. a.], Culto dei santi a Venezia, Venezia 1965, 17–40, hier: 28 und ZORZI (wie Anm. 19), 316. 24 DEL TON (wie Anm. 12); eine Zusammenfassung der Nicolosa betreffenden Materialien aus

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Abb. 3a: Bildnis von Leone Bembo (1622), Venedig, Madonna dell’Orto

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Abb. 3b: Pietro Mera (?), Bildnis des sog. Giovanni Olini (1622), Venedig, Madonna dell’Orto

Die heute in der Pfarrkirche von Vodnjan/Dignano im Separee hinter dem Altar gegen ein variierendes, aber nicht unbeträchtliches Eintrittsgeld – und damit erst nach Überschreiten einer Schwelle – zu besichtigenden Leiber25 haben also durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder Interesse hervorgerufen. Ihre theatralische Inszenierung will bewusst Emotionen wecken, die durch die Warnungen des Pfarrers, den hinter Glas ausgestellten Leibern wegen ihrer Ausstrahlung nicht zu nahe zu kommen, noch verstärkt werden. In einer 1995 unter Mitwirkung von M. Jeleniü vom Touristenverband der Gemeinde Vodnjan/Dignano herausgegebenen Broschüre – sie wird im Touristenbüro gratis angeboten, in der Kirche jedoch verkauft – ist diesbezüglich nicht von virtus, sondern von durch „Bioenergetiker“ gemessener „Bioenergie“ die Rede; neben dieser das Wunderbare modernisierenden Begrifflichkeit wird allerdings auch eine in den unterschiedlichen Sprachen jeweils etwas anders akzentuierte Begegnung mit dem „Mysterium“, dem „Mystischen“, dem „Überirdischen“, „Transzendentalen“ und dem „Jenseits“ in Aussicht dem Pfarrarchiv Vodnjan/Dignano findet sich auf S. 28–35. S. ferner Domenico GRANDIS, Vite, e memorie de’ santi spettanti alle chiese della diocesi di Venezia, Tom. 2, Venezia 1761, 4–12. 25 Die von Grezler aus Venedig mitgebrachten Objekte sind nur partiell zu besichtigen, insgesamt ist die Sammlung mangelhaft betreut; für einen ersten Überblick s. Collezione d’arte sacra (wie Anm. 9), 27ff.

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gestellt26. In welcher Sprache auch immer: die Ambivalenz zwischen Anleihen an die Moderne und Wiederbelebung von Tradition ist unüberhörbar. Sie verweist auf den prekären Status der Leiber, auf brüchig gewordene Sinnkonstruktionen wie auch auf den Versuch, die durch gesellschaftliche Säkularisierungs- und Modernisierungsprozesse bedrohten Glaubensinhalte zu verteidigen – unter Nutzung der durch De-Säkularisierung entstandenen Spielräume. Die tragende Rolle hat hier der örtliche Pfarrer übernommen: Angesichts des durch den Regimewechsel bewirkten Nachlassens staatlicher Kontrolle instrumentalisiert er die Präsenz der jahrzehntelang unbeachtet gebliebenen heiligen Leiber auf ganz unterschiedlichen Ebenen, z. T. auch – wie vor ihm bereits Grezler – für sehr konkrete Interessen. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass die Frage nach der Heiligkeit der zur Diskussion stehenden Personen im kirchenrechtlichen Sinn schon bald aufgeworfen wurde, so etwa in einem frühen Venedig-Führer von Francesco Sansovino (1521–1583). Ebenso wie in Berichten von JerusalemPilgern, deren Route über Venedig führte, wird dort privilegiert auf die in Venedig so zahlreich vorhandenen corpi santi eingegangen. Dabei findet sich die Bemerkung, dass der „verehrungswürdige Pfarrer von S. Giovanni Decollato ‚Beato Giovanni‘ genannt werde, weil er nicht kanonisiert sei“27. Es handelt sich hier um ein nach wie vor heikles Thema, dem der informierte Del Ton, später persönlich zugeordneter Mitarbeiter mehrerer Päpste, 1929 mit Distanz begegnet: Der „volksläufigen“ Rede von den corpi santi stellt er den Verweis auf das Kirchenrecht gegenüber, dem zufolge den drei hier zur Diskussion stehenden Personen der Titel santo nicht und auch das Prädikat beato nur in eingeschränktem Sinn zustehe28. Den seit Jahrzehnten in Vodnjan/Dignano tätigen Pfarrer M. Jeleniü hindert diese Auslegung allerdings nicht daran, Leone Bembo, Giovanni und Nicolosa Borsa als Heilige zu bezeichnen – und zu vermarkten29. Als EthnologInnen arbeiten wir freilich nicht mit einem auf eine kirchenrechtliche Definition eingeengten Heiligkeitsbegriff, sondern interessieren uns vor allem für dessen Bedeutung im Alltagsleben. Unverweslichkeit galt jahrhundertelang als körperliches Zeichen der Heiligkeit30 und war eng verbunden mit anderen physischen Zeichen, insbesondere mit dem berühmten Geruch der Heiligkeit, eine Verknüpfung, die sich bereits in zwischen dem 7. und dem 10./11. Jahrhundert

26 S. hierzu die kroatische Ausgangsausgabe Duhovni itineri Vodnjanštine, hg. v. Turistiþka zajednica Opüine Vodnjan, Pula 1995, n. pag.; es existieren Parallelausgaben in italienischer, deutscher und englischer Sprache. 27 [Francesco SANSOVINO,] Trattato, delle cose notabili, che son in Venetia, Venetia 1570, F6v; Noè BIANCHI, Il santo viaggio al Santissimo Sepolcro del N.S. o. O. u. J. [17. Jh.?], M4v. 28 Vgl. DEL TON (wie Anm. 12), 5, 25, 35 und 39. 29 Die Beispiele hierfür sind zahlreich, finden sich nicht nur im Kirchenführer sowie ähnlichen Broschüren und Gelegenheitsschriften, sondern auch in umfänglicheren Veröffentlichungen wie Marijan JELENIû, Galerija Velikana, Vodnjan 2004. 30 S. hierzu insbesondere Arnold ANGENENDT, Corpus incorruptum. Eine Leitidee der mittelalterlichen Reliquienverehrung, Saeculum 42 (1991), 320–348.

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entstandenen byzantinischen Heiligenviten findet31. Auch in der Vita von Giovanni spielt ein „ungewöhnlicher Duft“ bei der inventio, dem Auf- und Erfinden des heiligen Leibs, eine zentrale Rolle: Dieser in einer „Bulle“ von Papst Bonifacius IX. (1389–1404) als „unendlich honigsüßer Geruch“ (mellifluus, infinitus odor32) bezeichnete Duft sei es nämlich gewesen, der die Äbtissin des Klosters S. Lorenzo nach langem Zögern dazu bewegte, einen Sarkophag öffnen zu lassen, der zusätzlich durch einen außergewöhnlich leuchtenden Stern markiert war – ein weiterer hagiographischer Topos. Man fand einen perfekt erhaltenen Leib in priesterlichem Gewand, den man unverzüglich in einer Prozession in die Kapelle S. Sebastiano brachte und dort zur öffentlichen Verehrung aufbahrte. Die Nachricht von diesem Wunderzeichen verbreitete sich schnell in ganz Venedig und Umgebung. Nach drei Tagen soll der verehrte Leib zwar nach wie vor intakt, aber seiner Kleider entledigt gewesen sein; die Gläubigen hatten sie stückchenweise an sich genommen33. Den Kleidungsstücken, die den „heiligen Leib“ berührt hatten, wohnte nämlich als sogenannten Sekundärreliquien dieselbe göttliche Kraft, dieselbe virtus inne wie dem wunderbar erhalten gebliebenen Körper, der aufgrund seiner Perfektion auf Heiligkeit verwies. Wem es nicht beschert war, sich eine solche Sekundärreliquie aneignen zu können, konnte selbst Kontaktreliquien herstellen. In den Berichten der Jerusalempilger, insbesondere bei dem Dominikaner Felix Fabri (um 1438–1502), wird uns die entsprechende Praxis eindrücklich geschildert. Fabri trug viele kostbare Schmuckstücke und Sakramentalien mit sich, die er von Freunden und Gönnern erhalten hatte, um mit ihnen auf jeder Station seiner 1483 angetretenen Reise Reliquien zu berühren und auf diese Weise etwas von deren Heiligkeit aufzunehmen und nach Hause mitzubringen. In Venedig küsste und berührte er etwa das Haupt des hl. Philippus, den Arm des hl. Jakob und den Leib des hl. Athanasius34. Um wen auch immer es sich bei den wunderbar erhaltenen Leibern handeln mochte, sie/er war durch die Gnade der Unverweslichkeit und Heiligkeit ausgezeichnet, war im Paradies sowie zugleich körperlich auf Erden präsent35 und besaß demnach, wie Angenendt es auf den Begriff gebracht hat, die Gabe der Bi-

31 Vgl. Thomas PRATSCH, Der hagiographische Topos. Griechische Heiligenviten in mittelbyzantinischer Zeit (Millennium-Studien 6), Berlin, New York 2005, 219–222. 32 Zit. nach [ROTA] (wie Anm. 19), 45. 33 Vgl. DEL TON (wie Anm. 12), 37 in Anlehnung an den von ihm zitierten Anonymus, bei dem es sich ohne jeden Zweifel um [ROTA] (wie Anm. 19), 29–31 handelt. 34 Felix FABRI, Fratris Felicis Fabri Evagatorium in Terrae Sanctae, Arabiae et Egypti peregrinationem (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart 2), ed. Cunradus Dietericus HASSLER, Vol. 1, Stuttgardiae 1843, 93 u. 95. Zur Bedeutung des leiblichen Kontakts in der mittelalterlichen Reliquienverehrung s. insbesondere Peter DINZELBACHER, Die „Realpräsenz“ der Heiligen in ihren Reliquiaren und Gräbern nach mittelalterlichen Quellen, in: Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart, hg. v. Peter DINZELBACHER u. Dieter R. BAUER, Ostfildern 1990, 115–174. 35 Vgl. hierzu Paolino FIAMMA, Vita, et miracoli del glorioso San Leon Bembo. Il cui corpo integro si riposa nell’antichissima chiesa sacrata a San Sebastiano Martire, in: DERS., La vera origine (wie Anm. 20), 13 der zweiten Zählung.

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lokation36. Nicht zuletzt jene, die den christlichen Heilsversprechen misstrauten und in der Rede vom paradiesischen Duft der heiligen Leiber einen unterschwelligen Hinweis auf Verwesungsgeruch hörten, konnten hier einen konkreten und unmittelbaren, gewissermaßen kurzgeschlossenen Kontakt mit dem – im Diesseits präsenten – Jenseits suchen; die direkte Ansprechbarkeit des/der Heiligen ließ auf eine Vermittlung zwischen Himmel und Erde, eine Brücke zum Heil, eine besonders potente intercessio hoffen. Berichtet wird dann auch von sich unmittelbar an die Aufbahrung anschließenden Wunderzeichen und auf die Bitten der Gläubigen folgenden Gnadenerweisen, mittels deren Gott seinen Diener ehre – der erst in der Folge im Rahmen der Vision einer Nonne wenigstens seinen Vornamen preisgab. Nach eingehenden Nachforschungen, so berichtet die Vita weiter, gelang es, in diesem Giovanni den Pfarrer der Kirche S. Giovanni Decollato zu identifizieren37. Eine durch einen Familiennamen komplettierte Identität wurde ihm, wie oben erläutert, auf prosaischere Weise verliehen. War Unverwestheit also ein eindeutiges und untrügliches Zeichen für die Heiligkeit einer Person? Das muss verneint werden: die Palermitaner Mumien etwa wurden nicht als Heilige verehrt. Körperliche Zeichen wie Stigmatisation, Nahrungslosigkeit, Levitation und Unverweslichkeit sind Indikatoren für ein heiligmäßiges Leben, es haftete ihnen jedoch stets eine beunruhigende Ambiguität an; sie konnten in bonam wie in malam partem gedeutet werden, als Manifestationen von Heiligkeit wie auch von Ketzerei, Zauberei und Besessenheit38. So wiesen beispielsweise auch Hexen körperliche Male auf, Nahrungslosigkeit konnte durch den bösen Geist verursacht sein, und auch schwere Sünder, exkommunizierte Personen und Vampire galten als unverweslich39. Aus der Übereinstimmung zahlreicher Merkmale im Erscheinungsbild von göttlichen bzw. teuflischen Gaben resultieren Schwierigkeiten bei der discretio spirituum, der Unterscheidung des Wirkens guter oder böser Geister. Freilich, bei der inventio der Leiber von Giovanni oder auch von Leone Bembo konnte man sich vergleichsweise sicher sein. Schon vor der Auffindung hatten sich den Viten zufolge die Zeichen gehäuft, auf immer weitere Zeichen verwiesen: Giovannis Marmorsarkophag sei nach langjähriger Nichtbeachtung aus seiner erhöhten Position herabgestürzt, ohne dabei zu Bruch zu gehen40, danach hätten

36 Vgl. ANGENENDT (wie Anm. 30), 339. 37 Vgl. [ROTA] (wie Anm. 19), 31. 38 S. hierzu insbesondere Peter DINZELBACHER, Heilige oder Hexen? Schicksale auffälliger Frauen in Mittelalter und Frühneuzeit, München, Zürich, London 1995. 39 S. etwa João de PINA-CABRAL, Sons of Adam, Daughters of Eve. The Peasant Worldview of the Alto Minho, Oxford 1986, 231f.; Peter Mario KREUTER, Vom „üblen Geist“ zum „Vampier“. Die Darstellung des Vampirs in den Berichten österreichischer Militärärzte zwischen 1725 und 1756, in: Poetische Wiedergänger. Deutschsprachige Vampirismus-Diskurse vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. v. Julia BERTSCHIK u. Christa Agnes TUCZAY, Tübingen 2005, 113–127. Den Hinweis auf den zuletzt genannten Aufsatz verdanke ich Jan Marco Sawilla. 40 Vgl. DEL TON (wie Anm. 12), 36, wiederum angelehnt an den von ihm nicht identifizierten Anonymus [ROTA] (wie Anm. 19), 29.

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Wohlgeruch (Eph 5,2) und – wie einst in Bethlehem (Mt 2) – ein Stern den rechten Weg gewiesen. Auch im Fall von Leone Bembo, der sein Leben als demütiger Laienbruder im Klostergarten von S. Lorenzo beschlossen haben soll, verdichten sich die hagiographischen Topoi: Bei seinem Tod hätten die Glocken von alleine geläutet, er sei kniend und mit gefalteten, zum Himmel erhobenen Händen gestorben; gehorsam über den Tod hinaus habe er erst auf Befehl der Äbtissin die Hände geöffnet, ein darin befindliches Schriftstück habe dann seine wahre Identität als venezianischer Patrizier und Bischof von Modone/Methoni41 enthüllt. Auf das

41 Vauchez versucht mittels ikonographischer Zeugnisse, und da insbesondere der Kopfbedeckung Leone Bembos, wahrscheinlich zu machen, dass dieser religiöser Laie gewesen sei, vielleicht ein Kreuzfahrer, der sich bei der Rückkehr aus dem Heiligen Land als Konverse in den Dienst einer religiösen Frauengemeinschaft gestellt und in den Augen der Zeitgenossen durch seine Frömmigkeit ausgezeichnet habe. Da sich Vauchez bei seiner Argumentation lediglich auf zwei im Werk von Corner wiedergegebene Bildzeugnisse sowie eine „nota iconografica“ Nieros stützt, verstärkt er jedoch die bezüglich der bildlichen Darstellungen Leone Bembos ohnehin bestehende Verwirrung. So hält er eine bei Corner skizzenhaft und – nicht nur bezüglich der vertikalen Anordnung der Bildfelder, sondern auch hinsichtlich ihrer Beischriften – irreführend dargestellte Tafel aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert (Abb. 4) für die Wiedergabe eines den Sarg Leone Bembos schmückenden Gemäldes von 1321, was von Corner auch suggeriert wird. Eine angeblich veränderte Kopfbedeckung auf einer „pala“ aus dem ausgehenden 15. Jahrhundert führt Vauchez dann als Beleg für eine dem religiösen Laien erst mit dem Wandel des Heiligkeitsmodells zugeschriebene Bischofswürde an. Festzuhalten ist jedoch, dass es sich bei der auf der Sargdekoration von 1321 (Abb. 5) dargestellten Kopfbedeckung Leone Bembos ebenso wenig um einen simplen „béret“ handelt wie bei jener auf der (Re-)Produktion aus dem 15./16. Jahrhundert (Abb. 6a und 6b) – ein Sachverhalt, der sich freilich nicht aus dem von Vauchez herangezogenen Beleg erschließt, da die Zierstücke der Rundmütze in der Skizze nicht erkennbar sind. Auf einem ebenfalls bei Corner (wie Anm. 21, dort S. 143) wiedergegebenen Bildnis aus dem Besitz des humanistischen Gelehrten und Kardinals Pietro Bembo (1470–1547) wird dessen als Heiliger verehrter Verwandter, der wiederum mit Rundmütze dargestellte Leone Bembo, dann allerdings in die Nähe einer Mitra in der heute üblichen Form mit den zwei – gegen Ende des Mittelalters immer mehr in die Höhe gewachsenen – cornua gerückt (Abb. 7a). Erst im 17. Jahrhundert findet sich jedoch eine – Vauchez nicht bekannte – Darstellung des mit der hohen Klappmütze bekleideten Leone Bembo, und zwar auf einer Münzmedaille, der obligatorischen Jahresgabe des Dogen an den Adel: Der Avers dieser osella aus dem Jahr 1615 zeigt den eben erst gewählten Dogen Giovanni Bembo (1615–1618) bei der Investitur vor dem thronenden Stadtpatron; sein mit dem bischöflichen Kopfschmuck in der heutigen Form ausstaffierter Vorfahre schützt ihn, stärkt ihm den Rücken (Abb. 7b). Die von einem unbekannten Bildhauer des 17. Jahrhunderts gefertigte Statue in der Basilika S. Maria della Salute (Abb. 8) zeigt Leone Bembo dann allerdings wieder mit der runden Mütze. Vauchez’ Vermutungen, die offensichtlich weniger auf einer Analyse der Bildquellen beruhen, als vielmehr aus seiner „Typologie mittelalterlicher Heiligkeit“ abgeleitet sind, regen nicht zuletzt zu der Frage an, wann die Mumie Leone Bembos mit einer Mitra in heutiger Form bekleidet wurde (Abb. 2a). Vgl. André VAUCHEZ, La difficile émergence d’une sainteté des laʀcs à Venise aux XIIe et XIIIe siècles, in: Genova, Venezia, il Levante nei secoli XII–XIV. Atti del convegno internazionale di studi, Genova – Venezia, 10–14 marzo 2000 (Atti della Società Ligure di Storia Patria, N.S. 41 (=115), Fasc. 1), hg. v. Gherardo ORTALLI u. Dino PUNCUH, Genova [u. a.] 2001, 335–348, hier: 341; DERS., La Sainteté en occident aux derniers siècles du Moyen Age

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Abb. 4: Irreführende Skizze im Werk von Flaminio Corner (um 1750)

wunderbare Geschehen sei zunächst der übliche concursus erfolgt, der Leichnam sei dabei – je näher man ihm kam, desto intensiver die göttliche Wirkkraft – in tiefer Verehrung berührt und geküsst worden, den Umstehenden seien auch in diesem Fall Gnadenerweise zuteil geworden, und immer neue Kranke und Hilfsbedürftige seien herbeigeströmt. Ein Selig- bzw. Heiligsprechungsprozess sollte eingeleitet werden, Bembo wurde begraben – und dann vergessen. Wie uns der Hagiograph berichtet, erlaubt Gott es jedoch nicht, dass ein so verdienstvolles Leben

d’après les procès de canonisation et les documents hagiographiques (Bibliothèque des Écoles françaises d’Athènes et de Rome 241), Roma 1981, 163ff.; Antonio NIERO, B. Leone Bembo, in: Giovanni MUSOLINO / Antonio NIERO / Silvio TRAMONTIN, Santi e beati veneziani. Quaranta profili (Biblioteca agiografica veneziana 1) (Collana storica dello „Studium Cattolico Veneziano“ 6), Venezia 1963, 127–129, hier: 128f.; G[uido] WERDNIG, Die Osellen oder Münz-Medaillen der Republik Venedig, Wien 1889, 80f. u. Tafel IV, Nr. 95; Aldo JESURUM, Cronistoria delle oselle di Venezia. In premessa: Considerazioni sul valore attuale delle oselle veneziane di Giulio BERNARDI, Trieste 21974, 121. Zur Entwicklung der Mitra s. Joseph BRAUN, Die liturgische Gewandung im Occident und Orient. Nach Ursprung und Entwicklung, Verwendung und Symbolik, Freiburg i. Br. 1907, insbes. 475; zur runden, vorwiegend auf die Ostkirche beschränkten Mütze nicht nur der Patriarchen, sondern auch der Priester und Bischöfe s. J[ózsef] DEÉR, Byzanz und die Herrschaftszeichen des Abendlandes, Byzantinische Zeitschrift 50 (1957), 405–436, hier: 420–422 mit Tafel XI.

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Abb. 5: Paolo Veneziano, Sargdekoration von Leone Bembo (1321), Vodnjan/Dignano, Pfarrkirche

Abb. 6a: Lazzaro Bastiani, Sargdekoration von Leone Bembo (Ende 15./Anf. 16. Jh.), Vodnjan/Dignano, Pfarrkirche

Abb. 6b: Lazzaro Bastiani, Sargdekoration von Leone Bembo, Detail, Vodnjan/Dignano, Pfarrkirche

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Abb. 7a: Bildnis von Leone Bembo aus dem Besitz von Pietro Bembo

Abb. 7b: Investitur des Dogen Giovanni Bembo im Schutz seines Vorfahren Leone Bembo (1615)

Abb. 8: Statue Leone Bembos (17. Jh.), Venedig, Basilika S. Maria della Salute

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auf lange Zeit im Dunkel bleibe; so findet sich auch in der Vita Leone Bembos ein Lichtzeichen, hier ein ganzer „Kreis von Sternen am Himmel“, gleich einer Hand, die auf den Sarg weist42. Modell ist dabei – Angenendt hat darauf hingewiesen – der legendarische Bericht von übernatürlichen Lichtern, die zur Entdeckung des Apostelgrabes in Santiago de Compostela geführt hätten43. Es folgt das Auffinden des unverwesten Leibs, dessen Fleisch dem Autor der Vita zufolge „nicht vom Fehlen der Seele und der langen Zeit verhärtet, sondern zart und weich ist, als ob es sich um einen gerade eben erst Verstorbenen“44 handele. Die beim Thema Unverweslichkeit evozierte Hoffnung nicht nur auf ein wie auch immer geartetes Leben nach dem Tod, sondern eben auch auf eine Auferstehung im eigenen Fleisch, wird in dem so häufig beanspruchten Motiv vom lebendig und nur schlafend wirkenden Körper mit beweglichen Gliedmaßen besonders deutlich. An Wundern mangelt es nicht, der Bischof von Castello nimmt den Kanonisationsprozess wieder auf, Leone Bembo gelangt zur Ehre der Altäre, was in diesem Fall, wie Del Ton ausführt, einer lediglich regional gültigen Seligsprechung gleichkommt45. Das wunderbare Geschehen um den Leib sowie einige der von Leone Bembo gewirkten Wunder wurden ins Bild gesetzt, erstmals im Jahr 1321: Auf einem in S. Sebastiano wohl einst der Abdeckung des Sargs von Leone Bembo dienenden Gemälde, das sich ebenfalls in der Vodnjaner Sammlung befindet und heute mehrheitlich Paolo Veneziano (14. Jh.) zugeschrieben wird46, sind die Beisetzung wie auch die spätere Auffindung des Leibs sowie durch Interzession, also durch Vermittlung des Heiligen gewirkte Heilungswunder dargestellt, Historienbilder seiner Legende, unter anderem eine christomimetische Blindenheilung. Hauptbild ist indes die Ganzfigur des Heiligen (Abb. 5), der hier in irritierender Beziehung zu seiner „Realpräsenz“ verewigt wurde. Auf diesem Sargdeckel, der für die an bestimmten Tagen erfolgende Weisung des corpus incorruptum wahrscheinlich aufklappbar und dem Kunsthistoriker Alberto Craievich zufolge möglicherweise auf der Innenseite bemalt war, trägt Leone Bembo einen Heiligenschein47. Der Sarg ist Reliquiar und zugleich Sekundärreliquie. Hier bestehen freilich noch Forschungsdesiderate: Zwar liegt uns ein etwa zeitgleiches Vergleichsbeispiel vor, der heute im Museo Correr befindliche, auf der Innenseite bemalte Sarg von Giuliana di Collalto (1186–1262), einer weiteren venezianischen Seligen, deren Leib unverwest geblieben sein soll; der demütige 42 Vgl. FIAMMA, Vita Leon Bembo (wie Anm. 35), 6f. der zweiten Zählung sowie den ihm mangels zuverlässigerer Quellen folgenden CORNER (wie Anm. 21), 141–143. 43 Vgl. ANGENENDT (wie Anm. 30), 327 sowie Odilo ENGELS, Die Anfänge des spanischen Jakobusgrabes in kirchenpolitischer Sicht, Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 75 (1980), 146–170, hier: 148. 44 FIAMMA, Vita Leon Bembo (wie Anm. 35), 8 der zweiten Zählung. 45 Vgl. ebd., 7f. sowie DEL TON (wie Anm. 12), 25. 46 Für einen ersten, äußerst komprimierten Überblick über den Forschungsstand s. WALCHER, in: ALISI (wie Anm. 13), Anm. 75. 47 Vgl. FIAMMA, Vita Leon Bembo (wie Anm. 35), 8f. der zweiten Zählung sowie CRAIEVICH (wie Anm. 14), 346 mit Anm. 9.

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Gebetsgestus der sehr klein vor den Schutzheiligen des von ihr gegründeten Klosters knienden Giuliana ist allerdings von ganz anderen Konnotationen begleitet als der voll ins Bild gesetzte und nimbierte Leone Bembo. Befremdlich erscheint im Fall eines innen bemalten Sargs vor allem, dass die Repräsentation des präsenten Leibs bei der Ostension nicht anstelle des „Urbilds“ auftreten, sondern dieses verdoppeln würde. Was die Positionierung von Leone Bembos Sargdeckel betrifft, so konnte Anna Krekic für die im ausgehenden 15. oder beginnenden 16. Jahrhundert wahrscheinlich von Lazzaro Bastiani (aktiv 1449–1512) angefertigte (Re-) Produktion (Abb. 6a und 6b) des Paolo Veneziano zugeschriebenen Gemäldes plausibel machen, dass diese wohl der seitlichen Dekoration des Sargs diente und eventuell auch mobil war, für die Reliquienweisung verschoben werden konnte48. Der Sarg war also möglicherweise auf der Deckeloberfläche bemalt, aber irgendwann erneuert bzw. so aufgestellt worden, dass diese Bemalung nicht mehr sichtbar war, weshalb dann lateral weitgehend dasselbe Bildprogramm wiederholt worden sein könnte. Die Frage der innen und/oder außen, oben und/oder seitlich bemalten Sargabdeckung würde eine eingehende Untersuchung verdienen im Hinblick auf die paradoxe Verschränkung von Anwesenheit und Abwesenheit im Spannungsverhältnis von Körper und Bild, irdischem und himmlischem Leib. Erhellend wirken könnte hier ein Vergleich mit den von Kristin Böse beschriebenen bemalten Särgen49. A. Krekic hat zunächst Kärrnerarbeit geleistet: In ihrem Aufsatz widmet sie sich dem Problem der möglichen Gründe für die Bastiani zugeschriebene „Kopie“ wie auch der eng damit verbundenen Frage nach der exakten Lokalisierung beider Tafeln auf dem Altar, für den sie gefertigt waren. Da aus den historischen Beschreibungen nicht immer klar hervorgeht, von welchem der beiden durch Grezler von Venedig nach Dignano/Vodnjan gebrachten Bilder gerade die Rede ist, hat sie einmal herausgearbeitet, welcher Autor welches Bild wann in welcher Position gesehen hat. Das Ergebnis ist frappierend: Lediglich Fiamma scheint beide Gemälde zu Gesicht bekommen zu haben, alle anderen Autoren sahen offenbar nur die (Re-)Produktion von Bastiani50. Diese „Kopie“ unterscheidet sich aber von dem auf das Jahr 1321 datierten Original unter anderem darin, dass die (symbolische Ambiguität der) Unverwest48 Anna KREKIC, La tavola del beato Leone Bembo di Paolo Veneziano e la sua copia tardoquattrocentesca: tipologia e funzioni, Arte in Friuli, Arte a Trieste 24 (2005), 147–160, hier: 152ff. Durch Antonino Santangelo wurde dieses Gemälde 1935 erstmals L. Bastiani zugeschrieben; s. hierzu Licia COLLOBI, Lazzaro Bastiani, La critica d’arte 4 (1939), 33–53, Tav. 21–43, hier Anm. 49. 49 S. Kristin BÖSE, Gemalte Heiligkeit. Bilderzählungen neuer Heiliger in der italienischen Kunst des 14. und 15. Jahrhunderts, Petersberg 2008, 128–131 u. 138–142. 50 Vgl. KREKIC (wie Anm. 48), 152ff. Einzubeziehen in die u. a. die Frage der Translationen beleuchtenden Überlegungen der Autorin wäre noch der von DEL TON (wie Anm. 12), 24f. partiell wiedergegebene Anhang an ein im Pfarrarchiv Vodnjan/Dignano befindliches Dokument aus dem Jahr 1632: Der im Dienst des Patriarchen von Venedig stehende Notar Francesco Priori erwähnt dort unterschiedliche Inschriften auf dem Sargdeckel Leone Bembos. Bedauerlicherweise konnte dieser Hinweis weder überprüft noch in seinen Kontext eingeordnet werden.

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heit hier auf dem Rahmen verbal akzentuiert wird. Für den explizit auf der Indikatorfunktion der Unverwestheit insistierenden Text findet sich in der entsprechenden Darstellung bei Paolo Veneziano kein Vorbild51: INCORRVPTIO CORPORIS MVLTOS ANNOS HVMI IACENTI INDICAT NOBIS LEO TVAM SANTAM [!] VITAM PERENNEM. ANNO DNI MCCVII. Nicht das heiligmäßige Erdenleben wird hier beglaubigt, sondern ein Geschehen, das nicht von dieser Welt ist: Der im Kult gezeigte und verhüllte unverweste Leib offenbart in seiner turnusmäßigen Enthüllung und den damit einhergehenden Gnadenerweisen Transzendentes52. Er verweist auf ein „anderes“, ewiges Leben, den Auferstehungsleib, und damit – durch physische Konformität – auf das Vor-bild, den Leib, den „fehlenden“, den „entzogenen“ Leichnam Christi53. Die haptisch erfahrbare und sichtbare Präsenz des unverwesten/unverweslichen Leibs zeigt Abwesendes, macht eine verborgene, spirituelle Wahrheit begreifbar und augenfällig: das Paradoxon des sterblichen Körpers und unsterblichen Leibs des Fleisch gewordenen Gottes. In diese Vergegenwärtigung des historischen Heilsgeschehens wie auch der christlichen Heilsversprechen fügt sich die Veranschaulichung der mystisch-charismatischen Aspekte der Heiligkeit und der post mortem gewirkten Wunder gut ein; Darstellungen Leone Bembos als geistlicher Würdenträger stehen indes mitunter in einem anderen Kontext54. Auch dem corpus des Giovanni beziehungsweise seiner durch den Leib wirkenden Person werden zahlreiche Wunder zugeschrieben, die der hagiographischen Standardform entsprechend am Ende der narratio plaziert sind. Wie in den biblischen Heilungswundern werfen Lahme nach Besuch oder Berührung des Leibs ihre Krücken weg, auch von einer Dämonenaustreibung wird berichtet. Geschildert wird die Wirkmächtigkeit von Kontaktreliquien und die unmittelbare Befreiung von nicht näher spezifizierten Krankheiten, wobei die Bittsteller über den heiligen Leib gelegt wurden und auf diese Weise leibhaft am Heiligen teilhaben konnten; im Fall eines stummen Knaben, der in dieser Position einschlief, erfolgte die Heilung, ähnlich wie in der Antike, im Schlaf (incubatio)55. Auf einem in der Eremitage in St. Petersburg befindlichen Fragment eines Polyptichons aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts sehen wir dann auch den geöffneten Sarg der Giuliana di Collalto mit einem Metallgitter abgedeckt, ein Kind wird gerade

51 Inschriftlich wird dort lediglich erklärt, dass Leone Bembo anlässlich seiner Beisetzung in Präsenz der gesamten Bürgerschaft und einer enormen Anzahl von Klerikern zahlreiche Wunder wirkte. 52 Vgl. in diesem Zusammenhang Hans DÜNNINGER, Gnad und Ablaß – Glück und Segen. Das Verhüllen und Enthüllen heiliger Bilder, Jahrbuch für Volkskunde N.F. 10 (1987), 135–150. 53 Zum Christentum als Religion des „corps manquant“: Michel de CERTEAU, Mystische Fabel: 16. bis 17. Jahrhundert, aus d. Franz. v. Michael LAUBLE, mit e. Nachw. v. Daniel BOGNER, Berlin 2010, 124–148; s. auch Bernhard TEUBER, Sichtbare Wundmale und unsichtbare Durchbohrung. Die leibhafte Nachfolge Christi als Paradigma des anhermeneutischen Schreibens, in: Stigmata. Poetiken der Körperinschrift, hg. v. Bettine MENKE u. Barbara VINKEN, München 2004, 155–179, hier: 161f. 54 S. die in Anm. 41 angedeuteten Zusammenhänge. 55 Vgl. [ROTA] (wie Anm. 19), 42.

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hochgehoben, um dann vermutlich auf das Gitter gelegt zu werden (Abb. 9)56. Ein analoges Heilungsritual wird von Philipp Neri (1515–1595) berichtet, der sich der Länge nach über Kranke gelegt haben soll57. Belegt wird bei alledem die den Heiligen innewohnende und von ihnen in einer Kontiguitätsbeziehung übertragene göttliche Wirk- und Wunderkraft; belegt wird freilich auch die Überlegenheit der himmlischen über die irdische Heilkunst. Ein Strafwunder geschieht, wenn anlässlich der Berührung des heiligen Leibs der nötige Glaube fehlt58. Unnötig zu betonen, dass die wunderbare Heilung von auf natürliche Weise nicht heilbaren Krankheiten hier im Gegenzug wiederum den übernatürlichen Ursprung der Unverwestheit beweist. Wunder hat, das versteht sich nunmehr von selbst, auch Nicolosa Borsa gewirkt, und zwar in allen sozialen Milieus, vom Fischer bis zum Notar; an ihrem Grabmal sollen Votivtafeln angebracht worden sein. Nicolosa ist die jüngste der drei hier zur Diskussion stehenden Heiligen; sie soll aus Capodistria/Koper stammen und in das venezianische Benediktinerinnenkloster auf S. Servolo eingetreten sein, wo sie 1502 Äbtissin wurde; später wechselte sie nach S. Giovanni in Laterano59. Zusammen mit anderen Nonnen dieses Klosters lebte sie offenbar im Ruf der Heiligkeit, beim Gebet soll sie nicht selten in Ekstase gefallen sein. Einige Jahre nach ihrem Tod, den sie – ein hagiographischer Topos – auf die Stunde genau vorausgesagt haben soll, fusionierte das Kloster S. Giovanni mit dem von S. Anna, beim Transfer wurde der Sarg Nicolosas geöffnet. Ihren Hagiographen zufolge fand man den Körper bei den wiederholten Öffnungen des Sarkophags und trotz der feuchten Umgebung – auch dies ein hagiographischer Gemeinplatz – „intakt“; die Gewänder seien „unbefleckt und schön“ gewesen, als ob der jungfräuliche Leib, wie Corner Mitte des 18. Jahrhunderts vermutet, auf die Kleider ausgestrahlt habe – ein von einem Handwerker 1689 heimlich abgezwacktes Stoffstückchen soll jedenfalls enorme Heilkraft bewiesen haben60. Auf der Unbeflecktheit wird mit Nachdruck insistiert, anders als bei Giovanni oder Leone Bembo und sicher nicht zufällig, da Frauen aufgrund des Menstruationsbluts in zahlreichen Kulturen als unrein gelten. Zwischen Reinheit und der Unverweslichkeit des Leibes besteht ein Zusammenhang61, und auf Reinheit im Sinn von sexueller Enthaltsamkeit verweist bereits auf den ersten Blick Nicolosas bekränztes Haupt. Dass dieser Kranz ein zentrales Erkennungsmerkmal war, belegt ein von

56 Den Hinweis auf dieses Gemälde verdanke ich Ana MUNK, The Art of Relic Cults in Trecento Venice: Corpi sancti as a Pictoral Motif and Artistic Motivation, Radovi Instituta za povijest umjetnosti 30 (2006), 81–92, hier: 85. 57 S. hierzu den Aufsatz von Catrien SANTING (S. 135, Anm. 30) in diesem Band. 58 Vgl. [ROTA] (wie Anm. 19), 42–44. 59 Vgl. auch für das Folgende DEL TON (wie Anm. 12), 28–35; CORNER (wie Anm. 21), 108; GRANDIS (wie Anm. 24), 4–12. 60 Vgl. DEL TON (wie Anm. 12), 30f.; der Autor zitiert aus der im Pfarrarchiv Vodnjan/Dignano befindlichen, von Rota verfassten Vita Nicolosa Borsas. Vgl. ferner CORNER (wie Anm. 21), 108 und GRANDIS (wie Anm. 24), 7–9. 61 Vgl. ANGENENDT (wie Anm. 30), 337.

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Abb. 9: Szenen aus dem Leben der Giuliana di Collalto (2. H. 14. Jh.), St. Petersburg, Eremitage

Del Ton erwähnter Bericht über die Befreiung von Zahnschmerzen aufgrund einer nächtlichen Erscheinung Nicolosas im Habit der Benediktinerinnen mit Blütenkranz62. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang, dass noch im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts ein von Grezler wie auch einer Augenzeugin beschworener Vorfall berichtet wird, der Nicolosa in eine besondere Affinität zu ei62 Nach der Computertomographie-Untersuchung (2009) der drei Leiber fehlte der Kranz übrigens.

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nem Mädchen rückt, das – im „unschuldigen Alter“ von drei Monaten – an Schwindsucht litt. Auf Bitten der Eltern sei es über dem Leib Nicolosas vom Pfarrer gesegnet worden und aufgrund der performativen Wirksamkeit dieses Akts gesundet. Am Jahrestag hätten die dankbaren Eltern eine Messe lesen lassen, das kleine Mädchen sei beim Anblick der heiligen Leiber zunächst erschrocken davongelaufen; Nicolosa wollte es jedoch umarmen, es habe die Glasscheibe, hinter welcher der unverweste Leib zu sehen war, „wieder und wieder mit reiner kindlicher Liebe geküßt“63. Über die Verwahrlosung der Reliquiensammlung im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert liegen eindrückliche Berichte vor. Die heute Paolo Veneziano und Lazzaro Bastiani zugeschriebenen Tafeln waren auf zwei Böcke gelegt worden, die Rückseite wurde zum Putzen der Kerzen und zur Vorbereitung des Altarschmucks verwendet; es soll einige Mühe gekostet haben, den damaligen Pfarrer zu bewegen, seine Schätze respektvoller zu behandeln. Im Juni 1909 fand Antonio Alisi in den über der Sakristei gelegenen, von Grezler benutzten Räumlichkeiten ein wildes Durcheinander von verstaubten Reliquiaren und Knochen vor, man sagte ihm, dass vieles verschwunden sei64. Die demonstrative Gleichgültigkeit verweist auf Desakralisierung, einen keineswegs linear verlaufenden Prozess, den wir für die Zeit des Faschismus und des Sozialismus gern durch halbstrukturierte Interviews erhellt hätten. M. Jeleniü jedenfalls bezeichnet seine während des Sozialismus tätigen Kollegen immer wieder als „Märtyrer“ und berichtet auch mit Vorliebe von seinen persönlichen Risiken in dieser Zeit. Nach eigener Auskunft bewahrt er in seiner Wohnung noch Scherben von Reliquiaren aus Muranoglas auf. Er hofft, das verstreute Körpermaterial mit Hilfe von DNAAnalysen zuordnen zu können, ein Vorhaben, bei dem ihn die Pathologen der Universität Rijeka wohl kaum unterstützen werden. Man ist dort ohnehin etwas verstimmt, fühlt sich – nach jahrelang signalisiertem Interesse – ausgebootet: 2009 wurden die drei Leiber nämlich unter obskuren Umständen durch halb Kroatien zur CT-Untersuchung nach Split transportiert und bei dieser Aktion beschädigt; die einschlägigen Untersuchungsdaten wurden nicht bekannt gegeben. Preisgegeben hat M. Jeleniü 2010 lediglich triumphierend, dass die inneren Organe der Leiber vorhanden seien. Diese Information scheint für ihn einem Ausschluss künstlicher bzw. „intentioneller“ Mumifizierung gleichzukommen. Sie stützt die Inszenierung der Leiber als übernatürliches Phänomen, ihre Auratisierung, die uns nicht nur aus den frühneuzeitlichen hagiographischen Schriften und der dort angeführten „Bulle“ von Papst Bonifacius IX. aus dem Jahr 1400, sondern auch aus M. Jeleniüs Broschüren geläufig ist. Deutlich wurde freilich, dass diesbezüglich keineswegs eine ununterbrochene Kontinuität vorliegt. Formen von Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen bzw. dem Oszillieren zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und Wunderglaube kann man beim Thema Unverwestheit immer wieder begegnen. So hat M. Jeleniü beispielsweise zu Beginn des Jahres 2011 63 Vgl. DEL TON (wie Anm. 12), 33f. 64 Vgl. ALISI (wie Anm. 13), 67f.

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Kontakt mit der Europäischen Akademie in Bozen aufgenommen, um sich zu erkundigen, ob man die heiligen Leiber von Vodnjan/Dignano mit oder ohne die historischen Holzsärge in hermetisch abgeschlossene Glassärge umbetten solle. Der Glaube an eine übernatürliche, höhere Ursache der unverwesten Leiber steht nicht in Widerspruch zu den Bemühungen um ihre Konservierung durch keimfreie Aufbewahrung. Dass wir die geplante Entwicklung eines Interviewleitfadens nicht vorangetrieben haben, hängt wesentlich mit den durchaus weltlichen Interessen von M. Jeleniü zusammen, der uns hinsichtlich des Zugangs zum Pfarrarchiv von Jahr zu Jahr vertröstet hat, um uns am Ende mit finanziellen Forderungen für eine Verfilmung allein von ihm ausgewählter Dokumente zu konfrontieren. Ein die Gegenwart und nähere Vergangenheit einbeziehendes Forschungsprojekt wäre, wenn nicht auf seine Unterstützung, so doch auf seine wohlwollende Duldung angewiesen. Festhalten lässt sich gleichwohl, dass die an den liminalen Zustand der Unverwestheit/Unverweslichkeit geknüpften Hoffnungen auf Grenzüberschreitung, auf eine Vermittlung zwischen Himmel und Erde, eine besonders potente intercessio, in diffuser Form bis heute weiterwirken. Dies zeichnet sich in einem von körperlich gespürten Ausstrahlungen und gelegentlich auch Heilungswundern berichtenden „Mirakelbuch“ ab, das Pfarrer Jeleniü seit der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre führt. Es scheint, dass Besucher der mumifizierten Heiligen den Pfarrer ansprechen oder im Gespräch mit ihm über ihre Erlebnisse und Empfindungen berichten. M. Jeleniü, der sich – bislang erfolglos – für die in Vodnjan befindliche Sammlung um den Schutz der UNESCO und den Titel Weltkulturerbe bemüht hat, schwebt seit langem – auch Bernadette Soubirous (1844–1879) ist unverwest! – ein kroatisches Lourdes und der Bau einer Krypta vor. Bereits 1998 hat er dem Kultusministerium in Zagreb die wirtschaftlichen Vorteile von Wallfahrt und einschlägigem Tourismus schmackhaft zu machen versucht65. Selbstverständlich weiß er um die strengen kirchlichen Maßstäbe hinsichtlich der Anerkennung von Wundern; er weiß aber auch um die imaginative Aufladung der mumifizierten Leiber und das Bedürfnis nach unmittelbarer religiöser Erfahrung. Diesbezügliche Hinweise von BesucherInnen notiert er in Schulheften, allerdings nur selten mit Namen und Herkunftsorten der Betreffenden. Im Unterschied zum eifersüchtig zurückgehaltenen Material des Pfarrarchivs, das er gelegentlich selbst ediert, ungerührt von Abbreviaturen und ähnlichen Quisquilien, aber im Farbdruck66, gewährte M. Jeleniü Susanne Büttel und mir Einblick in seine Hefte – im eigenen Interesse, da öffentlichkeitswirksame Wundertätigkeit die Ausbildung eines Kults respektive Etablierung der eigenen Pfarrei als Wallfahrtsort ja nur befördern kann. In diesem Zusammenhang gestattete er uns 2009 sogar, das zeitlich jüngere und damals noch 65 Eine Kopie seines diesbezüglichen Schreibens vom 24. August 1998 liegt uns vor. 66 Ein anschauliches Beispiel ist Testimonianza di celebrazione a Venezia nell’anno 1617 = Svjedoþanstvo o þašüenju relikvija u Veneciji 1617 [mutmaßl. Verf.: Giulio Cesare VERGARO], Vodnjan/Dignano [ca. 2008].

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unabgeschlossene der beiden zu jenem Zeitpunkt vorliegenden Hefte zu kopieren. Unser Kollege Tomislav Helebrant hat es ausgewertet, es enthält zwischen Ende 2004 und Mitte 2009 31 Einträge. Ein kürzerer Eintrag (S. 7) lautet beispielsweise: „Heute war eine Italienerin mit ihrem Mann hier, nach der Besichtigung der Leiber der Heiligen sagte sie: ‚An den Händen, am Rücken und am ganzen Körper habe ich eine sehr starke wohltuende und angenehme Wirkung gespürt.‘ 11.10.2006.“

Die Einträge beziehen sich auf zumeist aus Kroatien und Norditalien stammende BesucherInnen, wobei es sich bei den von wundersamen (körperlichen) Erfahrungen Betroffenen mehrheitlich um Frauen handelt67; über deren sozialen Status geben die Aufzeichnungen des Pfarrers nur sporadisch Auskunft. Die Rede ist von Kribbeln in den Händen, Gänsehaut, von wohltuender Wärme, Zittern, Schwitzen und von Atemnot und Herzklopfen, die im Umfeld der unverwesten Leiber aufgetreten seien. Die Betroffenen fühlten sich nach diesen Erlebnissen wohl. Den Berichten (M. Jeleniüs) zufolge traten die Phänomene für sie unerwartet auf, was sie zu motivieren schien, den Pfarrer darauf anzusprechen. Viele BesucherInnen gaben zu Protokoll, dass sie schon früher in Vodnjan/Dignano gewesen seien und für ein Anliegen gebetet hätten, das sich erfüllt habe. Meistens geht es bei diesen Anliegen um Krankheit und Krisen im persönlichen bzw. familiären Bereich. So wurde zum Beispiel ein Kind von Fieber geheilt, Magenprobleme, Schmerzen im Knie und Rückenprobleme wurden gelindert. Eine weitere Gruppe von Anliegen betrifft den Wunsch nach Partnerschaft und der Geburt von Kindern. Wir hatten uns für unsere auf Jenseits- und Heilsvorstellungen, auf die symbolischen Bedeutungen und gesellschaftlichen Funktionen von Unverwestheit/Unverweslichkeit abzielenden Forschungen gewünscht, die von M. Jeleniü nicht nur selektierten, sondern zweifellos auch provozierten und stilisierten Aussagen anhand von Interviews beleuchten zu können. Angesichts des breiten Interesses, das der Konservierung des Körpers gegenwärtig entgegengebracht wird – es sei hier nicht zuletzt an die Plastinate des Gunther von Hagens erinnert, den größten Ausstellungserfolg aller Zeiten –, haben wir uns gefragt, inwiefern die Vodnjaner Mumien heute noch Projektionsfläche für die (Un-)Sterblichkeit des corpus Christi sind. Es hat uns überrascht, dass die BesucherInnen des Separees angesichts der konkreten Form, in welcher der Tod und seine Verneinung dort begegnen, ausschließlich Hilfe für die Nöte im Diesseits suchen und so naheliegende Ängste wie die vor dem Tod als Vernichtung, so naheliegende Wünsche wie die nach Auferstehung bzw. Unsterblichkeit nicht zum Ausdruck gebracht haben sollen. Gerade im Hinblick auf die Historizität der Strategien zur Bewältigung von Leiden und Tod wie auch zum Umgang mit Transzendenz hatten wir gehofft, dass uns das im Pfarrarchiv von Vodnjan/Dignano verwahrte einschlägige Archivgut in vollem Umfang zugänglich gemacht würde. Ein diesbezüglich im August 2010 an

67 Von den 31 Einträgen (18 Frauen, 13 Männer) beziehen sich 12 auf aus Kroatien, 7 auf aus Italien stammende Personen; über wundersame Erfahrungen zumeist körperlicher Art berichten 17 Frauen und 11 Männer.

Incorruptio corporis indicat nobis santam vitam perennem

Abb. 10: Plakat an der Türe der Pfarrkirche in Vodnjan/Dignano (Juni 2009)

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den Bischof von Poreþ und Pula gerichtetes Schreiben blieb unbeantwortet; wie wir aus verschiedenen Quellen erfahren haben, wird M. Jeleniü von dieser Seite bedingungslos gestützt. Im Unterschied zu seinen alle paar Jahre versetzten Kollegen ist er seit Jahrzehnten in Vodnjan/Dignano tätig, obwohl er von großen Teilen seiner Gemeinde weder geschätzt noch ernst genommen wird, nicht zuletzt, weil er sich weit mehr um das Geschäft mit den heiligen Leibern als um seine Pfarrkinder zu kümmern scheint. Dass Geld in den hochfliegenden Plänen von M. Jeleniü eine zentrale Rolle spielt, war auch für uns nicht zu übersehen. Vor allem an sommerlichen Regentagen fließt es reichlich: Einschlägige Reiseliteratur und Plakate (Abb. 10) preisen die aus ihrem Kontext gerissenen und zur Ware gewordenen Mumien den Touristen als „gröste Atraktion in Istrien“ an. Vor Ort aber scheinen Reserven gegenüber der folkloristischen Darbietung zu existieren. Viele winken resigniert ab, wenn man das Gespräch auf den in kommerzieller Hinsicht so kreativen und ambitionierten Pfarrer oder auf die (medienwirksame Vermarktung der) Mumien bringt: Die Instrumentalisierung der Leiber im Rahmen einer gezielten Förderung mystisch-charismatischer Elemente wie auch die Ausschöpfung des Potentials des Todes zu recht diesseitigen Zwecken stoßen bei Einheimischen auf Befremden und Abwehr – vielleicht aus ganz unterschiedlichen Motiven68.

Bildnachweis Abb. 1, 2a–2c: Testimonianza di celebrazione a Venezia nell’anno 1617 = Svjedoþanstvo o þašüenju relikvija u Veneciji 1617 [mutmaßl. Verf.: Giulio Cesare VERGARO], Vodnjan/Dignano [ca. 2008]. Abb. 3a u. 3b: Lino MORETTI / Antonio NIERO / Paola ROSSI, La chiesa del Tintoretto. Madonna dell’Orto, IV centenario della morte di Tintoretto, Venezia 1994, 58, Fig. X u. XII. Abb. 4 u. 7a: Flaminio CORNER, Notizie storiche delle chiese e monasteri di Venezia, e di Torcello, Padova 1758, eingefügt zwischen S. 142 u. 143. Abb. 5: Progetto per la protezione dei corpi santi, Dignano 2005. Abb. 6a u. 6b: Višnja BRALIû / Nina Kudiš BURIû, Istria pittorica. Dipinti dal XV al XVIII secolo, diocesi Parenzo – Pola (Collana degli atti del Centro di Ricerche Storiche di Rovigno 25), Rovigno, Trieste 2005, 81. Abb. 8 u. 10: Foto Waltraud Pulz Abb. 7b: Aldo JESURUM, Cronistoria delle oselle di Venezia. In premessa: Considerazioni sul valore attuale delle oselle veneziane di Giulio BERNARDI, Trieste 21974, 121. Abb. 9: Ana MUNK, The Art of Relic Cults in Trecento Venice: Corpi sancti as a Pictoral Motif and Artistic Motivation, Radovi Instituta za povijest umjetnosti 30 (2006), 85. 68 Allzu oft war hier von den ungewohnten und ungewöhnlichen Hindernissen die Rede, die uns der Repräsentant der Kirche vor Ort bei unseren Recherchen in den Weg gelegt hat. Die Freude am Forschen hat nicht zuletzt aufgrund der großzügigen Hilfsbereitschaft, die wir in Venedig und Istrien seitens der KollegInnen wie auch der Comunità degli Italiani di Dignano erfahren haben, immer wieder die Oberhand gewonnen: Viola Carini Venturini, Erika Fabro, Anita und Ennio Forlani, Loredana Giacomini, Nelida Milani, Anja Petaros und Carla Rotta sei auch an dieser Stelle herzlich gedankt. Für den Rat in bibliographischen Zweifelsfällen danke ich Peter Frenz.

4. FROMME LEIBER – MEDIZINISCHE PERSPEKTIVEN

MÖGLICHKEITEN UND GRENZEN EINER RETROSPEKTIVEN DIAGNOSE Michael Stolberg

Vor einigen Jahren veröffentlichte Guido Kluxen im Deutschen Ärzteblatt unter dem Titel ‚Sehstörungen des Apostels Paulus‘ einen Aufsehen erregenden Beitrag1. Als gelernter Augenarzt hatte er den neutestamentlichen Bericht über das Damaskus-Erlebnis des Saulus – in deutscher Übersetzung – mit seinen ophthalmologisch geschulten Augen gelesen und daraus einen klaren Befund ableiten können. Die Stelle in der Apostelgeschichte ist bekannt. Saulus macht sich auf den Weg nach Damaskus, um dort Anhänger Jesu gefangen zu nehmen und nach Jerusalem zu bringen. Unterwegs aber, als er sich bereits Damaskus näherte, geschah es, daß ihn plötzlich ein Licht vom Himmel umstrahlte. Er stürzt zu Boden und hört Jesu Stimme. Saulus erhebt sich wieder. Als er aber die Augen öffnete, sah er nichts. Sie nahmen ihn bei der Hand und führten ihn nach Damaskus hinein. Und er war drei Tage blind, und er aß nicht und trank nicht (Apg 9,2–9). Gott erscheint darauf dem Hananias und schickt ihn zu Saulus. Hananias geht zu Saulus und sagt ihm, Jesus sei ihm erschienen und er werde wieder sehen und mit dem heiligen Geist erfüllt werden. Sofort fiel es wie Schuppen von seinen Augen, und er sah wieder [...] (Apg 9,18). Für dieses Geschehen glaubte Kluxen eine eindeutige medizinische Erklärung gefunden zu haben: „Der Anfall des heiligen Paulus vor Damaskus war die Folge einer übermäßigen Sonneneinwirkung. Diese ging mit einer starken Blendung bei UV-Licht-Keratitis und/oder einer Retinopathia solaris einher.“ Sie habe sich nach wenigen Tagen wieder zurückgebildet, aber – wie Kluxen aus späteren Berichten ableitet – „für den Rest seines Lebens eine beidseitige Beeinträchtigung des zentralen Sehvermögens“ hinterlassen. Kluxens Versuch, das Damaskuserlebnis auf diese Weise medizinisch zu erklären, hat damals eine lebhafte Diskussion hervorgerufen2. Er steht zugleich stellvertretend für unzählige andere Versuche, historische Beschreibungen von körperlichen Phänomenen und Erfahrungen, von Krankheiten und abnormen Verhaltensweisen in moderne diagnostische Begriffe zu übersetzen – und er zeigt 1 2

Guido KLUXEN, Sehstörungen des Apostels Paulus, Deutsches Ärzteblatt, Ausgabe A, 90 (1993), 2007–09. Vgl. die Leserbriefe in Deutsches Ärzteblatt, Ausgabe A, 91 (1994), 841–847, insbesondere Peter DABROCK, Keine Krankheitsschilderung (ebd., 846), dazu die abschließende Replik von KLUXEN (ebd., 847); Hans-Heinrich STRICKER, Mensch in Schwachheit – Apostel in Kraft. Psyche, Krankheit und Heil bei Paulus im Urteil des Arztes, Berlin 2008.

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eindrucksvoll die Möglichkeiten, Schwierigkeiten und Grenzen einer „retrospektiven Diagnostik“. Vor allem wenn es um die Krankheiten und Todesursachen berühmter historischer Persönlichkeiten geht, erfreut sich der Versuch, diese in den Begriffen der modernen Medizin zu bestimmen, großer Beliebtheit. Schon allein die einschlägigen Beiträge über berühmte Komponisten könnten Bände füllen3. Wenn, wie im Falle von Descartes4 oder Mozart5, obendrein über einen unnatürlichen, gewaltsamen Tod, einen Giftmord gar, spekuliert wird, ist den Autoren die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit sicher. Auch Paulus wurde, schon lange vor Kluxen, immer wieder mit retrospektiven Diagnosen bedacht: von „Hysterie“ und „Epilepsie“ bis hin zur „Trigeminusneuralgie“6. Retrospektive Diagnostik zielt freilich nicht nur auf berühmte historische Individuen. Auch die Frage nach der Erstbeschreibung bestimmter Krankheiten wie der Windpocken oder der Flussblindheit oder nach dem erstmaligen Auftreten und der Verbreitung bestimmter Seuchen ruft immer wieder entsprechende Auslegungen historischer Texte hervor. So hat man den „Englischen Schweiß“, der in der Frühen Neuzeit zahlreiche Opfer forderte, unterschiedlichen Erregern zugeschrieben, die erst in jüngster Zeit entdeckt wurden7. Die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen einer retrospektiven Diagnostik ist auch für die Geschichte der Heiligkeit von erheblicher Bedeutung. Der Nachweis wundersamer Heilungen von unheilbaren, ärztlicherseits für verloren gegebenen Kranken spielt in Selig- und Heiligsprechungen seit dem Mittelalter eine wichtige, ja überragende Rolle. Der großen Mehrheit der Heiligen werden Heilungswunder zugeschrieben. Deren Anerkennung setzt jedoch voraus, dass sich die unerwartete Genesung nicht durch einen bloßen diagnostischen oder prognostischen Irrtum erklären lässt. Ein solcher ist wiederum nur auszuschließen, wenn die Krankheit rückblickend klar identifiziert werden kann und mit den zu ihrer Zeit verfügbaren Mitteln unheilbar war, so dass sich die Genesung nicht einem günstigen natürlichen Verlauf oder der Wirkung der angewandten medizinischen Mittel verdanken kann. Deshalb wurden seit dem 17. Jahrhundert zuneh-

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Eines von vielen Beispielen: M[artin] HATZINGER [u. a.], Wolfgang Amadeus Mozart. Eine urologische Pathographie, Der Urologe 45 (2006), 489–492, mit der These, Mozart sei zweifellos an Nierenversagen gestorben. Eike PIES, Der Mordfall Descartes. Dokumente – Indizien – Beweise, Solingen 1996. Vgl. die Diskussion unterschiedlicher Hypothesen in Reinhard LUDEWIG, Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791): Genaue Todesursache bleibt unerkannt. Ein pathographischer Beitrag zum Mozart-Jahr 2006, Deutsches Ärzteblatt, Ausgabe A, 103 (2006), 172–176. Walter BACHMANN, Trigeminusneuralgie [Leserbrief], Deutsches Ärzteblatt, Ausgabe A, 91 (1994), 842. Mark TAVINER / Guy THWAITES / Vanya GANT, The English Sweating Sickness, 1485–1551: A Viral Pulmonary Disease?, Medical History 42 (1998), 96–98; E[ric] BRIDSON, The English ‚Sweate‘ (sudor anglicus) and Hantavirus Pulmonary Syndrome, British Journal of Biomedical Science 58 (2001), 1–6.

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mend auch Ärzte als medizinische Experten in die Selig- und Heiligsprechungsverfahren einbezogen8. Darüber hinaus zeichnen sich manche christliche Heilige selbst durch körperliche Zeichen der Heiligkeit wie Stigmatisation, Nahrungslosigkeit, jungfräuliche Laktation, Blutschweiß oder durch ungewöhnliche geistige Zustände und Fähigkeiten wie Visionen aus. Während die einen diese für ein übernatürliches Geschehen erklären, suchen die anderen aus einer aufklärerisch-kritischen Haltung heraus nach einer naturwissenschaftlichen oder psychiatrischen Deutung: Fastenwunder werden dann zum Beleg für eine Anorexia nervosa9, jungfräulicher Milchfluss zum Ausdruck einer Hormonstörung, Blutschweiß verweist auf eine Gerinnungsstörung, Visionen werden zum Symptom eines psychiatrischen Leidens – oder, wie in Kluxens Deutung, zur bloßen organisch bedingten Sinnesstörung. In der neueren professionellen Medizingeschichtsschreibung hat sich gegenüber der retrospektiven Diagnose, der Übertragung moderner medizinischer Konzepte und Begriffe auf die Vergangenheit, wachsende Skepsis, ja radikale Ablehnung breitgemacht10. „Aus alten Krankengeschichten moderne Diagnosen zu stellen, verbietet sich grundsätzlich“, formulierte der Münchner Medizinhistoriker Christian Probst 1994 kategorisch in seiner Antwort auf Kluxens Thesen11. Als „hochspekulative und in ihrer Aussagekraft sehr begrenzte Gedankenübung“ hat Karl-Heinz Leven ein solches Vorgehen 1998 kritisiert12. Heute gilt die retrospektive Diagnose unter Medizinhistorikern geradezu als Tabubruch, als Ausweis eines veralteten, dem erreichten methodischen Reflexionsstandard des Fachs nicht mehr angemessenen Ansatzes. Mit unmissverständlicher Schärfe haben Wolfgang Uwe Eckart und Robert Jütte jüngst in ihrer Einführung in die medizinhistorische Methodik die „wenig ergiebige und zudem spekulative Diagnosestellung aus der

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Marcus SIEGER, Die Heiligsprechung. Geschichte und heutige Rechtslage (Forschungen zur Kirchenrechtswissenschaft 23), Würzburg 1995, bes. 152–160; s. a. Franciscus ANTONELLI, De inquisitione medico-legali super miraculis in causis beatificationis et canonizationis (Studia Antoniana 18), Rom 1962. 9 Für kulturalistische/kulturgeschichtliche Deutungen vgl. dagegen Walter VANDEREYCKEN / Ron van DETH / Rolf MEERMANN, Hungerkünstler, Fastenwunder, Magersucht. Eine Kulturgeschichte der Ess-Störungen, Zülpich 1990; Joan Jacobs BRUMBERG, Fasting Girls. The Emergence of Anorexia Nervosa as a Modern Disease, Cambridge, Mass. 1988; Waltraud PULZ, Nüchternes Kalkül – Verzehrende Leidenschaft. Nahrungsabstinenz im 16. Jahrhundert (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 64), Köln, Weimar, Wien 2007. 10 Karl-Heinz LEVEN, Krankheiten – historische Deutung versus retrospektive Diagnose, in: Medizingeschichte: Aufgaben, Probleme, Perspektiven, hg. v. Norbert PAUL u. Thomas SCHLICH, Frankfurt, New York 1998, 153–185; Axel KARENBERG / Ferdinand Peter MOOG, Next Emperor, Please! No End to Retrospective Diagnostics, Journal of the History of the Neurosciences 13 (2004), 143–149. 11 Christian PROBST, Reine Spekulation [Leserbrief], Deutsches Ärzteblatt, Ausgabe A, 91 (1994), 843f. 12 LEVEN (wie Anm. 10), 180.

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Rückschau heraus“ gebrandmarkt, die „in einer professionellen Medizingeschichtsschreibung nichts zu suchen“ habe13. Es gibt, wie wir sehen werden, gute Gründe für diese Kritik, doch sie wirft auch Fragen auf. Was unterscheidet die retrospektive Anwendung moderner medizinischer Begriffe und Konzepte von der retrospektiven Anwendung soziologischer Begriffe und Konzepte? Droht hier womöglich ein performativer Widerspruch, wenn Medizinhistoriker einerseits der retrospektiven Diagnose eine kategorische Absage erteilen, sich andererseits aber freizügig des aktuellen Theorieangebots bedienen und den „Gesundheitsmarkt“, die „Medikalisierungsprozesse“ oder die „Akteur-Netzwerke“ vergangener Zeiten beschreiben? Ist die retrospektive Diagnostik wirklich generell zu verdammen, oder gibt es Bereiche, in denen sie angebracht ist? Im Folgenden möchte ich die verschiedenen Schwierigkeiten und Probleme einer retrospektiven Diagnose – im weiteren Sinne einer Deutung vergangener somatischer und seelischer Phänomene mit Hilfe moderner medizinischer Begriffe, Theorien und Erklärungsmodelle – diskutieren, um abschließend zu der Frage zurückzukehren, ob die retrospektive Diagnose irgendeine Berechtigung haben kann. Auf Heilungswunder und die körperlichen Zeichen der Heiligkeit werde ich dabei nur am Rande eingehen. Als Medizinhistoriker werde ich vorzugsweise auf medizinische Beispiele im engeren Sinne zurückgreifen, auf konkrete Krankheitsschilderungen, wie sie, von Ärzten und Laien aufgezeichnet, in großer Zahl überliefert sind. Die Fragen, die sich hier stellen, die Probleme, die sich auftun, dürften freilich über weite Strecken ganz ähnliche sein wie jene, mit denen eine Geschichte der Heiligkeit im Spannungsfeld von religiösen Überzeugungen und naturwissenschaftlich begründeten Deutungen konfrontiert ist.

Spekulation Was macht die retrospektive Diagnostik zu einem derart angreifbaren Unterfangen? Zunächst: ein grundlegender Mangel, der viele, ja die meisten retrospektiven Diagnoseversuche zu Recht in die Kritik bringt, ist medizinisch-handwerklicher Natur. Viele rückschauend gestellte Diagnosen beruhen auf mangelhaften, wenn nicht gar völlig unzureichenden Informationen über das Krankheitsbild und den Krankheitsverlauf14. Die Quellen beschreiben Krankheiten oder, allgemeiner gesprochen, ungewöhnliche körperliche und seelische Phänomene selten so genau und detailliert, dass ein heutiger Arzt allein aufgrund dieser Beschreibung auch nur zu einer halbwegs eindeutigen Diagnose gelangen könnte. So brillant – und mit sichtlichem Vergnügen – die Autoren auch zuweilen alle Register ihres medizinischen Wissens ziehen mögen: das Ergebnis bleibt, in Christian Probsts Wor13 Wolfgang Uwe ECKART / Robert JÜTTE, Medizingeschichte. Eine Einführung (UTB 2903), Köln, Weimar, Wien 2007, 329–331, hier: 331. 14 Auf diesen Punkt konzentriert sich insbesondere die Kritik von KARENBERG / MOOG (wie Anm. 10).

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ten, oft „reine Spekulation“. Andere Autoren können aufgrund der exakt gleichen Schilderung zu völlig anderen, aber gleichermaßen einleuchtenden Schlüssen gelangen. Häufig liegt das bereits im Quellengenre begründet. Die retrospektive Diagnose stützt sich meist auf Texte, deren Autoren keineswegs die Absicht hatten, ein umfassendes Bild des Geschehens im medizinischen Sinne zu vermitteln. Private Briefe, Autobiographien und Chroniken beispielsweise erwähnen Krankheiten oft nur beiläufig, am Rande. Andere Texte – die Bibel bietet dafür viele Beispiele – verfolgen mit der Schilderung körperlicher oder seelischer Auffälligkeiten und Krankheiten gar ganz andere Ziele. Sie wollen, wie etwa die vielen vormodernen Berichte über die letzten Tage und Worte Verstorbener15, dem Leser eine Botschaft vermitteln, die Frömmigkeit und das geduldige Leiden des Verstorbenen hervorheben. Am ehesten entsprechen ärztliche Konsilien und Krankengeschichten heutigen Vorstellungen von einer umfassenden und exakten Beschreibung. Doch selbst sie bieten aus Sicht der modernen Medizin selten eine ausreichende diagnostische Grundlage. Mit gutem Grund verlassen sich heutige Ärzte zumindest bei ernsthafteren Erkrankungen nur selten ausschließlich auf den subjektiv gefärbten Bericht des Patienten oder seiner Angehörigen und ziehen objektivierende Verfahren hinzu wie chemische und mikrobiologische Laboruntersuchungen, Ultraschall, Röntgenaufnahmen und dergleichen.

Begriffswandel Wenn es sich selbst im Fall detaillierter ärztlicher Beschreibungen aus früheren Zeiten regelmäßig als unmöglich erweist, zu einer eindeutigen Diagnose oder Interpretation zu gelangen, so hat das freilich noch andere, tiefere Gründe. Wie wir körperliche und seelische Eigenschaften und Veränderungen in Worten beschreiben, ist stets und unausweichlich von den jeweils herrschenden Vorstellungen und Bildern vom Menschen, von der Natur, von der Welt durchdrungen und geprägt16. Schon die Begriffe, deren sich Menschen bedienen, um Krankheiten und überhaupt körperliche und seelische Phänomene zu schildern, sind historisch kontingent und lassen sich nur aus dem Wissen über ihren jeweiligen zeitgenössischen Gebrauch korrekt deuten. Das gilt selbst für elementare, scheinbar aus der unmittelbaren Anschauung gewonnene Begriffe. So erläuterten zahlreiche vormoderne Traktate über die Harnschau – das damals wichtigste Diagnoseverfahren – die einzelnen Harnfarben und ihre Bedeutung. Neben unterschiedlichen Schattierun-

15 Karl S. GUTHKE, Letzte Worte. Variationen über ein Thema der Kulturgeschichte des Westens, München 1990. 16 Gute Überblicke bei Byron J. GOOD, Medicine, Rationality and Experience. An Anthropological Perspective (The Lewis Henry Morgan Lectures 1990), Cambridge 1994; Deborah LUPTON, Medicine as Culture. Illness, Disease and the Body in Western Societies, London 1994.

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gen von Gelb und Orange gingen sie regelmäßig auch auf weißen, roten, grünen, blauen und schwarzen Harn ein17. Wer sich aber als heutiger Leser unter einem „weißen“ Harn (urina alba) einen milchigen, trüben Harn vorstellt und diesen womöglich nach heutigem Wissen mit entsprechenden Krankheitserscheinungen zu korrelieren versucht, irrt gründlich. „Weiß“, das erläuterten die damaligen Schriften immer wieder, entsprach der Farbe von klarem Quellwasser. „Weißer“ Harn war nach heutigem Verständnis also farblos und, um einen anderen zeitgenössischen Vergleich aufzugreifen, durchsichtig wie Fensterglas18. Auch Begriffe, mit denen scheinbar zeitlose Gefühle zum Ausdruck gebracht werden, unterliegen einem mitunter sogar sehr weitreichenden historischen Wandel. Wenn beispielsweise ein Mensch in einem Brief aus dem 17. Jahrhundert über „Angst“ klagt, dann kann das in etwa gleichbedeutend mit jenem Gefühl, jener Emotion sein, die wir heute mit diesem Begriff bezeichnen. Aber viele Patienten gebrauchten damals den Begriff „Angst“ vor allem, um ein körperliches Gefühl der Enge, des Drucks, der Atemnot zu beschreiben. „Angst vor der Brust“ hieß es in diesem Sinne manchmal. Tatsächlich leitet sich „Angst“ ja von dem lateinischen angustia für „Enge“ ab. Gleichzeitig wurden Emotionen damals weit stärker als heute als ein körperliches Geschehen erlebt und gedeutet. Im Falle von „Angst“ war die Verbindung besonders eng. Bezeichnend für jenen Affekt, den wir heute Angst nennen, war nach frühneuzeitlichem Verständnis, dass sich Säfte und Lebensgeister von dem beängstigenden Objekt ins Körperinnere zurückzogen. Dort drängten sie sich auf engem Raum, und die Folge war jenes Engegefühl – die Angst19. Erst recht gilt es, solche Bedeutungsverschiebungen im Umgang mit Krankheitsbegriffen zu beachten. Manchmal verändern sich Sinn und Inhalt von Krankheitsbegriffen, weil sich das Krankheitsgeschehen, auf das sie sich beziehen, als solches wandelt. Das finden wir vor allem bei Infektionskrankheiten, wenn sich, nach heutiger Erkenntnis, der Erreger und/oder die Immunlage in der Bevölkerung verändern. Viel spricht beispielsweise dafür, dass die Krankheit, die wir heute „Syphilis“ nennen, auch schon in der Frühen Neuzeit durch das Treponema pallidum verursacht wurde, das wir heute als den bakteriellen Erreger der Syphilis ansehen. Aber die Symptome, die wir im 16. Jahrhundert als Zeichen von „Syphilis“ oder „Franzosenkrankheit“ beschrieben finden, waren teilweise sehr viel dramatischer. Die Betroffenen schienen bei lebendigem Leibe zu verfaulen. Die schlichte Rede von der „Syphilis“ eines frühneuzeitlichen Patienten kann so leicht einen falschen Eindruck erwecken und den Leser eher an eine lästige, lokale Erkrankung der Geschlechtsorgane denken lassen. Der Horror der „Franzosenkrank-

17 Michael STOLBERG, Die Harnschau. Eine Kultur- und Alltagsgeschichte, Köln, Weimar, Wien 2009. 18 Ebd., 54. 19 DERS., „Zorn, Wein und Weiber verderben unsere Leiber“. Krankheit und Affekt in der frühneuzeitlichen Medizin, in: Passion, Affekt und Leidenschaft in der Frühen Neuzeit, Bd. 2 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 43), hg. v. Johann Anselm STEIGER, Wiesbaden 2005, 1051–1077.

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heit“ wird erst aus dieser damals andersartigen Qualität des Krankheitsgeschehens verständlich20. Andere Begriffe bezeichnen heute Symptome, die bei ganz unterschiedlichen Krankheiten auftreten können, wurden früher aber für umschriebene, abgrenzbare Krankheiten gebraucht. Die „Wassersucht“ ist ein wichtiges Beispiel: Sie war in der Frühen Neuzeit als eigenständige, meist tödlich endende Krankheit gefürchtet21. Viele Krankheitsbegriffe gewannen im Laufe der Zeit auch an Trennschärfe und wurden immer gezielter nur noch für ganz bestimmte Krankheitsphänomene oder Körpererscheinungen verwendet, während andere, ähnliche Phänomene mit neuen, eigenen Begriffen versehen wurden. Wenn wir beispielsweise in einer vormodernen Quelle lesen, ein Zeitgenosse sei an der „Pest“ verstorben, dann können wir nicht ohne weiteres davon ausgehen, der Betroffene sei jener durch das Bakterium Yersinia pestis erregten Krankheit erlegen, die wir heute als „Pest“ bezeichnen. Dieses Bakterium war damals noch nicht bekannt, und „Pest“ wurde oft gleichbedeutend mit „Pestilenz“ allgemein für gefährliche Seuchen gebraucht und ursächlich vorwiegend einer verdorbenen, krankmachenden „pestilentialischen“ Luft zugeschrieben22. Wieder andere Begriffe wurden gar auf neue Zusammenhänge übertragen, auf neue Sachverhalte bezogen. Der Begriff „Chlorose“ beispielsweise wurde seit dem 19. Jahrhundert weitgehend synonym mit „Blutarmut“ oder „Anämie“ gebraucht. Das könnte dazu verleiten, vormoderne Berichte über „chlorotische“ Frauen als Krankheitsberichte über Anämikerinnen misszuverstehen. Doch die frühneuzeitliche „Chlorose“ hatte mit der modernen „Anämie“ nur wenig gemein23. Die „Chlorose“ hieß im 16. und 17. Jahrhundert mit gutem Grund auch „Jungfern-Krankheit“ (morbus virgineus) oder im Englischen green-sickness. Sie wurde vor allem bei Mädchen und jungen Frauen beschrieben und von Ärzten meist auf eine Störung oder Unterdrückung der „monatlichen Reinigung“ zurückgeführt. Die damaligen Ärzte beschrieben eine Fülle von Symptomen der „Chlorose“, von denen die meisten nach heutigem Ermessen nichts mit „Blutarmut“ zu tun haben: eine nicht nur bleiche, sondern grünliche Gesichtsfarbe – daher der englische Name green-sickness, Appetitlosigkeit oder Pica24, also absonderliche 20 Vgl. den umfassenden Überblick in Jon ARRIZABALAGA / John HENDERSON / Roger FRENCH, The Great Pox. The French Disease in Renaissance Europe, New Haven, London 1997. 21 Vgl. Jean-Pierre PETER, Kranke und Krankheiten am Ende des 18. Jahrhunderts (aufgrund einer Untersuchung der Königlich-Medizinischen Gesellschaft 1774–1794), in: Biologie des Menschen in der Geschichte. Beiträge zur Sozialgeschichte der Neuzeit aus Frankreich und Skandinavien (Kultur und Gesellschaft 3), eingel., übers. u. hg. v. Arthur E. IMHOF, StuttgartBad Cannstatt 1978, 274–326, hier: 291–313. 22 Vgl. LEVEN (wie Anm. 10), 167–172. 23 Karl FIGLIO, Chlorosis and Chronic Disease in Nineteenth-Century Britain: the Social Constitution of Somatic Illness in a Capitalist Society, Social History 3 (1978), 167–197; Irvine LOUDON, The Diseases Called Chlorosis, Psychological Medicine 14 (1984), 27–36; Helen KING, The Disease of Virgins. Green Sickness, Chlorosis, and the Problems of Puberty, London 2004. 24 Zur Geschichte der Pica vgl. Kathrin ZEDLITZ, Pica: die Geschichte einer vergessenen Essstörung (Medizinhistorische Studien 2), Duisburg 2010.

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Essgelüste auf Lehm, Steine, Erde, Kohle und dergleichen, Melancholie und Wahnsinn.

Kulturgeprägte Wahrnehmung Derlei Bedeutungsverschiebungen verweisen freilich auf einen noch grundsätzlicheren Zusammenhang. Mitglieder einer bestimmten Kultur – das gilt auch für die modernen Industriegesellschaften – verabsolutieren in der Regel die jeweils eigenen Krankheits- und Körperauffassungen und verstehen sie als „objektive“ Beschreibung der natürlichen Verhältnisse. Doch Begriffe für einzelne Krankheiten und körperliche Phänomene beruhen stets bereits auf einer Abstraktionsleistung. Die Zeichen und Symptome, die wir mit einer bestimmten Krankheit verbinden, mögen weitgehend universell sein und unserer biologischen Verfasstheit entspringen. Die Zuordnung einzelner, für charakteristisch erachteter Symptome zu einer bestimmten Krankheit aber ist in hohem Maße kulturell geprägt. So fassen wir in der modernen westlichen Medizin unter dem Begriff „Herzinfarkt“ eine Reihe von charakteristischen Symptomen und diagnostischen Zeichen (spezifische EKGVeränderungen, ansteigende Konzentrationen von Herzmuskelenzymen im Blut, MRT-Befunde etc.) zusammen und führen diese ursächlich auf die krankhaften Veränderungen der Herzkranzgefäße und das daraus resultierende Absterben von Herzmuskelgewebe zurück. Mit Hilfe dieses Krankheitsbegriffs können wir „Herzinfarkte“ auf der ganzen Welt diagnostizieren. Aber wir tun das innerhalb unserer eigenen, ganz spezifischen, historisch gewachsenen Kategorien und Erklärungsmodelle. Die Diagnose „Herzinfarkt“ ist nur dann nachvollziehbar, wenn wir unsere modernen biomedizinischen Vorstellungen vom menschlichen Körper und von der Rolle und Funktionsweise des Herzens zugrunde legen. In anderen Kulturen – soweit sie sich nicht mittlerweile die Vorstellungen der westlichen Medizin zu Eigen gemacht haben – ergibt die Vorstellung von verengten oder verschlossenen Herzkranzgefäßen schlichtweg keinen Sinn. Das liegt nicht einfach daran, dass die Existenz dieser Gefäße unbekannt ist und die technischen Möglichkeiten eines EKG oder einer bildlichen Darstellung fehlen. Das Herz als solches und Erscheinungen wie Stolpern, Schmerzen oder Enge, die sich dort subjektiv bemerkbar machen können, haben hier eine ganz andere Bedeutung. Sie stehen womöglich stellvertretend für Empfindungen, die wir in unserer westlichen Kultur eher dem Bereich des Seelischen, Psychologischen zuordnen würden25. In diesem Sinne sind Krankheiten stets und unhintergehbar soziale, kulturelle Konstrukte. Sie werden in den jeweils verfügbaren, zeitgenössischen Begriffen und mit Hilfe von Metaphern und Bildern beschrieben, die ihrerseits vielfach übergreifende Körper- und Krankheitsvorstellungen und, damit verknüpft, herrschende Normen und Ideologien spiegeln.

25 Vgl. beispielsweise Byron J. GOOD, The Heart of What’s the Matter. The Semantics of Illness in Iran, Culture, Medicine and Psychiatry 1 (1977), 25–58.

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Diese unausweichliche kulturelle Prägung der Körper- und Krankheitsvorstellungen und der Begriffe, mit denen wir sie zum Ausdruck bringen, hat wiederum sehr weitreichende – und allzu oft übersehene – Folgen für die Deutung von Krankheitsschilderungen in historischen Quellen und ihre Übersetzung in moderne Krankheitsbegriffe im Sinne einer retrospektiven Diagnostik. Unterschiedliche Vorstellungen vom Körper, unterschiedliche Erklärungen für auffällige körperliche oder seelische Phänomene verleihen jeweils unterschiedlichen Empfindungen und Wahrnehmungen eine besondere Färbung und Bedeutung. Historische Schilderungen von körperlichen Phänomenen und Erfahrungen beruhen insofern stets bereits auf einer Auswahl. Beschrieben wird jeweils das, was aus zeitgenössischer Sicht, im Kontext herrschender Körper- und Krankheitsvorstellungen als besonders relevant erscheint, und in einer Weise, die diese Vorstellungen spiegelt. Um dies am konkreten Beispiel zu veranschaulichen: Bekanntlich herrschte in der Medizin des 16. und 17. Jahrhunderts die Säftelehre vor. Sie bestimmte, das lässt sich auch anhand zahlreicher Patientenbriefe und anderer Selbstzeugnisse nachweisen, die subjektive Körpererfahrung der medizinischen Laien bis ins Innerste26. Aus der Sicht von Ärzten und Laien war das körperliche Geschehen durch das Strömen der Säfte, Lebensgeister und Dämpfe im Körperinneren und über die Körpergrenzen hinweg geprägt. Für die Erhaltung der Gesundheit war vor allem die Ausscheidung von krankhaften und/oder überflüssigen Säften und Dämpfen entscheidend. Denn mit der Nahrung und über die Haut nahm der Mensch ständig rohe, unreine, verdorbene Stoffe auf. Manche ursprünglich reinen Stoffe, wie der männliche und – früher von vielen Ärzten angenommene – weibliche Same, verdarben zudem im Körperinneren. Und manchmal war auch einfach nicht genügend Platz im Körper und seinen Gefäßen. Wenn sich der Körper nicht von überschüssigen Säften befreien konnte, stockte das beständige Strömen der Säfte im Körper, oder einzelne Gefäße barsten gar. Vor diesem Hintergrund verfolgten Ärzte wie Laien Veränderungen der Ausscheidungen mit großer Aufmerksamkeit. Gestörte Ausscheidungen galten ihnen als maßgebliche Krankheitsursache, und die widernatürliche Beschaffenheit der Ausscheidungen gab zudem wichtige Aufschlüsse über die Natur von Krankheitsstoffen, von denen sich der Körper auf diese Weise befreien wollte. All dies gilt es bei der Interpretation vormoderner Quellen zu berücksichtigen. Bei Frauen beispielsweise galt damals die Periode als der wichtigste Ausscheidungsweg für unreine, verdorbene Stoffe. Entsprechend detailliert schildern Patientenbriefe und ärztliche Fallgeschichten Veränderungen oder Auffälligkeiten der Periode. Manche Frauen wandten sich schon allein deshalb an einen Arzt, weil sie glaubten, dass sich die Menge des ausgeschiedenen Monatsbluts ein wenig verringert habe oder ihre Tage nicht mehr ganz so lange dauerten wie bisher27. Nicht selten neh-

26 Michael STOLBERG, Homo patiens. Krankheits- und Körpererfahrung in der Frühen Neuzeit, Köln,Weimar,Wien 2003. 27 DERS., Erfahrungen und Deutungen der weiblichen Monatsblutung in der Frühen Neuzeit, in: Scientiae et artes. Die Vermittlung alten und neuen Wissens in Literatur, Kunst und Musik,

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men in den zeitgenössischen Berichten gar Symptome eine zentrale Stellung ein, die wir heute als völlig marginal oder irrelevant betrachten würden, die aber damals von großer Tragweite schienen – ein geringfügig verminderter Fußschweiß etwa, der nach Überzeugung des Betroffenen Leib und Leben gefährdete, weil bisher über ihn beständig faulige Krankheitsstoffe ausgeschieden worden waren. Umgekehrt müssen wir stets damit rechnen, dass Symptome, die wir heute, im Rahmen unserer modernen Krankheitskonzepte, für zentral und charakteristisch für eine bestimmte Krankheit halten, in zeitgenössischen Schilderungen allenfalls am Rande einmal erwähnt werden, weil sie im Rahmen der herrschenden Körpervorstellungen ohne Relevanz schienen oder anders gedeutet wurden. So beschrieb ein frühneuzeitlicher Patient womöglich ausführlich Farbe und Konsistenz seines Stuhls, erwähnte aber nur beiläufig oder gar nicht, dass er schwärzliches Blut nicht nur über die Hämorrhoiden verlor, sondern auch mit seinem Husten auswarf. Entscheidend war aus Sicht des Kranken die Ausscheidung des krankhaften Bluts als solche, nicht ihr Ort. Schon was überhaupt als auffällig oder ungewöhnlich, als gesund oder krankhaft, als normal oder abnorm zu gelten hat – und insofern berichtenswert erscheint – kann also von Kultur zu Kultur (und innerhalb von komplexeren Kulturen) deutlich variieren. Ein Hautausschlag beispielsweise wurde in der Frühen Neuzeit oft ausdrücklich als gesundheitsförderliche Reaktion des Körpers auf eine Krankheit begrüßt und gegebenenfalls mit Senfpflastern oder dergleichen befördert. Nach Überzeugung von Ärzten und Patienten trug er nämlich dazu bei, den Krankheitsstoff über die Haut nach außen zu entleeren, und schützte so die lebenswichtigen Organe im Körperinneren. Den stark selektiven Charakter und die kulturelle Prägung zeitgenössischer Schilderungen von Krankheits- und Körperphänomenen muss man zweifellos auch bei der Deutung und Bewertung vormoderner Berichte über körperliche Zeichen von Heiligkeit berücksichtigen. Zahlreiche frühneuzeitliche Fallgeschichten berichteten beispielsweise – bei beiden Geschlechtern28 – von einer sogenannten vikariierenden, stellvertretenden Menstruation: Wenn die weibliche Periode ausblieb oder bei Männern eine menstruationsanaloge, regelmäßige Hämorrhoidenblutung versiegte, dann suchte sich der Körper, diesen Berichten zufolge, häufig andere Wege. Selbst aus den Fingerspitzen, aus den Augen oder aus dem männlichen Glied konnte notfalls das überschüssige oder verdorbene Blut ausgeschieden werden. Das galt als außergewöhnliches, aber durchaus natürliches, medizinisch erklärliches Geschehen. Denn krankhafte oder überschüssige Materie konnte auf jedem beliebigen Weg aus dem Körper entleert werden. Vor diesem Hintergrund erschien auch die „Ausscheidung“ von Blut über die Hand- und Fußflächen, wie Bd. 2 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 38), hg. v. Barbara MAHLMANN-BAUER, Wiesbaden 2004, 913–931. 28 Zur männlichen Menstruation vgl. Gianna POMATA, Uomini mestruanti. Somiglianza e differenza fra i sessi in Europa in età moderna, Quaderni storici N.S. 27 (1992) = 79, 51–103; Michael STOLBERG, Menstruation and Sexual Difference in Early Modern Medicine, in: Menstruation. A Cultural History, hg. v. Andrew SHAIL u. Gillian HOWIE, Basingstoke, New York 2005, 90–101.

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sie von Stigmatisierten überliefert ist, aus zeitgenössischer Sicht womöglich keineswegs so unerklärlich und so wundersam wie heute, zumal wenn heftige Affekte das Blut womöglich zuvor in Wallung gebracht hatten. Überraschend, ja wundersam, waren allenfalls die Gleichzeitigkeit der Blutungen und ihre Lokalisation nach dem Ebenbild des Gekreuzigten. Analog lassen sich zeitgenössische Berichte von einer wundersamen, anhaltenden Nahrungsenthaltung oder von laktierenden Jungfrauen erst vor dem Hintergrund zeitgenössischer Vorstellungen von der Bedeutung der Ernährung richtig einordnen. Sie verwiesen weit weniger eindeutig auf eine übernatürliche Genese (oder weckten den Verdacht auf Betrug) als heute. Nahrung wurde damals noch primär als langfristiger Nachschub für aufgezehrte oder verlorene Körpersubstanz begriffen und nicht als Ersatz für die tagtäglich verbrauchte Energie. Insofern schien auch ein länger währender Nahrungsverzicht auf natürliche Weise erklärlich, zumal bei Frauen, von denen es schon bei Galen hieß, sie bewegten sich weniger als Männer29. Wenn die Muttermilch, wie die Ärzte lange annahmen, aus dem Blut stammte, das nach der Geburt von der Gebärmutter zu den Brüsten strömte, dann war wiederum durchaus vorstellbar, dass solches Blut gelegentlich auch ohne eine vorherige Niederkunft zur Brust strömte und dort bei einer Jungfrau zur Milch wurde. Und wenn der Schweiß unmittelbar aus kleinsten Gefäßen in der Haut nach außen trat, dann war es nur logisch anzunehmen, dass der Schweiß auch blutig sein konnte, wenn sich die Poren der Haut ausreichend weiteten30. Andere körperliche Phänomene erschienen dagegen im Kontext zeitgenössischer Körpervorstellungen wundersamer und unerklärlicher als heute und konnten so gegebenenfalls, mehr noch als heute, als Ausweis der Heiligkeit dienen. Wenn der Schweiß und die Ausdünstungen aus den Poren der Haut vor allem der Entleerung von verdorbenem Unrat dienten, war es um so bemerkenswerter, wenn ein Mensch über seine Haut wohlriechende Düfte verströmte. Und angesichts der Allgegenwart von Fäulnis und Verderbnis, selbst im lebendigen Körper, musste es als höchst wundersam und als besondere Auszeichnung erscheinen, wenn der Körper eines Menschen nach seinem Tod nicht sofort in Verwesung verfiel und üblen Gestank freisetzte oder womöglich sogar wohlriechende Düfte verströmte.

Epochengebundene Syndrome Wie und auf welche Weise körperliche und seelische Veränderungen in historischen Texten beschrieben werden, hängt also in hohem Maße von der jeweiligen Kultur, den herrschenden Vorstellungen und Bildern vom Körper und seinen Krankheiten ab. Wenn wir die Ergebnisse einschlägiger kulturanthropologischer Arbeiten auf die historische Arbeit übertragen, so müssen wir freilich noch einen 29 Zum komplexen Gewebe unterschiedlicher Deutungsmuster vgl. PULZ (wie Anm. 9). 30 Johann Jakob JANTKE [Präs.], De sudore sanguineo, [Resp.:] Christoph Wilhelm BAIER, Altdorfii 1737.

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Schritt weitergehen. Wir müssen davon ausgehen, dass die jeweils herrschenden Krankheits- und Körperkonzepte die zeitgenössische Wahrnehmung nicht nur in eine bestimmte Richtung lenkten und lenken, sondern in manchen Fällen bestimmte körperliche und, nach heutigem Verständnis, seelische Symptome oder Wahrnehmungen überhaupt erst hervorbringen oder ihnen zumindest ihre spezifische Gestalt geben können. Die medizinische Kulturanthropologie spricht in diesem Zusammenhang von culture-bound syndromes oder „kulturgebundenen Syndromen“. Gemeint sind damit Beschwerdemuster oder Verhaltensauffälligkeiten, die weitgehend auf eine Kultur oder einen Kulturkreis beschränkt sind. Der Begriff stammt ursprünglich aus der transkulturellen Psychiatrie31 und bezieht sich insbesondere auf Phänomene, welche die moderne westliche Medizin psychopathologisch deutet. Ein bekanntes Beispiel dafür ist das südostasiatische Koro. Es ist gekennzeichnet durch eine – manchmal innerhalb einer bestimmten Bevölkerungsgruppe sogar epidemisch auftretende – Angst davor, dass sich die Genitalien ins Körperinnere zurückziehen, mit potentiell tödlichen Folgen32. Ein anderes bekanntes Phänomen dieser Art ist die arktische Hysterie bei den Inuit, gekennzeichnet unter anderem durch unkontrolliertes Schreien, Depression, Unempfindlichkeit auch gegen extreme Kälte und Echolalie, also das sinnlose Wiederholen von gehörten Wörtern33. Der Begriff der culture-bound syndromes ist nicht unumstritten. Es hat sich gezeigt, dass sich derlei Syndrome – beispielsweise genitale Retraktionsängste – zumindest in verwandter Form zuweilen in mehreren Kulturen finden. Zudem ist letztlich jede Krankheit, im oben skizzierten Sinne, in ihrem Ausdruck und ihrer Beschreibung kulturell überformt und insofern „kulturgebunden“. Auch wenn sich „kulturgebundene Syndrome“ nicht klar von kulturübergreifend auftretenden, aber stets in einem spezifischen kulturellen Kontext wahrgenommenen, erlebten und beschriebenen Krankheiten unterscheiden lassen, erscheint der Begriff dennoch hilfreich. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf Krankheitsbilder und vor allem auf Erlebens- und Verhaltensauffälligkeiten, bei denen Kultur und Gesellschaft einen überragenden Einfluss bereits auf die Genese der wahrgenommenen Phänomene und nicht nur auf deren Beschreibung und Deutung haben. Solche „kulturgebundenen“ oder, wie ich sie in diesem Fall nennen möchte, „epochengebundenen Syndrome“ finden sich auch in unserer eigenen Geschichte. Ein gutes Beispiel sind die Vapores oder Vapeurs und die Suffocatio uterina, die „Hysterie“. Die Vapores waren eines der wichtigsten Krankheitskonzepte der Frühen Neuzeit. Im Körper war nach herrschender Überzeugung eine starke innere Hitze wirksam. Diese war insbesondere für die Verkochung der Nahrung wichtig – man stellte sich die Nahrungsassimilation ähnlich vor wie das Kochen von Essen auf einem Ofen. Wenn die Hitze sehr stark war, dann konnten die Nah31 Pow Ming YAP, Koro – A Culture-Bound Depersonalization Syndrome, British Journal of Psychiatry 111 (1965), 43–50. 32 Ebd. 33 S[eymour] PARKER, Eskimo Psychopathology in the Context of Eskimo Personality and Culture, American Anthropologist 64 (1962), 76–96.

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rungsmittel – aber auch die Körpersäfte – verdampfen oder regelrecht verbrennen. Dann stiegen im Körper Dämpfe oder Rauchschwaden nach oben und sammelten sich gegebenenfalls unter der Schädelkalotte an, wo sie Kopfschmerzen und Schwindel und manchmal sogar düstere Wahnbilder hervorriefen. Das Frappierende an diesen Vorstellungen ist rückblickend das Ausmaß, in dem sie die scheinbar naturgegebenen körperlichen Wahrnehmungen der Menschen beeinflussten. Immer wieder schrieben Patienten, dass sie ganz buchstäblich, körperlich fühlten, wie in ihrem Körperinneren heiße Dämpfe aufstiegen, sich schließlich in ihrem Schädel ausbreiteten und ihn schier platzen ließen. Das vorgängige, zumindest unter gebildeteren Laien allgemein bekannte Erklärungsmodell der aufsteigenden Dünste brachte hier also offenbar als naturgegeben erlebte körperliche Empfindungen hervor, die wir bei heutigen Patienten in dieser Form nicht mehr finden34. Ein noch drastischeres Beispiel hierfür ist die Hysterie. Sie wurde traditionell auf ein Aufsteigen der Gebärmutter zurückgeführt, die aufs Zwerchfell drückte, den Atem nahm und schließlich womöglich wie ein Kloß im Hals saß – das waren denn auch die typischen Symptome der Hysterie. Die Ärzte verabschiedeten sich seit dem 16. Jahrhundert zunehmend von diesem Erklärungsmodell und erklärten die Hysterie zur Nervenkrankheit. Aber in der breiten Bevölkerung blieb das Bild der beweglichen Gebärmutter lebendig, und tatsächlich konnten einzelne Frauen, wie sie schrieben, ganz konkret „spüren“, wie ihre Gebärmutter aus dem Bauch nach oben, in den Brustraum und schließlich in den Hals, aufstieg. Unter den gebildeten Schichten breitete sich im 18. Jahrhundert wiederum die neue Auffassung der Hysterie als Nervenkrankheit aus; überhaupt wurden die reizbaren Nerven in diesen Schichten nun zu einer der wichtigsten Erklärungskategorien. Prompt finden wir nunmehr Frauen, die nicht nur über die extreme Reizbarkeit ihrer Nerven klagen, welche schon das Knarzen eines Stuhls zum Auslöser eines Nervenanfalls werden ließ, sondern die auch über körperliche Empfindungen an den Nerven selbst berichteten: wie ihre Nerven sich zusammenzögen, zitterten und dergleichen, gerade so, als wären die Nerven wie dünne Saiten oder Seile, die den Körper durchzogen35. Wenn wir aufgrund einer solchen Beschreibung „zitternder Nerven“ eine Parkinsonsche Krankheit diagnostizieren wollten, so würden wir zwangsläufig Unsinn produzieren.

Der Körper als Ausdrucksmittel Bisher stand vorwiegend der Einfluss medizinischer Begriffe und Konzepte, der medizinisch geprägten Körper- und Krankheitsvorstellungen auf die Entstehung, Wahrnehmung und Deutung von Krankheiten im Mittelpunkt. Aber natürlich prägen auch vielfältige andere kulturelle Einflüsse die Entstehung, Erfahrung und Kommunikation von ungewöhnlichen körperlichen und seelischen Phänomenen. 34 Vgl. STOLBERG, Homo patiens (wie Anm. 26), 192–194 u. 233–239. 35 Ebd.

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Der Körper hat stets auch einen Zeichencharakter, fungiert als symbolisches Ausdrucksmittel. Im Falle der kultur- oder epochengebundenen Syndrome übermitteln die Symptome nicht selten zugleich eine unausgesprochene Botschaft. Medizinsoziologen und Kulturanthropologen haben in diesem Sinne kulturgebundene Syndrome wie die lateinamerikanischen „Nervios“ auf die Somatisierung von kollektiven leidvollen Erfahrungen und Konflikten zurückgeführt und sie als „idioms of distress“ gedeutet36. Zumal wenn Menschen ihr Leiden an den gegebenen familiären, sozialen oder politischen Umständen aufgrund herrschender Normen und Tabus nicht unmittelbar sprachlich äußern dürfen, neigen sie offenbar dazu, sie körperlich zum Ausdruck zu bringen. Das Ausmaß, in dem bestimmte Kulturen die Verbalisierung von seelischem Leiden (im modernen westlichen Sinne) erschweren und solche Somatisierungsprozesse fördern, kann von Kultur zu Kultur und zwischen den Schichten einer bestimmten Gesellschaft stark variieren und ist als weitere Einflussgröße auch bei der Deutung historischer Beschreibungen zu berücksichtigen37. Die symbolische Ausdruckskraft körperlicher Erscheinungen beschränkt sich freilich nicht auf die Somatisierung „unaussprechlicher“ negativer Erfahrungen und Gefühle. Der Körper kann auch als Medium der Distinktion genutzt und von der Mitwelt als solches verstanden werden38. Beispielsweise wurde im ausgehenden 18. Jahrhundert die Aufmerksamkeit für die Anzeichen einer besonderen „Reizbarkeit“ insbesondere unter den Frauen der französischen Oberschichten dadurch sehr gefördert, dass „Reizbarkeit“ und „Sensibilität“ zunächst sehr positiv besetzt waren. Sie waren mit Bildern von Raffinesse verknüpft, von emotionaler Tiefe und der Fähigkeit, das Leiden anderer mitzufühlen. Die Sensibilität konnte insofern auch als ein willkommenes Distinktionsmerkmal dienen: wer so sensibel war, dass schon das Rascheln eines Blattes einen Nervenanfall provozierte, der hob sich von den als roh, gefühllos und barbarisch verachteten Unterschichten ab. Das heißt keineswegs, dass die betroffenen Männer und Frauen diese Symptome bewusst eingesetzt hätten, auch wenn Spötter ihnen das zuweilen vorwarfen39. Im Gegenteil, die Frauen litten subjektiv sehr unter ihren Beschwerden. In dem Maße, in dem sich auch die weniger gebildeten Schichten das Modell der Nervenleiden zu Eigen machten, verloren diese allerdings ihre distinguierende Funktion.

36 Peter J. GUARNACCIA / Pablo FARIAS, The Social Meanings of Nervios. A Case Study of a Central American Woman, Social Science and Medicine 26 (1988), 1123–1231; Gender, Health, and Illness. The Case of Nerves, hg. v. Dona Lee DAVIS u. Setha M. LOW, New York 1989. 37 Arthur KLEINMAN / Joan KLEINMAN, Somatization: The Interconnections in Chinese Society among Culture, Depressive Experiences, and Meanings of Pain, in: Culture and Depression. Studies in the Anthropology and Cross-Cultural Psychiatry of Affect and Disorder, hg. v. Arthur KLEINMAN u. Byron GOOD, Berkeley [u. a.] 1985, 429–490. 38 Grundlegend zur Soziologie der Distinktion: Pierre BOURDIEU, Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (stw 658), übers. v. Bernd SCHWIBS u. Achim RUSSER, Frankfurt a. M. 1987. 39 Claude PAUMERELLE, La philosophie des vapeurs ou correspondance d’une jolie femme, Paris 1784.

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Prompt finden wir unter den gebildeten Frauen im frühen 19. Jahrhundert kaum mehr derart dramatische Schilderungen von Zeichen nervöser Reizbarkeit40. Körperlichen Zeichen der Heiligkeit kommt eine solche distinguierende Funktion in ganz herausragender Weise zu. Den Betroffenen und ihrer Mitwelt war dies zweifellos in vielen Fällen bewusst. Stets müssen wir insofern damit rechnen, dass beispielsweise nur vage angedeutete Flecken an den Handflächen bereits als Stigmata beschrieben und zum begehrten Beweis der Heiligkeit, der Auszeichnung durch Gott, erklärt wurden. Mehr noch, das Wissen um die Bedeutung bestimmter körperlicher Phänomene und Empfindungen als Zeichen der Heiligkeit könnte diese, im Sinne eines epochengebundenen Syndroms, überhaupt erst hervorgebracht haben: das Gefühl, in der Luft zu schweben, wie bei der Levitation, eine (nach modernem Verständnis) eng begrenzte Gefäßerweiterung an den Händen und Füßen als körperliches Substrat von Stigmata oder auch plötzliche Einschränkungen der Sinnesfähigkeiten, um zum Damaskuserlebnis zurückzukehren.

Relevanz Auf mehreren Ebenen erweist sich das Bemühen um eine retrospektive Diagnostik anhand historischer Texte somit als ein sehr schwieriges, problembehaftetes Unterfangen. Die hochgradige kulturelle und historische Kontingenz von Krankheitsbeschreibungen aus vergangenen Jahrhunderten wirft jedoch nicht nur grundlegende Zweifel an der Validität der retrospektiven Diagnosen auf. Sie stellt auch den Sinn dieses Bemühens als solches in Frage. Es fällt schwer, irgendeinen Erkenntnisgewinn darin zu sehen, dass wir das Damaskuserlebnis auf eine Keratitis zurückführen, ein Mädchen, das nach monatelanger Nahrungsabstinenz als Heilige verehrt wurde, als frühes Opfer einer Anorexia nervosa identifizieren oder religiöse Visionen als psychopathologisches Geschehen deuten. Der reduktionistische Versuch, körperliche und seelische Phänomene in moderne medizinische Begriffe zu übersetzen, droht hier vielmehr den Blick auf das Eigentliche zu verstellen, auf die erlebte Wirklichkeit, die spezifische kulturelle Bedeutung, den symbolischen Ausdrucksgehalt eines wundersamen Fastens beispielsweise. Nur daraus werden die Reaktionen der Betroffenen und ihrer Umwelt verständlich, so dass die Untersuchung solcher Phänomene wiederum ein Licht auf die jeweilige Kultur und Gesellschaft insgesamt werfen kann.

Schluss Die Übersetzung historischer Schilderungen von Krankheiten und anderen körperlichen Erscheinungen in die Begriffe und Erklärungskonzepte der modernen Medizin, so hat sich gezeigt, birgt aufgrund der oft vagen und selektiven, hochgradig kulturell geprägten Darstellung die Gefahr gravierender Fehldeutungen auf medi40 STOLBERG, Homo patiens (wie Anm. 26), 213–260.

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zinischer Ebene. Sie führt zudem, selbst dort, wo sie im Einzelfall plausibel erscheint, regelmäßig zu irrelevanten, ja irreführenden Ergebnissen. Ist also die retrospektive Diagnostik grundsätzlich verfehlt und als medizinhistorischer Kunstfehler zu verurteilen? Angesichts einer Flut einschlägiger Veröffentlichungen, vor allem in medizinischen Fachzeitschriften, mit mehr oder weniger haltlosen, unsinnigen Spekulationen über die mutmaßlichen Todesursachen historischer Persönlichkeiten, hätte eine generelle Absage an jeglichen Versuch einer retrospektiven Diagnose zweifellos etwas Befreiendes. Doch macht es sich eine solche radikale Absage, bei aller berechtigten Kritik, zu einfach. Die Gefahr, dass retrospektive Diagnosen reine Spekulation bleiben oder aus der starken kulturellen Prägung von Krankheitswahrnehmung und Krankheitsbeschreibung gravierende Fehldiagnosen resultieren, ist zwar erheblich. Sie ist jedoch ganz offensichtlich nicht in allen Fällen gleich groß. Manche Krankheiten und körperliche Phänomene zeichnen sich – nach heutigem Verständnis – weit mehr als andere durch bestimmte, epochen- und kulturübergreifend als auffällig und erwähnenswert erlebte Merkmale aus. Wenn beispielsweise von einer Frau im 17. Jahrhundert berichtet wird, sie habe einen rasch wachsenden Knoten in ihrer Brust gespürt, die Brust sei schließlich, mit übelriechenden Absonderungen, geschwürig zerfallen, sie habe zunehmend an Gewicht verloren, schließlich über massive Schmerzen im Rücken geklagt und sei ihrer Krankheit nach einem knappen Jahr erlegen, so ist die Wahrscheinlichkeit zumindest sehr hoch, dass die Frau nach modernem Verständnis an einem Mammakarzinom verstarb. Auf jeden Fall ist sie unvergleichlich viel höher als die eines tödlichen Magengeschwürs oder Hirntumors. Auf vergleichsweise sichererem Boden stehen auch retrospektive Diagnosen, die sich auf eine Fülle ähnlicher oder fast gleichlautender, typischer Krankheitsbeschreibungen stützen können. Wenn es während einer der großen Choleraepidemien des 19. Jahrhunderts von einzelnen Zeitgenossen hieß, sie seien an der Cholera verstorben, so ist diese Aussage stets mit einem Fragezeichen zu versehen. Schließlich war die Cholera in solchen Zeiten die naheliegende Diagnose, wenn jemand plötzlich verstarb. Dass aber zumindest eine große Zahl der damaligen „Choleratoten“ auch nach heutigen Maßstäben der Cholera zum Opfer fiel, ist angesichts zahlreicher Beschreibungen der – nach modernem Verständnis der Cholera typischen – massiven, dünnflüssigen Durchfälle zumindest sehr wahrscheinlich. In manchen Fällen lassen gar paläopathologische Verfahren kaum mehr Zweifel an der retrospektiven Diagnose, etwa beim Nachweis von hohen Arsenkonzentrationen oder von typischen, pathognomonischen Krankheitsveränderungen in den Knochen wie beim Plasmozytom oder einer Wirbelsäulentuberkulose41. Die neuen Verfahren einer molekulargenetischen Untersuchung der Zahn-

41 Arthur C. AUFDERHEIDE / Conrado RODRÍGUEZ-MARTÍN, The Cambridge Encyclopedia of Human Paleopathology, Cambridge 1998, 135.

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pulpa haben die Möglichkeiten einer paläopathologisch begründeten retrospektiven Diagnose nochmals erheblich erweitert42. Manchmal kann die retrospektive Diagnostik also durchaus zu Ergebnissen gelangen, deren Validität der von anderen, weithin akzeptierten Rekonstruktionen historischer „Tatsachen“, etwa der Chronologie bestimmter Ereignisse, durchaus gleichkommt. Es bleibt die Frage der Relevanz. Welchen Sinn hat es, wenn wir die Krankheiten und Befindlichkeiten historischer Persönlichkeiten in moderne diagnostische Begriffe zu übersetzen suchen, die der zeitgenössischen Erfahrung und Deutung dieser Krankheiten und Befindlichkeiten in keiner Weise gerecht werden? Dazu ist zunächst zu sagen, dass retrospektive Diagnostik nicht schon allein deshalb zu verwerfen ist, weil sie sich einer anachronistischen Begrifflichkeit bedient. Diese Kritik übersieht, dass es das Kerngeschäft jeglicher Geschichtsschreibung ist, Vergangenes zu vergegenwärtigen und heutigen Lesern verständlich zu machen. Das erfordert zwangsläufig eine Übersetzungsarbeit zwischen zwei letztlich inkommensurablen Wahrnehmungs-, Deutungs- und Erfahrungswelten. In der heutigen Geschichtsschreibung gängige Begriffe wie „symbolisches Kapital“, „Professionalisierung“ oder „Subalternität“ wären in jenen früheren Epochen, auf die wir sie beziehen, schlichtweg unverständlich gewesen. Mit der Weiterentwicklung der theoretischen Diskussion wird sich auch ihre Bedeutung, wie die von Krankheitsbegriffen, voraussichtlich verändern. Dennoch können sie in der Gegenwart durchaus hilfreich sein, wenn es gilt, bestimmte historische Phänomene im Rahmen heutiger Fragestellungen analytisch zu fassen und einer zeitgenössischen Leserschaft zu vermitteln. Entscheidend für die Relevanz, die erkenntnisfördernde oder -hemmende Rolle retrospektiver Diagnosen, so ist zu folgern, ist die jeweilige Fragestellung. Historische Analysen zielen meist auf die Rekonstruktion zeitgenössischer Erfahrungen, Deutungen und Praktiken. Sie wollen vergangene Wirklichkeiten wieder lebendig werden lassen, das Erleben und Handeln der Zeitgenossen begreifbar machen. Gerade dies leistet eine Übersetzung in moderne medizinische Begriffe nicht. Sie vermittelt ein falsches Bild. Allerdings kann die retrospektive Diagnose, wenn man sich ihrer Grenzen bewusst bleibt, in bestimmten Fällen heuristisch nützlich sein, indem sie es erlaubt, die Bedeutung kultureller Einflüsse abzuschätzen. Wenn die moderne Medizin bestimmte Phänomene nicht sinnvoll erklären kann, wenn diese sich gar nur in einzelnen Kulturen oder Epochen nachweisen lassen, dann liegt die Annahme nahe, dass hier in besonderem Maße soziokulturelle Einflüsse wirksam waren, die es zu bestimmen gilt. Die breit rezipierte Kampagne gegen die gesundheitlichen Gefahren der sexuellen Selbstbefriedigung im 18. und 19. Jahrhundert, damals durch dramatische Fallgeschichten illustriert, ist dafür ein gutes Beispiel. Da wir die Masturbation heute nicht mehr für die Ursache von Krampfanfällen, Schwindsucht und dergleichen halten, können wir die zeitgenössischen Warnungen und Ängste noch präziser und differenzierter auf den 42 Dennis H. O’ROURKE / M. Geoffrey HAYES / Shawn W. CARLYLE, Ancient DNA-Studies in Physical Anthropology, Annual Review of Anthropology 29 (2000), 217–242.

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soziokulturellen Kontext zurückführen43 als beispielsweise die Ansteckungsängste in Zeiten von Pest und Cholera, die nach heutigem Dafürhalten immerhin eine „reale“ Grundlage hatten. Bei bestimmten historischen Fragestellungen treten Krankheiten und/oder körperliche Phänomene zudem als eigenständige, naturgegebene Bestimmungsfaktoren auf und werden gleichsam selbst zu historischen Akteuren44. Wenn beispielsweise jemand wissen will, ob die Tuberkulose um 1800 vorwiegend eine Krankheit der Armen war und deren Lebensbedingungen die Krankheit förderten, so ist dies eine legitime historische Frage. Und sie lässt sich sinnvoll nur dann beantworten, wenn man die zeitgenössischen, durch andersartige Körper- und Krankheitsvorstellungen überformten Beschreibungen von „Schwindsüchtigen“ mit heute akzeptierten Vorstellungen von der Tuberkulose in Beziehung setzt. Zumindest ein großer Teil der „Schwindsüchtigen“ mit blutigem Auswurf, Fieber, Nachtschweiß und zunehmendem Gewichtsverlust dürfte nach heutigen Begriffen an einer Lungentuberkulose gelitten haben. Auch wer den langfristigen Wandel der vorherrschenden Krankheiten und Todesursachen und Phänomene wie den sogenannten „epidemiologischen Übergang“ untersuchen will – beispielsweise als möglichen Vergleichsmaßstab für Entwicklungen in der sogenannten Dritten Welt –, ist gezwungen, eine Bewertung und Einordnung der zeitgenössischen Schilderungen und Diagnosen nach heutigen medizinischen Kriterien vorzunehmen, um zu entscheiden, welche zeitgenössischen Diagnosen sich im heutigen Sinne ansteckenden Krankheiten zuordnen lassen. Aus zeitgenössischen Schilderungen von individuellen Krankheitsepisoden oder körperlichen Befindlichkeiten einzelner historischer Zeitgenossen eine einigermaßen klare moderne Diagnose abzuleiten ist sehr viel problematischer. Jegliche Relevanz lässt sich aber auch solchen Bemühungen nicht absprechen. Aus musikhistorischer Sicht kann es durchaus angebracht sein, möglichst genaue Aufschlüsse über das Gehörleiden Ludwig van Beethovens zu erhalten, um abschätzen zu können, wie stark und auf welche Weise es sich auf seine Kompositionen ausgewirkt haben könnte45. Das Wissen, ob ein Medicifürst seinen Bruder vergiftete oder ob dieser eines natürlichen Todes starb, kann zweifellos ein Licht auf die Herrschaftsverhältnisse im Florenz des Cinquecento werfen46. Wenn sich aufgrund des Berichts des Leibarztes der schwedischen Königin – und gegebenen43 Vgl. Michael STOLBERG, An Unmanly Vice: Self-Pollution, Anxiety, and the Body in the Eighteenth Century, Social History of Medicine 13 (2000), 1–21. 44 Vgl. hierzu den weitgefassten Akteursbegriff der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT); guter Überblick mit grundlegenden, programmatischen Texten der führenden Vertreter der ANT bei ANThology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, hg. v. Andréa BELLIGER u. David J. KRIEGER, Bielefeld 2006. 45 Vgl. aus ärztlicher Sicht Hans-Peter ZENNER, Beethovens Taubheit: „Wie ein Verbannter muß ich leben“, Deutsches Ärzteblatt, Ausgabe A, 99 (2002), 2762–2766. 46 In Florenz werden seit einigen Jahren die Leichen der Medici systematisch paläopathologisch untersucht (http://www.med.unifi.it/segreteria/progettomedici/) und zu einschlägigen zeitgenössischen Dokumenten in Beziehung gesetzt.

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falls einer chemischen Analyse des Schädels – tatsächlich erhärten ließe, dass Descartes von seinen philosophischen Gegnern kurz nach der Ankunft am schwedischen Hof mit Arsen vergiftet wurde47, so würde das zumindest die Intensität der Auseinandersetzungen unterstreichen. Und für die Vertreter der katholischen Kirche und ihre Gläubigen ist die skeptische Frage bis heute unverzichtbar, ob die Krankheit eines in früheren Zeiten angeblich wundersam geheilten Krebskranken tatsächlich ein „Krebs“ im modernen Sinne war. Nur dann kann die unerwartete Genesung nach dem Gebet eines als heilig Verehrten womöglich als ein Wunder gelten, denn Wunder sind definitionsgemäß Geschehnisse, die die Grenzen des natürlich Möglichen überschreiten48. Käme man aber zu der Schlussfolgerung, es habe sich lediglich um eine lokale Entzündung gehandelt, so wäre weit eher eine Spontanheilung zu vermuten. Zusammenfassend lässt sich also feststellen: retrospektive Diagnosen sind in den meisten Fällen sehr problematisch. Sie bergen ein hohes Risiko anachronistischer Fehldeutungen, tragen zum historischen Erkenntnisgewinn nur selten Substantielles bei und stehen ihm häufig sogar im Wege. Für bestimmte Fragestellungen kann der Versuch einer Übersetzung in moderne medizinische Begriffe und Konzepte dennoch sinnvoll sein. Dies setzt allerdings große Sorgfalt und professionelle Expertise voraus, auf der medizinisch-handwerklichen Ebene, vor allem aber auch, wenn ein paläopathologischer Nachweis ausgeschlossen ist, im Sinne einer kontextualisierenden Quelleninterpretation. Der Einfluss der Darstellungskonventionen unterschiedlicher Quellengenres und die möglichen, unausgesprochenen Intentionen und Vorlieben der Verfasser einschlägiger Beschreibungen müssen dabei ebenso berücksichtigt werden wie die unausweichlich kulturell geprägte, selektive Wahrnehmung und Schilderung der betreffenden Phänomene oder Symptome. Um historische Beschreibungen sachgerecht einordnen zu können, muss man die je zeitgenössische Begrifflichkeit, die herrschenden Vorstellungen vom Menschen und seinem Körper, die Bilder und Werturteile, die sich mit einzelnen körperlichen und seelischen Phänomenen verbanden, und allgemein den kulturellen und politischen Kontext kennen49. Andernfalls droht ein historiographischer Kunstfehler par excellence.

47 PIES (wie Anm. 4); die Gerüchte gingen unmittelbar nach Descartes’ Tod um; Pies stützt seine These auf einen in Abschrift überlieferten Brief des königlichen Leibarztes Wullen in der Leidener Universitätsbibliothek, der die letzten Tage Descartes’ schildert. 48 Vgl. ANTONELLI (wie Anm. 8), 3: „Miraculum siquidem est factum aliquod sensibile, quod naturae vires excedit et proinde a Deo tantum fieri potest.“ 49 Die Konsequenzen scheint man mittlerweile, zumindest im Einzelfall, auch von kirchlicher Seite in Selig- und Heiligsprechungsverfahren zu ziehen, wenn zur Beurteilung von Heilungswundern aus früheren Zeiten ein medizinhistorisches Gutachten eingeholt wird, das die zeitgenössischen Schilderungen der Krankheit, der vergeblichen Behandlungsversuche und der schließlichen Genesung aus der Kenntnis der zeitgenössischen medizinischen Begriffe, Theorien und Praktiken heraus einzuordnen versucht, um so ein möglichst genaues Bild des Krankheits- und Heilungsgeschehens in heutigen Begriffen zu gewinnen (persönliche Mitteilung von Prof. Heinz Schott, Bonn).

BEITRÄGE ZUR HAGIOG RAPHIE

Herausgegeben von Dieter R. Bauer, Klaus Herbers, Volker Honemann und Hedwig Röckelein.

Franz Steiner Verlag

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ISSN 1439–6491

Dieter R. Bauer / Klaus Herbers (Hg.) Hagiographie im Kontext Wirkungsweisen und Möglichkeiten historischer Auswertung 2000. XXVIII, 288 S. mit 2 Abb. und 1 Kte., kt. ISBN 978-3-515-07399-8 Anke Krüger Südfranzösische Lokalheilige zwischen Kirche, Dynastie und Stadt vom 5. bis zum 16. Jahrhundert 2001. 398 S., geb. ISBN 978-3-515-07789-7 Martin Heinzelmann / Klaus Herbers / Dieter R. Bauer (Hg.) Mirakel im Mittelalter Konzeptionen, Erscheinungsformen, Deutungen 2002. 492 S., kt. ISBN 978-3-515-08061-3 Charles Mériaux Gallia irradiata Saints et sanctuaires dans le nord de la Gaule du haut Moyen Âge 2006. 428 S. mit 10 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08353-9 Dieter R. Bauer / Klaus Herbers / Gabriele Signori (Hg.) Patriotische Heilige Beiträge zur Konstruktion religiöser und politischer Identitäten in der Vormoderne 2007. 405 S., kt. ISBN 978-3-515-08904-3 Berndt Hamm / Klaus Herbers / Heidrun Stein-Kecks (Hg.) Sakralität zwischen Antike und Neuzeit

2007. 294 S. mit 27 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08903-6 7. Uta Kleine Gesta, Fama, Scripta Rheinische Mirakel des Hochmittelalters zwischen Geschichtsdeutung, Erzählung und sozialer Praxis 2007. XVI, 481 S. mit 6 Abb. und 6 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-08468-0 8. Dieter R. Bauer / Klaus Herbers / Hedwig Röckelein / Felicitas Schmieder (Hg.) Heilige – Liturgie – Raum 2010. 293 S. mit 35 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09604-1 9. Christofer Zwanzig Gründungsmythen fränkischer Klöster im Früh- und Hochmittelalter 2010. 539 S. mit 10 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09731-4 10. Sofia Meyer Der heilige Vinzenz von Zaragoza Studien zur Präsenz eines Märtyrers zwischen Spätantike und Hochmittelalter 2012. 383 S., kt. ISBN 978-3-515-09068-1 11. Waltraud Pulz (Hg.) Zwischen Himmel und Erde Körperliche Zeichen der Heiligkeit 2012. 227 S. mit 28 Abb., kt. ISBN 978-3-515-10283-4

Heiligkeit ist heute zumeist mit einer moralisch vorbildlichen Lebensführung verbunden; ihre Konstruktion mittels physischer Zeichen ist selten geworden. Im Rahmen von Konzeptionen, in denen körperliche und spirituelle Zustände eine Einheit bilden, können somatische Erscheinungen als Gnadenerweise begriffen werden und Heiligkeit manifestieren. Nirgends wird deutlicher als am Beispiel der Stigmata, wie eng äußerlicher und innerlicher Nachvollzug der Leiden Christi in der historischen Wirklichkeit zusammengehören. Inneres Geschehen und körperliche Vorgänge sind bis weit in die Frühe Neuzeit hinein miteinander verwoben – in

der Gliederung dieses Bands nur deshalb analytisch getrennt, um sie wieder in ihrer Verschränkung zusammenzudenken. Insbesondere die von der männlichen Kultur in historisch je spezifischer Weise als Körpermaterie begriffenen Frauen machten den eigenen Körper durch Selbstmodellierung zum Ort der Inkarnation des Göttlichen. Durch diese Vergöttlichung des Fleisches, durch die Spiritualisierung von Materiellem wie auch die Materialisierung von Spirituellem, kommt die enge Verflechtung von Körper und Wort zum Ausdruck – auch in ihrer politischen Dimension.

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ISBN 978-3-515-10283-4