Wut auf Differenz: Kritische Theorie und die Kritik des Rassismus 9783839470435

Rassismus ist ein unerledigtes Problem moderner Gesellschaften. Das Ineinander von Rationalität und Irrationalität präde

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German Pages 378 [401] Year 2023

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Wut auf Differenz: Kritische Theorie und die Kritik des Rassismus
 9783839470435

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Ulrike Marz Wut auf Differenz

Sozialtheorie

Editorial Der »State of the Art« der Soziologie ist in Bewegung: zum einen durch einen tiefgreifenden Strukturwandel der (Welt-)Gesellschaft, zum anderen durch einen Wandel ihres eigenen kognitiven Repertoires, der alte theoretische Frontstellungen durch neuere Sichtweisen auf Gesellschaft und Sozialität ergänzt. Die Reihe Sozialtheorie präsentiert eine Soziologie auf der Höhe der Zeit: Beiträge zu innovativen Theoriediskussionen stehen neben theoriegeleiteten empirischen Studien zu wichtigen Fragen der Gesellschaft der Gegenwart.

Ulrike Marz (Dr. habil.), geb. 1976, vertritt im Wintersemester 2023/24 den Lehrstuhl für Soziologische Theorien und Theoriegeschichte der Universität Rostock und war 2018 Gastprofessorin für Kritische Gesellschaftsforschung an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die frühe Kritische Theorie sowie Theorien des Rassismus und Antisemitismus.

Ulrike Marz

Wut auf Differenz Kritische Theorie und die Kritik des Rassismus

Habilitation Der Druck wurde unterstützt durch das »Professorinnenprogramm III des Bundes und der Länder« an der Universität Rostock.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-n b.de abrufbar.

© 2023 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839470435 Print-ISBN: 978-3-8376-7043-1 PDF-ISBN: 978-3-8394-7043-5 Buchreihen-ISSN: 2703-1691 Buchreihen-eISSN: 2747-3007 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.

Inhalt

1 1.1 1.2 1.3 1.4

Wo anfangen? Zur Einleitung .............................................................. 7 Begriff und Sache – Substanz und Prozess ................................................. 10 Die Kritische Theorie der kritischen Theorien............................................... 12 Rassismus – Erstannäherungen ............................................................ 15 Entwicklung eines Ansatzes Kritischer Theorie über Rassismus ............................ 24

2 2.1 2.3 2.3 2.4 2.5

Methode als geronnener Inhalt – Der Kritikbegriff Kritischer Theorie .................. Was ist Kritik? ............................................................................ Leid als Maßstab der Kritik ................................................................ Immanente Kritik als materialistische Kritik ............................................... Negativität und negative Dialektik......................................................... Historizität und der Zeitkern von Wahrheit.................................................

3 3.1 3.2 3.3

Metamorphosen des Rassismus – Natur und Kultur ...................................... 51 Rassebegriff und biologistischer Rassismus ............................................... 52 Neo-Rassismus – Das Unbehagen an der Kultur der Anderen ............................... 60 Das Dilemma zwischen Universalismus und Partikularismus ................................74

4 4.1 4.2 4.3

Metamorphosen der Rassismustheorien – Objektivismus und Subjektivismus...........79 Objektivistische Theorien des Rassismus .................................................. 80 Subjektivistische Theorien des Rassismus.................................................104 Übergabe an Kritische Theorie – Die Vermittlung von Objektivismus und Subjektivismus .... 124

5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5

In schlechter Gesellschaft .............................................................. 131 Rassismus als Simulation von Natur ....................................................... 131 Gesellschaft und Vergesellschaftung ...................................................... 142 Zur Subjektwerdung des Individuums......................................................152 Zur gesellschaftlichen Möglichkeit und Unmöglichkeit von Erfahrung .......................162 Die Bedeutung des Nichtidentischen für die Rassismusanalyse............................. 181

29 29 32 35 42 46

6 6.1 6.2 6.3

Rassismus und gesellschaftliche Objektivität........................................... 191 Gesellschaftliche Objektivität im Blick Kritischer Theorie .................................. 192 Kritik der politischen Ökonomie und Rassismustheorie.....................................201 Ideologiekritik und Rassismusanalyse .................................................... 230

7 7.1 7.2 7.3 7.4

Die Wendung aufs Subjekt – Ressentiment, Autoritarismus, Rassismus ............... 243 Sozialpsychologie, Psychoanalyse und Kritische Theorie .................................. 245 Die Autoritarismusstudien Kritischer Theorie – eine Übersicht ............................ 250 Die Gesellschaft im Subjekt ............................................................... 261 Autoritarismus als Container – Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Nationalismus ...... 282

8 8.1 8.2 8.3

Kein Ende in Sicht ...................................................................... 309 Ein Überblick – Siebzehn Thesen .......................................................... 311 Probleme der Rassismusanalyse und -kritik ............................................... 314 Kritische Theorie als Vermittlerin theoretischer Vereinseitigungen ........................ 322

Literatur .....................................................................................331 Danksagung ................................................................................. 377

1 Wo anfangen? Zur Einleitung »Der Rassismus hat nie […] die Validität einer konsistenten Theorie besessen, sondern ›rassistische Theorien‹ sind entwickelt worden, um besondere Gewaltverhältnisse zu begründen, die als einzig natürliche gerechtfertigt werden sollten. Nur die Reflexion der rassistischen Praktiken erklärt die ›Theorie‹ – nicht umgekehrt.« (Claussen 2000: 143)

Warum ist die akademische Beschäftigung mit Rassismus überhaupt noch wichtig? Seit langem gilt doch die traditionelle Grundlage des Rassismus – die Existenz menschlicher ›Rassen‹ – als widerlegt. Im 19. Jahrhundert hatten die sogenannten wissenschaftlichen Rassentheorien einige Popularität und akademische Reputation gewinnen können. Heute aber bezieht sich kaum noch jemand auf solche Klassifikationssysteme, weder öffentlich noch innerakademisch; sie gelten bestenfalls als pseudowissenschaftlich. Doch der Rassismus überlebt seinen eigenen Tod als ernstgenommene ›Wissenschaft‹ in Mentalitäten und Praktiken. Die Idee, dass Menschen, die sich äußerlich ähneln, eine Gruppe bilden und daher die gleichen Eigenschaften, Neigungen, intellektuellen Möglichkeiten und emotionalen Strukturen teilen, hat sich tief im Alltagsverständnis festgesetzt. Und die Überwindung des Rassismus in den geläufigen Denk-, Sprech- und Wahrnehmungsweisen ergibt sich eben nicht automatisch aus seiner wissenschaftlichen Widerlegung. Dies ist der erste Grund für die fortwährende wissenschaftliche Brisanz des Rassismus – soziale Praktiken sind nicht allein deshalb aus der Welt, weil sie ihrer alten Reputation, ihrer alten Legitimationsfiguren verlustig gegangen sind. Der zweite Grund für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Rassismus liegt darin, dass gerade Formen der Widerlegung des Rassismus selbst zur Quelle modifiziert rassistischen Denkens werden konnten: Denn der neuere kulturalistische Rassismus kann sich durchaus einverstanden zeigen mit dem rassismuskritischen Dementi der biologischen Existenz von Rassen. Er setzt dann die Zuschreibung von kulturellen Eigenschaften an die Stelle von biologischen. Heute – und das ist der dritte Grund für die Bedeutung seiner wissenschaftlichen Untersuchung – koaliert der Rassismus mit einer zunehmenden gesellschaftlichen Ten-

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Ulrike Marz: Wut auf Differenz

denz zum ›Postfaktischen‹. Die notorische Irrationalität, die logische Inkonsistenz des rassistischen Ressentiments, insbesondere in Fragen der Flüchtlingspolitik, harmoniert mit der offen angepriesenen, höhnischen Suspendierung von Wahrheitsansprüchen neuerer postfaktischer Agitation. Nicht trotz, sondern wegen seiner Irrationalität bindet er als Thema dieser Agitation das Publikum an ›den Agitator‹. Das schlechte Gefühl, die Ängste und Sorgen vor ›Überfremdung‹ und ›großem Austausch‹ werden in bestimmten Formen neuester Propaganda systematisch von Begründungs- und Beweispflichten freigestellt. In der fingiert demokratischen Geste populistischer Politik wird an sie keinerlei Forderung nach Reflexion gestellt, diese Forderung wird sogar offensiv und beifallheischend zurückgewiesen – jene Ängste werden zum argumentativ unantastbaren Gefühl. Dass sie sich stolz selbst ausweisen als ›Meinung‹, relativiert sie nicht, sondern adelt sie. Solche Meinung bleibt nun nicht nur subjektiv, sondern wird im Rassismus zum Glaubensbestand eines imaginierten nationalen Kollektivs, der sich durch Gegenargumente kaum erschüttern lässt. In einer irrationalen, ressentimentgeladenen, wissenschaftsleugnenden Haltung, als Thema unter anderen in postfaktischer Agitation, geht der Rassismus, wie er hier verstanden wird, jedoch keineswegs restlos auf. Gerade rassistische Phantasien wie die vom ›großen Austausch‹ haben ein reales Fundament – zum Beispiel in spezifischen Grundbedingungen kapitalistischer Gesellschaft wie der prinzipiellen Austauschbarkeit und Ersetzbarkeit der abstraktifizierten menschlichen Arbeitskraft. Die Irrationalität des Rassismus bezieht ihre Ansteckungsfähigkeit und ihre psychologische Plausibilität auch aus der Rationalität kapitalistischer Gesellschaft. Solch ein in vielen unterschiedlichen Konkretionen auffindbares Ineinander von Unvernunft und kapitalistischer Ratio prädestiniert Rassismus zum Gegenstand Kritischer Theorie. Denn sie verbindet gerade in den Varianten ihrer ersten Generation – Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Leo Löwenthal, Herbert Marcuse – die Perspektive auf Funktion und objektive Genese von Ideologien mit psychologischem Blick auf Triebstrukturen und Verarbeitungsformen im Subjekt. Sie behauptet nicht einseitig Irrationalität oder Rationalität sozialer Phänomene, sondern analysiert die funktionalen, instrumentellen, rationalen Weisen, subjektive Irrationalitäten zu befeuern und politisch zu bewirtschaften. Und sie versucht zu begreifen, wo und wie Teilrationalitäten moderner Gesellschaften kippen können in die Irrationalität des Ganzen. Seine strukturelle, in gesellschaftlicher Objektivität liegende Dimension gewinnt der Rassismus als Moment des Kapitalismus auch aus dessen immanenter Logik, permanent Widersprüche zwischen Freiheit und Unfreiheit zu produzieren. Solche Widersprüche sind Gegenstand ideologiekritischer Perspektiven auf Rassismus. Widersprüche zeigen sich etwa in der Gleichzeitigkeit von aufklärerischen Postulaten wie Freiheit, Gleichheit, Menschenrechten hier und jener faktischen Ungleichbehandlung dort, die sich historisch in der wertschöpfenden Vernutzung von Menschen auf den Plantagen sowie in anderen Arenen der Ausbeutung im Zuge der kolonialen Expansion manifestierte – und die sich aktuell im System der Arbeitsmigration zeigt. Rassismus ist, wie Robert Miles schreibt, »Bestandteil einer umfassenderen Struktur von klassenspezifischer Benachteiligung und Ausgrenzung« (Miles 1989: 18). Ideologiekritisch betrachtet ist Rassismus ein nachträglicher, aber durchaus wesentlicher Legitimationszusammenhang für bestehende Ungleichheit, für eine Praxis der Ungleichheitsproduktion und der Un-

1 Wo anfangen? Zur Einleitung

gleichheitsnutzung. Ideologiekritik in diesem Sinne widmet sich vor allem kognitiven, mentalen, normativen, epistemischen Aspekten – aber immer mit dem Dementi von deren Eigenständigkeit, mit dem Verweis auf vorgängige, sie hervorbringende Praxis. Und daher ist es wichtig, »nach den vorausgehenden und zugrundliegenden Institutionen und Strukturen sozialer Diskriminierung und Unterdrückung« (von Freyberg 1994: 132) zu fragen. Rassismus rechtfertigt sozial produzierte Ungleichheit und stabilisiert sie, indem er sie naturalisiert. Doch ohne Blick auf die Innenausstattung des darauf ansprechenden Subjekts bliebe Rassismustheorie eine halbierte. Moderner Rassismus, so deshalb die strukturgebende These dieser Arbeit, ist eine spezifische, naturalisierende Form der Verarbeitung gesellschaftlicher Anforderungen moderner Gesellschaften, der auf Seite des Subjekts ein gesellschaftlich produzierter Mangel an kritischem Reflexionsvermögen entspricht – Reflexionsvermögen nicht allein hinsichtlich des Sozialen, sondern gerade auch hinsichtlich der eigenen Bedürfnisse, Versagungen und Wünsche, mangelndes Reflexionsvermögen auch der eigenen ›Natur‹ gegenüber. Darum bedürfen objektivierende Perspektiven wie die ideologiekritische der ergänzenden »Wendung aufs Subjekt« (Adorno 1959: 571) – auf das rassistische Subjekt. Diese theoretische Doppelbewegung – objektivistisch orientierte Ideologiekritik, diese aber der Vermittlung bedürftig mit psychologisch ansetzender Wendung aufs Subjekt – charakterisierte immer wieder die Anstrengungen der frühen Kritischen Theorie. Deren Versuche waren an Ort und Stelle allerdings nur selten bezogen auf Rassismus oder seine begrifflichen Vorläufer wie den ›Ethnozentrismus‹. Politisch bedeutsam ist bis heute das Thema Rassismus zuerst angesichts offensichtlicher Gewalt (z.B. Hoyerswerda 1991, Mölln 1992, Rostock-Lichtenhagen 1992, Solingen 1993, die NSU-Morde 2000–2007, der Anschlag im Münchner Olympiaeinkaufszentrum 2016, der Anschlag von Hanau 2020). Seit 1990 werden die Zahlen der Opfer extrem rechter Gewalt in Deutschland erfasst. Während staatliche Behörden 106 Todesopfer angeben, gehen spezialisierte Beratungsstellen1 und Journalist:innen jedoch von mindestens 219 Todesopfern, also von einer deutlich höheren Zahl aus (vgl. AAS 2023). 91 Menschen wurden nach Angaben des Vereins »Opferperspektive« in Deutschland zwischen 1990–2021 aus rassistischen Motiven getötet. Politisch wichtig ist Rassismus aber nicht nur wegen seiner gewalttätigen Ausprägungen und tödlichen Folgen, sondern wegen der drängenden Forderung betroffener Menschen, auch die institutionellen Formen des Rassismus zur Kenntnis zu nehmen und zu beseitigen. Institutioneller Rassismus tötet und verletzt nicht unmittelbar, aber er führt zu Diskriminierungen und strukturellen Benachteiligungen. Und er hat gesundheitliche, mitunter auch tödliche Folgen – zum Beispiel durch die prekären Lebenslagen, in die rassifizierte Menschen gedrängt werden. Kritische Theorie des Rassismus darf sich nicht mit Praxis verwechseln – aber sie verfolgt ein praktisches, politisches, nicht rein akademisches Interesse: das an der Abschaffung ihres Gegenstandes.

1

Auf der Homepage des Verbandes der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt sind die Angriffe nach Bundesländern aufgelistet (vgl. Verband der Beratungsstellen 2020). Vgl. zur Problematik der statistischen Erfassung politisch motivierter Kriminalität (Feldmann/Kopke/Schultz 2016).

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Ulrike Marz: Wut auf Differenz

1.1 Begriff und Sache – Substanz und Prozess In dem Aufsatz Reflexionen zur Klassentheorie (1942) schreibt Adorno: »Von der jüngsten Gestalt des Unrechts fällt Licht stets aufs Ganze. So nur vermag die Theorie, die Schwere des historischen Daseins der Einsicht ins Gegenwärtige zugute kommen zu lassen, ohne der Last resigniert selber zu erliegen.« (Adorno 1942: 374) Auch wenn diese Passage sich an Ort und Stelle nicht direkt auf Rassismus bezieht, so sehe ich hier doch vier wesentliche Momente einer kritisch-theoretischen Perspektive auf den Rassismus skizziert. Erstens: Unrecht, das der Rassismus zweifelsohne ist, hat einen gesellschaftlichen Ursprung. Damit ist zweitens der Rassismus begreifbar nur als Teil der Gesellschaft und ihrer Geschichte, die ihn hervorbrachte und hervorbringt. Und deshalb ist, drittens, Rassismuskritik immer auch Gesellschaftskritik – das Interesse der Rassismustheorie an der Abschaffung ihres eigenen Gegenstandes nötigt zur Kritik an seinen Bedingungen. Viertens ist Geschichte, ist Vergangenes zu begreifen mittels der theoretischen Reflexion des heutigen Unrechts und des gegenwärtigen Leids, ohne dass dabei Rassismus als immer schon Dagewesenes oder historisch Gleichbleibendes zu behandeln wäre. Kritische Theorie in dieser Form behauptet nicht, die Dinge hätten so kommen müssen, wie sie nun sind. Sie sagt aber sehr wohl, dass auch die früheren Gestalten des Unrechts sich erst mit Wissen um ihre entwickelte Gegenwart begreifen lassen. Als spezifische Weise, Ungleichheit im Angesicht realer Gleichheitsversprechen verständlich zu machen und zu rechtfertigen, ist Rassismus ein modernes Phänomen. Als Form der Diskriminierung und Gewalt gegen Menschen, die über äußerliche Merkmale als ›anders‹ markiert werden, reicht er tief in vormoderne Gesellschaften. Für die Rassismusforschung ist daher zu klären, wie die jeweiligen Ausprägungen, die der Rassismus im Laufe der Geschichte angenommen hat, mit spezifischen gesellschaftlichen Voraussetzungen zusammenhängen – und welches Licht die gegenwärtige Gestalt des Rassismus auf seine Entwicklungsgeschichte wirft. Gesellschaftliche Voraussetzungen des Rassismus sind nicht nur ökonomischer, sondern stets auch politischer Natur. Denn die Transformation des Rassismus ist nicht nur Ergebnis des Wandels ökonomischer Anforderungen, die die kapitalistische Tauschgesellschaft stellt, sondern auch Resultat öffentlicher und politischer Verschiebungen – wie sie z.B. die Diskreditierung biologistischer Begründungen des Sozialen nach dem Nationalsozialismus eine darstellte. Um die Stabilität und Wandlungsfähigkeit des Rassismus zu fassen, ist die Unterscheidung von Substanz und Prozess des Rassismus hilfreich.2 Die Substanz bleibt über die Zeit konstant, der Prozess umfasst die variablen Momente. Mit der Betonung stabiler Momente des Rassismus kann eine tragfähige Bestimmung von Rassismus in seinen Konstanten vorgelegt werden – mit dem Blick auf historische Formveränderungen kann die Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit des Rassismus analytisch gefasst werden und in diese Bestimmung eingehen. Ohne die Bestimmung der substantiellen Aspekte jedoch bliebe eine Charakterisierung verschiedener Rassismusformen und Rassismusfacetten beliebig. Denn ein bloß additives Abbild vorfindlicher oder einander ablösender 2

Die Unterscheidung von Substanz und Prozess ist hier von Hartmut Rosa übernommen, der diese zur Zusammenführung seines Beschleunigungstheorems und des Landnahmetheorems Klaus Dörres vorschlägt (vgl. Rosa 2009a: 214f., 223).

1 Wo anfangen? Zur Einleitung

Phänomene verlöre den Bezugspunkt, verlöre das Organ für die nicht-kontingente Logik historischer Entwicklung. Gerade Kritische Theorie legt Wert auf Vorgehensweisen, die begriffliche Entwicklungen zugleich als Deutungsversuche des realgesellschaftlichen Wandels ausweisen; die »Bewegung des Begriffs« (Adorno 1966: 18) ist keine deterministische und keine idealistische Annahme über die Metaphysik des Weltlaufs, aber sie ist doch Medium der theoretischen Erschließung realer, sozialer Praxis. Deshalb würde ein additiver Katalog von empirischen Erscheinungsformen des Rassismus, der sich von der begrifflichen Bestimmung der Substanz des Rassismus fernhält, Frankfurter Ansprüche an Gesellschaftstheorie vorweg verfehlen. Auch definitorische Klärungen – der Art »unter Rassismus verstehe ich im Folgenden …« – fallen hier unter den Verdacht der Erkenntnisverhinderung im Namen methodischer Sauberkeit: Würden sie doch von Seiten des Erkenntnissubjekts vorab und willkürlich bestimmen, was erst über die Untersuchung der Sache und ihrer Bewegungen bestimmbar ist. Die Frankfurter Kritik am Verfahren der Definition ist allerdings kein Freibrief für beliebigen Umgang mit Begriffen am Eingang der Untersuchung; die erste Fassung ›definiert‹ zwar nicht, aber sie bestimmt im Bewusstsein eigener Unbestimmtheit den Ausgang, die Richtung für den Gang der bestimmenden Untersuchungen. Und in diesem Sinne ist Rassismus der triftigste Term in einer Reihe konkurrierender Ausdrücke, die in der Literatur mal alternativ, mal in begrifflicher Hierarchie, mal in historischer Reihung genutzt werden. So scheinen mir weder Fremdenfeindlichkeit noch Ausländerfeindlichkeit geeignet, um in Erstannäherung das zu fassen, um was es nachfolgend gehen soll. Vielleicht ist Fremdenfeindlichkeit Teil eines jeden Rassismus. Damit wäre nicht unbedingt unterstellt, dass sie ein anthropologisch unabänderliches Fundament besäße. Aber auch wenn es so wäre – Rassismus tritt historisch nie ohne Fremdenfeindlichkeit auf –, dann bliebe bei der Identifizierung der beiden das Problem, dass sich mit dem Fokus auf Fremdheit die sozioökomische und die subjektive Dimension des Rassismus nicht erfassen ließen. Stattdessen erschiene dann die in Interaktionsverhältnissen diskutierbare Fremdheit als alleiniger Auslöser und damit als Hebel zur Abschaffung des Rassismus – wenn die Fremdheit beispielsweise einmal durch Assimilation beseitigt wäre, verschwände auch der Rassismus.3 Historisch und theoretisch plausibler ist es jedoch, dass diese These selbst substantielle Aspekte des Rassismus verschwinden lässt – sie schlecht unsichtbar macht: Fremde werden im Rassismus zum Fremden gemacht, sie sind es

3

Überlegenswert ist die Frage, ob nicht dem Rassismus die Fremdenfeindlichkeit vorausgeht – historisch, aber auch funktional: Ob der Rassismus gleichsam die ›Wissenschaft‹ und Ideologie gewordene Rationalisierung der Fremdenfeindlichkeit ist, derer es in modernen, Gleichheit postulierenden Gesellschaften bedarf. Der Umstand jedoch, dass dann aus einer soziologischen Perspektive immer noch unklar bleibt, woher diese Fremdenfeindlichkeit kommen soll, verweist diese Überlegung in den Bereich der Psychologie. Denn diese Annahme hätte zu klären, woher die Angst, die Aggression, die Wut gegen das ›Fremde‹ stammen. Die Psychoanalyse erkennt im Fremden das, was wir an anderen festmachen, und zwar eigene, ungeliebte Anteile, die auf andere Personen projiziert werden. Solch eine Überlegung widerspricht nicht historisch fundierten Darstellungen des Rassismus als Ideologie. Vielmehr können sie diese Erklärungen ergänzen.

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Ulrike Marz: Wut auf Differenz

nicht von sich aus. In Verwandlung eines Adorno-Wortes über den Antisemitismus: Der Rassismus würden den Fremden erfinden, wenn es ihn nicht gäbe.4 Problematisch ist aus verwandten Gründen auch der Begriff der Ausländerfeindlichkeit5 : Er übernimmt juristisches Vokabular in die eigene Theorie und damit die institutionell hergestellte Trennung von Staatsbürger und Ausländer. Damit ist es um eine Problematisierung genau dieser Trennung als womöglich bedeutendem Moment des Rassismus vorab schlecht bestellt. Und gerade in diesem systematischen, institutionellen Fremdmachen sehen einige Analysen einen Grund dafür, dass der Rassismus a priori funktioniert. Rassist:innen brauchen gar keine persönlichen negativen Erfahrungen mit Menschen zu machen, die sie rassifizieren. Die Rassifizierung erledigt das politische System. Ich bleibe also beim Begriff des Rassismus. In meine obige Ausgangsbestimmung – Gleichzeitigkeit von irrationalen und rationalen Momenten, von objektiver Funktionalität und subjektiver Virulenz – gehen durchaus Aspekte der Beschreibung dessen ein, was vielfach unter Fremdenfeindlichkeit und Ausländerfeindlichkeit gefasst wird. Ich habe mich bewusst für den Begriff des Rassismus entschieden, auch wenn seine aktuelle Gestalt als kulturalistischer Rassismus sicher auch als Kulturalismus (Taguieff 1991) oder ethnische Diskriminierung/Ethnizismus (vgl. z.B. Kimpeler 2000; Legge/Mansel 2012) beschrieben werden könnte. Aber ich bin davon überzeugt, dass die Stabilität und Substanz dessen, was hier im Begriff des Rassismus gefasst wird, maßgeblich auf strukturellen und institutionellen Fundamenten fußt und dass darum weder ein Begriff wie der des Kulturalismus noch der des Ethnizismus oder der Fremdenfeindlichkeit die Voraussetzungen rassistisch bedingter Ungleichheit angemessen einfangen kann.

1.2 Die Kritische Theorie der kritischen Theorien Wenn eine Kritische Theorie des Rassismus entwickelt werden soll, ist zunächst zu klären, was denn mit Kritischer Theorie gemeint ist. Es gibt zahlreiche Theorien und Ansätze, die das Adjektiv kritisch im Namen führen und die mitunter sehr heterogene Richtungen eingeschlagen haben, mal eher ökonomiekritisch, mal kulturphilosophisch, mal streng empirisch. Hier will ich mich auf die Kritische Theorie konzentrieren, wie sie im Umfeld des Instituts für Sozialforschung, zunächst in Frankfurt a.M., dann im amerikanischen Exil vor allem von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Leo Löwenthal entwickelt wurde. Es geht hier nicht um ein Lobpreisen von großen Namen und alten Analysen; es geht eher um eine spezifische Weise, Perspektiven zu vermitteln, die sich mit dieser Theorieausrichtung verbinden. Meine Bezugnahme auf das

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»Ist der Antisemitismus primär objektiv-gesellschaftlich begründet, und dann in den Antisemiten, dann hätten diese wohl, im Sinn des nationalsozialistischen Witzes, die Juden erfinden müssen, wenn es sie gar nicht gäbe.« (Adorno 1959: 571) Auch die Leipziger Autoritarismus-Studien verwendet den Begriff. Eine entsprechende Definition enthält sowohl den Verweis auf »rassistisches Konkurrenzdenken« als auch auf die »völkische Überfremdungsvorstellung« (vgl. Decker u.a. 2018: 76); Aspekte, die meinem Verständnis nach, wesentlich zum Rassismus dazugehören.

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nicht von sich aus. In Verwandlung eines Adorno-Wortes über den Antisemitismus: Der Rassismus würden den Fremden erfinden, wenn es ihn nicht gäbe.4 Problematisch ist aus verwandten Gründen auch der Begriff der Ausländerfeindlichkeit5 : Er übernimmt juristisches Vokabular in die eigene Theorie und damit die institutionell hergestellte Trennung von Staatsbürger und Ausländer. Damit ist es um eine Problematisierung genau dieser Trennung als womöglich bedeutendem Moment des Rassismus vorab schlecht bestellt. Und gerade in diesem systematischen, institutionellen Fremdmachen sehen einige Analysen einen Grund dafür, dass der Rassismus a priori funktioniert. Rassist:innen brauchen gar keine persönlichen negativen Erfahrungen mit Menschen zu machen, die sie rassifizieren. Die Rassifizierung erledigt das politische System. Ich bleibe also beim Begriff des Rassismus. In meine obige Ausgangsbestimmung – Gleichzeitigkeit von irrationalen und rationalen Momenten, von objektiver Funktionalität und subjektiver Virulenz – gehen durchaus Aspekte der Beschreibung dessen ein, was vielfach unter Fremdenfeindlichkeit und Ausländerfeindlichkeit gefasst wird. Ich habe mich bewusst für den Begriff des Rassismus entschieden, auch wenn seine aktuelle Gestalt als kulturalistischer Rassismus sicher auch als Kulturalismus (Taguieff 1991) oder ethnische Diskriminierung/Ethnizismus (vgl. z.B. Kimpeler 2000; Legge/Mansel 2012) beschrieben werden könnte. Aber ich bin davon überzeugt, dass die Stabilität und Substanz dessen, was hier im Begriff des Rassismus gefasst wird, maßgeblich auf strukturellen und institutionellen Fundamenten fußt und dass darum weder ein Begriff wie der des Kulturalismus noch der des Ethnizismus oder der Fremdenfeindlichkeit die Voraussetzungen rassistisch bedingter Ungleichheit angemessen einfangen kann.

1.2 Die Kritische Theorie der kritischen Theorien Wenn eine Kritische Theorie des Rassismus entwickelt werden soll, ist zunächst zu klären, was denn mit Kritischer Theorie gemeint ist. Es gibt zahlreiche Theorien und Ansätze, die das Adjektiv kritisch im Namen führen und die mitunter sehr heterogene Richtungen eingeschlagen haben, mal eher ökonomiekritisch, mal kulturphilosophisch, mal streng empirisch. Hier will ich mich auf die Kritische Theorie konzentrieren, wie sie im Umfeld des Instituts für Sozialforschung, zunächst in Frankfurt a.M., dann im amerikanischen Exil vor allem von Theodor W. Adorno, Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Leo Löwenthal entwickelt wurde. Es geht hier nicht um ein Lobpreisen von großen Namen und alten Analysen; es geht eher um eine spezifische Weise, Perspektiven zu vermitteln, die sich mit dieser Theorieausrichtung verbinden. Meine Bezugnahme auf das

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»Ist der Antisemitismus primär objektiv-gesellschaftlich begründet, und dann in den Antisemiten, dann hätten diese wohl, im Sinn des nationalsozialistischen Witzes, die Juden erfinden müssen, wenn es sie gar nicht gäbe.« (Adorno 1959: 571) Auch die Leipziger Autoritarismus-Studien verwendet den Begriff. Eine entsprechende Definition enthält sowohl den Verweis auf »rassistisches Konkurrenzdenken« als auch auf die »völkische Überfremdungsvorstellung« (vgl. Decker u.a. 2018: 76); Aspekte, die meinem Verständnis nach, wesentlich zum Rassismus dazugehören.

1 Wo anfangen? Zur Einleitung

Denken früherer Kritischer Theorie bedeutet nicht, dass ich mich nur auf einen dogmatischen Kanon ›Frankfurter‹ Texte als theoretische Referenz beziehe. Auch Autor:innen, die sich bis in die Gegenwart bestimmten Prämissen der Kritischen Theorie verbunden fühlen, werden von mir in die Theoriebildung miteinbezogen – deren Denken werde ich nicht nur als ›Sekundärliteratur‹ behandeln, sondern als Versuch, das Denken früher Kritischer Theorie für eine Theorie der Gegenwartsgesellschaft nutzbar zu machen. Der Begriff der »orthodoxen Kritischen Theorie« (Freyenhagen 2018), der zunächst irritiert, deckt sich mit der Auffassung, die dieser Arbeit zugrunde liegt. »Von Orthodoxie spreche ich auch deshalb, weil ich denke, dass wir Einsichten der ersten Generation der Frankfurter Schule wiederbeleben sollten, die in den gegenwärtig dominanten Strömungen entweder völlig vernachlässigt werden oder deren weitreichende Signifikanz übersehen wird.« (Freyenhagen 2018: 142f.)6 »Einsichten« meint hier nicht nur bestimmte Methoden, sondern auch bestimme theoretische Prämissen – oder wie Städtler schreibt: »Formelemente kritischer Theorie« (Städtler 2019: 291–293). Daher gilt es im Folgenden auch, die gesellschaftstheoretischen Grundlagen der Kritischen Theorie zu rekonstruieren und zu aktualisieren. Auch wenn es, wie Saar schreibt, schwierig ist, für den Frankfurter Kreis als »theoretisch-politischen Zusammenhang Profilpunkte aus[zu]machen« (Saar 2021: 256), mit denen sich der Kern des theoretischen Denkens Kritischer Theorie fixieren ließe, so gibt es doch eine Reihe tragender konzeptueller Ideen, die für den frühen Kreis verbindlich waren. Dazu gehören die immanente Kritik, die Ideologie- und Ökonomiekritik, Dialektik, die Einbindung psychoanalytischer Perspektiven, die Ablehnung eines ausgearbeiteten Begründungsprogramms für Kritik zugunsten eines nicht in Begründungen auflösbaren Interesses an der Abschaffung von Leid – dazu gehören des Weiteren Negativität, Geschichtlichkeit, die Orientierung an Subjektivität und Erfahrung (ähnlich: Städtler 2019). Diese Konzepte werden im Folgenden die theoretische Orientierung meines Versuchs einer Kritischen Theorie des Rassismus bilden. Ich werde mich nachfolgend nicht nur, aber vor allem auf Adornos Variante Kritischer Theorie beziehen. Damit gehe ich weit in die historische Theoriebildung zurück. Ich teile nicht die Auffassung, dass die kritischen Theorien Jürgens Habermas’ und Axel Honneths als Fortschreibungen der Kritischen Theorie zu verstehen sind, welche einerseits die Problemstellungen der frühen Kritischen Theorie anders beantworten – kommunikations- bzw. anerkennungstheoretisch – und die andererseits immanente Schwächen der frühen Kritischen Theorie – z.B. das Problem des Maßstabs der Kritik, die fehlende Reflexion auf den eigenen normativen Status – lösen (vgl. zu dieser Diskussion z.B. Wiggershaus 1987; Iser 2008; Schweppenhäuser 2010; Müller-Doohm 2018). Ich schätze die Arbeiten von Habermas bis Honneth und Jaeggi sehr hoch, aber in ihrem Bemü6

Orthodoxie bestimmt Freyenhagen an anderer Stelle in dreifacher Hinsicht: Erstens als »Rückkehr zu den Anfängen der Frankfurter Schule […] bei gleichzeitiger Ablehnung von Habermas’ begründungsprogrammatischer Kehrtwende […]«; zweitens »als Reflexion darüber, was essentiell für Kritische Theorie ist […]«; drittens »als Anerkennung davon, dass mit Kritischer Theorie in einem gewissen Sinne Strenggläubigkeit einhergeht (nämlich so, dass sie jenseits des Begründungsprogramms, in dem Interesse an Emanzipation zu verorten ist).« (Freyenhagen 2019: 43)

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hen, Probleme und Aporien der frühen Kritischen Theorie theoretisch zu bearbeiten, haben sich jene neuen Theorien auch von den soeben benannten konzeptuellen Ideen und Formelementen so stark entfernt, dass die neueren Theorien weniger als Fortschreibung, mehr als eigenständige kritische Theorien zu lesen sind. Eine Habermas’sche oder eine Honneth’sche kritische Theorie über den Rassismus wäre eine ganz andere als eine, die sich auf die frühe Kritische Theorie bezieht. Ob sie eine bessere wäre, lässt sich nicht vorab entscheiden – und ein solches Binnenranking verschiedener Frankfurter Theorien zu erstellen, ist auch nicht meine Absicht. Aber auch Arbeiten der letzten Jahre, die sich wie mein Versuch auf die frühe Kritische Theorie beziehen, lassen sich schwer auf »einen gemeinsamen Theoriekern« oder ein »gemeinsames methodologisches Verständnis oder einen Methodenkanon« bringen (vgl. Bittlingmayer/Freytag 2019: 11). Zentral für die frühe Kritische Theorie war die Kritik der Gesellschaft als einem Ganzen – der Gestus, den Horkheimer in seinem Aufsatz Traditionelle und Kritische Theorie als »entfaltetes Existenzialurteil« (Horkheimer 1937: 201) bezeichnete. Noch kleine Teilmomente seien nur in ihrem Bezogensein auf den Gesamtzusammenhang zu begreifen. Die kapitalistische Gesellschaft behindere durch ihre Verfasstheit die Entfaltung »menschlicher Fähigkeiten und individueller Emanzipation« (Ellmers/Hogh 2017: 9), bringe stetig Krisen hervor und treibe »die Menschheit einer neuen Barbarei« zu (vgl. ebd.). Diese Kritik zielt auf die ganz große Änderung, weil viele Pathologien moderner Gesellschaften in der Einrichtung dieser Gesellschaften als kapitalistischer liegen. Auch Rassismus wäre so gesehen nur zu überwinden in einer befreiten Gesellschaft. Doch was tun in der Zwischenzeit, zumal wenn diese Befreiung unbestimmt verschoben, wenn nicht unmöglich geworden ist? Es ist genau diese Weigerung, konstruktiv zu sein, die der Kritischen Theorie stets vorgeworfen wird. Doch theoretische Unversöhnlichkeit steht keinesfalls politischer Praxis entgegen, sie wendet sich nicht gegen politisch Aktive, die sich nicht vertrösten lassen wollen, die streiten für schnelle Verbesserungen ihrer sozialen Position, für die Abschaffung von Diskriminierung und Ungleichbehandlung und für ein Ende der Gewalt im Hier und Jetzt. Der Theoriegestus des »alles nur begreifbar als Moment des Ganzen«, ist eben nicht gleichbedeutend mit: »kleine Änderungen unmöglich« oder gar: »Einzelprobleme irrelevant«. Im Gegenteil: Die Beziehung auf ein Ganzes soll das Einzelne besser begreifen helfen – auch im Dienste von dessen Veränderung. Kritische Theorie ist dialektisch auch im Selbstbezug: Die eigene, konkrete verändernde praktische Kraft im Hier und Jetzt ist umso größer, je weniger sie diese kleinteilige ›Praxis‹ Zensurinstanz eigenen Denkens werden lässt. Wer um die Grenzen einer emanzipatorischen Praxis im falschen Ganzen weiß, kann eher bis zu diesen Grenzen gehen, ja sie vielleicht sogar überschreiten als jemand, der sich und andere über die Existenz dieser Grenzen zweckoptimistisch täuscht. Kritik ist daher auch kein Privileg der Kritischen Theorie. Die Kritik der gesellschaftlichen Bedingungen des Rassismus ermöglicht die konkretere, detailgenauere Reflexion auf den Gegenstand. Kritik gesellschaftlicher Bedingungen des Rassismus ist aber auch Kritik an den Bedingungen seiner Erkenntnis. Die Möglichkeit, Rassismus zu kritisieren, hängt für Kritische Theorie, wie ich sie hier vorstelle, maßgeblich mit Erkenntniskritik zusammen, genauer: mit einer Systematik defizitärer Formen der alltäglichen und der wissenschaftlichen Wahrnehmung des Sozialen.

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1.3 Rassismus – Erstannäherungen Rasse-Theorien wurden bereits im 19. Jahrhundert, also parallel zu ihrer Entstehung, in Frage gestellt.7 Eine Diskreditierung, die zu einer Abwendung vom Rassendenken führte, setzte jedoch erst nach Ende des Nationalsozialismus ein. In kritischen Schriften wurde der Rassismus früh als »Rassenhass« bezeichnet. Einen einflussreich gebliebenen Einspruch gegen das Rassendenken formulierte W. E. B. Du Bois mit seiner Schrift The Souls of Black Folks (1903), in der er das bis heute in der Rassismusforschung bedeutsame Konzept der »color line« einführt (Du Bois 1903: 113). Eine weitere Schrift mit dem Titel Rasse und Kultur. Eine kritische Untersuchung der Rassentheorien (1925) stammt von Friedrich Hertz. Hertz wendet sich keineswegs gegen die Annahme der Existenz von ›Rassen‹, sondern lediglich gegen die Annahme »tiefgreifender seelischer Verschiedenheiten« (ebd.: VI). Doch er stellt treffend heraus, dass Bestrebungen zur Hierarchisierung »fast ausnahmelos nichts anderes als wissenschaftlich bemäntelte Äußerungen des Herrschafts- und Ausbeutungstriebes« (Hertz 1925: VII) derer gewesen seien, die solche Klassifikation festlegten und sie mit einem Überbau an Theorien versahen. Der Sexualforscher Magnus Hirschfeld war dann der erste, der den Begriff Rassismus benutzte, und zwar in seinem Buch Rassismus (1938). Hirschfelds Ziel war es, die Rassentheorien zu untersuchen (und schließlich zurückzuweisen), die den nationalsozialistischen Thesen vom ›Rassenkrieg‹ zugrunde lagen (vgl. Hirschfeld 1938: 35). Eine explizite Definition von Rassismus findet sich bei Hirschfeld noch nicht. Es waren US-Wissenschaftler:innen, die ab den 1930er Jahren einer wissenschaftlichen Diskussion und Kritik des Rassismus den Weg ebneten: Ruth Benedict mit Race and Racism (1942), Jacques Barzun mit Race. A Study in Modern Superstition (1938) sowie Julian Huxley und Alfred C. Haddon mit We Europeans. A Survey of ›Racial‹ Problems (1935). Schon die Zurückweisung der damals etablierten wissenschaftlichen Auffassung der Existenz von ›Rassen‹ war ein Novum. Als Kern des Rassedenkens bestimmt Ruth Benedict in Die Rassenfrage in Wissenschaft und Politik (1947), dass einer ethnischen Gruppe eine natürlich vererbte Minderwertigkeit und einer anderen Gruppe eine natürlich vererbte Überlegenheit zugeschrieben werde (vgl. Benedict 1947: 132). Seither haben sich innerhalb der Rassismusforschung die Bestimmungen des Rassismus verändert und ausdifferenziert. Spätere Rassismusanalysen begannen beispielsweise, die in den alten Rassismusdefinitionen vorausgesetzte Gruppenzugehörigkeit zu problematisieren und sie als willkürliche Konstruktion zu bezeichnen. Hinterfragt wurde auch, ob nur der Rekurs auf Natur als wesensbestimmendes Merkmal als rassistisch anzusehen ist, oder ob auch ein Begriff von Kultur rassistisch sei, sobald diese Kultur als unveränderlich und essentiell zur Bestimmung von Gruppen konzeptualisiert ist. Und zunehmend wurde gefragt, ob Rassismus überhaupt ein ausgearbeitetes Theoriegebäude voraussetze, wie die Rassentheorien des 19. Jahrhunderts sie boten – oder ob er nicht auch als loses Geflecht von gar nicht unbedingt konsistenten Annahmen funktionieren könne. Konsens in der Rassismusforschung ist mittlerweile, dass Rassismus wandelbar ist, dass er seine Form an die jeweils historischen und sozialen Umstände anpassen kann 7

Vgl. zur Entwicklung der Rassismuskritik auch: Marz 2020: 8–14.

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und dass sich auch die Objekte des Rassismus entsprechend ändern können. Manuela Bojadžijev stellt heraus, dass sich historisch verschiedene Formen des Rassismus darin glichen, dass jeder Rassismus »eine projektive Konzeption [ist], die soziale Differenzen, soziale Hierarchien und Herrschaftsverhältnisse affirmativ zu erklären versucht.« (Bojadžijev 2008: 25) Die Diagnose des Wandels der Formen des Rassismus durch die Zeit war stets begleitet von der Frage nach der Enge und Weite des Rassismusbegriffs: Was ist Rassismus? Grundsätzlich wird in der Rassismusforschung zwischen zwei weithin unumstrittenen Formen des Rassismus unterschieden, die einen ersten Hinweis auf die Diskussion über den Begriff des Rassismus geben: dem biologistisch argumentierenden und dem kulturalistisch argumentierenden. Definitionen, die einen biologistisch argumentierenden Rassismus bestimmen wollen, betonen die Abwertung und Hierarchisierung von Menschen aufgrund biologischer Merkmale und die Ausbeutung von Menschen mit der Begründung ›rassischer‹ Differenz. Dieser Rassismus kann auch als alter oder traditioneller Rassismus bezeichnet werden. Eng verbunden mit der Herausstellung bestimmter körperlicher Merkmale ist die Behauptung natürlicher Überlegenheit einer konstruierten Gruppe; durchgängig jener, die auch die ›Rasse‹-Kriterien bestimmt hat. Im Zusammenhang mit dem Kolonialismus gelten dann die im 19. Jahrhundert entwickelten ›Rasse‹-Theorien – also die Theorien, die Menschen in ›Rassen‹ hierarchisieren – als eine nachträgliche Legitimation von Ausbeutung und Sklaverei. Rassismus ist mit Eric Williams der Sklaverei nicht vorgelagert; nicht lässt sich Sklaverei aus rassitischen Einstellungen ableiten (vgl. dazu Williams 1944). Rassismustheorie diskutiert Rassismus hier als ›Lösung‹ eines Legitimationsproblems. In Rassentheorien wurde nach Begründungen gesucht, warum Sklaverei und Ausbeutung von Menschen nicht verwerflich sind; mehr noch: warum Sklaverei dem natürlichen Potential der versklavten Menschen entspreche. So behauptete die Rassentheorie beispielsweise, dass ›schwarze‹8 Menschen auch im eigenen Interesse auf die Führung ›weißer‹ Menschen angewiesen seien, weil sie von Natur aus faul und antriebslos seien. Die Sklaverei und die ihr folgende koloniale Vernutzung von Arbeitskräften entspräche demnach ihrem natürlichen Wesen insofern, dass ihre gegebenen und fehlenden Fähigkeiten optimal genutzt würden (vgl. Melber 1992: 33–41; Hund 1999: 35f.). Dass Legitimation überhaupt nötig wurde, lässt sich mit der Entfaltung der bürgerlichen Gesellschaft erklären. Es war erklärungsbedürftig geworden, wie reale Ungleichbehandlung, Abwertung und Diskriminierung von Menschen mit den aufklärerischen Postulaten von Freiheit und Gleichheit vereinbar sein konnten. So abwegig heute die 8

Es gibt keine menschlichen ›Rassen‹. ›Schwarz‹ und ›weiß‹ zur Beschreibung von Menschen sind überallgemeine Zuschreibungen, die sozial geprägt sind. Es ist zwar evident, dass Menschen unterschiedliche Hautfarben haben, die sich aber nicht in den zwei Polen ›schwarz‹ und ›weiß‹ abbilden und schon gar nicht in ›Rassen‹ klassifizieren lassen. Wenn ich im Folgenden diese beiden Begriffe in Bezug auf Menschen und Gruppen überhaupt verwende, dann in ihrer Bedeutung als soziale und politische Kategorien sowie als soziale Positionen. ›Schwarz‹ und ›weiß‹ sind zudem Kategorien, die selbst für die Rassismuskritik unzureichend sind, weil sie Rassismus auf dessen koloniale Erscheinungsform verengen. Auf den Begriff der ›Rasse‹ lässt sich allerdings in der Rassismuskritik nicht verzichten, um gewaltvolle Verhältnisse beschreiben und analysieren zu können.

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Vorstellung erscheinen mag, dass sich auch Aufklärer:innen und Humanist:innen dieser Zeit an der Entwicklung von Rassentheorien beteiligt haben, so wenig verwundern diese Anstrengungen vor dem Hintergrund, dass das aufklärerische Postulat der ›Gleichheit‹ von Anfang an eben nicht die Gleichheit aller bedeutete. Auch für Juden und Frauen war der Status als freie Gleiche lange umkämpft, und dieser Kampf wurde heftig im Rahmen des bürgerlichen Emanzipationsdiskurses geführt. Schon bald blieben rassistische Begründungen nicht nur auf die in Rassentheorien ausformulierten Legitimationen beschränkt. Sie gingen in das Alltagsbewusstsein der Menschen über, ohne dort mit wissenschaftlichem bzw. pseudowissenschaftlichem Systematisierungsanspruch aufzutreten. Rassismus kann auch ohne ausgearbeitete Theorien und Legitimationen funktionieren. Mit einem engen Rassismusbegriff, der nur biologistische, an Blut, Genen und dem physischen Phänotyp orientierte Argumentationen als Rassismus erfasst, werden viele andere ausgrenzende und abwertende Praxen aus der Rassismustheorie ausgeklammert, die oft im selben Zusammenhang auftreten. Die entscheidende Frage ist folglich, ob der Begriff des Rassismus exklusiv für eine bestimmte sehr enge Bestimmung und zeitlich klar umgrenzte Ideologie9 zu reservieren wäre, was bedeuten würde, dass für andere soziale Praxen der gruppenspezifischen Diffamierung, Herabsetzung und Ausgrenzung von Menschen andere Begriffe vonnöten wären. Was wäre einerseits mit einem engen Begriff – was andererseits mit einem viele Formen überspannenden Begriff des Rassismus analytisch und politisch gewonnen? Eine enge Bestimmung hält sich stärker an die ursprüngliche Bedeutung – die Kategorisierung, Hierarchisierung und Abwertung von Menschen auf Grundlage der Kategorie der ›Rasse‹. Enge Bestimmungen weigern sich, den Rassismusbegriff zum Passepartout für Diskriminierungsphänomene zu machen und haben ihre Stärke in analytischer Trennschärfe. In diesem Sinne argumentiert der britische Rassismusforscher Robert Miles, der sich immer wieder gegen eine Inflationierung des Rassismusbegriffs ausspricht: Ein »inflationärer Gebrauch [verringert] nicht nur die Erklärungskraft eines Begriffs, sondern untergräbt überhaupt die Bestimmtheit, mit der Aussagen gemacht werden können. […] Die Fähigkeit begriffliche Unterscheidungen zu treffen, ist nicht nur im Interesse einer theoretischen Genauigkeit notwendig, sondern auch, um potentiell erfolgreiche Interventionsstrategien formulieren zu können, mit denen sich rassistische Ideologien und Benachteiligungen, die aus den dadurch ins Werk gesetzten Ausgrenzungen erwachsen, bekämpfen lassen.« (Miles 2000: 22) So einleuchtend dieses Misstrauen gegen inflationäre Öffnung ist – als verselbständigtes Ideal kann es ungewollt Erklärungskraft preisgeben. Wissenschaftliches Denken ist immer eine Pendelbewegung zwischen Entgrenzung und Begrenzung von Begriffen. Beides ist wichtig, um ein Phänomen auszuloten und analytisch offen für bisher wenig be9

Ignorierte Rassismusforschung beispielsweise kulturalistisch argumentierende Formen von Rassismus, müsste sie mit einen engen Rassismusbegriff zu der Einschätzung kommen, dass der Rassismus eine Ideologie war, die im 19. Jahrhundert entstanden ist, Anfang des 20. Jahrhunderts voll entfaltet und Ende der 1940er Jahre – nach der Diskreditierung des Begriffs der ›Rasse‹ – so gut wie verschwunden ist (vgl. Miles 1991: 194).

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achtete Formen und Aspekte zu bleiben. Und so gibt es viele Argumente dafür, ein ganzes Set an Diskriminierungen, das sich nicht unmittelbar auf biologische ›Rasse‹ beruft, eben doch auch als Rassismus zu fassen: Neben dem biologistisch argumentierenden Rassismus gibt es einen zweiten, einen kulturalistisch argumentierenden Rassismus. Er hat sich nach dem Nationalsozialismus in Deutschland und in vielen anderen Gesellschaften durchgesetzt. Der alte, biologistisch argumentierende Rassismus, dessen Theorien im Nationalsozialismus Grundlage der massenhaften Vernichtung von Menschen wurden, galt als diskreditiert. Während es vor dem Nationalsozialismus normal war, sich auf Rassentheorien und die damals als fortschrittlich angesehene Eugenik zu beziehen, die sich zum Ziel setzte, die Entwicklung von ›Rassen‹ künstlich zu steuern, mochte nach dem Nationalsozialismus kaum jemand bekennen, solchen Vorstellungen anzuhängen. Der Begriff der ›Rasse‹ konnte nun nicht mehr einfach verwendet werden; die Vorstellungen jedoch, die mit ihm verbunden waren und sind, hielten sich. Diese rassistischen Ideen brauchten gewissermaßen einen neuen Ort, der fortan der Begriff ›Kultur‹, manchmal auch jener der ›Ethnie‹ war. Ausgangspunkt des kulturalistischen Rassismus ist nun die Behauptung, Menschen oder Gruppen verfügten über eine so starke Prägung in kultureller Hinsicht, dass diese Prägung einem unveränderlichen Wesensmerkmal, ja einer Quasi-Natur gleichkomme. Wo der biologistisch argumentierende Rassismus Menschen auf ›rassebedingte‹ Eigenschaften festschreibt, interpretiert der kulturalistische Rassismus Verhalten als essentielle und unveränderliche Eigenschaften kultureller Zugehörigkeit. Und diese Essentialisierung ist so verwandt mit dem ›alten‹ Rassismus, dass eine vollständige begriffliche Trennung die Sache verfehlen würde. Die begrifflichen und analytischen Schwierigkeiten, die der Begriff des kulturalistischen Rassismus mitführt, sind jedoch gewaltig: So ist mitunter die kulturalistisch-rassistische Annahme, bestimmte Kulturzugehörigkeiten produzierten feststehende Mentalitäten schwer zu scheiden hier vom sinnvollen soziologischen Gestus dort, Mentalitätsbestände und Haltungen aus sozialer Praxis und materiellen Bedingungen erklärbar zu machen statt sie in kontingente Individualität aufzulösen. Die gesellschaftskritische Frage, wie Individuen durch spezifische gesellschaftliche Strukturen geprägt werden, ist nicht dieselbe wie jene danach, welche kulturelle Herkunft unabänderlich einen Menschen determiniert – aber diese Scheidung ist immer wieder erklärungsbedürftig, immer wieder prekär. Gelingt sie, dann kann eine Analyse der determinierenden Faktoren des Sozialen durchaus gegen eine essentialistische Sicht auf die Bedeutung der kulturellen Prägung von Menschen argumentieren. Der kulturalistische Rassismus verklärt ›Kultur‹ geradezu zur Naturkonstante – ›Kultur‹ wird zur monistischen, unverfügbaren Einheit, und das Ausgeliefert- und Bestimmtsein der Menschen durch sie zur quasi-naturgesetzlichen Unabänderlichkeit. Der Einfluss von ›Kultur‹ auf die Individuen wird als statisch, unveränderlich, kollektivierend und homogenisierend sowie als einzig prägend behauptet. Diese Zuschreibung legitimiert dann Herrschaftsverhältnisse ebenso wie der alte, biologische Rassismus. Eine soziologische Analyse hingegen nimmt weder den Begriff der ›Kultur‹ als gegeben oder gar unabänderlich hin noch die unterkomplexen Annahmen über Determiniertheit. Gerade in seiner Differenz zum soziologischen Gestus ist der Begriff des kulturalistischen Rassismus, trotz der Problematik seines inflationären Gebrauchs, unbedingt zu verteidigen. Der argumentative Aufwand zu seiner Schärfung allerdings wächst, soll so eine Kritik am kulturalistischen Rassismus nicht auch je-

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ne soziologischen Kritiken delegitimieren, die die prägende Gewalt sozialer Verhältnisse betonen. Kritische Theorie nutzt häufig Begriffe wie jenen der ›zweiten Natur‹, also Überlegungen, die das Übermächtigwerden, das Als-Natur-Erscheinen sozial gewordener Verhältnisse fassen sollen. Ihre Ideologiekritik ist misstrauisch gegen Naturalisierungen des Sozialen einerseits, aber eben auch gegen die Verleugnung der ›Naturgewalt‹ des Sozialen und die Verdrängungen der inneren und äußeren Natur. Eine Beschränkung auf biologische Rassismen scheidet für sie darum aus. Kritische Theorie wird angesichts der Frage, was Rassismus sei, nicht zu grundsätzlich anderen Diagnosen oder gar zu gänzlich konträren Einschätzungen kommen als andere Rassismuskritiken. Sie wird aber die Vermittlungen zwischen kulturalistischen und biologischen Aspekten des Rassismus anders und anspruchsvoller denken müssen als andere. Kritische Theorie wird aufgrund anderer theoretischer Rahmungen insbesondere mit jenen Rassismuskritiken in Konflikt geraten, die sich positiv auf Identitäten beziehen. Sie wird in Konflikt geraten mit jenen, die sozialkonstruktivistisch orientiert die Rolle von Erfahrung für eine gesellschaftstheoretische Rassismuskritik überschätzen; mit jenen, die die Wirkmächtigkeit von Sprache vor dem Materiellen betonen und mit jenen, die Vernunft und Aufklärungsdenken zurückweisen als durch und durch eurozentrisch kontaminiert. In der folgenden Auseinandersetzung werden zu verschiedenen Themen und Problemstellungen der Rassismuskritik jene Theorien jenseits der Kritischen Theorie hinzugezogen, an denen sich eine kritisch-theoretische Perspektive sinnvoll ›abarbeiten‹ kann. Das hat nicht nur den Vorteil, dass hier an etablierte Diskussionen innerhalb des Forschungsfeldes angeschlossen werden kann, sondern auch, dass trotz meines Anliegens, hier eine Kritische Theorie des Rassismus zu entwickeln, in wichtige Debatten und den State of the Art der Rassismusforschung eingeführt wird.

1.3.1 Soziologische Theorien zum Rassismus Rassismusforschung in Deutschland, die erst in den 1980er Jahren begann, befasst sich mit der Entstehung, Beständigkeit und den Möglichkeiten der Abschaffung des Rassismus in interdisziplinärer Perspektive.10 Ein zentraler Gegenstand der Rassismusforschung ist die Abgrenzung von anderen Phänomenen wie der Fremdenfeindlichkeit einerseits und die Verflechtung mit anderen Phänomenen wie dem Sexismus, dem Nationalismus und dem Antisemitismus andererseits. Immer spielen auch Überlegungen zur Einbettung des Rassismus in größere Phänomene eine Rolle – z.B. psychologisch in das Syndrom des Autoritarismus, politisch in die Bewegungen der extremen Rechten, sozialkritisch in die Klassengesellschaft (einen Überblick zur Rassismusforschung in Deutschland bieten z.B.: Melter/Mecheril 2009; Hund 2012; Bojadžijev u.a. 2019). Rassismus wird in der Forschung hinsichtlich seiner »Bedeutungen, Verankerungen

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Als Entstehungskontext für die Rassismusforschung gilt einerseits die Selbstorganisierung ehemaliger so genannter Gastarbeiter:innen und der Austausch mit der britischen Rassismusdiskussion. Ein Höhepunkt war der Kongress Rassismus und Migration in Europa im Jahr 1990 in Hamburg, aus dem auch ein gleichnamiger Sammelband hervorgegangen ist (vgl. Bojadžijev u.a. 2019: 62).

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und Effekte auf ideologisch-diskursiv-kultureller, strukturell-gesellschaftlicher, institutionell-organisatorischer, interaktiver sowie intrapersonal-subjektiver Dimension untersucht« (Broden/Mecheril 2010: 14). Ein zentrales Anliegen der Rassismusforschung ist es, Rassismus als »gesellschaftliches Phänomen« zu verstehen, d.h. ihn weder als »pathologischen Teilbereich« (Bojadžijev u.a. 2019: 65) noch als Problem von Einzelnen zu behandeln. Auch ist die Ursache für Rassismus kein konflikthaftes Verhältnis zwischen Zugewanderten und ›Einheimischen‹ oder Effekt schlechter Assimilation oder Integration der Migrant:innen in die neue Gesellschaft (vgl. ebd.: 65). Da Rassismus maßgeblich aus der Abgrenzung zu dem ›Anderen‹ oder dem ›Fremden‹ seine Kraft bezieht, ist es wichtig zu verstehen, wie diese Bilder sich entwickeln, wie das »Fremdsein hergestellt« (ebd.: 66) wird. Ein Problem der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Rassismus, das häufig auf die wenig institutionalisierte und akademisch kaum verankerte Rassismusforschung ausstrahlt, ist die Ereignisgetriebenheit. Auslöser für die Beschäftigung mit Rassismus sind häufig gewaltförmige Ereignisse (Nachwende-Pogrome, das Bekanntwerden des NSU 2011, die militante Flüchtlingsabwehr nach dem ›Sommer der Migration‹ 2015). Ein weiteres Problem betrifft die Externalisierung des Rassismus in zeitlicher und räumlicher Hinsicht. Für die bundesrepublikanische Öffentlichkeit und auch für die Forschung war Rassismus lange entweder ein Phänomen des Nationalsozialismus, d.h. der Vergangenheit, der heutigen extremen Rechten (extrem rechte Jugendliche, Kameradschaften, Pegida etc.), somit »Gegenpol zur ›eigentlichen‹ hegemonialen und pluralen Bevölkerung« (Fehser 2017: 56) – oder drittens ein Phänomen anderer Länder wie den USA oder Frankreich (vgl. Bojadžijev u.a. 2019: 62f.). Der Gegenstand dieser Arbeit ist für die Soziologie also nicht neu – die Forschungen sind sehr umfassend. Arbeiten jedoch, die aus einer bestimmten theoretischen Perspektive Erklärungen zur Entstehung des Rassismus und zur Entwicklung seiner historischen Formen bereitstellen, sind seltener. Ich konzentriere mich im Folgenden zunächst auf die Darstellung der für diese Schrift relevanten Bereiche der Rassismusforschung, jene also, die dem Bereich der Theoriebildung angehören. Theorien erheben sich nicht auf dem Fundament eines Rassismusbegriffs; es sind andersherum Theorien und sozialtheoretische Axiome, die die Wahrnehmung und Konturierung dessen bestimmen, was Rassismus genannt wird. Das ist in der Wissenschaft nicht anders als im Alltagsbewusstsein, mit dem Unterschied, dass die wissenschaftliche Perspektive ihren theoretischen Analysestandpunkt auszuweisen hat. Der Begriff des Rassismus berührt immer auch die Frage danach, wie die grundlegenden Mechanismen und Funktionsweisen des Gesellschaftlichen aus soziologischer Perspektive beschrieben werden. Und je nachdem wie Rassismus begriffen wird, bestimmt sich dann auch die Auffassung verwandter Phänomene, wie etwa Antisemitismus, Nationalismus oder Sexismus und deren Zusammenwirken.11

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›Multiple Oppression‹ ist ein Konzept aus der Intersektionalitätsforschung, den die amerikanische Juristin Kimberlé W. Crenshaw geprägt hat. Mit diesem Begriff wird die Bündelung mehrfacher Unterdrückungs- und Diskriminierungserfahrungen in einer Person erfasst, wie sie beispielsweise von ›schwarzen‹ Frauen erlebt wird; unterdrückt sowohl wegen ihrer Hautfarbe als auch wegen ihres Geschlechts (vgl. Crenshaw 1989). Das Feld möglicher Diskriminierungen wurde in neueren

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Erklärungsansätze eindeutig bestimmten Zeitabschnitten zuzuordnen, ist schwierig. Stattdessen lässt sich aber zeigen, dass kaum ein großes soziologisches Paradigma sich nicht auch an Erklärungen zum Rassismus versucht hat, mit mehr oder minder starken Rezeptionserfolgen. »Eine allgemein gültige Definition von Rassismus liegt nicht vor, sie variiert je nach Theorietradition, Disziplin und Forschungsfokus.« (Bojadžijev 2015: 65) So hat die Chicago School Robert Ezra Parks bereits in den 1920er Jahren begonnen, Migration und ethnische Konflikte zu untersuchen (Park 1943; Park/Burgess 1921). Talcott Parsons (1945) legte eine strukturfunktionalistisch orientierte Arbeit zum Rassismus und ›rassischen‹ Konflikten vor, die allerdings kaum in die Rassismusforschung hineinwirkte. Weitgehend untergegangen sind in der Rassismusforschung – zu Unrecht – die frühen Versuche der Ethnomethodologie (Garfinkel 1940, 1942), Rassismus soziologisch zu beschreiben. In den 1940er und 1950er Jahren hat sich die Vorurteilsforschung mit der Sündenbocktheorie Gordon W. Allports (1954) und der Frustrations-Aggressionshypothese von John Dollard (1939) einen Namen gemacht. Überaus einflussreich wurden zeitweilig auch die sozialpsychologisch orientierten Studien zum autoritären Charakter der Kritischen Theorie, über die hier später viel zu reden sein wird (Adorno u.a. 1950). Der symbolische Interaktionismus Herbert Blumers hat mit seinem collectiv identity approach (Blumer 1958; Blumer/Duster 1980) ebenfalls einen Beitrag zum Verständnis des Rassismus geleistet, ohne aber auf Dauer Eingang in die Rassismusforschung gefunden zu haben. Die dem symbolischen Interaktionismus nahestehende Theorie der sozialen Identität (Taifel 1982) ist vor allem für die soziologische und sozialpsychologische Vorurteilsforschung im Allgemeinen wirkmächtig geworden. Auch wenn die Wissenssoziologie und die Phänomenologie mit ihren Konzepten wichtige Erkenntnisse für die Rassismusforschung in Hinblick auf rassistische Wissensvorräte, Symbolsysteme und Sinnstrukturen bereitstellt, sind die expliziten Rückgriffe auf diese Theorie überschaubar (Schütz 1944; Estel 1983, teilweise Terkessidis 1998; Staudigel 2012). Luhmann hat im Rahmen seiner Systemtheorie keine eigene Arbeit zum Thema Rassismus vorgelegt und auch die Anschlüsse an die Systemtheorie sind marginal (Jahraus 1997). Es sind vor allem marxistische und ideologietheoretische Ansätze (Balibar/ Wallerstein 1990; Miles 1989, 1991; Melber 1989; Ruf 1989), Rückgriffe auf Bourdieus Habituskonzept oder das der symbolischen Herrschaft (Bourdieu 1992; Weiß 2001, 2001a; Scherchel 2006; Kastner 2002) und die von Foucault ausgehenden diskurstheoretischen Ansätze des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (Jäger/Link 1993; Jäger/Kauffmann 2020; Müller 1994, 2017) sowie des Birminghamer Centre for Cultural Studies (Solomos u.a. 1982; Hall 1982, 1989, 1994), die besonders stark in der deutschen Rassismusforschung rezipiert werden. Ähnlich einflussreich sind seit den 1980er Jahren postkoloniale Ansätze in all ihrer Unterschiedlichkeit geworden (z.B. Fanon 1952, 1956; Said 1978; Vehlo 2016; Dietrich 2007; Dietze 2006). Zur Entwicklung eines theoretischen Verständnisses des Rassismus als Teil eines größeren menschenfeindlichen Syndroms haben in den letzten Jahren hierzulande vor

Intersektionalitätsverständnissen erweitert um beispielsweise Alter, Behinderung, Klasse, Aussehen.

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allem die autoritarismuskritischen Perspektiven empirischer Langzeitstudien beigetragen, auch wenn dort das hier als Rassismus Bezeichnete unter Ausländerfeindlichkeit bzw. Fremdenfeindlichkeit gruppiert wird (vgl. hier vor allen die Studie Deutsche Zustände (GMF) von 2002–2011; die Leipziger Mitte-Studien/FES 2006–2012, seit 2014 die MitteStudien am Bielefelder Institut für Gewalt und Konfliktforschung und die Leipziger Autoritarismusstudien seit 2018).

1.3.2 Kritische Theorie und Rassismus Die Arbeit verfolgt zwei spezifische Anliegen: Sie ist erstens der Versuch, diese Breite an theoretischen Zugängen, die in der Rassismusforschung existier(t)en, zurück in die aktuelle wissenschaftliche und politische Debatte zu holen und verschiedene Deutungen des Sozialen gegeneinander zu diskutieren. Seit einigen Jahren dominieren vor allem postkoloniale und diskurstheoretische Ansätze die Auseinandersetzung über den Rassismus. Postkoloniale Theorien, Privilegientheorie und Critical Whiteness-Perspektiven haben unzweifelhaft wichtige Forschungslücken sichtbar gemacht, Blickwinkel verschoben und Selbstreflexionen angeregt. Vor allem in der Bildungsarbeit und im Antirassismus haben sich diese theoretischen Bezüge bewährt und Selbstreflexion im Einzelnen gestärkt.12 Das hat allerdings häufig Gesellschaftskritik und materialistische Perspektiven ersetzt; Gegenstand der Kritik ist dann – ganz in neoliberaler Diktion – das einzelne Individuum in seinem Verhalten; und so wirkt jene Praxis in die Theoriebildung zurück. Meine Auseinandersetzung versteht sich als ein Beitrag zur kontroversen Auseinandersetzung mit diesen theoretischen Verlusten auch durch akademischen ›Fortschritt‹. Mein zweites Interesse gilt der Weiterentwicklung der Kritischen Theorie in ihrer frühen Tradition – durch Konfrontation der alten Überlegungen mit dem Forschungsgegenstand Rassismus, der bislang nicht systematisch unter dieser Theorieperspektive betrachtet wurde. Adorno und Horkheimer haben keine Theorie über den Rassismus vorgelegt. Spuren einer Rassismuskritik tauchen aber wiederholt in ihrer Gesellschaftskritik auf. Wichtige Referenzen für eine Kritische Theorie des Rassismus sind die Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno 1947), die Negative Dialektik (Adorno 1966), Zur Kritik der instrumentellen Vernunft (Horkheimer 1946), Studien über Autorität und Familie (Horkheimer 1936), Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda (Adorno 1951a), Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation (Löwenthal 1949), vor allem aber die Studien zum autoritären Charakter (1973) sowie die sozialpsychologischen Grundlegungen Erich Fromms (1932, 1936). In diesen Arbeiten sind theoretische und methodische Konzepte entwickelt worden, die für eine aktuelle Diskussion des Rassismus bedeutsam sind. Explizite Argumentationen der frühen Kritischen Theorie zum Problem des Rassismus gibt es nur wenige. Wenn bei Adorno über Rassismus gesprochen wird, dann im Zusammenhang mit dem Antisemitismus, an manchen Stellen anderer Werke über das Rassenvorurteil, über die Lüge von der Existenz von ›Rasse‹ – oder im Zusammenhang

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Die erfolgreiche Etablierung einer Critical Race Theorie ausgehend von US-amerikanischen Forscher:innen of Color hat nur wenig mit der frühen Kritische Theorie, um die es hier geht, zu tun.

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mit Auslassungen über das Rassedenken Spenglers und Wagners in seinen musiksoziologischen Schriften (vgl. dazu Adorno: Spengler nach dem Untergang (1950), Minima Moralia (1951) insbesondere »Melange«, einige Passagen im Jargon der Eigentlichkeit (1964), Schuld und Abwehr (1955), Wissenschaftliche Erfahrung in Amerika (1966b). Auch bei Horkheimer gibt es einzelne Thematisierungen von ›Rasse‹ und Rassismus (vgl. Notizen zur Dämmerung (1926–31), Die Juden und Europa (1939), Kritik der instrumentellen Vernunft (1946), Zum Begriff der Vernunft (1952). Thematisch wurde Rassismus als Ethnozentrismus oder als Rassenvorurteil dann im Kontext der Autoritarismusstudien.13 Die frühe Kritische Theorie hat sich zwar nie explizit dem Rassismus zugewandt, sondern vor allem dem Antisemitismus14 , sie können aber dennoch wichtige Einsichten zum Begreifen des Rassismus beitragen. Die Erfahrung der Kritischen Theoretiker, insbesondere Adornos im US-amerikanischen Exil, die »critique of fascism, anti-Semitism, and racism’s inverted constructions of the Other« (Oberle 2018: 19) waren stets Ausgangspunkt auch späterer philosophischer Auseinandersetzungen. Adorno erforschte in den Vereinigten Staaten als Sozialwissenschaftler, wie sich Antisemitismus und Rassismus als Reaktion auf Veränderungen sowohl der Ökonomie als auch der Persönlichkeitsstruktur des Individuums entwickelten. Diese mit anderen Forscher:innen gemeinsam betriebenen Studien mündeten 1950 in der Veröffentlichung des bahnbrechenden Werks The Authoritarian Personality (1950). Bis heute stellt das theoretische und methodologische Programm der autoritären Persönlichkeit einen anerkannten Deutungsrahmen zum Verständnis so genannter rechtspopulistischer Bewegungen und Entwicklungen dar. Die aktuelle Herausgeberschaft von Jeremiah Morelock mit dem Titel How to Critique Authoritarian Populism. Methodologies of the Frankfurt School von (2021) stellt die Bedeutung der frühen Kritischen Theorie wie folgt heraus: »In recent years there has also been a resurgence of interest in the writings of the early Frankfurt School. This trend has occurred in correlation with – and no doubt in reaction to – the rise of authoritarian populist movements in Europe and the Americas. There is good reason for this. No other school of thought has focused so thoroughly on understanding and critiquing the way authoritarian movements come to be embraced within liberal democracies. Yet Frankfurt School Critical Theory remains a rogue element in the academic social sciences, belonging to the margins rather than to the mainstream.« (Morelock/Sullivan 2021: 2) Von dieser Lebendigkeit zeugen weitere zeitgenössische Arbeiten, die Rassismus problematisieren und in einzelnen Artikeln direkt an die Kritische Theorie anknüpfen (z.B. Dahmer 1993, 2019; Demirović 1992; Claussen 1994, 2000; Gruppe K 1993; Bruhn 1994; Grigat 1999, 2007; Scheit 2000; Inowlocki 2003; Bojadžijev 2015; Marz 2017, 2021; Roepert 2020; Lenhard 2021; Elbe u.a. 2022). 13

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Auch zeitgenössische Rezeptionen des Autoritarismuskonzepts nutzen den Rassismusbegriff nicht oder stellen ihn in differenzierender Absicht neben die Begriffe Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit (vgl. die Mitte-Studien und die Studie Deutsche Zustände). Insbesondere die Arbeiten zum Antisemitismus haben sich stets an der Schnittstelle zwischen Soziologie und Sozialpsychologie bewegt (vgl. dazu beispielhaft: Fromm 1929; Horkheimer 1936; Adorno u.a. 1950; Adorno 1973; Horkheimer/Adorno 1952).

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Ulrike Marz: Wut auf Differenz

Ziel der Arbeit kann keine abgeschlossene Rassismusdefinition aus Perspektive der Kritischen Theorie sein. Zum einen widerspräche dies kritischer Theoriebildung: Aufgrund des problematischen Verhältnisses der Kritischen Theorie zum definitorischen Verfahren kategorialer Logik bleibt Rassismus der eindeutigen und abgeschlossenen Bestimmung versperrt. Andererseits würde eine abgeschlossene Definition des Rassismus der Dynamik des Rassismus nicht gerecht, wie Claussen feststellt (vgl. Claussen 2000: 137; ähnlich Bojadžijev 2018; Terkessidis 2018). Vielmehr gilt es zu zeigen, wie Rassismus als Herrschaftsform Ungleichheitsverhältnisse mit der Naturalisierung des gesellschaftlich produzierten inferioren Status’ von Menschen immer wieder neu rechtfertigt. Es wird daher auch kein konsistenter Theorierahmen für eine Kritische Theorie des Rassismus entwickelt werden können, denn die theoretischen Herleitungen im Denken der frühen Kritischen Theorie waren selbst diskontinuierlich. Das ist beispielhaft an der Bestimmung des Ideologiebegriffs wie auch der Ideologiekritik zu sehen. Die Arbeit zielt darauf, einige Überlegungen und Deutungen Kritischer Theorie – die sich mitunter auch widersprechen können – in die rassismuskritische Diskussion zu bringen.

1.4 Entwicklung eines Ansatzes Kritischer Theorie über Rassismus Im Zentrum meiner Anstrengungen steht die Entwicklung eines Ansatzes für eine Kritische Theorie des Rassismus. Ansatz ist hier in seiner Doppeldeutigkeit zu verstehen: als theoretischer Bezugspunkt und als Versuch, die theoretischen Prämissen einer solchen Theorie zu begründen. Neu ist in dieser dezidiert theoretischen Auseinandersetzung der explizite Rückgriff auf die Überlegungen der frühen Kritische Theorie, der Versuch, Rassismus mit ihrem methodischen und begrifflichen Instrumentarium zu beschreiben und zu kritisieren. Wie kann Kritische Theorie als theoretisches und methodisches Instrument dienlich sein, bestehende Erkenntnisse über den Rassismus kritisch neu zu bewerten? Mit der Brille der frühen Kritischen Theorie sollen also nicht nur gesellschaftliche Verhältnisse analysiert und bewertet werden, sondern auch bestehende Rassismuskritiken. Das zweite Kapitel setzt an mit einer methodischen Reflexion auf epistemische Grundannahmen Kritischer Theorie. Zunächst wird der Kritikbegriff innerhalb der frühen Kritischen Theorie entfaltet und die seit Habermas kontrovers geführte Diskussion um die Notwendigkeit des Ausweises eines normativen Maßstabes aufgenommen. Als zentrales methodisches Verfahren der Kritischen Theorie entnimmt immanente Kritik als materialistisches Kritikverfahren ihre Maßstäbe der konkreten Leidproduktion bestehender sozialer Verhältnisse und verbindet sich so mit einem emanzipatorischen Interesse. Während die marxsche immanente Kritik des Liberalismus auf die Verwirklichung von dessen uneingelösten Versprechen zielen konnte, kann eine immanente Kritik des Rassismus kaum an der Realisierung der rassistischen Versprechen orientiert sein. Diese Kritik kann aber zeigen, in welchen seiner Aspekte der Rassismus ideologisch ist, insofern er als Rechtfertigung von sozialer Ungleichheit im Angesicht der von der bürgerlichen Gesellschaft propagierten Prämissen von Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit etc. fungiert. Auch wenn immanente Kritik in Hinblick auf den Gegenstand

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Ulrike Marz: Wut auf Differenz

Ziel der Arbeit kann keine abgeschlossene Rassismusdefinition aus Perspektive der Kritischen Theorie sein. Zum einen widerspräche dies kritischer Theoriebildung: Aufgrund des problematischen Verhältnisses der Kritischen Theorie zum definitorischen Verfahren kategorialer Logik bleibt Rassismus der eindeutigen und abgeschlossenen Bestimmung versperrt. Andererseits würde eine abgeschlossene Definition des Rassismus der Dynamik des Rassismus nicht gerecht, wie Claussen feststellt (vgl. Claussen 2000: 137; ähnlich Bojadžijev 2018; Terkessidis 2018). Vielmehr gilt es zu zeigen, wie Rassismus als Herrschaftsform Ungleichheitsverhältnisse mit der Naturalisierung des gesellschaftlich produzierten inferioren Status’ von Menschen immer wieder neu rechtfertigt. Es wird daher auch kein konsistenter Theorierahmen für eine Kritische Theorie des Rassismus entwickelt werden können, denn die theoretischen Herleitungen im Denken der frühen Kritischen Theorie waren selbst diskontinuierlich. Das ist beispielhaft an der Bestimmung des Ideologiebegriffs wie auch der Ideologiekritik zu sehen. Die Arbeit zielt darauf, einige Überlegungen und Deutungen Kritischer Theorie – die sich mitunter auch widersprechen können – in die rassismuskritische Diskussion zu bringen.

1.4 Entwicklung eines Ansatzes Kritischer Theorie über Rassismus Im Zentrum meiner Anstrengungen steht die Entwicklung eines Ansatzes für eine Kritische Theorie des Rassismus. Ansatz ist hier in seiner Doppeldeutigkeit zu verstehen: als theoretischer Bezugspunkt und als Versuch, die theoretischen Prämissen einer solchen Theorie zu begründen. Neu ist in dieser dezidiert theoretischen Auseinandersetzung der explizite Rückgriff auf die Überlegungen der frühen Kritische Theorie, der Versuch, Rassismus mit ihrem methodischen und begrifflichen Instrumentarium zu beschreiben und zu kritisieren. Wie kann Kritische Theorie als theoretisches und methodisches Instrument dienlich sein, bestehende Erkenntnisse über den Rassismus kritisch neu zu bewerten? Mit der Brille der frühen Kritischen Theorie sollen also nicht nur gesellschaftliche Verhältnisse analysiert und bewertet werden, sondern auch bestehende Rassismuskritiken. Das zweite Kapitel setzt an mit einer methodischen Reflexion auf epistemische Grundannahmen Kritischer Theorie. Zunächst wird der Kritikbegriff innerhalb der frühen Kritischen Theorie entfaltet und die seit Habermas kontrovers geführte Diskussion um die Notwendigkeit des Ausweises eines normativen Maßstabes aufgenommen. Als zentrales methodisches Verfahren der Kritischen Theorie entnimmt immanente Kritik als materialistisches Kritikverfahren ihre Maßstäbe der konkreten Leidproduktion bestehender sozialer Verhältnisse und verbindet sich so mit einem emanzipatorischen Interesse. Während die marxsche immanente Kritik des Liberalismus auf die Verwirklichung von dessen uneingelösten Versprechen zielen konnte, kann eine immanente Kritik des Rassismus kaum an der Realisierung der rassistischen Versprechen orientiert sein. Diese Kritik kann aber zeigen, in welchen seiner Aspekte der Rassismus ideologisch ist, insofern er als Rechtfertigung von sozialer Ungleichheit im Angesicht der von der bürgerlichen Gesellschaft propagierten Prämissen von Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit etc. fungiert. Auch wenn immanente Kritik in Hinblick auf den Gegenstand

1 Wo anfangen? Zur Einleitung

Rassismus an Grenzen stößt, kann sie unter bestimmten Voraussetzungen doch ein geeignetes methodisches Verfahren zur Analyse und Kritik des Rassismus sein. Mein weiterer Darstellungsgang exponiert sodann einen Wandel im Gegenstand des Rassismus selbst, dann eine Dichotomie in seinen wissenschaftlichen Beschreibungen, um schließlich in mehreren Kapiteln mit und zu Kritischer Theorie die zuvor kenntlich gewordenen Widersprüche zu deuten und zu vermitteln. Das dritte Kapitel wird daher zunächst den Gegenstand Rassismus in seiner historischen Transformation beschreiben. Es wird hier gezeigt, wie sich die Bezugspunkte rassistischer Argumentation verändert haben: Von Natur zu Kultur. So bezieht sich seit dem Ende des Nationalsozialismus und der damit verbundenen Diskreditierung der Alten Rechten die so genannte Neue Rechte fast ausschließlich auf ›Kultur‹ und kaum noch auf ›Rasse‹, um Differenz, Separation, Segregation zu erzeugen und Ungleichheit zu begründen. Ein Schlüsselkonzept dieses Neo-Rassismus ist der Ethnopluralismus, der einerseits die Gleichwertigkeit verschiedener homogenisierter Gruppen wie ›Volk‹ und ›Kultur‹ postuliert und andererseits die Dringlichkeit ihrer Ge- und Verschiedenheit voneinander betont. Das neo-rassistische Mantra des ›Rechts auf Differenz‹ ist manchen anti-rassistischen Argumentation ähnlich, die das tolerante Nebeneinander, verbunden mit dem unbedingten Schutz dieser ›Kulturen‹, betonen. Überdeutlich werden, wie ich zeigen möchte, Ähnlichkeiten zwischen Ethnopluralismus und Rassismuskritik im Konzept der ›kulturellen Aneignung‹ (cultural appropriation). Schließlich wird in diesem Kapitel das Verhältnis von Universalismus und Partikularismus in der Rassismuskritik ausführlich problematisiert – später ein besonderer Einsatzpunkt für die Reflexionen Kritischer Theorie. Wo das dritte Kapitel also einen zentralen Aspekt des Wandels im Gegenstand pointiert, der von verschiedenen Beobachter:innen sehr ähnlich konstatiert wird, widmet sich das vierte Kapitel einem Wandel und einer Ausdifferenzierung in der Arena der Gegenstandsbeschreibung: Es blickt auf Metamorphosen nicht des Rassismus, sondern des wissenschaftlichen Diskurses über den Rassismus. Um dieser Rekonstruktion einen gemeinsamen Fokus zu geben, werden die theoretischen Auseinandersetzungen mit Rassismus auf Basis des bereits von Pierre Bourdieu (zur Entwicklung seiner praxeologischen Theorie) verwendeten Theoriepaars von Subjektivismus und Objektivismus untersucht: vom gesellschaftstheoretischen Objektivismus zum Subjektivismus. Es kristallisieren sich in diesen Passagen Dichotomien heraus, die mit der Brille der Kritischen Theorie später als widersprüchliche, aber eben doch vermittelbare Momente eines Gesamtzusammenhanges kenntlich werden. Das Kapitel soll also keinesfalls Ansätze in Theorieschubladen sortieren – es soll das Ungenügen einer Rassismustheorie kenntlich machen, die keinen spezifischen Begriff hat von der Vermittlung gesellschaftlicher Objektivität mit Subjektivierung und sich darum einseitig entweder auf Seite der Subjekttheorie oder des Objektivismus schlagen muss. Kritische Theorie teilt mit objektivistischen Theorien Annahmen über die Ideologieförmigkeit, über die für Herrschaft funktionale Naturalisierung des Sozialen sowie über die Verbindung mit anderen Ideologien. Sie teilt aber mit subjektivistischen Rassismuskritiken Bezüge zu Erfahrung, zur Bedeutung des Alltagslebens, zur Bedeutung des bewussten und unbewussten Innenlebens für den Rassismus. Kritische Theorie betont den Ideologiecharakter einer jeden Naturalisierung des Sozialen. Sie pointiert aber zugleich die Verdichtung von Gesellschaftlichem zur ›zweiten Natur‹, sie nimmt Marx’ zugleich polemischen wie analytischen Ausdruck von den

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Ulrike Marz: Wut auf Differenz

›gesellschaftlichen Naturgesetzen‹ beim Wort. Zweimal also verweigert sich Kritische Theorie, wie ich sie hier darstellen möchte, der Seitenwahl: Weder entscheidet sie sich zwischen Natur und Kultur (Kapitel 3), noch schlägt sie sich eindeutig auf eine Seite der Theoriedichotomie von Subjektivismus und Objektivismus (Kapitel 4). Sie ist stattdessen Austragungsort von Widersprüchen. Dass solche Widersprüche im Denken den Widersprüchen der Sache selbst adäquat sein können und darum nicht durch strenge Begriffslogik beseitigt werden dürfen, das ist eine erste Annäherung an den in früher Kritischer Theorie so wichtigen Begriff der Dialektik. Von hier ausgehend wird dann der sehr spezifische Gesellschaftsbegriff der Kritischen Theorie dargestellt (Kapitel 5), um dann in zwei langen Kapiteln die objektive Seite des Rassismus in ökonomiekritischer Ideologiekritik (Kapitel 6) und seine subjektive Seite autoritarismuspsychologisch (Kapitel 7) zu diskutieren. Diese beiden letzten Kapitel sollen Möglichkeiten sichtbar machen, die Defizite einer bloß objektivistischen oder einer bloß subjektzentrierten Rassismustheorie durch theoretisch bestimmte Vermittlung zu überwinden. Immer wieder korrespondieren diese Kapitel, die Ansätze zu einer Kritischen Theorie des Rassismus erarbeiten, mit den offenen Enden und Problemen der Rassismustheorie anderer Provenienz, wie sie in Kapitel 3 und 4 entfaltet werden. Dies wird zum Beispiel im fünften Kapitel deutlich: So ist der Begriff der Mimesis, der Kritischer Theorie als ein Zugang zum Anderen gilt, gewissermaßen konzeptionelles Pedant dessen, was in anderen Rassismuskritiken der Begriff der Alterität ist. Während Rassismus den Anderen künstlich aufrichtet, könnte echte Mimesis den Anderen empathisch abrüsten. Oder: Während Rassismustheorien darüber streiten, welcher epistemische Status der Erfahrung Rassismus-Betroffener eingeräumt werden muss, entwickelt Adorno eine Theorie der gesellschaftlichen Verstelltheit von Erfahrung. Nicht allein die rassistische Erfahrung, sondern auch die Unmöglichkeit neue Erfahrungen machen zu können, erscheint dann kritikwürdig. Das wirft neue Lichter auf die Diskussion um die spezifische gesellschaftliche (Leid-)Erfahrung rassifizierter Menschen und auf die Streits um die Frage, ob Erfahrungen zu einem uneinholbaren epistemischen Monopol in der Rassismusanalyse führen. Insbesondere Adorno hat mit seiner Kritik des identifizierenden Denkens die Grundlage geschaffen, um Identität der rassifizierenden Begriffsbildung (wie sie von den einflussreichen Rassentheorien des 19. Jahrhunderts erdacht wurde) und die kollektive Zwangsidentität in der Rassifizierung von Menschen zu kritisieren. Ob und inwieweit Identität – wie in den Identitätspolitiken des gegenwärtigen Antirassismus – ein positiver Bezugspunkt auch für eine Kritische Theorie des Rassismus sein kann, wird ebenfalls in Kapitel 5 diskutiert. Weil partikulare Erfahrung erst zur Erkenntnis wird, wenn klar ist, worin sich die Erfahrungen rassistisch Marginalisierter mit den Erfahrungen anderer Marginalisierter ähneln, und weil erhellt werden muss, auf welchen gemeinsamen gesellschaftlichen Fundamenten diese Erfahrungen stehen, soll das sechste Kapitel die ökonomie- und ideologiekritischen Überlegungen einer Kritischen Theorie zum Rassismus darlegen. Sie bieten die ›objektivistische‹ Seite der Frankfurter Sicht auf Rassismus. Unumwunden kann zugegeben werden, dass ökonomie- und ideologiekritische Perspektiven für eine Kritik des Rassismus zu kurz greifen. Die Betrachtung der Funktion von Rassismus für die kapitalistischen Produktionsverhältnisse jedoch zeigt, dass die Arbeitsteilung, dass sich

1 Wo anfangen? Zur Einleitung

die Füllung ganzer Sektoren auf dem Arbeitsmarkt gesellschaftlich etablierte Hierarchisierungen von Menschen zunutze machen kann. Eine ideologiekritische Perspektive auf diese ökonomische Mechanik zeigt, wie die objektive ›Minderwertigkeit‹ rassifizierter Menschen im Produktionsprozess mit der Behauptung ihrer natürlichen ›Minderwertigkeit‹ im Rassismus gerechtfertigt wird. Dass die ökonomiekritische Perspektive für die Kritische Theorie nur ein Bezugspunkt zur Kritik des Rassismus sein kann, wurde bereits gesagt. Eine weitere unverzichtbare Referenz findet sich in den sozialpsychologisch inspirierten Arbeiten zum Autoritarismus, die Gegenstand des siebten Kapitels sein werden. Beide, Ideologiekritik und Psychoanalyse, gelten Kritischer Theorie als komplementäre Schlüssel zur Reflexion. Motiv der Aufnahme von psychoanalytischen Perspektiven in die frühe Kritische Theorie war einerseits die Beobachtung, dass sich Menschen entgegen ihren objektiven Interessen verhalten: dass sie sich selbst oder anderen ohne erkennbare vernünftige Gründe schaden, indem sie sich für den Faschismus begeistern konnten. Andererseits war die Integration der Psychoanalyse motiviert durch die Annahme, dass die Auswirkungen kapitalistischer Gesellschaften so weitreichend sind, dass sich Entscheidendes der Vergesellschaftung im Individuum abspielt. Die Kritische Theorie interessiert sich mit diesen Motiven besonders für das Phänomen der Bildung kollektiver Identitäten. Das siebte Kapitel rekonstruiert darum zunächst das Autoritarismuskonzept der frühen Kritischen Theorie, beleuchtet anschließend die Aufnahme dieses Ansatzes in die aktuelle Autoritarismusforschung in Deutschland und sucht abschließend die ideologischen Verknüpfungen zwischen Rassismus und Antisemitismus, zwischen Rassismus und Sexismus sowie zwischen Rassismus und Nationalismus aus autoritarismuskritischer Perspektive aufzuzeigen. Das achte und letzte Kapitel beschließt die Arbeit mit einer rückschauenden Zuspitzung zentraler Thesen dieser Arbeit. Zugleich bietet der Schlussteil den Raum, die Vereinseitigungen anderer Rassismuskritiken in Hinblick auf deren Umgang mit den Dichotomien von Universalismus und Partikularismus, Subjektivismus und Objektivismus sowie Natur und Kultur theoretisch aufzulösen. Adornos Denken in Konstellationen heißt, einen Gegenstand zu umkreisen und auf verschiedene Weise zu erschließen – mit dem gewollten Ergebnis, dass die Kreise, die dabei gezogen werden, kein stringentes Ganzes an Theorie oder gar ein theoretisches System hervorbringen. So stehen beispielsweise die Ausführungen zu Adornos Erfahrungsbegriff und zur Mimesis in denkbar krassem Gegensatz zu jenen der objektivistischen Ideologiekritik. Beides macht Kritische Theorie aus: Offenheit für Spekulation und empirische Verpflichtung, begriffliche Strenge und bewusst zugelassene Widersprüchlichkeit.

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2 Methode als geronnener Inhalt – Der Kritikbegriff Kritischer Theorie

Das folgende Kapitel widmet sich der methodischen Reflexion auf epistemische Grundannahmen Kritischer Theorie. Zunächst wird der Kritikbegriff innerhalb der frühen Kritischen Theorie entfaltet (2.1) und die seit Habermas kontrovers geführte Diskussion um die Notwendigkeit des Ausweises eines normativen Maßstabes (2.2). Als zentrales methodisches Verfahren der Kritischen Theorie entnimmt immanente Kritik ihre Maßstäbe den konkreten sozialen Verhältnissen und verbindet sich mit einem emanzipatorischen Interesse (2.3). Immanente Kritik ist das Kritikverfahren negativer Dialektik entlang von Begriffen wie Negation und Nichtidentischem (2.4). Geschichtlichkeit ist sowohl Perspektive Kritischer Theorie wie Geltungsprinzip sozialer Phänomene selbst. Die zentrale Stellung der Historizität und des Zeitkerns von Wahrheit für die Kritische Theorie und damit für eine Kritische Theorie des Rassismus ist Gegenstand des letzten Abschnitts in diesem Kapitel (2.5).

2.1 Was ist Kritik? Die Aufgabe der Philosophie sieht Adorno darin, »als Kritik, als Widerstand gegen die sich ausbreitende Heteronomie, als sei’s auch machtloser Versuch des Gedankens, seiner selbst mächtig zu bleiben und angedrehte Mythologie wie blinzelnd resignierte Anpassung nach ihrem eigenen Maß des Unwahren zu überführen« (Adorno 1962: 464). An Kritik sei es, der »Freiheit Zuflucht zu verschaffen« (ebd.). Mit Kritik ist für Adorno die, wenn auch geringe, Hoffnung verknüpft, durch Reflexion einen Beitrag dazu zu leisten, »Unfreiheit, Unterdrückung, das Übel, das so wenig eines Beweises bedarf, daß es das Übel sei, wie dass es existiert« (ebd.: 465), zu beenden. Adorno formuliert an solchen Stellen sehr klar seine Weigerung, wissenschaftliche Beweise dafür zu erbringen, dass es wirklich Unterdrückung und Unfreiheit gibt – und dass sie abgeschafft gehören. Er weigert sich, mit solchen Beweisen, seine Kritik empirisch abzusichern, die Geste der Kritik mit einem schlüssigen Begründungsprogramm als statthaft auszuweisen. Dieser Aspekt

2 Methode als geronnener Inhalt – Der Kritikbegriff Kritischer Theorie

Das folgende Kapitel widmet sich der methodischen Reflexion auf epistemische Grundannahmen Kritischer Theorie. Zunächst wird der Kritikbegriff innerhalb der frühen Kritischen Theorie entfaltet (2.1) und die seit Habermas kontrovers geführte Diskussion um die Notwendigkeit des Ausweises eines normativen Maßstabes (2.2). Als zentrales methodisches Verfahren der Kritischen Theorie entnimmt immanente Kritik ihre Maßstäbe den konkreten sozialen Verhältnissen und verbindet sich mit einem emanzipatorischen Interesse (2.3). Immanente Kritik ist das Kritikverfahren negativer Dialektik entlang von Begriffen wie Negation und Nichtidentischem (2.4). Geschichtlichkeit ist sowohl Perspektive Kritischer Theorie wie Geltungsprinzip sozialer Phänomene selbst. Die zentrale Stellung der Historizität und des Zeitkerns von Wahrheit für die Kritische Theorie und damit für eine Kritische Theorie des Rassismus ist Gegenstand des letzten Abschnitts in diesem Kapitel (2.5).

2.1 Was ist Kritik? Die Aufgabe der Philosophie sieht Adorno darin, »als Kritik, als Widerstand gegen die sich ausbreitende Heteronomie, als sei’s auch machtloser Versuch des Gedankens, seiner selbst mächtig zu bleiben und angedrehte Mythologie wie blinzelnd resignierte Anpassung nach ihrem eigenen Maß des Unwahren zu überführen« (Adorno 1962: 464). An Kritik sei es, der »Freiheit Zuflucht zu verschaffen« (ebd.). Mit Kritik ist für Adorno die, wenn auch geringe, Hoffnung verknüpft, durch Reflexion einen Beitrag dazu zu leisten, »Unfreiheit, Unterdrückung, das Übel, das so wenig eines Beweises bedarf, daß es das Übel sei, wie dass es existiert« (ebd.: 465), zu beenden. Adorno formuliert an solchen Stellen sehr klar seine Weigerung, wissenschaftliche Beweise dafür zu erbringen, dass es wirklich Unterdrückung und Unfreiheit gibt – und dass sie abgeschafft gehören. Er weigert sich, mit solchen Beweisen, seine Kritik empirisch abzusichern, die Geste der Kritik mit einem schlüssigen Begründungsprogramm als statthaft auszuweisen. Dieser Aspekt

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von Kritik, der die Maßstabsdiskussion im Kontext normativer Theorien berührt, wird im folgenden Abschnitt eingehender besprochen. Dirk Braunstein arbeitet weitere Aspekte von Adornos Kritikverständnis heraus: So sei Kritik kein Standpunktdenken, kein Distinktionskriterium und kein Abstandsmesser. Kritik ist auch kein Dagegensein aus Prinzip oder in Permanenz. Kritik hat keinen bestimmten Ort. Sie kann nicht nur von Akademiker:innen formuliert werden, sondern von jeder reflektierten Person. Kritik ist nicht versöhnlich mit dem falschen Ganzen; sie hat keine bestimmte Funktion, wie z.B. die, dass sie konstruktiv zu sein habe, um anerkannt zu werden. Damit ist Kritik nicht anschlussfähig und sie sucht auch nicht nach einem ›Anschluss‹ (vgl. Braunstein 2008: 34–42). Denn die scharfe Bestimmung des Falschen muss sich nicht mäßigen dadurch, dass sie die Realisierbarkeit des Richtigen nicht ebenso scharf zeigen kann. Kritische Theorie betont, »dass die Forderung, konstruktiv zu sein eine Art Unterdrückung oder Abstumpfung von Kritik ist und damit vor allem die Funktion der Aufrechterhaltung eines Status quo erfüllt, der geändert werden sollte« (Freyenhagen 2017: 242). Kritik des Rassismus muss sich daher nicht auf die Suche nach Kompromissen machen, mit denen, wie gemeinhin gesagt wird, ›alle leben können‹. Begriffe der Kritik sind nicht ahistorisch; sie wandeln sich und passen sich ebenfalls dem Wandel des Gegenstandes Rassismus an. Kritik ist keine Klage und keine Beanstandung; sie zielt auf das Ganze (vgl. Braunstein 2008: 40, 43). Konservative unterscheidet sich von progressiver Kritik an der Machtfrage. Konservative Kritik will die Macht erlangen oder hat die »Macht des Faktischen« hinter sich; sie argumentiert deshalb immer konstruktiv. Progressive Kritik macht nicht nur die Macht zum Thema, »sondern auch Politik im Allgemeinen zum Gegenstand ihrer Kritik« (ebd.: 47). Sie will nicht erhalten, nicht konservieren, und sie will nicht einem »historisch bereits Dagewesenen zur erneuten Durchsetzung verhelfen« (ebd.). Kritik versucht Missstände, Ungleichbehandlung, Unwohlsein aus den Strukturen einer Gesellschaft zu bestimmen. Sie gibt sich nicht damit zufrieden, schnell Schuldige zu benennen, sondern sie ist radikal insofern, als dass sie nach den Ursachen für gesellschaftliche Probleme sucht (ähnlich: Demirović 2008: 32). Schon gar nicht ist Kritik Ressentiment, Affekt oder Meinen: Kritik will wissen und nicht meinen. Die Empörung, das Gefühl, dass etwas nicht stimmt, kann durchaus der Ausgangspunkt von Analyse und Kritik sein, sie erschöpft sich aber niemals im Gefühl. Die allgegenwärtige Diskussion darüber, wie verständig Politik, Soziologie oder auch Zivilgesellschaft mit rassistischen Äußerungen aus der Bevölkerung umgehen sollten – ab wann sozialen Akteuren mit ihrem Unbehagen Kritikfähigkeit zugesprochen wird –, die hat gleichsam ihr akademisches Spiegelbild in der Konfrontation einer Soziologie der Kritik und Kritischer Theorie. Soziologien der Kritik wollen – anders als Kritische Theorie – nicht selbst Kritik üben, sondern Kritik zum Untersuchungsobjekt machen, bei Akteuren und in gesellschaftlichen Beziehungen. Dort soll Kritik untersucht, aufgeklärt – manchmal auch zu einem Bewusstsein ihrer selbst gebracht werden.1 Kritik soll aus dieser Perspektive 1

Einwände solcher Theorien gegen den ideologiekritischen Zugang Kritischer Theorie stützen sich im Wesentlichen auf folgende Argumente: Zunächst wird der Vorwurf erhoben, Kritische Theorie beziehe sich auf einen absoluten Kritikmaßstab. Damit verbunden sei die Vorstellung, dass So-

2 Methode als geronnener Inhalt – Der Kritikbegriff Kritischer Theorie

nicht von der Soziologie formuliert werden, sondern Kritik sei lediglich als soziologischer Gegenstand zu behandeln, den es in der Gesellschaft gleichsam ethnologisch zu beobachten gelte. Die Position der pragmatischen Soziologie führt jedoch zu einem gravierenden Problem, nähme man sie bei der Analyse des Rassismus ein: Indem die pragmatische Soziologie nämlich die »Leute, ihre Einstellungen und Wissensbestände, so wie die daraus [sich] ergebenden Handlungen und Handlungsfolgen« (Vobruba 2009: 15) nicht nur als soziologische Objekte in den Blick nimmt, adelt sie auch solche Deutungen von Gesellschaft zur Kritik, die rassistisch oder antisemitisch argumentieren. Ein ethnologisch inspirierter Vorrang der Akteure erklärt diese zu den einzigen Repräsentant:innen reflexiver Praxis, und so wird »jede theoretisch begründete Form von Kritik suspendiert«, wie Celikates (2009: 167) treffend feststellt. Soziologie der Kritik und Kritische Theorie unterscheiden sich also in der Beschreibung des eigenen Auftrags, des eigenen epistemischen Standorts. Und dieser Konflikt schlägt sich nieder in der Bestimmung des Objekts: Was ist Kritik, was nur Pseudo-Kritik – was etwas ganz anderes? Und steht es Soziolog:innen zu, darüber zu urteilen? Das wird für das Problem des Rassismus so wichtig, weil Rassist:innen sich selbst häufig zu Kritiker:innen stilisieren. Wie Kritik von Unmutsäußerungen zu unterscheiden ist, hat bereits Leo Löwenthal in seiner Studie Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation (1949) treffend dargestellt. Löwenthal spricht hier zwar nicht explizit von »Kritik«, die von rassistischen oder antisemitischen Äußerungen abzuheben wäre, aber er wirft die Unterscheidung zwischen Reformern/Revolutionären und Agitatoren auf. Die kritischen Äußerungen der Agitierenden »sind nicht klar umrissen und gezielt, sondern richten sich auf jeden Aspekt des gesellschaftlichen Lebens.« (Löwenthal 1949: 20) Agitierende verorten die von ihnen angesprochenen Probleme niemals auf der Ebene der bestehenden Sozialstruktur. Ungleichheiten und Unzulänglichkeiten der Gesellschaftsordnung werden zwar thematisiert, aber nicht strukturell für die Nöte von Menschen verantwortlich gemacht. Stets werden nur einzelne Personen oder Gruppen beschuldigt und deren Eliminierung gefordert, weil einzig ihr schlechter Charakter, ihre Boshaftigkeit die Ursache der schlechten gesellschaftlichen Situation sei (vgl. ebd.). »In der Tat tritt der Gedanke einer objektiven Ursache gänzlich in den Hintergrund; was übrig bleibt, ist einerseits das subjektive Unbehagen und andererseits der persönlich dafür verantwortliche Feind.« (Ebd.: 21) Agitierende beziehen sich zwar auf reale Wirklichkeit, aber nicht mittels rationaler Begriffe. Zentral sind hingegen emotionale ›Argumente‹. Das unkonkrete, nicht begrifflich gefasste Unbehagen des Publikums wird durch die Agitation verallgemeinert. Die irrationalen Momente der Anklagen werden übertrieben und verstärkt. Mit ziolog:innen über einen epistemischen Sonderstatus verfügten, der sie mit einem privilegierten Zugang zur Wirklichkeit, vielleicht gar mit richtigem Bewusstsein ausstatte. Daran knüpft komplementär der Vorwurf an, dass Kritische Theorie andere soziale Akteure als ›Verblendete‹ herabwürdige und die Haltung einnehme, dass nur Soziolog:innen oder andere externe Personen in der Lage seien, die Akteure über ihre soziale Lage aufzuklären. Schließlich betrifft der letzte Vorwurf die Dominanz von einstellungsspezifischen Eigenschaften von Akteuren in Kritischer Theorie vor situationalen Aspekten, wie sie u.a. von subjektivistischen Theorien untersucht werden. Diese Vorwürfe werden insbesondere durch die Vertreter:innen einer pragmatischen Soziologie bzw. Soziologie der Kritik vorgetragen (Boltanski/Honneth 2009; Boltanski 2010; Vobruba 2009, 2013; Dux/Globisch 2012; Holz 1990).

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dem Begriff der »umgekehrten Psychoanalyse« (Löwenthal 1978: 61) wird von Löwenthal der Unterschied von Kritik und Agitation auf den Punkt gebracht: Faschistische Agitation thematisiert emotionale Unzufriedenheit, Ängste und Verunsicherungen, um sie zu verstärken – nicht um sie durchzuarbeiten. Damit hält faschistische Agitation, anders als die Psychoanalyse, die Anhänger:innen in Unmündigkeit und Abhängigkeit. Kritik hingegen ist reflexiv und anti-autoritär (vgl. Steinert 2007: 251). Sie will Menschen ermächtigen, zu erkennen und zu handeln. Titus Stahl bestimmt Gesellschaftskritik als »Handlungszusammenhang«, in dem soziale Praktiken in den Blick kommen, die für die meisten Subjekte einer Gesellschaft relevant sind.2 Die Praktiken werden von dieser Kritik so beschrieben, dass eine Kritik an ihnen, gemessen an bestimmten Normen oder anderen evaluativen Bezugspunkten, plausibel erscheint. Die Gründe für die Kritik erscheinen dem Kritisierenden so überzeugend, dass eine Veränderung der Praktiken legitimiert werden kann. Die Gesellschaftskritik trägt sich auch aus der Überzeugung, dass es Adressat:innen für diese Kritik gibt, die dazu »motiviert werden können, die Praktiken so zu verändern, dass sie den Normen oder evaluativen Standards besser entsprechen« (Stahl 2013: 34). Das Objekt der Gesellschaftskritik ist also die Gesellschaft, die sozial hergestellt und damit veränderbar ist. Gesellschaftskritik bezieht sich nicht auf Einzelpersonen oder kleine Gruppen, sondern die Kritik ist für weite Teile der Gesellschaft relevant. Sie bewertet einen sozialen Sachverhalt auf der Basis einer Norm, die auf den jeweiligen Sachverhalt anwendbar ist und schafft damit eine Verständigung innerhalb einer Gesellschaft über eben diese Norm (vgl. ebd.: 20–22). Diese Norm ist die Vermeidung menschlichen Leids, das durch soziale Praxis erzeugt wird.

2.3 Leid als Maßstab der Kritik Warum versuchen kritische Theorien seit Habermas viel angestrengter, ihre Kritik zu begründen, ihre normativen Maßstäbe auszuweisen? Habermas versucht dies systematisch in seiner Theorie des kommunikativen Handelns (1981), indem er das kommunikationstheoretische Argument ausformuliert, also die Rolle von Sprache betont. »Die Theorie des kommunikativen Handelns ist keine Metatheorie, sondern Anfang einer Gesellschaftstheorie, die sich bemüht, ihre kritischen Maßstäbe auszuweisen.« (Habermas 1981: 7) Mit Sprache als universellem Medium der Verständigung glaubt Habermas einen überhistorischen Maßstab zur Begründung von Kritik identifiziert zu haben, weil Sprache helfe, Geltungsansprüche3 zu formulieren und sie in den öffentlichen Diskurs einzuführen – wo dann durch den »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« (ebd.: 52f.) Kritik auch zur Einstellungsveränderung führen kann. Menschen führen in jedem verständigungsorientierten Sprechen implizite und reziproke Normen mit, auf die Kritik sich fortan beziehen kann. Habermas konstruiert die »Universalpragmatik« (Habermas 1976: 353),

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Soziale Praktiken sind für Stahl Handlungsweisen, die »sozial konstituiert sind und soziale Bedeutung besitzen« (Stahl 2013: 20). Eine Norm kann nach Habermas’ (idealtypischer) Diskursethik nur dann Geltung beanspruchen, wenn alle Teilnehmenden eines Diskurses darüber einig sind, dass diese Norm existiert.

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dem Begriff der »umgekehrten Psychoanalyse« (Löwenthal 1978: 61) wird von Löwenthal der Unterschied von Kritik und Agitation auf den Punkt gebracht: Faschistische Agitation thematisiert emotionale Unzufriedenheit, Ängste und Verunsicherungen, um sie zu verstärken – nicht um sie durchzuarbeiten. Damit hält faschistische Agitation, anders als die Psychoanalyse, die Anhänger:innen in Unmündigkeit und Abhängigkeit. Kritik hingegen ist reflexiv und anti-autoritär (vgl. Steinert 2007: 251). Sie will Menschen ermächtigen, zu erkennen und zu handeln. Titus Stahl bestimmt Gesellschaftskritik als »Handlungszusammenhang«, in dem soziale Praktiken in den Blick kommen, die für die meisten Subjekte einer Gesellschaft relevant sind.2 Die Praktiken werden von dieser Kritik so beschrieben, dass eine Kritik an ihnen, gemessen an bestimmten Normen oder anderen evaluativen Bezugspunkten, plausibel erscheint. Die Gründe für die Kritik erscheinen dem Kritisierenden so überzeugend, dass eine Veränderung der Praktiken legitimiert werden kann. Die Gesellschaftskritik trägt sich auch aus der Überzeugung, dass es Adressat:innen für diese Kritik gibt, die dazu »motiviert werden können, die Praktiken so zu verändern, dass sie den Normen oder evaluativen Standards besser entsprechen« (Stahl 2013: 34). Das Objekt der Gesellschaftskritik ist also die Gesellschaft, die sozial hergestellt und damit veränderbar ist. Gesellschaftskritik bezieht sich nicht auf Einzelpersonen oder kleine Gruppen, sondern die Kritik ist für weite Teile der Gesellschaft relevant. Sie bewertet einen sozialen Sachverhalt auf der Basis einer Norm, die auf den jeweiligen Sachverhalt anwendbar ist und schafft damit eine Verständigung innerhalb einer Gesellschaft über eben diese Norm (vgl. ebd.: 20–22). Diese Norm ist die Vermeidung menschlichen Leids, das durch soziale Praxis erzeugt wird.

2.3 Leid als Maßstab der Kritik Warum versuchen kritische Theorien seit Habermas viel angestrengter, ihre Kritik zu begründen, ihre normativen Maßstäbe auszuweisen? Habermas versucht dies systematisch in seiner Theorie des kommunikativen Handelns (1981), indem er das kommunikationstheoretische Argument ausformuliert, also die Rolle von Sprache betont. »Die Theorie des kommunikativen Handelns ist keine Metatheorie, sondern Anfang einer Gesellschaftstheorie, die sich bemüht, ihre kritischen Maßstäbe auszuweisen.« (Habermas 1981: 7) Mit Sprache als universellem Medium der Verständigung glaubt Habermas einen überhistorischen Maßstab zur Begründung von Kritik identifiziert zu haben, weil Sprache helfe, Geltungsansprüche3 zu formulieren und sie in den öffentlichen Diskurs einzuführen – wo dann durch den »zwanglosen Zwang des besseren Arguments« (ebd.: 52f.) Kritik auch zur Einstellungsveränderung führen kann. Menschen führen in jedem verständigungsorientierten Sprechen implizite und reziproke Normen mit, auf die Kritik sich fortan beziehen kann. Habermas konstruiert die »Universalpragmatik« (Habermas 1976: 353),

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Soziale Praktiken sind für Stahl Handlungsweisen, die »sozial konstituiert sind und soziale Bedeutung besitzen« (Stahl 2013: 20). Eine Norm kann nach Habermas’ (idealtypischer) Diskursethik nur dann Geltung beanspruchen, wenn alle Teilnehmenden eines Diskurses darüber einig sind, dass diese Norm existiert.

2 Methode als geronnener Inhalt – Der Kritikbegriff Kritischer Theorie

den normativen Hintergrund des Sprachgeschehens. Das Maßstabsproblem wird auch von Habermas nicht ›gelöst‹: Die Verlagerung der Maßstabsdiskussion in den öffentlichen Diskurs mit dem Vorteil (formeller) demokratischer Partizipation umgeht zwar den Vorwurf des epistemischen Privilegs von Soziologie oder Philosophie, aber die Begründungspflicht der Kritik selbst wird damit nur verschoben. Seit einigen Jahrzehnten scheint keine Gesellschaftskritik mehr legitimiert, so sie nicht ein ausgearbeitetes Begründungsprogramm ihrer Kritik vorlegen kann. Mit Begründungsprogramm ist der Aufweis der »Quellen von Normativität« (Freyenhagen 2019: 44) gemeint oder anders gesprochen, Argumente dafür, wie »kritische Reflexion gerechtfertigt werden kann« (Flügel-Martinsen 2010: 141). Ein Nebeneffekt dieser Begründungsbemühungen ist, dass die Formulierung eines Begründungsprogramms meist zu Lasten der Diagnose gesellschaftlicher Strukturzusammenhänge selbst geht. Soziologie verliert sich in eher philosophischen und wissenschaftssoziologischen Vorabklärungen. Der Eindruck entsteht, dass die soziologische Arbeit bereits mit der Ausarbeitung einer solchen Begründung getan sei. Weil man sehr ausgiebig nachweist, dass Kritik legitim ist, kommt man nicht mehr zur Kritik. Fabian Freyenhagen4 folgt der frühen Kritischen Theorie in deren Ablehnung eines ausgearbeiteten Begründungsprogramm für Kritik, denn nur im expliziten Verzicht auf ein Begründungsprogramm sei die Kritische Theorie angemessen kritisch. Denn der Maßstab von Kritik sei erklärtermaßen jenseits des akademischen Kosmos und auch jenseits jeden Zusammenhangs des ›guten‹ Begründens und Argumentierens: Der Maßstab ist schlicht das Vorhandensein von Elend, Unrecht und Unfreiheit in allen Facetten. Die Kriterien, die konstruktive Kritik anlegt – nützlich, erfolgversprechend, zweckmäßig, produktiv oder wertvoll – sind nicht die Kategorien, an denen sich Gesellschaftskritik orientieren kann (vgl. Freyenhagen 2018: 141–143). Es gibt keinen neutralen Ort in einer umkämpften, parteiischen Welt, weshalb es auch vergebens ist, einen neutralen Standpunkt von einer soziologischen Reflexion zu erwarten und abzuverlangen, sich »von herrschenden Interessen« (ebd.: 146) leiten zu lassen. Demirović glaubt ebenfalls nicht, dass die (v.a. philosophische) Begründung von Kritik die kritische Gesellschaftstheorie überhaupt voranbringe. Denn Kritik müsse – hier bezieht er sich auf Foucault – in viele Richtungen wirken, zumindest dann, wenn sie als Bemühen um »›Entunterwerfung‹« verstanden wird (vgl. Demirović 2003: 15). Ihre Wirkung bezieht sie nicht aus ihrer Statthaftigkeit am Maß akademischer Begründungsanforderungen. In der Kritik des Rassismus geht es nicht darum, nachzuweisen dass Rassismus als Herabwürdigung von und Gewalt gegen Menschen falsch ist – ein solcher argumentativer Nachweis wäre zynisch – ähnlich zynisch wie zu begründen, warum »Auschwitz« sich nicht wiederholen dürfe; eine solche Begründung nennt Adorno an berühmter Stelle »Frevel« (Adorno 1966: 358). Das diskursive Ausweisen der Kritikgeste steht also Kritischer Theorie nicht offen. Warum ist Kritik dennoch plausibel, evident, begründbar und notwendig? Eine mögli-

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Der Text von Freyenhagen Was ist orthodoxe kritische Theorie? ist bereits 2017 in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie erschienen und hat eine scharfe Kritik von Stefan Müller-Doohm und Roman Yos auf sich gezogen (Müller-Doohm/Yos 2018). Auf diese Kritik antwortete Freyenhagen wiederum mit einer Replik, um seinen Ansatz zu verteidigen (Freyenhagen 2019).

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Ulrike Marz: Wut auf Differenz

che Begründung von Kritik – eine mit Angriffspunkten nach allen Seiten – könnte sein, Kritik an der Vorstellung eines bestimmten Wesens des Menschen zu orientieren, dem die gesellschaftlichen Umstände nicht gerecht werden. Zur Negativität und Historizität des Denkens Kritischer Theorie gehört allerdings die Weigerung, das Wesen des Menschen jenseits seiner gesellschaftlichen Konstitution und Prägung in anthropologischen Konstanten zu bestimmen. Adorno wendet sich wie schon Marx in der sechsten Feuerbachthese5 gegen Anthropologien, die versuchen, das Wesen des Menschen positiv zu bestimmen, und er begründet dies mit dem Vorrang der Negativität in der Kritischen Theorie: »Daß nicht sich sagen lässt, was der Mensch sei, ist keine besonders erhabene Anthropologie, sondern ein Veto gegen jegliche.« (Adorno 1966: 128) Das Wesen des Menschen ist hingegen gesellschaftlich, so Adorno (1958: 260). Daher können für die Kritische Theorie niemals anthropologische oder teleologische Annahmen Referenzpunkt von Kritik sein, da dadurch die Rolle der Bedeutung vom historischen Gewordensein in der Analyse unterminiert würde. Negativität bekommt in der Kritischen Theorie Geltung nicht nur als Weigerung, nicht zu postulieren, was das bessere Leben sei, sondern ebenso in der Weigerung, Natur selbst zu charakterisieren. Aussagen über eine vermeintlich wahre Natur des Menschen im Allgemeinen finden sich nicht. Schon gar nicht finden sich Aussagen darüber, was die wahre, bessere oder nicht-abwertende Natur dessen sei, was der Rassismus ›Rasse‹ nennt. Derartige Bestimmungsversuche verbieten sich schon deshalb, weil sie die Annahme von ›Rassen‹ affirmieren würden, und so täten, als seien nur die rassistischen Bestimmungen von ›Rasse‹ falsch. »Es gibt für ihn [Adorno, U. M.] keinen Fluchtpunkt außerhalb von Geschichte, von dem her ›Natur‹ sich benennen ließe.« (Becker-Schmidt 2004: 73) Gleichzeitig ist vor allem für Adorno in der Kritischen Theorie Natur, die von vielen dekonstruktivistischen Theorien ganz aufgelöst wird, der Rettungsanker: Es gelte die »Erinnerung an die Zugehörigkeit der Menschen zur Natur zu bewahren, zu der sie ein friedlich-befriedetes Verhältnis entwickeln müssten, um sich selbst von zwanghafter Selbst- und Fremdbeherrschung befreien zu können« (ebd.: 72). Becker-Schmidt verweist in diesem Zusammenhang auf Horkheimers/Adornos Dialektik der Aufklärung: »In dem Augenblick, in dem der Mensch das Bewußstsein seiner selbst als Natur sich abschneidet, werden alle die Zwecke, für die er sich am Leben erhält, der gesellschaftliche Fortschritt, die Steigerung aller materiellen und geistigen Kräfte, ja Bewußtsein selber nichtig.« (Horkheimer/Adorno 1947: 73) Der Mensch erlangt nur Macht über die Natur, indem er seine innere opfert. Aber solche ambivalenten Rettungen des Naturbegriffs – untauglich zur Anthropologie, wichtig als reflexives Moment der Herrschaftskritik – begründen eben keinen Maßstab der Kritik. Was dann?

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Die sechste Feuerbachthese lauetet: »6. Feuerbach löst das religiöse Wesen in das menschliche Wesen auf. Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Feuerbach, der auf die Kritik dieses wirklichen Wesens nicht eingeht, ist daher gezwungen: 1. von dem geschichtlichen Verlauf zu abstrahieren und das religiöse Gemüt für sich zu fixieren, und ein abstrakt – isoliert – menschliches Individuum vorauszusetzen; 2. Das Wesen kann daher nur als ›Gattung‹, als innere, stumme, die vielen Individuen natürlich verbindende Allgemeinheit gefaßt werden.« (MEW 3: 6; Herv. i.O.; Zeilenumbrüche entfernt, U. M.)

2 Methode als geronnener Inhalt – Der Kritikbegriff Kritischer Theorie

Der einzige tragfähige Referenzpunkt für Gesellschaftskritik ist die Leidensfähigkeit des Menschen. Kritik zielt auf die Vermeidung und Abschaffung von gesellschaftlich bedingtem Leid, das nicht nur Einzelne erleben. Gesellschaftskritik richtet sich gegen das Leid, das durch die Gesellschaft erzeugt wird. Leid meint hier nicht nur den körperlichen Schmerz, sondern auch den psychischen.6 Der Bezug auf Leiderfahrungen geht mit der Form immanenter Kritik zusammen: »Der Bezug auf Leiderfahrungen […] ist ein immanenter Ankerpunkt der Kritik. Nicht nur zeigt er auf, dass die Menschen selbst ihre Lebenssituation als ungenügend empfinden und ein (formales) Interesse an einer besseren Gestaltung derselben haben. Bestenfalls lässt sich […] so auch belegen, dass im Leiden die allgemeinen normativen Vorbedingungen für ein gutes Leben verletzt werden, auf die sich die Gesellschaftskritik letztlich beruft.« (Schumann 2018: 13) Und der Bezug auf das Leiden trifft sich noch mit einem weiteren Element der Kritischen Theorie, nämlich deren Diktum der Negativität. Denn von der Leiderfahrung lässt sich nicht auf die bessere Gesellschaft schließen, wohl aber zeigt das Leiden an, dass es anders werden muss, damit Leid endet. Kritische Theorie des Rassismus, die bei Leid ansetzt, das der Rassismus produziert, muss also weder die eigenen Maßstäbe noch die Notwendigkeit der Überwindung des Rassismus begründen. Eine Diskussion, die rassistische Gegenargumente ernst nähme, würde Gewalt, Ausgrenzung und Ausbeutung relativieren. Statt eines Begründungsprogramms sollte Rassismuskritik – wie Freyenhagen es für die Kritische Theorie vorschlägt (2018: 149f.) – auf Selbstreflexion setzen, um Dogmatismus und Irrationalismus auch in den ›eigenen Reihen‹ zu begegnen. Und sie muss ausgeschlossene Stimmen einbeziehen, in diesem Fall vor allem die Erfahrungen der von Rassismus betroffenen Menschen.

2.3 Immanente Kritik als materialistische Kritik Im folgenden Abschnitt sollen die Charakteristika der immanenten Kritik skizziert und die Bedeutung dieser Kritikform für die frühe Kritische Theorie dargestellt werden.7 Will 6

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Während beim psychischen Leid nicht geklärt ist, wie sich das Verhältnis von psychischen Erkrankungen (Burnout, Depression etc.) und gesellschaftlichen Aspekten konkret darstellt (vgl. Schumann 2018: 10), lässt sich bei körperlichem Leid dieses Verhältnis oft klarer bestimmen. Auch Axel Honneths kritische Theorie bezieht sich auf das Kritikverfahren der immanenten Kritik. Maßstab von Gesellschaftskritik solle demnach die Rückbindung von Kritik an ein »empirisches Interesse« (Honneth 2000: 88) in der sozialen Realität sein; also an die Form von Kritik, die Horkheimer als praktische Kritik bezeichnet hat. Nur an jene Kritik, deren Maßstäbe vorwissenschaftlich verankert sind, könne ›professionelle‹ Gesellschaftskritik anschließen (vgl. Honneth 1986: 381). Honneth sieht zwar, dass Forderungen praktischer Kritik nicht deshalb schon Maßstab von Kritik sein können, allein weil sie geäußert werden und damit immanenten Charakter haben. Denn nicht zwingend sind diese Forderungen deshalb gerecht oder vernünftig. Gleichzeitig fußt nach Honneths Verständnis immanente Kritik aber auf unverwirklichten und doch immanent postulierten Normen und Ansprüchen einer Gesellschaft (vgl. Honneth 2008: 332f.). Auch wenn Honneth immanente Kritik mit der Autorisierung von Kritik durch soziale Kritik zusammenzieht, ist imma-

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2 Methode als geronnener Inhalt – Der Kritikbegriff Kritischer Theorie

Der einzige tragfähige Referenzpunkt für Gesellschaftskritik ist die Leidensfähigkeit des Menschen. Kritik zielt auf die Vermeidung und Abschaffung von gesellschaftlich bedingtem Leid, das nicht nur Einzelne erleben. Gesellschaftskritik richtet sich gegen das Leid, das durch die Gesellschaft erzeugt wird. Leid meint hier nicht nur den körperlichen Schmerz, sondern auch den psychischen.6 Der Bezug auf Leiderfahrungen geht mit der Form immanenter Kritik zusammen: »Der Bezug auf Leiderfahrungen […] ist ein immanenter Ankerpunkt der Kritik. Nicht nur zeigt er auf, dass die Menschen selbst ihre Lebenssituation als ungenügend empfinden und ein (formales) Interesse an einer besseren Gestaltung derselben haben. Bestenfalls lässt sich […] so auch belegen, dass im Leiden die allgemeinen normativen Vorbedingungen für ein gutes Leben verletzt werden, auf die sich die Gesellschaftskritik letztlich beruft.« (Schumann 2018: 13) Und der Bezug auf das Leiden trifft sich noch mit einem weiteren Element der Kritischen Theorie, nämlich deren Diktum der Negativität. Denn von der Leiderfahrung lässt sich nicht auf die bessere Gesellschaft schließen, wohl aber zeigt das Leiden an, dass es anders werden muss, damit Leid endet. Kritische Theorie des Rassismus, die bei Leid ansetzt, das der Rassismus produziert, muss also weder die eigenen Maßstäbe noch die Notwendigkeit der Überwindung des Rassismus begründen. Eine Diskussion, die rassistische Gegenargumente ernst nähme, würde Gewalt, Ausgrenzung und Ausbeutung relativieren. Statt eines Begründungsprogramms sollte Rassismuskritik – wie Freyenhagen es für die Kritische Theorie vorschlägt (2018: 149f.) – auf Selbstreflexion setzen, um Dogmatismus und Irrationalismus auch in den ›eigenen Reihen‹ zu begegnen. Und sie muss ausgeschlossene Stimmen einbeziehen, in diesem Fall vor allem die Erfahrungen der von Rassismus betroffenen Menschen.

2.3 Immanente Kritik als materialistische Kritik Im folgenden Abschnitt sollen die Charakteristika der immanenten Kritik skizziert und die Bedeutung dieser Kritikform für die frühe Kritische Theorie dargestellt werden.7 Will 6

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Während beim psychischen Leid nicht geklärt ist, wie sich das Verhältnis von psychischen Erkrankungen (Burnout, Depression etc.) und gesellschaftlichen Aspekten konkret darstellt (vgl. Schumann 2018: 10), lässt sich bei körperlichem Leid dieses Verhältnis oft klarer bestimmen. Auch Axel Honneths kritische Theorie bezieht sich auf das Kritikverfahren der immanenten Kritik. Maßstab von Gesellschaftskritik solle demnach die Rückbindung von Kritik an ein »empirisches Interesse« (Honneth 2000: 88) in der sozialen Realität sein; also an die Form von Kritik, die Horkheimer als praktische Kritik bezeichnet hat. Nur an jene Kritik, deren Maßstäbe vorwissenschaftlich verankert sind, könne ›professionelle‹ Gesellschaftskritik anschließen (vgl. Honneth 1986: 381). Honneth sieht zwar, dass Forderungen praktischer Kritik nicht deshalb schon Maßstab von Kritik sein können, allein weil sie geäußert werden und damit immanenten Charakter haben. Denn nicht zwingend sind diese Forderungen deshalb gerecht oder vernünftig. Gleichzeitig fußt nach Honneths Verständnis immanente Kritik aber auf unverwirklichten und doch immanent postulierten Normen und Ansprüchen einer Gesellschaft (vgl. Honneth 2008: 332f.). Auch wenn Honneth immanente Kritik mit der Autorisierung von Kritik durch soziale Kritik zusammenzieht, ist imma-

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man Rassismus kritisieren, ist eine zentrale Frage zunächst die nach der Form der Kritik. Mit immanenter Kritik ist es möglich »Partikularinteressen, die sich als Allgemeininteressen getarnt haben, zu entschleiern« (Havel 2017: 265). Sie war stets Teil des methodischen Verfahrens der frühen Kritischen Theorie. Jedoch scheint immanente Kritik am Gegenstand des Rassismus an ihre Grenzen zu kommen. Denn immanente Kritik, nimmt den Gegenstand beim Wort, misst seinen Begriff an seiner Realität. Doch wo sollte immanente Kritik im Rassismus einen Bezugspunkt finden, den sie als ›uneingelöstes Versprechen‹ einfordern könnte? Was am Rassismus wäre ›beim Wort‹ zu nehmen? Zunächst gilt es, den Begriff der Immanenz zu klären. Immanent ist in Hinblick auf die Gesellschaftsanalyse »eine Darstellung, wenn sie aus der Perspektive des anscheinend-scheinbaren Zusammenhangs [der Gesellschaft, U. M.] ihren Gegenstand erfaßt und dessen Realisierungsprozeß verfolgt. In Mimesis an die erscheinende Systematik ihres Gegenstandes ist auch die immanente Darstellung systematisch aufgebaut: sie beginnt mit den abstrakten begrifflichen Vorstellungen des Ganzen und entwickelt in ihrem Verlauf diese zu einer konkreten differenzierten Gedankentotalität. Sie setzt dabei nur das voraus, was auch das bürgerliche Selbstverständnis voraussetzt […]. [Es] werden die normativen Ansprüche von Freiheit und Gleichheit vorausgesetzt, deren Verwirklichung der gesellschaftliche Zusammenhang zu sein beansprucht.« (Lohmann 1980: 247) Die Analyse schmiegt sich demnach ihrem Gegenstand an, nimmt dessen Ansprüche beim Wort und misst ihn an der Verwirklichung dieser Ansprüche. Das »Urteil über die Einlösung dieser normativen Ansprüche« (ebd.) ist die Kritik. Rahel Jaeggi nennt fünf Merkmale immanenter Kritik. Erstens knüpfe immanente Kritik an Normen an, die konstitutiv für bestimmte Praktiken sind. Dabei handele es sich um begründete, vernünftige Normen, die einer bestehenden sozialen Situation und dem institutionellen Setting inhärent seien. Immanente Kritik beurteilt zweitens den widersprüchlichen Zusammenhang zwischen Normen und Realität nicht alleine am Maß der Verwirklichung der Norm, sondern sie bestimmt eben diesen Zusammenhang als defizitär. Drittens sei dieser Widerspruch nicht zufällig, sondern notwendig. Dies liege im Charakter der Normen und in der Beschaffenheit der jeweiligen Praktiken und Institutionen begründet (z.B. die gleichzeitige Zuschreibung und Untergrabung von Verantwortung oder die gleichzeitige Forderung von Kreativität und Konformismus in kapitalistisch organisierten Gesellschaften). Immanente Kritik ist viertens transformativ: Sie ziele nicht auf die Wiederherstellung einer bestehenden Ordnung (auf funktionierende Übereinstimmung zwischen Norm und Realität), sondern auf deren Transformation. Diese Transformation zielt fünftens auf die Realität und die Norm (vgl. Jaeggi 2009: 286–288).

nente Kritik, um Geltung zu beanspruchen, nicht zwingend darauf angewiesen, die Zustimmung sozialer Akteure nachzuweisen. Immer jedoch bedarf Ideologiekritik der Anbindung an die sozialen Akteure insoweit, als sie zur Rekonstruktion geltender Ansprüche, Normen und Werte nicht nur auf die einstigen Freiheits- und Gleichheitsversprechen der kapitalistischen Moderne schauen, sondern sich der normativen Gültigkeit dieser Postulate oder deren etwaiger Substituierung in der Gegenwart (empirisch) sicher sein sollte.

2 Methode als geronnener Inhalt – Der Kritikbegriff Kritischer Theorie

Immanente Kritik nimmt für die Kritische Theorie eine besondere Stellung ein, weil sie hier materialistisch gewendet wird. Materialistisch ist sie gegen Hegel, der für Adorno in vielerlei Hinsicht Urheber des Programms der Immanenz ist. Materialistisch ist sie, weil sie mit Marx ihre Maßstäbe den sozialen Verhältnissen entnimmt, und diese Verhältnisse als materielle Praxis, gezeichnet durch Arbeit, mithin als Austausch mit Natur bzw. Naturbeherrschung denkt. Die Maßstäbe sind nicht einem Ideenhimmel entnommen, sind nicht die dieser Praxis von außen entgegengehaltenen Werte und Normen. Kritik kommt nicht aus dem ›Nichts‹, sie arbeitet sich an ihrem Gegenstand, insbesondere an dessen Denkfiguren und Begriffen ab. Marx hat immanente Kritik als methodisches Verfahren praktiziert, weil sie ihm als angemessenes Instrument seiner gegen den Idealismus gewandten theoretischen Perspektive erschien. Folglich konnte Kritik ihren Referenzpunkt auch nicht in dem idealistischen Umfeld philosophischer Debatten über Normen und Werte finden. »Es hindert uns also nichts, unsere Kritik […] also an wirkliche Kämpfe anzuknüpfen und mit ihnen zu identifizieren.« (MEW 1: 345) Marx wollte der Welt nicht einfach doktrinär ein neues Prinzip entgegenhalten. Eine andere Gesellschaft könne nur auf den Prinzipien der alten aufgebaut werden (vgl. ebd.). Im sechsten Kapitel werde ich die Ideologiekritik als spezifisches Verfahren der immanenten Kritik in der Marx-Adorno-Tradition vorstellen. In Kulturkritik und Gesellschaft (1951) stellt Adorno das Verfahren immanenter Kritik als dialektisches dar. Immanente Kritik »nimmt das Prinzip ernst, nicht die Ideologie an sich sei unwahr, sondern ihre Prätention, mit der Wirklichkeit übereinzustimmen. Immanente Kritik geistiger Gebilde heißt, in der Analyse ihrer Gestalt und ihres Sinnes den Widerspruch zwischen ihrer objektiven Idee und jener Prätention zu begreifen, und zu benennen, was die Konsistenz und Inkonsistenz der Gebilde an sich von der Verfassung des Daseins ausdrückt. Solche Kritik bescheidet sich nicht bei dem allgemeinen Wissen von der Knechtschaft des objektiven Geistes, sondern sucht dies Wissen in die Kraft der Betrachtung der Sache selbst umzusetzen.« (Adorno 1951b: 27)8 Lohmann betont, dass »zu einer immanenten Kritik, aber zugleich ›wahrhaften‹ Kritik […] immer auch ein transzendierendes Moment« (Lohmann 1980: 254) gehöre. Immanente Kritik überschreitet die Orientierung am selbst gesetzten, normativen Maßstab einer Gesellschaft dann, wenn sich zeigen lässt, dass ein Gegenstand im Widerspruch zum ganzen Zusammenhang steht. Dann kann Kritik dem sozialen Gegenstand nicht mehr nur die Nicht-Entsprechung formaler Prinzipien vorhalten, sondern muss ihn im Gesamtzusammenhang kritisieren (vgl. Lohmann 1980: 248). Bei Adorno lakonisch: »Nur von innen kommt man heraus.« (Adorno 1970: 410) Bezogen auf den Rassismus

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Immanente Kritik ist das methodische Instrumentarium, dass die Gesellschaftskritikerin davor bewahrt zu glauben, sie könne per se einen epistemischen Sonderstatus einnehmen. Diese Kritikform ist auch das Instrumentarium, das die Verstrickung jeder Kritik in ihren Gegenstand mitreflektieren kann. Wer also theoretisch über Rassismus schreibt, ohne wie ich selbst praktisch (negativ) betroffen zu sein, kann nicht für sich reklamieren, nicht selber auch Teil der strukturellen Manifestation des Rassismus zu sein – sprich sich in manchen Situationen so zu verhalten, dass von Rassismus betroffenen Menschen daraus ein Nachteil erwächst.

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heißt das: Nicht nur sollte Rassismuskritik den Rassismus dafür anklagen, dass er dem gesellschaftlichen Anspruch nach Gleichheit widerstrebt, sondern sie hat zu zeigen, dass dieser Anspruch im bestehenden kapitalistischen Gesellschaftszusammenhang schwer zu realisieren ist. Adorno stellt heraus, dass immanente Kritik nicht allein auf der tiefgehenden Auseinandersetzung mit einem Gegenstand und dessen etwaigen Inkonsistenzen, Unlogiken etc. fuße oder dass sich Wahrheit nicht ausschließlich durch die »Versenkung in den Gegenstand« herausschäle. Es brauche das »subjektive Wissen ums schlechte Ganze« (Adorno 1951b: 28) der Gesellschaftskritikerin, dass in die Auseinandersetzung mit dem Gegenstand eingehe. Wenn immanente Kritik also nicht nur intern auf der Basis des Gegebenen kritisiert wird, heißt dies, dass durchaus Prinzipien hinzutreten können, die außerhalb des eigenen Anspruchs und der eigenen Prämissen des Untersuchungsgegenstands – Rassismus – liegen. Immanente Kritik ist nicht identisch mit interner Kritik: Interne Kritik findet ihre Anknüpfungspunkte in den vorhandenen Werthaltungen und Selbstverständnissen der Gesellschaftsmitglieder und der mangelhaften Realisierung solcher Selbstverständnisse. Immanente Kritik ist zusätzlich angereichert mit einem normativen Moment. Und diese normativen Überzeugungen braucht es, wenn das Verfahren der Kritik nicht nur Widersprüche identifizieren soll, sondern eine Richtungsanweisung ist, wie dieser Widerspruch idealerweise aufzulösen wäre. Was ideal ist, kann nur bestimmt werden, wenn ein normatives Moment hinzutritt: Dass Rassismus Menschen zum Leiden bringt und dass dieses Leid menschengemacht und somit vermeidbar ist, soll hier als normative Überzeugung einer Kritischen Theorie des Rassismus gelten. Da immanente Kritik prinzipiell auf die Auflösung der Widersprüche zielt und damit auf die Verwirklichung der postulierten, gesellschaftlich weithin geteilten Normen, Werte, Prinzipien etc.9 , erzeugt das Programm – Kritik solle ihren Gegenstand »mangelnde Verwirklichung« nachweisen – im Falle des Rassismus Befremden: Denn hier besteht der aufzulösende Widerspruch nicht darin, nachzuweisen, dass der Rassismus – ob als theoretisches Gebäude, als loses Alltagswissen, als institutionelle Praxis oder als Rechtfertigung für strukturelle Ungleichheit – seine »Versprechen nicht einlöst«, seinen »Begriff nicht verwirklicht«. Der immanent kritikwürdige Widerspruch besteht darin, dass Rassismus im Widerspruch zu anderen Postulaten bürgerlicher Gesellschaft steht und doch mit ihr verknüpft ist – so dass die Realisierung dieser Postulate durch die Einrichtung der Gesellschaft systematisch verhindert ist. Die Frage, die diese Arbeit beschäftigt, ist die, ob Rassismus immanent kritisiert werden kann. Adorno demonstriert dieses Problem immanent verfahrender Kritik am Beispiel der konservativen Kulturkritik Oswald Spenglers in dessen Werk Der Untergang des Abendlandes (1919). Nach Spengler liege »eine ursprüngliche Anlage in jedem Menschen, jeder Kultur, jeder Kulturstufe vor, eine ursprüngliche Neigung und Bestimmung, eine der beiden Formen [der Weltfassung – Natur oder Geschichte, U. M.] als Ideal vorzuziehen. Der Mensch des Abendlandes

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Das können auch implizite handlungsleitende Orientierungen sein, auf die sich soziale Akteure aber gar nicht explizit berufen (vgl. dazu bspw. Jaeggi 2014).

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ist in hohem Grade historisch angelegt, [.] der antike Mensch war es um so weniger.« (Spengler 1919: 140) Seinen Weltzugang nennt er Psychognomik10 : »Aber Menschenkenner sein bedeutet nun auch, jene menschlichen Organismen größten Stils, die ich Kulturen nenne, kennen, ihre Miene, ihre Sprache, ihre Handlungen begreifen, wie man die eines einzelnen Menschen begreift.« (Ebd.: 146) Zwar setzt Spengler ›Kulturen‹ nicht gleich mit dem, was seine Zeitgenoss:innen ›Rasse‹ nennen, aber sein Kulturbegriff ist essentialistisch: Kulturen werden als separierte Einheiten verstanden; ›Angehörige‹ dieser Kulturen werden jenseits von Geschichte und jenseits spezifischer Erfahrungen gezeichnet, die Menschen machen.11 Gegen solche Handhabung von ›Kultur‹ wendet sich Adorno: »Nirgendwo offenbart ihm das Besondere, wessen die tabellarische Übersicht seiner vergleichenden Kulturmorphologie ihn nicht vorher schon versichert hätte. Seine Methode nennt sich stolz Physiognomik. In Wahrheit ist sein physiognomisches Denken an den totalen Charakter der Kategorien gebunden. Alles Einzelne und noch das Entlegene wird zur Chiffre des Großen, der ›Kultur‹, weil die Welt so lückenlos gedacht ist, daß für nichts Raum bleibt, was nicht seinem Wesen nach spannungslos mit jenem Großen identisch wäre.« (Adorno 1950: 59) Die Wahrheit in Spenglers Denken erkennt Adorno darin, dass dieser »den Blick aufs ›System‹ im einzelnen auch dort noch freizulegen [vermag], wo es mit einer Freiheit sich gibt, hinter der doch bloß die universale Abhängigkeit sich verbirgt« (ebd.). Dieses Wahrheitsmoment – der Abhängigkeit des Einzelnen vom Ganzen – jedoch wird sogleich vom Unwahren überschattet, wenn Spengler das ›Ganze‹ in Kultur ohne materiellen Unterbau auflöst (vgl. Adorno 1950: 59f.). Was Adorno hier problematisiert, lässt sich übertragen auf den kulturalistisch argumentierenden Rassismus heute und auf den Versuch, ihn immanent zu kritisieren: Der wesentliche Bezugspunkt des Neo-Rassismus ist, wie ich im nächsten Kapitel noch ausführlich zeigen werde, der Rekurs auf Kultur. Diese erscheint als Eigenständiges, als losgelöst von den materiellen Bedingungen, als etwas, was nur aus sich selbst heraus zu begreifen sei, wie die rechten Vorstellungen des Ethnopluralismus glauben machen wollen. »Gegen die immanente Kritik der Kultur läßt sich vorbringen, daß sie das Entscheidende, die jeweilige Rolle der Ideologie in den gesellschaftlichen Konflikten unterschlage. Indem man überhaupt etwas wie eine eigenständige Logik der Kultur, sei’s auch bloß methodisch, supponiere, mache man sich zum Mitschuldigen an der Abspaltung 10

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Spengler erklärt den Begriff der Physiognomik wie folgt: »Alle Arten, die Welt zu begreifen, dürfen letzten Endes als Morphologie bezeichnet werden. Die Morphologie des Mechanischen und Ausgedehnten, eine Wissenschaft, die Naturgesetze und Kausalbeziehungen entdeckt und ordnet, heißt Systematik. Die Morphologie des Organischen, der Geschichte und des Lebens, alles dessen was Richtung und Schicksal in sich trägt, heißt Physiognomik.« (Spengler 1919: 144f.) »Kulturen sind Organismen. Kulturgeschichte ist ihre Biographie. […]. Geschichte einer Kultur ist die Verwirklichung ihres Möglichen. Die Vollendung ist gleichbedeutend mit dem Ende.« (Spengler 1919: 150f.)

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der Kultur, dem ideologischen proton pseudos, denn ihr Gehalt liege nicht rein in ihr selbst, sondern in ihrem Verhältnis zu einem ihr Auswendigen, dem materiellen Lebensprozeß. […]. In der Tat darf die dialektische Wendung der Kulturkritik nicht die Maßstäbe der Kultur hypostasieren. Sie hält sich dieser gegenüber beweglich, indem sie ihre Stellung im Ganzen einsieht. Ohne solche Freiheit, ohne Hinausgehen des Bewußtseins über die Immanenz der Kultur wäre immanente Kritik selber nicht denkbar: der Selbstbewegung des Objekts vermag nur zu folgen, wer dieser nicht durchaus angehört.« (Adorno 1951b: 23) Adorno macht also deutlich, dass Kritische Theorie ›Kultur‹ weder nur von außen als Ideologie infrage stellen noch ausschließlich von innen an ihren eigenen Maßstäben messen kann. Von diesen theoretischen, hier eigentlich noch methodisch klärenden Überlegungen zur immanenten Kritik aus ergeben sich bereits Perspektiven auf den Neo-Rassismus/ Ethnopluralismus. Wird Neo-Rassismus als moderne Kulturkritik von rechts begriffen, dann lassen sich folgende Überlegungen zu seiner Kritik formulieren: Indem der NeoRassismus die ›Kultur‹ zu etwas Eigenständigem hypostasiert – gleichsam als etwas betrachtet, was nur für sich sei –, spaltet er die ›Kultur‹ von deren materiellen Bedingungen ab. Das, was Ethnopluralist:innen als ›Kultur‹ behaupten, darf von Kritik nicht als ›Kultur‹ übernommen werden, denn diese Behauptung bildet bereits die Grundlage für rassistische Abgrenzung. Die Kritik des Ethnopluralismus und des Neorassismus muss über die Vorstellung, was ›Kultur‹ sei, hinausgehen. Und die Kritik kann nicht auf die Realisierung der unverwirklichten Ansprüche zielen, sondern nur auf das Aufgeben dieser partikularen Norm (der Ungleichheit beispielsweise). D.h., immanente Kritik »darf nicht in allen Situationen die Form annehmen, dass sie die Verwirklichung der immanenten Normen einer Praxis einklagt. In manchen Fällen muss sie sich darauf beschränken, die soziale Praxis als Ganze dafür zu kritisieren, dass in ihr immanente und explizite Normen in einem Widerspruch stehen.« (Stahl 2013: 407) Immanente Kritik soll Kritiker:innen nicht dabei helfen herauszufinden, was die richtige Norm ist, sondern sie soll nachweisen, dass bestimmte Normen »eine Basis in der sozialen Realität haben« (Stahl 2014: 54; Herv. i.O.) – oder anders gesprochen, dass Normen material fundiert sind. Ausgehend von diesen allgemeinen Darstellungen immanenter Kritik, lassen sich erste Aussagen zur immanenten Kritik des Rassismus formulieren: Der Rassismus in seiner klassischen, überwiegend biologistisch argumentierenden, aber auch in seiner kulturalistisch argumentierenden Variante ist erstens Teil moderner, kapitalistischer Gesellschaften – er ist nicht ihr Außen. Zweitens produziert der moderne Kapitalismus rassistische Ideen, lehnt sie aber gleichzeitig auch ab. Drittens verkörpert der gleichgeltende Mensch als Produkt des modernen Kapitalismus »absolute Reziprozität und totale Äquivalenz« (Bruhn 1994: 77). Das heißt: Gleichheit wird propagiert in den Sphären des Ökonomischen und des Rechts. Viertens postuliert Rassismus aber eben keine Gleichheit. Die schlecht realisierte Gleichheit wird mit dem Rassismus legitimiert. Fünftens hängt der (klassische und der kulturalistische) Rassismus der Vorstellung an, dass die ›Rasse‹/›Kultur‹ nur durch Segregation, die dem Schutz vor Vermischung dient, bei sich selbst bleiben kann oder erst wieder zu sich selbst kommen kann. Soll Rassismus mittels immanenter Kritik nicht nur als Ergebnis einer unerfüllten Norm – nämlich

2 Methode als geronnener Inhalt – Der Kritikbegriff Kritischer Theorie

der der Gleichheit – attackiert werden, gilt es, die Rassismuskritik mit Perspektiven anzureichern, die, wie Lohmann sagt, ein »transzendierendes Moment« (Lohmann 1980: 254), d.h. ein emanzipatorisches Interesse haben12 . Wir dürfen davon ausgehen, dass hinter den Normen und Ansprüchen – Freiheit und Gleichheit beispielsweise –, von denen hier die Rede ist, ein emanzipatorisches Interesse steht. Doch auch Emanzipation ist nicht transhistorisch. Zur Beurteilung, ob eine Forderung emanzipatorisch ist, bedarf es des Bezugsrahmens einer konkreten historischen Wirklichkeit. Emanzipation bedarf inhaltlicher Füllung. Das ist kein Argument gegen den Negativismus und auch keines für den Relativismus. Wenn sich Kritische Theorie nur auf immanente Kritik stützte und die Normen und Ansprüche, die empirisch artikuliert werden, nicht auf ihre historische Angemessenheit prüfte, stünde sie unter dem Zwang, jede Kritik sozialer Bewegungen aufzugreifen. Sie müsste sich gleichermaßen die verkleideten rassistischen Forderungen der Neuen Rechten anhören, die sich wie emanzipatorische Bewegungen auch, auf Freiheit berufen. Sie wäre darauf verwiesen, die von ihr formulierte Gesellschaftskritik durch soziale Akteure autorisieren zu lassen, wie es Robin Celikates mit dem Begriff des Adäquatheitskriteriums (vgl. Celikates 2009: 207) vorschlägt. Was also ist dieses emanzipatorische Interesse, das die Kritische Theorie in ihrer Gesellschaftskritik leitet und das zum Unterscheidungskriterium gegen nicht-emanzipatorische Berufungen auf bestehende Normen und Ansprüche taugt? Das emanzipatorische Interesse zielt auf die Abschaffung des Leids, das aus der Herrschaft des Menschen über den Menschen und aus dessen Beherrschung der Natur resultiert. Emanzipatorisch wäre eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Unterdrückung. Worum es Kritischer Theorie also geht, ist eine radikale Form emanzipatorischer Kritik, die nicht behauptet zu wissen, was richtig wäre. Sie reklamiert nicht für sich, die Wahrheit zu kennen. Ausgangspunkt von Kritik ist Betroffenheit. Eine Person, die in einer Gesellschaft systematisch leidet, unterdrückt und ausgebeutet wird, hat ein vitales Interesse daran, zu verstehen, wie diese Gesellschaft funktioniert, die gegen ihre Interessen arbeitet. Menschen aber, die dauerhaft nur ihre partikularen Interessen verteidigen wollen, können keine Gesellschaftskritik formulieren. Das trifft aus unterschiedlichen Gründen und mit unterschiedlichen Konsequenzen auf (linke) Identitätspolitik, die sich dauerhaft setzt, genauso zu, wie auf jene unreflektierten Selbstmissverständnisse von Pegida-Anhänger:innen oder AfDlern, die sich für kritisch

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Christoph Henning löst sich in seiner »perfektionistischen Kritik« im Rahmen einer kritischen Theorie von der »Fixierung vor allen der jüngeren Generation« auf immanente Kritik, wonach Kritik nur noch legitim sei, wenn die sozialen Akteure, deren Lebenszusammenhang Kritik trifft, die Wertmaßstände der Kritik auch teilen würden (Henning 2017: 68). Henning geht sogar so weit, immanente Kritik als »Antikritik« zu bezeichnen, weil sie externe Kritik scheue. Seiner perfektionistischen Kritik geht es darum, sich nicht nur an dem zu orientieren, was nicht verwirklicht ist, sondern Kritik gerade in den fehlenden Aspekten sozialer Praktiken zu fundieren. Jüngere kritische Theorien – hier bezieht sich Henning beispielsweise auf Robin Celikates – sagten sehr wenig über Werte und delegierten die Wertbezüge an die sozialen Akteure. Der Preis der Immanenz von Kritik sei die Orientierung an einer Welt, wie sie ist: »Sie soll nur noch mehr so werden, wie sie bereits ist.« (ebd.: 69; Herv. i.O.)

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halten, während es ihnen darum geht, Etabliertenvorrechte, zumeist wenig subtil, zu verteidigen. Kritik(-fähigkeit) ist abhängig von der Gesellschaftsdiagnose: Wenn – wie bei der frühen Kritischen Theorie – davon ausgegangen wird, dass es zu einer umfassenden Vergesellschaftung aller Beziehungen zwischen Menschen gekommen ist, die »einer anonymen Kontrolle durch die bestehenden Verhältnisse« (Adorno 1951b: 13) unterliegen, dann muss Kritik sich zwangsläufig auf einen Punkt flüchten, der als nicht-usurpiert gilt, aber möglicherweise auch jedweder widerständigen Praxis entzogen ist. Dass Adorno kaum Hoffnung auf eine radikale Umwälzung hatte, hängt nicht nur mit seiner Diagnose des Zusammenhangs von Individuum und Gesellschaft zusammen, sondern auch mit den daraus resultierenden Reflexionsmöglichkeiten. Nicht nur das Leid, das auf den Menschen lastet, ist gesellschaftlichen Ursprungs, sondern auch die Verarmung der Möglichkeiten, es zu reflektieren und auszudrücken: »Besser dient es dem Menschlichen, wenn die Menschen unverhüllt der Stellung innewerden, an die sie der Zwang der Verhältnisse bannt, als wenn man sie im Wahn bestärkt, sie seien dort Subjekte, wo sie im Innersten recht wohl wissen, daß sie sich fügen müssen. Nur wenn sie es ganz erkennen, können sie es ändern.« (Adorno 1953a: 454) Adornos Kritikverständnis ist am Gegenpol von Konstruktivismen, die in düsteren Unfreiheits-Diagnosen durch Sprache Herrschaft reproduziert meinen. Adorno sähe die Gefahr der Reproduktion von Unfreiheit eher in ihrer tröstenden Verschleierung. Ein gesellschaftliches Subjekt als Träger der Vernunft setzt Adorno nicht voraus; wenn Erkenntnis des Gesellschaftlichen möglich sein kann, dann nur durch den Einzelnen. Das individuelle Bewusstsein könne die Idee eines besseren Allgemeinen festhalten, weil nur im individuellen Bewusstsein überhaupt noch die Möglichkeit bestehe, sich dem bestehenden Ganzen zu entziehen (vgl. ebd.: 454f.). Die Kritische Theorie weiß um die innige Verbindung des Subjektiven mit dem Sozialen. Die Emanzipation des Subjekts ist daher nicht ohne die Veränderungen auch des Objektiven zu denken, und zugleich braucht die Aussicht auf die Veränderung des Objektiven emanzipierte Subjekte.

2.4 Negativität und negative Dialektik Immanente Kritik ist das Kritikverfahren der negativen Dialektik. Adornos Hauptwerk Negative Dialektik (1966) gilt heute als methodologischer Rahmen seiner Arbeiten – oder wie er selbst in einer Vorlesung sagt: die »methodische Betrachtung dessen, was ich überhaupt tue« (Adorno 2019 1965/66: 15). Was aber ist negative Dialektik? »[In] der kritischen Theorie [muss] der Marxismus – ohne daß er aufgeweicht würde – sich selbst kritisch reflektieren […].« (Adorno 1969: 292, zit.n. Demirović 2019: 2) Negative Dialektik ist ein Bewegungsmodus des Denkens; sie zentriert sich um die Begriffe Dialektik, Identität, Negativität und Kritik; sie dient, wie Bartonek schreibt, Adornos »Entfaltung der Nichtidentitätsproblematik« und zeugt von der Stellung des »Begrifflosen, Einzelnen und Besonderen« in Adornos Philosophie (Bar-

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halten, während es ihnen darum geht, Etabliertenvorrechte, zumeist wenig subtil, zu verteidigen. Kritik(-fähigkeit) ist abhängig von der Gesellschaftsdiagnose: Wenn – wie bei der frühen Kritischen Theorie – davon ausgegangen wird, dass es zu einer umfassenden Vergesellschaftung aller Beziehungen zwischen Menschen gekommen ist, die »einer anonymen Kontrolle durch die bestehenden Verhältnisse« (Adorno 1951b: 13) unterliegen, dann muss Kritik sich zwangsläufig auf einen Punkt flüchten, der als nicht-usurpiert gilt, aber möglicherweise auch jedweder widerständigen Praxis entzogen ist. Dass Adorno kaum Hoffnung auf eine radikale Umwälzung hatte, hängt nicht nur mit seiner Diagnose des Zusammenhangs von Individuum und Gesellschaft zusammen, sondern auch mit den daraus resultierenden Reflexionsmöglichkeiten. Nicht nur das Leid, das auf den Menschen lastet, ist gesellschaftlichen Ursprungs, sondern auch die Verarmung der Möglichkeiten, es zu reflektieren und auszudrücken: »Besser dient es dem Menschlichen, wenn die Menschen unverhüllt der Stellung innewerden, an die sie der Zwang der Verhältnisse bannt, als wenn man sie im Wahn bestärkt, sie seien dort Subjekte, wo sie im Innersten recht wohl wissen, daß sie sich fügen müssen. Nur wenn sie es ganz erkennen, können sie es ändern.« (Adorno 1953a: 454) Adornos Kritikverständnis ist am Gegenpol von Konstruktivismen, die in düsteren Unfreiheits-Diagnosen durch Sprache Herrschaft reproduziert meinen. Adorno sähe die Gefahr der Reproduktion von Unfreiheit eher in ihrer tröstenden Verschleierung. Ein gesellschaftliches Subjekt als Träger der Vernunft setzt Adorno nicht voraus; wenn Erkenntnis des Gesellschaftlichen möglich sein kann, dann nur durch den Einzelnen. Das individuelle Bewusstsein könne die Idee eines besseren Allgemeinen festhalten, weil nur im individuellen Bewusstsein überhaupt noch die Möglichkeit bestehe, sich dem bestehenden Ganzen zu entziehen (vgl. ebd.: 454f.). Die Kritische Theorie weiß um die innige Verbindung des Subjektiven mit dem Sozialen. Die Emanzipation des Subjekts ist daher nicht ohne die Veränderungen auch des Objektiven zu denken, und zugleich braucht die Aussicht auf die Veränderung des Objektiven emanzipierte Subjekte.

2.4 Negativität und negative Dialektik Immanente Kritik ist das Kritikverfahren der negativen Dialektik. Adornos Hauptwerk Negative Dialektik (1966) gilt heute als methodologischer Rahmen seiner Arbeiten – oder wie er selbst in einer Vorlesung sagt: die »methodische Betrachtung dessen, was ich überhaupt tue« (Adorno 2019 1965/66: 15). Was aber ist negative Dialektik? »[In] der kritischen Theorie [muss] der Marxismus – ohne daß er aufgeweicht würde – sich selbst kritisch reflektieren […].« (Adorno 1969: 292, zit.n. Demirović 2019: 2) Negative Dialektik ist ein Bewegungsmodus des Denkens; sie zentriert sich um die Begriffe Dialektik, Identität, Negativität und Kritik; sie dient, wie Bartonek schreibt, Adornos »Entfaltung der Nichtidentitätsproblematik« und zeugt von der Stellung des »Begrifflosen, Einzelnen und Besonderen« in Adornos Philosophie (Bar-

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tonek 2011: 37f.). Auch Daniela Holzer (2016) stellt die Dimensionen und Denkweisen negativer Dialektik entlang der Begriffe »Kritik, Reflexion, Unauflöslichkeit von Widersprüchen, Negation, Nicht-Identisches, Konstellationen, Erfahrungen im Subjekt« (Holzer 2016: 1) dar. Holzer sucht negativ-dialektisches Denken als Methode zu erschließen und nimmt damit den Faden zu Adornos Einlassung aus der soeben erwähnten Vorlesung wieder auf. Negativität umfasse nicht nur die Annahme, dass die Welt auch anders sein könnte, weil sie als schlecht gilt – Negativität umfasst auch ein Verständnis davon, dass es etwas Nicht-Dingfest-zu-Machendes der Wirklichkeit gibt. Was ist dieses Nicht-Fixierbare, dieser nicht-fassbare Teil der Wirklichkeit (vgl. ebd.: 12f.)? Eine Antwort gibt Adorno in der Negativen Dialektik: »Unmittelbar ist das Nichtidentische nicht als seinerseits Positives zu gewinnen und auch nicht durch Negation des Negativen. […] Die Gleichsetzung der Negation der Negation mit Positivität ist die Quintessenz des Identifizierens […].« (Adorno 1966: 161) Was fehlt? Es fehlt, was subsumierendes, identifizierendes Denken am ›Objekt‹ abschneidet – und dieses ›Abschneiden‹ von Qualitäten ist wahlverwandt, gleichursprünglich, verschworen mit dem Abschneiden in der realen Praxis. Die Kritik des Identifizierens zielt bei Adorno vor allem auf die Wissenschaft, die Wirklichkeit in identifizierende Begriffe bringt. Begriffe klassifizieren und kategorisieren durch Abstraktion von den Gegenständen, die sie bezeichnen sollen. Allein der Fokus auf bestimmte Eigenschaften dieser Gegenstände ermöglicht eine Zuordnung (vgl. Marz 2011: 54). Der Zwang zum Konsistenten im begrifflichen Denken, das Widersprüche aufhebt und um Subsumtion bemüht ist, stellt die »allgemeinsten Beziehungen innerhalb der Ordnung her« (Horkheimer/Adorno 1947: 100). Begriffe rüsten zu, wie Adorno schreibt, sie schneiden ab (vgl. Adorno 1966: 21). Adornos Philosophie will sich der begrifflichen Repräsentation entziehen, daher setzt sie auf die Stärkung des Nichtidentischen. Adorno beschreibt in der Negativen Dialektik (1966) das Nichidentische als jenes, was in der begrifflichen Zuweisung nicht aufgeht: das »Unterdrückte, Missachtete und Weggeworfene« (Adorno 1966: 21). Philosophische Wahrheit ist für Adorno an die Überschreitung des begrifflichen Denkens gebunden (vgl. Wellmer 1985: 133) – aber mit den Mitteln des Begriffs. Das identifizierende Denken ist starr, weil es nur das Wesentliche, das Typische und das Normale zeigt. Damit verfehlt es sein Objekt – es ist also nicht politischer oder normativer Mangel, der Adorno eine Gegenposition suchen lässt; es ist ein epistemischer. Nach Holzer verwebt Adorno die beiden Aspekte – Nicht-Sein-Sollens-Aussage und Nichtidentisches – im Begriff der Negativität miteinander. Weder hypostasiert Adorno das Negative, noch sei das Positive an sich schlecht; schlecht und schließlich ideologisch werde Positivität einzig dadurch, dass sie zu einem Wert an sich erhoben werde (vgl. Holzer 2016: 12). Hinter Positivität »steht der Glaube, das Positive sei an sich bereits ein Positives« (Adorno 1966: 33; Herv. i.O.). Das Ziel negativer Dialektik ist es, den Zwang zum Identifizieren von innen – durch immanente Kritik – aufzuheben. Was resultiert aus dieser (Selbst-)Kritik an der Philosophie für Adorno? Er wendet sich gegen eine Philosophie, die als System auftritt, was freilich nicht heißt, dass Philosophieren nicht streng und begrifflich konsequent zu arbeiten habe. Philosophie müsse darüber hinaus zurückgebunden sein an eine historisch-materialistische Perspektive. Sie soll dialektisch und immanent im Rahmen einer »Kritik falschen Bewusstseins geistiger Gedankenge-

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bäude […] und anderer kultureller Phänomene des gesellschaftlichen Überbaus« (Stache 2017: 41) verfahren. Was Stache für die Kritik an der Philosophie herausstellt, lässt sich im Sinne Kritischer Theorie auch für die Soziologie formulieren. Soziologisches Denken dürfe nicht im Bemühen, Gesellschaft als geschlossenes System soziologisch begreifen zu wollen, deren Widersprüche unsichtbar machen. Auch Soziologie muss ihre Begriffe und Perspektiven historisch ausgerichtet entwickeln und prüfen. Und ihre Kritik solle materialistisch fundiert sein. Der anti-systematische Anspruch negativer Dialektik bestimmt auch das Verhältnis von Methode und Gegenstand. Die Untersuchung eines soziologischen Gegenstandes erfolgt als Modell. Und die Methode bestimmt sich am Gegenstand: methodische Fragen sind aus den sachlichen zu entwickeln (vgl. dazu Adorno 1964a: 10). Rassismus wäre durch immanente Kritik soziologisch als falsches Bewusstsein in seinen strukturellen Voraussetzungen und materialen Konsequenzen zu erschließen. Aus der Kritik des Rassismus heraus kann dann über die Gesellschaft gesprochen werden. Nicht nur der Teufel, sondern auch die Wahrheit steckt im Detail oder wie Adorno sagen würde im Modell: »negative Dialektik ist ein Ensemble von Modellanalysen« (Adorno 1966: 39). Die Abkehr von Systemphilosophie führt Adorno zur Analyse des Spezifischen, zur »Mikrologie«, in der das Kleinste immer auf das Ganze verweist. »Negative Dialektik ist […] zugleich eine inhaltliche Positionierung gegenüber ideologischen Gebilden und ein Verfahren, diesen zu begegnen. Inhalt und Vorgehen negativer Dialektik bewähren sich nicht unabhängig voneinander und von den Gegenständen, mit denen sie konfrontiert werden, sondern nur in der Durchführung am konkreten partikularen Modell. Mittels der Ausführung negativer Dialektik am Modell wird die Eigenständigkeit von Methode und Inhalt wieder aufgehoben.« (Stache 2017: 41f.) Diesem Anliegen versucht diese Schrift nachzukommen, indem der Rassismus in verschiedenen Modellen diskutiert wird: in soziologischer Perspektive vor dem Hintergrund einer Ökonomie- und Ideologiekritik, in philosophischer Perspektive als Identitätskritik und in sozialpsychologischer Perspektive im Kontext der Autoritarismuskritik. Dabei wird sich zeigen, dass in jedem Modell die Rassismuskritik mit anderen Begriffen formuliert werden kann und so dem interdisziplinären Anspruch der frühen Kritischen Theorie entgegenkommt. Die Kritik in der Kritischen Theorie ist gekennzeichnet durch ihre Zurückhaltung, das Bild des Richtigen und Guten im Entwurf einer besseren Gesellschaft auszumalen. Der Negativismus der frühen Kritischen Theorie lässt sich wohl kaum besser als im folgenden Zitat Adornos aus Individuum und Organisation (1953) abbilden: »Wir mögen nicht wissen, was der Mensch und was die rechte Gestaltung der menschlichen Dinge sei, aber was er nicht sein soll und welche Gestaltung der menschlichen Dinge falsch ist, das wissen wir, und einzig in diesem bestimmten und konkreten Wissen ist uns das Andere, Positive, offen.« (Adorno 1953a: 456) Dies ist nicht nur die Absage an jede anthropologische Bestimmung des Menschen; es ist auch eine Absage an die Bestimmung des Guten und Richtigen. Das ›Bilderverbot‹ über

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einer richtigen Gesellschaft ist zugleich ein Gebot, die Kontingenz des Sozialen nicht trügerisch souverän im ›Gegenentwurf‹ zu verleugnen: »Hoffnung knüpft sie [die jüdische Religion und die Kritische Theorie, U. M.] einzig ans Verbot, das Falsche als Gott anzurufen, das Endliche als das Unendliche, die Lüge als Wahrheit.« (Horkheimer/Adorno 1947: 40) Negativität lässt sich nicht aus »begrifflichen Prinzipien« ableiten, sie ist auf die Analyse der gesellschaftlichen Situation angewiesen – sie braucht »gesellschaftshistorisches Material« (vgl. Städtler 2019: 291). Negative Kritik formuliert auch keine utopischen Ziele – sie kann lediglich benennen, welche gesellschaftlichen Aspekte der Freiheit entgegenstehen. An verschiedenen Stellen begründet Adorno seinen theoretischen Negativismus mit der Befangenheit in gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen (vgl. Adorno 1966: 345). Diese Weigerung, den Entwurf einer guten, gerechten, befreiten Gesellschaft vorzulegen, wenn sie schon so radikal vom ›falschen Ganzen‹ spricht, wird der frühen Kritischen Theorie bis heute zum Vorwurf gemacht. Ich kann diesen Vorwurf hier nicht ausräumen – wohl aber ist bis hierhin hoffentlich klar geworden: Er wäre erkenntnistheoretisch zu diskutieren; nicht als politischer Mangel. Freyenhagen (2017) unterteilt Adornos Negativismus in einen methodischen und einen epistemischen. Methodisch ist der Negativismus, insoweit er auf die Defizienzerfahrungen der Menschen verweist, die nicht anthropologisch hergeleitet werden, sondern historisch in Bezug auf die Entwicklungsmöglichkeiten, die Menschen in einer bestimmten Gesellschaft hätten. Wenn Adorno von ›Verkrüppelung‹, von Beschädigung oder von Verhinderung des Potentials der Menschen im Spätkapitalismus schreibt, dann rekurriert er zumeist auf den Stand der Produktivkräfte, die ein besseres Leben für alle ermöglichen könnten – oder auf das Zurückfallen hinter einmal schon (in Teilen des Bürgertums) erreichte Höhen von Reflektiertheit, Differenziertheit und Freiheitsbewusstsein. Der epistemische resultiert aus dem methodischen Negativismus, denn aus dieser defizitären Bestimmung des Gesellschaftlichen folgt keineswegs der Vorschlag des Guten, Richtigen oder einer konkreten Utopie, sondern die Weigerung, über das Gute Auskunft zu geben (vgl. Freyenhagen: 230f., 233). Auch für die Kritik des Rassismus wird keine Idee des Guten benötigt. Die Gesellschaftskritik, deren Teil die Kritik des Rassismus ist, lässt sich leiten vom Leid, dem Menschen ausgesetzt sind und das sich mit Blick auf die historischen Stationen des Rassismus nachvollziehen lässt. Kritische Theorie wird aber auch keine konkreten Handlungsanleitungen vorlegen, die aufzeigen, wie der Rassismus abzuschaffen sei und wie eine rassismusfreie Gesellschaft aussehen könnte. Das Wissen um die ›falsche‹ Gesellschaft selbst in vielen ihrer Details summiert sich nicht auf zum Wissen über die richtige Gesellschaft, in der niemand mehr ausgebeutet, erniedrigt und unterdrückt würde. Adornos Diktum, dass es »kein richtiges Leben im falschen« (Adorno 1951: 43) gebe, ist nicht als gesellschaftspolitischer Rückzug oder konservative Hinnahme des Bestehenden zu verstehen, sondern als Einsicht in die beschränkten Möglichkeiten sozialen Handelns, dessen Bedingungen in verselbständigten gesellschaftlichen Strukturen liegen – Strukturen, die fortgesetzt das Falsche produzieren. Mit Adorno und der Kritischen Theorie sind wir geradezu verpflichtet, »was auch immer wir an negativer Freiheit besitzen zu verwenden, um dem falschen Leben zu widerstehen« (Freyenhagen 2017: 248).

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2.5 Historizität und der Zeitkern von Wahrheit Für die Kritische Theorie ist die Geschichtlichkeit nicht nur eine Perspektive, das Soziale an ihren Gegenständen zu betonen; geschichtlich sind auch die eigenen Begriffe, Kategorien und Methoden. Man könnte meinen, dass diese Referenz auf das Historische dem archäologischen Verfahren Derridas und dem archäologisch-genealogischen Foucaults verwandt ist. Auf den ersten Blick scheint es, als seien sich Kritische Theorie und Dekonstruktion hier nahe, insofern sich Analyse (und Kritik) genealogisch am Gegenstand vollziehen müsse und die Auswahl der Methode durch den Gegenstand bestimmt sei (vgl. Adorno 1964a: 10). Allerdings ist für Derrida die Dekonstruktion weder Analyse noch Kritik, denn diese Begriffe stehen für ihn selbst zur dekonstruktivistischen Disposition. Kritische Theorie hingegen hat ihren Orientierungspunkt im Grundversprechen von Aufklärung sowie deren Kritikmaßstäben (vgl. Dörre/Lessenich/Rosa 2009: 14). Gegenstand Kritischer Theorie sind auch konkurrierende Theorien – beispielsweise solche, die meinen, konstruktiv verfahren zu müssen (vgl. Braunstein 2008: 40f.). Wie die Methode der Dekonstruktion betont auch Kritische Theorie die Bedeutung von Geschichtlichkeit für die Ideologiekritik und die Soziologie schlechthin. So sei es der »Kampf gegen Identität als Urform der Ideologie, der Ideologiekritik und Dekonstruktion wahlverwandt sein lässt.« (Wetzel 2004: 114) Der (Post)-Strukturalismus ist qua theoretischer Konzeption allerdings in seinem emanzipatorischen Interesse unentschieden. Dekonstruktion wie Genealogie (als Verfahren, das Foucault zur Historisierung sozialer Phänomene verwendet) wollen zeigen, dass alles nur gemacht ist. Allein die Dekonstruktion wird als ausreichende Kritik erachtet, d.h. die Wirklichkeit wird auf ihr symbolisches Gewordensein hin untersucht. Allerdings, so Silke van Dyk, werde darauf verzichtet, »die Wünschenswertigkeit ihrer Destabilisierung für den je konkreten Kontext zu begründen« (van Dyk 2017: 363). Diese fehlende Positionierung schaffe daher Anschlussmöglichkeiten aus allen politischen – auch nicht-emanzipatorischen – Richtungen. Dafür kritisiert van Dyk auch jene Theorien im Anschluss an Foucault, die ein Desinteresse an dem zeigen, was jenseits so genannter Wahrheitsansprüche auch wahr ist. Resultat dieses Desinteresses sei heute eine verallgemeinerte Perspektive, die jegliche Tatsache und Wahrheit verleugnet – statt der Einsicht, dass »vermeintliche Normalitäten, Selbstverständlichkeiten und Notwendigkeiten das Ergebnis machtvoller Universalisierungen partikularer Interessen sind« (ebd.: 365).13 Auch die frühe Kritische Theorie steht nicht für eine Standpunktkritik: Sie entwickelt die konkrete Kritik am Gegenstand. Die kritischen Begriffe der Soziologie entnimmt die Soziologin der Gesellschaft – denn die trägt selbst ›Begriffliches‹ in sich. »Der Übergang zur Kritik liegt also eben in dieser Einsicht in die Bestimmtheit, […], in den Begriffscharakter der objektiven Struktur selbst […].« (Adorno 1968a: 60; ähnlich: 77) Im alltägli-

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Auch Bruno Latour formuliert als ›bekennender‹ Konstruktivist bereits 2007 in das Elend der Kritik ein zunehmendes Unbehagen an den Werkzeugen der Dekonstruktion, des Sozialkonstruktivismus, der Diskursanalyse, der Postmoderne, wenn sie doch so leicht durch reaktionäre Geister zu absorbieren sind. So fragt er ebenso nach der historischen Angemessenheit der Waffen der Kritik, angesichts der augenscheinlichen Anschlussfähigkeit sozialkonstruktivistischer Perspektiven für verschwörungsideologische Erzählungen (vgl. Latour 2007: 18f.).

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chen Tausch geschehe – unabhängig vom Bewusstsein Einzelner – Begriffliches: Es werde abstrahiert. Materialismus im Sinne Kritischer Theorie meint also durchaus gemeinsam mit dem Idealismus den Begriff in der sozialen Realität zu finden. Der Blick auf das Gewordensein des Sozialen realisiert sich in Kritischer Theorie durch die Bedeutung von Geschichtlichkeit für die Soziologie. »Verkannt wird aber durchweg, dass die Geschichte und die geschichtlichen Zusammenhänge für die Soziologie selber konstitutiv sind, in dem Sinn, daß rein immanent betrachtet, die soziologischen Kategorien keinen Sinn ergeben, die Gesellschaft überhaupt nicht sich erkennen läßt ohne Bezugnahme eben auf die darin implizierten geschichtlichen Elemente. Die geschichtliche Einsicht ist nicht etwas am Rande der Soziologie, sondern etwas ihr Zentrales; […].« (Adorno 1968a: 243) Daher sei das »Wesen sozialer Phänomene […] »aufgespeicherte Geschichte« (ebd.: 244). Geschichte werde zum »Medium der gesellschaftlichen Kritik«, weil sie die Dinge in ihrem Gewordensein analysiere. Was geworden ist, könne auch verändert werden (ebd.: 245, 248). Die Frage nach der Wahrheit im Begriff, in der Theorie, in der Gesellschaft und ihrer Kritik kann nachfolgend nur angerissen werden. Es sollen an dieser Stelle lediglich einige Schlaglichter auf das spezifische Verständnis von Wahrheit in der Kritischen Theorie14 geworfen werden. Kritische Theorie wendet sich einerseits zwar gegen Wahrheitsrelativismus, beschreibt Wahrheit aber dennoch als bedingte, als an historische und machtvolle Prozesse gebunden. Für Adorno sind Philosophie und Soziologie nicht ungefährdet, dem Bann des ›Falschen‹ zu erliegen, sofern sie ihre Begriffe nicht reflektieren. Wenn nun für Adorno in Philosophie und Soziologie Unwahres eingeht, hat das Folgen für den Wahrheitsbegriff. Daraus folgt aber nicht, »jedwede Möglichkeit von wahrer Erkenntnis« (Gripp 1986: 112) zu relativieren. Wahrheit soll stattdessen als »Kraftfeld« verstanden werden: Denken ist Denken in Widersprüchen, weil es etwas erfassen soll, was aufgrund der sozial-historisch bedingten Beschränktheit des Denkens nicht vollständig zu erfassen ist (vgl. ebd.). Dass sich Adorno nicht vom Begriff der Wahrheit lossagt, zeigt sich auch daran, dass für ihn die Hegelsche Unterscheidung von Wesen und Erscheinung bestehen bleibt. Die Erscheinung wird nicht dem Wesen nachgeordnet, sondern Erscheinung gehört zum Wesen. Daraus resultiert die Möglichkeit von Kritik: Denn auch das Wesen selbst kann falsch sein, wenn dessen Erscheinungen ihm unangemessen sind (vgl. Städtler 2019: 300f.). Die berühmte Passage über den Zeitkern von Wahrheit findet sich bei Adorno in der Metakritik der Erkenntnistheorie (1956): »Nicht ist, wie der Relativismus es will, Wahrheit in der Geschichte, sondern Geschichte in der Wahrheit.« (Adorno 1956: 141) Adorno weiter – hier, nachfolgend Benjamins Passagen-Werk zitierend – »Entschiedne Abkehr vom Begriff der ›zeitlosen Wahrheit‹ ist am Platz. Doch Wahrheit ist nicht – wie der Marxismus es behauptet – eine zeitliche Funktion des Erkennens, sondern an einen Zeitkern, welcher im Erkannten und Erkennenden zugleich steckt, gebunden.« (Ebd.)

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Vgl. hierzu auch Horkheimers Aufsatz Zum Problem der Wahrheit (1935) im dritten Band seiner Gesammelten Schriften.

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Adornos Wahrheitsanspruch reflektiert das Gewordensein eines Gegenstandes. Wahrheit ist nicht bloß eine subjektive »Urteilsqualität« (Adorno 1963a: 284), sondern enthält immer auch etwas, was sich nicht auf das Subjekt zurückführen lässt. »Wahrheit, als Prozeß, ist ein ›Durchlaufen aller Momente‹ im Gegensatz zum ›widerspruchslosen Satz‹ und hat als solche einen Zeitkern.« (Ebd.) Adorno wendet sich nicht nur in Metakritik der Erkenntnistheorie gegen den Relativismus; auch in dem Aufsatz Meinung, Wahn, Gesellschaft (1960) macht er deutlich, wo der Unterschied zwischen Wahrheitsrelativismus und seiner Auffassung von Wahrheit liegt: Die Einsicht in die »subjektive[] Relativität aller Erkenntnis« (Adorno 1960a: 584) steuert auf eine Unterschätzung der historisch kontingenten Objektivität zu und damit auf die Überschätzung des »subjektiven Eigeninteresses«, das zum »Maß aller Dinge« (ebd.) werde. Der Wahrheitsrelativismus wissenssoziologischer15 oder poststrukturalistischer Theorien, wie er sich in der Ablehnung von Wahrheit und dem Ideologiebegriff ausdrückt, führe dazu, dass alle Wahrheiten zu Meinungen werden. »[D]ie Idee der Wahrheit selbst verdünnt sich zu einer aus diesen Meinungen zu komponierenden Perspektive« (ebd.: 585). Daher kann für die Kritische Theorie die Rede vom Zeitkern nicht heißen, dass der Geltungsanspruch von Wahrheit ausschließlich historisch oder ausschließlich durch seine machtvollen Implikationen vermittelt wäre. Die Reflexionsanstrengungen der Kritik, die Thematisierungen von Macht und Bedingtheit der Erkenntnis, geschehen gerade im Dienste der Wahrheit – nicht um ihre Idee zu diskreditieren. Städtler weist darauf hin, dass sowohl die komplette Enthistorisierung als Annahme einer zeitlosen, überhistorischen Wahrheit wie auch die »entgegengesetzte Historisierung des Denkens zum Narrativ« (Städtler 2019: 305) Ansatzpunkte für ideologisches Denken sein können. Als Wahrheit könne nur ausgemacht werden, was sich in der Reflexion auf das jeweilige Subjekt und Objekt in einer bestimmten geschichtlichen Stufe und Erkenntnisstufe ergibt (vgl. Adorno 1969a: 751). Wahres Leben ist für die Kritische Theorie gebunden an die Aufhebung des falschen Lebens – hängt also an den konkreten gesellschaftlichen Bedingungen. Die Möglichkeit von Wahrheit steht damit in der Zeit. Gesellschaftstheorie kann nicht auf den Anspruch verzichten, als falsch zu bezeichnen, was nach dem Stand der gesellschaftlichen Produktivkräfte einem richtigen Leben nicht entspricht. Dieser materialistische Wahrheitsbe-

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Eine Abgrenzung zu wissenssoziologischen Konzepten erreicht die Kritische Theorie über ihren objektiven Ideologiebegriff, wie in Kapitel 6.3 noch zu zeigen sein wird. Horkheimers Kritik an der wissenssoziologischen Verwendung des Ideologiebegriffes findet sich insbesondere im Aufsatz Ein neuer Ideologiebegriff (1930). Karl Mannheim wirft er dort vor, den Ideologiebegriff derart zu inflationieren, dass er vollständig von seiner Beziehung auf Herrschaftskritik gelöst werde. Das wissenssoziologische Ideologieverständnis spricht davon, dass alles Denken ›seinsgebunden‹ sei und sich relational aufeinander beziehe. Ideologisch, so Horkheimer, gerät hier der Ideologiebegriff der Wissenssoziologie selbst, weil das Denken der Menschen in idealistischer Manier losgelöst von den gesellschaftlichen Machtverhältnissen und -kämpfen betrachtet wird, und weil die Verbindung von Sein und Bewusstsein nur als »schicksalhafte Fügung« erscheine (vgl. Horkheimer 1930: 275, 289).

2 Methode als geronnener Inhalt – Der Kritikbegriff Kritischer Theorie

griff16 der Kritischen Theorie wird gestärkt durch einen normativen Anspruch: Was wahr ist, müsse nicht nur »formal korrekt einen Sachverhalt abbilden, sondern zugleich, […], gut sein (präskriptiv)« (Gamm 1985: 231). Gut bzw. das richtige Leben ist ein menschenwürdiges Leben. Was dieses aber sei, könne nicht von einer »unveränderlichen Norm« (ebd.), sondern auch wieder nur in Relation zum historischen Stand der Produktivkräfte bestimmt werden (vgl. ebd.: 231f.). Dieser Wahrheitsbegriff unterstellt nicht nur, »dass es unwahre Aussagen, sondern auch falsche, gleichsam unwahre Gegenstände« (Havel 2017: 269) geben kann.

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In seiner Arbeit Vom ›Zeitkern der Wahrheit‹. Anmerkungen zu Geschichte und Wahrheit in der Kritischen Theorie (1985) entfaltet Gamm detailliert den Wahrheitsbegriff Horkheimers und Adornos in seinen verschiedenen Dimensionen.

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3 Metamorphosen des Rassismus – Natur und Kultur

›Rasse‹ und ›Kultur‹ gehören bis heute zu den zentralen Bezugspunkten vieler Rassismen. Ob stärker auf ›Rasse‹ oder eher auf ›Kultur‹ Bezug genommen wird, das ändert sich historisch mit der Akzeptanz des Rassebegriffs im öffentlichen Diskurs. Der klassische Rassismus hatte sich mit den Rassentheorien des 19. Jahrhunderts verbreitet und fortan trotz wissenschaftlicher Widerlegung und vielfacher Kritik im Alltagsbewusstsein der Menschen überlebt. Die öffentliche Diskreditierung des Rassebegriffs und des Nazismus nötigte dazu, einen unbelasteten Begriff zu finden – einen, der geeignet war, dem alten Rassenglauben einen neuen Raum zu geben: Aus ›Rasse‹ wurde Kultur. Beide setzten Fundamente zur Systematisierung der sozialen Welt. Im Folgenden werde ich zunächst zeigen, wie sich der Rassebegriff historisch entwickelt hat und wie er vom 19. Jahrhundert bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts einen festen Platz als wissenschaftlicher Begriff fand (3.1). Der zweite Abschnitt widmet sich dann den Verschiebungen von ›Rasse‹ zu ›Kultur‹ (3.2). Nach dem Nationalsozialismus wurde diese Metamorphose systematisch von der Neuen Rechten vorangetrieben. Der so genannte NeoRassismus baut auf dem Konzept des Ethnopluralismus: Die Bejahung ›ethnischer‹ Vielfalt geht einher mit der Abscheu vor ›Vermischung‹ – gerade der Fortbestand einer Pluralität der ›Ethnien‹ bedarf ihrer gegenseitigen Abgrenzung. Statt ›Rassen‹ sind nun ›Völker‹ und ›Kulturen‹ die Träger unveränderlicher Wesensmerkmale. Im Denken der Rassist:innen geht es darum, diese Entitäten zu schützen – wie dereinst die ›Rasse‹. Der zum Ethnopluralismus veränderte Rassismus trifft sich in einigen Formaspekten – so im Schutz einer ›Kultur‹ vor Auflösung durch eine mächtigere – mit manchen antirassistischen Argumentationen. Diese Kongruenz wird ebenfalls Gegenstand des zweiten Abschnitts sein. Als Beispiel dient mir das Konzept der »kulturellen Aneignung«, denn in einigen Rassismuskritiken gerät es durch die Setzung, Fixierung und Verdinglichung unabänderlicher ›Kultur‹ in die Nähe neo-rassistischer Argumentationen. In solchen Diskussionen über die ungewollte Verwandtschaft mancher Rassismuskritik mit ihrem Gegner wird auch deutlich: Rassismuskritik verhandelt immer das Verhältnis von Partikularismus und Universalismus. Dieses Verhältnis ist kompliziert: Rassismus kann klassisch partikularistisch gegen den Universalismus zum Beispiel der Menschenrechtsidee auftreten. Er kann aber auch als ideologische Legitimationsund Rationalisierungsanstrengung die Geltung universalistischer Normen (die Rechts-

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Ulrike Marz: Wut auf Differenz

gleichheit aller Menschen) pro forma bejahen, um dann den Widerspruch realer sozialer Verhältnisse zu diesen Normen pseudowissenschaftlich zu rechtfertigen. Antirassismus wiederum spürt mitunter gerade im Universalismus der Aufklärung verdeckte rassistische Partikularismen auf – um dann in einigen Varianten seinerseits reaktiv für rassismuskritischen Partikularismus (zum Beispiel als Identitätspolitik) Stellung zu beziehen – ein Partikularismus, dessen Kongruenzen mit dem rassistischen Ethnopluralismus mir dann wiederum kritikwürdig erscheinen. Muss die kritische Antwort auf die partikularistische Aggression des Rassismus in jedem Fall eine universalistische sein? Oder birgt jede universalistische Prätention nicht immer zugleich die ideologische Gefahr der Unsichtbarmachung realer Machtgefälle – unter ihnen auch rassistische? Diesen verwickelten Problemen von Partikularismus und Universalismus widme ich mich im letzten Abschnitt dieses Kapitels (3.3).

3.1 Rassebegriff und biologistischer Rassismus ›Rasse‹ ist das, von dem Rassentheoretiker:innen sagen, dass es ›Rasse‹ ist. Oder anders gesprochen: Es ist das subjektive Ermessen der Rassentheoretiker:innen, das entscheidet, welche somatischen Merkmale zum Kriterium einer Rassentypologie werden und mit entsprechenden Eigenschaften verbunden sein sollen (faul, dumm, phlegmatisch oder auch intelligent, stark usw.). Eine Unterscheidbarkeit von Menschen in ›Rassen‹ als natürlich vorkommenden Gruppen wird als Prämisse gesetzt – nicht etwa bewiesen. Geulen bringt diese Willkür auf den Punkt, wenn er ›Rasse‹ als »willkürliche Nomenklatur« (Geulen 2018: 23) bezeichnet, wo doch dieser Begriff nie eine empirische Entsprechung hatte. Bereits die Vielzahl verschiedener Rassentheorien, die sich darin ähneln, dass die sogenannte ›weiße Rasse‹ an der Spitze der ›Rassen‹-Hierarchie steht, deutet auf diese Willkür in der Klassifikation. So ist es auch die ›weiße Rasse‹, die Rassentheoretiker:innen zufolge mit den besten Eigenschaften ausgestattet ist. Ganz unten in der Hierarchie werden die versklavten und nach Nordamerika verschifften Afrikaner:innen platziert.1 Rassentheorien suggerieren ihrer Anhängerschaft eine weitreichende Erklärungskraft, weil sie reale Hierarchien des Sozialen in die erklärende Theorie hinein verdoppeln. Sie ›erklären‹, warum beispielsweise ›Schwarze‹ in Sklaverei leben: eben, weil sie der Führung bedürften; warum sie in Armut leben: weil sie sich nicht anstrengten; oder warum ›Schwarze‹ nicht auf höhere Schulen gehen oder studieren: weil sie nicht intelligent genug seien. Soziale Ungleichheit ist in den Augen von Rassist:innen das Resultat von ›rassischem‹, also veranlagtem Unvermögen und nicht von rassistischer Segregation und sozialer Ausgrenzung. Rassismus macht die Auswirkungen eines Sozialen – von Diskriminierung, dem Verwehren von Chancen und Teilhabe usw. – zu den angeborenen Eigenschaften von Menschen. Wenn oben gesagt wurde, der Rassismus naturalisiere das Soziale, so lässt sich hier spezifischer sagen: Der Rassismus erklärt zur Folge von Natur, was sein eigenes Produkt ist. Er macht aus seinen Objekten erst das, was er denkt, dass

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Vgl. zur Entwicklung des Rassebegriffs auch: Marz 2020: 20–35.

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gleichheit aller Menschen) pro forma bejahen, um dann den Widerspruch realer sozialer Verhältnisse zu diesen Normen pseudowissenschaftlich zu rechtfertigen. Antirassismus wiederum spürt mitunter gerade im Universalismus der Aufklärung verdeckte rassistische Partikularismen auf – um dann in einigen Varianten seinerseits reaktiv für rassismuskritischen Partikularismus (zum Beispiel als Identitätspolitik) Stellung zu beziehen – ein Partikularismus, dessen Kongruenzen mit dem rassistischen Ethnopluralismus mir dann wiederum kritikwürdig erscheinen. Muss die kritische Antwort auf die partikularistische Aggression des Rassismus in jedem Fall eine universalistische sein? Oder birgt jede universalistische Prätention nicht immer zugleich die ideologische Gefahr der Unsichtbarmachung realer Machtgefälle – unter ihnen auch rassistische? Diesen verwickelten Problemen von Partikularismus und Universalismus widme ich mich im letzten Abschnitt dieses Kapitels (3.3).

3.1 Rassebegriff und biologistischer Rassismus ›Rasse‹ ist das, von dem Rassentheoretiker:innen sagen, dass es ›Rasse‹ ist. Oder anders gesprochen: Es ist das subjektive Ermessen der Rassentheoretiker:innen, das entscheidet, welche somatischen Merkmale zum Kriterium einer Rassentypologie werden und mit entsprechenden Eigenschaften verbunden sein sollen (faul, dumm, phlegmatisch oder auch intelligent, stark usw.). Eine Unterscheidbarkeit von Menschen in ›Rassen‹ als natürlich vorkommenden Gruppen wird als Prämisse gesetzt – nicht etwa bewiesen. Geulen bringt diese Willkür auf den Punkt, wenn er ›Rasse‹ als »willkürliche Nomenklatur« (Geulen 2018: 23) bezeichnet, wo doch dieser Begriff nie eine empirische Entsprechung hatte. Bereits die Vielzahl verschiedener Rassentheorien, die sich darin ähneln, dass die sogenannte ›weiße Rasse‹ an der Spitze der ›Rassen‹-Hierarchie steht, deutet auf diese Willkür in der Klassifikation. So ist es auch die ›weiße Rasse‹, die Rassentheoretiker:innen zufolge mit den besten Eigenschaften ausgestattet ist. Ganz unten in der Hierarchie werden die versklavten und nach Nordamerika verschifften Afrikaner:innen platziert.1 Rassentheorien suggerieren ihrer Anhängerschaft eine weitreichende Erklärungskraft, weil sie reale Hierarchien des Sozialen in die erklärende Theorie hinein verdoppeln. Sie ›erklären‹, warum beispielsweise ›Schwarze‹ in Sklaverei leben: eben, weil sie der Führung bedürften; warum sie in Armut leben: weil sie sich nicht anstrengten; oder warum ›Schwarze‹ nicht auf höhere Schulen gehen oder studieren: weil sie nicht intelligent genug seien. Soziale Ungleichheit ist in den Augen von Rassist:innen das Resultat von ›rassischem‹, also veranlagtem Unvermögen und nicht von rassistischer Segregation und sozialer Ausgrenzung. Rassismus macht die Auswirkungen eines Sozialen – von Diskriminierung, dem Verwehren von Chancen und Teilhabe usw. – zu den angeborenen Eigenschaften von Menschen. Wenn oben gesagt wurde, der Rassismus naturalisiere das Soziale, so lässt sich hier spezifischer sagen: Der Rassismus erklärt zur Folge von Natur, was sein eigenes Produkt ist. Er macht aus seinen Objekten erst das, was er denkt, dass

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Vgl. zur Entwicklung des Rassebegriffs auch: Marz 2020: 20–35.

3 Metamorphosen des Rassismus – Natur und Kultur

diese ohnehin schon von Natur aus sind. Er ist der zur realen Macht gewordene Zirkelschluss: Er rechtfertigt, was er selbst hervorbringt, dadurch, dass er das Hervorgebrachte als normatives Maß vorführt.

3.1.1 Vormoderner und moderner Begriff der »Rasse« Die Ursprünge des Rassebegriffs sind in der Forschung umstritten. Analoge Phänomene gab es nach Hund schon in der Antike (vgl. Hund 2002). Eine wesentliche Prägung erfuhr der Rassebegriff im Spanien der Reconquista, in der Epoche der »Rückeroberung« der seit dem 8. Jahrhundert arabisch beherrschten iberischen Halbinsel. Diese Re-Katholisierung dauerte bis in das 16. Jahrhundert und war verbunden mit der Vertreibung der Muslime, aber auch der in großer Anzahl ansässigen Juden. Konversion wurde zu einer Art Selbstschutz für die religiös Verfolgten. Da diese erzwungene Konversion zum Christentum dazu führte, dass viele Juden und auch Mauren heimlich an ihrem alten Glauben festhielten, wurden mit dem Ende der Reconquista ab 1492 Maßnahmen eingeführt, die Zugehörigkeit auf anderem Wege markieren sollten als allein durch den Nachweis individueller Religionszugehörigkeit. Familien hatten fortan nachzuweisen, über wie viele Generationen hinweg sie schon dem Christentum anhingen (vgl. Geulen 2018: 25). An seiner Wiege ist der Begriff der ›Rasse‹ also ein Verdacht, eine Misstrauensbekundung gegen Teilhabe – der Verdacht, dass erklärte Zugehörigkeit fingiert, nur oberflächliche Bekundung sei. »Neben das alte christliche Konzept einer ›Reinheit des Glaubens‹ trat nun die Idee einer ›Reinheit des Blutes‹ als zunehmend wichtiges Zugehörigkeitskriterium. Die sich daraus ergebenden Gruppen wurden ›Rassen‹ genannt.« (Ebd.) Der Begriff der ›Rasse‹ verbreitete sich fortan über ganz Europa und wurde zunächst im Adelsstand benutzt, um Familien und Dynastien zu unterscheiden. Die Unterscheidung erfolgte in einem Prozess der Selbst- und Fremdzuschreibung und gewann im Absolutismus noch einmal an Bedeutung, als es galt, den ›Blutsadel‹ vom ›Amtsadel‹ zu differenzieren. In der frühen Neuzeit wurde der Begriff also weniger genutzt, um Hierarchien zu setzen, sondern um die Unterschiedlichkeit von Gruppen auf ähnlicher Hierarchieebene zu betonen (regionale und lokale Volksgruppen, Religionsgemeinschaften, Stände) (vgl. Geulen 2018: 25f.). Dem französischen Arzt François Bernier wird zugeschrieben, 1684 als erster die Unterteilung der Erde nach Menschenrassen und nicht nur nach geografischen Regionen vorgeschlagen und damit eine wirkliche Taxonomie von Menschenrassen vorgelegt zu haben, die sich »ein knappes Jahrhundert später rassistisch auffüllte« (Geiss 1988: 148). Erst mit der Aufklärung kam es zu einem Wandel im Gebrauch des Begriffs der ›Rasse‹. In der Aufklärung, die Freiheit und Gleichheit für alle Menschen propagierte, wurde ›Rasse‹ genutzt, um die fortbestehende Ungleichheit im Angesicht dieser Postulate zu legitimieren. Der Rassebegriff wurde zum Ideologem (vgl. Geulen 2018: 26), d.h. ihm kam eine herrschaftssichernde und -stabilisierende Funktion zu. Denn Ungleichheiten wurden in den jungen bürgerlichen Gesellschaften auf neue Art legitimationsbedürftig. Moderner Rassismus reagiert auf diesen Legitimationsbedarf. Die Sicherung und Rechtfertigung bestimmter Vorteile und Statusränge hat nun säkular, rational und ›wissenschaftlich‹ aufzutreten – alles drei war neu.

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Auch wenn es den Rassebegriff seit ca. 500 Jahren gibt, ist seine Bedeutung für die Ausgrenzung von Menschen somit eng mit den sich in der Moderne entwickelnden Klassifikationssystemen verbunden. Die Konstruktion von ›Rassen‹ ist nicht das Produkt von verirrten Einzelnen, sondern sie hat genau in dem sozialen Raum ihren Ausgang genommen, der als Ort der Objektivität und Wahrheit gilt: den Wissenschaften. Die Gesellschaftskritik Horkheimers und Adornos thematisiert, wie ich später ausführlich darlegen werde, auf sehr grundsätzliche Weise Probleme, die mit klassifizierender Logik und dem kategorisierenden Zugang zur erfahrbaren Welt verbunden sind. Das Emanzipationsprogramm der wissenschaftlichen Aufklärung schleppt, so argumentiert Kritische Theorie, eine Gewaltgeschichte mit, die sich bis in die Begriffe, in die Formen (und nicht nur Inhalte) des wissenschaftlichen Denkens verfolgen lässt. Im Zentrum der Kritik steht das identifizierende Denken. Begriffe klassifizieren und kategorisieren – sie abstrahieren von bestimmten Qualitäten der einzelnen Gegenstände. Allein der Fokus auf bestimmte Eigenschaften von Objekten (und das Absehen von anderen) ermöglicht eine generalisierende Zuordnung. Der Zwang zum Konsistenten im begrifflichen Denken, das Widersprüche tilgen will und um Subsumtion bemüht ist, stellt die »allgemeinsten Beziehungen innerhalb der Ordnung her« (Horkheimer/Adorno 1947: 100). Mit der bürgerlichen Gesellschaft breitet sich ein naturwissenschaftliches Denken aus und erzeugt in allen gesellschaftlichen Bereichen Formen technischer und sozialer Kontrolle. Im 19. Jahrhundert war die Existenz von ›Rassen‹ eine weitgehend geteilte Vorstellung. Dieser Annahme folgten Philosophen, Humanmediziner, Biologen, Anthropologen, Demographen, Psychologen, Pädagogen, Sozialpolitik und auch ein Großteil der Menschen in Europa (vgl. dazu Rürup 2004: 100). Zu den einflussreichsten Protagonisten dieser Rassenidee zählten Rassisten und Antisemiten wie Joseph Arthur de Gobineau, Houston Stewart Chamberlain oder Hans Friedrich Karl Günther. Sie waren der Überzeugung, dass es Menschenrassen gibt, die die Wissenschaft klassifizieren kann. Hier sollen nun nicht im Detail die genauen Typologien einzelner Rassenlehren dargestellt werden. Im Kern folgten sie stets der gleichen Logik: Ganz oben steht die so genannte ›weiße Rasse‹, gefolgt von verschiedenen, in ihrer ›Minderwertigkeit‹ hierarchisierten anderen ›Rassen‹. Ob dies nun zwei (Christian Meiners), drei (Friedrich K. Günther, Arthur Comte de Gobineau), vier (Carl von Linné, Immanuel Kant) oder fünf (Otto Ammon, Johann Friedrich Blumenbach) ›Rassen‹ sind, variiert und zeigt bereits die Willkür solcher Klassifikationen an.2 Davon, dass die Hautfarbe von Menschen die Grundlage einer von Natur aus bestehenden Gruppeneinteilung sei, war der Naturforscher Carl von Linné überzeugt, der Wulf D. Hund als einer der »maßgeblichen Konstrukteure der Menschenrassen« gilt (vgl. Hund 2017: 84). Zur Klassifikation der Menschen in ›Rassen‹

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Nicht alle Typologien fokussieren in ihren jeweiligen Bezeichnungen auf Hautfarbe. Daneben beziehen sich ›Rassen‹-Bezeichnungen auch auf geographische (z.B. Johann Friedrich Blumenbach, François Bernier), ›ethnische‹ (Immanuel Kant teilweise) und sogar auf biblische (Georgius Hornius) Attribute. In manchen Bezeichnungen ist die Wertung bereits explizit enthalten. So spricht Gustav Le Bon von »Primitivrassen«, niederen und mittleren sowie von höheren ›Rassen‹ oder Christian Meiners unterteilt in »›helle schöne‹ Rassen« und in »›dunkle häßliche‹ Rassen« (vgl. zur Übersicht über Rassenkonzepte: Geiss 1988: 142–144).

3 Metamorphosen des Rassismus – Natur und Kultur

entwickelte der wissenschaftliche Rassismus des 19. Jahrhunderts z.B. Haut- und Augenfarbentafeln, Haarfarbenmuster, Augenprothesen aus Glas, Gesichtsbilder-Tafeln, Modellen von Schädeln und sogar Abformungen von Köpfen und ganzen Körpern sowie präparierte Gehirne. Verschiedenste Apparaturen und Werkzeuge zur Vermessung des menschlichen Körpers sind in dieser Zeit entstanden. Bilder, Graphiken, Statistiken fokussierten auf Unterschiede, qualitative Andersartigkeiten und Differenzen. Die Abweichung von der Norm und die daraus resultierende Disqualifizierung anderer ›Rassen‹ ergab sich stets aus dem Vergleich zum Eigenen, später zum ›arischen Herrenmenschen‹. Aber nicht nur in den Naturwissenschaften wurde die Hierarchie von Menschenrassen propagiert. Auch bedeutende Philosophen wie Immanuel Kant, Johann Gottlieb Fichte und Georg Wilhelm Friedrich Hegel vertraten eine Hierarchie von Menschenrassen. Immanuel Kant sah die »Menschheit in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent.« (Kant 1802: 316) Die ›Schwarzen‹ seien nach Kant »weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften« (ebd.). Für Hegel ist »nichts an das Menschliche Anklingende in diesem Charakter [der ›Schwarzen‹, U. M.] zu finden.« (Hegel 1830/31: 122) Auf Fichte haben sich zahlreiche Ideologen des Nationalsozialismus, so zum Beispiel Alfred Rosenberg, aufgrund seines ausgeprägten Antisemitismus berufen. Auch und gerade ein Denken, das auf Differenziertheit, skeptische Selbstreflexion, Überprüfbarkeit, auf Argumentation statt bloßer Autorität, Freiheit durch Aufklärung statt Naturhörigkeit setzen wollte, erwies sich als anfällig für Rassismen. Wie konnte das sein? Es scheint fast, als wollten diese Philosophen die eigenen Emanzipationskräfte – ohne die bis heute keine aufklärerische Kritik auskommt – an anderer Stelle wieder einhegen. Und diese Verstrickung bleibt ein Problem für aufklärerische Rassismuskritik bis heute.3 Auch der Hegelianer Adorno thematisiert später diese Widersprüchlichkeit in Bezug auf Hegel: »Der Begriff Rasse kommt bei ihm mehrfach vor, und ebenso auch der Hinweis auf die Schwerveränderlichkeit der Nationalität, die er nun aber einfach als eine Naturqualität hinnimmt, ohne daß er dem Mechanismus, wieso das Nationalbewußtsein beharrt, nachdem es bereits gesellschaftlich-geschichtlich überholt ist, im Ernst nachfragt. Es ist hier eben eines der Momente, wo der dialektische Denker, fast möchte man sagen: naiv in einige Statik seiner Begriffsbestimmungen verfällt.« (Adorno 1964/65: 158; Herv. i.O.) Die wenigen Stimmen, die sich gegen die zeitgenössischen Rassentheorien wandten, wurden kaum gehört, und waren, wie Hund zeigt, weitgehend inkonsequent. Wie etwa Johann Gottfried Herder wiesen sie zwar die Idee der Rassifizierung von Menschen nach Hautfarbe zurück, ergingen sich aber dennoch in pauschalen und abwertenden Ur-

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Lenhard betont die Schwierigkeit, festzulegen, »ob Kant und andere die rassistische Praxis – nämlich die Ausbeutung ›schwarzer‹ Menschen – mit ihren Theorien rechtfertigen wollten oder ob diese Theorien umgekehrt Ausdrücke dieser Praktiken sind, eine nachträgliche Biologisierung sozialer Herrschaft. Fest steht aber, dass die rassistische Ideologie im geisteswissenschaftlichen Kontext der Aufklärung entstanden ist.« (Lenhard 2021: 62)

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teilen über Chines:innen, Türk:innen, Juden/Jüdinnen usw. und lobten die europäische Überlegenheit (vgl. Hund 2017: 88f.).4

3.1.2 Die Eskalation zum Rassenwahn im Nationalsozialismus Der Nationalsozialismus unterscheidet sich qualitativ und quantitativ in seinem Umgang mit dem Rassenkonzept von allem Vorhergehenden. Die objektivierende Erfassung von Menschen zwecks systematischer Verfolgung, die Zwangsarbeit und die planvoll verwaltete, industriell betriebene Vernichtung von Millionen überbieten bis heute alle Verbrechen (vgl. dazu bspw. Klävers 2019).5 Während des Nationalsozialismus wurde der Mythos vom ›arischen Herrenmenschen‹ zum Ideal einer ›innerarischen Reinigung‹. Durch Sterilisation und Ermordung von Menschen, die als degeneriert und damit gefährlich für das Phantasma der reinen ›Rasse‹ galten, sollte diesem Ideal nähergekommen werden. Das völkische Denken war eine wichtige Grundlage für die Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus. Als politische Strömung entstand die völkische Bewegung am Ende des 19. Jahrhunderts. Der Ausdruck ›völkisch‹ ist ein Sammelbegriff für verschiedene »Gruppierungen mit unterschiedlichem Organisationsgrad: Verbände, Bünde, Vereine, Gemeinden« (Puschner/Schmitz/Ulbricht 1996: XII). Wenn auch der Antisemitismus das zentrale Verbindungsstück der Völkischen war, so waren diese auch geeint durch einen »›integralen Nationalismus‹«, durch rassistische (v.a. antislawische), »sozialdarwinistische, militaristische und imperialistische Ideologeme« (ebd.: XVII; vgl. auch Puschner/Vollnhals 2012: 14). Die Gleichsetzung von ›Kultur‹ und ›Rasse‹ war von Beginn an zentral für das völkische Denken. Die völkische Bewegung teilt mit der Romantik des 19. Jahrhunderts, wie George L. Mosse darlegt, eine Tendenz zum Irrationalen und Emotionalen. Sie ist Gegenbewegung zum Rationalismus der Aufklärung. Bis 1918 war die Breitenwirkung der völkischen Bewegung nicht sonderlich groß. Nach dem Ersten Weltkrieg jedoch erfuhr sie einen deutlichen Aufschwung durch ihre wachsende Anhängerschaft unter Studierenden, Intellektuellen und Angestellten (vgl. Mosse 1979: 104–109). Mit dem Aufstieg der Nationalsozialisten traten die einst elitären Vorstellungen der Völkischen in den Hintergrund – im Dienste breiterer Anschlussfähigkeit. Von der völkischen Bewegung wie von den Nationalsozialisten wurden jene Aspekte des sozialdarwinistischen Denkens

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Georg Forster, der sich in seinem Aufsatz Etwas über die Menschenracen (1786) intensiv mit Kants Rassenbegriff auseinandersetzte, zeigt, dass während der Aufklärung durchaus Kritik an der Idee der Rassenhierarchie formuliert wurde: Die Trennung der ›schwarzen‹ Bevölkerung von der ›weißen‹ zerschneide »den letzten Faden, durch welchen dieses gemißhandelte Volk mit uns zusammenhing, und vor europäischer Grausamkeit noch einigen Schutz und einige Gnade fand? Lassen Sie mich lieber fragen, ob der Gedanke, daß Schwarze unsere Brüder sind, schon irgendwo ein einziges Mal die aufgehobene Peitsche des Sklaventreibers sinken ließ?« (Forster 1786: 304) Klävers kritisiert in seinem Buch die Bemühungen vor allem im Umfeld postkolonialer Theorien, einen entwicklungslogischen Zusammenhang zwischen Kolonialismus und Auschwitz herstellen zu wollen. Dieser komparative Ansatz wird von Klävers als ungeeignet zurückgewiesen, weil dabei die Spezifik der Vernichtungsantisemitismus ausgeblendet und Antisemitismus als eine Form des Rassismus behandelt werde (vgl. Klävers 2019).

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zurückgewiesen, die das Prinzip der Evolution betonten.6 Und auch Darwins These, dass alle ›Rassen‹ einst primitiv begonnen haben und sich dann weiterentwickeln, stand diametral der Vorstellung von der ›deutschen Rasse‹ als Ausdruck absoluter Vollkommenheit entgegen (vgl. ebd.: 115). Das nationalsozialistische Rassendenken mündete in ›rassenhygienischen‹ Maßnahmen, also in Bestrebungen, mittels Ausrottung und Zucht das Ideal einer ›reinen arischen Rasse‹ zu verwirklichen. Diesen Unternehmungen lag der Glaube zugrunde, dass es eine reale biologische Gefährdung des ›deutschen Volkes‹ gebe. Im Zusammenhang mit solchen Maßnahmen wurde in der täglichen Lebensführung die Idee eines »rassische[n] Pflichtgefühl[s]« bedeutsam (Haug 1987: 62, 57; auch Puschner 2001: 173). Dieses bezog sich nicht nur auf Fortpflanzung, sondern auch auf sportliche Ertüchtigung, eine naturgemäße Lebensweise, Ernährung und den Konsum von Alkohol und Nikotin. Um dem völkischen Ideal der ›Rassenreinheit‹ zu entsprechen, reichten Leibesertüchtigung und ein gesunder Lebensstil aber nicht aus. Es bedurfte einer »planmäßigen Züchtungspolitik«, wie Puschner schreibt (2001: 174), als Gegenmaßnahme zur Gobineauschen Diagnose von der drohenden ›Degeneration‹ (›Entartung‹) durch Vermischung der ›Rassen‹ (vgl. Gobineau 1853: 29–45).7 Sozialdarwinistisches Denken und Eugenik etablierten sich im Deutschen Reich an den Universitäten. Von den Wissenschaften ausgehend fand die Vorstellung einer notwendigen Reinheit und Gesundheit des ›Volkes‹ ihren Weg auch in das Alltagsbewusstsein. Der ›rassische‹ Reinheitsgedanke wurde begleitet von der Vorstellung eines Kampfes der ›Rassen‹. Dieser Kampf war nicht nur einer des Krieges, der Ausgrenzung, Vertreibung und Vernichtung; er wurde auch gemäß der darwinistischen Idee »survival of the fittest« täglich in den Betten der Menschen geführt. Die Dringlichkeit, rassistische Gebote auch in der Sexualität zu befolgen, ist aus rassentheoretischer Perspektive keine Marginalie. Denn die ›Reinheit‹ der Nachkommenschaft lässt sich nur über die Fortpflanzung geeigneter Elternteile sichern. Daher müssen sich Rassenpolitik und völkische ›Rassenhygiene‹ zwingend auf Familien und Familienpolitik konzentrieren. Neben Steuerbegünstigungen für kinderreiche deutsche Familien und der Besteuerung von Junggesellen war auch ein Verbot von Verhütungsmitteln als »›Volksvernichtungsmittel‹« in der Diskussion (vgl. Puschner 2001: 174). 6

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Von Darwins Evolutionstheorie wird die selbstläufige Weiterentwicklung des Lebens durch zufällige Mutation und natürliche Auslese als fortschreitende Anpassung an die Umweltbedingungen beschrieben. Vom Sozialdarwinismus wird diese Überlegung aufgegriffen, teleologisch verfälscht und auf den Menschen übertragen: Nur, wer am stärksten ist, könne sich in einer Gesellschaft durchsetzen. Das sozialdarwinistische Denken ist aktivistisch, insofern es ein Eingreifen des Menschen fordert, um den Stärksten zur Durchsetzung zu verhelfen. Für den Sozialdarwinismus haben daher Überlegungen zur aktiven Auslese, insbesondere in Hinblick auf das Erbgut eine wichtige Bedeutung. So heißt es bei Gobineau in Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen (1853): »Ich meine also, daß das Wort d e g e n e r i e r t, auf ein Volk angewandt, bedeuten muß und bedeutet, daß dieses Volk nicht mehr den inneren Wert hat, den es ehedem besaß, weil es nicht mehr das nämliche Blut in seinen Adern hat, dessen Wert fortwährende Vermischungen allmählich eingeschränkt haben; […] kurz, weil der Mensch des Verfalls, derjenige, den wir den d e g e n e r i e r t e n Menschen nennen, ein unter dem ethnographischen Gesichtspunkte von dem Helden der großen Epochen verschiedenes Subjekt ist.« (Gobineau 1853: 31f.; Herv. i.O.)

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Im Nationalsozialismus wurde mit den Nürnberger Gesetzen (1935) die Forderung nach der ›Reinheit der Rasse‹ zum Gesetz: Geschlechtsverkehr wurde zunächst zwischen Juden und Nicht-Juden strafbar. Ein Zusatz der Ersten Verordnung zum »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« vom 14. November 1935 ergänzte: »Eine Ehe soll ferner nicht geschlossen werden, wenn aus ihr eine die Reinerhaltung des deutschen Blutes gefährdende Nachkommenschaft zu erwarten ist«. Wer diese gefährdende Nachkommenschaft hervorbringe, wurde am 26. November 1935 in einem Rundschreiben vom Innenministerium konkretisiert: Es waren Menschen, die als fremd- oder ›minderrassig‹ galten (vgl. Friedländer 1998: 170). Weiter oben habe ich dargestellt, dass ›Rasse‹ immer wieder zum nachträglichen ideologischen Rechtfertigungszusammenhang für Ungleichbehandlung wurde. Die eugenischen Maßnahmen im Nationalsozialismus jedoch, die auf Auslese, Zucht und Reinheit der ›Rassen‹ zielten, waren für die Zukunft projektiert. Rassismus diente hier nicht als Legitimation ex post, sondern er zielte idealistisch auf eine politisch-aktivistische ›Rassenhygiene‹8 , auf die Schaffung eines neuen Menschen. Bis dahin hatte Rassismus die sozialen Ordnungen, wie sie waren, mit viel Aufwand bejaht und gerechtfertigt – seine nationalsozialistische Variante jedoch entwarf eine neue, erst noch herzustellende Ordnung. Die ›rassehygienischen‹, eugenischen Maßnahmen wurden von ihren Verfechtern gar als Maßnahmen zur Befriedung der Welt dargestellt: »Nach dem Willen des Führers sind die Nürnberger Gesetze gerade nicht Maßnahmen, die den Rassenhaß züchten und verewigen sollen, sondern solche, die den Beginn einer Befriedung der Beziehungen des deutschen und des jüdischen Volkes bedeuten.« (Lösener/Knost 1936, zit.n. Friedländer 1998: 169) Dieser zynische Gedanke: dass die strenge Segregation von Menschengruppen der Schlüssel für eine friedliche Welt sei und damit im Kern einem antirassistischen Impuls folge, findet sich noch heute im Ethnopluralismus der Neuen Rechten. Völkisches Denken und Eugenik wurden vor allem durch die propagandistische Verbreitung während des Nationalsozialismus wirkmächtig. Der Begriff der Eugenik stammt von Charles Darwins Cousin Francis Gaulton, der ihn erstmals 1863 verwendete. Die grundlegende Idee des Rassismus von der Bewahrung der ›rassischen Reinheit‹ der ›weißen Rasse‹ wird von der Eugenik noch überboten durch die Vorstellung, eine ›Rasse‹ züchten zu können. In der Eugenik soll nicht nur erhalten, sondern veredelt werden, was die ›weiße bzw. arische Rasse‹ in ihrer reinen Form ausmacht. Eugenische Maßnahmen führten im Nationalsozialismus zur Tötung und zur Sterilisierung jener Menschen, deren Erbgut nicht nur aufgrund von ›rassischen‹ Eigenschaften, sondern aufgrund von psychischen und physischen Krankheiten als ›minderwertig‹ galt. Ziel der Tötung oder Sterilisierung war es, diese Menschen davon abzuhalten, sich fortzupflanzen und so das als ›minderwertig‹ bzw. defekt erachtete Erbgut weiterzugeben. So kam es im Rahmen der »Aktion T4« zum Massenmord an kranken und behinderten Menschen. Heute sind

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Geulen weist darauf hin, dass bereits Anfang des 20. Jahrhunderts viele Staaten die Zwangssterilisation von Menschen mit Behinderung oder als »asozial deklarierter Menschen« (Geulen 2018: 29) praktisch umsetzten.

3 Metamorphosen des Rassismus – Natur und Kultur

aktive Eugenik und Rassenhygiene weithin diskreditiert, in Deutschland sind sie es bereits seit 1945, in sozialreformerisch orientierten Ländern ohne eine eigene Geschichte moderner Massenverbrechen wie Schweden waren sie es zum Teil erst Jahrzehnte später. Dennoch finden sich in bevölkerungspolitischen Strategien bis heute immer noch Elemente dieses Denkens. Zwei kurze Beispiele mögen dies verdeutlichen: Familienpolitische Forderungen der AfD beispielsweise zielen auf den Erhalt des ›deutschen Volkes‹. Man wähnt dieses ›Volk‹ durch geburtenstarke Migrant:innen bedroht. Die AfD erklärt im Grundsatzprogramm von 2016, deutsche Familien, die Kinder haben, finanziell unterstützen zu wollen. Isoliert wäre an dieser Forderung nichts Eugenisches. Im selben Zusammenhang wird dann aber Zuwanderung als Problem dargestellt, das »demografische Fehlentwicklungen in Deutschland« nicht lösen, sondern verschärfen werde (vgl. AfD Grundsatzprogramm 2016: 41). »Vielmehr muss mittels einer aktivierenden Familienpolitik eine höhere Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung als mittel- und langfristig einzig tragfähige Lösung erreicht werden.« (Ebd.) Diese Forderungen werden auch im Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2021 erneuert. Dort heißt es: »Eine Fortsetzung der herrschenden, familienzersetzenden Politik wird die demografische Katastrophe, in die wir geraten sind, weiter verschlimmern. Am Ende dieses Prozesses steht auch der Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme und letztlich unserer kulturellen Identität. Das können wir nicht wollen! Die AfD ist entschlossen, dem familienfeindlichen Zeitgeist eine positive, familienfreundliche Sozialpolitik entgegenzustellen. Die AfD bekennt sich zur Familie als Keimzelle unserer Gesellschaft. Ein Schlüssel zu glücklicheren und stabileren Familien liegt dabei in aktivierenden familienpolitischen Maßnahmen und in einer größeren Wertschätzung der Familienarbeit.« (AfD Wahlprogramm 2021: 104f.) Voraussetzung und Folge solch einer Sozialpolitik ist eine Aufspaltung der Gesellschaft in Erwünschte und Unerwünschte, in Nützliche und Unnütze, schließlich in Deutsche und Zugewanderte. Soziale Leistungen werden nur »einer klar definierten und begrenzten Gemeinschaft« zuteil (AfD Wahlprogramm 2017: 56) – es lässt sich ergänzen: einer national und völkisch bestimmten Gemeinschaft. Jener obige Passus wurde im Wahljahr 2021 abgeschwächt zu der Formulierung: »Die Asylanerkennung führt zu einer sofortigen Gleichstellung in allen sozialen Sicherungssystemen, ohne jede vorangegangene Teilnahme am Solidarsystem. Das ist sozial ungerecht.« (AfD Wahlprogram 2021: 96) Die AfD Thüringen »plädiert für die Ausschöpfung des neutralen Verteilungsspielraums« (Dörre 2018: 71) bei der Rentenzahlung mit der Einschränkung, dass diese nur an deutsche Staatsangehörige ausgezahlt wird. Im Kern bleibt die Idee einer Gesellschaft von natürlich Berechtigten (auch wenn es sich dabei um deutsche Bürger:innen handelt, die noch nie etwas in das Sicherungssystem einzahlten). Ihnen gegenüber steht eine Gruppe von Nicht-Berechtigten, die unter dem Vorwand, ihren Beitrag für das Sozialsystem nicht geleistet zu haben, ausgeschlossen werden sollen. Auch Thilo Sarrazin greift in seinem heftig kritisiertem Buch Deutschland schafft sich ab (2010) die alte eugenische Idee von der Bedrohung des einen, reinen (deutschen) Bevölkerungsanteils durch die unverhältnismäßig stärkere Vermehrung eines anderen

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(muslimischen, arabischen) Bevölkerungsanteils auf. Muslime seien demnach weniger intelligent als Deutsche – und Intelligenz werde vererbt, so Sarrazins Behauptung. In Sarrazins Buch spiegelt sich »das Denken in den Kategorien eines fixen ›Pools‹ von Eigenschaften beziehungsweise später dann von Genen« (Weingart 2012: 24). Sarrazin sieht nicht nur den deutschen Genpool in Gefahr, sondern vertritt eine elitäre Leistungsideologie, die wohl nur deshalb von vielen seiner – selbst in prekären Lagen lebenden – Anhänger:innen bejubelt wird, weil sie sich gegen Migrant:innen richtet (vgl. Weiß 2011: 11). Weiß arbeitet sehr anschaulich heraus, wie quer Sarrazin mit seinen Ansichten zu vielen seiner rechten und rechtskonservativen Anhänger:innen steht und wie er dennoch für seine staatsinterventionistischen Vorschläge Zuspruch erntet – schlicht, weil er vor allem über Muslime und Araber schreibt und so rassistische Ressentiments zu aktivieren weiß.

3.2 Neo-Rassismus – Das Unbehagen an der Kultur der Anderen Zu Beginn dieses Kapitels wurde bereits angedeutet, dass neuere Formen des Rassismus sich immer weniger auf Blut und Gene als prägende Kategorien beziehen und stattdessen Kultur und Ethnie betonen. Der sogenannte Neo-Rassismus meidet den Begriff der ›Rasse‹.

3.2.1 Ethnopluralismus Zentrales Ideologiefragment dieses Neo-Rassismus ist der Ethnopluralismus.9 Dieser wird innerhalb der Neuen Rechten als entbiologisierte, anti-egalitäre Gesellschaftskonzeption gebraucht, die maßgeblich von Henning Eichberg und Alain de Benoist geprägt wurde. Ethnopluralismus ist bei Eichberg ein Gegenbegriff zum Ethnozentrismus (vgl. Eichberg 2007). An der Person Eichbergs, der vom klassisch extremen Rechten – seinem Selbstverständnis nach – zum Linken wurde, lässt sich auch ein weiterer Aspekt des Ethnopluralismus aufzeigen: die Stärkung des Querfrontgedankens, d.h. die Aufhebung der Links-Rechts-Topologie des Politischen, um die es bereits Alain de Benoist von der Novelle Droite gegangen war. Ethnopluralismus verbindet in mancher Hinsicht Denkfiguren der radikalen Rechten mit Denkfiguren – mancher – Linker. Doch was ist die Neue Rechte? Die Neue Rechte kann als direkte Reaktion auf die Diskreditierung der Alten Rechte mit ihren Ideologemen wie ›Rasse‹, Reinheit, Eugenik und Überlegenheit gesehen werden. Als Phänomen des post-nationalsozialistischen Deutschland war sie seit den 1970er Jahren organisatorisch und inhaltlich mit der Novelle Droite aus Frankreich verbunden. Ihre Ursprünge hat die Neue Rechte in den 1950er Jahren, also in der Zeit nach dem Nationalsozialismus. Sie ist bis heute bemüht, sich gegen die Alte Rechte auch inhaltlich durch eine Intellektualisierung rechter Inhalte abzugrenzen. Beispielhaft kann hier die Gründung des Studienzentrums Weikersheim (BadenWürttemberg) als rechts-konservativer Thinktank im Jahr 1979 genannt werden. Es folgte ein weiteres intellektuelles Zentrum mit dem Institut für Staatspolitik (IfS) in Schnell9

Vgl. dazu auch Marz 2020: 36–48.

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(muslimischen, arabischen) Bevölkerungsanteils auf. Muslime seien demnach weniger intelligent als Deutsche – und Intelligenz werde vererbt, so Sarrazins Behauptung. In Sarrazins Buch spiegelt sich »das Denken in den Kategorien eines fixen ›Pools‹ von Eigenschaften beziehungsweise später dann von Genen« (Weingart 2012: 24). Sarrazin sieht nicht nur den deutschen Genpool in Gefahr, sondern vertritt eine elitäre Leistungsideologie, die wohl nur deshalb von vielen seiner – selbst in prekären Lagen lebenden – Anhänger:innen bejubelt wird, weil sie sich gegen Migrant:innen richtet (vgl. Weiß 2011: 11). Weiß arbeitet sehr anschaulich heraus, wie quer Sarrazin mit seinen Ansichten zu vielen seiner rechten und rechtskonservativen Anhänger:innen steht und wie er dennoch für seine staatsinterventionistischen Vorschläge Zuspruch erntet – schlicht, weil er vor allem über Muslime und Araber schreibt und so rassistische Ressentiments zu aktivieren weiß.

3.2 Neo-Rassismus – Das Unbehagen an der Kultur der Anderen Zu Beginn dieses Kapitels wurde bereits angedeutet, dass neuere Formen des Rassismus sich immer weniger auf Blut und Gene als prägende Kategorien beziehen und stattdessen Kultur und Ethnie betonen. Der sogenannte Neo-Rassismus meidet den Begriff der ›Rasse‹.

3.2.1 Ethnopluralismus Zentrales Ideologiefragment dieses Neo-Rassismus ist der Ethnopluralismus.9 Dieser wird innerhalb der Neuen Rechten als entbiologisierte, anti-egalitäre Gesellschaftskonzeption gebraucht, die maßgeblich von Henning Eichberg und Alain de Benoist geprägt wurde. Ethnopluralismus ist bei Eichberg ein Gegenbegriff zum Ethnozentrismus (vgl. Eichberg 2007). An der Person Eichbergs, der vom klassisch extremen Rechten – seinem Selbstverständnis nach – zum Linken wurde, lässt sich auch ein weiterer Aspekt des Ethnopluralismus aufzeigen: die Stärkung des Querfrontgedankens, d.h. die Aufhebung der Links-Rechts-Topologie des Politischen, um die es bereits Alain de Benoist von der Novelle Droite gegangen war. Ethnopluralismus verbindet in mancher Hinsicht Denkfiguren der radikalen Rechten mit Denkfiguren – mancher – Linker. Doch was ist die Neue Rechte? Die Neue Rechte kann als direkte Reaktion auf die Diskreditierung der Alten Rechte mit ihren Ideologemen wie ›Rasse‹, Reinheit, Eugenik und Überlegenheit gesehen werden. Als Phänomen des post-nationalsozialistischen Deutschland war sie seit den 1970er Jahren organisatorisch und inhaltlich mit der Novelle Droite aus Frankreich verbunden. Ihre Ursprünge hat die Neue Rechte in den 1950er Jahren, also in der Zeit nach dem Nationalsozialismus. Sie ist bis heute bemüht, sich gegen die Alte Rechte auch inhaltlich durch eine Intellektualisierung rechter Inhalte abzugrenzen. Beispielhaft kann hier die Gründung des Studienzentrums Weikersheim (BadenWürttemberg) als rechts-konservativer Thinktank im Jahr 1979 genannt werden. Es folgte ein weiteres intellektuelles Zentrum mit dem Institut für Staatspolitik (IfS) in Schnell9

Vgl. dazu auch Marz 2020: 36–48.

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roda (Sachsen-Anhalt), gegründet durch Götz Kubitschek, Karlheinz Weißmann und andere. Zentral für die Neue Rechte war schon bald die Übernahme eines originär linken Gedankens: des Hegemonie-Konzeptes des marxistischen Philosophen Antonio Gramsci. Gramsci hatte seinerzeit die Resistenz westlicher Gesellschaften gegen die traditionsmarxistisch eigentlich erwartbare krisenartige Zuspitzung und Umwälzung zu erklären versucht. Bürgerliche ›Hegemonie‹ lässt sich nicht allein im Kampf um das Eigentum an Produktionsmitteln niederringen. Das Konzept »Hegemonie« betonte in diesem Sinne gegen eine bestimmte Form des stark ökonomistischen Marxismus die Notwendigkeit, jenseits der ökonomischen Kämpfe und einer rein am Produktionsprozess orientierten Klassenbestimmung auch das Eigenleben des Kulturellen, die »Zivilgesellschaft« mit ihren Institutionen und Praktiken als Arena des politischen Emanzipationskampfes zu denken. Nur wer in diesen Arenen Hegemonie gewinnt, kann mit seiner ökonomischen Umwälzung Erfolg haben (vgl. Gramsci 1930/31: 874, 916). Dieses linke, reformmarxistische Konzept wurde von Rechten um seine emanzipatorischen Kontexte gekürzt. Rechts wird es zu einem rein methodischen Werkzeug, bisweilen zum reinen Schlagwort. Es geht der Neuen Rechten vor allem darum, kulturelle Hegemonie zu erlangen, um so rechte Deutungen des Sozialen gesellschaftlich akzeptabel oder gar dominierend werden zu lassen. Dieser Hegemoniegewinn wird mit dem Begriff einer »Kulturrevolution von rechts« beschrieben, so auch der gleichnamige Titel eines Buches von Alain de Benoist. Bestimmte Bilder und Begriffe sollen inhaltlich neu besetzt werden, rechte Personen sollen in Führungspositionen nicht nur der Politik, sondern auch des Medien- und Kulturbereichs gelangen, um von dort aus Einfluss auf die Gesellschaft auszuüben. Zu den wichtigen Themen der Neuen Rechten nach 1945 gehört die nationale Identität. Sie ist von der NS-Vergangenheit zu emanzipieren – hin zur selbstbewussten Nation. Und das schließt fast notwendig sekundär-antisemitische Argumentationen ein.10 Ein zweites wichtiges Thema der Neuen Rechten ist eben der Ethnopluralismus, der Individuen als organisch zu einer ›Kultur‹ gehörig wahrnimmt. Ein drittes ist der Anti-Universalismus, der die Zugehörigkeit zu solchen ›Kulturen‹ zum relativistischen Argument gegen universale Normen und Orientierungen macht – und stattdessen die Notwendigkeit der räumlichen Separierung verschiedener ›Kulturen‹ und ›Völker‹ betont. Mit diesen drei Themen vollzieht die Neue Rechte auf verschiedenen Gebieten

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Im sekundären Antisemitismus wird der Antisemitismus trotz und nach Auschwitz zum Antisemitismus wegen Auschwitz: Juden gelten dann, weil sie qua Existenz an deutsche Verbrechen erinnern, per se als Störer der ersehnten Identifizierung mit der Nation. Der sekundäre Antisemitismus wird sichtbar durchaus auch als Fortleben altbekannter Stereotype vom Juden. Er speist sich aus der Weigerung, sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zu befassen und die damalige weite Verbreitung des antisemitischen Ressentiments anzuerkennen. (In diesem Punkt der Leugnung ähneln manche Rassismuskritiken, wie die von Philomena Essed oder manche postkoloniale Theorievarianten der theoretischen Bestimmung eines sekundären Antisemitismus auf formaler Ebene.) Zudem umfasst diese Form des Antisemitismus die Verleugnung heutiger Formen des Antisemitismus in den NS-Nachfolgestaaten sowie die Externalisierung des antisemitischen Problems an andere Gesellschaften/Gruppen mit dem Ziel, die eigene Verstricktheit zu leugnen (vgl. dazu: Stender 2011; Rensmann 1998).

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den Wechsel von der Natur (›Rasse‹, Vererbung) zur Kultur, vom expliziten Hierarchiedenken (›Minderwertigkeit‹) zum Werte- und Kulturrelativismus (Differenz) und vom räumlichen Expansionsdrang (Imperialismus, Kolonialismus) zum regionalen Territorialismus. Und dies sind auch die Gründe, warum Vertreter der Neuen Rechten das Label ›rechts‹ bisweilen zurückweisen oder sich sogar, wie im Falle Henning Eichbergs, als ›links‹ bezeichnen. Gerade die Abgrenzung zum Nationalsozialismus verschafft ihnen politischen Spielraum; sie kann als wichtiger Grund für die zunehmende Akzeptanz rechter Politikinhalte und Gesellschaftsvorstellungen in den letzten Jahrzehnten gesehen werden (vgl. zum intellektuellen Selbstverständnis der Neuen Rechten v.a. Weiß 2011, 2017; Assheuer/Sarkowicz 1992). Neu-rechte Autoren wie Benedikt Kaiser zeigen, dass die Neue Rechte neben der Identität zunehmend auch die soziale Frage für sich als wichtiges Mobilisierungsthema entdeckt. Das wiederum kann durchaus anschließen an sozialrevolutionäre und egalitäre Motive der nationalsozialistischen Bewegung. Kaiser arbeitet als Lektor für Götz Kubitscheks Antaios Verlag und schreibt für die Zeitschrift Sezession, die von Kubitscheks Institut für Staatspolitik herausgegeben wird (vgl. Gebhardt 2017). Aber sein Antikapitalismus11 ist keineswegs so klar antisemitisch wie völkische Scheidungen in ›raffendes Kapital‹ hier (die jüdisch dominierte Finanzsphäre) und ›schaffendes Kapital‹ dort (deutsche Handwerker und Industrie) es waren. Kaiser geht vielmehr aus von einem Gegensatz zwischen Kapitalismus und einem ethnisch bestimmten ›Volk‹, das vom Kapitalismus bedroht werde. Auffällig ist, dass Kaiser viele linke Schlagworte wie »Neoliberalismus« und »multinationale Konzerne« aufgreift. Doch trotz seiner linken Anklänge erstrebt Kaiser keine ›Querfront‹ mit der Linken – der fehle die Vorstellung vom ›Volk‹, und zudem sei die Rechte selbst in der Lage, eigene Inhalte durchzusetzen. Solch ethnopluralistisches Denken kritisiert am liberalen Kapitalismus dessen Gleichgültigkeit gegenüber der Herkunft seiner Arbeitskräfte. Dem setzt die rechte Kapitalismuskritik Kaisers ein »Europa der Regionen« entgegen. Richard Gebhardt kommentiert: »Dieser ›Antikapitalismus‹ erstreckt sich in der ideologischen Agitation gegen die Konsequenzen eines ›farbenblinden‹ Liberalkapitalismus. Gegen dessen Forderung nach Diversity läuft die alte und die neue Rechte Sturm. Dem transnationalen High-TechKapitalismus wird auch bei Kaiser vor allem die Auflösung der nationalen und ›volklichen‹ Identitäten vorgeworfen. Hier geht Kaiser nicht über klassische Kapitalismuskritik von rechts hinaus.« (Gebhardt 2017) Für Claudia Globisch verbindet der ethnopluralistische Gedanke die europäische Rechte. Dieser speise sich aus der »Konstruktion kulturell homogener und identischer partikularer Abstammungsgemeinschaften – vordergründig ohne Hierarchie zwischen diesen« (Globisch 2011: 204; Herv. i.O.). Nationalistische Führungsansprüche der klassischen Rechten sind in diesem ›Pluralismus‹ gleichsam gezähmt, so dass Bündnisse möglich werden. 11

Einen ähnlichen, wenn auch nicht sonderlich elaborierten Versuch einer Kapitalismuskritik von rechts unternahm 2021 auch der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen gemeinsam mit dem neu-rechten Autor Johannes Eisleben im Magazin Cato. Der Artikel ist dezidiert verschwörungsideologisch und strukturell antisemitisch (vgl. Maaßen/Eisleben 2021).

3 Metamorphosen des Rassismus – Natur und Kultur

Das scheinbar tolerante Nebeneinander der ›Völker‹ braucht allerdings gemeinsame Feindbilder. Und die finden die Ethnopluralisten in der Globalisierung, der EU, der Zuwanderung oder dem Multikulturalismus (vgl. ebd.: 205f.). Sie finden den Feind auch in den Entfremdungstendenzen des modernen Kapitalismus. Aber der Entfremdungsbegriff der neuen Rechten zielt nicht wie jener der Hegel-Marx-Adorno-Tradition auf das Leiden des Individuums am Fremdwerden gegenüber den eigenen Tätigkeiten, Produkten, Praxen und Lebensvollzügen; er zielt auf die kulturelle Gemeinschaft, als Teil derer der Mensch verstanden wird. Der rechte Entfremdungsgedanke rekurriert stets auf die (›Volks‹-)Gemeinschaft, die als homogene Gemeinschaft mit identischen Zielen vorgestellt wird und deren Homogenität in der Entfremdung bedroht ist. Der linke Entfremdungsbegriff hingegen, so Globisch hier ergänzend, ziele auf individuelle Glücks-, Selbstverwirklichungs- und Anerkennungsansprüche. Daher sei im Fall des rechten Entfremdungsbegriffs von einem identitätslogischen Volksbegriff zu sprechen (vgl. ebd.: 210). Der Ethnopluralismus kann den Geschichtsprozess nur partikularistisch als einen der ›Völker‹ sehen und ist genuin anti-universalistisch. Das ›Volk‹ ist der zentrale Bezugspunkt jeder Idee im rechten Denken. Aus ihm leitet sich alles ab. Dementsprechend ist auch das ›Volk‹ das neue revolutionäre Subjekt – nicht oder nicht mehr die Arbeiter:innenklasse oder eine Avantgarde. Für den neurechten Theoretiker Henning Eichberg steht die »Auferstehung des Volkes« allerdings in einer explizit linken Perspektive. Links bedeutet für Eichberg »von unten«, vom ›Volk‹ her zu denken; rechts von den Hierarchien, der Herrschaft (vgl. Brodkorb/Scholz/Eichberg 2010). Eichberg beweist dabei exemplarisch eine zur Perfektion getriebene Fähigkeit, rechte und linke Themen zu überblenden (vgl. Assheuer/Sarkowicz 1992: 180). Jedoch weichen, wie Brodkorb und Scholz ihm im Interview vorhalten, seine Auffassungen von links und rechts deutlich von gängigen Auffassungen politischer Zuordnungen ab. Seinen eigenen Übergang von rechts nach links markiert er nicht nur als »Ideologiewechsel«, sondern als Veränderung des ›Körperhabitus‹, von Haltung, Körperbau und Sportlichkeit. Eichberg wendet hier einen paradigmatischen theoriepolitischen Trick an: klassische ideengeschichtliche Gegensätze zwischen Rechts und Links (politische Positionen, Auffassungen über die Gesellschaft, Ziele) werden zum Nachrangigen, wo stattdessen lebensweltliche, vortheoretische oder subjektivistische Kriterien mit Bedeutung versehen werden. So sagt er im Interview: »[…] Politische Position und Identität ist mehr als nur Meinung und mehr als ein Gebilde von Ideen. Meinungen sind Überbauten über einer Basis von Habitus (Körperlichkeit, Sprache und Praxisformen) und Milieu (Netzwerken und Relationen) und gesellschaftlichen Erfahrungen (›Entfremdung‹). Diese sind durch reine Ideengeschichte nicht zu erfassen. Aber der Wandel von Ideen lässt Rückschlüsse auf basale Veränderungsprozesse zu.« (vgl. Brodkorb/Scholz/Eichberg 2010) Eichberg stellt den Körperhabitus in den Mittelpunkt der Entscheidung darüber, wer rechten und wer linken Inhalten zugeneigt ist. Nach Thomas Assheuer und Hans Sarkowicz ist Eichbergs nationalrevolutionäre Befreiungs-Philosophie dem linkem Anti-Imperialismus sehr ähnlich, sie werde aber an-

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ders hergeleitet und begründet. Eichbergs »›Ethnopluralismus‹ entpuppt sich als Spielart des Anti-Universalismus, den sich die ›Neue Rechte‹ auf ihre Fahnen geschrieben hat. Eine Kultur, ein Volk, […], besitze eine partikulare ›Wahrheit‹; es ist ein eigensinniges Universum, das alle Geltungsansprüche westlicher Vernunft-Ideale wie Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenrechte als Anmaßung zurückweist.« (Eichberg 1978: 8; zit.n. Assheuer/Sarkowicz 1992: 181) Dieser Begründungszusammenhang markiert die Differenz zur Linken. Der Ethnopluralismus ist wie der Rassismus eine Ordnungsvorstellung, die dem Universalismus und dem Liberalismus entgegengesetzt wird. Für die Neue Rechte stellt Volker Weiß heraus, wie die Figur des westlichen Universalismus die Rolle des »absoluten Feindes« einnimmt (vgl. Weiß 2017: 218). Weil der Universalismus, so der neurechte Vordenker Alain de Benoist, die Erde in einen »homogenen Raum« verwandle, ist dieser der Hauptfeind – und nicht etwa eine andere kulturelle Identität (Benoist 2010: 30; zit.n. Weiß 2017: 219). »Alle Rassen sind überlegen. Alle haben ihren eigenen Genius. […]. Eine menschliche Rasse ist nicht nur eine zoologische Einheit. Sie ist im allgemeinen auch Träger einer Geschichte, einer Kultur, eines Schicksals.« (Benoist 1985: 55) Universalismus führe zum »Ethnozid, das heißt zum Verschwinden der Ethnien als Ethnien« (ebd.: 57). Den Begriff der ›Rasse‹ hat Benoist, wie bereits gezeigt wurde, nicht aufgegeben, aber er sucht ihn in ein tolerantes Antlitz zu kleiden. Für Benoist sind egalitäre Vorstellungen genauso schuld an Genoziden und Mordtaten wie rassistische Ideologien es waren (vgl. ebd.: 55). Solche Relativierung des Rassismus ist eine für das rechte Denken typische TäterOpfer-Umkehr. Für den alten Rassismus wird nicht offen Partei ergriffen; die historischen und unvollständigen Formen seiner Überwindung werden aber umso entschiedener attackiert: Dereinst versklavte Menschen, so Benoist, seien zwar der Sklaverei entgangen, aber nur »um ›in aller Güte‹ ihre Persönlichkeit zu verlieren« (Benoist 1985: 56). Daher sympathisiert Benoist mit der Black Power Bewegung (und nicht mit Martin Luther Kings Universalismus), weil diese sich der ›afrikanischen Kultur‹ verwurzelt fühle. Der Kulturrelativismus der Neuen Rechten zeigt sich im folgenden Zitat Benoists par excellence: »Ich bin für Nicht-Diskriminierung, für die Entkolonisation, für das Selbstbestimmungsrecht der Völker. Aber unter einer Bedingung: daß es keine Ausnahmen von der Regel gibt. Wenn man gegen die Kolonisation ist, dann muss man auch für wechselseitige Entkolonisation sein, d.h. gegen alle Formen von Kolonisation, gegen die strategische, ökonomische, kulturelle, künstlerische etc. Man hat das Recht für die Black Power zu sein, aber unter der Bedingung, daß man gleichzeitig für die White Power, die Yellow Power und die Red Power ist.« (Benoist 1985: 67) Im ethnopluralistischen Denken zählt nur die Differenz, nicht – wie in linken Anti-Rassismuskritiken beispielswiese – die Frage, wer in einer herrschenden und wer in einer beherrschten Stellung ist. ›Rassenvermischung‹, wie Benoist schreibt, bringe nicht nur biologische Nachteile, sondern auch kulturelle. Daher sei eine Welt vorzuziehen, in der verschiedene Menschen- und Kulturtypen koexistierten (ebd.: 64). Das häufig vorgetragene Argument, dass die Wirtschaft Einwanderung brauche, weist er ebenfalls ethnop-

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luralistisch zurück: Die Wirtschaft bedürfe vielleicht ja der Einwanderung, aber nur »für die Erhaltung der Gewinnspanne der Großunternehmen« (ebd.: 65). Auch im Denken der neuen deutschen Rechten findet sich der Gedanke, wonach die deutsche Identität von zwei Seiten bedroht sei: Einerseits durch die ›islamische Expansion‹, den ›Austausch‹ bzw. eine ›Umvolkung‹, andererseits durch die Amerikanisierung, den westlichen Universalismus (vgl. Weiß 2017: 212). Erstere Bedrohung betreffe die befürchtete ›Islamisierung‹: Man skandalisiert einen Bevölkerungszuwachs, der fast ausschließlich von muslimischen Einwander:innen herrühre und so zu einer ›Überfremdung‹, ›Umvolkung‹ führe. Auf diese Weise werde Deutschland sich in einigen Jahrzehnten in ein islamisches Land verwandeln. So heißt es bei der Identitären Bewegung: »Die ungebremste Masseneinwanderung und die daraus resultierende Islamisierung bezeichnet die Identitäre Bewegung als den ›Großen Austausch‹. Durch niedrige Geburtenraten der deutschen und europäischen Völker bei gleichzeitiger massiver muslimischer Zuwanderung werden wir in nur wenigen Jahrzehnten zu einer Minderheit im eigenen Land.« (Identitäre Bewegung o.J.) Solche Behauptungen werden entweder gar nicht mit Quellen belegt, oder aber die angeführten Quellen stehen in Widerspruch zu allen wissenschaftlichen Berechnungen. Eine verschwörungsideologische Gestalt bekommt die Rede von einer ›Islamisierung‹ in der Vorstellung einer Invasion von Muslimen nach Deutschland, die von der Bundesregierung zugelassen und gar willentlich herbeigeführt werde. Der Begriff des großen Austauschs geht auf den französischen Philosophen und Politiker Renaud Camus zurück. Sein Buch Le Grand Remplacement (2011) enthält die verschwörerische Idee einer Invasion (von Muslimen), die von Politiker:innen zugelassen werde. Das 2016 ins Deutsche übersetzte Buch wurde auch in Deutschland insbesondere von der Identitären Bewegung begeistert aufgenommen; die Vorstellung eines ›großen Austauschs‹ als einem gesteuerten Vorgang fand nicht nur innerhalb verschiedener extrem rechter Bewegungen Zuspruch: Eine wichtige Dimension gegenwärtiger migrationsfeindlicher Allianzen ist der Schulterschluss von extrem Rechten, von Reichsbürgern, Verschwörungstheoretiker:innen, Konservativen und Neuer Rechten. Jene vermeintliche ›Islamisierung‹ ist jedoch nur eine Seite der Bedrohung, der sich die Neuen Rechten ausgesetzt sehen. Und es nicht die wichtigste. Insbesondere für die intellektuelle Neue Rechte ist eine fremde Gegen-Identität, die ebenfalls für sich und bei sich bleiben will, nicht so bedrohlich, wie eine universalistische Nicht-Identität. Amerikanismus und Liberalismus zersetzen mit ihrer universalistischen Gleichheitsideologie ›Kultur‹ und Gesellschaft von innen. Die Neue Rechte sieht im Westen eine Ideologie herrschen, die sie für weit gefährlicher hält als den Islam: einen Liberalismus, der Gift und Gehirnwäsche sei. Muslime, so heißt es, seien nicht schuld an der verräterischen, korrupten Klasse, die gegen die Interessen des Staatsvolkes handele. »Die ›Islamisierung‹ ist nur die Sekundärfunktion eines Systems, das seine eigenen Grundlagen aushöhlt und zerstört«, so der ›Identitäre‹ Martin Lichtmesz von der Zeitschrift Sezession (Lichtmesz 2012). Für die intellektuelle Neue Rechte kämpfen Bewegungen wie Pegida und Co. an der falschen Front. Deren Islamfeindschaft übersehe den wirklichen Feind

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im eigenen Land: den Universalismus.12 »Insofern bindet die Islamkritik […] fatalerweise Kräfte, die an anderer Stelle eingesetzt werden müßten: zur Bekämpfung des weißen Masochismus und eines Establishments, das sich seiner bedient; vor allem aber zur Stärkung der nationalen und europäischen Identität.« (Weißmann 2012: 27, zit.n. Salzborn 2017: 91) Doch beide Positionen bleiben kompatibel, denn beide eint die Überzeugung, dass ›der‹ Islam bzw. ›die‹ Muslime nicht zu Deutschland ›gehören‹.

3.2.2 Neo-Rassismus Seit Mitte der 1980er Jahre wird in der sozialwissenschaftlichen Forschung eine weitere Verschiebung thematisiert – die hin zum sogenannten Neo-Rassismus: Der Ethnopluralismus hatte die streng hierarchische Orientierung des alten Rassismus aufgegeben: Er ersetzte alte Unterjochungsabsichten durch die Vision abgegrenzter, partikularer, sich aber einander in Frieden lassender Stämme. Der Neo-Rassismus wiederum ersetzt den Bezug auf biologische Natur durch den auf Kultur. Beide Metamorphosen können in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen gemeinsam auftreten. Es gibt biologisch-rassistischen Ethnopluralismus ebenso wie neorassistischen Ethnopluralismus. Erwähnung findet der Neo-Rassismus bereits in den 1950er Jahren. Frantz Fanon hat schon 1956 auf eine wichtige Verschiebung der ideologischen Bezugspunkte des Rassismus hingewiesen: »Der Rassismus, der sich rational, individuell, genotypisch und phänotypisch determiniert gibt, verwandelt sich in einen kulturellen Rassismus.« (Fanon 1956: 39f.). Interessant ist auch eine Passage in Adornos Schuld und Abwehr. Eine qualitative Analyse zum Gruppenexperiment (1955), in der ihm ebenfalls bereits die Ersetzung der ›weißen Rasse‹ durch den Begriff der »abendländischen Kultur« in den geführten Interviews auffällt: »Die Stelle [eine Passage aus einem Interview, U. M.] erlaubt Einblick in die subtilen Mechanismen der Anpassung der Rassentheorie an die veränderte politische Lage. An-

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Anders als diese antimuslimischen Äußerungen vermuten lassen, gibt es auch ideologische Überschneidungen zwischen der extrem Rechten und dem Islamismus vor allem in der Einstellung zu Frauen und Minderheiten, in Fragen des Kulturalismus und Antiamerikanismus sowie in der antiwestlichen und gegenaufklärerischen Haltung (vgl. Bozic 2015: 57). Auch Islamist:innen bedienen die Idee einer universalistischen Überwölbung, wenn sie beispielsweise von einer »Westoxication«, »Okzidentose«, von Kulturimperialismus oder einer »samtenen Revolution« sprechen. Islamist:innen sind antisemitisch (Juden und Jüdinnen gelten als Träger der westlichen Moderne), und sie betrachten sich als Widerstandsbewegung gegen den westlichen Universalismus. Der Antisemitismus fügt sich auch ideologisch in das binäre Schema des Ethnopluralismus der Neuen Rechten ein. Denn der Antisemitismus konstruiert ›die Juden‹ als die ganz Anderen, weil sie sich in genau diese identitätslogische Gegenüberstellung von ›Kulturen‹ und ›Völkern‹, wie der Ethnopluralismus sie propagiert, nicht einpassen lassen. Sie gelten vielmehr als die ›Zersetzer der Völker‹. Dieses Phantasma vom ›Juden‹ ist eine der wichtigsten Feindbildkonstruktion, um die ›friedliche‹ Idee des Ethnopluralismus aufrecht zu erhalten. Claudia Globisch bringt diesen Zusammenhang auf den Punkt, wenn sie schreibt, dass der Antisemitismus zwei Gruppen konstruiert: einerseits diejenigen, die sich identitätslogisch an Territorium und Kulturräume binden lassen – diese Vorstellung bedient der Ethnopluralismus – und andererseits: diejenigen, die Nicht-Völker ohne Kultur seien (›die Juden‹) (vgl. Globisch 2011: 218).

3 Metamorphosen des Rassismus – Natur und Kultur

stelle der ›weißen Rasse‹ setzte der Sprecher […] die ›abendländische Kultur‹. Nicht selten verwandelt sich der faschistische Nationalismus in einen gesamteuropäischen Chauvinismus, so wie etwa der Titel der Zeitschrift von Hans Grimm ›Nation Europa‹ verrät. Das vornehme Wort Kultur tritt anstelle des verpönten Ausdrucks Rasse, bleibt aber ein bloßes Deckbild für den brutalen Herrschaftsanspruch.« (Adorno 1955a: 276f.) Nicht nur das Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham hat auf diese Verschiebung theoretisch reagiert und sie systematisch zum Ausgangspunkt ihrer Rassismusanalysen gemacht. Auch der Neo-Marxist Etienne Balibar mit seinem Aufsatz Gibt es einen ›Neo-Rassismus‹? (1990) und Pierre-André Taguieff mit Die ideologischen Metamorphosen des Rassismus und die Krise des Antirassismus (1991) betonten mit großer Resonanz in der Rassismusforschung das qualitativ Neue an dieser Form des Rassismus. Doch warum bleibt die Ersetzung des Begriffs der ›Rasse‹ durch den der ›Kultur‹ rassistisch? Ist bereits rassistisch, wer den prägenden, großen Einfluss von Kultur auf menschliche Charaktere und Verhaltensweisen behauptet? Um diese Fragen zu beantworten, muss der argumentative Status des Kulturbegriffs im Neo-Rassismus betrachtet werden. Der Neo-Rassismus tauscht den Begriff der ›Rasse‹ gegen den der Kultur – und postuliert, ähnlich dem Ethnopluralismus, nicht mehr Höher- oder Minderwertigkeit, nicht mehr natürliche Hierarchie, sondern Gleichwertigkeit. Der Schutz der kulturellen Besonderheiten steht nun argumentativ im Vordergrund – und die unabänderliche Zugehörigkeit, Bestimmtheit der Einzelnen durch die je ihrige Kultur. Neo-Rassist:innen betonen die Unveränderlichkeit kultureller Prägungen. Sie verneinen die Möglichkeit, dass Menschen als Individuen fortlaufend neue, sie selbst und ihre Wahrnehmung verändernde Erfahrungen machen – dass sie in ein ihrerseits aktives, veränderndes und facettenreiches Verhältnis zu ihrer ›Kultur‹ treten könnten. Sie dementieren vorab die reale Vielfalt der Stellung von Individuen zur eigenen ›Kultur‹, die von soziologisch informierten Blicken ganz unterschiedlicher Provenienz entfaltet werden können – zwischen ›Prägung‹, ›Mitspielen‹, ›Dissidenz‹, rollendistanzierter Ironie, Konvention, Tradition, Deliberation und Verinnerlichung, Konformität und Emanzipation – und vielem anderen. Der neorassistische Begriff von ›Kultur‹ ist dagegen in einem Maße statisch, eindimensional und findet darum keinerlei Deckung in den Kultur- und Humanwissenschaften mehr. In seinem Determinismus fungiert dieser Kulturbegriff bruchlos als Ersatz biologistischer ›Rasse‹-Naturalisierungen. Gleichsam naturgesetzlich fasst er Menschen als von ›Kultur‹ bestimmt. Aber warum dann nicht statt von Rassismus von Kulturalismus sprechen? – so fragt George Fredrickson: »Eine […] Gruppenzentriertheit mag zu Vorurteilen und zur Diskriminierung […] führen […]; doch um hier mit Recht von Rassismus sprechen zu können, müßten zwei zusätzliche Elemente gegeben sein. Eines davon ist die Überzeugung, daß die Unterschiede zwischen den […] Gruppen dauerhaft und unauslöschlich sind. Solange Bekehrung oder Assimilation eine reale Möglichkeit darstellen, haben wir es mit religiöser oder kultureller Intoleranz, aber nicht mit Rassismus zu tun. Das zweite Element ist die politische und soziale Seite der Ideologie – ihre Verknüpfung mit der Ausübung von Macht im Namen der Rasse und mit den daraus resultierenden Mustern von Herrschaft oder Exklusion.« (Fredrickson 2004: 12)

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Wo noch an die Veränderbarkeit von Einzelnen und Gruppen geglaubt werde, beispielsweise durch Konversion oder Assimilation, will Fredrickson von »Kulturalismus« sprechen (vgl. ebd.: 17). Auch Taguieff schlägt vor, den Begriff des »Kulturalismus« oder »Ethnismus« zu verwenden, auch wenn er ihn als »differentialistischen« Rassismus beschreibt (vgl. Taguieff 1991: 245). Im Folgenden werde ich gegen diese Einwände am Begriff des Rassismus, auch in Hinblick auf dessen kulturalistische Varianten festhalten. Denn zwei entscheidende Motive seiner politischen Dimension gleichen dem alten Rassismus bis aufs Haar – einerseits die Feindschaft gegen Vermischung und die Auflösung von Grenzen, andererseits der statische, in keine psychologische oder historische Dynamik einbezogene Vorrang kollektiver Determinanten gegenüber dem Individuum; eine begriffliche Homogenisierung. Der Neo-Rassismus räumt ein, dass es keine ›Rassen‹ gibt, so Etienne Balibar (1990), die zentralen Vorstellungen neo-rassistischen Denkens resümierend. Er konzediert auch, dass das Verhalten der Menschen sich nicht aus Blut oder Genen ableiten ließe. Jedoch behauptet der Neo-Rassismus, dass Kulturvermischungen und die damit verbundene Beseitigung ethnischer und kultureller Distanz zum geistigen Tod der Menschheit führe und eine Verwischung der Differenz zwischen den ›Kulturen‹ gleichsam ›natürliche‹ Abwehrreaktionen erzeuge. Denn der Neo-Rassismus behauptet, dass Xenophobie (Fremdenfeindlichkeit) angeboren sei und Aggressivität gegen Minderheitenangehörige unabänderlich freigesetzt werde, wo das kulturelle Homogenitätsempfinden gestört sei. Das bemerkenswerteste Argument des Neo-Rassismus ist jedoch die Behauptung, dass Rassismus verhindert werden könne, wenn keine ›Vermischung‹ stattfinde. So wird der Neo-Rassismus zu einer Strategie gegen Rassismus stilisiert (vgl. Balibar 1990: 30f.). Diese Idee, dass Separation Konflikt verhindere, tauchte bereits im kolonialen Diskurs auf. Ich komme auf Balibars Beschreibung des Neo-Rassismus an anderer Stelle zurück. Weitere Aspekte des Neo-Rassismus stellt Pierre-André Taguieff (1991) heraus: Statt einer Hierarchisierung auf Grundlage der Typologien der ›Rassen‹ im Rassismus werden im Neo-Rassismus unüberwindbare Differenzen zwischen einzelnen ›Kulturen‹ und ›Ethnien‹ behauptet. Die Folge ist eine »Verherrlichung der Differenz« (Taguieff 1991: 236) bzw. die »Verabsolutierung der Differenz« (ebd.: 242). Der Neo-Rassismus gibt vor, Menschen(-gruppen) nicht mehr zu hierarchisieren, sondern für den Bestandsschutz aller ›Kulturen‹ zu streiten, die untereinander als gleichwertig angesehen werden. Mit dem Dogma »›Recht auf Differenz‹« (ebd.: 236) formuliert der Neo-Rassismus ein kulturrelativistisches Prinzip. Denn sowohl die ›eigenen‹ wie die ›fremden‹ Kulturen werden aus dem Kreis des Kritik- und Diskussionswürdigen entfernt. Universale Prinzipien der Rechtfertigung, gar universale Normen sind vorab aus dem Spiel. Der Forderung eines Rechts auf Differenz liegt die Annahme zugrunde, dass das gemeinsame Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Erfahrungen unmöglich oder zumindest gefährlich sei, weil sich deren kulturelle Besonderheiten in einer universalen Nicht-Kultur aufzulösen drohen. Das Prinzip, so Taguieff, auf das sich alle Neo-Rassist:innen verständigen können, heißt Separation (vgl. ebd.: 239). Der kulturalistisch argumentierende Rassismus vollzieht eine homogenisierende Ethnisierung und streicht damit das Individuum aus diesem Kollektivierungsprozess. Die Übernahme unterschiedlicher kultureller Erfahrungen in die Biographie und Identität eines

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konkreten Menschen ist nicht vorgesehen oder gerät – wo sie doch nicht zu verleugnen ist – zur Bedrohung. Im AfD Grundsatzprogramm (2016) finden sich Elemente des Neo-Rassismus. »Die Ideologie des Multikulturalismus, die importierte kulturelle Strömungen auf geschichtsblinde Weise der einheimischen Kultur gleichstellt und deren Werte damit zutiefst relativiert, betrachtet die AfD als ernste Bedrohung für den sozialen Frieden und für den Fortbestand der Nation als kulturelle Einheit. Ihr gegenüber müssen der Staat und die Zivilgesellschaft die deutsche kulturelle Identität als Leitkultur selbstbewusst verteidigen.« (AfD Grundsatzprogramm 2016: 32) Auch das Wahlprogramm 2021 thematisiert erneut die Stellung von Kultur und Identität. Dort heißt es: »Kulturrelativismus und Multikulturalismus führen zu einem Nebenund Gegeneinander von Parallelgesellschaften, denen es an gemeinsamen Werten für das Zusammenleben fehlt. In einer derart fragmentierten Gesellschaft entstehen Konflikte, die kaum noch beherrschbar sind. Die AfD wird nicht zulassen, dass Deutschland aus falsch verstandener Toleranz vor dem Islam seine tradierte Kultur verliert.« (AfD Wahlprogramm 2021: 158) Ein weiteres aktuelles Beispiel für die Propaganda gegen die Aufweichung angeblich kultureller Entitäten liefert auch die sogenannte Identitäre Bewegung in einer Stellungnahme, die sie als Reaktion auf die offiziell gewordene Beobachtung durch den Verfassungsschutz verfasst hat. Unter dem Titel Kalkulierte Missverständnisse schreibt die Identitäre Bewegung über die vermeintlichen Verharmloser in Wissenschaft und Politik (2016): »Auch die demografische Entwicklung innerhalb Deutschlands und Europas und die von Experten bereits seit langem befürchtete kulturell-religiöse Überformung westlicher Zivilisationen durch den sich ankündigenden Massenexodus aus Afrika und Nahost wird in selbstgefälliger Ignoranz als nicht existent hingestellt und die Warnung vor diesen Entwicklungen als illegitim bewertet.« (Identitäre Bewegung 2016a) So verschieden vom alten Rassismus, wie seine Protagonisten sich bemühen weiszumachen, ist der Neo-Rassismus also nicht: Die Rede von der schützenswerten Differenz der ›Kulturen‹ führt die Idee der ›Rassentrennung‹ des alten biologistisch argumentierenden Rassismus verwandelt fort. Und die Angst vor ›Rassenschande‹ geht über an das Postulat des Rechts auf Differenz. Die einstige Bindung des Menschen an seine vermeintlichen ›Rasseneigenschaften‹ kehrt in der Vorstellung von der Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenz wieder (vgl. Taguieff 1991; Balibar 1990).

3.2.3 Der Begriff der »kulturellen Aneignung« – linker Ethnopluralismus? Identität und Kultur werden aber nicht nur im rechten Ethnpluralismus wichtige Referenzpunkte des Denkens, auch in Theorien von ›links‹, die sich gegen die De-Thematisierung von Kolonialismus wenden ist Kultur ein wichtiges Konzept. Einerseits wird vor allem durch postkoloniale Theorien ein traditioneller Begriff von Kultur zurückgewiesen, der von abgrenzbaren, einheitlichen und authentischen Kulturen ausgeht (1). Anderer-

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seits beziehen sich postkoloniale Theorien auch auf diejenigen Kritiker:innen, die eine so genannte kulturelle Aneignung problematisieren (2). (ad 1) Denker wie Frantz Fanon oder Homi Bhabha wenden sich gegen ganzheitliche Gesellschaftsvorstellungen und zeigen, dass die Übergänge zwischen verschiedenen Identitäten komplex und widersprüchlich sind. Sie betonen mit Blick auf die koloniale Situation die wechselseitige kulturelle und identitäre Konstituierung von kolonialisierter und kolonialisierender Gesellschaft, wobei dieser wechselseitige Prozess nicht unter gleichwertigen Bedingungen stattgefunden hat, sondern maßgeblich von der Macht der kolonisierenden Gesellschaft geprägt war. Die Betonung der Wechselseitigkeit zielt aber darauf, zu zeigen, dass die Verhältnisse zwischen »politischen Sphären meist viel komplexer und widersprüchlicher sind« (Bhabha 1996: 346) als starre Grenzziehungen, wie sie sich beispielsweise in solchen zwischen ›Orient‹ und ›Okzident‹ abbilden. Der Rassismus – als eine Möglichkeit, kulturelle Differenz zu erzeugen – verschleiert durch Spaltung und Simplifizierung, »wie tief unsere Historien und Kulturen stets miteinander verflochten waren und sich gegenseitig durchdrungen haben, wie absolut nötig der Andere für unser eigenes Identitätsbewusstsein ist« (Hall 1994: 92f.). Im Kontext von Migration ist zur Beschreibung dieser mehrschichtigen Identität der Begriff der hybriden Identität entstanden. Identität gilt hier als prinzipiell offen, unabgeschlossen und diskontinuierlich. Die Begriffe Identität und Kultur sind wichtig für ein Verständnis (post-)kolonialer Verhältnisse und des Rassismus in postkolonialen Theorien. In positiver Hinsicht beschreiben Identität und Kultur, ähnlich wie bei Stuart Hall, Konstruktionen, die handlungsleitend und handlungsermöglichend sind. Für den Migrationskontext leitet sich hieraus eine Sicht ab, in der Migrant:innen die Möglichkeit haben, einen krisenhaften Prozess wie den der Migration mit einer von ihnen herauszubildenden hybriden Identität zu verarbeiten. Und dieser Identitätsbegriff, Identität als Ermöglichung, bietet auch eine theoretische Chance für ein gewandeltes Identitätsverständnis der Mehrheitsgesellschaft. Die Betonung hybrider Identitäten wendet sich gegen Vorstellungen von reiner, unveränderlicher und kulturhomogener Identität. Homi Bhabha sieht deshalb die Wirkung der kolonialen Macht eher in der Produktion von Hybridität als in lautstarker Führung kolonialistischer Autorität oder in stiller Unterdrückung einheimischer Traditionen. Dieser wichtige Perspektivenwechsel, so Bhabha in The Location of Culture (1994), ist eine Reaktion auf die Ambivalenz traditioneller Autoritätsdiskurse und ermöglicht eine Form der Subversion »founded on the undecidability that turns the dicursive conditions of dominance into the grounds of intervention« (Bhabha 1994: 160). Nicht zu Unrecht kritisiert Wolter dies als euphemistische Umdeutung kolonialer Unterdrückung und Gewalt zugunsten von Subversion und Widerstand (Wolter 2000: 101f.). Tatsächlich zeichnet die Wahrnehmung der Mehrheitsgesellschaft ein ganz anderes Bild von Eingewanderten. Diese werden selten als kulturell hybrid, häufig aber als kulturell geschlossen wahrgenommen. Naika Foroutan weist darauf hin, dass »scheinbar kulturelle ›Einheiten‹, die keine lokale Tangente haben« durch die permanente Thematisierung dieser angeblichen Einheit in Einwanderungsländern häufig erst zu solchen Einheiten werden. Als Beispiel führt sie »migrantisch-muslimische Identitäten« an (Foroutan 2013: 85). Aber unabhängig davon, ob die optimistischen Öffnungen des Identitätsbegriffs triftig sind: Kultur und Identität gelten in diesen Theorien als diskontinuierlich und unabgeschlossen.

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(ad 2) Dieses nicht-starre postkoloniale Kulturverständnis wird allerdings irritiert durch ein ganz anderes Identitäts- und Kulturverständnis – jenes, auf das sich die Kritik der Cultural Appropriation stützt, der so genannten kulturellen Aneignung. Hier wird die Hoffnung auf Hybridisierung von Identität abschlägig beschieden – stattdessen wird die Universalismuskritik postkolonialer Theorien radikalisiert: Unter Kritik stehen jetzt all jene westlichen Praxen, die sich mit als typisch angesehenen Attributen ›fremder Kulturen‹ schmücken. So gelten Piercings, Dreadlocks, die Kostümierung als amerikanischer Ureinwohner, das Tragen eines Kimonos oder eines Saris, Bluesmusik von ›Weißen‹ als kulturelle Aneignung – cultural appropriation – in der sich der bekannte imperialistische Gestus des Westens ausdrücke. Anders als das hybride Kulturverständnis Bhabhas beispielsweise wird ›Kultur‹ in dieser Kritik selbst wieder zum Statischen. Die als kulturelle Aneignung bezeichnete Adaption von kulturellen Produkten sei nur durch die Macht der westlichen Gesellschaften möglich. Und so stabilisiere sie den als unterlegen angesehen Status der jeweils ›beraubten‹ Kultur. Ein solches Kulturverständnis kommt den kulturalistischen Homogenisierungen im rechten Ethnopluralismus – aus anderen Motiven – unfreiwillig sehr nahe. Zum Gegenstand der Kritik wird die herrschaftsvolle Nachahmung des Anderen (kulturelle Aneignung), also nicht nur die Durchsetzung dessen, was als ›westliche Kultur‹ mit der kapitalistischen Expansion bezeichnet wird, sondern auch die Übernahme ›fremder‹ Kulturinhalte durch Menschen, die dieser dann ›geraubten‹ Kultur nicht angehören. Unter Kritik steht nicht nur die Vermarktung von kulturellen Artefakten zu Zwecken des Profits und zu Gunsten des Diebs, sondern auch die Übernahme von Frisuren, Kleidung, Musik, Nahrung usw. ohne Vermarktungsabsichten, und zwar, weil sich diese kulturelle Adaption meistens stereotypisierend vollziehe. Als postkolonial gilt diesen Theorien die anhaltende kulturelle Hegemonie des Westens, die sich in der Dominanz eines bis heute gültigen aufklärerischen Universalismus und seiner Ideen, Werte, seiner kulturellen Erzeugnisse und technischen Entwicklungen ausdrücke. Es lässt sich eine außen- und eine innenpolitische Dimension dieses Kulturverständnisses erkennen: Im Inneren einer Gesellschaft werden Kultur und Identität als hybrid und offen, sich im Wandel befindend gesehen. Hybridität wird gegen einen rassistischen Blick der Vereinheitlichung und statischen kulturellen Zuordnung gesetzt. Außenpolitisch jedoch gilt die Vermischung, die Hybridisierung, die Offenheit der Einzelnen für vormals ›fremde‹ kulturelle Praxen als rassistische Anmaßung. Gerahmt von der Annahme eines durch und durch kulturimperialistisch agierenden Westens werden dann andere ›Kulturen‹ als schützenswert behauptet. Als kulturimperialistisch und tendenziell rassistisch gilt den Critical Whiteness Studies (als derzeit prominenteste Form postkolonialer Rassismuskritik) darum die Übernahme fremder Kulturinhalte durch ›weiße‹, westliche Personen. Vom rechten Ethnopluralismus sind diese Ansätze unterschieden durch ihre entschiedene Herrschaftskritik; ihm ähnlich bleiben sie jedoch in der Unterstellung eines schützenswerten, durch Vermischung bedrohten überindividuellen Eigenwertes von ›Kultur‹. Die amerikanische Anwältin und Rechtswissenschaftlerin Susan Scafidi beispielsweise, auf die sich viele Verfechter:innen des cultural appropriation-Konzeptes beziehen, unterscheidet verschiedene Formen geistigen Eigentums.

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»The nature of the intangible good varies among intellectual property, cultural products, and cultural property. In the case of cultural products and cultural property, the intangible good is the Volksgeist [sic!], or the self-imagination of a particular community. Intellectual property by contrast, protects an innovative idea in the form of a new invention or artistic creation.« (Scafidi 2005: 50)13 Cultural appropriation betreffe die Übernahme von geistigem Eigentum, traditionellem Wissen, kulturellen Ausdrucksformen oder Artefakten aus der ›Kultur‹ ohne Erlaubnis. Dies könne die unbefugte Nutzung von Tanz, Musik, Folklore, Kleidung, Sprache, Küche, traditioneller Medizin oder von religiösen Symbolen einer anderen ›Kultur‹ sein. Als besonders schädlich gilt es, wenn es sich bei der ›bestohlenen Kultur‹ um eine Minderheit handele, die unterdrückt oder ausgebeutet wurde – oder wenn das Objekt der Aneignung besonders empfindlich sei, weil es z.B. als heiliger Gegenstand verehrt werde (vgl. Scafidi 2005: 49, 94, 101, 137). Die Übernahme von Kulturinhalten, wie zum Beispiel das Sich-Verkleiden als ›Indianer‹, ist nicht nur klischierend und stereotypisierend – es ist in dieser Auslegung rassistisch, gerade wo es sich um ›Authentizität‹ bemüht. Es gilt als Akt des Privilegs, weil eine Person, die den ›exotischen Anderen‹ nur spielt, die Diskriminierung nicht erlebt, welche die authentischen Repräsentant:innen dieser Kulturinhalte historisch oder gegenwärtig erfahren (haben). Der Umstand, dass sich ›Kulturen‹ gegenseitig durchdringen, wird in der Critical Whiteness-Perspektive als problematisch angesehen, und zwar deshalb, weil diese Durchdringung immer mit Macht verbunden sei. Dies gilt insbesondere, wenn etwaige subversive Praktiken innerhalb einer ›weiß‹-dominierten Populärkultur angeeignet werden. Diese machtvolle Durchdringung verfestige so den inferioren Status der unterlegenen Kultur. Dieses Verständnis von kultureller Durchdringung führt allerdings zu einer Re-Essentialisierung von Kultur, so Jens Kastner (2016) – sie geschieht in herrschaftskritischer Intention, ist in ihrer Konkretion aber von der Essentialisierung seitens der identitären Rechten bisweilen nur noch in den sprachlichen Codes, nicht mehr in den Argumenten zu unterscheiden. In diesem Sinne argumentiert auch Marcus Latton, wenn er das Konzept der cultural appropriation als »Ethnopluralismus von links« kritisiert: »Der Diskurs über diese und andere Erscheinungen wird vornehmlich von Bloggern und Akademikern getragen, die sich selbst als Teil einer antirassistischen Öffentlichkeit verstehen. Ihr Kampf geriert sich emanzipativ. Ihre Sprache ist rechts. Hindurch schimmert der Geist eines Authentizitätsfetischismus und reaktionärer Ethnopluralismustheorien, in denen Kultur ein verletzliches System ethnisch klar definierbarer Menschengruppen darstellt.« (Latton 2016)

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Wie anschlussfähig dieses Denken bis in das extrem rechte Milieu ist, zeigt Brodkorb in einem Artikel zur Kritik der cultural appropriation (2021). Er zitiert dort Frank Franz von der NPD, der selbst auf Ähnlichkeiten zwischen seinem und Scafidis Denken aufmerksam macht. Beide gehen, nach Franz, von einem »›Volksgeist‹« bzw. einer »›Volksseele‹« aus, über die sich das »›Selbstverständnis und die kulturelle Gestalt eines Volkes erklären lassen. Sie [die ›Volksseele‹, U. M.] ist sozusagen der Urquell der Identität des Volkes, sein Sinnhorizont« (Brodkorb 2021).

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Auch Brodkorb erkennt im Konzept der kulturellen Aneignung eine Form des Ethnopluralismus. »Auf einer strukturellen Ebene […] sind die Parallelen bis hinein in die Begrifflichkeiten« (Brodkorb 2021) überdeutlich. Beide suggerieren, dass »in den Volkskörpern oder Kulturen eine quasimetaphysische Substanz schlummern soll, die das Ganze zusammenhält: Volksgeist hier, Blut und ›Rasse‹ dort. Dies ist der entscheidende Akt, der zugleich den Fremden als Nichtzugehörigen fabriziert. […] Den Menschen nicht als Individuum, sondern als einen bloßen Tropfen Wassers in einem Meer zu begreifen, der seine Richtung ausschließlich vom Ganzen erhält, ist das formale Fundament jeden völkischen Denkens, komme es nun von links oder rechts, sei es kulturalistisch oder biologistisch.« (Brodkorb 2021) Das einzelne Individuum komme bei Kritiker:innen von kultureller Aneignung nur als Teil einer schützenswerten ›Kultur‹ vor, dem die Fähigkeit etwa eines selbstironischen oder distanzierten Umgangs mit kulturellen Gegenständen nicht zugetraut werde (vgl. Latton 2016). Universalistisch ausgerichtete Vision einer vom Rassismus befreiten Welt und partikularistisch ausgerichtete Praxis des Schutzes von ›Kultur‹ geraten in dieser Ausrichtung der Rassismuskritik in unversöhnliche Opposition. Die Schließung von ›Kultur‹ gegen die Aufnahme fremder Anteile, wie sie in der Skandalisierung kultureller Aneignung zum Ausdruck kommt, ist den Reinheitsphantasien des Rassismus nicht unähnlich. Schon Adorno erkannte in der Vorstellung, dass es in der Musik zu einer ›Rassenvermischung‹ kommen könne, paranoide Züge: »The absurd idea that music could contaminate a culture was for Adorno something that could be accounted for best by analyzing how the siren song of commodity fetishism (and its call to abandon the historical in favor of the now) incited the desire for immediacies that the culture industry could market and serve.« (Oberle 2018: 59) Dass sich aus dem hybriden Verständnis von Kultur (in Bezug auf Migration und Einwanderung), das von vielen postkolonialen Denker:innen immer noch vertreten wird, diese statische Auffassung von Kultur bilden konnte, hat eine Wurzel in der Wende zur Identitätspolitik. Sie war und ist offen für einen »strategischen Essentialismus« (vgl. Spivak 1993: 15; Dietze 2013: 481) in Gestalt politischer Bündnisse. Das heißt, obwohl ein essentialistischer Kulturbegriff analytisch eigentlich abgelehnt wird, öffnet man sich politischer Praxis, die kulturelle Identität temporär essentialisiert. Ein zeitlich befristeter identitärer Zusammenschluss beispielsweise politischer PoC-Aktivist:innen unter einem vereinigenden Label wie ›schwarz‹, kann dann agieren, als wäre ›schwarz‹ eben doch eine homogene ›Kultur‹ oder gar eine ›Rasse‹. Die rassistischen ›Farbgebungen‹ werden erkannt und skandalisiert – man nimmt diesen Kampf aber auf, indem man diese ›Farbgebungen‹ an Menschen perpetuiert. Während es in Robert Miles Rassismuskritik der 1990er Jahre noch als anti-rassistisch galt, Hautfarbe gezielt zu dethematisieren, wird von den Critical Whiteness Studies gerade das Ausbleiben der Thematisierung der ›weißen‹ Hautfarbe als rassistisch

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bezeichnet.14 Das Absehen von Hautfarben wird gefasst im Begriff der »Colorblindness«. Der Kern des klassischen Rassismus war die ideologische Differenzierung nach Hautfarben – seitens derer, die ein Interesse an einer hierarchischen Typologie der Menschheitsgattung nach angeblichen ›Rassen‹ hatten. Entsprechend reagierte Rassismuskritik mit dem Argument der Bedeutungslosigkeit von Hautfarbe. Doch wo die Herrschaftsfunktion, die in der Zuweisung steckte, nicht mitgedacht, nicht mitverändert werden konnte, musste die Forderung nach der Bedeutungslosigkeit von Hautfarbe notwendig einen utopischen Charakter annehmen. Das wiederum registriert die neue Rassismuskritik: Die noch von der ›klassischen‹ Kritik geforderte Bedeutungslosigkeit von Hautfarbe ist der neuen Rassismuskritik nach nicht nur intellektuelle Nachlässigkeit oder utopische Naivität, sondern gleich selbst Rassismus. Denn, so wird argumentiert, ›Colorblindness‹ ist die Tarnung, die Lüge, die Ideologie gesellschaftlicher Verhältnisse, die Colorblindness in ihren Praxen und institutionellen Rahmungen verweigert, und zwar gerade vermittels der Weigerung, ›Color‹ zu thematisieren. Antirassistisch-universalistische Colorblindness helfe also, Verhältnisse zu stabilisieren, indem sie deren immanent rassistischen Charakter ignoriere (zum Stand der Diskussion über Colorblindness: vgl. Neville/ Gallardo/Sue 2016). In dieser Polarisierung zwischen – vermeintlich – rassistischer Colorblindness des Universalismus hier und – womöglich – neorassistisch ethnopluralistischer Schlagseite des cultural-appropriation-Ansatzes dort offenbart sich ein wiederkehrendes Dilemma einer jeden antirassistischen Intention: Sie muss Verhältnisse ins Bewusstsein rufen, zum Thema machen, skandalisieren, in denen ›race‹ soziale Realität strukturiert, ohne aber ihrerseits ›race‹ zum Realen, Unhintergehbaren zu machen. Eine Politik, die Hautfarben zu ignorieren sucht, ohne ein Bewusstsein davon zu entwickeln, dass Hautfarbe nach wie vor darüber mitentscheidet, welche sozialen Positionen Menschen erreichen können, geht fehl. Eine Politik aber, die Hautfarbe in Reaktion darauf zum factum brutum macht, die Hautfarbe darüber entscheiden lässt, welches Musikstück oder welche Kleidung für eine Person statthaft sind, die ist bereits übergelaufen zur stereotypisierenden Einteilung der Welt.

3.3 Das Dilemma zwischen Universalismus und Partikularismus Das Aufklärungsdenken hat eine spezifische Form des politischen Universalismus hervorgebracht: Die Ideen der westlichen Aufklärung – das sind die Geltung der Menschenrechte, Individualismus, Emanzipation, Freiheit, Gleichheit – werden als universell gültig erachtet, d.h. ihr Geltungsanspruch reicht über die Gesellschaften hinaus, in denen sie entstanden sind. Diese bislang aus kritisch-theoretischer Sicht unverwirklichten universellen Werte zielen auf die Realisierung eines Individuums, das frei von Zwangskollektiven, Ausbeutung und direkter Herrschaft ist.15 Allerdings haben diese fortschritt-

14 15

Vgl. zur Kritik am Widerstandsdiskurs, der sich an Hautfarben orientiert Miles 2000: 19. Dass die Kategorie der Individualität und des Individuums im ›Okzident‹ historischer und gesellschaftsspezifischer Natur ist, diskutiert Adorno in seiner Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und der Freiheit (1964/65: 125ff.).

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bezeichnet.14 Das Absehen von Hautfarben wird gefasst im Begriff der »Colorblindness«. Der Kern des klassischen Rassismus war die ideologische Differenzierung nach Hautfarben – seitens derer, die ein Interesse an einer hierarchischen Typologie der Menschheitsgattung nach angeblichen ›Rassen‹ hatten. Entsprechend reagierte Rassismuskritik mit dem Argument der Bedeutungslosigkeit von Hautfarbe. Doch wo die Herrschaftsfunktion, die in der Zuweisung steckte, nicht mitgedacht, nicht mitverändert werden konnte, musste die Forderung nach der Bedeutungslosigkeit von Hautfarbe notwendig einen utopischen Charakter annehmen. Das wiederum registriert die neue Rassismuskritik: Die noch von der ›klassischen‹ Kritik geforderte Bedeutungslosigkeit von Hautfarbe ist der neuen Rassismuskritik nach nicht nur intellektuelle Nachlässigkeit oder utopische Naivität, sondern gleich selbst Rassismus. Denn, so wird argumentiert, ›Colorblindness‹ ist die Tarnung, die Lüge, die Ideologie gesellschaftlicher Verhältnisse, die Colorblindness in ihren Praxen und institutionellen Rahmungen verweigert, und zwar gerade vermittels der Weigerung, ›Color‹ zu thematisieren. Antirassistisch-universalistische Colorblindness helfe also, Verhältnisse zu stabilisieren, indem sie deren immanent rassistischen Charakter ignoriere (zum Stand der Diskussion über Colorblindness: vgl. Neville/ Gallardo/Sue 2016). In dieser Polarisierung zwischen – vermeintlich – rassistischer Colorblindness des Universalismus hier und – womöglich – neorassistisch ethnopluralistischer Schlagseite des cultural-appropriation-Ansatzes dort offenbart sich ein wiederkehrendes Dilemma einer jeden antirassistischen Intention: Sie muss Verhältnisse ins Bewusstsein rufen, zum Thema machen, skandalisieren, in denen ›race‹ soziale Realität strukturiert, ohne aber ihrerseits ›race‹ zum Realen, Unhintergehbaren zu machen. Eine Politik, die Hautfarben zu ignorieren sucht, ohne ein Bewusstsein davon zu entwickeln, dass Hautfarbe nach wie vor darüber mitentscheidet, welche sozialen Positionen Menschen erreichen können, geht fehl. Eine Politik aber, die Hautfarbe in Reaktion darauf zum factum brutum macht, die Hautfarbe darüber entscheiden lässt, welches Musikstück oder welche Kleidung für eine Person statthaft sind, die ist bereits übergelaufen zur stereotypisierenden Einteilung der Welt.

3.3 Das Dilemma zwischen Universalismus und Partikularismus Das Aufklärungsdenken hat eine spezifische Form des politischen Universalismus hervorgebracht: Die Ideen der westlichen Aufklärung – das sind die Geltung der Menschenrechte, Individualismus, Emanzipation, Freiheit, Gleichheit – werden als universell gültig erachtet, d.h. ihr Geltungsanspruch reicht über die Gesellschaften hinaus, in denen sie entstanden sind. Diese bislang aus kritisch-theoretischer Sicht unverwirklichten universellen Werte zielen auf die Realisierung eines Individuums, das frei von Zwangskollektiven, Ausbeutung und direkter Herrschaft ist.15 Allerdings haben diese fortschritt-

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Vgl. zur Kritik am Widerstandsdiskurs, der sich an Hautfarben orientiert Miles 2000: 19. Dass die Kategorie der Individualität und des Individuums im ›Okzident‹ historischer und gesellschaftsspezifischer Natur ist, diskutiert Adorno in seiner Vorlesung Zur Lehre von der Geschichte und der Freiheit (1964/65: 125ff.).

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lichen Ideen real auch zu Zwang, Überheblichkeit und Überlegenheitsvorstellungen geführt. Auch Kritische Theorie stellt sich gegen einen blinden Fortschrittsoptimismus, die Selbststilisierung des Westens zur Norm und Modell für den ›Rest der Welt‹. Bereits der Begriff des allgemeinen historischen Fortschreitens von Gesellschaften steht nicht nur innerhalb linker Imperialismus- und Rassismustheorien stark in der Kritik: Die Überzeugung eines universellen Fortschreitens der Menschheitsgeschichte – getreu dem Motto: alles braucht seine Zeit, bis es ein bestimmtes (westliches) Entwicklungsniveau erreicht – führt zu einer apriorischen Abwertung anderer Gesellschaften. Dem paternalistischen Ausspruch »Sie sind noch nicht so weit (wie wir)« ist eine solch herrschaftliche Geste inhärent. Historisch betrachtet blieb es nicht nur bei der geistigen Abwertung: Denn die Idee, an der Spitze der Zivilisation zu stehen, hat dezidiert rassistische Begründungen für den Kolonialismus oder die Beschlagnahmung des Landes von Ureinwohner:innen in den USA motiviert. Keine »Eroberung […], die nicht mit dem Pathos des Fortschritts gerechtfertigt werden kann« (Losurdo 1999: 236). Aufgrund dieser Janusköpfigkeit des Universalismus, haben sich viele Rassismuskritiken grundsätzlich von universalistischen Forderungen ab- und partikularistischen Sichtweisen zugewendet.16 Solche Sichten scheinen gegen jede hierarchisierende Betrachtung von ›Kulturen‹ immun. Sie lehnen darüber hinaus die Vorstellung ab, dass eine bestimmte ›Kultur‹, so verschieden sie auch von einer anderen sein mag, als evolutionärer Zwischenschritt zur Zivilisation zu betrachten sei. Der Partikularismus betont die Eigenständigkeit von ›Kulturen‹ und ihren Wert ohne Referenz auf eine andere ›Kultur‹ oder ihren Ort auf einer Skala aufsteigender ›Entwicklung‹. Damit sind allerdings auch bestimmte soziale Praktiken der Kritik und Bewertung entzogen. Dieses partikularistische Verständnis ist grundlegend für den Multikulturalismus als antirassistische Idee und Wirklichkeit in vielen (westlichen) Gesellschaften geworden. Sowohl ein bedingungsloser Bezug auf den Universalismus wie auch eine nicht-dialektische Hinwendung zum Partikularismus sind mit Fallstricken versehen. Während ein unreflektierter Universalismus für Überlegenheitsambitionen gefährdet ist, steht der Partikularismus in großer Nähe zum Ethnopluralismus der Neuen Rechten. Die meisten westlichen Gesellschaften sind nicht kulturell homogen. Sie sind vor die Herausforderung gestellt, sich innerhalb des Spektrums zweier politischer Extreme – vollständige Assimilation (Universalismus) und kulturellem Partikularismus – zu positionieren. Erwartungen vollständiger Assimilation wurden und werden vor allem vom Antirassismus stark kritisiert, denn fraglich ist an diesen Assimilationsforderungen, woran sich Migrant:innen genau anpassen sollen. Gibt es diese einheitliche deutsche Gesellschaft überhaupt, der sich assimiliert werden könne? Stattdessen betonen viele rassismuskritische Perspektiven den Wert gesellschaftlicher Heterogenität und kritisieren die Setzung einer spezifischen Lebensweise als Norm und Maßstab. Die niederländische Soziologin Philomena Essed (1992) beispielsweise hat den im Rahmen der Diskussionen um die multikulturelle Gesellschaft in den Niederlanden geführten Toleranzdiskurs gar als kulturellen Rassismus bezeichnet. Sie spricht in diesem Zusammenhang

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Vgl. zum Partikularismus und Universalismus im Antirassismus auch Marz 2020: 49–53.

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Ulrike Marz: Wut auf Differenz

von »repressiver Toleranz«17 . Toleranz sei ein Kontrollmechanismus, weil i.d.R. nur die ›Herrschenden‹ aktiv tolerant sein können, die Beherrschten warten ab, ob sie toleriert würden. Als weiteren Kontrollmechanismus kritisiert Essed die Setzung niederländischer Maßstäbe als fraglose Norm. Die Werte der Herrschenden blieben Maßstab in Bezug auf beispielsweise Emanzipation und Geschlechterrollen. Damit verbunden sei ein weiterer Kontrollmechanismus: die kulturelle Verleumdung. Als Fortschritt bei der Integration gelte das Ausmaß der Übernahme von Werten der Aufnahmegesellschaften. Die herrschende Gruppe bewerte dabei die ›Kultur‹ und Verhaltensweise der anderen. Dabei würden etwaige Ähnlichkeiten in den sozialen und kulturellen Praxen zwischen Minderheiten und herrschender Gruppe von letztgenannter nicht wahrgenommen. Während Minderheiten aufgefordert seien, sich in den herrschenden Rahmen einzupassen, führten jedoch schon kleine Veränderungen bei den Gewohnheiten der herrschenden Gruppe schnell zu Unmut (vgl. Essed 1992: 380–385). An diesen von Essed so bezeichneten Kontrollmechanismen spannt sich die bereits oben benannte Schwierigkeit eines emanzipatorischen Umgangs mit dem Dilemma von universalistischen und partikularistischen Vorstellungen auf. Hierzulande wird die objektive Heterogenität der deutschen Gesellschaft als ›Multikulti‹ zum Feindbild der Neuen Rechten. Denn der Multikulturalismus ist die konsequente Missachtung der Forderung nach einer ethnopluralistischen Separation von Gesellschaften. Folglich stellt der Entwurf einer multikulturellen Gesellschaft für die (Neue) Rechte eine der größten Bedrohungen dar. Die Existenz verschiedener ›Kulturen‹ auf engstem Raum ist für sie ein Ergebnis des verhassten Liberalismus und des Universalismus. Nach Annahme der Rechten befinde sich Deutschland mitten im Prozess eines scheiternden Multikulturalismus. Martin Sellner von der Identitären Bewegung/Österreich sieht das so: »Das Lösungsmittel für die gewachsenen Identitäten der In- und Ausländer sowie das Bindemittel für das neue künstliche Kollektiv ist der Liberalkapitalismus. Indem der Mensch nur als Konsument und Produzent, als kulturloser ›Teilnehmer am Markt‹ gesehen wird, zerstört man seine ethnokulturelle Dimension. Es ist ein zutiefst unmenschlicher Prozess, in dem Türken, Italiener, Österreicher, Chinesen, Araber etc. im Sud des Hedonismus degeneriert zusammenrinnen.« (Sellner o.J.) Menschen, so Sellner, würden über den Konsum in ihrer Sprache und ihrer Kultur gleichgemacht. »Alle Kulturen werden dabei ermordet, fließen strukturlos in einen zähen Warenbrei zusammen.« (Ebd.) Multikulturalismus hat in integrationstheoretischen Diskussionen viele Bedeutungen und ist im politischen Diskurs mittlerweile meist negativ konnotiert. Die multikulturelle Idee verfolgt das Ziel, Heterogenität in einer Gesellschaft menschenfreundlich zu gestalten. Da sich Heterogenität im Multikulturalismus aber nicht auf Individuen, sondern auf Gruppen bezieht ist, steht auch der Multikulturalismus im Verdacht, Unterschiede zwischen Menschen durch Zuschreibungen zu überzeichnen, die sich auf Kol17

Herbert Marcuse verwendet den Begriff der »repressiven Toleranz« anders als Essed. Marcuse beschreibt damit die Tendenz, politische Maßnahmen, Bedingungen und Verhaltensweisen zu tolerieren, die nicht toleriert werden sollten, weil diese »Chancen, ein Dasein ohne Furcht und Elend herbeizuführen, behindern, wo nicht zerstören.« (Marcuse 1965: 94)

3 Metamorphosen des Rassismus – Natur und Kultur

lektive und deren ›Kultur‹ beziehen. Je statischer solche ›Kulturen‹ vorgestellt werden und je weniger Raum dem Individuum in den verschiedenen Vorstellungen des Multikulturalismus zugedacht wird, desto offener kann auch die Idee einer multikulturellen Gemeinschaft selber für neo-rassistische Konzepte wie den Ethnopluralismus werden. Entscheidend ist daher, wie die Idee und die Praxis einer multikulturellen Gesellschaft begründet wird: die Verabsolutierung der Differenz im Ethnopluralismus tendiert zum Rassismus; die Marginalisierung von Menschen zu Minderheiten ist ausgrenzend; nur die Dezentrierung von ›Kultur‹ – also die Absage an eine hegemoniale ›Kultur‹, um die herum andere (Minderheiten-)Kulturen kreisen – wäre egalitär. Erst mit dem Vorrang des Einzelnen vor einem kulturellen Kollektiv, dem er zugeschlagen wird, löste eine Gesellschaft ihre individualistischen Ideale ein: Universell wäre dann die Freiheit, in dem der Einzelne verschieden und darin partikular sein darf. Die Gleichzeitigkeit partikularistischer und universalistischer Momente im Rassismus bedarf also anspruchsvoller Vermittlungen in jenen Theorien und Gegenentwürfen, die ihn attackieren wollen. Mit diesem Dilemma zwischen Partikularismus und Universalismus, mit der Frage, ob die Kritik ›kultureller Aneignung‹, ob Multikulturalismus antirassistische Einsprüche sind oder doch selbst ungewollt dem Rassismus zugehören, haben wir bereits eine Nahtstelle aufgetan – eine Nahtstelle zwischen den historischen Varianten des Rassismus und den Formen theoretischer Anstrengung, ihn kritisch zu begreifen. Um diese Formen wird es im Folgenden gehen.

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4 Metamorphosen der Rassismustheorien – Objektivismus und Subjektivismus

Mit Kritischer Theorie ist die Kritik gesellschaftlicher Bedingungen des Rassismus auch Kritik an den Bedingungen seiner Erkenntnis. »Kritik an der Gesellschaft ist Erkenntniskritik und umgekehrt.« (Adorno 1969a: 748) Auch Rassismuskritik hängt für Kritische Theorie maßgeblich mit Erkenntniskritik zusammen, d.h. mit einer Systematik defizitärer Formen der alltäglichen und der wissenschaftlichen Wahrnehmung des Sozialen. Und darum ist eine Auseinandersetzung mit Rassismustheorien, die nicht dem Kontext der Kritischen Theorie verbunden sind, im Folgenden nicht allein akademisches Sparring, nicht bloß akademisch übliche Selbsterhöhung zur Freilegung von ›Desideraten‹ im Forschungsstand. Für Kritische Theorie ist die Kritik an wissenschaftlichen Bearbeitungsweisen sozialer Probleme zugleich ein Modus der Kritik dieser Probleme selbst. Denn die Bedingungen seiner defizitären Erkenntnis sind die Bedingungen des skandalisierten Gegenstandes selbst. Kritische Theorie ist daher nie nur die Analyse und Kritik allein des Gegenstandes, sondern immer auch die kritische Auseinandersetzung mit den Bearbeitungsweisen des Gegenstandes durch andere Theorien. Die Rassismuskritik selbst, die Bearbeitung und Kritik des Gegenstandes, ist – mit Alfred Sohn Rethel gesprochen – immer auch Moment der »gesellschaftlichen Synthesis«1 (Sohn-Rethel 1970: 16). Kritische Theorie teilt mit anderen soziologischen Theorien die Annahme, dass Handeln, Denken und Fühlen der Menschen vor dem Hintergrund der jeweiligen Situation begriffen werden müssen, in der sie sich als Subjekte befinden. Die Theorien unterscheiden sich aber in ihrer Antwort auf die Frage, wie diese soziale Situation jeweils begriffen werden kann – und wie die Beziehung zwischen handelndem Subjekt und Situation überhaupt beschaffen ist. Ist die Situation eher als Objektivität oder eher als Konstruktion zu denken; wird sie eher mit dem Blick auf Strukturen oder mit dem auf Handlungen

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Unter dem Begriff der gesellschaftlichen Synthesis sind die »Funktionen, die in verschiedenen Geschichtsepochen den Daseinszusammenhang der Menschen zu einer lebensfähigen Gesellschaft vermitteln« (Sohn-Rethel 1970: 16) zu verstehen. »Wie die Gesellschaftsformen sich entwickeln und wandeln, so auch die Synthesis, die das Mannigfaltige der darin gegebenen arbeitsteiligen Beschäftigungen zu einem funktionierenden Ganzen zusammenhält.« (Ebd.)

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Ulrike Marz: Wut auf Differenz

und Interaktionen erfasst? Zur Einteilung der soziologischen Paradigmen, die nun mit ihren spezifischen Perspektiven auf Rassismus kurz skizziert werden sollen, verwende ich das bereits von Pierre Bourdieu zur Grundlegung seiner praxeologischen Soziologie verwendete Theoriepaar Subjektivismus-Objektivismus. Ziel dieser exemplarischen Darstellung der Theorieperspektiven ist der Versuch, subjektivistische und objektivistische Anteile schließlich auch im Denken der frühen Kritischen Theorie auszumachen – um deren spezifische Vermittlung dort explizit diskutieren zu können.2 Daher zielt dieses Kapitel weniger darauf, einen vollständigen Überblick über den Diskussionsstand in der Rassismusforschung zu geben; vielmehr dient es der Hinführung zur Vermittlung von Subjektivismus und Objektivismus in Kritischer Theorie. Es stellt somit eine Diskussionsgrundlage für die kommenden Überlegungen dar und zugleich bereitet es die Theoriebildung selbst vor. Nachfolgend werde ich zunächst die objektivistischen Theorien (4.1) von Robert Miles, Etienne Balibar und Stuart Hall diskutieren und dann die subjektivistischen Theorien (4.2) am Beispiel der postkolonialen Critical Whiteness Studies, von Harold Garfinkels Ethnmethodologie und Herbert Blumers symbolischem Interaktionismus. Ich werde die jeweiligen Auffassungen von Rassismus bei diesen Autor:innen aus den theoretischen Paradigmen heraus begreifbar machen. Ein weiteres Vorhaben des Kapitels ist es, die theorieimmanenten Grenzen und Potentiale von objektivistischen Theorien hier, subjektivistischen dort aufzuzeigen. Kritische Theorie präsentiere ich dann am Ende dieses Kapitels und in den späteren Ausführungen als kritische Vermittlungsinstanz, die im besten Falle Schwächen überwindet, weil sie die Dichotomie aufhebt (4.3).

4.1 Objektivistische Theorien des Rassismus Im Zentrum objektivistischer Theorien steht ein Soziales, das als Zusammenhang entschlüsselt wird, dem die Subjekte weitgehend unterworfen sind. Objektivistische Theorien sprechen zumeist von objektiven gesellschaftlichen Strukturen, Systemen und deren Funktionen, von Anpassung und Integration. Auch Sprache und Diskurs können im Zentrum einer dem Subjekt vorgängigen Objektivität ausgemacht werden. Kritische unter den objektivistischen Theorien treten häufig mit der Behauptung eines grundlegenden epistemischen Defizits auf, das sie ursächlich dieser Objektivität selbst zurechnen: Die Strukturen selbst verhindern ihr Bewusstwerden, ihr Sichtbarwerden – der Diskurs zum Beispiel weiß sich selbst als solcher unsichtbar zu machen; die Ideologie oder das »falsche Bewusstsein« entspringt den Verkehrungen der Warengesellschaft (und nicht etwa dem schlechten Denken oder dem subjektiven Irrtum). Die Spannbreite dessen, was unter solch objektivistische Theorie fällt, zieht sich von Ferdinand de Saussures sprachwissenschaftlichem Strukturalismus, Talcott Parsons’

2

In der Soziologie ist besonders Pierre Bourdieu mit einem solchen Vermittlungsversuch im Habituskonzept einflussreich geworden (vgl. Bourdieu 1987). Habitus – wie er sich zum Beispiel in klassenspezifischen Sprachmustern und Körperhaltungen ausdrückt, ist das subjektiv gewordene Objektive, dass als Subjektives dann seinerseits soziale Objektivität reproduziert.

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Ulrike Marz: Wut auf Differenz

und Interaktionen erfasst? Zur Einteilung der soziologischen Paradigmen, die nun mit ihren spezifischen Perspektiven auf Rassismus kurz skizziert werden sollen, verwende ich das bereits von Pierre Bourdieu zur Grundlegung seiner praxeologischen Soziologie verwendete Theoriepaar Subjektivismus-Objektivismus. Ziel dieser exemplarischen Darstellung der Theorieperspektiven ist der Versuch, subjektivistische und objektivistische Anteile schließlich auch im Denken der frühen Kritischen Theorie auszumachen – um deren spezifische Vermittlung dort explizit diskutieren zu können.2 Daher zielt dieses Kapitel weniger darauf, einen vollständigen Überblick über den Diskussionsstand in der Rassismusforschung zu geben; vielmehr dient es der Hinführung zur Vermittlung von Subjektivismus und Objektivismus in Kritischer Theorie. Es stellt somit eine Diskussionsgrundlage für die kommenden Überlegungen dar und zugleich bereitet es die Theoriebildung selbst vor. Nachfolgend werde ich zunächst die objektivistischen Theorien (4.1) von Robert Miles, Etienne Balibar und Stuart Hall diskutieren und dann die subjektivistischen Theorien (4.2) am Beispiel der postkolonialen Critical Whiteness Studies, von Harold Garfinkels Ethnmethodologie und Herbert Blumers symbolischem Interaktionismus. Ich werde die jeweiligen Auffassungen von Rassismus bei diesen Autor:innen aus den theoretischen Paradigmen heraus begreifbar machen. Ein weiteres Vorhaben des Kapitels ist es, die theorieimmanenten Grenzen und Potentiale von objektivistischen Theorien hier, subjektivistischen dort aufzuzeigen. Kritische Theorie präsentiere ich dann am Ende dieses Kapitels und in den späteren Ausführungen als kritische Vermittlungsinstanz, die im besten Falle Schwächen überwindet, weil sie die Dichotomie aufhebt (4.3).

4.1 Objektivistische Theorien des Rassismus Im Zentrum objektivistischer Theorien steht ein Soziales, das als Zusammenhang entschlüsselt wird, dem die Subjekte weitgehend unterworfen sind. Objektivistische Theorien sprechen zumeist von objektiven gesellschaftlichen Strukturen, Systemen und deren Funktionen, von Anpassung und Integration. Auch Sprache und Diskurs können im Zentrum einer dem Subjekt vorgängigen Objektivität ausgemacht werden. Kritische unter den objektivistischen Theorien treten häufig mit der Behauptung eines grundlegenden epistemischen Defizits auf, das sie ursächlich dieser Objektivität selbst zurechnen: Die Strukturen selbst verhindern ihr Bewusstwerden, ihr Sichtbarwerden – der Diskurs zum Beispiel weiß sich selbst als solcher unsichtbar zu machen; die Ideologie oder das »falsche Bewusstsein« entspringt den Verkehrungen der Warengesellschaft (und nicht etwa dem schlechten Denken oder dem subjektiven Irrtum). Die Spannbreite dessen, was unter solch objektivistische Theorie fällt, zieht sich von Ferdinand de Saussures sprachwissenschaftlichem Strukturalismus, Talcott Parsons’

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In der Soziologie ist besonders Pierre Bourdieu mit einem solchen Vermittlungsversuch im Habituskonzept einflussreich geworden (vgl. Bourdieu 1987). Habitus – wie er sich zum Beispiel in klassenspezifischen Sprachmustern und Körperhaltungen ausdrückt, ist das subjektiv gewordene Objektive, dass als Subjektives dann seinerseits soziale Objektivität reproduziert.

4 Metamorphosen der Rassismustheorien – Objektivismus und Subjektivismus

Strukturfunktionalismus, Claude Levi-Strauss’ kulturanthropologischem Strukturalismus, Michel Foucaults Diskurstheorie, Louis Althussers Strukturmarxismus bis zu sich selbst kritisch nennenden Theorien, die sich vor allem auf Marx beziehen. Subjekte und deren Deutungen sind im Objektivismus eher irrelevant oder determiniert vom Objektiven; sie kommen häufig nur als Reproduzenten oder Funktionen der gesellschaftlichen Ordnung in den Blick, was in folgender Passage prägnant zum Ausdruck kommt: »Die wahren (einen Prozeß konstituierenden) ›Subjekte‹ sind daher weder die Stelleninhaber noch die Funktionäre – allem Anschein und jeder ›Evidenz‹ des ›Gegebenen‹ im Sinne einer naiven Anthropologie zum Trotz – eben nicht die ›konkreten Individuen‹ und die ›wirklichen Menschen‹: die wahren ›Subjekte‹ sind die Bestimmung und Verteilung (der) Stellen und Funktionen. Die bestimmenden und verteilenden Faktoren, kurz, die Produktionsverhältnisse (und die politischen und ideologischen Verhältnisse einer Gesellschaft) sind die wahren ›Subjekte‹. Aber da es sich hierbei um ›Verhältnisse‹ handelt, können sie in der Kategorie des S u b j e k t s nicht gedacht werden.« (Althusser/Balibar 1972: 242; Herv. i.O.) In epistemologischer Hinsicht gehen gerade kritische objektivistische Theorien von einer relativ ausgeprägten Hierarchie zwischen Alltagserfahrung und wissenschaftlicher Erkenntnis des Sozialen aus. Soziologie sei möglich, »weil die Subjekte nicht über die ganze Bedeutung ihres Verhaltens als unmittelbares Datum des Bewußtseins verfügen, und weil ihr Verhalten stets mehr an Sinn umfaßt, als sie wissen und wollen« (Bourdieu 1965: 12). Kritische Sozialwissenschaft beschreibt mit dem Vorrang der Objektivität zugleich die notwendige Unzulänglichkeit subjektiver Erfahrungen. An den Beispielen Robert Miles, Etienne Balibar und Stuart Hall werde ich nun einflussreiche objektivistische Ansätze der Rassismusforschung vorstellen.

4.1.1 Robert Miles’ Ideologietheorie Das Buch Racism (1989) des britischen Soziologen und Politikwissenschaftlers Robert Miles gehört seit langem zu den Standardwerken der Rassismusforschung und wurde bereits 1991 ins Deutsche übersetzt. Miles nimmt in weiteren seiner Arbeiten den Rassismus als Ideologie in den Blick und kann damit als Vertreter einer objektivistischen Theorie eingeführt werden. Er stellt den Zusammenhang von Kapitalismus und Rassismus ins Zentrum.3 Miles’ theoretischer Ansatz geht der Frage nach, welche Struktur der Ideologiebildung sich hinter der Kategorisierung von Menschen in ›Rassen‹ verbirgt.

Bedeutungsträger und Rassenkonstruktion Miles unterscheidet zunächst zwischen Rassenkonstruktion (racialisation) und Rassismus. Rassenkonstruktion sei der »Prozess der Grenzziehung zwischen verschiedenen Gruppen, wobei bestimmte Personen, primär mit Bezug auf (angenommene) angeborene (gewöhnlich phänotypische) Merkmale innerhalb dieser Grenzen verortet werden. Es

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Miles, als einflussreichen Rassismusforscher, stelle ich auch in Marz 2020 (S. 106–121) vor.

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handelt sich also um einen ideologischen Vorgang.« (Miles 2000: 21) Miles betont ausdrücklich, dass für die Rassenkonstruktion der Begriff ›Rasse‹ nicht zwingend notwendig sei. Der gegenwärtige Diskurs – so Miles – brauche den Begriff der ›Rasse‹ nicht, um die Kategorien von ›schwarz‹ und ›weiß‹ zur Kennzeichnung von Gruppen einzusetzen. Miles verweist auf die Willkür in der Auswahl jener körperlichen Merkmale, die zum Bedeutungsträger werden, um Gruppen zu konstruieren. Er streitet nicht ab, dass Menschen hinsichtlich ihrer Hautfarbe oder anderer körperlicher Beschaffenheit verschieden seien. Ihm geht es aber darum zu zeigen, dass nur bestimmte Merkmale zur Rassenkonstruktion ausgewählt werden – und dass diese Auswahl weder selbstverständlich noch bloß zufällig sei. Die Auswahl von bestimmten Kriterien wird von Miles als Bedeutungskonstitution (signification) bezeichnet (Miles 2000: 21). So gebe es keine Rassentheorie, die Menschen beispielsweise nach ihrer Ohrengröße oder der Form ihrer Fingernägel unterschieden habe. Miles zeigt, wie stattdessen Hautfarbe zum Unterscheidungsmerkmal wird. Sie wird dies nicht etwa, weil sie am leichtesten am Menschen zu beobachten wäre, sondern weil sie vorfindliche soziale Beziehungen strukturiere. Die Wahrnehmung des Sozialen nach Hautfarbe mache klar, wo ein jeder in diesem Sozialen hingehört. Miles betont, dass sich diese Bedeutungsträger historisch verändern. Den Kern der Rassenkonstruktion bilde die Vorstellung, dass die definierte Gruppe für »eine von Natur aus existierende Gruppe gehalten [wird] und sich entsprechend biologisch reproduziert« (ebd.: 21). Die Rassenkonstruktion erfolge als dialektischer Prozess4 , so Miles (vgl. ebd.). Mit dem Konstruierten konstruiert der Konstrukteur auch jeweils dessen Anderes. Dem ›Rassenkonstrukteur‹ sei dieser dialektische Charakter der Merkmalszuschreibung durchaus bewusst, weshalb Rassentheoretiker:innen nur solche Merkmale auswählen, bei denen sie selbst besser abzuschneiden meinen (fleißig-faul, klug-dumm, wohlgeformt-unförmig). Selbst wenn eine Eigenbezeichnung noch gar nicht feststeht: In dem Moment, in dem jemand anderes als ›schwarz‹ klassifiziert wird (und nur als das), schließt das ein, dass die klassifizierende Person auch eine Farbzuweisung vornimmt. »Das ›Schwarz-Sein‹ der Afrikaner spiegelte daher das ›Weiß-sein‹ des Europäers: diese miteinander verbundenen Gegensätze verweisen aufeinander in einer Totalität der Konstruktion von Bedeutungen.« (Miles 1989: 101)

Das Ideologische des Rassismus Miles fordert, dass der Begriff Rassismus nur auf ideologische Phänomene angewandt werden solle (vgl. Miles 2000: 22). Was heißt das? Der Ideologiebegriff wird bei Miles abweichend von der der marxistischen Traditionen verwendet: »Ideologie ist eine spezifische Diskursform.« (Miles 1989: 58; vgl. zum davon abweichenden Ideologiebegriff aus Perspektive Kritischer Theorie Kapitel 6) Ideologisch seien jene Diskurse, die zu einer verzerrten Vorstellung der Beziehungen zwischen Menschen und Gesellschaft führen. Diese Diskurse würden weder systematisch und kohärent vorgetragen, noch hätten sie einen intentionalen Grund (vgl. ebd.) – es ist nicht so, dass die Menschen absichtsvoll über das Wirken gesellschaftlicher Kräfte getäuscht würden. ›Fake News‹ wären in 4

Blumer/Duster (1980) bezeichnen diesen Vorgang als den relationalen Charakter der Gruppenbildung, wie später gezeigt wird.

4 Metamorphosen der Rassismustheorien – Objektivismus und Subjektivismus

diesem Verständnis keine Ideologie, weil der Sinn von Fake News in der absichtlichen Verbreitung falscher Informationen besteht. Für Miles heißt Ideologie dagegen: Es wird erstens getäuscht, aber nicht absichtsvoll (darin würde die marxsche Tradition zustimmen); zweitens hat Ideologie aber ihren Ort im Sprachlichen (was deutlich vom ökonomisch grundierten marxschen Ideologiebegriff und von jenem der Kritischen Theorie abweicht). Das Ideologische am Rassismus besteht für Miles darin, dass Rassismus soziale Ungleichheit begründet – und zwar mit dem Argument, dass die Menschheit aus unterschiedlichen Gruppen bestehe. Rassismus könne sich sowohl auf biologische wie auf kulturelle Inhalte beziehen (vgl. Miles 1989: 67f.). Nicht jede »deterministische Behauptung über gruppenbezogene Unterschiede« (ebd.: 68) ist in diesem Sinne zwingend rassistisch. Würde jede deterministische Auffassung als Rassismus definiert, gäbe es beispielsweise keine Möglichkeit mehr, Rassismus von Sexismus zu unterscheiden, so Miles (vgl. ebd.). Um die Spezifik der rassistischen Ideologie herauszustellen, führt Miles den Begriff der »Ausschließungspraxis« ein, der erstens besagt, dass eine Gruppe bei der Zuteilung von Ressourcen und Dienstleistungen nachweislich benachteiligt wird. Um Aussagen über die Ursachen eines Ausschlusses zu treffen, bedürfe es weiterer Bestimmungen. Und so beziehen sich Ausschließungspraxen zweitens auf vorsätzliche Handlungen und auch auf Folgen, die Strukturen der Ungleichheit schaffen. Und schließlich ist drittens das Verhältnis von Ein- und Ausschluss ein dialektisches: Analog zu der Merkmalszuschreibung in der Rassifizierung bedeutet der Einschluss der einen den Ausschluss der anderen. Ausschließungsprozesse verhindern beispielsweise, dass Personen mit einer Migrationsgeschichte aus bestimmten Herkunftsländern eine Wohnung in einem bestimmten Viertel finden; sie bestimmen zugleich die Kriterien, die anderen einen Zugang zum Wohnungsmarkt ermöglichen (vgl. Miles 2000: 23f.). Miles betont allerdings, dass es schwierig sei Ausschließungspraxen eine rassistische Motivation nachzuweisen. Wenn der Ausschließungspraxis der ideologische Gehalt fehle, sei sie kein Rassismus. Das heißt, dass Ausgrenzungspraxen nicht immer mit funktional notwendigen Ausgrenzungsideologien zusammenfallen müssen. Der spezifische ideologische Gehalt des Rassismus besteht für Miles darin, dass durch den Prozess der Rassenkonstruktion zunächst bestimmten »biologischen Merkmalen eine Bedeutung zugeschrieben wird, wodurch sie zum Erkennungs-Zeichen bestimmter Gruppen werden. Status und Herkunft der Gruppen werden so als natürlich und unveränderlich vorgestellt« (ebd.: 24). Anschließend müsse die »so gekennzeichnete Gruppe […] mit zusätzlichen, negativ bewerteten (biologischen oder kulturellen) Merkmalen versehen werden, als verursache sie negative Merkmale für andere« (ebd.). Erst diese Wertung mache den Rassismus aus, so Miles. Miles’ Differenzierung zwischen Rassenkonstruktion und Rassismus wurde vielfach als künstlich kritisiert (z.B. Scholz 2005: 122; Terkessidis 1998: 75). Rassenkonstruktion und Rassismus bedingten sich gegenseitig, so der Einwand, weil schon die Rassenkonstruktion selbst wertend und abwertend sei. »Rassenkonstruktion ist […] per se schon Rassismus« (Scholz 2005: 122). Die rassistische Ideologie hat bei Miles neben dem bereits angesprochenen dialektischen Charakter der Rassenkonstruktion drei weitere Merkmale (vgl. Miles 1989: 106–113, 2000: 24–27). Das zweite Merkmal betrifft die theoretische

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Sättigung des Rassismus: Dieser könne sowohl als kohärente Theorie, z.B. als ›Rassentheorie‹ eines Houston Stewart Chamberlain oder eines Arthur de Gobineau in Erscheinung treten wie auch als loses Geflecht von Stereotypen, Bildern und Zuschreibungen, als Rassismus im Alltag. Dass sich Rassismus nicht nur in den ›wissenschaftlichen Theorien‹ erschöpft und sich darum mit deren Diskreditierung und Widerlegung erledigt hätte, ist in der Rassismusforschung weitgehend unstrittig. Doch Miles’ Unterteilung in »Rassismus nach Theorien« einerseits und einer »losen Ansammlung von Stereotypen« andererseits suggeriert, dass »rassistische Sichtweisen der Philosophen, Ideologen, Naturwissenschaftler usw. mit denen der ›einfachen Leute‹, der ›Arbeiterklasse‹« (Scholz 2005: 122) nichts zu tun hätten. Womöglich aber sind auch lose rassistische Auffassungen, die nicht zu einem stimmigen System verbunden sind, von Philosophie und Naturwissenschaft beeinflusst. Und womöglich sind solche Vermittlungen mit Miles nicht gut zu diagnostizieren. Das dritte Merkmal des Rassismus ist dessen praktische Angemessenheit5 . In diesem Zusammenhang fungiere er als umfassende »Sinngebungsinstanz«6 (Miles 2000: 25), weil die konkreten Inhalte und Deutungen je nach Klassenzugehörigkeit variierten. Rassismus biete Muster zur Verarbeitung konkreter Erfahrungen, die Menschen aufgrund ihrer Klassenlage machen. Antirassistische Interventionen müssten sich daher darauf konzentrieren, gesellschaftliche Verhältnisse zu verbessern, anstatt Menschen davon zu überzeugen, dass sie Unrecht haben, so Miles. Als viertes und letztes Merkmal des »Rassismus als Ideologie« nennt Miles dessen historische Variabilität. Rassismus ist »keine einmalige, statische Ideologie, die sich an Hand spezifischer Vorstellungen, Bilder und Stereotypen identifizieren ließe.« (Miles 2000: 26) Sowohl das Objekt des Rassismus, die rassifizierte Gruppe, als auch die Bedeutungsträger, also die Merkmale, nach denen unterschieden werde, sowie deren zugeschriebene negative Eigenschaften, können sich historisch verändern. Ebenso verschieben sich die konkreten Bilder und Klischees über eine Gruppe mit historischen Ereignissen. Miles stellt diesen variablen Momenten die kontinuierlichen und stabilen Züge des Rassismus gegenüber. Neue Rassismen seien stets eine Mischung aus alten Rassismen und neuen Aspekten (vgl. Miles 1989: 112).

Rassismus, Nationalismus und Sexismus Mit der Darstellung der Verbindung des Rassismus zu anderen Ideologien wie dem Sexismus oder dem Nationalismus gewinnt der Begriff des Rassismus bei Miles weiter an Kontur. Ein weiterer bedeutender Schlüsselbegriff in Miles’ Rassismustheorie ist der der ideologischen Artikulation. Ideologien beziehen sich inhaltlich aufeinander, ergänzen sich in ihren Argumenten oder gehen fließend ineinander über.

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Ideologie über Angemessenheit bzw. Adäquatheit, d.h. als angemessene Reaktions- und Handlungsformen in einer bestimmten Gesellschaft zu bestimmen, nähert sich wieder der klassischen Ideologiebestimmung von Marx/Engels an. Miles’ Konzeptualisierung des Rassismus als Welterklärung ist umstritten. Sicher gibt es Aspekte, die dem Rassismus auch welterklärende Funktionen geben, doch ist seine Erklärungskraft zumindest im Vergleich zum Antisemitismus als einem umfassenden Welterklärungsversuch geringer.

4 Metamorphosen der Rassismustheorien – Objektivismus und Subjektivismus

Blicken wir zunächst auf Miles’ Überlegungen zum Verhältnis von Nationalismus und Rassismus. Miles skizziert, ähnlich wie Etienne Balibar, dass der Begriff der ›Rasse‹ zunächst auf Menschen in den europäischen Gesellschaften angewandt wurde. ›Rasse‹ diente anfänglich der Herrschaftslegitimierung der Aristokratie über die Massen, erst später wurde ›Rasse‹ ein wichtiger Bezugspunkt zur Deutung sozialer Strukturen anderer, außereuropäischen Gesellschaften (vgl. dazu Miles 1991: 200–207). Miles zeigt also, wie schon Bauernschaft und Proletariat als ›Rassen‹ konstruiert wurden und erschüttert so die weit verbreitete Annahme, dass nur ›Nicht-Weiße‹ negativ von Rassismus betroffen seien. Dieser Blickwinkel auch auf innereuropäische Rassenkonstruktionen stützt für Miles die Annahme historisch spezifischer Rassismen und mahnt zur ständigen Neubestimmung dessen, wer ›rassisch‹ gesehen wird, wer jeweils ›dazu‹ gehört und wer ausgeschlossen wird. Diese Perspektive sei nötig, um den Rassismus nicht nur in seiner außereuropäischen Form zu beschreiben, sondern um die innereuropäischen Auswüchse von Rassenkonstruktion zu verstehen. Sowohl Rassismus wie Nationalismus definieren Eigenschaften, nach denen sich Zugehörigkeit bestimme. Der Rassismus kenne im Gegensatz zum Nationalismus aber den Nachdruck auf die politische Organisation nicht, es gibt auf Seite des Rassismus keine Entsprechung zur nationalistischen Denkweise, dass »jede besondere, naturgegebene Nation […] sich innerhalb territorialer Grenzen politisch organisieren können [solle]« (Miles 1991: 210f.). Dies sei eine Besonderheit des Nationalismus. Die Annahme, dass alle Nationen ein Recht auf politische Selbstbestimmung hätten, beinhalte ein implizites Bekenntnis zur prinzipiellen Gleichheit aller Nationen; und zwar selbst dann, wenn es negative Vorstellungen von Andersartigkeit gebe, so Miles. So können durchaus gleichzeitig Auffassungen über die Unterschiede zwischen Nationen einerseits neben denen ihrer Gleichwertigkeit andererseits existieren (vgl. ebd.: 211). Im Rassismus hingegen gibt es auch die Vorstellung von der Natürlichkeit des Unterschieds, nicht nur »um auszugrenzen, sondern um zu marginalisieren« (Miles 1991: 211). Der Rassismus verweigert einigen Menschen »bestimmte Rechte und Ressourcen, oft alle Rechte und Ressourcen (einschließlich des Rechts auf Leben)« (ebd.). Hier liegt der Unterschied zum Nationalismus, der »dem anderen ein Existenzrecht zugesteht und ihn in einem allgemeinen Sinne als gleichwertig anerkennt (vgl. ebd.: 211). Ob dieses Argument angesichts der Aktualität des Ethnopluralismus, von dem auch Miles weiß (vgl. dazu ebd.: 210), wirklich noch trifft, lässt sich bezweifeln. Denn Miles Unterscheidung von Rassismus und Nationalismus übersieht, dass der Ethnopluralismus sich mit genau jenem Argument Geltung verschaffen will: Die Gleichwertigkeit des Abgegrenzten als Legitimation für Abgrenzung. Der Ethnopluralismus gibt sich zahm, indem er auf die Unterscheidung von Gleichwertigkeit und Gleichheit setzt. Jede Person sei gleich viel wert, aber wegen der Verschiedenartigkeit der kollektiven Zugehörigkeit nur auf dem angestammten Territorium eben dieser Kollektive. Solcher Ethnopluralismus schließt das freie Bekenntnis eines Einzelnen zur Nation aus, weil er Nation vor aller individuellen Entscheidung mit einem ihr ethnisch verbundenem ›Volk‹ gleichsetzt. So kann auch der Ethnopluralismus ausgrenzen, was ihm als ›fremd‹ gilt und kann auf diese Weise die nationalistische mit der rassistischen Idee verbinden – ohne sich offen als Rassismus kenntlich zu machen. Eine solche Ebene der Gleichwertigkeit in der abgegrenzten und abzugrenzenden Pluralität erkennt Miles im

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Rassismus hingegen nicht. »Als Diskurs der Marginalisierung ist er Bestandteil eines Herrschaftsprozesses« (Miles 1991: 212). Rassismus legitimiert Ausschluss von Ressourcen, nicht Ausschluss von Territorien. Gegen Miles ließe sich einwenden, dass das Zugeständnis einer prinzipiellen Gleichheit der Nationen selbst rassistische Intentionen artikulieren kann, denn diese Anerkennung ist gemäß der neorassistischen Logik auch ein Garant dafür, dass sich verschiedene Gruppen nicht ›vermischen‹. Miles kommt dieser Kritik am Ende seines Aufsatzes entgegen: »Auf diese Weise [vermittels der Ressourcendistribution, U. M.] kann Rassismus die Grenzen der Nation abstecken und eine Vorstellung von nationaler Einheit gegen die als ›Rasse‹ konstruierte und marginalisierte Gruppe herstellen.« (Ebd.: 212; Herv. i.O.) Die zweite bedeutende ideologische Verknüpfung ist für Miles die von Rassismus und Sexismus. Wie der Rassismus basiere auch der Sexismus auf einem Prozess der Bedeutungskonstitution. Miles argumentiert, dass »wirkliche biologische Geschlechtsunterschiede als absolute Unterschiede gekennzeichnet und deterministisch mit einer Reihe zusätzlicher (wirklicher oder behaupteter) biologischer und kultureller Merkmale verbunden werden.« (Miles 2000: 30, 1989: 117) Durch diesen Prozess der Bedeutungskonstitution würden zwei Geschlechter geschaffen: Männer und Frauen. Der reale biologische Unterschied werde im Sexismus zur Grundlage, um soziale Geschlechter zu konstruieren. Diese vermeintlich unterschiedlichen Eigenschaften von Männern und Frauen, man könnte sogar ›Anlagen‹ sagen, geben dann für Miles die Möglichkeiten vor, wie die Geschlechter in ökonomischen, politischen, kulturellen und sozialen Bereichen der Gesellschaft partizipieren und welche Aufgaben sie in diesen Bereichen übernehmen. Der Sexismus erklärt und rechtfertigt nach Miles also unterschiedliche Positionen von Männern und Frauen, insbesondere rechtfertigt er die Behandlung von Frauen als minderwertig (vgl. Miles 2000: 30, 1989: 117). Miles rekurriert hier auf den traditionellen Sexismus. In diesem werden die Geschlechtsunterschiede stark betont und mit dem Glauben an die Minderwertigkeit der Frau und mit der Befürwortung herkömmlicher Rollenverteilungen kombiniert. Miles beschränkt seine Darstellungen auf die gesellschaftlich vorherrschende Vorstellung der Existenz von nur zwei Geschlechtern (Heteronormativität). Es wäre daher sicher lohnend, Miles’ Überlegungen zur Verknüpfung von Sexismus und Rassismus auch mit queeren Perspektiven zu konfrontieren und zu überprüfen, ob seine Analysen dann immer noch treffen. Die Ähnlichkeiten zwischen Rassismus und Sexismus liegen vor allem in der Zuschreibung von Emotionalität, Impulsivität und geringerer Intelligenz – Frauen ähneln darin den rassifizierten ›Minderwertigen‹. Allerdings muss Wolfgang Fritz Haug hier beigepflichtet werden, wenn er einwendet, dass bei Miles unscharf bleibt, wie das Verhältnis zwischen Sexismus und Rassismus konkret zu bestimmen ist: Handelt es sich um die »Möglichkeit des ›Andockens‹ der einen Ideologie bei der anderen oder [um] eine Affinität und tendenzielle Wesensgleichheit« (Haug 1992: 38)? Zentral ist in Miles’ Theorie die Vorstellung vom Rassismus als Re-Produzent einer Herrschaftsstruktur, und dies wird deutlich mit seiner Betonung zweier Dimensionen des Rassismus: die ökonomische, ressourcenbezogene und die sexistisch, geschlechterbezogene. Ökonomisch schärft er den Blick für die praktischen Konsequenzen der Rassifizierung. Rassismus wirke durch die Konstruktion natürlicher Differenzen zwischen Gruppen auf der Ebene der Praxis, mithin des Kampfes um Ressourcen. »Dem als ›Rasse‹

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gedeuteten Anderen werden Ressourcen verweigert« (Miles 1991: 212), die der Eigengruppe selbst in Zeiten der Not zugestanden würden. Das betrifft das »Recht, die eigene Arbeitskraft besitzen und verkaufen zu können, das Wahlrecht, das Recht, politischen Parteien anzugehören, der Zugang zu bestimmten Berufen oder zu bestimmten, vom Staat (mit-)verteilten Ressourcen (Erziehung, Wohnraum, Krankenhäuser, medizinische Behandlung)« (ebd.). Zusätzlich zu diesen exkludierenden Effekten treten beim Rassismus integrierende Effekte hinsichtlich der Zugehörigkeit innerhalb einer sozialen Formation auf. Die Konstruktion natürlicher Unterschiede erleichtere untergeordneten Klassen die »ideologische Identifikation […] mit Organisationen und Institutionen, die für die Produktion und Distribution materieller und immaterieller Ressourcen« (ebd.) zuständig seien. Rassismus helfe so dabei, die Klassengegensätze abzuschwächen. Insofern ist für Miles die Ausbeutung der Kolonien eine konsequente Fortsetzung der Praxis der kapitalistischen Beherrschung: Der Kolonialismus setze fort, was die ›herrschende Klasse‹ bereits in den europäischen Nationalstaaten begonnen hatte.

4.1.2 Etienne Balibars Theorie des Metarassismus Der französische Soziologe Etienne Balibar argumentiert mit seiner Rassismusanalyse aus einer neomarxistischen Perspektive. Vor allem die bereits bei Miles angesprochene Existenz eines Klassen-Rassismus, die Beschreibung des Wandels vom biologistisch zum kulturalistisch argumentierenden Rassismus und die Frage nach der Verbindung mit anderen Ideologien sind wiederkehrende Themen in seiner Auseinandersetzung mit dem Rassismus. Ein wesentliches Interesse Balibars ist die Frage, wie die Kategorie der ›Rasse‹ sich historisch gewandelt hat, wie sich Rassismus immer wieder erneuern kann – und wie er sich schließlich vollständig von der Kategorie der ›Rasse‹ entkoppelt.

Rassismus als gesellschaftliches Verhältnis Seit über 300 Jahren basieren Rassenkonstruktionen auf folgenden Verfahrensweisen: Zunächst wird nach dem Unterschied gesucht, der es ermöglicht, ›Rassen‹ zu konstituieren. Anders als bei Miles – der sagt: erst die Wertung mache den Rassismus (vgl. Miles 2000: 24) – betont Balibar, dass jede rassistische Hierarchisierung einer vorhergehenden Klassifizierung bedürfe. Dann könne sie sogar auf eine explizit ausformulierte Wertung verzichten, da bereits die Klassifikationskriterien die Wertung implizieren. Sowohl Klassifizierung wie anschließende Hierarchisierung seien Naturalisierungsstrategien. Beide verlagern Phänomene des sozialen Bereichs in die Sphäre der Natur. Ähnlich wie Miles betont Balibar die geschlechtliche Komponente. Diese sei für den Rassismus zentral, weil die sexuelle Reproduktion über ›Vermischung‹, Vererbung und ›Entartung‹ substantiell entscheidet (vgl. Balibar 1990b: 71f.). Zusätzlich benötige jede Rassentheorie die Annahme anthropologischer Universalien, also »Vorstellungen vom ›genetischen Erbe der Menschheit oder der ›kulturellen Tradition‹« (ebd.: 72). Dazu gehören ebenfalls Annahmen über eine natürliche Fremdenfeindlichkeit oder eine angeborene Aggressivität (vgl. ebd.). Balibar rekonstruierte in seinem Aufsatz Rassismus und Nationalismus (1990) verschiedene Aspekte des Rassismus, die sich schon bald in der Rassismusforschung etablieren sollten. Er unterscheidet hier zunächst drei historische Modelle von Rassismus, die unse-

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re Wahrnehmung von Rassismus geprägt haben: den nazistischen Antisemitismus, die ›Rassen‹-Trennung in den USA als Erbe der Sklaverei, den imperialistischen Rassismus der Kolonialzeit. In der Analyse dieser Modelle stellt er dann fünf Unterscheidungen zur näheren Bestimmung verschiedener Rassismen vor: erstens, die Unterscheidung zwischen spontanem (vorurteilsvoll und impulsiv geäußertem) und theoretischem (doktrinär, in ausgearbeiteten ›Theorien‹ auftretendem) Rassismus; zweitens die Unterscheidung eines nach innen gegen eine minorisierte Bevölkerungsgruppe von einem als externe Fremdenfeindlichkeit nach außen gerichteten Rassismus; drittens die zwischen Selbstrassifizierung und Fremdrassifizierung7 ; viertens die zwischen institutionellem (z.B. zur offiziellen Staatsdoktrin werdendem) und soziologischem8 Rassismus. Fünftens setzt er dem ausschließenden Rassismus mit Ausrottungsambitionen eine einschließende Form entgegen, die Unterdrückungs- und Ausbeutungsambitionen zum Zuge kommen lassen will9 (vgl. Balibar 1990b: 50–52). Balibar wendet sich gegen eine feste Bestimmung von Merkmalen, die alle Rassismen überspanne: »Eine bestimmte rassistische Konfiguration hat keine festen Grenzen, sie ist ein Moment einer Entwicklung« (Balibar 1990b: 52). Die jeweiligen Rassismen hätten eine »singuläre Geschichte« (ebd.: 53); sie seien weder einfach nur Modelle von Rassismus noch abgeschlossene Epochen. Historische Rassismen betrachtet Balibar vielmehr als fortlebende noch aktive Formationen, die das Verhalten der Menschen unter den aktuellen Bedingungen strukturieren. In der Apartheid Südafrikas wirke sowohl der Rassismus der Nationalsozialisten wie der der Kolonisatoren und jener der Sklavenhändler. Und Balibar hält es ebenfalls für möglich, dass sich Teile des Antisemitismus auf andere Objekte als die Juden verlagerten (vgl. ebd.; ich komme auf diese Diskussion im letzten Kapitel zurück).

Der Klassen-Rassismus In seinem Aufsatz Der ›Klassen-Rassismus‹ (1990) fragt Etienne Balibar »welches Verhältnis besteht zwischen dem Rassismus als zusätzlichem Element des Nationalismus und dem irreduktiblen Klassenkonflikt in der Gesellschaft?« (Balibar 1990a: 247)10 Sind Angehörige bestimmter Klassen besonders anfällig für rassistische Einstellungen? Er unterstellt eine Glorifizierung der manuellen Arbeit innerhalb der Arbeiter:innenklasse, die nicht nur die Arbeitenden zu einem Block formiere, sondern »die Signifikanten des

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Miles trennt diese beiden Prozesse nicht, sondern beschreibt sie als dialektisches Verhältnis, d.h. die Fremdrassifizierung ist immer auch eine Selbstrassifizierung. Das, was ich anderen als Eigenschaften zuschreibe und welche Merkmale ich zum Distinktionskriterium erhebe, wirkt ex negativo als Beschreibung des Eigenen. Der Begriff des soziologischen Rassismus ist aus meiner Sicht nicht glücklich gewählt, beschreibt doch »soziologisch« die reflektierte Sicht auf das Soziale. Diese beiden Formen gäbe es, so Balibar, nie in Reinform (vgl. Balibar 1990b: 52). Grundsätzlich ist einzuwenden: Diese Unterscheidung hat Sinn nur dann, wenn der deutsche Vernichtungsantisemitismus als Fall von Rassismus behandelt wird. Wenn allerdings der Vernichtungsantisemitismus nicht unter Rassismus rubriziert wird, dann bleibt als bestimmendes Charakteristikum des Rassismus nicht sein Vernichtungswille, sondern dessen Unterdrückungs- und Ausbeutungslogik. Das muss nicht seinen mitunter massenmörderischen Charakter verleugnen. Vgl. zum Klassen-Rassismus auch: Marz 2020: 66–69.

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Klassen-Rassismus gegen die bürgerliche Gesellschaft«11 (ebd.: 258) kehre. Denn durch diese Glorifizierung werde eine Ambivalenz beim Arbeitenden ausgelöst: Einerseits der Wunsch, dem Ausgebeutet-Sein in der Arbeiter:innenklasse zu entkommen – andererseits die Zurückweisung der Verachtung, die manueller Arbeit entgegengebracht werde. Diese Ambivalenz zeige sich im Verhältnis zum Nationalismus und zur Fremdenfeindlichkeit. Wenn Arbeitende den Nationalismus praktisch zurückwiesen, praktizierten sie eine politische Alternative zur Überaffirmation von Arbeit. Wenn sie allerdings, was weitaus häufiger der Fall sei, Verzweiflung, Ängste und Ressentiments auf Fremde projizieren, schalten sie nicht nur die Konkurrenz aus, sondern »sie versuchen, sich von ihrem eigenen Ausgebeutetsein zu distanzieren. Sie hassen sich selbst als Proletarier oder als Menschen, die in die Mühle der Proletarisierung geraten sind« (ebd.). Eine zentrale These in Balibars Theorie ist, dass der klassenstrukturierte Kapitalismus ›rassische‹ Zuordnungen brauche. Hier greift Balibar ein bekanntes ideologiekritisches Argument auf: Zwar propagierten die bürgerlichen Revolutionen die Egalität aller Menschen, doch stehe diese Idee im Widerspruch zur Realität, zur nicht verwirklichten Gleichheit in dieser Gesellschaft (vgl. Balibar 1990a: 253). Der daraus resultierende Widerspruch zwischen Postulat und faktischer Ungleichheit, den das System der Lohnarbeit hervorbringe, werde scheinbar aufgelöst durch biologische Zuordnungen. Ähnlich wie Miles erkennt auch Balibar Naturalisierung als zentrales Moment der Herrschaftslegitimation: So lege die Behauptung angeborener Fähigkeiten den Menschen auf die Erfüllung bestimmter Funktionen innerhalb einer Ordnung fest. Wo sozial produzierte Unterschiede falsch als Veranlagung biologisiert werden, da komme es zu einer ideologischen Verstellung: Was Resultat sozial produzierter Ungleichheit ist, diene dann zu ihrer pseudonatürlichen Rechtfertigung. Diese Strategien teilen Menschen in zwei Gruppen, so Balibar: Da sind die ›normalen‹ Menschen, die von der Idee der Gleichheit – und damit von der Staatsbürgerschaft – eingeschlossen seien und dort jene, die davon ausgeschlossen werden (vgl. ebd.: 253f.) »Der herrschenden Klasse und den unteren Klassen selbst geht es darum, daß der Klassen-Rassismus dies leistet: er hat den Bevölkerungsgruppen generische Merkmale anzuheften, die kollektiv für die kapitalistische Ausbeutung vorgesehen sind oder für sie in Reserve gehalten werden […]. Von Generation zu Generation muß er diejenigen ›an ihrem Platz halten‹, die keinen festen Platz haben und eben darum eine Genealogie brauchen.« (Balibar 1990a: 257) Klassenabwertung ist für Balibar eine Form des Rassismus. Denn er bezeichnet die Behauptung, dass manche Menschen zu ermüdenden und schmutzigen Arbeiten natürlich veranlagt seien (Menschen mit körperlicher Kraft, aber wenig Intelligenz) als »institutionelle Rassierung« (Balibar 1990a: 254; Herv. i.O.) der manuellen Arbeit. Ergänzt werde diese Naturalisierung durch eine weitere rassistische Annahme: dass genau jene Menschen zudem eine angeborene Neigung zur Faulheit hätten und sie folglich der Anleitung und Führung bedürften. Die industrielle Revolution führte, so Balibar, nicht nur

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Mit Signifikant meint Balibar hier die im Klassen-Rassismus auftretenden negativen Attribuierungen von körperlich schwer arbeitenden Menschen.

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zur Verachtung der körperlichen Arbeit, insbesondere der »mechanisierte[n] körperlichen Arbeit« (ebd.: 254f.). Dieser Klassen-Rassismus bedeutet für die Mehrheit der Arbeiter:innenklasse eine »kastenmäßige Geschlossenheit« (ebd.: 256), da soziale Mobilität weitestgehend ausgeschlossen bleibt. Balibar spricht hier von einem klassenbezogenen generationellen Effekt. So weise Klassenzugehörigkeit eine »gewisse soziale Erblichkeit« (ebd.: 257; Herv. i.O.) auf. Mit der Beobachtung einer derartigen sozialen Erblichkeit hat auch Didier Eribon gute 25 Jahre nach Balibars These in seiner gesellschaftsanalytischen Autobiographie Rückkehr nach Reims (2016) argumentiert. Eribon bringt diese Beobachtung auf die Begriffe des »sozialen Determinismus« bzw. von »sozialem Schicksal« (Eribon 2016: 44, 46). Der begrifflich an Bourdieu geschulte Eribon schildert in vielen eindringlichen Szenen, wie sehr wir von klein auf durch unsere Familie und die Milieus, in denen wir aufwachsen, geprägt werden. Mehr noch: Diese Prägungen bestimmen, wer wir werden und wo wir unseren Platz im Leben finden können (vgl. ebd.). Eribon identifiziert die soziale Erblichkeit eben nicht allein in der Weitergabe kognitiver Muster, weltanschaulicher Deutungen. Er schreibt auch klassenspezifische Körpergeschichte: »Das Wort ›Ungleichheit‹ ist eigentlich ein Euphemismus, in Wahrheit haben wir es mit nackter, ausbeuterischer Gewalt zu tun. Der Körper einer alternden Arbeiterin führt allen die Wahrheit über die Klassengesellschaft vor Augen.« (Ebd.: 78) Die Beweisführung, nach der »die rassistischen Darstellungen der Geschichte von Anfang an mit dem Klassenkampf verknüpft sind« (Balibar 1990a: 251), gehört zu Balibars herausragenden Beiträgen für eine materialistische Rassismusforschung. Er verweist damit auf den historischen Umstand, dass ›Rasse‹ erst nachträglich ›ethnisch‹ besetzt wurde. Erst später, so Balibar, wurde der Rassebegriff ›ethnisiert‹ indem er auf die Bevölkerung in den Kolonialgebieten angewendet wurde. Und erst später hat er sich mit dem Nationalismus verbunden. Mit der ›Ethnisierung‹ des Rassismus wurden nicht nur einzelne Klassen innerhalb einer Gesellschaft für ›rassisch‹ minderwertig erklärt, sondern ganze Gesellschaften (vgl. ebd.: 251). Rassismus beginne also historisch gesehen als Klassenrassismus (Kastensystem). Erst als die Aristokratie mit dem Entstehen der Bourgeoisie um ihre Macht habe fürchten müssen, habe sie das ›blaue Blut‹ erfunden. Zunächst sei der Rassismus ein Verfahren zur Aufwertung der Eigengruppe gewesen, dann richtete er sich gegen Arme und nicht-bürgerliche Gruppen im Inneren der Gesellschaft: Sklavenhafte Darstellungen der unteren Bevölkerungsschichten als niedere ›Rassen‹ erscheinen. Erst im Zuge der Kolonialisierung verschob sich die Idee der biologischen Ungleichheit zwischen den Klassen hin zur Idee kultureller Differenz zwischen ›Rassen‹, die sich nicht mehr im Inneren einer Gesellschaft begegnen (ebd.). Rassistische Vorstellungen wurden fortan nach außen verschoben, geographische Herkunft wurde ihr Bestimmungsmerkmal. All diese Verschiebungen des Rassismus auf unterschiedliche Objekte eint die Vorstellung, dass Menschen durch Kultur und Biologie statt durch das Soziale determiniert seien. In dieser Perspektive wird Rassismus zur »spezifische[n] Verlaufsform sozialer Konflikte« (Tsianos/Karakayali 2014: 34). Die Integration auch der innereuropäischen Rassifizierungspraktiken ermöglicht es der Rassismusanalyse, Arbeit und gesellschaftliche Position als zusammenhängend zu behandeln.

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Der kulturalistische Rassismus Eine weitere durch Balibar für die Rassismusforschung relevant gewordene Verschiebung ist die Beschäftigung mit dem so genannten Neo-Rassismus in seinem Aufsatz Gibt es einen ›Neo-Rassismus‹? (1990). Frantz Fanon hatte schon 1956 auf diese Verschiebung der ideologischen Bezugspunkte des Rassismus hingewiesen (vgl. Fanon 1956: 39f.). Was heißt das konkret? In aktuellen rassistischen Äußerungen wird kaum noch behauptet, dass jemand wegen seiner ›Rasse‹ ›minderwertig‹ sei; vielmehr wird gesagt, jemand habe eine andere Kultur, und diese sei so prägend, dass Veränderungen am Verhalten marginal bleiben müssten. Diese Zuschreibung wird über vermeintliche Gruppen gefällt, was voraussetzt, dass zuvor verschiedene Menschen anhand vermeintlicher Merkmale homogenisiert und als Gruppe zusammengefasst werden müssen. Diese Form des Rassismus behauptet, nicht mehr zu werten – bei Miles ist die Wertung der Übergang von der Rassenkonstruktion zum Rassismus – sondern sie gibt sich ostentativ bestrebt, kulturelle und ethnische Besonderheiten zu bewahren. Was ist aber nun »Neo« am Neo-Rassismus? Wie lässt sich erkennen, dass es sich hier um eine wirklich neue Artikulation handelt, in der sich dauerhaft Praxen und kollektive Vorstellungen verbinden? Zunächst stellt Balibar heraus, dass die Ersetzung des Begriffs der ›Rasse‹ durch den der Kultur oder Immigration nicht einfach nur eine Tarnung sei, um diesen weithin diskreditierten Begriff nicht mehr zu verwenden.12 Auch soziale Strukturveränderungen – er bezieht sich hier auf Frankreich – seien ebenfalls nicht der alleinige Grund. Vielmehr sei der neue Rassismus ein Rassismus der »Epoche der ›Entkolonialisierung‹, in der sich die Bewegung der Bevölkerung zwischen den alten Kolonien und den alten ›Mutterländern‹ umkehrt und sich zugleich die Aufspaltung der Menschheit innerhalb eines einzigen politischen Raumes vollzieht« (ebd.: 28). Dieser neue »Rassismus ohne Rassen« ist, so Balibar, durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Erstens berufe er sich nicht mehr auf biologische Grundlagen, sondern auf die »Unaufhebbarkeit der kulturellen Differenzen«; zweitens behaupte er nicht mehr die Überlegenheit der einen gegenüber der anderen ›Rasse‹, sondern betont lediglich die »Schädlichkeit jeder Grenzverwischung« (ebd.). Von Pierre André Taguieff wird diese Form des Rassismus daher als »differentialistischer« Rassismus bezeichnet (vgl. Taguieff 1991: 227). Dass die Behauptung, im Neo-Rassismus werde Überlegenheit nicht mehr postuliert, aber ein bloßer Schein ist, zeigt Balibar dann am Beispiel der Assimilationspolitik in Frankreich. Die Hierarchie sei schon »in den Kriterien angelegt, die verwendet werden, um die Differenz der Kulturen zu denken« (Balibar 1990: 33), und sie stecke, so Balibar, daher unwillkürlich in der Forderung nach vollständiger Assimilation als Voraussetzung zur Integration (vgl. ebd.: 33). Dass diese Veränderungen in der theoretischen Dimension nicht nur für rassistische Diskurse bedeutsam sind, zeigt ein Blick auf die Konsequenzen für den traditionellen

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Balibar will in dem Beitrag auch zeigen, dass dieser Bezug zur Kultur im Rassismus gar nicht so neu ist. Als Beispiel wählt er den modernen Antisemitismus – eine Wahl, die aus meiner Sicht aus verschiedenen Gründen ungeeignet ist. Es stimmt zwar, dass der moderne Antisemitismus einen erheblichen Überhang an theoretischen Dimensionen enthält, die sich auf Kultur beziehen, aber der moderne Antisemitismus ist nicht einfach ein Fall von Rassismus, wie Balibar hier suggeriert (vgl. Balibar 1990: 32) (vgl. zur Unterscheidung von Rassismus und Antisemitismus das Kapitel 7).

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Antirassismus, der sich seiner antirassistischen Argumente beraubt sieht. Denn was sagt der neue Rassismus? Er gibt zu, dass es keine ›Rassen‹ gibt. Er gibt ebenfalls zu, dass sich Verhalten von Menschen und Gruppen nicht aus deren Blut oder deren Genen ableite, sondern »allein aus ihrer Zugehörigkeit zu ›historischen Kulturen‹« (Balibar 1990: 29). Solche Akzeptanz von Verschiedenheit und Gleichwertigkeit ist doch das zentrale humanistisch-antirassistische Argument gegen staatliche Assimilationsforderungen, für die Förderung von Vielfalt in einer Gesellschaft. Doch diese antirassistische Selbstetikettierung trügt: Denn ein weiteres zentrales Argument bringt der Neo-Rassismus mit der Behauptung hervor, dass alle menschlichen Gruppen bestrebt seien, ihre jeweilige Identität zu bewahren. Balibar erkennt hier eine Naturalisierung kultureller, höchst kontingenter Verhaltensweisen (vgl. ebd.: 30). Das Bestreben mancher Akteure innerhalb dessen, was dem Neo-Rassismus ›Kultur‹ heißt, wird zum anthropologischen Charakteristikum der Menschheit ideologisch verzaubert. Mit dieser Naturalisierung von ›Kultur‹ ist ein weiterer Effekt verbunden: Jede Überschreitung der Differenz löse zwangsläufig »›natürliche‹ Reaktionen« in Form von Aggressivität aus. Der Neo-Rassismus wird zur Erklärung und zum Verhinderer des alten Rassismus (vgl. ebd.). So wird der Neo-Rassismus ganz nebenbei zu einer Theorie über ›Rassen‹-Beziehungen, in der rassistisches Verhalten durch die Überschreitung von »›Toleranzschwellen‹« und einer Verletzung von natürlichen Distanzbedürfnissen erklärt wird. Der Anti-Rassismus bringt gemäß dieser Logik den Rassismus erst hervor, weil er eben diese natürlichen Kontaktgrenzen missachte (vgl. ebd.: 30f.). Balibar geht aber mit seinem Begriff des Neo-Rassismus noch weiter: Er hat in seinen Arbeiten drei verschiedene Stufen der Entwicklung des Rassismus nachgezeichnet: einen inner-europäischen Klassen-Rassismus, den außereuropäischen Rassismus im Zuge der Kolonialisierung und schließlich die Entwicklung eines neuen Rassismus im Landesinneren in der Phase der Entkolonialisierung. Als, wie es Vassilis Tsianos und Juliane Karakayali ausdrücken, »spezifische Verlaufsform sozialer Konflikte« (Tsianos/ Karakayali 2014: 34) werde sich der Rassismus auch künftig an Verschiebungen kapitalistischer Konstellationen anpassen. Balibar spricht von einer möglichen Ära des PostRassismus: »Es kann durchaus sein, dass die gegenwärtigen Varianten des Neorassismus nur eine ideologische Übergangsformation bilden, der es bestimmt ist, sich in Richtung auf soziale Diskurse und Techniken weiterzuentwickeln, in denen die Dimension der historischen Erzählung genealogischer Mythen (und damit das Spiel der Substitutionsverhältnisse von Rasse, Volk, Kultur und Nation) relativ zurücktritt gegenüber der Dimension psychologischer Bewertungen intellektueller Fähigkeiten und der ›Disposition‹ zu einem ›normalen‹ gesellschaftlichen Leben […].« (Balibar 1990: 35) Mit dieser Vision eines ›Rasse‹- und kulturfreien Rassismus – Balibar knüpft hier an Foucaults Biomacht-Konzept an – ist er nicht allein. Ähnlich argumentiert auch Wolfgang Fritz Haug in einer Arbeit, in der er diese Entwicklung abweichend von anderen Verwendungsweisen innerhalb der Rassismusforschung als Neo-Rassismus bezeichnet: Naturalisierung und Biologisierung jener sozialen Unterschiede, die ein nun globaler, postkolonialer Kapitalismus, der Wissen und Kompetenz fordere, täglich im Inneren und Äu-

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ßeren hervorbringe. Gemessen an Balibars Stufen des Rassismus verwendet Haug den Begriff des Neo-Rassismus für Balibars prognostizierte (vierte) Stufe. Haug fasst unter Neo-Rassismus die Auslese in der Konkurrenz ganz jenseits der Hautfarbe. Nicht einige ›Rassen‹ seien privilegiert, sondern Auslese herrsche universell in der gesamten Gesellschaft, auch über die einstigen rassistischen Privilegierungen hinweg. ›Rasse‹ in ihrer ›geläufigen‹, also den ›Fremden‹, den ›Anderen‹ abwertenden Form, tauche nur noch an den Stammtischen auf (vgl. Haug 1992: 42–44). Mit Haugs Charakterisierung von NeoRassismus als der Auslese der ›Minderwertigen‹ in jeder ›Ethnie‹ wird Rassismus zum Funktionsprinzip des Kapitalismus schlechthin und die Spezifik des Rassismus gegenüber anderen Diskriminierungen und Ausgrenzungen verliert sich. So einleuchtend und deutungskräftig das mit ganz großem Strich von Balibar und Haug gezeichnete große Panorama sein mag – von der innereuropäischen Klassendistinktion über den Kolonialismus und die Arbeitskraftvernutzung der Immigranten zu neuesten Formen des ›farbenblinden‹ Kapitalismus: Ich halte einen derart weit gefassten Rassismusbegriff, wie Haug ihn an Balibar anschließt, analytisch für kaum noch brauchbar. Er gerät zur Tautologie kapitalistischer Grundprinzipien, kapitalistischer Ungleichheitsproduktion.

Rassismus, Nationalismus und Sexismus Für Balibar wie auch schon für Miles ist die Frage nach dem Zusammenhang von Rassismus und Nationalismus von besonderem Interesse, da der »in bestimmten politischen Bewegungen organisierte Nationalismus, zumindest in einem ausgebildeten Nationalstaat, unweigerlich mit Rassismus einhergeht« (Balibar 1990b: 49). Ein Ursache-Verhältnis wäre die Annahme, dass der Nationalismus die zwingende Voraussetzung für den Rassismus sei; ein Rückwirkungs-Verhältnis wäre die etwas abgeschwächte Variante, dass der Nationalismus die Entstehung des Rassismus begünstige (vgl. ebd.: 49f.). Zunächst nähert sich Balibar der mehrdeutigen Kategorie des Nationalismus. Obwohl in jedem Nationalismus ein repressives Moment stecke, sei es nicht opportun, den Nationalismus der Beherrschten, der auf Befreiung ziele, gleichzusetzen mit dem der Herrschenden, der nach Eroberung trachte. Balibar, der nicht nur marxistisch, sondern auch diskurstheoretisch geprägt ist, begründet nun die Schwierigkeit, den Nationalismus zu definieren, mit der Zeichentheorie des Strukturalismus: Der Begriff Nationalismus stehe niemals für sich; er sei Teil einer »Kette« anderer, dem Nationalismus verwandter Begriffe, wie Patriotismus, Populismus, Ethnozentrismus, Fremdenfeindlichkeit usw. (vgl. Balibar 1990b: 59). Charakteristisch für den Begriff Nationalismus sei zudem, dass er in einen »›guten‹ und einen ›schlechten‹ Nationalismus« aufgeteilt werde: ›gut‹, sei der Nationalismus, der Menschen ermuntere, für ihr ›Vaterland‹ zu sterben; ›schlecht‹ sei derjenige, der für das ›Vaterland‹ zu töten veranlasst. Nach Balibar seien diese beiden Facetten aber nicht voneinander zu trennen. Auch im Rassismus findet sich etwas von dieser künstlichen Spaltung: ein Rassismus, der sein Territorium, die kulturelle Identität zu verteidigen vorgibt, wäre der ›gute‹; ein Rassismus, der direkte Gewalt ausübt, der ›schlechte‹ (vgl. ebd.: 61). Rassismus stelle eine »notwendige Tendenz« für die Herausbildung von Nationalismen dar, der auf umstrittenen Territorien Bevölkerungsgruppen kontrolliere und eine über Klassenspaltungen hinwegtäuschende, politische Gemeinschaft – das ›Volk‹ – erst schaffe (vgl. ebd.: 62).

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Balibar vertritt, wie gesehen, einen weiten Rassismusbegriff und sucht diesen mittels vier Bestimmungen zu umreißen: Keine Nation, so die erste These, habe eine ethnische Basis. Das, was für natürlich gehalten werde, sei konstruiert. Weder ›Rassen‹, noch ›Völker‹ haben eine gemeinsame Abstammung oder seien eine Kulturgemeinschaft. Ihre imaginäre Einheit werde gegen reale Einheiten hergestellt. Mit der zweiten These drängt Balibar darauf, dass Rassifizierung im Zusammenhang mit anderen Herrschaftsformen wahrgenommen werden müsse. ›Rasse‹ sei nur eine Kategorie weiterer Rassismen, wie dem sexuellen Rassismus (vgl. Balibar 1990b: 63). Balibar betont, dass diese Subsumierung weiterer Gruppen unter das Label Rassismus nicht die Präzision des Rassismusbegriffs gefährde, sondern im Gegenteil zu seiner Konkretion beitrage, der die »notwendig polymorphe Struktur des Rassismus, seine globalisierende Funktion sowie seinen Zusammenhang mit den gesamten Praktiken der sozialen Normalisierung und Ausgrenzung« (ebd.: 63) berücksichtige.13 In der dritten These spricht Balibar über die »umfassende Struktur des Rassismus« bestehend aus »Phantasmen, […] Diskursen und Verhaltensweisen, die in einem notwendigen Zusammenhang mit dem Nationalismus« (ebd.) stünden. Diese Struktur des Rassismus stelle jene »fiktive Ethnizität« (ebd.) her, um die sich der Nationalismus aufbaue. In der vierten These – Gleichheit sei eine Gleichheit der Nationalität – thematisiert er den Widerspruch, dass Rassismus in Gesellschaften auftrete, die offiziell als egalitär gelten. Egalität herrsche aber nur innerhalb des Nationalstaates, vermittelt über das Staatsangehörigkeitsrecht (vgl. ebd.: 64). Nationalismus und Rassismus werden historisch unterschiedlich verknüpft. Es gebe keinen einfachen Kausalitätszusammenhang (vgl. Balibar 1990b: 64). Stattdessen spricht Balibar von einer »wechselseitigen Determination von Nationalismus und Rassismus« (ebd.: 67). In manchen Einzelfällen gehe der Rassismus aus dem Nationalismus hervor, ein anderes Mal sei es umgekehrt. Beispielhaft führt er die spanische Reconquista an, wo aus dem theologischen Antijudaismus ein Rassismus wurde, indem die Kategorie »raza« als Aufweis der »›Reinheit des Blutes‹« eingeführt wurde. Ein anderes Beispiel für eine solche Determination ist nach Balibar die im Antisemitismus geltende Vorstellung von den Juden als Feind aller Völker, weil sie als »Pseudo-Ethnie« betrachtet wurden. Diese Vorstellung diene der Schaffung eines gemeinsamen Feindbildes, dass es brauchte, als die Nationalstaaten sich im 19. und 20. Jahrhundert jeweils eine politische und kulturelle Einheit gaben. Schließlich manifestiere sich die Determination von Rassismus und Nationalismus auch in der Geschichte der nationalen Befreiungsbewegungen, die in ihrem Streben nach nationaler Unabhängigkeit auch rassistische Ausgrenzung praktizierten (vgl. ebd.: 67f.). Diese Einzelfälle seien nach Balibar historisch miteinander verflochten. Nationalismus wäre so nicht ein »›Ausdruck‹ des Rassismus«, sondern dessen Ergänzung (ebd.: 69). So wie der Kapitalismus nach Balibar, den Rassismus hervorbringe, weil sein partikularistischer Charakter die Überausbeutung rassifizierter Menschen im Kapitalismus ermögliche, so sei auch der Sexismus vom Kapitalismus erzeugt. Der Grund dafür sei

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Mit einem ähnlich entgrenzten Rassismusbegriff arbeitet auch Albert Memmi, wenn er als Oberbegriff die Heterophobie vorschlägt, unter den alle möglichen Formen der Ausgrenzung subsumiert werden (vgl. Memmi 1982). Mit so einem weiten Begriff geht m.E. jedoch die Spezifik der jeweiligen Phänomene verloren.

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die enge Verbundenheit von Rassismus und Sexismus. Die niedrigen Löhne der ethnisierten Arbeiter:innenschaft seien nur deshalb möglich, weil diese Löhne bloß einen Teil des Haushaltseinkommens darstellen, das in diese Haushaltsstrukturen fließe. »Solche Haushalte erfordern einen extensiven Aufwand für die sogenannten Subsistenzarbeiten, die zum Teil natürlich von den männlichen Erwachsenen, in viel größerem Maße aber von den Frauen, und nicht zu vergessen, den Alten und Jungen beiderlei Geschlechts ausgeführt werden müssen.« (Balibar 1990c: 46) Der Kapitaleigner könne somit sogar ohne Beschäftigungsverhältnis aus der unbezahlten Arbeit der ›Hausfrau‹ Mehrwert abschöpfen, weil ihre Arbeit nicht als Arbeit gilt und somit nichts koste. Unbezahlte Arbeit kompensiere so den niedrigen Lohn. Rassismus und Sexismus dienen hier also dem Ziel, die jeweiligen Menschen in diesem (schlecht bezahlten14 ) System der Arbeit zu halten (ebd.: 46f.). Die Darstellung der Verwobenheit des Rassismus mit anderen Ausgrenzungspraktiken trägt häufig zu Konkretion bei, wo wie hier konkrete Lebensformen beschrieben werden. Das ist Balibars Qualität – seine heuristische ›Brille‹, alle soziale Herrschaft als unendlich differenzierte und vermittelte Ausbeutung von Arbeitskraft kenntlich zu machen, Rassismus und Sexismus in diesen Funktionszusammenhang einzuordnen, überbietet Perspektiven, die Rassismus allzu künstlich als besonderen Aspekt solcher Lebensverhältnisse isolieren. Im Unterschied zu Miles verschmilzt Rassismus bei Balibar vollständig mit anderen Ausgrenzungs- und Herrschaftsformen. Das Anliegen, Rassismus in größere gesellschaftliche Zusammenhänge einzuordnen, führt allerdings zu einer Unkenntlichmachung seiner Spezifik. Balibars Unterordnung anderer Ausgrenzungspraktiken unter den Begriff des Rassismus halte ich darum für analytisch irreführend.

4.1.3 Stuart Halls Cultural Studies Die britischen Cultural Studies15 (nachfolgend CS), deren Perspektive auf den Rassismus im Folgenden vorgestellt wird, waren ursprünglich ein Forschungsprojekt am so genannten Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies (nachfolgend CCCS). Im Blick stand die Bedeutung der ›Kultur‹ in Alltagspraxen seit den 1960er Jahren – und nicht zuletzt die in diesen Praxen diskursiv vermittelte Dimension des Rassismus.16 Die CS sehen aufgrund des historischen Kolonialismus eine tiefe Verwurzelung des Rassismus in der britischen Bevölkerung. Sie betonen die Wandlungsfähigkeit des Rassismus vor dem Hintergrund der jeweils aktuellen politischen und sozialen Situation. Je nach Zeitgeist könnten rassistische Vorstellungen und Argumente neu arrangiert werden (vgl. Hall 2000: 44f.). Als wichtigste »Störung« der theoretischen Gewissheiten der 14

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Gesellschaftskritik, die sich auf Marx bezieht, enthält sowohl reformerische wie revolutionäre Elemente. Reformerisch ist sie, wo sie den schlechten Lohn skandalisiert und für eine Verbesserung der Lebensumstände der Arbeitenden eintritt; revolutionär bleibt ihr Anspruch auf Abschaffung der Lohnarbeit. Es gibt viele weitere Theorieprojekte in Großbritannien, den USA, Australien oder Europa, die sich Cultural Studies nennen. Einen guten Überblick bietet der Band Schlüsselwerke der Cultural Studies (2009) von Andrea Hepp, Friedrich Krotz und Tanja Thomas. Vgl. zu Halls Rassismusanalyse auch: Marz 2020: 159–180.

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CS nennt Hall den sogenannten »linguistic turn«: »die Anerkennung der Textualität und der kulturellen Macht der Repräsentation selbst, als ein Ort der Macht und Regulation; des Symbolischen als einer Quelle von Identität« (ebd.: 45). Solche Auffassungen sind das Ergebnis der Begegnung der CS mit der strukturalistischen und poststrukturalistischen Theorie. Entsprechend lässt sich die zentrale Frage der CS formulieren: Wie funktioniert ›Rasse‹ im sprachwissenschaftlichen Verständnis, was ist der rassistische Diskurs? Für Hall sind ›schwarz‹ und ›weiß‹ nicht natürlich, sondern in politischen und kulturellen Zusammenhängen konstruiert. Hall spricht in Anlehnung an Derridas Grammatologie von einer »Grammatik der Rasse« in ihren verschiedenen Elementen (vgl. Hall 1982: 527). Als Bedeutungssystem ermögliche es Rassismus, »die Welt zu strukturieren und bedeutungsvoll zu klassifizieren« (Hall 1994: 57). Rassismus helfe dabei, die Welt in definierten rassistischen Begriffen wahrzunehmen. Und diese rassistisch definierten Begriffe errichten unüberschreitbare symbolische Grenzen. Diskursive Praxis entscheidet, wer dazu gehört und wer nicht.

Der rassistische Diskurs Ich will den Schwerpunkt der folgenden Darstellungen auf Halls Ausführungen zu ›Rasse‹, Ethnizität und Nation legen, die er 1994 in seinen Du Bois Lectures17 dargelegt hat. Dabei interessiert sich Hall für folgende Fragen: Wie ist mit den biologischen Spuren des Rassendiskurses umzugehen? (vgl. Hall 1994: 63) Warum leben die rassistischen Klassifikationssysteme trotz des unabweisbaren Befundes, dass es keine Rassen gibt, fort? (vgl. ebd.: 66) Wie funktioniert ›Rasse‹ im sprachwissenschaftlichen Verständnis als Signifikant (der in der Wirklichkeit keine reale Entsprechung hat), »gegenüber ihrer tödlichen Funktion in der Wirklichkeit und ihren realen Auswirkungen« (ebd.: 67)? Was ist auf die Behauptung zu erwidern, dass wir »wir einfach nur unseren Augenschein heranziehen müssen« (ebd.: 68), um ›rassische‹ Unterschiede erkennen zu können? Hier, im Jahr 1994, formuliert Hall sein Verständnis von ›Rasse‹ stringent diskurstheoretisch: »Der Offensichtlichkeit all dieser Punkte aus der Perspektive des Alltagsverstandes möchte ich dennoch das skandalöse Argument entgegenhalten, dass Rasse gesellschaftlich, historisch und politisch gesehen ein Diskurs ist, dass sie wie eine Sprache funktioniert, wie ein gleitender Signifikant, dass ihre Signifikanten nicht auf genetisch verbürgte Tatsachen, sondern auf jene Bedeutungssysteme referieren, die in den Klassifikationen der Kultur fixiert worden sind, und dass diese Bedeutungen reale Konsequenzen nicht etwa aufgrund irgendeiner Wahrheit zeitigen, die ihrer wissenschaftlichen Klassifikation inhärent ist, sondern aufgrund des Willens zur Macht und des Wahrheitsregimes, welche in den sich wandelnden Diskursbeziehungen institutionalisiert sind, die solche Bedeutungen mit unseren Begriffen und Ideen im Signifikationsfeld herstellen.« (Hall 1994: 68) Der rassistische Diskurs formiere die biologischen Unterschiede zwischen Menschen und mache sie so erst bedeutungsvoll. Weder behauptet Hall also, dass rassistische Klassifikationssysteme ein Abbild biologischer Differenzen geben würden, noch, dass äußere Unterschiede zwischen Menschen sich auf einer rein textuellen oder sprachlichen Ebene 17

2018 sind die Vorlesungen unter dem Titel Das verhängnisvolle Dreieck auf Deutsch erschienen.

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vollziehen und keine materielle Entsprechung hätten. Hall konzediert, dass es »natürlich materielle Differenzen aller Art in der Welt gibt« (ebd.: 72). Erst in der Ordnung und Klassifikation von ausgewählten Unterschieden aber bekommen die Unterschiede Bedeutung18 ; erst der Diskurs erschafft die ›Rasse‹, von der doch ständig behauptet wird, sie sei schon in der Natur vorhanden und entsprechend vom klassifizierenden wissenschaftlichen Blick erkenn-, entdeck- und beweisbar. Körperbeschreibungen sind stets sozial eingebettet, d.h. sie sind von der diskursiven Position des Beschreibenden bestimmt. Mit einem diskursiv orientierten Rassismusbegriff wird die Frage nach der Wahrheit von ›Rasse‹ irrelevant. Zwar will Hall den Begriff der Natur nicht ganz aufgeben, kann aber über deren Ursprung nichts sagen. Die Frage danach, ob es jemals einen prädiskursiven (nicht rassifizierten) Körper gab, ist in seinen Augen nicht zu beantworten. Soziologie könne sich lediglich mit den Folgen der Naturalisierung des Sozialen beschäftigen, nicht mit der ›Natur‹ ihrer Gegenstände (vgl. Hall 1994: 72). Hall geht es also darum, zu verdeutlichen, dass die natürlich vorfindlichen Differenzen zwischen Menschen im rassistischen Diskurs bedeutsam gemacht werden und – das ist der zweite wichtige Punkt – die in dieser Konstruktion hervorgehobenen Differenzen dann über Geschichte und Kultur gestellt werden. Soweit deckt sich sein Verständnis von Rassismus durchaus mit dem von Robert Miles. Der gemeinsame Nenner zwischen Miles und Hall ist es demnach, Rassismus als soziale Praxis zu bestimmen, die zunächst eine Rassenkonstruktion dadurch vollzieht, dass sie bestimmte Merkmale als ›rassisch‹ entscheidend aufwertet – um dann Behauptungen von bestimmten Eigenschaften und Entwicklungsmöglichkeiten der so bestimmten ›Rasse‹ folgen zu lassen. Diskursorientierte Rassismusforschung jedoch analysiert – anders als Miles es tut – jene Mechanismen (die Menschen glauben lassen, etwas Soziales wie ›Rasse‹ sei natürlich) als Wissensgestalten. Der Blick richtet sich jetzt auf die innere Organisation und die innere Gesetzmäßigkeit von Wissen, nicht mehr zuvorderst auf die Funktion seiner Inhalte in gesellschaftlichökonomischer Logik. Eine dieser Wissensgestalten ist seit der Aufklärung die Wissenschaft als »Trägerin der Imperative der Wahrheit« (Hall 1994: 75). Als die Europäer:innen in Kontakt mit anderen, ihnen fremden ›Kulturen‹ kamen, fragten sie sich, ob es sich bei den Menschen, die sie trafen, um ›echte‹ Menschen handele. Die Differenz wurde zunächst an der Gegenüberstellung von ›den Europäer:innen‹ und ›den Anderen‹ behauptet. Mit der Aufklärung erreichte die Differenzierung ein neues Niveau. So wurde die bis dahin verbreitete binäre Unterscheidung durch die Einstufung in unterschiedliche Zivilisationsgrade erweitert: »Erst mit der Aufklärung – unter deren panoptischem, universalistischem Blick alle Abstufungen menschlicher Differenz im Diskurs der Naturphilosophie als Teile eines einzigen Systems repräsentiert wurden – ging die diskursive Kennzeichnung von Differenz an einen neuen Ort über […].« (Ebd.: 76) Differenzsetzungen unterschieden nun nach diversen Graden, Stufen, Niveaus von »›Zivilisation‹ und ›Barbarei‹« (ebd.) innerhalb eines einzigen Klassifikationssystems. Die originär wissenschaftliche Entschie18

Der rassistische Diskurs greift nur bestimmte somatische Unterschiede heraus und lässt andere unerwähnt – diese Überlegung findet sich auch bei Robert Miles, wenn er schreibt, dass nicht alle körperlichen Merkmale zum Bedeutungsträger werden (vgl. Miles 2000: 21).

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denheit zur Systematisierung und Differenzierung konstituiert hier ›Rasse‹ als Diskurs. Rassismus entsteht in dieser Perspektive nicht mehr aus der – systematisch verzerrten und gesellschaftlich dann funktionalisierten – Wahrnehmung von Unterschieden; er ist zu erklären aus den inneren Form- und Strukturgesetzen einer bestimmten Variante des Wissens. Rassismuskritik wird Wissenssoziologie. Poststrukturalistische Einflüsse finden sich in Halls Analysen auch, wo er Ernesto Laclaus Motive integriert. Mit dessen Überlegungen will Hall verstehen, warum sich die Vorstellung des Biologischen auch im neo-rassistischen Diskurs so hartnäckig hält. Hilfreich scheint für Hall hierbei Laclaus Begriff der Äquivalenzketten: Der Begriff der Äquivalenzkette erfasst scheinbar selbstverständliche gedankliche Verknüpfungen im Alltagsbewusstsein. Im Fall des Rassismus ist es die Verknüpfung von Natur und Kultur. Und mit Antonio Gramscis Hegemoniekritik wiederum soll die Herstellung und Akzeptanz solcher Äquivalenzketten verstanden werden. Damit Menschen rassistische Teilungen akzeptieren, ›erklären‹ hegemoniale Diskurse beispielsweise, warum wer an welchem Platz in einer Gesellschaft ist. Die ›rassische‹ Repräsentierung der Menschen in einer Gesellschaft erscheine mittels Naturalisierung, also »kraft der Natur als gerechtfertigt, verbürgt und somit als dauerhaft, fixiert, unbeweglich und transhistorisch« (Hall 1994: 80). Hall zweifelt daran, dass das Biologische gänzlich aus dem rassistischen Diskurs verschwinden kann, da die Verknüpfung von Natur und Kultur im rassistischen Diskurs so stark sei. Warum aber wurde gerade die Hautfarbe zum entscheidenden Differenzierungsmerkmal zwischen den konstruierten ›Rassen‹? Eine naheliegende Antwort des Alltagsbewusstseins deutet auf ihre Großflächigkeit und eindeutige Sichtbarkeit für das menschliche Auge. Hall, der an dieser Stelle auf Frantz Fanons Schwarze Haut, weiße Masken (1952) verweist, zeigt, wie auch ›schwarze‹ Menschen den Blick des »weißen Auges«19 (Hall 1982) übernehmen und ihren Körper selbst einem rassifizierenden Blick unterwerfen. »Diese Zersplitterung ins Dinghafte, die Fixierung der schwarzen Person in der weißen Maske als Ergebnis des Blicks werde von demjenigen erzeugt, was Fanon als Prozess der Epidermisierung bezeichnet: die Einschreibung rassischer Differenz in der Haut.« (Hall 1994: 83; Herv. i.O.) Diese »Epidermisierung« (Fanon 1952: 11) bildet schließlich den Endpunkt der Konstruktion einer Wahrheit – die Wahrheit, die über ›Rasse‹ gewusst wird. Der ›schwarze‹ Körper fixiert die Bedeutung von ›Rasse‹ als »transzendentaler Signifikant«20 (Hall 1994: 84). Weil allerdings Hautfarbe, Haarwuchs oder Körperbau als ›logische‹, nämlich sichtbare Ausgangspunkte von Rassifizierungen im Alltag selbst jeweils Bedingtes sind – nämlich Produkt des genetischen Codes – sind sie für Hall »selbst nichts anderes als die Signifikanten eines unsichtbaren Codes« (Hall 1994: 84): der Gene. Diese entziehen sich der Alltagswahrnehmung und sind nur den Naturwissenschaften zugänglich. Aber:

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Als »weißes Auge« bezeichnet Hall einen ungenannten Standort, von dem aus Beobachtungen gemacht werden (vgl. Hall 1982: 527). Wenn der ›schwarze‹ Körper ein Signifikant ist, ist eine beispielsweise spezifische rassistische Zuschreibung seine Bedeutung. Als Zeichen verweist der ›schwarze‹ Körper auf einen ›weißen‹ Körper, sonst wäre das Spezifikum des ›Schwarzseins‹ völlig irrelevant.

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Was das Alltagsbewusstsein sieht, gilt als wahr.21 Aneinander gereiht wie Perlen in der Äquivalenzkette, so Hall, verbänden sich Hautfarbe, Haarwuchs und Körperbau mit Differenzen in der Kultur, den intellektuellen Kompetenzen, Temperamenten, gesellschaftlichen Errungenschaften. Diese Äquivalenzketten machten auf einer diskursiven Ebene die Verbindung von Physiologie und Kultur wirksam. ›Zivilisation‹ und ›Barbarei‹ erscheinen so als logisches Abbild der Biologie. Es sind diese sozialhistorischen Assoziationen in den Äquivalenzketten, die für Hall naturwissenschaftliche Belege der Nichtexistenz von ›Rassen‹ so machtlos machen (vgl. ebd.: 85f.). Wir können nach Hall noch so oft in antirassistischer Absicht die Existenz von ›Rassen‹ verneinen – die diskursiv hergestellten Äquivalenzketten machen die ›Rasse‹ real. » [Sie] hat auch genau aus diesem Grund eine Wirklichkeit (obgleich sie eigentlich ›nur ein Diskurs ist‹), da sie rassische Effekte zeitigt – materielle Effekte in Bezug darauf, wie Macht und Ressourcen verteilt werden, symbolische Effekte darauf, wie Gruppen im Verhältnis zueinander hierarchisiert werden und psychische Effekte, die den Innenraum der Existenz jedes Subjekts bilden, das von ihr konstituiert wird und ins Spiel ihrer Signifikanten verstrickt ist.« (Hall 1994: 90) Das sei die Materialität des Diskurses. Die Identität eines Menschen wird nicht durch seine Hautfarbe geprägt, wohl aber vom gesellschaftlichen Diskurs um Hautfarbe und von den konkreten Konsequenzen, die mit diesem Diskurs verbunden sind. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Rassismus aus Halls Perspektive Menschen durch diskursive Praktiken platziert – sie fixiert in den ihnen zugewiesenen Identitäten. Rassismus polarisiert und spaltet durch seine Simplifizierungen die Kulturen. Er betont die Unterschiede und spielt Gemeinsamkeiten herunter. Dabei wird der ›Andere‹ stets zur Formierung des Eigenen benötigt. Diese Formierung des Anderen bezeichnet Hall in Anlehnung an Fanon als »symbolische Gewalt« (Hall 1994: 92). Rassismus setzt Grenzen und hilft somit, Innen und Außen getrennt zu halten. Rassismus kann das Gefährliche, Bedrohliche, Beängstigende und Phobische nach außen verweisen. Was da genau hin- und hergeschoben wird, kann sich historisch ändern, weshalb Hall ›Rasse‹ als »gleitenden Signifikanten« bezeichnet (vgl. ebd.: 92f.). Dennoch sei in diesen Projektionen immer auch etwas Nostalgisches bewahrt; eine Nostalgie »die nie weit entfernt ist und das heimliche Begehren der sogenannten zivilisierten Gesellschaften nach der erotischen Macht des Körpers, nach einem Repertoire an emotionalen Ausdrucksmitteln, nach würdevoller Leidensfähigkeit und rhythmischer Kraft – also nach essentieller Differenz – einschreibt, die in der ›zivilisierten Welt‹ offenbar verloren gegangen ist.« (Hall 1994: 94) Dieses Angewiesensein des Eigenen auf das Andere im Rassismus mittels der essentialisierenden Projektion kehrt wieder in antirassistischen Politiken. Vielfach verwenden auch antirassistische Widerstandspolitiken einen essentialisierenden Rassebegriff, 21

Hall bemerkt, dass sich an dieser Stelle Rassismus und Sexismus sehr nahekommen, weil auch der Sexismus die Unterschiede den evidenten Unterschieden der Körper entnimmt und sogleich »soziale und kulturelle Bedeutungen auf biologische Weise zu fixieren sucht« (Hall 1994: 90).

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wenn sie die negativen Zuschreibungen der Rassist:innen positiv umwenden und ›Schwarzen‹ eine »positive, besondere, privilegierte oder sogar exzeptionelle Stellung in der Menschheitsgeschichte« (Hall 1994: 95) zusprechen, die durch das biologische Erbe weitergegeben wird. So argumentierte einst die Négritude-Bewegung. Mit Halls Diskursbegriff lässt sich zeigen: Die politischen und sozialen Praktiken von Bewegungen, die sich essentialistisch fundieren, verbleiben selbst in den Logiken des Rassismus.

Ethnizität und Nation Weil ›Rasse‹ Element eines diskursiven Systems ist, so die CS, unterhält es Beziehungen zu anderen Formen kultureller Differenz. Zu diesen Formen gehört auch die Ethnizität als Kategorie, die – anders als die biologistische Kategorie ›Rasse‹ – für eine kulturelle Differenzierung von Menschen steht. Als Teil eines Differenzdiskurses führt auch sie zu Ausschlüssen und Verallgemeinerungen. Differenzdiskurse vollziehen sich auf dem »Feld der Herstellung bedeutungsvoller Unterscheidungen« (Hall 1994: 102). Sie sind mit Macht verbunden, die zu realen und symbolischen Unterordnungen führt. Interessant sind für Hall die Unterscheidungen, die von westlichen oder ›weißen‹ Identitäten getroffen werden und die die Andersheit ihres Gegenübers beispielsweise als ›Barbaren‹ im Kontrast zu den ›Zivilisierten‹ konstruieren. Hall nennt dies den Euro- oder Westzentrismus, in dem der Rassendiskurs den Körper des Anderen pathologisiere und fetischisiere. Aus der Einsicht, dass ›Rasse‹ keine Fundierung in der Natur findet, sondern ein kulturell gewachsenes diskursives Produkt zur Konstruktion von Andersheit ist, resultierte ihr Ersatzbegriff. Ethnizität schien als Begriff geeignet, da mit ihr gewachsene kulturelle Differenz, Sprache, Traditionen, religiöse Überzeugungen, Sitten, greifbar wurden – ohne auf den verpönten Rassebegriff zurückzugreifen (vgl. ebd.: 102–104). Der Begriff der Ethnizität steht bildlich gesprochen zwischen ›Rasse‹ und Nation. Aber er löst nicht die Probleme, die das Konstrukt der ›Rasse‹ hervorgebracht hat. Denn auch Ethnizität ist essentialisierbar; auch mit ihr lässt sich ein Prinzip der Reinheit propagieren. Dennoch – und gerade deshalb – gilt Ethnizität wie Kultur vielen als Ersatzbegriff für den Tabubegriff ›Rasse‹. Im letzten Teil seiner Du Bois-Vorlesung kommt Hall auf den Begriff der Nation zu sprechen, der den dritten Teil des »verhängnisvollen Dreiecks« bildet – bestehend aus ›Rasse‹, Ethnizität und Nation. Ausschließungspraxen werden nicht nur wegen materieller Güter zur Anwendung gebracht, sondern auch zum Zwecke der symbolischen Ausweisung aus der Nation. Nationale Kulturen begreift Hall ebenfalls als Diskurse – Diskurse, die unsere Wahrnehmung und Auffassung organisieren. Sie sind in der Moderne eine »machtvolle Quelle kultureller und politischer Identität« (Hall 1994: 150). Nationale Identitäten werden von Diskursen gebildet, Nationen werden gegründet. Beide seien weder essentiell noch ursprünglich; sie werden über Differenz in Abgrenzung zu anderen Nationen oder Gruppen konstruiert. Moderne Auffassungen von nationaler Identität formieren sowohl eine politische Einheit als auch eine nationale Kultur. Durch den Bezug auf nationale Identitäten gelingt es, Differenzen im Inneren zu leugnen und Einheit zu suggerieren (vgl. ebd.: 151–157). Dieses Einheitsstreben wurde im biologistischen Rassismus vor allem unter Rückgriff auf eine gemeinsame Abstammung ›rassisch‹ fundiert. Moderne Vorstellungen betonen nun nicht mehr Einheitlichkeit durch ›rassische‹ Verbundenheit, sondern durch eine gemeinsame nationale Kultur. Dass in der Reali-

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tät Nationen niemals kulturell homogen sind, sondern, wie Hall es nennt, kulturell hybrid, wird an verschiedenen Differenzlinien im Inneren einer Gesellschaft deutlich: Geschlecht, Klasse, kulturell diverse Gruppen. Hier zeigt sich nicht nur die Ähnlichkeit zwischen ›Rasse‹, Ethnizität und Nation in Hinblick auf ihre gemeinsame diskursive Form, sondern auch die inhaltliche Komplementarität – sie sind geeignet, sich wechselseitig besser zu begründen. Ein Komplementaritätsverhältnis stellen – wie gesehen – auch Miles und Balibar in Hinblick auf Rassismus und Nationalismus wie Rassismus und Sexismus heraus. Migration, die in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ihren Beitrag zu kulturell hybriden Formationen leistete und leistet, führt Hall zu einem anderen, eigenen Ethnizitätsbegriff. Diesen Begriff meint er verteidigen zu können, weil er nicht notwendig mit Ausschluss und Vereinheitlichung verbunden sein müsse: ›Schwarz‹ ist in diesem Sinne eine Subjektposition der sozialen Erfahrung (vielfach von Unterdrückung und Ausbeutung) und der kulturellen Identität; eine konstruierte Kategorie, die nicht auf ›rassischen‹ Kategorien gründet und kein Fundament in der Natur findet. Es gibt keine einheitliche ›schwarze‹ Identität, sondern nur Variationen von Identität (vgl. Hall 1994: 95–98). Und in dieser Konzeption, die gleichsam ein konstruktivistisches Apriori demonstrativ mitführt, spiegelt der Begriff der Ethnizität dann die Einsicht, dass Menschen immer aus bestimmten gesellschaftlichen Positionen, aus einer bestimmten Erfahrung und aus einer bestimmten ›Kultur‹ heraus sprechen. Er gilt daher nicht nur für Minderheiten, sondern für alle Mitglieder einer Gesellschaft (vgl. Hall 1994a: 23). Hall zeigt, wie Ethnizität zum Bezugspunkt eines politischen Subjekts werden kann, das sich im Kampf gegen rassistische Diskriminierung, Gewalt und rassifizierende (Einwanderungs-)Gesetze formiert hat. Aber auch als Ausdruck gegen die Selbstverleugnung und kollektive Selbstverachtung, die Hall als Effekte der Assimilation ausmacht, komme dieses neue politische Subjekt in der Ethnizität zu sich. Die Assimilationsfrage berührt die in antirassistischen Diskussionen geführte Kontroverse um Gleichheit und Differenz seit den frühen 1970er Jahren. Diese Kontroverse wurde Ausgangspunkt der Abkehr von einem aufklärerischen Universalismus (vgl. Hall 1994: 108–111). »Ab diesem Punkt teilt sich der Antirassismusdiskurs einen gemeinsamen diskursiven Raum mit anderen Diskursen kultureller Differenz, so dass wir nun endgültig in eine neue postaufklärerische Phase der kulturellen Identitätspolitik eintreten.« (Ebd.: 111) In der britischen Gesellschaft sei der Signifikant ›schwarz‹ fortan zur Identitätskategorie für viele Menschen geworden. Bis in die 1980er Jahre hinein noch sei diese diskursiv-politische Identität immanent politisch gewesen. Als die radikal antirassistische Bewegung allerdings abebbte22 , blieb die Kategorie ›schwarz‹ und wurde mit kulturellen Inhalten gefüllt, kulturell abgeschlossen und autark wahrgenommen. Daher spricht Hall 22

Hall beschreibt, wie der Antirassismus als Gegensatz zum Multikulturalismus in Großbritannien in den 1970er Jahren entstand. Der »Signifikant schwarz« sei hier zu einer »mobilisierenden Identitätskategorie« von sowohl Asiat:innen und Afrokarabianer:innen (anstelle einer ethnischen Kategorie) gegen den Rassismus und aus der Erfahrung des Kolonialismus heraus geworden. Zugleich seien schon zu dieser Zeit immer mehr kulturelle Inhalte in die Kategorie ›schwarz‹ eingedrungen, insbesondere nach dem Abklingen der weiter oben erwähnten Unruhen. Im Laufe der 1980er/90er Jahre trat, so Hall, die politische Dimension immer mehr in den Hintergrund (vgl. Hall 1994: 113–117).

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von einer »Rückkehr der Ethnizität«, weil in diesem Zuge die kulturelle Differenz bedeutungsvoller geworden sei als die Politik des Antirassismus. Dennoch sei der Signifikant ›schwarz‹ – insofern er die gemeinsame Erfahrung von Rassismus und Kolonialismus durch Einwander:innen benenne – ein politischer Signifikant – und nicht ›rassischer‹ Natur (vgl. Hall 1994: 113–117). Dass eine solchermaßen gerettete politische Kategorie ins Kulturalistische kippen kann, hat Hall selbst festgestellt. Schon Frantz Fanon sagte 1952 über die identitätspolitische Aufwertung von ›Schwarzsein‹ am Beispiel der Négritude, dass es kein So-Sein von ›Schwarzen‹ und auch nicht von ›Weißen‹ gäbe (vgl. Fanon 1952: 197). Jede identitätspolitische Besinnung dürfe nur die Vorstufe zu einer Gesellschaft sein, die »durch die menschliche Besonderheit hindurch das Allgemeine« (ebd.: 166) anstrebe. Wer versucht, Halls Apologie des ›Schwarz-Seins‹ nach der identitären Seite aufzulösen, geht fehl: »Wir können schwarze Politik nicht länger mit der Strategie eines simplen Musters von Umkehrungen machen, indem auf den Platz des bösen alten, wesenhaft weißen Subjekts das neue wesentlich gute, schwarze Subjekt gesetzt wird« (Hall 1994a: 18). Wie aktuell diese Diskussion um Identität bis heute ist, zeigen die gegenwärtigen Diskussionen um Identitätspolitik und deren Rolle bei der Bekämpfung von Rassismus einerseits und ihre vermeintliche Schuld am Aufstieg des rechten ›Populismus‹ andererseits.

4.1.4 Zur Kritik objektivistischer Rassismustheorien Miles Ideologietheorie, Balibars Theorie eines Metarassismus und Halls Diskurstheorie sind objektivistisch: Die sprachwissenschaftlich aufzuschließende Logik von Signifikant und Signifikat, die den Einzelnen zugeteilte diskursive Position, der Fokus auf Wissensordnungen bei Hall: Mit alldem werden Zusammenhänge beschrieben, die der Psychologie, dem Innenleben, auch der subjektiven Entscheidung kategorial ebenso wie historisch vorgeordnet sind. War es bei Balibar eine Objektivität der ausbeuterischen Arbeitsteilung, die subjektzentrierte Fragen zu Epiphänomen degradierte, so ist es bei Hall eher die Objektivität symbolischer Aktionen, die das Subjekt erst hervorbringt. Derlei objektivistische Theorien – so unterschiedlich sie ausgearbeitet sein mögen – teilen wiederkehrende Schwächen. Als das zentrale Problem objektivistischer Theorien ist die Annahme subjektunabhängiger gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten zu nennen – Strukturen, Gesetze, Systeme, Sprache: Subjekte gelten hier entweder als determiniert, damit als Automaten ohne Verantwortung, oder sie bleiben analytisch weitgehend unberücksichtigt. Damit verbunden ist die analytische Irrelevanz von Alltagserfahrungen und -praxen. Solche Hierarchie des analytisch Wichtigen wird beim Problem Rassismus besonders fragwürdig: Sind es doch gerade rassistische Alltagspraxen, die Rassismus für die Betroffenen spürbar machen – Erfahrungen, die nicht einfach verlustfrei ›kommunizierbar‹ sind, Erfahrungen an der Clubtür, am Arbeitsplatz, im Wohnumfeld, in der Schule, bei der Lektüre von Zeitungen und Büchern. Dass Rassismus sich über Strukturen erhält, ist eine These, die auf eine fatale Weise ›immer recht‹ hat – weil jede der bislang referierten Theorien starke Behauptungen über das eigene Unsichtbarwerden integral mitführt. Die Probe auf solche Theorie im Alltag, im Handgemenge konkreten Interaktionsgeschehens ist so eher außer Kraft gesetzt. Einen mikrosoziologischen Blick auf Alltag, Erfahrung in ihren Details, auf konkrete Interaktionen nehmen objektivistisch ausgerichte-

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te Theorien zwangsläufig nicht ein: Soziale Akteure sind stattdessen Charaktermasken, Rollenausführer, Statisten eines (Gesellschafts-)Modells: »Systeme objektiver Relationen [werden] derart hypostasiert, daß er [der Strukturrealismus objektivistischer Theorien, U. M.] sie in jenseits der Geschichte des Individuums oder der Geschichte der Gruppe angesiedelte präkonstruierter Totalitäten verwandelt« (Bourdieu 1972: 164). Damit übersehen solche mehr oder minder strukturalistischen Theorien auch Gelegenheiten, im Alltag gewohnte Praxen reflexiv zu hinterfragen – und womöglich zu vermeiden. Insbesondere bei Miles wurde dieses Problem objektivistischer Theorien deutlich: Wann immer gesellschaftliche Umstände als stark determinierend herausgestellt werden, ist analytische Sorgfalt zwingend, um dem Einwand zu entgehen, man würde Rassismus verharmlosen: die Menschen könnten schließlich nicht anders; alles gehe seinen notwendigen Gang. Wenn Rassismus, so Zerger, als subjektive Welterklärung fungiere, dann muss eben auch gezeigt werden, wie Rassismus massenwirksam wird (vgl. Zerger 1997: 141) – wer darauf, warum, in welchen Situationen anspricht; und wer nicht. Vielfach kritisiert wird auch der angebliche epistemische Sonderstatus, den Gesellschaftstheoretiker:innen einnehmen, wenn sie auf die ›Verblendung‹ und die Beschädigung der Anderen – also die der nicht-soziologischen Laien – hinweisen (vgl. hierzu Celikates 2009; Boltanski/Honneth 2009). Wissenschaftliche Erkenntnis und Alltagserfahrung – letztere häufig degradiert zu »›Rationalisierungen‹, ›vorwissenschaftliche[n] Erfahrung[en]‹ oder ›Ideologien‹« (Bourdieu 1987: 51) – klaffen im Objektivismus komplett auseinander. Zentral ist für den Objektivismus die Frage nach den Bedingungen, die ein Erkennen der sozialen Welt ermöglichen oder verhindern. Bourdieu, dem seinerseits nichts ferner läge, als die Anähnelung des soziologischen an den Alltagsverstand, der immer wieder polemisiert gegen die »narzisstische Reflexivität« (Bourdieu 1992a: 51) der sogenannten teilnehmenden Beobachtung, kritisiert am Objektivismus nicht etwa dessen objektivierende Geste. Er kritisiert ihr Misslingen, er moniert, dass der Objektivismus gleichsam nicht objektiv genug sei. Denn er entwickle häufig kein reflexives Verhältnis zur eigenen theoretischen Sicht als Praxis: Die Analytikerin ist befangenen in einer Praxis, die der Alltagspraxis der untersuchten Menschen schroff entgegensteht – schon in den Formen und Weisen des Fragens, Wahrnehmens, Problemlösens. Der alltägliche außerwissenschaftliche »Schein der Unmittelbarkeit, mit der sich der Sinn dieser Welt erschließt« (Bourdieu 1987: 52), die gerade hinsichtlich des Rassismus so bedeutsame Naturwüchsigkeit dieser Welt, lässt sich eben nicht beleuchten, indem man diese Welt einfach in Kontrast setzt zu einem objektiviert-wissenschaftlichen Eigentlichen – seien seine Strukturen nun diskurstheoretisch oder marxistisch gewonnen. Denn dieser wissenschaftliche Objektivismus müsste sich selbst als Praxismodus, als spezifische Sicht auf die Welt mit allerlei eigenen Naturwüchsigkeiten reflektieren, um einen Begriff der Weltzugänge der Anderen und der Praxis der Anderen zu gewinnen. Wissenschaftler:innen sind Objektivierer, sie müssen darum die eigene Praxis, sich selbst objektivieren – nicht in Evaluierungs- oder Selbstverständigungsprozessen, nicht in Introspektion, sondern durch Reflexion auf das Verhältnis des eigenen Tuns zum Tun der untersuchten Objekte, hier der Menschen und ihrer Interaktion. Indem objektivistische Forschende aber ihr Wissen dem bloß bornierten Alltagswissen einfach gegenüberstellen, ignorieren sie die Kluft zwischen den Weltzugängen, sie gewinnen keinen Blick

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auf die eigene Praxis: Sie lassen »die Objektivierung der objektivierenden Relation aus, also den epistemologischen Bruch, der zugleich ein sozialer ist« (Bourdieu 1987: 52). Und indem objektivistische Forschende übersehen, was ihren Weltzugang, ihre Praxis von der ihres Objekts unterscheidet, übersehen sie Entscheidendes am Objekt: Objektivismus ist nicht objektiv genug. Die objektivistische Perspektive ignoriert nach Bourdieu die »Primärerfahrung« (ebd.), die praktische Erkenntnis sozialer Akteure und damit auch den Anteil, den Subjekte bei der Bildung und Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Strukturen übernehmen. Objektivismus bedarf also des Gegenlichts – es bedarf des Blicks auf solche sozialwissenschaftlichen Versuche, die das Subjekt und sein Erleben ins Zentrum rücken. Um die geht es im Folgenden.

4.2 Subjektivistische Theorien des Rassismus Im Zentrum subjektivistischer Theorien steht der soziale Akteur, das Subjekt, das Individuum, der/die soziale Teilnehmer:in. Gegenstand der Untersuchung werden in diesen Ansätzen die Erfahrungen der Einzelnen, ihre Interaktionen, ihr Bewusstsein, ihre Alltagspraxis, ihre Absichten, Motivationen, Repräsentationen, Sinnproduktionen und Reflexionen. Solche lange Aufzählung macht deutlich: Es ist schwierig, die hier anvisierte theoretische Familienähnlichkeit zu skizzieren, ohne sich bereits mit dem Vokabular dieser Skizze in eine bestimmte jener unterschiedlichen Traditionen zu begeben. Subjektivistische Theorien lösen Soziologie nicht in individualistischer Kontingenz auf – nichts wäre ihnen ferner als Magret Thatchers Parole: »There’s no such thing as society«. Aber anders als die oben vorgestellten objektivistischen Ansätze führen sie überindividuelle soziale Logik zurück auf das Subjekt. Für Überlegungen zum Rassismus ist wichtig: Solche Rückführung auf das Subjekt betrifft epistemische, kognitive und ideologische Aspekte. »Es ist das jeweilige Interesse, das bestimmt, welche Elemente das Individuum aus der es umgebenden und in der vorbeschriebenen Weise gegliederten objektiven Welt auswählt, um seine Situation zu definieren. Es ist das nämliche Interesse, das aus dem vorgegebenen Wissensvorrat des Individuums jene Elemente auswählt, die zur Definition der Situation erforderlich sind. Mit anderen Worten: das Interesse bestimmt, welche Elemente der ontologischen Struktur der vorgegebenen Welt und andererseits des aktuellen Wissensvorrates für das Individuum relevant sind, um seine Situation denkend, handelnd, emotional zu definieren, sich in ihr zu orientieren und mit ihr fertig zu werden.« (Schütz 1971: 160) Anders als die meisten objektivistischen Theorien stellen subjektivistische Theorien keine strenge Hierarchie epistemischer Qualitäten auf: wissenschaftliche Analyse oben, bloße Alltagserfahrung darunter. Subjektivistische Soziologien erklären hingegen, wie Menschen sich wiederum ihre jeweilige Welt erklären; anders als Marxist:innen und Systemtheoretiker:innen halten sie sich fern von Aussagen darüber, wie es ›eigentlich‹ ist.

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auf die eigene Praxis: Sie lassen »die Objektivierung der objektivierenden Relation aus, also den epistemologischen Bruch, der zugleich ein sozialer ist« (Bourdieu 1987: 52). Und indem objektivistische Forschende übersehen, was ihren Weltzugang, ihre Praxis von der ihres Objekts unterscheidet, übersehen sie Entscheidendes am Objekt: Objektivismus ist nicht objektiv genug. Die objektivistische Perspektive ignoriert nach Bourdieu die »Primärerfahrung« (ebd.), die praktische Erkenntnis sozialer Akteure und damit auch den Anteil, den Subjekte bei der Bildung und Aufrechterhaltung gesellschaftlicher Strukturen übernehmen. Objektivismus bedarf also des Gegenlichts – es bedarf des Blicks auf solche sozialwissenschaftlichen Versuche, die das Subjekt und sein Erleben ins Zentrum rücken. Um die geht es im Folgenden.

4.2 Subjektivistische Theorien des Rassismus Im Zentrum subjektivistischer Theorien steht der soziale Akteur, das Subjekt, das Individuum, der/die soziale Teilnehmer:in. Gegenstand der Untersuchung werden in diesen Ansätzen die Erfahrungen der Einzelnen, ihre Interaktionen, ihr Bewusstsein, ihre Alltagspraxis, ihre Absichten, Motivationen, Repräsentationen, Sinnproduktionen und Reflexionen. Solche lange Aufzählung macht deutlich: Es ist schwierig, die hier anvisierte theoretische Familienähnlichkeit zu skizzieren, ohne sich bereits mit dem Vokabular dieser Skizze in eine bestimmte jener unterschiedlichen Traditionen zu begeben. Subjektivistische Theorien lösen Soziologie nicht in individualistischer Kontingenz auf – nichts wäre ihnen ferner als Magret Thatchers Parole: »There’s no such thing as society«. Aber anders als die oben vorgestellten objektivistischen Ansätze führen sie überindividuelle soziale Logik zurück auf das Subjekt. Für Überlegungen zum Rassismus ist wichtig: Solche Rückführung auf das Subjekt betrifft epistemische, kognitive und ideologische Aspekte. »Es ist das jeweilige Interesse, das bestimmt, welche Elemente das Individuum aus der es umgebenden und in der vorbeschriebenen Weise gegliederten objektiven Welt auswählt, um seine Situation zu definieren. Es ist das nämliche Interesse, das aus dem vorgegebenen Wissensvorrat des Individuums jene Elemente auswählt, die zur Definition der Situation erforderlich sind. Mit anderen Worten: das Interesse bestimmt, welche Elemente der ontologischen Struktur der vorgegebenen Welt und andererseits des aktuellen Wissensvorrates für das Individuum relevant sind, um seine Situation denkend, handelnd, emotional zu definieren, sich in ihr zu orientieren und mit ihr fertig zu werden.« (Schütz 1971: 160) Anders als die meisten objektivistischen Theorien stellen subjektivistische Theorien keine strenge Hierarchie epistemischer Qualitäten auf: wissenschaftliche Analyse oben, bloße Alltagserfahrung darunter. Subjektivistische Soziologien erklären hingegen, wie Menschen sich wiederum ihre jeweilige Welt erklären; anders als Marxist:innen und Systemtheoretiker:innen halten sie sich fern von Aussagen darüber, wie es ›eigentlich‹ ist.

4 Metamorphosen der Rassismustheorien – Objektivismus und Subjektivismus

Für solche Perspektiven stehen in der Rassismusforschung die Ethnomethodologie Harold Garfinkels (4.2.2) oder die interaktionistische Soziologie Herbert Blumers (4.2.3), die nachfolgend vorgestellt werden. Einsteigen möchte ich aber chronologisch spiegelverkehrt mit jenen Ansätzen, die einen großen Teil der jüngeren akademischen Debatte um Rassismus bestimmen: den postkolonialen Theorien (4.2.1). Anders als die soziologischen Klassiker Garfinkel und Blumer steht bei ihnen der Rassismus immer im Zentrum der Anstrengungen. Von ihnen ausgehend lassen sich dann subjektivistische Traditionen besser beleuchten – denn in gewisser Hinsicht stehen sie zwischen den oben vorgestellten objektivistischen und den subjektivistischen Theorien.23

4.2.1 Der postkoloniale Ansatz der Critical Whiteness Studies Postkoloniale Theorien knüpfen an die poststrukturalistischen Theorien und deren Fokus auf diskursive Formationen an: In das Zentrum der Kritik rücken auch hier Wissen, ›Blicke‹, Identitäten und überhaupt soziale Verkehrsformen des Alltags. Damit schließen sie an die oben vorgestellten eher objektivistischen Cultural Studies an; rücken aber ferner das Subjekt ins Zentrum. Im Fokus steht die Rekonstruktion des sogenannten kolonialistischen/rassistischen Wissensbestandes in den ehemaligen Kolonien und dessen Auswirkung auf Identität und ›Kultur‹ der Menschen. Worin liegt nun das Subjektivistische der postkolonialen Theorien? Zu den zentralen Annahmen zählt bei ihnen die Vorstellung des Fortwährens (post-)kolonialer Praxen. Und diese Praxis wird nicht zuerst ökonomisch ausgemacht, sondern in der Persistenz eines rassistischen ›Blicks‹. Die soziokulturelle Vorherrschaft des ›Westens‹ schreibe sich fort über Haltungen, Blicke, Bias. In die Kritik postkolonialer Theorien geraten daher beispielsweise: (vorurteilsvolle) Bilder über Menschen aus den ehemaligen Kolonien; die Konstruktion des ›Anderen‹ (Othering); Werte und Normen (wie die universellen Menschenrechte), weil sie als ›westlich‹ bzw. eurozentrisch und deshalb als räumlich begrenzt gültig angesehen werden; hegemoniale ›westliche‹ Wissenschaften und/oder Konzeptionen von Identität. In die Kritik geraten Konzepte wie Subjektivität, Fortschritt und Emanzipation, die epistemologisch am Ideal des ›weißen‹, männlichen Subjekts gebildet worden seien. All diese Phänomene würden von streng objektivistischen Materialisten eher dem ›Überbau‹, eher der Ideologie, zugerechnet – als nachträgliche Rationalisierung materieller Praxis. Postkoloniale Perspektiven hingegen setzen an diesem ›Überbau‹ an. Sie weisen universelle Maßstäbe und Normen zurück. Denn die gelten als machtdurchtränkt, als verschleiert partikularistisch. ›Westliche‹ Gesellschaften verfügten demnach über eine Definitionsmacht die festlege, was als Fortschritt oder Emanzipation zu betrachten sei.24 Während also objektivistische Theorien – seien sie nun an Marx orientiert oder an Foucaults Diskurs – 23 24

Vgl. zum Ansatz der Critical Whiteness Studies auch: Marz 2020: 201–219. Postkoloniale Theorien betonen die Möglichkeiten von Widerstand gegen »Kolonialismus, kolonialistische Ideologien und deren Hinterlassenschaften« (Castro Varela/Dhawan 2005: 25). Aus der Négritude-Bewegung wurde der Impuls übernommen, dass Vorurteile und Stereotype gegen ›Schwarze‹ positiv umdeutbar seien und dass es lohne, der hegemonialen ›Kultur‹ des ›Westens‹ eine eigene ›Kultur‹ gegenüberzustellen (vgl. Dietrich 2007: 30, FN 10). Der Begriff Négritude wurde von Aimé Césaire in Discours sur le colonialisme suivi de Discours sur la Négritude (1955) geprägt. Auf Deutsch liegt dieser Vortrag seit 1968 vor (vgl. Césaire 1968).

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eher das vorgängig Objektive, Gesellschaftliche auch in subjektiven Haltungen, ›Blicken‹, Weltwahrnehmungen aufspüren, enttarnt der Postkolonialismus Objektivitätsbehauptungen als eigentlich subjektiv: Er spürt das bloß Subjektive im Reden über Freiheit, Erkenntnis, Universalität auf. Der ›hermeneutische Verdacht‹ arbeitet also in entgegengesetzte Richtung. Aus Prämissen postkolonialer und poststrukturalistischer Theorie haben sich die Critical Whiteness Studies (nachfolgend: CWS) entwickelt – zunächst in den 1970er/80erJahren in den USA. Eine breite Rezeption erfahren diese Ansätze in Deutschland erst in den letzten Jahren. Viele Autor:innen beziehen sich auf ›Objektivisten‹, wie Michel Foucault, Frantz Fanon und Stuart Hall. So bleiben diskursive und kulturelle Prozesse – vor allem Begriffe wie Wissen und Macht – von großer Bedeutung; sie werden aber nun eingepasst in Theorien, die subjektive Erfahrungen aufwerten. Es sind subjektive epistemische Positionen, nicht mehr die Ordnung des Diskurses (so der gleichnamige Titel einer Vorlesung von Foucault), die hier Kritikgegenstand werden; es ist der rassistische ›Blick‹, komplementär die Unverfügbarkeit der Erfahrung der von Rassismus Betroffenen. In den CWS verbinden sich Perspektiven der Women Studies, Black Studies und Critical Race Studies.

Whiteness, Episteme und Regime of Looking Der CW-Ansatz zielt darauf, Differenzen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Positionen und Akteur:innen aufzuzeigen, die auf unterschiedliche Herrschaftserfahrungen zurückgehen. Für die CWS verlaufen die Grenzen sozialer Ungleichheit nicht entlang ökonomischer Linien, sondern an den Grenzen von Kultur, Herkunft und Hautfarbe – Grenzen, die irreduzible Differenzen der Erfahrungswelten konstituieren. CWS stellen ›weiße‹ Menschen in das Zentrum ihrer Analysen. So unterschiedlich die verschiedenen Critical Whiteness-Konzepte auch sein mögen, so fußen diese Ansätze, wie Dietze angibt, auf vier gemeinsamen Grundannahmen: Erstens ›Rasse‹ ist eine soziale Konstruktion; zweitens die Herabsetzung von rassifizierten Personen ist Ausdruck von Machtverhältnissen; drittens Rassismus ist strukturell und institutionell in Gesellschaften mit ›weißer‹ Hegemonie verankert – und viertens ›Weißsein‹ bringt eine zählbare Dividende hervor (Privilegien) (vgl. Dietze 2006: 224f.). Mit dem Fokus auf ›weiße‹ Menschen behaupten die CWS, einen grundlegenden Perspektivenwandel innerhalb der Rassismusforschung vorzunehmen. Dieser bestünde darin – anders als bei Perspektiven auf das ›Andere‹ und dessen Konstruktion –, das ›weiße‹ rassistische Subjekt und dessen Setzung von ›weiß‹ als unausgesprochener Norm analytisch zu zentrieren. »Ausgangspunkt der Veränderung, wenn nicht gar Überwindung des Rassismus muss das Subjekt als (Re-)Produzent:in rassistischer Diskurse, Strukturen und Verhältnisse sein. Erst wenn sich die Einzelnen verantwortlich für den Rassismus in der Gesellschaft fühlen, deren Teil sie sind, kann diese Veränderung nachhaltig sein.« (Tißberger 2016: 26) Dieser »racial turn«, wie er von Vertreter:innen der CWS genannt wird, ist also erklärtermaßen subjektiv – und er vermischt ganz bewusst deskriptiv-analytische Prätentionen mit moralischem Vokabular (Privileg, sich verantwortlich fühlen). Die CW-Perspektive einzunehmen, bedeutet den eigenen Alltag daraufhin zu betrachten, wo hegemoniale Episteme zurückzuweisen sind. Bei Foucault waren Episteme jene apriorischen Codes, die der Möglichkeit von Wissen überhaupt zugrunde liegen. In den CWS wer-

4 Metamorphosen der Rassismustheorien – Objektivismus und Subjektivismus

den Episteme ubiquitär auffindbar in subjektiven Haltungen, Blicken, Alltagspraktiken. Das von den westlichen Gesellschaften produzierte Wissen über andere, ›fremde‹ Gesellschaften ist Funktion dieser Möglichkeitsbedingungen: »Es bedeutet, die hegemoniale Episteme ›des Westens‹, deren konstitutives Element rassistisches Wissen über außereuropäische Subjekte ist, als solche zu erkennen und sie in sämtlichen Bereichen des Lebens – von der Wissenschaft bis zum Alltag – nach ihren diskriminierenden Effekten zu befragen.« (Tißberger 2016: 29) In den Fokus der Kritik geraten nun nicht nur Erfahrungsdifferenzen einebnende Konzepte wie der Universalismus, der Gedanke des Fortschritts, traditionelle Begriffe von Kultur. Eine solche Epistemologiekritik kann so weit gehen, die Produktion von antirassistischer Theorie an Universitäten als ›weißes Wissen‹ zu kritisieren, wenn sie nicht von PoC kommt. Carsten Junker thematisiert beispielsweise das »Problem der Aneignung Schwarzen Wissens und Aberkennung Schwarzer Autorität« (Junker 2009: 435). Als Problem diskutiert Junker die Übernahme von Erkenntnissen ›schwarzer‹ durch ›weiße‹ Akademiker:innen, die von einer besseren Position (»weißes Zentrum«) des akademischen Betriebes sprechen würden. Diese Übernahme von Erkenntnissen akademisch marginalisierter ›schwarzer‹ Wissenschaftler:innen, die zu Rassismus gearbeitet haben, durch ›weiße‹ Wissenschaftler:innen bezeichnet Junker in Anlehnung an Grada Kilomba als ein »koloniales Muster« (ebd.: 436). Der Verdacht, dass systematische Dethematisierung eigener Privilegien ›Weißsein‹ konstituiert, richtet sich also auch und gerade gegen Thematisierungsversuche. Anders als zum Beispiel bei Pierre Bourdieu waltet hier nicht mehr ein grundsätzlicher Erkenntnis-Optimismus: durch Reflexion des eigenen Bias, des eigenen Habitus, den Gegenstand besser zu treffen, objektiver zu werden. Die Epistemologie der CWS beschreibt hingegen eine unüberbrückbare Kluft: Eine Privilegienkritik aus Position des akademischen Privilegs perpetuiert bloß das Privileg. Der Fokus auf Whiteness sollte eine Wendung innerhalb der Rassismusforschung einleiten, die nicht – wie die bisherige Rassismusforschung – nur auf die Objekte, präziser: auf die Strukturen, des Rassismus blickt, sondern auf die Subjekte des Rassismus (vgl. Dietze 2006: 219, 223). Martina Tißberger spricht gar von einem Paradigmenwechsel, den die CWS in dieser Hinsicht vornähmen (vgl. Tißberger 2016: 25). Doch was heißt das konkret? Toni Morrison schreibt zum Abschluss ihrer Arbeit Playing in the Dark (1990): »My project is an effort to avert the critical gaze from the racial object to the racial subject; from the described and imagined to the describers and imaginers; from the serving to the served.« (Morrison 1990: 90) Solche Behauptung eines turns suggeriert, dass in Rassismustheorien Täter:innen, Rassist:innen nicht vorgekommen seien. Aber den meisten soziologischen Rassismusanalysen, auch denen, die ich oben referiert habe, ging es ja darum, zu zeigen, wie funktional der Rassismus für die rassistisch Dominanten ist; wie sich rassistische Vorstellungen und Bilder im Alltag der Menschen produzieren und reproduzieren, wie Medien diese Bilder weiterverbreiten oder wie in Institutionen rassistische und diskriminierende Normen und Gesetze eingeschrieben sind. Ein turn ist eher die Selbstermächtigung zur wissenschaftlichen Konstruktion des Subjekts: jetzt des rassistischen. Einen Paradigmenwechsel hat Frantz Fanon seinerzeit bereits vorgenommen, als er in Schwarze Haut, weiße Masken (1952) auch die rassifizierten Objekte in den Blick genommen hat und fragte, inwieweit sich die rassistische Verobjektivierung und Inferiorisie-

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rung auf die Psyche der Kolonisierten auswirkt und mit der Zeit zu einer Ablehnung und Entfremdung von der ›eigenen Kultur‹ führt (vgl. Fanon 1952). Kurzum: Neu ist dieser Blick auf das ›weiße‹ Subjekt keineswegs; neu ist allerdings, dass dieses Subjekt zum Ersten und Irreduziblen des Rassismus wird – neu ist auch die konsequente Forderung, diese Aspekte zum Ausgangspunkt eines veränderten Verhaltens zu nehmen. CWS führt Rassismuskritik und Verhalten sehr eng: Weder theoretische Selbstreflexion noch politisch strukturelle Veränderung, gar Umwälzung können diesen Prius des Sich-Verhaltens bzw. sich-anders-Verhaltens ersetzen. Whiteness, also ein bestimmter Status, eine bestimmte Form des subjektiven In-derWelt-Seins wird nun zentrale politische Kategorie. Whiteness gilt als Norm und damit Herrschaftsprinzip (vgl. dazu auch Dietze 2006). Ruth Frankenberg bestimmt Whiteness mehrdimensional: »First, whiteness is a location of structural advantage, of race privilege. Second, it is a ›standpoint‹, a place from which white people look at ourselves, at others, and society. Third, ›whiteness‹ refers to a set of cultural practices that are usually unmarked and unnamed.« (Frankenberg 1993: 447) ›Weiße‹ verfügen über Privilegien z.B. auf dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt – nur weil sie ›weiß‹ sind. Und sie haben die Möglichkeit, sich unauffällig in der Öffentlichkeit zu bewegen, was für ›schwarze‹ Menschen zumindest in einer ›weißen‹ Mehrheitsgesellschaft nicht möglich ist. Es zählt zum Privileg, dass es eben als ein solches den Privilegierten gar nicht kenntlich wird. Und für die Nicht-›Weißen‹ hat diese Selbstverdeckung des Privilegs Folgen: Es beginnt bei interessierten Blicken, führt über verdächtiges Prüfen und diskriminierendes Verhalten bis hin zu Gewalt. ›Weiße‹ genügen der ›weißen‹ Norm und sind kaum von Diskriminierung aufgrund der Hautfarbe betroffen. ›Weiße‹ Menschen können sich mit Rassismus auseinandersetzen, ›schwarze‹ Menschen müssen dies tun – aufgrund ihrer Erfahrungen in Schule, Behörden, bei der Bewerbung oder als Betroffene von »racial profiling« etc. Ganz ähnlich zu dem, was Stuart Hall als das »weiße Auge« (Hall 1982) beschrieben hat, spricht auch Susan Arndt von ›weißen‹ Sehgewohnheiten – einem »regime of looking« (vgl. Arndt 2006: 11f.). Hier aber werden diese Sehgewohnheiten theoriestiftend. Whiteness fasst den Konstruktionscharakter von ›weiß‹ und ›schwarz‹, es steht für eine Machtstruktur und betont das historische Gewordensein dieser Struktur. Der deutsche Begriff ›Weißsein‹ verweist auf die Norm ›weißer‹ Hautfarbe, die unbenannt bleibe. Diese Norm gilt als das »symbolische Zentrum einer hegemonialen Ordnung« (Tißberger 2016: 28). CWS bestreiten also nicht den objektiven Charakter von hegemonialen, diskursiven Ordnungen – sie diskutieren ihn aber als Set von Subjektpositionen. Es ist nicht mehr die Frage nach ihrer Geltung, ihrer Verwirklichung, ihrem argumentativen Begründetsein, die das Urteil über Aufklärung spricht – es ist die Tatsache, dass sie von ›weißen‹ Subjekten formuliert wurde. »Es bedarf nicht der ›weißen Hautfarbe‹, sondern des Bezugs auf das Ideal der aufklärerischen Moderne mit ihren imperialistischen Epistemen – es bedarf des symbolischen Kapitals dieser Episteme, um andere Andere (re-)produzieren zu können.« (Tißberger 2016: 29) Eine Scheidung zwischen Genesis und Geltung, zwischen Entdeckungs- und Begründungszusammenhang ist in solchen Überlegungen nicht mehr vorhanden. Man bedient sich zwar noch der Bruchstücke solcher Theorien (hier der Bourdieus), die die soziale Genese von Erkenntnissen thematisieren, um deren Objektivität zu steigern – gegen die Intention dieser Theorien fungieren die Aussagen über den sozialen Ort dann aber als unhintergehbare Bedingungen der Un-

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möglichkeit von Erkenntnis: ›Weiße‹ können letztlich keine wahren Sätze über Rassismus äußern; denn schon der Akt dieses Sprechens dethematisiere ihr Privileg. ›Weißsein‹ wird als »Master Signifier« betrachtet. D.h., aus einer Vielzahl von körperlichen Merkmalen werden einzelne selektiert und zu einem natürlich gegebenen und relevanten Kriterium der Unterscheidung erklärt (ähnlich wie bei Miles und Hall). ›Weißsein‹ begründet damit eine Beziehungsstruktur, die über Ein- und Ausschluss entscheidet. Daraus resultiert die praktische Forderung nach einer »Selbstmarkierung« der ›Weißen‹, um den Status der Whiteness als »unmarked marker« (Frankenberg 1997: 1) aufzuheben. Und Toni Morrison schlägt vor, die Auswirkungen der Rassenhierarchien in ihren positiven Effekten auf die ›Nicht-Schwarzen‹ zu untersuchen. »What I propose here is to examine the impact of notions of racial hierarchy, racial exclusion, and racial vulnerability and availability on noneblacks who held, resisted, explored, or altered those notions.« (Morrison 1990: 11) Was als ›weiß‹ angesehen wird, das ist historisch wandelbar.25 Dass ›schwarze‹ und afro-diasporische Menschen nicht-›weiß‹ sind, wurde nie angezweifelt; sie bildeten spätestens mit den Rassentheorien, ›wissenschaftlich‹ verbürgt, den anderen Pol zum ›Weißsein‹. Aber darüber, wie und ob Iren oder Italiener ›weiß‹ sind, darüber entschieden historisch betrachtet gesellschaftliche Diskurse (vgl. Tißberger 2016: 28). Wie bereits bei Halls Überlegungen zur Identitätspolitik ist die Übernahme rassistischer Farblehren in die Kategorien der eigenen Kritik in den CWS angelegt – gewiss nicht als Affirmation rassistischer Kategorisierung. Der methodologische Begriff des »racial turn« soll das fassen: Er beschreibt eine theoretische Bewegung, die von ›race‹ als einem zu zerstörenden biologistischen Konstrukt wegführt und sich auf ›race‹ als soziale Realität bezieht (vgl. Arndt 2006: 11). Es gibt für die CWS nicht das eine verbindliche Theoriegebäude, vielmehr beziehen sich verschiedene wissenschaftliche Disziplinen auf eine Perspektive, in deren Mittelpunkt die Hegemonie(selbst)kritik (vgl. Dietze 2006: 220) des eigenen ›Weißseins‹ steht. Vor allem Gabriele Dietze hat mit ihrem Begriff des »kritischen Okzidentalismus« dem Anliegen der CWS für den deutschen Kontext Gestalt gegeben. Statt Whiteness schlägt Dietze vor, sich auf den Okzidentalismus als geeigneten Referenzpunkt zu konzentrieren, weil vor allem »Orientalismus«26 , völkische Ideen und Nationalsozialismus den deutschen Rassismus prägten. So beschreibe der Begriff die Zurückwendung des Blicks vom ›Orient‹ auf den ›Okzident‹ und lasse sich auf den deutschen Kontext mit seinen muslimischen Bevölkerungsanteilen als ›die Anderen‹ besser anwenden als jener der Whiteness.

Privilegienkritik und Racial Identitiy Wie gezeigt wurde, gilt Whiteness als eine analytische Kategorie, die auf eine soziale Position und Norm verweist. Sie umfasst nicht nur die ›Norm der Hautfarbe‹, sondern

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Zu denken wäre hier an den wechselnden Status von Iren als ›weiß‹ (Ignatiev 1995) oder die »WeißWerdung« der Deutschen (Hund 2017). Edward Said analysierte in seinem Buch Orientalism (1978) die Herrschaftsform des Orientalismus, mit der der westliche Blick auf die vor allem arabo-islamischen Gesellschaften des Nahen Ostens bezeichnet wird. Dieser Blick stehe für eine Form der Herrschaft durch den Westen mittels des Wissens, das er produziert und setze damit den alten Kolonialismus bis heute fort.

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auch kulturelle Normen. Das zur Norm erhobene ›Weißsein‹ ist mit Konsequenzen für diejenigen verbunden, die der Norm entsprechen und für diejenigen, die als nicht zugehörig gelten. Die, die der Norm entsprechen, profitieren von einer Privilegierung, derer sie sich häufig nicht bewusst sind: Sie genießen »(in)visible privileges« (Gerbing/Torenz 2007: 7). Die ›Farbenblindheit‹27 ›Weißer‹ sich selbst gegenüber ist Ausdruck der Norm von ›Weißsein‹. McIntosh beschreibt Whiteness metaphorisch als einen »unsichtbaren Rucksack« (McIntosh 1988) voller unverdienter Privilegien. ›Weißen‹ werde beigebracht, diese Privilegien nicht zu sehen. Zu diesen Privilegien gehören so banal erscheinende Dinge, wie die Möglichkeit, ein Pflaster in der eigenen Hautfarbe benutzen zu können – aber auch so existentielle, wie dort Wohnraum zu erwerben oder zu mieten, wo man es möchte. ›Weiße‹ können sich unbehelligt bewegen und werden nicht Opfer von Polizeiwillkür allein wegen ihrer Hautfarbe. Auch die Möglichkeit, sich die meiste Zeit mit Menschen der eigenen Hautfarbe umgeben zu können, gilt in diesem Kontext als Privileg (vgl. zur Liste von Privilegien: McIntosh 1988). Die Konsequenz, die aus einer Erkenntnis solcher Privilegien folgen soll, ist wiederum eine subjektive Verhaltenslehre: eine neue Form der Verantwortlichkeit und Rechenschaftspflicht. Nach dem Erkennen und öffentlichen Markieren dieser Privilegien sollen ›Weiße‹ aktiv daran arbeiten, diese zu verringern. Eine Möglichkeit dazu sei der so genannte »Rassenverrat«: Weil ›Weißsein‹ erworben sei, könne es durch ein geändertes Verhalten zurückgenommen, also abgeschafft werden. Als theoretische Grundlage für diese Form der freiwilligen ›Ent-Weißung‹ dient die Annahme, dass ›Weißsein‹ eben nicht die Widerspiegelung einer natürlichen ›Rasse‹ sei, sondern eine Konstruktion und ein Verhalten. Dieser neue Abolitionismus zielt auf die Abschaffung der sozialen Konstruktion von Whiteness. »Rassenverrat« wäre das gezielte Aufgeben ›weißer‹ Privilegien und eine gezielte Illoyalität gegenüber ›Weißen‹ (vgl. zu diesem Konzept Ignatiev 1996; Ignatiev/Garvey 1997). Ist das naiver Subjektivismus? Verkennt eine solche voluntaristische und meist auch symbolische Politik nicht die strukturelle Dimension des Rassismus? Wie wären allein durch sprachliche Willensbekundung rassistische Strukturen (›Rassenverrat‹) aufzubrechen? Peggy McIntosh reflektiert solche Fragen in ihrem Essay über das Privileg ihrer ›weißen‹ Hautfarbe (1998), wenn sie feststellt, dass ihre Hautfarbe bei jedem Schritt, den sie tat, ein Vorteil war. Erst wenn ›Weiße‹ einsähen, dass sie vom Rassismus profitierten, hätten sie ›Weißsein‹ als »racial identity« verstanden (vgl. McIntosh 1988). Doch ist die Hautfarbe tatsächlich der Ungleichheit letzter Grund? Gesellschaftliche Ungleichheit wird hier als Ausdruck rassifizierter Zuschreibung gedeutet: Gesellschaft mit ihren verschiedenen Ungleichheitsphänomenen wird auf den (Haupt-)Widerspruch von ›schwarz‹ und ›weiß‹ reduziert; und er verschwände, wenn die Zuschreibenden mit

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Dass die CWS historisch tradierte Grenzziehungen zwischen ›schwarz‹ und ›weiß‹ – sprich rassistische Unterscheidungen – fortschreiben würden, ist ein gewichtiger Vorwurf. Stuart Hall, auf den sich die CWS positiv beziehen, kritisiert eine »Politik des Widerstandes gegen rassistische Klassifikationssysteme, [die] diskursiv so häufig auf genau die gleiche Weise verfährt wie das System, das sie kritisiert, nämlich unter Bezugnahme auf einen essentialisierenden Rassebegriff.« (Hall 1994: 94)

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dem Zuschreiben aufhören. Doch an solcher Wirkung der Zurückweisung von Privilegien darf gezweifelt werden, denn mit ihr kämen nicht automatisch diejenigen in den Genuss dieser Privilegien, denen sie bislang strukturell verwehrt blieben. Der Begriff des Privilegs markiert eine Transposition von Klassen- und Sozialkritik in das Feld der Moral. Denn er führt das Attribut ›ungerechtfertigt‹ untrennbar mit. Damit ist ein Sog der Kritik in Richtung der Rechtfertigungszusammenhänge und Selbstrechtfertigungen eröffnet – anstatt in die kritische Gesellschaftsanalyse. Zu leicht verwechselt man dann schlechte Rechtfertigung (oder die Abwesenheit von Rechtfertigungsmöglichkeiten) mit der Ursache von sozialen Problemen. Sinn behielte der Begriff des Privilegs, wo er sich vor moralistischen Missverständnissen des Politischen fernhielte – und doch scharf bliebe in epistemischer Sicht: Warum übersieht wer was? Was ist die soziale Systematik hinter dem Übersehen? Die hier geforderte Egalisierung nach unten ist eine schlechte Möglichkeit. Auch die Aufgabe eigener Privilegien kann als paternalistischer oder symbolischer Akt gesehen werden, denn auch in der Zurückweisung sind jene Machtverhältnisse wirksam, die dazu führen, dass jemand Privilegien innehat. Wer es sich leisten kann, zu sagen, »Ich will die Privilegien nicht, die du nicht hast«, der spricht auch darin privilegiert – latent herablassend. Die CW-Perspektive kritisiert so genannte ›weiße‹ Räume, in denen nur die Bedürfnisse ›weißer‹ Menschen berücksichtigt und marginalisierte Positionen ignoriert würden (vgl. Wachendorfer 2009). Eine der grundlegenden Annahmen ist also, dass ›weiße‹ Menschen bereits qua Hautfarbe – ohne intentionales Dazutun – am Rassismus partizipieren. Rassist:in ist demnach jede Person, die gesellschaftliche Macht besitzt: in einer ›weißen‹ Mehrheitsgesellschaft sind das alle ›Weißen‹. Ganz ähnlich argumentiert Birgit Rommelspacher, wenn sie erklärt, dass nicht nur bekennende Rassist:innen zum Gegenstand der Rassismuskritik werden sollten, sondern die gesamte deutsche Gesellschaft. So übersähen soziologische und sozialpsychologische Analysen, die sich nur auf die sogenannte extreme Rechte konzentrieren, »daß Rechte wie Linke, Konservative wie Liberale, Feministinnen wie Umweltschützer, Mächtige wie Machtlose rassistisch orientiert sind, wenn sie in dieser Gesellschaft aufgewachsen sind und nicht gelernt haben, sich bewußt davon zu distanzieren. Auf diese Tatsache zielt der Begriff der Dominanzkultur ab.« (Rommelspacher 1992: 81) CWS fordern zur Reflexion über die sozialen Positionen ›weißer‹ Personen auf. Sie fordern durchaus triftig ein, selbstkritisch zu fragen, an welchen Stellen eine ›weiße‹ Person Vorteile aufgrund ihrer Hautfarbe genießt, da sich ›Weiße‹ in Deutschland, bewusst und unbewusst, als Normgeber fühlen. Die CWS erwarten – vor allem von Personen, die sich antirassistisch verstehen – eine offensive Zurückweisung solcherart bewusst gemachter Privilegien. Aber indem gesellschaftliche Herrschaft in einen Gesamtzusammenhang von Privilegien aufgelöst wird, beraubt sich Theorie ihrer Kraft. Die Reflexion und Dekonstruktion der Privilegien und Vorteile verbleibt als einzige Möglichkeit, antirassistisch zu sein. Und mit der Bestimmung dessen, wer Rassist:in ist, erfolgt im Umkehrschluss die Bestimmung dessen, wer dies niemals sein kann: Jene, die über keine gesellschaftliche Macht verfügen – in einer ›weißen‹ Mehrheitsgesellschaft folglich People of Color.

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4.2.2 Harold Garfinkels Ethnomethodologie Die Critical Whiteness Studien stehen in zeitlicher Perspektive am jüngsten Punkt einer soziologischen Wiederentdeckung von Subjekt und Lebenswelt. Aber ihr Weg der Übersetzung von Sozialkritik in subjektive Verhaltenslehre, von Wissenssoziologie in erkenntnisskeptische Sortierung der Sprechenden, ist keineswegs der notwendige Pfad, den subjektivistische Theorien des Rassismus einschlagen müssen. Ausgehend von solchen, von mir hier sehr kritisch dargestellten jüngeren Vereinseitigungen, versuche ich im Folgenden, einen klassischen Entwurf der rassismustheoretischen Thematisierung von Alltagspraxis zu vergegenwärtigen: Harold Garfinkels frühe, aber dennoch für eine ethnomethodologisch orientierte Sozialwissenschaft exemplarisch gebliebene Perspektive auf Rassismus. Anfang der 1940er Jahre schreibt Garfinkel eine preisgekrönte Kurzgeschichte mit dem Titel Color Trouble (1940), die meines Erachtens im Wesentlichen seine spätere ethnomethodologische Perspektive vorwegnimmt. Keith Doubt würdigt diese Kurzgeschichte ebenfalls als Vorläufer der Ethnomethodologie, wenn er schreibt: »In a literary form, the short story depicts […] some ethnomethodological concepts […]« (Doubt 1989: 252), ohne diese aber explizit auszuweisen. Die grundlegende Frage an den Rassismus ist für die Ethnomethodologie: Wie stellen Rassist:innen soziale Ordnung her?

»Color Trouble«: Kontext und Rechtfertigung Beispielhafter Rahmen für die Darstellung des Funktionierens sozialer Ordnung in der Kurzgeschichte ist eine in jener Zeit typische Situation in einem Bus in den USA. Diese Situation war aufgrund der ›Rassentrennung‹ in den 1940er Jahren in North Carolina eine rassistische. Zwei nicht ›weiße‹ Personen besteigen einen Bus. Eine der beiden, Alice McBean, setzt sich aufgrund eines gesundheitlichen Problems nicht in den für sie als ›schwarze‹ Frau vorgesehenen Bereich. Zwar nimmt sie einen Platz im hinteren Teil des Busses ein, in dem ›schwarze‹ Personen laut ›Rassentrennung‹ sitzen müssen, füllt den Bus aber nicht, wie vorgeschrieben von hinten auf.28 Daraufhin entspannt sich ein Streit mit dem Busfahrer, der versucht, die geltende Ordnung durchzusetzen (vgl. Garfinkel 1940). Auch die in der Kurzgeschichte beschriebenen Reaktionen der Mitfahrenden dokumentieren das Bemühen, die soziale rassistische Ordnung stabil zu halten. Rassismus wird hiernach im alltäglichen Vollzug hergestellt. Anhand der zentralen ethnomethodologischen Konzepte soll nachfolgend vorgeführt werden, wie die in der Kurzgeschichte beschriebene Situation gedeutet werden könnte. Diese Konzepte sind: Accounts (1), Vollzugswirklichkeit (2), Indexikalität (3), die dokumentarische Methode (4), Reflexivität (5) und kompetente Mitglieder (6). (ad1) Accounts sind den Handlungen selbst zugehörige Rechtfertigungen, Erklärungen. Sie sind die nicht explizit formulierten Hintergrundbezüge, die einen Handlungsoder Interaktionsverlauf erst stimmig machen. Unter sie fallen sowohl verbale wie körperliche Darstellungen, die als praktische Begründungen von Handlungen gefasst wer-

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1955 wird Rosa Parks in Montgomery (Alabama) verhaftet, weil sie gegen die Gesetze der ›Rassentrennung‹ verstoßen hat. Sie weigerte sich, ihren Sitzplatz in einem öffentlichen Bus für einen ›Weißen‹ frei zu geben. Ihr Widerstand war kein Einzelfall, avancierte aber zum Vorbild für weitere Aktionen zivilen Ungehorsams.

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den. Accounts zeigen Gesellschaftsmitgliedern gegenseitig Normalität und Ordnung an, indem sie als »kommunikative Handlungen […] gemeinsame Interpretation der situativ wichtigen indexikalen Zeichen […] steuern« (von Lehn 2012: 74). Durch Accounts produzieren Handelnde Strukturen sozialer Wirklichkeit. Sie erscheinen dem Alltagswissen als selbstverständlich (vgl. auch Bergmann 2011: 227f.; Abels 1998: 140f., 144). Alice McBean fragt den Busfahrer danach, seinen Account für sein Common-SenseWissen explizit zu machen. Die beteiligten Personen haben unterschiedliche Begründungen: Der Busfahrer beruft sich auf die Gesetzgebung in Virginia (›Rassen‹-Trennung) und rechtfertigt damit die Platzzuweisung im hinteren Teil des Busses. McBean hingegen beruft sich auf die in der Verfassung der USA verbürgten gleiche Rechte. Sie rechtfertigt die von der rassistischen Vorschrift abweichende Platzwahl zudem mit ihrer Krankheit, die es für sie schmerzhaft mache, auf einem defekten Sitz zu sitzen. Die Mitfahrenden wiederum werden ungeduldig. Sie sind genervt von der Verspätung des Busses, die sich durch die Diskussion zwischen McBean und dem Busfahrer einstellt und pochen auf die Einhaltung des Fahrplans. Die Polizei, die schließlich gerufen wird, um den »Color Trouble« zu beenden, wie solche Situationen genannt wurden, beharrt darauf, dass den Gesetzen Folge zu leisten ist (vgl. von Lehn 2012: 19f.). (ad 2) Vollzugswirklichkeit ist das praktische Vollziehen der sozialen Ordnung. Durch das Doing wird soziale Ordnung im praktischen Tun permanent hergestellt – Handeln, das sich als Handeln und nicht erst durch explizit gemachte Legitimationen erklärt – das sich aber eben nicht aus sich erklärt, sondern weil es in seinem Vollzug einen Zusammenhang sozialer Strukturen aktualisiert. Menschen vollziehen hiernach z.B. Geschlechtszugehörigkeit, weil sie sie praktisch, Tag für Tag inszenieren, wie Garfinkel in der Studie mit der Transperson Agnes (Garfinkel 1967) zeigt. Die Ethnomethodologie verwendet für diesen Prozess die Wendung »ongoing accomplishment« (Garfinkel 1967; Keller 2012: 270). Aber was vollziehen die sozialen Akteure in Colour Trouble? Durch die direkte Thematisierung von ethnischer/›rassischer‹ Zugehörigkeit in der Interaktion ist diese deutbar als doing ethnicity/doing race: in habitualisierten und institutionalisierten Formen von Grenzmarkierungen, die Fremdheit und Nichtzugehörigkeit anzeigen, z.B. durch offizielle Kategorisierungen (Plätze im Bus) oder informelle Selektionsregeln bei der Vergabe von Positionen oder im Verhalten. Beispielhaft kann hier die Aussage des Busfahrers genannt werden, dass ›schwarze‹ Frauen keine »Ladies« seien, denen gegenüber er sich zuvorkommend verhalten müsse. (ad 3) Gemäß dem Konzept der Indexikalität ergibt sich die Bedeutung von Handlungen und Ausdrücken aus der Einbettung und Nutzung in konkreten Situationen und dem speziellen Wissen, das soziale Akteure aus dieser Situation ableiten. Diese Kontextabhängigkeit meint bei Garfinkel, dass alle – auch wissenschaftliche – Äußerungen als indiziert zu betrachten sind. Sinn wird demnach konsequent als okkasional begriffen, anders als bei Alfred Schütz, der zusätzlich noch subjektiven und objektiven Sinn unterscheidet (von Lehn 2012: 70f.; Abels 1998: 131–135). Übertragen auf das Beispiel ›Rassentrennung‹ der Kurzgeschichte heißt dies, dass der Sinn sich situativ in der Bus-Konstellation herstellt. Die Bedeutung rassistischer Gesetze realisiert sich dadurch, dass die beiden ›schwarzen‹ Reisenden verbal aufgefordert und später durch die Anwesenheit von Vollstreckungsbeamten auch potentiell körperlich genötigt werden, den Platz zu wech-

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seln. Auch die Nicht-Aktivität der anderen Passagiere, ihr Genervt-Sein von der Verspätung aufgrund von »Color Trouble« bestätigt den Sinn der rassistischen Praxis: Es offenbart, dass Widerstand unsinnig und für nicht von Rassismus-Betroffene lästig wäre. (ad 4) Die dokumentarische Methode, ein Begriff, der auf Karl Mannheim zurückgeht, bezeichnet die Organisation des Handelns danach, dass wir Phänomene als beispielhaft für ›dieses‹ oder ›jenes‹ betrachten. Diese Deutungen werden permanent (neu) ausgerichtet. Dieses praktische Interpretieren der Lebenswelt vollzieht sich alltäglich bei den sozialen Akteuren, aber auch auf Beobachterseite – in der Ethnomethodologie. D.h., die Ethnomethodologie verwendet die gleichen Methoden wie die Alltagsakteure (vgl. Abels 1998: 130); sie ist keine objektivistische Theorie, weil sie keine Eigenlogik sozialer Wirklichkeit behauptet, die den Akteuren in der Praxis unzugänglich gemacht würde. Die Ethnomethodologie geht davon aus, dass unterschiedlichen sozialen Phänomenen das gleiche Grundmuster zugrunde liegt. Einzelne Phänomene gelten als konkretes Dokument; sie sind Ausdruck dieses Musters. In der Kurzgeschichte richtet Alice McBean folgende Frage an den Polizisten: »Did your Virginia State Law ever hear of the Constitution?« Sie thematisiert damit den Rang der Verfassung über Bundesrecht. Eine konkrete Situation, die Segregation von ›schwarzen‹ Menschen im Bus, wird als Ausdruck eines allgemeinen Musters erkannt. Nur dadurch, dass am Ende der Geschichte sich drei andere ›schwarze‹ Männer (trotz abwertender Behandlung durch ›Weiße‹) froh zeigen, in Virginia zu leben und McBean als jemand ausgeschlossen wird, die nicht von hier kommt, wird Ordnung – das allgemeine Muster ist hier Segregation – wieder normalisiert. (ad 5) Reflexivität schließlich ist bei Garfinkel eng verbunden mit dem Konzept der Darstellbarkeit: accountability. Die Methoden, durch die die Ordnung alltagspraktisch hergestellt wird, sind auch die Methoden, vermittels derer die Ordnung als vernünftig und begründbar kenntlich wird. Reflexivität verweist auf die Beziehung von Handlung und Kontext: Wir beziehen uns immer auf andere und anderes (vgl. von Lehn 2012: 76). Der Kontext ist keine objektiv feststellbare, erkennbare Umgebung, in der sich Handlungen abspielen; Kontext selbst wird durch die »Beziehung zwischen einzelnen Handlungen und der Art und Weise, wie die Handlungen Aspekte von Identität, Zeit und Ort spezifizieren« (ebd.: 77) reflexiv hergestellt. Die Kurzgeschichte zeigt, dass nicht allein die objektive Situation der ›Rassentrennung‹ den Kontext von Handlungen stellt, sondern eine Gesamtheit zusammenwirkender Handlungen zu analysieren ist. Diese Situation stellt sich erst her in sinnbezogenen Handlungen. Der Kontext generiert sich aus der wechselseitigen Dynamik von einem auf seinen Zeitplan und die rassistische Ordnung im Bus pochenden Busfahrer, von Polizisten, die ›nur‹ ihre Arbeit machen und geltendes Recht umsetzen, einer renitenten ›schwarzen‹ Passagierin, Alice McBean, die sich gegen rassistische Zumutungen wehrt – und schließlich aus ignoranten Passagieren, die genervt sind. (ad 6) Zentral für die Annahmen der Ethnomethodologie sind kompetente Mitglieder. Garfinkel kritisiert die verbreitete soziologische Annahme einer vorstrukturierten Welt mit sozialen Akteuren als »judgmental dopes«, die lediglich in dem ihnen kulturell bereit gestellten und legitimen Rahmen handeln (vgl. Garfinkel 1967: 68; vgl. Doubt 1989: 255). Einzelne sind hier nicht bloße Exekutoren einer ihnen unzugänglichen objektiven Logik des Sozialen. Die Rede von kompetenten Mitgliedern stärkt dagegen die Position von

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in Handlungs- und Interaktionsvollzügen beteiligten »praktischen« Akteuren. Kompetent sind die Teilnehmer:innen in Situationen nach Garfinkel, wenn sie Wissen über die Organisation von Situationen haben. Das Handeln von Akteuren folgt nicht etwa einer vorgängigen Interpretation einer Situation – das Handeln ist die Interpretation. In der Kurzgeschichte macht Garfinkel darüber hinaus etwas Bemerkenswertes: Es scheint, als übertrage er die konträre Bestimmung der sozialen Akteure in konkurrierenden Soziologien – kompetent in seiner eigenen Ethnomethodologie vs. »kultureller Idiot«/Automat in objektivistischen Theorien – auf die verschiedenen Rollen in seiner Kurzgeschichte. Die Protagonistin Alice McBean ist ziemlich deutlich erkennbar ein kompetentes Mitglied in Garfinkels Sinn: Leidenschaftlich macht sie sich daran, das Bewusstsein der Akteure zu hinterfragen (vgl. Doubt 1989: 256). In Color Trouble wird der Busfahrer hingegen nach der von Garfinkel kritisierten Perspektive der klassischen kritischen Soziologie gezeichnet: Er ist passiv, ein ›cultural dope‹. In solchem Durchbrechen von Konventionen ist Garfinkels Geschichte kritischer als seine späteren soziologischen Experimente. Color Trouble zeigt die Bedeutung der Erfahrung von Rassismus in der Struktur des Alltags, sowohl für die Rassifizierten als auch für die Profiteure der rassistischen Ordnung, die ›weiße‹ Mehrheitsgesellschaft.29

Die sinnhafte Konstruktion der rassistischen Wirklichkeit Soziale Ordnung stellt sich in der Sicht der Ethnomethodologie interaktiv her, indem sich die Akteure gegenseitig Erklärungen für die Sinnhaftigkeit der Wirklichkeit in ihren Handlungen vorführen bzw. solche Sinnhaftigkeit in den Handlungen der anderen zu erkennen wissen. Solche praktischen Erklärungen haben Basisregeln: Dazu zählt die Typisierung der Lebenswelt mit ihrem Reduktionismus, ihrer Tendenz zum Einordnen und zum Herunterspielen von Besonderheiten. Die Typisierung von Menschen, Objekten und Handlungen stellt nach Garfinkel die Handlungsfähigkeit der Akteure in Alltagssituationen sicher. Sie ersetzt das normative Grundgerüst, welches Parsons noch als Grundlage sozialer Ordnung angesehen hatte. Soziale Ordnung ist Handlungen nicht vorgelagert – diese Handlungen, sind der Ort, an dem soziale Ordnung fortlaufend sichtbar wird und sich herstellt (vgl. Abels 1998: 119–121). Soziale Ordnung ist folglich das, was Akteure in und durch ihr subjektives Handeln herstellen. Das ermächtigt zunächst Kritik: So gedacht, wäre ein Handeln, das sich als antirassistisches in der sozialen Praxis etabliert, in der Lage, die Strukturen einer Gesellschaft zu verändern: Diese Strukturen haben ja keinen Ort jenseits dieses Handelns, sondern werden »laufend in Interaktionen ausgehandelt« (Abels 1998: 126). Wichtig für die soziale Konstruktion der Wirklichkeit sind zwei Idealisierungen, die auf Alfred Schütz zurückgehen: »Und so weiter« (Kontinuität) und »Ich kann immer wieder« (Wiederholbarkeit).

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Garfinkel zeigt in einer ebenfalls frühen Untersuchung – es war seine Master-Arbeit, die einige Jahre später in der Zeitschrift Social Forces veröffentlicht wurde –, inwiefern ›Schwarze‹ und ›Weiße‹ als Mordverdächtige bzw. Mordopfer in den »accounts« von Mitgliedern ›weißer‹ Strafgerichte erscheinen. Deren Handlungen werden je nach Hautfarbe unterschiedliche Motive, Plausibilitäten und Widersprüche zugeschrieben, sprich: sie werden mit unterschiedlichen Rechtfertigungen versehen (vgl. Garfinkel 1942).

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Die »Und so weiter«-Klausel lässt sich deutlich in der Szenerie der Kurzgeschichte wiederfinden. Es kann als eine Prozedur verstanden werden, durch die ein Mitglied einer Gesellschaft die Zustimmung eines anderen Mitgliedes erreicht, und zwar jenseits des expliziten gegenseitigen Verstehens (vgl. Schütz 1971: 153). Der Busfahrer will den reibungslosen Ablauf der Fahrt sichern: Es gibt Ärger mit McBean, also geht er nach einer Weile »einen Schritt auf sie zu« und repariert den Sitz, auf den sie sich wegen ihrer Krankheit nicht setzen wollte. Mit dem nun funktionierenden Sitz müsste nach Ansicht des Busfahrers gewährleistet sein, dass sie sich weit genug nach hinten in den Bereich für die ›Schwarzen‹ setzt. Doch McBeans Beharren auf einer Entschuldigung lässt die Idealisierung des »und so weiter« zerbrechen: ›Schwarze‹ Menschen haben sich gegenüber ›Weißen‹ nicht fordernd, sondern unterwürfig zu verhalten, so die Auffassung des Busfahrers. Die Idealisierung des »Und so weiter« funktioniert also nur so lange, wie es keine Überraschungen gibt: Nur ohne Störungen kann darauf vertraut werden, so Abels, dass die Situation, wie wir sie erleben, ihren typischen Lauf nehmen wird (vgl. Abels 1998: 121). »Ich kann immer wieder« richtet die Erwartung des »und so weiter« in die Zukunft. Der Alltag ist vertraut und wird von der Erwartung begleitet, dass er sich wiederholen wird (vgl. ebd.: 121f.) und dass die in diesem Fall rassistischen Wissensvorräte ihre Gültigkeit behalten werden. So erwarten Busfahrende, dass die unter der ›Rassentrennung‹ geltende Platzverteilung tagein, tagaus diskussionslos akzeptiert wird. Zur sozialen Konstruktion der Wirklichkeit gehört die Generalthese der wechselseitigen Perspektiven. Sie beinhaltet die Vertauschbarkeit der Standpunkte und die Kongruenz der Relevanzsysteme (vgl. Abels 1998: 123). Die Erwartung, dass das Wissen um die eingegangene Interaktion ein gemeinsam übernommenes Kommunikationsschema ist, korrespondiert mit der Erwartung, dass jede:r weiß, was die rechte Grundlage des Handelns ist: Das heißt dass soziale Akteure über Alltagswissen verfügen (vgl. ebd.: 124). Handlungen müssen folglich einander verständlich sein; sie bleiben reziproke Sinnherstellungen. Diese Sicht ist sehr weit weg von der Diagnose des Gaps zwischen ›privilegiert-weißer‹ und rassifizierter Erfahrung, die bei den Critical-Whiteness-Ansätzen diskutiert wurde. Color Trouble ist eine Kurzgeschichte, die ihr Vorbild sicherlich in konkreten Situationen zivilen Ungehorsams während der Zeit der ›Rassentrennung‹ gefunden hat. Sie ist zugleich ein Krisenexperiment, weil sie die Annahmen der sozialen Ordnung hinterfragt und so die soziale Ordnung offenlegt. Color Trouble rekonstruiert die Perspektiven der Akteure in einer Situation; rekonstruiert deren »Basisregeln« und Hintergrunderfahrungen. Garfinkels Interesse ist es, den ›natürlichen‹ und unhinterfragten Charakter sozialen Verstehens zu unterbrechen, um die strukturelle Basis für dieses ›natürliche‹ Verstehen im Alltag sichtbar zu machen. Garfinkels Beziehung zu den Subjekten ist dabei absolut unpolitisch: Er nimmt nicht Partei. Ethnomethodologie untersucht stringent das Alltagsdenken – »verändern wolle sie nichts« (Abels 1998: 148). Auch andere Vertreter der Ethnomethodologie betonen das alleinige Interesse daran, wie Menschen und nicht warum oder mit welchem Recht Menschen bestimmte Handlungen durchführen (vgl. ebd.: 115). Diese Unparteilichkeit schmälert nicht die Produktivität dieser Perspektive: Zwar erfährt man mit Garfinkel nichts über konkrete gesellschaftliche Bedingungen, die Rassismus begünstigen oder ihn haben entstehen lassen, aber er zeigt doch, dass rassis-

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tische Handlungen Rechtfertigungen verlangen (accounts), die sich ihrerseits praktisch, in Handlungsvollzügen herstellen – nicht in theoretischen Lehrgebäuden ausformulierter Rassetheorien beispielsweise. Die rassistische Ordnung der eigenen Handlungen erscheint den Menschen als natürlich und faktisch richtig, weil nicht bemerkt wird, dass ihre Natürlichkeit erst durch Handeln faktisch wird. Erkenntnisleitend bleibt die Haltung, dass der wissenschaftliche Standpunkt von Sozialwissenschaftler:innen dem Laienverständnis nicht als überlegen gilt. Der wissenschaftlich-ethnomethodologische Blick auf solcherart hergestellte soziale Wirklichkeit beansprucht für sich gerade keinen »epistemologischen Bruch« (Celikates 2009: 46), wie er für Bourdieu oder aber auch für die oben dargestellten Kritiken an Diskurs oder Ideologie maßgeblich ist.

4.2.3 Herbert Blumers symbolischer Interaktionismus Eine ähnliche analytische Selbstbeschränkung setzt sich auch ein anderer wichtiger Vertreter subjektivistischer Theorien: Herbert Blumer. Blumer hat eine Reihe von Arbeiten zum Thema ›rassischer‹30 Vorurteile vorgelegt. Im Fokus der folgenden Ausführungen stehen zwei Arbeiten: eine frühe Auseinandersetzung mit dem Titel Race Prejudice as a Sense of Group Position (1958) Blumers und die Gemeinschaftsarbeit mit Troy Duster unter dem Titel Theories of Race and Social Action (1980). Da im symbolischen Interaktionismus Menschen auf der Grundlage von Bedeutungen handeln, die die Dinge für sie haben, ist in Hinblick auf den Rassismus die Grundfrage, welche Bedeutung den rassistischen Stratifikationen zukommt – und wie sich diese Bedeutung in Interaktionen herstellt. Nach Blumer und Duster bilden sich Gruppen – und zu ihnen gehören auch jene, die erst unter einer rassifizierenden Perspektive als Gruppen erscheinen – relational zueinander. Dass Menschen unabhängig von wissenschaftlicher Evidenz als ›Rassen‹ wahrgenommen werden und sich aus dieser Wahrnehmung Beziehungen zwischen diesen Gruppen entwickeln, ist der Ausgangspunkt für die Befassung des symbolischen Interaktionismus mit den ›Rassen‹-Beziehungen. Entsprechend der Grundthese des symbolischen Interaktionismus, dass Menschen auf der Grundlage von Bedeutungen handeln, schreiben Blumer und Duster mit Blick auf die ›Rassen‹-Vorurteile, dass Menschen im tatsächlichen Leben auf der Grundlage dessen handeln, wie sie sich gegenseitig klassifizieren und sehen – nicht auf der Grundlage dessen, wie sie von außenstehenden Wissenschaftler:innen gesehen werden (vgl. Blumer/Duster 1980: 222). Gegenstand des Interesses ist für den symbolischen Interaktionismus erstens, wie Menschen, die miteinander leben, einander ›rassisch‹ klassifizieren; zweitens, welches Bild sie voneinander in Bezug auf Eigenschaften, Merkmale, Absichten usw. entwickeln; und drittens, was sie in Bezug auf solche Bilder voneinander erwarten. Die Existenz von Gruppen außerhalb dieser relationalen Struktur wird zurückgewiesen. Diese Einsicht in den Konstruktionscharakter von Gruppen richtet den Fokus auf die Beziehungen, Dynamiken und deren Variabilität. Eben jener Prozess der Konstruktion gilt dem symbolischen Interaktionismus als erklärungsbedürftig; aber er konstruiert nichts nach, er folgt

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Es verwundert, dass Blumer den Begriff ›rassisch‹ permanent verwendet, obwohl er sich des Konstruktionsgehaltes von ›Rasse‹ bewusst ist.

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keiner objektiven Struktur. In dieser Haltung ist der symbolische Interaktionismus der Ideologietheorie schroff entgegengesetzt.

Sinn für Gruppenpositionen In Race Prejudice as a Sense of Group Position betont Blumer, dass in einer soziologischen Analyse des Rassismus nicht Einzelpersonen, sondern Gruppenpositionen, nicht Gefühle wie Hass, sondern Beziehungen zwischen den ›rassisch‹ definierten Gruppen im Vordergrund zu stehen haben. Diese Gruppenpositionen treiben die Definition und Re-Definition von Gruppen voran.31 Die andere Gruppe zu definieren, bedeute stets auch, die eigene zu definieren (vgl. Blumer 1958: 4) – ein Vorgang den Robert Miles in seinen ideologietheoretischen Arbeiten als dialektischen Prozess der racialisation ausgearbeitet hat (vgl. Miles 2000: 21). Die kollektiven Selbst- und Fremdzuordnungen, die Menschen vollziehen, seien das Ergebnis von Erfahrungen. Die Bilder von der Eigen- und der Fremdgruppe, die aus diesen Erfahrungen erwachsen, sind Teil eines fortlaufenden Prozesses – für Blumer sind die entsprechenden Bilder durchaus variabel (vgl. Blumer 1958: 3). Mit Erfahrungen fasst Blumer jedoch nicht persönliche, sondern historische – geschichtliche Prozesse, in denen sich der Sinn für Gruppenpositionen entwickelt, weil eine der beiden Gruppen in die Position der subordinierten Gruppe gedrängt wurde (vgl. Blumer 1958: 6). Das Bild, das von der anderen Gruppe entworfen werde, sei ein abstraktes – keines, das aus der Erfahrung mit konkreten Individuen erwachse: Es werde aus der Ferne, in einer öffentlichen Arena gebildet (wir würden heute eher sagen: im öffentlichen Diskurs). Und dieses Bild werde bestimmt durch konkrete, öffentlich auftretende Personen, die als Stimme der jeweiligen Gruppe sprechen. Teil dieser Arena solcher Bildproduktion sind nach Blumer auch gesetzgebende und öffentliche Versammlungen, Kongresse und die Presse (vgl. ebd.: 6). Blumers Formulierung eines mit den ›rassischen‹ Vorurteilen zusammenhängenden Sinns für Gruppenpositionen weist auf eine »Positionsanordnung« (Blumer 1958: 4). Er betont, wie grundlegend ›rassische‹ Gefühle von einer Positionsanordnung der ›Rassengruppen‹ abhängen (vgl. ebd.: 4) und macht vier solcher Gefühle aus: Das Gefühl der Überlegenheit der eigenen Gruppe; das Gefühl der kompletten Verschiedenheit und Fremdheit der anderen Gruppe; ein Gefühl des Anspruchs auf besondere Privilegien und Vorteile in verschiedenen Bereichen; zuletzt das Gefühl bzw. der Verdacht, dass die untergeordnete Gruppe diese Vorrechte anfechten könnte. Im Gefühl der Überlegenheit wird die andere Gruppe von der dominanten Gruppe unten, im Gefühl der Verschiedenheit außen positioniert; das Gefühl des Eigentumsanspruchs schließt die andere Gruppe von Positionsvorrechten aus – und die Furcht vor Zugriffen auf die Vorrechte stellt eine emotionale Gefährdung der Gruppenposition dar (vgl. ebd.: 4). 31

In diesem Artikel von 1958 bleibt die Haltung Blumers zur Frage, ob die so genannten ›rassischen‹ Gruppen, über die er schreibt, konstruiert seien, etwas implizit. Klarer beantworten Blumer/Duster diese Frage in ihrer Gemeinschaftsarbeit aus dem Jahr 1980: Sie stellen in ihrem Einspruch gegen den biologischen Determinismus die Schwierigkeit heraus, ›rassische‹ Gruppen als biologisch unterschiedlich zu identifizieren. Sie betonen überdies die zweifelhafte Gültigkeit der Kriterien, die zur Feststellung angeborener ›Rassenunterschiede‹ verwendet werden und die Irrelevanz vermeintlicher biologischer Unterschiede für das, was in den ›Rassen‹-Beziehungen geschehe (vgl. Blumer/Duster 1980: 212).

4 Metamorphosen der Rassismustheorien – Objektivismus und Subjektivismus

Soziologisch gesehen, so Blumer, ist der Sinn für Gruppenpositionen ein Spiegelbild der objektiven Beziehungen zwischen den Gruppen in einer Gesellschaft (vgl. Blumer 1958: 5). ›Rassen‹-Vorurteile sind für Blumer v.a. eine defensive Reaktion auf solche Infragestellung des Gruppenpositionssinns (vgl. ebd.). Dieser Sinn übersetzt sich in das Gefühl, sowohl die dominante wie die untergeordnete Gruppe seien in sozialer Hinsicht am ›richtigen Platz‹ (ebd.: 4). »It is a sense of where the two racial groups belong.« (Ebd.: 5) ›Rassische‹ Gefühle, so Blumer, wirken auf die Positionsanordnung und gleichzeitig hängen sie von diesen Positionierungen ab (vgl. ebd.: 4; vgl. zur sozialen Platzierung durch den Rassismus auch Miles, Balibar, Hall). In jenem Text aus dem Jahr 1958 bleibt der Bezug auf die Herrschaftsförmigkeit des Rassismus noch äußerst subtil. Blumer erkennt eine – stark binär anmutende – Polarität von dominanter und untergeordneter Gruppe; die Macht der Definition gehe von der dominanten Gruppe aus: »However variable its particular career, the sense of group position is clearly formed by a running process in which the dominant racial group is led to define and redefine the subordinate racial group and the relations between them.« (ebd.: 5)32 Der Prozess der Definition erfolgt durch komplexe Interaktion und Kommunikation zwischen den Mitgliedern der dominanten Gruppe, so Blumer. So genannte Führer:innen, Prestigeträger:innen, Beamte, dominante Individuen und gewöhnliche Laien präsentieren einander Charakterisierungen der untergeordneten Gruppe. In Gesprächen, Erzählungen, Geschichten, in Klatsch, Anekdoten, Botschaften, Verlautbarungen, Nachrichten, Reden und Predigten werden Definitionen vorgestellt und Gefühle ausgedrückt, die Gruppen bestimmen und – so ließe sich hier ergänzen – die in den Alltagsrassismus eingehen. In dieser komplexen Interaktion laufen getrennte Sichtweisen gegeneinander, beeinflussen sich gegenseitig, modifizieren einander, stacheln sich gegenseitig an und verschmelzen in neuen Formen. Blumer formuliert aus einer mikrosoziologischen Perspektive, wie die dominante Gruppe in komplexen Interaktionen das Bild der untergeordneten Gruppe formt. Weitere Rekonstruktionen von Ausbeutungs-, Macht- und Herrschaftsmechanismen fehlen in seiner Arbeit allerdings völlig. Unter diese Kritik fällt auch seine Verwendung des Begriffs des Vorurteils, den Blumer durchgängig in seiner Arbeit verwendet. Ein Vorurteil scheint einzig in wechselseitiger Interaktion gebildet; die Subjektivität und die Herrschaftsstruktur, die zur Stereotypisierung drängt, geraten aus dem Blick. Rassismus wird zum Problem einer Beziehung zwischen Gruppen.

Kollektive Definition von rassifizierten Gruppen Später greift Blumer gemeinsam mit dem Rassismusforscher Troy Duster in einer Arbeit unter dem Titel Theories of Race and Social Action (1980) – ein Text, der für eine Herausgeberschaft der UNESCO entstanden ist – dann durchaus makrosoziologische Aspekte auf. Wie auch in Blumers Aufsatz von 1958 ist hier die Bedeutung von wechselseitigen Definitionsprozessen im Rahmen der Bildung von Gruppen zentral:

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Allerdings muss gefragt werden, ob Blumer davon ausgeht, dass die dominante Gruppe immer die definierende ist oder ob sie nur in seinem Text diese Rolle bekommt, weil er den Prozess der Bildung des Sinns für Gruppenpositionen am Beispiel der dominanten Gruppe expliziert (vgl. dazu Blumer 1958: 4).

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»We have labelled this scheme ›collective definition‹ in recognition of what we believe to be the basic process by which racial groups come to see each other and themselves and poise themselves to act towards each other; the process is one in which the racial groups are defining or interpreting their experiences and the events that bring these experiences about. The outcome of this process of definition is the aligning and realigning of relations and the development and reformation of prospective lines of action towards one another. It is this process of definition that we wish to analyse.« (Blumer/Duster 1980: 222) Der Blick richtet sich, wie schon in seinen frühen Beschäftigungen, auf die Dynamik und Varianz der ›Rassen‹-Beziehungen; er richtet sich auf Verschiebungen, die im historischen Verlauf zwischen zwei beliebigen Gruppen entstehen (vgl. Blumer/Duster 1980: 230f.). Reicht aber eine solche, die intersubjektiven Handlungskontexte betonende Perspektive auf Rassismus aus? »In the area of race relations, it is important to ascertain the kinds of objects racial groups form of one another, how they see and judge their respective positions, and what patterns of behavior they come to see as appropriate or necessary in their associations with one another. The formation of these objects, views, and orientations takes place through a vast collective process of definition.« (Blumer/Duster 1980: 231) Historische Prozesse und makrosoziologische Perspektiven bleiben bei Blumer und Duster Randbemerkungen. Der Fokus auf dem kollektiven Definitionsprozess öffnet den Blick für die rassifizierenden Prozesse des Alltagslebens – für ihre Persistenz und Wandlungsfähigkeit (vgl. ebd.: 223, 231); aber der Preis ist hoch: Denn die Konzentration auf die interaktiven Gruppendefinition droht, die Gewaltförmigkeit der Rassifizierung zu übersehen. Die Annahme allgegenwärtiger ›Aushandlung‹ gerät daher mit einer in der Rassismusforschung zentralen Prämisse in Konflikt: Rassismus ist eine Herrschaftsform. Weiter oben hatte ich bereits die Verwendung des Vorurteilsbegriffs bei Blumer problematisiert. In Theories of Race and Social Action nun nimmt Blumer selbst die Vorurteilsforschung zur Erklärung von ›Rassen‹-Beziehungen in die Kritik. Wohlgemerkt: Blumer spricht auch hier nicht von Rassismus; auch hier werden stattdessen »›Rassen‹-Beziehungen« thematisiert. Gleichwohl wirft er in dieser Arbeit die Frage auf, ob die Beschaffenheit von ›Rassen‹-Beziehungen durch die Idee des Vorurteils angemessen erklärt werden kann. Das wird verneint: »Our judgement is that prejudice does not explain these matters.« (Blumer/Duster 1980: 214) Blumers und Dusters Kritik an der Vorurteilsforschung teilt sich in drei Argumente: Die Vorteilsforschung bleibe ratlos gegenüber dem Umstand, dass Vorurteile zwar vorhanden, aber mitunter gar nicht gezeigt würden – und andersherum Vorurteile sich bisweilen in Handlungen manifestierten, aber dabei gar nicht gefühlt würden. Solche Abweichungen vom lange angenommen Normalfall – dass nämlich ein vorhandenes Vorurteil zu einer diskriminierenden Praxis führt – sind ohne Hilfsannahmen, die nicht der Vorurteilsforschung entstammen, nicht erklärbar. Selbst die von Blumer kritisierte Theorie der autoritären Persönlichkeit (vgl. Blumer 1958: 6) hatte bereits eine Idee der

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fehlenden Kongruenz von Vorurteil und Handlung.33 Die Bedeutung des situationalen Aspekts und des gesellschaftlichen Klimas für den Zusammenhang von Meinung und einer dieser Meinung ›entsprechenden‹ Handlung wird dann sehr prominent in der Einleitung der Studien zum autoritären Charakter (Adorno 1973) formuliert. Die ungeklärte Rolle von Gefühlen im institutionellen Rassismus bildet Blumers und Dusters zweites zentrales Argument gegen die Vorurteilsforschung. Im Zusammenhang mit dem Zurücktreten der Gefühle im Vorurteil sprechen sie auch vom institutionellen Vorurteil (dem institutionellen Rassismus), das gänzlich ohne Gefühle auskomme (Blumer/Duster 1980: 214). Der dritte Einwand von Blumer und Duster gegen die Vorurteilsforschung betrifft den Aspekt, dass die Idee eines ›Rassen-Vorurteils‹ die Veränderungen in den ›Rassen‹-Beziehungen nicht erklären kann (vgl. ebd.: 214f.) Indem Interaktionisten die Dynamik der praktischen Aushandlung betonen, eröffnen sie die Arena des sozialen Wandels. Ein innerer Tatbestand wie das Vorurteil könne, so der Vorwurf, nicht in gleichem Maße als variabel ausgewiesen werden. Der Wandel von Vorurteilen würde also seinerseits auf Interaktionen verweisen. Rassismus als eigenständiges Phänomen wird aus Perspektive des symbolischen Interaktionismus also als misslungene Beziehung zwischen rassifizierten Gruppen begriffen. Rassistische Vorurteile – Blumer hält trotz seiner Kritik an der Vorurteilsforschung am Begriff des Vorurteils fest – gelten als veränderbar und sollen in Interaktionen auflösbar werden. Wichtig sei, welches konkrete Bild, welche Vorstellung von Eigenschaften, Merkmalen, Ansichten sich Menschen voneinander machen (vgl. Blumer/Duster 1980: 222). Die Wandelbarkeit solcher Bilder von sich und von anderen Gruppen auf der Basis von Erfahrung könne im historischen Vergleich gezeigt werden: »But if we were to examine relations between the races at two points in time at the very least, we would discover differences not only in the collective conceptions of racial groups towards other racial groups, but towards themselves as a race.« (Ebd.: 223f.) Blumer und Duster gehen von einem fortlaufenden Prozess des Erlebens zwischen ›rassischen‹ Gruppen aus. Dieses Erleben kann routinemäßig und sachlich sein, manchmal aufrüttelnd und störend, bisweilen persönlich, andernorts unpersönlich, mal tief und schmerzlich und mal unbedeutend und entfernt (vgl. ebd.: 230). 33

Die aus der Vorurteilsforschung stammende Trennung von Einstellung und Verhalten ist in der Rassismusforschung allerdings strittig. Rassismus, so Christian Geulen, bezeichne nämlich zweierlei: eine bestimmte Form des Denkens und des Handelns. Mit Blick auf die Geschichte des Rassismus stellt er heraus, dass diese Unterscheidung wenig helfe, da Rassismus per se – also bereits als Denken – eine Form des praktischen Handelns sei. Denn um die für den Rassismus so zentralen Zuordnungen zu treffen, identifizieren, bewerten und klassifizieren wir. Wir tun dies, um eine vorhandene Welt an dieses rassistische Ideal anzupassen (vgl. Geulen 2018a: 13). Es spricht einiges dafür, Geulen in seiner Geleichsetzung von Denken und Handeln recht zu geben. Was gemeinhin als rassistischen Denken gelten kann – die ausgearbeiteten Rassentheorien – sind ja ihrerseits Produkt, um die Versklavung und später die Ungleichbehandlung von Menschen mit Argumenten zu rechtfertigen, wie die Ideologiekritik zeigt. Wenn man der Auffassung zustimmt, dass sich eine konkrete (rassistische) Bewusstseinsbildung der materiellen, objektiven Bestimmtheit eben jenes Bewusstseins verdankt, dann macht die Unterscheidung von Denken und Handeln wenig Sinn. Das bringt Marx mit dem Begriff der »Denkformen« auf den Punkt: Bewusstseinsformen also, die durch »praktische Aneignung und Gestaltung der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse« (Haug 1995: 592) gebildet werden.

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Die Betrachtung von Beziehungen und Interaktionen ist konstitutioneller Bestandteil des symbolischen Interaktionismus. Rassismus kann daher von Blumer und Duster nur im Begriff des Konflikts bzw. als Fall einer problematischen ›Rassen‹-Beziehung gesehen werden. Nach Blumer gibt es keine Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Beziehungen zwischen ›Rassen‹ eine besondere Klasse oder eine Art sozialer Beziehungen darstellen, die sich durch einen bestimmten Gattungscharakter in Hinblick auf wirtschaftliche, intime, unpersönliche Konfliktaspekte auszeichneten (vgl. Blumer 1955: 6). »Aside from the single unique feature that comes from races regarding each other as biologically instinct, all of the relations found between races are also found between groups that are not races.« (Ebd.)

4.2.4 Zur Kritik subjektivistischer Rassismustheorien Das Anliegen subjektivistischer Theorien, den Handlungsspielraum sozialer Akteure in Alltagshandlungen auch dort noch zu entdecken, wo objektivistische Theorien eher determinierende Strukturen zeichnen, hat ambivalente Folgen: Es legt erfahrungsoffen die Lupe auf soziale Beziehungen, ohne jedes deduktive Schon-Bescheidwissen über das, was sich dort abspielt, wie es ›schlechten‹ Marxismen zum Beispiel zu eigen ist. Die Gefahr wiederum liegt in einer euphemistischen Aufladung des sozialen Akteurs angesichts einer erdrückenden Materialität. Wo den konkreten Beziehungen alles sozial Relevante zugeschrieben wird, könnte bereits axiomatisch – und eben nicht mehr erfahrungsoffen – vorentschieden sein, dass es so schlimm mit der Macht objektiver Strukturen nicht sei. Die Ablehnung objektivistischer Theorien könnte dann der Wut auf den Boten der schlechten Nachricht entsprechen. Mit dem berühmten »Thomas-Theorem« (Thomas/Thomas-Swaine 1928), einer zentralen Prämisse des symbolischen Interaktionismus, lässt sich zusammenfassen, dass Akteure in sozialen Interaktionen auf der Basis ihrer Wahrnehmung, Interpretation und Bewertung konflikthafter Gegebenheiten handeln: Was für wirklich gehalten wird, wird praktisch zur Wirklichkeit gemacht. Je nach Interpretation ist der Ausgang dieses Prozesses offen. Im Rassismus haben mithin negative Deutungen in der Situationsdefinition die Oberhand gewonnen, sich durch spezifische ausgrenzende Verhaltensweisen verstärkt und die daraus resultierenden Beziehungen in Institutionen verstetigt. Die Beschreibung von ›Rassen‹-Beziehungen als einem kollektiven Definitionsprozess weist explizit die Relevanz von Gesellschaftsstrukturen für eine symbolisch interaktionische Perspektive zurück. Rassismus resultiere daher auch nicht aus strukturellen Momenten der Gesellschaft, sondern aus Gruppenbeziehungen. Blumer und Duster legen nahe, dass sich Gruppen in Abhängigkeit der Deutungen, die sie wechselseitig voneinander hegen, relational zueinander bilden – für den größten Teil der Rassismusforschung aber ist es der Rassismus, der Menschen in relationale Beziehungen zueinander setzt. Darüber hinaus lassen sich weitere Einwände gegen subjektivistische Theorien formulieren. Hilfreich für eine solche Kritik ist erneut Pierre Bourdieu – denn er hat deutlich wie kein anderer die Blickverengungen bloß subjektivistischer oder bloß objektivistischer, praxisblinder Theorien durchdacht. Bourdieu betont: Soziologie aus einer subjektivistischen Perspektive überschreitet nicht das erlebte Erfahren der Individuen im

4 Metamorphosen der Rassismustheorien – Objektivismus und Subjektivismus

Sozialen und kann die Frage nach den »Bedingungen der Möglichkeit solcher Erfahrung« (Bourdieu 1987: 50) weder stellen noch beantworten. Die Nichtthematisierung der Objektivität in der Theorie ist – so muss man Bourdieu lesen – eine theoretische Entscheidung für eine bestimmte, implizit bleibende Auffassung von Objektivität: Subjektivistische Theorien gehen von einer prinzipiellen Kongruenz der »objektiven Strukturen mit den einverleibten« (ebd.) aus. Sie können diese Deckungsgleichheit aber theorieimmanent nicht problematisieren, weil bereits die Annahme der Existenz objektiver Strukturen zur Disposition steht. Das Anliegen subjektivistischer Ansätze, hier der Ethnomethodologie, des symbolischen Interaktionismus und auch der Critical Whiteness Studies ist es, die Akteursperspektive auf eine epistemologische Stufe mit der wissenschaftlichen Analyse zu heben. Dieses Anliegen, »die Wissenschaft von der Gesellschaft einer Bestandaufnahme des krud Gegebenen, kurz, der herrschenden Ordnung […], gleichzustellen« (Bourdieu 1972: 150; Herv. i.O.) wird von Bourdieu scharf kritisiert. Theorien ohne Reflexion auf Objektivität stehen bei ihm unter Verdacht, das Unbewusste der Gesellschaft in das Unbewusste der Wissenschaft zu verlängern – begriffliche Verdoppelung des »krud Gegebenen« ist eben nicht objektiv, sondern sitzt den Selbstverdeckungen der Praxis auf. Und dennoch lässt sich auf die Erfahrung der Subjekte in der Soziologie nicht verzichten, denn diese kann sich nicht wie die Naturwissenschaften mit der »Rekonstruktion objektiver Beziehungen« bescheiden. Begriffe wie Entfremdung und Einstellung, die ja auch in der Kritik des Rassismus bedeutsam sind, zeugen von der Vermittlung von Subjektivem und Objektivem (vgl. Bourdieu 1965: 13). Eine weitere Kritik am Subjektivismus zielt auf dessen Desinteresse an ökonomischen Bedingungen. Solche Bedingungen zeichnen für Bourdieu ebenso wie für die Kritische Theorie den Rahmen der Entwicklung des Individuums, für sein Handeln, sein Denken, seine Reflexionsmöglichkeiten in weitem Maße vor. Diesem Desinteresse korrespondiert vor allem im symbolischen Interaktionismus eine der Kritischen Theorie zutiefst fremde Vorstellung – dass nämlich das soziale Gegebene, sprich der Status Quo, neutral sei (gegen diese Neutralitätsvorstellung: vgl. Marcuse 1967: 13; Freyenhagen 2018: 146). Mit der Akzeptanz des sozial Gegebenen als neutralem Ort wird eben nicht nur einer Forderung nach Wertfreiheit Rechnung getragen. Es ist auch die epistemische Vorentscheidung dafür, was diese Realität eben nicht sein kann: ein Herrschaftszusammenhang, dessen genaue Analyse bereits als Analyse kritisch ist – weil sie Widersprüche sichtbar macht. Letzteres ist dann Programm der Kritischen Theorie. Die Hinnahme des mit Bourdieu gesprochen »krud Gegebenen« ist für sie nicht zuerst politischer Fehler, sondern vor allem epistemischer Mangel: Mit der Neutralität des ›Status Quo‹ sieht sie das herrschaftsförmig Gewordene aus dem Blick verschwinden – Gesellschaftstheorie wird dann selbst zur schlechten Naturalisierung. Die Haltung, dass die soziale Welt veränderungswürdig und veränderbar ist, ist der frühen Kritischen Theorie gerade keine äußere normative Zutat zur Wissenschaft. Auch die zwei zentralen Schützschen Idealisierungen in Garfinkels Ethnomethodologie, durch die Interaktionen und Verstehen möglich werden – also: das »immer-weiter-so« oder das »ich-kann-immerwieder« (Schütz 1971: 153) – stehen in deutlichem Gegensatz zu solcher Hoffnung. Das Arrangement mit der Stabilität der Gesellschaft und ihren Ideologien steckt als Basis des Verstehens bereits in diesen theoretischen Grundprämissen.

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4.3 Übergabe an Kritische Theorie – Die Vermittlung von Objektivismus und Subjektivismus Die Darstellung der subjektivistischen und objektivistischen Theorien zum Rassismus diente nicht nur dazu, einen Überblick über verschiedene Erklärungen des Rassismus vorzustellen. Sie hat auch ein grundlegendes Problem der Rassismuskritik hervortreten lassen: Der Preis für einen konzentrierten Blick auf die Kraft gesellschaftlicher Strukturen ist häufig Desinteresse an Handlungsspielräumen, Sinnproduktionen und Erfahrungen des Subjekts. Der Preis dafür jedoch, das Subjekt ins Zentrum zu rücken, ist eine Dethematisierung objektiver Determinanten, häufig mit der Gefahr politischer Naivität. Die bloße Behauptung von Komplementarität wiederum, ein Programm der Addition von Perspektiven angesichts von Stärken-Schwächen-Profilen, hilft nicht. Denn beide Seiten sind unversöhnlich – sie führen wie gesehen jeweils starke Thesen über den ideologischen oder zumindest defizitären Charakter der anderen Seite mit, und diese Thesen sind Bestandteil der eigenen Erkenntniskraft. Ein Strukturalismus beispielsweise, der sich um ethnomethodologische Perspektiven erweitern ließe, wäre kaum noch einer – er sähe wohl nicht mehr, sondern weniger. Die Unversöhnlichkeit ist nicht additiv aufzuheben, sondern nur, indem theoretisch und empirisch begründete Vermittlungen zwischen Subjekt und gesellschaftlicher Objektivität dargeboten werden können – Vermittlungen, die an den Stellen ansetzen, an denen in den subjektivistischen und objektivistischen Theorien selbst bloß axiomatisch der eigene Zugang als überlegen ausgewiesen wird. Es braucht einen Theoriezusammenhang jenseits der Perspektivenaddition, der subjektivistische und objektivistische Blicke vermittelt. Die frühe Kritische Theorie möchte ich in den folgenden Kapiteln einführen als eine solche produktive Möglichkeit – eine theoretisch ausgearbeitete Möglichkeit, am Gegenstand des Rassismus eine sehr spezifische Vermittlung von Subjekterfahrung und Theorie gesellschaftlicher Objektivität herzustellen. In der Auseinandersetzung mit den objektivistischen Theorien habe ich unterschiedliche Pointen betont: Bei Miles ist die Bedeutungskonstitution der Rassifizierung zentral. Die Merkmalsauswahl der Rassifizierung geschieht nach herrschaftssichernden Kriterien – Rassismustheorie bedarf also eines Begriffs dieser Herrschaft, um am Einzelnen überhaupt zu erkennen, wonach sie sucht. Damit eröffnet Miles den Blick für die Ideologieförmigkeit des Rassismus. Miles’ Stärken liegen weniger im Feinsinn für die Verknüpfung oder Artikulation konkreter, subjektiver Herrschafts- und Diskriminierungserfahrungen – auch nicht in einer genauen Phänomenologie rassistischer Subjektivität. Die Stärken seines Blicks auf Rassismus liegen eher in seiner Nachkonstruktion eines Zusammenhanges gewaltsamer, solche Erfahrungen erst konstituierender Objektivität: Rassismustheorie ist bei ihm nicht Organ der Genealogie und Kritik von ›Vorurteilen‹, nicht Analyse konkreter rassistischer Interaktionen, sondern Sichtbarmachung einer Mechanik des all dem vorgeordneten klassengesellschaftlichen Ungleichmachens: Er kann zeigen, dass hier tatsächlich gemacht wird, mittels übersubjektiver, materieller und diskursiver Praktiken; Praktiken, die ihren Praxis-Charakter hinter der Anmutung von Natur zu verbergen wissen. Balibar betont einen ähnlichen ideologischen Aspekt gesellschaftlicher Objektivität: die Naturalisierung des Sozialen. Von Naturalisierungsef-

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fekten und Rechtfertigungstendenzen spricht auch Hall, ohne aber den Ideologiebegriff zu verwenden. Er nimmt nationale Identität in den Blick, sie überdeckt Differenzen im Inneren einer Gesellschaft. Alle drei Vertreter objektivistischer Theorien stellen in diesem Zusammenhang die Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit des Rassismus an soziale Konflikte heraus. Sie betonen damit Aspekte, die verwandelt auch für das Frankfurter Denken über autoritäre Muster wichtig waren: Das Anspringen auf produzierte Merkmale der Andersartigkeit; die Legitimation von Herrschaft sowohl nach unten wie nach oben durch ihre Naturalisierung; die verselbständigte Eigenlogik sozialer Institutionen; schließlich die Konstitution der nationalen Ingroup (die der Abgrenzung von den ›Anderen‹ bedarf) als Verbrämung sozialer Widersprüche. Ähnlich wie Hall hat auch Kritische Theorie ein Organ dafür, dass Kritik von ihrem Gegenstand im schlechten Sinne angesteckt werden kann: Hall hatte die Ähnlichkeit zwischen manchen anti-rassistischen Argumentationen und dem Neo-Rassismus dargestellt; Adorno betont die autoritären und kollektivistischen Tendenzen der universitären Linken. Vor allem in Hinblick auf die bei Miles und Balibar vorgenommene Charakterisierung des Rassismus als Ideologie, als Naturalisierung des Sozialen, ergeben sich weitreichende Übereinstimmungen zu einer Kritischen Theorie des Rassismus. An späterer Stelle wird gezeigt, mit welcher Begründung der Rassismus als Ideologie beschrieben und kritisiert werden kann. Dabei wird zunächst die Frage aufgeworfen, ob der Rassismus – entgegen jeder umgangssprachlichen Selbstverständlichkeit jenen als Ideologie einzuordnen – überhaupt eine Ideologie im klassischen Sinne ist und wie der Rassismus unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen und entsprechend veränderten Rechtfertigungen heute als Ideologie zu konzeptualisieren ist. Weder Miles noch Balibar und Hall rekurrieren auf sozialpsychologische Aspekte, um die Frage nach der Verbreitung von Rassismus jenseits seiner strukturellen und institutionellen Einbettung zu beantworten. Kritische Theorie hingegen sucht das Verhältnis psychologischer Dispositionen zu gesellschaftlichen Verhältnissen zu klären. Eine zusätzliche Schärfung erfährt der Rassismusbegriff neben der Untersuchung eines kulturellen Rassismus (Neo-Rassismus) vor allem bei Balibar; durch die Diskussion seines Verhältnisses zu Sexismus und Nationalismus bei Balibar und Miles sowie durch die Diskussion, ob der Antisemitismus eine Form des Rassismus sei. Die Verflechtung verschiedener Ideologien wie dem Rassismus, dem Antisemitismus, dem Nationalismus und dem Sexismus war bereits in den Autoritarismusstudien, an denen Adorno mitwirkte, deutlich. »Increasing degrees of anti-Semitism were shown to be closely related to increasing opposition to labor unions and racial equality […].« (Levinson 1950: 104) In den Autoritarismusstudien deutet sich eine Tendenz an, der zu folgen sich lohnt: den Rassismus als Aspekt eines größeren Zusammenhangs – des Autoritarismus – zu konzeptualisieren. Diese Einbettung ermöglicht zunächst auf einer psychosozialen Ebene, die gemeinsamen Bezüge verschiedener Phänomene wie Sexismus und Nationalismus zu verstehen. Sie ermöglicht auf einer gesellschaftlichen Ebene, historische Verbindungen und jeweilige Spezifika herauszustellen. Diesen Verflechtungen gilt es an anderer Stelle weiter nachzugehen. In den vorangegangenen Überlegungen, insbesondere jenen zur Neuartigkeit des Neo-Rassismus und zur Gleichursprünglichkeit von Universalismus, Sexismus und Ras-

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sismus, drängte sich das Begriffspaar von Partikularismus und Universalismus immer wieder auf. Um eine Auseinandersetzung mit diesem Begriffspaar kommt nicht herum, wer sich mit dem Rassismus beschäftigt. Sowohl die Frage nach seiner Genese, seiner Geltung wie auch die nach den Möglichkeiten seiner Abschaffung sind davon affiziert: In welchen seiner Aspekte ist der Rassismus universalistisch; ist er das überhaupt, trotz seiner augenscheinlichen Partikularität? Sollte sich eine Rassismuskritik auf partikularistische Maßstäbe berufen, die allerdings argumentativ in die Nähe zum Ethnopluralismus der Neuen Rechten geraten können; kann sie sich andersherum überhaupt auf universalistische Maßstäbe der Aufklärung stützen, eingedenk des kolonialen Vorgehens, das sich mit dem Vorhaben der Zivilisierung der Menschheit brüstete? Zumindest die CWS beantworten die zweite Frage mit einem klaren ›nein‹. Der Kritischen Theorie ist nun aber gerade daran gelegen, der Dialektik der Aufklärung theoretisch habhaft zu werden und sie zum einem Schlüsselkonzept des Verständnisses der destruktiven Tendenzen moderner Gesellschaften zu machen. Die Frage nach universalistischen Bezugspunkten in der Rassismusanalyse und -kritik wird daher ebenfalls Gegenstand der folgenden Ausführungen zu einer Kritischen Theorie des Rassismus sein. In meiner Auseinandersetzung mit subjektivistischen Theorien, insbesondere mit der Ethnomethodologie Garfinkels, war die Frage zentral, wie in Interaktionen – jenseits einer determinierenden Superstruktur – soziale Ordnung hergestellt und bestätigt wird. Diese Frage setzt bereits die Annahme voraus, dass soziale Ordnung primär durch ihre Mitglieder gestaltet wird. Diese Idee von Aktivität wird konzeptionell gefasst in der Idee einer Vollzugswirklichkeit. Dieses »doing« macht so den individuellen Beitrag zur Fortsetzung des Rassismus und seiner Kategorien ›Rasse‹/›Kultur‹ analytisch greifbar. Eine weitere damit verbundene Annahme ist die von kompetenten Gesellschaftsmitgliedern, die Erfahrungen machen und dadurch reflexiv im Handeln sind. Damit betont die Ethnomethodologie die Bedeutung von Erfahrungen in der Struktur des Alltags, sowohl für Rassifizierte als auch für Rassist:innen. Mit dem Konzept der Reflexivität wird der Zusammenhang von Handlung und Kontext für den Rassismus aufgeschlossen. Menschen sind nicht bereit, in allen sozialen Situationen gleich rassistisch und diskriminierend zu sein. Die Ethnomethodologie interessiert sich daher für das Verhältnis von Rechtfertigung und Praxis rassistischer Handlungen – es versteht sich nicht von selbst. Mit dem Konzept der Accounts wird dabei der Fokus auf die mikrosoziologische Stimmigkeit und Begründbarkeit von Handlungs- oder Interaktionsverläufen in einer rassistischen Situation gelegt. In der frühen Kritischen Theorie, die in Lehrbüchern eher als objektivistische Theorie subsumiert wird, ist anders als im Traditionsmarxismus viel von Erfahrung und Alltag, vom ›Privaten‹ die Rede. Betont wird aber nicht die Handlungsfähigkeit des Subjekts, sondern deren Bedrohung: In zugerichteter oder gar verunmöglichter Erfahrung setzt sich gesellschaftliche Objektivität durch. Die erste Art der Vermittlung objektivistischer und subjektivistischer Perspektiven ist ein ›Usurpationsmodell‹: Subjektivität und mit ihr die Möglichkeit von Erfahrung geraten unter die Räder einer kapitalistischen Objektivität (später wird man dies mit Habermas’ Verschiebungen »Kolonialisierung« nennen). Das ist aber nur eine Weise der Frankfurter Vermittlung. Die Integration der subjektiven Erfahrung findet sich in der Kritischen Theorie zweitens als Ausgangspunkt von

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Kritik: Die Erfahrung von Leid, das konkreten Menschen widerfährt – leiblich, somatisch. Der Materialismus gerade Adornos ist nicht nur eine ökonomische oder erkenntnistheoretische Position; er ist auch Parteinahme für leibliches Mitleid. Der Kritischen Theorie geht es nicht darum, mit einer die Strukturen überbetonenden Gesellschaftstheorie das Subjekt zum Verstummen zu bringen; vielmehr ist sie sich bewusst, dass Veränderung einzig an jenen ist, deren Handlungs- und Reflexionsfähigkeit durch eben jene Strukturen eingeschränkt wird. Die Integration subjektivistischer Perspektiven kann in der Kritischen Theorie nicht dadurch erfolgen, dass sie deren analytischen Optimismus hinsichtlich Handlungsfähigkeit, Gestaltungskraft, Reflexion ungebrochen übernimmt. Die Kritische Theorie Adornos und Horkheimers weigert sich, wie Städtler schreibt, »Gesellschaft als Resultat selbstbewusster Selbstorganisation zu fassen« (Städtler 2019: 316) – weder als Summe individuellen Selbstbewusstseins, noch als zur Gestalt gewordener Ausdruck eines seiner selbst bewusst gewordenen Gesamtsubjekts (Hegels »Staat«, die marxistische Klasse für sich als »Subjekt«). Subjektivistische Perspektiven einzunehmen, heißt für die Kritische Theorie, zu verstehen, wie es zur objektiven Verhinderung selbstbewusster Handlungsfähigkeit und Mündigkeit kommt. Sie betont unterschiedliche Freiheitsgrade und Freiheitsqualitäten von Praxis und Bewusstsein – und hält sich darum fern von der Behauptung, dass eben jene reflektierende Kraft einfach als fortlaufend gegeben vorausgesetzt werden könne – und sich im Handlungsvollzug ganz prinzipiell realisiere. Kritische Theorie geht aber gemeinsam mit Subjektivisten wie Garfinkel von der prinzipiellen Existenz einer reflektierenden Kraft im Menschen aus, sonst wäre ihr Bemühen um eine kritische Gesellschaftstheorie, die auf Veränderung zielt, vergebens. Explizit subjektivistisch wird Kritische Theorie in der »Wendung aufs Subjekt« (Adorno 1966a: 676), wie Adorno es nennt. Diese Wendung meint Doppeltes: Eine Nötigung zur Psychologie für Soziolog:innen, weil die Übermacht der objektiven Verhältnisse sich jetzt auch im Bewusstsein und mehr noch Unbewusstsein der Einzelnen verwirkliche. Aber auch eine politische Nötigung, das Subjekt in Reflexionsfähigkeit und Mündigkeit zu stärken angesichts der (gewissermaßen kapitulierenden) Einsicht in die Unmöglichkeit, die objektiven Bedingungen grundlegend zu verändern. »Wendung aufs Subjekt« ist also methodologischer Imperativ und zugleich pessimistischer erzieherischer Appell; ein Appell zur Stärkung subjektiver Fähigkeit zu Aufklärung und Kritik, gerade weil Objektives so stark wird. Für die Kritische Theorie besteht trotz der »Wendung aufs Subjekt« also immer ein analytischer Vorrang des Objektiven in der Gesellschaftstheorie. Die interaktionistische Theorie Blumers hingegen kann keinen theoretischen Blick auf das rassistische Subjekt und keinen auf die Objektivität gesellschaftlicher Herrschaftsordnungen gewinnen, wenn diese nicht unmittelbar Interaktionen anvisiert. Die interaktionistische Perspektive ist für eine Rassismuskritik daher unzureichend, denn sie bleibt subjektivistisch. Die makrosoziologischen Aspekte des Rassismus, insbesondere die für die Rassismuskritik so zentralen ideologischen Effekte, bleiben dem interpretativen Paradigma notwendig unzugänglich. Subjektivistische Perspektiven holt sich die Kritische Theorie zudem aus einer anderen wissenschaftlichen Disziplin, der Psychologie, genauer gesagt, der Psychoanalyse. Weil sich Entscheidendes der kapitalistischen Gesellschaft im Individuum abspielt, wird Psychologie für die Kritische Theorie wichtig. Die Vermittlung des Gesellschaftli-

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chen bis in das Unbewusste der Subjekte hinein, nötigt die Soziologin, auch Psychologin zu sein. Schon seit den 1930er Jahren wollte Kritische Theorie verstehen, was Reflexion verhindert und wie allgemeine psychologische Entwicklungsprozesse und konkrete Beschaffenheit einer Gesellschaft vermittelt sind. Dieses Interesse war historisch bedingt und führte nicht nur zu Rekonstruktionen des Materialismus, wie es Christian Voller ausführlich in In der Dämmerung. Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie (2022) rekonstruiert, sondern auch zu eben jener Aufnahme von Psychologie. Von dieser Vermittlungsbemühung zeugen nicht nur Adornos Mitarbeit an den Studien zum autoritären Charakter, Löwenthals und Adornos getrennte Arbeiten zur Wirkung faschistischer Propaganda (Adorno 1951a; Löwenthal 1949), sondern auch Marcuses wiederholte Ausarbeitung der These eines Übermaßes von Unterdrückung angesichts einer Gesellschaft, die nach dem Stand ihrer Produktivkräfte sehr wohl die Möglichkeiten hätte, menschliche Bedürfnisse weit und umfänglich zu befriedigen (Triebstruktur und Gesellschaft, 1955). Die in Blumers interaktionistischer Theorie aufgeworfene Frage des Zusammenhangs von Handlung und Kontext beschäftigt auch die Kritische Theorie. In den Überlegungen zum Autoritarismus beispielsweise geht die Kritische Theorie davon aus, dass das, was die Menschen sagen und was sie wirklich denken, weithin vom geistigen Klima abhängig ist, in dem sie leben (vgl. Adorno 1973: 5). Doch in solchen interaktiven Kontexten geht das Gesellschaftliche der subjektiven Handlung nicht auf: Die so genannte Faschismusanfälligkeit und ihr korrespondierende Einstellungen werden als Ausdruck einer mangelnden Ich-Stärke verstanden. Der autoritätsgebundene Charakter überbetont Stärke, Autorität gerade deshalb, weil er psychologisch schwach ist. Die Kritische Theorie hat die Entstehung des Autoritarismus stets im Spannungsfeld von gesellschaftlichen Bedingungen und sozialpsychologischen Dispositionen zu verorten gesucht. Keine dieser Seiten wird dabei als Determinante ausgewiesen, sondern beide stehen in einem Wechselverhältnis, wie bereits Erich Fromm früh formuliert (vgl. Fromm 1937: 158). Autoritäre Reaktionen mitsamt den dazugehörigen Ressentiments werden durch Erziehung und Sozialisation in der Familie gebildet, durch die Einrichtung der Gesellschaft geformt, praktiziert und zugelassen. Die Geringschätzung von Gefühlen im symbolischen Interaktionismus ist aus solch sozialpsychologischer Perspektive problematisch. Menschen werden in sozialen und gesellschaftlichen Konstellationen nicht zuletzt in ihren Gefühlen geprägt. Gefühle daher als nicht-soziologischen Gegenstand aus der Analyse auszuschließen, ignoriert nicht nur ihre Bedeutung im Rassismus und ihre Mobilisierbarkeit für rassistische Propaganda und Populismus; dieser Ausschluss ist auch unterkomplex, weil er Gefühle nicht einmal als Massenphänomen der Beachtung wert findet. In dieser Absehung von Gefühl bleibt auch der für die Kritische Theorie so wichtige Ansatzpunkt für Kritik, das Leiden von Menschen, ausgeblendet. Um Gefühlen die angemessene Stellung in der Gesellschaftstheorie zu verleihen, spricht Kritische Theorie vom »Ressentiment«. Zum Symptom der autoritären Persönlichkeit geworden, erfüllt das Ressentiment eine »›ökonomische‹ Funktion« (gemeint ist mit Freud eine triebökonomische) in der Psyche des Subjekts (vgl. Adorno 1973: 135). Es wird aber zugleich Bindemittel politischer Phänomene: mobilisierbar in Massenbewegungen, stimulierbar durch autoritäre Propaganda, prägend für die Rezeption der sozialen Welt.

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Was findet sich in der Kritischen Theorie von der Annahme Garfinkels, dass Menschen ihre Handlungen vor sich und anderen rechtfertigen?34 Auch hier ist es Kritischer Theorie nicht möglich, den Optimismus der Ethnomethodologie hinsichtlich der Reflexivität sozialer Akteure zu übernehmen. Stattdessen verweist sie auf den instrumentellen Gehalt von Rechtfertigungen – psychologisch häufig beschreibbar als Rationalisierung, argumentativ durchsetzt von Ideologie. Rechtfertigungen nimmt Kritische Theorie als Moment instrumentellen Handelns in den Blick, das sich gemessen an den Anforderungen einer warenproduzierenden, konkurrenzbasierten Gesellschaft als vernünftig und rational darstellt. Die Funktion der Rechtfertigung ist auch für den Rassismus bedeutsam. Die Rechtfertigung von verbalen Übergriffen oder Gewalttaten erscheint aus Perspektive Kritischer Theorie immer doppelt: im Zusammenhang mit der sozioökonomischen und politischen Augenblickssituation einerseits und mit Blick auf relativ stabile Vergesellschaftungsmechanismen und Sozialisationsbedingungen andererseits, die der Verankerung rassistischer Vorstellungen im Einzelnen günstig sind. Die Annahmen der CWS sind weit entfernt vom Gestus Kritischer Theorie. Beide jedoch werfen grundsätzliche Fragen nach der Geltung von Wissen auf, beispielsweise nach der Anerkennung von Wissen im Wissenschaftsbetrieb (vgl. dazu aus CWS-Perspektive: Junker 2009: 436). CWS betonen die Relevanz der Frage, von wem und damit vor allem, von wo aus etwas gesagt oder gedacht wird. Im Gegensatz aber zur Ideologiekritik versuchen die CWS nicht das, was gesagt wird, auf dem Terrain des Wahrheitskampfes zu widerlegen und immanente Falschheit mit sozioökonomischen Produktionsbedingungen zusammenzudenken. Auch in der Frankfurter Ideologiekritik kann der Sprechort, die Frage, wer und von wo jemand spricht, einen wichtigen Erklärungsaspekt zur sozialen Genese der Falschheit von Aussagen abgeben. Niemals aber ist das Von-Wo oder Wer schon selbst der Beleg der Wahrheit oder Falschheit. In den CWS wird hingegen die Frage nach wahr und falsch selbst aufgelöst in einen Effekt der Machtverteilung: eine Verteilung, die sich vor allem am jeweiligen Sprechort, der eigenen ›Positionierung‹ bemisst. Einen immanenten Geltungszusammenhang, auf den man sich gerade als Kritiker:in einlassen müsste, gibt es hier nicht. Keine Variante der CWS akzeptiert eine Trennung von Genesis und Geltung, also die kategoriale Differenz der Zusammenhänge sozialer Entstehung des Wissens hier und seiner Begründung und Rechtfertigung dort. Mit der Zentrierung des Begriffs des Privilegs in den CWS bricht sich ein EthischWerden von Politik Bahn, dass Kritischer Theorie selbst ideologisch scheint: Eine Versetzung von Sozialkritik in das Feld der Moral. Die Auseinandersetzung mit Rechtfertigungszusammenhängen (bzw. dem Fehlen von Rechtfertigung) und individualisiertem Verhalten geht zu Lasten der Analyse und Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse. Ob die mangelnde Selbstreflexion von als ›weiß‹ Privilegierten in Hinblick auf eigene Privilegien (die sie eben nicht als solche wahrnehmen) wirklich gesellschaftlicher Grund für die rassistischen Privilegien ist, das wäre eigens erst zu zeigen – nicht nur Marxist:innen sähen das deutlich anders. Denn auch der Kapitalismus lebt ja nicht in erster Linie deshalb fort, weil Kapitalist:innen nichts abgeben mögen. 34

Bei Habermas wird genau jene Frage sehr explizit verhandelt, wenn er sich dafür interessiert, wie Menschen ihre Normen und Wertebasis in den Prozess einer verständigungsorientierten Kommunikation einbringen (vgl. Habermas 1981).

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Nach diesen einführenden Kontrastierungen von Kritischer Theorie hier und dem Panorama subjektivistischer und objektivistischer Rassismustheorie dort geht es mir im Folgenden um einen eigenen Entwurf zu einer Kritischen Theorie des Rassismus: Dazu entfalte ich keinen Theorievergleich – wie oben bereits gesagt gibt es keine ausgearbeitete Kritische Theorie des Rassismus, die man darstellen und mit ihren Konkurrenten von Balibar bis Garfinkel vergleichen könnte. Es gibt stattdessen gesellschaftstheoretische, methodisch-erkenntniskritische und vor allem autoritarismus- und antisemitismustheoretische Arbeiten. Und die sind in den meisten Fällen sogar reicher und produktiver für mein Vorhaben als der riesige Textkorpus anderer Theorieperspektiven. Ich werde meinen Darstellungsgang in den folgenden Kapiteln immer wieder an den drei leitenden Begriffspaaren orientieren, an denen ich oben schon den Rassismus und seine soziologische Theoretisierung ausgerichtet habe: Partikularismus und Universalismus, Subjektivismus und Objektivismus sowie Natur und Kultur. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass sich Kritische Theorie anbietet als Vermittlerin zwischen jenen Vereinseitigungen, die rassismuskritische Soziologie häufig mitführt. Zunächst wird im nächsten Kapitel die theoretisch anspruchsvolle Konzeption von Individualität und gesellschaftlicher Objektivität entfaltet (Kapitel 5). Kapitel 6 thematisiert die gleichsam objektivistische Seite eines ›Frankfurter‹ Blicks auf Rassismus, Kapitel 7 zur Psychologie des autoritären Charakters die subjektive.

5 In schlechter Gesellschaft

Wie beschreibt und kritisiert Kritische Theorie eine Gesellschaft, in der Rassismus strukturell verankert und von den Menschen reproduziert wird? Nachfolgend werden die gesellschaftstheoretischen Grundannahmen Kritischer Theorie rekonstruiert. Zu klären ist, wie Kritische Theorie Gesellschaft denkt – und wie die in ihr lebenden Individuen »Subjekte« werden, wie ihr intersubjektives Miteinander vor allem von Adorno gedacht wird. Im Folgenden wird daher zunächst der Begriff der Mimesis eingeführt, der Kritischer Theorie als ein Zugang zum Anderen gilt (5.1). Von dieser Klärung ausgehend werde ich den Gesellschaftsbegriff der Kritischen Theorie konturieren (5.2) und dann die Stellung des Subjekts in diesen Verhältnissen (5.3) beschreiben. Daran anschließend wird es um die Frage nach der Bedeutung von Erfahrung in der Kritischen Theorie und um die Möglichkeiten und Verunmöglichungen von Erfahrung in kapitalistischen Gesellschaften gehen – mit besonderem Augenmerk auf die partikularen, gewaltvollen und diskriminierenden Erfahrungen rassifizierter Menschen. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage diskutiert, wer Träger von Rassismuskritik sein kann (5.4). Das Kapitel wird abgeschlossen durch eine Auseinandersetzung mit dem Konzept des Nichtidentischen und seiner Bedeutung für die Rassismusanalyse (5.5).

5.1 Rassismus als Simulation von Natur Die Kritische Theorie hat mit Idiosynkrasie und Mimesis zwei Begriffe im Zentrum, die den vergesellschafteten Umgang mit Anderen mit tiefenpsychologischen und gattungsgeschichtlichen Perspektiven vermitteln. Die Rolle der Mimesis wird in der Dialektik der Aufklärung (dort insbesondere im Antisemitismus-Kapitel), in der Ästhetischen Theorie und der Negativen Dialektik Adornos untersucht. Der Mimesisbegriff hat bei Adorno eine ästhetische, eine erkenntniskritische und eine sozialpsychologisch-gesellschaftstheoretische Seite.

5 In schlechter Gesellschaft

Wie beschreibt und kritisiert Kritische Theorie eine Gesellschaft, in der Rassismus strukturell verankert und von den Menschen reproduziert wird? Nachfolgend werden die gesellschaftstheoretischen Grundannahmen Kritischer Theorie rekonstruiert. Zu klären ist, wie Kritische Theorie Gesellschaft denkt – und wie die in ihr lebenden Individuen »Subjekte« werden, wie ihr intersubjektives Miteinander vor allem von Adorno gedacht wird. Im Folgenden wird daher zunächst der Begriff der Mimesis eingeführt, der Kritischer Theorie als ein Zugang zum Anderen gilt (5.1). Von dieser Klärung ausgehend werde ich den Gesellschaftsbegriff der Kritischen Theorie konturieren (5.2) und dann die Stellung des Subjekts in diesen Verhältnissen (5.3) beschreiben. Daran anschließend wird es um die Frage nach der Bedeutung von Erfahrung in der Kritischen Theorie und um die Möglichkeiten und Verunmöglichungen von Erfahrung in kapitalistischen Gesellschaften gehen – mit besonderem Augenmerk auf die partikularen, gewaltvollen und diskriminierenden Erfahrungen rassifizierter Menschen. In diesem Zusammenhang wird auch die Frage diskutiert, wer Träger von Rassismuskritik sein kann (5.4). Das Kapitel wird abgeschlossen durch eine Auseinandersetzung mit dem Konzept des Nichtidentischen und seiner Bedeutung für die Rassismusanalyse (5.5).

5.1 Rassismus als Simulation von Natur Die Kritische Theorie hat mit Idiosynkrasie und Mimesis zwei Begriffe im Zentrum, die den vergesellschafteten Umgang mit Anderen mit tiefenpsychologischen und gattungsgeschichtlichen Perspektiven vermitteln. Die Rolle der Mimesis wird in der Dialektik der Aufklärung (dort insbesondere im Antisemitismus-Kapitel), in der Ästhetischen Theorie und der Negativen Dialektik Adornos untersucht. Der Mimesisbegriff hat bei Adorno eine ästhetische, eine erkenntniskritische und eine sozialpsychologisch-gesellschaftstheoretische Seite.

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5.1.1 Mimesis – der Zugang zum »Anderen« Man könnte zunächst eine Verwandtschaft vermuten zwischen dem politischen Imperativ mancher Rassismuskritiken, das Besondere, das ›Andere‹, den ›Anderen‹ anzuerkennen und der Mimesis-Theorie Adornos. Doch diese Nähe trügt. Adornos Interesse am Mimesisbegriff ist, so Früchtl, erfahrungstheoretisch motiviert – Erfahrung fungiert als Gegenbegriff zu »verblendeter‹ Theorie« (vgl. Früchtl 1986: 2f.). Mimesis ist Mittler zur Stärkung des Nichtidentischen; ein Gegengewicht zur bloß begrifflichen, subsumierenden, Qualitäten abschneidenden, bloß kognitiven Erfahrung der Welt. Mimesis ermöglicht die Wahrnehmung des Besonderen, indem sie das Subjekt und dessen Ratio in der Anähnelung abrüstet. Wahre Mimesis ist zunächst die unbeherrschte »organische Anschmiegung ans andere« (Horkheimer/Adorno 1947: 205). Als Verhältnis zur Natur ist echte Mimesis frei von Herrschaft. Mimesis bezeichnet Adorno in der Vorlesung über Negative Dialektik als jenes »Moment des unmittelbaren Sichgleichmachens der Lebewesen und des Bewußstsein, an das, was anders ist als sie« (Adorno 1965/66: 134). Dieses Mimetische wird aber in der bürgerlichen Produktionsweise ebenso verdrängt wie im entwicklungsgeschichtlichen Prozess des Erwachsenwerdens. Und diese Verdrängungsleistung ist dem Subjekt nicht bewusst. Eigene, unterschlagene mimetische Regungen fallen fortan nur noch an Anderen auf – die verdrängte mimetische Regung im Subjekt wird also zu einem Motiv, anhand dessen Adorno pathologische Beziehungen zwischen Menschen deuten will. Mimesis wird von Adorno verstanden als phylo- und ontogentisches Vermögen. Sie erfüllt nicht nur Selbsterhaltungsfunktionen für das Subjekt, das natur- und sozialgeschichtlich bestimmt wird, sondern Mimesis wird gattungsgeschichtlich auch als Voraussetzung für die Herausbildung von Humanität gesehen (vgl. Früchtl 1986: 4). Mimikry als eine Form der Mimesis sei ein erster Ausdruck der »Selbstermächtigung und des Selbstbewußtseins« (Gebauer/Wulf 1992: 389) des Menschen.1 Die Angleichung an die Umwelt erfolge mit dem Zweck, der Natur zu entgehen, die das »allmählich entstehende ›Selbst‹ bedroht«, schreiben Gebauer und Wulf. Denn der Mensch sei nicht nur bloße Natur – sein Selbst sei unzweifelhafter Beleg für eine ›gebrochene‹ Zugehörigkeit zur Natur und doch darüber hinaus (vgl. ebd.: 389f.). Der Mensch habe sich bemüht, die Rückverwandlung seines Selbst in Natur zu verhindern, zum Preis der Entfremdung des Selbst von der Natur und der Angleichung ans Tote. Jede Erstarrung sei eine Anlehnung an die »unbewegte Natur« (Horkheimer/ Adorno 1947: 204). Die Angleichung ans Tote stelle einen Schutz gegen die Zerstörung des Selbst durch die Natur dar (vgl. Gebauer/Wulf 1992: 389). Die Notwendigkeit zur Selbsterhaltung zwinge zum Erstarren gegenüber innerer und äußerer Natur. Das Bedürfnis der Selbstbehauptung kollidiere mit dem Bedürfnis, sich fallen zu lassen oder nur untätig zu sein. Nach Gebauer und Wulf gehen Horkheimer und Adorno hier von einer Ten-

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Früchtl weist darauf hin, dass Adorno Mimesis und Mimikry »wechselweise im selben Zusammenhang gebraucht« (Früchtl 1986: 38f.). Doch gibt es seit den 1950er Jahren bei Adorno eine Tendenz, Mimikry als bloße Selbsterhaltung und ›Angleichung ans Tote‹ zu charakterisieren (vgl. ebd.: 38).

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denz der menschlichen Existenz aus, in die Natur zurückzusinken (vgl. ebd.: 390).2 Mimesis hingegen ist die Anähnelung oder Anschmiegung ans Lebendige: So wird sie in den Entfremdungskritiken Adornos und Horkheimers zur anthropologischen Einspruchsinstanz gegen entfremdende und entfremdete Verhältnisse des Sich-Selbst-Gleichmachens mit dem Toten. In magischen Phasen der Kulturentwicklung betrieben die Menschen noch eine »organisierte Handhabung« der Mimesis: »Der Zauberer macht sich Dämonen ähnlich; um sie zu erschrecken oder zu besänftigen, gebärdet er sich schreckhaft oder sanft.« (Horkheimer/Adorno 1947: 26) In späteren Zeiten bzw. an anderen Orten löste die Arbeit als beherrschte, auch verhinderte Mimesis die unbeherrschte Praxis der Mimesis in der Magie ab; das ist der Übergang zur Erkaltung, zur Angleichung »ans Tote« (ebd.: 79). »Bewußte Anpassung und schließlich Herrschaft ersetzen die verschiedenen Formen der Mimesis. Der Fortschritt der Wissenschaft ist die theoretische Manifestation dieses Wandels: die Formel verdrängt das Bild, die Rechenmaschine die rituellen Tänze.« (Horkheimer 1946: 125) Unbeherrschte Mimesis kennt noch keinen Grenzübergang vom Selbst zum Anderen. So sei sie in der archaischen Phase ein reines »Anschmiegen ans Andere« (Horkheimer/Adorno 1947: 205). Das mimetische Vermögen sucht eines Gegenstandes anders als besitzergreifend habhaft zu werden – eine »Kopplung der Körper des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen« (vgl. Taussig 1997: 31). In den Phasen ›höherer‹ Kulturentwicklung habe sich die Form der organisierten Mimesis durchgesetzt. Das Zurückdrängen eines unorganisierten mimetischen Verhältnisses zur Welt sei begleitet von einem »Verlust an Unmittelbarkeit« (Gebauer/Wulf 1992: 372). Im Arbeitsprozess werden mimetische Verhaltensweisen nicht zugelassen. Die bürgerliche Produktionsweise braucht keine Hingabe an die erste äußere Natur mehr; sie bedarf lediglich der Anpassung an die zweite äußere Natur (die künstlich produzierte Umwelt). An Stelle eines Anschmiegens an die erste Natur tritt nun die Anpassung an die zweite, an Gesellschaft. Weil unbeherrschte Mimesis das Selbst bedroht, wird dem Selbst nun der Vorrang vor dem Anderen gegeben. Diese Haltung beschränkt sich nicht nur auf den Menschen im Arbeitsprozess, sondern weitet sich aus auf den Menschen in der Gesellschaft überhaupt (vgl. Horkheimer/Adorno 1947: 205). Man könnte hier allenfalls noch von rational strukturierter Mimesis sprechen. Zivilisatorische Maßgaben fordern zur Schmähung mimetischer Verhaltensweisen auf: Sich-Fallenlassen, die Überantwortung an den Anderen wirken bedrohlich. Mimesis habe, so Gebauer und Wulf, etwas von Mitempfinden, Mitleid, Liebe zu anderen Menschen, Hingabe und Nachahmung (vgl. Gebauer/Wulf 1992: 395). Das bürgerliche Subjekt jedoch verlerne diese Fähigkeiten. Typisch für Adorno und Horkheimer ist die Engführung von individueller Entwicklungspsychologie, Gattungsgeschichte und kapitalismuskritischer Arbeitstheorie: Auf allen drei Feldern lassen sich gleichsam Mimesis-Unterdrückungsprogramme nachzeichnen. Die »Automatisierung der geistigen Prozesse, durch ihre

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Auch Freud unterstellt in Jenseits des Lustprinzips (1920) einen zur Selbstauflösung neigenden Zug im Menschen. Das triebhafte Bedürfnis nach »Wiederherstellung von Früherem« bezeichnet er als Regression (vgl. Freud 1920: 17). Lustprinzip und Todestrieb wirken in die gleiche Richtung: es gehe um die Aufhebung von Spannungen zugunsten eines angenehmeren Zustandes, der im Anorganischen, im »Leblosen« (Horkheimer/Adorno 1947: 205), also im Tod ausgemacht wird.

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Umwandlung in blinde Abläufe« (Horkheimer/Adorno 1947: 205) geschehe in Analogie zu technischen Abläufen, wie sie typisch für moderne Gesellschaften sind. Mimetisches Verhalten werde so auch durch objektive Veränderung des Produktionsprozesses, durch objektivierende Verhaltensweisen ersetzt. Wir haben hier ein erstes Argument vor uns, mit dem die Kritische Theorie sich als Vermittlerin objektivistischer und subjektivistischer Perspektiven anbietet: Mimesis ist das subjektive Vermögen zur Anähnelung, zur Hingabe, zum zumindest temporären Herunterfahren der Schilde, mit denen sich das Subjekt als starkes ›Selbst‹ behauptet. Zugleich ist sie Moment der Interaktion – der Art, wie Menschen untereinander in Beziehung treten (oder nicht mehr treten können). Und drittens schließlich sind es objektive Prozesse, ökonomische und zivilisatorische Verschiebungen, die nach weitestgehend übersubjektiven Eigengesetzlichkeiten ablaufen, die über das mimetische Potential entscheiden; die es in der Moderne weitgehend abschneiden. Und diese objektive Tilgung mimetischer Potentiale im Subjekt wird dann – bei Horkheimer und Adorno vor allem im Antisemitismus, aber auch im Rassismus – zum wichtigen Element der Erklärung pathologischer Interaktionsbeziehungen. Kurzum: Den MimesisBegriff lediglich subjektivistischen Ansätzen einzugliedern, würde seine Erklärungskraft vorab abschneiden: Bei Horkheimer und Adorno vermittelt er Subjekttheorie und marxistischen Objektivismus.

5.1.2 Die herrschaftliche Funktionalisierung der Idiosynkrasie Idiosynkrasie ist ebenso wie das mimetische Potential eine vorrationale, somatische Anlage zum Umgang mit dem und zur Erfahrung des Anderen. Der Kritischen Theorie gilt Idiosynkrasie – das gesträubte Gefieder, die aufgerichteten Haare, die Reaktion mit den Nerven, die jenseits des Verstandes situierte leibliche Gereiztheit – als der Mimesis komplementär verbunden. Adorno und Horkheimer leiten auch idiosynkratische Verhaltensweisen aus der biologischen Urgeschichte der Menschen her. Einzelne Organe des Körpers reagierten rudimentär und entzögen sich der Kontrolle des Subjekts unter Einfluss eines Idiosynkrasie auslösenden Reizes. So bekämen Menschen unter bestimmten Bedingungen beispielsweise eine Gänsehaut, ihre Muskeln fangen an zu zucken – oder sie erstarren vor Angst. Idiosynkrasie wird in der Dialektik der Aufklärung als »hochgradige Abneigung« gegen das »Besondere und Lebendige« behandelt. »Idiosynkrasie […] hefte sich an Besonderes«; jedoch nicht in anschmeichelnder Art, sondern in negativer Fixierung auf das Abweichende. »Als natürlich gilt das Allgemeine, das, was sich in die Zweckzusammenhänge der Gesellschaft einfügt« (Horkheimer/Adorno 1947: 204). Abweichend wären beispielsweise extrem unangenehme Geräusche, Gerüche wie Müll, Schweiß, Verderbnis und Tod – Dinge, die zivilisatorisch als ›nicht ganz mitgekommen‹ erscheinen oder solche, die Verbote und Tabus verletzten. Die entscheidende Pointe zum Verhältnis von Mimesis und Idiosynkrasie ist nun: Mit der Tilgung und Tabuierung des Mimetischen richten sich idiosynkratische Impulse auch gegen Erinnerungen, Aufscheinendes, Wiederkehrendes mimetischer Beziehungen. Idiosynkratische Reaktionen verweisen zunächst zurück auf eine angsteinflößende Natur, die zu Erstarrungsreaktionen motiviere. Zivilisationsgeschichtlich verwei-

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sen idiosynkratische Reaktionen dann auf die verdrängte innere Natur (vgl. Früchtl 1986: 49f.). So heißt es in Anlehnung an Freud: »Was als Fremdes abstößt ist nur allzu vertraut. Es ist die ansteckende Gestik der von Zivilisation unterdrückten Unmittelbarkeit: Berühren, Anschmiegen, Beschwichtigen, Zureden. Anstößig heute ist das Unzeitgemäße jener Regungen. […]. Peinlich wirkt schließlich jede Regung überhaupt, Aufregung ist minder. Aller nicht-manipulierte Ausdruck erscheint als Grimasse, die der manipulierte – im Kino, bei der Lynch-Justiz, in der Führer-Rede – immer war.« (Horkheimer/Adorno 1947: 206)3 Interessant ist für die Rassismuskritik die herrschaftliche Funktionalisierung der Idiosynkrasie beispielsweise im Faschismus. Die geläufige Vorstellung von Idiosynkrasie ist die einer naturgegebenen Abneigung, eine »besonders starke Abneigung oder Überempfindlichkeit gegenüber bestimmten Personen, Lebewesen [.]« (Duden 1997: 344, Sp. 2f.). Im Gegensatz dazu, sieht die Kritische Theorie in Idiosynkrasie im Zusammenhang mit dem Antisemitismus (und dem Rassismus) jedoch einen Vorwand (vgl. Stein 2002: 97) – nämlich etwas als fremd und unheimlich zu deklarieren, was jedoch nicht unbekannt sei, ganz im Sinne von Freuds Theorie des Unheimlichen. Die Idiosynkrasie im modernen Antisemitismus, auf den sich Horkheimer und Adorno an entsprechender Stelle beziehen (vgl. Horkheimer/Adorno 1947: 210), sei eine Rebellion gegen die innere Natur. Aber auch im Rassismus spielt Idiosynkrasie als Sehnsucht nach Unmittelbarkeit und als projizierte Angst vor dem Fremden – als manipulierte Fremdenangst – eine Rolle. Adorno und Horkheimer ruhen sich analytisch keineswegs auf einer spekulativen Deutung der Fremdenangst als vermeintlich urzeitlicher Neigung aus: Sie zeigen stattdessen den instrumentellen Charakter der Politisierung von Idiosynkrasie nicht nur bei der faschistischen Agitation, sondern im gesellschaftlichen Zwangszusammenhang, der Ängste hervorruft – so z.B. jene vor dem Überflüssigwerden der eigenen Arbeitskraft in der Konkurrenz. Gerade die Berufung auf eben jene angeblich natürliche Reaktion – die rassistisch motivierte Wut und Aggression – gegenüber dem, was als fremd deklariert wird, bezeichnen Horkheimer und Adorno als »Vorwand« des politischen Antisemitismus (vgl. Horkheimer/Adorno 1947: 208).4 Idiosynkratische Reaktionen können angedreht, in

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Die psychoanalytische Theorie Freuds geht davon aus, dass das Ängstliche etwas Verdrängtes ist, das sich auf eine andere Art den Weg zurück ins Bewusstsein bahne. Schon in dem Wort ›unheimlich‹ steckt der Wortstamm ›heim‹, was nach Freud auf das Eigene verweise. ›Heimlich‹ wiederum bezeichne etwas Verborgenes, etwas, was bei sich behalten werden solle. Und die Vorsilbe ›un‹ markiere das Moment der »Verdrängung« (Freud 1919: 232–236, 259). »[.] denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist.« (ebd.: 254) »Die seelische Energie, die der politische Antisemitismus einspannt, ist solche rationalisierte Idiosynkrasie. Alle die Vorwände, in denen Führer und Gefolgschaft sich verstehen, taugen dazu, daß man ohne offenkundige Verletzung des Realitätsprinzips, gleichsam in Ehren, der mimetischen Verlockung nachgeben kann. Sie können den Juden nicht leiden und imitieren ihn immerzu. Kein Antisemit, dem es nicht im Blute läge, nachzuahmen, was ihm Jude heißt.« (Horkheimer/Adorno 1947: 208)

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Dienst genommen, ja psychotechnisch produziert werden. Der Exotismus des kolonialen Rassismus kann auch als zivilisatorische Flucht zur scheinbaren Naturhaftigkeit des ›wilden Mannes‹ und der ›wilden Frau‹ gelesen werden. Diese Sehnsucht nach Natur bleibt im Rassismus ambivalent und projektiv: ambivalent, weil sie nicht vollzogen werden darf – zu mühsam war der Verzicht, den die ›Zivilisierten‹ haben auf sich nehmen müssen; projektiv, weil die Sehnsucht und der Wunsch nach Hingabe und dem Abwerfen des zivilisatorischen Korsetts zwingend im Anderen ausfindig machen, was einem selbst untersagt bleibt. Sein Objekt findet der Rassismus in den rassifizierten ›Wilden‹. Das Naturargument spielt im Rassismus die entscheidende Rolle. Man meint bestimmte Menschen aufgrund ihrer körperlichen Erscheinung für bestimmte – meist niedere – Tätigkeiten besser geeignet, erd- bzw.- naturverbundener. Lange bevor der Mensch sich über die Natur erhoben hat, wurde er von ihr bedroht. Die Angst jener Zeit überträgt sich in die moderne Gesellschaft, die bereits als zweite Natur angenommen wurde. Sie ergreift dabei die vergesellschaftete Persönlichkeit des Menschen (innere Natur) und die durch Menschenhand geschaffene ›Umwelt‹ (äußere Natur). »Rasse ist nicht, wie die Völkischen es wollen, unmittelbar das naturhaft Besondere. Vielmehr ist sie die Reduktion aufs Naturhafte, auf bloße Gewalt, die verstockte Partikularität, die im Bestehenden gerade das Allgemeine ist.« (Ebd.: 193) »Die seelische Energie, die der politische Antisemitismus einspannt, ist […] rationalisierte Idiosynkrasie.« (Horkheimer/Adorno 1947: 208) Es ist also nicht einfach naturhafte Reaktion gegen Anderes, die sich in der idiosynkratischen Reizung zeigt, sondern: Reaktion gegen etwas, das an Natur, an Mimesis, erinnert. Idiosynkrasie entzündet sich an einem Zusammenhang, der Mimesis tilgt. ›Rationalisiert‹, d.h. im psychoanalytischen Sinne nachträglich durch Gründe gerechtfertigt, die nicht bestimmend für das Zu-Rechtfertigende waren, wird sie dort, wo über das, was aufreizt, ein rechtfertigender Überbau gesponnen wird: Wo aus dem bloß ›gesträubten Gefieder‹ ein ›ich mag Dich nicht, weil …‹ wird. Diese Rationalisierungen sind für Adorno und Horkheimer die Schnittstellen zwischen antisemitischer Welterklärung und dem Toben des gereizten antisemitischen Subjekts.5 Rassist:innen stürzen sich in der kollektiven Gewalt auf ›ihre‹ rassifizierten Objekte, an denen sie ihre mimetischen Impulse wiederzufinden glauben. Denn die künstlichen Zuschreibungen von Differenz zur Eigengruppe und die Annahme von Gleichheit der Gruppenzugehörigen schaffen das »Gefühl des Gegensatzes, der Fremdheit« (Horkheimer/Adorno 1947: 210), das doch so vertraut ist. In diesem allgemeinen, projektiven Modus der Abwehr des Eigenen im Anderen ähneln sich Rassismus und Antisemitismus (vgl. zu den gewichtigen Unterschieden von Rassismus und Antisemitismus 7.4.1). Für die Antisemitismusforschung ist der in der Dialektik der Aufklärung geprägte Begriff, der

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Referenz der Reflexionen von Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung ist der Nationalsozialismus. In der Uniformierung der Nationalsozialist:innen erkennen sie im allgemeinsten Sinne das Bestreben, mimetische Verhaltensweisen zu ermöglichen. Die »organisierte« Nachahmung magischer Praktiken, die »Mimesis der Mimesis« brauche die Juden (vgl. Horkheimer/ Adorno 1947: 209). Gegenwärtige (extrem) rechte Bewegungen bieten derart starke Vergemeinschaftungsrituale über Uniformen, Masse, Marsch und organisiertem Pogrom derzeit nicht mehr an.

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»pathischen Projektion« enorm einflussreich geworden. Auch die Rassismusforschung argumentiert mit dem psychoanalytischen Konzept der Projektion. »Wenn Mimesis sich der Umwelt ähnlich macht, so macht falsche Projektion, die Umwelt sich ähnlich.« (Ebd.: 212) Die Wahl des rassifizierten Objekts in der Projektion ist nicht zufällig. Der nachfolgende Abschnitt über das Motiv der Zivilisierung im kolonialen Rassismus mag hier erhellend sein.

5.1.3 Die »Zivilisierung« des Menschen Henning Melber analysiert den Modus der Disziplinierung und Erziehung als zweifach gerichteten Prozess in modernen Gesellschaften. Erstens wende sich der Zivilisationsprozess gegen die Menschen in den kapitalistischen, kolonialisierenden Gesellschaften und zweitens gegen die Menschen in den kolonisierten Gesellschaften.6

Die Wendung gegen Menschen in kolonisierenden Gesellschaften Die Industrialisierung bereitet einen Erziehungsprozess vor, der Menschen diszipliniert. Die moderne, kapitalistische Gesellschaft wird mit ihren Forderungen an den Einzelnen als angemessen und vernünftig angesehen – ein Anpassungsprozess, der sich über mehrere Generationen erstreckt (vgl. Melber 1989: 33–35). »Die allmähliche Ausbreitung der (industrie-)kapitalistischen Produktion benötigte und erzeugte ein Ensemble von Arbeitstugenden und verinnerlichten Persönlichkeitsmerkmalen, die Triebverdrängung und Pazifizierung der inneren Natur, Selbstkontrolle und Eigenwie auch Fremddisziplinierung des Menschen erforderlich machten.« (Ebd.: 35) Das moderne, instrumentelle, zweckgerichtete Subjekt ist das Produkt der Unterdrückung, Disziplinierung, Verleugnung der inneren Natur des Menschen. Horkheimer und Adorno beschreiben den gleichen Prozess in der Dialektik der Aufklärung philosophisch durch das Prisma ›Aufklärung‹. Durch Säkularisierung entstehe die Möglichkeit zur Befreiung von religiösen sowie metaphysischen Mächten sowie für den erkenntnislogischen Fortschritt in den Wissenschaften. Die Aufklärung ersetzt die Götter durch Begriffe, formalisierte Operationen und technische Routine, die aber ihrerseits zum ›Mythos‹ werden kann: zur Instanz heteronomer Unterwerfungsforderungen. Dieser Zusammenhang von Unterwerfung und Entsagung werde als solcher aber nicht erfahren – er ist ›zweite Natur‹. »Das erbarmungslose Verbot des Rückfalls wird selber zum bloßen Verhängnis, die Versagung ist total geworden, daß sie nicht mehr zum bewußten Vollzug gelangt.« (Horkheimer/Adorno 1947: 206) Vernunft, so legt auch Horkheimer in seiner Kritik der instrumentellen Vernunft (1946) dar, hätte zwar das Potential, im Dienste der Menschheit zu stehen (objektive Vernunft); mit der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft nehme der emanzipatorische Gehalt von Vernunft jedoch stetig ab und reduziere sich auf instrumentelle Zweck-Mittel-Zusammenhänge. Vernunft werde in diesem Prozess zum Instrument der Kalkulation und Machtausübung über erste und zweite Natur. Sie bleibt beschränkt auf die subjektive Vernunft – ohne Besinnung über die zweckmäßige Einrichtung des Ganzen. Diese instrumentelle, reduzierte, halbierte Vernunft führe zu einer systematischen Steigerung der Kontrolle über die äußere Natur. 6

Vgl. zu Melbers Kritik am eurozentrischen Zivilisationsmodell auch: Marz 2020: 92–99.

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Objektive und subjektive Vernunft habe es zwar historisch immer schon gegeben, aber die Dominanz von Mitteln und Zwecken über die Frage nach der Vernünftigkeit und Legitimität von Zielen (objektive Vernunft) sei das Ergebnis eines langen Prozesses (vgl. Horkheimer 1946: 30). Trotz dieser Diagnose der möglichen Selbstzerstörung der Vernunft halten Horkheimer/Adorno am Projekt der Aufklärung fest. Ihr Ziel ist es, über das Potential zur Selbstzerstörung der Aufklärung aufzuklären, »denn Rettung der Aufklärung ist unser Anliegen« (Horkheimer/Adorno 1946: 598) ohne dass dieses Bemühen einem konkreten politischen Programm folgen oder sich im Dienste einer Partei oder Gruppe vollziehen würde. Anders als die beiden Kritischen Theoretiker, die sich der destruktiven Momente der aufklärerischen Moderne bewusst sind, unterstellen vor allem alltagsweltliche Vorstellungen über die Rationalität der Aufklärung einen durchweg positiven Begriff von Entwicklung und Fortschritt in der Menschheitsgeschichte. Diese Annahme eines kontinuierlichen Fortschritts des Menschheitsgeschlechts führe, wie Melber sagt, zu einer »Verzeitlichung des räumlichen Nebeneinanders« (Melber 1989: 35). Dieses Nebeneinander bedeute, dass manche Menschen, insbesondere in den europäischen Metropolen, als weiter entwickelt gelten; Menschen anderer Gesellschaften jedoch nur als Vorstufen der eigenen Entwicklung angesehen würden.

Die Wendung gegen Menschen in kolonisierten Gesellschaften Die Wahrnehmung und Bewertung von nicht-europäischen Gesellschaften ist die zweite Seite des Zivilisationsprozesses. Die im Laufe des Zivilisationsprozesses eingetretenen disziplinierenden Umformungen, die Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft sich antun müssen, wollen sie auch an anderen vollzogen wissen. »[D]ie Erniedrigung des Fleisches durch die Macht [ist] nichts anderes […] als das ideologische Spiegelbild der an ihnen selbst verübten Unterdrückung.« (Horkheimer/Adorno 1947: 265) Der Kolonialismus bot hierfür eine gute Gelegenheit, so Melber, weil er die Projektion eigener Verzichtserfahrungen auf das ›Andere‹ ermögliche (vgl. Melber 1989: 39). Auf die Frage also, wer den Kolonialismus eigentlich mitgetragen habe, antwortet Melber, dass es diejenigen waren, die ihre eigene Unterdrückung und den damit verbundenen Verzicht im Laufe des Zivilisationsprozesses an andere weiterreichten. Die expansive Natur des Kapitalismus münde gewissermaßen ›notwendig‹ im Kolonialismus und die mit ihm einhergehenden rassistisch begründeten Legitimationen. Der Kolonialismus liefert billige Arbeitskräfte. Mit der gleichen Notwendigkeit führe er zudem zum Imperialismus, weil auch die politischen Entscheidungen eines Landes ökonomisch beeinflusst seien (vgl. hierzu: Dörre 2009; Lessenich 2009). Der Rassismus wäre so gesehen eine Legitimationsideologie für den Kolonialismus, da er realer Ungleichheit im Angesicht des Gleichheitspostulates eine Begründung gibt. Andere sind arm, weil sie ›minderwertig‹ sind und nicht etwa, weil sie unterdrückt oder ausgebeutet werden. Ihre ›Unterlegenheit‹ wird von den Rassentheorien quasi bewiesen. Diejenigen, die über den Wert von Menschen urteilten, waren zumeist jene, die technologisch und militärisch fortgeschrittener waren, und somit die Macht hatten, ihre Sicht auf die Wertigkeit von konstruierten ›Rassen‹ umzusetzen. Nach Melber relativiert die Rassenideologie die klassenspezifische Sichtweise und Bewusstseinsform zugunsten einer kollektiven, nationalen Projektion oder hebt sie ganz auf. Der koloniale Rassismus war ein optima-

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les Feld, um diese Projektionen auszuleben. In dieser Perspektive sind Rassismus und Nationalismus Mittel zur ideologischen Verschleierung innergesellschaftlicher Konflikte und Klassenwidersprüche (vgl. dazu Melber 1989: 38; Wiegel 1995: 94). Die ideologiekritische Rassismuskritik nimmt aber nicht nur dieses projektive Moment in den Blick, sondern wendet sich zugleich gegen den der kolonialen Praxis inhärenten Umerziehungs- und Pädagogisierungsgedanken. Das Gleichheitspostulat der Aufklärung hatte für diejenigen Menschen keine Geltung, die im Zuge des Kolonialismus ausgebeutet und vernutzt werden sollten. Denn neben die Ausbeutung von körperlichen Ressourcen stelle sich noch eine andere Idee: die der Zivilisierung. Wie so ein rassistisch motivierter Zivilisierungsgedanke klingt, lässt sich an einer von Franz Giesebrecht herausgegebenen Beitragssammlung aus dem Jahr 1898 nachvollziehen, auf die auch Melber in seiner Untersuchung verweist. Gefragt wird in dieser Sammlung, wie die ›Eingeborenen‹ in den deutschen Kolonien behandelt werden sollten. Im Beitrag von MissionsSuperintendent Merensky, der als Missionar in Südafrika eingesetzt war, kommt der Erziehungsgedanke klar zur Geltung: »Guter Wille, dem fremden Volke gerecht zu werden, muss aber bei jedem Weissen vorhanden sein, der mit Afrikanern leben und arbeiten will. Immer wird der Umgang mit ihnen mühsam bleiben, denn Erziehen ist nicht leichte Arbeit, und der Afrikaner als einzelner, wie die afrikanische Völkerwelt im grossen und ganzen, bedarf nicht nur der Zucht, sondern der Erziehung.« (Merensky 1898: 60) Auch Herausgeber Giesebrecht gibt sich humanistisch, wenn er schreibt, dass »es der angestrengten kolonisatorischen Thätigkeit unserer Kulturträger gelingen wird, die Eingeborenen auf möglichst friedlichem Wege für die Zivilisation zu gewinnen« (Giesebrecht 1898: 12), statt sie auszurotten. In den meisten Beiträgen finden sich diese Erziehungspläne. Diese Pläne, auch das wird in den Beiträgen deutlich, hingen mit dem nach der Aufhebung der Sklaverei entstandenen Problem zusammen, wie die einheimische Bevölkerung zur Arbeit für die Kolonialisierenden überhaupt noch zu bewegen wäre. Insofern ergänzt der Erziehungsgedanke die Ausbeutungspraxis und versucht, diese situativ angemessen fortzusetzen und zu legitimieren. Hier tritt neben dem Fortschrittsgedanken nicht nur deutlich ein klares Verwertungsinteresse hervor; einige Zeilen weiter wird auch deutlich, wie die Einheimischen von den Kolonisatoren gesehen werden, geradezu danach dürstend sich weiterzuentwickeln: »[…], aber man sollte nicht vergessen, dass die Berührung mit der Kultur« (Merensky 1898: 56) die einheimische Bevölkerung zivilisiere, auch wenn diese nicht das Christentum annähme. Diese lasse sich, so Mernesky weiter, »keinesfalls auf der Stufe der Kindheit erhalten, auf der […] [sie] manche am liebsten sehen« (ebd.). Auch die ›schwarze‹ Bevölkerung wünsche sich eine »höher stehende Religion«, die »höhere Weisheit und ein höher stehendes Sittengesetz« bringe (ebd.). Die Vorstellung von Kindern, die erzogen, zur Arbeit angehalten und versittlicht werden müssten, treibt den Zivilisierungsgedanken im Kolonialismus an. Kolonialer Rassismus wäre so gesehen nicht nur die Ausbeutung von Ressourcen und Menschen anderer Länder (ökonomischer Aspekt) oder die Übertragung eigener Entbehrungen im Laufe des Zivilisationsprozesses auf andere Menschen, die bislang scheinbar der Selbstdisziplinierung entkommen sind (psychologischer Aspekt). Er wäre

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so auch die aufklärerische, »gewaltsame Zivilisierung« (pädagogischer Aspekt) (vgl. Melber 1989: 40f.). Zivilisierung gehe dabei Hand in Hand mit der Verherrlichung von Arbeit als notwendiger Unterwerfung zum Zwecke der Selbsterhaltung. Im Kapitalismus wird das Subjekt, politökonomisch betrachtet, einer doppelten Freiheit ausgesetzt: »seine Freiheit von Natur kann statthaben nur als Freiheit zur Verwertung« (Bruhn 1994: 91). So oszilliere das Subjekt zwischen dem Recht auf Selbstverwertung und der Pflicht zur Selbsterhaltung. Im Rassismus drückt sich die Furcht des Subjekts vor dem Untergang in bloße Natur aus, die seinen Subjektcharakter zum Verschwinden brächte (vgl. ebd.: 91, 99). Das ›Fremde‹, das die Rassist:innen abstößt, ist die vertraute Natur in ihnen. Diese Furcht vor einem Rückfall in Natur wird nun so behandelt, als ob es eine äußere Bedrohung durch die naturhaften, als weniger zivilisiert angesehenen ›Fremden‹ gäbe. Der Rassismus ermöglicht das ›kontrollierte‹ Rückholen verdrängter Natur und die Belebung von Natur in Rassenvorstellungen (vgl. Adorno 1964/65: 154) ohne, dass sie für das Selbst bedrohlich werden. Aus Perspektive Kritischer Theorie erscheint der koloniale Rassismus also als Modus des Umgangs mit den Folgen der Unterdrückung von Natur; als Naturverhältnis. Zentral für dieses gewaltsam-zivilisatorische Verhältnis zur eigenen Natur ist der Begriff der Projektion. Der psychoanalytische Begriff, auf den sich Kritische Theorie häufig bezieht, zielt darauf, dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale, Triebe, Sehnsüchte, Affekte isoliert und abgespalten werden – sie gelten dem Subjekt nicht mehr als eigene, weil sie stellvertretend im Anderen bekämpft, zensiert, unterdrückt werden können. Bei Freud gibt es beide Varianten: Die Projektion kann durchaus einen Realanlass im Objekt haben (z.B. der tatsächliche Flirt einer Person, die sich in einer monogamen Partnerschaft befindet mit einer anderen als ›fremd‹ deklarierten Person) – ein Realgrund, der vom Projizierenden (dem/r Partner:in der flirtenden Person) dann maßlos übersteigert wahrgenommen und eifersüchtig bekämpft wird, eben weil sich selbst die eigenen Begehren z.B. nach Sex mit anderen Personen nicht eingestanden werden – und dieses Begehren darum im Anderen abgespalten wahrgenommen wird. Projektion kann aber auch den Anderen als tabula rasa, als reine Projektionsfläche wahrnehmen – dann sind die stellvertretend in ihm bekämpften Regungen völlig ohne Realgrund. Im Rassismus wie im Antisemitismus ist dies der Fall. Projektiv werden Aspekte der eigenen Triebstruktur in das Innere einer anderen Person oder einer anderen Gruppe verpflanzt (vgl. Pohl 2010: 43). In Zeiten existenzbedrohender Krisen kann dieses normale Potential des Projizierens gefährlich und zum Anknüpfungspunkt für eine »rassistische Politisierung« (ebd.: 57) des Subjekts werden. Für die Eignung zur Projektion bedarf es eines Überschusses an ›Ideologie‹ oder Herrschaftssehnsucht: Dieser Überschuss erklärt die Wahl der Opfer im Rassismus. So zeigt der Psychoanalytiker Davids in seinen klinischen Studien, dass die Objektwahl im Rassismus seinen Grund in der äußeren Welt findet: Der rassifizierte Andere wird für projektive Identifizierung und Abspaltung ausgewählt, weil diese Konstruktion ihr Pendant im sozialen Milieu der rassistisch Projizierenden findet (vgl. Davids 2011: 282). Der Überschuss an Ideologie trennt das ›normale‹ identifizierende Denken vom rassifizierenden Ordnungsversuch. Rassismus ist eine ›Eskalationsstufe‹ identifizierenden Denkens. Projektion nimmt etwas dazu, begriffliches Denken schneidet etwas ab: Was abgeschnitten wurde (epistemisch) bzw. unterdrückt, abgewöhnt wurde (psycho-

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logisch), dass schwelt weiter – und wird trügerisch, weil projizierend im ›Anderen‹ entdeckt. Es ist typisch für Adorno, dass er erkenntnistheoretische und psychologische Aspekte sehr kurzschließt. Auch das Gegengift gegen jene Verstrickung von Projektion und identifizierendem Denken vermittelt seinerseits Psychologie und Erkenntnistheorie: Unverstellte Mimesis ermöglicht Perspektivübernahme. Sie garantiert das Einlassen auf das andere, auf den ›Anderen‹. Sie ist ein anderer psychologischer Modus des Subjekts, zugleich aber auch ein Weg zu besserer, anderer Erkenntnis: Mimetisches Erfahren wäre der intersubjektive Schlüssel zur Überwindung rassistischer Projektionen, weil der ›Andere‹ in der mimetischen Erfahrung nicht mehr mit eigenen projektiven Motiven belastet würde. Während für phänomenologisch orientierte Rassismuskritiken Alterität der Schlüssel zur Begegnung mit dem Anderen ist, ist dies in der (frühen) Kritischen Theorie das mimetische Vermögen. Jedoch gilt das mimetische Vermögen als verstellt, unterdrückt – es bleibt utopisch auf gesellschaftliche Verhältnisse verwiesen, die mimetisches Anschmiegen erlauben – oder auf die Kunst. Bei Adorno nimmt Mimesis den erkenntnistheoretischen Rang eines »Korrektivs der (instrumentellen) Rationalität« ein (vgl. Früchtl 1986: 3).7 Die rassistische Negierung des ›Anderen‹ als Subjekt wird möglich durch dessen Verobjektivierung zum Exemplar der ›Rasse‹ – und in Extremfällen durch dessen De-Humanisierung zum Eigentum der Sklavenbesitzer:innen. Entsubjektivierung ist ein zentraler Mechanismus im Rassismus. Er ist, wie hier geschehen, beschreibbar als Resultat von Projektionen, die gleichsam die Rechnung für unterdrückte, abgewöhnte Mimesisvermögen sind: das wäre die subjektivistische Perspektive. Entsubjektivierung entspricht aber auch einer allgemeinen gesellschaftlichen Tendenz im Kapitalismus – eben, weil diese objektiv jene projizierende Subjektivität hervorbringt, aber auch weil er ökonomisch Austauschbarkeit und Funktionalität des Einzelnen fordert. In der Perspektive der Kritischen Theorie werden diese Zusammenhänge sichtbar als Fragen des Naturverhältnisses – als Probleme der gesellschaftlichen Produktion von Stellungen zur inneren und äußeren Natur ebenso wie zum Quasi-Natur-Werden von Gesellschaft. Das gesamte Werk Adornos ist durchzogen von der Reflexion über das Verhältnis von Natur und Gesellschaft8 . Was Görg in Hinblick auf die ökologische Frage formuliert, lässt sich auch hinsichtlich der Bedeutung der inneren Natur und ihrer Überformung durch Gesellschaft im Subjekt sagen: »Die Widerkehr der Natur (als soziales Problem) korrespondiert mit dem Ende der Natur (als selbständiger Entität).«

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Eine Stärkung erfährt das Mimesis-Konzept in der gegenwärtigen Soziologie durch Hartmut Rosas Resonanzkonzept, das er selbst in die Nähe des Mimesisbegriffs der frühen Kritischen Theorie stellt. »In der Traditionslinie der Kritischen Theorie bildet die Suche nach einer anderen Form der Weltbeziehung von Anfang an ein manchmal dominantes, häufig aber implizites Thema – etwa dort, wo […] Adorno an der Idee eines mimetischen, anschmiegenden, warmen Weltverhältnisses und einer unverstellten Erfahrung gegen die bürgerliche Kälte und die Vorherrschaft der instrumentellen Vernunft festhält.« (Rosa 2016: 53) Kritische Theorie richtet sich gegen Vereinseitigungen zweierlei Art: zum einen wendet sie sich gegen einen Naturalismus, der beispielsweise behauptet, Fremdenangst sei natürlich. Sie wendet sich aber auch gegen einen Soziozentrismus, der die Vermittlung mit der Natur leugnet. Was Natur und was Gesellschaft ist, lässt sich nur mit Blick auf deren Verhältnis zueinander bestimmen (vgl. Görg 2005: 57).

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(Görg 2005: 53) Die Psychoanalyse thematisiert eben diese Vermittlung von Natur und Gesellschaft im Subjekt als »Dominanzverhältnisse« (ebd.: 59). Natur hat immer das Nachsehen im Zuge ihrer Aneignung und Beherrschung durch den Menschen. Und das betrifft die äußere, den Menschen umgebende Natur wie auch die innere Natur des Menschen. Die viel zitierte Wendung vom »Eingedenken der Natur im Subjekt« (Horkheimer/Adorno 1947: 58) in der Dialektik der Aufklärung mahnt an die Dringlichkeit, Vernunft mit Natur zu versöhnen. Ein konkreter Weg, wie diese Versöhnung gelingen kann, sehen Horkheimer und Adorno in Mimesis oder wie Böhme schreibt, im »Versuch des emanzipierten Subjekts, […] sich dem Vorsubjektiven, der Natur anzuähneln« (Böhme 2004: 99). Kritische Theorie zeigt zwar, wie das Subjekt von der Natur entfremdet wird, aber sie betont zugleich die Unmöglichkeit, die Natur gänzlich abzustreifen: Gerade die verdrängte Natur kehrt wieder und nötigt zu – jetzt im schlechten Sinne – Naturverfallenheit. Die verdrängte, unterdrückte, Natur schleicht sich vermittels Projektion, zum Beispiel über den Rassismus, zurück. Anders als in der schlechten Simulation von Natur im Rassismus, hieße eine Besinnung auf Natur, dass sich das Subjekt seiner leiblichen Dimension stärker bewusst wird: seiner Schmerzen, seiner Besonderheiten – und eine veränderte Form des Selbstverhältnisses zulässt, wie Böhme vorschlägt: ein neues Subjekt, das souverän ist, weil es »etwas geschehen lassen kann« und das akzeptiert, »dass es nicht Herr im eigenen Hause ist« (vgl. Böhme 2004: 103, 106f.). In modernen, kapitalistischen Gesellschaften wäre dieses Subjekt allerdings nur begrenzt überlebensfähig.

5.2 Gesellschaft und Vergesellschaftung Wie wird nun aber die moderne, kapitalistische Gesellschaft, die eben solche Anschmiegung an das Andere in besonderer Weise verhindert, von der Kritischen Theorie gefasst? Zunächst kann in allgemeiner soziologischer Diktion zwischen Gesellschaft als Strukturkategorie und Vergesellschaftung als Prozesskategorie unterschieden werden. Im Begriff der Vergesellschaftung wird der Prozess benannt, »der aus Individuen Gesellschaftsmitglieder macht« (Becker-Schmidt 2003: 3). Die Rede von ›Vergesellschaftung‹ verweist auf den Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft – also auf die gesamte Breite sozialer, bildungsbezogener, ökonomischer und politischer Rahmenbedingungen – ohne dass damit schon etwas über die Richtung der Beeinflussung oder die Stärke dieser Wirkungen gesagt wäre. Ein Begriff von Gesellschaft, der nur für sich stünde, hätte ohne den der Vergesellschaftung – also die Frage danach, was diese Rahmenbedingungen, Strukturen und Formationen mit den Menschen machen – keinen Sinn. Ein guter Wegweiser, um den Begriff der »Vergesellschaftung« bei Adorno zu rekonstruieren, sind nicht nur seine soziologischen Schriften, sondern auch seine drei Vorlesungen: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft (1964), Philosophie und Soziologie (1960) und Einleitung in die Soziologie (1968), die in den Nachgelassenen Schriften veröffentlicht wurden. Worauf genau schaut Kritische Theorie überhaupt, wenn von Gesellschaft die Rede ist? Wenn die Kritische Theorie von Gesellschaft spricht, geht es um die bürgerliche Gesellschaft als eine Sozialform, die sich in den ›westlichen‹ und vielen ande-

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(Görg 2005: 53) Die Psychoanalyse thematisiert eben diese Vermittlung von Natur und Gesellschaft im Subjekt als »Dominanzverhältnisse« (ebd.: 59). Natur hat immer das Nachsehen im Zuge ihrer Aneignung und Beherrschung durch den Menschen. Und das betrifft die äußere, den Menschen umgebende Natur wie auch die innere Natur des Menschen. Die viel zitierte Wendung vom »Eingedenken der Natur im Subjekt« (Horkheimer/Adorno 1947: 58) in der Dialektik der Aufklärung mahnt an die Dringlichkeit, Vernunft mit Natur zu versöhnen. Ein konkreter Weg, wie diese Versöhnung gelingen kann, sehen Horkheimer und Adorno in Mimesis oder wie Böhme schreibt, im »Versuch des emanzipierten Subjekts, […] sich dem Vorsubjektiven, der Natur anzuähneln« (Böhme 2004: 99). Kritische Theorie zeigt zwar, wie das Subjekt von der Natur entfremdet wird, aber sie betont zugleich die Unmöglichkeit, die Natur gänzlich abzustreifen: Gerade die verdrängte Natur kehrt wieder und nötigt zu – jetzt im schlechten Sinne – Naturverfallenheit. Die verdrängte, unterdrückte, Natur schleicht sich vermittels Projektion, zum Beispiel über den Rassismus, zurück. Anders als in der schlechten Simulation von Natur im Rassismus, hieße eine Besinnung auf Natur, dass sich das Subjekt seiner leiblichen Dimension stärker bewusst wird: seiner Schmerzen, seiner Besonderheiten – und eine veränderte Form des Selbstverhältnisses zulässt, wie Böhme vorschlägt: ein neues Subjekt, das souverän ist, weil es »etwas geschehen lassen kann« und das akzeptiert, »dass es nicht Herr im eigenen Hause ist« (vgl. Böhme 2004: 103, 106f.). In modernen, kapitalistischen Gesellschaften wäre dieses Subjekt allerdings nur begrenzt überlebensfähig.

5.2 Gesellschaft und Vergesellschaftung Wie wird nun aber die moderne, kapitalistische Gesellschaft, die eben solche Anschmiegung an das Andere in besonderer Weise verhindert, von der Kritischen Theorie gefasst? Zunächst kann in allgemeiner soziologischer Diktion zwischen Gesellschaft als Strukturkategorie und Vergesellschaftung als Prozesskategorie unterschieden werden. Im Begriff der Vergesellschaftung wird der Prozess benannt, »der aus Individuen Gesellschaftsmitglieder macht« (Becker-Schmidt 2003: 3). Die Rede von ›Vergesellschaftung‹ verweist auf den Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft – also auf die gesamte Breite sozialer, bildungsbezogener, ökonomischer und politischer Rahmenbedingungen – ohne dass damit schon etwas über die Richtung der Beeinflussung oder die Stärke dieser Wirkungen gesagt wäre. Ein Begriff von Gesellschaft, der nur für sich stünde, hätte ohne den der Vergesellschaftung – also die Frage danach, was diese Rahmenbedingungen, Strukturen und Formationen mit den Menschen machen – keinen Sinn. Ein guter Wegweiser, um den Begriff der »Vergesellschaftung« bei Adorno zu rekonstruieren, sind nicht nur seine soziologischen Schriften, sondern auch seine drei Vorlesungen: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft (1964), Philosophie und Soziologie (1960) und Einleitung in die Soziologie (1968), die in den Nachgelassenen Schriften veröffentlicht wurden. Worauf genau schaut Kritische Theorie überhaupt, wenn von Gesellschaft die Rede ist? Wenn die Kritische Theorie von Gesellschaft spricht, geht es um die bürgerliche Gesellschaft als eine Sozialform, die sich in den ›westlichen‹ und vielen ande-

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ren Gesellschaften der Welt seit dem späten 18. und dem frühen 19. Jahrhundert durchsetzte. Diese bürgerliche Gesellschaft ist eine kapitalistische Gesellschaft, die den freien, mündigen Staats- und Besitzbürger voraussetzt. Ausgehend von Marx versteht auch die Kritische Theorie die bürgerliche Gesellschaft nicht als Formation, die von den nationalstaatlichen Grenzen beschränkt ist, so Demirović: »Die bürgerliche Gesellschaft, in der die kapitalistische Produktionsweise herrscht, ist ein Verhältnis, das quer zu staatlichen Grenzen steht. Es stellt sich überall dort ein, wo Menschen Glieder einer Arbeitsteilung werden, in denen das Ergebnis ihrer Tätigkeit wie ihre Arbeitskraft zur Ware wird.« (Demirović 2003: 18) Der Nationalstaat sei lediglich »sekundäre Form« (ebd.) der bürgerlichen Gesellschaft. Nationalstaaten liegt die Form der kapitalistischen Warenvergesellschaftung zugrunde; sie unterscheiden sich in Hinblick auf kulturelle und politische Gegebenheiten, »historisch spezifische[] Kämpfe und soziale[.] und räumliche[.] Kompromisse (ebd.: 19). Gesellschaft ist bei Adorno gefasst als »historische Realität und Reflexionskategorie« (Becker-Schmidt 2003: 12). So sei sie materiell vorhanden und zugleich ist der Begriff der Gesellschaft für die Soziologie eine Hilfskonstruktion, um die soziale Welt zu beschreiben. Das ›System‹ Gesellschaft, das soziologische Theorien wie die Systemtheorien von Talcott Parsons oder Niklas Luhmann entwerfen, verdeckt durch die Norm von Konsistenz und Widerspruchslosigkeit in der Theoriebildung die gesellschaftlichen Antagonismen. Dieses Streben nach einer systematisierenden Theorie verkennt aus Sicht Adornos gerade das widerspruchsvolle ›Wesen‹ dessen, was als Gesellschaft untersucht wird. Diese Gegensätze bestehen beispielsweise als relativ offensichtliche Gegensätze von Armut und Reichtum oder auch als Gegensatz von Macht und Ohnmacht, die sich gerade durch die zunehmende Integration in den Gesellschaftszusammenhang durchsetzen. Dabei, so Adorno, habe Vergesellschaftung eine quantitative und qualitative Dimension: Dass immer mehr Menschen in den kapitalistischen Verwertungsprozess integriert werden, beschreibt die quantitative Dimension. Die qualitative Dimension meint die immer stärkere Durchdringung der Lebenswelt und des Privaten durch kapitalistische Imperative. Und diese zunehmende Integration – dieses »mit Haut und Haaren von dieser Gesellschaft gefressen« (vgl. Adorno 1964a: 112) werden – steigert Ohnmacht. Daher steht nicht nur das Falsche in der Gesellschaft zur Kritik, sondern auch die Gesellschaft selbst als soziale Formation.

5.2.1 Zur Bestimmung des Gesellschaftsbegriffs Was aber heißt es, wenn Gesellschaft, wie gerade gesagt, materiell vorhanden – also nicht allein Reflexionskategorie ist? Kritische Theorie betont seit ihren Anfängen die konstitutive Historizität der Soziologie und das Gewordensein von Gesellschaft. Das heißt: Kein Begriff, den die Soziologie entwickelt, ist ohne die Rückbindung an die historische Situation sinnvoll. Die Gesellschaft, so Adorno, lasse sich nur erkennen durch ihre geschichtlichen Elemente. Was als Wesen sozialer Phänomene gilt, ist nichts weiter »als aufgespeicherte Geschichte« (Adorno 1968a: 244). Kritische Theorie will die Gesellschaft in ihrem Gewordensein untersuchen: Nur das, was als Gewordenes erkannt ist, könne auch mit der Vorstellung einer potentiellen Veränderbarkeit betrachtet werden (vgl. ebd.: 244f.). Kritischer Theorie geht es auch darum, gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten zu erschlie-

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ßen, die von den naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten durch die »Form ihrer eigenen Geschichtlichkeit« (ebd.: 246) und ihrer zeitlichen Dimension grundverschieden sind.9 In diesem Zusammenhang spielt der Begriff der Tendenz, der bereits bei Marx bedeutsam war, für die Kritische Theorie eine wichtige Rolle. Denn anders als in naturwissenschaftlichen Gesetzmäßigkeiten, wo sich eine Ursache in ihrer Wirkung auf eine Situation relativ gut rekonstruieren lässt, kann so ein Ursache-Wirkungsverhältnis bei sogenannten gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten zumeist nicht eindeutig und nicht unter Kalkulation aller möglichen Faktoren vorhergesagt werden (vgl. ebd.: 246). Wir können daher nur von einer Tendenz sprechen, die eine bestimmte gesellschaftliche Entwicklung nehmen wird und Faktoren benennen, die diese Entwicklung möglicherweise aufhalten, verlangsamen oder abschwächen. Daher hat eine kritische Soziologie immer zu reflektieren, was erstens ein Begriff im Entstehungsprozess gemeint hat, wie sich zweitens die sozialen Umstände, also das unter dem Begriff Gefasste verändert haben und wie sich drittens die Bedeutung eines Begriffs im wissenschaftlichen und alltagsweltlichen Sprachgebrauch verändert hat (zum Verhältnis der Kritischen Theorie zu Begriffen: vgl. das Kapitel 5.5). So wird der Bezug auf die Geschichtlichkeit der Gesellschaft zu einem wichtigen »Medium der gesellschaftlichen Kritik« (Adorno 1968a: 248), weil Kritik die Erinnerung daran mobilisiert, dass die Gesellschaft auch anders sein könnte. Bekanntermaßen hat sich Adorno auch heftig gegen den Empirismus der Soziologie gewendet: Das Tatsachen-Fixieren stellt den Gegenstand, dessen Wesen doch Bewegung ist, still wie einen der ersten Natur. Die deskriptive Geste des Positivismus, Gegenstände so abzubilden, wie sie sich der Messung darbieten, verhindert glückende Beschreibung: Denn die Bewegung, die Geschichte und die Widersprüche, hinter dem sozialen Phänomen sichtbar zu machen, ist kein politischer Imperativ, sondern ein epistemischer. Soziale Tatsachen verfehlt, wer sie geschichtslos nur als Tatsachen darstellt. Weil die Tatsache für Adorno den Schein von Zeitlosigkeit um sich errichte und damit das »Gewordene als ein so-undnicht-anders-Seiendes verabsolutiert«, interessiere sich eine Soziologie, die nur das Momentane erfassen wolle, nicht für das Gewordensein einer Gesellschaft (ebd.: 248f.). Nicht nur in der Erkenntnistheorie, auch in der Gesellschaftsanalyse fordert die Kritische Theorie den Vorrang des Objekts. Adorno denkt die Gesellschaft (Objekt) als durch das Subjekt vermittelt, zugleich ist die Gesellschaft dem Subjekt vorgeordnet – ihre Eigenlogiken bestimmen. Objektive Gesetzmäßigkeiten haben Vorrang, weil die Selbsterhaltungsbemühungen und die ökonomischen Verhältnisse den psychologischen Dispositionen der Menschen vorgängig seien. Überdies habe sich die Gesellschaft gegenüber den Menschen verselbständigt. Dennoch brauche die Gesellschaft zur Selbsterhaltung bestimmte Subjekte (vgl. Adorno 1968a: 253); es gibt keine eigenständige Sphäre des Gesellschaftlichen über den Menschen. In diesem Zusammenhang ist der Begriff der Vermittlung wichtig, denn er verweist darauf, dass weder die Individuen ohne die Gesellschaft, noch die Gesellschaft ohne die Individuen existieren könnten. Der Prozess, durch den sich Gesellschaft erhält, ist der »Lebensprozeß, der Arbeitsprozeß, der Produktions- und Reproduktionsprozeß, der durch die einzelnen, in der Gesellschaft vergesell9

So folgen gesellschaftliche Gesetzmäßigkeiten der »nachdem-so«-Form und naturwissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten der »wenn-dann«-Form (vgl. Adorno 1968a: 246).

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schafteten Individuen in Gang gehalten wird« (ebd.: 69f.). Dieser Umstand einer wechselseitigen Verwiesenheit nötigt nach Adorno Gesellschaftstheorie zur dialektischen Betrachtungsweise (vgl. ebd.: 70). Das heißt hier: Das Ganze ist nur verstehbar durch die wechselseitige Verwiesenheit seiner einzelnen Teile; und die sind nicht nur Elemente, die man summieren oder von unten nach oben sortieren könnte, sondern sie sind Momente, deren begriffliche Nachkonstruktion eine Bewegung in der Wirklichkeit nachzeichnen muss. Gesellschaft erhalte sich heute weniger durch Zwangsanwendungen gegenüber ihren Subjekten, sondern »durch die Subjekte hindurch« (Adorno 1968a: 254).10 Diese Annahme begründet auch die Aufnahme von Psychologie in die Gesellschaftstheorie Kritischer Theorie. Denn die psychische Zusammensetzung der einzelnen Menschen werde zum »Kitt der Gesellschaft« (ebd.). Zugleich betont Adorno an dieser Stelle, dass im Subjekt – auch wenn es Teil der Ideologie ist – doch das Potential schlummere, die Gesellschaft zu verändern (vgl. ebd.: 255). Und in einem dieser seltenen optimistischen Momente spricht Adorno von der Möglichkeit gesellschaftlicher Aufklärung, sofern diese an die widerspruchsvolle Bestimmung des Bewusstseins – eingefangen und zugleich nicht eingefangen – anzuknüpfen vermag.11 Wenn Psychologie neben der Soziologie zu den wichtigen Referenzpunkten der Gesellschaftstheorie Kritischer Theorie gehört, dann ist dies nicht einfach nur ein additives Ergänzungsverhältnis, sondern entspringt der Überzeugung, dass die Art, wie das »Allgemeine sich im Individuum durchsetzt, vermittelt ist durch Psychologie« (ebd.: 194). Damit können sogleich zwei Modi von Vergesellschaftung eingefangen werden: die innere Vergesellschaftung als Triebverzicht, als charakterliche Entwicklung und die äußere Vergesellschaftung als Unterwerfung unter die Anforderungen der Gesellschaft. Eine weitere Perspektive Kritischer Theorie auf Gesellschaft ist es, diese in ihren relationalen Bedingungen zu beschreiben. Relationalität, so Regina Becker-Schmidt, ist ein soziales Ordnungs- und Gliederungsprinzip von Gesellschaften. Relationalitäten drücken »bestimmte soziale Abhängigkeiten zwischen gesellschaftlichen Gruppen und Bereichen aus« (Becker-Schmidt 2004: 85). In der kapitalistischen Gesellschaft ist das spezifische Beziehungsgefüge bestimmt durch Arbeitsteilung, durch die unterschiedliche

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Auch poststrukturalistische Ansätze widmen sich der Subjektkonstitution oder anders gesprochen: verschiedenen Subjektivierungsweisen im Neoliberalismus (vgl. beispielhaft Bröckling 2007). Ähnlich widerspruchsvoll bestimmt auch Marcuse das Subjekt im Spätkapitalismus, das er als eindimensional bezeichnet: »Der Eindimensionale Mensch wird durchweg zwischen zwei einander widersprechenden Hypothesen schwanken: 1. daß die fortgeschrittene Industriegesellschaft imstande ist, eine qualitative Änderung für die absehbare Zukunft zu unterbinden; 2. daß Kräfte und Tendenzen vorhanden sind, die diese Eindämmung durchbrechen und die Gesellschaft sprengen können. Ich glaube nicht, daß eine klare Antwort gegeben werden kann. Beide Tendenzen bestehen nebeneinander – und sogar die eine in der anderen. Die erste Tendenz ist die herrschende, und alle Vorbedingungen eines Umschwungs, die es geben mag, werden benutzt, ihn zu verhindern. Vielleicht kann ein Unglück die Lage ändern, aber solange nicht die Anerkennung dessen, was getan und was verhindert wird, das Bewußtsein und Verhalten des Menschen umwälzt, wird nicht einmal eine Katastrophe die Änderung herbeiführen.« (Marcuse 1967: 17)

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Stellung zu den Produktivkräften und zugleich rechtliche Gleichheit. Neben dieser Relationalität beschreibt Kritische Theorie die wechselseitige Durchdringung verschiedener sozialer Bereiche. Die einzelnen Bereiche der gesellschaftlichen Reproduktion seien selbständig und zugleich aufeinander verwiesen. Keine Konsumtion ohne Produktion, keine Öffentlichkeit ohne Privatheit, aber auch keine Produktion ohne Privatheit, die die Möglichkeit zur Regeneration herstellt; keine Privatheit mehr, die noch nicht von ökonomischen Imperativen durchzogen sei – oder keine Wissenschaft ohne Medien, die beispielsweise der Wissenschaft Aufmerksamkeit für ihre Forschungen schenken und damit den Wissenschaften zur Legitimation im politischen Bereich verhelfen. In dieser paradoxen Konstellation sozialer Bereiche, die sich zugleich abgrenzen und durchdringen, vollzieht sich Vergesellschaftung (vgl. ebd.: 87). Einflussreicher sind nach BeckerSchmidt jene sozialen Bereiche, »die Herrschaftsinteressen im Sinne politisch-ökonomischer und kultureller Hegemonie vertreten« (ebd.: 89).12 Gegen jede personalisierende Vorstellung, dass Herrschaft an Einzelnen hinge, wendet sich Horkheimer in seiner Arbeit zur Soziologie der Klassenverhältnisse: »Der Klassenbegriff, wie er der materialistischen Geschichtstheorie zugrundliegt, […] bezieht sich nicht auf eine widerspruchsfreie und homogene Einheit. Zumindest während der typischsten Epochen war das Eigentum an den Produktionsmitteln nicht gleichbedeutend mit deren wohlgeplantem gesellschaftlichen Einsatz und auch nicht mit dem Bestehen einer einheitlichen Willensbildung und Zielsetzung. […]. Die herrschende Klasse, vom gemeinsamen Interesse an ihrer spezifischen Ausbeutungsweise zusammengehalten, war schon immer durch interne Kämpfe, durch Bemühungen eines ihrer Teile gekennzeichnet, sich die Beute zu sichern, die auch andere hätten machen können.« (Horkheimer 1943: 78) Vergesellschaftung, so also die These Kritischer Theorie, vollzieht sich in einem bestimmten historischen Zeitraum und sozialen Kontext (Kontextspezifik) relativ gleich. Und doch gilt es, die unterschiedlichen Bedingungen der Möglichkeit von Vergesellschaftung nicht zu unterschlagen. Solche sehr allgemein formulierten Diagnosen geben uns ein Bild vom negativ gemeinten idealtypischen Verlauf, ohne dabei die abweichenden Vergesellschaftungsmomente in verschiedenen Teilen der Gesellschaft zu berücksichtigen. So ist ein ›weißer‹, finanziell abgesicherter Mann anders in Vergesellschaftungsprozesse integriert als eine ›schwarze‹ Frau mit geringem Einkommen. Solch eine analytische Schärfung nimmt beispielsweise Cornelia Klinger in ihren Arbeiten vor, wenn sie positiv an viele Prämissen der frühen Kritischen Theorie anzuknüpfen sucht. Sie kritisiert die Festsetzung von ›Rasse‹, Klasse und Geschlecht seit Ende der 1980er Jahre als Kern der Identitätskategorien in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Das Problem der alleinigen Erfassung dieser Kategorien als Identitäten sei, dass ›Rasse‹, Klasse und Geschlecht als »individuelle Erlebnisqualitäten« (Klinger 2003: 25) erschienen. Ihre Relevanz in der Erfahrung Betroffener wird kurzschlüssig mit ihrer Relevanz für die soziale Reproduktion, für Vergesellschaftung in eins gesetzt. Als Teil von Identitätspolitik 12

Vgl. zur Diskussion um das Verhältnis von Wirtschaft und Politik, um die Frage nach der Autonomie der sozialen Teilbereiche und die Rolle des Staates: Dörre 2020; Rosa 2020; Lessenich 2020 im Berliner Journal.

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verliere sich deren Inhalt und deren Bedeutung. Losgelöst von ihrer objektiven Verankerung in Herrschaftsverhältnisse werden sie v.a. in der Intersektionalitätsdebatte zu Kategorien des persönlichen Empfindens. Klinger betont demgegenüber die Notwendigkeit, ›Rasse‹, Klasse und Geschlecht als Strukturkategorien in modernen kapitalistischen Gesellschaften analytisch greifbar zu machen. Strukturkategorien regeln die soziale Praxis in Hinblick auf die Herstellung und Verteilung der Mittel zum Leben, auf die Regelung der Produktion und Distribution von Gütern aller Art, auf die Erzeugung und Erhaltung des menschlichen Lebens selbst. Fast alle ausdifferenzierten Gesellschaften sichern ihren Bestand über Herrschaft. Herrschaft verteile Nutzen und Lasten ungleich und impliziere Aneignung und Enteignung sowie Ausbeutung und Unterdrückung (vgl. Klinger 2012: 7f.). Ungleichheit wäre demnach nicht nur marginale Anomalie oder Pathologie moderner Gesellschaften: Vielmehr ist sie als prägendes Merkmal zu betrachten. Ungleichheit ist funktional und hat systematischen Charakter. Damit steht sie aber auch im Widerspruch zu den Postulaten und Leitideen moderner westlicher Gesellschaften wie Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Jedoch können moderne Gesellschaften Gleichheit nicht herstellen – sie können, aber, zumindest temporär, bestehende Ungleichheit mit Sinn füllen (vgl. Klinger/Knapp 2007: 20). Die Bedeutung der Strukturkategorien ›Rasse‹, Klasse und Geschlecht fasst Klinger wie folgt zusammen: »Klasse, Rasse und Geschlecht sind nicht bloß Linien von Differenzen zwischen individuellen oder kollektiven Subjekten, sondern bilden das Grundmuster von gesellschaftlich-politisch relevanter Ungleichheit, weil Arbeit, und zwar namentlich körperliche Arbeit ihren Existenzgrund und Angelpunkt ausmacht. Ferner stimmen Klasse, ›Rasse‹ und Geschlecht darin überein, dass in allen drei Hinsichten ein Ungleichheit begründender und legitimierender Fremdheitseffekt, d.h. eine Ausgrenzung (Externalisierung) erzeugt wird, mit dem Ziel oder mindestens mit dem Resultat, eine Reduzierung des für die geleistete Arbeit zu entrichtenden Preises herbeizuführen d.h. Ausbeutung stattfinden zu lassen.« (Klinger 2003: 26; Herv. i.O.) Während Klingers Kritik an der Intersektionalitätsdebatte also vor allem auf die Verengung von Ungleichheitsverhältnissen auf den Begriff der Identität, auf subjektive Betroffenheit und die Ausblendung von Herrschaftsverhältnissen13 zielt, gibt Karin Stögner der Intersektionalitätsdebatte eine weitere Wendung, in dem sie die Verwobenheit von Ideologie mit dem Begriff der Intersektionalität analysierbar und für eine Ideologiekritik zugänglich macht. Auch Stögners Ansatz siedelt Diskussionen um Intersektionalität konsequent auf der strukturellen Ebene an und macht damit die Wirkmächtigkeit des Antisemitismus durch das Ineinandergreifen verschiedener Ideologien – wie Rassismus, Sexismus, Nationalismus und das Verhältnis von Gesellschaft und Natur – ver-

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Diesen Strukturkategorien korrespondieren nach Klinger die drei Herrschaftsverhältnisse: Kapitalismus, Imperialismus und Patriarchat, welche das Gebäude moderner Gesellschaften tragen (vgl. Klinger 2003: 36). Rassismus kommt als Begriff bei Klinger nicht vor. Rassismus erscheint hier als Aspekt von Fremdheit. Stattdessen spricht sie von Ethnozentrismus im Innen- und Außenverhältnis einer Gesellschaft, der nur als Ableitung des Herrschaftsverhältnisses Nationalismus/ Imperialismus behandelt wird.

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stehbar. So zehre der Antisemitismus als Ideologie der Nichtidentität und der Ambivalenz von der Fähigkeit, die in anderen Ideologien binären Zuordnungen nach oben-unten, innen-außen, Kultur-Natur, überlegen-unterlegen auf sich zu vereinen, wie Stögner schreibt (2017: 28). Das Verständnis Kritischer Theorie von ›Intersektionalität‹ verschiedener Ideologien lege nahe, dass die einzelnen Ideologien ähnliche, aber nicht durchweg identische Funktionen haben, dass sie sich »durchdringen und verstärken« (ebd.: 25). Die Nähe der Ideologien zueinander ist nicht zufällig, sondern zeigt vielmehr deren gegenseitige Vermittlung aufeinander an. Stögners Intersektionalitätsverständnis Kritischer Theorie macht erneut die Verflechtung verschiedener Aspekte des Gesellschaftlichen deutlich.

5.2.2 Zur Bestimmung der Gesellschaft In den Texten der Kritischen Theorie taucht ein theorietypisches Set an Begriffen zur Beschreibung kapitalistischer Gesellschaft immer wieder auf: Kulturindustrie, Ideologie, Fetisch, Verdinglichung, Entfremdung, Erfahrungsunfähigkeit oder auch Totalität und verwaltete Welt. Diese Begriffe zur Charakterisierung der Gegenwartsgesellschaft der ›Frankfurter‹ zeigen stets an, dass es eigentlich um Vergesellschaftung geht: um den Niederschlag objektiver Strukturen im Subjekt; ein Niederschlag, der sich als Moment der Reproduktion erweist. Wenn die Erfahrungsfähigkeit von Subjekten zur Disposition steht, geht es um die Verhältnisse, die diese durch die kulturindustrielle Hervorbringung des »Immergleichen« verhindern. Wenn über verwaltete Welt gesprochen wird, geht es um die Problematisierung der totalen Eingebundenheit von Menschen in die gesellschaftliche Apparatur und um ein daraus entstehendes Subjekt, das sich selber in »ein Verwaltungsobjekt« (Adorno/Horkheimer/Kogon 1950: 129) verwandelt. Wenn von Verdinglichung als einer Tendenz gesprochen wird, in der alle Produkte und menschlichen Beziehungen zur Ware werden, geht es um Menschen, die einander als Waren gegenübertreten. Wenn von Entfremdung gesprochen wird, geht es um die Beobachtung, dass Menschen die Involviertheit in die Welt, die affektiven Bezüge zu ihren eigenen Hervorbringungen und zu anderen Menschen verlieren. Niemals stehen solche Diagnosen als empirische Beobachtung nur für sich, sondern sie sind Ausdruck der fundamentalen Einschätzung, dass das Leben der Menschen gezeichnet ist von Leid, Unterdrückung und Ausbeutung, die reduzierbar, wenn nicht abschaffbar wären. Es sind Begriffe, die zugleich deskriptiv wie präskriptiv sind. Max Horkheimer hat das »Existentialurteil« über die Gesellschaft bereits in der Konstitutionsphase der Kritischen Theorie in dem programmatischen Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie (1937) formuliert: »Es [das Existenzialurteil, U. M.] besagt […], daß die Grundform der historisch gegebenen Warenwirtschaft, auf der die neuere Geschichte beruht, die inneren und äußeren Gegensätze der Epoche in sich schließt, in verschärfter Form stets aufs neue zeitigt und nach einer Periode des Aufstiegs, der Entfaltung menschlicher Kräfte, der Emanzipation des Individuums, nach einer ungeheuren Ausbreitung der menschlichen Macht über die Natur schließlich die weitere Entwicklung hemmt und die Menschheit einer neuen Barbarei zutreibt.« (Horkheimer 1937: 201)

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Die oben benannten Begriffe zeigen aber noch ein Zweites an: dass die Gesellschaftsanalysen der Kritischen Theorie sowohl kulturelle, polit-ökonomische und soziale Aspekte einbeziehen und dass dieser Auseinandersetzung »die Idee eines Strebens nach der Rettung des individuell Einzigartigem und der Bekämpfung der Austauschbarkeit alles Einzelmenschlichen« (Zuckermann 2018: 26) zugrunde liegt. Die moderne kapitalistisch organisierte Gesellschaft wird von der Kritischen Theorie als irrational beschrieben. Ihre Irrationalität verdankt sich jedoch nicht dem anachronistischen Überleben irrationaler, archaischer Momente in einer modernen rationalen Gesellschaft, sondern für Adorno haben irrationale Institutionen wie z.B. die Familie oder das Militär selbst eine Funktion, die aus der Gesellschaftsstruktur ableitbar ist. Die moderne Gesellschaft ist zwar in ihren Mitteln rational, aber diese Mittel werden nicht eingesetzt, um die Menschheit in einen befriedeten Zustand zu führen (vgl. Adorno 1968a: 221–224). In Anlehnung an Adorno schreibt Gerhard Stapelfeld, dass eine irrationale Gesellschaft eine Gesellschaft ohne Erinnerung und ohne Utopie sei (vgl. Stapelfeldt 2009: 22) – also eine Gesellschaft, der das historische Bewusstsein über ihr Gewordensein und über das Potential zur Veränderungsfähigkeit fehle. Die irrationale Gesellschaft erscheint als »ein naturgesetzlicher Kosmos, der eine technische Handlungsrationalisierung erlaubt. Die Rationalität der irrationalen Gesellschaft zielt auf ein innerhalb des Bestehenden verwertbares Wissen, das insofern unmittelbar ein Moment eines gesellschaftlichen Produktionsprozesses ist – eben nützlich« (ebd.; Herv. i.O.). Ausgehend vom Weberschen Begriff der Zweckrationalität kritisiert Kritische Theorie die Dominanz einer technisch-rationalen Vernunft, die sie mit dem Begriff der »instrumentellen Vernunft« fasst. Diese Kritik der instrumentellen Vernunft ist eine Kritik an der blinden, entfesselten Naturbeherrschung des Menschen auch über andere Menschen. So sei die Natur nur noch schrankenloses »Werkzeug des Menschen […] Objekt totaler Ausbeutung« (Horkheimer 1946: 119). Rationalität, so Adorno in ähnlicher Diktion, die nur noch der Steigerung des »industriellen Outputs und der Produktivkräfte« diene und in der »keine übergeordnete Instanz das Interesse der Natur überhaupt wahrnimmt« (ebd.), sei nur partikulare Rationalität, weil sie durch keinen »Gesamtzweck der Menschheit« (Adorno 1960b: 115) bzw. durch kein »gesellschaftliches Gesamtbewusstsein« (ebd.: 197) geleitet sei. Die Irrationalität wird größer durch den Widerspruch zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen, während sich doch die Gesellschaft durch ihr de-facto-Funktionieren mit dem Schein höchster Rationalität kleidet (vgl. ebd.). Die Produktivitätssteigerungen sowie die technologischen Entwicklungen im Bereich künstlicher Intelligenz beispielsweise, die das schrittweise Überflüssigwerden von Arbeit ermöglichen, verkehren sich in die Überflüssigkeit von Menschen in Gestalt von existenzbedrohender Arbeitslosigkeit. Auch der Rassismus ist Teil der partikularen Rationalität im irrationalen Ganzen. Wenn Rassismus allerdings nicht als Ergebnis der polit-ökonomischen Struktur verstanden wird, sondern lediglich als unzureichend verwirklichtes Postulat einer an sich egalitären Gesellschaft – dann wird auch antirassistische Politik nur oberflächlich bleiben. Rassismus ist nicht einfach das Gegenteil der Menschenrechte: Rassismus gründet auf der »Angst vor der Entwertung« (Bruhn 1994: 82). Rassifizierte Menschen verweisen auf die drohende Unterlegenheit in der Konkurrenz; sie stehen durch den rassistisch bedingten Ausschluss für den »Verlust der freien Verfügung über sich selbst« (ebd.). Die Frei-

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heit des Einzelnen (die das Grundgesetz heute garantiert) ist die Voraussetzung für die »Unverletztlichkeit des Privateigentums eines jeden Rechtssubjekts […] und weiterhin […] [für die] kapitalistisch konstituierte[] Unverletzlichkeit der doppelten Freiheit des Lohnarbeiters« (ebd.). Die irrationale Gesellschaft – die Stapelfeldt wegen ihres unveränderlich wirkenden Zustandes auch als »Natur-Gesellschaft« bezeichnet – »setzte an die Stelle der Freiheit die Notwendigkeit, an die Stelle der Aufklärung die Kausalerklärung, an die Stelle der Gleichheit die Ungleichheit, an die Stelle der Utopie des ewigen Friedens die Apologie eines Gesellschaftskrieges, an die Stelle der Utopie eines Wealth of Nations das Dogma der Knappheit« (Stapelfeldt 2009: 30; Herv. i.O.). In diesen Entwicklungen findet der Rassismus einen idealen Nährboden, weil diese neuen Dogmen aus Sachzwang, Kampf, Konkurrenz und Knappheit den permanenten ›Menschenvergleich‹ begründen, der den Maßstab zur Verteilung von Ressourcen festlegt. Dass dieser Vergleich dann rassistisch gewendet wird, ist nur ein letzter Schritt. Neben der bereits skizzierten Irrationalität wird die Gesellschaft als eine Totalität gefasst. Einzelmomente des Gesellschaftlichen hängen mit anderen Momenten zusammen, sie lassen sich auch nicht isoliert begreifen. Eine vom Gesamtgesellschaftlichen losgelöste Analyse des Rassismus wäre darum analytisch falsch. Worin Kritische Theorie über etablierte Einsichten hinausgeht, dass vieles mit vielem zusammenhängt, ist Spezifizierung der Totalität: Menschen werden durch den Tausch einander gleichsetzt; denn nur als solche, als einander austauschbare, sind sie als Warenproduzierende bzw. Arbeitskraftinhaber:innen vergleichbar. »Der Vergesellschaftungsprozess zeichnet sich also dadurch aus, dass er ein Ganzes werden und sich in sich selbst zu einer Totalität verschließen will, in der alles als Gleiches aufgeht. Um dies zu erreichen, muss er die fortwährenden Gegensätze und die Tatsache der Vielfältigkeit leugnen.« (Demirović 2003: 21) Rassismus wird von der Kritischen Theorie folglich nicht isoliert von ihrem gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang beschrieben. Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse werden mittels Ideologiekritik der bürgerlichen Gesellschaft analysiert. Kritische Theorie betrachtet gesellschaftliche Tatsachen als Gemachtes, als etwas durch soziale Praxis Hergestelltes. In der Anmutung von Unveränderlichkeit der Tatsachen verbirgt sich Herrschaft. Auf diese verborgene Herrschaft, die sich über verschiedene Ideologien legitimiert, will Kritische Theorie zeigen. Das Selbst, das für Selbstbestimmung und Selbstbewusstsein steht, verschwindet in der kapitalistischen Totalität. Für die frühe Kritische Theorie ist die Dominanz des kapitalistischen Gesellschaftszusammenhang so stark, dass sie nicht davon ausgeht, dass »die Gesellschaft eine von Menschen [gemachte ist], daß sie menschlich sei, unmittelbar eins mit ihren Subjekten«, sondern »das spezifisch Gesellschaftliche [bestehe gerade] im Übergewicht von Verhältnissen über die Menschen, deren entmächtigte Produkte diese nachgerade sind« (Adorno 1965: 9). Ein paar Seiten später verschärft sich der Ton noch zur Polemik gegen die Rollensoziologie: »Rollen haben die Menschen in einem Strukturzusammenhang der Gesellschaft, der sie sowohl zur puren Selbsterhaltung dressiert wie die Erhaltung ihres Selbst ihnen verweigert. Das allherrschende Identitätsprinzip, die abstrakte Vergleichbarkeit ihrer gesellschaftlichen Arbeit, treibt sie bis zur Auslö-

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schung ihrer Identität.« (Ebd.: 13)14 Im Begriff der Rolle registriert Soziologie etwas, das sie durch Dethematisierung seines Gewordenseins zugleich ideologisch naturalisiert: Wir alle spielen Rollen. Adorno setzt polemische Wucht dagegen: Warum erscheint es uns natürlich, dass wir nicht mit uns identisch sein dürfen – in ›Rollen‹ gleichsam die Entfremdung zur soziologischen Prämisse erheben. Dass sich in Wendungen wie Dressur, Reflexhaftigkeit, Passivität, Konditionierung zur Beschreibung der Subjekte kaum jemand wiedererkennen kann, liegt auf der Hand. Solche unmittelbare Evidenz und Zustimmungsfähigkeit ist auch nicht das Ansinnen Kritischer Theorie: Ihr Anliegen ist es gerade, gegen diesen Widerstand analytisch vorzugehen. Gesellschaftstheorie hätte von der Evidenz der Rollenübernahme in modernen, kapitalitischen Gesellschaften fortzuschreiten » zur Erkenntnis seines sozialen Grundes: warum die Menschen immer noch auf Rollen vereidigt sind. Der Marxsche Begriff der Charaktermaske, der jene Kategorie nicht nur antezipiert, sondern gesellschaftlich deduziert, hat das tendenziell geleistet. Operiert die Wissenschaft von der Gesellschaft mit derlei Begriffen, schreckt aber vor der Theorie zurück, deren Momente sie sind, so leistet sie Dienste für die Ideologie. Der Begriff der Rolle, unanalysiert von der sozialen Fassade bezogen, hilft, das Unwesen der Rolle zu perpetuieren.« (Adorno 1965: 13) Adorno geht es darum zu zeigen, wie stark Menschen ihr Leben an den Funktionserfordernissen des Überlebens im Kapitalismus ausrichten müssen und dass sie sich zu Subjekten formieren, die dies mitunter bereitwillig und unter größtem Einsatz tun. Als Entbehrung wird dieser Einsatz in allen Lebensbereichen erst empfunden, wenn Depressionen und Burnout dem leiblichen Funktionieren des Menschen klare Grenzen setzen. Insbesondere diese Dimension der Gesellschaftskritik führt Hartmut Rosa in seinen Arbeiten zu Resonanz und Entfremdung derzeit fort, in denen er Depression und Burnout als Konsequenz zunehmender Entfremdung und als Mangel an Resonanz deutet (vgl. Rosa 2016: 710f., 2005: 386f.; vgl. auch Ehrenberg 2004; Neckel/Wagner 2013). Ein weiteres Moment der Gesellschaftskritik ist die Beschreibung der spätkapitalistischen Gesellschaft mit ihren Kontrollmechanismen und Manipulationstendenzen. Die so genannte Kulturindustriethese, die das System der massenhaften Produktion von Kultur als Ware beschreibt, ist bis heute ein überaus wirkmächtiges Theorem vor allem in den

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Jedoch hat der Totalitätsbegriff Einwände späterer Generationen kritischer Theorie auf sich gezogen: Bei Habermas wird die Vorstellung, dass die gesamte Gesellschaft warenförmig organisiert sei, aufgegeben zugunsten der Begriffe von System und Lebenswelt, mit dem Ziel, jeweils die Dominanz von instrumenteller Vernunft dem einen und die Idee der Verständigungsfähigkeit der menschlichen Gattung einem anderen gesellschaftlichen Handlungsbereich zuordnen zu können (vgl. Habermas 1981). Rehmann weist zudem darauf hin, dass Horkheimer zunächst in seinen frühen Schriften den Totalitätsbegriff, der eng mit dem lukács’schen Verdinglichungsbegriff zusammenhängt, abgelehnt hat (vgl. Rehmann 2016: 8). Auch Celikates problematisiert die Idee eines »totalen Herrschaftszusammenhangs« mit dem Argument, dass es immer mehrere Handlungsoptionen gebe und dass Kritische Theorie die Vorstellung von der Reflexivität der sozialen Akteure auch unter schwierigen gesellschaftlichen Bedingungen nicht aufgeben dürfe (vgl. Celikates 2009: 222, 238).

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Kommunikations- und Medienwissenschaften. Kulturindustrie übernimmt nach Horkheimer und Adorno die Aufgabe von Kontrolle und Manipulation durch die »Produktion des Immergleichen« (Horkheimer/Adorno 1947: 156), ohne dass man sich diese Manipulation als personifizierende Steuerung für spezifische Interessen einzelner Gruppen vorstellen müsste.15 Das Manipulative ergibt sich aus dem Warencharakter selbst. An entscheidender Stelle betont Adorno, dass die Kulturindustrie »aus der Verwertungstendenz des Kapitals« (Adorno 1965: 17) hervorgegangen ist. »Sie hat sich unter dem Marktgesetz entwickelt, dem Zwang, ihren Konsumenten sich anzupassen, ist dann aber umgeschlagen zu der Instanz, welche Bewußtsein in seinen je bestehenden Formen, dem geistigen status quo, fixiert und verstärkt.« (Ebd.: 17f.) Die »geistige[] Verdopplung dessen, was ohnehin ist« (ebd.: 18) diene der Rechtfertigung des gesellschaftlichen Quo – ist also ein Teil von Ideologie. Bereits Adorno hat gesehen, wie Technik im Kapitalismus zum Instrument der Kontrolle wird. Eine Potenzierung erfährt diese frühe Kritik mit Blick auf die heutigen technischen Möglichkeiten von Kontrolle durch das Internet, soziale Medien und smarte Technologie (vgl. Fuchs 2021). Die Foren und Formen der Kommunikation im Internet ermöglichen es, User-Gewohnheiten in effektiver Weise für die »Zwecke individualisierter Werbung ›aufzubereiten‹ und kommunikative Beziehungen durch und durch warenförmig zu machen« (Schweppenhäuser 2016: 23). Die Kulturindustrie der Gegenwart v.a. in sozialen Medien fabriziert und wiederholt nicht nur »Vorstellungsbilder« und »Lebensstilangebote« (ebd.: 24), sie reproduziert auf anderer Ebene die Konkurrenzverhältnisse und narzisstischen Stimuli der warenförmig organisierten Gesellschaft. Kulturindustrie verstärkt auf medialer Ebene das scheinbar Normale, Vertraute und Realistische als Meinung in den Individuen und auf gesellschaftlicher Ebene. Durch die Kulturindustrie »sickert der falsche Schein in die Verhältnisse ein« (Havel 2017: 273), die als substantiell unveränderbar erscheinen.

5.3 Zur Subjektwerdung des Individuums Die Kritik an den der bürgerlichen Gesellschaft attestierten Fehlentwicklungen ist angewiesen darauf, dass eine Idee von sinnvoll eingesetzter Rationalität, Freiheit und Gleichheit, von Überwindung der Lebensnot durch Aufklärung und Moderne überhaupt je realistisch in Aussicht stand. So müssen die emphatisch vorgetragenen Kritiken am Untergang des Subjekts der Kritischen Theorie auch eher als verhinderte Potentiale, denn als

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In den letzten Jahren wird eine solch personalisierende ›Medienkritik‹ mit dem Vorwurf der ›Lügenpresse‹ vor allem, aber nicht nur, in rechten Bewegungen formuliert. Den so genannten ›Mainstreammedien‹ wird vorgeworfen, mit dem Ziel der Manipulation Informationen zu verheimlichen, zu verfälschen oder auch selektiv und einseitig über gesellschaftlich relevante Themen zu berichten. Aus ›Fakten‹ seien in den Mainstreammedien Meinungen geworden. Die öffentliche Meinung werde über die von Lobbymächten kontrollierte Regierung vermittelt über die Medien gesteuert. Aus einer Studie mit Gruppendiskussionen, die Lars Geiges, Stine Margs und Franz Walter mit Pegida-Teilnehmer:innen 2014/15 durchführten, geht hervor, dass die Befragten meinten, sie hätten die Manipulation der Medien – hinter der »System« stecke – durchschaut (vgl. Geiges/ Marg/Walter 2015: 101, 103f.).

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Kommunikations- und Medienwissenschaften. Kulturindustrie übernimmt nach Horkheimer und Adorno die Aufgabe von Kontrolle und Manipulation durch die »Produktion des Immergleichen« (Horkheimer/Adorno 1947: 156), ohne dass man sich diese Manipulation als personifizierende Steuerung für spezifische Interessen einzelner Gruppen vorstellen müsste.15 Das Manipulative ergibt sich aus dem Warencharakter selbst. An entscheidender Stelle betont Adorno, dass die Kulturindustrie »aus der Verwertungstendenz des Kapitals« (Adorno 1965: 17) hervorgegangen ist. »Sie hat sich unter dem Marktgesetz entwickelt, dem Zwang, ihren Konsumenten sich anzupassen, ist dann aber umgeschlagen zu der Instanz, welche Bewußtsein in seinen je bestehenden Formen, dem geistigen status quo, fixiert und verstärkt.« (Ebd.: 17f.) Die »geistige[] Verdopplung dessen, was ohnehin ist« (ebd.: 18) diene der Rechtfertigung des gesellschaftlichen Quo – ist also ein Teil von Ideologie. Bereits Adorno hat gesehen, wie Technik im Kapitalismus zum Instrument der Kontrolle wird. Eine Potenzierung erfährt diese frühe Kritik mit Blick auf die heutigen technischen Möglichkeiten von Kontrolle durch das Internet, soziale Medien und smarte Technologie (vgl. Fuchs 2021). Die Foren und Formen der Kommunikation im Internet ermöglichen es, User-Gewohnheiten in effektiver Weise für die »Zwecke individualisierter Werbung ›aufzubereiten‹ und kommunikative Beziehungen durch und durch warenförmig zu machen« (Schweppenhäuser 2016: 23). Die Kulturindustrie der Gegenwart v.a. in sozialen Medien fabriziert und wiederholt nicht nur »Vorstellungsbilder« und »Lebensstilangebote« (ebd.: 24), sie reproduziert auf anderer Ebene die Konkurrenzverhältnisse und narzisstischen Stimuli der warenförmig organisierten Gesellschaft. Kulturindustrie verstärkt auf medialer Ebene das scheinbar Normale, Vertraute und Realistische als Meinung in den Individuen und auf gesellschaftlicher Ebene. Durch die Kulturindustrie »sickert der falsche Schein in die Verhältnisse ein« (Havel 2017: 273), die als substantiell unveränderbar erscheinen.

5.3 Zur Subjektwerdung des Individuums Die Kritik an den der bürgerlichen Gesellschaft attestierten Fehlentwicklungen ist angewiesen darauf, dass eine Idee von sinnvoll eingesetzter Rationalität, Freiheit und Gleichheit, von Überwindung der Lebensnot durch Aufklärung und Moderne überhaupt je realistisch in Aussicht stand. So müssen die emphatisch vorgetragenen Kritiken am Untergang des Subjekts der Kritischen Theorie auch eher als verhinderte Potentiale, denn als

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In den letzten Jahren wird eine solch personalisierende ›Medienkritik‹ mit dem Vorwurf der ›Lügenpresse‹ vor allem, aber nicht nur, in rechten Bewegungen formuliert. Den so genannten ›Mainstreammedien‹ wird vorgeworfen, mit dem Ziel der Manipulation Informationen zu verheimlichen, zu verfälschen oder auch selektiv und einseitig über gesellschaftlich relevante Themen zu berichten. Aus ›Fakten‹ seien in den Mainstreammedien Meinungen geworden. Die öffentliche Meinung werde über die von Lobbymächten kontrollierte Regierung vermittelt über die Medien gesteuert. Aus einer Studie mit Gruppendiskussionen, die Lars Geiges, Stine Margs und Franz Walter mit Pegida-Teilnehmer:innen 2014/15 durchführten, geht hervor, dass die Befragten meinten, sie hätten die Manipulation der Medien – hinter der »System« stecke – durchschaut (vgl. Geiges/ Marg/Walter 2015: 101, 103f.).

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tatsächlicher Rückfall hinter einen bestimmten Grad an Emanzipation verstanden werden. Das Missverhältnis von Fortschritt und Regression nimmt der Kritischen Theorie nach immer weiter zu: »Arbeitslosigkeit gilt als Zeichen mangelnder Leistungsbereitschaft und nicht als gesellschaftlicher Reichtum. Technik und Wissenschaft tragen zur Schaffung ungeheurer technischer Selbstzerstörungskräfte bei, Armut, Verelendung, Naturzerstörung nehmen keineswegs ab, vielmehr werden gerade erzielte Erfolge bei ihrer Beseitigung schon in der nächsten Wirtschaftskrise wieder zerstört.« (Demirović 2003: 11) Die Dialektik des Fortschritts in modernen kapitalistischen Gesellschaften ist von Adorno auf den folgenden Satz gebracht: »Alles schreitet fort in dem Ganzen nur bis heute das Ganze nicht.« (Adorno 1962a: 623) Objektiv gibt es Fortschritt, jedoch dient dieser allzu oft nicht der Bekämpfung von Not, Leid und Unterdrückung, sondern führt dazu, dass Innovationen um der Neuheit willen, mit dem Ziel, diese zu Waren zu machen, entwickelt werden. Diese Dialektik des Fortschritts führt zur Kontrolle der Subjekte, einer Unterdrückung des Nichtidentischen und einer zunehmenden Verwaltung der gesamten Gesellschaft. Nicht nur haben ökonomische Prozesse Teil an diesen Entwicklungen, sondern Aufklärung und Moderne geraten für Horkheimer und Adorno ebenfalls unter Kritik. So zeigen die beiden in der Dialektik der Aufklärung, dass Vernunft eben nicht nur eine Voraussetzung zur Befreiung der Menschen von Mythologie und Aberglauben ist, sondern selbst durch instrumentelle Indienstnahme ein Moment von Herrschaft wird.

5.3.1 Individuum und Subjekt Gegenstand des folgenden Abschnittes sind Überlegungen zur Unterscheidung von Individuum, als naturalem Substrat und Subjekt, als sozialer Funktion des Menschen (vgl. Bruhn 1994: 101) in der Kritischen Theorie. »Das Absehen von der Leiblichkeit [in der bürgerlichen Gesellschaft, U. M.] eröffnet das Schisma zwischen den besonderen Menschen und den allgemeinen Menschen, zwischen dem empirischen Individuum und dem Transzendentalsubjekt, das sich im Gattungsbegriff darstellt, in den Menschenrechten ausspricht und im Souverän verkörpert.« (Bruhn 1994: 85) Individualität spiegelt persönliche Lebensverhältnisse und Erfahrungen; das Subjekt hingegen ist historisch – »soziale Funktion« (ebd.: 101). In der Subjektwerdung steckt immer schon ein Stück Entfremdung; ein notwendiges – im besten Falle glückendes, reflexives – Sich-Selbst-Zum-Gegenstand-Werden: Das Subjekt muss sich selbst als Einheit hinter disparaten Erfahrungen konstituieren. »Zum Subjekt wird das Individuum, insofern es kraft seines individuellen Bewußtseins sich objektiviert, in der Einheit seiner selbst wie in der seiner Erfahrungen […].« (Adorno 1966: 56) Diese Verallgemeinerung verweist bereits auf die Ähnlichkeit von Erfahrungen, die Subjekte machen und auf die Ähnlichkeit der Zurichtung, der die Subjekte in unfreien Gesellschaften unterworfen sind. Kritische Theorie konzentriert sich auf die Beschädigung der Subjekte durch die

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gesellschaftlichen Zwänge. Das Subjekt ist somit wesentlich negativ bestimmt – als beschädigtes. Beschädigt sind Subjekte, wenn sie leiden und dieses Leiden gesellschaftliche Ursachen hat (vgl. ebd.: 172). Leiden wird also zum Gegenstand der Soziologie, wenn es gesellschaftlich bedingt ist. Subjekt meint häufig auch ein historisches Subjekt: Kollektivsubjekt oder revolutionäres Subjekt als Träger gesellschaftlicher Veränderungen. Das Ausbleiben eines solchen revolutionären Subjekts aber – als das im Marxismus die Arbeiter:innenklasse galt – am Vorabend des 1. Weltkrieges oder am Vorabend des »Dritten Reichs«16 – destabilisierte die marxistische Konzeption von Praxis. Statt nämlich auf diese, die Emanzipation verheißende Bühne der Geschichte zu treten, lauschten die Arbeiter und Angestellten den Souffleuren der Reaktion und bejubelten den Antisemitismus, den Rassismus – das gesamte ideologische Programm – des Nationalsozialismus (vgl. auch Falter u.a. 1983). Dieses Ausbleiben des revolutionären Subjekts17 , da wo es gemäß der Theorie die Bühne der Geschichte hätte stürmen müssen, bildete den Grund für Kritische Theorie, marxistische Gesellschaftsanalyse mit Psychoanalyse zu ergänzen. Subjekt wird in der der Kritischen Theorie als dialektische Figur gefasst. Es ist einerseits der Ort von Emanzipation und Befreiung, d.h. Träger einer vernünftigen Gesellschaft. Diese Annahme, so Städtler, sei keine »Allmachtsphantasie«, sondern entspringe der Einsicht, dass Menschen »aufgrund der Reflexivität ihres Bewusstseins nicht naturkausal determiniert sind« (Städtler 2019: 291) und daher über die prinzipiellen Voraussetzungen verfügen, ihre eigene Situation zu erfassen.18 Andererseits wird das Subjekt stets in seinem Verhältnis zum Objekt (Natur, Dinge und Verdinglichtes, andere Subjekte) unter der Perspektive der Herrschaft in den Blick genommen. Das Subjekt gründet in einer historisch veränderlichen Form von Objektivität. Die Kritische Theorie muss am Subjekt trotz dessen doppelter Bestimmung – als grundlegend handlungs- und reflexionsfähig sowie als determiniert und der Reflexion nur eingeschränkt fähig – festhalten. Denn ohne die Überzeugung, dass Subjekte grundsätzlich handlungsfähig sind, zielt die gesamte Gesellschaftskritik und damit auch jede Rassismuskritik ins Leere. Autonomie ist nach Städtler zu begreifen als das »objektiv begründete Potential von Subjektivität« (ebd.: 304) vor dem Hintergrund der sozialen – und das bedeutet geschichtlich gewordenen – Bedingungen. Auf das Objekt greift das Subjekt zu, indem es sich von ihm abgrenzen muss. In seiner zu Lebzeiten unveröffentlichten Arbeit Zu Subjekt und Objekt (1969a) bezeichnet Adorno diese Begriffe als mehrdeutig. So könne Subjekt einerseits das einzelne Individuum wie auch allgemeine Bestimmungen von Bewusstsein meinen. Diese Mehrdeutigkeit sei

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Vgl. die Studie von Erich Fromm: Arbeiter und Angestellte am Vorabend des Dritten Reiches (1929). Christian Voller begreift Kritische Theorie in seinem Buch In der Dämmerung. Studien zur Vor- und Frühgeschichte der Kritischen Theorie als »theoretische Reflexion der ausgebliebenen, gescheiterten oder entstellten sozialen Revolution«. Mit Marx/Engels wäre Revolution die »Verwirklichung von Verhältnissen, ›worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist‹« (Voller 2022: 9). Später werde ich zeigen, dass diese Betonung der potentiellen Handlungsmächtigkeit des Subjekts durch die Hinzunahme der Psychoanalyse in die Gesellschaftstheorie der frühen Kritischen Theorie relativiert wird (vgl. Städtler 2019: 294, FN 6).

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durch die Festlegung einer Definition nicht einfach abzuschaffen, da sich beide Bedeutungen reziprok aufeinander beziehen. Der Subjektbegriff ist ohne das »Moment der Einzelmenschlichkeit« (Adorno 1969a: 741) nicht vorzustellen; ohne diese »Erinnerung«, dass hinter Subjekten Menschen stehen, habe die Rede vom Subjekt keinen Sinn (vgl. ebd.). Umgekehrt ist das einzelmenschliche Individuum nicht zu denken ohne dessen Verbindung zum Allgemeinen, »was im idealistischen Subjektbegriff ausdrücklich wurde; sogar der Ausdruck ›besonderer Mensch‹ bedarf des Gattungsbegriffs, wäre sonst sinnleer« (ebd.). Subjekt und Objekt sind miteinander vermittelt; sie sind wechselseitig voneinander geprägt: das Objekt durch das Subjekt und, wie Adorno bemerkt, das Subjekt mehr noch durch das Objekt. Wo diese Vermittlung unbenannt bleibt, wird es ideologisch, weil Subjekt und Objekt als selbständig erscheinen (vgl. ebd.: 742). Zugleich, und darin besteht die Dialektik, ist die Erkenntnis des Objekts – soziologisch gesprochen: der Gesellschaft – nur durch die Subjekte zu leisten. In einer befreiten Gesellschaft wäre »das Verhältnis von Subjekt und Objekt im verwirklichten Frieden sowohl zwischen den Menschen wie zwischen ihnen und ihrem Anderen. Friede ist der Stand eines Unterschiedenen ohne Herrschaft, in dem das Unterschiedene teilhat aneinander« (vgl. ebd.: 743). Kritische Theorie nähert sich der Frage nach der Entstehung von Individualität nicht nur zivilisationstheoretisch, sondern auch gesellschaftstheoretisch. Hierbei wird die Entwicklung hin zur vollständigen Durchsetzung des Tauschprinzips im Spätkapitalismus bedeutsam. In diesem Zusammenhang spricht Kritische Theorie von einem immer umfassenderen System der Herrschaft von Menschen über die Natur und über andere Menschen durch die gewaltsame Durchsetzung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung (vgl. Bonacker 1998: 122–124). Dass das Individuum zur erstrebenswerten Sozialfigur des Einzelnen wurde, war erst ermöglicht durch die ökonomischen Veränderungen im Zuge der Auflösung des Feudalismus. Denn der Kapitalismus brauchte den freien Lohnarbeiter, der Verträge eingehen konnte. »Das Individuum verdankt seine Kristallisation den Formen der politischen Ökonomie, insbesondere dem städtischen Marktwesen.« (Adorno 1951: 169) Zugleich, so Bonacker, überträgt sich die Bedeutung des Individuums auch in die kulturelle Sphäre: Das Individuum bekommt fortan seinen Platz in der Literatur (autobiographische Romane, die Ich-Erzählung), in der Philosophie (das transzendentale Subjekt) und in der Malerei (das Portrait).19 Für Adorno bilden beide Entwicklungen – die historischen und die gesellschaftlichen – die Voraussetzung für die Entstehung von Individualität. Das bürgerliche Individuum, um das es hier geht, ist weitestgehend normativ bestimmt: Es wird autonom, authentisch, selbstbestimmt und gestalterisch gesetzt und damit folglich in der Realisierung dieser Setzungen abhängig von den objektiven gesellschaftlichen Bedingungen, die es einschränken oder gewähren lassen (vgl. Bonacker 1998: 125–128; Rosa 2009: 93). Und erst in dieser modernen Gesellschaft wird das Individuum aufgewertet, indem es zu einer »institutionalisierten und allgemein anerkannten Lebensform wird« (Bonacker 1998: 131). Gesetze schützen das Individuum als frei in staatsbürgerlicher und arbeitsrechtlicher Hinsicht. Das Individuum tritt als Akteur nun auch in Bereichen des Familienlebens (Partnerschaften, Familie) und des Berufs auf den Plan. Traditionen und 19

Allerdings entstand entgegen Bonackers Einschätzung das autonome Privatportrait bereits ab den 1420er Jahren – also weit vor der Aufklärung (vgl. Böhm 1985; Belting/Kruse 1995).

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alte kollektive Vergemeinschaftungen werden gelöst und durch frei wählbare Optionen ersetzt (vgl. Rosa 2009: 104–111). »In den Rollen des unter (liberal-)kapitalistischen Bedingungen Arbeitenden und Staatsbürgers kommen diese Formen individueller Autonomie zum Ausdruck.« (Bonacker 1998: 128) Auf die Dialektik dieser ›Freiheit‹ hat bereits Marx mit der Sozialfigur des doppelt freien Lohnarbeiters hingewiesen: frei in rechtlicher Hinsicht und frei, die Arbeitskraft wo auch immer zu verkaufen, aber auch frei an Produktionsmitteln (vgl. MEW 23: 183). Und schließlich meinte die abstrakte Rede von der Freiheit des Subjekts lange lediglich die Freiheit einzelner Individuen: jener, die Eigentümer an Produktionsmitteln waren, Menschen eines bestimmten Geschlechts und einer bestimmten Herkunft bzw. rassifizierenden Zuordnung. Frauen und Rassifizierte waren von diesen abstrakten Freiheiten und konkreten Rechten lange ausgeschlossen und sind es teilweise bis heute. Schließlich thematisiert die Kritische Theorie auch, wie die in einer Gesellschaft situierten Individuen ihre Wünsche und Bedürfnisse zum Ausdruck bringen können; wie spontan sie sein können, wie sie sich selbst behaupten oder auch aufgeben (vgl. Bonacker 1998: 130f.).20 Für Städtler ist der Maßstab der Kritik daher das kritische Subjekt: »Es ist als theoretisches ein vernunftbegabtes Sinnwesen, das durch Denken Einheit von sinnlicher Erfahrung und vernunftgeleitetem Denken herstellt. Es terscheidet und beurteilt Erfahrungsgehalte nach dem Maßstab der Einheit Selbstbewusstseins. Gegenstände, die als irrational erkannt werden, verfallen Kritik.« (Städtler 2019: 291)

die undes der

Es ist das autonome Subjekt mit individuellen Glücksansprüchen in einer selbstbestimmten, erst noch zu realisierenden Gesellschaft (vgl. ebd.: 303). Kritische Theorie hat also auch zu zeigen, wie exklusiv und selektiv die Realisierung der »Grundversprechen der Moderne« (Rosa 2009: 95) war und ist: wie Postulat und Realität auseinanderlaufen.

5.3.2 Das flexible, angepasste Subjekt Als zeitgenössischer Subjekttyp gilt das aktivgesellschaftliche Selbst, das entstehe, wenn von staatlicher Seite die Verantwortung des Individuums sich selbst und einer sozialen Schicksalsgemeinschaft gegenüber eingefordert wird. Stephan Lessenich bezeichnet die Forderungen des kapitalistischen Wohlfahrtsstaates nach Aktivität, Eigeninitiative und Selbstsorge als Subjektivierung des Sozialen: also die Verschiebung von gesellschaftlich produzierten Risiken in den persönlichen Verantwortungsbereich (vgl. Lessenich 2009: 130f.). Als ideologisch kann mit Adorno jene gegenwärtige Anrufung des Subjekts in Sachen Flexibilität, Aktivität und Eigeninitiative bezeichnet werden, weil die Menschen »absichtlich und unabsichtlich eingebläut [bekommen], es käme nur auf sie an«, wo diese doch zunehmend stärker »von dem Gesamtsystem abhängig sind« (Adorno 1966b: 722). Dass Aktivierung, zu der auch Mobilitätsbereitschaft gehört, nicht von

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Auch hier taucht der Begriff der Mimesis wieder auf, wenn es darum geht, jene sinnlichen und somatischen Potentiale zur Geltung zu bringen oder ihre Verhinderung bzw. ihr Verschwinden konstatieren zu müssen (vgl. Bonacker 1998: 130).

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allen Subjekten gleichermaßen gefordert und erwartet wird, ist Teil einer staatlichen Dialektik aus Mobilität und Kontrolle. Dies demonstriert Lessenich am Beispiel der Migration von geflüchteten Menschen, deren Bewegung und Aktivität als unerwünscht gilt und deshalb zu verhindern sei (vgl. Lessenich 2009: 169f.). Als »Trittbrettfahrer der nationalen Solidargemeinschaft« (ebd.), als Schmarotzer des Wohlstandes diskreditiert, sind sie nicht einmal auf dem Akzeptanzniveau jener ausländischen Arbeitskräfte, deren migrantische Bewegung zum Ausgleich des Fachkräftemangels, in der Pflege oder auf dem Bau beispielsweise, zumindest übergangsweise erwünscht ist. Individuum zu sein, schmilzt zusammen auf ein abstraktes Subjekt, das sich selbst verwertet, sich anpreist und andient, sich wandelt – und dies alles auch noch für erstrebenswert hält. So genannte Persönlichkeitskompetenzen postulieren genau diese Eigenschaften. Neben der Persönlichkeitskompetenz zu der u.a. Belastbarkeit, Flexibilität, Mobilität, Selbstorganisation und Selbstreflexion gehört, nennt Mai, ein Wirtschaftsjournalist, auf der in dieser Hinsicht einschlägigen Homepage Karriere-Bibel noch die Sozial,- Fach- und Methodenkompetenz (vgl. Mai 2020). Was hier als Subjekt im abstrakten Sinn angepriesen wird und als empirisches Individuum antreten muss, ist das genaue Gegenteil von Autonomie. Der ideologische Gehalt zeigt sich in der Suggestion von Autonomie und Flexibilität gerade dort, wo sie gefordert und gleichzeitig als schon anthropologisch verbürgt vorausgesetzt wird (vgl. Lessenich 2009: 168). Die Lobrede auf Flexibilität soll die schier unerschöpfliche Forderung nach Anpassung an jedwede Erfordernisse des kapitalistischen Marktes rechtfertigen. Solche Anpassung sei möglich, weil der Mensch sie mit seinen Anlagen erbringen könne; sie sei angemessen, weil die kapitalistische Gesellschaft sie unausweichlich erfordere. Vermeintliche Anlage und gesellschaftliche Notwendigkeit verschmelzen in solchen Erzählungen zu einem naturhaften Kompatibilitätszusammenhang. Das ist klassische Ideologie nach Marx und Adorno. Adornos Beobachtung, dass der seinerzeit zeitgemäße Subjekttyp nicht bewusst, sondern lediglich reflexhaft im Sinne der gesellschaftlichen Verhältnisse handele und darum affektiv verarme, wird für die heutigen Verhältnisse abgewandelt zur Diagnose eines verbreiteten Typus, der anpassungsfähig und flexibel (sich gibt) – also passiv ist, von dem aber gleichzeitig Kreativität und Selbstreflexion erwartet wird. Anpassung, so Stapelfeldt, sei »der kategorische Imperativ des Neoliberalismus« (Stapelfeldt 2009: 33). Auch Adorno u.a. erkennen bereits in den 1950er Jahren eine Tendenz der Menschen zur Anpassung an die Konkurrenz: »eine bestimmte Art von Tüchtigkeit, von Promptheit der Reaktion, von Wendigkeit« (Adorno/Horkheimer/Kogon 1950: 129), die man wohl als starre Flexibilität bezeichnen kann. Diese Anpassung schließe die Verständigung mit dem Anderen als Subjekt kategorisch aus und ermögliche den Zugang zum anderen lediglich als Objekt, gegen das man sich im Wettbewerb durchzusetzen habe (vgl. Stapelfeldt 2009: 33). Weil die subjektivierten Individuen Identität aber nicht aus sich selbst aufbauen können, sondern nur »als flexible Funktion und nur im reibungslosen Funktionieren als ›Charaktermaske‹« (Bruhn 1994: 97), können sie nicht anders, als Störungen im kapitalistischen Akkumulationsablauf mit der Angst vor potentieller Entwertung zu begegnen. Die Subjektanforderungen im Neoliberalismus übersteigen die Folgen der postfordistischen Subjektzurichtung in der Ausdehnung der instrumentellen Zwecksetzung unter das Primat des Ökonomischen um ein Weites. Die Identität des Einzelnen

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als Subjekt verdankt sich nicht dem Willen der Menschen, sondern ist »Funktion ihrer Vergleichung« (ebd.: 92). Nicht der Bürger ist frei und gleich, sondern die Ware (vgl. ebd.). In der bürgerlichen Gesellschaft als nationaler sei daher die Hinwendung zum Kollektiv als Identitätsangebot bereits angelegt. Sie bleibt aufgrund der warenförmigen Struktur der kapitalistischen Gesellschaft das dominante Referenzsystem zur Stabilisierung der fragilen individuellen Identität. Dass die Appelle an Aktivität und Mobilität sich nie nur an die einzelnen Individuen richten, sondern stets auf das Kollektiv bezogen sind, zeigt Lessenich ebenfalls in seinen Untersuchungen: »Individuelle Aktivität, Mobilität, Bewegung ›zählen‹ dann – und nur dann –, wenn sie als gemeinwohldienlich gelten können und anerkannt werden, wenn sie in gesellschaftsfreundlicher Absicht vollzogen werden oder wenn ihnen jedenfalls eine solch sozialkompatible Handlungsrationalität als Selbstbeschreibung unterlegt bzw. in der Fremdbeschreibung unterstellt werden kann.« (Lessenich 2009: 162) Das Maß der Güte einer Handlung ist also deren Gemeinwohlorientierung, mit anderen Worten, deren Orientierung an nationalen Interessen, die mehr beinhalten als die Entlastung der öffentlichen Kassen durch private Sicherungsverantwortung, um dessen Darstellung es Lessenich vor allem in seiner Untersuchung geht. Nationale Interessen zu bedienen, schließt die Stärkung des Wirtschaftsstandorts mit ein: inklusive aller damit verbundenen internationalen politökonomischen Interessen, die es durchzusetzen gilt; die Bewahrung von Sicherheit und Wohlstand auf Kosten von anderen Ländern, wenn es sein muss auch mit militärischen Interventionen; die Zurschaustellung einer geläuterten Nation, die mit ihrer kolonialen und nationalsozialistischen Vergangenheit aufräumt usw. Nationale Interessen gebärden sich als klassenübergreifend – ihre Anrufung formt die Gemeinschaft. Dass der Staat Aktivität, Kreativität und Mobilität von seinen Bürgern individuell einfordert, steht dazu keineswegs im Gegensatz, weil diese individuelle Anrufung Individuen nur als Mittler und Überträger von Gemeinwohlinteressen betrachtet. Jene Kreativität, die zweckrational eingefordert wird, ist nicht tatsächlich kreativ oder selbstreflexiv– sie ist progressiv gelabelte Anpassungsfähigkeit. Das flexible Subjekt internalisiert den neuen Geist des Kapitalismus. Darauf hat auch Dörre hingewiesen; Zwang und Disziplin des Fordismus sind abgelöst (vgl. Dörre 2009: 198–200). Wenn also nicht Selbstbewusstsein, das sich nach Adorno nur in der Abgrenzung zur Umwelt bildet, die »adäquate Lebensform unter spätkapitalistischen Bedingungen« (Bonacker 1998: 138) ist, sondern jene, die zwar Selbstbestimmung einfordert und proklamiert, sie aber im Sinne der Zwecksetzung des Kapitals zugleich kontrolliert, dann ist die Bildung eines Selbstbewusstseins, wie es der Sozialisationstheorie Adornos vor Augen stand, verhindert. In einer Gesellschaft, die auf die Selbstbehauptung ihrer Individuen nicht angewiesen ist, ja die mit der Selbstbehauptung einhergehende Widerständigkeit kontrollieren und kanalisieren muss, werden Menschen depersonalisiert, d.h. eine personale Identität kann nicht mehr vollständig ausgebildet werden. Joachim Bruhn geht bis zu der These, dass das bürgerliche Subjekt Identität überhaupt nicht aus sich selbst

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heraus erzeugen könne, sondern nur in Abgrenzung gegen das unwerte Leben (bei Rassifizierten) und das überwertige Leben (bei den Juden) (vgl. Bruhn 1994: 84). Dieser Abgrenzungszwang ist die Voraussetzung für die Bereitschaft, in Kollektiven nach Identität zu suchen (der letzte Abschnitt dieses Kapitels widmet sich diesem Aspekt). Der sich in solchen Kollektiven artikulierende Gestus des Widerständigen ist nicht jener Widerstand, der der Kritischen Theorie vor Augen steht. Er übersetzt die eigene Entwertung der Person in die Entpersonalisierung, ja mitunter Entmenschlichung anderer. Im Rassismus schrumpft das Widerständige zusammen auf den Widerstand gegen die Veränderung und auf den Erhalt des ideologisch vermittelt Naturhaften: die ›Rasse‹, das ›Volk‹, die authentische ›Kultur‹. Die Verselbständigung der Gesellschaft, so Stapelfeldt, gegenüber der Natur und somit auch gegenüber den Menschen, ist widersprüchlich. Gesellschaftliches Eigenleben vermag einerseits durch Vernunft mythologische Vorstellungen zu überwinden; andererseits führt diese Verselbständigung dazu, dass sich die Menschen ihrer Welt entfremden (vgl. Stapelfeldt 2009: 24). Insbesondere da, wo der gesellschaftliche Reichtum allen Menschen zugutekommen könnte, offenbart sich die Irrationalität der Gesellschaft gegenüber den Individuen, die seine Träger sind. In Marcuses Der eindimensionale Mensch (1967) ist diese Irrationalität wie folgt gefasst: »Angesichts offenkundig widersprüchlicher Tatsachen besteht die kritische Analyse weiterhin darauf, daß das Bedürfnis nach qualitativer Änderung so dringend ist wie je zuvor. Wer verlangt nach ihr? Die Antwort ist weiterhin dieselbe: die Gesamtgesellschaft für jedes ihrer Mitglieder. Die Vereinigung von anwachsender Produktivität und anwachsender Zerstörung, das Hasardspiel mit der Vernichtung, die Auslieferung des Denkens, Hoffens und Fürchtens an die Entscheidungen der bestehenden Mächte, die Erhaltung des Elends angesichts eines beispiellosen Reichtums enthalten in sich die unparteiischste Anklage – auch wenn sie nicht die raison d’être dieser Gesellschaft sind, sondern nur ihr Nebenprodukt: ihre durchgreifende Rationalität, die Leistungsfähigkeit und Wachstum befördert, ist selbst irrational.« (Marcuse 1967: 15) Die Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft, anders gesprochen zwischen Besonderem und Allgemeinem kennzeichnet Bonacker mit Adorno als Voraussetzung, damit das Individuum sich erst bilden könne (vgl. Bonacker 1998: 142). Das Individuum »entsteht aus der von der Gesellschaft eingeräumten Möglichkeit des Unterscheidens: des Unterscheidens von der Gesellschaft, von den anderen, wie des Unterscheidens von sich selbst, das das Individuum mit den anderen verbindet und so Solidarität verwirklicht ohne in Kollektiven unterzugehen« (ebd.). Für das rassistische Subjekt gelte aber, dass diese Unterscheidungsmöglichkeiten versperrt sind. Die Unterscheidung von Gesellschaft misslingt, wenn es sich zu stark mit den Institutionen der Gesellschaft identifiziert; wenn es sich der Vereinnahmungsversuche der Gesellschaft nicht widersetzen kann; wenn es die kollektiven, nach rassifizierenden Kriterien strukturierten Formationen braucht, um Identität und Stabilität zu erlangen. »[Die] Besonderheit der kritischen Theorie Adornos [besteht] darin, daß sie auf die immanenten Bedeutungsgehalte von Individualität Bezug nimmt, wie sie von der modernen Gesellschaft selbst entwickelt wurden – allerdings nicht in dem Sinne,

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daß sie diese einfach mit der nicht verwirklichten Individualität kontrastiert. Dann würde sich Adorno wieder auf etwas Vergangenes rückbeziehen. Stattdessen geht es ihm darum zu zeigen, wie sich die moderne Gesellschaft selbst im Individuum ein Gegenüber schafft, das nur aus der Spannung zu ihr die Kraft zum Leben zieht.« (Bonacker 1998: 141) Reine immanente Kritik, wie sie zwar wichtiger Bestandteil der Kritischen Theorie ist, wäre allerdings amputierte Kritik, die sich des Potentials entledigte, über diesen Gap zwischen Anspruch und Realität hinauszuweisen. Mit der Idee einer perfektionistischen Kritik hat Christoph Henning diesem Anspruch theoretisch Geltung verschafft: nicht allein immanent zu bleiben und doch die Stärken immanenter Kritik auszuspielen. Für die Rassismuskritik hieße dies, den beispielsweise im Grundgesetz verankerten Anspruch, dass niemand wegen seiner ›Rasse‹21 diskriminiert werden dürfe, zu überschreiten. Es hieße, ›Forderungen‹ und Kritik zu formulieren, die auf die Abschaffung jener gesellschaftlichen Verhältnisse zielten, die die Rassifizierung von Menschen praktikabel und rational im objektiven Sinn erscheinen lassen – und die im subjektiven Sinn für diejenigen einen psychischen Mehrwert abwerfen, die sich narzisstisch aufwerten müssen, indem sie sich als überlegen setzen. Wer kann denn unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen überhaupt Subjekt sein oder werden? Unter Kritik steht in vielen, vor allem postkolonialen Rassismuskritiken, der aufklärerische Subjektbegriff, wegen der in ihm implizit angelegten Ausschlüsse. Weiter oben wurde bereits angesprochen, dass mit Subjekt zumeist männlich und ›weiß‹ gemeint war. Als Subjekt galten lange Zeit explizit nicht Frauen, Juden und (andere) rassifizierte Menschen – schon gar nicht die Kolonisierten. In den Kritiken an der Aufklärung kamen sie auch kaum vor. Und das gemeinte (›weiße‹) Subjekt wurde in den düsteren Analysen zur Unterminierung des Subjekts durch moderne, kapitalistische Vergesellschaftungsbedingungen gewissermaßen suspendiert. Denn Subjekte erschienen nur noch als Unterworfene, als »Rollenensemble«, als »Charaktermasken«. In diesen nachaufklärerischen Bestimmungen des Subjekts hat sich die Entsubjektivierung historisch niedergeschlagen. Subjekten kommt nun keine »geschichtlich aktive Rolle« (Greven 1994: 106) mehr zu. Von der Aufklärungseuphorie eines vernunftbegabten Subjekts als Träger von Freiheit und Autonomie scheint vor allem in den kritisch-theoretischen Bestimmungen nichts zurückzubleiben – und auch nichts von einem Subjekt der Veränderung. Dennoch hält Kritische Theorie »am Anspruch auf die Möglichkeit eines vernünftigen Subjekts« (Greven 1994: 107) fest. Doch an wen könnte Kritik sich wenden, wenn Herrschaft so totalitär ist, dass sie kaum zu durchschauen ist? Habermas hat diese scheinbare Aporie als »performativen Selbstwiderspruch« (Habermas 1988: 144) bezeichnet. Das Fehlen eines 21

Der Begriff der ›Rasse‹ findet sich gerade in jenen deutschen Gesetzen, die einen Diskriminierungsschutz oder ein Diskriminierungsverbot formulieren. »Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.« (GG, Art. 3, Abs. 3). In einigen Landesverfassungen, z.B. in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen, wurden rassifizierende Begriffe aus dem Gesetzestext entfernt.

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historischen Subjekts ist durchaus ein erkenntnistheoretisches Problem für eine Kritische Theorie, die mit dem Anspruch auf Veränderung auftritt. Das avisierte praktische Moment Kritischer Theorie, dessen materialistische Stoßrichtung, werde durch den Verlust eines benennbaren Trägers gesellschaftlicher Veränderung unterminiert (vgl. Greven 1994: 26). Die Hoffnung auf Veränderung mitsamt der Analyse der historischen Faktoren und Gesetzmäßigkeiten, die Veränderung verhindern, wurde durch die Kritische Theorie daher metaphorisch in eine Flasche verschoben und ins Meer geworfen.22 Die Reflexion auf diesen (nun nicht theoretischen, sondern gesellschaftlich bedingten) Widerspruch unterscheidet Kritische Theorie nicht nur von Sartre beispielsweise, in dessen Konzeption Subjekt und Freiheit der Geschichte grundsätzlich vorausgehen und deshalb auch in gesellschaftlichen Bedingungen der Unfreiheit erhalten bleiben – selbst unter jenen der radikalsten Entsubjektivierung, in den Vernichtungslagern (ebd.: 116). Das Festhalten am Subjekt unterscheidet Kritische Theorie auch von den poststrukturalistischen Dekonstruktionen des autonomen Subjekts. Theorien, die sich auf Foucault beziehen, sprechen häufig im Plural von Subjektivitäten. Subjekte werden ausschließlich im historischen Augenblick, im permanenten Vollzug konzipiert, ohne eben die Idee eines im Subjekt selbst verbürgten Potentials zur Vernunft grundsätzlich zu bejahen. Während das poststrukturalistische Denken genau jenen Teil aus seiner Bestimmung des Subjekts streicht und streng soziologisch nur das jeweils historisch Gemachte sieht, bleibt im Denken Kritischer Theorie das Subjekt dialektisch bestimmt: als »historisch bedingte Instanz von Erkenntnis« einerseits und als gesellschaftlich zugerichtet, d.h. eigentlich in jener ihm zugedachten Erkenntnisfähigkeit beschränkt, andererseits (vgl. Rabuza/Mettin 2014: 59). Kritische Theorie sieht folglich, dass nur das Subjekt Träger von Erkenntnis von Vernunft und deshalb auch nur das Subjekt Akteur im Ringen um eine vernünftige Gesellschaft sein kann. Zugleich muss sie konstatieren, wie verschüttet eben jenes Potential unter modernen, kapitalistischen Vergesellschaftungsbedingungen ist und wie es sich verkehrt in Reaktionen wie den Rassismus. Der Rassismus ist eine Erscheinung der instrumentellen Vernunft, deren innere Logik nach Zweck-Mittel-Relationen organsiert ist. D.h. es gibt durchaus ein Rationales im Rassismus, nämlich dann, wenn Handlungen rassistischen Logiken folgen. Ich habe den Rassismus bereits als eine Herrschaftsform bestimmt. Rationalität gehört also zur Bewahrung und Aufrechterhaltung jener Herrschaft, die durch die Verbreitung rassistischer Strukturen fundiert wird. Rassismus rechtfertigt gesellschaftliche Verhältnisse, in denen die einen von der vollständigen Partizipation ausgeschlossen sind, um den anderen ein besseres, unbeschwerteres Leben zu ermöglichen. Die neuere Rassismusforschung verwendet hierfür den Begriff des Privilegs. Solcherlei Vorrechte – Etabliertenvorrechte – beanspruchen jene Alteingessenen für sich, die eine Vorrangstellung für sich beanspruchen, mit dem Ziel, jene Rechte anderen zu verwehren (vgl. Heitmeyer 2008: 19). Rechte bezieht sich im Begriff des Privilegs

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In der Dialektik der Aufklärung schreiben Horkheimer und Adorno über die Träger der Veränderung, die von Kritischer Theorie angesprochen werden: »Wenn die Rede heute an einen sich wenden kann, so sind es weder die sogenannten Massen, noch der Einzelne, der ohnmächtig ist, sondern eher ein eingebildeter Zeuge, dem wir es hinterlassen, damit es doch nicht ganz mit uns untergeht.« (Horkheimer/Adorno 1947: 294)

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nicht nur auf juristische Rechte, sondern auch auf Vorrangstellungen im sozialen Leben in den Bereichen Bildung, Wohnen, Arbeit etc. Allerdings verliert sich im Begriff des Privilegs auch die Perspektive Kritischer Theorie auf eine befreite Gesellschaft. Denn nicht die Deprivilegierung der Bevorzugten ist das Ziel ihrer Gesellschaftskritik, sondern die Abschaffung der Benachteiligung durch ein ›Mehr‹ für alle – ohne dabei den Zusammenhang vom Wohlstand der einen und der Ausbeutung der anderen zu leugnen.

5.4 Zur gesellschaftlichen Möglichkeit und Unmöglichkeit von Erfahrung Um die Bedeutung von Erfahrung in der Kritischen Theorie und die Möglichkeiten von Erfahrung in kapitalistischen Gesellschaften soll es in diesem Abschnitt gehen. Das ist für eine Kritische Theorie des Rassismus von doppeltem Interesse: Rassistische Muster werden kenntlich als Resultat verstümmelter, verunmöglichter, zugerichteter Erfahrung; aber auch: von Rassismus Betroffene machen Erfahrungen mit Rassismus – und der epistemische Status dieser Form von Erfahrung ist ambivalent. Adorno betont an verschiedenen Stellen seines Werkes den Begriff der Erfahrung. Er hält die »unreglementierte Erfahrung« (Adorno 1968a: 91) besonders der empiristischen Soziologie entgegen. Die bezieht sich ja auch auf Erfahrung; Adorno meint sie aber im ›Methodenfetisch‹ der positivistischen Soziologie zugerichtet, systematisch verarmt. Seine dialektische Gesellschaftstheorie versteht sich dagegen als Beitrag, die Erfahrung nicht nur im Sozialen, sondern auch im Wissenschaftssystem wiederherzustellen. Für dieses Vorhaben spielt der Begriff der unreglementierten Erfahrung eine wichtige Rolle – eine Erfahrung, »die selber in der engsten Tuchfühlung mit den Fakten bleibt und nicht willkürlich und äußerlich sich darüber erhebt« (ebd.).23 Welche – besser gesagt – wessen Erfahrung ist hier allerdings gemeint? Nachfolgend wird sowohl die partikulare Erfahrung des Rassifizierten wie auch die gesamtgesellschaftliche der potentiell rassistischen Täter:innen in den Blick genommen. Mit der Idee einer unreglementierten Erfahrung gibt Adorno auch der nichtrationalen und vorrationalen Seite von Erkenntnis Raum (vgl. Kirchhoff 2004: 84). Indem er seinen Begriff von Erkenntnis ausweitet auf das »Leiden und […] [die] Wünsche der empirischen Subjekte« (ebd.: 100), eröffnet Adorno die Möglichkeit, die Perspektive der von Rassismus (negativ) Betroffenen als partikulare Erfahrung in die Gesellschaftskritik zu integrieren. Der Vorwurf v.a. neuerer kritischer und unkritischer Soziologien, die frühe Kritische Theorie beanspruche durch die Inhalte ihrer Gesellschaftskritik eine »epistemisch privilegierte Position«24 (Celikates 2009: 37), 23

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Interessanterweise verweist Adorno an dieser Stelle auch auf die Phänomenologie Schütz‘ und Luckmanns, die ein ähnliches Interesse an der lebendigen Erfahrung haben. Die Kritik an der verstellten Erfahrung sei »keineswegs ein Frankfurter Privileg, sondern an ganz anderen Ecken des soziologischen Denkens ist man auf dieselben Fragen ebenfalls gestoßen« (Adorno 1968a: 92). Beide, Phänomenologie und Kritische Theorie, seien in dem Ziel verbunden, dass die »lebendige Erfahrung zur Geltung kommen muß gegenüber der selber schon verdinglichten und verhärteten« (ebd.). Adorno war sich in seinen Reflexionen über das Subjekt-Objekt der Wissenschaft sehr wohl der Unmöglichkeit eines externen Beobachtungsstandpunktes bewusst: Soziologie ist die Wissenschaft, die zugleich »sich selbst als Subjekt zum Objekt« hat und in der die Wissenschaft nichts

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nicht nur auf juristische Rechte, sondern auch auf Vorrangstellungen im sozialen Leben in den Bereichen Bildung, Wohnen, Arbeit etc. Allerdings verliert sich im Begriff des Privilegs auch die Perspektive Kritischer Theorie auf eine befreite Gesellschaft. Denn nicht die Deprivilegierung der Bevorzugten ist das Ziel ihrer Gesellschaftskritik, sondern die Abschaffung der Benachteiligung durch ein ›Mehr‹ für alle – ohne dabei den Zusammenhang vom Wohlstand der einen und der Ausbeutung der anderen zu leugnen.

5.4 Zur gesellschaftlichen Möglichkeit und Unmöglichkeit von Erfahrung Um die Bedeutung von Erfahrung in der Kritischen Theorie und die Möglichkeiten von Erfahrung in kapitalistischen Gesellschaften soll es in diesem Abschnitt gehen. Das ist für eine Kritische Theorie des Rassismus von doppeltem Interesse: Rassistische Muster werden kenntlich als Resultat verstümmelter, verunmöglichter, zugerichteter Erfahrung; aber auch: von Rassismus Betroffene machen Erfahrungen mit Rassismus – und der epistemische Status dieser Form von Erfahrung ist ambivalent. Adorno betont an verschiedenen Stellen seines Werkes den Begriff der Erfahrung. Er hält die »unreglementierte Erfahrung« (Adorno 1968a: 91) besonders der empiristischen Soziologie entgegen. Die bezieht sich ja auch auf Erfahrung; Adorno meint sie aber im ›Methodenfetisch‹ der positivistischen Soziologie zugerichtet, systematisch verarmt. Seine dialektische Gesellschaftstheorie versteht sich dagegen als Beitrag, die Erfahrung nicht nur im Sozialen, sondern auch im Wissenschaftssystem wiederherzustellen. Für dieses Vorhaben spielt der Begriff der unreglementierten Erfahrung eine wichtige Rolle – eine Erfahrung, »die selber in der engsten Tuchfühlung mit den Fakten bleibt und nicht willkürlich und äußerlich sich darüber erhebt« (ebd.).23 Welche – besser gesagt – wessen Erfahrung ist hier allerdings gemeint? Nachfolgend wird sowohl die partikulare Erfahrung des Rassifizierten wie auch die gesamtgesellschaftliche der potentiell rassistischen Täter:innen in den Blick genommen. Mit der Idee einer unreglementierten Erfahrung gibt Adorno auch der nichtrationalen und vorrationalen Seite von Erkenntnis Raum (vgl. Kirchhoff 2004: 84). Indem er seinen Begriff von Erkenntnis ausweitet auf das »Leiden und […] [die] Wünsche der empirischen Subjekte« (ebd.: 100), eröffnet Adorno die Möglichkeit, die Perspektive der von Rassismus (negativ) Betroffenen als partikulare Erfahrung in die Gesellschaftskritik zu integrieren. Der Vorwurf v.a. neuerer kritischer und unkritischer Soziologien, die frühe Kritische Theorie beanspruche durch die Inhalte ihrer Gesellschaftskritik eine »epistemisch privilegierte Position«24 (Celikates 2009: 37), 23

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Interessanterweise verweist Adorno an dieser Stelle auch auf die Phänomenologie Schütz‘ und Luckmanns, die ein ähnliches Interesse an der lebendigen Erfahrung haben. Die Kritik an der verstellten Erfahrung sei »keineswegs ein Frankfurter Privileg, sondern an ganz anderen Ecken des soziologischen Denkens ist man auf dieselben Fragen ebenfalls gestoßen« (Adorno 1968a: 92). Beide, Phänomenologie und Kritische Theorie, seien in dem Ziel verbunden, dass die »lebendige Erfahrung zur Geltung kommen muß gegenüber der selber schon verdinglichten und verhärteten« (ebd.). Adorno war sich in seinen Reflexionen über das Subjekt-Objekt der Wissenschaft sehr wohl der Unmöglichkeit eines externen Beobachtungsstandpunktes bewusst: Soziologie ist die Wissenschaft, die zugleich »sich selbst als Subjekt zum Objekt« hat und in der die Wissenschaft nichts

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weil sie Individuen ausschließlich als mit falschem Bewusstsein ausgestattet beschreibe, kann mit der Pointierung dieses Erfahrungsbegriffes zurückgewiesen werden.

5.4.1 Gesellschaft unter Zwang – Die Erfahrung aller In diesem Abschnitt wird Adornos Kritik am universalen Leiden in der Gesellschaft dargestellt und damit der Fokus auf die gesellschaftlichen Grundlagen von rassistischen Dispositionen gelegt. Diese normativ-ethische Kritik fokussiert den allgemeinen »Gesamtcharakter und die Entwicklungsrichtung« der kapitalistischen Gesellschaft (vgl. Rosa 2009: 206). Sie thematisiert damit Betroffenheit von Entfremdung, Verdinglichung, Ohnmachtsgefühlen aller Individuen, die in der gleichen Gesellschaftsformation aufwachsen. Das Leiden bestimmt Adorno als ein historisch Spezifisches, das seine Quelle hat in der kapitalistischen Gesellschaft; es ist andererseits aber auch anthropologisch ein Vorgesellschaftliches, sofern es den Entsagungen erwächst, die mit Freud als Lebensnot zu bezeichnen wären. Adorno hat in seiner Freud-Lektüre die Tendenz, Letzteres weit in Ersterem aufzulösen. Von Hegel, so Christine Kirchhoff, habe Adorno die Vorstellung übernommen, Erfahrung als Reflexionsprozess zu betrachten, in dem sich das Bewusstsein und sein Gegenstand ändern. So erkenne das Bewusstsein, dass es Gegenstände hervorbringt. Einerseits betrachtet Kritische Theorie die Gesellschaft als von Individuen gemachte, die verändert werden können; andererseits gilt Gesellschaft als verselbständigt (vgl. Kirchhoff 2004: 84f.). Adorno stellt aber auch heraus, dass die Gesellschaft nicht eins mit den Subjekten sei, die sie hervorbringen, sondern dass das »spezifisch Gesellschaftliche« (Adorno 1965: 9) gerade darin bestehe, dass es ein »Übergewicht von Verhältnissen über die Menschen« (ebd.) gebe. Gesellschaft ist eine soziologische Kategorie und das unter ihr Befasste ist nicht »in sich rational kontinuierlich«. Gesellschaft bilde einen funktionalen Zusammenhang dessen kleinste Einheit der Einzelne sei (vgl. ebd.: 10).25 An einzelnen Phänomenen wie dem Rassismus beispielsweise, lässt sich die »Gesellschaft wahrnehmen« (vgl. Adorno 1968a: 87), indem gezeigt wird, dass das Konkrete auf die Struktur der Gesellschaft selbst zurückweist (ebd.: 87f.). Das betrifft vor allem Fragen der »Macht und der Verfügung über die Mittel der Produktion und über den gesellschaftlichen Reichtum, die hinter solchen Phänomenen stehen« (ebd.: 88) –

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anderes erkennen kann als die Gesamtgesellschaft (vgl. Adorno 1968a: 229). Doch einschränkend ergänzt er: »die Anstrengung einer dialektischen Konzeption von der Gesellschaft, die [besteht] darin […], eben nicht die Gesellschaft als Subjekt mit der Gesellschaft als Objekt gleichzusetzten. Aus dem doppelten Grund: weil Gesellschaft als Objekt, also der gesellschaftliche Prozeß, noch gar nicht Subjekt, noch gar nicht frei, noch gar nicht autonom ist; während auf der andern Seite die Gesellschaft als Subjekt, das Potential der Gesellschaft als Subjekt, also eben die Vorstellung einer sich selbst bestimmenden, mündigen, auch inhaltlich befreiten Gesellschaft, sich genau gegen jene Art des objektivierenden, des verdinglichenden Denkens sträubt, mit ihr unvereinbar ist, die ihr durch die etablierten soziologischen Methoden angetan wird.« (ebd.: 230f.) Die Schwierigkeit, diesen abstrakten Begriff zu verifizieren, ändere nichts daran, dass die Gesellschaft in jeder sozialen Situation erscheine (vgl. Adorno 1965: 10), weshalb der Begriff als Analyserahmen zu verteidigen ist.

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gesellschaftliche Aspekte, die in den unter Kapitel 4 vorstellten objektivistischen Rassismuskritiken zu den Ursachen von Rassismus gezählt werden. Gesellschaft sei von innen in ihrer Struktur und ihren Wirkmechanismen zu erkennen – zugleich sei sie aber auch nicht zu erkennen (vgl. Adorno 1965: 13). Denn auf gesellschaftliche Wirklichkeit kann nicht einfach durch das Erkenntnissubjekt zugegriffen werden, weil dieses doch Teil von ihr ist. Aus der Annahme, dass Erkenntnis immer abhängig vom erkennenden Subjekt ist, entwickelt Adorno den Begriff der geistigen Erfahrung (vgl. Kirchhoff 2004: 88, 90). Adorno betont die Relevanz von Erfahrung in seiner Soziologie und äußert den Verdacht, dass das ›Nicht-Faktische‹ eine höhere Wirklichkeit für die Menschen habe, deren Leben stärker bestimme, als das Konkrete. Der gefesselte Erfahrungsbegriff der empiristischen Soziologie, sei nun aber das genaue Gegenteil von dem Erfahrungsbegriff, den die Kritische Theorie stärken will. Normative Kraft gewinnt Adornos Erfahrungsbegriff dadurch, dass er konstatieren muss, dass es zu »genuiner Erfahrung, nämlich zur Erfahrung eines Neuen« (Adorno 1968a: 90) gar nicht mehr komme. Die epistemische Parteinahme für Erfahrung wird also zur normativen gegen ihre Verunmöglichung. Eine Gesellschaftstheorie hätte die Möglichkeiten zu authentischer Erfahrung aufzuzeigen, die einerseits durch das soziale System, aber auch durch die Regeln der Wissenschaft behindert werden. Nicht ganz unbescheiden nennt Adorno dieses Vorhaben eine »Rebellion der Erfahrung gegen den Empirismus«26 (ebd.: 90f.). Dieser Erfahrungsbegriff sei aber nicht zu verwechseln mit wilder Spekulation: »Gesellschaft als Erfahrung, das wäre […] das, worauf man stößt und was man gleichzeitig erkennt als die Bedingung der kritisierten und unzulänglichen […] Momente, was aber dann doch verhindert wird, daß diese Momente wirklich und wirksam abgeändert werden.« (Adorno 1968a: 91) Der Begriff der »unreglementierten Erfahrung« (Adorno 1966: 129) stellt sich keineswegs gegen empirische Methoden; er wendet sich auch nicht gegen Fakten als solche – behandelt sie aber gleichwohl als »Ausdruck jener abstrakten Ordnung« (Adorno 1968a: 87), der sie entstammen. Unreglementierte Gedanken wären jene, die, weil sie den eigenen Idiosynkrasien, Intuitionen selbstkritisch und reflexiv nachgehen, an das erinnern, »was außerhalb des Systems« (Adorno 1966: 42) ist: also jene Gedanken, die nicht affiziert sind, von der Logik des Bestehenden, des Notwendigen. Erstrebenswert sei dem Denken eine spekulative ratio, die bereit ist, über das Gewusste, das Gesicherte der Erkenntnis hinauszutreten und die deshalb zwingend ein Moment von Irrationalität enthalte, weil sie auch die bestehende begriffliche Ordnung überschreite (vgl. Adorno 1965/66: 122). In der Bereitschaft zur Erfahrung läge nach Adorno etwas »Ungebändigte[s]« (ebd.: 134) – und gerade dieses Ungebändigte wendet sich gegen Konventionen der ›guten wissenschaftlichen Praxis‹, die bestrebt ist, ihren Gegenstand so gut es geht zu kontrollieren, zu fixieren und ihn soweit wie möglich vom Subjektiven zu befreien (vgl. ebd.: 126, 134). Erfahrung ebnet den Weg für das Neue, das nicht einfach nur zum Fall einer bereits existierenden Kategorie wird. Und so fordert Adorno ein »mehr an Subjekt« (Adorno 1969: 50) in der Wissenschaft. Er steht damit in Opposition zum klassischen 26

Dieses Vorhaben vertritt Adorno nicht nur als Soziologe. In der Negativen Dialektik schreibt er, dass der Begriff der geistigen Erfahrung ein Synonym für Philosophie selbst werden könne (vgl. Adorno 1966: 302).

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Wissenschaftsideal einer starken Objektivität (vgl. Popper 1934: 18f.) und auch zu jenen Wissenschaftskritiken, die eine Reflexion auf den subjektiven Bias – durch soziale, politische, kulturelle Einflüsse (vgl. z.B. feministische Wissenschaftskritik) – und den impliziten Opportunismus beispielsweise in der Auswahl von Forschungsmethoden anmahnen (vgl. dazu bspw. Knorr-Cetina 1984). Gleichwohl dient diese Rettung unreglementierter Erfahrung bei Adorno der Objektivität: Die unreglementierte Erfahrung lasse mehr und anderes vom Erkenntnisobjekt im Akt des Erkennens zur Geltung kommen – sie ist in gewissem Sinne objektiver. Die strengen reliablen Methoden wiederum stehen bei Adorno unter Verdacht des Subjektivismus. Denn ihre Strenge entscheidet auf Seiten des Erkenntnissubjekts (und seiner Methoden) in geradezu subjektiver Willkür bereits über das, was am Objekt wesentlich sein soll. Auf die Verstrickung des Subjekts und der Forschungsmethoden mit Gesellschaft hat die Kritische Theorie in ihrer Wissenschaftskritik sehr früh hingewiesen. Der Dialektik der Aufklärung verfalle, zur Herrschaft werde Aufklärung, wenn sie geistige Erfahrung auf diese Weise zensiere (vgl. Adorno 1965/66: 126). Kehren wir zurück in den Bereich der Alltagserfahrung; zu jener gehört unzweifelhaft die Erfahrung, an der Gesellschaft zu leiden. Christine Kirchhoff weist mit Adorno darauf hin, dass Menschen die Gesellschaft zu spüren, zu fühlen bekommen: Gesellschaft tut weh (vgl. Kirchhoff 2004: 86f.; Adorno 1965/66: 65). Vor dem Verstehen kommt das Spüren – die Menschen erfahren, erleben die Irrationalität der Gesellschaft von der die Kritische Theorie spricht, unentwegt (vgl. Kirchhoff 2004: 88). Irrational ist die kapitalistische Gesellschaft als verdinglichte; irrational sind die Verhältnisse, weil sie veränderlich sind und dennoch als naturhaft, als schicksalhaft erscheinen. Die Antwort auf systemimmanente Krisen, wie sie der Kapitalismus regelmäßig hervorbringt, sind nicht Revolutionen, sondern Anpassung der Menschen an die Verhältnisse27 und Adaption des Systems an die neuen krisengenerierten Erfordernisse (vgl. Stapelfeld 2009: 22) oder mit Adornos Worten: dass Menschen »von sich aus die Formen der Repression noch einmal bestätigen« (Adorno 1964a: 113). Naturhaft erscheinen die kapitalistischen Verhältnisse auch in ihren subtilen und gewalttätigen Zwängen – in den historisch wandelbaren Synthesen aus Selbst- und Fremdzwang innerhalb der Subjektkonstitution. Irrational sind die Verhältnisse zudem, weil die Menschen objektiv gezwungen sind, gegen ihre Interessen zu handeln. Marcuse spricht im Eindimensionalen Menschen (1967) davon, dass Menschen zu Konsumenten abgerichtet werden und dass sie beteiligt seien an der eigenen Unterdrückung. Auch er geht davon aus, dass der Kapitalismus von irrationalen Momenten durchzogen sei – eine Gesellschaftsformation, in welcher technische Rationalität, das Streben nach ungebremstem Wachstum, Leistungsfähigkeit, ein noch nie da gewesener Stand der Produktivkräfte und (gesellschaftlicher) Reichtum auf Hunger, Elend, soziale Ungleichheit und Angst trifft. In Marcuses Kritischer Theorie wird die technologische Ratio als Medium einer umfassend integrierten politischen Herrschaftsratio (Technokratie) gedeutet (vgl. Marcuse 1967: 11–17). Wie verfährt das Subjekt mit gesellschaftlicher Objektivität? Es kann sich den Verhältnissen ergeben – indem es diese als Natur oder Schicksal akzeptiert. Das Subjekt 27

Diese historische Anpassungsfähigkeit des Kapitalismus untersuchen beispielsweise Boltanski/ Chiapello (2003) und Dörre (2009) in ihren Arbeiten.

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kann die irrationalen gesellschaftlichen Verhältnisse aber auch mittels antisemitischer und rassistischer Reaktionsweisen verarbeiten. Diese Reaktionsweisen bleiben gewissermaßen in Latenz und werden eruptiv freigelassen, wenn soziale Krisen die Gesellschaft erfassen, weil das brüchige Arrangement mit der fragilen Gesellschaft zu zerbrechen droht. Nicht so sehr objektive sozioökonomische Faktoren bilden das Fundament, auf dem die Hinwendung zu menschenfeindlichen Ideologien stattfindet, sondern, wie Susanne Pickel herausstellt, eine Kombination aus der Wahrnehmung ökonomischer und kultureller Bedrohungen, vorhandener ethnozentrischer Überzeugungen, politischer Entfremdung und nativistischen Anschauungen (vgl. Pickel 2019: 150). Auch klassische Studien zum Autoritarismus, wie die von Detlef Oesterreich, arbeiten heraus, dass ein Mensch sich nicht an Autoritäten orientiert, »wenn Herrschaftsverhältnisse Anpassung erzwingen, sondern dann, wenn Menschen aus Angst und Verunsicherung heraus Sicherheit und Schutz suchen und sich aus diesen Gründen denen unterwerfen, die die Macht haben« (Oesterreich 1993: 182f.). Bernd Sommer hat 2010 eine Studie vorgelegt, die auf Grundlage der Ergebnisse verschiedener europäischer Forschungsprojekte sowie einer eigenen Auswertung (dessen Datengrundlage der ALLBUS ist), den Zusammenhang zwischen Ressentiments (wie Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus) und Prekarisierung nachzuweisen sucht. »Die Ergebnisse [des GMF-Projektes, U. M.] legen nahe, dass sowohl die Angst vor Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg als auch pessimistische Zukunftsaussichten nicht nur bei prekär Beschäftigten bzw. Personen in einer prekären Lage zu finden sind, sondern auch bei Inhabern sog. Normalarbeitsverhältnisse und bei Angehörigen der mittleren sozialen Lagen. Diese Personengruppen mögen zwar nicht akut durch Arbeitslosigkeit oder Statusverlust bedroht sein, sie fühlen sich jedoch bedroht. Insofern ist Prekarität kein bloßes Phänomen der faktisch Marginalisierten oder ›Abgehängten‹: Das Gefühl sozialer Unsicherheit hat sich in den vergangenen Jahren verallgemeinert.« (Sommer 2010: 78f.) So zeigt sich in dem Material, das Sommer betrachtet, eine Erosion sozialer Bindungen (vgl. Sommer 2010: 114), die zwar allein durch das Material nicht kausal auf die veränderten Arbeitsbedingungen zurückgeführt werden könne (Flexibilisierung, Befristung, Absenkung des staatlichen Schutzniveaus bei Arbeitslosigkeit), aber doch mit diesen alliiere und zu einer Verschärfung von Unsicherheits- und Ohnmachtsgefühlen beitrage.28 Die Annahme, dass sich »Gesellschafts- und Individualstrukturen stets in gegenseitiger Interdependenz entwickeln« (ebd.: 114), wird auch von der Kritischen Theorie geteilt. Qualitative Untersuchungen wie das SIREN-Projekt zeigen, dass rassistische, nationalistische und antisemitische Äußerungen vor allem von Personen geäußert wurden, die »verletzte Gerechtigkeitsgefühle und die Angst vor sozialem Abstieg als Erfahrungsmodi der sozialen Realität« (ebd.: 207) artikulieren. Auch aus der GMF-Studie ist abzuleiten, 28

Im Wirtschafts- und Arbeitsleben sind nach Sommer die Individuen mit verschiedenen Problemlagen konfrontiert: Abwertung, Orientierungslosigkeit und Angst, Schwächung der Solidaritäts- und Zugehörigkeitsgefühle und einer verhinderten Lebensplanung (individuell-biographische Kontrollverluste) – Probleme, die es zunehmend schwerer machen, eine individuell stabile Identität als Individuum zu entwickeln (vgl. Sommer 2010: 114f.).

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dass soziale Verunsicherung in Form von Angst vor sozialem Statusverlust (vor allem in den mittleren Soziallagen) sich stärker auf das »Niveau der Fremdenfeindlichkeit« auswirkt als »Arbeitslosigkeit oder die konkrete Furcht vor Arbeitsplatzverlust« (ebd.: 184). Die Krisen der letzten Jahre – die Finanzkrise 2008, die ›Flüchtlingskrise‹ 2015, die seit einigen Jahren stärker ins ›allgemeine‹ Bewusstsein getretene Klimakrise, die CoronaKrise 2020–2023 und der Angriff Russlands auf die gesamte Ukraine 2022 – evozieren unterschiedliche Formate der Verarbeitung. Kapitalistische Verhältnisse ermuntern bereits ohne offensichtliche Krise eher zum Wahn als zur Kritik, so Kirchhoff (2004: 88). Dass die Kritische Theorie hier keineswegs resignativ oder zu deterministisch argumentiert, lässt sich an der Frage erkennen, wie individuelle Erfahrung Eingang in die Gesellschaftskritik, in die Kritik des Rassismus findet. Individuelle Erfahrungen, sind wie Kirchhoff ausführt, keineswegs nur individuell, denn das Individuum ist nicht vorgesellschaftlich und außerhalb der Gesellschaft (vgl. Kirchhoff 2004: 95). So werden soziale Erfahrungen und Erlebnisse einzelner Menschen in kollektive rassistische Deutungen auf der politischen und medialen Ebene, aber auch in Alltagskonversationen transformiert. Gerade weil die Gesellschaft in den Individuen sei, komme Soziologie um das Subjekt nicht herum. Die Vergesellschaftung durch den Kapitalismus gilt der Kritischen Theorie bis heute als so allumfassend, dass sich im Einzelnen Entscheidendes der Vergesellschaftung abspielt, ja abspielen muss. Die Kritische Theorie der Frankfurter hat dafür – wie gesehen – ein ganzes Spektrum an Begriffen aufgefahren: Kulturindustrie, Totalität, verwaltete Welt, Verblendung usw. Verschiedene Theoreme und Gesellschaftsdiagnosen auch jenseits der frühen Kritische Theorie versuchen, diese Art ›freiwilliger‹ oder unbemerkter Unterwerfung analytisch zu fassen: Bourdieu mit seinen Überlegungen zu einem »ökonomischen Habitus« (2000: 8); Foucaults Rede von einer »›Mikrophysik‹ der Macht« (1975: 178) oder sein Konzept der »Gouvernamentalität« und der »Techniken des Selbst« (1983: 171f.); Althussers Begriff der Anrufung (1977); Sennetts »flexibler Mensch« (1998); Boltanski und Chiapello mit ihrem Werk Der neue Geist des Kapitalismus (2003); Bröcklings Ausarbeitungen zu einem unternehmerischen Selbst (2007) oder das »aktive Selbst« bei Lessenich (2009: 168), um nur einige zu nennen. In all diesen Konzepten zeigt sich trotz verschiedener theoretischer Bezüge ein Gemeinsames: dass moderne, kapitalistische Verhältnisse im Zugriff auf das Subjekt dessen Bereitschaft erzeugen müssen, sich in diesen Verhältnissen freiwillig einzurichten und äußeren Zwang29 zu entskandalisieren, herunterzuspielen und schließlich zu rechtfertigen, indem dieser als alternativlos dargestellt wird. Oder anders gesprochen: Es geht um das jeweils historisch benötigte Verhältnis von Fremdund Selbstzurichtung der Subjekte im Kapitalismus, um die Diagnose eines (unnötigen) Überschusses an Kontrolle und Selbstzurichtung in modernen, kapitalistischen Gesellschaften und um die Ubiquität einer solchen Erfahrung. Gewiss sind Fremd- und Selbstzurichtung Teil eines jeden Sozialisationsprozesses bzw. Teil des Prozesses der Zivilisation (vgl. Elias 1939). Die Irrationalität des Spätkapitalismus jedoch – d.h. sein Zwang, selbstproduzierte Freiheitspotentiale immer 29

Mit äußerem Zwang ist hier nicht primär die Ausübung von körperlicher Gewalt gemeint, sondern der Zwang zum Verkauf seiner Arbeitskraft bei Androhung von Sanktionen durch den Sozialstaat oder im Angesicht des bevorstehenden Todes durch Verhungern, Erfrieren usw.

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aufwändiger zu zähmen – schlägt diese Zurichtung auch mit einem giftig Irrationalen. Vergesellschaftung trifft nicht den Menschen als Naturwesen, sondern einen, der durch den Prozess der Zivilisation gegangen ist. Dass dabei Triebverzicht und kulturelle Kompensationen nicht im Gleichgewicht sind, ist These von Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft (1955). Insbesondere moderne, kapitalistische Gesellschaften, so Marcuse, verlangen den Menschen ein immer höheres Maß an unnötigem Triebverzicht ab. Kirchhoff hat den psychoanalytischen Begriff der Lebensnot in zahlreichen Arbeiten für eine Kritische Theorie der Gesellschaft fruchtbar gemacht. Durch die Unentrinnbarkeit wirke die Lebensnot als Motor der Kulturentwicklung. Kulturaneignung sei dem Opfer zu verdanken, das Menschen durch Triebverzicht erbringen. Diese Kulturaneignung muss von jedem Einzelnen vollzogen werden. Anthropologische Anteile finde die Lebensnot ausschließlich in Hunger und anderen körperlichen Bedürfnissen; gesellschaftlich bedingt seien hingegen all jene Anpassungs-, Versagungs- und Verzichtsleistungen an eine spezifische gesellschaftliche Realität. Diese jeweiligen gesellschaftlichen Anstrengungen sind veränderbar und in utopischer Perspektive sogar verzichtbar. Lebensnot bezeichnet Kirchhoff mit Adorno als »gesellschaftlichen Druck« (Kirchhoff 2014: 51; Horkheimer/Adorno 1957: X), der die Menschen dazu zwinge, ihre Arbeitskraft in entfremdeter Arbeit zu Markte zu tragen und triebhafte Bedürfnisse aufzuschieben und gar darauf zu verzichten. In der Idee einer Lebensnot sieht Kritische Theorie auch einen Ausdruck der Nichtidentität der Menschen mit der Natur – ein Leiden, das gesellschaftlich produziert ist (vgl. Bartonek 2011: 14). Kirchhoff wiederholt die Auffassung Marcuses aus den 1960er Jahren, dass hinsichtlich des Standes der Produktivkräfte diese gesellschaftliche Lebensnot unter der Bedingung des Mangels für viele, überholt sei (vgl. Kirchhoff 2014: 52–61).

5.4.2 Gesellschaft mit Zwang – Die Erfahrung der Rassismusbetroffenen Somatische Erfahrungen, unter ihnen Leiden, sind Teil der falschen Gesellschaft. Kann mit Adorno Rassismus als partikulare Leidenserfahrung gefasst werden? Im folgenden Kapitel soll in die Betroffenenperspektive als leiblich verbürgte Erkenntnis rassistischer Erfahrungen eingeführt werden. In Anlehnung an Rosas Unterscheidung normativer Kritikformen in normativ-ethisch (vgl. 5.4.1) und normativ-moralisch, ist diese Form der Kritik als normativ-moralisch zu bezeichnen. Denn sie zielt auf die Offenlegung von ungleich sowie ungerecht verteilten »Risiken, Positionen, Privilegien und Güter[n] sowie Status und Anerkennung und damit letztlich Lebenschancen« (Rosa 2009: 205). Rassismus ist die Negativität des Gesamtzusammenhangs im Detail. Rassismus erzeugt unterschiedliche Erfahrungen für Menschen mit ›weißer‹ oder ›schwarzer‹ Hautfarbe. Subjektive Erfahrungen von Rassismusbetroffenen sind, wie Mecheril darlegt, nicht nur Gewalt, Bedrohung, Geringschätzung und Angst, sondern auch solche der Ohnmacht und Fremdbestimmtheit. Aber auch die Folgen der stereotypisierenden Wahrnehmung, die Konfrontation mit Fremdzuschreibungen, Unerwünschtheit, Minderwertigkeit, fehlender Anerkennung sowie das Verwehren von Erfahrungen, die andere machen können, gehören zur spezifischen Erfahrung von Menschen, die negativ von Rassismus betroffen sind (vgl. Mecheril 1995: 100, 104f.).

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Kritische Theorie würde hier zunächst nicht an Diskursen, Narrativen, Bildern ansetzen, sondern an der geradezu körperlichen Seite solcher Erfahrungen. Wie die Dimension des Leibs in Abgrenzung zum Körper zu denken ist, skizzieren Horkheimer und Adorno in den »Aufzeichnungen und Entwürfen« am Ende der Dialektik der Aufklärung: »Der Körper wird als Unterlegenes, Versklavtes noch einmal verhöhnt und gestoßen und zugleich ist das Verbotene, Verdinglichte, Entfremdete begehrt. Erst Kultur kennt den Körper als Ding, das man besitzen kann, erst in ihr hat er sich vom Geist, dem Inbegriff der Macht und des Kommandos, als der Gegenstand, das tote Ding, ›corpus‹ unterschieden. In der Selbsterniedrigung des Menschen zum corpus rächt sich die Natur dafür, daß der Mensch sie zum Gegenstand der Herrschaft, zum Rohmaterial erniedrigt hat. Der Zwang zu Grausamkeit und Destruktion entspringt aus organischer Verdrängung der Nähe zum Körper […].« (Horkheimer/Adorno 1947: 266) Für Adorno steht subjektive Leidenserfahrung somatischer, leiblicher Art zwingend am Anfang der Erkenntnis. Wie kann demnach eine Kritische Theorie des Rassismus diesem Moment der Leidenserfahrung theoretisch Raum geben? »Das Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, ist Bedingung aller Wahrheit. Denn Leiden ist Objektivität, die auf dem Subjekt lastet; was es als sein Subjektivstes erfährt, sein Ausdruck, ist objektiv vermittelt.« (Adorno 1966: 29) Was Adorno mit dem Fokus auf die Bedeutung des Leids für die Erkenntnis betont, ist die Notwendigkeit des Blicks dafür, dass objektive Verhältnisse in die Subjekte hineinwirken, dass sie sich als Leiden bemerkbar machen. Dieses Leiden, das sich in den Subjekten ausbreitet, ist jedoch kein individuelles Problem einzelner Menschen, sondern der notwendige Abdruck der falschen Gesellschaft. Die These, dass Leid wichtig für Erkenntnis sei, greift die marxistische Idee von den prägenden Kräften des Gesellschaftlichen auf: Doch bei Marx waren die eher kognitiven Sphären der Ideologie und die eher somatischen des Elends der Arbeitenden nicht vermittelt. Adorno erweitert die marxistische Deutung über das passive Moment der körperlichen Zurichtung und das Kognitive der Ideologie – und richtet den Blick auf die Einschreibung der Gesellschaft in die Körper der Menschen. Was die Soziologie vor allem aus den Überlegungen von Bourdieu zur hexis als wahrhaftige Einverleibung (Mimik, Gestik, Körperhaltung) der Gesellschaft (Bourdieu 1972: 190) wahrgenommen hat, oder jüngst aus Eribons autobiografischen Erzählungen über die Abdrücke der Klassenstruktur in den Körpern von Arbeiter:innen (vgl. Eribon 2016), das formuliert bereits die frühe Kritische Theorie. Auch wenn die Kritische Theorie die Beschädigung des bürgerlichen Subjekts schlechthin immer wieder herausstellt, so weiß sie auch, dass Leiden nicht gleichmäßig in der Gesellschaft verteilt ist. Es gibt Menschen, deren gesellschaftliche Stellung sich nicht (nur) im Leiden ausdrückt, sondern in der Macht, Leid zuzufügen. Gelitten wird dort, wo die destruktiven und widersprüchlichen Momente kapitalistischer Gesellschaften sich verdichten. Einer dieser Verdichtungspunkte ist der Rassismus als Herrschaftsform. In meinen einführenden Darstellungen zur Rassismuskritik in der Soziologie habe ich bereits gezeigt, dass die (Sozial-)Phänomenologie sich der Kritischen Theorie als theoretischer ›Sparringspartner‹ anbietet, weil auch die Phänomenologie sich für die Bedeutung subjektiver Erfahrung, für die »wissenschaftlichen Konstruktionen über sozia-

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le Wirklichkeiten« (Raab u.a. 2008: 14) interessiert. In einer der wenigen Arbeiten30 , die in sozialphänomenologischer Perspektive zum Rassismus vorliegen, bestimmt Michael Staudigl diesen »als ein Phänomen ›negativer Sozialität‹« (vgl. Staudigl 2015: 207f.). Konkrete er- und gelebte negative Erfahrungen, zu denen auch die rassistischen Erfahrungen gehören, werden hier phänomenologisch als unhintergehbar betrachtet (ebd.: 208). Staudigl geht es nun darum zu zeigen, wie Rassifizierungen »als gelebte[.] Erfahrung« im Alltag real wirksam werden. Weder hält er allein den Fokus auf ein »selbstreflexivhandlungsmächtige[s] Subjekt[.]«, noch auf objektive Strukturen, die Handeln bestimmen, für zielführend. Er fordert den Blick auf die vorreflexiven Aspekte von Erfahrung, »die den Habitus unserer Interaktionen in leibhaftiger Weise bestimmen« (ebd.: 213); also rassifizieren. So ermögliche die sozialphänomenologische Perspektive es, verschiedene Erfahrungen für die Identitätsbildung als bedeutsam zu betrachten (vgl. ebd.). Gemeinsam mit solchen phänomenologischen Theorien hat Kritische Theorie die Aufwertung der Erstpersonen-Perspektive: Was Menschen widerfährt, was sie subjektiv erfahren, das ist für die Wissenschaft nicht bloß unfertige, unverlässliche Vorstufe der Objektivierung. Adorno setzt sich aber auch seit seiner Husserl-Dissertation im Jahr 1924 immer deutlicher von der Phänomenologie ab. Er kritisiert die Degradierung des Objekts (Adorno 1966: 193), auf die der phänomenologische Fetisch der Empfindung hinauslaufe, wo er diese als Bewusstseinstatsache denke. Dagegen betont er: »Die Empfindung, crux aller Erkenntnistheorie, wird erst von dieser, im Widerspruch zu ihrer eigenen vollen Beschaffenheit, welche doch die Rechtsquelle der Erkenntnis sein soll, in eine Tatsache des Bewußtseins uminterpretiert. Keine Empfindung ohne somatisches Moment. Insofern ist ihr Begriff, gegenüber dem, was er angeblich subsumiert, dem Verlangen eines autarkischen Zusammenhangs aller Stufen der Erkenntnis zuliebe verbogen.« (Adorno 1966: 193) Die Rettung der Erstpersonenperspektive mit der Phänomenologie ergänzt Adorno also um die Rettung des somatischen, leiblichen, unbewussten oder vorrationalen Gehalts der Erfahrung – hierin gegen die Phänomenologie. Adorno zeigt dann in der Negativen Dialektik ausführlich, wie Leiden zur Quelle der Erkenntnis wird. Leiden kann zur Bewusstwerdung und Reflexion führen und potentieller Ausgangspunkt für veränderndes 30

In der Arbeit Der Fremde (1944) zielt Alfred Schütz auf die Untersuchung der typischen Situation, »in der sich ein Fremder befindet, der versucht sein Verhältnis zur Zivilisation und Kultur einer sozialen Gruppe zu bestimmen und sich in ihr neu zurechtzufinden« (Schütz 1944: 53). ›Fremde‹ können nach Schütz nicht auf das »Denken-wie üblich« zurückgreifen, das auf vier Grundannahmen beruht. (ebd.: 60–69). Wollte man diese vier Grundannahmen für eine rassismuskritische Perspektive fruchtbar machen, müssten sie auf die Perspektive der ›einheimischen‹ Gesellschaft übertragen werden: (1) alles bleibt wie es ist: neu ankommende Asylsuchende bspw. werden als störend wahrgenommen (ihre Erscheinung, ihre Sprache usw.); (2) man verlässt sich auf überliefertes Wissen: tradierte rassistische Bilder aus bspw. Schulbüchern werden übernommen; (3) Wissen existiert über den allgemeinen Typ von Ereignissen: die stereotype Vorstellung, dass eine zunehmende Zahl von Asylsuchenden zu einem Anstieg der Kriminalität oder der Arbeitslosigkeit führt; (4) (rassistisches) Wissen wird von »allen« akzeptiert und angewandt: die Vorstellung ›weißer Hegemonie‹ wird in einer ›weißen‹ Mehrheitsgesellschaft nicht hinterfragt.

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Handeln sein. Denn – das ist wichtig – die Parteinahme für das somatische Moment in der Erkenntnis (und damit für das Leiden) ist keine für die Ersetzung der Reflexion durch Leidartikulation, durch bloßen Subjektivismus oder gar nur den Schrei, das Schluchzen, die somatisierte Äußerung. Moment heißt, dass hier etwas in der Erkenntnis aufgehoben ist: überwunden zugleich wie verwandelt bewahrt. Somatisches steht am Anfang der Erkenntnis, somatisches steckt als Movens in der Erkenntnis – aber Erkenntnis selbst bedarf der Reflexion, der Kritik und Selbstkritik, auch der wissenschaftlichen Methode. Autoren wie Staudigl interessieren sich als Sozialphänomenologen besonders für die vorreflexive Erfahrung. Diese ist für Kritische Theorie aber nur als Vorstufe zur Erkenntnis interessant: Sie muss überschritten werden. Leiden wird zur Erfahrung in diesem Sinne erst in der sprachlichen oder ästhetischen Darstellung; in dem Bemühen um Verständigung. Nur über die sprachliche Artikulation kann die individuelle Erfahrung der Missinterpretation entgehen, sich für einzigartig zu halten, nur über die sprachliche oder ästhetische Vermittlung kann sie zum Allgemeinen werden und ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit gewahr werden (vgl. Kirchhoff 2004: 91f.). Erfahrungen sind das Fundament der Kritik, über ihnen müssen sich aber Begründungszusammenhänge, Theorien, erheben. Auch rassistische Gewalt und Diskriminierung sind einzigartige Erfahrungen, aber sie führen nicht automatisch zu Gesellschaftskritik. Menschen mit Rassismuserfahrungen sind jeden Tag mit der »Verfremdung« (Dahmer 2020: 38f.) konfrontiert – in Hinblick auf ihre körperliche Erscheinung, ihre vermeintlich kollektive Besonderheit, ihre angeblichen besonderen Fähigkeiten oder minderen Begabungen. Menschliche Körper erleben dann physische und psychische Gewalt, wenn eine Abweichung von dem, was als Norm gilt, nicht akzeptiert wird »oder für unwert erachtetes Leben als quantité négligeable angesehen wird« (Becker-Schmidt 2004: 77).31 Auch wenn die Bestrafung der Normabweichung rassifizierter Personen in einer ›weißen‹ Mehrheitsgesellschaft nur einen Aspekt des Rassismus bildet, fügt eben jene Bestrafung Wunden zu, die Erfahrungen sind und durch Wiederholung Erkenntnis prägen. Würde geleugnet, dass somatische Regungen Erkenntnis prägen, reduzierte sich Bewusstsein auf einen »versachlichten Denkapparat« (ebd.: 78). Beschreibungen von rassistischen Erfahrungen finden wir bei William E. B. Du Bois, bei Frantz Fanon, bei Toni Morrison, bei vielen anderen – Personen, die sich nicht aussuchen konnten, ob sie sich mit Rassismus beschäftigen wollen. Für die Rassifizierten wird ›Rasse‹ durchaus real, auch wenn sie das objektiv nicht ist. Als Konstrukt entfaltet sie soziale Materialität. Stuart Hall erinnert daran, dass wir noch so oft in antirassistischer Absicht die Existenz von ›Rassen‹ leugnen können, sie erhält – obwohl sie ›nur‹ ein Diskurs ist – eine Wirklichkeit. Die materiellen Effekte dieses Diskurses bestimmen, wie Macht und Ressourcen aufgeteilt und wie »Gruppen im Verhältnis zueinander hierarchisiert werden« (Hall 1994: 90). Übersetzt in die Sprache der Kritischen Theorie: ›Rasse‹ ist eine objektive Gedankenform32 . ›Rasse‹ ist das Basisideologem des Rassismus.

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Vgl. zu den psychischen Folgen von Alltagsrassismus: Fernando (2010); AMIGRA (2011); Sequeira (2015). »Für Marx sind Denkformen spontane, unwillkürliche Bewußtseinsformen, die dem praktischen Verhalten in bestimmten Verhältnissen entspringen und denen bestimmte Praxisformen entspre-

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Die rassistische Erfahrung zeigt an, dass etwas falsch ist. Wenn die rassistische Ideologie aus den gesellschaftlichen Verhältnissen erwächst, so ist sie zwar ein Symptom der falschen Gesellschaft, aber die Träger des Rassismus sind nicht Symptomträger, an Pathologie Leidende. Zwar mögen auch Rassist:innen an der Gesellschaft leiden, doch ist Rassismus vor allem da, wo er intentional als Gewalt, Beleidigung, Verfolgung etc. auftritt, eine bewusste Entscheidung der Individuen, die ihn praktizieren. Die Soziologie versucht zu klären, was die gesellschaftlichen Bedingungen dafür sind, dass Rassismus Antwort auf gesellschaftliche Krisen und Widersprüche werden kann. Die Intention als Zweckbestimmtheit dieser Antwort ist aber nur ein Motiv, vielleicht nicht mal das notwendige. Rassismus wird zudem getragen von einer Denkstruktur. So kann es vorkommen, dass die einstige Denkstruktur wirkt, auch wenn das Subjekt nicht willentlich rassistisch ist oder sich willentlich rassistisch verhält.

Institutioneller Rassismus Unwillentlich produziert der institutionelle Rassismus solche Erfahrungen. Heinemann/ Mecheril verstehen unter dem Begriff des institutionellen Rassismus eine Perspektive, »die auf der Grundlage natio-ethno-kultureller Zugehörigkeitskonstruktionen wirkendes, ausgrenzendes und benachteiligendes Handeln sowie Ausgrenzungs- und Benachteiligungsstrukturen von Organisationen (durch Gesetze, Erlasse, Verordnungen und Zugangsregeln sowie Arbeitsweisen, Verfahrensregelungen und Prozessabläufe) oder von Mitarbeitern der Organisationen im Rahmen der Organisation, erkennbar, problematisierbar und untersuchbar macht.« (Heinemann/Mecheril 2016: 51) Die Erfahrungen der von Rassismus Betroffenen zeigen, dass insbesondere gesellschaftliche Institutionen Orte des Rassismus sind – eine Form des Rassismus, die auch ohne persönliche, rassistische Intentionen rassistische Ausgrenzung herstellen kann. Der Begriff des institutionellen Rassismus wurde in den 1960er Jahren von Stokely Carmichael und Charles V. Hamilton in ihrer Arbeit Black Power. The Politics of Liberation in America (1967) geprägt und im theoretischen Umfeld der Critical Race Theory weiterentwickelt. Aus der Critical Race Theory gingen wiederum die Critical Whiteness Studies hervor.33 Critical Race Theory und Kritische Theorie teilen grundsätzlich die Auffassung, dass der Rassismus in der Gesellschaft allgegenwärtig sowie strukturell und institutionell verankert ist. Stärker allerdings als die Critical Race Theory und auch die Critical Whiteness Studies fokussiert Kritische Theorie auf die strukturellen Aspekte, d.h. die Verbindung von Kapitalismus und Rassismus. Übereinstimmung besteht sicher auch in der grundsätzlichen Diagnose, dass Rassismus Ausdruck sozialer Machtverhältnisse mit entspre-

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chen. Insofern sie strukturell, also ›objektiv‹ determiniert sind, nennt Marx sie auch ›objektive Gedankenformen‹« (Haug 1995/HKWM: 589/Sp. 1). Und »[objektive] Gedankenformen sind nach Marx […] weder der Wert noch das Geld als ökonomische Form, sondern die gedankliche Reproduktion dieser Formen in ihrer fertigen, die gesellschaftlichen Vermittlungsprozesse ihrer Hervorbringung nicht mehr aufweisenden, sachlichen Gestalt.« (Elbe 2010: 301) Häufig verbindet sich der institutionelle Rassismus auch mit einem strukturellen. Teils werden diese Begriffe in anderen Untersuchungen auch synonym verwandt. Ich unterscheide zwischen einem institutionellen und einem strukturell fundierten Rassismus.

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chenden Interessen ist, und dass sich mit kollektiven Identitäten bestimmte idealisierte Selbstbilder verbinden. Der Rückgriff auf den Rassebegriff allerdings und der Vorwurf, dass »Colorblindness« in antirassistischer Theorie und Praxis helfe, den Rassismus fortzusetzen, sind nicht anschlussfähig an die Kritische Theorie. Ebenso fragwürdig sind aus kritisch-theoretischer Sicht formelhafte individuelle Selbstpositionierungen, die auch als Ausdruck einer pauschalen »Denunziation von Individuen als rassistische Unterdrücker aufgrund zugeschriebener Gruppenidentitäten« (Celikates/Erhard 2021) gesehen werden sowie die gesamte Privilegiendiskussion. Falsch ist nicht die de factoFeststellung der Existenz von Privilegien, die ›weiße‹ Menschen vielfach haben, sondern die dahinterstehenden Erklärungen, der zufolge es einen quasi-überhistorisch gesetzten Antrieb ›weißer‹ Menschen gebe, zu dominieren, wo doch der Antrieb zur Aufrechterhaltung eines Ungleichheiten produzierenden Systems, in der »Interaktion zwischen ökonomischen und ideologischen Prozessen« (vgl. Prasad/Choonara 2021: 59) liegt. Der Begriff des institutionellen Rassismus steht in diesen Theorien für einen Wandel des Rassismusverständnisses: Auch Institutionen können zum Träger rassistischen Handelns werden, relativ unabhängig von den Intentionen und Vorurteilen ihrer Träger:innen. Institutionen sind konkrete Organisationen: ein Unternehmen, eine Schule, ein Krankenhaus, ein Arbeitsamt, aber auch größere Einheiten: z.B. die Wirtschaft, die Polizei und das Bildungssystem. Die grundlegende Idee ist, dass Institutionen »diskriminierende Annahmen inkorporieren und diskriminierende Konsequenzen haben« (Gomolla/Radtke 2003: 43). So richtet Rassismusforschung den Blick auf institutionelle Praxen, die der Realität pluraler gesellschaftlicher Formationen nicht entsprechen, indem z.B. behördliche Formulare nur in deutscher Sprache bereitgestellt werden. Ausdruck des Rassismus sei die Ungleichheit bei der Vergabe von Gütern. Diese Form des Rassismus stehe allerdings nicht für sich allein, sondern kann als »besonders rigide Verfestigung von alltäglichem Rassismus und z.B. Rassismus in den Medien« (Jäger/ Jäger 2007: 105) angesehen werden. Auch Robert Miles untersucht Rassismus als institutionell wirkendes Phänomen. Der institutionelle Charakter des Rassismus wird bei Miles zwar nicht näher spezifiziert, er erschließt sich aber als das Verhältnis von staatlichen Institutionen und Gesetzen zu Menschen mit Migrationsgeschichten sowie als Set verselbständigter Diskurse, in denen rassistische Ideen verdeckt, aber weiterhin wirksam sind. Miles unterscheidet zwei Formen des institutionellen Rassismus. Erstens seien jene Verhältnisse Ausdruck eines institutionell wirkenden Rassismus, die explizit aus einem vorgängigen rassistischen Diskurs resultierten. Um eine Ausgrenzungspraxis dieser ersten Form als rassistischen Diskurs zu qualifizieren, sei es nötig, die Geschichte der Diskurse zu untersuchen und nachzuweisen, dass es »vor dem Schweigen (oder der Umformung) einen expliziten rassistischen Diskurs gegeben hat« (Miles 1989: 113). Zweitens will Miles auch jene Fälle als institutionellen Rassismus fassen, die einen neuen rassistischen Diskurs formieren. Unter diese Form subsumiert Miles das, was in der Rassismusforschung als kulturalistischer bzw. Neo-Rassismus bezeichnet wird. Die zweite Form des institutionellen Rassismus bezieht Miles demnach auf »Verhältnisse, in denen ein explizit rassistischer Diskurs dergestalt abgewandelt wird, daß der direkt rassistische Inhalt verschwindet, während die ursprüngliche Bedeutung sich auf andere Wörter überträgt« (ebd.). Das alte, bekannte rassistische Vokabular werde vermieden, die Inhalte blieben jedoch im

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Kern erhalten. Es formiere sich also ein neuer rassistischer Diskurs. Diesen Wandel im rassistischen Vokabular erläutert Miles am naheliegenden Beispiel der Neuen Rechten (vgl. ebd.: 84ff.). Diese zweite Form verkette verschiedene Rassismusformen, weil sie beispielsweise Elemente eines biologistisch argumentierenden (›Rasse‹) mit einem kulturalistisch argumentierenden Rassismus (Kultur) verbinde. Miles illustriert die Formen von institutionellem Rassismus am Beispiel des Niederlassungsrechts in Großbritannien. So bediene sich allerdings keines der Einwanderungsgesetze nach 1945 eines offenen rassistischen Diskurses. Institutioneller Rassismus werde erst als solcher erkennbar unter Berücksichtigung des politischen Kontextes. Nicht jede Ausgrenzungspraxis sei Rassismus, so Miles. Um Ausgrenzungspraktiken als institutionellen Rassismus zu klassifizieren, sei es stets im konkreten Fall notwendig, »den determinierenden Einfluss des Rassismus nachzuweisen« (Miles 1989: 116). Rassismusforschung stehe damit vor der Schwierigkeit, dass sich oft nur indirekte Schlüsse auf Rassismus als Ursache sozialer Ungleichheit ziehen lassen – zum Beispiel bei erhöhter Säuglingssterblichkeit, verwehrten Sozialleistungen (vgl. Miles 2000: 27ff.) oder in Hinblick auf die gravierenden gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie. Rassismus formiert sich als institutioneller aus informellen Mechanismen. Dadurch existiert Rassismus trotz der geringen Zahl (bekennender) Rassist:innen fort. Denn die Motive von Akteuren spielen hier zunächst keine große Rolle. Rassismus wäre so gesehen eine strukturelle Eigenschaft des Systems, d.h. kein subjektives (an Individuen und dessen Einstellungen gebundenes), sondern ein objektives Phänomen. Ließe sich also behaupten, dass der institutionelle Rassismus ein Rassismus ohne Rassist:innen ist? Und wie lassen sich so die Akteure in Institutionen, die Rassismus dort reproduzieren, kritisieren? Das Konzept impliziert, dass soziale Akteure einerseits »total unschuldig und total schuldig« (Gomolla/Radtke 2003: 57) seien. »Damit ist jeder oder jede entschuldigt, da das System schuldig ist« (ebd.). Gesellschaftliche Institutionen – wie das Sozialamt (vgl. Baldauf 2002), das Wohnungsamt, Gesundheits- und Jugendämter, die Schule (Rösch 2009; Marmer 2015; Welke 2015; Fereidooni 2016; Friedrich 2018), die Hochschulen, Ämter, die mit Asylverfahren befasst sind usw. – sind soziale Orte, an denen Menschen rassistische Erfahrungen machen.34 Den Nachweis, dass erlebte Diskriminierungen tatsächlich etwas mit einem in diesen Institutionen eingelassenen Rassismus zu tun haben, ist schwierig – der Versuch stößt auf Widerstände in entsprechenden Behörden.35 Der

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Eine Reihe von wichtigen Publikationen zum institutionellen Rassismus kommt aus nicht-akademischen Kontexten, v.a. aus dem Umfeld von Betroffenen und politischen Kampagnen (vgl. zur Betroffenenperspektive z.B. ARAB 1997; Salentin 2008; Oberwittler/Schwarzenbach/Gerstner 2011; Opferperspektive 2013; Kleffner 2015; Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt 2016). Weitere Auseinandersetzungen und Studien zum institutionellen Rassismus haben vor allem seit dem 2010er Jahren in Deutschland zugenommen (vgl. beispielhaft: Jäger/Kaufmann 2002; Öztürk 2015; Heinemann/Mecheril 2016; Bach 2017; Osterkamp 2019). Ein Beispiel dafür ist die Abwehr des ehemaligen Innenministers, Horst Seehofer, eine Studie zu Rassismus in der Polizei durchzuführen. Stattdessen hat sich die »Bundesregierung […] darauf verständigt, in einer Studie zu Alltagsrassismus die Entwicklung und Verbreitung diskriminierender Handlungen in der Zivilgesellschaft, in Wirtschaft und Unternehmen sowie öffentlichen Institutionen zu erforschen, die durch rassistische Einstellungen motiviert sind. […]. ›Es wird keine Studie

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Fokus der Kritik an dieser Rassismusform liegt daher eher auf den Konsequenzen von Diskriminierung, als auf dem »Wie« (vgl. Gomolla/Radtke 2003: 43f.).36 Aber auch beim institutionellen Rassismus geht es nicht ohne Intentionen, nicht ohne gewisse Vorurteile, rassistische Bilder und Projektionen, die die Beamten:innen mitbringen und denen sie unterliegen. Wo Rassismus institutionell manifestiert ist, sich in bestimmte behördliche Praktiken und Verfahren eingeschrieben hat, wie bspw. beim racial profiling (vgl. Herrnkind 2014; Thompson 2018; Wa Baile u.a. 2019), ist es jedoch schwer, diese motivationale Komponente freizulegen.37 Ausgehend von den bisherigen Diskussionen ist institutioneller Rassismus bestimmbar als Rassismus, der erstens durch institutionelle Abläufe gekennzeichnet ist, in denen dereinst explizite Praktiken unsichtbar/implizit geworden sind, aber weiterwirken (z.B. das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht bis zu seiner Änderung 2001). Zweites Merkmal des institutionellen Rassismus ist es, dass Personen mit rassistischen Vor- und Einstellungen legitim Entscheidungen treffen, die von diesen Vorstellungen beeinflusst sind (z.B. die Ermordung Oury Jallohs). Ein drittes Merkmal ist, dass diese institutionellen Praktiken und Verfahrensweisen aber auch unabhängig von den konkreten Einstellungen Einzelner wirken, ohne dass deswegen aber diese einstellungsbezogene Seite völlig bedeutungslos wäre (z.B. die Kriminalisierung der Opfer des NSU). In diesen Situationen kommt Macht im Verhältnis von Subjekten zum Tragen: von Subjekten, die mit Macht vermittels ihrer Tätigkeit in diesen Institutionen ausgestattet sind – und von denen, deren Macht durch die Abhängigkeit von Entscheidungen dieser Institutionen reduziert ist. Aus dieser theoretischen Sicht auf die Folgen von Handlungen ergibt sich ein besonderes Problem für die Rassismuskritik: Denn wie kann mit dem Fokus auf die Folgen und die Ausblendung von rassistischen Intentionen und Motiven überhaupt noch Rassismus festgestellt werden – wie wird ein etwaiges anderes

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geben, die sich mit Unterstellungen und Vorwürfen gegen die Polizei richtet. Denn die überwältigende Mehrheit von über 99 Prozent der Polizistinnen und Polizisten steht auf dem Boden unseres Grundgesetzes. Sie sind der Grund für die Stabilität unserer Demokratie und unseres Rechtsstaates. Die Polizei kann sich darauf verlassen, dass wir als Politik hinter ihr stehen.‹«, so Seehofer im Oktober 2020 in einer Pressemitteilung (BMI 2020). Ein Problem des Begriffs des institutionellen Rassismus ist es, dass sich meist sich nachweisen lässt, ob Rassismus die Grundlage für die Ungleichverteilung war. D.h. es fehlt der Nachweis, dass Ungleichheiten Resultat rassistischer (und nicht etwa einer anderen) Diskriminierung sind. Zu bedenken ist allerdings auch, dass gerade solche Institutionen, die auf expliziten Autoritätsverhältnissen fußen, wie bspw. die Polizei, eine besondere Anziehungskraft auf autoritäre Personen haben; darauf deuten etliche Berichte von betroffenen Menschen und Betroffenenorganisationen hin und einige Studien, die Rassismus/Fremdenfeindlichkeit und Rechtsextremismus in der Polizei untersuchen (vgl. Jaschke 1994; Stendebach 1995; Mletzko/Weins 1999; Lindner 2001; Schweer/ Strasser 2003; Eitel 2012; Busch 2013; Herrnkind 2014; Loick 2018; Hunold/Wegner 2020; Cremer 2020; Abdul-Rahman u.a. 2020, 2020a; Gießler 2021; Singelnstein 2021). Da Autoritarismus der Kritischen Theorie als Container für Rassismus und Antisemitismus gilt (wie unter 7.4 noch ausgeführt wird), ist Rassismus unter Polizist:innen dann nicht einfach nur die Abbildung eines gesellschaftlichen extrem rechten Durchschnitts, sondern die Polizei ist eine Institution, die autoritäre Personen verstärkt anzieht. Zugleich zeigen Studien, dass Vorstellungen über Fremdheit und Kriminalität während des Berufsalltags eine Assoziation eingehen, weil der Polizeialltag naturgemäß mit kriminellen/kriminalisierten Aspekten befasst ist (vgl. Jaschke 1998; Hielscher 2018; Krott/Krott/Zeitner 2018).

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zugrundeliegendes Motiv für Diskriminierung ausgeschlossen; welche Ansatzpunkte gibt es dann für Interventionen gegen Rassismus?38 Institutioneller Rassismus bedarf also nicht subjektiver Intention – er produziert aber sehr wohl subjektive Leidenserfahrungen. Die Bergung subjektiver Erfahrung Betroffener ist hier also nicht allein moralischer Imperativ, humanes Gebot – sie ist auch ganz schlicht Bedingung gelingender Erkenntnis. Die rassistische Praxis in Institutionen lässt sich eben kaum an Schriften, an geistigen Produktionen, aber eben auch nicht an Gewalttaten untersuchen – sie muss als soziale Praxis beobachtet werden. Die Betroffenenperspektive ist nicht eins mit solcher Beobachtung; aber sie teilt mit, was überhaupt zu beobachten ist.

Struktureller Rassismus Rassismus bezeichnet nicht nur ein machtvolles Verhältnis zwischen Subjekten; er ist darüber hinaus ein Herrschaftsverhältnis. Er entfaltet dort besondere Kraft, wo er eine der bedeutendsten Strukturkategorien moderner Gesellschaften berührt: die Arbeit. Rassistische Erfahrungen werden dort gemacht, wo die kapitalistischen Verhältnisse Ungleichheit und Überausbeutung nach nationalen und rassifizierenden Kriterien organisieren. Rassismus organisiert das Arbeitsleben und dient dazu, eine bestimmte gesellschaftliche Ordnung zu erhalten. Einige Menschen werden so mit größeren Möglichkeiten zur Gestaltung ihres Lebens ausgestattet. Ein Großteil der Menschen in Deutschland muss sich nie darüber Gedanken machen, womöglich wegen der eigenen Hautfarbe diskriminiert zu werden. Ein Rassismus, der strukturell verankert ist, reproduziert und verschärft die Herrschaftsverhältnisse des Kapitalismus. In dieser Hinsicht ließe sich auch von einem strukturell fundierten Rassismus sprechen. Rassifizierte Menschen werden oft nicht nur als Konsequenz der warenförmigen Lohnarbeit ausgebeutet, sondern sie werden in schlechter bezahlten Jobs überausgebeutet – oft mit fehlender Sozialversicherung und Altersvorsorge, häufig auch mit besonderer Gesundheitsgefährdung wie in den fleischverarbeitenden Betrieben (vgl. zur ›nationalen‹ Segmentierung des Arbeitsmarktes Kalter/Granato 2018; Khalil/Lietz/Mayer 2020). Strukturell ist dieser Rassismus, wenn kapitalistische Transformationen in besonderer Weise auf ihn angewiesen sind. Ich belasse es bis hierher mit dieser Skizze, denn die strukturelle Dimension des Rassismus wird ausführlich Gegenstand des sechsten Kapitels sein.

Alltagsrassismus Die subjektive Erfahrung der Lohnabhängigen als Erkenntnisorgan ist in der marxistischen Theoriebildung, gelinde gesagt, umstritten. Marx schlägt sich nach der sehr frühen Formulierung einer fragmentarisch gebliebenen Entfremdungstheorie 1843–1845 ab

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Heinemann/Mecheril sehen in dieser fehlenden Spezifik auch einen Vorteil, da »nicht von vornherein festgelegt wird, welche Dierenzaspekte für das Zustandekommen von Diskriminierung eine Rolle spielen« (Heinemann/Mecheril 2016: 51). So blieben auch Untersuchungen zur Diskriminierung im Allgemeinen anschlussfähig für die gesamte Ungleichheits- und Intersektionalitätsforschung. Dennoch sei es wichtig, spezifische Diskriminierungsformen in ihren Spezifika zu untersuchen (vgl. ebd.: 51f.).

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den 1850er Jahren gänzlich auf die Seite des methodischen Objektivismus. Die Erfahrung der Arbeitenden tut zur objektiven Logik dessen, was er fassen will, nichts zur Sache. Mit Lukács, Pollock aber auch dann in den industriesoziologischen Studien des Frankfurter Instituts wird die Perspektive auf die Subjektivität der Lohnarbeitenden restituiert. Besonders Alexander Kluge und Oskar Negt entwickeln in der Fragmente-Sammlung Geschichte und Eigensinn (1981) eine subjektive Komplementärerzählung zum marxschen Kapital, eine Geschichte der ›Arbeitsvermögen‹, der Erfahrungen der Arbeiter:innenklasse. Adornos Minima Moralia (1951) werden gerühmt als Mikrologie des Alltags. In Texten wie Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute (1968) knüpft er an diese Perspektive an: den vergrößernden Blick auf Privates, auf Alltägliches, auf vermeintlich Belangloses – weitab der Politik und weitab der ökonomischen Produktion. Diese Mikrologie des Alltagslebens kann produktiv werden für eine erfahrungsgesättigte Theorie des Alltagsrassismus. Im Alltagsleben wird Rassismus im sozialen Nahbereich erfahren.39 Sogenannte Mikroverletzungen in der Interaktion von de jure Gleichen und de facto Ungleichen geschehen in kleinen Gesten, Dialogen, Verkehrsformen. Alltagsrassismus zeigt sich an zunächst unbedeutend wirkenden Momenten und Erlebnissen. Der Psychoanalytiker Fakhry Davids schreibt in seinem Buch Innerer Rassismus (engl. 2011), dass ›Schwarze‹ in einer ›weißen‹ Welt permanent mit »versteckten Klischees« konfrontiert werden, »die wie ein Blitz zum Leben erwachen, mit Gewalt in dich gedrückt werden, dich destabilisieren und dich dazu bringen, dass du etwas in einer Art und Weise denkst, tust und fühlst, die völlig von der Außenwelt bestimmt wird, so als ob du in dieser Sache nichts zu sagen hättest.« (Davids 2011: 23) In der Rassismusforschung hat sich der Begriff der Mikroaggressionen für diese Art von Verletzungen etabliert. Körper sind beim Rassifizieren nur »bloße Verfügungsmasse« (Hund 2006: 121). Auch wenn ›weiße‹ Körper ebenfalls Teil des Rassifizierungsprozesses sein müssen – keine Evaluation ohne Vergleich und keine Abweichung ohne Maßstab und Norm – sind es doch die Körper der ›Anderen‹, die zu rassifizierten Körpern werden und die Blicke auf sich ziehen. Im Begriff des Alltagsrassismus verdichten sich die unter dem Aspekt des institutionellen und strukturellen Rassismus dargelegten Ungleichbehandlungen in der Perspektive betroffener Menschen. Denn der Alltag spielt sich auf dem Fundament der Strukturen einer Gesellschaft und im Umgang mit deren Institutionen ab. Kritik des Alltagsrassismus bezieht sich auf unterschiedliche Beobachtungsfelder: auf den Einfluss von Erziehung (Sammar 2019); die Auswirkungen auf die Subjektbildung (Vehlo 2016); die Rolle von Sprache (Schulze/Mantey 2016; Castro Varela/Khakpour 2019); die alltägliche Produktion der Bilder ›des Fremden‹ und der kolonialen Geschichte (Arndt 2001; Weule u.a. 2013; Kaufmann 2016; El-Tayeb/Thompson 2019); die Rolle der Massenmedien bei der Verbreitung rassistischer Stereotype und der Zurschaustellung/ 39

Der AFROZENSUS ist eine Erhebung, um ein »möglichst umfassendes Bild darüber zu bekommen, welche Erfahrungen Menschen afrikanischer Herkunft in Deutschland machen, wie sie ihr Leben in Deutschland einschätzen und welche Erwartungen sie an Politik und Gesellschaft haben. Die Ergebnisse des AFROZENSUS sollen Kommunen und Politik zugänglich gemacht werden. Ein zentraler Befund der Untersuchung spricht von »Wiederholungen und Muster[n]« von teils täglich erfahrenen Diskriminierungen »in 14 hier betrachteten Lebensbereichen darunter in den vertieft betrachteten Bereichen Bildung und Gesundheit […]. Anti-Schwarzer Rassismus ist in Deutschland in Institutionen und Strukturen eingebettet.« (AFROZENSUS 2020: 281)

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Exotisierung von rassifizierten Menschen (Hall 1982; Jäger/Link 1993; hooks 1994); die Auswirkungen von Gesetzgebungen für konkrete Menschen (wie z.B. die Asylrechtsverschärfungen 1992 nach den bundesweiten rassistischen Ausschreitungen; die Unterbringung von geflüchteten Menschen in Sammelunterkünften) und das Vorgehen von Strafverfolgungsbehörden im Zusammenhang mit Racial Profiling (Busch 2013; Wa Baile u.a. 2019) oder aber bei den Ermittlungen zu den NSU-Morden (vgl. Bach 2017). Auf all diese Formen von Rassismus trifft eins zu: Rassismus bestimmt das Leben von rassifizierten Menschen – nicht ›nur‹ das Arbeitsleben, nicht ›nur‹ den sozialen Status, nicht ›nur‹ die Gefahr, Opfer von Gewalt zu werden. Er bestimmt über die Chancen auf Bildung, über die Freiheit, dort zu leben, wo man möchte, über die Möglichkeit einen Beruf auszuüben, den man erlernt hat (und damit auch über die Gesundheit der Menschen), er produziert Unsicherheit in physischer und psychischer Hinsicht, er verwehrt grundlegende Anerkennung. Damit fordert Rassismus die Menschen überdies heraus, er zwingt zu einem Kampf gegen die Gesellschaft, zur Abkehr von Menschen, die enttäuschen, er zermürbt. Kurzum: Rassismus prägt das Weltverhältnis von Menschen. Die Rede von einem Alltagsrassismus impliziert auch, dass dem Rassismus nirgends zu entkommen sei. Alltagsrassismus etabliert eine erfahrungsmäßige Kluft zwischen dem In-der Welt-Sein der Betroffenen und jenem der nicht Betroffenen. Nur über diese Erfahrung ließe sich die Genese der Kluft theoretisch erschließen. Das stellt Rassismuskritik vor Herausforderungen. Es wird fraglich, ob Menschen, die nicht selbst von Rassismus betroffen sind, Alliierte im Kampf gegen Rassismus sein können. Philomena Essed bestimmt den Alltagsrassismus als eine spezifische Perspektive der von Rassismus negativ betroffenen Menschen: »To gain further insight into the meaning of racism in black people’s experience, I now introduce the concept of everyday racism. By this I mean the various types and expressions of racism experienced by ethnic groups in everyday contact with members of the more powerful (white) group. Everyday racism is, thus, racism from the point of view of people of Color, defined by those who experience it.« (Essed 1990: 31) Sie verwendet den Begriff des »common sense«, der soziale Vorstellungen bezeichnet, die Substrat von Ideologien seien. Im common sense fänden sich sowohl die Ablehnung des Rassismus wie auch Elemente rassistischer Ideologie. In der Regel funktioniere der rassistische common sense, so Essed, wie folgt: Es gibt eine moralische Ächtung des Rassismus, und man ist der Überzeugung, man selbst oder die Gruppe, der man sich zugehörig fühlt, könne nicht rassistisch sein. Verdeckte Formen des Rassismus werden aufgrund eines vereinfachten Rassismusverständnisses geleugnet. Entsprechend komme es zu einer starken Abwehr bei der Konfrontation mit dem Vorwurf des verdeckten Rassismus. Die Leugnung des Rassismus wäre dann das Ergebnis einer sozialen Einstellung, die eine ›rassisch-ethnische‹ Gesellschaftsordnung für selbstverständlich hält. Für Essed zählen zur rassistischen Diskriminierung auch subtile Formen des Rassismus. Das bezieht explizit alle Handlungsweisen ein – verbale und nonverbale – die negative oder unvorteilhafte Auswirkungen auf subordinierte Gruppen haben. Handelnde sind sich dabei häufig der Konsequenzen weder bewusst, noch beabsichtigen sie diese Wirkung (vgl. Essed 1991: 18–25).

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Esseds Darstellungen lassen wenig Raum für Zwischentöne. Es scheint, als seien auch aktuelle Gesellschaften noch immer in weitem Maße geprägt von einer Konfrontation von dominierender ›weißer‹ Gruppe mit anderen Minderheiten-Gruppen. Die ›weiße‹ Gruppe dominiert und wird entsprechend als homogen dargestellt. Darum muss bei Essed auch offenbleiben, wieso bestimmte Menschen eher zu Rassismus neigen als andere. Welchen Raum für Nicht-Rassismus gibt es dann noch? Als Handlungsmöglichkeiten gibt es nur noch eine Selbstkritik Weißer als schuldige Rassist:innen. Diese Perspektive auf Rassismus übertrumpft noch die Vorwürfe gegen das Konzept des falschen Bewusstseins als eines »Zweifel[s] am Bewusstsein« (vgl. Ricoeur 1965: 46), denn die ›weiße‹ Mehrheitsgesellschaft ist nicht nur verdächtig, sondern per se schuldig. Adornos Verdacht gegen die vermeintlich kleinen Gesten des Alltagslebens, in denen sich das ›falsche Ganze‹ niederschlage, ist berüchtigt; die Verdachtsenergie ist nicht geringer als bei Essed. Auch ihm wird häufig die Übertreibung, die Düsternis der Totaldiagnose vorgeworfen. Und doch ist bei ihm alles anders: Der Fluchtpunkt seiner Kritik ist nicht das moralische Urteil ›schuldig‹ oder die Unhintergehbarkeit von Erfahrungsdifferenzen. Er denkt über das Alltägliche, Private nach, um es als Refugium zu retten oder wenigstens zu betrauern. Critical Race Theory, vor allem in der Variante der oben dargestellten Critical Whiteness Studies, ist weit entfernt von Adornos Erfahrungsbegriff: Sie setzt auf individuelle Selbstreflexion der ›weißen‹ Mehrheitsgesellschaft über »Privilegien« (Frankenberg 2000: 447; McIntosh 1988) und ihre »zählbare Dividende« (Dietze 2006: 224), die aus rassistischen Verhältnissen gewonnen werde. So wichtig diese Reflexion auf die unterschiedlichen Erfahrungen und Möglichkeiten von Menschen mit und ohne Rassismuserfahrungen auch ist, weil sie Sensibilität stärken und Hinwendung fördern kann, so verkürzt ist diese Perspektive für eine gesellschaftstheoretische Kritik des Rassismus. Die so genannte Privilegientheorie fokussiert auf persönliche Erfahrungen. Sie kann die konkreten Auswirkungen von Rassismus auf das Leben von rassifizierten Menschen aufzeigen – sie liefert aber keine Erklärungen: Sie setzt Erfahrung mit Theorie gleich. Das wiederum ist eine methodologische Figur, die den ›Frankfurtern‹ fremd bleibt. Das, was unmittelbar erfahren wird, ist Anlass, Movens, Ausgang, Triebgrund der theoretischen Arbeit. Niemals aber ist die bloße Sortierung von Erfahrungen selbst schon Theorie. Die Critical Whiteness Studies sehen Gesellschaft strukturiert durch Privilegien. Rassismus erscheint als quasi-natürliches Bedürfnis und ahistorisches Phänomen ›weißer‹ Menschen nach (›weißer‹) Vorherrschaft. Die Privilegientheorie, so Prasad/ Choonara, setzt der Partizipation ›weißer‹ Menschen an antirassistischen Kämpfen – seien diese v.a. praktisch oder theoretisch – klare Grenzen, weil angenommen wird, dass die fehlende persönliche Rassismuserfahrung dazu führe, dass Rassismus nicht in all seinen subtilen Facetten wirklich authentisch abgelehnt werden könne (vgl. Prasad/ Choonara 2021: 52f.). So wird Rassismus zum individuellen Problem von Menschen, die Privilegien nicht abgeben mögen. Die strukturelle wie die institutionelle Verankerung werden ausgeblendet.

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Wer kann und darf Rassismus kritisieren? Im Zusammenhang mit Rassismus – insbesondere mit der Privilegiendiskussion – wird die Frage, wer zur Gesellschaftskritik grundsätzlich imstande sei, mitunter abgewandelt zu der Frage: Wer darf Rassismuskritik betreiben? (vgl. dazu Schrödter 2014). Damit wird die Frage nach epistemischer Qualität unterschiedlicher Erfahrungen zu einer der moralischen Qualität von durch Erfahrung ausgewiesenen Sprechpositionen. Nur die erste Frage interessiert Adorno. Die Frage nach der sozialen Möglichkeit von Erkenntnis ist wichtig für Kritik und Selbstreflexion (vgl. Stapelfeldt 2009: 19). Sie ist zuzuspitzen auf die Frage nach der Verunmöglichung durch Erfahrung und Erfahrungsverlust. Eine Asymmetrie zwischen Theorie und sozialen Akteuren wird der Ideologiekritik häufig vorgeworfen. Auch wenn gesellschaftliche Totalität im Denken der Kritischen Theorie nicht so dicht und unverbrüchlich vorgestellt wird, wie manche Kritiken behaupten (Habermas 1981; Celikates 2009), so ist zu fragen, wer Akteur von Rassismuskritik sein kann. Denn, wenn eine Kritik des Rassismus, die auf Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse zielt, nicht nur Utopie sein soll, muss reflektiertes und widerständiges Handeln zumindest theoretisch möglich sein. Die Frage nach der Rolle von Betroffenheit für Kritik drängt sich auf, weil insbesondere vom Rassismus negativ betroffene Personen aufgrund dieser Leiderfahrung häufig diejenigen sind, die diese Kritik als erste – oft ungehört von der Mehrheitsgesellschaft – formulieren. Für Adorno gehört subjektive Leidenserfahrung zwingend zur Erkenntnis. Die Mehrheitsgesellschaft nimmt den (eigenen) Rassismus, der andere schädigt und beschränkt, oft nicht einmal wahr. Sie hat daher auch kein Interesse, sein Funktionieren zu verstehen. Eine rassifizierte Person, die in einer Gesellschaft systematisch leidet, unterdrückt, ausgebeutet und ausgegrenzt wird, hat sicher ein stärkeres Interesse zu verstehen, wie diese Gesellschaft funktioniert, die gegen ihre Interessen arbeitet, sie ausgrenzt, sie verletzt. Lässt sich daraus aber der Schluss ziehen, dass nur die von Rassismus negativ betroffenen Personen diesen kritisieren können? Richtig ist: Nur von Rassismus betroffene Menschen können der zwar rational gut begründbaren Zurückweisung des Rassismus und dem Interesse an einer emanzipierten Gesellschaft jene unmittelbare körperliche (Leid-)Erfahrung ›hinzufügen‹. Sie erfahren die Gewalt und Diskriminierung als Individuen am eigenen Körper. Der Idee der epistemischen Überlegenheit marginalisierter Gruppen jedoch, der Auffassung, dass das ›progressive‹ Subjekt in der »vorgeblich unvermittelten, gelebten Erfahrung« (Stögner 2020: 277) zu finden sei, steht die Kritische Theorie skeptisch gegenüber. Rassismus ist kein individuelles Problem – er ist eine kollektive Erfahrung rassifizierter Menschen – er trifft viele Menschen und wird von vielen Menschen und gesellschaftlichen Strukturen getragen. Und deshalb sind auch nicht nur negativ vom Rassismus betroffene Menschen autorisiert, Rassismus zu kritisieren. Auch Miles wendet ein, dass das Argument‹ «,Erfahrung‹ sei das ausschlaggebende Moment bei der Fähigkeit, erforschen, lernen und erkennen zu können« (vgl. Miles 1989: 13), an einem logischen Widerspruch scheitert. Denn wenn es zutrifft, dass Rassismus nur von ›Weißen‹ ausgeht, sprich: »Produkt ihrer Praxis und Erfahrung ist«, so wären auch nur ›Weiße‹ imstande, Motive und Ursprung von Rassismus zu verstehen (vgl. ebd.). Das ist jedoch genauso wenig richtig, wie die These, dass nur negativ vom Rassismus Betroffene dies könnten.

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Zweifelsfrei nötigen rassistische Erfahrungen den Betroffenen die Auseinandersetzung mit Rassismus auf. Und ohne jede Einschränkung ist zu sagen, dass Rassismuskritiken, die diese Erfahrungen übergehen, ihren Namen nicht verdienen. Doch die Erfahrung, rassistisch dominiert zu werden, schärft nicht automatisch die Organe für die Erkenntnis und Kritik des gesellschaftlichen Geschehens. Wenn ›Weiße‹ per se als Profiteure des Rassismus gelten, sie folglich einen langen Weg vor sich haben, um sich antirassistisch zu legitimieren – falls das überhaupt möglich sein sollte – dann können sie, dieser Logik folgend, auch nicht Rassismus kritisieren. Gesellschaftliche Veränderung durch soziale Bewegung, und zwar als Emanzipation aus bloßen deterministischen Zwangsverhältnissen, wäre dann kaum noch denkbar. Einen weiteren Einspruch dagegen, dass allein den von Rassismus negativ Betroffenen die Beschäftigung mit Rassismus ›zusteht‹40 , findet sich in Adornos Transfer des Mitleids auf eine universelle, gattungsmäßige Perspektive: »Die Abschaffung des Leidens, oder dessen Milderung hin bis zu einem Grad, der theoretisch nicht vorwegzunehmen, dem keine Grenze anzubefehlen ist, steht nicht bei dem Einzelnen, der das Leid empfindet, sondern allein bei der Gattung, der er dort noch zugehört, wo er subjektiv sich von ihr lossagt und objektiv in die absolute Einsamkeit des hilflosen Objekts gedrängt wird. […] Eine solche Einrichtung [einer befreiten Gesellschaft, U. M.] hätte ihr Telos an der Negation des physischen Leidens noch des letzten ihrer Mitglieder, und der inwendigen Reflexionsformen jenes Leidens. Sie ist das Interesse aller, nachgerade einzig durch eine sich selbst und jedem Lebenden durchsichtige Solidarität zu verwirklichen.« (Adorno 1966: 203f.) Emanzipatorisches Denken richtet sich auf den Einzelnen und nicht aufs Kollektiv. Es zielt auf das Gemeinsame der Individuen in ihrer jeweiligen Besonderheit. Dabei gilt es aber nicht, das Gemeinsame in einer »gruppenspezifischen Erfahrung, sondern im Sinn eines einigenden Interesses an Emanzipation« (Stögner 2020: 277) zu betonen. Die Kritik und Bekämpfung des Rassismus wie anderer Formen leidbringender gesellschaftlicher Ideologien und Praxen wird so zur solidarischen Menschheitsaufgabe.

5.5 Die Bedeutung des Nichtidentischen für die Rassismusanalyse Kritische Theorie problematisiert, wie ich eingangs zeigte, die verhinderte Hinwendung zum Anderen, die Verhinderung des mimetischen Moments. Wenn Mimesis also mit dem Nichtidentischen verbunden ist, wie ist dann jenes Nichtidentische in seiner Bedeutung für die Rassismuskritik näher zu bestimmen? Nach Adorno vollzieht sich jedes begriffliche Denken identifizierend. Die Möglichkeit aber, dem identifizierenden Denken zu entgehen, sieht Adorno allein in der DenkBewegung »über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen« (Adorno 1966: 27), weil wir schlicht über kein anderes Denken als das begriffliche verfügen. Begriffliches

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»There is NO SUCH THING AS A WHITE ANTI-RACIST. The term itself, ›white anti- racist‹ is an oxymoron.« (Nopper 2003; Herv. i.O.)

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Zweifelsfrei nötigen rassistische Erfahrungen den Betroffenen die Auseinandersetzung mit Rassismus auf. Und ohne jede Einschränkung ist zu sagen, dass Rassismuskritiken, die diese Erfahrungen übergehen, ihren Namen nicht verdienen. Doch die Erfahrung, rassistisch dominiert zu werden, schärft nicht automatisch die Organe für die Erkenntnis und Kritik des gesellschaftlichen Geschehens. Wenn ›Weiße‹ per se als Profiteure des Rassismus gelten, sie folglich einen langen Weg vor sich haben, um sich antirassistisch zu legitimieren – falls das überhaupt möglich sein sollte – dann können sie, dieser Logik folgend, auch nicht Rassismus kritisieren. Gesellschaftliche Veränderung durch soziale Bewegung, und zwar als Emanzipation aus bloßen deterministischen Zwangsverhältnissen, wäre dann kaum noch denkbar. Einen weiteren Einspruch dagegen, dass allein den von Rassismus negativ Betroffenen die Beschäftigung mit Rassismus ›zusteht‹40 , findet sich in Adornos Transfer des Mitleids auf eine universelle, gattungsmäßige Perspektive: »Die Abschaffung des Leidens, oder dessen Milderung hin bis zu einem Grad, der theoretisch nicht vorwegzunehmen, dem keine Grenze anzubefehlen ist, steht nicht bei dem Einzelnen, der das Leid empfindet, sondern allein bei der Gattung, der er dort noch zugehört, wo er subjektiv sich von ihr lossagt und objektiv in die absolute Einsamkeit des hilflosen Objekts gedrängt wird. […] Eine solche Einrichtung [einer befreiten Gesellschaft, U. M.] hätte ihr Telos an der Negation des physischen Leidens noch des letzten ihrer Mitglieder, und der inwendigen Reflexionsformen jenes Leidens. Sie ist das Interesse aller, nachgerade einzig durch eine sich selbst und jedem Lebenden durchsichtige Solidarität zu verwirklichen.« (Adorno 1966: 203f.) Emanzipatorisches Denken richtet sich auf den Einzelnen und nicht aufs Kollektiv. Es zielt auf das Gemeinsame der Individuen in ihrer jeweiligen Besonderheit. Dabei gilt es aber nicht, das Gemeinsame in einer »gruppenspezifischen Erfahrung, sondern im Sinn eines einigenden Interesses an Emanzipation« (Stögner 2020: 277) zu betonen. Die Kritik und Bekämpfung des Rassismus wie anderer Formen leidbringender gesellschaftlicher Ideologien und Praxen wird so zur solidarischen Menschheitsaufgabe.

5.5 Die Bedeutung des Nichtidentischen für die Rassismusanalyse Kritische Theorie problematisiert, wie ich eingangs zeigte, die verhinderte Hinwendung zum Anderen, die Verhinderung des mimetischen Moments. Wenn Mimesis also mit dem Nichtidentischen verbunden ist, wie ist dann jenes Nichtidentische in seiner Bedeutung für die Rassismuskritik näher zu bestimmen? Nach Adorno vollzieht sich jedes begriffliche Denken identifizierend. Die Möglichkeit aber, dem identifizierenden Denken zu entgehen, sieht Adorno allein in der DenkBewegung »über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen« (Adorno 1966: 27), weil wir schlicht über kein anderes Denken als das begriffliche verfügen. Begriffliches

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»There is NO SUCH THING AS A WHITE ANTI-RACIST. The term itself, ›white anti- racist‹ is an oxymoron.« (Nopper 2003; Herv. i.O.)

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Denken verallgemeinert, klassifiziert – dialektischer Umgang mit Begriffen ist aber zugleich Kritik und Mangelanzeige dieser Klassifizierung. Adorno geht es darum, die Grenzen des Begriffs schlechthin sowie den Abstand zwischen Begriff und Sache zu kritisieren. Kritische Theorie hat vor allem die kollektiven Formen von Identität, aber auch die von verstellter Identität problematisiert. Kritik an bestimmten Ausprägungen von Identität artikuliert sich in der Beschäftigung mit Subjektivität, Alterität41 , Rassismus und Antisemitismus. Identität ist ein interdisziplinäres Konzept: Dem tragen Adorno und die Kritische Theorie in ihren soziologischen, psychologischen, erkenntnistheoretischen und ökonomiekritischen Untersuchungen Rechnung. Die Betonung des Nichtidentischen verweist anders als andere Identitätsdarstellungen in Hinblick auf Alterität, Andersartigkeit, Vorurteilen und Rassismus, immer auch auf eine Kritische Theorie von Herrschaft und verhinderter Emanzipation (vgl. Oberle 2018: 15, 22). Das Nichtidentische und deren Bedeutung für die Rassismusanalyse und -kritik wird im Folgenden entlang zweier Bestimmungen42 diskutiert: dessen Unterdrückung in der Begriffsbildung einerseits und in der kollektiven sozialen Zwangsidentität andererseits.

5.5.1 Kritik der Identität als Kritik begrifflicher Gewalt Auch wenn die Kritik der Kritischen Theorie, insbesondere die Kritik der Identität in Adornos Negativer Dialektik philosophisch ist, so sind diese Auseinandersetzungen doch immer »von politischen Implikationen und Motivationen durchdrungen« (Bartonek 2011: 28). Diese Auseinandersetzung mit dem Identitätsstreben in der Begriffsbildung ist vor allem für den klassischen, auf Typologien beruhenden Rassismus von großer Bedeutung, der sich – nachdem die ausformulierten Rassentheorien des 19. Jahrhunderts von Gobineau oder Chamberlain an Bedeutung einbüßten – tief in das Alltagsbewusstsein der Menschen einschreiben konnte. Identifizierende Begriffe sollen Sicherheit herstellen, indem sie Beziehungen zu anderen Begriffen aufzeigen und Gleichheiten imaginieren. Die spätestens seit der Aufklärung einsetzende extreme Wissenschaftsgläubigkeit ist mit einem kategorialen Ordnungs- und Systematisierungsbestreben verbunden. Nicht nur alles Sachliche fällt dabei unter das naturwissenschaftliche Primat des Quantifizierens, des Entdeckens von Kausalitäten und funktionaler Zusammenhänge, auch Menschen werden Dingen gleichgemacht. Das ist die Grundlage einer als wissenschaftlich deklarierten Theorie über die ›Rassen‹ der Menschheit. Mit der bürgerlichen Gesellschaft breitet sich ein naturwissenschaftliches Denken aus und erzeugt in allen gesellschaftlichen Bereichen Formen 41

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In der Literatur über Alterität finden sich zuweilen voreilige Gleichsetzungen von Alterität und dem Nichtidentischen, wie beispielsweise bei Jergus, wenn sie schreibt »Anerkennung sei daher eine unmögliche Aufgabe, die Gerechtigkeit im Umgang mit Alterität – als dem Nicht-Identischen – verlange« (Jergus 2017: 267, FN 14). Alterität verweise auf das, was sich dem Identifizieren entziehe, »sowohl des Selbst als auch des Anderen« (ebd.: 269). Bartonek stellt davon abweichend drei andere Gesichtspunkte von Nichtidentität heraus: (1) Nichtidentität von Subjekt und Objekt, (2) Nichtidentität des Subjekts mit sich selbst und (3) Nichtidentität des Objekts mit sich selbst (vgl. Bartonek 2011: 43, 61).

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technischer und sozialer Kontrolle. »Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen« (Horkheimer/ Adorno 1947: 20). Wissen wird nicht der reinen Erkenntnis wegen angehäuft, sondern mit dem Ziel, Macht zu haben und Herrschaft auszuüben. Rassentheorien können in diesem Sinn als Beitrag zu einer Erkenntnis verstanden werden, die der Legitimation von Macht und Herrschaft dienlich sind. Diese Wechselwirkung von rassentheoretischer Erkenntnis und Herrschaft lässt sich am Beispiel der Sklaverei aufzuzeigen: Der angeblich wissenschaftlich verbürgte inferiore Status der ›schwarzen‹ Sklav:innen rechtfertigte ihre Vernutzung auf den Plantagen und Häusern von zumeist ›weißen‹ Sklavenhalter:innen. Vor diesem Hintergrund kann das wissenschaftliche Klassifikationsstreben in die Kritik des Rassismus miteinbezogen werden, ohne dessen alleiniger Grund zu sein. Die pseudo-wissenschaftliche Kategorisierung von Menschen stellt einen Ordnungsversuch dar, der die Vielfalt menschlichen Lebens auf einen Begriff, den der ›Rasse‹, bringen will. An kaum einem anderen Beispiel sind die Folgen des Auseinanderweisens von Begriff und Sache so folgenreich. Dieses Auseinanderfallen ist im erkenntnistheoretischen Terrain der Gegenstand von Adornos negativer Dialektik, die keine Dialektik der Identität, sondern der »Nichtidentität« (Adorno 1965/66: 15; Herv. i.O.) ist. Zentrale Begriffe in der Negativen Dialektik sind Negativität, Identität und Dialektik. Als negative Dialektik bezeichnet Adorno in der Vorlesung über negative Dialektik (1965/66) den Entwurf einer Philosophie, die das »Auseinanderweisen von Begriff und Sache, von Subjekt und Objekt, und ihre Unversöhntheit« (ebd.: 15f.) aufzeigt.43 Der Begriff der Synthese, wie er sich im dialektischen Denken Hegels findet, sei nach Adorno problematisch. Vielmehr sei Dialektik, die »innere Struktur« (ebd.: 16) des Denkens selbst; die Art, wie sich der Begriff – »nämlich auf sein Gegenteil zu« (ebd.: 17), auf das Nichtidentische hinbewege. Zwar teilt Adorno mit dem Hegelschen Dialektikverständnis den Begriff des Widerspruchs. Adorno geht es allerdings weniger um den Widerspruch zwischen den Begriffen als um jenen, der »in den Sachen selbst« (ebd.) liege. Erst durch den »Identitätszwang« im Denken nehme das, was sich nicht einordnen lässt, den »Charakter des Widerspruchs« (ebd.: 19) an. Dialektisches Denken werde nötig durch die »Struktur des Begriffs und das Verhältnis des Begriffs zu seiner Sache« (ebd.: 19f.). Diese subjektive 43

Es ist zunächst naheliegend, hier eine Nähe zum (post-)strukturalistischem Denken zu vermuten, doch »[d]ie Probleme menschlicher Erkenntnis und damit die Probleme der Logik und der Philosophie entstehen für den Poststrukturalismus nicht aus der objektiven Zerfallenheit von Begriff und Sache, von Geist und Natur, sondern die Logik ist ihm lediglich jene subjektive Interpretation des Seienden, die sich im Diskurs als die bestimmende Form der Wahrheitsproduktion durchgesetzt hat.« (Gruber 2014: 66) Auch Derrida hat die Vorherrschaft des Vernunftdenkens (Kritik am Logozentrismus), die sich hegemonial gegenüber anderen Formen der Welterschließung setze, mit dem Begriff der différance problematisiert – ein Begriff, der die Instabilität und Veränderbarkeit von Bedeutungen zeichentheoretisch erfassen will. Derrida schließt damit an den von Ferdinand de Saussure geprägten Begriff der Differenz an, nachdem Zeichen immer auf andere Zeichen verweisen und kein Einzelglied von sich aus positive Eigenschaften habe. Eigenschaften werden allein negativ über die Differenz zu etwas anderem gebildet. Der Begriff différance ermögliche eine »Kritik identitätslogischer Kategorien« (Babka/Schmidt 2016: 49), indem dieser auf das Fehlen von Identität mit sich selbst verweise und im Zusammenhang mit der Kritik des Rassismus die Zurückweisung der Annahme ›rassisch‹ und kulturell homogener Gruppen, die als unveränderlich betrachtet werden, ermögliche.

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Seite der dialektischen Notwendigkeit werde ergänzt durch die objektive Realität, weil die Gesellschaft selbst widerspruchsvoll ist (ebd.: 20). Gesellschaft erhalte sich nicht »mit oder trotz ihrer Widersprüche, sondern durch diese Widersprüche hindurch« (ebd.; Herv. i.O.). Dialektik als Kritik heißt daher zweierlei: die Kritik an dem Identitätsanspruch von Begriff und Sache und – wenn sie materialistisch auftritt – die Kritik an der Setzung des »Geistes als schlechterdings Ersten und des schlechterdings Tragenden« (ebd.: 37). Rassismus kann negativ-dialektisch also doppelt kritisiert werden: erstens als soziales und epistemisches Ordnungssystem, dass Identität seiner Zwangsmitglieder behauptet, ihr Eigenes abschneidet, ihre Besonderheiten tilgt. Zweitens kann aber auch die Kategorie ›Rassismus‹ in den Blick treten als begriffliche Subsumtion von Phänomenen, die anders als bloß subsumiert gedeutet, begriffen und in einen Zusammenhang gestellt werden müssten. In diesem zweiten Sinne geht beispielsweise die Spezifik des Antisemitismus verloren, wenn dieser als Form des Rassismus gefasst wird. Gleichzeitig wird der Rassismusbegriff mit vermeintlichen Eigenschaften überlastet, die ihm nicht zwingend zukommen. Die Erfassung von Menschen, die Systematik der Verfolgung, die Zwangsarbeit und Vernichtung während der Shoah überbieten bis heute alle bekannten Formen von Rassismus (vgl. Klävers 2019). Unter eine solche Begriffskritik fällt auch die extensive Ausweitung des Rassismusbegriffs in gegenwärtigen Debatten um den Rassismus. Im Sinne der Negativen Dialektik gerät ein extrem weiter Rassismusbegriff unter Kritik, weil soziale Gebilde unter einen Oberbegriff mit geringer Schnittmenge subsumiert werden. Subsumtion meint hier das Gleichsetzen von Verschiedenem unter einen gemeinsamen Begriff – Rassismus. Damit werden unterschiedliche Phänomene gleichgemacht, die sich qualitativ von den Beschädigungen unterscheiden, die der Rassismus zufügt. Ist die – mit Recht zu kritisierende – fehlende Selbstreflexion vieler ›Weißer‹ schon als Rassismus zu bezeichnen? Welchen materiellen Gewinn »kultureller Aneignung« soll ein linker Jugendlicher aus einer mecklenburg-vorpommerischen Kleinstadt mit seinen Dreadlocks auf dem Kopf erzielen? Wen beraubt er? Kann Islamkritik rassistisch sein? Aber natürlich – das ist sie sehr oft. Ist Islamkritik als Religionskritik deshalb auch zwangsläufig rassistisch und sollte sie unterbleiben, weil sie rechten und extrem rechten Akteuren zuspielen könnte, hinter deren Kritik gewöhnlich Rassismus steht? Der Einspruch der erkenntnistheoretisch ansetzenden negativen Dialektik liegt hier nicht in konkreten inhaltlichen Sätzen zu diesen Fragen; die ließen sich nur mit größter Mühe extrapolieren. Der Einspruch richtet sich gegen einen fetischistischen, sortierenden, subsumierenden Gebrauch der eigenen Begriffe. »Topologisches Denken, das von jedem Phänomen weiß, wo es hingehört, und von keinem, was es ist, ist insgeheim verwandt dem paranoischen Wahnsystem, dem die Erfahrung des Objekts abgeschnitten ward. Die Welt wird mit leerlaufenden Kategorien in Schwarz und Weiß aufgeteilt und zu eben der Herrschaft zugerichtet, gegen welche einmal die Begriffe konzipiert waren.« (Adorno 1951b: 28f.) ›Schwarz‹ und ›Weiß‹ meint hier keine rassistischen Kategorien; aufgespießt wird hier – von Adorno in der damaligen Diskussion gegen marxistische Abqualifizierung bloß

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›bürgerlicher‹ Kultur – der selbstgewisse Umgang mit den eigenen Begriffen. Sie dienen der Platzanweisung, nicht dem beweglichen Denken. So missverstanden nähern sie sich dem ›Wahn‹, gegen den sie antreten. Es wird wenige Sätze geben, die sich als Stellungnahme Adornos gegen Critical Whiteness Studies avant la lettre lesen lassen – vielleicht gar keine. Seine erkenntnistheoretische Gegenposition zu jenem sortierenden, platzanweisenden Umgang mit Begriffen, und seien es kritische, lässt jedoch wenig Zweifel daran, dass eine Kritische Theorie des Rassismus mit den Sortierungen dieser theoretischen Perspektive denkbar wenig zu tun hätte. Das identifizierende rassistische Denken produziert Widersprüche, weil es auf die Nicht-Passung der Identifizierten drängt. Und darin meldet sich dann – unter den Bedingungen falscher Gesellschaft – das Nichtidentische an. In einer Gesellschaft zwangsmäßiger ›Totalität‹ tritt das Nichtidentische als Widerspruch auf und wird im Denken aber auch im Sozialen sichtbar. Dialektik als Denken in Widersprüchen braucht es nur in einer solchen Gesellschaft. In einer besseren Gesellschaft (und einem weniger gewaltsamen Erkennen) wäre das Nichtidentische eher bloß ›Differenz‹, aber nicht mehr Widerspruch. Das Nichtidentische gilt es, durch einen veränderten Umgang mit Begriffen zu retten und endlich zur Geltung kommen zu lassen.

5.5.2 Das Nichtidentische im Rassismus Rassifizierte Körper sind mit der Beschreibung und Zuschreibung, sie gehörten einer ›Rasse‹ oder ›Kultur‹ an, nichtidentisch (vgl. Hund 2006: 120). Rassifizierung ist eine grobe Subsumierung von Ähnlichkeit unter vermeintlich Gleiches und Statisches. Kritische Theorie bleibt allerdings bei der kognitiven Dimension dieser Rassifizierung nicht stehen, denn sie fragt auch nach den sozialen und psychologischen ›Gewinnen‹, die sich aus der Rassifizierung, aus der »Verfremdung« (Dahmer 2020: 38) anderer Menschen ergeben. Identität steht in der Kritischen Theorie doppelt unter Kritik: Sie ist der erkenntnistheoretische Reizpunkt der Dialektik; sie wird attackiert im Namen des Nichtidentischen. Die sozialpsychologische Identität hat nur sehr vermittelt damit zu tun – hier aber schon: Wo bestimmte Aspekte des Selbst ausgeblendet werden müssen, um eine stabile Identität zu sichern, da herrscht im Praktischen eine Gewalt, die im Epistemischen von jener des identifizierenden Denkens ausgeübt wird. Das Streben nach kollektiver Identität, die Überhöhung derjenigen Gruppe, der man sich selbst zuordnet bzw. der man per Zwangskollektivierung zugeordnet wird, bilden den Bezugspunkt zahlreicher Rassismuskritiken. Kritik der Identität zielt darauf zu zeigen, dass vermeintliche Identität unabgeschlossen ist – und dass Nichtidentität in ihrem Verhältnis zum Identischen gedacht werden müsse (vgl. Bartonek 2011: 29). Identitätsdenken und -streben wird hier in seiner herrschaftsvollen Dimension kritisiert, oder wie Bartonek sagt: »Identität dafür zu kritisieren, dass sie dabei ist, das Nichtidentische zu ersticken« (ebd.: 45). Als falsch werden gesellschaftliche Verhältnisse hiernach nicht (nur) kritisiert aufgrund der falschen Subsumtion von Menschen unter eine Kategorie wie der ›Rasse‹ oder der Nicht-Repräsentation in den Bezugsrahmen der Mehrheitsgesellschaft, sondern weil die Unterdrückung des Nichtidentischen immer auch hilft, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu stabilisieren. »Identität ist die Urform von Ideologie. Sie wird als Adäquanz an die darin unterdrückte Sache genossen; Adäquanz war

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stets auch Unterjochung unter Beherrschungsziele, insofern ihr eigener Widerspruch.« (Adorno 1966: 151) So geht die Kritik am Identitätsdenken als epistemologischer Kritik mit ideologiekritischen Momenten zusammen. An anderer Stelle wurde bereits auf den Unterschied von Subjekt und Individuum hingewiesen – ein Unterschied, der auch für die Kritik des Identitätsdenkens von Bedeutung ist. Subjektivität ist eine spezifische Form der Vergesellschaftung in jenem gesellschaftlichen Zusammenhang, der die Selbsterhaltung von Menschen vermittelt. Subjektivität wird geformt im Zusammenwirken von »psychosozialer und sozialstruktureller Vergesellschaftung, in der die Individuen unter den Druck innerer und äußerer Anpassungszwänge geraten« (Becker-Schmidt 2004: 66). Der Subjektbegriff ist vom Begriff des Individuums abzugrenzen, da »das Verbindungsglied zwischen der Warengesellschaft und der objektiven Erkenntnisform […] das bürgerliche Subjekt [ist], also die spezifische Konstitution des Bewusstseins, die einerseits erforderlich ist, um in der waren- und geldförmigen Vergesellschaftung bestehen zu können […], und die andererseits das Erkenntnissubjekt haben muss, um zu objektiver Erkenntnis fähig zu sein. Es geht hier also nicht um die individuellen Unterschiede, wie es in der Sprechweise vom ›subjektiven Faktor‹ nahe gelegt wird, sondern um das, worin sich alle bürgerlichen Menschen gleichen bzw. was sie zu Gleichen macht: […] [d]ie Warenform […].« (Ortlieb 1998: 14) Das Subjekt ist abstrakt. Das Individuum hingegen ist der einzelne Mensch mit seiner Persönlichkeit, seinen Erfahrungen. Subjektivität ist das, was übrigbleibt, wenn eine Person nicht mehr Person sein darf (vgl. Adorno 1966: 275). Das Nichtidentische in der Auseinandersetzung von Individuum und Subjekt wäre das, was sich in der Subjektkonstitution als störend Individuelles anmeldet: »Was an den Menschen als intelligibler Charakter zu denken wäre, ist nicht das Personenhafte an ihnen, sondern wodurch sie von ihrem Dasein sich unterscheiden. In der Person erscheint dies Unterscheidende notwendig als Nichtidentisches.« (Ebd.: 273) Konzepte wie ›Rasse‹, ›Kultur‹, ›Volk‹ verbürgen Identität, auch wenn sie nur eine Außenzuschreibung sind. Mit individueller Identität, die sich aus persönlichen Erfahrungen gebildet hat, haben sie nichts zu tun. »Identität ist also nicht mehr an das Individuum gebunden im Sinne eines identischen Subjekts, das in der Lage ist, eine widersprüchliche Einheit der Persönlichkeit zu schaffen, die Ambivalenzen aushält, Kritik (auch an sich selbst) üben und reflektiert zu Urteilen gelangen kann, welche die unmittelbare Situation transzendieren.« (Stögner 2020: 274) Dennoch postulieren identitätsbezogene Kollektive stets »eine Art von Pseudo-Konkretheit und Pseudo-Erfahrung, die sie gegen universalistische Ideale« (ebd.: 272) vortragen. Kritische Theorie betrachtet darum Identitätspolitiken bereits als eine Reaktion auf die brüchig gewordene Möglichkeit und den Schein zu Erlangung von Identität. Identitätspolitiken, zu denen auch der Rassismus gehört, sind in dieser Hinsicht Identitätsprothesen, weil personale Identität nur oberflächlich gebildet wird (vgl. Meisenheimer 2009: 71).

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Der bereits dargelegte Befund eines zunehmend flexibilisierten Identitätsverständnisses widerspricht diesen Überlegungen zur Bildung kollektiver Identität nicht, sondern stützt diese. Denn individuelle wie kollektive Identität sind Teil eines Zusammenhangs der schlechten Vermittlung von Individuum und Gesellschaft. Während nämlich einerseits die neoliberale Ideologie auf eine Reflexion des gesellschaftlichen Gewordenseins des Individuums vollständig verzichtet, es abstraktifiziert, sehen andererseits kollektivistische Identitätsangebote im Einzelnen nur den Repräsentanten einer Gruppe ohne eine an Erfahrungen gebildeten individuellen Persönlichkeit (vgl. ähnlich Stögner 2020: 275). Sowohl für die personale Identitätsbildung wie für die kollektive lässt sich Identität also nur erlangen mittels praktischer Ausblendung des Nichtidentischen. Im Fokus einer kritisch-theoretischen Rassismuskritik steht darum die Kritik der kollektiven Identität – nicht nur der zugeschriebenen, auch der selbst angenommenen. Kollektive Identität ist instrumentell; sie wird hergestellt, um etwas zu erreichen, zu kompensieren, zu unterscheiden, zu trennen, zu rechtfertigen, auszugrenzen. Kollektive Identität wird gebildet um ›Rasse‹, ›Ethnie‹, ›Volk‹, ›Kultur‹, ›Nation‹. Kollektive Identität ist wirkmächtig, weil sie psychologisch greift und kognitiv überzeugt. Kollektive Identität macht gleich. Was aber passiert im individuellen wie kollektiven Prozess der Identitätsbildung mit all jenen Aspekten einer Person, die sie nicht an sich liebt oder die gesellschaftlich verpönt sind? Was tun mit diesen Anteilen des Selbst, die man nicht an sich akzeptieren kann? Bereits in der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in der Dialektik der Aufklärung beschreiben Horkheimer und Adorno die pathische Projektion – die Übertragung ungeliebter Anteile des Selbst auf dafür geeignete ›Fremdgruppen‹-Angehörige. Für den Rassismus ist die Bildung kollektiver Identität zentral. Das Konzept der pathischen Projektion macht deutlich, wie der kritisch-theoretische Zugriff auf Erfahrung sich von der Bezugnahme der phänomenologischen Perspektive scheidet. Das Subjekt subsumiert im Wahrnehmen (willkürlich) Eindrücke, Erfahrungen, Kategorien etc. nicht nur unter allgemeine Begriffe, sondern auch unter Identitätskategorien, wie das ›Eigene‹ und das ›Fremde‹. Der sich daraus entwickelnde Rahmen aus Begriffen und Kategorien bildet den Bezugspunkt für Fremd- und Eigenzuschreibungen. Erfahrung ist auch als vorrationale bereits gesellschaftlich. Und Rassismus übersteigert gewissermaßen diesen Prozess des Alterierens und macht sich blind gegenüber der Reflexion der Verwobenheit des vermeintlich Eigenen mit dem als fremd Erachteten. Fremdes wirkt vertraut, wird aber abgewehrt. »Die von Zivilisation Geblendeten erfahren ihre eigenen tabuierten mimetischen Züge erst an manchen Gesten und Verhaltensweisen, die ihnen bei anderen begegnen, und als isolierte Reste, als beschämende Rudimente in der rationalisierten Umwelt auffallen. Was als Fremdes abstößt, ist nur allzu vertraut.« (Horkheimer/Adorno 1947: 206) Kollektive Identität sucht das Identische, und sie braucht dazu den vermeintlich Abweichenden, den ›Anderen‹, den ›Fremden‹ als Kontrastfolie. Auf jenes vermeintlich ›Andere‹ wird das getilgte Vertraute des eigenen Selbst projiziert. Um draußen zu bleiben, muss es jemand anderem untergeschoben werden. Ein Teil des Rassismus – neben dessen objektiver Rechtfertigung von Ungleichheit als Ideologie (vgl. dazu das sechste Ka-

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pitel), ist demnach auch diese psychologische Absicherung. In der Projektion wird die schmerzhafte Erkenntnis abgewehrt, dass die Identität brüchig, unvollständig, reduziert ist und dass sie jederzeit zerstört werden kann, wenn diese ungeliebten Anteile nicht externalisiert werden. Projektion macht das innere Nichtidentische zum äußeren Widerspruch. Was aber wäre eine utopische Vorstellung zur Stellung von Identität? »Utopie wäre die opferlose Nichtidentität des Subjekts« (Adorno 1966: 275), schreibt Adorno in der Negativen Dialektik. Für die kritische Theorie wäre Ideal die Nichtidentität: Sie steht für die Sehnsucht nach gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen Individuen sich auf der subjektiv-psychologischen Ebene »nicht zu identischen Personen verhärten müssten« (Wallat 2009: 562); Individuen sich auf einer politisch-gesellschaftlichen Ebene »in ihrer Autonomie und Diversität anerkennen würden« (ebd.) und auf der Ebene gesellschaftlicher und individueller Naturverhältnisse »der Bann der schlechten Alternative zwischen Unterwerfung unter oder Herrschaft über Natur gebrochen wäre […], da sie ihre innere und äußere Natur als nichtidentische Bedingung ihrer Existenz eingedenkend anerkennen könnten« (ebd.: 562f.). Die Emanzipation des Nichtidentischen zu denken, zielte darüber hinaus im Konkreten auf die Abschaffung der historisch gewachsenen Zwangsidentitäten unter nationale, ›völkisch‹-definierte, ›rassisch‹ definierte oder stabil kulturell definierte Kollektive (vgl. ebd.: 563).44 Kritischer Theorie geht es um den Überschuss des durch Identifizierung Erfassten, welches sich im Nichtidentischen verbirgt. »Erst das Austragen der Widersprüche, ihre Entfaltung und das durch sie Hindurchgehen, kann das aufschließen, was das Mehr der Objekte ist. Das Nichtidentische ist also ein vermitteltes, das nur durch die Vermittlung hindurch erkennbar ist, während der Poststrukturalismus Vermittlung als rein herrschaftliche Kategorie, als gewaltsame identitäre Stillstellung der alles übersteigenden Differenz verwirft und in unabschließbarer Bewegung dekonstruieren, die Spaltung verewigen will.« (Gruber 2014: 87) Was ist nun aber das Nichtidentische im Rassismus? Identität und Nichtidentität sind dialektisch aufeinander angewiesen. Sie definieren sich gegenseitig, so Bartonek (2011: 12). Es wurde bereits gezeigt, dass nach Miles die Rassenkonstruktion als dialektischer Prozess erfolgt, insofern diejenigen, die ein körperliches Merkmal zum Rassenkriterium erheben, dies im Bewusstsein tun, dass dieses Kriterium nicht nur auf eine andere so festgeschriebene Gruppe, sondern auch auf das eigene imaginäre Kollektiv angewendet wird (vgl. Miles 2000: 21). Deshalb wählen Rassentheoretiker:innen nur solche Merkmale aus, bei denen sie selbst besser abschneiden (fleißig-faul, klugdumm, wohlgeformt-unförmig). Selbst wenn eine Eigenbezeichnung noch gar nicht feststeht: In dem Moment, in dem jemand anderes als ›schwarz‹ klassifiziert wird (und nur als das), schließt das ein, dass die klassifizierende Person auch eine Farbzuweisung braucht. »Das ›Schwarz-Sein‹ der Afrikaner widerspiegelte daher das ›Weiß-Sein‹ der

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Für Wallat ist darüber hinaus die »Aufhebung des binären Geschlechternormativismus und auch die Überwindung der herrschaftsförmigen Konstruktion der Menschheit in Differenz zum Tier« (Wallat 2009: 563) von zentraler Bedeutung.

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Europäer: Diese Gegensätze gehören zusammen, jeder gab dem anderen seine Bedeutung innerhalb eines umfassenden Vorgangs der Bedeutungskonstitution.« (Miles 1989: 101) Der Kritik des Identifizierens geht es nicht darum, das Nichtidentische in die Identität reinzuholen, sondern es der »Bewegung des Identifizierens« (Bartonek 2011: 12f.) zu entreißen. Adorno hat sich dem Nichtidentischen als Erkenntnistheoretiker zugewandt – auch wenn er an verschiedenen Stellen die Unterdrückung des Nichtidentischen immer wieder mit gesellschaftlicher Gewalt kurzschließt. Er begründet diese Übertragungen auf das Soziale aber nicht soziologisch. Ich will versuchen, Adornos Überlegungen soziologisch zuzuspitzen: Im Zusammenhang mit der klassischen Praxis der Rassifizierung werden jene Menschen zum Widerspruch für das identifizierende Denken, die als nichtdazugehörig zu einer definierten Gemeinschaft angesehen werden. Das betrifft auch jene Menschen, die in rechtlichen Regelungen oder Gleichheitsversprechen real nicht vorkommen. Der Begriff des Nichtidentischen kann für die Rassismusanalyse, konkret – im Prozess der Rassifizierung, der darauf zielt, absichtlich auszugrenzen – nur dialektisch eingesetzt werden. Der Prozess der Rassifizierung ist eine solche Ausgrenzung: »[D]ie Identität bildet sich durch die Identifizierung von Nichtidentischem, als dadurch subsumiert unter allgemeinen Begriffen, aber sie degradiert das Nichtidentische zum »›Abfallprodukt‹« (Bartonek 2011: 58) Im Abschnitt zur Idiosynkrasie zu Beginn dieses Kapitel wurde gezeigt, dass in der idiosynkratischen Reaktion bereits etwas von der Verdrängung des Nichtidentischen angelegt ist: Mit dem rassifizierten ›Anderen‹ scheint etwas auf, dass sowohl psychologisch wie erkenntnistheoretisch als das Nichtidentische gedeutet werden kann. Nichtidentisch sind die Rassifizierten in Hinblick auf eine Gemeinschaft, zu der sie nicht gehören sollen; aber der Rassismus macht sie identisch als Gruppe, der sie zugeschlagen werden. Nichtidentisch ist nicht allein das, was einfach übersehen, begrifflich nicht erfasst wird. Das Übersehen, das Ignorieren ist ja gerade das, was in vielen Rassismuskritiken als Moment des Rassismus beschrieben wird. Mit dem Konzept des Nichtidentischen könnte so eine Praxis des Ignorierens, die sich beispielsweise in dem Vorwurf des Ignorierens objektiver sozialer Unterschiede, aber auch der ungenügenden Repräsentation und des Nicht-Gehörtwerdens in der politischen und medialen Öffentlichkeit, durchaus auch in den Blick genommen werden. Allerdings stößt der Rassismusbegriff hier, wie schon in der Diskussion um den institutionellen Rassismus auf eine Grenze: Wieviel Intentionalität braucht es, um eine Ausgrenzungspraxis als Rassismus qualifizieren zu können? Nicht also geht es darum, alle Menschen unter eine hegemoniale Gruppe zu subsumieren und so niemanden mehr auszuschließen, sondern um ein Neben- und Miteinander des Einzelnen ohne den Zwang zur kollektiven Zuordnung. Der Status des Begriffs des Nichtidentischen für die Rassismusanalyse ist widersprüchlich: Einerseits dient er in der eben beschriebenen Miles’schen Diktion dazu zu zeigen, dass der Rassismus ohne das Nichtidentische – ohne das konstruierte Kollektiv der Rassifizierten – nicht existieren kann, weil die Rassifizierenden ohne diese Abgrenzung keine Identität bewahren können. Der Bezug auf Adornos Nichtidentisches, auf jene brutale Form des Identifizierens, verweist darauf, wie nötig das Identifizieren nach außen zu den Anderen ist, um die Identität im Inneren zu etablieren und zu bewahren. Das Nichtidentische droht stets aus dem Hintergrund, die angestrebte Geschlossenheit von Identitätskonstruktio-

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nen gerade in Bezug auf ›Rasse‹, ›Volk‹, ›Nation‹ etc. zu gefährden. Andererseits ist die Anerkennung des Nichtidentischen jenseits der Klassifizierung und Subsumierung, also jenseits des Kollektivs, der Ort, an dem die Unterdrückung durch die Zwangsidentifizierung enden kann. Fraglich bleibt also, ob das Nichtidentische sichtbar gemacht werden muss – oder ob das Nichtidentische zum Hoffnungsträger für eine gesellschaftliche Veränderung werden kann. Niemals aber sollte das Nichtidentische einfach nur unter das Identische subsumiert werden. Das Ende der Unterdrückung bezieht sich dann im Fall des Rassismus weniger auf die erkenntnistheoretische Dimension in der kategorialen Begriffsbildung, um der es Adorno ging, sondern um ein Ende der Unterdrückung von Menschen durch Menschen, deren Existenz sich dieser Zwangskollektivierung ›verdankt‹. Gleichwohl, und darauf weist Bartonek auch hin, falle die Entdeckung des Nichtidentischen nicht mit der gesellschaftlichen Veränderung zusammen. Kritik liege in der Möglichkeit eines Bruchs mit dem umfassenden Identitätsdenken; über das Nichtidentische könne Kritik am Identischen formuliert werden. Das hervortretende Nichtidentische verzaubere sich nun aber keineswegs (zwangsläufig) in ein ›revolutionäres Subjekt‹ (vgl. Bartonek 2011: 21–24). Selbst wenn also Rassifizierte als das Nichtidentische der Mehrheitsgesellschaft gelten sollen, so sind sie deshalb nicht die alleinigen Träger von Erkenntnis, nicht automatisch und nicht nur Träger der gesellschaftlichen Veränderung. Kritische Theorie wendet sich in ihrer Kritik der Zwangsidentität nicht gegen das Subjekt. Sie will ein Subjekt, das in einem anderem Selbstverhältnis steht, die eigene ›Identität‹ anders, weniger gewaltsam herstellt. Selbst das noch so integrierte Individuum kann nie völlig identisch mit einem Kollektiv sein, dem es sich unterordnet. Ob diese unvollständige Übereinstimmung mit dem Kollektiv dem Individuum zu Bewusstsein kommt, und wie diese Nicht-Übereinstimmung reflektiert wird, hängt an den gesellschaftlich wechselnden Möglichkeiten von Autonomie und Anpassung. Ob »das Leid der Nicht-Identität verdrängt oder sublimiert wird, entscheidet das Individuum«, so Meisenheimer (2009: 71, FN 7).

6 Rassismus und gesellschaftliche Objektivität

Was aber macht den materialen Kern, die Strukturen einer Gesellschaft aus, in der Rassismus sich so hartnäckig hält? Die bürgerliche Gesellschaft ist die Sozialformation mit dem »höllenhaften Zwangscharakter des Ganzen, unter dem wir alle leiden« (Adorno 1968a: 144). Sie wird in ihren stabilen Momenten als kapitalistisch organisiert und alle Lebensbereiche durchwaltend beschrieben, in den sich wandelnden Konstellationen seit den 1970er Jahren als aktivierende Gesellschaft. Diese treibt die von der frühen Kritischen Theorie bereits beschriebenen Tendenzen der Selbstunterwerfung weiter voran, d.h., die Verinnerlichung von Herrschaft und Autorität auf einen bislang unerreichten Punkt. Dabei nehmen in vielen Bereichen der Gesellschaft offene Hierarchie- und Autoritätsverhältnisse ab und werden durch Appelle an Eigenverantwortung und Selbstsorge mit der Aufforderung ergänzt, Gemeinschaftssorge immer mitzudenken (vgl. Lessenich 2009). Der Darstellung dieser objektiven Strukturen dient das nächste Kapitel. Im Folgenden werden jene Aufnahmen der marxschen Kritik der politischen Ökonomie durch Kritische Theorie herausgegriffen, die relevant sind für die Rassismusanalyse.1 Ich beziehe mich in erster Linie auf Analysen zeitgenössischer Theoretiker:innen, die in der Tradition der frühen Kritischen Theorie stehen. Zum Gegenstand der Kritik werden dort die ökonomischen Verhältnisse nicht traditionsmarxistisch als ›Basis‹, auf der dann die handlungsorientierte Sozialwissenschaft einen ›Überbau‹ ausfindig macht. Sie werden Gegenstand, weil aus den ökonomischen Formbestimmungen die Bedingungen und Apriori der Zwecksetzungen menschlichen Handelns entwickelt werden. Der zentrale Nexus dieses Kapitels ist hierbei einerseits die von Marx kritisierte ›Geneseblindheit‹ des bürgerlichen Denkens – sozial Gewordenes, ein ökonomisch vermitteltes Herrschaftsverhältnis, erscheint als Natürliches. Andererseits ist die Ideologiekritik nicht nur eine an dieser Geneseblindheit, sondern auch eine an der verfehlten Realisierung der bürgerlichen Freiheits- und Gleichheitsversprechen (6.1). Im Anschluss 1

Dirk Braunstein legt in seiner Arbeit Adornos Kritik der politischen Ökonomie (2011) dar, dass die Ökonomie für Adornos Gesellschaftskritik stets eine zentrale Bedeutung eingenommen hat, wenngleich eine Kritik der politischen Ökonomie von Adorno nie systematisch entfaltet wurde (vgl. Braunstein 2016: 13). An anderer Stelle zeigt Braunstein, dass für Adorno v.a. Klassenbewusstsein, zweite Natur, Fetischformen, Verdinglichung und Totalität bedeutungsvoll sind (vgl. Braunstein 2010: 5).

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an diese grundsätzlicheren Erwägungen konkretisiere ich einige Aspekte: zunächst die Überausbeutung von Arbeitskräften im Rassismus und die rassifizierte Konkurrenz (6.2). Welche Rolle der Staat im Zusammenwirken mit dem Kapital und für die Aufrechterhaltung des Rassismus spielt, wird zum Gegenstand des dritten Abschnitts (6.3). Das Kapitel schließt mit Überlegungen zur Frage, ob die Ideologiekritik als immanente Kritik eine geeignete Methode zur Analyse und Kritik des Rassismus ist (6.4).

6.1 Gesellschaftliche Objektivität im Blick Kritischer Theorie Ökonomische Formbestimmungen meint etwas anderes als Wirtschaft: Logiken des Warentauschs und der Arbeitskraftverwertung durchziehen in der Perspektive der Kritischen Theorie auch Lebenswelten jenseits des Arbeitstages. Und in dieser Variante des Marxismus liegt eine Abkehr von individualistischer ebenso wie von moralischer Betrachtung: Nicht die Anklage einzelner Menschen als besonders egoistisch, herrschsüchtig oder geldgierig, nicht ihre Pathologisierung unter eine besondere psychologische Diagnose ist Interesse solcher Theorie, sondern die Darstellung von Strukturzusammenhängen des Kapitalismus, die Menschen klassenübergreifend nötigen, ökonomische Funktionen auszufüllen. Moral, Verantwortung, Charakter sind zwar nicht abwesend oder irrelevant, aber sie bieten keine Erklärung dafür, warum ein Kapitalist kapitalistisch handelt oder Arbeitende Tag für Tag zur Wiederaufnahme ihrer Ausbeutung erscheinen. Adorno liest Marx in diesem Sinne sogar als ›Antipsychologen‹ (vgl. Backhaus 1997: 504, 509). Wer zum Zwecke der Sozialtheorie beim Subjekt ansetzt – sei es moralisch, sei es psychologisch, sei es individualistisch handlungstheoretisch, der spielt die Übermacht und Gewaltsamkeit des kapitalistischen Gesamtzusammenhanges herunter. Wichtig für meine Frage wird im Folgenden werden, wie diese antipsychologische Lesart Marxens sich vermittelt mit Adornos »Wendung aufs Subjekt«, also der expliziten Hinwendung zur Psychoanalyse aus gesellschaftstheoretischen Gründen, die in Kapitel 7 abschließend thematisch werden wird.

6.1.1 Kapitalismus als soziales Verhältnis Für die Soziologie früher Kritischer Theorie ist der Kapitalismus also nicht nur ein ökonomisches System, sondern eine institutionalisierte soziale Ordnung (vgl. Fraser 2019: 66) bzw. ein soziales Verhältnis (Postone 2004: 3). Es unterscheidet sich von sozialen Verhältnissen vorkapitalistischer Phasen, die noch durch persönliche Herrschaft gekennzeichnet waren. Im Kapitalismus hingegen nimmt der Austausch mit der Natur, die arbeitsteilige Reproduktion des Lebens eine historisch spezifische Form an: abstrakte, darin vergleichbare Arbeit. Und mit ihr entsteht der Wert als eine spezifische Form gesellschaftlichen Reichtums (vgl. ebd.: 3f.). Der Adorno- und Marcuse-Schüler Moishe Postone hat die Erkenntniskritik der Kritischen Theorie seine Neulektüre der marxschen Ökonomiekritik leiten lassen. Postone scheidet die historisch-spezifischen Elemente der marxschen Analyse, die den Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts zum Gegenstand hatten, von den strukturorientierten Begriffen der Waren-, Wertund Geldformanalysen. Und er wirft seinem Gegner, dem ›Traditionsmarxismus‹ dann

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an diese grundsätzlicheren Erwägungen konkretisiere ich einige Aspekte: zunächst die Überausbeutung von Arbeitskräften im Rassismus und die rassifizierte Konkurrenz (6.2). Welche Rolle der Staat im Zusammenwirken mit dem Kapital und für die Aufrechterhaltung des Rassismus spielt, wird zum Gegenstand des dritten Abschnitts (6.3). Das Kapitel schließt mit Überlegungen zur Frage, ob die Ideologiekritik als immanente Kritik eine geeignete Methode zur Analyse und Kritik des Rassismus ist (6.4).

6.1 Gesellschaftliche Objektivität im Blick Kritischer Theorie Ökonomische Formbestimmungen meint etwas anderes als Wirtschaft: Logiken des Warentauschs und der Arbeitskraftverwertung durchziehen in der Perspektive der Kritischen Theorie auch Lebenswelten jenseits des Arbeitstages. Und in dieser Variante des Marxismus liegt eine Abkehr von individualistischer ebenso wie von moralischer Betrachtung: Nicht die Anklage einzelner Menschen als besonders egoistisch, herrschsüchtig oder geldgierig, nicht ihre Pathologisierung unter eine besondere psychologische Diagnose ist Interesse solcher Theorie, sondern die Darstellung von Strukturzusammenhängen des Kapitalismus, die Menschen klassenübergreifend nötigen, ökonomische Funktionen auszufüllen. Moral, Verantwortung, Charakter sind zwar nicht abwesend oder irrelevant, aber sie bieten keine Erklärung dafür, warum ein Kapitalist kapitalistisch handelt oder Arbeitende Tag für Tag zur Wiederaufnahme ihrer Ausbeutung erscheinen. Adorno liest Marx in diesem Sinne sogar als ›Antipsychologen‹ (vgl. Backhaus 1997: 504, 509). Wer zum Zwecke der Sozialtheorie beim Subjekt ansetzt – sei es moralisch, sei es psychologisch, sei es individualistisch handlungstheoretisch, der spielt die Übermacht und Gewaltsamkeit des kapitalistischen Gesamtzusammenhanges herunter. Wichtig für meine Frage wird im Folgenden werden, wie diese antipsychologische Lesart Marxens sich vermittelt mit Adornos »Wendung aufs Subjekt«, also der expliziten Hinwendung zur Psychoanalyse aus gesellschaftstheoretischen Gründen, die in Kapitel 7 abschließend thematisch werden wird.

6.1.1 Kapitalismus als soziales Verhältnis Für die Soziologie früher Kritischer Theorie ist der Kapitalismus also nicht nur ein ökonomisches System, sondern eine institutionalisierte soziale Ordnung (vgl. Fraser 2019: 66) bzw. ein soziales Verhältnis (Postone 2004: 3). Es unterscheidet sich von sozialen Verhältnissen vorkapitalistischer Phasen, die noch durch persönliche Herrschaft gekennzeichnet waren. Im Kapitalismus hingegen nimmt der Austausch mit der Natur, die arbeitsteilige Reproduktion des Lebens eine historisch spezifische Form an: abstrakte, darin vergleichbare Arbeit. Und mit ihr entsteht der Wert als eine spezifische Form gesellschaftlichen Reichtums (vgl. ebd.: 3f.). Der Adorno- und Marcuse-Schüler Moishe Postone hat die Erkenntniskritik der Kritischen Theorie seine Neulektüre der marxschen Ökonomiekritik leiten lassen. Postone scheidet die historisch-spezifischen Elemente der marxschen Analyse, die den Industriekapitalismus des 19. Jahrhunderts zum Gegenstand hatten, von den strukturorientierten Begriffen der Waren-, Wertund Geldformanalysen. Und er wirft seinem Gegner, dem ›Traditionsmarxismus‹ dann

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vor, dass er historisch-spezifische Theorieaspekte – wie die Klassentheorie – falsch verallgemeinert als strukturale eingesetzt habe. Postone dagegen gewinnt aus seiner Betonung der Formanalysen einen radikal depersonalisierten Blick auf kapitalistische Verhältnisse. Der heutige Kapitalismus könne nicht mehr in Begriffen der Klassenherrschaft verstanden werden; die Analysen müssen aber weiterhin an Begriffen wie Warenfetisch, Geldform, dem Kapital als »automatische[m] Subjekt« (MEW 23: 169) etc. festhalten.2 In diesem Blick hat Herrschaft keinen spezifischen Ort, ja nicht einmal eine spezifische Trägerschaft mehr. Sie folge vielmehr »rationalisierten strukturellen Imperativen« (Postone 2004: 4). Obwohl Herrschaft durch umkämpfte Formen gesellschaftlicher Praxis entstanden ist, erscheint sie nun nicht mehr als gesellschaftliches Verhältnis, sondern als quasi-natürliche Bewegungsform von Handlungen, Kalkülen und Interaktionen. Und so sieht Postone nicht mehr das Proletariat als historisches Subjekt, sondern eher das Kapital: die »sich selbst bewegende Substanz« (ebd.: 5). Deren Dynamik, nicht die von Klassenkämpfen, präge die verschiedenen Phasen des Kapitalismus. Als sozial generierte Nötigung herrsche diese Dynamik weitestgehend unabhängig vom Wollen der Zivilgesellschaft und dem Handeln des Staats.3 Es ist eine Dynamik, die als historisch spezifische Form von Fremdherrschaft Selbstbestimmung limitiert (vgl. Postone 1999: 495). Postone ist die extreme, deutlichste Position eines von Frankfurt ausgehenden strukturorientierten Marxismus. Nirgends ist Marx’ Kapital weiter entfernt von einer Theorie allein der Wirtschaft; nirgends wird die Übermacht objektiver Formbestimmungen und sachlicher Eigenlogiken deutlicher betont. Denn Kritik der Ökonomie meint hier nicht nur die Kritik des Kapitalismus als wirtschaftlichem System; sie meint den daraus resultierenden »Umgang der Subjekte mit sich und mit anderen resp. Objekten« (Braunstein 2016: 390). Kapitalismus wird nicht nur als rein ökonomisches Verhältnis kritisiert, sondern als »Grundprinzip einer Vergesellschaftungsform, als Gesellschaftsformation, die ihrem Wesen nach alle Bereiche« (Greven 1994: 98) des Lebens einschließe. Als solcherlei Totalität bestimmt Kapitalismus erstens die gesellschaftliche Organisation der Arbeit als Lohnarbeit, zweitens soziale Institutionen, die sich ökonomischen Imperativen unterwerfen, und drittens die sozialpsychologische Prägung der Subjekte. Totalität

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Die Begründung dafür, warum Adorno ›seine‹ gegenwärtige Gesellschaft – trotz objektiv fehlendem Klassenbewusstsein und sich angleichender Konsumgewohnheiten – immer noch als Klassengesellschaft beschreibt, trifft auch noch ›unsere‹ gegenwärtige Gesellschaft. Der Grunddualismus zwischen Lohnarbeitenden und Eigentümern an Produktionsmitteln ist erhalten geblieben. »Noch die vielberufene Angleichung der Konsumgewohnheiten und der Bildungschancen jedoch rechnet zum Bewußtsein der Vergesellschafteten, nicht zur Objektivität der Gesellschaft, deren Produktionsverhältnisse den alten Gegensatz prekär konservieren. Auch subjektiv ist das Klassenverhältnis nicht so durchaus beseitigt, wie es der herrschenden Ideologie gefiele.« (Adorno 1965: 15) Eine Kritik an dieser absolut gesetzten Selbstläufigkeit des Kapitals formuliert Rosa im Berliner Journal. Die Corona-Pandemie habe gezeigt, dass politisches Handeln nicht notwendig den Interessen des Kapitals folgen müsse, wie herrschaftstheoretische und strukturdeterministische Theorien postulieren. Politik sei – in systemtheoretischer Diktion – nicht nur ein gleichberechtigtes Teilsystem neben anderen, sondern Politik ermögliche und erhalte funktionale Differenzierung, solange dies wünschenswert sei (vgl. Rosa 2020: 199, 202).

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heißt aber auch Verunsichtbarung des Gewordenen, Sozialen, Veränderbaren: der gesellschaftliche Äther, der so unsichtbar, so ›natürlich‹ wird, wie dem Fisch das Wasser. Solche Verobjektivierung, Formwerdung, Depersonalisierung und Naturalisierung von Herrschaft reduziert die Adressierbarkeit von Kritik. Dass Menschen von diesen Verhältnissen profitieren (und andere nicht), bedeutet nun nicht mehr, dass ihr Profitieren Movens oder Wesen der Ordnung wäre. Kritik richtet sich daher eher dagegen, dass der Gesamtzusammenhang selbst irrational ist, mithin den eigenen Möglichkeiten nicht gerecht wird. Das ist die zweite wichtige Pointe einer von Adorno-Horkheimer motivierten Marx-Lektüre: Was bei Marx als sprengendes Moment gedacht war, das Fortschreiten der Produktivkräfte, wird im »Spätkapitalismus« (Adorno 1968) zum Fixierenden. Die fortgeschrittenen Industrienationen verfügen zwar durch ihren »technisch-wissenschaftlichen Stand der Produktivkräfte und die Qualifikation des menschlichen Arbeitsvermögens« (BeckerSchmidt 2004: 74) über hinreichend gesellschaftlichen Reichtum, um für alle Menschen ein gutes Leben zu ermöglichen; diese Möglichkeit realisiert sich aber nicht. Diese Lücke zwischen objektiv Möglichem und dem real Vorhandenem entsteht durch eine ständige Steigerungsdynamik, die von partikularen ökonomischen Interessen angetrieben wird – und durch die Indienstnahme der Produktivkraftentwicklung zur Verfestigung der bestehenden Produktionsverhältnisse führt. Es geht um die Tendenz der Hypostasierung des Fortschritts um des Fortschritts willen – Fortschritt als Fortschritt der Mittel unter Absehung von ihren Zwecken (vgl. Adorno 1962a: 623). Die an ›Frankfurt‹ geschulte, marxtreue Kritik der politischen Ökonomie, um die es hier geht, ist in diesen zwei Punkten also durchaus soziologisch – nicht wirtschaftswissenschaftlich: mit der Perspektive auf durch Formen bestimmte, depersonalisierte, abstrakte Herrschaft einerseits und Blockade des nach Stand der Produktivkräfte Möglichen in irrationalen, spätkapitalistischen politischen und kulturellen Arrangements andererseits. Kritische Theorie in diesem Sinne problematisiert, wie der Kapitalismus ein gutes Leben verhindert. Sie ist nicht ökonomische Theorie, noch weniger aber ist sie Verteilungsethik. Die Fokusverschiebung der Kritischen Theorie ab den 1940er Jahren hin zu kulturellen Phänomenen reagiert auf die Diagnose, dass der Kapitalismus, der den Zeitpunkt der ökonomischen Möglichkeit seiner Überwindung überlebt, zunehmend in alle sozialen Teilbereiche expandiert. Die Kulturindustriethese ist darum nicht zuvorderst eine Kritik am Herabsinken des kulturellen Niveaus, sondern eine Kritik an der warenförmigen Organisation von Kultur, mittels derer vormals sprengende, transzendierende Kräfte zu zementierenden, reproduzierenden werden. Kulturindustrie verdoppelt und reproduziert Kapitalismus, der nicht mehr sein müsste, in dem sie die Menschen und ihre ›Kultur‹ auf das, was ist, vereidigt. Und auch die Rede von der »verwalteten Welt« ist nicht bloß Kritik an der bürokratischen Organisation moderner Gesellschaft, auch wenn Adorno von einem »Primat der Administration« (Adorno 1970: 372) spricht. Sie registriert stattdessen den Wandel von einer »marktzentrierten zu einer bürokratischen, staatszentrierten Form« (Postone 1999: 490) des Kapitalismus. Die kapitalistische Gesellschaft erscheint in ihrem Entwicklungsverlauf zunehmend als zweite Natur, ebenso schicksalhaft und unveränderlich wie die erste, die es zu beherrschen gilt. Dieser Prozess »realisiert sich über die Köpfe der zusammenwirkenden Subjekte hinweg, die sich der geschichtlichen Konstitutionsbe-

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dingungen jener politisch-ökonomischen Formation, in der auch Kultur weitgehend zu Kulturindustrie gemünzt wird, nicht bewusst sind« (Becker-Schmidt 2004: 73). Wenn alle sozialen Beziehungen vorab über Tauschbeziehungen organisiert sind, erscheint Gesellschaft als zweite Natur (vgl. ebd.). Solche Betonung der Strukturmomente des Kapitalismus birgt Gefahren: Dem Postoneschen Strukturalismus werden zu schnell alle Katzen grau. Nationale Besonderheiten, historische und milieubedingte Differenzen, Kontingenzen und besondere politische Ordnungen – schnell erscheint all das sekundär, bloß abgeleitet vom universalen Verhängnis der Tauschgesellschaft. Dieser Gefahr ist zu begegnen: Das einzelne, besondere Phänomen muss besser verstanden werden durch seine Beziehung auf das Ganze; das ist das Gegenteil des Vorhabens, alles Einzelne im Ganzen verschwinden zu lassen. Wenn im Folgenden also jene gesellschaftsstrukturellen Ursachen des Rassismus in modernen kapitalistischen Gesellschaften dargestellt werden, dann ist damit keineswegs gesagt, dass sich aus ihnen heraus in jeder sozialen und historischen Situation Rassismus (einer bestimmen Form) ableiten muss. Gleichwohl bilden kapitalistische Strukturen moderner Gesellschaften die Basis ideologischer Bewusstseinsformen, zu denen auch der Rassismus gehört. Rassismus verzahnt sich mit den Logiken des Kapitalismus – wie der Konkurrenz und der Selbstverwertung des Kapitals. Nicht ist die konkrete Form dieses oder jenes Rassismus mit Marx’ Wertform zu erklären. Wohl aber ist zu zeigen, »wie sich in den Widersprüchen4 der Ökonomieform die objektive Möglichkeit des Rassismus verbirgt« (Schmitt-Egner 1976: 352).

6.1.2 Die Historizität des Kapitalismus und seiner Kritik Kritische Theorie betont den Zusammenhang von gesellschaftlicher Struktur des Kapitalismus und spezifischer historisch-sozialer Verarbeitungsformen von gesellschaftlichen Krisen und Problemen. Eine Verarbeitungsform ist der Rassismus.5 Die Entwicklung des Kapitalismus vom Merkantilismus über den liberalen Kapitalismus und den Fordismus bis zum heutigen neoliberalen Kapitalismus hat, wie Postone schreibt, eine Dynamik hervorgebracht, die einerseits die gesellschaftliche Produktion und das Leben fortlaufend verändert und andererseits stets ein gleichbleibendes universales Muster erhält. Diese Verbindung aus dem Neuen und dem Gleichem bezeichnet Postone als historische Dynamik des Kapitalismus (vgl. Postone 2004: 2, 5). Das Gleichbleibende erkennt

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Die Rede von immanenten Widersprüchen bezieht sich in der Kritischen Theorie »auf das Gefüge einer Gesellschaft, auf eine sich selbst erzeugende ›Nicht-Identität‹, die den Strukturen ihrer Verkehrsformen innewohnt und die deshalb kein stabiles einheitliches Ganzes bilden« (Postone 2003: 147). Zu den Strukturgesetzten zählt Adorno in Anlehnung an Marx: »Wertgesetz, Gesetz der Akkumulation, Zusammenbruchsgesetz. Nicht meint die dialektische Theorie mit Struktur Ordnungsschemata, in die soziologische Befunde möglichst vollständig, kontinuierlich und widerspruchslos sich eintragen lassen; nicht Systematisierungen also, sondern das den Prozeduren und Daten wissenschaftlicher Erkenntnis vorgeordnete System der Gesellschaft. Eine solche Theorie darf am letzten den Fakten sich entziehen, darf nicht nach einem thema probandum sie zurechtbiegen.« (Adorno 1968: 356)

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Postone in der »Subsumtion der Arbeit unter das Kapital« (ebd.: 5), weil in der »Dialektik von Wert und Gebrauchswert die Notwendigkeit solcher Arbeit« gründet (vgl. ebd.), wenn sich auch die historisch spezifischen Formen der Arbeit wandeln. Die Kritische Theorie interessiert jenes Verhältnis tieferliegender stabiler Strukturen hier und historischer Veränderungen dort, die Teil von »politischen Tagesgeschäften, kulturellen Moden, alltäglichen Handlungen und Gewohnheiten der Individuen« (Demirović 2019: 10) sind. Als »Kernstück der herrschenden Gesellschaftsordnung« (Horkheimer 1937: 209f.) bezeichnet Horkheimer in seinem programmatischen Aufsatz Traditionelle und kritische Theorie (1937) sehr nah an Marx die »private Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel« (ebd.) mit dem Ziel der Profitmaximierung. Veränderung zeichnet sich ab vor dieser Kontrastfolie des Konstanten. Denn weder bleiben alle marxschen Kategorien und die von Marx beschriebenen Entwicklungstendenzen für die frühe Kritische Theorie gültig, noch können wir heute ökonomiekritische Überlegungen der Kritischen Theorie einfach übernehmen. Besonders deutlich wird dieser ›Zeitkern‹ am Begriff der Ideologie: Die häufige Rede von ›rassistischer Ideologie‹ wird durch Konfrontation mit Marx und dann Adorno/Horkheimer nicht etwa gestärkt, sondern problematisiert. Im Denken des frühen Marx fanden sich mindestens vier Ideologieaspekte, deren Verbindung hoch umstritten ist und die angesichts der fragmentarischen, zur Selbstverständigung verfassten Texte nur extrapoliert werden kann: In der Deutschen Ideologie (vgl. MEW 3) von 1845/46 bezieht Marx Weltsichten, Denkformen und Selbstmissverständnisse auf die Funktion ihrer Träger in Staats- und Klassenherrschaft. Erstens steht Ideologie also für die statusgebundene Rechtfertigung von Herrschaft, für sozial interessiertes Sprechen, für die Abhängigkeit von gesellschaftlicher Funktion und Weltsicht. Zweitens und ausführlicher wird schon in dieser frühen Selbstverständigung die Teilung von materieller und geistiger Arbeit betont. Das Bewusstsein werde abgelöst, verselbständigt von einer bestimmten Praxis – und macht sich fortan von dieser Ablösung, von seiner eigenen Genese ein falsches Bild. Dieses Selbstmissverständnis führt der frühe Marx noch sehr eng mit dem Idealismus – seine frühe Ideologiekritik wendet sich nicht zuletzt gegen die Linkshegelianer. Diese meinen, mittels der Kritik im Geistigen, Begrifflichen die Realität zu verändern – Marx hingegen überführt die Setzung des Geistigen als einem Ersten, gleichsam Bestimmenden, der Ideologie. Denken ist abzuleiten aus sozialer Praxis, Veränderung ist ein Moment dieser Praxis – und das Selbstmissverständnis des Idealismus geht zurück auf die unreflektierte Trennung geistiger und körperlicher Arbeit. Der zweite Aspekt von Ideologie ist also das Selbstmissverständnis des Geistigen als setzend, autonom, wirklichkeitsstiftend; die Verkehrung der Beziehung zwischen Geist und sozialer Praxis. Diese trügerische Autonomie gegen soziale Praxis enthistorisiert zugleich die Welt: Der dritte Ideologieaspekt ist darum die Naturalisierung. So wie die sozialen Bedingungen des eigenen Denkens verschwinden, verschwinden ihm auch die sozialen Genesen seiner Gegenstände, nicht zuletzt des Menschen. Ideologie kennt keine historischen Individuen; sie versucht stattdessen, das Wesen des Menschen zu bestimmen. Als viertes fokussiert der bruchstückhafte, nirgends ausgearbeitete Ideologiebegriff von Marx/ Engels in Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (MEW 21) und in Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates (MEW 21) auf eine

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kritische Staatstheorie. Der Staat gilt Marx/Engels als erste ideologische Macht, die zweite sei das Recht. Und als wäre das noch nicht verworren genug, tritt nun die Frage hinzu, was mit dem Begriff der Ideologie beim reifen Marx der Kritik der politischen Ökonomie passiert. Der Marx des Kapitals, auf den sich auch Postone bezieht, spricht nicht mehr von Ideologie – der Ideologiebegriff ist hier aufgegangen in der Fetischismuskritik, in jenen »objektiven Gedankenformen« (MEW 23: 89), die als Wahrnehmung eines Objekts beschrieben werden, das von sich aus verkehrt erscheint. Der späte Marx radikalisiert gerade an Fragen der gesellschaftlichen Genese falscher Wahrnehmung, falschen Denkens seinen Objektivismus. Verkehrtes Denken ist adäquates Denken eines verkehrten Objekts – hier der Verkehrungen, die sich praktisch im Warentausch zutragen. Fetischkritik thematisiert den Umstand, dass im Kapitalismus Waren, Geld und Kapital mit quasinatürlichen Eigenschaften besetzt werden. Deren menschengemachter Charakter werde vom Anschein der Sachnotwendigkeit verborgen (vgl. dazu überblicksartig Schnädelbach 1969: 79–84; Hauck 1992: 8–20; Rehmann 2008: 24–54, 2016: 3–5; das Fetischkapitel in MEW 23: 85–98). Alle fünf Aspekte sind einerseits anschlussfähig, bleiben andererseits überdeterminiert für eine Theorie des Rassismus: die vier Aspekte des frühen, fragmentarischen Ideologiebegriffs – Funktionalität des Denkens und Sprechens für Position im Herrschaftsgefüge (1), idealistisches Selbstmissverständnis des Geistes (2), Naturalisierung (3), Staat als ideologische Macht (4) – und der Objektivismus der späteren Fetischkritik (5), auf den sich auch Postones Theorie des Antisemitismus bezieht. Horkheimer schreibt in einem frühen Aufsatz mit dem Titel Zum Problem der Wahrheit: »Die gegenwärtige Gesellschaftsform ist in der Kritik der politischen Ökonomie erfasst« (Horkheimer 1935: 311). Es drückt sich hier ein sehr einfacher Gedanke aus, dass nämlich Marx die gegenwärtige Gesellschaft treffend beschrieben habe. Dahinter aber wird es theoretisch anspruchsvoller: Warum kann eine Kritik des bürgerlichen Denkens über Ökonomie eine ganze Gesellschaft erfassen? Dass Marx das Ökonomische überhaupt in den Fokus seiner Kritik gerückt hat, hing nicht mit ›innertheoretischen Faktoren‹ – wie der Vorliebe für ein bestimmtes theoretisches Paradigma – zusammen, sondern mit einer grundlegenden Änderung der Form der Gesellschaft in Marxens Zeit. Die Form der Kritik wird folglich von ihrem Gegenstand – dessen Form und Inhalt – bestimmt (vgl. Städtler 2019: 287). Diese Änderung der Gesellschaft, die Marx beschreibt, ist der Wandel von einer feudalistischen zu einer bürgerlichen Gesellschaft mit ihren neuen Rechts- und Herrschaftsformen und einer neuen kapitalistischen Organisation der Gesellschaft, die zu einer Veränderung in allen Lebensbereichen führt. Im Horkheimer-Satz ist aber noch mehr ausgedrückt: Nicht nur, dass im Kapitalismus jede Gesellschaftswissenschaft einen Begriff vom Ökonomischen, von Warenform, Geld, Mehrwert, Kapital haben muss – sondern auch, dass die Kritik der bürgerlichen Ökonomie, die solche Gesellschaft durchdenkt (von Marx an bürgerlichen Ökonomen vorgeführt), zugleich eine Kritik an der Ratio bürgerlicher Individualität ist. Ideologie meint zwar, dass Geistiges sich trügerisch als Eigenständiges versteht, aber Ideologiekritik behauptet mit der Abhängigkeit des Geistigen keineswegs zugleich seine Irrelevanz. Ideologie ist relevantes Moment gesellschaftlicher Reproduktion.

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Besonders betrifft das die kapitalistische Form der Arbeit. Ein wichtiges Feld der Gesellschaftskritik eröffnet Marx mit seiner Analyse des Übergangs von einer personalen Herrschaft zu einer »Nicht-Anschaulichkeit gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen« (Städtler 2019: 289) unter bürgerlich-kapitalistischer Vertragsfreiheit: Ausbeutung tritt nun auf als rechtlich einwandfreier Tausch unter Gleichen – Arbeitskraft gegen Lohn. Bei Horkheimer und Adorno ist die Einsicht in die Nichtanschaulichkeit der Herrschaft in der Dialektik der Aufklärung auf die Formulierung der »Verkleidung von Herrschaft in Produktion« (Horkheimer/Adorno 1947: 197) gebracht: So wie Ausbeutung via Arbeit als gerechter Tausch erscheint, so erscheint das Ausbeuten seinerseits als Arbeit. Die Klassenunterschiede – Verfügung über Produktionsmittel und Kapital hier, Verfügung einzig über die eigene Arbeitskraft dort – verschwinden hintern diesen Verkehrsformen der Gleichheit: Vertrag und allseitige Arbeit. Während Herrschaft in der vorbürgerlichen Gesellschaft noch konkret in Interaktionen sichtbar wurde, ist sie in der bürgerlichen Gesellschaft abstrakt geworden – sie ist hinter dem Gesamtzusammenhang der gesellschaftlichen Beziehungen aufspürbar. In dem Maße, in dem gesellschaftliche Herrschaft abstrakt wird, sieht sich auch Gesellschaftstheorie zu Begriffen genötigt, die nicht unmittelbar Empirisches erfassen. Viele Begriffe der Marx-Adorno-Tradition thematisieren die Differenz zwischen verdecktabstrakter Herrschaft und empirischen Phänomenen: Wesen-Erscheinung, UrsacheWirkung, Totalität (vgl. Städtler 2019: 289), verwaltete Welt, gesellschaftliche Irrationalität, Verblendungszusammenhang, falsches bzw. ideologisches Bewusstsein usw. Mit der Auflösung der Leibeigenschaft werden die Menschen zwar formell frei, doch ihre Existenz hängt schon im frühen Kapitalismus weiter daran, dass sie ihre »Arbeitskraft zu Bedingungen der Produktionsmittelbesitzer verkaufen« (ebd.: 288), also jenen Menschen, die über Grund und Boden verfügen. Die Verfügung über Grund und Boden erlaubt es den Produktionsmittelbesitzenden – in konflikthafter Auseinandersetzung mit Arbeiter:innenkämpfen – darüber zu entscheiden, wie lange gearbeitet wird, wieviel Mehrarbeit geleistet wird. Das noch relativ direkte Herrschaftsverhältnis (weil es an Personen gebunden ist) wird im Laufe der Weiterentwicklung des Kapitalismus immer abstrakter. Das Maß an reproduktiver Arbeit wird zunehmend weniger; das Maß an Mehrarbeit steigt innerhalb eines Arbeitstages; das Streben nach Mehrwert treibt die Ausweitung der Arbeitsteilung in Maschinenarbeit an (vgl. ebd.: 289). »Dadurch […] wird die Arbeit dem Kapital ›reell‹ subsumiert: Arbeit und Kapital sind hier derart organisch vermittelt, dass es kein äußerlich erscheinendes Herrschaftsverhältnis mehr gibt, sondern Herrschaft ist in der veränderten Gestalt des Produktionsprozesses selbst inkorporiert.« (Ebd.) Ideologie verbrämt also Herrschaft, die sich in kapitalistischen Verhältnissen sachlich, objektiv, anonym vermittelt.

6.1.3 Das Versprechen bürgerlicher Gesellschaft: Freiheit und Gleichheit Schon für Marx war eine Beobachtung erklärungsbedürftig, die bis heute kritische Theorien umtreibt: Warum herrscht trotz ihrer Gleichheits- und Freiheitsversprechen eine ausgeprägte Ungleichheit in modernen, bürgerlichen Gesellschaften; eine Ungleichheit, die nicht nur als Widerspruch zur postulierten Gleichheit und Freiheit existiert, sondern mehr noch mit den Postulaten ihres Gegenteils eng zusammen zu hängen scheint? Be-

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reits bei Marx finden sich Gedanken zu dieser immanenten Widersprüchlichkeit – und zwar in der Vorstellung eines »doppelt freien« Lohnarbeitenden: »Zur Verwandlung von Geld in Kapital muss der Geldbesitzer also den freien Arbeiter auf dem Arbeitsmarkt vorfinden, frei in dem Doppelsinn, daß er als freie Person über seine Arbeitskraft als Ware verfügt, daß er andrerseits andre Waren nicht zu verkaufen hat, los und ledig, frei ist von allen zur Verwirklichung seiner Arbeitskraft nötigen Sachen.« (MEW 23: 183) D.h. also, dass Freiheit und Gleichheit erst über die Lohnarbeit etabliert werden; die rechtliche Gleichheit ist nicht einfach Trug, Fassade, Fälschung: Sie ist der Modus, in dem sich die soziale Ungleichheit durchsetzt. Während Menschen, die über kein Eigentum an Produktionsmitteln verfügen, ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen müssen – und dies bestmöglich für viel Lohn und eine kurze Arbeitszeit, haben die Produktionsmitteleigentümer:innen ein gegenteiliges Interesse: nämlich Arbeitskräfte zu beschäftigen, die möglichst billig sind und lange arbeiten. Marx’ Ideologiekritik wäre missverstanden, läse man sie als Skandalisierung von Lüge und Propaganda. Das Äquivalenzprinzip wird im Verkauf der Ware Arbeitskraft gerade nicht verletzt; und die Arbeitenden sind tatsächlich vertragsfrei. Im Austausch von Waren haben Freiheit und Gleichheit eine reale Basis; in ihm realisieren Menschen die formelle Freiheit der Selbstbestimmung (vgl. MEW 3: 6). Der Tauschakt enthält somit bereits die zentralen Momente des Rechts und der Ökonomie. Die Voraussetzung von Freiheit und Gleichheit ist die Durchsetzung der Warenform als allgemeiner Form der Arbeitsprodukte (vgl. Schmitt-Egner 1976: 358). Gleichheit realisiert sich als »›realer Schein‹ der Gleichheit« (ebd.: 359) in der Gleichsetzung der Tauschwerte in dreifacher Form: in den Subjekten als Tauschenden, in den Gegenständen des Austausches (unter Absehung der stofflichen Verschiedenheit der Gebrauchswerte) und schließlich im vermittelnden Akt des Tausches. Gleichheit ist durch die Form – Freiheit durch den Inhalt bestimmt (vgl. ebd.). Im Akt des Tausches wird die vollständige Freiheit des Individuums – juristisch verbürgt und durch die Annahme von Freiwilligkeit und Gewaltfreiheit ergänzt – vorausgesetzt. Aus dem einst von Personen verkörperten Abhängigkeitsverhältnis wird ein anonymer und damit undurchschauter Zwang, die eigene Arbeitskraft zu verkaufen. »Als reine Ideen sind sie [Freiheit und Gleichheit, U. M.] bloß idealisierte Ausdrücke desselben [des Austausches von Tauschwerten, U. M.], als entwickelt in juristischen, politischen, sozialen Beziehungen sind sie nur diese Basis in anderer Potenz.« (MEW 42: 170; siehe auch Schmitt-Egner 1976: 360). Die bürgerliche Gesellschaft ist also gekennzeichnet von Postulaten und Prinzipien, die sie nur einseitig, halbiert verwirklicht – deren Verwirklichung Modus ihres Gegenteils ist. Das nötigt zur immanenten Kritik. Die Kritik der Verhältnisse im Namen von deren eigenen Postulaten ist nicht allein politisch-normativ, sondern auch erkenntnistheoretisch motiviert. Aus der Analyse der Differenz von Idee und Realität, Wesen und Erscheinung, wird eben diese Realität, dies Wesen erst erkennbar. »Heute wird behauptet, die bürgerlichen Ideen Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit hätten sich als schlecht erwiesen; aber nicht die Ideen des Bürgertums, sondern Zustände, die ihnen nicht entsprechen, habe ihre Unhaltbarkeit gezeigt. Die Losungen der Aufklärung haben mehr

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als je ihre Gültigkeit.« (Horkheimer 1933: 184f.) Horkheimer verweist auf die Verzerrung und Bedeutungsverschiebung der aufklärerischen Ideen im Kapitalismus, weil Ideen – je nachdem unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen sie von welchen Akteuren ergriffen werden – ihren Sinn verändern. Die geschichtliche Lage der Menschen bestimmt über die Einheit und inhaltliche Bestimmung dieser Begriffe (vgl. ebd.: 185). Faktisch ist die bürgerliche Gesellschaft durch den Widerspruch der Gleichzeitigkeit von Freiheit und Unfreiheit, Gleichheit und Ungleichheit charakterisiert. Dabei handelt es sich nicht einfach nur um eine unzusammenhängende Koinzidenz. Rahel Jaeggi macht mit Blick auf das marxsche Verständnis von Ideologie darauf aufmerksam, dass »die Ideologie von Freiheit und Gleichheit selbst ein Faktor in der Entstehung des Zwangs und der Ungleichheit ist. Das heißt, diese ist produktiv wirksam in einer Weise bzw. mit dem Effekt, dass sie selber an der Verkehrung der in ihr verkörperten Ideen mitwirkt. Die normativen Ideale [Freiheit, Gleichheit, U. M.] sind also nicht etwa lediglich noch nicht vollständig verwirklicht, sie sind in ihrer Verwirklichung verkehrt.« (Jaeggi 2009: 274; Herv. i.O.) Was folgt aus diesen Rekonstruktionen des ideologiekritischen Programms immanenter Kritik für eine Theorie des Rassismus? Selbstverständlich kann es nicht darum gehen, die Ideenwelt des Rassismus gegen seine eigene ›Verwirklichung‹ beim ›Wort‹ zu nehmen. Rassismus birgt anders als das bürgerliche Freiheitsideal kein uneingelöstes Versprechen (vgl. dazu auch den Abschnitt zur immanenten Kritik unter 2.3). Doch das wäre nur die eindimensionale Lesart des Erkenntnisideals immanenter Kritik. Anspruchsvoller – und für eine Rassismustheorie interessanter – wird es, wenn wir Jaeggi (2009) folgen: Die Ideologie von Gleichheit ist selbst ein Faktor in der Entstehung von Ungleichheit; nicht die Nicht-Verwirklichung, sondern die verkehrte Verwirklichung ist das Problem. In diesem Sinn würde das Vorhaben, Rassismus immanent zu kritisieren, die These nahelegen: Der moderne Kapitalismus fördert rassistische Praxis und ihre Überwindung zugleich. Die Mechanismen der wiederholten Hervorbringung rassistischer ›Menschensortierung‹ sind dialektisch verwiesen auf die Mechanismen bürgerlicher Gleichheit und ihrer ideologischen Rechtfertigung. Konkretisieren ließe sich das am Verhältnis von Arbeitsmarkt und Rassismus: Blind gegen ›Rasse‹ treten sich Warenbesitzende als Gleiche gegenüber (das dem nicht so sein muss werden wir im nächsten Abschnitt sehen). Aber die vom Markt Ausgeschlossenen – z.B. durch Arbeitsverbote und Sprachbarrieren – fallen nicht in den Kreis dieser Gleichen. In der Sprache des Kapitals und der des Rassismus sind sie ›minderwertig‹. Minderwertig hier am Maß der universalisierenden ökonomischen Logik, minderwertig dort am Maß der partikularen Natur. Beide ›Minderwertigkeiten‹ treten in Kongruenz. Der Identitätszwang unterm Tauschprinzip übersetzt sich in das freiwillig, quasi in das Subjekt hineingelegte Bedürfnis, produktiv und nützlich zu sein. Wer das nicht kann, erscheint als das ›Andere‹. Der durch institutionelle Rassismen begründete Ausschluss vom Arbeitsmarkt lässt dessen universalistische, ›gleichmachende‹ und im Keim darin ›antirassistische‹ Tendenz kippen in das Gegenteil: Wer nicht teilhat, hat es wohl ›nicht verdient‹.

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6.2 Kritik der politischen Ökonomie und Rassismustheorie Drei Aspekte der an Marx orientierten Kritik der politischen Ökonomie sind in meinen Augen für eine Kritische Theorie des Rassismus wichtig: Die (Mehr-)Wertproduktion (6.2.1), Marx’ Begriff von Ausbeutung und Konkurrenz (6.2.2) und die von Marx nur rhapsodisch reflektierte Funktion des Staates (6.2.3).

6.2.1 Mehrwert, Überausbeutung und Rassismus Was Werttheorie ist, das hat Alex Demirović pointiert zusammengefasst: »Die Werttheorie zielt auf eine bestimmte Form der Vergesellschaftung, in der sich durch die konkrete Tätigkeit der einzelnen hindurch abstrakt allgemeine gesellschaftliche Arbeit realisiert und dieser konkreten Tätigkeit ihren gesellschaftlichen Wert gibt. Nach diesem Kriterium kann sich Kapital in der Abpressung von Mehrarbeit sowohl in der Form der traditionellen Fabrikarbeit, als auch im Büro, bei der Herstellung von Software, der Produktion von Filmen, dem Unterricht an Privatschulen oder durch Sicherheitsdienstleistungen zum Gegenstand verwerten. Entscheidende Voraussetzung ist, dass die Arbeitskraft zu einer Ware wird.« (Demirović 1998: 88)6 Den Sachverhalt, dass Arbeitende während ihrer Arbeitszeit mehr Wert für Kapitalist:innen schaffen, als diese in Form von Lohn bezahlen müssen, nennt Marx Ausbeutung: Es ist ein deskriptiver, analytischer Begriff ohne normative Wertungsabsicht, der freilich seine normative Kraft dann genau daraus zieht: Dass gerade dann, wenn alles mit ›rechten Dingen‹ zugeht, wenn weder Gier noch besondere Niedertracht oder Gleichgültigkeit gegen Ungerechtigkeit herrschen, ausgebeutet wird. Ausbeutung geschieht im gleichen, rechtmäßigen Tausch, nicht in seiner Verletzung. Denn der Wert der Ware Arbeitskraft bestimmt sich aus der Arbeitszeit, die notwendig ist, um die Arbeitskraft der Arbeitenden zu erhalten. Mehrwert entsteht, weil Lohnabhängige länger arbeiten als dies zur Reproduktion ihrer eigenen Arbeitskraft erforderlich wäre: Sie leisten dann Mehrarbeit. Diese unbezahlte Mehrarbeit schafft wiederum Wert, den sich Kapitalist:innen aneignen: den Mehrwert. Gesetze des äquivalenten Tauschs werden hier nicht verletzt: Denn der Tauschwert der Ware Arbeitskraft ist das, was sie auf dem Arbeitsmarkt wert ist – ihr Gebrauchswert aber liegt, einmal eingekauft, in ihrer ›Anwendung‹. Und dass diese Anwendung darin besteht, Wert zu schaffen – und zwar mehr Wert als der eigene Tauschwert war, das ändert nichts daran, dass ihr Einkauf (für Lohn) mit rechten Dingen zuging. Aus dieser Theorie heraus gehen für Marx deshalb Forderungen nach ›gerechtem Lohn‹ fehl. Wo die Arbeitskraft von Nur-Arbeitskraftbesitzenden eine Ware ist, da geschieht Ausbeutung; sie liegt im Warencharakter der Arbeitskraft und nicht in der moralischen Fragwürdigkeit von Arbeitgeber:innen begründet. Genau jenes Verhältnis von Lohnarbeitenden und Geldbesitzenden aber ist kein naturgeschichtliches oder transhistorisches, allen Gesellschaften gleichermaßen innewoh6

Auf die Kritiken der neoklassischen Ökonomie an der marxschen und ›klassischen‹ Arbeitswerttheorie sowie auf innermarxistische Kontroversen kann hier nicht eingegangen werden. Tilman Reitz widmet sich in einer Arbeit diesen Problemen (vgl. Reitz 2018).

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nendes. Es ist »Resultat einer vorhergegangenen historischen Entwicklung, das Produkt vieler ökonomischer Umwälzungen, des Untergangs einer ganzen Reihe älterer Formationen der gesellschaftlichen Produktion« (MEW 23: 183). Das Unsichtbarmachen der gesellschaftlichen Genese dieses Verhältnisses bezeichnet Marx als Ideologie. »Das in ein Naturgesetz mystifizierte Gesetz der kapitalistischen Akkumulation drückt also in der Tat nur aus, daß ihre Natur jede solche Abnahme im Exploitationsgrad der Arbeit oder jede solche Steigerung des Arbeitspreises ausschließt, welche die stetige Reproduktion des Kapitalverhältnisses und seine Reproduktion auf stets erweiterter Stufenleiter ernsthaft gefährden könnte. Es kann nicht anders sein in einer Produktionsweise, worin der Arbeiter für die Verwertungsbedürfnisse vorhandener Werte, statt umgekehrt der gegenständliche Reichtum für die Entwicklungsbedürfnisse des Arbeiters da ist.« (MEW 23: 649; Herv. U. M.) Dieses Zitat von Marx verdeutlicht, worum es in diesem Abschnitt gehen wird: Kapitalistische Vergesellschaftung erscheint als Quasi-Natur, als zweite Natur – aber das ist nicht nur Trug, nicht auflösbare Fehlwahrnehmung auf Seiten des Subjekts; das ist auch adäquate Erscheinungsform einer Gesellschaft, die sich tatsächlich wie eine Naturgewalt gegen die Menschen verselbständigt hat. Diese Konstellation wieder sichtbar zu machen als menschengemacht und zugleich als objektiv, aus eigener Gesetzmäßigkeit heraus ›naturgewaltig‹ – das ist der Einsatzpunkt Kritischer Theorie. Sie schließt orthodox an Marx’ Mehrwerttheorie an. Sie kritisiert an der warenproduzierenden Gesellschaft den Schein von Naturhaftigkeit; sie skandalisiert zugleich aber die Organisation gesellschaftlicher Reproduktion, die ja Naturcharakter annimmt. Ideologie ist in diesem Sinne nicht Trug, nicht subjektiv auflösbare Fehlwahrnehmung, sondern die falsche Projektion einer adäquaten Wahrnehmung gesellschaftlicher Naturgesetzhaftigkeit in erste Natur. Das Gegengift ist der Blick auf die Genese, die Frage, warum und wie es so gekommen ist. Ein weiterer Einsatzpunkt: Das Primat der Rentabilität, der Kapitalverwertung und die Vernutzbarkeit von Menschen führt zu systemimmanenten Irrationalitäten kapitalistischer Gesellschaften in ihrer Spätphase. Adornos Begriff des Spätkapitalismus birgt keine Behauptung des »bald ist es vorbei« – er markiert die Differenz zum Hochkapitalismus im Sinne eines Rationalitätsverlustes. Nur um den Preis ›künstlicher‹ Korrekturen, Eingriffe, der Indienstnahme der Produktivkräfte für ihre eigene Fesselung – allerlei Irrationalitäten – kann das Produktionsverhältnis sich noch halten. Meißner schreibt zu dieser Irrationalität: »Diese Entscheidungen [nach Rentabilität, U. M.] werden dann auf dem Markt beurteilt, d.h. sie waren richtig, sofern es gelingt die hergestellten Produkte in ausreichendem Maß zu verkaufen, um einen Mehrwert realisieren zu können, unabhängig davon, welche Bedürfnisse dabei befriedigt werden. Ob die Befriedigung dieser Bedürfnisse gesellschaftlich wünschenswert ist und ob und inwiefern Bedürfnisse nicht befriedigt werden, weil sie nicht mit entsprechender Kaufkraft am Markt auftreten können, erscheint nicht als wirtschaftliche Problematik.« (Meißner 2019: 245)

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Als Home-Computer vor rund vier Jahrzehnten auf unsere Märkte kamen, verhießen sie, Arbeit leichter, kürzer, effizienter zu machen. Davon ist heute die Hoffnung auf mehr Arbeit übrig – am besten in der Computerbranche. Die Ratio des Spätkapitalismus lebt davon, sich gegen solche Erinnerungen abzudichten. Derlei Irrationalität fällt darum in den Bereich unbefragbarer, naturhaft erscheinender Grundbedingungen – nicht in den Bereich politischer Reflexion und Praxis. Für Postone, der orthodox an die marxsche Werttheorie anschließt, steht der Mehrwert nicht allein deshalb im Zentrum marxscher Kritik, weil der »Überschuß von der Arbeiterklasse produziert wird« (Postone 2004: 6), sondern auch weil diese Mehrwertproduktion »eine bestimmte Verlaufsform des Wachstums« (ebd.) abbildet, die zu katastrophalen Folgeerscheinungen für Menschen und Ökologie führen (vgl. zur Ökologieproblematik durch Wachstum auch die Metapher vom »vergifteten Kuchen«, Beck 1986). Wo Arbeitskraft die einzige Ware ist, die Mehrwert (und damit über Vermittlungen Profit) schafft, da verbietet die Systemlogik es, Produktivitätsfortschritte als kleine Schritte der Abschaffung von Arbeit zu realisieren – diese Fortschritte werden stattdessen Motor von ›Wachstum‹. Nicht Fabriken, nicht Massenproduktion, ja nicht mal Wachstum stehen per se unter der Kritik Kritischer Theorie, sondern die allgewaltige Prämisse der Erzielung von Mehrwert. Unter Kritik steht die Mehrwertproduktion, weil sie die Bedingungen und Konstellationen ihres Entstehens verschleiert und sich selbst als Natur darzustellen weiß. Dieser Schein des Naturcharakters liegt auf einer ganz anderen epistemischen Ebene als die Naturalisierung durch ›Rasse‹ – und doch haben sie über Vermittlungsschritte viel miteinander zu tun.

Wertgesetz und kolonialer Rassismus Inwiefern geht der Rassismus – man muss sagen: als Negation von Freiheit und Gleichheit – selbst aus dem Wertgesetz hervor? Warum unterläuft die bürgerliche Gesellschaft im Falle der »Kolonialideologie« ihre Basisideologie, nämlich die von Freiheit und Gleichheit, fragt Schmitt-Egner (1976: 363)?7 Die Ursachen finden sich im Zirkulationsprozess, der Arena von Freiheit und Gleichheit. Marx betont in seiner Mehrwerttheorie zwar, dass hier alles mit rechten Dingen zugehe – dass gerade die formelle Gleichheit, der vertragsgemäße Lohn, die Vertragsfreiheit, mithin das schiere Gegenteil der Sklaverei die moderne Lohnarbeit ausmache. Aber jenseits dieser Form hat sie einen Inhalt, der histo-

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Die europäische Expansion begann im 16. Jahrhundert. Kolonisation ist als Prozess der Invasion durch Eroberung und Siedlungsgründung bestimmt. Die daraus entstehende Kolonie ist gekennzeichnet durch die Kontrolle so genannter ›landfremder‹ Menschen und die Abhängigkeit vom ›Mutterland‹. Das sich daraus ergebende Herrschaftsverhältnis zwischen zwei Gesellschaften wird als Kolonialismus bezeichnet. Dabei wird die kolonisierte Gesellschaft nicht nur ihrer ›eigenen‹ Entwicklung beraubt, die Kolonialisierenden zeigten darüber hinaus keinen Anpassungswillen an die kolonisierte Gesellschaft und waren erfüllt von einem Gefühl der kulturellen Überlegenheit, woraus häufig ein ›Zivilisierungsauftrag‹ abgeleitet wurde (vgl. Grewe/Lange 2015: 11f.). Osterhammel betont zudem die Bedeutung von setzungsideologischen Rechtfertigungsdoktrinen, die die Höherwertigkeit der Kolonisator:innen begründen sollten (vgl. Osterhammel 1995: 20f.). Imperialismus wiederum fasst politische und militärische Maßnahmen zum Erwerb von Kolonien. Es handele sich »hierbei nicht nur um Kolonialpolitik, sondern um ›Weltpolitik‹, also um eine globale Strategie in Konkurrenz zu anderen Kolonialmächten.« (Grewe/Lange 2015: 16)

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risch nicht begreifbar ist ohne einen Begriff von Sklaverei. Zumindest sehen dies kolonialismuskritische Anschlüsse an Marx so. Als zentrale Erscheinungsformen des Kolonialismus8 bestimmt Schmitt-Egner Rassismus und Chauvinismus. Rassismus propagiert Ungleichheit, mehr noch eine Ungleichwertigkeit der Menschen; Chauvinismus die Überlegenheit einer Gruppe/ Nation.9 Der Widerspruch in der Gleichzeitigkeit von Aufklärung, der Durchsetzung von Menschenrechten hier sowie der Sklaverei im 18. Jahrhundert dort hat für SchmittEgner einen sozialökonomischen Grund im Verhältnis von kolonialer Wirtschaft und der Wirtschaft in den Metropolen, den so genannten ›Mutterländern‹ (vgl. SchmittEgner 1976: 364–366). Der Widerspruch, der zwischen den liberalen Doktrinen und der sie negierenden Sklaverei lag, wurde ›gelöst‹, indem Sklaven als Eigentum betrachtet wurden. Die Sklavenarbeit, schreibt Claussen, sei das ›Vorbild‹ jener Gewalt, die sich, freilich abgeschwächt, im Zwangscharakter der freien Lohnarbeit findet (vgl. Claussen 1994: 20). Die gesellschaftliche Genese des Rassismus verortet er in der »Kombination von Kolonialsystem und Sklaverei« (ebd.: 16). Rassismus, argumentiert Claussen, habe einen anti-emanzipatorischen und anti-modernen Grund. Er sei gegen die emanzipatorische Tendenz der Aufklärung gerichtet und gegen die liberalen und sozialistischen Demokrat:innen des 19. Jahrhunderts entwickelt, die im Zuge der Modernisierung auch das Verbot der Sklaverei forderten. Rassistische Ideologien im 19. Jahrhundert waren vor allem für diejenigen attraktiv, die egalitäre Vorstellungen zurückweisen wollten. Die rassistischen Theorien entstanden in der Zeit der aufklärerischen Moderne daher als Versuch, den Ausschluss von Menschen aus dem Gleichheitsversprechen zu begründen (vgl. ebd.: 16f.). Als Eigentum konnten sich Sklav:innen weder frei noch gleich als Tauschende im oben beschriebenen Sinne verhalten. Die versklavte Person bewegt nicht ihre Arbeitskraft zum Markte, sie wird bewegt. Sie ist nicht Subjekt, sondern Objekt. »Die Ideologie des Lohns entfällt hier, weil die Mehrarbeit im Gegensatz zu ihrer kapitalistischen Form nicht nur unbezahlt ist, sondern auch so erscheint.« (Schmitt-Egner 1976: 367) Dies änderte sich erst, als in Westeuropa und Nordamerika im 19. Jahrhundert das industrielle Kapital sich gegenüber dem Handelskapital durchzusetzen begann. Das industrielle Kapital benötigte ungebremsten Zugriff auf die Arbeitskraft jenseits von Traditionen

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Die Kolonialisierung als Aneignung von nicht-kapitalistischem Terrain und der damit verbundenen Freisetzung der Menschen als Lohnarbeiter:innen erfolgte im Rahmen der »ursprünglichen Akkumulation« (MEW 23: 744). Der Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Kolonialismus ergibt sich in dieser Perspektive historisch aus dieser Triebkraft der kapitalistischen Landnahme. Zur Unterscheidung von Rassismus und Chauvinismus nimmt Schmitt-Egner folgende Bestimmung vor: »Qualitativ unterscheidet er [der Chauvinismus; U. M.] sich insofern von der Rassentheorie, als er die von dieser postulierten naturgesetzlichen Superiorität einer bestimmten ethnischen Großgruppe (wie etwa ›weiße Rasse‹, ›nordische Rasse‹) auf ›Nationen‹ oder ›Völker‹ überträgt, wobei qua seiner Eigenschaften als ›überlegenes‹ Volk ihm das Anrecht, ja die Pflicht zukommt, das ›unterlegene‹ zu ›zivilisieren‹, d.h. zu unterwerfen.« (Schmitt-Egner 1976: 387) Demgemäß wäre Chauvinismus die Nationalisierung der Rassentheorie. Anders jedoch als der Ethnopluralismus verfährt der Chauvinismus offen mit seinen Überlegenheitsphantasien. Ebenso fehlt dem Ethnopluralismus die expansive Idee. Der Ethnopluralismus ist ein nach dem Nationalsozialismus gezähmter, in seine Schranken verwiesener Chauvinismus.

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und gesetzlichen Beschränkungen. In die Universalisierung der Warenproduktion über den gesamten Globus wurden auch die Kolonien einbezogen. Dieser Einbezug erfolgte nicht nur formell.10 In der neuen transkontinentalen Arbeitsteilung hatte die Arbeitskraftvernutzung weit unter dem Lohnniveau der Metropolen eine systematische Funktion. Auf begrifflicher Ebene brachte diese Universalisierung via Lohnungleichheit die Rassentheorien11 hervor (vgl. ebd.: 370). Die Warenform selbst enthält also die »widersprüchliche Einheit von Gleichheit und Ungleichheit«. Rassismus ist deshalb eine historisch notwendige Bewusstseinsform, weil hier die Gleichheit in der Zirkulation von der Ungleichheit in der Produktion vorausgesetzt wird (ebd.: 371): Vertragsfreiheit, Rechtsgleichheit als rechtlicher Modus der Mehrwertproduktion bedarf der Trennung der Arbeitenden von den Produktionsmitteln. Rassismus, so Schmitt-Egner, wird möglich, wo die »Arbeit selbst zu Ware und Kapital geworden ist, in der Metropole in Bezug auf das Subjekt des Rassismus […]« [die Rassist:innen12 , U. M.] – in der Kolonie »in Bezug auf das Objekt des Rassismus« [die Rassifzierten, U. M.] (ebd.: 378f.). Weithin geteilt wird in der Rassismusforschung die Auffassung, dass nicht die Sklaverei die Folge des Rassismus gewesen sei, sondern dass der Rassismus geeignet war, die Vernutzung der in den Kolonien einheimischen Arbeitenden zu rechtfertigen (vgl. Balibar 1990c: 269). Schmitt-Egner spricht von »Extensivierung der Mehrarbeit« (ebd.: 376), die ›der Kolonisator‹ nur durch die »ständige Erhöhung der Differenz von bezahlter und unbezahlter Arbeit, die er im Gegensatz zur Metropole primär nur durch die Verlängerung des Arbeitstages und durch die permanente Senkung der Ware Arbeitskraft unter ihren Wert erreichen kann« (ebd.: 377). Diese »Überausbeutung« (Puder 2022) kann erreicht werden durch Senkung des Lohnes und Verlängerung der Arbeitszeit.13 Rassismus ist in diesen Deutungen nicht Ursache kolonialer Ausbeutung, sondern erst die augenscheinliche Differenz zwischen den kolonisierten und den kolonialisierenden Gesellschaften in ihren Ausbeutungsniveaus brachte den Rassismus hervor. Zwar war auch der koloniale Produktionsprozess selbst kapitalistisch organisiert gewesen, weil er auf Lohnarbeit basierte (Schmitt-Egner 1976: 375f.); er wies allerdings bedeutende Unterschiede zum Produktionsprozess in den kolonisierenden, ›westlichen‹ Ländern auf. Denn während in den kapitalistischen Zentren die Ware Arbeitskraft zu ih-

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Die Kolonien wurden in die Arbeitsteilung und somit in den Akkumulationsprozess integriert; das ermöglichte eine radikale Senkung der Arbeitskosten. Die Kolonien waren stets durch ein Außenhandelsdefizit bedroht, da sie Bodenschätze exportierten, aber Fertigwaren aus dem Mutterland konsumierten. Und so war es erforderlich, dass viele Menschen zu sehr geringen Lohnkosten in den Produktionsprozess eingebunden wurden. Schmitt-Egner datiert den Beginn des Rassismus in Anlehnung an Michael Banton auf die Mitte des 19. Jahrhunderts (vgl. Schmitt-Egner 1976: 364). In den Kolonien sind Subjekte des Rassismus diejenigen, die den ungleichen Tausch durch extensive Aussaugung der kolonialen Arbeitskraft für sich abzumildern suchen und diejenigen, die die Abwertung der eigenen Arbeitskraft durch die kolonisierte Arbeitskraft fürchten (vgl. Schmitt-Egner 1976: 379). Diese Aspekte von Überausbeutung werden in illegalen Arbeitsverhältnissen ergänzt durch ein Fehlen sozialer Vorsorgeleistungen (Beiträge zur Arbeitslosen,- Pflege- und Krankenversicherung).

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rem Wert gekauft wird, geschieht dies in den Kolonien nicht. Aus den Kolonien werden Rohstoffe und menschliche Arbeitskraft für die kapitalistischen Zentren abgesaugt. Der Rassismus projiziert eine Differenz der Ausbeutungsweisen und Ausbeutungsniveaus zurück in Natur: So erschienen den Menschen in den kapitalistischen Zentren die Lohnarbeitenden der Kolonien objektiv minderwertig (vgl. Schmitt-Egner 1976: 376f.). Der Kolonisierte werde im wahrsten Sinne des Wortes »›minderwertig‹, weil es seine Bestimmung ist, unter dem Wert seiner Arbeitskraft zu arbeiten, […], weil die ›natürliche Grenze‹ des Arbeitstages über ihr historisches Niveau hinaus erweitert werden muss. […]. Der Rassismus entspringt genau aus der Differenz von historisch-moralischer Reproduktion und physischer Reproduktion, denn die ›Wertbestimmung‹ als Mensch wird hier in Natur aufgelöst. Er [der Kolonisierte, U. M.] wird auf Tiernatur reduziert.« (Schmitt-Egner 1976: 377; Herv. i.O.) Der Rassismus steht in dieser Deutung für ein bestimmtes Naturverhältnis: In der Kolonie wird das Objekt des Rassismus erschaffen, weil zweite auf erste Natur reduziert werde – in der Metropole wird »umgekehrt die ›erste‹ auf die ›zweite‹ Natur reduziert« (ebd.: 395). Und so werden Kolonisierte als tierhaft betrachtet; denn ihre gesellschaftlich herbeigeführte Minderwertigkeit erscheint als erste Natur (vgl. SchmittEgner 1976: 377). Rassistische Naturalisierung ist also eine durchaus andere als jene Naturalisierung, die in warentauschenden Gesellschaften das Soziale in Pseudonatur verschwinden lässt. Sie ist aber als Bedingung auf diese Naturalisierung angewiesen: Der Tausch von Arbeitskraft gegen Lohn (hier wie dort, zum Wert der Arbeit oder systematisch unter Wert) macht gesellschaftliche Genese und Gesellschaftlichkeit seiner Bezüge systematisch zur Natur. Die Menschen im Zentrum werden erst in der Produktion entwertet – in der Zirkulation treten sie noch als Gleiche auf. In den Kolonien hingegen realisiert sich Ungleichheit bereits beim Tausch von Arbeitskraft gegen Lohn (vgl. Schmitt-Egner 1976: 378). Als kulturlos galten die Kolonisierten, weil im Zuge der Kolonisierung die »traditionellen sozialen Bindungen« (ebd.: 373) zerstört wurden und, wie Roldán Mendívil/Sarbo ergänzen, die arbeitenden Kolonisierten oft in Lebensmitteln ausgezahlt wurden – quasi von der Hand in den Mund lebten. Als rückschrittlich galten sie im Vergleich zu den industrialisierten Metropolen, weil die Arbeitskraft der Kolonisierten so billig war, dass die Anschaffung von Maschinen nicht lohnte und die Arbeit »weit unter dem historischen Niveau der Zeit« (Roldán Mendívil/Sarbo 2021: 300) lag. Die kapitalistische Modernisierung schafft sich also selbst und aus eigener Logik jene Regionen des vermeintlich Rückständigen. Das Abbild dieser produzierten, systematisch in ein modernes System internationaler Arbeitsteilung eingebundenen ›Rückständigkeit‹ wird dem Rassismus dann zur Welt- und Menschenerklärung. Auch der Anschein fehlender allgemeiner Qualifikation wird durch die Struktur des Arbeitsprozesses selbst erzeugt: Ausgelagert in die Kolonien wird die wenig maschinisierte, wenig qualifizierte Handarbeit. Um sich als arme ›weiße‹, unqualifizierte Arbeitende in der Konkurrenz gegen die migrantischen Arbeiter:innen im wahrsten Sinne des Wortes aufzuwerten, bedarf es der Verknüpfung von Rasse und Qualifikation (vgl. Schmitt-Egner 1976: 379f.). Der Anspruch der ›weißen‹ Arbeiter:innenschaft,

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politisch bevorzugt zu werden, speist sich aus dieser Verkehrung: Wo Qualifikation aufwertet, koloniale Arbeitsteilung aber nur an bestimmten Orten ›qualifiziert‹, da entwickeln manche emanzipatorischen Forderungen der Arbeiter:innenbewegung offene Flanken für Rassismus.

Wertgesetz und kulturalistischer Rassismus Diese Darstellungen zur Spezifik des kolonialen Rassismus sind ein geeigneter Ausgangspunkt, um zu diskutieren, inwieweit auch gegenwärtige Formen des Rassismus von der verstärkten Ausbeutung Rassifizierter, wie sie Schmitt-Egner für den kolonialen Kontext beschrieben hat, abhängen. Weil diese Analyse aber eben nur eine spezifische Variante des Rassismus erfassen kann, nämlich die des kolonialen Rassismus, bedarf es einer Erweiterung um jene Form des Rassismus, die offensichtlich nicht mehr den Rassebegriff verwendet, sich also nicht mehr auf Blut und Gene bezieht. Wie in Kapitel 3 und 4 bereits dargestellt, bezieht sich ein kulturalistisch argumentierender Rassismus statt auf ›Rasse‹ auf vermeintlich kulturelle Essenzen. Wenn, wie gesehen, Rassismus auch als nachträgliche Naturalisierung einer Arbeitsteilung unterschiedlicher Ausbeutungsniveaus gedeutet werden kann – ist eine ähnliche Funktion für den Begriff der Kultur/Herkunft denkbar? Die Steigerung der Ausbeutung erfolgt durch die Ausdehnung der nicht-notwendigen Arbeitszeit. Auch Arbeitsteilung in den westlichen Industriegesellschaften ist geprägt von Niveaudifferenzen der Ausbeutung. Für den heutigen Rassismus kann dies gezeigt werden an der Abwertung von Menschen mit dem Ziel, Lohn zu drücken und am bevorzugten Einsatz von Migrant:innen in Arbeitsbereichen, die schmutzig und gesundheitsgefährdend sind. Um Aussagen über die Auswirkungen der neuen Bezugspunkte des Rassismus – Herkunft oder Kultur – auf das Arbeitsverhältnis treffen zu können, sind drei Formen von Migration zu unterscheiden: so genannte Migrant:innen der ersten Generation (ehemalige ›Gastarbeiter:innen‹) und deren Nachkommen (1), geplante, temporäre Migration (2), Fluchtmigration (3). (ad 1) Über eine befristete Arbeitsmigration kamen die so genannten ›Gastarbeiter:innen‹ mittels Anwerbeabkommen zwischen 1955–1971 in die BRD. Ein Blick auf die Lebensrealität von Vertragsarbeiter:innen in der DDR zeigt, dass Rassismus nicht nur aus der Produktionsweise abgeleitet werden kann, denn auch Vertragsarbeiter:innen in der DDR mussten Rassismuserfahrungen machen (vgl. zu Rassismus in der DDR: Jäger/Jäger 1992; Waibl 2014). Dennoch war der Zweck zur Anwerbung von Arbeitskräften hier verschieden von der ›Gastarbeit‹ in der BRD. Während es in der BRD um die Anwerbung günstiger Arbeitskraft ging, war der Zweck der Vertragsarbeit die Ausbildung von Arbeitskräften zugunsten der sie entsendenden Staaten. Zudem sollten diese Staaten durch diese Kooperationen an den Warschauer Pakt gebunden werden. Ein erhöhter Anteil von Migrant:innen oder Menschen mit familiären Migrationsgeschichten in prekären Arbeitsverhältnissen ist nicht nur eine Notwendigkeit des Kapitalismus; dieser Anteil ist zugleich auch Effekt von Rassismus: Notwendig ist er, weil der Kapitalismus – gemäß seiner Eigenlogiken – beständig auf billigere Arbeitskräfte angewiesen ist. Effekt von Rassismus ist dieser hohe Anteil, weil der Konzentration migran-

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tischer Arbeitskräfte in schlecht bezahlten Jobs14 , bereits eine Schlechterstellung rassifizierter Menschen in anderen sozialen Bereichen und Lebensphasen vorausging. Kapitalist:innen haben zwar kein genuines Interesse daran, Menschen aufgrund bestimmter körperlicher Merkmale oder aufgrund ihnen zugeschriebener, scheinbar unveränderlicher ›Kultur‹ im Speziellen überauszubeuten. Aber sie profitierten im wahrsten Sinne des Wortes von einer rassifizierenden sozialen Praxis außerhalb der Arbeitswelt. Zwar ist offene Sympathie für Rassentheorien seit dem Ende des Nationalsozialismus diskreditiert, deren Bilder und Vorstellungen sind aber präsent und haben sich in ungeordneteren rassistischen Formen, wie dem Alltagsrassismus erhalten. Der gegenwärtige Rassismus bezieht sich nicht mehr explizit auf natürliche Veranlagung bestimmter Menschengruppen für bestimmte Tätigkeiten, sondern auf Qualifikation. Der Kapitalismus begünstigt durch die schlechte soziale Stellung von rassifizierten Menschen die Produktion von Mehrwert. Rassistische Ausbeutung ist Überausbeutung, die stattfinden kann, weil Menschen aufgrund ihrer (vermuteten) Herkunft schlechtere Chancen auf eine gute Schuldbildung, einen Ausbildungsplatz oder weniger prekäre Arbeitsverhältnisse haben. Der Rassismus wird – wie im kolonialen Rassismus auch – sichtbar an der »Unterscheidung von Ausbeutung und Überausbeutung« (Roldán Mendívil/Sarbo 2021: 300). Den Gastarbeiter:innen der 1960er und 70er Jahre wurden Arbeitsplätze zugewiesen, die von Modernisierung bedroht waren, während deutsche Arbeitskräfte im »sozialen Fahrstuhl nach oben« (Karakayali/Tsianos 2002: 251) fuhren.15 Die Existenzbedingung ist für diesen Rassismus wie für den alten Rassismus der Unterschied in der Arbeits- und Lebenssituation von Deutschen und ausländischen Arbeitskräften. Für die deutschen, vor allem männlichen Facharbeiter, die vorher im Niedriglohnsektor beschäftigt waren, hatte die Unterschichtung mit ausländischen Arbeitnehmer:innen positive Folgen: Sie stiegen überwiegend in Angestelltenpositionen auf (vgl. ebd.). Aktuelle Studien bestätigen ebenfalls positive Auswirkungen von Einwanderung auf die durchschnittlichen Löhne einheimischer Arbeitskräfte (vgl. Dustmann/Frattini/Preston 2013: 163–166). (ad 2) Aktuell wird Arbeitsmigration nicht mehr über Anwerbeabkommen geregelt, sondern insbesondere die EU-Binnenmigration von Arbeitskräften über EU- und 14

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Das Lohngefälle führt die Studie von Siebers/van Gastel nicht allein darauf zurück, dass Arbeitnehmer:innen mit Migrationshintergrund oder aus ›ethnischen Minderheiten‹ weniger Humankapital oder Sozialkapital erworben haben. Diese Differenz ist ihrerseits Folge staatlicher Maßnahmen und Diskriminierung. Auf der Grundlage sowohl qualitativer als auch quantitativer Daten, die im Jahr 2010 erhoben wurden, werden in dieser Fallstudie über die Arbeitsplatzsegregation als Komponente der Lohnnachteile von Arbeitnehmer:innen mit Migrationshintergrund in einer niederländischen öffentlichen Einrichtung weitere Faktoren ermittelt (vgl. Siebers/van Gastel 2015). Für Deutschland dokumentieren Berechnungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung eine Lohndivergenz bei vollzeitbeschäftigen Migrant:innen von einem Drittel im ersten Beschäftigungsjahr im Vergleich zu vollzeitbeschäftigten Deutschen (vgl. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 2017: 138). Schon in den 1970er Jahren spricht Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny von einer Unterschichtung: Diese vollziehe sich dann, wenn eingewanderte Arbeitende in den untersten Bereichen der Beschäftigungsstruktur tätig werden und sich zugleich eine Ausweitung vor allem mittlerer Ränge der Schichtstruktur vollzieht, d.h. Einwander:innen »bilden eine neue soziale Schicht unter der Schichtstruktur der Einwanderungsgesellschaft« (Hoffmann-Nowotny 1970: 467).

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nationales Recht. Dabei spielen so genannte »Entsendearbeitsverhältnisse«, die seit den 1980er Jahren existieren, eine bedeutende Rolle. Erst nach 24 Monaten gelten die Sozialversicherungsregelungen des Tätigkeitsstaates. Für Karakayali/Tsianos entspricht die Arbeitsmigration den Funktionserfordernissen des Kapitalismus im Weltmaßstab. Sie ist mit Prozessen der Ethnisierung und Segmentierung auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt verbunden (vgl. Karakayali/Tsianos 2004: 17). Im Zusammenhang mit dem Einsatz von ausländischen Arbeitskräften vor allem in den unteren Sektoren des Arbeitsmarktes konstatieren auch Roldán Mendívil/Sarbo, dass es zu einer »ethnischen Hierarchisierung und Segmentierung in der gesellschaftlichen Produktion« (Roldán Mendívil/Sarbo 2021: 300) kommt. Schon die ›Gastarbeiter:innen‹ fungierten als ›Reservearmee‹, die nach Bedarf angefordert und entlassen werden kann.16 Zum Ergebnis, dass sich schlecht bezahlte Arbeit und Rassifizierung/Ethnisierung überschneiden – auch nach dem Ende der angeforderten ›Gastarbeit‹ – kommen auch Dörre u.a. (2009): »Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen, die Funktionalisierung von Reproduktionstätigkeiten oder die Installierung eines scheinbar auf Rückkehr in die Heimat gerichteten Migrantenstatus sind Beispiele für sekundäre Ausbeutung. Legitimiert werden diese Mechanismen häufig durch Konstruktionen von Ethnie und Geschlecht, die ihren Ursprung in vorkapitalistischen Verhältnissen haben. Durch die Indienstnahme solcher Innen-Außen-Differenzen kann sichergestellt werden, dass beständig kostengünstige Arbeitskraft für wenig qualifizierte, stark belastende und gering entlohnte Arbeiten mobilisierbar ist.« (Dörre u.a. 2009: 562f.) Mit sekundären Ausbeutungsmechanismen sind hier Prozesse gemeint, die vor- und nicht-kapitalistische Subjektivitäten funktionalisieren, d.h. sie auf ihre Stellung in der kapitalistischen Gesellschaft vorbereiten. Sie unterstützen die primäre Ausbeutung in der Lohnarbeit durch ideologische Konfigurationen wie die normative Forderung nach unbezahlter Care-Arbeit oder den »transitorischen Status von Migranten« (Dörre 2011). Auch für die Arbeitsmigration der Gegenwart gilt, dass die Ethnisierung der Arbeitskraft die Art der Arbeit bestimmt. Mittels »Innen-Außen-Differenzen kann sichergestellt werden, dass beständig kostengünstige Arbeitskraft für wenig qualifizierte, stark belastende und gering entlohnte Arbeiten mobilisierbar ist.« (Dörre u.a. 2009: 563) Häufig arbeiten Migrant:innen unter ihrer eigentlichen beruflichen Qualifikation (vgl.

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»Der Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor stieg zwischen 1994 und 2018 in systemrelevanten Berufen insgesamt wesentlich stärker an als in nicht systemrelevanten Berufen (+7,1 zu +2,3 Prozentpunkte). Systemrelevante Tätigkeiten wurden somit über die Jahre im Schnitt immer häufiger niedrig entlohnt. Zudem hat sich die Schere in Bezug auf Niedriglöhne zwischen Menschen ohne Migrationshintergrund und Migrant/innen in systemrelevanten Berufen besonders stark geöffnet. Der Anteil der systemrelevanten Beschäftigten ohne Migrationshintergrund im Niedriglohnsektor stieg im Zeitraum zwischen 1994 und 2018 nur halb so stark wie der Anteil von im Ausland geborenen Personen mit Migrationshintergrund (+4,9 zu +10,5 Prozentpunkten). Migrant:innen landeten somit immer häufiger in prekären Niedriglohnverhältnissen. Dieser Trend ist stärker in systemrelevanten als in nicht systemrelevanten Berufsgruppen zu beobachten.« (Khalil/Lietz/ Mayer 2020: 9)

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Pries/Shinozaki 2015; Seibert/Wapler 2016). Insbesondere Migrant:innen aus osteuropäischen Ländern arbeiten oft nicht ausbildungsadäquat, weil die Lohndifferenzen zwischen Deutschland und anderen EU-Ländern die Lohndifferenz akzeptabel erscheinen lassen, wie Seibert/Wapler annehmen (vgl. Seibert/Wapler 2016: 114). Dies zeigt sich exemplarisch an saisonalen Beschäftigungsverhältnissen im Erntebereich, in denen ein Wohnortwechsel nach Deutschland dauerhaft gar nicht vorgesehen ist, wie Jörg Becker darlegt. Becker zitiert in seiner Studie einen befragten Betriebsleiter: »›Es gibt keine deutsche Arbeitskraft, die bereit ist in der Landwirtschaft zu den Bedingungen zu arbeiten. In Polen zählt unser Geld x2, jetzt (Euro) x4.‹« (Becker 2015: 113) Hier werden häufig illegalisierte Menschen beschäftigt, die aufgrund der Unsicherheit ihres Aufenthaltes besonders stark einem System aus Lohndumping, der Nichteinhaltung von Arbeitsgesetzen und fehlenden Absicherungen ausgeliefert sind (vgl. Palumbo/ Corrado 2020). Häufig fehlen hier soziale Netzwerke, die auf die Möglichkeit einer gewerkschaftlichen oder gemeinsamen Organisierung aufmerksam machen könnten (vgl. Schwenken/Schmidt 2006; WSI Mitteilungen 2019). Hinzu komme, dass nichtsozialversicherungspflichtig Beschäftigte – als Hauptbeschäftigungsform legal vermittelter Saisonarbeitender aus Polen – nur 61 Prozent an Arbeitskosten einer dauerhaft beschäftigten Arbeitskraft verursachen (vgl. Becker 2015: 97). Seibert/Wapler verweisen auch auf eine Polarisierung hinsichtlich des Bildungsniveaus innerhalb der Migrant:innenschaft: Auf der einen Seite haben fast die Hälfte der Zugewanderten noch 2009 einen Hochschul- oder Universitätsabschluss; auf der anderen Seite verfügen ca. 30 Prozent über gar keinen beruflichen Abschluss. Die Bildungsunterschiede variieren je nach Herkunftsland (vgl. Seibert/Wapler 2016: 106f., 109). (ad 3) Die staatlich gesteuerte Migration der Nachkriegszeit über Anwerbeabkommen wurde großteils von der Fluchtmigration abgelöst: Mit der Fluchtmigration seit 201517 stieg der Anteil derer, die ohne die von deutschen Firmen und Betrieben begehrten hohen Bildungsabschlüsse nach Deutschland gekommen sind. So genannten ›gestatteten‹ und ›geduldeten‹ Geflüchteten ist es die ersten drei Monate nach Ankunft nicht erlaubt, zu arbeiten; Geflüchtete, die illegal in Deutschland bleiben, haben entsprechend Zugang nur in illegale, hochausbeuterische Arbeitsverhältnisse. Das Staatsbürgerschaftsrecht schafft Ausschluss und Benachteiligung, treibt in jene Arbeitsverhältnisse, in denen Menschen besonders überausbeutbar sind: Das beinhaltet sowohl den gedrückten Lohn, die längere Arbeitszeit, das Fehlen von Sozial- und Vorsorgeleistungen, die Fixierung auf bestimmte Branchen. Migration ist in den meisten Fällen Ergebnis globaler Ungleichverhältnisse, nach Jens Wissel Resultat von »global ungleichen Güterverteilungen, Lebenschancen und Produktionsniveaus« und damit »konstitutiver Bestandteil des globalen Kapitalismus« (Wissel 2018: 220f.). Menschen fliehen zumeist vor Armut, Menschenrechtsverletzungen, Gewalt, Krieg und den Folgen des Klimawandels. Migration wird von Brand/Wissen als

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2015 wurden 1,1 Millionen Geflüchtete in Deutschland erfasst. Wegen möglicher Doppelzählungen und Rückkehr in Herkunftsländer korrigierte das Bundesinnenministerium die Zahl auf 800.000. Erhebungen aus dem Jahr 2016 zeigen, dass 13 Prozent der Geflüchteten einen Hochschulabschluss und 6 Prozent eine berufliche Ausbildung abgeschlossen haben sowie 3 Prozent sich in beruflicher Ausbildung befinden (vgl. Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung 2017: 134, 137).

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Konsequenz einer »imperialen Lebensweise« gefasst: eine Lebensweise, die in vielen Teilen der Erde zu einer Verschärfung bestehender Krisenphänomene führt, zumeist ist sie für das Entstehen dieser Krisenphänomene direkt verantwortlich: Klimawandel, die Zerstörung lokaler Ökonomien, Verarmung, soziale Polarisierung usw. (vgl. Brand/Wissen 2013: 13). Die Konsequenzen dieser Lebensweise sieht auch Helmut Dahmer: »Seit dem Ende des zweiten Weltkrieges hat die internationale Migration ihre Richtung geändert: Nicht mehr Europa schickt seinen Überschuss an Menschen in die Kolonialländer und in die Neue Welt, sondern die ›unterentwickelt‹ gehaltenen, überbevölkerten Elends- und Kriegszonen bringen sich der Bevölkerung der europäisch-amerikanischen Wohlstandsoasen dadurch in Erinnerung, dass eine Vorhut von Hundertausenden an ihren Grenzen erscheint […] und einen Anteil am besseren Lebens fordern.« (Dahmer 2019: 24)18 Der Blick auf das Verhältnis von Rassismus und kapitalistischen Verwertungslogiken zeigt, dass Herkunft/Ethnie der migrierten Arbeitskräfte, insbesondere wenn diese mit kultureller Differenz verbunden werden, als Mangel gilt und deshalb geeignet ist, den Preis von Arbeit zu drücken. Angebliche »›kulturelle‹ Eigenheiten« sind nach Wallerstein geeignet, um die »Zuordnung zu Positionen in der Wirtschaftsstruktur« (Wallerstein 1983: 68) bestimmter Gruppen zu plausibilisieren. Typisch für den Rassismus, im Unterschied zu vormodernen Formen der Fremdenfeindlichkeit, ist nach Wallerstein die Kongruenz unterer sozialer Schichten mit bestimmter Hautfarbe oder Herkunft. »Besonders die ›niedrigste‹ Klassenkategorie und die ›niedrigste‹ ethnische Schicht überlappen sich sehr stark. Diese einfache Tatsache ist die Wurzel dessen, was wir Rassismus nennen.« (Wallerstein 1991: 103)19 Mit Wallerstein ist von einer rassistischen Strukturierung der Arbeit zu sprechen. Rassismuskritik ist dann keine ohne Ökonomiekritik. Über zugeschriebene Kultur und Herkunft wird wie dereinst vermittelt über ›Rasse‹, Überausbeutung hergestellt. Sie wird gerechtfertigt, indem die Lohndifferenz im Vergleich zu deutschen Staatsbürger:innen als akzeptabel mit Blick auf die Löhne im Herkunftsland erscheinen; längere Arbeitszeiten werden in der Beschäftigung von Saisonarbeiter:innen gerechtfertigt mit deren temporärem Aufenthalt. Diese Fremdheit wird durch fehlende Bürger:innenrechte aufrechterhalten und plausibilisiert. Wallerstein pointiert treffend: »Rassismus war die ideologische Rechtfertigung der Hierarchisierung der Arbeiterschaft und hochgradig ungleichen Einkommensverteilung. Was wir mit Rassismus

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Im Zusammenhang mit der Globalisierung sind Unternehmen zudem immer weniger gezwungen, sich auf Kompromisse mit nationalen Arbeitnehmer:innen-Vertretungen einzulassen, weil sie Arbeitskräfte international ›beziehen‹ können, indem sie die Produktion in andere Länder verlagern. Und sie können auf ›preiswerte‹ migrantische Arbeitskräfte im Inland zurückgreifen, die, historisch betrachtet, weniger gewerkschaftlich organisiert sind (vgl. Georgi/Huke/Wissel 2014: 42). »Was wir mit Rassismus meinen, hat wenig mit der Xenophobie in verschiedenen vorangegangenen Systemen zu tun. Xenophobie war buchstäblich das: Angst vor dem ›Fremden‹. Rassismus innerhalb des historischen Kapitalismus hat nichts mit ›Fremden‹ zu tun. Ganz im Gegenteil. Rassismus ist die Art und Weise, durch die verschiedene Segmente innerhalb der gleichen ökonomischen Struktur in ihrer Verbindung miteinander eingeschränkt wurden.« (Wallerstein 1983: 68)

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meinen, ist dieser Satz ideologischer Erklärungen kombiniert mit einem Satz fortgesetzter Praktiken, die die Konsequenz hatten, daß über die Zeit eine hohe Korrelation zwischen Ethnizität und Zuordnung von Arbeitskräften erhalten wurde.« (Wallerstein 1983: 68) Ideologie als Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse führt den Schein von Unveränderbarkeit der Gesellschaft mit. Rassismus ist ideologiekritisch als die nachträgliche Naturalisierung einer Arbeitsteilung unterschiedlicher Ausbeutungsniveaus zu fassen. Die Schlechterbezahlung, die Arbeitsbedingungen, die Art der Arbeit, die ausgeführt wird, erscheinen zwingend und notwendig, um den kapitalistischen Betrieb am Laufen zu halten – sei es die Pflege, die Pflanz- und Erntebetriebe oder die Fleischindustrie. Überausbeutung wird damit gerechtfertigt, dass die Betriebe nicht mehr profitabel wären und deren Produkte entsprechend teuer würden, wenn deutsche Arbeitskräfte zu anderen, d.h. weniger prekären Arbeitsbedingungen eingesetzt würden. Auch wenn migrantische Arbeitskräfte in den Herkunftsländern viel weniger verdienen, als in Deutschland, rechtfertigt dies keine Schlechterbezahlung. Die Behauptung, dass dieser – auch unterhalb des Verdienstes anderer Arbeitskräfte liegende Lohn – für die Migrant:innen ›immer noch sehr viel Geld‹ sei, naturalisiert Überausbeutung. So erscheint es nicht nur ethisch vertretbar, sie minder zu entlohnen, sondern es scheint auch natürlich, dass Löhne in den Herkunftsländern niedriger sind. Diese Rechtfertigung von Überausbeutung blendet gezielt aus, dass der eigene hohe Lebensstandard etwas mit der Situation anderer Länder zu tun haben könnte. Trotz der Triftigkeit der Überlegungen zur Überausbeutung sind drei Aspekte zu berücksichtigen: Erstens kann Überausbeutung nur relativ gefasst werden; es gibt keinen absoluten Grenzwert, sondern Überausbeutung bemisst sich am üblichen Niveau der Ausbeutung einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt. Sie wird in Hinblick auf migrantische Lohnarbeit zudem bestimmt durch die Arbeits- und Migrationspolitik einer Gesellschaft. Zweitens suggeriert der Begriff der Überausbeutung, dass nur das ›das zuviel‹ an der Ausbeutung das zu Kritisierende wäre. Das ist es mit Marx – wie gezeigt wurde – eben gerade nicht (nur). Drittens ist zu bemerken, dass Überausbeutung kein Alleinstellungsmerkmal migrantischer Arbeitsverhältnisse ist. Sie kann prinzipiell überall dort stattfinden, wo menschliche Arbeitskraft aus Existenznöten sich widrigen Arbeitsverhältnissen auszusetzen gezwungen ist. Eine Überausbeutung wie im kolonialen Rassismus, die über die Behauptung von ›Minderwertigkeit‹ und Kulturlosigkeit gerechtfertigt wird, findet gegenwärtig nicht systematisch statt. Vielmehr ist es die Vernutzung von Menschen als ausbeutbare Arbeitskraft im Kapitalismus, die migrantische Arbeit mit dem Verweis auf mangelhafte Qualifikation und fehlende Sprachkenntnisse überausbeutbar macht. ›Rasse‹ (Herkunft, Kultur) und Klasse vermitteln sich im kulturalistischen Rassismus weniger gezielt, sondern der Kapitalismus profitiert von etablierten rassistischen Teilungen und strukturellen Voraussetzungen vor allem durch das Staatsbürger:innenschaftsrecht, die Asylgesetzgebungen und jene Vorschriften, die EU-Binnenbeschäftigung regulieren.

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6.2.2 Rassifizierte Konkurrenz Rassismus rechtfertigt aber nicht nur die verschiedenen Niveaus von Ausbeutung der einen und die Besserstellung der anderen – räumlich getrennt, in unterschiedlichen Segmenten der Ökonomie, sondern Rassismus reproduziert fortwährend die subalterne Stellung der ›Nicht-Weißen‹ in konkreten sozialen Interaktionen des Arbeitslebens. Bei Marx findet sich der berühmte Ausspruch, dass die »weiße Haut« so lange sich nicht emanzipieren könne, wo »sie in schwarzer Haut gebrandmarkt wird« (vgl. MEW 23: 318). Aus Marx’ Sicht ist nicht nur die Auflösung der Konkurrenz nötig, die unter den ›weißen‹ Arbeitenden herrscht; Marx fordert in einem Brief an Lincoln während des amerikanischen Bürgerkrieges die aktive Solidarität ›weißer‹ Arbeiter:innen mit den Kämpfen gegen die Sklaverei (vgl. MEW 16: 19). Wichtig ist: Marx fordert hier und an anderen Stellen kein humanistisches oder altruistischen Engagement. An die Arbeiter:innenklasse ergeht kein moralischer Auftrag. Er sieht die Freiheit aller Arbeitenden als Bedingung der Freiheit eines jeden einzelnen unter ihnen. Es ist im Interesse der (›weißen‹) Arbeitenden, sich den Kämpfen der ›schwarzen‹ Arbeit gegenüber solidarisch zu verhalten. Am Ursprung der modernen Arbeiter:innenbewegung steht bei Marx – der selbst von rassistischen Klischees nicht frei war – eine analytisch begründete Forderung an antirassistische Solidarität, im eigenen Interesse. Diese Forderung steht in scharfem Kontrast zur Realität des Rassismus der letzten Jahrzehnte. Eine populäre Rechtfertigung des Rassismus war lange die Erklärung, dass »die Ausländer uns die Arbeitsplätze wegnehmen«. Wahr ist – wie oben diskutiert –, dass die meisten migrantischen Arbeitskräfte ›Weiße‹ eher vor dem sozialen Abstieg bewahren – sie gewissermaßen wie eine soziale Zwischenschicht wirken, die es ermöglicht, dass ›weiße‹ Arbeitskräfte in besser bezahlten Jobs tätig sind (vgl. Dustmann/Frattini/ Preston 2013).20 Dennoch wird der Zwang zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft im Kapitalismus rassistisch als Konkurrenz um Arbeitsplätze, um Wohnungen, Ausbildungen, Aufstieg verarbeitet. Rassismus, so Roldán Mendívil/Sarbo, »ist […] ein soziales Verhältnis zwischen Menschen, die auf unterschiedliche Weise in die Produktion miteinbezogen und ausgebeutet werden« (Roldán Mendívil/Sarbo 2021: 302). Wer Marx’ analytische Solidaritätsforderung und diese Realität vergleicht, der könnte auf die These verfallen: Wenn es den Rassismus nicht gäbe, so müssten die Kapitalist:innen ihn erfinden – nicht allein, um Überausbeutung zuzuteilen, sondern hier jetzt auch, um die Gegenwehr, die Organisierung der Ausgebeuteten zu schwächen. Doch hier droht nun die Falle des Funktionalismus: Theorie sollte misstrauisch gegen sich selbst werden, wenn es ›zu gut passt‹, was sie begrifflich darbietet. Denn die scheinbare Passung könnte auf Sortierung der Sachen und nicht auf diese selbst zurückgehen: hier Rassismus, dort Ausbeutung. Schlechter Funktionalismus verwechselt die Beschreibung ge-

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Eine stadtsoziologische Studie des Instituts für Sozialforschung aus dem Jahr 1994 in Frankfurt zu Fremdenfeindlichkeit in der Belegschaft der Frankfurter Müllentsorgung zeigt ebenfalls, dass mit der Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte der »kleine Aufstieg« für deutsche Arbeitnehmer:innen möglich wurde. »Im Verhältnis zu den ausländischen Kollegen sind sie in der Regel die ›kleinen Chefs‹, Vorarbeiter, Meister, Abteilungsleiter mit dispositiven, arbeitsverteilenden und kontrollierenden Funktionen.« (von Freyberg 1994: 141f.)

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gebener sozialer Funktionen von Phänomenen mit deren Grund und Genese. Das soll im Folgenden reflektiert werden.

Funktionalismus als Problem der Rassismusanalyse So wenig es der klassische Ideologiebegriff von Marx erlaubt, Ideologie als Manipulationsinstrument oder Interessenpsychologie zu denken, so wenig sollte auch eine ideologiekritische Bestimmung Rassismus als funktionalistische Manipulationstheorie erklären; als intentional eingesetztes Werkzeug zum Zwecke der Überausbeutung von Arbeitskraft; als Mittel der Bourgeoisie zur Aufrechterhaltung von Herrschaft und zur bewussten Spaltung der Arbeiter:innenklasse. Rassismus ist nicht über »cui bono«-Erklärungen zu erklären, wie es in einigen marxistischen Rassismuskritiken geschehen ist (z.B. Callinicos 1999; Osterkamp 1989; Cox 1948).21 Auch Wallerstein spürt der Frage nach der Funktionalität nach, wenn er die Bedeutung des Rassismus und des Universalismus für den Kapitalismus herausstellt. Der expandierende Kapitalismus brauche Arbeitskräfte, die Mehrwert schaffen; er könne es sich nicht leisten, auf Arbeitskräfte aus rassistischen Gründen zu verzichten. Rassistische Exzesse, die den Tod von Menschen zur Folge haben, unterlaufen diese Intentionen des kapitalistischen Systems. Diese ›universalistische‹ Gestalt des Kapitalismus stehe also im Widerspruch zur partikularen, exkludierenden Gestalt des Rassismus (vgl. Wallerstein 1990: 44). Wallerstein sieht die Ursprünge des Universalismus im »System der kapitalistischen Weltwirtschaft« (ebd.: 42). Um den Kapitalismus zu optimieren, sei es gerade zwingend notwendig, sich der »universalistischen Ideologie« (ebd.) zu bedienen, denn nur sie könne die Integration aller potentiellen Arbeitskräfte sicherstellen. Der Rassismus wird von Wallerstein aber nun keinesfalls als Antagonist des auf diese Weise global und universal gedachten Kapitalismus bestimmt, sondern im Gegenteil: Rassismus ist durchaus funktional, solange er gemäßigt auftritt. Rassismus wirke minimierend sowohl in Hinblick auf die Produktionskosten, weil er Niedriglohnbereiche ideologisch rechtfertige, wie auch in Hinblick auf den »politischen Protest der Arbeiterschaft«, weil die Wut der Ausgebeuteten auf ausländische Arbeitskräfte, statt auf ihre eigenen Arbeitsbedingungen gelenkt werde (ebd.: 44). Im Laufe seiner Entwicklung habe der Kapitalismus die »›Ethnisierung‹ der Arbeiterschaft« (ebd.: 45) funktional optimiert. Daher trifft der Begriff der Fremdenfeindlichkeit für Wallerstein nicht das, was er unter Rassismus fasst. Rassismus ist die »Ethnisierung der Arbeitskraft«; Fremdenfeindlichkeit stelle nur einen Aspekt des Rassismus dar (vgl. ebd.: 46). 21

Theodore W. Allen rekonstruiert in seiner Studie Die Erfindung der weißen Rasse (1994) Rassismus als System sozialer Kontrolle jenseits ökonomistischer Reduktionismen: Pointiert fasst Jost Müller Allens Ansatz im Vorwort zur deutschen Übersetzung zusammen: »Rassismus, so seine fundamentale These, läßt sich nur als soziales Herrschaftssystem begreifen, dessen ökonomische und politische Konstitutionsbedingungen sich genau angeben lassen. So gelingt ihm tatsächlich der historische, nicht allein logische Nachweis, daß es sich bei der ›weißen Rasse‹ um eine soziale Konstruktion handelt, der die Grundlagen in sozialen Kämpfen nicht nur in bestimmten historischen Augenblicken bereits entzogen wurden, sondern künftig auch entzogen werden können.« (Müller 1998: 22). Einen ähnlichen historischen Ansatz – Sklaverei nicht als Produkt bereits präexistenter rassistischer Vorstellungen zu entschlüsseln – verfolgte auch Robert S. Steinfeld in seiner Studie Coercion, Contract, and Free Labor in the Nineteenth Century (2001).

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In der Bestimmung dessen, was als ›Rasse‹ gilt, sei der Rassismus nun überaus flexibel; er erschaffe beständig neue Gruppen und Gemeinschaften, die ›rassisch‹ oder ›ethnisch‹ definiert werden. »Wenn es keine Schwarzen gibt, oder zu wenige, die die Rolle übernehmen könnten« (Wallerstein 1990: 45), dann können auch ›Weiße‹ zu ›Schwarzen‹ werden. Solch ein »flexibler Rassismus« (ebd.) sei deshalb so effektiv, weil er erstens je nach Bedarf die Arbeiter:innen mit den niedrigsten Löhnen und anspruchslosesten Tätigkeiten variabel halten könne; weil er zweitens die Konditionierung der Nachkommen dieser Arbeiter:innen auf deren zukünftige inferiore Stellung im Arbeitsprozess vorbereite; und weil er drittens »Strukturen der Ungleichheit« (ebd.: 46) rechtfertige, ohne sich auf das kapitalistische Leistungsprinzip zu beziehen. Das von Wallerstein dargestellte gleichzeitigte Angewiesensein des Kapitalismus auf den Universalismus hier sowie den Rassismus und Sexismus dort, überzeugt nicht vollends. Er scheint funktionale Passgenauigkeit mit Entstehungsgrund gleichzusetzen. Ich halte es für plausibel, dass Sexismus und Rassismus als Herrschaftsformen moderne Erscheinungen sind, die mit dem kapitalistischen System produktive Allianzen eingehen. Dass sich der Kapitalismus universalistischer Ideologeme bedient, ist unbestritten – aber er kann auch ohne diese existieren. »Scharfsichtig ist es [das Kapital, U. M.] hinsichtlich internationaler Anlage- und Verwertungsmöglichkeiten. Blind ist es hinsichtlich des Wohlergehens von Menschen. Lassen sich mit Folter, Krieg und Verelendung Profite erzielen, wird in Folter, Krieg und Verelendung investiert. Versprechen Rechtsstaatlichkeit, Ausweitung individueller Gestaltungsmöglichkeiten und Stärkung der Kaufkraft der abhängig Beschäftigten die besseren Renditen – auch gut.« (Grigat 2008: 3) Der Kapitalismus ist anpassungsfähig. Wallersteins Diskreditierung des Universalismus zum Steigbügelhalter des Kapitalismus hingegen funktioniert nur, wenn universalistischen Ideen ein prinzipiell instrumentelles Interesse unterstellt wird. Wallerstein spricht von »aufklärerischer Ideologie« (1990: 41), von »universalistischer Ideologie« (ebd.: 42), als sei der von ihm behauptete ideologisch rechtfertigende Charakter des Universalismus dessen Wesen und Bestimmung. Gewiss kann der Rückgriff auf universalistische Forderungen ideologisch sein, beispielweise wenn universalistische Bezugnahmen die Durchsetzung partikularer Ansprüche rechtfertigen sollen – die historisch ebenso vorfindliche Spannung kapitalistisch-ökonomischer Interessen zu universalistischen Idealen wird von Wallerstein aber übersehen oder zumindest abgetan. Auch temporär kann er sich den Universalismus nicht als normativen Maßstab oder gar Bündnispartner der Kritik vorstellen. Im Schlusskapitel werde ich dem hier aufscheinenden problematischen Verhältnis von Universalismus und Partikularismus weiter nachgehen. Ein jeder Rassismus enthält funktionale Aspekte, ich habe sie ausgiebig dargestellt – aber diese Funktionen sind nicht deshalb schon Movens seiner Entstehung. Vor allem aber kann die Verselbständigung rassistischer Vorstellungen im Alltagsbewusstsein und der Vollzug rassistischer Praxen auch ökonomisch dysfunktional, irrational werden: Unternehmen, die in der sächsischen Provinz keine internationalen Fachkräfte mehr finden, weil diese Übergriffe befürchten müssten; Schulpolitik, die die Entstehung

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funktionaler Analphabeten zulässt, weil umfangreiche Förderprogramme oder gar eine andere Zusammensetzung der Schüler:innenschaft nicht durchsetzbar werden gegenüber den Ressentiments vieler Wähler:innen; Arbeitskräfte, die trotz Personalmangels nicht zur Verfügung stehen, weil Aufenthaltstitel institutionell-rassistisch nicht vergeben werden: Das sind nur wenige stilisierte Beispiele für ökonomisch unvernünftigen Rassismus. Funktionalismus kann kein Organ für solche Phänomene entwickeln. Detlev Claussen betrachtet Rassismus und Antisemitismus als Bestandteile einer ›Alltagsreligion‹. Die »Religion des Alltagslebens« (MEW 25: 838) war ein spöttischer Begriff von Marx für das falsche Erscheinen ökonomischer Kategorien, das sich via Praxis herstellt (nicht durch Fehler im Erkenntnisapparat). An diesen Aspekt – Religion durch Praxis – knüpft Claussen an. Alltagsreligion vereinheitlicht das Bewusstsein der Gesellschaftsmitglieder und ordnet die Welt vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Widersprüche, denen der Einzelne ausgesetzt ist. Die Alltagsreligion greife, so Claussen, wahrnehmbare äußere Unterschiede zwischen den Menschen auf und stelle klar, wer wo hingehört.22 So fülle sie die Feststellung sozialer Unterschiede mit Sinn und verarbeite menschliche Unterschiede im Alltag (vgl. Claussen 1994: 18). Jenes rassistische Alltagsbewusstsein, das Claussen als Alltagsreligion fasst, unterscheidet er jedoch von dezidiert politischen Ideologien (vgl. Claussen 2000: 136). Im vorangegangenen Abschnitt wurde gezeigt, dass der Rassismus aus dem Widerspruch von Kapital und Arbeit abgeleitet werden kann – es also einen engen Zusammenhang von Kapitalismus und Rassismus gibt. Rassismus bildet die Legitimationsgrundlage für die Einrichtung und Aufrechterhaltung ›ökonomischer Sondersphären‹23 in den Zentren selbst. Darin ist er funktional. Aber Funktion ist hier ein Objektives in einem Gesamtzusammenhang eigenständiger ökonomischer Logik. Nicht funktional für die Interessen bestimmter Gruppen – bzw. wenn doch: dann nicht allein deshalb, aus diesem Grund auf der Welt, schlau hergestellt von jener Gruppe. Der Rassismus geht nicht auf darin, dass er ›funktional‹ eingesetzt wird – dann müsst es jemanden geben, der das systematisch tut. Rein rational benötigt der Kapitalismus den Rassismus nicht, er braucht ›schlicht‹ billige Arbeitskräfte. Rassismus birgt in seiner Kulturgeschichte und in seiner sozialpsychologischen Konstitution so viel Eigenlogik, dass er nicht ›an‹- und ›abgestellt‹, nicht ›eingesetzt‹ werden kann als Instrument. Rassismus kann, wie oben angedeutet, auch ökonomisch dysfunktional werden. Ein Verständnis von Rassismus als bloßer Manipulation oder als planvolle Machenschaft ist darum unangemessen.

Determinismus als Problem in der Rassismusanalyse Neben dem Funktionalismus ist der Determinismus die weitere große Versuchung ökonomiekritischer Rassismustheorie. In der Auseinandersetzung mit Wolfgang Fritz 22 23

Wir finden ein ähnliches Argument der Platzanweisung bei Herbert Blumer und Etienne Balibar. In dem Artikel Hyper-precarious lives: Migrants, work and forced labour in the Global North wird der umstrittene Zusammenhang zwischen neoliberalen Arbeits- und Wohlfahrtsregimen, Asyl- und Einwanderungskontrollen und der Ausbeutung von Wanderarbeiter:innen untersucht. Die vorgestellte Studie arbeitet mit dem Konzept der Prekarität, um die sich intensivierende und unsichere postfordistische Arbeit im Spätkapitalismus zu verstehen. Migrant:innen machen oft prekäre Arbeitserfahrungen am unteren Ende der Arbeitsmärkte in den Ländern des Globalen Nordens; nach Lewis u.a. geraten sie sogar in zwangsarbeitsähnliche Beschäftigungen (vgl. Lewis u.a. 2015).

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Haug24 sollen im Folgenden einige Probleme herausgearbeitet werden, die sich aus einer zu starken deterministischen Perspektive für die Rassismuskritik ergeben. Haug unterscheidet zwei Rassismusformen, um die Wirkung der ökonomischen Konkurrenzverhältnisse auf die Arbeitenden zu verdeutlichen. Zunächst nennt er den spontanen Rassismus von unten, der im Alltagsleben verwurzelt und bewusstseinsprägend sei, ohne bewusstseinsfähig zu sein. Der Rassismus von oben hingegen sei der politisch organisierte Rassismus, den er deshalb auch als strukturellen Rassismus bezeichnet, weil er in der gesellschaftlichen und staatlichen Herrschaftsmacht angelegt sei. Haug datiert den Beginn des Rassismus auf das Entstehen des kapitalistischen Weltmarktes, der sich von Beginn an der Sklavenarbeit bedient habe. Rassismus ist, so Haug, der Weltwirtschaft eingeschrieben und sei das »hauptsächliche hegemoniale Artikulationsprinzip« (Haug 1992: 40). »Nicht die ›Rasse‹-Idee konstituiert Immigranten zu (scheinbaren) Konkurrenten, sondern (wirkliche) Konkurrenz wird rassistisch verarbeitet […]« (ebd.). Damit wird Rassismus zu einem »Spezialfall sozialstaatlicher Verteilungskämpfe« (ebd.). Dieser Gedanke einer rassistischen Verarbeitung der kapitalistischen Vergesellschaftung findet sich bei Haug in den Überlegungen zu einem Rassismus von unten wieder. Der spontane, plebejische Rassismus bereitet den ›Herrschenden‹ Sorge, insbesondere, wenn er von oppositionellen Machtanwärtern benutzt wird (ebd.: 33). Die Dynamik zwischen AfD und ihrer Anhängerschaft wäre ein aktuelles Beispiel dafür, wie einerseits die AfD den rassistischen ›Protest‹ der Straße seit 2015, der sich u.a. bei Pegida formierte, stärkt und andererseits diesen Rassismus ideologisch unterfüttert. Dies geschieht durch eine gezielte populistische Rhetorik25 , die es der AfD ermöglicht, sich einerseits als Tabubrecher zu inszenieren, andererseits die einzige Partei zu sein, welche die (rassistischen) Ängste und Sorgen des ›Volkes‹ versteht: ein typisch populistischer Alleinvertretungsanspruch. Diese Form des Rassismus sei, wie Haug schreibt, zunächst ein Problem von Staat und Gesellschaft. Als Normalfall des Sozialen beschreibt Haug folgende Situation: Der Kapitalismus vernichte herkömmliche Unterschiede und zersetze seine eigene Gesellschaft. Der Staat agiere wiederum als komplementäres Gegenteil des Kapitalismus und suche diesen zu stabilisieren, indem er der Atomisierung entgegenarbeite (vgl. Haug 1992: 33). Der Nationalismus halte dabei die atomisierten Mitglieder der Gesellschaft durch eine gemeinsame ›Kultur‹ zusammen; Nationalismus kittet, was der Kapitalismus zum Bersten bringt. Treten zu dieser üblichen Vergesellschaftungssituation weitere Krisen, entfessele sich nach Haug der Rassismus als Form sozialen Protests. Die Ursachen dieses Rassismus von unten sei ein »Krieg der underdogs« (Haug 1992: 34). Krisen und deren Folgen erklären für Haug, warum der »Aufschrei der sozial getretenen Kreatur zum Haß-Schrei werden kann« (ebd.: 34). Brandstiftung und Mord versteht Haug demnach als verwandelte Formen von Protest; ein »Modus des entfremdeten Protests gegen Entfremdung« (ebd.). Die rassistisch handelnden Underdogs wollen Migrant:innen im Status der Underdogs halten; nach dem Motto: Ein anderer soll ganz unten sein, noch weiter

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Vgl. ausführlicher zu Haugs Rassismusanalyse und die des Projekts Ideologietheorie: Marz 2020: 121–133. Heitmeyer schlägt vor, statt von Populismus von autoritären Nationalradikalismus zu sprechen (vgl. Heitmeyer 2018: 231ff.).

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unten. Der Rassismus von unten, den Haug auch interaktiven Rassismus nennt, könne politisch verwendet werden, wenn eigentlich politisch zu bewältigende Krisensymptome an die Polizei und Justiz überwiesen werden. Der interaktive Rassismus spalte so die unteren Schichten und stabilisiere Herrschaft (vgl. Haug 1992: 34). Damit kann die ökonomische Dimension des Rassismus als die gesellschaftlich erzeugte Angst vor sozialem Abstieg bezeichnet werden. Diese These löst Unbehagen aus. Sie liefert den Rassist:innen ein plausibles Argument zur Erklärung ihrer Wut und Aggression. Andererseits spiegelt sie die Auswirkungen der Klassengesellschaft, die ja auch bleibt, wenn es kein Klassenbewusstsein mehr gibt. Adorno stellt lakonisch gegen Marx alte Parole fest: Die Arbeiter:innen im 20. Jahrhundert haben materiell mehr zu verlieren als nur ihre Ketten, »und ich glaube, dass eine Theorie, die das nicht anerkennt und die also nicht die Momente in sich einbegreift, in denen tatsächlich materiell einstweilen sich die Dinge so gestaltet haben, daß jene extreme Situation, wie sie Marx prognostiziert hat, sich nicht herstellt, daß also die Anerkennung dieser Tatsache nicht nur die einfachste Sache der wissenschaftlichen Redlichkeit ist, sondern daß eine Theorie, die sich darüber hinwegsetzt, und etwa von Arbeitern verlangt, daß sie sich wie Hungernde verhalten sollen, während sie nicht hungern, daß die eben nun wirklich keine Theorie mehr wäre […].« (Adorno 1964a: 83f.) Es muss also nicht gehungert werden, um Angst vor dem sozialen Abstieg zu haben. Dies bestätigen auch die Studien, die Dörre u.a. (2018) mit gewerkschaftlich organisierten, rechtsaffinen Lohnabhängigen durchführte. Das empirische Material umfasst eine Zeitspanne von ca. 30 Jahren und fußt studienübergreifend auf 48 Fällen. In den Studien geht es um das Alltagsbewusstsein der befragten Personen, wobei folgende Aspekte besonders heraustreten: die Beschreibung der ›Nation‹ als Zusammenhang der »Produktiven, Nützlichen, Leistungswilligen« (Dörre 2019: 170); eine exklusive Solidarität, die bereit ist, Nicht-Deutsche von den Forderungen nach Wohlstandssicherung auszuschließen; die Wahrnehmung des eigenen sozialen Status als höher, als er objektiv ist, was die Sorge vor sozialem Abstieg steigert; das Gefühl, dass einem mehr vom ›Verteilungskuchen‹ zustünde als man erhält; ein Votum für mehr Verteilungsgerechtigkeit bei gleichzeitiger Forderung nach Flüchtlingsabwehr (vgl. ebd.: 169–171). D.h., die befragten Lohnabhängigen neigen in der Betrachtung der Verteilungsverhältnisse dazu, Auseinandersetzungen in Konflikte zwischen innen (die Deutschen, denen ein ›Ortsbonus‹ zustehe) und außen (die ›Fremden‹) wahrzunehmen (vgl. Dörre u.a. 2018: 70). Zu dieser Verzerrung der sozio-ökonomischen Situation trete eine kulturelle Dimension insbesondere der ostdeutschen Befragten, die von Abwertungserfahrungen und Gefühlen des Kontrollverlustes geprägt sei (Dörre 2019: 173). Wie greift nun nach Haug der strukturelle Rassismus in solch soziale Lagen, Ängste und Selbstbeschreibungen ein – angesichts dieser verbreiteten Angst vor gesellschaftlichem Abstieg26 und Verteilungsungerechtigkeit? Die Metapher für den strukturellen 26

Dass allerdings die Angst vor sozialem Abstieg 2016 auf einem historischen Tiefstand ist, zeigen die Ergebnisse der Auswertung des sozio-ökonomischen Panels zwischen 1991–2016 durch die Studie von Holger Lengfeld. In der gesamten Bundesrepublik stieg zwischen 1991 bis Mitte der

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Rassismus, den Rassismus von oben, ist die vom überfüllten Boot. Ausgangspunkt des Rassismus sind für Haug »lagebedingte Gruppenkonflikte der subalternen Klassen« (Haug 1992: 40). Der Protest der vom sozialen Abstieg Bedrohten verschiebe sich auf hinzukommende Konkurrenten im Verteilungskampf und kreise um Ressourcen wie Wohnraum, öffentliche Verkehrsmittel, Krankenhäuser, Bildungschancen und die Sicherheit vor Übergriffen (vgl. ebd.: 41). Es gehe um die gesellschaftlichen Strukturen, die den Rassist:innen nach Haug »keine Wahl« (ebd.) ließen. Haugs Perspektive auf die Ursachen des Rassismus von unten hat Konsequenzen für seine Bekämpfung. Haug plädiert gegen die Bezeichnung jenes Protests von unten als Rassismus. Wer alle »möglichen Phänomene« (Haug 1992: 35) als rassistisch bezeichne, vollziehe eine »totalisierende Interpretation« (ebd.: 33). Wenn man alles als Rassismus bezeichne, worin sich bspw. Angst artikuliert, so Haug, dann trete das Bezeichnete eben durch die Bezeichnung erst hervor. Mit anderen Worten: Der Hinweis auf das rassistische Argument verstärke die rassistische Haltung. Die Konzeption des Rassismus von unten – als Protestform der Subalternen – ist nicht unproblematisch. Menschen, die sich rassistisch äußern, handeln hiernach aus Notwehr. Rassismus wird als »Aufschrei der sozial getretenen Kreatur« (ebd.: 34) verstanden. »Könnte es sogar sein, daß der interaktive Rassismus [der Rassismus von unten, U. M.] bereits eine bewußtlos wütende Reaktion auf den vordringenden Neorassismus wäre?« (Ebd.: 43)27

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2000er Jahre zunächst die Sorge vor dem »Verlust des Arbeitsplatzes, dem wichtigsten Indikator für Abstiegsangst« (Lengfeld 2017: 62) stetig an. Als mögliche Gründe nennt Lengfeld »Zunahme an weltweiter Konkurrenz und in der Folge der Anstieg des Kostendrucks in deutschen Unternehmen, der Rückgang von manuellen Tätigkeiten mit einfachen Anforderungen an die Qualifikation der Beschäftigten, die Zunahme flexibler Arbeitsverhältnisse (befristete Verträge, Teilzeit, Zeitarbeit und Minijobs […]) sowie die Reformen in der sozialen Sicherung (›Hartz-Gesetze‹ […])« (ebd.). Ab 2006 bis 2014 konnte allerdings ein starker Rückgang der Statusverunsicherung beobachtet werden. Das Ausmaß der Sorgen nahm in der mittleren Mittelschicht am stärksten ab. Diesen überraschenden Befund erläutern Lengfeld/Ordemann in einer anderen Arbeit: »Da wir in unseren Analysen für das Auftreten zumindest der wichtigsten Risiken (Arbeitslosigkeit, Vertragsbefristung, Teilzeitarbeit) kontrolliert haben, ist es sehr wahrscheinlich, dass der gezeigte Verlauf der Abstiegsangst nicht auf die objektive Zunahme der Risiken in der mittleren Mitte zurückgeht. Daher vermuten wir, dass diese mittlere Mitte grundsätzlich sensibler auf externe ökonomische und institutionelle Schocks oder kritische Ereignisse reagiert als die obere oder die untere Mitte.« (Lengfeld/Ordemann 2017: 181) Zudem mag sich die Mitte auch an die unsicheren Verhältnisse im Neoliberalismus gewöhnt haben, so dass Erwartungen entsprechend angepasst werden und Enttäuschungen geringer ausfallen (vgl. ebd.). Dagegen scheinen Nachtweys Diagnosen der fortbestehenden Angst vor Statusverlust und Abstiegsängsten vor allem bei Pegida und AfD-Sympathisant:innen zunächst quer zu liegen. Doch Nachtwey untersucht Abstiegsängste nicht nur in Bezug auf Arbeitsverhältnisse im Inland, sondern versteht Abstiegsängste im Anschluss an Elias weitgefasster als »Machtkonflikte und Figurationen von Etablierten und Außenseitern« (Nachtwey 2017: 227), die sich einerseits im Inneren eines Staates und im Verhältnis der Staaten zueinander vollziehen. Statusverluste für die einen und Statusaufwertungen für die anderen betreffen zudem Positionen in Kontext von Geschlechterverhältnissen (ebd.: 225f.). Mit vordringendem Neorassismus fasst Haug hier nicht den Wandel der argumentativen Bezugspunkte (von der ›Rasse‹ zur ›Kultur‹), sondern die Auslese in der Konkurrenz jenseits der Hautfarbe (vgl. Haug 1992: 43).

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Es ist unstrittig, dass kapitalistische Vergesellschaftung Leiden produziert. Zu widersprechen ist jedoch dem ausschließlichen Determinismus des Gesellschaftlichen, der die Eigenverantwortung des Einzelnen nicht mehr thematisieren kann.28 Der Selbstwahrnehmung von Pegida-Anhänger:innen und Co. als verzweifelte, besorgte Bürger:innen, sollte widersprochen werden, wie auch der Politik zu widersprechen ist, die die Ängste und Sorgen der Bürger:innen (gemeint sind die Protestierenden gegen Flüchtlingsunterkünfte) meint ernst nehmen zu müssen. Dörre, der die (rechtsaffinen) Arbeiter:innen in seinen Befragungen als Opfer und Täter in den Verteilungskämpfen begreift – zugleich »Objekt negativer Klassifikation« und Täter, weil sie ihre Kämpfe um Statuserhalt ressentimentgeladen austragen – sieht nur einen Weg den ausgrenzenden Nationalismus zu begegnen: »Abwertungsmechanismen [müssen] destruiert und strukturelle Ursachen zwischen Arm und Reich politisch wieder offensiv benannt werden« (Dörre 2019: 175), ohne dabei in eine schematische oben-unten-Erklärung zu verfallen. Dazu gehöre auch die Einsicht in die Existenz diverser anderer Lohnarbeitenden-Klassen mit einem hohen Anteil von migrantischen Arbeiter:innen und die Verbindung von Anerkennungs- und Verteilungskämpfen (vgl. ebd.). Haug betont immer wieder, dass es nur Rassismen gebe, keinen Rassismus. Doch was diese vielen Rassismen eint, bleibt unklar. Haugs ideologietheoretischer Ansatz zeigt nicht, was die Bilder des aktuellen Rassismus sind und wie sie entstanden sind. Das Argument, man dürfe Rassist:innen nicht so nennen, weil man sonst selber konstruiere, wie Rassist:innen selbst, führt aus meiner Sicht in die Irre. Folgte man diesem Argument, wäre jede inhaltliche Bestimmung einer pejorativen, abwertenden Praxis unmöglich – denn sie kann ja gar nicht anders als die Abwertenden als solche eben abzuwerten. Dass Haug Rassismus nicht näher bestimmt, mag auch an seiner Konzentration auf die inhaltliche Bestimmung des Ideologischen liegen: »als Reproduktionsform der Entfremdung, ideelle Vergesellschaftung im Rahmen staatsförmig regulierter Herrschaft« (Haug 1993: 17). Das Ideologische ist für ihn eine analytische Kategorie, die »Wirkungszusammenhänge der Herrschaftsproduktion« in den Blick nimmt und nichts über die »Wesenseigenschaften von Phänomenen« aussagt (vgl. ebd.). Es geht Haug folglich vorrangig um die Bedeutung dieses Phänomens als Ideologie zur Stabilisierung von Herrschaft – weniger um seine konkrete Eigenlogik und seine spezifischen Folgen. Das ist ideologietheoretisch konsequent, aber für die Rassismusanalyse nur bedingt sinnvoll. Auch die Trennung von Ideologie und Selbstvergesellschaftung an anderer Stelle in Haugs Werk (vgl. Haug/PIT 1979: 180f.), mag Haugs Zurückhaltung den (rassistischen) Protest von unten als Rassismus zu kritisieren, geschuldet sein. Ihm ist klar, dass in kapitalistisch organisierten Gesellschaften Emanzipation nur als mögliche gedacht werden kann. Auch wenn die Idee der Selbstvergesellschaftung ein Problem vieler gesellschaftheoretischer Ansätze – nämlich vor lauter Determinationen keine verantwortlichen Subjekte mehr zu haben – zu überwinden sucht (vgl. zur Problematik objektivistischer Theorien: Kapitel 4), so bleibt im Falle der Rassismusanalyse Haugs das Problem, dass die Akteure des Rassismus sich nur ›wehren‹.

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In diesem Aspekt kann Haug gegen Haug gelesen werden (vgl. Haug 2007).

6 Rassismus und gesellschaftliche Objektivität

Haugs Auffassung ist durchaus verwandt mit einem vorhandenen deterministischen Zug früher Kritischer Theorie. Deren Determinismus war aber ein bewusst übertreibender (Adornos Verteidigungen des epistemischen Wertes der Übertreibung sind zahlreich): Adorno wollte nicht recht behalten, sondern unrecht: durch schonungslose Überzeichnung der Ohnmacht sie zumindest theoretisch brechen. Vor allem: Diesem Determinismus korrespondiert ein voluntaristisches Moment. Adornos Minima Moralia und viele seiner Vorlesungen widmen sich der Frage, wie gut und richtig zu handeln und zu leben sei. Dem Determinismus stellen sich solche Fragen nicht. Rest-Voluntarismus in der Subjektkonstitution sichert nicht nur die prinzipielle Möglichkeit einer besseren Gesellschaft ab (es ist nicht alles verstellt), er beharrt auch auf der Verantwortlichkeit des Subjekts bei rassistischen Angriffen beispielsweise. Gesellschaftliche Unfreiheit suspendiert nicht von Verantwortung. Die These Adornos, dass selbst, wenn wir denken, »wir selbst« zu sein, wir dennoch in »weitem Maße als Agenten unserer Funktion« (Adorno 1964/65: 102) handeln, ist wichtig. Sie widerspricht im Namen noch herzustellender Freiheit fundamental der liberalen Freiheitsbehauptung. Sie führt uns aber nicht weiter in Hinblick auf die Verantwortlichkeit des Subjekts. Der frühe Horkheimer war noch optimistischer, was die Möglichkeiten des Subjekts zum aktiven Eingreifen in die gesellschaftlichen Verhältnisse angeht: »Die Umwälzung, die der Herrschaft ein Ende macht, reicht so weit wie der Wille der Befreiten. Jede Resignation ist schon der Rückfall in die Vorgeschichte.« (Horkheimer 1940/42: 303) Die Abkehr von dieser voluntaristischen Perspektive war bei Horkheimer auch Folge der NS-Erfahrung. Kann Kritische Theorie heute – in einer zumindest hinsichtlich ihrer Institutionen stabilisierten demokratischen Gesellschaft – diesen Voluntarismus wieder vertreten? Sollte Kritische Theorie heute nicht auch stärker auf die, wenn auch eingeschränkten, Handlungspotentiale der Subjekte deuten, ohne sich dabei in unrealistischen Autonomie- und Emanzipationsphantasien zu verlieren? Stephan Grigat betont in seiner Arbeit Fetisch und Freiheit (2007) wie sehr die Subjekte in wertverwertenden Gesellschaften durch die Strukturen determiniert sind. Doch Gesellschaftskritik dürfe sich nicht auf diesem Determinismus zurückziehen. Kritik bewege sich in einer Pendelbewegung zwischen Voluntarismus und Determinismus. »Die Freiheit jedes einzelnen Menschen, sich jederzeit entscheiden zu können, dagegen zu sein, bleibt gerade in der fetischhaft konstruierten Gesellschaft konstitutiv für Kritik.« (Grigat 2007: 302)

6.2.3 Staat und Rassismus Joachim Hirschs Buch zur Materialistischen Staatstheorie (2005) ist mit dem Anspruch geschrieben worden, das bei Marx nur fragmentarisch gebliebene Verhältnis von Kapitalismus und Staat historisch konkret zu bestimmen (vgl. dazu auch Görg/Brand 2018: 10). »Die politische Form oder der Staat ist selbst ein Bestandteil des kapitalistischen Produktionsverhältnisses. Die Eigentümlichkeit der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise liegt in der Trennung und gleichzeitigen Verbindung von ›Staat‹ und ›Gesellschaft‹, ›Politik‹ und ›Ökonomie‹. Die Ökonomie ist der Politik weder strukturell noch historisch vorausgesetzt.« (Hirsch 2005: 25)

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Der Staat falle auch nicht in den Bereich des bloßen ›Überbaus‹, der einfach aus der ›Basis‹ resultiere. Wie andere Kategorien auch sei der Staat Ergebnis historisch spezifischer Beziehungen. Hirsch schließt an die Staatsableitungsdiskussionen der 1970er Jahre kritisch an und versucht die marxistische Missachtung der Eigenlogik vom Staat zurückzuweisen. Staaten stehen in Konkurrenz zueinander. Sie sind Teil eines Staatensystems und ringen um Vormachtstellungen. Trotz einer starken Internationalisierung lässt sich beobachten, dass »einzelstaatliche Rivalitäten bzw. die Konkurrenz zwischen Staatenblöcken nach wie vor ein charakteristisches Merkmal der internationalen Politik« (Hirsch 2005: 58) sind. Für Hirsch spricht einiges dafür, dass die vielen konkurrierenden Einzelstaaten nicht nur typisch für eine historisch abgesteckte Epoche seien, sondern dass ihre Existenz ein »grundlegendes Merkmal der kapitalistischen politischen Form und eine der wesentlichen Bestands- und Entwicklungsbedingungen dieser Produktionsweise darstellt« (ebd.). Im Staat werden gesellschaftliche Widersprüche und Konflikte bestandsfähig gemacht. Weil die Form des modernen Staates aus materialistischer Perspektive das Ergebnis strukturellen Zusammenwirkens mit dem Kapital ist, ist der Staat nicht als neutral zu betrachten; er steht nicht jenseits oder über der Ökonomie (vgl. Hirsch 2005: 26). Die Unterscheidung von Migrant:innen in solche, die als Arbeitskräfte verwertbar sind und solche, die sich der Verwertung nicht anbieten, erscheint in diesem Licht als Akt, der nur mit einer ökonomiekritischen Staatstheorie zu begreifen wäre: Nicht nur bestimmt der Staat über die Staatszugehörigkeit und damit die Möglichkeit umfänglicher Partizipation, sondern institutionalisierte Zugehörigkeit drückt sich auch in den gesetzlichen Bestimmungen aus, die die (temporäre) Möglichkeit eröffnen, die Arbeitskraft in anderen Ländern zu Markte zu tragen. Die neue Gesellschaftsform brauchte im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus den freien Bürger, der Verträge eingehen konnte. Diese wirtschaftliche Freiheit, ohne die es die politische Freiheit in der Demokratie29 nicht gäbe, kennt dennoch gruppenspezifische Grenzen. »Partizipation am Staat […] hat doch völkische Gleichartigkeit zur stillschweigenden Prämisse« (Bruhn 1994: 94). Freiheit – und sei sie im Kapitalismus noch so schlecht verwirklicht – bemisst sich am Besitz der deutschen Staatsbürgerschaft.

Institutioneller Rassismus: Kritik der Staatsbürgerschaft Ich habe oben diskutiert, wie die Art, in der Migration in Deutschland als Arbeitsmigration reguliert wird, die soziale und ökonomische Position von Migrant:innen bestimmt. Karakayali und Tsianos schreiben, dass im »Migrationsregime diejenigen Momente staatlicher Praxis«30 heraustreten, die »rassistische Hierarchisierung von Lebenschancen strukturieren« (Karakayali/Tsianos 2002: 246). Das Konzept Staatsbür-

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Auf einen bemerkenswerten Umstand weist Wallat hin: Zwar brauchen sich Staat und Kapital, aber der Kapitalismus braucht nicht zwingend einen demokratischen Staat (vgl. Wallat 2009: 336f.). Als Migrationsregime gilt die »Gesamtheit aller staatlichen und nicht-staatlichen Praktiken […], die grenzüberschreitende Migration strukturieren und kontrollieren« (Karakayali/Tsianos 2002: 246).

6 Rassismus und gesellschaftliche Objektivität

gerschaft verbindet die politökonomischen, strukturellen Aspekte des Rassismus mit seiner institutionellen Praxis. Robert Miles’ Unterscheidung zweier Formen des institutionellen Rassismus ist hier hilfreich: die direkte Weiterführung von Ausgrenzungspraxen – oder die Formierung eines neuen Diskurses. Ich skizziere zunächst kurz die zweite Form des institutionellen Rassismus, die an anderer Stelle dieser Arbeit als Neo-Rassismus/Ethnopluralismus ausführlich behandelt wurde, bevor ich mich der ersten Form zuwende. Miles bezieht die zweite Form des institutionellen Rassismus auf »Verhältnisse, in denen ein explizit rassistischer Diskurs dergestalt abgewandelt wird, daß der direkt rassistische Inhalt verschwindet, während die ursprüngliche Bedeutung sich auf andere Wörter überträgt.« (Miles 1999: 113) Diese zweite Form verkettet verschiedene Rassismusformen, weil sie beispielsweise Elemente eines biologistisch argumentierenden mit einem kulturalistisch argumentierenden Rassismus verbindet. Diese Bestimmung des institutionellen Rassismus erfasst das, was in der Rassismusforschung zumeist als kulturalistischer bzw. NeoRassismus bezeichnet wird. Das alte rassistische Vokabular wird vermieden, die Inhalte bleiben jedoch im Kern erhalten. Es formiert sich ein neuer rassistischer Diskurs. Der Diskurs der Neuen Rechten mit den Begriffsverschiebungen zu einem kulturalistisch argumentierenden Rassismus ist für Miles ein Beispiel für diese zweite Form des institutionellen Rassismus (vgl. ebd.: 84ff.) (vgl. ausführlich zum Konzept des Ethnopluralismus in der neuen Rechten: Kapitel 3.2). Zur Analyse des deutschen Staatsbürgerschaftsrecht ist die erste Form bedeutsamer. Während des Nationalsozialismus wurden Antisemitismus und Rassismus zur Staatsdoktrin.31 Die antisemitische und rassistische Programmatik des Nationalsozialismus hatte ihre ideologischen Vorgänger in den Rassentheorien des 19. Jahrhunderts und in der völkischen Bewegung, die eine Hierarchisierung der Menschheit anstrebten, an deren unterster Stelle die Juden standen (vgl. Kwiet 1997: 50f.). Juden wurden nicht nur in diesen Ideologien hierarchisch abgewertet, sondern standen auch im Alltagsbewusstsein vieler Menschen für das ›ganz andere‹. Die bis dahin relativ bedeutungslose Eugenik und die so genannte ›Rassenhygiene‹ gewannen mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten Bedeutung in medizinischen, philosophischen und sozialwissenschaftlichen Gedankengebäuden (vgl. ebd.: 52). Eugenik und Rassenhygiene zogen als Ideen in zahlreiche Gesetze ein. Das »Reichsbürgergesetz« (RBG l, I S. 1146) vom 15. September 1935 unterscheidet Menschen nach ihrer Herkunft unter Anwendung rassistischer und antisemitischer Klassifikationen. Auf der einen Seite stehen diejenigen mit ›deutschem oder artverwandtem Blut‹, auf der anderen Seite sogenannte ›Angehörige rassefremden Volkstums‹. Die Staatsangehörigen ›deutschen oder artverwandten Blutes‹ waren »alleinige[] Träger der vollen politischen Rechte im Nationalsozialismus« (SchmitzBerning 2000: 537). Juden und Jüdinnen, Rom:nja und Sinti:zze sowie alle anderen, die in einem nun erforderlichen Abstammungsnachweis nicht belegen konnten, dass sie ›arischen Blutes‹ waren, wurde der Bürger:innenstatus abgesprochen. Sie wurden sowohl von staatlicher Seite durch Gesetze und Verordnungen diskriminiert, aber auch

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Vgl. zum institutionellen Rassismus auch: Marz 2020: 110–113; Stender 2023: 101–136.

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von anderen nicht-staatlichen Körperschaften wie Vereinen und Verbänden ausgeschlossen. Rassistisch fundiert war auch das »Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre« – das so genannte Blutschutzgesetz – welches die Möglichkeiten der Heirat und des erlaubten Geschlechtsverkehrs zwischen Deutschen und NichtDeutschen regelte. Das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht fand seine rechtliche Grundlage bis zu seiner Änderung im Jahr 2001 im ius sanguinis (das Recht der Abstammung, wörtlich das ›Recht des Blutes‹). Dieses Abstammungsrecht trat nicht erst im Nationalsozialismus in Kraft, sondern bereits 1914 und ist keine ausschließlich deutsche Regelung (es existiert ähnlich in der Schweiz und in Israel). Eine deutsche Spezifik und rassistische Bedeutung erhält diese Regelung allerdings, mit Blick auf den historischen Kontext. Oliver Trevisiol zeigt in Die Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich 1871–1945 (2006), dass vor allem der Einfluss völkischer Verbände und Politiker die Gestaltung und Praxis der Einbürgerung bestimmt habe. Schon während der Weimarer Republik wurden Juden und Jüdinnen als ›fremdstämmig‹ diskriminiert. Auch Zugewanderte aus dem Osten galten aufgrund der antipolnischen und antislawischen Praxis als fremd. ›Schwarzen‹ wurde in der Regel die Einbürgerung verweigert. Das ius soli hingegen bezieht sich auf den gemeinsamen Ort der Geburt oder die Dauer der Niederlassung (bis 1870 rechtliche Grundlage in ganz Europa): Das ius sanguinis spiegelt ein ethnisches Verständnis von Staatsbürgerschaft ab 1870 wider; das ius soli eher ein republikanisches. Das Abstammungsrecht entspricht dem Glauben an die blutsmäßige Bindung einer Gemeinschaft, der man nicht einfach durch Bekenntnis beitreten kann. Es enthielt lange die Vorstellung angeborener Tugenden und Fähigkeiten (vgl. Wiegel 1995: 87f.). Die rassistische Fundierung der Gesetzgebung während des Nationalsozialismus hat sich somit auch im bundesrepublikanischen Staatsbürgerschaftsrecht nach 1945 zumindest teilweise fortgesetzt. So konnte nur die deutsche Staatsbürgerschaft erhalten, wer deutsche Vorfahren hatte. Das zeigte sich dann auch an der unkomplizierten Einbürgerung der deutschen Vertriebenen und ›deutschstämmigen‹ Flüchtlinge nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Eine derart problemlose Einbürgerung gab es für andere Gruppen nicht. Im Licht von Miles’ Definition erfüllte das deutsche Staatsbürgerschaftsrecht zumindest bis zu seiner Reform 2001 die Merkmale der ersten Form des institutionellen Rassismus: Ausgrenzungspraxen werden aufgrund rassistischer Motive, nicht auf Grundlage eines neuen Diskurses fortgeführt. Das ius sanguinis als rechtlich bindendes Prinzip bei der Vergabe der Staatsbürgerschaft in Deutschland bedeutete beispielsweise, dass ein in Berlin geborenes Kind türkischer Eltern kein Deutscher war oder werden konnte. Die Reform von 2000 änderte das. Die Reform enthielt die Möglichkeit doppelter Staatsbürger:innenschaft und die Ergänzung des Abstammungsprinzips durch Elemente des Geburtsortsprinzips (jus soli). Ein Kind ausländischer Eltern, das in Deutschland geboren wird, erhält neben der Staatsangehörigkeit seiner Eltern automatisch die deutsche Staatsbürger:innenschaft.32 32

Die Voraussetzung dafür ist, dass zumindest ein Elternteil zum Zeitpunkt der Geburt des Kindes seit acht Jahren rechtmäßig in Deutschland lebt und über eine Aufenthaltsberechtigung oder seit drei Jahren über eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis verfügt.

6 Rassismus und gesellschaftliche Objektivität

Das jus sanguinis muss jedoch nicht als rückständiger Vorläufer des jus soli gedeutet werden. Materialistische Staatstheoretiker:innen drehen die Sache um: Das völkische Abstammungsprinzip ist dann die konsequente Umgestaltung eines bürgerlichen Prinzips. »[Die] Gleichheit der Individuen als Rechtssubjekte konkretisiert sich in ihrer Homogenität als Staatsobjekte […]. Nation, der nackte Zeugungs- und Geburtenzusammenhang der Individuen als kreatürlicher, tritt auf als Produkt der Souveränität und als politische Natur, die den Einzelnen immer schon genealogisch sich angeeignet und für sich rekrutiert hat. So kommt, vom Boden, den die Grenzpolizei des Staates gegen ›die Flut der Anderen‹ bewacht, und so entsteht aus der ›territorialen Integrität‹, die das Militär vor den ›Fremden‹ beschützt, die Kategorie des Blutes in der Politik, das jus sanguinis als Konsequenz wie Prämisse des jus soli.« (Bruhn 1994: 94; Herv. i.O.)

Staat, Nation und ›Rasse‹ Nationalstaaten beziehen sich auf ein Kollektiv, in der Regel auf das ›Volk‹. Der Nationalstaat ist mit der kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaft entstanden. Die kapitalistische Gesellschaft führt zu einer Schwächung und sogar Auflösung sozialer Milieus, verwandtschaftlicher und nachbarschaftlicher Zusammenhänge, weil die Menschen zu grenzenloser Mobilität und Aktivität angehalten sind (vgl. dazu auch Lessenich 2009). Auch Demirović verweist auf die »Leere und Kälte der Moderne«, auf deren »Auflösung von handlungsorientierenden und -motivierenden Sinn« (Demirović 1996: 223). Zu dieser Erfahrung der Freisetzung aus sozialen Bindungen und Sinnorientierungen addiert sich die Erfahrung, in eine »gesellschaftliche Maschinerie« eingebunden zu sein, »die umso undurchschaubarer und unbeeinflussbarer erscheint, je mehr sich das Kapitalverhältnis weltweit durchsetzt« (Hirsch 2005: 67). Aus dieser Situation erwachsen Unsicherheit und die Sehnsucht nach Stabilität, die auch als ›Identität‹ gesucht wird. Die Kritische Theorie hat diese Perspektive für den Zusammenhang der Suche nach kollektiver Identität, Angst und Unsicherheit häufig thematisiert: »Wenn Angst nicht verdrängt wird, wenn man sich gestattet, real so viel Angst zu haben, wie diese Realität Angst verdient, dann wird gerade dadurch wahrscheinlich doch manches von dem zerstörerischen Effekt der unbewußten und verschobenen Angst verschwinden.« (Adorno 1966a: 683). In der Beziehung von Nationalismus und Rassismus nun wird nichts von dieser Angst wirklich zugelassen, sondern sie wird versteckt hinter den Symbolen der ›Nation‹ und der ›Rasse‹. Diese verheißen Identität, Geborgenheit und Stabilität. Die ›Nation‹ ermöglicht es den Einzelnen, sich als Einheit zu begreifen; sie simuliert Gemeinsamkeiten und Grenzen in räumlicher und zeitlicher Hinsicht. Dabei muss sich die ›Nation‹ zwingend nach außen und innen abgrenzen. Sie muss definieren, wer dazu gehört und wer nicht. Die ›Nation‹ codiert die Gesellschaft und deren Form des Zusammenhalts neu: Als ›Volk‹ wird die Gesellschaft symbolisch greifbar (vgl. Hirsch 2005: 68f.). »Je mehr alldurchdringender Staat und alldurchdringende Kapitalisierung interessenspezifisch dissoziieren und Vereinzelung zunimmt, desto wichtiger wird ein Symbolmanagement, das das ansonsten un(be)greifbare Ganze jedenfalls in projektiver Identifikation kopfunter erreichen läßt. Das ist es, wovon alle Nationalismen und Ethnozentrismen unentwegt handeln.« (Narr 1999: 108)

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Dass sowohl ›Rasse‹ wie auch ›Nation‹ keinen wesensmäßigen Kern haben, sondern erschaffen sind, ist in der soziologischen und politikwissenschaftlichen Forschung ein Allgemeinplatz. Dennoch setzt das Alltagsbewusstsein sie häufig als wesensmäßig existent, als etwas immer schon da Gewesenes voraus. Wenn gesagt wird, dass es sich bei Nationen wie auch bei ›Ethnien‹/›Rassen‹ um eine Konstruktion handelt, so heißt das indes nicht, dass sie nicht real sind (vgl. Salzborn 2011: 153). ›Nation‹ und ›Rasse‹ können daher als real wirksame Konstruktionen bezeichnet werden, weil sie materielle Wirksamkeit entfalten. Die ideologische Überzeugungskraft von ›Rasse‹ und ›Nation‹ ist nur vor dem Hintergrund ihres Entstehens und Fortlebens in historisch konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen zu verstehen. Wie auch im Falle des Rassismus, wo der ideologische Effekt von der Vorgängigkeit einer ›Rasse‹ mit bestimmten Eigenschaften und einer dieser ›Rasse‹ entsprechenden sozialen Position wirkt – so wirkt auch dieser Effekt der vorgängigen ›Nation‹, dem ein bestimmter Nationalstaat entspreche. »Es ist daher falsch und leicht widerlegbar, den Nationalstaat als Produkt einer ihm vorausgesetzten ›Nation‹ begreifen zu wollen.« (Hirsch 2005: 70) Das, was als nationale Kultur gepriesen wird, ist die Neuzusammensetzung von »soziokulturellen Zusammenhängen und Traditionen« (ebd.: 71). Materiale Form bekommen diese kollektiv-ideellen Bemühungen um Vergemeinschaftung in der Asyl- und Einwanderungspolitik – insbesondere bei der rechtlichen Form der Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft: der Staatsbürgerschaft. Die Vorstellung einer biologisch und/oder kulturell sich begründenden Abstammungsgemeinschaft mit einer einheitlichen Sprache, Kultur, einem Territorium und einer ›Volksseele‹, wird durch zentrale Machtapparate des Staates hergestellt. ›Rasse‹, so Hirsch, fundiert die Gleichsetzung von ›Volk‹ und Raum. Die Kategorie ›Volk‹ organisiert die innere und äußere Ausgrenzung, die ohne die »zentralisierte Herrschaft über ein Territorium« (Hirsch 2005: 72) nicht möglich wäre. Daher komme kein Staatsbürgerschaftsrecht ohne Ausgrenzung aus.33 Angesichts meiner Betonung der Verbindungen zwischen ›Rasse‹ und ›Nation‹ sollten die Differenzen zwischen Rassismus und Nationalismus nicht vergessen werden. Gegen den absolutistischen Staat gerichtet war ›Nation‹ erstens verbunden mit aufklärerischen Gedanken. Zudem hat der Nationalismus zweitens als politisches Projekt nur in einem bestimmten Territorium Geltung; eine Grenze des Territoriums kennt die Vorstellung von ›Rasse‹ hingegen nicht (vgl. Wiegel 1995: 101). Ein dritter Unterschied ent-

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Im Gegensatz zu Hirsch, der die Unterscheidung zwischen verschiedenen Nationformen, wie dem deutschen oder dem französischen Modell, für die Frage nach deren Exklusionseffekten für marginal hält, weil sie alle per se »Ausgrenzung und die Diskriminierung des ›Fremden‹« (Hirsch 2005: 72) einschlössen, erachte ich die Betrachtung der Unterschiede der jeweiligen Nationform für wichtig. Israels Nationalismus beispielsweise ist Reaktion auf die Mechanismen des Nationalismus. So folgt Israels Staatsgründung einer negativen Begründung des Nationalismus. Das nationale Bewusstsein ist negativen Ursprungs, weil es eine Reaktion auf den Antisemitismus ist. Israel muss jüdischer Staat bleiben, solange andere Gesellschaften keinen Schutz vor dem Antisemitismus bieten (vgl. Grigat 2007: 336). Und so ließe sich mit Miles’ Kritik des institutionellen Rassismus anschließen, dass der Nachweis einer rassistisch motivierten Ausgrenzung durch das Staatsbürgerschaftsrecht den Rassismus macht und nicht schon die ausgrenzende Schließung einer Nation zum Schutz der antisemitisch Verfolgten.

6 Rassismus und gesellschaftliche Objektivität

spannt sich an den Folgen, die beide Ideologien für konkrete Menschen haben, die sie ausschließen: Die Existenz anderer Nationen ist für den Nationalismus grundsätzlich kein Problem, da sich selbst ein expansiver Nationalismus nicht über die ganze Welt auszudehnen trachtet. Die zentrale Befürchtung des Rassismus hingegen ist die Vermischung der vermeintlichen ›Rassen‹ untereinander. Um den ›Verfall‹ der ›weißen Rasse‹ aufzuhalten, sind Rassist:innen immer wieder weit gegangen, insbesondere, wenn sie die Macht dazu hatten. Es gibt keine Zwangsläufigkeit einer Kooperation zwischen Rassismus/Antisemitismus und Nationalismus. Ob es zu einer solchen Verbindung kommt, hängt von vielen historischen Umständen ab. Auf eine vierte wichtige Differenz zwischen Nationalismus und Rassismus verweist Albert Scherr. Eine Kritik des Rassismus habe den Rassismus mitsamt seiner »Strukturen, Denkweisen und Praktiken« (Scherr 2017: 246) vollständig abzulehnen; eine vollständige Ablehnung des »Nationalstaat[es] als in sich widersprüchliche[m] Arrangement« bleibt Utopie, schon deshalb, weil der Nationalstaat als demokratischer Wohlfahrts- und Rechtsstaat bestimmte Gewährleistungen sicherstellt (vgl. ebd.: 247). Ich komme auf diese Unterschiede zwischen Rassismus und Nationalismus im letzten Kapitel zurück. Wie ordnet Kritische Theorie den Nationalismus im Kontext der Moderne ein? Ebenso wenig wie der Antisemitismus gilt der Nationalismus als irrationale Abweichung vom rationalen Weg aufgeklärter Moderne. Nationalismus ist Aspekt der Dialektik der Aufklärung: Er werde virulent in einer Gesellschaft misslingender Säkularisierung, in denen vereinzelte Individuen den Individualismus als Sinnverlust erfahren. »Nationalismus verweist auf eine Fehlentwicklung der Moderne selbst. Individualisierung und Nationalisierung der Individuen gehen notwendigerweise einher, das eine ist nicht ohne das andere. Auch und gerade die modernste Gestalt des Individuums schlägt um in die nationalisierten Individuen.« (Demirović 1996: 233) Demirović zeigt unter Rückgriff auf Horkheimer, dass sich im Nationalismus etwas ausdrückt, was grundsätzlich auf die Unzulänglichkeiten der kapitalistischen Moderne verweist: Nationalismus bearbeitet den Widerspruch zwischen Individualisierung und sozialer Integration. Er bietet sich an, die Widersprüche zwischen Allgemeinem und Einzelnen – zwischen ›Volk‹ und Individuum zu versöhnen (Demirović 1996: 232f.). Nicht das nationalistische Individuum wäre demnach mangelhaft modernisiert, sondern die Moderne wäre mangelhaft als Realisierung der Aufklärung. Horkheimer spricht dem Bedürfnis, das der Nationalismus mittels seiner Kompensationsfunktion einfängt, durchaus Berechtigung zu und hält die »Überführung einzelner Elemente des Nationalismus […] in den Begriff der richtigen Gesellschaft« (Horkheimer 1967: 429, zit.n. Demirović 1996: 232) für eine zu leistende theoretische Aufgabe. Im Kontrast dazu scheint zunächst Adornos Einlassung zu stehen, dass es einen gesunden Nationalismus und ergo einen positiven Bezug auf ihn nicht geben könne: »Gesundes Nationalgefühl vom pathischen Nationalismus zu scheiden, ist so ideologisch wie der Glaube an die normale Meinung gegenüber der pathogenen; unaufhaltsam ist die Dynamik des angeblich gesunden Nationalgefühls zum überwertigen, weil die Unwahrheit in der Identifikation der Person mit dem irrationalen Zusammenhang

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von Natur und Gesellschaft wurzelt, in dem die Person zufällig sich befindet.« (Adorno 1960a: 589) Der Satz verdeutlicht, dass Adorno eine Rettung einzelner Elemente des Nationalismus, z.B. das Bedürfnis nach Sinn und Überwindung von Vereinzelung, nicht anstrebt. Nationalismus treibe aus seiner eigenen Dynamik zur Selbstüberhöhung – zum Ethnozentrismus. Allerdings will auch Horkheimer nicht die Ideen des Nationalismus selbst retten, sondern das Motiv bewahren, das Menschen in den Nationalismus führt. Von der dialektischen Idee, für emanzipatorische Politik die wahren Momente einer Ideologie zu übernehmen, bleibt in der Theorie und Praxis zeitgenössischer linker Populismen kaum etwas übrig. Linker Populismus wird von Chantal Mouffe vorgestellt als Strategie, Menschen eine Alternative zu extrem rechten Populismen anzubieten (vgl. Mouffe 2005; Laclau 2017). Im Zentrum stehen hier Vergemeinschaftungsangebote: Dem rechten autoritären Nationalismus soll etwas entgegengesetzt werden. Doch der linke Populismus übersieht, dass die Sehnsucht, sich rechten Parteien oder Bewegungen anzuschließen, nicht nur aus dem Gefühl der Vereinsamung resultiert, sondern ein ideologisch gesättigtes Fundament hat. Laclau beispielsweise bestimmt Populismus als reine Form, die inhaltlich beliebig mit einem so genannten »leeren Signifikanten« (Laclau 2017: 240) gefüllt werden könne. Diese Theorie ignoriert, dass es politisch durchaus einen Unterschied macht, ob der vereinende leere Signifikant die Nation, die ›weiße Rasse‹ oder die Demokratie ist, wie Jörke und Selk feststellen (vgl. Jörke/Selk 2017: 143). Laclau verwischt damit die Grenze zwischen rechts und links, statt sie zu konturieren, wie Chantal Mouffe (2005: 13) es für einen linken Populismus fordert. Ein zweites Problem eines linken Populismus betrifft den Umstand, dass dieser nicht nur instrumentell die Relevanz des Vergemeinschaftungsgedankens übernimmt, sondern das Bedürfnis nach Geborgenheit in der Gemeinschaft als Urbedürfnis der Menschen essentialisiert. So schreibt Mouffe unter Rückgriff auf Elias Cantetti, dass es einen in der »psychologischen Ausstattung des Menschen« liegenden Trieb gäbe, »der den Wunsch der Menschen erweckt, mit der Masse zu verschmelzen und sich damit selbst in ihr zu verlieren« (Mouffe 2005: 34). Das ist genau der psychodynamische Modus des autoritären Charakters, den sie beschreibt, nur dass Mouffe ihn seiner historisch-gesellschaftlichen Genese entreißt und ihn anthropologisiert. Diese Annahme einer Kollektivsehnsucht als vermeintlich psychologischer Grundausstattung dient Mouffe als Begründung für ihre Überlegungen zur demokratischen Politik. Aus Perspektive der Kritischen Theorie ist, so Ingo Elbe, die Sehnsucht nach dem Verschmelzen mit der Masse ein irrationaler Fluchtversuch aus gesellschaftlich produzierter Ohnmacht; ein Versuch des autoritären Charakters. Linke Affektpolitik bedient so den gleichen Mechanismus wie rechter Populismus (vgl. Elbe 2018: 112). Schon Adorno warnte indirekt vor der Adaption irrationaler Agitation durch emanzipatorische Kräfte: »Propaganda aber, die rationale Manipulation des Irrationalen, ist das Vorrecht der Totalitären. Die diesen widerstehen, sollten nicht sie nachahmen auf eine Weise, die sie doch nur notwendig ins Hintertreffen brächte« (Adorno 1959: 570) und an anderer Stelle, gegen Brecht gerichtet, schreiben Horkheimer und Adorno:

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»Propaganda für die Änderung der Welt, welch ein Unsinn! Propaganda macht aus der Sprache ein Instrument, einen Hebel, eine Maschine. Propaganda fixiert die Verfassung der Menschen, wie sie unterm gesellschaftlichen Unrecht geworden sind, indem sie sie in Bewegung bringt.« (Horkheimer/Adorno 1947: 293) Die gesellschaftlich produzierte Ansprechbarkeit für populistische Propaganda, nicht sein Ansprechen durch die – bislang – falschen politischen Kräfte ist der abzuschaffende Skandal in den Augen Kritischer Theorie. Aus Perspektive Kritischer Theorie nimmt der Nationalismus eine bedeutende Rolle nach dem Nationalsozialismus auch deshalb ein, weil der offene Rassismus unter ein Tabu fällt. Dessen Motive verschieben sich auf den Nationalismus. In der Studie Gruppenexperiment schält sich, so die Deutung Friedrich Pollocks, »ein diffuser, logisch vielfach wirrer, aber relativ festgefügter Strukturzusammenhang« (Pollock 1955: 480) heraus, der die Wahrnehmung der Realität umspanne: eine »überwertige Identifikation mit dem Kollektiv, zu dem man selbst zählt, insbesondere der Nation« (ebd.). Diese Eignung der ›Nation‹ als Bezugspunkt kollektiver Identifizierung nach dem Nationalsozialismus hängt nicht nur mit der Tabuisierung des Rassedenkens zusammen, sondern auch mit dem spezifisch ideologischen Erbe, dass der NS-Staat hinterlassen hat. Die ›Nation‹ scheint etwas Intimes zu vermitteln; sie lässt »den Staat als ein persönliches Verhältnis erscheinen« (Scheit 2000: 67), in den die Geborgenheit der familiären Bande projiziert wird. Scheit bestimmt die Identität des Subjekts in demokratischen Gesellschaften auf dreifache Weise vermittelt: durch Nation, Staat und Kapital. »Während das Kapitalverhältnis etwa den Status des Überflüssigseins hervorbringt und dem Individuum einprägt, wird das Gefühl, nicht überflüssig zu sein, wie es die Familie dem einzelnen zuerst vermittelt, zur nationalen Angelegenheit. Denn mit dem Selbstbewußtsein als Nation kann das gesellschaftliche Unbewußte des Werts reguliert werden; in ihm vereinen sich Familie, Staat und Kapital zur Dreifaltigkeit der Identität – grenzt sich das Subjekt rassistisch nach unten, gegenüber den weniger ›Produktiven‹, und antisemitisch nach ›oben‹ gegenüber den, aus dem Unbewußten geschöpften Personifikationen des Tauschwertes, ab. Der ideologische Kern der Familie – die ›Blutsverwandtschaft‹ – bewährt sich darum auch als Kern der Nation […].« (Scheit 2000: 65f.) Nationalismus als Ideologie ist immer auf einen konkreten Staat bezogen: Darin unterscheidet sich der Mythos der Nation von den Mystifikationen von Ware, Geld und Kapital, die universell sind. Durch ihre Bestimmung als reales Faktum und als bloß Vorgestelltes sowie als Selbstbewusstsein der Bürger:innen, das sich auf einen abgrenzten Markt bezieht, könne über die ›Nation‹ der Sache nach bewusst durch die Subjekte reflektiert werden, wie Scheit darlegt (vgl. ebd.). Anders verhalte es sich mit ›Rasse‹: Wie die Genese des Preises auf dem Markt sei das »Gewordensein [von ›Rasse‹; U. M.] vollkommen ausgelöscht« (Scheit 2000: 66). Die in diesem Kapitel bislang vorgestellten Überlegungen verhandeln die strukturelle Dimension von Rassismus. Sie betonen dessen unintendierte und apersonale Aspekte. Was ist der Gewinn für die Analyse und Kritik des Rassismus? Rassismus findet sein Fundament in Strukturen kapitalistischer Gesellschaft. Diese Gesellschaft ist ohne Staat als po-

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litische Form nicht zu begreifen. Die Basisstrukturen kapitalistischen Tauschs erzeugen falsche Naturalisierungen; die Vergesellschaftung durch Staat, die Vergemeinschaftung durch ›Nation‹ können durch je eigene Logik ebenfalls dem Rassismus zuarbeiten. Heute erntet der Kapitalismus gewissermaßen die Früchte des älteren ideologischen Zaubers, weil sich die Rechtfertigung der Überausbeutung – d.h. die Herrschaftsform Rassismus, die Menschen inferiorisiert – kulturell etabliert hat. Während der Rassismus im 19. Jahrhundert nachträglich die Sklaverei und spätere Überausbeutung der Kolonisierten rechtfertigte, kann der Kapitalismus heute auf der kulturellen Fundierung des Gedankens der ›Minderwertigkeit‹ aufbauen (angefangen von Rassentheorien bis in das Alltagsbewusstsein der Menschen hinein) und sich diese geglaubte Minderwertigkeit zu Nutze machen. Diese Erwägungen drängen zur Frage nach der Ideologieförmigkeit des Rassismus. Im Folgenden werde ich zeigen, dass die immanent verfahrende Ideologiekritik auch im flexibilisierten Spätkapitalismus eine geeignete Methode (vgl. Havel 2017: 262) für die Rassismusanalyse ist.

6.3 Ideologiekritik und Rassismusanalyse Ideologiekritik ist nicht nur eine »spezifische Form immanenter Kritik« (Jaeggi 2009: 267), sondern Ideologiekritik behandelt auch die Bedeutung der Wahrheitsfrage als Kritik an Herrschaft: Herrschaft, die ermöglicht wird durch Naturalisierung, Verselbständlichmachung, Universalisierung des Partikularen (vgl. ebd.: 269f.). Im Handgemenge politischer Kontroversen wird Rassismus häufig ganz selbstverständlich als Ideologie bezeichnet. Weiter oben wurde bereits gezeigt, dass diese Bezeichnung sich nur schwer auf den Ideologiebegriff von Marx berufen kann. Rassismus tritt weder mit einer Rationalitätsbehauptung noch mit dem Anspruch auf Wahrheit auf, er ist – gemessen an den Überlegungen bei Marx und deren Aufnahme in Kritischer Theorie – keine Ideologie im strengen Sinn. Der folgende Abschnitt behandelt den Wandel des Ideologiebegriffes innerhalb Kritischen Theorie und diskutiert grundlegende Einwände gegen den Ideologiebegriff und die Ideologiekritik. Kritische Theorie hat ihren Ideologiebegriff stets an die Veränderungen der Gesellschaft angepasst.34 Der Schwerpunkt des Abschnitts liegt auf einer Diskussion der Vermittlung von Ideologiebegriff und Rassismuskritik.35

6.3.1 Ideologie und Wahrheit Die Kritischen Theoretiker, vor allem Adorno, schließen an die stark objektivistische Sicht von Marx an: Ideologien sind keine Lügen oder betrügerische Absichten. Ideologiekritik ist auch nicht nur Sprachkritik, die Trugtendenzen des Gesellschaftlichen an 34

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Als Grundlage für meine Darstellung des Ideologiebegriffs im Denken der Kritischen Theorie dient vor allem die Vorlesung Philosophie und Soziologie, welche Adorno im Sommersemester 1960 zweimal wöchentlich an der Universität Frankfurt a.M. hielt. Von der 9. Vorlesung an widmet sich Adorno ausführlich der Ideologienlehre und der Wahrheitsproblematik. Für einen Überblick zur Entwicklung der Ideologiekritik (vgl. Geuss 1983; Reitz 2004; Rehmann 2016). Vgl. zur Bedeutung der Ideologiekritik für die Rassismusanalyse auch Marz 2021.

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litische Form nicht zu begreifen. Die Basisstrukturen kapitalistischen Tauschs erzeugen falsche Naturalisierungen; die Vergesellschaftung durch Staat, die Vergemeinschaftung durch ›Nation‹ können durch je eigene Logik ebenfalls dem Rassismus zuarbeiten. Heute erntet der Kapitalismus gewissermaßen die Früchte des älteren ideologischen Zaubers, weil sich die Rechtfertigung der Überausbeutung – d.h. die Herrschaftsform Rassismus, die Menschen inferiorisiert – kulturell etabliert hat. Während der Rassismus im 19. Jahrhundert nachträglich die Sklaverei und spätere Überausbeutung der Kolonisierten rechtfertigte, kann der Kapitalismus heute auf der kulturellen Fundierung des Gedankens der ›Minderwertigkeit‹ aufbauen (angefangen von Rassentheorien bis in das Alltagsbewusstsein der Menschen hinein) und sich diese geglaubte Minderwertigkeit zu Nutze machen. Diese Erwägungen drängen zur Frage nach der Ideologieförmigkeit des Rassismus. Im Folgenden werde ich zeigen, dass die immanent verfahrende Ideologiekritik auch im flexibilisierten Spätkapitalismus eine geeignete Methode (vgl. Havel 2017: 262) für die Rassismusanalyse ist.

6.3 Ideologiekritik und Rassismusanalyse Ideologiekritik ist nicht nur eine »spezifische Form immanenter Kritik« (Jaeggi 2009: 267), sondern Ideologiekritik behandelt auch die Bedeutung der Wahrheitsfrage als Kritik an Herrschaft: Herrschaft, die ermöglicht wird durch Naturalisierung, Verselbständlichmachung, Universalisierung des Partikularen (vgl. ebd.: 269f.). Im Handgemenge politischer Kontroversen wird Rassismus häufig ganz selbstverständlich als Ideologie bezeichnet. Weiter oben wurde bereits gezeigt, dass diese Bezeichnung sich nur schwer auf den Ideologiebegriff von Marx berufen kann. Rassismus tritt weder mit einer Rationalitätsbehauptung noch mit dem Anspruch auf Wahrheit auf, er ist – gemessen an den Überlegungen bei Marx und deren Aufnahme in Kritischer Theorie – keine Ideologie im strengen Sinn. Der folgende Abschnitt behandelt den Wandel des Ideologiebegriffes innerhalb Kritischen Theorie und diskutiert grundlegende Einwände gegen den Ideologiebegriff und die Ideologiekritik. Kritische Theorie hat ihren Ideologiebegriff stets an die Veränderungen der Gesellschaft angepasst.34 Der Schwerpunkt des Abschnitts liegt auf einer Diskussion der Vermittlung von Ideologiebegriff und Rassismuskritik.35

6.3.1 Ideologie und Wahrheit Die Kritischen Theoretiker, vor allem Adorno, schließen an die stark objektivistische Sicht von Marx an: Ideologien sind keine Lügen oder betrügerische Absichten. Ideologiekritik ist auch nicht nur Sprachkritik, die Trugtendenzen des Gesellschaftlichen an 34

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Als Grundlage für meine Darstellung des Ideologiebegriffs im Denken der Kritischen Theorie dient vor allem die Vorlesung Philosophie und Soziologie, welche Adorno im Sommersemester 1960 zweimal wöchentlich an der Universität Frankfurt a.M. hielt. Von der 9. Vorlesung an widmet sich Adorno ausführlich der Ideologienlehre und der Wahrheitsproblematik. Für einen Überblick zur Entwicklung der Ideologiekritik (vgl. Geuss 1983; Reitz 2004; Rehmann 2016). Vgl. zur Bedeutung der Ideologiekritik für die Rassismusanalyse auch Marz 2021.

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der Sprache ablesen will; weder ist sie ›Interessenpsychologie‹ noch Propagandaanalyse. Ideologiekritik als Gesellschaftskritik zielt auf die Realität, »die nicht so ist[,] wie ihr Begriff es verspricht (Adorno 1965/66: 219). Der klassische, marxsche Ideologiebegriff setze einen »emphatischen Begriff von Wahrheit« (Adorno 1960b: 151) voraus; er unterstellt die Differenz von objektiv gültiger und einer verzerrten Form von Wahrheit. Im Ideologiebegriff von Marx verbindet sich die objektive Notwendigkeit und die Unwahrheit von Ideologien. Adorno nennt diese marxsche Bestimmung die strenge, klassische Gestalt der Ideologienlehre. Ideologien entstehen nach Adorno dort, wo den Menschen die Produktionsverhältnisse zur zweiten Natur werden, in deren Rahmen sie denken und agieren – wo also Soziales zum geschichtslosen, unabänderlichen Naturzusammenhang wird. Als »universalen Verblendungszusammenhang« (Adorno 1960b: 156) bezeichnet Adorno dieses Eingeschlossensein des Denkens in den Kategorien der bürgerlichen Gesellschaft. Diese Bewusstseinsbildung ist allerdings keine Einbahnstraße von der Basis zum Bewusstsein, sondern sowohl ist Objektivität vermittelt durch die erkennenden Subjekte als auch sind die Bewusstseinsformen der Subjekte stets schon durch die gesellschaftliche Realität vermittelt. Ideologie ist »gesellschaftlich notwendiger Schein« (Adorno 1960b: 219). Das heißt, in der Objektivität des Ideologiebegriffs liegt auch ein »Moment von dessen eigener Wahrheit« (ebd.: 220). Denn wenn ein Bewusstsein notwendig ist, dann kann es nicht nur im einfachen Sinne falsch sein. Es ist falsch und zugleich adäquat. Marx hat dies an der Lehre des freien und gleichen Tauschs im Liberalismus, der »Ideologie par exellence« (ebd.: 222) expliziert. Diese Ideologie beruft sich auf Freiheit und Gleichheit, und das eben nicht einfach lügend, falsch. Der Tausch ist wirklich einer der gleichen Vertragspartner:innen – nur dass eben der eine hier seine Ware Arbeitskraft in den Tausch einzubringen genötigt ist, der doppelt freie Arbeitende – während der andere mit diesem gleichen und gerechten Tausch von Äquivalenten seinen Profit vorbereitet – die Mehrwertproduktion durch die Anwendung der erworbenen Arbeitskraft. »[Der] Äquivalententausch bestand von alters her gerade darin, daß in seinem Namen Ungleiches getauscht, der Mehrwert der Arbeit appropriiert wurde. Annullierte man simpel die Maßkategorie der Vergleichbarkeit, so träten anstelle der Rationalität, die ideologisch zwar, doch auch als Versprechen dem Tauschprinzip innewohnt, unmittelbare Aneignung, Gewalt, heutzutage: nacktes Privileg von Monopolen und Cliquen. Kritik am Tauschprinzip als dem identifizierenden des Denkens will, daß das Ideal freien und gerechten Tauschs, bis heute bloß Vorwand, verwirklicht werde.« (Adorno 1966: 150) Ideologiekritik braucht solche Wahrheitsmomente im Unwahren der Ideologie. Adorno formuliert daher als Ziel von Ideologiekritik, dass sich die Ideologie verwirkliche (vgl. Adorno 1960b: 221f.). Ideologie ist, was seinem selbst gesetzten Anspruch nicht oder nicht mehr genügt. Ideologiekritik nimmt begriffliche Ansprüche beim Wort. In dem Moment, in dem gesellschaftliche Realität und gesellschaftliche Postulate, Normen und Werte auseinanderlaufen, dennoch aber der Schein von deren Verwirklichung erzeugt wird, haben wir es, nach Marx und Adorno, mit Ideologie zu tun. In ihrer klassischen

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Form ist Ideologie geknüpft an die bürgerlich-liberale Gesellschaft. Nur hier kann der immanente Zusammenhang zwischen den Ansprüchen nach Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit und die soziale Realität dieser Ansprüche als Ungerechtigkeit, Unfreiheit und Ungleichheit ideologiekritisch sichtbar gemacht werden. Ideologiekritik hat den Bezug auf diese Ideen (das ist das Wahre an Ideologien) und die gleichzeitige Unterminierung dieser Ideen in der Ideologie aufzuzeigen. Ideologie ist also nicht das, was wir inhaltlich falsch finden, nicht mögen oder was wir per se einfach einem politischen Lager zurechnen könnten. Die Grenzen des Ideologiebegriffs thematisiert Adorno im Zusammenhang mit Einwänden von Seiten positivistischer Theorien, die sich gegen den präsenten Begriff der Totalität36 in Kritischer Theorie, also gegen die Vorstellung eines gesellschaftlichen Ganzen, wenden. Je mehr nämlich die partikulare Rationalität in der Gesellschaft bei fortgesetzter Irrationalität des gesellschaftlichen Ganzen wächst, desto stärker werden die Widersprüche. Irrational wird die Gesellschaft durch den »Widerspruch zwischen dem Möglichen und dem Wirklichen« (Adorno 1960b: 197). Wenn Gesellschaft aber im Spätkapitalismus des zwanzigsten Jahrhunderts immer irrationaler wird, sie immer mehr in »unverbundene Einzelansichten« (ebd.: 199) zerfällt, dann hat das auch Konsequenzen für den Gesellschafts- und den Ideologiebegriff, denn dieser ist angewiesen auf ein rationales Substrat. Adorno betont daher, wo »die Gesellschaft, von ihrer Ratio verlassen ist, das heißt, wo eigentlich die Unvernunft im Verhältnis zwischen den gesellschaftlichen Formen der Produktion und dem Stand der Produktivkräfte offenbar geworden ist, daß demgegenüber die Theorie ihr Recht verloren hat, […], weil Theorie immer heißt, eine Sache mit ihrer eigenen Vernunft oder vielmehr mit dem Anspruch, den sie auf Vernünftigkeit erhebt, zu konfrontieren.« (Adorno 1960b: 203f.). Bemerkenswert ist hier, dass Theoriebildung und Ideologiekritik als Verfahren zusammenfallen. Und interessant ist, dass Adorno mit dem liberalen Kapitalismus und seinen Rationalitätsansprüchen auch die Hochzeit der Ideologie zerfallen sieht. »Die Irrationalität der bürgerlichen Gesellschaft in ihrer Spätphase ist widerspenstig dagegen, sich begreifen zu lassen; das waren noch gute Zeiten, als eine Kritik der politischen Ökonomie dieser Gesellschaft geschrieben werden konnte, die sie bei ihrer eigenen ratio nahm.« (Adorno 1961: 284) Ideologien und deren Funktionen sowie überhaupt der Status des Ideologischen ändern sich also mit der Geschichte. Typisch für Ideologien ist nun, dass sie den geschichtlichen Charakter, den sie selber tragen, an gesellschaftlichen Zuständen, Einsichten, Verhaltensweisen usw. verleugnen. Die »Verabsolutierung des Gewordenen« (Adorno 1960b: 226), sprich die Naturalisierung des Sozialen gehört zum Wesen von Ideologien. Ideologien erzeugen den Schein eines »An-Sich Seiende[n]« 36

Die Kritische Theorie übernimmt von Georg Lukàcs dessen Vorstellung einer gesellschaftlichen Totalität, die als von der Warenform vollständig usurpiert betrachtet wird sowie dessen Begriff der Verdinglichung, den Lukàcs in Geschichte und Klassenbewusstsein (1923) entwickelt. Als Verdinglichung wird die Tendenz kapitalistischer Gesellschaften bezeichnet, alle Produkte und menschliche Beziehungen als Ware zu betrachten. Die Warenform durchdringe demnach alle »Lebensäußerungen« der Gesellschaft und forme diese nach ihrem Ebenbild (vgl. Lukàcs 1923: 96).

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(ebd.: 226). Sie tragen so dazu bei, dass die Gesellschaft als unveränderlich angesehen und tendenziell der Kritik entzogen wird. Für den klassischen Ideologiebegriff war eine »durchgebildete Theorie« (Adorno 1960b: 148) wie der politische und ökonomische Liberalismus die Voraussetzung. Ideologien haben objektive und subjektive Voraussetzungen. In objektiver Hinsicht müssen Gesellschaften sich gegenüber den Menschen verselbständigt haben – der Unterbau braucht gleichsam einen »geschlossenen Motivationszusammenhang« (ebd.: 228). In subjektiver Hinsicht braucht es einen Anspruch auf Rationalität, Legitimierbarkeit und Begründbarkeit der Gesellschaft. Rechtfertigungsideologien kann es also nur dort geben, wo die herrschenden Zustände eine solche Rationalität überhaupt zulassen – bzw. wo sie den Anspruch haben, sich an ihr zu legitimieren. Ideologie gibt es nur dort, wo Verhältnisse überhaupt der Selbstrechtfertigung bedürfen. Ideologie, so klassisch verstanden, ist demnach kein »abstrakter Universalbegriff« (ebd.: 229), sondern gilt nur für die bürgerliche, nicht aber beispielsweise für die feudale Gesellschaft oder für den Nationalsozialismus. Das heißt, dass wir unter diesem klassischen Ideologiebegriff keinesfalls alle ›falschen Bewusstseinsformen‹ subsumieren können. Nach Adorno seien Ideologien heute dünn und brüchig geworden: Der Begriff von Ideologie im Sinne »eines notwendig falschen Bewusstseins« (Adorno 1960b: 231) beginne sich aufzulösen. Die Veränderungen im Ideologiebegriff seien auf Strukturveränderungen in der Gesellschaft zurückzuführen (ebd.: 266). Welche Strukturveränderungen das sind, skizziert Adorno in seinem Einleitungsvortrag Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? (1968) auf dem 16. Deutschen Soziologentag. Diese Veränderungen betreffen erstens die zunehmende Irrationalität der Gesellschaftsstruktur; zweitens die Steigerung von Unfreiheit, Abhängigkeit und Unterdrückung durch eine verselbständigte Apparatur; drittens die Kennzeichnung der heutigen Gesellschaft nach dem Stand ihrer Produktivkräfte als Industriegesellschaft und als Kapitalismus in ihren Produktionsverhältnissen; viertens die verselbständigte Rolle von Technik ausschließlich zu Zwecken des Profits und nicht der Verwirklichung eines guten Lebens für alle Menschen; fünftens das Übergreifen ökonomischer Verfahrensweisen auf »andere Bereiche der materiellen Produktion, auf Verwaltung, auf die Distributionssphäre« und auf die Kultur sowie sechstens, die Verschränkung von ökomischen mit massenmedialen Momenten zur ›Gleichschaltung‹ von Menschen (vgl. Adorno 1968: 359–367). Warum aber führen diese Strukturveränderungen zu einer Veränderung von Ideologie? Viele dieser Veränderungen bilden die Grundlage für die Charakterisierung der spätkapitalistischen Gesellschaft als »verwaltete Welt« mit deren »Primat der Administration« (Adorno 1970: 372) und der »Verselbständigung exekutiver Instanzen« (Adorno 1960: 145). Die Menschen werden in den »Bann« (Adorno 1968: 370) des gesellschaftlichen Gesamtzusammenhangs gezogen. Entsprechend übernehme die Funktion der einst relativ selbständigen Ideologien nun das »Bestehende selbst« (Adorno 1960b: 234), welches sich so fest, unveränderlich und erfolgreich darstellt, dass seine Stabilität nicht mehr von seiner Rechtfertigung abhängt. »Nichts bleibt als Ideologie zurück denn die Anerkennung des Bestehenden selber, Modelle eines Verhaltens, daß der Übermacht der Verhältnisse sich fügt. […]. Seitdem aber die Ideologie kaum mehr besagt, als daß es so ist, wie es ist, schrumpft auch ihre eige-

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ne Unwahrheit zusammen auf das dünne Axiom, es könne nicht anders sein als es ist.« (Adorno 1954: 477) Insofern sich die Funktionen von Ideologien – Rechtfertigung und Komplementierung von sozialen Verhältnissen37 – auf den gesamten Gesellschaftszusammenhang übertragen, sei die gesamte Gesellschaft ideologisch geworden (vgl. Adorno 1960b: 234). Vielleicht, so Adorno, beginnen die Komplementärideologien dort zu überwiegen, wo gesellschaftliche Ordnungen als zweite Natur38 erscheinen und gar nicht mehr zur Disposition stünden (ebd.: 251). Komplementierend wirken Ideologien, wenn sie die soziale Realität zu einer »postulierte[n] Idealsphäre« (Lenk 1971: 27) verklären. In Komplementärideologien werden, stärker als in Rechtfertigungsideologien, »Herrschende wie Beherrschte« (ebd.: 26) Träger der Ideologie. Dennoch verbietet es diese Einsicht, Ideologie nur auf partikulare Interessen zurückzuführen. Auch bei diesem neuen Ideologiebegriff könne, so Adorno, von einem notwendig falschen Bewusstsein gesprochen werden, weil gesellschaftliche Veränderung als unmöglich gilt. Ideologie zerteile sich nun in Anbetung, und das, was sie dem klassischen Ideologiebegriff nach nie war: Lüge. Nicht jedoch am subjektiven Bewusstsein entscheide sich, ob etwas Ideologie sei, sondern anhand der Strukturen und Kategorien, in denen ein Mensch denke und handele (Adorno 1960b: 241f.). Im Ideologiebegriff Adornos sind demnach, wie Havel resümiert, drei Dimensionen aufbewahrt: »Synkretismus aus Richtigem und Falschem, Rechtfertigung und Verschleierung, gesellschaftlich notwendiges Bewusstsein« (Havel 2017: 262). Als zentraler Vermittler der Ideologie gilt der Kritischen Theorie seit der Dialektik der Aufklärung die Kulturindustrie. Im so genannten »Kulturindustriekapitel« stellen Horkheimer und Adorno heraus, dass Wahrheit keine Referenz mehr sei. Die gesellschaftlichen Verhältnisse werden hier gerade nicht hinterfragt; sie werden als unveränderlich dargestellt und gerechtfertigt – »positivistisch zu unveränderlichen Tatsachen erhoben« (Rehmann 2016: 14), als naturhaft dargestellt. Der vorher noch emphatisch verteidigte klassische Ideologiebegriff erfährt nun mit einem »freien Ideologiebegriff« (Adorno 1960b: 255) eine Ausweitung auf die gesamte Gesellschaft.

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»Ideologie ist Rechtfertigung« (Adorno 1954: 465; Herv. i.O.). An anderer Stelle heißt es zur Ausdehnung des Ideologischen: »Die Ideologie, der gesellschaftlich notwendige Schein, ist heute die reale Gesellschaft selber, insofern deren integrale Macht und Unausweichlichkeit, ihr überwältigendes Dasein an sich, den Sinn surrogiert, welchen jenes Dasein ausgerottet hat. Die Wahl eines ihrem Bann entzogenen Standpunkts ist so fiktiv wie nur je die Konstruktion abstrakter Utopien.« (Adorno 1951b: 26) Adorno unterscheidet neben Rechtfertigungsideologien noch Komplementärund Verschleierungsideologien (vgl. Adorno 1960: 249f., 262f.). Kurt Lenk arbeitet in Volk und Staat (1971) diese Typologie politischer Ideologien weiter aus und ergänzt sie um den Typ der Ausdrucksideologie. Adornos erweiterter Ideologiebegriff reagiert auf die Steigerung einer bereits bei Marx und Lukacs beschriebenen Tendenz kapitalistischer Gesellschaften zur Verselbständigung. In der »durchvergesellschaften Gesellschaft« (Adorno 1955: 59), der »verwalteten Welt«, die die Menschen in ihren »totalen gesellschaftlichen Bann« (Adorno 1970: 342) zieht, sei das Gleichgewicht von Individuum und Kollektiv zugunsten des Kollektivs verschoben. Die Suggestion, dass Gesellschaft nur so und nicht anders möglich sei, ist die Erscheinung, in der sich der ausweglose gesellschaftliche Einschluss offenbart (vgl. ebd.: 342).

6 Rassismus und gesellschaftliche Objektivität

6.3.2 Ideologiekritik unter Kritik Die Ideologiekritik steht mit ihrer marxistischen Tradition und deren Frankfurter Fortführung sowohl als Theorie wie auch als Methode in der Kritik. Wichtige Einwände sind der stets gegen marxsche Theorieversuche erhobene Ökonomismusvorwurf (auf den hier nicht eingegangen wird), die Kritik, dass ihr (1.) ein überholtes Verständnis von Wirklichkeit und Wahrheit zugrunde liege sowie, dass sie (2.) die Vorstellung eines eigenen Erkenntnisprivilegs notwendig mitführe. Aber auch innerhalb der Kritischen Theorie kam es (3.) zu einer Problematisierung des Ideologiebegriffs, die bereits angedeutet und hier noch weiter vertieft werden soll. (ad 1) Vor allem aus postmoderner Perspektive wurde die Ideologiekritik für unbrauchbar erklärt, weil die Vorstellung eines notwendig falschen Bewusstseins hier zum epistemologischen Problem wird. Dieses Problem resultiert maßgeblich aus der postmodernen Ablehnung der Vorstellung einer objektiv erkennbaren materiellen Realität. Wer falsches Bewusstsein skandalisiere, der müsse (und Adorno hat dem zugestimmt) einen durchaus realistischen Wahrheitsbegriff und einen Anspruch auf Erkennbarkeit der Welt hegen: Eine materiale Objektwelt gehe dem Erkenntnissubjekt voraus; gelingende Erkenntnis sei dieser Welt ›adäquat‹: Auffassungen, die den Kern von Ideologiekritik marxscher Prägung bilden. Postmoderne Kritiken verzichten auf solche ›korrespondenztheoretischen‹ epistemischen Ansprüche; das Programm der Ideologiekritik scheint aus dieser Sicht im besten Falle müßig, im schlimmeren Fall anmaßend. Dass in der Zurückweisung eines deterministisch gedeuteten Basis-Überbau-Modells »die marxistische Ideologiekritik unter Wert gehandelt wird« (Reitz 2004: 709), überrascht kaum angesichts der Vielzahl von Marxist:innen, die Marx tatsächlich reduktionistisch, rein ökonomistisch und funktionalistisch ausgelegt und angewendet haben. In postmodernen Theorien nun sind nicht mehr ökonomische Verhältnisse prägend für die Theoriebildung, sondern Narrative, Episteme und Diskurse. In das Zentrum der Kritik rücken hier Wissen, Blicke, Identitäten und soziale Verkehrsformen des Alltags. Ein Ende von Ideologien (post-ideologisches Zeitalter) proklamieren daher nicht nur jene Theoretiker:innen (bspw. Bell 1960; Aron 1957) seit den 1950er Jahren, die damit die zunehmende Bedeutungslosigkeit großer Weltanschauungssysteme, wie den so genannten ›realexistierenden Sozialismus«, meinen, sondern auch Vertreter:innen jener Theorien, die davon ausgehen, dass sich mit der Infragestellung von objektiver Wahrheit jede kritische Frage der Angemessenheit von Wirklichkeitsbeschreibungen erledigt (und damit nach Ideologie). Lyotard beispielsweise begründet die Irrelevanz von Ideologien mit der zunehmenden Skepsis der Menschen gegenüber der Möglichkeit von Letztbegründungen (Lyotard 1979). (ad 2) Der Ideologiebegriff wird zudem wegen der Annahme eines in den Menschen waltenden ›falschen‹ Bewusstseins kritisiert. Diese Kritikgeste gehe von einem notwendig elitären Erkenntnisprivileg einiger Intellektueller aus – Inhaber des ›richtigen‹ Bewusstseins zu sein. Aus den Reihen der Cultural Studies, die sich nach ihrer Adaption linguistischer Theorieangebote von ihren marxistischen Bezügen entfernten (Hall 2004: 45), wurde ganz grundsätzlich infrage gestellt, ob ein Großteil der Menschen sich systematisch über seine Interessen täuschen könne (Hall 1989: 186). Auch der der

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neueren Kritischen Theorie verbundene Robin Celikates wendet sich gegen die Vorstellung, dass es sozialen Akteuren an Reflexionsvermögen mangele; er versucht darum, Ideologiekritik mit ethnomethodologischen Prämissen zu erweitern (Celikates 2009). (ad 3) Weiter oben habe ich bereits gezeigt, dass die Kritische Theorie um Horkheimer und Adorno seit den 1940er Jahren den klassischen Ideologiebegriff selbst als unangemessen für die Beschreibung und Kritik der spätkapitalistischen Gesellschaft charakterisierte (»das waren noch gute Zeiten«). Unangemessen erschien Ideologiekritik aufgrund einer neuen Gesellschaftsdiagnose. Ideologiekritik, so Adorno, habe nur dort noch einen Gegenstand, wo die Einrichtung einer vernünftigen Gesellschaft überhaupt zur Disposition steht – bzw. wo bestehende Verhältnisse sich als bereits vernünftig rechtfertigen. Das ist aus Sicht der Kritischen Theorie vor allem in totalitären Gesellschaften, insbesondere im Nationalsozialismus nicht der Fall. Wo unmittelbare Macht herrscht, da herrschen Propaganda und Lüge – Ideologie hingegen gehört der vermittelten, gerechtfertigten Herrschaft des bürgerlichen Zeitalters an. Wo Weltanschauung nur noch ›von oben‹ diktiert werde, »ist in der Tat Ideologiekritik zu ersetzen durch die Analyse des cui bono« (Adorno 1954: 466). Adorno geht es darum zu zeigen, dass unter dem Eindruck totalitaristischer Gesellschaftsformationen ebenso wie in den Bilder- und alternativlosen Gesellschaften des westlichen Spätkapitalismus der Ideologiebegriff zunehmend veraltet. Der Vernichtungswunsch, die autoritäre Wut, die Propaganda – all das ist für Adorno gerade keine Ideologie mehr. Eine totalitäre, undemokratische Gesellschaft muss Ungleichheit nicht hinter legitimierenden Ideologien verstecken; sie kann sie nahezu offen propagieren, weil sie weitgehend auf rationale Rechtfertigungen verzichten kann. Der Liberalismus ist Gegenstand der Ideologiekritik; der Nationalsozialismus und der Antisemitismus sind es nicht mehr. Ihnen fehlt die immanente Rationalität, die kritisch beim Wort zu nehmen wäre. Wo psychologische und nicht sachliche Logik vorherrscht, da kommt Ideologiekritik an ihr Ende. Tilman Reitz wendet gegen diese von Adorno gesetzte Grenze des Ideologiebegriffs ein, dass völkisches Denken im Nationalsozialismus nicht weniger ideologisch werde, weil die ›Herrschenden‹ davon auch einen Nutzen hatten (vgl. Reitz 2004: 705). Wenn Ideologiekritik also voraussetzt, dass Herrschaft noch legitimiert werden muss, so ist Ideologiekritik auch in demokratischen Gesellschaften ein durchaus probates Instrumentarium, denn Demokratien sind beständig gezwungen, ihre Herrschaft zu legitimieren. Ideologien walten dort, wo ihre Apologeten noch den Anspruch auf »Autonomie und Konsistenz« (Adorno 1954: 466) erheben – also dort, wo rassistisches Denken beispielsweise mit dem Anspruch auftritt, gerade nicht rassistisch zu sein. Das führt zur Frage, ob und wann Rassismus überhaupt Gegenstand von Ideologiekritik sein kann.39

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Weitere Einwände gegen das Konzept eines falschen Bewusstseins betreffen den Vorwurf, dass dieses Konzept elitäres Denken sei, weil es ja dann offenbar doch einige Intellektuelle geben müsse, die ein richtiges Bewusstsein hätten. Ein weiterer Einwand berührt die Frage, wie Emanzipation überhaupt denkbar ist, wenn doch ein Großteil der Menschen verblendet ist (vgl. zu dieser Diskussion ausführlich: Eagleton 1993: 18–31; auch Rosa 2009: 90f.).

6 Rassismus und gesellschaftliche Objektivität

6.3.3 Das »Wahre« und das »Notwendige« des Rassismus Im Folgenden werde ich die Wahrheitsproblematik des Ideologiebegriffs im Zusammenhang mit dem Rassismus diskutieren. Der Wahrheitsbegriff enthält zwei zu trennende Ebenen, deren Vermischung das weithin verbreitete Unbehagen am Konzept des ›falschen Bewusstseins‹ erklären kann. Der Rekurs auf Wahrheit in der Ideologiekritik operiert erstens auf einer epistemologischen Ebene. Zweitens ist dieser Rekurs auf Wahrheit auch Teil des Anspruchs eines dialektischen Verfahrens, das sich seinem Gegenstand nähert. (ad 1) Ideologiekritik hat den »Anspruch auf Wahrheit im Kritisierten« (Adorno 1954: 466). Braucht Ideologiekritik also das Kriterium der nicht nur in sozialwissenschaftlichen Theorien weithin diskreditierten Idee von Wahrheit? Kritische Theorie arbeitet nicht mit absoluten Wahrheitsansprüchen, aber eben doch mit dem Anspruch, Wahrheit vermittels der Kritik am Unwahren indirekt gerecht zu werden. Das »Unwahre« ist kein System falscher Sätze, keine bloß fehlgehende Erkenntnis. In der Negativen Dialektik bindet Adorno das Unwahre eng an leibliches Leid. Und Tilman Reitz plädiert in diesem Sinne für einen reduzierten – dafür aber die unmittelbare Existenz und Unversehrtheit der Menschen berührenden – Wahrheitsrekurs der Ideologiekritik: »Gerade hier liegt aber wohl der entscheidende Einwand gegen die Assoziation von Ideologiekritik mit absoluten Wahrheitsansprüchen: Ihr geht es ohnehin nie allein um Erkenntnis, sondern v.a. um Befreiung. Die Wahrheit und die Objektivität, die dabei im Spiel ist, beschränkt sich auf einsichtige Annahmen der Art, dass Menschen in bestimmten Lagen ein Interesse daran haben, nicht mehr derart ausgebeutet, herumkommandiert und bevormundet zu werden.« (Reitz 2004: 713) Auch Adorno beruft sich zur Begründung von Wahrheit und Unwahrheit auf konkretes Leiden, wenn er schreibt, dass die Wahrheit bei den Produktivkräften läge, also bei den Menschen, an dem Ort, wo sich deren Leben produziert und reproduziert (Adorno 1960b: 155). Falsch ist die Identifizierung von Ideologiekritik mit der Suche nach dem Wer oder Woher des Sprechenden, wie ich bereits in der Auseinandersetzung mit den Critical Whiteness Studies angedeutet habe: Ideologiekritik versucht das, was gesagt wird, auf dem Terrain des Wahrheitskampfes zu widerlegen und immanente Falschheit mit externalen sozialen Produktionsbedingungen zusammenzudenken. Der Verweis auf einen sozialen Ort oder ein soziales Interesse hinter einer konkreten Wissensproduktion allein genügt Ideologiekritik nicht. Eine partikulare Wahrheit, die nur authentifiziert wird über Erfahrungswissen, wäre darum für Ideologiekritik unzureichend. (ad 2) Die zweite Ebene des Wahrheitsbegriffs betrifft die Rede vom notwendig falschen Bewusstsein, also der Ideologiekritik als dialektischem Verfahren. Rassismus hat ein wahres Element: ja, es gibt Unterschiede zwischen den Menschen. Falsch ist jedoch der Versuch des Rassismus, diese Unterschiede biologisch herleiten und ordnen zu können sowie sie mit weiteren Zuschreibungen anzureichern. Dieser rassistische Ordnungsversuch differenziert nicht nur willkürlich; er differenziert nach gesellschaftlich geeignet erscheinenden Kriterien, nicht nach der realen Verschiedenheit der Menschen. Rassis-

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tische Kategorien liefern deshalb nicht etwa negative Bewertungen für bereits vorhandene Kategorien. Rassismus stellt diese Kategorien erst her. Bei Robert Miles ist dies im Begriff der Bedeutungskonstitution gefasst (vgl. dazu Miles 2000: 21). Ideologisch wird dieser Ordnungsversuch, wenn damit Herrschaftsverhältnisse verschleiert werden sollen, um sie der Kritik zu entziehen. Ein anderes Moment der Wahrheit von Ideologien ist der Umstand, dass Ideologien sich trotz ihrer objektiven Falschheit selbst wahr machen können. Sie übersetzen sich in soziale Praxis und zeitigen Folgen: Menschen werden getötet als Repräsentant ihrer vermeintlichen ›Rasse‹; sie werden institutionell benachteiligt; ein etwaiger marginalisierter sozialer Status wird nicht durch die ihnen verweigerte gesellschaftliche Teilhabe erklärt, sondern ideologisiert als Ausdruck von Faulheit. Rassistische Wohnungspolitik40 kann soziale Verhältnisse befördern, die dann rassistische Vorurteile nachträglich ›wahrmachen‹: »Migranten bilden Parallelgesellschaften«, »Sie wohnen in schäbigen Verhältnissen« usw. Was aber ist notwendig am rassistischen Bewusstsein? ›Notwendig‹ heißt nicht, dass diesem Bewusstsein niemand entkomme. Die Produktionsweise ist zwar prägend, aber historisch gesehen unterschiedlich stark und nicht umfassend determinierend. Ideologien sind gewissermaßen realitätsadäquate Denkweisen, die selbst soziale Praxis wieder prägen. Ideologien sind die »gedankliche Widerspiegelung einer Gesellschaft, deren innere Organisation und äußere Erscheinung auseinanderklaffen« (Schnädelbach 1969: 89; auch Jaeggi 2009: 275). Gerade in dieser Realitätsadäquanz von Ideologien liegt eben ihre Wahrheit. ›Notwendig‹ meint im Falle des Rassismus auch die Feststellung, dass ohne rassistische Strukturen und Menschen, die sich der Herrschaft unterwerfen und die im Alltag rassistische Praxen reproduzieren, diese Gesellschaft nicht bestehen könnte. Gäbe es keine rassistische Ideologie, die Menschen glauben lässt, eine schlechtere soziale Position sei das Ergebnis von schlecht genutzter Chancengleichheit, gefährliche und schmutzige Jobs führten diejenigen aus, die zu nichts anderem veranlagt seien, es herrschten vielleicht andere soziale Verhältnisse (ähnlich: Biskamp 2018: 72). Soziale Verhältnisse, der Zusammenhang von der besseren Stellung der einen und der inferioren Position der anderen, lägen dann offen zu Tage, könnten kritisiert und verändert werden. Es sind folglich nicht nur die Denkweisen, die falsch sind, sondern die gesellschaftlichen Verhältnisse, denen sie entstammen. Deshalb zielt Ideologiekritik immer auch auf die Veränderung gesellschaftlicher Praxis, und nur so überwindet die Frage nach dem cui bono des Rassismus ihre tendenziell personalisierende Verkürzung.

6.3.4 Ideologiebegriff und Rassismus Die Bestimmung von Ideologie ändert sich in der Kritischen Theorie in Abhängigkeit von der historischen Entwicklung. Es wurde im ersten Abschnitt gezeigt, dass sich Kritische Theorie einerseits auf einen engen, klassischen Ideologiebegriff bezieht: Eine Theorie bzw. ein Weltanschauungssystem tritt hier mit einem Rationalitäts- und Wahrheitsanspruch auf. Zum anderen wird ein freier, erweiterter Ideologiebegriff entwickelt, der auf die gesellschaftlichen Veränderungen im Spätkapitalismus reagiert. Dieser wird auf die Ge40

Vgl. zu Rassismus auf dem Wohnungsmarkt die Untersuchung von Domann (2016).

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sellschaft als Ganzes angewendet und weist kaum noch konkrete Inhalte auf. Zentral ist vielmehr die Vorstellung, dass bestehende Verhältnisse nicht mehr hinterfragt werden, unveränderlich, gleichsam als zweite Natur erscheinen. Schon Marx hat Naturvokabeln (»gesellschaftliche Natureigenschaft«; »Naturgesetze der Produktion«) verwendet, um die kapitalistische Gesellschaft seiner Zeit und deren Rechtfertigungsverhältnisse zu kritisieren: Es waren zugleich analytische Begriffe wie sarkastische Attacken: Eine Gesellschaft der stolzen Naturbeherrschung, der bürgerlichen Emanzipation, der politischen Moderne war durchaus kränkbar, wenn sie selbst als ›auch bloß Natur‹ beschrieben wurde. Anfang des 21. Jahrhunderts hingegen wird die Naturgesetzhaftigkeit der verselbständigten Ökonomie von deren Profiteuren ideologisch ins Feld geführt: »Die Politik hat nicht die Macht, die ökonomischen Gesetze aufzuheben, und mag sie auch noch so sehr zetern. Herrn Münteferings moralische Entrüstung über ökonomische Gesetze könnte sich genauso gut gegen das Gesetz der Schwerkraft richten«, so Hans-Werner Sinn (2005: 9) über die damaligen Bestrebungen zur Einführung des Mindestlohns. Naturgleiche Verselbständigung der Ökonomie und menschliche Ohnmacht ihr gegenüber sind bei Sinn keine beißenden Skandalisierungen der Kritiker:innen mehr, sondern Argumente der Verteidigung und Radikalisierung des status quo. Dieser Wandel der Funktion einer ›Naturbeschreibung‹ des Kapitalismus wirft ein grelles Licht auf die Wandlung der Modi des Kritisierens von Ideologie. Das Credo von Rechtfertigung im 19. Jahrhundert war, dass die Verhältnisse gut und richtig sind. Adorno spricht zur Charakterisierung des Spätkapitalismus im 20. Jahrhundert auch deshalb von der zweiten Natur, weil die Rechtfertigungsansprüche viel schwächer geworden sind als noch zu Marxens Zeit; soziale Verhältnisse sind legitim allein deshalb, weil sie eben da sind. Nicht nur niedere Schichten – bei Marx die Arbeitenden – leben ein Leben in einer »ungeheuerlichen gesellschaftlichen Maschinerie« (Adorno/Horkheimer/Kogon 1950: 123), sondern alle sozialen Schichten sind eingespannt in gesellschaftlich vorgegebene Formen, deren Irrationales rationalisiert und fixiert wird, ohne im Ernst noch darüber nachzudenken, wie soziale Verhältnisse geändert werden könnten. Rassismus ist Ideologie insofern er Herrschaftsform und Rechtfertigung ist sowie das Soziale, das gesellschaftlich Gemachte naturalisiert. Als Herrschaftsform wirkt Rassismus, weil er systematisch den herrschaftsförmigen Charakter von Bildungszugängen und Verteilungen auf dem Arbeitsmarkt mitreguliert, aber die Frage nach der Genese der Ungleichverteilungen ausblendet. Die alte rassistische Vorstellung von der Dummheit, Zurückgebliebenheit der ›anderen‹ ist für Rassist:innen überzeugend, weil sie etwaige Bildungsgunterschiede als Ausdruck natürlicher Anlagen wertet und nicht als Resultat sozialer Prozesse, wie z.B. dem verweigerten Zugang zu Bildung und gesellschaftlicher Teilhabe – etwas, was bei Adorno im Begriff der Verschleierungsideologie mitgedacht wird (Adorno 1960b: 262). Solche Überlegungen haben Eingang in die Rassismusforschung gefunden. Die Frage, ob Rassismus als institutioneller auch intentionslos funktioniert, ist in der Forschung umstritten.41 Ideologiekritik deutet auf den Zusammenhang zwischen normativen Idealen und der tatsächlichen Verfasstheit einer Insti41

Insbesondere Miles hat auf die Notwendigkeit des Nachweises einer vorgängigen expliziten rassistischen Praxis hingewiesen, die in Institutionen weiter unentdeckt fortwest (Miles 1989: 113).

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tution, die von diesen Idealen geleitet ist (Jaeggi 2009: 278). Institutioneller Rassismus wäre dann gegeben, wenn sich ein vorgängiger rassistischer Diskurs nachweisen ließe, sich daneben aber auf Gleichheits- und Gerechtigkeitsideale bezöge – und wenn die Akteure in diesen Institutionen kaum persönliche rassistische Motivation hätten. Mit Blick auf die strukturellen Voraussetzungen erscheint Rassismus als notwendiger Effekt kapitalistischer Eigenlogiken – insbesondere des Zusammenhangs von Kapitalvermehrung und Arbeit. Diese Perspektive ist wieder im Zentrum klassischer Ideologiekritik: Mit Blick auf den Rassismus ist die Beschreibung von Ideologie als Rechtfertigung (vgl. Adorno 1954: 465) von Herrschaft und von Machtverhältnissen geeignet. Ideologie selbst tritt hier mit einem Wahrheitsanspruch auf. Dieses Ideologieverständnis ermöglicht es, die Verbreitung und Beständigkeit von Rassismus in seinen vielen Facetten zu erfassen – ob in den ökonomischen Strukturen (die Verteilung von Produktionsmitteln, gesellschaftlichem Reichtum), in gesellschaftlichen Institutionen (institutionelle Einrichtungen, Anordnungen), im Alltagsleben (Orthopraxie), in Bereichen der Kulturindustrie und der offenen Propaganda. Zentral für dieses Verständnis von Ideologie ist eine materialistische Rückbindung, die Ideologien nicht nur als Bewusstseinsphänomen oder als Resultat identifizierendes Denken ausweist, sondern als Konsequenz spezifischer Produktionsweisen. Verbunden mit diesem Ideologieverständnis ist die Naturalisierung gesellschaftlicher Verhältnisse – ein zentraler Topos von Ideologien, der sozial Produziertes als natürlich, angemessen und unveränderlich ausweist. »Die vollkommene Anpassung des Bewußtseins und seine objektive Unfähigkeit, sich Alternativen zum Bestehenden auch nur vorzustellen, ist die Ideologie der Gegenwart.« (Schnädelbach 1969: 91) Exemplarisch lässt sich diese Naturalisierung sozialer Verhältnisse als ein argumentatives Mittel zur Rechtfertigung unter Rückgriff auf die weiter oben genannten Formen des biologistischen und des kulturalistisch argumentierenden Rassismus aufzeigen. Historisch wurde Hautfarbe zur Legitimierung sozialer und ökonomischer Unterschiede benutzt, die durch diese Zuweisung wieder und wieder hergestellt werden. Der biologistisch argumentierende Rassismus betont die Abwertung und Hierarchisierung von Menschen aufgrund biologischer Merkmale. Der Schein, dass die Hautfarbe ursächlich für den Unterschied in den Arbeitsverhältnissen ist, verdeckt, dass mittels der Rassifizierung die sozialen und ökonomischen Unterschiede, die es bereits vor der Rassifizierung gab, nur verteidigt und plausibel gemacht werden sollen. Diese Verteidigung wurde nötig, weil zu erklären war, warum manche Menschen so offensichtlich von der postulierten Freiheit und Gleichheit der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen wurden. Die behauptete Minderwertigkeit und Kulturlosigkeit der Menschen in den Kolonien wurde ebenfalls an den objektiven Verhältnissen abgelesen: Objektiv minderwertig waren vor allem die kolonisierten Arbeiter:innen durch die Ausdehnung der Arbeitszeit (zur Steigerung der absoluten Mehrwertrate) und die Bezahlung in Naturalien oder mit geringem Lohn, wodurch soziale und kulturelle Aktivitäten der Arbeitenden unmöglich wurden. Fehlende Möglichkeiten zur kulturellen Reproduktion und die Zerstörung kultureller Institutionen führte dazu, dass die Kolonisierten als kulturlos, als tiergleich galten (vgl. Schmitt-Egner 1976: 389–395). Rassismus produziert selbst die Verhältnisse, die er bloß deskriptiv zu erfassen behauptet.

6 Rassismus und gesellschaftliche Objektivität

Heute spielen neben der Hautfarbe weitere Kategorien wie ›Kultur‹, ›Ethnie‹, Identität, Religion oder Vernutzbarkeit/Verwertbarkeit eine Rolle, um Differenz überzubetonen bzw. erst herzustellen. Nach dem Nationalsozialismus hat sich in Deutschland und in vielen anderen Gesellschaften ein kulturalistisch argumentierender Rassismus durchgesetzt. Der kulturalistische Alltagsrassismus entfaltet seine Wirkung nicht nur als Bewusstseinsphänomen, sondern wirkt subtil als Ausweichen, Ignorieren und als ausgrenzende und gewaltvolle Praxis. Ideologisch am Alltagsrassismus (gemessen an dem freien Ideologiebegriff Adornos) ist das Festhalten am immer schon Dagewesenen und die Abwehr gesellschaftlicher Veränderungen, die eine Neuordnung sozialer Positionen zur Folge haben könnten. Kann sich Rassismuskritik auf einen ausgedehnten ›freien‹ Ideologiebegriff beziehen, wie er beispielsweise im theoretischen Kontext der Kulturindustriethese, der Kritik instrumentellen Vernunft oder der Kritik des identifizierenden Denkens zu Grunde gelegt wird? Gilt für die Kritische Theorie auch, was Schnädelbach über den totalen Ideologiebegriff der Mannheimschen Wissenssoziologie sagte, dass ein Ideologiebegriff, der sich weder eine gewisse Selbständigkeit des Bewusstseins von den materiellen Bedingungen noch von psychischen Prozessen und Bedürfnissen vorstellen kann, analytisch bedeutungslos wird (Schnädelbach 1969: 89)? Adorno kritisiert in der Vorlesung zu Philosophie und Soziologie die Inflationierung des Ideologiebegriffs vor allem in der Alltagssprache, wenn man »ihn in etwas verwandelt, was man für alle Zwecke und darum für keinen Zweck mehr eigentlich sinnvoll verwenden kann« (Adorno 1960b: 148). Zunächst scheinen diese Diagnosen, die Ideologie als allumfassend beschreiben, für eine Rassismuskritik unbrauchbar. Ein spezifischer gesellschaftlicher Grund für Rassismus lässt sich aus solchen Diagnosen nicht gewinnen. Allein der Wille zum Erhalt des Bestehenden wäre noch ideologisch. Dennoch bietet sich eine Anschlussmöglichkeit an jene Rassismusanalysen, die den Rassismus als strukturell verankert sehen. Wenn Rassismus kein subjektives Bewusstseinsproblem ist, erklärt sich, warum die strukturelle Fundierung des Rassismus in einer Gesellschaft weithin nicht als solche erkannt wird: Ideologie wäre in diesem Sinne vielleicht nicht der Rassismus, aber die gesellschaftliche Fehlwahrnehmung des Rassismus – sein Erscheinen als Vorurteil, wo dieses doch nur subjektive Oberfläche eines Strukturgeschehens ist. Damit hinge auch die Überwindung des Rassismus nicht nur an den Subjekten, sondern an der Änderung der Gesellschaft. In ihrer Kritik der instrumentellen Vernunft zeigen Horkheimer und Adorno, dass Rassismus, mehr noch der Antisemitismus, nicht das hässliche, barbarische Außen der Vernunft, sondern ein anderer Teil dieser sind. Dabei ging es nie darum, nur zu zeigen, welche totalisierenden Formen Vernunft annehmen kann, sondern auch darum, welche anti-totalitären und anti-autoritären Formen aus Aufklärung und Vernunftdenken entstehen können. Mit der Auffassung Horkheimers und Adornos, dass die instrumentelle Vernunft zur »Zerstörung bzw. Nivellierung des Anderen, Heterogenen« (Rehmann 2016: 23) führt, bekommt der Ideologiebegriff eine weitere Dimension. Aus rassismuskritischer Perspektive führt instrumentelle Vernunft dazu, dass das ›Andere‹ verschmäht wird. Damit bieten auch ideologiekritische Perspektiven die Möglichkeit, den so zentralen Status von Alterität im Rassismus zu bearbeiten – Gleichheit als Ideal gerät dann unter Verdacht, nicht bloß Einspruch gegen die Ungleichheit, sondern auch Komplize der Wut auf die Differenz zu sein:

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»Wollte man […] die Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt, als Ideal fordern, anstatt sie als Tatsache zu unterstellen, so würde das wenig helfen. Die abstrakte Utopie wäre allzu leicht mit den abgefeimtesten Tendenzen der Gesellschaft vereinbar. Daß alle Menschen einander glichen, ist es gerade, was dieser so paßte. Sie betrachtet die tatsächlichen oder eingebildeten Differenzen als Schandmale, die bezeugen, daß man es noch nicht weit genug gebracht hat; daß irgend etwas von der Maschinerie freigelassen, nicht ganz durch die Totalität bestimmt ist.« (Adorno 1951: 115f.) Auch der mit der Kritik der instrumentellen Vernunft verbundene Gedanke der Naturbeherrschung ist für die Rassismuskritik überaus plausibel: Wo, wenn nicht im Rassismus geht es augenscheinlich um die Beherrschung und Unterwerfung von Menschen; wo, wenn nicht im Rassismus werden rassifizierte Menschen mit der Natur identifiziert; wo, wenn nicht im Rassismus geht es auch um die nötige ›Zivilisierung der Wilden‹, darum ihre produktive Verwertbarkeit sicher zu stellen? Andererseits ist diese allgemeinhistorische Perspektive für eine Analyse des Rassismus nur eingeschränkt brauchbar. Die Erweiterung des Ideologiebegriffs auf den gesamten Komplex der Kritik instrumenteller Vernunft kann so zum Einfallstor für Relativismen und ahistorische Analysen werden. Weil ökonomie- und ideologiekritische Betrachtungen die Bedingungen der Möglichkeit konkreter Ideologien herausstellen, nicht aber die Frage beantworten können, welcher Dispositionen es im Subjekt bedarf, um den Rassismus als spezifischen Verarbeitungsversuch gesellschaftlicher Krisen zu akzeptieren, gilt es im Folgenden, das rassistische Subjekt näher zu beleuchten. Ein theoretischer Rahmen für diese Betrachtungen ist das Autoritarismuskonzept.

7 Die Wendung aufs Subjekt – Ressentiment, Autoritarismus, Rassismus

Die ideologiekritischen Betrachtungen zum Rassismus hinterlassen eine Leerstelle, die bereits bei den Frankfurtern thematisch wurde. Warum sind nicht alle Menschen bereit, sich antidemokratischen Bewegungen anzuschließen? Was unterscheidet die für autoritäre, menschenfeindliche Propaganda Empfänglichen von den Immunen? Welche Menschen sind in besonderer Weise ansprechbar – in den Originaltexten für Faschismus und Antisemitismus, übertragen auf meine Frage: für rassistische Einstellungen und Verhaltensweisen? Seit Horkheimers Übernahme des Frankfurter Instituts im Jahr 1930 ergänzen psychoanalytische Untersuchungen den ideologiekritischen Marxismus der Frankfurter. Dieses Amalgam aus Marx und Freud, gesellschaftstheoretischem Objektivismus und psychoanalytischer Innenschau, das fortan das Erkennungszeichen Kritischer Theorie werden sollte, ist selbstreflexive Reaktion auf historische Enttäuschungen und Erschütterungen. Diese Schocks hatten Mängel der eigenen theoretischen Herkunft schmerzlich offenbart: Mit Marx’ Objektivismus, auch nicht mit dessen bewusstseinstheoretischer Zuspitzung bei Lucács, ließ sich schlicht nicht erklären, warum »Arbeiter und Angestellte« nicht nur die Revolution nicht machten, sondern mehr noch: sich den neuen autoritären Bewegungen in Europa in großer Zahl anschlossen. Im nationalsozialistischen Vernichtungsantisemitismus schließlich wurde vollends sichtbar, dass das, was gesellschaftstheoretisch und praktisch-politisch das Allerrelevanteste war, sich ohne Wendung auf das Innenleben des Subjekts nicht begreifen ließ. Im Folgenden geht es darum, diese Vermittlung eines weiterhin antipsychologisch, objektivistisch gelesenen Marx mit einer psychoanalytischen Subjekttheorie auch für das Problem des Rassismus zu denken. Nachfolgend sollen darum die gesellschaftstheoretischen Überlegungen aus Kapitel 5 sowie die ökonomie- und ideologiekritischen Darstellungen aus Kapitel 6 mit Sozialpsychologie vermittelt werden. Dabei werden die psychologischen Überlegungen nicht einfach neben die polit-ökonomischen und ideologiekritischen gestellt, sondern Rassismus wird hier analysiert als spezifische Verarbeitungsform moderner kapitalistischer Vergesellschaftung: Aus objektiven Gründen ist Sozialwissenschaft genötigt, sich dem Subjekt zuzuwenden. Was sich in ihm zuträgt,

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Ulrike Marz: Wut auf Differenz

hat nicht nur eine gesellschaftliche Genese – sondern ist auch gesellschaftstheoretisch, ja politisch relevant. Und so sind rassistische Einstellungen und Verhaltensweisen nicht bloß als Pathologien der Individuen zu verstehen, sondern als gesellschaftliche zu begreifen, selbst wo sie vermeintlich ›pathologisierend‹, als individuelle Krankheit in den Blick treten. Die irrationalen Verarbeitungsformen gesellschaftlicher Widersprüche und Anforderungen sind nicht vernünftig, nicht mit dem Kalkül des ›Homo oeconomicus‹ oder dem marxistischen ›Interesse‹ zu erklären – sie sind jedoch durchaus adäquat, insofern sie gesellschaftlichen Gegebenheiten Rechnung tragen. Bewusstseinsformen und Handlungen der Subjekte im Kapitalismus sind auch in ihren Irrationalismen häufig angemessen in Hinblick auf die an sie gestellten Anforderungen. Und für Adorno ist dieses Irrational-Werden des Spätkapitalismus nicht allein eine geschichtsphilosophische Großthese, sondern ein Schlüssel zu dem, was sich in einzelnen Interaktionen, in Gruppen, in sozialen Situationen abspielt. Im Zentrum dieses Kapitels stehen also die Perspektiven und Studien1 zu dem, was die Frankfurter Autoritarismus nannten: eine als Syndrom beschriebene Ansprechbarkeit für politische Vorurteile und Aggressionen, für Führerfiguren und autoritäre Ordnungen – eine Ansprechbarkeit, die nicht über die manifesten Inhalte und Ideen autoritärer Angebote erklärt werden kann, sondern über die psychologischen Stimuli, die diese Angebote aussenden – bzw. den fruchtbaren Boden, auf den diese Stimuli in bestimmten Menschen treffen. Es ist eine Ansprechbarkeit, die einerseits eine gesellschaftliche Entstehung hat – veränderte Familienstrukturen, veränderte Erziehung, dahinter veränderte ökonomische Verhältnisse; die andererseits selbst zum relevanten politischen Moment wird, auch wenn sie eben nicht in politischen, sondern in psychologischen Begriffen zu fassen ist. Die folgenden Überlegungen greifen nur diejenigen Aspekte der autoritarismustheoretischen Überlegungen auf, die zur weiteren Schärfung des Verständnisses von Rassismus wichtig sind. Dabei wird eine zentrale Einsicht der Autoritarismusforschung vorausgesetzt: dass Autoritarismus in seinen ›Symptomen‹ – »Rassismus, Ethnozentrismus, Antisemitismus und Antifeminismus« (Schuler/Schießler/Decker 2021: 81) sowie im Nationalismus – zu finden ist. Zunächst gilt es, die Bedeutung der Psychoanalyse für die Kritische Theorie wie auch die Grenzen psychologischer Erklärungen für Gesellschaftstheorie darzulegen (7.1). Im Anschluss daran werden die Studien zum

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Angesichts der Fülle an Studien, die nach dem ersten Erscheinen der Authoritarian Personality (1950)/Studien zum autoritären Charakter (1973) entstanden sind und mit Blick auf die soziologischen Bemühungen, einen je aktuellen Sozialcharakter ihrer Zeit zu bestimmen, können die Auseinandersetzungen in diesem Kapitel nur unterkomplex erscheinen. Einen hervorragenden Überblick über das gleichzeitige Auftreten unterschiedlicher Sozialcharaktere im gegenwärtigen Kapitalismus bietet der Beitrag von Peter Schulz Die Gleichzeitigkeit verschiedener Sozialcharaktere im zeitgenössischen Kapitalismus. Ein Beitrag zur Theorie des Sozialcharakters (2020). In Übereinstimmung mit verschiedenen Diagnosen lassen sich nach Schulz vor allem drei dominierende Charaktere identifizieren: der autoritäre, der konventionelle und der narzisstische Charakter. Mit Klaus Dörres Überlegungen zur unterschiedlichen gesellschaftlichen Integration kann Schulz zeigen, dass sich diese drei Charaktere bestimmten Zonen der gesellschaftlichen Integration in Abhängigkeit von der Art und Stabilität der Arbeitsverhältnisse zuordnen lassen (vgl. Schulz 2020: 291–293).

7 Die Wendung aufs Subjekt – Ressentiment, Autoritarismus, Rassismus

autoritären Charakter vorgestellt und die Bedeutung des Autoritarismuskonzeptes für die Gegenwart diskutiert (7.2). Es folgen verschiedene Perspektiven auf die Frage, wie gesellschaftliche Konstellationen zu autoritären Bedürfnissen im Subjekt führen (7.3). Abschließend wird das wechselvolle Verhältnis von Rassismus und anderen Ideologien – Symptomen des Autoritarismus – aus autoritarismuskritischer Perspektive betrachtet (7.4).

7.1 Sozialpsychologie, Psychoanalyse und Kritische Theorie Im Institut für Sozialforschung ist die Freudsche Psychoanalyse seit Horkheimers Leitungsübernahme im Jahr 1930 Bestandteil der theoretischen Arbeit und der empirischen Forschung. Schon in der ersten Ausgabe der »Zeitschrift für Sozialforschung« findet sich der programmatische Aufsatz Erich Fromms über Methode und Aufgaben einer analytischen Sozialpsychologie (1932). Grund für die Aufnahme von Psychoanalyse war, so Horkheimer und Adorno, »der Widerspruch zwischen den handgreiflichen Interessen der Massen und der faschistischen Politik […], für die sie sich enthusiastisch einspannen ließen« (Horkheimer/ Adorno 1957: IX). Psychoanalyse ist also zunächst zuständig für das Irrationale; marxscher Objektivismus bleibt zuständig für die ›eigentliche‹, rationale Entwicklung, gezeichnet von Klassenkampf und Interesse. Freud wird zuständig für die vernunftwidrige Abweichung davon; zur Erklärung des Nichteintreffens marxistischer Prognosen. Auf diese Weise sollte Mitte der 1930er Jahre, »die Wechselwirkung von Gesellschaft und Psychologie« (ebd.) verstanden werden. 1936 erschien der Band Autorität und Familie in Paris, der schon eine »analytische Beschreibung und Erklärung des autoritätsgebundenen Charakters« (ebd.) vornahm. Ende der dreißiger Jahre, ausgelöst durch den deutschen Vernichtungsantisemitismus, beginnt aber mit den Arbeiten zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1946) und der Dialektik der Aufklärung (1947) eine Umwälzung dieser Terrainscheidung zwischen marxschem Objektivismus und psychoanalytischer Subjekttheorie.2 Jetzt ist der Grundgedanke: Die am Tausch gebildete Vernunft des bürgerlichen Subjekts, die Marx beim Wort nehmen und als ideologische kritisieren konnte, ist die historisch kontingente und womöglich vorübergehende Ich-Form einer halbwegs geglückten Triebökonomie. Diese Ökonomie geht aber in dem Maße ihrer Grundlage und damit ihrer Stabilität verlustig, wie sich die bürgerlichen Verhältnisse nur noch irrational oder dann gar nicht mehr am Leben erhalten können. Und gerade die Abblendung der bürgerlichen Ratio gegen ihre eigene Genese und gegen das von ihr ausgeschlossene Trieb- und Naturhafte ermöglicht vorbereitend die Irrationalität der antisemitischen Raserei. Der

2

In Adornos Werk bleibt die Psychoanalyse zeitlebens Gegenstand textlicher Anstrengungen: Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda (1951a); Die revidierte Psychoanalyse (1952a); Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie (1955); Schuld und Abwehr (1955a); Studien zum autoritären Charakter (1973) und natürlich auch den gemeinsamen mit Horkheimer verfassten Arbeiten Dialektik der Aufklärung (1947) und Vorurteil und Charakter (1952), um nur die wichtigsten Arbeiten zu nennen.

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autoritären Charakter vorgestellt und die Bedeutung des Autoritarismuskonzeptes für die Gegenwart diskutiert (7.2). Es folgen verschiedene Perspektiven auf die Frage, wie gesellschaftliche Konstellationen zu autoritären Bedürfnissen im Subjekt führen (7.3). Abschließend wird das wechselvolle Verhältnis von Rassismus und anderen Ideologien – Symptomen des Autoritarismus – aus autoritarismuskritischer Perspektive betrachtet (7.4).

7.1 Sozialpsychologie, Psychoanalyse und Kritische Theorie Im Institut für Sozialforschung ist die Freudsche Psychoanalyse seit Horkheimers Leitungsübernahme im Jahr 1930 Bestandteil der theoretischen Arbeit und der empirischen Forschung. Schon in der ersten Ausgabe der »Zeitschrift für Sozialforschung« findet sich der programmatische Aufsatz Erich Fromms über Methode und Aufgaben einer analytischen Sozialpsychologie (1932). Grund für die Aufnahme von Psychoanalyse war, so Horkheimer und Adorno, »der Widerspruch zwischen den handgreiflichen Interessen der Massen und der faschistischen Politik […], für die sie sich enthusiastisch einspannen ließen« (Horkheimer/ Adorno 1957: IX). Psychoanalyse ist also zunächst zuständig für das Irrationale; marxscher Objektivismus bleibt zuständig für die ›eigentliche‹, rationale Entwicklung, gezeichnet von Klassenkampf und Interesse. Freud wird zuständig für die vernunftwidrige Abweichung davon; zur Erklärung des Nichteintreffens marxistischer Prognosen. Auf diese Weise sollte Mitte der 1930er Jahre, »die Wechselwirkung von Gesellschaft und Psychologie« (ebd.) verstanden werden. 1936 erschien der Band Autorität und Familie in Paris, der schon eine »analytische Beschreibung und Erklärung des autoritätsgebundenen Charakters« (ebd.) vornahm. Ende der dreißiger Jahre, ausgelöst durch den deutschen Vernichtungsantisemitismus, beginnt aber mit den Arbeiten zur Kritik der instrumentellen Vernunft (1946) und der Dialektik der Aufklärung (1947) eine Umwälzung dieser Terrainscheidung zwischen marxschem Objektivismus und psychoanalytischer Subjekttheorie.2 Jetzt ist der Grundgedanke: Die am Tausch gebildete Vernunft des bürgerlichen Subjekts, die Marx beim Wort nehmen und als ideologische kritisieren konnte, ist die historisch kontingente und womöglich vorübergehende Ich-Form einer halbwegs geglückten Triebökonomie. Diese Ökonomie geht aber in dem Maße ihrer Grundlage und damit ihrer Stabilität verlustig, wie sich die bürgerlichen Verhältnisse nur noch irrational oder dann gar nicht mehr am Leben erhalten können. Und gerade die Abblendung der bürgerlichen Ratio gegen ihre eigene Genese und gegen das von ihr ausgeschlossene Trieb- und Naturhafte ermöglicht vorbereitend die Irrationalität der antisemitischen Raserei. Der

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In Adornos Werk bleibt die Psychoanalyse zeitlebens Gegenstand textlicher Anstrengungen: Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda (1951a); Die revidierte Psychoanalyse (1952a); Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie (1955); Schuld und Abwehr (1955a); Studien zum autoritären Charakter (1973) und natürlich auch den gemeinsamen mit Horkheimer verfassten Arbeiten Dialektik der Aufklärung (1947) und Vorurteil und Charakter (1952), um nur die wichtigsten Arbeiten zu nennen.

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pathologische Antisemitismus war dann nicht ein Durchbruch der alten Triebe gegen die Ratio, sondern die Quittung für deren Verstümmelung durch missglückte Zivilisierung und eine sich auf Naturbeherrschung beschränkende Ratio. Die Vernunft selbst – nicht nur die Abweichung von ihr – wird jetzt zum Objekt psychoanalytischer Kritik. In diesem Theoriesetting stehen die Forschungen zum Autoritarismus seit 1939/40 – auch und gerade die streng empirischen. Die im US-amerikanischen Exil von 1943–1947 geschriebenen Studien wurden 1950 verspätet als Textkonglomerat unter dem bis heute geläufigen Titel The Authoritarian Personality (1950)3 veröffentlicht. Für die frühe Kritische Theorie sind die Arbeiten Freuds »zur herrschenden Sexualmoral, ihr Beharren auf einem Dualismus zwischen Individuum und Gesellschaft, Kultur und Trieb und nicht zuletzt […] ihre Betonung der Eigendynamik unbewusst seelischer Mächte« (Kirchhoff/Schmieder 2014: 7f.) wichtig. Für Phänomene der kollektiven Identitätsbildung im Besonderen, wie es der Rassismus und der Antisemitismus sind, spielen Freuds Überlegungen zur Bedeutung »irrationaler Triebkräfte« (ebd.: 8) und die psychischen Mechanismen der Verdrängung, Projektion, Verschiebung, Idealisierung und Identifizierung eine entscheidende Rolle. Freuds Arbeit zur Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) beispielswiese wird in Adornos Überlegungen zur Struktur der faschistischen Propaganda verarbeitet. Psychoanalytische Überlegungen wurden unverzichtbar vor allem für die Antisemitismusanalysen und für jene Arbeiten, die sich mit dem Nachleben des Faschismus in der deutschen Nachkriegsgesellschaft und den ›Aufarbeitungs‹-Versuchen beschäftigten. Auch wenn Freuds Einsichten dazu beigetragen haben, die am Individuum gewonnenen Erkenntnisse zum Verständnis auch kollektiver Prozesse in der Sozialpsychologie heranzuziehen, ist Massenpsychologie nicht einfach die Übertragung individueller Erkenntnisse auf Gruppen. Sehr wohl gehe es Kritischer Theorie darum, die »psychischen Kräfte, den Charakter und die Wandlungsfähigkeit« (Horkheimer 1932: 60) von sozialen Akteuren in einer bestimmten geschichtlichen Epoche und einer spezifischen Gesellschaft zu erkennen: »Doch wird die Psychologie darum keineswegs zur Massenpsychologie, sondern gewinnt ihre Einsichten aus der Erforschung von Individuen. […] Es gibt weder eine Massenseele noch ein Massenbewußtsein.« (Ebd.) Die Kritische Theorie steht der sozialen Auflösung der Freudschen Monadologie sehr skeptisch gegenüber – Adorno attackiert Karen Horney scharf in Die revidierte Psychoanalyse (1952). Gerade in Freuds radikal individualistisch-triebtheoretischer Betrachtung sollen die Dispositionen zum Massenverhalten aufgetan werden, nicht in der Soziologisierung Freudscher Kategorien. Die Überführung von Triebtheorie in milieuabhängige ›Prägung‹ lehnt Adorno ab (vgl. Adorno 1952a).

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Die Studie The Authoritarian Personality (Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel L. Leviston und R. Nevitt Sanford) ist Teil einer fünfbändigen Untersuchung mit dem Titel Studies in Prejudice (Herausgeber: Horkheimer/Flowerman), deren Ergebnisse zwischen 1949–1955 erschienen. Die anderen vier Untersuchungen sind die folgenden: Dynamics of Prejudice. A Psychological and Sociological Study of Veterans (Bruno Bettelheim und Moritz Janowitz); Anti-Semitism and Emotional Disorder. A Psychoanalytic Interpretation (Nathan Ackermann und Marie Jahoda); Rehearsal of Destruction. A Study of Politicial Anti-Semitism in Imperial Germany (Paul W. Massing); Prophets of Deceit. A Study of the Techniques of the American Agitator (Leo Löwenthal).

7 Die Wendung aufs Subjekt – Ressentiment, Autoritarismus, Rassismus

Warum kann dann dennoch davon gesprochen werden, dass für die Kritische Theorie stets die gesellschaftlichen Verhältnisse zum Begreifen des Sozialen vorrangig bleiben? Es sind zwei Argumente: Erstens sieht Adorno gerade in der Abblendung des triebtheoretischen Blicks auf das isolierte Subjekt gegen alles Soziale, eine soziale Wahrheit adäquat gespiegelt: die monadologische Struktur kapitalistischer Gesellschaft. Vereinzelung ist nicht Gegenpol von Vergesellschaftung, sondern ihr Modus in einer Gesellschaft der Privatproduzent:innen. Zweitens wird Freuds Triebökonomie gleichsam zum Idealtyp des hochbürgerlichen Zeitalters – die Gesellschaftsanalyse angesichts des Faschismus beschreibt die Abweichung, das Nicht-Mehr-Zutreffen dieses Modells. Das Über-Ich beispielsweise wird nicht mehr als leidlich integrierte innere Instanz normativer Anforderungen der Gesellschaft gesehen, vermittelt von den Eltern, sondern es gilt als unmittelbar übernommen von sozialen Instanzen: »Die Subjekte der Triebökonomie werden psychologisch expropriiert und diese rationeller von der Gesellschaft selbst betrieben. […] Als Ich und Über-Ich fungieren die Gremien und Stars, und die Massen, selbst des Scheins der Persönlichkeit entäußert, formen sich viel reibungsloser nach den Losungen und Modellen, als je die Instinkte nach der inneren Zensur.« (Horkheimer/Adorno 1947: 229) Faschismustheorie wird zu einer Theorie, die beschreibt, welche sozialen Entwicklungen dazu geführt haben, dass der Gegenstand Freuds zu gänzlich unsoziologischer Triebtheorie veraltet. Es ist eine Psychoanalyse, die ihren Gegenstand – das hochbürgerliche Subjekt – im Verschwinden meint, und die genau, um dieses Verschwinden als Differenz in den Blick zu bekommen, an den alten Kategorien festhält. Bei der »Wendung aufs Subjekt«, der Hinzunahme psychologischer Perspektiven geht es also nicht darum, gesellschaftliche Phänomene zu entsoziologisieren oder zu entpolitisieren. Vielmehr werden die Auswirkungen des Sozialen als so weitreichend gesehen, dass sich nun – so die Annahme Kritischer Theorie – ganz Wesentliches der Vergesellschaftung im Individuum selbst abspielt. Insbesondere der Antisemitismus, die Hinwendung zum Faschismus waren für die frühe Kritische Theorie nur durch die Hinzunahme von Psychoanalyse verstehbar. Der Irrationalismus im Antisemitismus, die Persistenz auch des Rassismus, die Überholtheit des Nationalismus erzwangen für die Kritische Theorie die »Wendung aufs Subjekt« (Adorno 1959: 571). »Soweit man ihn [den Antisemitismus und wohl auch den Rassismus, U. M.4 ] in den Subjekten bekämpfen will, sollte man nicht zuviel vom Verweis auf Fakten erwarten, die sie vielfach nicht an sich heranlassen, oder als Ausnahmen neutralisieren. Vielmehr sollte man die Argumentation auf die Subjekte wenden, zu denen man redet.

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Aus den bisherigen Ausführungen sollte bereits deutlich geworden sein, dass weder Erklärungen über den Antisemitismus auf den Rassismus zu übertragen sind, noch umgekehrt. Dennoch spielen in beiden Phänomenen universell psychische Mechanismen, wie beispielsweise Projektion, Verdrängung und Identifizierung eine Rolle. Universell heißt hier, dass diese Mechanismen auch jenseits ihrer Bedeutung im Rassismus oder Antisemitismus zur psychischen Grundausstattung von Menschen gehören. Ebenfalls scheint mir der Vorschlag Adornos, wie vorurteilsvolle, antisemitische Subjekte anzusprechen seien, auch auf rassistische Subjekte zuzutreffen.

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Ihnen wären die Mechanismen bewußt zu machen, die in ihnen selbst das Rassevorurteil verursachen. Aufarbeitung der Vergangenheit als Aufklärung ist wesentlich solche Wendung aufs Subjekt, Verstärkung von dessen Selbstbewußtsein und damit auch von dessen Selbst. Sie sollte sich verbinden mit der Kenntnis der paar unverwüstlichen Propagandatricks, die genau auf jene psychologischen Dispositionen abgestimmt sind, deren Vorhandensein in den Menschen wir unterstellen müssen.« (Adorno 1959: 571) Der Text endet mit dem berühmten Satz, dass die Gefahren eines Rückfalls in die nationalsozialistische Barbarei erst gebannt wären, wenn deren Ursachen bekämpft würden. Die Schwierigkeit, eben jene gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern, verleiht der Wendung aufs Subjekt defensiven, pessimistischen Charakter – eine realistische Einschätzung der Möglichkeiten. Das Verhältnis der Kritischen Theorie zur Psychoanalyse war jedoch nicht so ungebrochen Freud-freundlich, wie es in den bisherigen Darstellungen angeklungen sein mag. Während vor allem Adorno und Horkheimer sich auf den frühen Freud beziehen und dessen Arbeiten den kulturtheoretischen Arbeiten des späten Freud vorziehen, entstand auch im inneren Kreis der frühen Kritischen Theorie ein Streit darum, wieviel Soziologisierung die Psychoanalyse vertrage, insbesondere Freuds Triebtheorie und die Stellung von Sexualität (vgl. Claussen 1988: 11). Auf der einen Seite stand Erich Fromm5 , der sich bemühte, Soziologie und Psychoanalyse zusammenzuführen; auf der anderen Seite standen Marcuse, Adorno und Horkheimer, die dieses Bemühen als Revisionismus der Psychoanalyse und als Preisgabe ihres kritischen Gehalts kritisierten. Die Zusammenführung von Psychoanalyse und Soziologie müsse als eine auf Distanz erfolgen, die nicht der Synthetisierbarkeit beider Disziplinen wegen auf deren Kerngehalte verzichten dürfe. »Deren [Soziologie und Psychologie, U. M.] Opponenten sind auf der einen Seite die (vorwiegend) auf die ökonomisch-politischen Verhältnisse gerichtete Kritik, auf der anderen die Kritik, die (vorwiegend) der im Rahmen jener Verhältnisse ausgebildeten seelischen Ökonomie der vielen Einzelnen gilt. Beide Perspektiven und Begrifflichkeiten sind einander fremd und lassen sich nicht integrieren.« (Dahmer 2016: 3) Dass Psychologie gesellschaftstheoretisch notwendig wird, lässt nicht Disziplingrenzen und Fachvokabulare verschwimmen – es macht den reflexiven Zugriff auf die jeweils andere Disziplin in ihrer fortbestehenden Eigenständigkeit notwendig. Horkheimer und Adorno kritisieren also nach zwei Seiten: Die ›Soziologisierer‹ der Psychoanalyse, die z.B. Trieb in Prägung auflösen – und die antisoziologischen Lesarten, die die gesellschaftliche Konstitution eben des Gegenstands der Triebtheorie nicht bedenken.

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Fromm vermittle nicht, so der Vorwurf, zwischen Soziologie und Psychoanalyse, sondern er subsumiere in seiner Charakterologie Individuen anhand zufälliger Eigenschaften unter einen Typ, und zwar unter Absehung von anderen Eigenschaften (vgl. Claussen 1988: 10). Diese Debatte um Fromms ›Revisionismus‹ kann hier nicht rekonstruiert werden, aber sie kann u.a. nachvollzogen werden bei Marcuse (1955); Adorno (1955); Claussen (1988); Dahmer (2016).

7 Die Wendung aufs Subjekt – Ressentiment, Autoritarismus, Rassismus

Bereits in einer Reflexion zur Charakterologie (1934) problematisiert Horkheimer einen Charakterbegriff, der »von den Verschiedenheiten der geschichtlichen Rolle jener Kollektivitäten keine Notiz« (Horkheimer 1934: 368) nehme. »Die Art, in der materialistische Geschichtstheorie und Psychologie einander bei der Darstellung geschichtlichen Lebens notwendig haben, ist freilich nicht die gleiche. Eine materialistische Geschichtsschreibung ohne genügende Psychologie ist mangelhaft. Psychologistische Geschichtsschreibung ist verkehrt.« (Horkheimer 1934: 368)6 Es gehe also nicht um eine Synthese von Psychologie und Soziologie, sondern um »getrennte Arbeit in beiden Bereichen« (Horkheimer/Adorno 1957: 18, zit.n. Dahmer 2016: 3), die erlaube, die genuin kritischen Impulse der jeweiligen Disziplin zu bewahren. Bemerkenswert und bedauerlich ist allerdings, dass diese Reflexionen über Disziplingrenzen oft programmatisch bleiben und von den Texten nicht eingelöst werden. Die unter Zeit- und Gelddruck des amerikanischen Exils entstandenen empirischen Studien zum autoritären Charakter gehen der sozialen Genese dieses psychischen Syndroms kaum nach – die zeitgleich enstandenen Reflexionen über das antisemitische Subjekt wiederum bleiben philosophische Spekulation. Ein Scharnier fehlt. Rettend interpretiert: Vielleicht war die fehlende Integration der gesellschaftstheoretischen Perspektive in den Autoritarismusstudien gar nicht das Versäumnis, das dem Autoritarismuskonzept gerade von nachfolgenden sozialisationstheoretisch orientierten Forschenden vorgeworfen wird (vgl. dazu Wacker 1979; Duckitt 1989; Oesterreich 1993a; Hopf 1990), sondern Konsequenz einer Abscheu vor schlechter, mutwilliger ›Synthese‹ – wo getrennte Arbeit in »beiden Bereichen« praktisch nicht zu leisten ist, da ist die Arbeit in einem der beiden Bereiche, der schlechten Aufhebung der Trennung vorzuziehen. »Soziologie und Psychologie sind Reflexionsformen der Sozialgeschichte«, so Dahmer (2016: 34). Trotz aller Probleme, die für die Soziologie, insbesondere für eine materialistisch orientierte Soziologie, durch die Adaption der Psychoanalyse entstehen können, kann der Psychoanalyse gelingen, was die Ideologiekritik allein nicht vermag. Da ideologisches Bewusstsein wie der Rassismus nicht auf den Sinn, der sich in ihm ausdrückt, zugreifen kann (vgl. Angehrn 2014: 145), bedarf es des psychoanalytischen Gespürs für Unbewusstes, für verstellten, nicht durchsichtigen Sinn. Im Kapitel zur Ideologiekritik wurde gezeigt, dass Ideologiekritik eine Möglichkeit ist, um diesen Sinn zu erschließen. In Geschichte und Psychologie (1932) schreibt Horkheimer: »Das Ökonomische erscheint als das Umfassende und Primäre, aber die Erkenntnis der Bedingtheit im Einzelnen, die Durchforschung der vermittelnden Hergänge selbst und daher auch das Begreifen des Resultats hängen von der psychologischen Arbeit ab.« (Horkheimer 1932: 65)

6

Es gibt in dieser Beschreibung des Charakters eine gewisse Parallele zu Bourdieus Habituskonzept: »Weil die Gründe der charakterlichen Verschiedenheit hauptsächlich in der Kindheit liegen, weil sich die entscheidenden Vorgänge in der Familie abspielen, so werden die wichtigsten psychischen Ursachen dafür, ob einer ›auf dem Boden der Tatsachen steht‹, ob er sich wesentlich einfügt oder rebelliert, in verschiedenen Epochen der Geschichte einander ähnlich sehen wie die Familienverhältnisse in der Klassengesellschaft.« (Horkheimer 1934: 367)

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Auch die Psychoanalyse folgt dem Ziel der Erschließung des Sinns – und der »Destruktion des falschen Sinns« (Angehrn 2014: 145). Sowohl Ideologiekritik wie Psychoanalyse sehen, dass das Selbstverständnis der Rassist:innen fragmentarisch ist, dass sie sich selbst nicht begreifen. Beide Verfahren sind genötigt, ihren Gegenstand von außen zu durchdringen, mit dem nicht immer erfolgreichen Ziel, die »interne[] Selbstfremdheit« (ebd.: 146) der Rassist:innen zu mindern. So kann Rassismuskritik idealerweise ein Instrument zur Reflexion werden. Die Annahme, dass psychische Strukturen im Einzelnen gesellschaftlich vermittelt sind, ist Ausgangspunkt für die Autoritarismusstudien, die im Folgenden Thema sein werden.

7.2 Die Autoritarismusstudien Kritischer Theorie – eine Übersicht Anders als bei den Themen Ideologiekritik und Ökonomiekritik, wo Interessierte Passagen, kleine Aufsätze, Fragmente aus Texten zu unterschiedlichsten Gegenständen zusammensuchen müssen, gibt es im Bereich Autoritarismus einen fest umrissenen und umfangreichen Text-Kanon der ersten Generation Kritischer Theorie. Worauf reagiert die Forschung zum Autoritarismus? Bis heute ist eine Hauptfrage der soziologischen Disziplin, wie Ungleichheit sich reproduziert7 – und wie gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen sich auch ohne Ausübung unmittelbaren körperlichen Zwangs fortschreiben. Das Konzept des Autoritarismus gibt eine mögliche Antwort auf diese Fragen: Es beschreibt, wie psychologische Dispositionen dafür sorgen können, dass Menschen, statt nach ihren Interessen von ihren Ressentiments geleitet handeln. Die Autoritarismusstudien, mit denen die Kritische Theorie bis heute bekannt ist, gehen maßgeblich auf Erich Fromms Arbeiten8 in den 1930er Jahren und die Wilhelm Reichs zurück. Bis 2016 liegen ca. 2000 Publikationen zum Autoritarismus vor9 , wie Benicke feststellt (vgl. Benicke 2016: 16). Im Folgenden wird zunächst das Autoritarismuskonzept der frühen Kritischen Theorie skizziert sowie zeitgenössische Studien, die den Autoritarismus der Gegenwart zu fassen suchen (7.2.1). Darüber hinaus gilt es, jene gesellschaftlichen Prozesse zu identifizieren, die Autoritarismus fördern (7.2.2).

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Vgl. zur Bedeutung der Autoritarismusstudien für die Rassismusanalyse auch: Marz 2020: 134–149. Zu nennen wären hier Fromms Schriften zur analytischen Sozialpsychologie, so beispielsweise sein Beitrag in den Studien über Autorität und Familie (1936) und seine Beiträge in der Zeitschrift für Sozialforschung wie der Aufsatz Über Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie (1932). Trotz Kritik an der Methodologie kommt es bis heute international zu zahlreichen Replikationen der Studie (vgl. insbesondere zur methodischen Kritik Hyman/Sheatsley 1981 und zu einer kritischen Diskussion des Konzeptes und seiner Aktualität vgl. Stone/Lederer/Christie 1993; Rippl/ Seipel/Kindervater 2000).

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Auch die Psychoanalyse folgt dem Ziel der Erschließung des Sinns – und der »Destruktion des falschen Sinns« (Angehrn 2014: 145). Sowohl Ideologiekritik wie Psychoanalyse sehen, dass das Selbstverständnis der Rassist:innen fragmentarisch ist, dass sie sich selbst nicht begreifen. Beide Verfahren sind genötigt, ihren Gegenstand von außen zu durchdringen, mit dem nicht immer erfolgreichen Ziel, die »interne[] Selbstfremdheit« (ebd.: 146) der Rassist:innen zu mindern. So kann Rassismuskritik idealerweise ein Instrument zur Reflexion werden. Die Annahme, dass psychische Strukturen im Einzelnen gesellschaftlich vermittelt sind, ist Ausgangspunkt für die Autoritarismusstudien, die im Folgenden Thema sein werden.

7.2 Die Autoritarismusstudien Kritischer Theorie – eine Übersicht Anders als bei den Themen Ideologiekritik und Ökonomiekritik, wo Interessierte Passagen, kleine Aufsätze, Fragmente aus Texten zu unterschiedlichsten Gegenständen zusammensuchen müssen, gibt es im Bereich Autoritarismus einen fest umrissenen und umfangreichen Text-Kanon der ersten Generation Kritischer Theorie. Worauf reagiert die Forschung zum Autoritarismus? Bis heute ist eine Hauptfrage der soziologischen Disziplin, wie Ungleichheit sich reproduziert7 – und wie gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen sich auch ohne Ausübung unmittelbaren körperlichen Zwangs fortschreiben. Das Konzept des Autoritarismus gibt eine mögliche Antwort auf diese Fragen: Es beschreibt, wie psychologische Dispositionen dafür sorgen können, dass Menschen, statt nach ihren Interessen von ihren Ressentiments geleitet handeln. Die Autoritarismusstudien, mit denen die Kritische Theorie bis heute bekannt ist, gehen maßgeblich auf Erich Fromms Arbeiten8 in den 1930er Jahren und die Wilhelm Reichs zurück. Bis 2016 liegen ca. 2000 Publikationen zum Autoritarismus vor9 , wie Benicke feststellt (vgl. Benicke 2016: 16). Im Folgenden wird zunächst das Autoritarismuskonzept der frühen Kritischen Theorie skizziert sowie zeitgenössische Studien, die den Autoritarismus der Gegenwart zu fassen suchen (7.2.1). Darüber hinaus gilt es, jene gesellschaftlichen Prozesse zu identifizieren, die Autoritarismus fördern (7.2.2).

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Vgl. zur Bedeutung der Autoritarismusstudien für die Rassismusanalyse auch: Marz 2020: 134–149. Zu nennen wären hier Fromms Schriften zur analytischen Sozialpsychologie, so beispielsweise sein Beitrag in den Studien über Autorität und Familie (1936) und seine Beiträge in der Zeitschrift für Sozialforschung wie der Aufsatz Über Methode und Aufgabe einer analytischen Sozialpsychologie (1932). Trotz Kritik an der Methodologie kommt es bis heute international zu zahlreichen Replikationen der Studie (vgl. insbesondere zur methodischen Kritik Hyman/Sheatsley 1981 und zu einer kritischen Diskussion des Konzeptes und seiner Aktualität vgl. Stone/Lederer/Christie 1993; Rippl/ Seipel/Kindervater 2000).

7 Die Wendung aufs Subjekt – Ressentiment, Autoritarismus, Rassismus

7.2.1 Die »Studien zum autoritären Charakter« Warum handeln Menschen gegen ihre objektiven Interessen?10 Wer akzeptiert antisemitische Ideen? Welche ›Funktion‹ erfüllt der Antisemitismus in der Persönlichkeitsstruktur? (vgl. Frenkel-Brunswik/Sanford 1946: 119) Kritische Theorie versuchte, diese Fragen zu beantworten, indem sie erstens die Beziehungen von ökonomischer Basis und kulturellen Bewusstseinsformen erforschte, zweitens die Vermittlung von sozioökonomischen Strukturen und sozialpsychologischen Dispositionen analysierte und drittens das Verhältnis von Politik und Ökonomie untersuchte (vgl. Dubiel 1988: 20f.). Einerseits steht Kritische Theorie mit zahlreichen Theoremen in der Tradition des Marxismus, genauer in der Tradition seiner ›westlichen‹, erkenntnistheoretisch orientierten Entwicklungsvariante, die mit Georg Lukács und Karl Korsch ihr Profil gewann – andererseits bricht die stete Betonung psychologischer Aspekte mit dem antipsychologischen Kritikmodus von Karl Marx, den auch der Freud-Gegner Lukács noch fortführte. Doch warum wird für die Kritische Theorie aus einem marxschen Denken heraus Psychologie auf einmal wichtig? 1966 reflektiert Adorno in Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika über die Aufnahme von Psychologie in die Kritische Theorie: »Die ›Elemente des Antisemitismus‹ haben theoretisch das Rassevorurteil in den Zusammenhang einer objektiv gerichteten, kritischen Theorie der Gesellschaft gerückt. Allerdings haben wir dabei, im Gegensatz zu einer gewissen ökonomistischen Orthodoxie, uns gegen Psychologie nicht spröde gemacht, sondern ihr, als einem Moment der Erklärung, in unserem Entwurf ihren Stellenwert zugewiesen. Nie jedoch ließen wir Zweifel am Vorrang objektiver Faktoren über psychologische. Wir gehorchten der, wie mir scheint, plausiblen Erwägung, daß in der gegenwärtigen Gesellschaft die objektiven Institutionen und Entwicklungstendenzen eine solche Vormacht über die Einzelpersonen gewonnen haben, daß diese, und zwar offenbar in anwachsendem Maß, zu Funktionären der über ihren Kopf sich durchsetzenden Tendenz werden. Von ihrem eigenen bewußten und unbewußten Sosein, ihrem Innenleben, hängt immer weniger ab.« (Adorno 1966b: 722) Diese und andere Passagen skizzieren einen doppelten Sinn der Hinwendung zur Psychologie: Praktisch-politisch ist es eine ernüchtert-pessimistische Bewegung des »Weil sonst nichts geht«. Für eine freiere Gesellschaft, ja nur für die Abschaffung der fortbestehenden Möglichkeiten eines neuen Faschismus, bedürfte es objektiv ökonomischer Veränderungen – die sind jedoch politisch so fest verstellt, dass es der »Wendung aufs Subjekt« überlassen bleibt, wenigstens ein Minimum an Resistenz und Restautonomie

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Mit Handlungen gegen objektive eigene Interessen sind hier schlicht Auswirkungen faschistischer bzw. menschenfeindlicher Politik gemeint, die beim Nachdenken allen Menschen, die diesen Bewegungen nachlaufen, bewusst sein könnten. »Will man objektiv der objektiven Gefahr etwas entgegenstellen, so genügt dafür keine bloße Idee, auch nicht die von Freiheit und Humanität, die ja, wie man mittlerweile gelernt hat, in ihrer abstrakten Gestalt den Menschen nicht eben gar zu viel bedeutet. Knüpft das faschistische Potential an ihre, sei’s auch noch so begrenzten, Interessen an, dann bleibt das wirksamste Gegenmittel der durch seine Wahrheit einleuchtende Verweis auf ihre Interessen, und zwar auf die unmittelbaren.« (Adorno 1959: 571)

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zu sichern. Gesellschaftstheoretisch-analytisch gibt es jenseits dessen einen eigenen Begründungszusammenhang der psychoanalytischen »Wendung aufs Subjekt«: Es handelt sich hier nicht um eine Preisgabe von marxschen Kategorien, sondern eher eine Radikalisierung des marxschen Entfremdungsgedanken: Kapitalistische Gesetze realisieren sich nicht mehr ›hinter dem Rücken‹ der Menschen wie bei Marx, sondern ›durch die Menschen hindurch‹, d.h. durch ihr Bewusstsein und Unbewusstsein. Kulturindustrie und Autoritarismus sind beides Phänomene, die Menschen auf Verhältnisse vereidigen, die eigentlich – gemessen am objektiven Potential von Freiheit – unvernünftig geworden sind. Und beide funktionieren über die psychologische Struktur. Sie sind nicht zu begreifen ohne Psychologie, weil hier Identifizierungen mit der vermeintlichen Unveränderbarkeit und der ›Natur‹ des Bestehenden stattfinden. Innerhalb der aufgeklärten Gesellschaft gibt es nach Auffassung der Kritischen Theorie bestimmte Widersprüche, die sich in allen gesellschaftlichen Bereichen zeigen. Dazu zählt das gleichzeitige Vorhandensein von Gleichheit und Ungleichheit der Menschen, gleich als Vertragspartner:innen und vor dem Recht, ungleich als Kapitalist:in hier, als Ausgebeutete dort. Auch Gesellschaft und Natur stehen sich scheinbar unversöhnlich gegenüber; ›Fortschritt‹ entpuppt sich in vielerlei Hinsicht als Regression, wie es die Dialektik der Aufklärung entwickelt. Probleme wie der Antisemitismus oder der Rassismus sind Phänomene, die nicht isoliert betrachtet werden können; sie müssen stattdessen in ihrem gesellschaftlichen Entstehungszusammenhang begriffen werden – und das heißt im Kontext früher Kritischer Theorie: In ihnen findet sich verwandelt, vermittelt, übersetzt etwas von diesen grundsätzlichen Widersprüchen. Charakterstrukturen selbst sind ein soziales Produkt; und das Soziale wiederum ist kein reibungsloses Getriebe, sondern ein System von realen Widersprüchen. Gesellschaftliche Bedingungen und sozialpsychologische Dispositionen befinden sich in einem ständigen Wechselverhältnis, wie Erich Fromm betont (vgl. Fromm 1937: 158). Psychologie soll also nicht etwa den Blick entpolitisieren und auf die bloß individuelle, vorgesellschaftliche Ebene richten. Stattdessen gilt Kapitalismus nun als so allumfassend, dass sich im Einzelnen (in dessen Bewusstsein und Unbewusstsein) Grundlegendes der Vergesellschaftung abspielt. Die Soziologin wird durch die Eigenart und Entwicklung ihres Gegenstandes genötigt, auch Psychologin zu sein. Die Konzeptualisierung des autoritären Syndroms in den 1930er Jahren wurde maßgeblich durch Erich Fromm, Herbert Marcuse und Max Horkheimer als Herausgeber der Studien über Autorität und Familie (1936) sowie später von Theodor W. Adorno mit den Studien zum autoritären Charakter (ins Deutsche übersetzte Ausgabe von 1973) in den 1940er Jahren vorangetrieben. Ausgangspunkt für die damalige Initiierung der Studien zum autoritären Charakter war der Antisemitismus. Doch schon bald stellte sich heraus, dass der Antisemitismus Teil eines größeren Zusammenhangs war – des Autoritarismus. Und so fanden in den Untersuchungen unter anderem auch Items ihren Platz, die den Rassismus fassen sollten. Rassismus wurde in den Studien als ›Ethnozentrismus‹11 bezeichnet;

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Der Begriff Rassismus wurde in The Authoritarian Personality nicht verwendet, sondern rassistische Vorurteile wurden im Rahmen der so genannten Ethnozentrismus-Skala erfasst, die die gesamte Breite an Vorurteilen gegenüber sogenannten ›Fremden‹ und die Tendenz zur Eigengruppen-Präferenz umfasste. Innerhalb dieser E-Skala gab es eine so genannte »Negro-Subscale«, die sich aus

7 Die Wendung aufs Subjekt – Ressentiment, Autoritarismus, Rassismus

gemeint war ein biologistisch argumentierender Rassismus. Die Einbettung des Rassismus geschah also in der frühen Kritischen Theorie vermittels des Autoritarismuskonzeptes eher implizit, bzw. auf dem Weg des Versuchs, die antisemitische Katastrophe in Europa zu begreifen (vgl. Adorno 1973: 3). Doch warum und wie gehören ethnozentrische, antidemokratische und antisemitische Einstellungen zusammen? Sie sind motiviert von ein und demselben psychologischen Syndrom (vgl. Adorno 1973: 12). Die explizit politisch aufgeladenen Haltungen – zu Juden und Jüdinnen – sind Entladungen an der ›Oberfläche‹. Die Skepsis der Frankfurter gegen das, was mit politischen Fragebögen unmittelbar als Haltung bestimmbar ist, auch als Erklärung, als Primäres zu nehmen, ist sicher auch motiviert von der positivismuskritischen Gestalt der Theorie. Am Autoritarismus aber sprachen auch konkrete Beobachtungen für ein Misstrauen gegen die politisch-explizite Oberfläche: Zu viele Deutsche waren verdächtig schnell gleich 1945 zu überzeugten ›Demokrat:innen‹ geworden, zu häufig konnte man schon in den 1920er Jahren die Wanderung von ganz ›links‹ nach ganz ›rechts‹ beobachten, ohne dass geklärt gewesen wäre, welche subjektiven Kontinuitäten sich hinter der politischen Konversion verbargen. Dies sind bereits Gründe, warum die Autoritarismusstudien gerade nicht in Erfassungen vorfindlicher Vorurteile und politischer Haltungen aufgehen. Ein weiterer liegt in dem, was wir heute als »soziale Erwünschtheit« von Antworten bei empirischer Fragebogenforschung problematisieren: Gerade Fragen zu Sympathien für autoritäre politische Systeme oder gar zur Feindschaft gegen ›Juden‹ oder so genannte ›Ausländer‹ liegen unter einem Tabu: Man kann sich noch weniger als in anderen sozialwissenschaftlichen Kontexten darauf verlassen, dass die Angaben den tatsächlichen Einstellungen entsprechen. Adorno war z.B. davon überzeugt, dass viele Menschen trotz der Widerlegung an die Existenz von ›Rassen‹ glaubten und dass es in der jungen Bundesrepublik eine Scheu davor gab, diesen Massenglauben empirisch zu belegen. »Wie viele Menschen immer noch ungezählte Male widerlegten Anschauungen der Rassentheorie anhängen, etwa der Überzeugung, irgendwelche Schädelmerkmale gingen mit Charaktereigenschaften zusammen, ist wohl nur deshalb nicht nachweisbar, weil eine solche Angst vor den Ergebnissen von Umfragen in der Bundesrepublik herrscht, die dem nachgingen, daß sie gar nicht erst angestellt werden.« (Adorno 1960a: 587) Die methodische Intention der Autoritarismusstudien ist darum eine raffinierte Reaktion auf diese Probleme: Politisch explizite Haltungen sollen über eher unverfängliche Aussagen aufgespürt werden. Skalen, die explizite Vorurteils- und Abwertungsaspekte fassen (Antisemitismus, Ethnozentrismus, politisch-ökonomischer Konservatismus), werden korreliert mit einer einzigen Skala, die die tieferliegende psychologische Disposition zu solchen Haltungen, damit zum Faschismus fassen soll (F-Skala). Und die Fragen dieser F-Skala sind dann für sich relativ unverfänglich, sie muten vorpolitisch an. Diese

verschiedenen – wir würden heute sagen, den klassischen Rassismus abfragenden – Items zusammensetzte (vgl. dazu Levinson 1950: 105, 124).

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F-Skala wird aufwändig – u.a. in langen qualitativen Interviews – so justiert, dass hohe Werte hier mit hoher Wahrscheinlichkeit mit antisemitischen und ethnozentrischen Einstellungen einhergehen. Die F-Skala misst also die Wahrscheinlichkeit, hohe Zustimmung für Rassismus und Antisemitismus zu zeigen – ohne dass sie explizit nach Zustimmung für rassistische und antisemitische Positionen fragen muss. Warum funktioniert das? Weil Antisemitismus und Rassismus hier als Ausdruck einer Psychologie begriffen werden, die u.a. von Projektivität, Konventionalismus, Autoritätshörigkeit gekennzeichnet ist. Der unverfänglichere Charakter der Items bedeutet zugleich, dass damit psychologisch tiefere Strukturen im Subjekt angesteuert werden. Weil die Werte auf der F-Skala mit gleichsam vorpolitischen, größtenteils unverfänglichen Fragen zu ermitteln sind, bilden sie das tieferliegende Syndrom des Autoritarismus ab, das konkrete Vorurteile überhaupt erst speist. Die Faschismusanfälligkeit durch eine autoritäre psychologische Disposition wird in den Reflexionen von Adorno u.a. als Ausdruck einer Ich-Schwäche verstanden – der autoritätsgebundene Charakter überwertet Stärke und Autorität gerade deshalb, weil er psychologisch schwach ist. Vor allem die Leipziger Autoritarismusstudien, die Mitte-Studien und die Studie Deutsche Zustände liefern in diesem Kapitel das empirische Material.12 Je enger sich diese Arbeiten am Frankfurter Vorbild orientieren, desto skeptischer sind sie gegen die Auffassung, dass Rassismus, Nationalismus, Sexismus und Antisemitismus Phänomene eines politisch rechten ›Randes‹ seien. Das autoritäre Syndrom – über dessen Entstehung weiter unten nachgedacht wird – ist in seiner Entstehung nicht abhängig von rechten Subkulturen und ideologischer Schulung. Es wächst aus der Mitte der Gesellschaft und ihren Friktionen. Solche Einsicht nehmen diese Studien bereits in ihren Titeln auf. Innerhalb der Mitte der Gesellschaft treffen (neu-)rechte Ideologien durchaus auf Zustimmung: antidemokratische und menschenfeindliche Einstellungen finden sich in allen gesellschaftlichen Gruppen (vgl. Zick/Klein 2014: 19; Decker/Brähler 2020: 15). Keineswegs ausgemacht ist die Richtung des extrem rechten Denkens, d.h. offen bleibt die Frage, ob die neu-rechte Agitation in die ideologisch unbescholtene Mitte der Gesellschaft hineinsickert – oder ob aus der Mitte der Gesellschaft die grundlegenden sexistischen, nationalistischen, antisemitischen und rassistischen Vorstellungen stammen, die dann in Kombination aus individueller Disposition und einem bestimmten po12

In den Leipziger Mitte- und den daraus hervorgegangenen Autoritarismusstudien wird der Rassismusbegriff allerdings nicht genutzt. Die Einbeziehung von Ergebnissen der Mitte- und Autoritarismusstudien hier, ist dennoch aus zwei Gründen geeignet, um die Existenz von rassistischen Einstellungen in der bundesrepublikanischen Bevölkerung aufzuzeigen. Erstens werden in den Studien zwei wichtige Motive des Rassismus – »rassistisch motiviertes Konkurrenzdenken auf dem Arbeitsmarkt« sowie »völkische Überfremdungsvorstellung[en]« (Decker u.a. 2018: 76f.) – unter den Begriff Ausländerfeindlichkeit subsumiert. Auch in der Folgestudie von 2020 findet sich der Hinweis darauf, dass ein Fünftel der befragten AfD-Wähler:innen von der Vorstellung eines »›deutschen Volkskörpers‹, der durch Fremde ›verseucht‹« (Celik/Decker/Brähler 2020: 171) werde, erfasst sei. Zweitens teilen die Hauptautoren der Studie die in der Rassismusforschung weithin geteilte Auffassung, dass der Begriff des Rassismus nicht nur exklusiv für dessen biologistische, sich auf ›Rasse‹ beziehende Variante zu reservieren wäre, wie ich ebenfalls im dritten Kapitel herausstelle. Dies wird unmissverständlich in der Mitte-Studie von 2013 begründet: »Beim Kulturalismus handelt es sich aber um nichts anderes als um Rassismus mit ausgetauschter Begründungsstrategie.« (Decker/Kiess/Brähler 2013: 55)

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litischen Milieu radikalisiert werden. Vermutlich ist die Richtung nicht klar bestimmbar; von einer Durchlässigkeit in beide Richtungen ist auszugehen. In der Studie Gespaltene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland (2016) wird durch die Formulierung, dass es der Neuen Rechten gelungen sei, »ihre rechten Ideologien in die breite Bevölkerung hineinzutragen« (Küpper/Häusler/Zick 2016: 165), nahegelegt, dass die Bevölkerung von diesem Denken gleichsam infiziert werde. Plausibler ist es aus meiner Sicht anzunehmen, dass latent vorhandene Ideologeme durch die öffentlich wahrnehmbare Präsenz der Neuen Rechten eine Amnestie oder eine Enttabuisierung erfahren. Auch in der Autoritarismusstudie von 2020 wird diese Diskussion geführt. Zwar wird auch hier die autoritäre Dynamik in der Mitte der Gesellschaft verortet, doch mit der Warnung, dass diese Hinwendung zur Mitte nicht eine andere Gefahr übersehen dürfe – nämlich »die zunehmende Polarisierung und Radikalisierung der antimodernen und autoritären Milieus. In ihrem Selbstverständnis gehören auch diese Milieus in die Mitte der Gesellschaft. Aber spätestens seit wir ihre Radikalisierung in unserer Studie von 2016 ›Die enthemmte Mitte‹ erstmals beschrieben hatten […], erfüllt der Hinweis auf eine drohende Gefahr aus der gesellschaftlichen Mitte den Tatbestand der Verharmlosung.« (Decker/Brähler 2020: 22)13 Zwar lässt sich die Auffassung von der ›Mitte‹ als »Ort demokratischen Maßes und Mäßigung, die Vorstellung einer klaren Grenze zwischen Rechtsextremismus an den Rändern und Ressentiment-freier Mehrheitsgesellschaft« (Schuler/Schießler/Decker 2021: 80) nicht halten. Aber Militanz, Gewaltbereitschaft und Radikalisierung in ganz bestimmten Milieus sollten nicht durch die Überbetonung der Ubiquität rassistischer Einstellungen dethematisiert werden. Kritik entspannt sich bis heute an der Diskussion, ob es einen Autoritarismus auch bei Menschen mit ›linken‹ politischen Haltungen gibt. Adorno hat dies zeitlebens klar bejaht: Mit Blick auf den Parteimarxismus in Ost- und West, mit Blick auf bestimmte Organisationsformen und Praktiken der Arbeiter:innenbewegung, mit Blick auf Stalin-Sympathisant:innen auch unter Intellektuellen – zuletzt und in zahlreichen Texten reflektiert in der Auseinandersetzung mit den Aktionsformen der protestierenden Studierenden, die sich häufig ihrerseits auf Theoreme Kritischer Theorie beriefen.14 Wis13

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An einer anderen Stelle der Studie wird die Frage nach der politischen Selbstverortung nochmals aufgenommen: »Was ihre politische Selbsteinschätzung betrifft, ist der Anteil derer, die sich selbst politisch rechts einordnen, deutlich gestiegen […]. Während dies 2016 noch [für] 71,7 Prozent der Befragten mit der Wahlpräferenz AfD galt, sank der Anteil 2018 auf 66,3 Prozent, doch gaben 2020 84,3 Prozent von ihnen an, sich im politischen Spektrum rechts zu verorten. 38,2 Prozent würden sich sogar weit rechts (die letzten drei Optionen auf einer Skala bis zehn) einordnen. Dieser Wandel deutet an, dass sich die Wählerschaft, auch in Hinblick auf ihre politischen Einstellungen, in den letzten Jahren verschoben hat.« (Celik/Decker/Brähler 2020: 163) Zu denken wäre hier auch an die innerlinken Kämpfe um die Ausrichtung der geplanten Revolution im spanischen Bürgerkrieg (1936–39), die hierarchische Organisierung ›orthodoxer Linker‹ oder die Organisationsdebatte autonomer Linker (AA/BO in den 1990er Jahren) in der Bundesrepublik. Zu denken wäre auch an die verstörenden Sympathien vieler Linker für autoritäre Regime, solange

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senschaftliche Studien zum Autoritarismus sind sich uneins: einige belegen und andere widerlegen die Annahme eines linken Autoritarismus.15 Der Blick auf die unterschiedlichen Zielsetzungen zwischen rechten und linken Einstellungen sowie die Tatsache, dass autoritäre Aggression sich stets gegen sozial Schwächere und Minderheitenangehörige richtet, zeigt, dass zumindest dieser Aspekt des Autoritarismus ein Alleinstellungsmerkmal der Rechten ist. »Autoritäre Persönlichkeiten stehen grundsätzlich auf der Seite der politischen Macht und sind von daher in den westlichen Industrienationen politisch ›rechts‹. […] Nimmt man die Grundidee des Autoritarismuskonzeptes ernst, erklären zu wollen, warum Menschen zur Lösung ihrer individuellen Probleme Autorität suchen und sich den Herrschenden oder den Mächtigen unterwerfen, dann macht in unserer Gesellschaft die Konzipierung eines Left-Wing-Authoritarianism wenig Sinn.« (Oesterreich 1996: 60f.) Ganz so eindeutig ist diese Perspektive Oesterreichs allerdings nicht. Rechts und Links sind zunächst politische Einstellungen; Autoritarismus, wie er in den Studien zum autoritären Charakter untersucht wurde, ist eine Persönlichkeitsstruktur – politische Präferenzen erscheinen demgegenüber sekundär, abgeleitet, oberflächlich. Auch Oliver Decker weist darauf hin, dass das autoritäre Syndrom weniger eine politische Tendenz anzeigt, sondern die Tendenz zu rigiden Ideologien. Eine Aufteilung nach rechts und links helfe hierbei wenig, weil »die politische Zuordnung die Analyse solcher Autoritären [verhindert], die sich nicht in ein politisches Schema einordnen lässt« (Decker 2018: 51). Das wird aktuell insbesondere vor dem Hintergrund von Verschwörungsideologien deutlich, denen sowohl Rechte wie Linke Glauben schenken.

7.2.2 Die gesellschaftlichen Grundlagen des Autoritarismus Wenn die Annahme Kritischer Theorie stimmt, dass der autoritäre Charakter ein Produkt der sozialen Ordnung ist, dann muss die Autoritarismusforschung gesellschaftliche Prozesse identifizieren, die eben jene Hinwendung zum Autoritarismus befördern: Für die frühe Kritische Theorie waren dies eine zunehmende Standardisierung und Gleichförmigkeit von Arbeitsprozessen und Konsumgewohnheiten, es war die unkritische Rezeption von Massenmedien, deren warenförmiger Organisation und die Reproduktion der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Produkten der Kulturindustrie. Diese Prozesse erzeugen eine zunehmende Erfahrungsunfähigkeit, die ihrerseits

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diese eben nur dem Feind – Amerika, dem Westen, der Nato – Paroli zu bieten scheinen. Zur Kritik des gegenwärtigen Links-Populismus aus autoritarismuskritischer Perspektive vgl. auch Uhlig (2020) und Elbe (2018). Rokeach, Milton/Fruchter, Benjamin (1956): A Factorial Study of Dogmatism and Related Concepts, in: Journal of Abnormal and Social Psychology 53, S. 356–360. Kritisch dazu: Shils, Edward (1954): Authoritarianism ›Right‹ and ›Left‹, in: Christie, Richard/Jahoda, Marie (Hg.): Studies in the Scope and Method of ›The Authoritarian Personality‹. Continuities in Social Research. Glencoe, Ill.: The Free Press, S. 24–49. Die Uneindeutigkeit dieser Ergebnisse, verweist eher darauf, dass autoritäre Persönlichkeitsstrukturen auch unter Linken zu finden sind, was aber weniger mit linken Inhalten selbst zu tun hat, sondern mit den Personen, die Träger des autoritären Syndroms sind.

7 Die Wendung aufs Subjekt – Ressentiment, Autoritarismus, Rassismus

Stereotypie – ein Kennzeichen der Autoritären – hervorbringt: die entqualifizierende Wahrnehmung der Welt und Mitmenschen in zweiwertigen, durch Vorurteile geprägten Sortierungen. Arbeitsverhältnisse und Kulturindustrie nötigen aber auch zur Identifizierung mit bestehenden Verhältnissen und bestehender Macht, so dass in der Folge projektiv (wieder ein Kennzeichen der Autoritären) andere Menschen wütend danach gemustert werden, ob sie auch jene Anpassungs- und Identifizierungsleistungen erbringen, die man selbst sich antun musste. Ökonomische Prozesse verändern schließlich Familien und mit ihnen die Herausbildung von Individualität. Die komplexe ÜberIch-Bildung – die Akzeptanz gesellschaftlicher Normativität, die Herausbildung des Gewissens – war bei Freud beschrieben als schmerzvolle Dialektik von Verinnerlichung jener Ideale, die die Eltern verkörpern, und der rebellierenden Abgrenzung. Diese Dialektik sieht die Kritische Theorie schwinden zugunsten unmittelbar kollektiver Instanzen. Und an diesem Punkt wird besonders deutlich, wie die Autoritarismustheorie nicht verstanden werden darf: als Lobrede auf bloßes Verschwinden von Autorität, auf anti-autoritäre Erziehung im »Summerhill«-Stil. Die wünschenswerte Herausbildung des mündigen, anti-autoritären Charakters bedarf als Durchgangsmoment durchaus der Erfahrung elterlicher (nicht gewaltsamer, sondern liebevoller) Autorität. Das bloße Schwinden elterlicher Autorität ist kein Fortschritt, sofern elterliche Funktionen fortan von massenkulturellen Idolen, Peer-Groups, Cliquen und Massenmedien übernommen werden. Das sind also einige der Momente, die aus Sicht früher Kritischer Theorie den autoritären Charakter gesellschaftlich hervorbringen. Weil sich die »Formen der Vergesellschaftung, der Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse« (Dahmer 2016: 34), im historischen Prozess verändern und mit ihnen die »Struktur der Triebe« (ebd.), muss die Autoritarismusforschung auf eben jene gesellschaftlichen Veränderungen rekurrieren (vgl. ebd.). Doch wie hat sich kapitalistische Gesellschaft in Hinblick auf autoritäre bzw. eben nicht autoritäre psychologische Dispositionen der Einzelnen entwickelt? Die gegenwärtige Form des Kapitalismus wird häufig als durch einen extremen Ökonomismus gekennzeichnet beschrieben. Eine sich im permanenten Krisenzustand befindende Gesellschaft, die zahlreiche Lebensbereiche kommodifiziert, befeuert autoritäre Reaktionen. Denn wo die Marktwerte Einzelner überall thematisch werden, sind narzisstische Inszenierungen geradezu gefordert. Ethnisierungen und Rassifizierungen gehören neben Klasse und Geschlecht zu den Strukturgebern von Ungleichheit. »[…] kaum eine Gesellschaft ist reich und mächtig geworden bzw. geblieben, ohne die Aneignung und Ausbeutung von Leben oder Gütern, die ihr nicht an/gehören – ohne Raub/ Krieg.« (Klinger 2012) Die Verantwortung für die Selbsterhaltung wird an den Einzelnen verwiesen, aber die Bedingungen dieses Selbsterhalts entziehen sich dessen Einflussmöglichkeiten. Das betreffe sowohl das Handeln derer, die ihre Arbeitskraft verkaufen müssen, als auch das Handeln jener, die Eigentümer:innen an Produktionsmitteln sind. Die Konkurrenz, die sich dadurch zwischen den Menschen entwickelt, kann psychologisch als Druck zur übermäßigen narzisstischen Besetzung der eigenen Person gedeutet werden. Das Erleben von realen Ohnmachtserfahrungen produziert dann notwendig das Gegenteil dieser positiven Inszenierung; eine permanente narzisstische Kränkung (vgl. Elbe 2020: 93).

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Ulrike Marz: Wut auf Differenz

»Die Erfahrung individueller Ohnmacht, die in dem Maße zunimmt, wie die zunehmend arbeitsteilige Produktion die Menschen zugleich isoliert und integriert, wird durch jene Orientierungslosigkeit ungemein verstärkt; aus dieser Erfahrung entspringt ein großes Potential von Angst, der die Individuen in gesellschaftlichen Situationen, in denen diese Angst virulent wird, nur irrationale Reaktionen entgegenzusetzen haben.« (Schnädelbach 1969: 90) Eine neue Entwicklung verstärkt diesen allgemeinen Trend kapitalistischer Vergesellschaftung in den letzten Jahren. Luc Boltanski und Eve Chiapello (2003), Christina Kaindl (2009; 2012) oder auch Ulrich Bröckling (2007) zeigen in ihren Arbeiten, dass der Zwang zur Selbstinszenierung der Arbeitssubjekte extrem gewachsen ist. Der ›neue Kapitalismus‹ präsentiert sich mit schlanken Unternehmensstrukturen, einem kommunikativen Management, Teamarbeit, Aufwertung von Kreativität und Eigensinn, flexiblen (befristeten) Arbeitsverträgen sowie gestiegenen Anforderungen an Mobilität und Aktivität (vgl. Boltanski/Chiapello 2001, 2005). Dabei wird zunehmend die Rhetorik von Aktivierung, Entscheidung und Selbstverwirklichung bedient (vgl. Kaindl 2009: 94). Starke Hierarchien am Arbeitsplatz, so Kaindl weiter, werden ersetzt durch eine Subjektivierung von Arbeit; der Zwang gehe nicht mehr vom unmittelbaren Vorgesetzten aus, sondern werde gleichsam von innen permanent reproduziert. Das habe zwei Folgen: Diese Art organisierte Selbstverwirklichung führe erstens zu Unterwerfung und Selbstausbeutung. Zweitens laste die Rede von alternativlosen Marktzwängen das Scheitern den Subjekten selbst an. Beruflicher Misserfolg werde so durch die Subjekte als selbstverantwortet, »als individuelles Ungenügen« gedeutet und »nicht auf strukturelle gesellschaftliche Probleme« zurückgeführt, wie Kaindl schreibt (2012: 23). Der Rückgang formeller Arbeitsverhältnisse betrifft nicht nur die unteren Schichten, sondern bedroht mittlerweile auch die gesellschaftliche Mitte. Prekäre Beschäftigungsverhältnisse – durch Teilzeit und befristete Arbeitserträge – verschärfen den gesellschaftlichen Druck zur Lohnarbeit. Die Repressionen des sozialstaatlichen Modells werden immer stärker und führen zu einer Stigmatisierung von so genannten ›Sozialschmarotzern‹ (vgl. Decker/Kiess 2013: 33, 35). Darüber hinaus propagiert der Neoliberalismus einen »abstrakten Individualismus« (Stögner 2020: 270), der die Subjekte zu »Selbsttechniken« (Foucault 1983: 495), »Selbstführung« (Lemke 2001: 85) und »Selbstadjustierung« (Link 1997: 239) auffordert. Diese Aufforderung, so Stögner, sei ideologisch, weil sie dem Systemerhalt diene und dabei die Aufklärungspostulate von Würde, Selbstverwirklichung und Autonomie verkehre. Die nationalistische Kollektivierung sei die Kehrseite dieses »Fake-Individualismus«, der nur einer der Vereinzelung sei (vgl. Stögner 2020: 270). »Durch ihren abstrakten Individualismus produziert die neoliberale Gesellschaft selbst das antiindividualistische Bedürfnis nach voller Identifizierung mit einer Gruppe.« (Ebd.) Auch wenn der Neoliberalismus ostentativ die Individualität seiner Subjekte betont und sie als Subjekte in den eigenen Reproduktionszusammenhang einbindet, indem er soziale Aufgaben an die Einzelnen delegiert (z.B. Altersvorsorge), hinterlässt diese Anrufung als Subjekte im Individuum doch häufig das Gefühl von Vereinzelung und Ohnmacht. Bereits Adorno machte ›Pseudo-Individualität‹ aus: die Nötigung, Formen von Unabhängigkeit in ihrerseits vorgeordneten, konformistischen Weisen auszustellen.

7 Die Wendung aufs Subjekt – Ressentiment, Autoritarismus, Rassismus

Die aktuellen Studien zum Autoritarismus bestätigen, dass die deutsche Gesellschaft eine relativ stabile ressentimentgeladene Basis hat.16 Dieser Bodensatz an Ressentiments17 entlädt sich eruptiv in gesellschaftlichen Krisensituationen. Solch ressentimentgeladene Eruptionen entstehen aufgrund sich verschärfender objektiver Krisenerscheinungen, aber auch durch bloß subjektiv wahrgenommene Verschärfungen oder nur vermeintliche Bedrohungen der eigenen wirtschaftlichen Situation. Es ist an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass diejenigen, die die AfD 2017 bei den Bundestagswahlen mit 12,6 Prozent, 2021 mit 10,3 Prozent oder 1933 die NSDAP bei den Reichstagswahlen mit 43,9 Prozent gewählt haben, nicht diejenigen waren, die objektiv von der ökonomischen Krise am stärksten betroffen waren. Die ökonomische Krise des Systems führt zu einer Hinwendung zu rechten Parteien – die diffuse Abstiegsangst eher als der Abstieg. Das konnten schon Falter u.a. (1983) für den Nationalsozialismus zeigen. Betroffenheit entsteht aus dem subjektiv empfundenen Gefühl, betroffen zu sein. Und solche subjektive Wahrnehmung resultiert in Perspektiven Kritischer Theorie letztlich aus der Angst der sozial Atomisierten, die autoritär verarbeitet wird. Der Bezug auf Angst sei aber nicht immer Gefühl echter Verzweiflung, sondern mit Angst werde Politik gemacht, so Ulrich Bröckling: »Man will Angst haben«. Bröcklings Grundaussage ist nun die, dass Angst eine kalkulierte und rationalisierte Emotionsbehauptung ist, um im politischen Diskurs zu bleiben. AfD-Wähler:innen sagen, sie hätten Angst. Das AfD-Wahlprogramm liest sich wie das Ranking populärer Ängste der Deutschen erhoben durch die R+V Versicherung. Das Sprechen über Angst sei selbstverstärkend; es gleiche häufig einem sich Hineinreden und treibe die Dynamik der Übertreibung ständig an. Die Berufung auf Angst habe einen klaren strategischen Vorteil: Wer die Angstkarte ausspielt, unterläuft Kritik. Der »Affekt immunisiert gegen Fakten« (Bröckling 2016: 4). Auch Keller/Berger gehen davon aus, dass es sich bei der Thematisierung von Angst in diesem Kontext nicht allein um die »Deskription eines Angstempfindens« handele, sondern um einen »rhetorischen Begriff« (Keller/Berger 2017: 313), der andere Inhalte – wie Rassismus im öffentlichen Diskurs zu thematisieren helfen soll. Auch hier wird die Funktion von öffentlich artikulierter Angst als unverhandelbar herausgestellt: Angst ist der weiteren Argumentation und Diskussion entzogen (vgl. ebd.: 317f.). 16

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2010 gaben ca. 33 Prozent der Befragten in Hinblick auf Muslime an, sich ›fremd im eigenen Land‹ zu fühlen; 2018 sind es schon 55 Prozent bundesweit, so die Ergebnisse der Autoritarismusstudien (vgl. Decker 2018: 18). Ressentiments gehören zu den Affekten, sind aber kein reines Gefühl (vgl. Wirth 2021: 33). Anders als simple Wutausbrüche, schlummern Aggressionen hinter einer Fassade aus »Biederkeit, Angepasstheit an die Konvention, Tradition und reaktionären Haltungen, die sich als Konservatismus, Traditionspflege und Heimatliebe maskieren« (ebd.: 31). Ressentiments können lange in Latenz bleiben, sickern aber allmählich in soziale Beziehungen und vergiften dann das Zusammenleben und treten regelmäßig eruptiv hervor (auch: Schuler/Schießler/Decker 2021: 80, 88). »Das Ressentiment ist ein komplexes Gebilde, das immer mehrere negative Gefühle umfasst und durch ein Feindbild kognitiv zusammengehalten wird. Das Ressentiment ist […] ein kognitives Konstrukt, eine Einstellung, eine Haltung, die allerdings durch starke Affekte gekennzeichnet und mit starken negativen Wertungen verbunden ist.« (Wirth 2021: 33) Ressentiments gewinnen im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Krisen (Finanzkrise, Flüchtlings(politik)krise oder Coronakrise beispielsweise) an Bedeutung und werden dann als Radikalisierung bzw. Fanatisierung ihrer Träger:innen wahrnehmbar (vgl. Zienert-Eilts 2021: 106).

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Ulrike Marz: Wut auf Differenz

Angst sei das ›Argument‹, in das der Hass auf geflüchtete Menschen und die Wut gegen die etablierte Politik gekleidet wird. Die Angstbehauptung wäre demnach eine Gelegenheit, diese Ressentiments auszuleben. Dabei gehen Angst, Wut und Hass ineinander über. Wer sich auf Angst berufe, wird ernst genommen. Die Angstrhetorik suggeriert eine Notwehrsituation (vgl. Bröckling 2016: 5). Diese Angst beziehe sich auf eine ›kulturelle Überfremdung‹ wahlweise durch (US-)Amerika, ›Fremde‹ oder den Islam, auf den Verlust nationaler Identität und die Angst, dass Deutschland an Einfluss in der Welt verlieren könnte. Ebenso gehe es um konkrete Ängste, wie der vor sozialem Abstieg, dem Verlust sozialer Sicherungen oder vor Terroranschlägen (vgl. Daphi u.a. 2015: 24). ›Islamisierung des Abendlandes‹18 , ›Asylchaos‹, ›großer Austausch‹19 (vgl. Bröckling 2016: 5f.) sind die vorgetragenen Angsthemen heute, die Rede vom Untergang (des Abendlandes) war es schon zu Zeiten Leo Löwenthals, als dieser die Reden faschistischer Agitatoren analysierte. Wer Angst erzeugen will – und das mit Vorsatz – der betreibt keine Kritik. Es liegt in der Natur des Ressentiments, dass es nichts erhellen, nichts erkennen und nichts wahrnehmen kann, wie Wirth schreibt. Es weiß schon immer, was die Angst bedeutet, woran sie sich entzündet. Die Angst im Ressentiment wird instrumentalisiert, um das bereits Gewusste – die Ablehnung der ›Fremden‹ beispielsweise – zu rechtfertigen (vgl. Wirth 2021: 33). Angst soll also Anfeindungen, Diskriminierungen und Angriffe legitimieren. Gerade weil Rassismus nun keineswegs so konsistent ist, wie es scheint, bleibt zu ergründen, warum seine Vorstellungen und Setzungen von so vielen ›geglaubt‹ werden – also auf welche Dispositionen er bei seinen Anhänger:innen trifft – welche Angst er artikuliert. Weiter oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Ausgangspunkt für die Studien zum autoritären Charakter die Untersuchung des Antisemitismus war. Jedoch wurde schnell deutlich, dass der Antisemitismus nicht isoliert existiert, sondern als Teil eines größeren Syndroms, eben des Autoritarismus, betrachtet werden muss.20 Mit den Studien zum autoritären Charakter sind keine Aussagen darüber möglich, wie Rassismus historisch entstanden ist, aber sie erklären die Persistenz und die Verbindung zu anderen Ideologien wie dem Antisemitismus. Und sie machen plausibel, dass eigentlich von Subjekt, Identität, Tiefenstrukturen der Psychologie und ihrer sozialen Produktion zu reden ist, wo es zunächst nur um politische Einstellungen und Vorurteile zu gehen scheint.

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Die Phantasie von der ›Islamisierung‹ Deutschlands umfasst Vorstellungen, dass (1.) Bevölkerungszuwachs fast ausschließlich von muslimischen Einwander:innen herrühre; (2.) die deutsche Bevölkerung überfremdet und ›umgevolkt‹ werde; (3.) Deutschland sich in einigen Jahrzehnten in ein islamisches Land transformiert haben werde; (4.) der Islam in wenigen Jahren weltbeherrschende Religion sei; (5.) eine Invasion von Muslimen nach Deutschland stattfinde, die von der Bundesregierung zugelassen bzw. sogar unterstützt werde. Hierbei werden entweder gar keine Quellen genannt oder diese stehen in Widerspruch zu wissenschaftlichen Berechnungen. Als ›großen Austausch‹ bezeichnet die Identitäre Bewegung die Vorstellung, dass die Politik eine gezielte Änderung der Bevölkerungszusammensetzung plane (vgl. Identitäre Bewegung o.J.). Diese Einsicht unterminiert nicht die Dringlichkeit, die Symptome des Autoritarismus – Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus, Sexismus – trotz aller bestehenden Synergieffekte analytisch zu trennen und in ihrer Unterschiedlichkeit zu erfassen.

7 Die Wendung aufs Subjekt – Ressentiment, Autoritarismus, Rassismus

7.3 Die Gesellschaft im Subjekt An den bisherigen Darstellungen ist bereits erkennbar, wie schwer es in der Beschreibung des Sozialen ist, Gesellschaft und Subjekt voneinander getrennt zu analysieren. Persönlichkeit umfasst in den Studien zur autoritären Persönlichkeit Verhaltensmuster und bewusste Überzeugungen, wie sie für bestimmte Personen charakteristisch sind sowie tieferliegendes, teils unbewusstes Triebgeschehen, das Verhalten motiviert. Die Ebenen der Persönlichkeit (auch tiefere, wenig rationale Schichten) geben dem, was sichtbar wird, die Richtung: dem Sozialverhalten, dem Gesellschaftsbild, bewussten Zielen, Hoffnungen und Ängsten (Frenkel-Brunswik/Sanford 1946: 120). Nicht alle Autoritären haben die gleiche Persönlichkeit, aber sie haben ähnliche Tendenzen. Der Begriff des Charakters, wie er in den Studien verwandt wird, hat nichts mit einer angenommenen unveränderlichen Essenz von Menschen an sich zu tun: Die »Einsicht in die Charakterstruktur ist der beste Schutz gegen die Tendenz, konstante Züge im Individuum ihm als ›angeboren‹ oder ›basal‹ oder ›rassisch bedingt‹ zuzuschreiben.« (Adorno 1973: 8) Selbstkritisch betonen Adorno und Horkheimer (1952) die Gefahr, die in totalitären Systemen waltenden Ideen durch psychologische Zugriffe zu pathologisieren und diese damit vorschnell zur Krankheit der Einzelnen zu machen, wo sie doch gesellschaftliche Probleme sind. Die Beschäftigung mit psychologischen Fragen, ersetzt nicht die soziologische Argumentation. »Wohlverstanden: Es geht nicht darum, das Auftreten totalitärer Systeme einfach psychologisch zu erklären. Die Gewalt solcher massenfeindlichen Massenbewegungen rührt von mächtigen politischen und wirtschaftlichen Interessen, und ihre Anhänger, die sich nicht umsonst Gefolgschaft nennen, sind keinesfalls ihre bestimmenden Träger. Dennoch bedürfen die Nutznießer jener Bewegungen in der modernen Massengesellschaft der Massen. Die Studien nun zeigen die unbewußten seelischen Bedingungen auf, unter denen Massen für eine Politik gewonnen werden können, die ihren eigenen vernünftigen Interessen entgegengesetzt ist.« (Adorno/Horkheimer 1952: 361) Im Folgenden möchte ich nun vier Elemente der autoritären Persönlichkeit besonders betrachten: die Bedeutung eines Führers (7.3.1), das Konzept der konformistischen Revolte (7.3.2), die Bedeutung der Meinung für die autoritäre Persönlichkeit (7.3.3) und die Wirkung rechter Propaganda (7.3.4).

7.3.1 Von der Führerschaft zum »sekundären Autoritarismus« Freud hat die Bedeutung eines starken Ich in den Studien über Hysterie. Zur Psychotherapie der Hysterie (1895) so pointiert: »Ich habe wiederholt von meinen Kranken, wenn ich ihnen Hilfe oder Erleichterung durch eine kathartische Kur versprach, den Einwand hören müssen: Sie sagen ja selbst, daß mein Leiden wahrscheinlich mit meinen Verhältnissen und Schicksalen zusammenhängt: daran können Sie ja nichts ändern; auf welche Weise wollen Sie mir denn helfen? Darauf habe ich antworten können: – Ich zweifle ja nicht, daß es dem Schick-

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sale leichter fallen müßte als mir, Ihr Leiden zu beheben: aber Sie werden sich überzeugen, daß viel damit gewonnen ist, wenn es uns gelingt, Ihr hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln. Gegen das letztere werden Sie sich mit einem wiedergenesenen Seelenleben besser zur Wehre setzen können.« (Freud 1895: 311f.) »Gemeines Unglück« ist bearbeitbar: Dieses fällt für den notorisch illusionslosen Freud21 unter jene Form der Entsagung und des Leidens, denen zu begegnen wäre mit dem, was heute wohl Resilienz hieße. Dem »hysterische Elend« hingegen fehlt diese Gegenkraft. Für die Hinwendung zum Autoritarismus ist psychodynamisch betrachtet eine IchSchwäche bedeutsam, die diesen Mangel an Umgangsroutinen mit Entsagung durch künstliche Stärke überspielt. Diese Pseudo-Stärke, diese Ich-Schwäche resultiert aus der Übermacht eines rigiden Über-Ichs, das nach Auffassung Freudscher Psychoanalyse und der frühen Autoritarismusstudien Ergebnis eines verfehlten Ausgangs des Ödipuskonfliktes ist. Der universale Charakter der Über-Ich-Bildung wird von Freud in Das Ich und das Es (1923) beschrieben. Dieser Universalismus der Ausbildung des Ich-Ideals bzw. Über-Ichs bezieht sich jedoch nicht auf die Vorstellung eines kulturübergreifenden Universalismus, da die je konkreten normativen Werte und Moralvorstellungen gesellschaftsspezifisch durch die Autoritäten vermittelt werden. Universal ist es in dem Sinne, dass Handlungen nicht mehr nur im Nahumfeld, nicht nur gegenüber engen Bezugspersonen reguliert werden, sondern dass in die normativen Anforderungen des Über-Ichs Abstraktionen eingegangen sind. In einem anderem Theoriekontext trifft George Herbert Mead später diesen Übergang mit seiner Rede vom »generalisierten Anderen«22 . Dem Ödipuskomplex23 wird in der Theorie der autoritären Persönlichkeit ein wesentlicher Beitrag zur Entwicklung des Autoritarismus beigemessen (vgl. Adorno u.a. 1950; Fromm 1936). Mit dem Ödipuskonflikt wird jener Entwicklungsschritt beim Kind erfasst, in welchem es vermittelt über eine Autoritätsinstanz (historisch war dies lange der Vater oder eine vaterähnliche Figur) lernt, Verbote zu akzeptieren, Bedürfnisse zurückzustellen und mit Konflikten umzugehen. Resultat eines nicht gelungenen Ausgangs ist die Anlehnung24 an die Autorität nur als idealisierte Figur – mit der Konse21 22

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Freud schreibt in Das Unbehagen in der Kultur, dass »die Absicht, daß der Mensch ›glücklich‹ sei, […] im Plan der ›Schöpfung‹ nicht enthalten« (Freud 1930: 434) sei. »Die organisierte Gemeinschaft oder soziale Gruppe, die dem Individuum die Einheit seines Ichs gibt, kann der ›generalisierte Andere‹ genannt werden. Die Haltung des generalisierten Anderen entspricht der Haltung der gesamten Gemeinschaft.« (Mead 1969: 282) Das analytische Konzept des so genannten Ödipuskonfliktes thematisiert den Todeswunsch gegenüber dem elterlichen Rivalen gleichen Geschlechts und das Begehren gegenüber dem anderen Elternteil. Die orthodoxe Variante ist auf das männliche Kind bezogen, dessen Begehren gegenüber der Mutter durch die Kastrationsdrohung nachlässt und die Identifizierung mit der väterlichen Autorität einleitet. Den Höhepunkt des Ödipuskomplexes erreicht das Kind zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr. Sein jeweiliger Ausgang im konkreten Individuum wird von der Psychoanalyse für verschiedene Formen pathologischer Erscheinungen rekonstruiert und kennzeichnet, entwicklungspsychologisch betrachtet, den Übergang in die sogenannte Latenzperiode (vgl. Laplanche/Pontalis 1973: 351, 355f.). Inzwischen geht die Psychoanalyse davon aus, dass zwischen einem positiven Ausgang und seiner negativen Form viele gemischte Fälle existieren, »bei denen beide Formen [gemeint sind positive

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quenz, dass die Gebote nicht verinnerlicht werden, sondern nur äußerlich bleiben. In der Folge wird das Über-Ich »als Erbe des Untergangs des Ödipuskomplexes« (Elbe 2000: 22) rigide, weil es eine aus ihm selbst kommende Abwägung zwischen richtig und falsch, ›gut‹ und ›böse‹ nicht treffen kann. Rigidität überspielt Urteilsschwäche mangels verinnerlichtem moralischen Reflexionsvermögen, verinnerlichter normativer Orientierung. Das Ich bleibt schwach in seiner nach außen gekehrten Stärke und wird so anfällig für stereotypes Denken. Nicht nur der Vater bietet sich für die Identifikation an, sondern eine Instanz, Institution oder Figur mit vaterähnlichen Qualitäten, die geeignet ist, die Normen der Gesellschaft durch Autorität zu verkörpern. Nicht nur das Aufgeben der inzestuösen Wünsche zählt zu den sozialen Normen des Kindes, sondern auch die Unterwerfung unter die symbolische Ordnung der Gesellschaft (vgl. Kaufmann 2002: 243). Im Über-Ich wird die Autorität im Laufe lebenslanger Sozialisation durch verschiedene gesellschaftliche Instanzen immer wieder aktualisiert. »[D]ie Aufrechterhaltung und Erneuerung des ÜberIchs beim Erwachsenen [beruht] immer wieder auf der Verinnerlichung faktischer äußerer Gewalt.« (Fromm 1936: 85) Diese Angst vor einer äußeren Gewalt wird vom ÜberIch in eine innere Angst verwandelt. Der Ich-schwache Einzelne fürchtet sich vor der Macht der Autoritäten, die sowohl positiv wie negativ sanktionieren (vgl. ebd.: 86). Charakteristisch für autoritäre Personen – denen die sanktionierenden Instanzen selbst als verinnerlichte in gewissem Sinne äußerlich, heteronom bleiben – ist die Lustbesetzung des Gehorchens. Das umfasst die Identifizierung mit den eigenen Versagungsleistungen bzw. mit den versagenden Instanzen; den Verzicht auf individuelle Glücksansprüche, sowohl bei sich als auch – musternd, prüfend, sanktionierend – bei anderen. Wo Macht aufscheint, drängt es die Autoritären, diese zu verehren, sei es die von Personen, Institutionen oder Ideologien. Solche Verehrung von Autorität ist jedoch ambivalent: Zwar verehren Autoritäre die ›Mächtigen‹, aber sie beneiden und hassen sie auch für deren Macht. Um mit dieser Ambivalenz umzugehen, werden die negativen Gefühle abgespalten oder verdrängt. So werden die als machtvoll Angesehenen in gute und schlechte Mächtige aufgespalten bspw. durch die Verachtung anderer Autoritäten. Insbesondere in der antisemitischen Projektion spielt die Aufspaltung der Autoritären eine besondere Rolle. Das Über-Ich, so Salzborn, ist keine echte moralische Gewissensinstanz, sondern funktioniert nur gewohnheitsmäßig. Ein projektives Ich und rigides Über-Ich führen zu manichäischen Vorstellungen, d.h. alles Böse wird externalisiert, während das Gute in sich selbst bzw. in der Eigengruppe bewahrt wird (vgl. Salzborn 2010: 115). Eine Abwehr negativer oder verpönter Gefühle findet aber nicht nur statt, um die Autoritäten ›rein‹ zu halten, sondern auch, um das Selbst zu bereinigen. So werden negative Gefühle häufig auf diejenigen projiziert, die wie rassistisch Marginalisierte schwach und hilflos erscheinen und die es durch ihre objektive Stellung im sozialen Gefüge häufig auch sind. In dem Gefühl der Unterdrückung, Aggression und Feindseligkeit bewahrt sich das Bedürfnis, Teil der Herrschaftsausübung zu sein (vgl. Fromm 1936: 112–117). Während im Antisemi-

und negative Formen des Ödipuskonfliktes, U. M.] in einer dialektischen Beziehung koexistieren« (Laplanche/Pontalis 1973: 352).

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tismus zumeist Machtphantasien auf die Juden projiziert werden, sind es im Rassismus Ohnmacht und Schwäche. Die Idee, dass ein schwaches Ich der wesentliche Grund für die Hinwendung zum Autoritarismus ist, wird trotz der Wandlung der Konzepte zur Genese des Autoritarismus von den ›Frankfurtern‹ nicht aufgegeben. Für die 1940er Jahre diagnostiziert Horkheimer einen Charakter, der sich weniger an konkrete Autoritäten anlehnen muss, denn an konventionelle Werte. Er nennt ihn den »unterwürfigen Charakter« (Horkheimer 1946: 147), der Selbstverwirklichung durch Nachahmung erreicht. Für den Autoritarismus der 1960er Jahre gibt es Diagnosen im Anschluss an die Kritische Theorie, die im Kontrast zu Horkheimers Deutung nicht mehr das strafende Über-Ich in der Figur des übermächtigen Vaters betonen, sondern Autoritarismus nun als Ergebnis einer »Identitätsdiffussion« beschreiben (Böckelmann 1966: 54). Diese Diffusion verhindere, dass das Ich zu seiner Einheitlichkeit finden kann. Ebenfalls zum Ende der 1960er Jahre spricht Michaela von Freyhold in ihrer am Frankfurter Institut für Sozialforschung angesiedelten Studie Autoritarismus und politische Apathie25 (1971) davon, dass der damals zeitgemäße Typus des autoritären Charakters der Konventionelle sei. Auch von Freyhold attestiert dem autoritären Charakter eine ausgeprägte Ich-Schwäche (vgl. von Freyhold 1971: 227, 230). Dieser ziehe seinen autoritären Gewinn aus der Anerkennung durch gesellschaftliche Instanzen. Das narzisstische Ich »sieht sich nach Verstärkung um und findet sie in der realen oder phantasierten Prämie des Prestiges, das die Gesellschaft für die ›gewissenhafte‹ Rollenerfüllung der mittleren und oberen Schichten bereithält« (ebd.: 230). In Abgrenzung zu sozialpsychologischen Erklärungen wie der Theorie der sozialen Identität von Tajfel/Turner betonen die neuen Autoritarismusstudien die Notwendigkeit, den gesellschaftlichen Rahmen zu analysieren, um zu verstehen, warum individuelle Anerkennung so häufig in kollektiver Identität gesucht wird. Diese Sehnsucht nach kollektiver Zugehörigkeit ist individualpsychologisch gesprochen Ausdruck der »Schwäche des Ichs« und gesellschaftstheoretisch gedacht »Symptom eines sozialen Prozesses«, wenn es viele betrifft (vgl. Decker 2018: 54). Wie muss man sich diese autoritäre Persönlichkeit in ihrer Ich-Schwäche konkret vorstellen? Wo liegen die Anknüpfungsmöglichkeiten für eine Kritische Theorie des Rassismus? Ein Blick auf den Ursprungstext zeigt die neun Dimensionen, die in die Konstruktion der so genannten Faschismusskala (F-Skala) eingegangen sind. »a) Konventionalismus. Starre Bindung an die konventionellen Werte des Mittelstandes. b) Autoritäre Unterwürfigkeit. Unkritische Unterwerfung unter idealisierte Autoritäten

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Da ein methodischer Vorwurf an die F-Skala der Original-Studie Adornos u.a. (1950) war, durch die negativ formulierten Sätze eine Ja-Sage-Tendenz bei manchen Befragten zu bedienen, nimmt von Freyholds Studie in die A-Skala (die Autoritarismus-Skala) zusätzlich zu den neun Variablen der Originalstudie auch positiv formulierte Aussagen in den Bereich Intrazeption, Anti-Nationalismus und Vertrauen mit auf, um deutlicher die Ablehnung von Autoritarismus messen zu können (vgl. von Freyhold 1971: 42f.). Weitere neue Variablen sind Eigengruppen-Denken, nationale Eitelkeit sowie reaktionäre Ideologie. Zudem reagiert von Freyhold auf die Kritik an der Originalstudie, den Links-Autoritarismus auszublenden, und nimmt drei Skalensätze auf, »um reaktionäre Ideologie linker Art zu messen und damit jene AN von den anderen zu trennen, die an den übrigen negativen Sätzen nicht das autoritäre, sondern bloß das rechtsradikale Moment gestört hatte« (ebd.: 41f.).

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der Eigengruppe. c) Autoritäre Aggression. Tendenz, nach Menschen Ausschau zu halten, die konventionelle Werte missachten, um sie verurteilen, ablehnen und bestrafen zu können. d) Anti-Intrazeption. Abwehr des Subjektiven, des Phantasievollen, Sensiblen. e) Aberglaube und Stereotypie. Glaube an die mystische Bestimmung des eigenen Schicksals, die Disposition in rigiden Kategorien zu denken. f) Machtdenken und ›Kraftmeierei‹. Denken in Dimensionen wie Herrschaft – Unterwerfung, stark – schwach, Führer-Gefolgschaft; Identifizierung mit Machtgestalten; Überbetonung der konventionalisierten Attribute des Ich; übertriebene Zurschaustellung von Stärke und Robustheit. g) Destruktivität und Zynismus. Allgemeine Feindseligkeit, Diffamierung des Menschlichen. h) Projektivität. Disposition, an wüste und gefährliche Vorgänge in der Welt zu glauben; die Projektion unbewusster Triebimpulse auf die Außenwelt. i) Sexualität. Übertriebene Beschäftigung mit sexuellen ›Vorgängen‹.« (Adorno 1973: 45f.; Herv. i.O.; Zeilenumbrüche entfernt) In den Leipziger-Autoritarismusstudien zählen autoritäre Aggression, autoritäre Unterwürfigkeit, Konventionalismus, Verschwörungsmentalität und Verschlossenheit zu den Elementen des autoritären Syndroms26 (vgl. Decker 2018: 55, 124f.). In neueren Arbeiten werden stärker die gruppenbildenden Aspekte des autoritären Syndroms betont: Die Sehnsucht nach einem Kollektiv ist nicht nur die Suche nach einem Kollektiv bestehend aus Menschen mit gleichen Überzeugungen, sondern nach einem Ort von Menschen mit identischen Erfahrungen. Diese Kollektive sind verbunden durch eine ausgeprägte »Trennungs-, Ambivalenz- und Diversitätsintoleranz« (Zienert-Eilts 2021: 122). Diese vor allem durch fehlende oder mangelhafte Containingerfahrungen im Säuglingsalter entwickelten Ängste werden oberflächlich kompensiert durch die Herstellung einer Gruppenidentität (vgl. ebd.). »Der ›Gruppenkörper‹ bildet sich zunächst aus den einzelnen, individuellen, mit unbewussten Vernichtungsängsten, Opferphantasien, mörderischem Wutpotential, Symbiose-Sehnsucht und übermäßigen Idealisierungen gefüllten sowie mit den verkapselten Abwehrüberzeugungen verengten und erstarrten Blasen, die sich nun vernetzen und über eine eigenständige komplexe Gruppendynamik entwickeln.« (ZienertEilts 2021: 122) Die einzelne Person hofft, in diesen Gruppen eine Auflösung von Ängsten und eine Stärkung individueller Identität zu finden – alles was sie bekommen, ist aber nur eine Verstärkung und vollständige Auflösung der »individuellen Identität und die [Steigerung] der Vernichtungsängste« (ebd.). Auf diese Dynamik der Affektpotenzierung, die im Dialog zwischen Agitierenden und Publikum noch gesteigert wird, komme ich im Zusammenhang mit Agitation und Propaganda nochmals zurück. Neben den bereits dargestellten Einflüssen der warenproduzierenden Gesellschaft sind es Einflüsse aus dem familiären Umfeld, die der Ausprägung autoritärer Reaktio-

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Für die Autor:innen der Leipziger Autoritarismusstudie ist Autoritarismus der »Oberbegriff für ein Phänomen, das eine individuelle und eine gesellschaftliche Seite hat. Die individuelle Seite bezeichnen wir als autoritäres Syndrom, die gesellschaftliche als autoritäre Dynamik« (Decker 2018: 50).

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nen zuarbeiten. Familienstrukturen selbst werden bereits in den frühen Arbeiten als abhängig von ökonomischen Konstellationen analysiert. Die Arbeiten der 1930er Jahren untersuchen den Zusammenhang zwischen der Veränderung in der Wirtschaftsstruktur mit Veränderungen der Vaterrolle. Auch in den Studien zum autoritären Charakter und in vielen späteren Studien zum Autoritarismus werden übereinstimmend eine strafende und disziplinierende Erziehung, eine daraus resultierende Elternidealisierung, ein Mangel an emotionaler Zuwendung, eine Bagatellisierung innerer Prozesse sowie eine strikte Orientierung an äußeren Konventionen als prägend für die autoritäre Persönlichkeit bestimmt. Ein rigides Über-Ich, das von einem schwachen Ich begleitet wird, ermöglicht die autoritäre Unterwerfung (vgl. bspw. Oesterreich 2000; Heydari/Teymoori/ Hagish 2013). Sind es in den alten Texten stets väterliche Figuren, denen sich unterworfen wird, so kann deren Funktion in späteren Analysen durchaus auch von gesellschaftlichen, kollektiven Instanzen eingenommen werden. Wichtig ist, dass sie es ermöglichen, Verantwortung und moralisches Gewissen zu delegieren. Insbesondere die oben angesprochene Diagnose der Selbstführung der Subjekte im Neoliberalismus lässt sich an das Konzept eines »sekundären Autoritarismus« (Decker 2015) anschließen. Die Annahme eines sekundären Autoritarismus basiert auf der Vorstellung, dass eine konkrete Führungsfigur durch eine unpersönliche Autorität – eine Theorie oder ein abstraktes Ideal ersetzt wird (ebd.: 23; vgl. zur Möglichkeit von »entpersönlichten Autoritäten« auch Fromm 1936: 134). Insbesondere im Neoliberalismus, hat sich die Bedeutung von Führerfiguren für die autoritäre Persönlichkeit verändert. Um zu verstehen, warum Menschen sich einem Kollektiv unterwerfen, muss die Attraktivität der Kollektivbildung verstanden werden. Die permanente Beschwörung der nationalen, ›rassischen‹ oder kulturellen Höherwertigkeit gewährt Sicherheit und emotionalen Schutz, wo moderne Vergesellschaftung die Psyche beständig durch die gescheiterten Selbsterhaltungsbestrebungen beschädigt. Vermeintliche Angriffe auf das Kollektiv werden vom Einzelnen dann als bedrohlich empfunden. Die nach außen gewendete Aggression minimiert die Differenzen im Inneren der Gesellschaft, und so wird die Unversöhnlichkeit mit dem Feind umso härter beschworen. Die Bindung an eine konkrete Führungsfigur, die typisch für den alten Autoritarismus war, ist heute nicht mehr unbedingt notwendig.27 Die Leipziger Mitte-Studien (2013, 2015) zeichnen darüber hinaus nach, wie nach dem Nationalsozialismus die autoritäre Sehnsucht nach einer Führungsfigur auf die Wirtschaft bzw. die ökonomischen Ideale warenproduzierender Gesellschaften verschoben wurde (vgl. Decker/Kiess 2013: 16). Diese Tendenz beobachtete schon Adorno in den 1950er Jahren. Er sah einen kollektiven Narzissmus, der durch den Zusammenbruch des NS-Regimes beschädigt wurde und in den Nachkriegsjahren darum ersatzweise den wirtschaftlichen Aufschwung besetze (vgl. Adorno 1959: 563f.). Solche Entwicklungen erfahren durch die neoliberalen Subjektanforderungen eine weitere Zuspitzung. So

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Vermutlich ist Autoritarismus heute nicht mehr so sehr mit Konventionalismus und autoritärer Unterwürfigkeit verbunden. Gerade die veränderten Anforderungen des Kapitalismus nach Selbstführung und Vermarktung der Persönlichkeit erfordern eine Persönlichkeit, die mehr Stärke, Aggressivität und Erfolg ausstrahlt (vgl. dazu Rippl/Kindervater/Seipel 2000: 25f.; Petersen 2008: 165f.).

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beschreiben Decker/Kiess, dass wirtschaftliches Wachstum nach dem Nationalsozialismus auch als »narzisstische Plombe diente, weil es den Deutschen nach dem Krieg die Identifikation mit einem Größen-Selbst gestattete« (Decker/Kiess 2013: 29) – ohne dass dieses Selbst unmittelbar kriegerisch gegen andere losschlagen musste: Der ökonomische Wettbewerb zivilisiert kollektive Narzissmen und beutet sie zugleich aus. Dieses neue Ideal autoritärer Unterwerfung gewährt allerdings den Subjekten nicht so viel Sicherheit, wie es eine konkrete Führungsfigur täte. So liege die autoritäre Disposition in Zeiten relativen Wohlstands unter der Oberfläche und trete erst dann hervor, wenn die Plombe rissig wird oder gar rausfällt (vgl. Decker u.a. 2014: 70; Decker 2015). Der Kern eines jeden Autoritarismus, ob nun mit oder ohne Führer, besteht in der Unterwerfung. Das Ich wird schwach gehalten durch verschiedene Sicherheitsbedrohungen; egal ob sozialer Abstieg, Leistungs- oder Würdeentzug (vgl. Reitz/Draheim 2007: 116). Die nötige Sicherheit bezieht das autoritäre Subjekt aus seiner Anbindung an eine (imaginierte) Gemeinschaft wie die Nation. Die affektive Bindung autoritärer Subjekte an die ›Nation‹ ist nicht neu. Das autoritäre Subjekt verlangt, so Flecker/Hentges, in seiner nationalen Sehnsucht eine »stark autoritäre Reintegration der ›Volksgemeinschaft‹« und idealisiert »jene Mechanismen, die […] [seine] eigenen ökonomischen und emotionalen Bedürfnisse sehr effektiv dem Willen der mächtigen Akteure und Institutionen unterordnen« (Flecker/Hentges 2007: 177). Während die Klassenbeziehungen und die Strukturen der Gesellschaft selbst nicht hinterfragt würden, rebelliere der Autoritäre beispielsweise gegen den Zwang zur »politischen Korrektheit« (vgl. ebd.). Solche verwandelten Anschlüsse an die alten Frankfurter Texte gehen mit den ›Urtexten‹ aus den 1940er Jahren also ähnlich um, wie jene Urtexte es mit Freud und Marx taten: Das NichtMehr-Zutreffen wird nicht als theoretischer Mangel eines hektisch anzupassenden Begriffsapparats gedeutet, sondern wirft Licht auf historische Veränderungen.

7.3.2 Rassistisches Meinen Die Analyse des rassistischen Meinens macht Motive zum Gegenstand, die es für Menschen attraktiv machen, sich rassistische Positionen – eben Meinungen – anzueignen. Diese Aneignung ist ein kollektiver Prozess, der von Entfremdungsdynamiken angetrieben (wenn auch nicht ausgelöst) wird. Meinen – eine Meinung zu etwas haben – gilt zumeist als Ausdruck einer individuellen Position. Sie scheint schon per se geschützt vor Einspruch, weil sie eben Meinung ist. Sie darf unverbunden und friedlich neben anderen Meinungen stehen. Am liebsten ist es der meinenden Person, wenn sie sich in Übereinstimmung mit dem weiß, was die anderen meinen. Das bringt der Meinung die Zuschreibung ein, sie sei wahr und normal. Von dieser normalen Form, so Adorno, sei die pathische Form des Meinens im Alltagsbewusstsein geschieden. Aber diese pathische Meinung, »das Deformierte und Aberwitzige von Kollektivideen, [liege] in der Dynamik des Begriffs der Meinung selbst, in der wiederum die reale Dynamik der Gesellschaft steckt« (Adorno 1960a: 574). Bereits die Form des Meinens, des affektiven Besetzens bestimmter Aussagen, des bestimmten Verzichts auf Begründung und Rechtfertigung, trage Keime des pathischen Meinens in sich. Adorno skizziert psychologische, erkenntnistheoretische und gesellschaftstheoretische Aspekte des Meinens.

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Was also ist Meinung? »Meinung ist die wie immer auch eingeschränkte Setzung eines subjektiven, in seinem Wahrheitsgehalt beschränkten Bewußtseins als gültig.« (Adorno 1960a: 574) Das Subjekt verleiht der Meinung die Autorität, selbst wenn diese weder durch eigene Erfahrung noch Überlegungen entstanden ist. Die Beharrlichkeit, mit der Meinungen mitunter vorgetragen werden, verweist auf die Bedeutung des psychologischen Prozesses im Meinen: So könne das Individuum kritisch über seine Meinung reflektieren, die Kategorie der Meinung selbst aber »als eine objektive Stufe des Geistes, ist gepanzert gegen solche Reflexion« (ebd.: 575). Dieser Panzer hängt nach Adorno damit zusammen, dass die Meinung affektiv besetzt werde. Niemand könne sich von dieser Tendenz freisprechen. Meinung werde als wichtiger Bestandteil der eigenen Person betrachtet. Jeder Versuch, die Meinung argumentativ anzugreifen, komme einem Angriff auf die meinende Person gleich (vgl. ebd.: 575f.). Heute sprächen wir wohl von ›identitärer‹ Besetzung der Meinung. Doch schon bevor dieser psychologische Aspekt zum Tragen komme, so Adorno, sei etwas an Meinung, dass zur Verdinglichung treibe: Meinung selbst tendiert dazu, Erfahrung zu ersetzen. »Zugleich aber ist die permanente Wucherung des Meinens vom Objekt her motiviert. Die Undurchsichtigkeit der Welt nimmt offenbar für das naive Bewußtsein zu […]. An was aber Erkenntnis nicht heranreicht, dessen bemächtigt sich die Meinung als deren Ersatz.« (Adorno 1960a: 579) Aus verschiedenen Richtungen – sowohl psychologisch wie wissenssoziologisch und erkenntnistheoretisch kommt es angesichts zunehmender Komplexität also zur Eskalation der bloß meinenden Zurichtung von Erfahrung. Die durchschnittliche Meinung – in der sich gesellschaftliche Macht konzentriert – wird fetischisiert: Sie erhält das Abzeichen des Wahren, wo sie doch durch und durch ideologisch ist. »Das Banale kann nicht wahr sein. Was, in einem falschen Zustand, von allen akzeptiert wird, hat, indem es diesen Zustand als den ihren bestätigt, vor jedem besonderen Inhalt schon sein ideologisches Unwesen. Kruste verdinglichter Meinungen, beschirmt es das Bestehende und sein Gesetz. Dagegen sich zu wehren, ist allein noch nicht die Wahrheit und mag leicht genug in der abstrakten Negation verkommen. Aber es ist das Agens jenes Prozesses, ohne den Wahrheit nicht ist.« (Adorno 1960a: 593) Das ist keineswegs eine Fürsprache für einen Wahrheitsrelativismus, wie Adorno einige Seiten später deutlich macht.28 Er kritisiert die Tendenz der Philosophie wie auch soziologischer Theorie und Empirie, die Meinung zu rühmen, nur weil »man nicht wie mit einem Verwaltungsakt unmittelbar, absolut ausmachen kann, was Wahrheit und was Mei-

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Nicola Gess untersucht in ihrem Buch Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit (2021) die Brauchbarkeit von Adornos Ideologiekritik für ein Verständnis der Funktion von Halbwahrheiten. Denn schließlich teilen sich, oberflächlich betrachtet, sowohl Meinen, Halbwahrheit und Ideologie das Dilemma, dass sie irgendwie falsch und wahr sind. Aber: »Zugleich wahr und falsch zu sein, meint im Fall der Ideologiekritik also (anders als im Fall der Halbwahrheit) gerade keine Suspendierung der Unterscheidung, sondern setzt einen sowohl epistemisch wie normativ begründeten und letztlich ›emphatischen‹ Wahrheitsbegriff voraus, der erst in der Methode der immanenten Kritik gewonnen wird und bei Adorno nur negativ, das heißt als Negation des falschen Bestehenden zu haben ist.« (Gess 2021: 19; Herv. i.O.)

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nung sei« (Adorno 1960a: 581). Die These der »subjektiven Relativität aller Erkenntnis« (ebd.: 584) steuert auf eine Unterschätzung der historisch kontingenten Objektivität zu und damit auf die Überschätzung des »subjektiven Eigeninteresse[s]«, das zum »Maß aller Dinge« (ebd.) werde. Der Wahrheitsrelativismus, wie er auch in Theorien zum Ausdruck kommt, die den Wahrheitsrekurs der Ideologiekritik ablehnen – sei es die Mannheimsche Wissenssoziologie oder Foucaults Poststrukturalismus – führt dazu, dass alle Wahrheiten zu Meinungen werden. »[D]ie Idee der Wahrheit selbst verdünnt sich zu einer aus diesen Meinungen zu komponierenden Perspektive« (ebd.: 585). Gesellschaftstheoretisch muss Meinung als Ausdruck von Entfremdung gelten, denn, so Adorno, die Unangemessenheit der Meinung, legt Zeugnis darüber ab, dass die dominante Erkenntnisform der Gesellschaft zur Meinung genötigt ist, weil die Subjekte ihrer eigenen Lebensvollzüge weder praktisch noch verstehend mächtig sind. Meinung wäre so als fehlgegangene Weltbeziehung zu verstehen, als Ergebnis einer Welt, die erkaltet ist und nicht mehr antwortet, die nicht mehr im emphatischen Sinne erfahrbar ist, wie auch Jaeggi und Rosa es für die Gegenwartsgesellschaft diagnostizieren (vgl. zu einem zeitgenössischen Entfremdungsbegriff Jaeggi 2005; Rosa 2011, 2013). Der Entfremdungsbegriff erzählt seit Marx bis heute immer eine Verlustgeschichte: der Verlust der Unmittelbarkeit von Arbeit, der Verlust der Beziehung zu den Dingen, der Verlust der Beziehung zu anderen Menschen und schließlich zu sich selbst. Insbesondere Verschwörungserzählungen sammeln diese Verlusterfahrungen ein und arbeiten einer regressiven Widerspruchsverarbeitung kapitalistisch induzierter Krisen zu. Die Erzählung vom ›großen Austausch‹ – in der sich antisemitische und rassistische Imagination verbinden – kann als eine solche Erzählung einer entfremdeten Weltbeziehung betrachtet werden. Und an dieser Stelle holt Adorno das psychologische Moment im Meinen wieder in seine Argumentation zurück: »Die Resistenzkraft der bloßen Meinung erklärt sich aus deren psychischer Leistung. Sie bietet Erklärungen an, durch die man die widerspruchsvolle Wirklichkeit widerspruchslos ordnen kann, ohne sich groß dabei anzustrengen.« (Adorno 1960a: 580) Nicht von ungefähr sind Verschwörungserzählungen, aber auch die Rassentheorien des 19. Jahrhundert mit einem Überschuss an Stringenz, an struktureller Geschlossenheit ausgestattet. Die real wirksame Meinung, Menschen in ›Rassen‹ einordnen zu können, diese sodann nach Wertigkeit zu gruppieren und als Gruppierender der angeblich höherwertigen Majorität anzugehören, kompensiert die Ich-Schwäche, die Adorno nicht als Defizit des Einzelnen betrachtet, sondern als »seelische[n] Mechanismus« (Adorno 1960a: 580), der Ergebnis der realen Ohnmacht der Subjekte gegenüber der Gesellschaft ist. Die narzisstische Kränkung des Einzelnen, dessen tendenzielle Überflüssigkeit, kann durch die Identifikation mit dem (nationalen) Kollektiv gemildert werden (vgl. ebd.). Die Hingabe aber an die ›Nation‹ sei die »Meinung als Verhängnis« (ebd.: 589), weil der Nationalismus – als Prototyp des kollektiven Narzissmus – stets zum Überwertigen treibe. Daher ist für Adorno, wie bereits an anderer Stelle gezeigt wurde, auch die Trennung eines gesunden von einem pathischen Nationalismus überflüssig, »weil die Unwahrheit in der Identifikation der Person mit dem irrationalen Zusammenhang von Natur und Gesellschaft wurzelt, in dem die Person sich zufällig befindet« (ebd.). Auch in dem Essay Meinung Wahn Gesellschaft wiederholt Adorno also erneut seine Diagnose von der Irrationalität der Gesellschaft, die sich niederschlage in

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Handeln und Psyche der Einzelnen: Objektive Undurchdringlichkeit, objektives Veralten, objektive Entfremdung resultieren in subjektiv irrationalen Verarbeitungsformen des pathischen Meinens. Was aber bedeutet dieser lauernde Irrationalismus für die öffentliche Meinung, die doch so wichtig für die demokratische Gesellschaft ist? »Die Überzeugung, Rationalität sei das Normale, ist falsch. Unterm Bann der zähen Irrationalität des Ganzen ist normal auch die Irrationalität der Menschen. Sie und die Zweckrationalität ihres praktischen Handelns klaffen weit auseinander, aber Irrationalität ist stets auf dem Sprung, auch diese Zweckrationalität, im politischen Verhalten, zu überfluten.« (Adorno 1960a: 587) Adorno formuliert eine Ambivalenz gegenüber der öffentlichen Meinung: So sei keine Freiheit ohne Raum für Meinung denkbar, die von der Realität abweiche, damit sei auch die Idee einer freien Gesellschaft an die Meinungsfreiheit gebunden – so falsch und verhängnisvoll sie auch sei. Meinungsfreiheit ist jedoch angewiesen auf die Idee von mündigen Bürger:innen; ihr korrespondiert zumindest ideengeschichtlich ein Status des bürgerlichen Subjekts mit ausgeprägter Vernunft- und Urteilsfähigkeit, mit Bildung, mit – wie es bei Kant heißt – der Akzeptanz des allgemeinen, nicht partikularen »Richterstuhls« (Kant 1788: 174) der Vernunft. Doch wo die Mündigkeit durch die gesellschaftlichen Verhältnisse unterminiert wird, so Adorno, da bleibe die Idee der Meinungsfreiheit ohne einen freien, gleichen und mündigen Träger. Jeder Versuch aber, Meinungsfreiheit zu beschränken, führe in die Tyrannei (vgl. Adorno 1960a: 590). Die bornierte Verteidigung von ›Meinung‹ jedoch kann Unmündigkeit noch adeln. Als Meinung bestimmt Adorno »die lädierte Fähigkeit zur Erfahrung« (ebd.: 590). Als Ausdruck einer spezifischen Subjektivität lasse Meinung vernünftige Urteile nicht zu. Das heißt auch, nicht die lehrmeisterhafte Berichtigung der ›falschen‹ Meinung, die mit Ideologiekritik durchaus als gesellschaftlich adäquat zu bezeichnen ist, sondern die Umstellung der Realität, wäre der Schlüssel zur Überwindung der ›falschen‹ Meinung (vgl. ebd.: 592). Wenn wir uns an Adornos Überlegungen zur Ausweitung des Ideologiebegriffes erinnern (vgl. Abschnitt 6.3), dann fällt auf, dass eine Veränderung der Realität ja gerade deshalb als ideologisch verstellt gilt, weil alternative gesellschaftliche Konstellationen undenkbar geworden sind. Für Nicola Gess hat diese Ideologisierung der Gesamtgesellschaft mit ihrem Herzstück des Postulats von der Alterativlosigkeit dem Aufstieg des ›Postfaktischen‹ zugearbeitet. Denn wo es keine Alternative zu einer bestehenden Gesellschaft gibt, da ist diese in gewissem Sinne der Wahrheitsfrage entkommen. Gess paraphrasiert in diesem Sinne Adorno: »Dem Prinzip der Alternativlosigkeit entspreche eine relativistische Position, die nicht nur die massenkulturelle Wahrheit des Spätkapitalismus, sondern Wahrheit überhaupt nur noch als Machteffekt denken könne« (Gess 2021: 21). Indem nun mit dieser Totalisierung von Ideologie, das verschwindet, was einst noch Ansatz von Ideologiekritik sein konnte – die Scheidung von Wahrem und Falschem in den Ideologien – geht der wahrnehmbare Widerspruch zwischen Postulat und Realität als möglicher Einsatzpunkt von Kritik verloren. So wird eine Alternative überhaupt zu fordern, zur inhaltsleeren, stumpfen Polemik.

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Dieser Relativismus, der sich in ›alternativen Medien‹, ›alternativen Fakten‹ oder sich gleich in einer ganzen ›Alternative für Deutschland‹ manifestiert, kann dann gar nicht mehr anders, als undifferenziert alles als Lüge zu diffamieren, zur Verschwörung zu erklären und wie Gess ergänzt »das Streben nach Wahrhaftigkeit für ebenso naiv zu erklären wie die Orientierung an anderen regulativen Ideen – eine Haltung, die man als zynisches Pendant des von Adorno kritisierten intellektuellen Relativismus betrachten kann« (Gess 2021: 23). So lässt sich heute verstärkt »die Verwandlung von Fakten in Meinung […] und die Demonstration autoritärer Setzungsmacht« (Gess 2021: 29) beobachten: In Bewegungen wie den Montagsmahnwochen, Pegida, der AfD oder den Protesten gegen die staatlichen Coronamaßnahmen, die vielfach mit Leugnung und Relativierung des Ausmaßes der Pandemie und der Schwere der Krankheit insbesondere in der Anfangszeit einhergingen. So bedient die AfD »die Kritik am Dogma der Alternativlosigkeit und die Sehnsucht nach einer Alternative allein mit ihrem Namen […], deren Programm aber in ihrem ›gemäßigten‹ Flügel darauf hinausläuft, unter Beibehaltung der neoliberalen Agenda Frustrierten lediglich ein Ventil in Fremden- und Europafeindlichkeit zu bieten, und in ihrem völkischen Flügel darauf, mit der Kritik an der Scheinhaftigkeit der bürgerlich-liberalen Ideologie deren regulative Ideen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit gleich ganz zu verwerfen und das Zurück in einem offenen Autoritarismus zu propagieren, […].« (Gess 2021: 28) Was trägt dieser Rekurs auf das Meinen nun zum Verstehen des Rassismus bei? Wir gewinnen Deutungsangebote für die sozialpsychologische Dimension der Wirkmächtigkeit des Rassismus im Subjekt – gerade für die offensichtlich irrationalen Aspekte des Rassismus (›die‹ Ausländer nehmen ›uns‹ Arbeitsplätze weg und sind zugleich so ›faul‹, dass sie hier nur Sozialleistungen beziehen wollen). Meinung bewährt sich, wenn es schlecht läuft, nicht an Überprüfung, sondern an emotionaler Besetzung. Ihr psychischer Gewinn kann sich gegen ihren Erfahrungsgehalt verselbständigen. Der antirassistische Spruch »Rassismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen«, trifft aus kritisch-theoretischer Sicht daher nur eine Dimension des Rassismus. Richtig ist normativ, dass offen rassistische Propaganda juristisch nicht unter Meinungsfreiheit fallen sollte. Der Spruch problematisiert die verbreitete und den Rassismus verharmlosende Auffassung, dass rassistisches Denken eine persönliche Meinung unter anderen sei – im Falle der Legitimation von Diskriminierung und Verfolgung ist solche blinde Äquidistanz zwischen Meinungen so absurd wie die Äquidistanz zu den Forderungen nach Weltkrieg und Weltfrieden. Problematisch ist die Parole, weil sie den Konnex von Meinung und Rassismus zertrennt. Mit Adorno müsste man korrigieren: Doch, Rassismus ist Meinung – und gerade darum stets auf dem Sprung zum Verbrechen. Die Aufwertung von Meinung in postfaktischen Diskursen ist für die Autoritären überaus attraktiv, weil sie so erstens die mühsame Abwägung des Gewissens zwischen richtig und falsch diskreditieren können – vor allem aber, weil die abstrakte Gleichheit der Meinungen den Kampf um Argumente und Wahrheit ersetzt durch den Kampf um Macht. Mit Macht versehene und durch Macht amplifizierte Sprechpositionen ersetzen das normative Ideal des »zwanglosen Zwangs des besseren Arguments« (Habermas

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1981: 52f.). Die »Krise der [politischen, U. M.] Repräsentation ist auch eine Krise des etablierten Wissens« (Heumann/Nachtwey 2020: 395). Nicht Wissen, sondern Glaubwürdigkeit und Glauben sind die Maßstäbe des postfaktischen Diskurses (Gess 2021: 31). Wissen wird von dem autoritären Typus, den Heumann/Nachtwey »regressiven Rebellen« genannt haben, ersetzt durch Meinung und den Glauben an eine Verschwörung durch ›die da oben‹ und an die Verblendung der anderen Gesellschaftsmitglieder (vgl. Heumann/Nachtwey 2020: 395). Verbürgt durch die Proklamation »lebensweltlicher Evidenz« (Gess 2021: 32) ist Meinung und damit rassistisches Meinen der Beweispflicht entkommen. Unter dem Label der Meinung kann Rassismus so wieder sein, was er neben aller Rechtfertigungsversuche, der Verteilung sozialer Positionen und politischer Macht immer auch war: Ressentiment – die ›Anderen‹ einfach nicht zu mögen, sie nicht bei sich zu dulden – also ein tiefsitzendes Unbehagen, das nicht begründungspflichtig ist, weil es eben Meinung ist.

7.3.3 Konformistische Revolte Das Konzept einer konformistischen Revolte betont die aufbegehrend wütenden, nicht konventionellen Aspekte des Autoritarismus.29 Und es stellt eine Verbindung zwischen Rassismus, Autoritarismus und konkreter staatlicher Politik her. Zwischen den konventionalistischen, unterwürfigen Momenten des autoritären Charakters und der Selbststilisierung zum ›Widerständigen‹ (die in heutigen Bewegungen – sei es gegen die Flüchtlingspolitik, sei es gegen die staatlichen Coronamaßnahmen – besonders virulent scheint) verlaufen psychologische Verbindungswege. Diese wurden schon von Adorno und Fromm betont. Die Triebabfuhr der Beherrschten gehe in der konformistischen Revolte einher mit der Verstärkung der Identifikation mit Herrschaft. Die Autoritären müssen sich mit einem Kollektiv, einer tatsächlichen oder imaginierten Ordnung identifizieren, die den Weg zur Aggressionsabfuhr bereitet. Besondere Bedeutung hat das Konzept der konformistischen Revolte zur Deutung der Nachwende-Pogrome in Deutschland erfahren (vgl. u.a. Pohrt 1993; Claussen 1994; Rensmann 1998). Der konformistisch Revoltierende entgeht den Fragen nach systemischen Ursachen von Krisen und ist doch nicht bloß unterwürfig. Er personalisiert soziale Konflikte und schlägt gegen Sündenböcke los. Wichtig ist, dass dieses Treten nach unten durch Identifizierung mit einer höheren Macht oder Ordnung abgesichert ist. Der so Revoltierende ist nicht einfach bloß enthemmt: Er wiederholt lustvoll Herrschaft an denen, die Objekte der Herrschaft sind: »Was unten liegt, zieht den Angriff auf sich: Erniedrigung anzutun macht dort die größte Freude, wo schon Unglück getroffen hat. Je weniger Gefahr für den oben, desto ungestörter die Lust an der Qual, die ihm nun zu Diensten steht: erst an der ausweglosen Verzweiflung des Opfers wird Herrschaft zum Spaß und triumphiert im Widerruf ihres eigenen Prinzips, der Disziplin. Die Angst, die einem selbst nicht mehr droht, ex-

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Vgl. zur Konformistischen Revolte auch: Marz 2020: 147–149.

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plodiert im herzhaften Lachen, dem Ausdruck der Verhärtung des Individuums in sich selbst, das richtig erst im Kollektiv sich auslebt.« (Horkheimer/Adorno 1947: 133) Die Frustration und Aggression, die sich häufig im Kontext antisemitisch und rassistisch motivierter Attacken entladen, richten sich gegen gesellschaftlich bereits stigmatisierte Menschen. Das können Angehörige sogenannter ›Fremdgruppen‹ sein oder jene, die mit bestimmten Krisen des kapitalistischen Systems traditionell assoziiert werden: die Juden. Die ›Rebellierenden‹, die sich das ›Volk‹ nennen, glauben im Sinne der Allgemeinheit zu handeln, wenn sie Menschen angreifen. »Die Gewalttäter spekulieren in ihrer konformistischen Rebellion schlau auf die Schwachstellen des Systems, wenn sie die Menschen treffen und schlagen, die von der Gesellschaft selbst stigmatisiert worden sind.« (Claussen 1994: 21) Die aufgestauten, negativen Gefühle können sich nur entladen, wenn sich die Autoritären der stillschweigenden Zustimmung der so genannten ›Herrschenden‹ oder ›Eliten‹, der Polizei oder Politik sicher wähnen, wie sich exemplarisch am Pogrom von Rostock-Lichtenhagen nachvollziehen lässt (vgl. dazu Geelhaar/Marz/ Prenzel 2013). Gesellschaftliche Krisen werden von Autoritären durch Personalisierung konkretisiert. Mit der Krise werden je nach ideologischer Präferenz entweder die offensichtlich Überflüssigen im Kapitalverwertungsprozess (z.B. Arbeits-, Wohnungs- und Obdachlose, geflüchtete Menschen) in Verbindung gebracht oder aber die (angeblichen) Repräsentant:innen des Kapitals: die Angehörigen der Finanzsphäre. Im ersten Fall verschafft sich das rassistische Ressentiment Luft, im zweiten das antisemitische. Neben den weiter oben bereits aufgeführten Ängsten vor ›Überfremdung‹, ›Asylchaos‹, ›Islamisierung‹ sind es, wie die R+V Studie über Jahre hinweg dokumentiert, Ängste vor einer Überforderung durch Asylsuchende und vor Spannungen durch den Zuzug von ›Ausländern‹ (vgl. R+V Langzeitstudie 2021). Aus autoritarismuskritischer Perspektive formieren sich hier Ängste, die regelrecht nach einem starken Staat schreien. Das Gefühl, dass politische Entscheidungsträger:innen soziale Ordnung nicht mehr zu garantieren imstande sind, kommt hier deutlich zum Ausdruck. Wie passt nun aber der für den Autoritären konstatierte Hang zum Konventionalismus und zur Unterwerfung mit einer Kritik an politischen Entscheidungsträger:innen – als Autoritäten – zusammen? Widerspricht die notorische Kritik an den ›Eliten‹ seitens der (extremen) Rechten nicht der Rede vom Autoritarismus? Autoritäre brauchen Persönlichkeiten, die Stärke, Macht und Durchsetzungsvermögen ausstrahlen. Warum gerieren sie sich dann anti-autoritär, heute gerne als ›Selberdenker‹? Adorno beschreibt den Konventionalismus als einen Pseudo-Konventionalismus, der eben keine echte Verinnerlichung von konventionellen Normen und Moralvorstellungen ist, sondern nur eine oberflächliche Adaption, unter der rebellische Neigungen umso ungebändigter schlummern. Adorno formuliert in einem Brief aus dem Jahr 1944 an Horkheimer die These, dass Rebellentum und Konventionalismus in einem ambivalenten Verhältnis zueinander stünden: Destruktive und rebellische Regungen seien demnach unbewusst und »Konservatismus und Konventionalismus die Rationalisierung« (Adorno/Horkheimer 1944: 393). Das ist psychologisch zu beschreiben: Das nicht wahrhaft emotional Integrierte, nicht emotional in geglückter Über-Ich-Bildung Verinnerlichte muss umso rigider durch äußerlichen Eifer garantiert werden – man denke an den Gestus vieler religiöser Konverti-

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ten. Dahinter steht aber auch eine geschichtsphilosophische These: Das, was keine Substanz mehr hat, ist oft das Virulentere: »Allgemein werden repressive Vorstellungen um so grausamer, je mehr sie ausgehöhlt sind: sie müssen ihre Anwendung übertreiben, damit der Schrecken den Menschen einrede, was so stark ist, sei auch legitim. Die Hexenprozesse blühten, als der thomistische Universalismus zerfallen war. Ähnlich sind die exhibitionistischen Sündenbekenntnisse derer, die ihren Moralismus austoben, […] so attraktiv für die Massen, weil der Begriff Sünde losgelöst vom theologischen Dogma keine Substanz mehr hat.« (Adorno 1963: 539) Historisch gesehen, darauf weist schon Erich Fromm hin, gibt es immer wieder Auflehnungen gegen Autorität. Diese Auflehnungen geschehen zumeist, wenn die Autorität ihre entscheidenden Qualitäten verloren hat: absolute Macht und Überlegenheit. Und so kommt es zu der Forderung, die alte Autorität gegen eine neue, stärkere Autorität auszutauschen (vgl. Fromm 1936: 130f.). Die konformistische Revolte kann demnach auch Resultat eines als schwach wahrgenommenen Staates sein, dem die Lösung sozialer Probleme nicht (mehr) zugetraut wird. Insbesondere dieser Impuls wird im rechten Populismus thematisiert mit der Rede von einer ›Altpolitik‹, die die Augen vor den aktuellen Problemen verschließe und sich Sachzwängen ergebe. Die über alle Fraktionen derzeit verbreitete Rede von einer Erosion des Rechtsstaates, die zu einem großen Teil eine diskursiv herbeigeführte Schwäche des Rechtsstaates (vgl. Janisch 2018: 45) ist, arbeitet dieser Wahrnehmung erheblich zu. Wie kommt es zu dieser autoritären und zugleich rebellischen Sehnsucht des Subjekts? Neuere Arbeiten verabschieden sich von der Auffassung der frühen Studien, dass ausschließlich die schlechte Internalisierung väterlicher Gebote Autoritätshörigkeit reproduziere. Gerade auch der Umstand, dass bei ein und derselben Person »sich widersprechende und divergente Positionen« vorkommen, lasse es zweifelhaft erscheinen, von dem autoritären Syndrom zu sprechen, so Decker (2018: 54). Schon in den frühen Studien wurde das autoritäre Syndrom daher in verschiedene Typen unterteilt.30 Diese konnten sowohl demokratischen wie liberalen Äußerungen und antidemokratischen, minderheitenfeindlichen Positionen zugleich zustimmen (vgl. ebd.: 53). Daher ist es ein bis heute konstanter Befund bei der Untersuchung des Autoritarismus: »Das Mischungsverhältnis von autoritärer Aggression, eigener Unterwerfungsbereitschaft und Konventionalismus mit demokratischen, anerkennenden und nicht-destruktiven Bedürfnissen ist variabel.« (Ebd.) Eine »autoritäre Dynamik« ist dort vorhanden, wo Einzelne angehalten werden, sich »unter die Herrschaft eines allgemeinen Prinzips« (ebd.: 55) zu stellen. Im

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Adorno unterteilt in folgende Syndrome der Vorurteilsvollen: das Oberflächenressentiment, das konventionelle Syndrom, das ›autoritäre‹ Syndrom, der Rebell und der der Psychopath, der ›Spinner‹, der ›manipulative‹ Typus (vgl. Adorno 1973: 314–339). Von Freyhold differenziert ebenfalls zwischen dem Oberflächenressentiment, dem konventionellen Syndrom (das sie wiederum noch unterteilt in die traditionelle Autorität, den Pseudodemokraten, den Bürgerlich-Konventionellen, den konfusen Konventionellen, den Vorurteilsfreien aus Anpassung), dem klassischen Autoritären, dem manipulativen Typ, dem ›Spinner‹, dem Rebell und dem Kraftmeierer (von Freyhold 1971: 179–203).

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Rahmen dieser autoritären Dynamik ordnen die Einzelnen ihre persönlichen »Wünsche und Lebensziele« zugunsten eines »gesellschaftlichen Ideals« (ebd.) unter. Diese Forderungen nach Unterordnung müssen gar nicht direktiv verkündet werden, sondern können auch als unausweichlicher gesellschaftlicher Druck zur Erfüllung gesellschaftlicher Erwartungen und im Kampf um Anerkennung auf dem Einzelnen lasten (vgl. ebd.). In dieser Auffassung berühren sich die Überlegungen Deckers eng mit denen der frühen Kritischen Theorie, insbesondere auch mit deren ideologiekritischer Perspektive. Bis hierhin lässt sich bei allen Modifikationen die Kontinuität zu den alten Arbeiten betonen. Die explizite Adaption anerkennungstheoretischer Prämissen, vor allem im Anschluss an Axel Honneth, stellt allerdings ein Novum dar. Anders als Heitmeyers Schluss, dass verweigerte Anerkennung zu Desintegration führe, gehen die Autoritarismusstudien mit Honneth davon aus, dass verweigerte Anerkennung31 eher zu einer festeren Verstrickung in die autoritäre Dynamik einer Gesellschaft führt (vgl. Decker 2018: 57). »Missachtung«, so der Honnethsche Zentralbegriff, fördert pathologische Formen von Integration. Auch hier ließe sich Adornos Einsicht anschließen, dass nicht ein Mangel an Integration in kapitalistischen Gesellschaften zu konstatieren sei, sondern ein Übermaß an Integration. Die zunehmende Integration – dieses »mit Haut und Haaren gefressen« (Adorno 1964a: 112) werden – erzeugt ein Ansteigen von Ohnmacht und das Bedürfnis, die Ohnmacht durch die Unterwerfung unter eine Autorität zu mildern. Die autoritäre Rebellion ist ein Weg, den »Widerspruch zwischen dem Ideal der demokratischen Anerkennung und der Konkurrenzrealität in der Marktgesellschaft« subjektiv zu verarbeiten (Decker/Schuler/Brähler 2018: 119). In den letzten Jahren finden sich die »konformistischen Rebellen« (so auch der Titel eines Sammelbandes von 2020) vor allem unter den rechten Populist:innen, denen die Flüchtlingspolitik nicht restriktiv genug ist; unter den Pegida-Anhänger:innen, die um das Ende ihrer ›abendländischen‹ Lebensformen fürchten; unter den Corona-Leugner:innen- und Relativierer:innen (einige nannten sich selbst Corona-Rebellen), die unter Hinnahme des Todes von Menschen an ihren Gewohnheiten festhalten wollten. Die affektiv-aggressive Besetzung von ›Normalität‹ mit widerständiger Emphase von ›Freiheit‹, ja die Gleichsetzung von Freiheit und Normalität in der Corona-Krise, wirkte wie eine perfekte Illustration dessen, was Adorno mit dem »überwertigen Realismus« (Adorno 1966a: 683) meinte: Der autoritär-manipulative Charakter »denkt oder wünscht nicht eine Sekunde lang die Welt anders, als sie ist, besessen vom Willen of doing things, Dinge zu tun, gleichgültig gegen den Inhalt solchen Tuns« (ebd.). Er will die herrschende Autorität – die derzeitige Bundesregierung, die schwach erscheint – gegen eine andere austauschen. Zumeist soll diese neue Autorität mit der Stimme des ›Volkes‹ und des gesunden Menschenverstandes sprechen. Diese von Adorno entwickelte Typologie des autoritären Charakters spricht dafür, dass selbst zunächst unkonventionell erscheinende Menschen autoritär sein können. Der rebellische Typus beispielsweise ist dadurch gekennzeichnet, dass trotz aller rebellischen Inszenierungen die autoritäre Persönlichkeitsstruktur doch dominant bleibt. Rebellion wäre hier nicht die Suche nach Autonomie und Selbstbestimmung, sondern der Austausch der einen (schwachen) Autorität ge31

In der Autoritarismusstudie 2018 werden drei Sphären der Anerkennung erhoben: Anerkennung als Person, als Bürger:in und als tätiger Mensch (vgl. Decker/Schuler/Brähler 2018: 128).

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gen eine stärkere. Adorno räumt selbst ein, dass der rebellische Typ bisweilen nur sehr schwer von echten, unautoritären Rebellen zu unterscheiden ist (vgl. Adorno 1973: 328). Die Autoritären, die in eine »subkulturell vermittelte Rebellion gegen die etablierten Sitten, Institutionen und Gesetze« treten, werden von Heumann/Nachtwey »regressive Rebellen« genannt (Heumann/Nachtwey 2020: 385). Ihre Studie ist an den Wechselwirkungen von Frustrations- und Ohnmachtserfahrungen, sozialer Integration, Meinungsbildung und politischer Praxis interessiert. Dabei verstehen sie im Anschluss an Adornos sozialpsychologischen und Robert K. Mertons konflikttheoretischen Zugang Rebellion nicht allein psychologisch, sondern als Resultat spezifischer Sozialisationserfahrungen, vor deren Hintergrund sich autoritäre Denk- und Verhaltensweisen herausbilden. Heumann/Nachtwey kombinieren Mertons und Adornos Perspektiven, indem sie beide als »zwei Seiten desselben Prozesses begreifen« (Heumann/Nachtwey 2020: 387). Warum sind regressive Rebellen für diese Arbeit von Bedeutung? »Regressive Rebellen zeigen ein autoritär-plebiszitäres Verständnis von Demokratie und ihren Institutionen mit stark individualistischen Zügen« (ebd.: 394). Sie beklagen den Verlust der Freiheitsrechte, vor allem der Meinungsfreiheit – insbesondere, wenn sie mit Rassismus- oder Antisemitismusvorwürfen konfrontiert werden – und die moralische Verkommenheit von Mitgliedern von ›Fremdgruppen‹. Sie fordern, die Rechte von Asylsuchenden einzuschränken und deren Pflichten auszuweiten. Nach ihrer Auffassung werden ›Fremdgruppen‹-Angehörige bevorzugt und die Eigengruppe benachteiligt. Sie sind zutiefst politisch entfremdet, misstrauen der Berichterstattung der Leitmedien, und einige von ihnen sind »Teil einer fragmentierten Alternativöffentlichkeit« im Internet (vgl. Heumann/Nachtwey 2020: 384–397). Und so bleibt auch 20 Jahre später Detlef Claussens Wort aus seinem Band Aspekte der Alltagsreligion eine angemessene Beschreibung der Situation: »Da Rassismus eines der wenigen Tabus ist, die weltweit akzeptiert werden, schwingt beim Stichwort Rassismus immer auch der Geist der Rebellion gegen eine angeblich übermächtige political correctness mit. Die Durchschnittsbürger wollen überprüfen, ob die Unterwerfung sich auch gelohnt hat, ob der Staat oder die anderen Autoritäten sich an ihre Versprechen halten.« (Claussen 2000: 149; Herv. i.O.) Claussen beschreibt diese »populistischen Revolten mit dem Stimmzettel oder die gewalttätigen Attacken« (ebd.) gegen so genannte ›Ausländer‹ als konformistische Rebellion« (ebd.). Der Rassismus ist Identifizierung mit Herrschaft, ist Überlaufen zur herrschaftsausübenden Macht gerade in Form des Aufbegehrens gegen das, was Herrschaft einem an Entsagung auferlegt.

7.3.4 Umgekehrte Psychoanalyse: Agitation und Propaganda Die tiefenpsychologisch orientierte Theorie des Autoritarismus findet ihre Konkretion in den kritisch-theoretischen Überlegungen zur Agitation.32 Sowohl forschungsgeschichtlich wie sachlich gehört beides demselben Zusammenhang an. So bieten sich, wie

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Zur Agitation und Propaganda vgl. auch: Marz 2020: 149–154.

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Rensmann zeigt, gute Möglichkeiten, die Erkenntnisse zur faschistischen Propaganda der frühen Kritischen Theorie »in den Kontext einer aktualisierten Gesellschaftstheorie der Verdinglichung zu stellen«, weil die »dominierende objektivierende Identitätslogik mit ihrem blinden Affekt gegen Nichtidentität und soziale Differenz« (Rensmann 2020: 47) dazu beiträgt, das hervorzubringen, was im vorangegangenen Abschnitt als konformistische Revolte bzw. Rebellion beschrieben wurde. Die von Adorno u.a. ausgearbeiteten Studien zum autoritären Charakter untersuchen gleichsam die ›Empfänger‹Seite; die Ansprechbarkeit der Menschen für autoritäre und faschistische Propaganda. Leo Löwenthals Falsche Propheten und Adornos Arbeit zu Martin Luther Thomas (ein rechter Radio-Agitator) widmen sich der ›Angebotsseite‹: der Propaganda, die solche Ansprechbarkeit gezielt anspielt, ausbeutet und psychotechnisch stimuliert. Aus Perspektive Kritischer Theorie ist solch autoritäre Agitation nicht in erster Linie über bestimmte Interessen oder auch über ›rechte‹ Ideen, Inhalte und deren Geschichte zu erschließen, sondern über die psychologische Dynamik zwischen Führung und Publikum. Agitation ist dann Anwendung eines begrenzten Sets von ›Tricks‹, die die autoritäre Psychologie ansprechen, verstärken und an ›den Agitator‹ binden. Unter den exilierten Kritischen Theoretikern waren es Leo Löwenthals Studie Falsche Propheten. Studien zur faschistischen Agitation (1949) und Adornos, die amerikanischen Studien zusammenfassende Überlegungen in Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda (1951), die diese Tricks ausgiebig katalogisierten. Beide Arbeiten zeigen, dass in Krisenzeiten die Bereitschaft für psychologische Manipulation steigt. Mit diesen Perspektiven auf Agitation und Propaganda lassen sich heute erhellende Deutungen für das Phänomen des sogenannten Populismus gewinnen, wie zahlreiche Arbeiten zeigen (vgl. u.a. Lämmel 2014; Abromeit 2016; Kellner 2016; Lenhard 2019; Weiß 2019; Rensmann 2020). Vielfach scheint es, als fungiere der Begriff des Populismus, insbesondere in der nicht-wissenschaftlichen, öffentlichen Debatte, als ein dem Rechtsextremismus vergleichbarer Oberbegriff für allerlei Abweichungen von einer als neutral vorgestellten politischen Mitte. Dies ist nicht nur analytisch verkürzt, es spielt auch dem umstrittenen Extremismusparadigma zu. Populismus lässt sich begrifflich sinnvoll wohl nur nutzen als Charakterisierung einer Form der politischen Ansprache. Und mit der Kritischen Theorie und deren weithin rezipiertem Konzept der Kulturindustrie lässt sich Populismus als Modus jeder Politik begreifen, die ein vorgestelltes ›Volk‹ irrational anrufen will, sich dabei aber technisch-rationaler, hochmoderner Mittel bedient: Irrationale Gedankenflucht33 , darin aber zugleich auskalkulierte Psychotechnik. Der kulturindustrielle Standard von Wiederholung, Verdopplung, Übertreibung findet sich darum mustergültig in der populistischen Ansprache. Ähnlich wie in der Werbung kommt es

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Auch in einer frühen Arbeit über Antisemitismus und faschistische Propaganda, die noch im US-amerikanischen Exil entstand, große Teile der Löwenthal-Arbeiten bündelt und im gleichen Jahr in einem Sammelband des Psychoanalytikers Ernst Simmel erschien, schreibt Adorno von der Gestalt faschistischer Propaganda als Gedankenflucht: »It does not employ discursive logic but is rather, particularly in oratorical exhibitions, what might be called an organized flight of ideas. The relation between premises and inferences is replaced by a linking-up of ideas resting on mere similarity, often through association by employing the same characteristic word in two propositions which are logically quite unrelated.« (Adorno 1946: 401)

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zu einer Standardisierung von Propagandareizen. Standardisierung trifft auf das stereotype Denken der Anhänger:innen (vgl. Adorno 1951a: 503). Populismus ist dennoch nicht inhaltsleer, sondern braucht, um bestimmte psychosoziale Voraussetzungen anzusprechen, die im autoritären Syndrom zu finden sind, bestimmte Inhalte: Die können durchaus ›links‹ sein, sie müssen aber den ›Anforderungen‹ an Entdifferenzierung, Reflexionsabwehr, Stereotypisierung etc. genügen. Populistische Mobilisierung stützt sich auf bereits bestehende »Ressentiments, Vorurteilsstrukturen und Angstaffekte« (Dubiel 1985: 646). Die populistische Ansprache ist eine Form der Agitation – Löwenthal sagt dazu eine »bestimmte Art von öffentlicher Tätigkeit« (Löwenthal 1949: 19). Löwenthal spricht von einer gesellschaftlichen »Malaise« (Löwenthal 1949: 30), also einer allgemeinen Unzufriedenheit über gesellschaftliche Verhältnisse, die den Keimboden der Agitation bildet. Für die 1940er Jahren beschreibt er die soziale Malaise als »Spiegel jener strukturellen Belastungen, denen der einzelne in einer Periode tiefgehender Veränderungen in der Wirtschafts- und Sozialstruktur ausgesetzt ist: der Ablösung einer Schicht kleiner, unabhängiger Produzenten durch gigantische Konzernbürokratien, dem Zerfall der patriarchalischen Familienstruktur, dem Auflösungsprozeß persönlicher Bindungen in einer zunehmend mechanisierten Welt, der Spezialisierung und Atomisierung des gesellschaftlichen Lebens und der Ablösung traditioneller Muster durch Massenkultur.« (Löwenthal 1949: 30) Agitatoren greifen jene Missstände nicht nur einfach auf: Sie machen sie besonders deutlich und intensivieren bereits vorhandene Emotionalität. Löwenthal hat fünf emotionale Komplexe hervorgehoben, die normal in modernen Gesellschaften sind: Zunächst ist hier das Misstrauen gegenüber Sozialphänomenen zu nennen, die nicht begriffen werden. Dieses Misstrauen wird zweitens begleitet von Gefühlen der Hilflosigkeit, Passivität und Abhängigkeit. Als drittes kommt Löwenthal auf das Gefühl der Vorenthaltung zu sprechen, das er treffend mit dem auch heute noch viel zitierten Satz »Wir füttern die Fremden durch« illustriert. Gefühle der Angst sind der vierte emotionale Komplex. Er bezeichnet das Gefühl, dass die moralischen Fundamente des gesellschaftlichen Lebens ins Wanken kommen. Fünftens ist eine gewisse Desillusionierung zu nennen, die dazu führt, dass die Politik verunglimpft wird, die Freiheiten der Menschen als gefährdet angesehen werden und die in der Behauptung mündet, dass die Politik die »grenzenlose Unwissenheit des Volkes« ausnutze (vgl. Löwenthal 1949: 27–29). »Der Agitator ersetzt bewusst die objektive Kritik der sozialen Wirklichkeit durch eine Pseudo-Personifikation mit dem Thema.« (Ebd.: 120) Was diese Studien begreifen wollen ist, wie soziale Wandlungsprozesse und (Des-)Integration sozialpsychologisch verarbeitet werden (vgl. Rensmann 2020: 25; vgl. auch Lenhard 2019: 96). Wie aber ist Kritik von Unmutsäußerungen zu unterscheiden? Löwenthal spricht in Falsche Propheten zwar nicht von Kritik, die von rassistischen oder antisemitischen Äußerungen zu unterscheiden wäre; aber er wirft die Unterscheidung zwischen Reformer:innen/Revolutionären und Agitierenden auf. Die vermeintlich ›kritischen‹ Äußerungen in der Agitation »sind nicht klar umrissen und gezielt, sondern richten sich auf jeden Aspekt des gesellschaftlichen Lebens« (Löwenthal 1949: 20). Agitierende verorten die von ihnen angesprochenen Probleme niemals auf der Ebene der »herrschenden

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Sozialstruktur« (ebd.). Ungleichheiten und Unzulänglichkeiten der Gesellschaftsordnung werden zwar thematisiert, aber nicht strukturell mit den Nöten von Menschen zusammengedacht. Stets werden nur einzelne Personen oder Gruppen verantwortlich gemacht und deren Eliminierung gefordert, weil es einzig ihr schlechter Charakter bzw. ihre Boshaftigkeit sei, die Ursache schlechter gesellschaftlicher Bedingungen ist (vgl. ebd.). »In der Tat tritt der Gedanke einer objektiven Ursache gänzlich in den Hintergrund; was übrig bleibt, ist einerseits das subjektive Unbehagen und andererseits der persönlich dafür verantwortliche Feind.« (Ebd.: 21) In der Agitation wird sich zwar auf reale Wirklichkeit bezogen, aber nicht mittels rationaler Begriffe, wie Löwenthal schreibt. Zentral sind hingegen emotionale Argumente. Das unkonkrete, nicht begrifflich gefasste Unbehagen des Publikums wird in der Agitation verallgemeinert. Die irrationalen Momente der Anklagen des Publikums werden übertrieben und verstärkt, statt sie zu aufzuklären. Damit ist sehr trefflich ein wichtiger Unterschied zwischen Kritik und Unmutsäußerungen formuliert: Gefühle stehen vor der Analyse. Den Umstand, dass vorhandene Emotionen durch die Agitierenden verstärkt werden, nennt Löwenthal in Adorno und seine Kritiker »›umgekehrte Psychoanalyse‹« (Löwenthal 1978: 61). ›Der faschistische Agitator‹ tritt seinem Publikum mit einer Absicht gegenüber, die das Gegenteil psychoanalytischer Ziele ist: Er verstärkt systematisch die neurotischen Ängste und kognitiven Verunsicherungen. Ziel sei es, anders als bei der Psychoanalyse, die Anhänger:innenschaft unmündig und in Abhängigkeit zu halten. Das psychoanalytische Ziel, »Wo Es war, soll Ich werden«, unterläuft die faschistische Agitation, denn hier soll das Unbewusste durch gesellschaftliche Kontrolle die Reflexionsleistung des Ichs sabotieren (vgl. auch: Löwenthal 1946: 122; Adorno 1951a: 63; Dubiel 1985: 646). Auch dem Rechtspopulismus heute gelingt es, wie dereinst den faschistischen Agitatoren, Wut, Verbitterung, Enttäuschung anzusprechen und sie in politische Energien zu verwandeln. Während Autoritäre ihre Ketten durch die Flucht in den Autoritarismus immer fester schmieden, sucht die Kritik, die Ketten zu sprengen, die Reflexion behindern. Die Themen der Agitation sind »entstellte Versionen echter sozialer Probleme« (Löwenthal 1949: 150), deren Funktion darin besteht, eine bestimmte Gemeinschaft zu reproduzieren. Die Themenspanne – Löwenthal benennt 21 wiederkehrende Themen – scheint innerhalb der Agitation nicht besonders groß zu sein. Primär besteht die Agitation nicht nur in einer falschen Situationsdarstellung, sondern in der Nutzung psychologischer Faktoren: Desorientierung wird bestärkt, Irrationalität übertrieben. Die Führungsposition wird nicht aus sachlicher Überlegenheit beansprucht, sondern aus eigener Betroffenheit. Typisch ist eine Personalisierung statt der Benennung objektiver Ursachen. Rensmann schreibt: »Jedes soziale Problem wird verdinglicht […] jeder soziale Prozess personalisiert und ethnisiert – und dadurch simplifiziert« (Rensmann 2020: 39). Die häufige Rede über die Eliminierung von Personen (»Merkel muss weg«, »Wir werden sie jagen«34 ), vertuscht, dass es nicht um die Beseitigung von Missständen geht, die rechte Agitierende anstreben, wenn sie die Macht dazu haben. So bleibt die

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»Da wir ja nun offensichtlich drittstärkste Partei sind, kann sich diese Bundesregierung […] warm anziehen. Wir werden sie jagen, wir werden Frau Merkel oder wen auch immer jagen – und wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen«, so Alexander Gauland am Wahlabend im September 2017.

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autoritäre »Propaganda die Substanz der Politik« (Adorno 1967: 24) der Rechten, weil die Themen eher als »Machttechniken« (ebd.: 33) eingesetzt werden, um die autoritäre Persönlichkeit anzusprechen. Die Ziele des Faschismus sind – im Blick früher Kritischer Theorie – vage, fiktiv, zum Teil austauschbar. Seine Überzeugungskraft gewinnt er aus den psychischen Reizen seiner Mittel. Löwenthal hat zu Beginn seines Buches eine fiktive Rede aus vielen Reden faschistischer Agitatoren kompiliert – ohne Überstilisierungen, nur durch Montage. Die Motive dieser Rede weisen starke Überschneidungen zu rechten bis extrem rechten Reden heute auf. Problematische Begriffe werden heute teilweise durch harmloser klingende Begriffe ersetzt. So wird aus der Rede von der Fremdsteuerung »ausländischer Mächte« heute die Rede von der Fremdsteuerung durch EU und Wallstreet; aus der Bedrohung christlicher Freiheiten die Bedrohung Europas durch den Islam; aus dem offenen Antisemitismus ist ein sekundärer geworden, der die Schuld an antisemitischen Angriffen den Juden und Israel gibt; aus dem Phantasma einer kommunistischen Verschwörung ist das ›links-grün versiffte Gutmenschentum‹ geworden; aus der Forderung, dass die Regierung aus dem ›Volk‹ kommen müsse, sind Angriffe gegen die repräsentative Demokratie geworden; aus dem »Machthunger als Feind der Massen« die Rede von den Partikularinteressen der Politiker:innen; aus dem Liberalismus als Feind ist der Universalismus geworden, der die Eigenheit der ›Völker‹ zerstört. Die Notwendigkeit einer »Stimme des Volkes« findet sich heute in der Rede von der Notwendigkeit, die ›Wahrheit‹ auszusprechen (Leitspruch der AfD); aus zu viel Sentimentalität ist der Vorwurf der Toleranz durch ›Multikulti‹ oder der Moralismus der ›Gutmenschen‹ geworden. Und anstelle der Forderung nach Recht, Ordnung und Anständigkeit haben wir heute einen Diskurs um Kriminalität und innere Sicherheit (vgl. zu den alten Inhalten Löwenthal 1949: 14–17). Die Agitation, die Adorno und Löwenthal untersucht haben, bedient sich psychotechnischer Methoden, die auch von aktuellen Untersuchungen zum Populismus immer wieder herausgearbeitet werden: ein ausgeprägter Anti-Intellektualismus, Verschwörungsdenken, der Topos vom »großen kleinen Mann« bzw. das »einfache LeutePrinzip«. Populist:innen wie Agitierende reden von gesunden Instinkten und schlichten Gemütern. Ihre Anhänger:innen seien nicht frustriert, sondern verfügten über einen gesunden Menschenverstand, der den Politiker:innen abhandengekommen sei bzw. gänzlich fehle. Dabei gibt die agitierende Person zu, selbst nicht alles zu wissen; betont aber ihren Sinn für das ›Volk‹ (vgl. bspw. Lohl 2017; Butterwegge/Hentges/Wiegel 2018; Niehr/Reissen-Kosch 2019). Diese Annäherung ans ›Volk‹ ist ein wichtiger Kunstgriff, um Massen zu begeistern. Sie muss aber begleitet werden von der Suggestion Stärke und Durchsetzungsfähigkeit zu verkörpern. Denn nur so können autoritäre Menschen Zuflucht in der Autorität finden. In der autoritären Agitation wird Universalismus und Individualismus zurückgewiesen, während kollektive, insbesondere nationale Bande betont werden. Soziale Konflikte werden ethnisiert, teilweise rassifiziert und stets als »Konflikt zwischen Eigen- und Fremdgruppe gedeutet« (Rensmann 2020: 38). Das Überschreiten bürgerlicher und sozialer Normen gehört zum guten Ton der autoritären Agitation, wobei gezielt mit Anspielungen gearbeitet wird, um rechtlich unangreifbar zu bleiben (vgl. ebd.: 45). Zwischen Agitierenden und Publikum, zwischen ›dem Führer‹ und dessen Gefolgschaft, besteht aus autoritarismuskritischer Perspektive eine symbiotische Beziehung. Agitieren-

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de müssen sich nicht verstellen, um ihr Publikum zu erreichen. Es bedarf stattdessen der Identifizierung mit der bzw. die Projektion auf die Autorität (vgl. Fromm 1936: 84), damit die Dynamik zwischen Agitierenden und Publikum in Gang kommt. ›Der Führer‹ muss daher als Über- und als Durchschnittsmensch zugleich erscheinen, »so wie Hitler als eine Verbindung von King-Kong und Vorstadtfriseur posierte« (Adorno 1951a: 496). ›Der Führer‹ muss kein psychologisch ausgebildeter, intelligenter bewusster Manipulator sein; er muss nur seine eigene Psychologie geschickt einsetzen. Er muss einfach nur sein Innerstes nach außen kehren (ebd.: 502f.). Die angesprochenen Propagandatricks sind in vielen aktuellen Reden rechter Politiker:innen wiederzuerkennen. Die agitierende Person muss die latent vorhandenen Bedürfnisse beim Publikum treffen, damit die Agitation erfolgreich ist. Zwei Tricks, auf die Autoritäre besonders anspringen, sind hier erwähnenswert: erstens der so genannte Einheitstrick, der die Differenz von den Anderen, ›draußen‹ betont und die Gemeinsamkeiten innerhalb der Gruppe übertreibt und zweitens die Gleichmacherei: ein repressiver Egalitarismus (vgl. Adorno 1951a: 501). Jan Lohl arbeitet Aspekte aktueller Reden rechter Propaganda am Beispiel von Pegida und der AfD heraus. Die Reden folgen stets der gleichen Struktur: Das deutsche ›Volk‹ wird als Opfer einer bedrohlichen Situation dargestellt. Als Schuldige sehen die Agitierenden Migrant:innen, politische und mediale Eliten sowie diejenigen, die für eine Erinnerung an den Nationalsozialismus eintreten. Auch Lohl spricht von einer ideologischen Verflechtung von völkischem Nationalismus, antimuslimischem Rassismus, strukturellem Antisemitismus sowie Anti-Feminismus und Maskulinismus in einem ideologischen Syndrom. Vermittelt seien diese Ideologien mit aus Modernisierungsprozessen resultierenden Konfliktlagen, also etwa im Gefühl zu scheitern, in der Angst, zu versagen und nutzlos zu sein sowie in der Ohnmacht gegenüber der Forderung, sich zu perfektionieren und zu verwirklichen. Diese Aspekte werden in rechten Reden aufgegriffen. Die Schiefheilung, die die psychoanalytisch inspirierte kritische Theorie schon für den Antisemitismus feststellte, bestehe demnach im Erleben von gesellschaftlich bedingtem Leid als individuellem Versagen und der Verschiebung dieser negativen Gefühle auf Feindbilder (vgl. Lohl 2017: 283f.); also eine Wahrnehmung, der auch die Tendenzen des neo-liberalen Kapitalismus zuarbeiten. Aber wie passt die große Bedeutung einer Führungsfigur für die Autoritären, die Adorno und Löwenthal herausstellten, zu der bereits weiter oben konstatierten Bedeutungslosigkeit eines ›Führers‹ heute? Solche Schiefheilung ist offensichtlich in starkem Maße gruppendynamisch, mit wechselnden oder ausbleibenden Führerfiguren oder gar gleich im Kollektiv möglich. Nietzsches Wort »kein Hirt und eine Herde« abwandelnd, ließe sich für den führerlosen Autoritarismus sagen: Kein Führer, aber eine Gefolgschaft. Rechte Akteure unterbreiten ein affektives Angebot. »Der affektive Furor aus Verbitterung, Ressentiments, Wut, Hass, Neid, Ekel, Scham und Beschämung, Sarkasmus, Verfolgungsgefühlen, moralischer Empörung, Rachegelüsten und Einfühlungsverweigerung ist das eigentliche motivationale Ferment, das die populistischen Bewegungen antreibt und zusammenhält.« (Wirth 2021: 17) Es geht in den hier vorgestellten Perspektiven weniger darum, dass Argumente rechter Populist:innen nicht widerlegbar wären, sondern eher darum, dass die Widerlegung ih-

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nen nicht die Möglichkeit nimmt, Affekte zu mobilisieren. Darin folgt autoritäre Propaganda der »zivilisatorischen Gesamttendenz« (Adorno 1967: 23), mit rationalen Mitteln irrationale Zwecke zu verfolgen: Sie ist klug kalkulierte Psychotechnik, darin instrumentell rational, zwecks gezielter Mobilisierung des Irrationalen. Es geht rechter Agitationen nicht um überzeugendes Argumentieren, sondern um psychologische Effekte, die sich einstellen, wenn Ressentiments verbreitet oder eine Anti-Establishment-Attitüde35 zur Schau gestellt wird. Dieses Primat des Affektiven braucht eine Entsprechung in der politischen Auseinandersetzung. Selbst für den Theoretiker, der stets den »Zwang des besseren Arguments« in seiner Theorie des kommunikativen Handelns betont hat, findet politische Auseinandersetzung eine Grenze: Demokratische Parteien »sollten diese Art von ›besorgten Bürgern‹, statt um sie herumzutanzen, kurz und trocken als das abtun, was sie sind – der Saatboden für einen neuen Faschismus.« (Habermas 2016: 38f.) Autoritäre Agitation ist »personalisierte Propaganda« (Rensmann 2020: 39). Sie kommt nicht ohne Rassismus, Sexismus, Nationalismus und Antisemitismus aus. Wie diese Ideologien gemeinsam im Autoritarismus wirken, werde ich im Folgenden darlegen.

7.4 Autoritarismus als Container – Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Nationalismus Es sollte deutlich geworden sein, dass Autoritarismus keine eigenständige Ideologie mit spezifischen Inhalten ist, sondern in den frühen Autoritarismusstudien als psychologische Disposition, als subjektives Potential für Faschismus angesehen wurde. Die Studien zum autoritären Charakter »waren an der Hypothese orientiert, daß die politischen, wirtschaftlichen, und gesellschaftlichen Überzeugungen eines Individuums häufig ein umfassendes und kohärentes, gleichsam durch eine ›Mentalität‹ oder einen Geist zusammengehaltenes Denkmuster bilden und dass dieses Denkmuster Ausdruck der verborgenen Züge der individuellen Charakterstruktur ist. Im Mittelpunkt des Interesses stand das potentiell faschistische Individuum […].« (Adorno 1973: 1) Das sind die ersten beiden Sätze der Studien, die bereits auf eine bis heute beobachtbare Tendenz hindeuten: dass wer Juden nicht mag, in der Regel Muslime und andere Menschen, die als fremd und abweichend erachtet werden, ebenfalls nicht leiden kann. Und dass eine antidemokratisch eingestellte Person sich häufig »irrtümlicherweise für einen überzeugten Demokraten hält« (Pohrt 1991: 21). Autoritarismus bildet den psychodynamischen Rahmen, in dem Menschen eine Disposition für bestimmte Ideologien entwickeln, wie für den Rassismus, den Antisemitismus, den Nationalismus und den Sexismus. Autoritarismus ließe sich als großer

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Wirth weist darauf hin, dass Menschen die von einem »epistemischen Misstrauen« geprägt sind, ständig bereit seien, etablierte Institutionen unter Verdacht zu stellen, mit unlauteren Absichten, Ausbeutungsambitionen oder funktionalistischen Interessen zu operieren (vgl. Wirth 2021: 20).

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nen nicht die Möglichkeit nimmt, Affekte zu mobilisieren. Darin folgt autoritäre Propaganda der »zivilisatorischen Gesamttendenz« (Adorno 1967: 23), mit rationalen Mitteln irrationale Zwecke zu verfolgen: Sie ist klug kalkulierte Psychotechnik, darin instrumentell rational, zwecks gezielter Mobilisierung des Irrationalen. Es geht rechter Agitationen nicht um überzeugendes Argumentieren, sondern um psychologische Effekte, die sich einstellen, wenn Ressentiments verbreitet oder eine Anti-Establishment-Attitüde35 zur Schau gestellt wird. Dieses Primat des Affektiven braucht eine Entsprechung in der politischen Auseinandersetzung. Selbst für den Theoretiker, der stets den »Zwang des besseren Arguments« in seiner Theorie des kommunikativen Handelns betont hat, findet politische Auseinandersetzung eine Grenze: Demokratische Parteien »sollten diese Art von ›besorgten Bürgern‹, statt um sie herumzutanzen, kurz und trocken als das abtun, was sie sind – der Saatboden für einen neuen Faschismus.« (Habermas 2016: 38f.) Autoritäre Agitation ist »personalisierte Propaganda« (Rensmann 2020: 39). Sie kommt nicht ohne Rassismus, Sexismus, Nationalismus und Antisemitismus aus. Wie diese Ideologien gemeinsam im Autoritarismus wirken, werde ich im Folgenden darlegen.

7.4 Autoritarismus als Container – Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Nationalismus Es sollte deutlich geworden sein, dass Autoritarismus keine eigenständige Ideologie mit spezifischen Inhalten ist, sondern in den frühen Autoritarismusstudien als psychologische Disposition, als subjektives Potential für Faschismus angesehen wurde. Die Studien zum autoritären Charakter »waren an der Hypothese orientiert, daß die politischen, wirtschaftlichen, und gesellschaftlichen Überzeugungen eines Individuums häufig ein umfassendes und kohärentes, gleichsam durch eine ›Mentalität‹ oder einen Geist zusammengehaltenes Denkmuster bilden und dass dieses Denkmuster Ausdruck der verborgenen Züge der individuellen Charakterstruktur ist. Im Mittelpunkt des Interesses stand das potentiell faschistische Individuum […].« (Adorno 1973: 1) Das sind die ersten beiden Sätze der Studien, die bereits auf eine bis heute beobachtbare Tendenz hindeuten: dass wer Juden nicht mag, in der Regel Muslime und andere Menschen, die als fremd und abweichend erachtet werden, ebenfalls nicht leiden kann. Und dass eine antidemokratisch eingestellte Person sich häufig »irrtümlicherweise für einen überzeugten Demokraten hält« (Pohrt 1991: 21). Autoritarismus bildet den psychodynamischen Rahmen, in dem Menschen eine Disposition für bestimmte Ideologien entwickeln, wie für den Rassismus, den Antisemitismus, den Nationalismus und den Sexismus. Autoritarismus ließe sich als großer

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Wirth weist darauf hin, dass Menschen die von einem »epistemischen Misstrauen« geprägt sind, ständig bereit seien, etablierte Institutionen unter Verdacht zu stellen, mit unlauteren Absichten, Ausbeutungsambitionen oder funktionalistischen Interessen zu operieren (vgl. Wirth 2021: 20).

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›Container‹ charakterisieren.36 Es gibt auf der psychodynamischen Ebene ein Verbindendes zwischen den einzelnen Ideologien. Sie bauen auf Stereotypie, speisen sich aus autoritärer Aggression, sie überspielen Ich-Schwäche durch die Verbindung mit einem Kollektiv. Und sie ermöglichen durch Projektion die Reinhaltung eines Ich-Ideals. Aber sie korrespondieren auch auf einer gesellschaftsstrukturellen Ebene miteinander, weil wechselseitig die ihnen entsprechenden Herrschaftsverhältnisse stabilisiert werden. Sie sind Geschwister im Geiste der Anti-Emanzipation. Im Folgenden werde ich schlaglichtartig die spezifischen Verstrickungsverhältnisse dieser Ideologien reflektieren. Kritische Theorie, da ist Stögner zustimmen, eröffnete bereits früh etwas, das heute als intersektionale Perspektive bezeichnet würde (vgl. Stögner 2017: 27). Denn die autoritäre Persönlichkeit vereint in sich verschiedene Ideologien: Nationalismus, Rassismus, Antisexismus/Antifeminismus/Homophobie, die unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. So könne der Genderdiskurs beispielsweise als Deckideologie37 für sekundären Antisemitismus funktionieren, weil sich der Antisemitismus als Welterklärung und Metaideologie von anderen Ideologien vertreten lassen kann. Je nach politischem Zeitgeist und dem unsanktioniert Sagbaren, treten eine oder mehrere Ideologien stärker hervor (vgl. Stögner 2017a: 153). Anders als das verbreitete, auf Identitäten basierende Intersektionalitätsverständnis in den Sozialwissenschaften ermöglicht ein Intersektionalitätsverständnis, das an Kritische Theorie anschließt, den Blick darauf, wie Ideologien in Bewegung gebracht werden und sich kombinieren (vgl. Stögner 2017: 26, 29). Das problematisiert die in vielen intersektionalen Theorien vorherrschende Abkehr von gesellschaftlichen Strukturen. In aktuellen, v.a. marxistisch und kritisch-theoretischen Diskussionen um Intersektionalität wird Intersektionalität wegen der »Defokussierung der Klassenfrage« (Wallis 2021), gesellschaftstheoretischer Auslassungen (vgl. Klinger 2003) und wegen der Verengung auf Identitätsfragen (vgl. Lütten/Bernhold/Eckert 2021) kritisiert. Schließlich könne Intersektionalität selbst zur Ideologie werden, wenn intersektionale Ansätze »Identität verabsolutieren« (Stögner 2021: 429). Vor allem aber geht es nicht bei allen Identitäten der Intersektionalitätsdebatte um Anerkennung, sondern im Falle von Klasse als Strukturkategorie ja gerade um die Abschaffung der 36

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Ähnlich deutet Heitmeyer das häufig gemeinsame Auftreten verschiedener Ideologien wie Sexismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus. Diese träfen in einem Syndrom zusammen, dass als Ideologie der Ungleichwertigkeit bezeichnet wird. Heitmeyer bezieht sich explizit auf die Dialektik der Aufklärung, wenn er erklärt, dass die aufklärerische Idee der Gleichheit »auch zur Ideologie verkommen [kann] oder durch ›Ideologien‹ bekämpft werde[]. Ein wichtiges Instrument stellt dabei die Einführung verschiedener ›Wertigkeiten‹ von Menschen dar. Es werden also nicht nur Rechte in Verfassungen festgeschrieben und soziale Lagen, also spezielle Rollen und Positionen, registriert, sondern die Substanz von Menschen wird in all ihren Facetten einer kategorialen Bewertung unterzogen. In diesem Fall haben wir es dann mit einer Ideologie der Ungleichwertigkeit zu tun.« (Heitmeyer 2008: 37) Als Beispiel diskutiert Stögner hier die inhaltliche Verknüpfung der Implementierung von Gender Mainstreaming, das ›von oben‹ gegen den Willen der Bevölkerung durchgedrückt werde, mit Behauptungen einer Unterwanderung von EU-Institutionen mit Politiken des Marxismus und Bolschewismus in rechten Diskursen. Diese Unterstellung wird ergänzt dadurch, dass sich jene Politiken zudem mit dem globalen Kapitalismus verbündet hätten. Die zunächst widersprüchlich erscheinende Verbindung von Kapitalismus und Kommunismus ist eine bekannte Zuschreibung antisemitischer Projektionen (vgl. Stögner 2017a: 153–155).

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Differenz. Ähnlich argumentiert auch Ina Kerner, wenn sie darauf verweist, dass ›Rasse‹ und Geschlecht von Klasse dadurch unterschieden sind, dass sie neben der politökonomischen Dimension, die auf Umverteilung zielt, ebenso eine kulturell-evaluative Dimension enthalten, die auf Anerkennung zielt, die die Kategorie Klasse nicht hat (vgl. Kerner 2009a: 37). Das weiter oben vorgestellte Autoritarismuskonzept kann als eine frühe Formulierung von Intersektionalität verstanden werden. Karin Stögner versucht, den Intersektionalitätsbegriff für die Ideologiekritik der Kritischen Theorie fruchtbar zu machen (vgl. Stögner 2021: 429). Ich werde im Folgenden an diese intersektionalen, aber auch intersektionalitätskritischen Anschlüsse an Kritische Theorie anknüpfen: Ich gehe ein auf die Vermittlung von Rassismus und Antisemitismus (7.4.1), dann auf das Verhältnis von Rassismus und Sexismus (7.4.2) und abschließend auf das ideologische Zusammenwirken von Rassismus und Nationalismus (7.4.3).38

7.4.1 Rassismus und Antisemitismus Zwar folgen Rassismus und Antisemitismus mindestens unterschiedlichen Logiken und sind für das Subjekt und die Gesellschaft unterschiedlich ›funktional‹, dennoch kann eine aus dem Syndromcharakter der autoritären Persönlichkeit ableitbare Annahme auch für die gegenwärtige Analyse von Rassismus und Antisemitismus übernommen werden: dass, wer rassistisch denkt und handelt, i.d.R. auch zum Antisemitismus neigt. Adorno formulierte in den Studien zum autoritären Charakter: »Wenn auch Antisemitismus in erster Linie immer noch als ein Aspekt des allgemeinen Ethnozentrismus zu verstehen ist, kann es doch keinen Zweifel daran geben, dass er seine eigenen spezifischen Merkmale hat.« (Adorno 1973: 94) Der nachfolgende Exkurs soll in der Gegenüberstellung von Rassismus und Antisemitismus helfen, den Begriff des Rassismus in Hinblick auf dessen Verhältnis zu anderen Ideologien weiter zu schärfen. Die Frage danach, in welchem Zusammenhang Rassismus und Antisemitismus stehen, ist in der wissenschaftlichen Forschung umstritten.39 Die Analyse der beiden Phänomene scheint bisweilen in einer Art Konkurrenzverhältnis zu stehen.40 Die getrennte Analyse von Rassismus und Antisemitismus »liegt teilweise in unterschiedlichen Theorietraditionen begründet, bei denen für das Verständnis von Antisemitismus im deutschsprachigen Raum einerseits das Erbe der Kritischen Theorie im Sinne Theodor W. Adornos und Max Horkheimers und somit

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Die Kategorie ›Klasse‹ wird im Folgenden nicht nochmals in deren Verbindung zum Rassismus beleuchtet, weil bereits an mehreren Stellen dieser Arbeit der Zusammenhang von ökonomischen Faktoren und Rassismus als Ideologie betrachtet wurde (vgl. dazu insbesondere das Kapitel 6 zur Ökonomie- und Ideologiekritik sowie der Abschnitt 4.1.2 zum Klassen-Rassismus). Vgl. zum Verhältnis von Rassismus und Antisemitismus auch: Marz 2020: 79–87. Ein Beispiel ist die verstärkt in den letzten Jahren auch in Deutschland geführte Diskussion um das historische (Ableitungs-)Verhältnis der Shoah aus dem Kolonialismus. Es ist derzeit unklar, ob diese Diskussion nur beispielhaft für das Verhältnis von Antisemitismus-, Rassismus- und Kolonialismusforschung bleiben wird, oder ob sie sich zu einem neuen Paradigma globaler erinnerungspolitischer Deutungen ausweiten wird (vgl. dazu: Rothberg 2009).

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(neo)marxistische Strömungen, andererseits die empirische Vorurteilsforschung einflussreich waren.« (Arnold 2018: 189) Im Zentrum der Kritischen Theorie über den Antisemitismus steht das Subjekt, das die »Widersprüche und Anforderungen« kapitalistischer Vergesellschaftung durch Projektion verarbeitet (vgl. Biskamp 2017: 277). In der neueren Rassismusforschung »dominieren hingegen postkoloniale und poststrukturalistische Ansätze« (Arnold 2018: 189), die auf diskurs- und machttheoretische Perspektiven setzen und Rassismus als soziales Dominanzverhältnis verstehen (vgl. Biskamp 2017: 281). Nicht nur in der wissenschaftlichen Beschäftigung, sondern auch innerhalb linker politischer Bewegungen und der politischen Öffentlichkeit lässt sich ein solches Konkurrenzverhältnis beobachten. Dem einen gilt Antisemitismus als eine spezifische, nämlich gegen Juden und Jüdinnen gerichtete Form des Rassismus, der anderen ist insbesondere der antimuslimische Rassismus ein verallgemeinerter Antisemitismus. Nur selten werden die Spezifika beider Phänomene herausgearbeitet. Auf Unterschieden zu beharren, ist allerdings keine akademische Haarspalterei, sondern Voraussetzung für eine Kritik beider Phänomene. Daher will ich auf den folgenden Seiten die Unterschiede zwischen Rassismus und Antisemitismus darlegen – und zugleich ihren gemeinsamen gesellschaftlichen wie sozialpsychologischen Entstehungszusammenhang herausstellen. Ist der Antisemitismus lediglich eine Sonderform des Rassismus? Viele Forschungen bejahen dies: Es gehört eher zum Normalfall innerhalb der etablierten Rassismusforschung, den Antisemitismus als eine spezielle Form des Rassismus zu betrachten (vgl. dazu beispielhaft Memmi 1982; Haug 1985; Miles 1989). Vielfach wird vor allem in älteren Arbeiten zum Rassismus der Antisemitismus als eine Form des Rassismus behandelt, weil insbesondere der nationalsozialistische Vernichtungsantisemitismus die Juden biologistisch rassifizierte. Haben im Antisemitismus des 19. Jahrhunderts, im Gegensatz zu anderen rassistischen Projektionen, vor allem die kulturalistischen Zuschreibungen dominiert, so hat der Nationalsozialismus die Juden zu einer ›Rasse‹ gemacht. Eine bekannte Passage der Dialektik der Aufklärung ist ein paradigmatisches Stück Ideologiekritik, weil sie dieser Frage: Juden als ›Rasse‹?, keinen eindeutigen Bescheid erteilt, und stattdessen das durch Praxis produzierte falsche Erscheinen der Frage und ihrer Antworten reflektiert: »Für die Faschisten sind die Juden die Gegenrasse, das negative Prinzip als solches; von ihrer Ausrottung soll das Glück der Welt abhängen.« (Horkheimer/Adorno 1947: 192) Für den politischen Liberalismus sind Juden »frei von nationalen oder Rassemerkmalen« (ebd.); eine Gruppe, die nur durch ihre Religion bestimmt wird und durch nichts sonst. Die Doktrin der Faschisten, dass Juden eine ›Rasse‹ seien, sei wahr, weil die Faschisten sie ›wahrgemacht‹ haben. Wenn ›Rassen‹ keine Natureigenschaft sind, dann ist es möglich, dass ›die Juden‹ mittels Gewalt ›zur Rasse‹ werden. Diesen Gewaltakt, die Macht zum Wahrmachen übersieht der naiv-liberale Einwand, die Juden seien doch nur durch ihren Glauben, allenfalls ihre ›Kultur‹ eine Einheit. Bis hierhin könnte man meinen, Adorno und Horkheimer würden Antisemitismus als Extremform des Rassismus diskutieren. Und doch pointieren sie einen wichtigen Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus, wenn sie darauf hinweisen, dass man die ›Schwarzen‹ »dort halten [will], wo sie hingehören, von den Juden aber soll die Erde gereinigt werden, und im Herzen aller prospektiven Faschisten aller Länder, findet der Ruf, sie zu vertilgen, Widerhall.« (Horkheimer/Adorno 1947: 192) Adorno und

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Horkheimer machen hier also, in der geschichtsphilosophisch deutenden Spekulation der Dialektik der Aufklärung (die zeitgleich mit den Vorüberlegungen zu den empirischen Studien zum Autoritarismus entstand), den Aspekt der Vernichtungsintention zum Unterscheidungskriterium von Antisemitismus und Rassismus. Antisemitismus will die Juden – weltweit – auslöschen; Rassismus will die Rassifizierten ausbeuten, unten oder draußen halten. Der Rassismus ist vom Antisemitismus unterschieden, weil er keine ›Welterklärung‹, keine Annahme über machtvolle Strippenzieher mitführt: Antisemitismus richte sich gegen ein imaginiertes Oben oder Dahinter; Rassismus gegen ein Unten oder Draußen (das als solches fixiert werden soll). Doch zumindest die verschwörerische Annahme einer ›Islamisierung‹ unterscheidet sich von solch üblichen rassistischen Zuschreibungen. In den Erzählungen vom ›großen Austausch‹ kehren Verschwörungsnarrative wieder, die vormals vor allem im Kontext des Antisemitismus virulent waren, die jetzt aber augenscheinlich ohne ›Juden‹ auskommen. Verkompliziert wird die Sache noch, weil Muslime auch im Kontext rassistischer Ausgrenzung für Antisemitismus kritisiert werden. Dort, wo der Antisemitismus in Deutschland groteskerweise als ›importiert‹, als muslimisch dargestellt wird, ist es naheliegend, sekundär antisemitische Motive zu vermuten: Wo die Persistenz der Judenfeindschaft auf ein nichtdeutsches ›Anderes‹ geschoben wird, da ist die ersehnte Identifikation mit einem wieder unbescholtenen Deutschland näher. Schon die Entscheidung darüber, wie diese spezielle Form des Rassismus genannt werden soll, wenn es denn überhaupt eine spezielle Form ist, sorgt für kontroverse Diskussionen. In diesem Zusammenhang ist etwa der Begriff »Islamophobie« umstritten, weil er einerseits eigentlich rassistisches Verhalten überdeckt und zu einer spezifischen Feindschaft gegenüber dem Islam erklärt. Andererseits delegitimiert er auch allgemeine Religionskritik; in diesem Fall am Islam (Müller 2010; Mersault/Galow-Bergemann 2011; Decker/Brähler 2018). Eine Kritik des antimuslimischen Rassismus ist durchaus mit Religionskritik zu vereinbaren, denn nicht eine Religion ist zu schützen, sondern konkrete Menschen, die angegriffen, angefeindet und Repressionen ausgesetzt sind. »Religionskritik, gehört zu den Aufgaben der Wissenschaft selbst; und Religionsfreiheit im Sinne der Aufklärung meint nicht zuletzt das Recht auf Freiheit von der Religion.« (Decker u.a. 2018: 67, FN 2) Zu unterscheiden ist die Behauptung, Antisemitismus sei eine Variante des Rassismus von den Thesen, der Rassismus bediene sich bestimmter typisch antisemitischer Muster oder: der Antisemitismus trete psychologisch häufig im Verbund mit Rassismus auf. Die zweite und dritte These lässt sich im Kontext Kritischer Theorie bejahen, ohne der ersten stattzugeben. Im Jahrbuch des Zentrums für Antisemitismusforschung (2008) der TU Berlin, das sich dem Vergleich von Antisemitismus und anti-muslimischem Rassismus aus Perspektive der Vorurteilsforschung widmet, heißt es: »Mit Stereotypen und Konstrukten, die als Instrumentarium des Antisemitismus geläufig sind, wird Stimmung gegen Muslime erzeugt. Dazu gehören Verschwörungsfantasien ebenso wie vermeintliche Grundsätze und Gebote der Religion, die ins Treffen geführt werden. Die Wut der Muslimfeinde ist dem alten Zorn der Antisemiten gegen die Juden ähnlich« (Benz 2009: 9f.). Für Achim Bühl offenbart ein Vergleich »den äußerst erschreckenden Tatbestand, dass antisemitische Stereotype, Theoreme und Argumentationsmuster

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nie wirklich ernsthaft aufgearbeitet und zurückgewiesen wurden, so dass sie nahezu problemlos auf eine andere Opfergruppe transferierbar bzw. duplizierbar sind.« (Bühl 2010: 31) Weil es sich, so Bühl, bei vielen »islamfeindlichen Topoi« (ebd.) um antisemitische Muster handele, sei zu befürchten, dass auch das antisemitische Potential in einer Gesellschaft verstärkt werde. Teile der Antisemitismusforschung sprechen von einem »Antisemitismus ohne Juden« (Lendvai 1972) für die Zeit nach dem Nationalsozialismus: Antisemitismus kann sich richten gegen das vermeintlich ›jüdische Prinzip‹. Balibar wendet diese Diagnose auf den Rassismus an und fasst den Vernichtungsantisemitismus als Variante des Rassismus. Damit eröffnet er schon in den 1990er Jahre die Diskussion über die Frage, ob ›die Araber‹, später ›die Muslime‹, manchmal sogar ›die Palästinenser‹, die ›neuen Juden‹ seien. Er beschreibt die zunehmende Feindschaft gegenüber den Araber:innen in Frankreich als einen »verallgemeinerten Antisemitismus« (Balibar 1990: 32). Schon der moderne Antisemitismus, der sich im 19. Jahrhundert entwickelte, sei bereits ein kulturalistischer Rassismus. Das Wesen der Juden bestehe für den Antisemitismus darin, »eine kulturelle Tradition und ein Ferment moralischer Zersetzung zu bilden« (ebd.). Balibar ist jedoch entgegenzuhalten, dass die antisemitische Phantasie Juden als Agenten der Macht betrachtet. Im Bild einer ›Islamisierung‹, selbst wo sie von finsteren Mächten geplant und orchestriert wird, ist hingegen das Rückständige als Zersetzung halluziniert. Der Rassismus meint die Errungenschaften der Moderne von Vernichtung bedroht. Der Antisemitismus schürt die Wut auf Moderne. Die Verbindung von Rassismus und Antisemitismus sieht Balibar zudem darin, dass der Antisemitismus quasi den »metaphorischen Hintergrund für den Ausrottungswunsch« bereitstellt, der auch im »antitürkischen und antiarabischen Rassismus« vorhanden sei (vgl. Balibar 1990b: 58) Welche weiteren Spezifika des Antisemitismus es sein sollen, die die zweifelhafte These triftig werden lassen, dass sich gerade im Aspekt des Eliminatorischen Rassismus und Antisemitismus treffen, erörtert Balibar nicht. Die entscheidende Frage für eine gesellschaftskritische Perspektive ist, wie Rassismus und Antisemitismus analytisch zu trennen sind, ohne sie von ihrem gemeinsamen gesellschaftlichen Entstehungs- und Reproduktionszusammenhang zu isolieren. Ich möchte im Anschluss an die Antisemitismusanalysen Kritischer Theorie eher die Unterschiede betonen: Antisemitismus und Rassismus sind sich nur in sehr wenigen Aspekten ähnlich. Die Hauptähnlichkeit besteht im Subjekt der Verfolgung. Der ›Antisemit‹ und der ›Rassist‹ entstammen der gleichen Gesellschaft – sie sind oft ein und dieselbe Person. Aber beide Phänomene erfüllen sowohl sozial wie psychologisch unterschiedliche Funktionen. Wer Antisemitismus und Rassismus als ›Vorurteil‹ betrachtet, übersieht die Unterschiede und betont die Gemeinsamkeiten: Abwertung, Ausschluss, die kollektive Zuschreibung negativer Eigenschaften – die Konstitution der In-Group über das ausgeschlossene andere. Der konkrete Inhalt dieser Zuschreibungen markiert aber auch einen Unterschied in der psychologischen Funktion: Juden gelten im Antisemitismus als bedrohlich mittels ihnen eigener wirtschaftlicher und politischer (Über-)Macht. Rassifizierte sind unten zu Haltende, Auszubeutende. Die geheime Weltherrschaft ist ein Konstrukt allein des Antisemitismus. Rassismus und Antisemitismus stehen aus marxistischer Perspektive in einem unterschiedlichen Verhältnis zur Wertverwertung. Im fetischistischen Bewusstsein neh-

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men Rassismus und Antisemitismus unterschiedliche Plätze ein. Auch in postkolonialen Zeiten verlaufen viele Diskurse um Migration entlang der Fragen der Vernutzung von Migrant:innen als Arbeitskräfte. Man kann die marxsche Deutung versuchen: Die unterworfene Bevölkerung der Kolonien verkörpert den Gebrauchswert; im antisemitischen Bewusstsein repräsentieren Juden hingegen den Markt; sie verkörpern den Tauschwert (vgl. auch Grigat 1999: 45–48; Grigat 2007: 310–316). In solch gewiss ausgereizter marxologischer Unterscheidung von Rassismus und Antisemitismus finden sich in jedem Fall Anhaltspunkte, für eine politökonomische Kritik des Rassismus. Rassismus ist ein Herrschaftsverhältnis – Antisemitismus ein Welterklärungsversuch; im Rassismus werden die Opfer abgewertet (sie sind bedrohlich durch unterstellte Minderwertigkeit) – im Antisemitismus werden die Opfer aufgewertet (bedrohlich durch unterstellte Allmacht); im Rassismus werden die Opfer als ohnmächtig – im Antisemitismus als übermächtig halluziniert; beim Rassismus geht es um das Beherrschtwerden – beim Antisemitismus um das vermeintliche Herrschen der Juden. Beide Ideologien platzieren ihre Opfer jeweils am anderen Pol des Doppelcharakters der Ware. Zu welchen Irritationen die Subsumierung des Antisemitismus unter den Rassismus führen kann, wenn sie auf marxistische Unterstellung von Interesse und herrschaftsförmiger ökonomischer Rationalität trifft, wird in folgendem Zitat von Immanuel Wallerstein deutlich: »Hitlers Endlösung ging am eigentlichen Zweck des Rassismus innerhalb der kapitalistischen Weltwirtschaft vollkommen vorbei, denn dieser zielt nicht auf den Ausschluss, noch viel weniger die Vernichtung von Menschen ab, sondern darauf, sie als ›Untermenschen‹ oder Sündenböcke in das System einzubinden, politisch zu benutzen und wirtschaftlich auszubeuten. Was im Nationalsozialismus geschah, würden die Franzosen eine dérapage nennen – einen groben Fehler, ein Ins-Schleudern-geraten, ein Kontrollverlust. Oder vielleicht war der dienstbare Geist aus der Flasche entwichen.« (Wallerstein 2004: 75) Mit radikalisierter Ausbeutung lässt sich die nationalsozialistische Judenverfolgung nicht erklären.41 Bemerkenswert ist hier, dass Wallerstein den Antisemitismus fraglos als Rassismusform wahrnimmt, wo ihm doch selbst der qualitative Unterschied so deutlich auffällt. Juden stehen v.a. für Modernität und Kapitalismus: Sie seien ›Strippenzieher‹, jene, die vom schnellen sozialen Wandel zu profitieren verstehen. Es sind vor allem solche Zuschreibungen ihres Bündnisses mit Moderne und Kapitalisierung, die auf besondere Heimtücke, Rachsucht, Durchtriebenheit, Habgier und Boshaftigkeit der Juden abheben. Dem Antisemitismus ist es so möglich, gegen jede politische, inhaltlich-sachliche Topologie die verschiedensten, sich einander widersprechenden Projektionen gegen die

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Die Frage nach der ökonomischen »Rationalität der Endlösung« ist allerdings seit Jahrzehnten Gegenstand sowohl der Holocaustforschung wie der sozialphilosophischen Deutung. Belegreich für eine perfide immanente Ratio der Vernichtungspolitik – als Raumpolitik, als sozialpolitisch umverteilende Enteignung, als Aufstiegsprogramm für junge Politikeliten – argumentiert seit Anfang der 1990er Jahre immer wieder Götz Aly.

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Juden zu richten: Sie stehen für den Kapitalismus und den Kommunismus, für Liberalismus und Marxismus, für Aufklärung und strenge Gläubigkeit, für moderne Kultur und zugleich für das zivilisatorisch Zurückgebliebene, für die Natur. Die Besonderheit des Antisemitismus liegt in der spezifischen Auf- und gleichzeitigen Abwertung der Juden gegenüber der ›Eigengruppe‹. Antisemitismus wendet sich gegen die angenommene Allmacht der Juden. Der Antisemitismus tendiert zum umfassenden personalisierenden Welterklärungsversuch und geht häufig mit einer rebellischen, antimodernen, antizivilisatorischen und antikapitalistischen Rhetorik einher (vgl. Grigat 2007: 310–316). Rassismus hingegen verbindet sich häufig mit Modernisierungs- und Fortschrittsideen; er begleitet Modernisierungsprogramme. Auch er hat zwar Elemente der Welterklärung, aber für einen begrenzten Bereich. Rassismus ist eine Herrschaftspraxis, die soziale Ungleichheit legitimiert – ›Rasse‹ ist auch im Weltbild der Rassist:innen nicht Schlüssel zur Erklärung dessen, was das Soziale zusammenhält. Dennoch sind Antisemitismus und Rassismus über ihre Unterschiede hinaus ideologisch miteinander verbunden. Die pathische Projektion im Antisemitismus, »die sich in ihrem Grundzug immer gleichbleibt und der abstrakten Seite der Krise gilt, braucht jedoch im Konkreten eine rassistische Ergänzung, die der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt entspricht«, wie Gerhard Scheit schreibt (2017: 168). Der Rassismus richtet sich gegen die, »die weiter ›unten‹ sind und am höheren Punkt des Produktionsniveaus partizipieren möchten« (Scheit 2000: 49). Diese schichtspezifische Adressierung der beiden Ressentiments bedeutet nun aber nicht, dass Rassismus nur beim einkommensschwachen Teil der Bevölkerung vorkommt oder sich grundsätzlich nur gegen die Menschen in noch prekäreren Lagen richtet; im Gegenteil: Pegida und der Aufstieg der AfD stehen für die rassistische Mobilisierung der Mitte. Keineswegs also wird ›der Jude‹ als Feindbild in der modernen Gesellschaft einfach durch ›den Muslim‹ abgelöst. Antisemitismus als Weltanschauung stiftet Sinn und bietet Erklärungen für undurchschaute Herrschaft. So wichtig die Betonung der Unterschiede, so wichtig die Betonung ihrer Vermittlung: Sowohl Rassismus wie Antisemitismus sind eingespannt in einen unaufgeklärten Diskurs über Macht und moderne Herrschaft. In dem einen geht es um das Beherrschen von Menschen, in dem anderen um das Beherrscht-Sein. Rassismus ist die »Biologisierung realer Produktivitätsgefälle«; Antisemitismus die »Biologisierung der abstrakten Dimensionen des globalen Kapitalismus« (Grigat 2007: 316). Aber nicht nur in Hinblick auf diesen objektiv herrschaftssichernden Aspekt ist der Rassismus funktional, auch für das Subjekt. Erst mittels der rassistischen Abgrenzung gelingt es dem bürgerlichen Subjekt, Identität zu festigen. Der Vorgang der projektiven Identifizierung im Antisemitismus wiederum – also der Abspaltung eigener ungeliebter, verpönter Selbstanteile – ermöglicht es dem Subjekt, seinem Über-Ich gerecht zu werden und Aggressionen gegen andere zu richten (vgl. Pohl 2010: 43). Fassen wir noch einmal zusammen: Der Rassismus ist rational-funktional für den Kapitalismus: Der Kapitalismus beutet Menschen aus, er vernutzt sie, er führt zur Verelendung usw., und der Rassismus kann diese Praxen auch im angesichts der Existenz von liberalen Postulaten rechtfertigen. Der Antisemitismus hingegen ist irrational-funk-

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tional für den Kapitalismus.42 Er kanalisiert die subjektiven, nicht in ›Interesse‹ aufgehenden Triebregungen, die die kapitalistische Ratio bei den Menschen erzeugt, staut, stimuliert, unterdrückt. Der Antisemitismus ermöglicht es als solch ›psychotechnisches‹ Muster auch, die besonders destruktiven Momente des Kapitalismus im Juden zu vereinen: Damit wendet er Rebellion gegen Herrschaft in deren ›Sturmtruppe‹: Es sei die Gier und Skrupellosigkeit der Juden, die zur Ausbeutung von Menschen führt oder die ›jüdisch kontrollierte Finanzsphäre‹, die Menschen verschulde und globale Krisen erzeuge.43 Rassismus und Antisemitismus sind also beide funktional im kapitalistischen Gesamtzusammenhang – aber gegensätzlich, vielleicht komplementär. Gewiss überschneiden sich bestimmte rassistische und antisemitische Projektionen.44 Insbesondere die Phantasien von Rassist:innen über die angebliche sexuelle (Omni-)Potenz von ›schwarzen Männern‹ zeigen, dass auch der Rassismus Ideen von der Allmacht seiner Objekte enthält, ohne dabei die Vorstellung von deren Minderwertigkeit auch nur im Geringsten aufzugeben (vgl. Grigat 2007: 314). Die belastenden, ungeliebten Anteile des Subjekts werden nach außen verschoben. Der moderne Mensch hat sich gewissermaßen eine projektive Müllhalde errichtet, auf die er den emotionalen Schmutz und all das Überflüssige, was seine innere Stabilität gefährden würde, ablagert. Während allerdings im Antisemitismus vor allem gegen die Zivilisation rebelliert wird, richtet sich die rassistische Phantasie gegen die Natur, die die Rassifizierten angeblich verkörpern. Projektion ist in dieser Hinsicht eine Reaktion auf das Nicht-Verstandene, das Unbegriffene. In der pathischen Projektion drückt sich Angst vor ›Fremdem‹ aus, das als Natur und daher als beängstigend wahrgenommen wird. »Der Fremde steht demnach für Eigenschaften des Einzelnen in der Gesellschaft in Differenz zur Gemeinschaft. Im Fremdenhass vermischen sich die Angst vor der Exklusion, für die der Fremde steht, der Neid auf seine vermeintliche und wirkliche Individuation, die Eifersucht auf den vermeintlich mehr Geliebten (›Die kriegen alles!‹) und die

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»Mit der industriellen Massenvernichtung, der Anwendung instrumenteller, subjektiver Vernunft zur Erreichung eines auch dieser subjektiven Vernunft widerstrebenden Ziels, wird jedes denkbare Verhältnis von Zweck und Mitteln zerrissen; denn als ›vernünftig‹ wurde immer noch das gesehen, was als nützlich galt.« (Diner 1990: 53) Einen zentralen Unterscheid zwischen Faschismus und Nationalsozialismus verortet Diner daher in der »nationalsozialistischen Überschreitung von Grenzen eigener Selbsterhaltung, von Motiven subjektiver Vernunft. Nicht vom Faschismus – dem noch ökonomische Rationalität unterlegt wurde – sondern vom Nationalsozialismus her hat die Grenzbedeutung partikulare Interessendurchsetzung im Rahmen eines utilitaristisch grundierten Verhältnisses von Zweck und Mitteln als durchbrochen zu gelten« (ebd.: 53f.). Natürlich ist der Begriff der Finanzsphäre eine analytische Kategorie zur Beschreibung der verschiedenen Dimensionen des Kapitalismus. »Zu den Haupttatsachen des Gegenwartskapitalismus gehört auch die zentrale Bedeutung der Finanzmärkte. In der spezifischen Tauschform der Finanzsphäre werden keine Waren, sondern nur noch fiktive Geldtitel gehandelt.« (Nachtwey 2018: 112) Antisemit:innen behaupten aber, dass die Finanzsphäre jüdisch dominiert ist. Der Antiziganismus ist ein Beispiel für eine Projektion, die zahlreiche rassistische und antisemitische Vorstellungen in sich vereint. Antiziganismus wird häufig als eine Form des Rassismus behandelt, der sich speziell gegen Sinti und Roma richtet. Doch auch in diesem Fall handelt es sich nicht einfach ›nur‹ um einen Fall von Rassismus (vgl. Grigat 2007: 312).

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auf ihn verschobene Aggression, die eigentlich den Objekten gilt, die bei der Unterstützung der eigenen Individuation versagt haben.« (Eichler 2019: 150) Grigat zeigt außerdem, wie verschieden die sexuelle Bedrohlichkeit im Rassismus und im Antisemitismus ausgeschmückt wird. Dem rassistischen Bild vom ›schwarzen Vergewaltiger‹, der jung und muskulös phantasiert wird, steht in der antisemitischen Phantasie der »alte[], gekrümmte[] geile Bock« als Verführer gegenüber (vgl. Grigat 2007: 314; vgl. zur Produktion des ›farbigen Sadisten‹ und Vergewaltigers in der deutschen Kolonialliteratur: Bischoff 2018: 206–214). Die Naturalisierung der Rassifizierten im Rassismus, vor allem während der Aufklärung, erfüllte eine wichtige Funktion: »Wer die Natur beherrsche, sei zivilisiert, daher erschien derjenige, dem es gelang, das vermeintlich barbarische Triebleben der Schwarzen einzuhegen, als Kämpfer für Kultur und Zivilisation. Die rassistischen Bilder sexueller Gier und Potenz, die noch heute kursieren, sind Projektionen eigener Wünsche und Triebregungen, die den eigenen, durch die Kultur auferlegten Verzicht rechtfertigen.« (Lenhard 2021: 63) Während ›der Jude‹ weithin als kastrierter und deshalb halbierter Mann, die Rassifizierten hingegen als übersexualisiert und unbeherrscht imaginiert wurden, kann sich der Mann der Aufklärung als normal – als selbstbeherrscht und kontrolliert – setzen (vgl. Lenhard 2021: 63). »Antisemitismus und Rassismus helfen ihm [dem ›aufgeklärten‹ Menschen, U. M.], diese Angst [vor Kontrollverlust, U. M.] abzuspalten und zu perhorreszieren.« (Ebd.) Auch in Hinblick auf die Idee einer Verschwörung scheint es zunächst Ähnlichkeiten zwischen Antisemitismus und antimuslimischem Ressentiment zu geben: Denn Letzteres weist in der Furcht vor einer ›Islamisierung‹ Elemente der Verschwörungstheorie auf. Doch in der konkreten Imagination offenbaren sich die Unterschiede: Die Muslime bleiben für ihre Feinde in jeder Hinsicht minderwertig – ihre Expansion gelinge nur durch ihre zahlenmäßige Überlegenheit (›Geburtendjihad‹). Die antisemitische Vorstellung hingegen imaginiert die Juden deshalb als gefährlich, weil sie ihnen eine besondere Intelligenz und Verschlagenheit unterstellt, die es ihnen ermögliche, auch als kleine Minderheit die Weltherrschaft zu erlangen. Rassismus ist aufs engste verbunden mit der Angst vor dem Verlust von Vorteilen und von sozialem Abstieg, wie Oliver Nachtwey in seiner Studie Abstiegsgesellschaft (2016) zeigt. Die, die sich zu kurz gekommen fühlen, verteidigen das Ihre unerbittlich. Der Konformismus dieser Menschen schlägt in Abwertung derer um, die als anders oder als vermeintlich unproduktive ›Mitesser‹ wahrgenommen werden. Statt politische Repräsentant:innen dafür zu kritisieren, dass das Ideal der politischen Gleichheit nicht eingelöst ist, neigen sie dazu, die Demokratie abschaffen zu wollen und eine direkte Herrschaft der Mächtigen herbeizuführen (vgl. Nachtwey 2016: 222). Dieser Rassismus ist folglich verbunden mit der Vorstellung eines Angriffs von ›oben‹, also der politischen Entscheidungsträger:innen, die gegen die Interessen des ›Volkes‹ handeln. Während hier Feinde recht genau benannt werden, bleibt diese Feindbestimmung im Antisemitismus unspezifisch (vgl. ebd.). Sie arbeitet mit typischen antisemitischen Chiffren und Passepartouts wie ›Wallstreet‹ ›Ostküste‹, ›Finanzkapital‹ oder ›Strippenzieher‹.

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Auf einen weiteren fundamentalen Unterschied zwischen Rassismus und Antisemitismus weist Heribert Schiedel hin: ›Der Jude‹ repräsentiert den »nahen (unheimlichen) Anderen der (säkularisierten) christlichen Kultur«, während ›der Moslem‹ »ihren fremd gemachten Anderen« (Schiedel 2015: 27) darstellt. Wenn Schiedel schreibt, dass antimuslimischer Rassismus und Antisemitismus sich um die Jahrtausendwende amalgamieren, d.h. sich zu einem Syndrom verbunden haben (vgl. ebd.: 26, 28), in dem jedes seine Spezifika behält, dann nimmt diese These genau die Perspektive der Kritischen Theorie auf autoritäre Persönlichkeit als Syndrom wieder auf. Schiedels Auffassung allerdings, dass sich antimuslimischer Rassismus auf den Antisemitismus gleichsam aufsetzt (vgl. ebd.: 27), suggeriert, dass dieser den Antisemitismus überlagere. Plausibler ist aus meiner Sicht die Annahme, dass sich das antimuslimische Ressentiment nicht additiv ›aufsetzt‹, sondern sich zwanglos in den Antisemitismus einfügt (vgl. Seeburger 2015: 60). Damit unterstreicht Seeburger nicht nur das Primat des Antisemitismus, sondern auch die wechselseitige Ergänzung beider Ideologeme. Insbesondere Pegida führt uns musterhaft das Fortleben antisemitischer Ressentiments vor, ohne dass dabei das Wort ›Jude‹ überhaupt fallen müsste – dort wo es gegen die ›Lügenpresse‹ und das ›Establishment‹ geht, dort, wo Herrschaft restlos personalisiert wird. Das Grundmotiv des Lügenpresse-Vorwurfs deckt sich mit antisemitischen Imaginationen, weil hinter politischen und sozialen Entwicklungen nicht konkret identifizierbare, aber omnipotente Mächte vermutet werden. Damit steigert die Vorstellung der Lügenpresse, wie andere Verschwörungsideologien auch, die »Emotionalität und Affekthaftigkeit des Politischen« (Salzborn 2016: 83).45 Es zeigt sich, wie sich Rassismus und Antisemitismus in der Praxis einer reaktionär-autoritären Bewegung wie Pegida überblenden. Besonders deutlich wird diese nicht nur intrapersonelle Überblendung von Antisemitismus und Rassismus in der Vorstellung eines ›großen Austausches‹, den Neue Rechte propagieren: Kern dieser Vorstellung ist die Behauptung, dass die Politik Teil einer Verschwörung sei und durch den Zuzug muslimischer Einwander:innen einen Austausch der deutschen Bevölkerung gegen eine muslimische Mehrheit plane, um damit eine ›Islamisierung‹ der Gesellschaft voranzutreiben. Diese Verschwörungsideologie enthält sowohl antisemitische wie rassistische Motive und gehört zum Glaubenskanon der Neuen Rechten von Pegida, über die Identitäre Bewegung bis zur AfD. In einem Paper des »Instituts für Demokratie- und Zivilgesellschaft Jena« werden drei Stufen der Verschwörungsideologie ›großer Austausch‹ genannt. Auf der ersten Stufe seien es die Muslime selber, die den Austausch planten; auf einer zweiten Stufe siedelten europäische Eliten Migrant:innen in Deutschland an, um den Zusammenhalt des deutschen ›Volkes‹ zu brechen; auf einer dritten Stufe schließlich sind es nicht einfach europäische Eliten, die diese Ansiedlung dirigieren, sondern – in der konkreten Bezeichnung auch chiffriert – Ju-

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Bei solcher Einordnung des Lügenpressevorwurfs geht es nicht darum abzustreiten, dass Journalist:innen auch Fehlinformationen aufsitzen können, eigene, wenig objektive Programme verfolgen oder es allerorten defizitäre Berichterstattung gibt; auch nicht darum, dass Journalist:innen manchmal aufgrund prekärer Arbeitsverhältnisse zur Ablieferung eines unfertigen Produktes gezwungen sind. Es geht beim Lügenpresse-Vorwurf um die Vorstellung, dass Medien – als so genannte ›Mainstreammedien‹ – in ihrer Gesamtheit Menschen gegen ihre Interessen manipulieren (vgl. von Raden 2016: 176).

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den und Jüdinnen, die diese ›Umvolkung‹ planen (vgl. IDZ Jena 2017: 2). Diese verschiedenen Stufen würde ich eher als Varianten bezeichnen, die selbst in ihre antisemitische Ausgestaltung bis zur dritten Stufe hin steigerungsfähig sind, aber es nicht zwingend sein müssen. Sie entsprechen aus meiner Sicht den unterschiedlichen Vorstellungen, die sich rechte Akteure, Teile der AfD oder der Identitären Bewegung von dem machen, was sie ›großer Austausch‹ nennen. Strukturell antisemitisch ist bereits die zweite Variante, weil sie hinter politischen Prozessen im Verborgenen agierende Eliten vermutet, die konspirativ die Geschicke eines Landes zu ihrem eigenen Vorteil steuerten, um politische Macht und wirtschaftlichen Gewinn aus solchen Veränderungen der Bevölkerungszusammensetzung zu schlagen. Auch wenn beispielsweise AfD-Abgeordnete immer wieder antisemitische Aussagen tätigen, so ist die AfD doch stark bemüht, sich als die Partei für Juden und Jüdinnen in Deutschland darzustellen. Im Kontrast dazu stehen Aussagen, wie die des (mittlerweile ehemaligen) AfD-Abgeordneten Wolfgang Gedeon über die Vereinigung von Juden in der AfD: »Im ungünstigsten Fall« sei diese Vereinigung »eine zionistische Lobbyorganisation, die den Interessen Deutschlands und der Deutschen zuwiderläuft« (Gedeon, zit.n. Schneider 2019). Auch wenn in dieser Unterstellung das antisemitische Motiv der Zersetzung durch die Juden klar hervortritt, so gibt es in dem Sinne bislang keinen programmatischen Antisemitismus, den die AfD in ihrem Wahl- oder Grundsatzprogramm oder die Pegida in ihrem Positionspapier formuliert hätten. Es gibt allerdings immer wieder öffentlich formulierte sekundär antisemitische Aussagen von Rechtspopulisten wie die Gaulands, dass der Nationalsozialismus nur ein »Vogelschiss in der Geschichte« (Gauland, zit.n. FAZ 2018) gewesen sei. Radikaler als die offiziellen Aussagen sind häufig die Kommentare der Leser:innenschaft, die sich unter Artikeln finden, welche sich mit Erinnerungs-, Flüchtlingsund Migrationspolitik beschäftigen. So bestätigen die Leipziger-Autoritarismus-Studien 2018, dass die Zustimmung zu manifesten antisemitischen Aussagen – wie: »Juden haben zu viel Geld« – einem Tabu unterliegt. Dennoch stimmen solchen Aussagen immerhin um die 10 Prozent der Befragten voll zu. Einen Hinweis auf einen latenten Antisemitismus geben die »›teils/teils‹-Antworten, die bundesweit etwa 20 Prozent aller Antworten ausmachen, in den neuen Bundesländern sogar teilweise etwa 30 Prozent« (Decker u.a. 2018: 109f.). Andere Umfragen stärken diesen Befund: 80 Prozent der AfDWähler:innen wollen einen Schlussstrich unter den Nationalsozialismus ziehen, so eine Forsa Umfrage vom November 2019. Dass die Nazis Millionen von Juden umgebracht haben, bezweifeln 15 Prozent der AfD-Wähler:innen.46 In einer Allensbach-Umfrage im Juni 2018 antworteten 55 Prozent der AfD-Wählerschaft mit »Ja« auf folgende Frage: »Haben die Juden zu viel Einfluss auf der Welt?« (vgl. Institut für Demoskopie Allensbach 2018). Wie so ein Denken sich konkret in der Anhänger:innenschaft der AfD ausdrückt und wie rassistisches Denken sich mit dem Antisemitismus berührt, zeigt folgendes Beispiel: Hartmut Issmer, nach Eigenaussage AfD-Mitglied und zudem finanzieller Förderer der AfD, hielt im November 2018 eine Rede bei BärGida, in der er Migration nach Deutschland als jüdisch motiviertes Projekt zur Vernichtung Deutschlands beschrieb: 46

Im Auftrag von RTL und ntv hat das Meinungsforschungsinstitut Forsa im November 2019 mehr als 2500 Wahlberechtigte befragt.

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»Wer sowas [Migrationspakt, U. M.] plant, wer sowas unterzeichnen will, der will Europa, der will Deutschland vernichten. Darüber dürfte es wohl keinen Zweifel mehr geben. Man muss sich jetzt natürlich schon die Frage stellen, wer plant so etwas? Wer sind die Drahtzieher dieses Vorhabens?« (vgl. Issmer/Bärgida 2018) Es sei die internationale »Hochfinanz«, die Issmer anschließend mit einem historischen Rückblick für die russische Revolution und den Spartakus-Aufstand verantwortlich macht. Und wer Träger der Hochfinanz und somit Finanzier von Revolutionen und Aufständen ist, weiß Issmer auch: die jüdische »Rothschild-Bank« (vgl. ebd.). Der Weg von einer anderen Verschwörungstheorie zum Antisemitismus ist meist kurz. Antisemitismus bezeichne ich hier als Meta-Verschwörungstheorie. Sie bietet solchen Vorstellungen, wie denen, dass beispielsweise Regierungen gesteuert und Medien und öffentliche Meinung manipuliert werden, konkrete Verantwortliche an. Wo die Zuschreibung konkreter Verantwortlicher in einfachen Verschwörungstheorien, wie beispielsweise dem Lügenpressevorwurf oder einer ›Islamisierung‹ der Gesellschaft, subtil oder unbenannt bleibt, wird sie in der antisemitischen Verschwörungstheorie konkretisiert: es ist Israel, es sind die Juden, die Zionisten, zionistische Lobbyorganisationen usw. (vgl. Salzborn 2016). Da der Antisemitismus nach 1945 einer Kommunikationslatenz unterliegt, die es verbietet, offen Juden zu beschuldigen, arbeitet der Nachkriegsantisemitismus mit Chiffren und Ersatzbegriffen. Das könnte ein Grund sein, warum in vielen Verschwörungstheorien Juden nicht offen bezichtigt werden. Diese Kommunikationslatenz ist auch ein Grund dafür, warum der antisemitisch-verschwörerische Gehalt im Lügenpressevorwurf in quantitativen Untersuchungen und in öffentlichen Kommentaren nur latent bleibt. Nicht allein mit Blick auf die konkreten Ausprägungen vorfindlicher Verschwörungstheorien und politischer Biographien; auch aus autoritarismuskritischer Perspektive lässt sich der Zusammenhang einer ideologischen Einheit von Verschwörungstheorien und Antisemitismus nahelegen. Bereits Adorno stellte in den 1950er Jahren heraus, dass die autoritäre Persönlichkeit zum Antisemitismus wie zum Rassismus neigt, und dass eines ihrer Hauptmerkmale der Glaube an verschwörerische Vorgänge in der Welt ist (vgl. Adorno 1973: 59f.). Adorno spricht davon, dass Autoritäre unbewusste Triebimpulse auf die Außenwelt projizieren. Wer anderen unterstellt, die Weltherrschaft an sich reißen zu wollen, drückt darin die Sehnsucht aus, selber mächtiger zu sein. Autoritäre denken in Dimensionen wie Herrschaft/Unterwerfung, stark/schwach. Sie identifizieren sich mit Machtfiguren (wie Putin) und neigen dazu, konventionelle Werte überzubetonen. Sogenannte Eliten werden im heutigen Rechtspopulismus deshalb angefeindet, weil sie den Autoritären nicht stark genug erscheinen, weil sie keine echten Führungsqualitäten zu haben scheinen und daher den Autoritären nicht das so wichtige Gefühl geben, durch Führung Orientierung und Sicherheit zu finden. Verschwörungsglauben kritisiert nicht strukturelle Bedingungen und soziale Interessen, sondern macht allein bedrohliche und übermächtige Personen oder Gruppen für gesellschaftliche Problemlagen verantwortlich. Diese Mentalität ermögliche zweierlei: Kontrolle über das eigene Leben und autoritäre Aggressionen mittels Projektion zu befriedigen (vgl. Decker/Schuler/Brähler 2018: 122f.).

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7.4.2 Rassismus und Sexismus Im folgenden Abschnitt werden die ideologischen Schnittmengen zwischen Rassismus und Sexismus herausgearbeitet. Sexismus hat sich in gewisser Hinsicht als zum Rassismus äquivalenter Begriff in den 1960er Jahren entwickelt (vgl. Kerner 2009: 310). Er bezieht sich auf Phänomene geschlechtsbezogener Diskriminierung.47 Auch der Begriff Sexismus kritisiert wie der des Rassismus die wesensmäßige Festlegung von Menschen unter eine Kategorie – in diesem Fall die des Geschlechts. Er kritisiert den Schluss, dass äußere Merkmale etwas mit den inneren Eigenschaften oder Fähigkeiten eines Menschen zu tun haben. Solche Fehlschlüsse werden in der Kritik des Sexismus nicht nur idealistisch ›im Begriff‹, als kognitive Fehlleistung, ideelle Vereinseitigungen kritisiert – sondern es wird in vielen Sexismuskritiken gezeigt, wie sich Sexismus auf einer alltagsweltlichen, institutionellen und strukturellen Ebene reproduziert. Beide, Sexismus und Rassismus, sind insofern Herrschaftsformen moderner kapitalistischen Gesellschaften, als dass sie deren Ungleichheitsverhältnisse rechtfertigen. Mit Sexismus verbinden sich jene Diskurse um ›Gender-Wahn‹, Frühsexualisierung48 , Gender-Mainstreaming, geschlechtersensible Sprache, Antifeminismus und das Festhalten an tradierten Rollenbildern, Transfeindlichkeit und Homophobie usw. – Praxen und Diskurse, die vom Sexismus nicht zu trennen sind, weil sie Teil seines Begründungs- und Verständigungs-

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Innerhalb der akademischen Untersuchung der deutschen Geschlechterverhältnisse sind drei große theoretische Paradigmen zentral, die ihrerseits jeweils neue Perspektiven auf das Verhältnis der Geschlechter stärkten. Sehr vereinfacht lässt sich sagen, dass sich zunächst in den 1970er Jahren die sogenannte Frauenforschung etablierte, die sich mit der Lebensrealität von Frauen und den damit verbundenen sozialen Ausschlüssen, politischer Partizipation und dem Arbeitsmarkt beschäftigte. Für die Frauenforschung war u.a. eine Patriarchatskritik von großer Bedeutung. Auf die Frauenforschung folgten in den 1990er Jahren die Gender-Studies mit der zentralen Unterscheidung zwischen biologischem und sozial hergestelltem Geschlecht, auch um die unhinterfragte Zweigeschlechtlichkeit in der traditionellen Patriarchatskritik zu überwinden. Zur gleichen Zeit etwa entwickelte sich ein Teilbereich der Gender-Studies zu den heute einflussreichen Queer-Studies, die sich gegen die herrschende Heteronormativität wenden und die die prinzipielle Möglichkeit betonen, dass Geschlecht wechsel- und veränderbar sei: Daneben könne nur die Selbstdefinition von Geschlecht und Sexualität das entscheidende Kriterium identitärer Zuschreibung sein, niemals aber eine, die nicht selbst gewählt sei. Gender- und Queer Studies beziehen ihre Prämissen und Perspektiven vor allem aus interaktionistischen und poststrukturalistischen Theorien. Die Fixierung auf eine angebliche Frühsexualisierung von Kindern und auf die vermeintliche »Enttabuisierung nicht-heterosexueller Lebensweisen« (Lang 2015: 27) durch das, was der neu-rechte Diskurs Anti-Genderismus nennt, nimmt mitunter selbst verschwörungsideologische Züge an, z.B. wenn von staatlich-geförderten Umerziehungsprogrammen geredet wird. Was als Angriff auf traditionelle Männer und Frauen gesehen wird, ist der Versuch, die Ungleichverteilung von Macht und Sozialstatus zu korrigieren – eine Ungleichverteilung, die eben auf sexistische Verhältnisse, auf die Bevorzugung traditioneller Lebensweisen zurückgeht (vgl. Lang 2017: 72). Solchen Familienpopulismus (vgl. dazu das AfD Grundsatzprogramm 2016: 55) und Antifeminismus betrachtet Lang als Kitt zwischen extremer Rechter und der sogenannten ›Mitte‹ der Gesellschaft. Nicht nur innerhalb der extrem Rechten auch in anderen politischen Lagern wird Gleichstellungspolitik, die natürliche Ordnung der Geschlechter, ›Frühsexualisierung‹, gleichgeschlechtliche Partnerschaften und die Legitimität staatlicher Interventionen in der Familien- und Bildungspolitik kritisch diskutiert (vgl. Lang 2017a: 114f.).

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zusammenhangs sind. Im Folgenden interessiert der Sexismus in seiner ideologischen Funktion als Naturalisierung des Sozialen und Legitimation von gesellschaftlichen Ungleichheitsverhältnissen – vor allem interessiert seine Bedeutung für den Autoritarismus.49 Empirisch zeigt sich der Zusammenhang in den Mitte-Studien zunächst darin, dass Rassismus mit Sexismus (.36) und Fremdenfeindlichkeit (.46) positiv korreliert (vgl. Zick u.a. 2016: 54f.). Auch die jüngste Autoritarismusstudie bestätigt eine moderate Korrelation: So korreliert Antifeminismus mit Ausländerfeindlichkeit (.44) und Autoritarismus (.35); Sexismus korreliert weniger stark mit Ausländerfeindlichkeit (.28) und Autoritarismus (.32). Wie lässt sich dieser Zusammenhang aber theoretisch erklären? Ich habe oben gezeigt, dass der Ausgangspunkt einer ideologiekritischen Betrachtung des Rassismus die Spannung zwischen Gleichheitsnormen und materiell-praktischen Ungleichheitsreproduktionen bürgerlicher Gesellschaft ist. Den Weg von der biologischen Ungleichheitsbehauptung zum Ethnopluralismus der Neuen Rechten hatte ich oben als Metamorphose des Rassismus beschrieben. Mit der Forderung nach sauberer Trennung von ›Kulturen‹ gelingt es dem Rassismus, sich grundlegend neu zu legitimieren – den Geruch einer biologischen Rassenlehre abzulegen. Die unbedingte Akzeptanz geschlossener Einheiten, einer Existenz von ›Völkern‹ und ›Kulturen‹ ist beispielsweise für die extrem rechte Identitäre Bewegung unumstößlich. Diesem nach außen separierenden, nach innen homogenisierenden Kulturrassismus wohnt aber durchaus eine Behauptung von Gleichwertigkeit inne. Solange, die ›Kulturfremden‹ nicht herkommen, wird ihnen das Lebens- oder Selbstbestimmungsrecht nicht abgesprochen. Diese autoritäre, nach innen und außen die Reihen schließende Berufung auf Gleichwertigkeit zeigt sich nun auch im Antifeminismus50 der Identitären Bewegung: So propagiert Martin Sellner von der IB-Österreich: »Wenn man Ungleiches gleich behandelt, dann entsteht eine Ungerechtigkeit, d.h. Dinge, die gleichwertig sind, aber ungleich müssen auch ungleich behandelt werden, hier muss man differenzieren, diskriminieren« (Sellner 2013, zit.n. Goetz 2017: 260). Solche Sätze sind keine offene Hasskommunikation; sie orchestrieren scheinbar zivil die Verteidigung klassischer Geschlechterrollen ebenso wie den Ethnopluralismus. Ausgangspunkt dieser Annahme ist auf beiden Feldern die naturalistische Vorstellung von der Schutzbedürftigkeit der Differenz. Aus Sellners Zitat spricht die Überzeugung, das Wesen, die Essenz der Geschlechter, der ›Völker‹ und ›Kulturen‹ zu kennen. Jede Einsicht in die soziale Produktion von Gender und ›Rasse‹/›Ethnie‹ wird zurückgewiesen zugunsten der scheinbaren Gewissheit über deren überhistorische Essenz. 49

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Für eine kritische Theorie der Geschlechterverhältnisse sind u.a. Seyla Benhabib, Regina Becker Schmidt, Cornelia Klinger, Gudrun Axeli-Knapp, Christine Achinger, Karin Stögner und Barbara Umrath einflussreich geworden, die sich mit Potentialen wie Grenzen der frühen Kritischen Theorie für die Geschlechterforschung in all ihren Facetten beschäftigen. Ich unterscheide Sexismus und Antifeminismus in Hinblick auf ihren Charakter als Bewegung. Während der Sexismus auch ohne direkte politische Intentionen funktioniert, Frauen und Männer ungleich zu behandeln, sucht der Antifeminismus stärker, feministische Bestrebungen politisch und organisiert zu delegitimieren und ihren politischen Aktionsraum zu verkleinern. Der Antifeminismus greift jene Frauen (und Männer) an, die auf sexistische Vorstellungen und Praktiken verweisen und sie zu verändern suchen.

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Identität gilt den rechten Identitären nicht als etwas, was lebensgeschichtlich individuell erworben, ja erarbeitet wird, sondern als etwas, was kollektiv immer schon da gewesen ist und geschützt werden muss. So schreibt Markus Willinger, ebenfalls von den Identitären, »aber wir haben die wahre Natur der Geschlechter erkannt […]. Wir wollen richtige Frauen und Männer sein.« (Willinger 2013, zit.n. Goetz 2017: 262) Wer die Natur der Geschlechter meint erkannt zu haben, der maßt sich in der Regel auch an, die Eigenheit der ›Völker‹ und ›Kulturen‹ zu kennen. Damit kommt Identität – ob die der zwei Geschlechter oder die der ›Völker‹, ›Kulturen‹, ›Rassen‹ und ›Ethnien‹ – etwas Statisches zu. Unterschieden sind Rassismus und Sexismus darin, dass Mann und Frau mittels sexueller Reproduktion aufeinander verwiesen sind; während der (Neo-)Rassismus Distanz zu den je ›Anderen‹ halten kann, will der Sexismus eine bestimmte, ungleiche Beziehung zwischen den Geschlechtern. Rassismus, Sexismus und auch Nationalismus bezeichnen Leiprecht/Lutz als »Platzanweiser«. Alle drei stellen soziale Ausgrenzung her. Aber die Platzverteilungen sind sehr unterschiedlich; Ausgrenzung geschieht unterschiedlich stark (vgl. Leiprecht/Lutz 2009: 185). Unterdrückte Geschlechter können nicht vollständig ausgegrenzt werden, insbesondere dann nicht, wenn sie durch Gebärfähigkeit und Care-Aufgaben die Reproduktion einer sich als homogen verstehenden Gruppe sicherstellen sollen. Der Rassismus in seiner biologistischen und seiner kulturalistischen Variante lässt jedoch vollständige Ausgrenzung zu. Verbunden sind Rassismus und Sexismus zunächst darin, dass sie häufig Behauptungen über das je andere Herrschaftsverhältnis integrieren. Rassenkonstruktionen enthalten Vorstellungen über das Geschlechterverhältnis in diesen so bestimmten ›Rassen‹. Und andersherum haben Thematisierungen von Geschlechterverhältnissen nicht nur in der identitären Rechten häufig einen rassistischen Zug: Auch feministische Beiträge können rassistische Vorstellungen über das So-Sein von Geschlechtern einer anderen Gruppe enthalten (vgl. Leiprecht/Lutz 2009: 185). Kann mit Kritischer Theorie das bis hier hin unscharfe Verhältnis zwischen Sexismus51 und Rassismus genauer bestimmt werden? Offen blieb bei Miles’ Überlegungen zum Verhältnis von Rassismus und Sexismus die Frage, ob die eine Ideologie lediglich an die andere andocke oder ob sie wesensgleich seien. Stögner hebt hervor, dass Ideologien – sie zeigt dies für den Antisemitismus und den Sexismus – zumeist auf einer strukturellen, auf einer funktionellen und auf einer motivationalen Ebene verbunden sind (Stögner 2017: 30). Bezogen auf das Verhältnis von Sexismus und Rassismus führt die Angleichung der einst Rassifizierten durch Integration auf der funktionellen Ebene zunächst zu einem Legitimationsproblem für den Rassismus: Denn er muss sowohl 51

Nicht nur der Rassismus hat sich zu einem Neo-Rassismus transformiert auch der Sexismus hat mittlerweile eine Form angenommen, die, zumindest öffentlich, subtiler die gesellschaftlich produzierte Ungleichheit rechtfertigt, sei es über die Behauptung, dass es diese Ungleichheit gar nicht mehr gebe, sei es darüber, dass sich Frauen doch einfach nur anstrengen müssten, dann würde es auch ohne Männer-benachteiligende Quoten mit den Spitzenpositionen klappen. Moderner Sexismus und klassischer Sexismus werden in den Mitte-Studien mit jeweils zwei Items erfasst. Etwa die Hälfte der befragten Personen leugnet oder übersieht »die Diskriminierung von Frauen in der Gesellschaft und im Beruf […]. Der moderne Sexismus ist demnach weitaus häufiger als der traditionelle Sexismus, den nur etwa jeder Fünfte vertritt« (Decker u.a. 2016: 58) anzutreffen.

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die Überausbeutung neu rechtfertigen wie die Verweigerung von Teilhabechancen neu begründen. Auf einer motivationalen Ebene schließlich kommen Rassismus und Sexismus der Neigung entgegen, in Hierarchien und Kategorien zu denken. Sie minimieren die gesellschaftlichen Widersprüche, indem sie Eindeutigkeit herstellen. Doch welche »ungelösten Strukturprobleme« (ebd.) müssen durch Rassismus und Sexismus ideologisch überdeckt werden? Beide Ideologien sind Ausdruck eines spezifischen Naturverhältnisses. Der Rassismus reduziert den empirischen Einzelnen auf seine Zugehörigkeit in einem als naturhaft angesehenen Kollektiv, das sich idealerweise aus sich selbst heraus reproduziert. Auch der Sexismus folgt der Vorstellung von der Natürlichkeit der Geschlechter, die sich allerdings nicht aus sich selbst heraus produzieren können, die aber komplementär und damit naturhaft auf das jeweils andere Geschlecht verwiesen sind. Der Sexismus kennt deswegen auch nur zwei Geschlechter, die sich in ihren Eigenschaften gegenseitig ergänzen und die einander vor allem zur Fortpflanzung bedürfen (vgl. auch Balibar 1990b: 71f.). Das Bild, das sich der klassische und der kulturalistische Rassismus von der Fortpflanzung machen, kann nur eines im eigenen Kollektiv sein, um die behauptete Differenz zwischen den ›Rassen/›Kulturen‹ zu wahren. Frauen sind es, die über Erziehung die kulturellen Werte an den Nachwuchs weitergeben sollen. Das Überschreiten der Differenz führe zum ›Volkstod‹, also dem Tod der ›völkischen Gemeinschaft‹, wie Nationalsozialismus und heutige Rechte proklamieren. Die Vermischung der rassifizierten Kulturen könnte die Vorherrschaft des eigenen Kollektivs bedrohen. Weil Frauen, so Stögner, aus dieser Sicht das »Einfallstor für die potentielle Verunreinigung des ›deutschen Blutes‹« (Stögner 2017a: 148) sind, muss nicht nur ihre Reproduktionsfähigkeit, sondern auch ihr Begehren kontrolliert werden (vgl. ebd.). Nehmen wir erneut das Beispiel des ›großen Austauschs‹, wie im vorherigen Abschnitt, um zu zeigen, wie sich Sexismus und Rassismus am Beispiel vermitteln. Migration bedrohe hiernach das deutsche ›Volk‹, weil die Migrant:innen mehr Kinder bekämen als ›deutsche‹ Eltern. Das habe politisch verschiedene Konsequenzen, denn diese demografische Bedrohung erzwinge eine Bevölkerungs- und Familienpolitik, die ›deutsche‹ Familien finanziell bevorzugt, die Zeugung ›deutscher‹ Kinder fördere und Singlehaushalte ohne Kinder finanziell belasten muss.52 Frauen könnten also durch zahlreiche Geburten den ›großen Austausch‹ aufhalten, indem sie sich ethnopluralistisch sensibilisiert –

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Die bevölkerungspolitischen Forderungen formuliert die AfD wie folgt: »Dass die Geburtenrate unter Migranten mit mehr als 1,8 Kindern deutlich höher liegt als unter deutschstämmigen Frauen, verstärkt den ethnisch-kulturellen Wandel der Bevölkerungsstruktur.« (AfD Grundsatzprogramm 2016: 42) »Den demografischen Fehlentwicklungen in Deutschland muss entgegengewirkt werden. Die volkswirtschaftlich nicht tragfähige und konfliktträchtige Masseneinwanderung ist dafür kein geeignetes Mittel. Vielmehr muss mittels einer aktivierenden Familienpolitik eine höhere Geburtenrate der einheimischen Bevölkerung als mittel- und langfristig einzig tragfähige Lösung erreicht werden.« (ebd.: 41) Das statistische Bundesamt gibt an, dass 2020 die Geburtenziffer bei Frauen mit deutscher Staatsangehörigkeit stabil bei 1,43 im Vergleich zum Vorjahr blieb und bei Frauen mit ausländischer Staatsangehörigkeit von 2,06 auf 2,00 Kinder je Frau abnahm (vgl. Statistisches Bundesamt 2021). Mit Blick auf die ersten fünf Monate 2021 zeichnet sich sogar ab, dass die Anzahl der Geburten durch Mütter mit deutscher Staatsangehörigkeit von 75 Prozent auf 77 Prozent gestiegen ist (vgl. Statistisches Bundesamt 2021a).

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also innerhalb ihres ›Volkes‹ – fortpflanzen und anschließend ihren mütterlichen Pflichten nachkämen. Darüber hinaus würden Frauen ihren eigenen Interessen entgegenarbeiten, wenn sie einwanderungsfreundliche Parteien wählten, die »frauenfeindlichen Kulturen« (Sellner 2016, zit.n. Goetz 2017: 256) Zugang nach Deutschland verschafften und damit ihre eigene Sicherheit durch den selbstverschuldeten Zuzug sexuell gewalttätiger Männer aufs Spiel setzten, so das antisexistische und rassistische Argument. Wie stellt sich das Verhältnis von Rassismus und Sexismus nun aus der Perspektive einer Kritischen Theorie des autoritären Charakters dar? Zunächst scheint der Hang zum Konventionalismus beide Erscheinungen zu verbinden: ›Genderwahn‹ oder ›Rassen‹bzw. ›Kultur‹-Konflikt resultieren hiernach aus der künstlichen Änderung eines überlieferten, angeblich ›traditionellen‹ harmonisch-natürlichen Gleichgewichts zwischen Mann und Frau hier – zwischen den separierten ›Rassen‹ und ›Kulturen‹ dort. Autoritär ist der ethnopluralistisch unterlegte Sexismus, weil er dazu auffordert, nach Menschen Ausschau zu halten, die konventionelle Werte missachten, um sie verurteilen, ablehnen und bestrafen zu können – eine Tendenz Autoritärer, die schon in den Studien zum autoritären Charakter thematisiert wurde: Der Konventionalismus steht komplementär zum Projektiven: zur Neigung, bei anderen Abweichung zu wittern und zu bestrafen. Das betrifft beim Sexismus vor allem familiäre Konstellationen, die nicht in das heteronormative Weltbild passen. Autoritäre Aggression kann sich dann gegen jene entladen, die eben nicht in das konventionelle Weltbild passen. Stereotypie – auch ein Zug des Autoritären – zeigt sich im Sexismus ausgeprägt in der Haltung, dass Männer und Frauen für bestimmte Aufgaben durch bestimmte natürliche Anlagen prädestiniert seien. Machtdenken wiederum äußert sich beim Sexismus in der Übertragung des Schemas von stark vs. schwach auf die heteronormativ wahrgenommene Geschlechtlichkeit: Frauen müssen insbesondere vor migrantischen Männern von durchsetzungsfähigen deutschen Männern beschützt werden. Die rassistische Vereinnahmung des Themas der sexualisierten Gewalt ist schließlich als Stimulus für den autoritären Charakter besonders wirkungsvoll. Sie verbindet das übersteigerte Interesse am Sexuellen (ein weiterer Zug der F-Skala) mit der projektiven Wut auf Trieb, dessen Verdrängung bei einem selbst nur schlecht gelang. Im Kontext des Rassismus wird diese übersteigerte Beschäftigung mit dem Sexuellen in Vergewaltigungsphantasien, der Zuschreibung übermäßiger Promiskuität der ›Anderen‹, der Unterstellung von ausschweifender Sexualität ebenfalls der ›Anderen‹ und zugleich in einem extremen Strafbedürfnis bei so genannten Sittlichkeitsverbrechen sichtbar. Es leben dann, so Messerschmidt, auch in Kulturrassismen alte biologisch-rassistische Imaginationen vom animalischen, ungehemmten ›Fremden‹ auf, der sich an der reinen deutschen Frau vergeht (vgl. Messerschmidt 2016: 160). Volker Weiß sieht hierin einen alten psychoanalytischen Befund bestätigt: »Die Fixierung auf Verbrechen von Migranten in diesen Bereichen entspringt der Trauer, selbst nicht mehr ›so‹ sein zu dürfen, und dem Wunsch, es den fremden Tätern mit gleicher Münze heimzuzahlen.« (Weiß 2017: 236) Die Projektion eigener Wünsche auf die ›Fremdgruppe‹ folgt dabei der Wut auf diejenigen, die sich der Unterwerfung unter ein kategoriales System zu widersetzen scheinen. Der rassistische Sexismus fordert zum Schutz der Frauen und des eigenen Territoriums eine Re-Maskulinisierung von Männern. Wie Weiß zeigt, wurde das Buch Der Weg der Männer (2016) des US-Amerikaners Jack Dono-

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van »zu einem Kultbuch der Identitären Bewegung« (ebd.: 228f.). Das Buch postuliert rigide Vorstellungen von Geschlechtsidentität, die Ablehnung all dessen, was der Klarheit von Rollen und binärer Geschlechtlichkeit nicht entspricht sowie die Rückkehr zur traditionellen Männlichkeit. Von dieser traditionellen Männlichkeit seien Männer heute entfremdet; sie verlören dadurch ihre Wehrhaftigkeit (ebd.: 228–231). In ihrer »120-dbKamapgane« verknüpft die Identitäre Bewegung-Deutschland, so medienwirksam wie keine andere rechte Gruppierung in den letzten Jahren, Rassismus mit Sexismus.53 Auch außerhalb des extrem-rechten Spektrums lassen sich Verknüpfungen zwischen der Anklage von sexualisierter Gewalt und Rassismus beobachten. Ein wichtiges Ereignis stellen die sexualisierten Übergriffe in der Kölner Silvesternacht 2015 dar, in deren Folge diese Übergriffe, vor allem als die Auswüchse einer fremden, archaischen ›Täterkultur‹ problematisiert wurden. Die Konzentration auf die sexuellen Übergriffe der ›Anderen‹ mag auch mit dem zusammenhängen, was Hall über die Faszination des »weißen Auges« für andere, weniger entwickelt erscheinende Kulturen, beobachtet hat: Dass sich in der Repräsentation von ›Rasse‹ insbesondere in den Medien eine tiefe Ambivalenz ausdrückt. Alle Bilder »enthalten sowohl die Sehnsucht des Zivilisierten« (Hall 1982: 528) nach einer für immer verlorengegangenen Unschuld [passender wäre hier die Vorstellungen von kulturell nicht überformten Triebregungen, U. M.] als auch die »Gefahr der Zivilisation, überrannt oder unterwandert zu werden durch die Rückkehr der Barbarei, die stets dicht unter der Oberfläche lauert, oder durch eine rohe Sexualität, die ›auszubrechen‹ droht« (vgl. ebd.). Die den ›Anderen‹ unterstellte Naturnähe, die Hall noch mit Blick auf den biologistischen Rassismus herausstellt, ist im kulturalistischen Rassismus abgelöst durch den Rekurs auf die Kultur. War einst Naturnähe noch zwingend das Merkmal der ›Rasse‹, ist es nun die sozialisatorisch erworbene, unveränderliche Rückständigkeit aller Menschen, die einer bestimmten ›Kultur‹ entstammen. Rassistische und sexistische Diskurse tauchen nicht nur parallel auf, sondern sie verbinden sich in zwingend aufeinander bezogenen ideologischen Figuren. Auch hier beweist die Theorie des autoritären Charakters ihre Deutungskraft. Das zeigt die Autoritarismusstudie 2020: »Antifeminismus kann nicht ohne seine Verschränkungen mit Antisemitismus und Rassismus verstanden werden. Somit ist eine Nähe zu rechtsextremen Positionen gegeben. Antifeministische Strukturen und Bewegungen formieren sich dementsprechend verstärkt in der Wählerschaft der AfD, was angesichts der antifeministischen Positionen dieser Partei, die zu ihren durchschlagenden Mobilisierungsfaktoren zählen, nicht überrascht. Der verschwörungstheoretische und rechtsnationale Antifeminismus bedroht den demokratischen Pluralismus, der männerbündische und politische Antifeminismus schlägt dagegen die Brücke zu Ungleichwertigkeitsvor-

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»120 Dezibel« ist deshalb die Bezeichnung einer Kampagne der Identitären Bewegung gegen sexualisierte Gewalt aus dem Jahr 2018. 120db bezieht sich auf die Laustärke eines Taschenalarms. Es geht bei der Kampagne allein um jene sexuellen Angriffe, die von migrantischen Männern auf Frauen ausgehen. In dem Video kommen identitäre Frauen zu Wort, die den Staat auffordern für ihren Schutz vor männlichen Migranten zu sorgen (vgl. IB-Deutschland 2018).

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stellungen, rechtsextremem Gedanken und Nationalismus.« (Höcker/Pickel/Decker 2020: 277) Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus und Antifeminismus, so Stögner, naturalisieren gesellschaftliche Prozesse, sie sind naturbildzentrierte Ideologien. Mehr noch: die Natur selbst wird einerseits zur Ideologie (vgl. Stögner 2017a: 39); andererseits wird diese Ideologie zum psychotechnischen Angebot an die autoritäre Psychologie.

7.4.3 Rassismus und Nationalismus Auch der Nationalismus ist in einigen Varianten eng mit dem Rassismus verbunden. Mitunter ist es schwer – je nach Ausprägung des Rassismus und je nach Gestalt des Nationalismus – diese beiden Ideologien überhaupt scharf zu trennen.54 Wenn sich Mitglieder einer großen Gemeinschaft als ›Nation‹ betrachten, also in ihren Köpfen die Vorstellung einer ›Nation‹ existiert, dann gibt es diese Nation. Das heißt, der Mensch erschafft die ›Nation‹; sie ist nicht etwas, das einfach da ist, sondern etwas, was durch menschliche Praxis und Konstruktionsleistung entsteht. Die ›Nation‹ ist, so Adorno, eine spezifisch bürgerliche Form, die sich in historischen Kämpfen durchgesetzt hat (vgl. Adorno 1964/65: 153). Die Vorstellung einer ›Nation‹ als Verbund von Gleichen kann auch darüber hinwegtäuschen, dass die Angehörigen dieser ›Nation‹ objektiv ungleich sind, beispielsweise in Hinblick auf ihr Vermögen und ihre soziale Stellung (vgl. Wiegel 1995: 24f.). Wenn gesagt wird, dass es sich bei ›Nationen‹ um eine Konstruktion handelt, so heißt das nicht, dass sie nicht real sind. Obwohl es sich bei der ›Nation‹ um eine vorgestellte, mit Benedict Anderson erfundene Gemeinschaft handelt, entfaltet diese doch eine politische und gesellschaftliche Wirkmächtigkeit, »da sie den Vergemeinschaftungsprozess fördert und somit zugleich die Vergesellschaftung, also die Emanzipation des Individuums von seinen vorpolitischen Zwängen, hemmt bzw. regressiv unterminiert« (Salzborn 2011: 153; Herv. i.O.). Nationen können, müssen aber nicht, rassistisch hergestellt werden. Nicht jede Form des Nationalismus ist rassistisch. Denn Nationen, so Leiprecht/Lutz, können verschiedene Menschen zusammenführen und die Einbürgerung für alle ermöglichen. Rassismus aber kann sich per definitionem niemals allen Menschen öffnen, die sich einer ›Rasse‹ und einer essentialistisch verstandenen Kultur anschließen wollen. Insbesondere die deutsche Nationalgeschichte ist ein paradigmatisches Beispiel für rassistische und kulturalistische Begründungen des Nationenkonzeptes (vgl. Leiprecht/ Lutz 2009: 181). Daher sei, so Adorno, die Bedeutung des Rückgriffs auf ›Rasse‹ und ›Nation‹ in der »geschichtlichen Dynamik« (Adorno 1964/65: 155) zu verstehen. Der Bezug auf ›Rasse‹ und ›Kultur‹ gründe in der »Kompensation des den Naturzusammenhängen […], sich selbst entfremdeten Bewußtseins für das, was ihm angetan worden ist, was an Natur in ihm unterdrückt worden ist« (ebd.). Nationalismus sei – trotz der einstigen progressiven Funktion der ›Nation‹ – ein »Regressionsphänomen« (ebd.: 155f.), insoweit es den Naturzusammenhang zu simulieren sucht. Der »Rassenwahn«, so Adorno, sei die Steigerung dieses Nationenverständnisses, das sich als natürlich wähnt (vgl. ebd.). 54

Vgl. zum Verhältnis von Rassismus und Nationalismus auch: Marz 2020: 71–79.

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Der Blick auf die historische Entwicklung von Nationalismus und Rassismus in Deutschland zeigt, dass sich beide in enger Wechselwirkung entfaltet haben. Die gesellschaftlichen Bedingungen der Entstehung dieser beiden Ideologien sind die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise, die Durchsetzung moderner, methodisch geregelter Wissenschaften (Kategorisieren, Systematisieren), das Entstehen spezieller Forschungsgebiete wie Anthropologie, Physiognomik und Phrenologie. Säkularisierung hebt religiöse Gewissheiten auf und hinterlässt ein Orientierungsvakuum, das von der Vorstellung einer nationalen Gemeinschaft geschlossen wird. Um die Vorstellung der ›Nation‹ zu stabilisieren und sie ›ethnisch‹ zu füllen, bot sich der (pseudo-)wissenschaftlich begründete Rassismus an (vgl. Wiegel 1995: 81f.). Das seit dem 18. Jahrhundert beständig anwachsende Ordnungs- und Klassifikationssystem der Naturwissenschaften ist in seinem Beitrag zur rassistischen Klassifizierung von Menschengruppen nicht zu unterschätzen (Salzborn 2011: 156). Die Verbindung von Rassismus und Nationalismus verstärkt sich in Deutschland mit dem Aufkommen eines Verständnisses von ›Nation‹ als einer Kulturnation. Diese Nationform hat in Deutschland von Anfang an auf eine ›rassisch‹-ethnische Begründung zurückgegriffen, denn sie gründet auf ›Kultur‹ und Sprache und nicht auf einer politisch-rechtlichen Ordnung. In der deutschen Nationalbewegung zwischen den sogenannten Befreiungskriegen und der gescheiterten Revolution von 1848, aber dann auch im späten Bündnis der Nationalbewegung mit Preußen bei der Einigung 1870/71 verband sich ›Frankreichneid‹ auf die geglückte Revolution und die Stärke des Napoleonischen Reichs mit ›Franzosenhass‹. Dem Konzept der staatsbürgerlichen Republik wurde die ›tiefere‹, ›echte‹ deutsche Kulturnation entgegengestellt. Um diese nationale Identität zu schützen, fordert schon Johann Gottfried Herder, dass die nationale Kultur reingehalten werden müsse, weil Kultur ein zu bewahrender Wert an sich sei. Zugehörigkeit zu einer solchen Kulturnation bedarf der Abstammung und ist dem Staat vorgängig. Historiker:innen können lange darüber streiten, inwiefern die Eigenart des deutschen, vorstaatlichen, vorpolitischen Nationalismus die Nationalstaatsbildung erschwerte, verunmöglichte, bis 1870/71 verzögerte – oder ob andersherum die Betonung von Kultur eher die Not politischen Unvermögens und politischer Schwäche der Nationalbewegung nachträglich zur Tugend eines ›tieferen‹ Nationenbegriffs rationalisierte. Der Staat, so jedenfalls das Verständnis sowohl hierzulande wie in Frankreich, bilde sich erst auf dem Fundament einer bereits bestehenden Nation. Im Staat drücke sich die ›Nation‹ bloß aus (vgl. dazu: Bourdieu 1992: 601–605; Wiegel 1995: 18f.). In Deutschland verwirklicht sich gleichsam nachträglich, verspätet die deutsche ›Nation‹ in der Bismarckschen Einigung, im Bündnis des ›rechten‹ Preußen mit der eher ›linken‹, aber eben auch in Teilen antisemitischen, rassistischen Nationalbewegung – ein Bündnis zweier Gegenspieler, das wenige Jahrzehnte zuvor undenkbar gewesen wäre.55 In Deutschland hat sich also sehr lange vor Durchsetzung eines einheitlichen deutschen Nationalstaats schon der Volksbegriff etabliert. Sein langes Eigenleben ohne politische ›Verwirklichung‹ angesichts der deutschen Kleinstaaterei öffnete ihn für vorpolitische, naturalisierende, mythologisierende Aufladung – womöglich intensiver 55

Bereits Adorno weist darauf hin, dass der »Fetischismus des Nationbegriffs besonders weit geht, besonders extrem dort ist, wo die Bildung der Nation mißlang« (Adorno 1964/65: 162).

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und verhängnisvoller als anderswo. Für die deutsche Variante ist das ›Volk‹ der Träger dieser organisch bestimmten nationalen Idee; und dieses ›Volk‹ ist nicht politisch, z.B. vertragstheoretisch konstituiert, sondern ›natürlich‹ bzw. ›kulturell‹. Dieses völkische Verständnis von ›Nation‹ wird bis heute vielfach als eine wichtige Voraussetzung für die eliminatorischen Ausprägungen des Nationalsozialismus angesehen (vgl. auch Wiegel 1995: 19–21). Im 19. Jahrhundert steigerten Nationalismus und Rassismus sich gegenseitig nicht nur durch die ökonomische Expansion des Kapitalismus in die außereuropäische Welt, sondern auch durch die zunehmende Konkurrenz zwischen den sich neu etablierten Nationalstaaten. Die Rassentheorien wurden in ihren Taxonomien noch feingliedriger und stellten für jede ›Nation‹ eine eigene Rassenidee bereit, womit »jedes Volk, und damit die Basis einer jeden Nation, eine eigene, signifikant von anderen unterschiedene Rasse« (Wiegel 1995: 84) darstellte. Wiegel spricht daher von einer Verschmelzung beider Ideologien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die maßgeblich auf der innereuropäischen Differenzierung durch Nationalisierung beruhte, wie Hobsbawm zeigt: »[Die] Zeit von 1880 bis 1914 war auch die Zeit, der größten bislang erlebten Wanderungsbewegungen innerhalb von Staaten und zwischen ihnen, des Imperialismus und der zunehmenden Rivalitäten, die in den Weltkrieg mündeten. Sie alle unterstrichen die Unterschiede zwischen ›ihnen‹ und ›uns‹. Und es gibt kein wirksameres Mittel, die zerstreuten Gruppen ruheloser Völker zusammenzuschließen, als sie gegen Außenstehende zu vereinigen.« (Hobsbawm 1990: 109) Inwieweit überschneiden sich nun Nationalismus und Rassismus auch inhaltlich? ›Rasse‹ und ›Nation‹ ähneln sich darin, dass sie als strenge Kategorien auf ähnliche Weise konstruiert werden. Es werden Kriterien zur jeweiligen Charakterisierung von ›Rasse‹ oder ›Nation‹ festgelegt, die nicht der Realität entsprechen. Diese Merkmale gelten als natürlich und damit unveränderlich. »Eben deshalb, weil die Nation nicht selber Natur ist, muß sie unablässig sich selber verkünden, daß sie so etwas wie Naturnähe, Unmittelbarkeit, Volksgemeinschaft und alles das, eben doch sei.« (Adorno 1964/65: 156; Herv. i.O.). Für die ›Nation‹ werden vor allem soziokulturelle, sprachliche und religiöse Merkmale herangezogen; bei ›Rasse‹ geht es vor allem um phänotypische Merkmale, aber auch um kulturelle Eigenschaften, die als unveränderlich gelten. Beide unterwerfen ihre Objekte einem Prozess der Kategorisierung. ›Nation‹ verkörpert sich über kulturelle Praktiken und Symbole in einem Nationalcharakter, einem ›Volk‹. Dieses ›Volk‹ reproduziert sich biologisch und wird so durch Vererbung neu hergestellt. So gesehen können ›Nation‹ und ›Rasse‹ fast synonym verwandt werden (vgl. Wiegel 1995: 91). Zudem teilen sich ›Rasse‹ und ›Nation‹ die Naturalisierung der »vorgestellten politischen Gemeinschaft« (Anderson 1983: 15). Ihre gemeinsame Funktion liegt in der Stabilisierung der Gemeinschaft über alle Unterschiede hinweg durch eine Form der Selbstdefinition, die immer den Anderen als Negativfolie braucht. »Die Umdeutung des Klassenantagonismus in einen nationalen und ›rassischen‹ Konflikt ist Ideologie im strengen Sinne. Sie setzt eine diffuse Ahnung hinsichtlich der die Gesellschaft tatsächlich durchwaltenden Antagonismen voraus, ohne dass diese

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jedoch durchschaut und zum Bewusstsein erhoben würden. Diese Ideologie bedarf der Anderen als Projektionsfläche, die sich der Einheit gegenüberstellen lassen. Der Widerspruch, den man im Eigenen nicht wahrhaben will, wird auf nicht zugehörige Gruppen oder widerständige Einzelne projiziert. Deren Bild ist folglich, als Figur bzw. Repräsentant des Anderen, in sich widersprüchlich konstruiert.« (Stögner 2017a: 140) Wo der ›Nation‹ die ›ethnische Basis‹ fehlt und sie objektiv soziale Unterschiede aufweist, benötigt sie etwas, das Einheit und Homogenität suggeriert. Dafür bieten sich ›Rasse‹ und ›Kultur‹ an – beide als Essentialisierungen von Gemeinschaft. Allerdings braucht ein gewöhnlicher Nationalismus nicht zwingend biologistisch-rassistische Konstruktionen, um trotzdem als (die gesellschaftlichen Verhältnisse naturalisierende und als unveränderlich hinstellende) Ideologie zu funktionieren. Auch wenn sich ›Rasse‹ historisch bewährt hat darin, zu begründen, wer zu einer ›Nation‹ gehören kann, sind andere Begründungen von Zugehörigkeit möglich. ›Rasse‹ und ›Nation‹ sind funktional für kapitalistische Klassengesellschaften vor allem in Hinblick darauf, dass sie im Inneren die realen Klassenunterschiede überdecken können. Sie rechtfertigen überdies die Spannungen und Konflikte zwischen Peripherie und Zentrum weltweit (vgl. Wiegel 1995: 94f.). Dennoch gehen ›Rasse‹ und ›Nation‹ nicht vollständig ineinander auf. Ein wichtiger Unterschied betrifft die Konsequenzen, die beide Ideologien für die Menschen haben, die sie ausschließen: Selbst ein expansiver Nationalismus will sich nicht über die ganze Welt ausdehnen, wie Wiegel betont. Während der Nationalismus als politisches Projekt nur in einem bestimmten Territorium Geltung hat, ist die Vorstellung von ›Rasse‹ transnational. Der Glaube an die Superiorität der ›weißen Rasse‹ ist nicht an die Grenzen einer ›Nation‹ gebunden (vgl. Wiegel 1995: 101). Gleich, ob es deutsche, polnische oder US-amerikanische Rassist:innen sind, sie alle glauben an das Phantasma der natürlichen Überlegenheit der ›weißen Rasse‹, wenngleich diese transnationale rassistische Vorstellung einer Amalgierung von Rassismus und Nationalismus keineswegs entgegensteht. Die Existenz anderer Nationen – auf Abstand – ist für den Nationalismus grundsätzlich kein Problem. Eine Hauptsorge des Rassismus hingegen ist die Vermischung der ›Rassen‹ untereinander. Diese Vermischung gefährde den Bestand der ›Rassen‹ und führe zu ihrer Vernichtung, was aus Perspektive von Rassist:innen in der Regel aber nur gefährlich für die ›weiße Rasse‹ ist. Genau jene, die sich als Teil einer ›weißen Rasse‹ betrachten, sind es auch, die historisch gesehen die Macht hatten, dieser angeblichen Bedrohung gewaltvoll zu begegnen. Allerdings steht diese transnationale rassistische Vorstellung nicht einer Verbindung von Rassismus und Nationalismus entgegen. Vor allem unter der gegenwärtigen Dominanz eines kulturalistisch argumentierenden Rassismus kommt es sogar zu einer ideologischen Annäherung. Denn der kulturalistisch argumentierende Rassismus steht dem Nationalismus insofern sehr nahe, als er ethnopluralistisch die Gleichwertigkeit der ›Völker‹/der ›Kulturen‹ behauptet, die es in ihrer Eigenständigkeit und kulturellen Besonderheit zu bewahren gilt. Der Nationalismus ist gleichsam die Praxis dieser Bewahrung. Auch der Ethnopluralismus bindet – wie der Nationalismus – ›Kultur‹ an ein Territorium. Er wird – zum Beispiel im ehemaligen Jugoslawien – schnell Ferment von Segregationsbewegungen. Kommen wir nochmal auf die Erzählung vom ›großen Austausch‹ zurück, die bereits bei der Darstellung der ideologischen Verbindung von Rassismus mit Antisemitismus

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und mit dem Sexismus als Beispiel diente. Als Kernelement der Neuen Rechten bezeichnet die Studie Gespaltene Mitte »die Idee eines ethnisch homogenen Nationalstaates in Gestalt einer vermeintlichen ›reinen‹ Volksgemeinschaft« (Küpper/Häusler/Zick 2016: 165). Götz Kubitschek, der Leiter des extrem rechten »Instituts für Staatspolitik« in Schnellroda, sagt in einem Gespräch mit Kathrin Oertel (ehemalige Frontfrau bei Pegida): »›Mehr Verständnis füreinander‹ – was soll das sein? Uns werden in diesem Jahr 450.000 zusätzliche Asylanten ins Zimmer gesetzt – wollen Sie diesem großen Austausch der Bevölkerung mit ›mehr Verständnis füreinander‹ Herr werden?« (Kubitschek/Oertel 2015: 29) Hinter der Deutung von ankommenden Flüchtlingen als Beleg des planvollen Austausches der Bevölkerung steht ein ethnopluralistisch-rassistischer Volksbegriff. »Uns« bezieht sich auf das »Volk« und das »Zimmer« ist Deutschland. Es gilt, dieses Austauschs »Herr« zu werden, d.h. diese Entwicklung aufzuhalten, weil die Deutschen sonst »fremd im eigenen Land« würden. Die Rede von der ›Umvolkung‹ – ein Begriff, der bereits im Nationalsozialismus verwendet wurde – rekurriert auf eine ethnische/›rassische‹ Basis. ›Umvolkung‹, ›Überfremdung‹ oder ›Volkstod‹ sind Begriffe, die ein ähnliches Argument artikulieren: Dass nämlich das deutsche ›Volk‹ durch den Zuzug von Migrant:innen aussterbe. Das vage Argument, dass zu viele ›Ausländer‹ in Deutschland lebten, wird in der Erzählung vom ›großen Austausch‹ nochmals ideologisch dramatisiert, indem diese Zuwanderung als gesteuert dargestellt wird. In diesem Narrativ wird dann aber erklärungsbedürftig, wie und warum die eigenen politischen Eliten denn überhaupt die Basis der ›Nation‹ zerstören wollen. Weiß rekonstruiert, wie die Rechte eine doppelte Bestimmung des Feindes vornimmt: Viele ihrer Anhänger:innen säßen der falschen Vorstellung auf, dass die schärfste Feindschaft identitärer Politik dem Islam gelte. Aber die Bedrohung besteht im ›Austausch‹/in der ›Umvolkung‹. Die deutsche Identität werde, so fasst Weiß diese rechten Narrative, von zwei Seiten bedroht: einmal durch die ›islamische Expansion‹ und zum anderen durch Amerikanisierung und den westlichen Universalismus. Eine konkrete Feindbestimmung sei wichtig, weil sie die eigene Identität schärfe. In Anlehnung an Carl Schmitt unterscheidet die Neue Rechte in wirkliche Feindschaft – muslimische Einwander:innen – und absolute Feindschaft – westlicher Universalismus, Liberalismus (vgl. Weiß 2017: 213f., 220). Dass Deutschland, so die Auffassung der Rechten, von Einwander:innen ›überrannt‹ werden konnte, sei Folge der Schwächung durch den Amerikanismus und den Kulturwandel seit 1968 (vgl. ebd.: 216). Die »universalistische Gleichheitsideologie« (ebd.: 217) von Amerikanismus und Liberalismus zersetze ›Kultur‹ und Gesellschaft von innen. Der innere Gegner sei schwerer zu fassen und zu erkennen, daher sei es einfacher, äußere Gegner wie den Islam anzugreifen: Einwander:innen hingegen seien leicht identifizierbar (vgl. ebd.: 218). An diesem Beispiel zeigt sich trefflich, wie Rassismus, Nationalismus und Antisemitismus sich ideologisch verbinden: Rassistisch ist die Konstruktion derer, die die Großartigkeit der eigenen ›Nation‹ bedrohen; antisemitisch ist die Erklärung, wie es dazu kommt, wer dahintersteckt. Was aber immer wieder verwundert ist die erklärte Zurückweisung von Nationalismus durch die Identitären. Dahinter steht ein vorpolitischer, kultureller Volks- und Nationenbegriff; er wird konturiert häufig gerade gegen Staatsbürgerschaft. Ihre regionale, nationale wie auch europäische Identität definieren Identitäre »nicht bloß anhand von Staatsgrenzen, Landesfarben und Nationalstaats-Angehörigkeit, sondern ethnisch

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und kulturell«. Diese drei Identitäten müssten sich – so die Identitäre Bewegung – in einem Gleichgewicht halten. »Ethnokulturell kann sich allerdings niemand per Unterschrift zum Deutschen machen lassen. In eine ethnokulturelle Gemeinschaft kann man nicht einfach so immigrieren, in eine Nation sehr wohl. Eine Gemeinschaft, die sich auf ethnisch-kulturelle Voraussetzungen gründet, basiert auf invariabler Zugehörigkeit, ihr Verhältnis zueinander ist also stabiler, der Zusammenhalt viel bruchfester – sie ist mehr als ein bloßer Vertrag. Es ist die Voraussetzung für ein Miteinander gegeben, das nicht nach Gutdünken beliebig verändert und aufgelöst werden kann.« (Identitäre Bewegung o.J.a) Der Bezug auf ethnisch-nationale Konstrukte und Invarianten ist der Kontrapunkt zu den angeblich zerstörerischen Einflüssen anderer ›Kulturen‹ und zum nicht nur von Rechten gehassten homogenisierenden Liberalismus. Wie lassen sich diese Aspekte des Nationalismus in eine autoritarismuskritische Perspektive einbinden? Die Hinwendung zum Nationalismus wird bei autoritären Personen begünstigt durch deren Tendenz, in strengen In-Group/Out-Group-Kategorien zu denken. Die Stereotypie treibt dazu, Menschen ›Völkern‹ und ›Kulturen‹ zuzuschlagen. Heitmeyer beschreibt »›Deutsch-Sein‹ als Schlüsselkategorie für autoritäre Umformungsprozesse« (Heitmeyer 2018: 262). Die Hinwendung zu autoritären Bewegungen werde begünstigt durch die Entwicklung eines autoritären Kapitalismus, einer beschleunigten Globalisierung, einer Eskalation von Armut, Prekarität und Desintegration (vgl. ebd.). Darüber hinaus spiegelt gerade angesichts der wachsenden Bedeutung der Europäischen Union die Glorifizierung des Nationalen den Wunsch nach Halt und Beständigkeit. Vielen ist Europa nicht ›Identität‹ genug; vielen reicht die Abschottung nicht; viele rufen nach mehr nationaler Souveränität. In zahlreichen europäischen Ländern fordern deshalb nicht nur extrem rechte Parteien eine nationale Rückbesinnung, grenzen sich ab von der Politik der Europäischen Union und europäischer Regierungen. Mithilfe des populistischen Tricks, dass nur sie das eine ›Volk‹ verträten, werfen sie der EU vor, die Interessen der ›Völker‹ zu missachten. Ihr Versprechen besteht darin, das eigene nationale Kollektiv wieder zu Wort kommen zu lassen. Der Zulauf, den viele rechts-nationale Parteien wie die AfD erfahren, gründet auch in einer Repräsentationskrise. »Die nationale Identität wird zum Anker, der in stürmischen Zeiten Stabilität verleihen soll.« (Ebd.: 263) Spätmoderne Gesellschaften, so Nachtwey in seiner Studie Abstiegsgesellschaft (2016), seien nicht nur entweder Abstiegsgesellschaft oder aber Aufstiegsgesellschaft. Stattdessen sind spätmoderne Gesellschaften beides: Sie ermöglichen Aufstieg für die eine und drohen mit Abstieg der anderen Gruppe (vgl. Nachtwey 2016). Insbesondere das Entstehen einer neuen Unterklasse, die als Produkt der Auflösung der alten Mittelklasse entstanden ist, zeigt die reale Möglichkeit eines sozialen Abstiegs an, der nicht nur materielle, sondern auch kulturelle Konsequenzen in Hinblick auf Bildung, Lebensführung, Lebensprinzipien, alltäglichen Praktiken und Werte hat (vgl. dazu Reckwitz 2019: 85–90). Der Nationalismus ist eine spezifische Verarbeitungsform der gesellschaftlichen »Malaise« (Löwenthal 1949: 30). In ihm werden im Inneren einer Gesellschaft Eta-

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bliertenvorrechte56 zur Geltung gebracht, die nationalistisch gekleidet sein können: Menschen reklamieren für sich bessere Lebensbedingungen, bessere Jobs, bessere Wohnungen, bessere Krankenversicherungen, allein aufgrund ihrer zufälligen Zugehörigkeit zu einem als ›Volk‹ titulierten Verbund von Individuen. Diese Vorrechte werden beansprucht ungeachtet von Vorleistungen finanzieller Art (wie Rentenbeiträge, Einzahlung in die Arbeitslosenversicherung etc.) oder Verdienste, politischer Partizipation oder Ehrenamt. Wer diesem Verbund per gefühlter Definition nicht ›naturgemäß‹ angehört, dem wird auch die noch so bescheidenste gesellschaftliche Partizipation geneidet oder gar komplett abgesprochen. In der Studie Fragile Mitte (2016) wird gezeigt, dass die Variable Etabliertenvorrechte mit Rassismus (.40), mit Fremdenfeindlichkeit (.51) und mit Muslimfeindlichkeit (.48) korreliert. AfD-Wähler:innen pochen mit 78,3 Prozent am Stärksten von allen Befragten mit unterschiedlichem Wahlverhalten auf ihre vermeintlichen Vorrechte (vgl. Zick u.a. 2016: 54f.) In der Darstellung vom ›Volk‹ als überhistorischer Einheit verschmelzen, so Salzborn, demos – also zufälliger und wandelbarer Zusammenschluss von Individuen – und ethnos – als essentiell, statisch und homogen verstandenes Kollektiv – zu etwas immer schon gemeinsam Dagewesenem (vgl. Salzborn 2017: 21). Der Verweis auf das Gemeinsame in Geschichte, Tradition, Sprache soll Einigkeit suggerieren und soziale Verwerfungen überdecken. Die Betonung von Gemeinsamkeit soll interne Konfliktlinien überspielen. Während im klassischen Rassismus das Subjekt noch in einen ›rassischen‹ auf Blut und Gene bezogenen Reproduktionszusammenhang ideologisch eingeschlossen wurde, wird es im Neo-Rassismus Teil einer ethnokulturell bestimmten Gemeinschaft. In beiden Varianten wird behauptet, dass die Einzelnen im ›Volk‹ durch ein national bestimmtes Gemeinschaftsinteresse verbunden seien. Der Bezug auf die Kategorie ›Volk‹ stellt nicht nur Einheit nach innen her, sondern produziert Abgrenzung nach außen. So verlautbart Marc Jongen/AfD: »Die Identität eines Volkes ist eine Mischung aus Herkunft, aus Kultur und aus rechtlichen Rahmenbedingungen. Der Pass alleine macht noch keinen Deutschen. Als AFD sind wir deshalb dafür, das sogenannte Abstammungsprinzip im Staatsbürgerschaftsrecht, das ja bis vor Kurzem noch gegolten hat, wieder einzuführen […].« (Jongen 2016)

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Der Begriff der Etabliertenvorrechte geht auf Norbert Elias und John L. Scotens Studie Etablierte und Außenseiter aus den 1960er Jahren zurück. In der Langzeitstudie Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit werden Etabliertenvorrechte zum Komplex der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit hinzugezählt: »Hierbei handelt es sich um eine generelle Abwertung von Menschen, die als ›Neuankömmlinge‹ oder ›Neuhinzugezogene‹ definiert werden. Dazu können Immigrantinnen und Immigranten gehören, aber auch Gruppen, die im sozialen Raum neu sind. […]. Einforderung von Etabliertenvorrechten umfasst in den FES-Mitte-Studien die von Alteingesessenen beanspruchte Vorrang- und Vormachtstellung gegenüber ›Neuen‹, ›Zugezogenen‹ und ›Unangepassten‹; Etabliertenvorrechte können somit die Gleichwertigkeit unterschiedlicher Gruppen verletzen.« (Zick u.a. 2016: 41) Sie werden mit folgenden Items erfasst: »Wer irgendwo neu ist, sollte sich erst mal mit weniger zufrieden geben« und »Wer schon immer hier lebt, sollte mehr Rechte haben, als die, die später zugezogen sind« (ebd.: 46).

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Wie wenig überholt der Bezug auf das ›Volk‹ für die Neue Rechte heute ist, zeigen beispielsweise die Bemühungen Frauke Petrys (ehemals AfD), Begriffe wie ›völkisch‹ zu enttabuisieren und sie gesamtgesellschaftlich zu re-etablieren. Im völkischen Denken wird Gemeinschaft als Vorgeordnetes, nicht erst durch soziale Praxis Gestiftetes gedacht. Gesellschaftliche – und deshalb künstliche – Einflüsse bringen die statisch und homogen vorgestellte Gemeinschaft in Gefahr. Insbesondere im Diskurs um geflüchtete Menschen bahnt sich dieser essentialistische Blick seinen Weg. Der Autoritarismus bildet den idealen Rahmen auch für nationalistisches Denken, für die nationale Verarbeitung von »Ungleichheit im Inneren« einer Gesellschaft an. Nach Außen setzt sie auf ethnische Separation (vgl. Salzborn 2017: 20f.). Sollte angesichts der Virulenz von Rassismus, Sexismus, Nationalismus nun sinnvoller Weise von einem Fortleben oder eher von einer Neuentstehung des autoritären Charakters gesprochen werden? Bestimmte strukturelle Bedingungen sprechen für das Fortleben dieses Sozialtypus. Seine Irrationalität, psychotechnisch ansteuerbar durch Agitation, bleibt adäquat als Verarbeitungsform sozialer Konflikte. Bestimmte Veränderungen vor allem in der Familienstruktur und in Erziehung und Arbeitsrealität sprechen eher für einen neuen Autoritarismus. In ihm sind die Subjektivierungs- und Optimierungsanforderungen neuerer Verwertungsverhältnisse prägend. Vielleicht ist es gar nicht wichtig zu entscheiden, in welchen seiner Aspekte der gegenwärtige Autoritarismus eher neu oder eher alt ist. Praktisch stellt sich diese Frage anders: Die wirksamste Waffe gegen den Autoritarismus ist in beiden Fällen die Verhinderung seines Entstehens: Nur ein starkes Ich kann der autoritären Unterwerfung widerstehen. Autoritarismuskritik kann, weil es nicht um Inhalte, Ideen, sondern um die sie speisenden Triebstrukturen und Bedürfnisse geht, nicht darauf zielen, Menschen weltanschaulich beeinflussen zu wollen. Die Suche nach ideologischen Gegenangeboten ist aus Perspektive der Autoritarismustheorie nicht hilfreich. Praktische Autoritarismuskritik sucht Möglichkeiten in Erziehung, Bildung, Struktur von Arbeitsprozessen, die Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung stärken, Urteilsfähigkeit entwickeln helfen (vgl. Kirchhoff 2020: 218).

8 Kein Ende in Sicht »Daß die Kälte der rationalisierten Welt nicht durch empfohlene Irrationalität sich bannen läßt, ist eine gesellschaftliche Wahrheit, die durch den Faschismus aufs nachdrücklichste demonstriert worden ist. Durch ein Mehr, nicht durch ein Weniger an Vernunft lassen die Wunden sich heilen, welche das Werkzeug Vernunft im unvernünftigen Ganzen der Menschheit schlägt.« (Adorno 1953: 120f.)

Die Besonderheit einer Kritischen Theorie des Rassismus besteht zuerst darin, dass es ihr unmöglich ist, ausschließlich bei ihrem Gegenstand zu bleiben. Das hat zwei theorieimmanente Gründe. Der erste Grund liegt in der grundsätzlichen Analyseweise Kritischer Theorie, Phänomene in ihrem gesellschaftlichen Kontext zu begreifen, so dass Bezugnahmen und Verbindungen zu anderen sozialen Erscheinungen immer geboten sind. Die Betonung des Vorrangs eines gesellschaftlichen ›Ganzen‹, einer ›Totalität‹, die in jedem sozialen Einzelnen wiederzufinden sei, soll nicht jedes konkrete Phänomen zum bloßen Exemplar machen, bloß ›ableiten‹ – wobei diese Gefahr schlechten Deduktionismus hier wie bei anderen Marxismen immer besteht. Der Anspruch ist aber das Gegenteil: Das Einzelne durch seine Beziehung auf das Ganze besser, detaillierter zu begreifen. Zum zweiten ist es eine besondere gesellschaftliche Diagnose der Kritischen Theorie – die der autoritätsgebundenen Persönlichkeit – die Überschneidungen zur Analyse anderer Identitäts- und Ausgrenzungsphänomene wie Nationalismus, Antisemitismus und Sexismus immer wieder provoziert. Mit einigem Recht ließe sich den hier vorgetragenen Überlegungen zum Rassismus eine gewisse Unschärfe hinsichtlich der Abgrenzbarkeit zu anderen Ideologien wie dem Nationalismus und dem Sexismus vorwerfen. Doch diese Unschärfe ist nicht analytischer Mangel, sie resultiert aus der ›Intersektion‹ des Rassismus mit anderen Ideologien. Seine Verknüpfung mit anderen Ideologien ist Wesensmerkmal des Rassismus. Es gibt Verflechtungen inhaltlicher Art, es gibt gegenseitige Bestärkungsmotive zwischen diesen Ideologien. Sie werden zusammengeführt im

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Autoritarismus – dort durch autoritäre Aggression, dem Denken in Stereotypien, in der Kompensation von Ich-Schwäche und durch Projektion. In bestimmten Menschen ist eine Affinität zur Annahme dieser Muster gesellschaftlich entwickelt – die Zusammengehörigkeit des Rassismus mit Antisemitismus etc. hier erklärt sich aus dem psychologischen Syndrom, das die Empfänglichkeit begründet. Mit den Analysen der Kritischen Theorie können die strukturellen Voraussetzungen der Ansprechbarkeit für Rassismus thematisiert werden. Diese Voraussetzungen liegen in den gesellschaftlich produzierten Psychologien; sie liegen aber auch in der Komplementarität von Basisideologien bürgerlicher Warentauschgesellschaft und rassistischer Naturalisierung. Dass Adorno die moderne kapitalistische Gesellschaft als irrational bezeichnet, steht nicht im Widerspruch zur Feststellung, dass Rassismus eine rationale Seite hat, die auch im Autoritarismus angesprochen wird. Gesellschaft im Ganzen ist irrational, trotz der vielen Einzelrationalitäten (vgl. Adorno 1968a). Rassismus ist so gesehen ein Aspekt dieser partikularen Rationalität im irrationalen Ganzen. Rassismus erschwert und verhindert auch Erkenntnis der Gesellschaft, ihrer Mechaniken, Widersprüche und Zwänge – und zwar durch die »Substitution biologischer für gesellschaftliche Begriffe« (Adorno 1952: 16). Mit Kritischer Theorie ist die Reduktion des Rassismus auf Vorurteil daher zurückzuweisen, auch wenn rassistische Vorurteile ein wichtiger Gegenstand der Rassismustheorie bleiben. Wie limitiert die Analyse des Rassismus als Vorurteil ist, macht folgende Passage Hobsbawms deutlich: »Abgesehen davon, daß sie eine brauchbare Legitimationsgrundlage für die Herrschaft von Weiß über Schwarz, Reich über Arm abgaben, lassen sich Rassentheorien wohl am angemessensten als ein Rationalisierungsmechanismus interpretieren, auf den eine im wesentlichen nichtegalitäre Gesellschaft, die mit einer im wesentlichen egalitären Ideologie einherging, angesichts weiterbestehender realer Ungleichheiten auf keinen Fall verzichten konnte und mit dessen Hilfe sie all jene Privilegien zu begründen und zu verteidigen suchte, die durch den inhärenten Demokratismus ihrer Institution zwangsläufig in Frage gestellt wurden.« (Hobsbawm 1980: 336) Vorurteile können solche ideologischen Funktionen in die subjektive Perzeption übersetzen; sie können sich kulturell und psychologisch verselbständigen. Aber in ihnen den Kern des Rassismus zu bestimmen, übersähe die gesellschaftlich-funktionale Virulenz rassistischer Welterklärung als Herrschaftspraxis. Als Ideologie ist Rassismus ein Rechtfertigungssystem für Ungleichheit im Angesicht herrschender Gleichheitspostulate. Rassismus allein als Vorurteil zu verstehen, würde diese gesellschaftsstabilisierende Funktion in das einzelne Individuum verschieben. Interventionsmöglichkeiten wären entsprechend gefährdet für Selbsttäuschungen und Selbstüberschätzungen, weil dann naheläge, zuvorderst mit pädagogischer, psychologischer oder aufklärungsbasierter Überzeugungsarbeit den Einzelnen vom kognitiven Irrtum seiner rassistischen Auffassungen zu überzeugen. So notwendig das ist – es trifft den Kern des Rassismus nicht. Rassismus ist Herrschaftspraxis; nicht Denkfehler. Herrschaft ist verbunden mit vorfindlichen Rationalitäten. Der ideologische Gehalt des Rassismus liegt darin, Ungleichheit und Ausbeutung – ob nachträglich oder zukünftig – zu legitimieren.

8 Kein Ende in Sicht

In diesem letzten Kapitel werde ich zunächst die Resultate meiner bisherigen Ausführungen in siebzehn Thesen pointieren (8.1); dann werde ich die zentralen Probleme der Rassismusanalyse und -kritik, die sich in dieser Auseinandersetzung neu ergeben haben, zusammenfassen (8.2). So zeigen sich die Vermittlungen von Subjektivismus und Objektivismus, von Partikularismus und Universalismus sowie die von Natur und Kultur nicht nur im Phänomen des Rassismus selbst; sie spiegeln sich auch als Dilemmata und Widersprüche des Theoriegestus in Anstrengungen zu Theorie und Kritik des Rassismus. In meinem abschließenden Versuch, Rassismus aus Perspektive Kritischer Theorie zu bestimmen, drängt sich dann erneut die Relevanz dieser Begriffspaare auf, die bis hierher die Arbeit strukturiert haben (8.3).

8.1 Ein Überblick – Siebzehn Thesen Zunächst wurden in Kapitel 2 einführend wichtige methodologische Klärungen zu einer Kritischen Theorie des Rassismus vorgenommen. Ich habe die Bedeutung von immanenter Kritik herausgestellt: (1) Immanente Kritik als methodisches Verfahren Kritischer Theorie ist angewiesen auf einen emanzipatorischen Index im Objekt der Kritik. Bürgerliche Freiheitsideale werden nicht verworfen, sondern beim Wort nehmend gegen die bürgerliche Klassenrealität verwandelt. Dies Verfahren kommt an Phänomenen wie Rassismus und Antisemitismus an Grenzen: Rassist:innen sind nicht beim Wort zu nehmen. Hier muss immanente Kritik heißen: Das Auseinanderfallen von Postulat und Wirklichkeit anderenorts – zwischen Gleichheitsideal und Ausbeutungserfordernis – bringt das Phänomen der Verarbeitung dieses Widerspruchs hervor: Immanente Kritik des Rassismus ist Kritik daran, dass Gleichheitsideale nicht nur nicht verwirklicht sind, sondern ihr praktisches Gegenteil mit erzeugen. Erst in einer Gesellschaft der ideell Gleichen bedarf Praxis der Ungleichheit wütender Rationalisierung. (2) Negativität leitet auch die Rassismuskritik Kritischer Theorie: So kann Rassismuskritik nicht angeben, wie die eine rassismusfreie Gesellschaft aussähe. Sie kann nicht konkret ausmalen, welche Maßnahmen zu diesem Ziel führen. Die Kritikerin bleibt Teil des beschränkenden und zu kritisierenden Zusammenhangs. Sie kann aber angeben, was falsch ist.

Kapitel 3 hat sich mit den Metamorphosen des Rassismus selbst beschäftigt. Eine der wichtigsten Überlegungen hier war die Frage nach der Stellung von Differenz im Rassismus, die zu meiner dritten These und zum Titel des Buches selbst führt: (3) Die »Wut auf die Differenz« (Horkheimer/Adorno 1947: 233) bleibt auch im kulturalistischen Rassismus bedeutungsvoll, denn dieser akzeptiert Differenz nur auf Distanz und in einem Außenverhältnis. Der Kampf um Herstellung und Wiederherstellung dieser Distanz vom ›Anderen‹ macht ihn aus. Dieser Kampf um die Differenzbewahrung via Abstand ist aber zugleich entdifferenzierend: Denn im Neo-Rassismus wird individuelle Differenz in den vermeintlich zusammengehörigen Kollek-

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In diesem letzten Kapitel werde ich zunächst die Resultate meiner bisherigen Ausführungen in siebzehn Thesen pointieren (8.1); dann werde ich die zentralen Probleme der Rassismusanalyse und -kritik, die sich in dieser Auseinandersetzung neu ergeben haben, zusammenfassen (8.2). So zeigen sich die Vermittlungen von Subjektivismus und Objektivismus, von Partikularismus und Universalismus sowie die von Natur und Kultur nicht nur im Phänomen des Rassismus selbst; sie spiegeln sich auch als Dilemmata und Widersprüche des Theoriegestus in Anstrengungen zu Theorie und Kritik des Rassismus. In meinem abschließenden Versuch, Rassismus aus Perspektive Kritischer Theorie zu bestimmen, drängt sich dann erneut die Relevanz dieser Begriffspaare auf, die bis hierher die Arbeit strukturiert haben (8.3).

8.1 Ein Überblick – Siebzehn Thesen Zunächst wurden in Kapitel 2 einführend wichtige methodologische Klärungen zu einer Kritischen Theorie des Rassismus vorgenommen. Ich habe die Bedeutung von immanenter Kritik herausgestellt: (1) Immanente Kritik als methodisches Verfahren Kritischer Theorie ist angewiesen auf einen emanzipatorischen Index im Objekt der Kritik. Bürgerliche Freiheitsideale werden nicht verworfen, sondern beim Wort nehmend gegen die bürgerliche Klassenrealität verwandelt. Dies Verfahren kommt an Phänomenen wie Rassismus und Antisemitismus an Grenzen: Rassist:innen sind nicht beim Wort zu nehmen. Hier muss immanente Kritik heißen: Das Auseinanderfallen von Postulat und Wirklichkeit anderenorts – zwischen Gleichheitsideal und Ausbeutungserfordernis – bringt das Phänomen der Verarbeitung dieses Widerspruchs hervor: Immanente Kritik des Rassismus ist Kritik daran, dass Gleichheitsideale nicht nur nicht verwirklicht sind, sondern ihr praktisches Gegenteil mit erzeugen. Erst in einer Gesellschaft der ideell Gleichen bedarf Praxis der Ungleichheit wütender Rationalisierung. (2) Negativität leitet auch die Rassismuskritik Kritischer Theorie: So kann Rassismuskritik nicht angeben, wie die eine rassismusfreie Gesellschaft aussähe. Sie kann nicht konkret ausmalen, welche Maßnahmen zu diesem Ziel führen. Die Kritikerin bleibt Teil des beschränkenden und zu kritisierenden Zusammenhangs. Sie kann aber angeben, was falsch ist.

Kapitel 3 hat sich mit den Metamorphosen des Rassismus selbst beschäftigt. Eine der wichtigsten Überlegungen hier war die Frage nach der Stellung von Differenz im Rassismus, die zu meiner dritten These und zum Titel des Buches selbst führt: (3) Die »Wut auf die Differenz« (Horkheimer/Adorno 1947: 233) bleibt auch im kulturalistischen Rassismus bedeutungsvoll, denn dieser akzeptiert Differenz nur auf Distanz und in einem Außenverhältnis. Der Kampf um Herstellung und Wiederherstellung dieser Distanz vom ›Anderen‹ macht ihn aus. Dieser Kampf um die Differenzbewahrung via Abstand ist aber zugleich entdifferenzierend: Denn im Neo-Rassismus wird individuelle Differenz in den vermeintlich zusammengehörigen Kollek-

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tiven unter dem Vorrang kollektiver Differenz negiert. Die neorassistische Betonung der Differenz ist Gleichmacherei. (4) Der Rassismus ist eine partikularistische Ideologie. Die Antworten der Rassismuskritik auf diesen Partikularismus sind aber häufig ebenfalls partikularistisch. Aufgabe Kritischer Theorie ist es dagegen, den Universalismus zu stärken, sich nicht vom Partikularismus des eigenen Gegenstandes anstecken zu lassen – zugleich aber die herrschenden, ideologischen Formen von Universalismus nicht vom Verdacht zu entlasten, selbst Geburtshelfer der wütenden Partikularismen zu sein. In Kapitel 4 wurden dann die Metamorphosen derjenigen Theorien rekonstruiert, die Rassismus analysieren. In einer ersten Pointe wurde die Dringlichkeit benannt, subjektivistische mit objektivistischen Erklärungen zum Rassismus zu vermitteln: (5) Die Entscheidung für eine Seite, die Trennung von subjektivistischen und objektivistischen Perspektiven in vielen Theorien über Rassismus, führt zu zwangsläufigen Vereinseitigungen in der Rassismusanalyse. (6) Die Vermittlung zwischen Subjektivismus und Objektivismus hat Auswirkungen auf die Enge und Weite des Rassismusbegriffs: Eng ist der Rassismusbegriff Kritischer Theorie in der sozialpsychologischen Hinwendung auf das Subjekt; weit ist er in der Darstellung struktureller Voraussetzungen für Rassismus.

Kapitel 5 untersuchte die theoretisch anspruchsvolle Konzeption von Individualität und gesellschaftlicher Objektivität in Kritischer Theorie. Das Kapitel wurde eröffnet mit Überlegungen zur Mimesis: (7) Das Potential von Mimesis – als Umgang mit dem ›Anderen‹ – ist die Versöhnung von Natur und Vernunft. Diese Möglichkeit ist jedoch in kapitalistischen Gesellschaften verstellt. Verdrängte Natur kehrt zurück mittels Projektion; Projektion – zum Beispiel im Rassismus – ist die Quittung für die Verunmöglichung, Tabuierung, Verdrängung der Mimesis. Die Betonung einer vorgängigen gesellschaftlichen Objektivität auch und gerade im Blick auf das, was sie im Subjekt und mit seinen Potentialen anrichtet, ist das Fundament der Gesellschaftskritik Kritischer Theorie, damit auch der Rassismuskritik. (8) Der Zweck der Beschreibung von Gesellschaft in Begriffen wie Verdinglichung, Entfremdung, Ideologie, Totalität, Verblendungszusammenhang oder Kulturindustrie ist kein deskriptiver. Diese Analysen sind schon in ihrem Kategorienapparat, nicht erst in den normativen Schlussfolgerungen, Ausdruck einer praktischen Intention: jener, vermeidbares Leid abzuschaffen. Die Positivismuskritik der Frankfurter Kritischen Theorie behauptet aber sehr aufwendig, dass dieser emanzipatorische Index der Erkenntnisanstrengung auch immanent geboten ist – nicht nur politisch und normativ, sondern epistemisch und deskriptiv: dass, wer Leid abschaffen will, Soziales besser und genauer erkennt als derjenige, der sich eindimensional auf Wertfreiheit beruft. Der Blick auf Leiden wird dann zum hermeneutischen Schlüssel für die Rassismusanalyse.

8 Kein Ende in Sicht (9) Subjekt und Gesellschaft sind vermittelt. Bleibt diese Vermittlung in der Rassismusanalyse unbenannt, wird es ideologisch. Ambivalent, aber theoretisch überaus bedeutungsvoll für die Rassismusanalyse ist der Rekurs auf Erfahrung in Adornos Denken: Individuelle Erfahrung ist einerseits in kapitalistischen Gesellschaften weitgehend verstellt, zugerichtet, verarmt. Andererseits setzt Theorie hier explizit auf die vorrationale Erfahrung. Das wird für Rassismustheorie wichtig: Die leibliche Erfahrung Rassifizierter muss nicht aus moralisch-politischen, sondern aus immanent analytischen Gründen konstitutiv für Theorie werden. Das heißt im ›Frankfurter‹ Kontext nun aber nicht, dass nur Rassifizierte wahre Sätze über Rassismus formulieren könnten. (10) Adornos Konzept des Nichtidentischen ist für die Rassismuskritik zentral: Die epistemische und die gesellschaftlich praktische Tendenz, das Nichtidentische unter die Räder kommen zu lassen, führt dazu, dass es einzig in Form des Widerspruchs sichtbar wird: Was bloß anders, zwanglos verschieden sein könnte, wird dann wahrgenommen als verdächtiger oder zu gar zu bekämpfender Gegensatz. Identität und Nichtidentität sind bei Adorno philosophisch-erkenntnistheoretische Kategorien. Doch der Kurzschluss mit psychologischer ›Identität‹ ist durchaus statthaft bei einem Theoretiker, der immer wieder Erkenntnistheorie und soziale Praxis ineinander aufgehen lässt: Die Identitätssehnsucht im rassistischen Denken, aber auch in manchen identitätspolitischen Rassismuskritiken, ist die Wut auf Differenz – sie vollzieht praktisch, was Adorno als Verhängnis verarmter Erkenntnis, als Abschneiden des Nichtidentischen beschrieben hat.

In Kapitel 6 wurde dann ausführlich die objektivistische Seite Kritischer Theorie, ihr Anschluss an Marx vorgestellt: (11) Rassismus ist weder notwendiges Funktionsprinzip des Kapitalismus, noch kann er deterministisch aus dem Subjekt abgeleitet werden. Dennoch hat Rassismus eine strukturelle Dimension – d.h. er entwickelt sich aufgrund von Voraussetzungen, die er in der kapitalistischen Gesellschaft findet. Der Zwang zur Schaffung von Mehrwert durch Lohnarbeit führt zur Überausbeutung von Menschen, in der Konsequenz zu Unterdrückung und Diskriminierung. Rassismus ist auch Rechtfertigung, Rationalisierung eines aus Verwertungslogik (und nicht aus Niedertracht oder Vorurteil) entspringenden Zugriffs auf überausbeutbare Arbeitskraft. (12) Eine bedeutende Rolle bei der Rechtfertigung dieser Ungleichheit übernimmt der Staat als politische Form der kapitalistischen Gesellschaft, weil er vermittels Staatsbürgerschaft Ausschluss legitim produzieren kann. (13) Diese beiden Vermittlungen: Rassismus als Quittung für die Unterdrückung des Nichtidentischen; Rassismus als Legitimation einer Differenz der Ausbeutungsniveaus bestärken das Programm immanenter Kritik. Immanente Kritik ist auch im flexibilisierten Spätkapitalismus eine geeignete Methode für die Rassismusanalyse. Das Bewusstsein ist den Produktionsverhältnissen adäquat – aber diese sind verkehrend, weil sie naturalisieren. Rassismus kann als Ideologie untersucht werden, nicht weil er beim Wort zu nehmen wäre, sondern weil er naturalisierende

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Rechtfertigung und damit Herrschaftsform ist. Rassismus naturalisiert das Soziale und rechtfertigt sozial hergestellte Ungleichheit. (14) Aus der Befassung mit den strukturellen Voraussetzungen des Rassismus ließe sich eine abschließende These für dieses Kapitel formulieren: Mit Blick auf die strukturellen Aspekte können am Rassismus dessen unintendierte und apersonalen Aspekte betont werden. Vor allem aber wird das Subjekt zur Arena der Vergesellschaftung; was sich in seinem Innersten zuträgt, worauf es anspricht, ist von Interesse für die Soziologie – nicht abzuschieben an psychologische Disziplinen. Kapitel 7 stellte darum das Autoritarismuskonzept Kritischer Theorie vor: (15) Das Autoritarismuskonzept ist Container, in dem verschiedene Ideologien – wie Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus und Sexismus – sich gegenseitig bestärkende Allianzen eingehen aufgrund einer vorgängigen psychischen Disposition zu beispielsweise Projektion, Unterwerfung, Freund/Feind-Denken, Konventionalismus. (16) Im Autoritarismuskonzept ist die subjektive Seite Resultat objektiver Entwicklungen: Die kapitalistische Gesellschaft produziert gerade in neoliberalen Modi den Zwang zu narzisstischer Aufwertung der Subjekte auf der einen Seite und Existenzunsicherheit und Ohnmacht auf der anderen. Sie erhält und modifiziert die Grundlage für autoritäre Reaktionen, die vor allem in der Identifizierung mit einem vermeintlich ›rassisch‹/›ethnisch‹/national bestimmten Kollektiv bestehen: Kollektiver Narzissmus reagiert auf individuelle Kränkung. (17) Und schließlich konnte ich zeigen, dass die autoritäre Verarbeitung gesellschaftlicher Zwänge der Einzelnen rational und irrational zugleich ist: rational, weil sie adäquat den notwendigen Zwängen des Einzelnen als austauschbarem Arbeitssubjekt zur Existenzsicherung folgt – irrational, weil die Unterwerfung Einordnung in ein vermeintlich ›rassisch‹ bestimmbares Kollektiv weder einem auch dem Subjekt zugänglichen Vernunftniveau entspricht, noch in jedem Fall funktional ist. Rassismus ist Irrationalismus, der produziert ist von bestimmten Weisen gesellschaftlicher Ratio; Irrationalismus, der von interessierten Psychotechniken und Ideologieproduktionen instrumentell rationell angesprochen werden kann.

8.2 Probleme der Rassismusanalyse und -kritik Ich habe auf den vergangenen Seiten Theorien der Rassismusforschung präsentiert und kritisch diskutiert sowie mögliche Perspektiven Kritischer Theorie auf Rassismus entwickelt. Dabei sind vier Probleme in der Analyse und Kritik des Rassismus wiederkehrend aufgetaucht, die inhaltlich aufeinander verwiesen sind: die Frage nach der Enge und Weite des Rassismusbegriffs (8.2.1), die Frage nach der Bedeutung von Intentionen im Rassismus (8.2.2), die Frage nach dem epistemischen und politischen Status persönlicher Rassismuserfahrung, ›Betroffenheit‹ (8.2.3) sowie die Frage nach der Bedeutung von ›Identitätspolitik‹ in der Kritik des Rassismus (8.2.4).

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Rechtfertigung und damit Herrschaftsform ist. Rassismus naturalisiert das Soziale und rechtfertigt sozial hergestellte Ungleichheit. (14) Aus der Befassung mit den strukturellen Voraussetzungen des Rassismus ließe sich eine abschließende These für dieses Kapitel formulieren: Mit Blick auf die strukturellen Aspekte können am Rassismus dessen unintendierte und apersonalen Aspekte betont werden. Vor allem aber wird das Subjekt zur Arena der Vergesellschaftung; was sich in seinem Innersten zuträgt, worauf es anspricht, ist von Interesse für die Soziologie – nicht abzuschieben an psychologische Disziplinen. Kapitel 7 stellte darum das Autoritarismuskonzept Kritischer Theorie vor: (15) Das Autoritarismuskonzept ist Container, in dem verschiedene Ideologien – wie Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus und Sexismus – sich gegenseitig bestärkende Allianzen eingehen aufgrund einer vorgängigen psychischen Disposition zu beispielsweise Projektion, Unterwerfung, Freund/Feind-Denken, Konventionalismus. (16) Im Autoritarismuskonzept ist die subjektive Seite Resultat objektiver Entwicklungen: Die kapitalistische Gesellschaft produziert gerade in neoliberalen Modi den Zwang zu narzisstischer Aufwertung der Subjekte auf der einen Seite und Existenzunsicherheit und Ohnmacht auf der anderen. Sie erhält und modifiziert die Grundlage für autoritäre Reaktionen, die vor allem in der Identifizierung mit einem vermeintlich ›rassisch‹/›ethnisch‹/national bestimmten Kollektiv bestehen: Kollektiver Narzissmus reagiert auf individuelle Kränkung. (17) Und schließlich konnte ich zeigen, dass die autoritäre Verarbeitung gesellschaftlicher Zwänge der Einzelnen rational und irrational zugleich ist: rational, weil sie adäquat den notwendigen Zwängen des Einzelnen als austauschbarem Arbeitssubjekt zur Existenzsicherung folgt – irrational, weil die Unterwerfung Einordnung in ein vermeintlich ›rassisch‹ bestimmbares Kollektiv weder einem auch dem Subjekt zugänglichen Vernunftniveau entspricht, noch in jedem Fall funktional ist. Rassismus ist Irrationalismus, der produziert ist von bestimmten Weisen gesellschaftlicher Ratio; Irrationalismus, der von interessierten Psychotechniken und Ideologieproduktionen instrumentell rationell angesprochen werden kann.

8.2 Probleme der Rassismusanalyse und -kritik Ich habe auf den vergangenen Seiten Theorien der Rassismusforschung präsentiert und kritisch diskutiert sowie mögliche Perspektiven Kritischer Theorie auf Rassismus entwickelt. Dabei sind vier Probleme in der Analyse und Kritik des Rassismus wiederkehrend aufgetaucht, die inhaltlich aufeinander verwiesen sind: die Frage nach der Enge und Weite des Rassismusbegriffs (8.2.1), die Frage nach der Bedeutung von Intentionen im Rassismus (8.2.2), die Frage nach dem epistemischen und politischen Status persönlicher Rassismuserfahrung, ›Betroffenheit‹ (8.2.3) sowie die Frage nach der Bedeutung von ›Identitätspolitik‹ in der Kritik des Rassismus (8.2.4).

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8.2.1 Die Weite und Enge des Rassismusbegriffs Überlegungen zur Ideologie- und Ökonomiekritik tendieren dazu, Rassismus eher weit zu fassen (vgl. Kapitel 6). Auch die Überlegungen der Adornoschen Identitätskritik (vgl. Kapitel 5) weisen in ihrem grundsätzlichen Gestus, mit ihrer Diagnose klassenübergreifend pathologischer Denkweisen auf einen weiten Rassismusbegriff. Ein weiter Rassismusbegriff resultiert auch aus der Auffassung von einer verbreiteten Disposition zu Ohnmachtsgefühlen und Erfahrungsunfähigkeit der Subjekte. All diese Ansätze betonen ganz offen die Universalität dessen, was sie kritisieren. Irgendwann ist dann nicht mehr die Frage: Wer ist warum rassistisch, sondern: Wer konnte es warum schaffen, nicht rassistisch zu werden? Dagegen bergen sozialpsychologische Überlegungen immer wieder die gegenteilige Tendenz, Rassismus im Kontext extrem rechter oder rechtspopulistischer Bewegungen zu untersuchen. Rassismus ist hier Phänomen begrenzter Gruppen. Sozialpsychologische Überlegungen differenzieren unterschiedliche psychologische Entwicklungen. Beide Ansätze sind für eine Kritische Theorie des Rassismus wichtig: Die Betonung universaler Bedingungen des Rassistisch-Werdens schärft die konkrete psychologische Frage nach wer und warum (und wer nicht). Beide Perspektiven bergen Probleme: So nimmt ein weiter Rassismusbegriff dem Rassismus die Spezifik, so dass er kaum noch von anderen Phänomenen geschieden werden kann. Insbesondere die ökonomiekritische Perspektive kann nicht immer scharf unterscheiden zwischen strukturellen Voraussetzungen des Rassismus und diesem selbst. Benennbare Bewusstseinsträger einer Rassentheorie sind hier kaum noch vorhanden. Damit steht die Analyse des strukturellen Rassismus vor einem ähnlichen Problem wie die des institutionellen Rassismus: Motivationale Beweggründe für Rassismus verschwinden hinter der Analyse der Effekte von Strukturen. Rassismus ist aber Handlung in Strukturen, d.h. seitens jener Menschen, die bereit sind, rassistisch zu handeln. Rassismus verselbständigt sich zugleich gegen Intentionen der konkreten Menschen. Rassismus als Ideologie ist ein Produkt des Bestehenden, welches »rückwirkend das Bestehende mitformt und strukturiert, indem […] [er] in Praktiken und Handlungen einzieht und damit auch in die geschaffenen Verhältnisse und produzierten Dinge, als die gegenständliche Seite ideologischer Praxis und Produktion« (Havel 2017: 273). Ein weiter Rassismusbegriff übersieht die Spezifik von Motivationen und die Spezifik von psychologischen Entwicklungen, die Differenz von Klassenlagen und Familienbiographien. Ein enger Rassismusbegriff, der Rassismus vor allem im Zusammenhang mit rechten und extremen Einstellungen untersucht, überdeckt die Verbreitung und Etablierung des Rassismus auf verschiedenen Ebenen. Wahr sind beide Pole nur als gegenseitiges Korrektiv.

8.2.2 Die Bedeutung der Intentionalität im Rassismus Gegenwärtige Diskussionen wie die so genannte ›Ideologie‹ der Colorblindness, kulturelle Aneignung und White Fragility erregen Kritik nicht nur wegen ihrer extensiven Ausweitung des Rassismusbegriffs, sondern auch wegen ihrer anti-universalistischen Stoßrichtung. Das Bemühen, eine ideologische bzw. personelle Kontinuität von ›Windhuk nach Auschwitz‹ ziehen zu wollen, überblendet den Unterschied zwischen expli-

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zitem, industriell und mit globalem Anspruch verwirklichtem Ausrottungswillen im Falle der Shoah und der Niederschlagung antikolonialer Aufstände mit genozidalem, herrschaftssichernden Charakter. Die Differenz von Rassismus und Antisemitismus verschwindet. Die Privilegiendiskussion, in die solche Rassismuskritiken häufig münden, macht – wenn auch unterkomplex – auf eine wichtige Konstante des Rassismus aufmerksam: seine Legitimationsfunktion. Während die Rassentheorien die Sklaverei und den Kolonialismus erklären konnten, legitimieren sich Ansprüche der Besitzstandswahrung und auf Bevorzugung heute mit der Mentalität, Mehrheitsgesellschaft zu sein. Aber die Rede vom ›Privileg‹ der ›Weißen‹ unterschreitet nicht nur die Komplexität materialistischer Perspektiven; sie suggeriert auch, dass die Abschaffung herrschaftsförmiger Verhältnisse am Begehren der ›Weißen‹, an ihrer Moral, ihrer Selbstrechtfertigung hinge. Schlechte, kritikwürdige Rechtfertigung sozialer Ungleichheit wird dann verwechselt mit deren Ursache – ein moralistischer Fehlschluss, eine letztlich herrschaftsblinde Verwechslung von Politik mit »›angewandter Ethik‹«, wie Raymund Geuss (2008: 18) in einem anderen Kontext gegen ethische Konzeptionen von Politik – konkret gegen den Sozialliberalismus von John Rawls – einwandte. Während der Rede von Privilegien ein Überschuss an Subjektivismus, moralistischer Intentionalität innewohnt, fehlt der Kritik des institutionellen und strukturellen Rassismus oft der Blick aufs Subjekt. Täter:innen sind trotz der hier aufgezeigten strukturellen Verankerung des Rassismus und trotz der Prägung, die sie als Subjekte erfahren, verantwortlich. Die Betonung der institutionellen und strukturellen Verankerung des Rassismus kann zum schlechten Gegenteil dessen führen, was hier an den Theorien ›weißer Vorherrschaft‹ und ›weißen Privilegs‹ kritisiert wurde: die Ausblendung der Rolle des Subjekts. Das ist nicht nur ein politisches Defizit: Trotz ihrer Unfreiheit und ihrer Determination durch die Strukturen der Gesellschaft sind Menschen nicht nur Automaten, Funktionsträger, Charaktermasken; sie haben in ihrem Handeln die Möglichkeit, sich gegen Rassismus und Antisemitismus zu entscheiden. Ob autoritäre oder nicht autoritäre Personen in jenen Institutionen sitzen, wird in konkreten Situationen den entscheidenden Unterschied machen: Die nicht autoritäre Person wird im Rahmen ihrer Möglichkeiten institutionelle Rassismen mindern oder umgehen. Die autoritäre Person wird sich ihnen unterwerfen, ja sich mit ihnen identifizieren, sie in besonderem Eifer ausleben. Der Sozialcharakter als »eine innere psychische Strukturbildung, die unserem Verhalten eine bestimmte Intentionalität, Motiviertheit und Leidenschaftlichkeit verleiht« (Funk 2020: 107), gibt den Handlungen Richtung und Ziel. Mehr noch: »wie im Autoritätsverhältnis immer ein Rest von Freiwilligkeit enthalten bleibe« (Schuler/Schießler/Decker 2021: 93), so gibt es diese Freiwilligkeit auch im rassistischen Subjekt – nicht nur weil der Rassismus ein Symptom des Autoritarismus ist, sondern weil Rassismus auch ein Versprechen ist, an gesellschaftlicher Macht zu partizipieren.1 Der Unterschied zwischen fetischisierenden Formen der kapitalistischen

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Schuler/Schießler/Decker schreiben, dass die »Unterwerfung unter die väterliche Autorität und die durch ihn repräsentierten gesellschaftlichen Normen […] das Versprechen der Teilhabe an der väterlichen Macht und Autorität und die Aussicht, später selbst zum Träger eben jener Autorität zu werden, [enthalte].« (Schuler/Schießler/Decker 2021: 83)

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Vergesellschaftung und dem Rassismus oder dem Antisemitismus ist nämlich der, dass sich die Subjekte den Fetischformen nicht entziehen (vgl. Grigat 2007), sich aber gegen ein rassistisches Mitmachen entscheiden können. Dieses parteiliche Nicht-Mitmachen braucht nicht (zuerst) die Fetischismuskritik, sondern Empathie, Reflexion und Erfahrungsfähigkeit. Die Möglichkeit zur Überwindung des Rassismus liegt in Kontingenz. Auch wenn hier mit kritisch-theoretischer Übertreibungsgeste der Zusammenhang von objektiven Bedingungen und psychischen Dispositionen sehr eng beschrieben wurde, Unmündigkeit und Erfahrungsunfähigkeit betont wurden, gibt es keine zwingende Verbindung. Was Christine Kirchhoff über den Zusammenhang von objektiven und psychischen Bedingungen in Hinblick auf die Antisemitismusanalyse Kritischer Theorie sagt, lässt sich auch auf die Rassismusanalyse übertragen: »In der Lücke zwischen beiden liegt, negativ allerdings und als Allgemeines nicht positiv zu fassen, auch die Bedingung der Möglichkeit der Freiheit. Die Freiheit ist deswegen durch diese Lücke bestimmt, weil das eine nicht in das andere zu überführen ist: Weil man, so sehr die Verhältnisse dazu treiben, so beschädigt man auch immer ist, so viel man auch ins ›böse Außen‹ zu projizieren gezwungen sein mag, noch lange nicht AntisemitIn [oder auch Rassist:in, U. M.] sein muss.« (Kirchhoff 2011/12: 32) Einen Determinismus gibt es nicht. Mit Adorno würde man argumentieren: Je schonungsloser und ohne falsche Milderung die Bedingungen der Unfreiheit beschrieben werden, desto besser für die Restspielräume des Freien. Es ist Theorie, die durch Benennung von Macht diese zähmen will. Menschen haben die Wahl, Rassist:in zu sein. Das Subjekt, und sei es auch noch so verstrickt in die gesellschaftlichen Strukturen, ist nie vollständig determiniert – weder aufgrund mangelnder Reflexionsfähigkeit noch wegen der bloßen ›Zugehörigkeit‹ zur Gruppe der ›Weißen‹.

8.2.3 Der Status von Erfahrung und Betroffenheit für Rassismuskritik Dauer, Intensität, Unausweichlichkeit des Rassismus prägen die Alltagserfahrung rassifizierter Menschen. Die Dichte alltäglicher Diskriminierungs- und Besonderungserfahrungen kulminiert in einer Wahrnehmung der Gesellschaft, die vielen Nicht-Betroffenen nicht zugänglich ist oder anders formuliert: Der Mangel an Erfahrung ist die notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung dafür, dass Nicht-Betroffene von Rassismus dessen fortgesetzte Existenz leugnen können. Kritische Rassismusforschung nahm ihren Ausgang in den 1980er Jahren bei Betroffenen von Rassismus. Sie folgte dem Bemühen, die eigene Rassismuserfahrung gesellschaftstheoretisch einzuholen und in rassismuskritische Praxis zu verwandeln. Somit ist eigene Betroffenheit nicht nur Auslöser der Forschung gewesen; sie bewies sich immer wieder auch als Sensorium für Veränderungen des Rassismus im Alltag und im Agieren von Institutionen.2 Rassismuskritik ist ohne die Erfahrung von direkt Betroffenen undenkbar. Aber Erfahrung ist nicht bereits

2

Vgl. beispielsweise zur Perspektive von Betroffenen des NSU-Terrors und der Nebenklage (von der Behrens 2018).

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Kritik oder Theorie. Und auch nicht ist damit gesagt, dass für triftige Theorie über bzw. gegen den Rassismus die Erfahrung von der Theoretikerin selbst gemacht werden muss. Die wichtigsten Theoretiker:innen der Arbeiter:innenbewegung waren auch keine Arbeiter:innen (diese hatten schlicht nicht das soziale Privileg der Zeitsouveränität zur Arbeit an Theorie). Dass dieser Aspekt der Bedeutung von Erfahrung in der Rassismuskritik hier überhaupt noch mal so explizit betont wird, gründet in antirassistischen Positionen, wie sie beispielsweise von der US-amerikanischen Soziologin Robin DiAngelo vertreten werden, wonach ›weiße‹ Menschen qua Sozialisation immer rassistisch seien, und selbst, wenn sie sich rassismuskritisch engagieren (wollen), vor allem auf Selbstreflexion und Demut (DiAngelo 2018: 141f.) verwiesen sind. Geistige Erfahrung ist für Adornos Kritische Theorie der Gegenbegriff zu »verblendeter‹ Theorie« (vgl. Früchtl 1986: 2f.); er meint anderes als diese Form von Legitimität durch Authentizität. Geistige Erfahrung hat nicht allein den Modus des ›Betroffen-Seins‹. Wer Literatur von Holocaust-Überlebenden liest, macht nicht deren Erfahrung; nicht einmal im Ansatz. Aber – geistige Erfahrungsfähigkeit, unverdinglichtes Bewusstsein, Empathie vorausgesetzt – er macht geistige Erfahrung an diesen Texten. Und diese vermittelte Erfahrung wird ihn anders, triftiger, wahrer, vielleicht auch akademisch anspruchsvoller über Antisemitismus sprechen oder gar theoretisieren lassen. Ähnlich würde eine Argumentation der Kritischen Theorie am Rassismus aussehen: Für den zentralen Status von Erfahrung, ja Leid-Erfahrung; aber gegen die epistemische Monopolisierung der Wahrheitsproduktion am ›betroffenen‹ Sprechort. Weil rassistische Erfahrung nie nur individuell ist, kann sie in theoretische Reflexion überführt werden. Weder geistige noch körperliche Erfahrung, so dies überhaupt sinnvoll trennbar ist, führen automatisch zu einer Kritik des Bestehenden. Gesellschaftskritik ist auf Kategorien angewiesen; sie ist nicht bloß Ausdruck von Betroffenheit oder Leid (vgl. Kirchhoff 2004: 99). Erfahrungen sind das Fundament der Kritik, das in Begründungszusammenhänge, in Theorie, mündet. Und um Erfahrungen in Theorie zu sublimieren, ihnen dort Raum zu geben, bedarf es theoretischen Vorwissens (ebd.: 88f.). Daher kann mit Adorno kein erfahrungsbasiertes ›Erkenntnisprivileg‹ von Rassismusbetroffenen begründet werden. Die Betonung der Erfahrung von Diskriminierung, wie sie vor allem für Identitätspolitiken erkenntnisverbürgend ist, wird von der Kritischen Theorie auch aus einem anderen Grund relativiert: Auch Rassismusbetroffene sind wie die Menschen, die keine negativen Rassismuserfahrungen haben, bestimmten Reflexionshindernissen gesellschaftlicher Erkenntnis unterworfen (vgl. Kapitel 5.4). Gewalt und Unterdrückungsverhältnisse können Erkenntnismöglichkeiten beschränken.3 Auch deshalb können Rassismus- und Gesellschaftskritik sich nicht nur auf die Erfahrungen von Betroffenen stützen. Kritik braucht Zeit und Abstand.

3

Kritische Soziologie und emanzipatorische soziale Bewegungen können in Gesellschaften struktureller Ungleichheit von einer Kritik an den subjektiven Interessen von negativ Privilegierten nicht grundsätzlich absehen, weil u.a. die in die »Interessendefinitionen eingehenden Informationen […] systematisch verzerrt und die Informationschancen ungleich verteilt sind«, wie auch die Bedingungen der »politischen Kommunikation faktisch systematisch verzerrt« sind (Bader 1991: 140).

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Adorno spitzt das an einer Stelle der Negativen Dialektik, an der er sich gegen den Vorwurf bildungsbürgerlichen Elitismus wehrt, extrem zu: »Kritik am Privileg wird zum Privileg: so dialektisch ist der Weltlauf« (Adorno 1966: 51). Ein Freibrief für Theoriebildung auf Basis unreflektierter Privilegien ist das nicht – sondern ein Imperativ zur schonungslosen Selbstkritik an der ausweglosen Verstrickung aller Kritik. Damit ist also keineswegs Betroffenen die Möglichkeit zur Theorie pro domo abgesprochen; aber es wird die dilemmatische Situation der Herrschaftskritik im komplexen, vermittelten Spätkapitalismus angesprochen: Unterdrückung kann auch Bedingungen zur adäquaten kritischen Theoretisierung ihrer selbst rauben; sie kann Mündigkeit, Zeit, Artikulationsfähigkeit tilgen. In diesem Sinne wäre die allzu statische Unterstellung, dass Eigenerfahrung von Unterdrückung Bedingung oder gar Garant treffender Theorie der Unterdrückung sei, geradezu Verharmlosung: Beileibe nicht immer, aber als eine Möglichkeit zählt es zur Gewalt des Rassismus, dass sie Theoriebildung bei Betroffenen verhindern kann. Jede einfache Statik zwischen Betroffenheit und Theorie des Rassismus verbietet sich also. Es ist ein Balanceakt zwischen zwei schlechten Polen: Erfahrungsferne, akademische Theorie bildungsbürgerlicher Schichten, in der das reale Leid nur noch Spur ist hier an dem einen Pol – der Fetisch ›Betroffenheit‹, der Artikulation von Erfahrung mit Theorie verwechselt, die gewaltsame Verunmöglichung von Reflexion leugnet und ein fragwürdig identitär aufgeladenes Verhältnis zu ›Authentizität‹ pflegt, dort am anderen Pol. Kritische Theorie des Rassismus wäre ein Drittes, mit wechselnder Nähe zu diesen Polen Dazwischenliegendes. Die Einbeziehung der Erfahrung von Rassismusbetroffenen ist für eine Kritische Theorie des Rassismus nicht allein eine Kritik der Deutungsmacht – die im Fall des Rassismus bei der deutschen (›weißen‹) Mehrheitsgesellschaft liegt –, sondern die Kritik an einer vorherrschenden gesellschaftlichen Praxis der Ausgrenzung. Ziel von Gesellschaftskritik kann es nur sein, die Erfahrungen Marginalisierter mit emanzipatorischen Zielsetzungen zu bündeln und gemeinsam zu prüfen, wo diese Erfahrungen und das Leid von Menschen einer bestimmten sozialen Position sich mit Herabsetzungsund Diskriminierungserfahrungen anderer Menschen treffen, worin sich Erfahrungen ähneln. Frühe Kritische Theorie hat zwar, anders als Habermas, ein skeptisches Verhältnis zu ›Kommunikation‹, aber sie bleibt optimistisch hinsichtlich der Möglichkeit von Verständigung über Leid-Erfahrungen. Manches, was die Betroffenen wissen, können nicht selbst vom Rassismus betroffene Gesellschaftskritiker:innen nicht wissen – und manches, was die Soziologie weiß, können Betroffene jenseits der akademischen Diskurse nicht wissen4 . Eine generelle Berufung auf institutionalisierte (soziologische) oder erfahrungsbezogene Autorität kann es nicht geben – eine auf das epistemische Privileg der Betroffenen auch nicht: Wer in welcher Situation, in Hinblick auf welchen Aspekt der Rassismuskritik mit ›überlegenem‹ Wissen aufwarten kann, ist nicht pauschal festzulegen. Die Geste des Überlegenen ist eher ein Zeichen dafür, dass es hier mit dem Wissen über das eigene Wissen nicht weit her ist.

4

Vgl. ähnlich Celikates (2009: 205) in Hinblick auf das Verhältnis von sozialen Akteuren im Allgemeinen und soziologischer Gesellschaftskritik.

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8.2.4 Identitätspolitik und Rassismuskritik Zwingend berührt die Frage nach dem Vorrang von authentischer rassistischer Erfahrung in der Kritik die nach Identität und einer Politik im Namen dieser Identitäten. Nicht die Erfahrung von Betroffenen ist der Kritischen Theorie unbedeutend; aber ihr ist der identitäre Zusammenschluss, und sei er auch nur strategischer oder nicht affektiver Natur, suspekt. Das betrifft zuerst diejenigen, die ihren identitären Zusammenschluss diskriminierend und gewaltvoll gegen partikulare Interessen machtvoll durchzusetzen in der Lage sind. Es betrifft aber auch die Seite derer, die emanzipatorische Ziele verfolgen.5 Als »eine Politik der Antidiskriminierung und Herrschaftskritik, die Partei ergreift für alle, denen eine Existenz als Subjekt unter gleichen verwehrt wird« (van Dyk 2019: 25), scheint linke Identitätspolitik die zwingende politische Antwort auf einen Rassismus zu sein, der genau diese verwehrte Existenz als Subjekt legitimiert: Anders als bei der ökonomischen Ausbeutung der (›weißen‹) Arbeiter:innenklasse wird bei rassistischer Diskriminierung oder bei Homophobie Identität – und mit ihr Lebensform, Selbstverhältnis, subjektives Begehren – angegriffen. Die Arbeiter:innenbewegung wollte das Elend industrieller Arbeit, ja die Lebensform ›Arbeiter‹ abschaffen (zumindest vor den ihrerseits identitätspolitischen Fetischisierungen des ›Arbeiters‹ des Ost-Marxismus); der Kapitalismus wollte es erhalten. Die ›queere Bewegung‹ hingegen wollte gegen Verbot und gewaltsame Unterdrückung Lebensformen nicht heterosexuellen wie mehrgeschlechtlichen Begehrens ermöglichen, enttabuisieren: Dass Demonstrationen hier schnell ›Paraden‹ wurden – weil sie nicht singuläre politische Forderungen, sondern das So-Sein, die eigene Lebensform darboten – das hatte einleuchtende Rationalität. Die Rassismuskritik steht zwischen diesen beiden Polen: Sie will – wie die Arbeiter:innenbewegung ›den Arbeiter‹ – das, was Gruppe erst konstituiert, abschaffen: ›Rasse‹. Sie muss aber auch, wie die queere Bewegung, Partei ergreifen für die Identität, die durch geteilte Unterdrückungserfahrung ganz real in der Welt ist. Zu einfach kann es sich eine Frankfurter Abkanzelung der Identitätspolitik daher nicht machen. Dem Einwand van Dyks gegen die Kritik an der Identitätspolitik – dass diese zu einer Umkehrung der Begründungslogik führe, weil der »Widerstand gegen Rassismus, Sexismus oder Homophobie zur Ursache derselben erklärt wird« (van Dyk 2019) – ist zuzustimmen. Identitätspolitik ist nicht die Ursache für die Wut, die sich an ihr autoritär entzündet. Adornos Nichtidentisches ist ein geeigneter Gegenbegriff, um das Spezifische gegen die Entqualifizierungen kollektiver Identität zu betonen. Dafür sollten emanzipatori5

Felix Hoffmann differenziert zwischen defensiver bzw. emanzipatorischer Identitätspolitik (die antirassistischen Politiken von PoC bspw.) und identitärer Identitätspolitik (die Politik der ›weißen Vorherrschaft‹) (vgl. Hoffmann 2019: 68). Die Ablehnung von Identitätspolitik erklärt der Autor, wie er selbst sagt, etwas »naiv-apologetisch«: »Wer nicht ständig mit dem Rücken zur Wand steht und sich erklären muss, wer sich nicht ständig im Alltag gestisch wie diskursiv übergriffigen Infantilisierungen, Primitivierungen, Dezivilisierungen, Animalisierungen und Erotisierungen ausgesetzt sieht, wer nicht nach einer von Kolonialismus und Rassismus verschütteten bis vernichtenden Vergangenheit suchen musste, sondern vielmehr die eigene zu verdrängen versucht – wie sollte so jemand den sowohl gewaltlogischen, als auch den entsprechenden affektiven und emotionalen Rückhalt identitätspolitischer Kämpfe verstehen?« (ebd.: 69)

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sche Intentionen besonders sensibel sein, angesichts des bemerkenswerten Umstandes, dass auf den Begriff der kollektiven Identität sowohl im rechten Spektrum (Identitäre Bewegung) wie in linken Diskussionen und Positionierungen positiv Bezug genommen wird. Das Regressive, das in dieser Identitätssehnsucht steckt, wurde von der Kritischen Theorie schon früh als Tendenz zur Gleichmacherei, als Drang des Einzelnen zur blinden Identifikation mit einem Kollektiv, wie der ›Rasse‹, dem ›Volk‹, der ›Nation‹, der ›Ethnie‹ erkannt. Rassismuskritik im Anschluss an Kritische Theorie weist einerseits das Identitätsbedürfnis zurück, das sich rassistisch oder nationalistisch begründet. Sie problematisiert andererseits auch jene Identitätspolitiken, die sich im Prozess der Selbstermächtigung von rassifizierten Menschen gebildet haben. Selbst ein »strategischer Essentialismus« (Spivak 1993: 15; Dietze 2013: 481), der die Spannung zwischen der nötigen Konstruktion politischer Kollektive zur Interessenvertretung und der damit zwingend verbundenen Homogenisierung der Menschen in diesen Kollektiven, zu minimieren sucht, ist gefährlich. Denn er läuft Gefahr, rassistische und damit stets auch ahistorische Vorstellungen von rassifizierten Gruppen zu übernehmen. Eine identitätspolitische Wende, wie sie sich in vielen intersektionalen Ansätzen durchgesetzt hat, läuft Gefahr, »Identität – als Manifestation von historisch-gesellschaftlichen Verdinglichungs- und Entfremdungsprozessen« (Stögner 2021: 442) zu idealisieren. Kollektive Identität – und sei sie auch noch so positiv von den Rassismusbetroffenen angeeignet – steht im »Zeichen des Triumphs des falschen Allgemeinen vor dem Besonderen« (ebd.). Denn Identitätspolitik geht es um die Sichtbarkeit und Stärkung der »Würde einer Gruppe« (Stögner 2020: 274), nicht um den »universell verstandenen Menschen, sondern einer partikularen Person als Mitglied einer bestimmten Gemeinschaft, sei es Nation, Geschlecht, Ethnie, Race, Sexualität, Religion oder Ähnliches« (ebd.). Doch bei aller berechtigten Kritik an auch linken Identitätspolitiken dürfen die Unterschiede nicht vergessen werden: Rechte Identitätspolitik will Gemeinschaft homogenisieren und damit schließen, linke Identitätspolitik will hingegen perspektivisch gerade das gleichberechtigte Nebeneinander des Heterogenen. Kritische Theorie kann sich nicht für ein kollektiv bestimmtes Nichtidentisches stark machen – das wäre ein Oxymoron. Die Betonung des Nichtidentischen kritisiert radikal den subsumierenden Charakter jedes Identitätsdenkens. ›Identität‹ steht bei Adorno als psychologisch verinnerlichte Konstanz von Fremdwahrnehmungen und Selbstbeherrschungen grundsätzlich unter Verdacht einer missglückten Form von Naturbeherrschung, eines Abschneidens von Qualitäten. So ist Kritischer Theorie die Sichtbarmachtung der Nicht-Repräsentierten im öffentlichen Diskurs durchaus ein Anliegen – ähnlich wie diskursanalytischen Ansätzen. Es wäre aber die Sichtbarmachung geteilter Erfahrung, nicht geteilter Identität. Kritische Theorie nimmt daher jene Form von Identitätspolitik in die Kritik, die vergessen hat, dass Identitäten nur im politischen Kampf temporär wirken; die vergessen hat, dass ihre Polarisierungen, insbesondere jene zwischen ›schwarz‹ und ›weiß‹, der politischen Kontrastierung dienen, Resultate von Herrschaft abbilden, und damit instrumentell sind. Ein Antirassismus, der Identitäten festschreibt und fördert, statt für ihre Aufhebung einzutreten, wird den Rassismus, der kognitiv, psychologisch und kulturell durch solche Trennungen getrieben ist, nicht angreifen.

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8.3 Kritische Theorie als Vermittlerin theoretischer Vereinseitigungen Die eben dargestellten Probleme des Verhältnisses von Rassismuskritik und Identität verhandeln stets auch das Verhältnis von Universalismus und Partikularismus (8.3.1), Subjektivismus und Objektivismus (8.3.2) sowie Natur und Kultur (8.3.3). Es sind drei Begriffspaare, die für Kritische Theorie ihrerseits nur in der jeweiligen Vermittlung sinnvoll sind.

8.3.1 Partikularismus und Universalismus In der Diskussion über den Neo-Rassismus und bei der Darstellung verschiedener subjektivistischer und objektivistischer Rassismuskritiken wurde deutlich, wie ein grundlegendes philosophisches Gegensatzpaar – Universalismus und Partikularismus – nicht nur den Rassismus selbst, sondern auch die Kritiken an ihm durchzieht. Insbesondere postkoloniale Theorien greifen den Universalismus und die Aufklärung als wichtige Legitimation für fortgesetzte Diskriminierungen an. Die universalisierenden aufklärerischen Bezüge auf ›den Menschen‹, so der Vorwurf, rechtfertigen gewaltsame Angleichung (›nachholende Entwicklung‹, Zivilisierung der ›Wilden‹), sie verbrämen die spezifisch ›weiße‹ Setzung; sie rechtfertigen Verachtung, wo dem vermeintlich universalen ›Standard‹ nicht genügt, wo abgewichen wird. Universalismus ist in dieser Deutung auch bloß Partikularismus, aber eben einer der sich gewaltsam durchzusetzen und zu verschleiern weiß.6 Die Gegenposition – verkörpert beispielsweise von Martin Luther King – beruft sich gerade auf den Universalismus, auf Menschheit, um Rassismus als Verletzung zu skandalisieren. Bei aller Unterschiedlichkeit sind verschiedene Erklärungen des Rassismus durch eine gemeinsame Überlegung verbunden: Sie beziehen Stellung zu Gewichtung, Bezugnahme oder Zurückweisung universalistischer und partikularistischer Annahmen. Doch was ist der Rassismus selbst – ist er universalistisch oder partikularistisch? Erst von dieser Klärung aus wäre ja zu bestimmen, ob antirassistische Strategien universalistisch oder partikularistisch auszurichten sind. Das Verhältnis von Partikularismus und Universalismus im Rassismus lässt sich relativ klar formulieren. Der Rassismus ist partikularistisch, aber im engen Zusammenhang mit der Verbreitung von Universalismen entstanden. Rassismus bestreitet die Einheit der Menschheitsgattung; er befürwortet in der Theorie und in der sozialen Praxis Spaltungen, Wertungen und Hierarchisierungen. Das schließt auch den Neo-Rassismus ein, der sich durch einen ausgeprägten Ethnopluralismus begründet. Rassismus ist ›universalistisch‹ einzig in seiner Forderung nach Differenz. Alle Menschen werden einer ›Rasse‹ oder ›Kultur‹ oder einem ›Volk‹ zugeschlagen, es kann gemäß der Logik des Rassismus keine Person geben, die als Subjekt von dieser kollektiven Zuordnung ausgeschlossen bleibt. Der Rassismus setzt die ubiquitäre Existenz von ›Rassen‹, unveränderlichen ›Kulturen‹ weltweit voraus oder spannt die ›Rassen‹/›Kulturen‹ in ein gemeinsames Entwicklungskontinuum ein. Rassismus leugnet die Sozialität der menschlichen Existenz,

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Zum Verhältnis von Partikularismus und Universalismus in der Rassismusanalyse und -kritik vgl. auch: Marz 2020: 226–230.

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indem er Menschen in wesenhaft und unveränderlich scheinende Gruppen zusammenfasst (vgl. Marz 2020: 226f.).7 Deutlich komplizierter und kontroverser ist die Diskussion des Anti-Rassismus darüber, wie am sinnvollsten dem Rassismus zu begegnen sei. Rassismus ist für die Kritische Theorie ein Beispiel »of a general civilizational impulse toward embracing irrationality« (Oberle 2018: 58). Die Idee der ›Rasse‹ gilt Adorno als Negation der Universalität (vgl. ebd.: 59). Dennoch sind die Antworten auf die partikularistischen Trennungen des Rassismus in den Rassismuskritiken nicht einfach universalistische Forderungen und Utopien. Das hängt mit den divergierenden Erklärungen zur Entstehung des Rassismus zusammen, derer sich der Anti-Rassismus bedient. Ich habe in meiner Arbeit immer wieder gezeigt, dass der moderne Rassismus mitsamt seinen Rassentheorien in der Zeit der aufklärerischen Moderne entstanden ist. Die Gleichzeitigkeit von Moderne und Rassismus wird in vielen Rassismuskritiken zum Grund für eine grundsätzliche Zurückweisung von (westlicher) Aufklärung und Moderne mit ihren universalistischen Forderungen von Emanzipation, Individualismus, mit ihrem Freiheits- und Gleichheitsversprechen. Denn die gleiche Moderne, die diese Versprechen propagiert, ist es doch, die von Anbeginn Menschen von diesem Versprechen (z.B. Frauen, Sklav:innen) ausschließt – und die Ausbeutung, Versklavung und Unterdrückung im globalen Maßstab vorantreibt. Nicht umsonst ist die Dialektik der Aufklärung das wichtigste Thema Kritischer Theorie; die Selbstgefährdung, der immanente Keim zum Rückfall ins Gegenteil. Und so kann eine Perspektive, die sich in diese Theorietradition stellt, dieses Problem nicht einfach mit Aufklärungsemphase nach einer Seite hin auflösen. Dass Aufklärung, Moderne, Kapitalismus und Rassismus im selben Zusammenhang zu diskutieren sind, ist jedoch nicht Anlass für »abstrakte Negation« (Adorno 1966: 27), für möglichst große Distanz. Detlev Claussen kritisiert eine linke Perspektive, die Rassismus, Kolonialismus, Universalismus und Aufklärung in eins setzt (vgl. Claussen 1994: 16). Nicht jede Sklaverei benötigt(e) rassistische Begründungen. Das System der Sklaverei ist älter als der moderne Rassismus des 19. Jahrhunderts. Die moderne Legitimation von Sklaverei geht auf spezifische historische Konstellationen zurück: die gleichzeitige Existenz des aufklärerischen Postulats der Gleichheit aller Menschen und der Ausweitung 7

Vgl. dazu die gegenläufige Interpretation Balibars, der diesen Umstand – des Universalismus im Rassismus – als Argument gegen einen positiven Bezug anti-rassistischer Politik auf universalistische Forderungen nimmt (vgl. Balibar 1991: 180f.). Wie auch in seinen Überlegungen zum Klassen-Rassismus umkreist Balibar die Frage nach dem Zusammenhang von Rassismus und Universalismus, indem er verschiedene mögliche Beziehungen zwischen Rassismus und Universalismus diskutiert. (1) der Universalismus zur Durchsetzung von Herrschaftsansprüchen; (2) der innere Zusammenhang von Rassismus, Aufklärung, Fortschrittsdenken und menschlicher Gattung (ebd.: 179); (3) der Universalismus, der schon bei der Bestimmung seines Gegenstandes – der universellen Menschheit – Ausschlüsse fabriziere (ebd.: 180f.); (4) das Komplementaritätsverhältnis zwischen Rassismus/Partikularismus und Universalismus (ebd.: 182); (5) die Universalität des Rassismus (ebd.: 183); (6) die Idee einer (universalen) idealen Gemeinschaft (185). Dieses breit angelegte Beziehungsgeflecht kann Balibar allerdings nur unter der Voraussetzung eines ständig variierenden Universalismusbegriffes in seinem Text behaupten. Und bei aller Kritik am Universalismus warnt auch Balibar davor, »jeglichen Universalismus aufzugeben, denn das hieße, kampflos die Waffen zu strecken« (ebd.: 187).

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des Sklavenhandels (vgl. Lenhard 2021: 60). Gleichwohl kam der Kolonialismus in seiner Hauptphase (Stichwort: Berliner Kongokonferenz 1884/85) im 19. Jahrhundert ohne Rassismus nicht aus. Die Rassentheorien lieferten hier das entsprechende ideologische Material. Kolonialismus geht über die rein imperialistisch motivierte Landnahme hinaus. Er war nie ausschließlich durch ökonomische Motive angetrieben, sondern auch durch Vorstellungen über die Menschen, denen er Land raubte, die er in Arbeit sprichwörtlich vernutzte, die er bereit war zu töten, wenn sie sich der Verwertung entzogen oder wenn sie die koloniale Herrschaft bedrohten. Wo Rassismuskritik aber Kolonialismus, Rassismus und Aufklärung gleichsetzt, schrumpft sie zusammen auf eine »Generalabrechnung mit der Aufklärung als angeblicher Rechtfertigungsideologie imperialistischer Herrschaft« (Claussen 1994: 16). Dabei hatte der Rassismus doch in der »gesellschaftsgeschichtlichen Wirklichkeit die Funktion […], antiuniversale Praktiken zu rechtfertigen« (ebd.: 16f.). Die strenge Ableitung des Rassismus aus der Aufklärung, die Claussen hier kritisiert, wird besonders problematisch, wenn auch der Nationalsozialismus als logische Konsequenz der Moderne betrachtet wird. Wer den Nationalsozialismus nur als Fortsetzung der Rassentheorien, die in der Zeit der Moderne entstanden sind, entschlüsselt, und nicht als barbarischen Versuch, die Widersprüche moderner Gesellschaften aufzuheben, der spielt das Wesen des Nationalsozialismus zur logischen Steigerungsform von Aufklärung herunter (zu dieser Gleichsetzung: Zimmerer 2011; kritisch dazu: Klävers 2019; Gerber 2021).8 Dieses Missverständnis hat fatale Konsequenzen. Denn wie will man den Rassismus bekämpfen – so fragt Claussen in Anlehnung an Adorno –, wenn man zur »Aufklärung sich zweideutig verhält« (Claussen 1994: 17). Welchen Ansatzpunkt kann Rassismuskritik haben, wenn sie sich gegen den emanzipatorischen Grundgedanken einer (selbstreflektierten) Aufklärung stellt? Kritik im emphatischen Sinne, auch solche der Aufklärung, ist eine geistige Verhaltensweise, die durch Aufklärung erst in der Welt ist. Die Umorientierung innerhalb der Linken von »universell begründbaren Paradigmen der Gesellschaftskritik […] zugunsten kulturrelativistischer Argumentationen« (Wolter 2009: 13), insbesondere in den postkolonialen Theorien, führte zwar zu einem neuen Verständnis von Rassismus und neuen Möglichkeiten der Kritik insbesondere in Hinblick auf Sozialisation und Religion. Die Diskreditierung des universellen Emanzipationsgedankens zugunsten kulturrelativistischer Positionen aber arbeitet eher den unverblümt ausgesprochenen Querfront-Bestrebungen neurechter Denker:innen zu als einer emanzipatorischen Veränderung der Gesellschaft. Claussen betont, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus keine logische Folge einer auf die Spitze getriebenen Anwendung der Rassenlehren des 19. Jahrhunderts waren. Es gebe keine einfache Kette vom Wort zur Tat. Die Rassenideologie des Nationalsozialismus legitimierte die deutschen Weltherrschaftsambitionen, die nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg eine neue Rechtfertigung brauchten. Claussen insistiert darauf, die Vernichtungspraxis im Nationalsozialismus nicht einfach nur als Resultat einer

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An diese Kritik der Verwerfung von Aufklärung und Moderne schließt sich eine Kritik des sekundären Antisemitismus an (vgl. dazu: Salzborn 2018: 98–112) sowie eine Kritik an den gegenwärtigen Bestrebungen, Kolonialismus und Nationalsozialismus in einen logischen Entwicklungsprozess zusammenzudenken (vgl. dazu: Klävers 2019).

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Weltanschauung zu begreifen. Ihm geht es darum, das »irrationale Moment des gesellschaftsgeschichtlichen Prozesses jenseits jeder Rationalität der Selbsterhaltung« (Claussen 1994: 3) zu betonen. Es sei ein kritikwürdiges Bedürfnis nach Sinn, das Unbegreifliche, wofür Auschwitz steht, nachträglich durch solche Erklärungen zu rationalisieren. So muss die Annahme, dass die nationalsozialistische Vernichtungspraxis nur eine konsequent fortgeschriebene Entwicklung der in der Moderne angelegten pseudowissenschaftlichen Rassetheorien sei, auch deshalb zurückgewiesen werden, weil die aufgeklärte Moderne gegen ihre postmodernen Kritiker:innen zu verteidigen ist. Diese werfen in antirassistischer Absicht die »gesamte Moderne als rassistisches System« (ebd.: 8) über Bord, weil sie Nationalsozialismus und Rassismus als direkte Folge der Moderne bestimmen. Nicht eine – wie von Horkheimer und Adorno diagnostizierte – Dialektik der Aufklärung wird durchdacht, die sowohl durch die Gleichzeitigkeit von Gleichheit und Ungleichheit sowie Fortschritt und Rückschritt gekennzeichnet ist, sondern Aufklärung gilt als Verbrechen (vgl. ebd.: 6f.). Die Aufklärung wird in manchen Rassismuskritiken (z.B. Said 1993; Diop 2006; Broeck 2011; Mignolo 2011, 2012) auf ein eurozentrisches hegemoniales Vorhaben reduziert. Rassismus entstand explizit als anti-universalistische Ideologie (vgl. Claussen 1994: 16f.). Seine Identifizierung mit dem Universalismus der Aufklärung opfert die Möglichkeit von Kritik und »begibt sich der einzigen intellektuellen Waffe, mit der sich das politische Denken vom Antiuniversalismus des Rassismus unterscheiden kann« (ebd.: 17). Will man die Moderne und ihre Rolle bei der Entstehung des Rassismus erklären, gilt es auch, die verschiedenen Momente des Liberalismus einzubeziehen. Wie Salzborn darlegt, ist es die fehlende Unterscheidung von politischem und ökonomischem Liberalismus, die häufig zu einer grundsätzlichen Ablehnung des Moderneprojektes führe. Der politische Liberalismus tritt als Versprechen von Freiheit und Gleichheit auf; der ökonomische Liberalismus tritt vielen Menschen »in Form von Kapitalismus, Kolonialismus und Imperialismus als Realität der Ausbeutung und Unterdrückung« (Salzborn 2016a: 33) entgegen. Gewiss ist der politische Liberalismus9 von seiner ökonomischen Form bedingt und ist ohne diese nicht zu denken. »Ein und dasselbe Bewegungsgesetz [der Liberalismus, U. M.] hat zwei entgegengesetzte, ineinander verschlungene Tendenzen auf den Weg gebracht: die Fundierung von Menschenrechten, die einen universellen Geltungsanspruch haben, und die weltweite Herstellung einer über den Markt gesteuerten Vergesellschaftung, die ohne die Formulierung der Menschenrechte nicht auskommt, aber zugleich ihre nachhaltige Verwirklichung blockiert.« (Schweppenhäuser 1999: 102) Doch ist auch in seiner Unvollkommenheit dem »noch so kleine[n] Freiheitsversprechen« (Salzborn 2016a: 35) der Vorzug vor der Regression im Kollektiv zu geben. Es geht nicht darum, die Moderne zu glorifizieren, sondern sie in ihrer Dialektik zu begreifen, d.h. sie als Voraussetzung für Mündigkeit, Wissen und Kritik zu verteidigen, auch gegen ihre

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»Freiheit, Sicherheit und Eigentum tragen das Zeichen der gesellschaftlichen Verhältnisse auf der Stirn, der sie entstammen: einer Marktgesellschaft, in der die Menschen als Verkäufer von Waren gegeneinander konkurrieren.« (Schweppenhäuser 1999: 101)

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Selbstgefährdung. Salzborn plädiert für einen »negativen Universalismus« (ebd.: 37), der hinter bestimmte Einsichten nicht zurückfallen dürfe: Das betrifft das Eintreten für die »bedingungslose […] Gleichheit von Menschen als Gattungswesen« und für die daraus resultierenden »gleichen Rechtsansprüche[] für jedes Individuum als Subjekt« (ebd.). Kritische Theorie hat das Interesse, Universalismus von seiner Herrschaftsfunktion zu befreien. Sie richtet sich auch gegen den Verdacht, dass sich hinter dem Universalismus nur eine interessenorientierte Partikularität des Westens tarne. Die universell gültigen Menschenrechte sind der Versuch, Macht zu beschränken, also Partikularinteressen einzugrenzen. Solange also der »Universalismus der Menschenrechte nur Postulat bleibt, wäre es unsere Aufgabe, seiner humanen Substanz Geltung zu verschaffen, ohne das Moment seiner Unwahrheit zu verdrängen.« (Schweppenhäuser 1999: 102) Eine gegen den Rassismus gerichtete kritische Praxis im Sinner Kritischer Theorie würde einem universalistischen Anspruch folgen. Dieser Anspruch darf aber weder die reale Existenz von sozioökonomischer Ungleichheit übergehen, noch darf er das Individuelle unterdrücken, indem er ›Gleichheit‹ zum Ideal aufrichtet – so würde er zum Verbündeten kapitalistischer Gleichmacherei. Dieser Anspruch enthält vielmehr ein Versprechen auf Unversehrtheit, Anerkennung, Würde, Teilhabe – auf die Möglichkeit einer selbstgewählten Differenz, die nicht ›identitär‹, nicht ›Widerspruch‹, nicht vorgezeichnet vom Ganzen wäre. »Eine emanzipierte Gesellschaft jedoch wäre kein Einheitsstaat, sondern die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen. Politik, der es darum im Ernst noch ginge, sollte deswegen die abstrakte Gleichheit der Menschen nicht einmal als Idee propagieren. Sie sollte […] den besseren Zustand […] denken als den, in dem man ohne Angst verschieden sein kann.« (Adorno 1951: 116) Ein reduzierter Universalismusbegriff ermöglicht Forderungen nach der prinzipiellen Gleichheit der Menschen. Er streitet für das emanzipierte Subjekt, das nicht nur ›weiß‹ und männlich ist und/oder nur in bestimmten Regionen der Welt vorkommt. Dass die modernen Ideen von Emanzipation und Aufklärung in privilegierten Verhältnissen entstanden sind, ist ein Argument gegen das Privileg – nicht aber gegen jene Ideen. Dieser Universalismus muss nicht blind sein für unterschiedliche Erfahrungen; er hält aber fest an der prinzipiellen Ausstattung aller Menschen dafür, Erfahrungen zu teilen und empathisch die der anderen anzuerkennen. Dazu zählen vor allem Unterdrückungs-, Gewalt- und Diskriminierungserfahrungen. Ein solcher Universalismus reflektiert sich selbst, und er hört den vom Rassismus betroffenen Menschen zu. Er prüft seine Prämissen stets am konkreten gesellschaftlichen und historischen Fall. Er sucht nach versteckten Macht- und Herrschaftsambitionen in ihm selbst – Ambitionen, die ihn vorschieben, um Ungleichheiten zu legitimieren. Dieser Universalismus gibt der individuellen, nicht der kollektiven Verschiedenheit Raum. Er bildet den Rahmen für das Besondere. Er weist jede auch vorläufige kollektive Zuschreibung zurück, die sich anders als politisch veränderlich und kontingent begründet. Dieser Universalismus ist damit auf der kleinsten Ebene Bündnispartner des Individualismus. Doch der Universalismus kann nicht selbst handeln; er ist kein politischer Akteur, sondern ein Prinzip. Es liegt an den

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einzelnen Menschen, ihr eigenes politisches Handeln in Reflexion der Dialektik der Aufklärung und angesichts der Fallstricke des Anti-Rassismus zu bestimmen.

8.3.2 Subjektivismus und Objektivismus Im Zuge der Rekonstruktion subjektivistischer und objektivistischer Theorien über den Rassismus habe ich dargestellt, dass die prägende Kraft gesellschaftlicher Strukturen allein nicht erklärungsfähig ist für das Phänomen des Rassismus. Der Fokus auf gesellschaftliche Strukturen dethematisiert Handlungsspielräume, Sinnproduktionen und Erfahrungen. Ebenso wenig reicht die Konzentration auf die subjektiven Aspekte: Sie macht sich schnell blind für strukturelle Eigenlogiken menschlichen Handelns, für strukturelle Reflexionshindernisse im Subjekt – aber auch (und das ist Schwerpunkt Kritischer Theorie) für die objektive Produktion von autoritärer Subjektivität. Kritische Theorie ist eine Möglichkeit, am Gegenstand des Rassismus die spezifische Vermittlung von Subjekterfahrung und gesellschaftlicher Objektivität theoretisch herzustellen. Rassismus findet ein Fundament in den Strukturen kapitalistischer Gesellschaften, manifestiert sich in deren Institutionen und bildet sich ab in den Subjekten. In Kritischer Theorie treffen sich strukturorientierter Marxismus – mit seinem Primat objektiver Formbestimmungen und verselbständigter Eigenlogiken – und psychologischer Blick auf die Disposition zur Ansprechbarkeit für rassistische Propaganda. Das potentiell reflexionsfähige Subjekt ist bestimmt durch Gesellschaft. Und als solches ist das Subjekt im Kapitalismus gezwungen, die durch die Vergesellschaftung ausgelösten Ohnmachts-, Entfremdungs- und Unterwerfungserfahrungen zu verarbeiten. Der Rassismus ist solch ein spezifischer Verarbeitungsversuch des Subjekts. Doch ist Kritische Theorie deswegen nicht blind für die spezifischen Erfahrungen und das Leid der vom Rassismus betroffenen Menschen. Deren Erfahrung wird zum Ausgangspunkt für Kritik. In dieser Vermittlung von subjektivistischen und objektivistischen Perspektiven liegt die besondere Stärke Kritischer Theorie. Wer aber kann unter diesen Voraussetzungen Träger gesellschaftlicher Veränderung sein? »Wer glaubt, man könne sich am runden Tisch zusammensetzen und gemeinsam aus gutem Willen herausfinden, was zur Rettung des Menschen, der Innerlichkeit, zur Durchseelung der Organisation oder zugunsten ähnlicher Hoch- und Fernziele zu geschehen habe, verhält sich weltfremd. Er nimmt ein gemeinsames Subjekt der bewußten Gestaltung der Gesellschaft dort an, wo das Wesen gerade in der Abwesenheit eines solchen einstimmigen Subjekts der Vernunft, in der Vorherrschaft der Widersprüche besteht. […]. Gegenüber den kollektiven Mächten, die in der gegenwärtigen Welt den Weltgeist usurpieren, kann das Allgemeine und Vernünftige beim isolierten Einzelnen besser überwintern, als bei den stärkeren Bataillonen, welche die Allgemeinheit der Vernunft gehorsam preisgegeben haben. Der Satz, daß tausend Augen mehr sehen als zwei, ist Lüge und der genaue Ausdruck jener Fetischisierung von Kollektivität und Organisation, die zu durchbrechen die oberste Verpflichtung von gesellschaftlicher Erkenntnis heute bildet.« (Adorno 1953a: 454f.)

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Die Hoffnung setzt Adorno auf den Einzelnen, nicht auf ein Kollektiv, das sich anmaßt, Träger des Wissens über die bessere Gesellschaft oder über deren Realisierung zu sein. Die Emanzipation aus den Verhältnissen, die für die einen Vorteile zulasten der andern bringen, ist allerdings nicht vorrangig eine Frage individueller Willensbekundung und subjektiver Interessen: Sie ist nur als Änderung gesellschaftlicher Strukturen und sie ist nur als Praxis im gemeinsamen Interesse möglich. »[K]ein radikaler gesellschaftlicher Wandel ohne radikalen Wandel der Individuen, die seine Träger sind […], aber auch keine Befreiung des Individuums ohne die der Gesellschaft. Das ist die Dialektik der Befreiung.« (Marcuse 1972: 53f.) Die Verwirklichung des emanzipatorischen Ziels einer Überwindung des Rassismus kann »nur über eine adäquate gesellschaftliche Ordnung erwartet werden […]. Nur in einer freien Gesellschaft kann die Freiheit des Individuums überhaupt angestrebt werden.« (Zuckermann 2018: 25f.) Und dennoch kann es nur das Individuum sein, von dem die Veränderung seiner selbst und der Beginn zur Veränderung der Struktur ausgeht. Rassismuskritik ist und bleibt so aufs engste verknüpft mit der Kritik der Gesellschaft. Aufgabe Kritischer Theorie ist es, den Universalismus als Antwort auf Rassismus zu stärken, ohne die Unwahrheit im Universalismus auszublenden. Die baldige Einrichtung einer befreiten Gesellschaft ist unwahrscheinlich. Dennoch lassen sich einige politische und soziale Schlussfolgerungen formulieren. Der Kapitalismus ist ein Motor zur Erzeugung von Angst, Ohnmacht, Unsicherheit und Ausbeutung. Daher geht es darum, die sozialen Risiken zu minimieren, um Unsicherheit und Ohnmacht sowie reale materielle Not einzugrenzen, gar zu vermeiden. Eine bereits in der frühen Erziehung verankerte Alternative zu üblichen autoritären Mustern und Verarbeitungen gesellschaftlicher Irrationalität und Ohnmacht wäre das wirksamste Gegengift gegen Rassismus. Anti-autoritäre, empathische Ich-Stärke ist immun gegen die Projektionen des Rassismus. Die Erziehung zum anti-autoritären Charakter ist zwar nicht anti-autoritäre Erziehung im bekannten Sinne: Sie verankert aber einen anderen, mündigen, kritischen Umgang mit Autorität. Ein Bewusstsein für entwicklungspsychologische Erzeugung oder Verhinderung autoritärer Muster ist das eine – in der bestehenden Situation bedarf es jedoch vor allem der schonungslosen Verurteilung rassistischer Äußerungen im öffentlichen Raum. Sie würde einer weiteren Normalisierung entgegenwirken. Es besteht zurzeit die Gefahr, »dass diese inhumane soziale Praxis [Ausgrenzung, Ausbeutung und auch Rassismus, U. M.] entsprechend inhumane Einstellungen sukzessiv normalisiert, so dass wir uns am Ende über die Zunahme derartiger Orientierungen nicht mehr wundern sollten bzw. irgendwann gar nicht mehr wundern werden, weil sie uns als selbstverständlich erscheinen.« (Sommer 2010: 299) So ist den vorgestellten Folgerungen der Studie zu demokratiefernen Räumen des IDZ Jena zuzustimmen, »erprobte und erfahrene Konzepte und Träger der Demokratieförderung« in allen gesellschaftlichen Bereichen zu stärken und »solidarische Antworten und Konzepte für den gesellschaftlichen Wandel« nicht auf akademische Kontexte zu beschränken (vgl. Richter/Bösch 2017: 52).

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8.3.3 Natur und Kultur Das letzte diese Arbeit leitende Gegensatzpaar ist das von Natur und Kultur. Beide Begriffe markieren drei Dimensionen des Rassismusbegriffs, denen ich abschließend nachgehen werde. (1) Zunächst vollzieht sich in jedem Rassismus eine Naturalisierung des Sozialen. Der Rassismus sortiert Menschen entlang von Kriterien, die vor allem eine Reihe bestimmter äußerer Merkmale umfassen und versieht die so hergestellten Menschengruppen mit bestimmten Eigenschaften, die über die körperliche Ähnlichkeit weit hinausgehen. Im Rassismus werden menschliche Körper zunächst nur als Exemplar einer Gruppe betrachtet. Der Rassismus stellt die Gemeinschaft in pseudo-biologischen Gruppen (›Volk‹, ›Ethnie‹, ›Rasse‹, ›Kultur‹) vor das Individuum. Ihm ist zudem die Vorstellung immanent, dass es eine naturhafte Essenz (›Rasse‹ oder ›Kultur‹) im Menschen gäbe, die unveränderlich sei und die das Verhalten und die Entwicklungspotentiale von Menschen gleichsam natürlich bestimme. Er schließt dabei von äußeren Erscheinungen auf innere Qualitäten. Der Rassismus hängt an der Vorstellung, dass von ›fremd‹ und ›anders‹ wahrgenommenen Menschen eine Bedrohung für die eigene (Gruppen-)Identität und eine Konkurrenz in sowohl identitärer wie ökonomischer Hinsicht ausgehe. Rassismus generiert sich aus Bildern, Erzählungen und Imaginationen über Gruppen sowie aus Alltagspraktiken, die zumeist unhinterfragt und gewohnheitsmäßig stattfinden. Soziale Ungleichheit hat ihren Grund in jener unveränderlichen natürlichen Essenz des Gruppenmenschen. Rassismus naturalisiert daher nicht nur das Soziale; er ist auch Rechtfertigung von sozialer Ungleichheit und sozialem Ausschluss. Der Rassismus setzt Hierarchisierung oder wenigstens die Behauptung von Unvereinbarkeit verschiedener Gruppen voraus. Dem Rassismus gilt die von ihm geforderte Separierung von Gruppen im Kern als Strategie zur Befriedung der Welt. Vermischungen von ›Rassen‹ und ›Kulturen‹ gelten als Ursache sozialer Konflikte. Schließlich umfasst Rassismus immer die Vorstellung, dass menschliche Anlagen – gleich, ob sie über Blut und Gene, einen ›Volksgeist‹ oder eine ›Kultur‹ weitergegeben werden – geschützt werden müssen, eben weil sie naturhaft sind. Rassismus wähnt sich selbst als Naturschutz. (2) Natur und Kultur können in den ideologischen Bezugspunkten des Rassismus einander ersetzen. Für jede Rassismuskritik ist es daher wichtig, die historisch spezifische Ausprägung und die jeweiligen Entstehungskontexte des zu untersuchenden Rassismus herauszuarbeiten. Ob nun die ›Rasse‹, ein ›Volk‹ oder aber eine ›Kultur‹ oder aber alles gleichzeitig geschützt werden müsse, das ist variabel. Mit den Verschiebungen hin zur Dominanz von ›Kultur‹ in neorassistischen Argumentationen sind weitere Veränderungen verbunden: Rassismus setzt nun weniger auf die Legitimation von Ungleichheit durch ›rassische‹ Differenz als vielmehr auf das »Lob der Differenz« (Taguieff 1991: 242) der Kulturen. Ebenso unterschiedlich sind rassistische Legitimationen sozialer Ungleichheit und Nicht-Dazugehörigkeit: Während Rassismus im 19. Jahrhundert die Sklavenarbeit nachträglich zu rechtfertigen suchte, war es im Kolonialismus die Überausbeutung der Arbeitskraft der Kolonisierten – und der Auftrag der Zivilisierung der naturhaften ›Wilden‹. Heute rechtfertigt sich Rassismus häufig über das Argument der Fremdenangst (insofern ein Naturargument, weil sie als natürlich und überall vorkommend gezeichnet wird), dem Schutz der (abendländischen oder

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christlich-jüdischen) ›Kultur‹ und Zugehörigkeit (»der Islam gehört nicht zu Deutschland«), des Besitzstandsschutzes oder der Ressourcenknappheit (an Wohnraum, Arbeit etc.). Das Verhältnis von Natur und Kultur hat sich auch verändert in Hinblick auf die Konsequenzen, die aus historisch unterschiedlichen Formen von Rassismus gezogen werden. Dem kolonialen Rassismus war die krasseste, körperliche Vernutzung der Rassifizierten das wichtigste Ziel, während der kulturalistische Rassismus sich heute zumeist für eine räumliche Separation einsetzt. Er verteidigt Differenzen der Teilhabe am sozialen Leben, an sozialer Sicherung, am Arbeitsmarkt. (3) Wenn Kritische Theorie des Rassismus in einer dritten Dimension Natur und Kultur thematisiert, dann geht es auch um die verdrängte Natur im Menschen. Nicht seine ›Rasse‹, nicht sein ›Wesen‹, sondern die Beherrschung der inneren Natur im Laufe des Zivilisationsprozesses – und die Verdrängung der Male dieser Beherrschung. Projektionen sind die Konsequenz für zugerichtete, abtrainierte Mimesisvermögen. Projektion bedient sich kultureller Bilder und Imagines, aber sie ist Produkt eines Naturverhältnisses – eines Verhältnisses zur inneren Natur. Projektion entsubjektiviert das Gegenüber – das ist bloße Fläche der eigenen externalisierten Regungen. Entsubjektivierung entspricht aber auch einer allgemeinen gesellschaftlichen Tendenz im Kapitalismus: die Eskalation ökonomischer Austauschbarkeit und Funktionalität des Einzelnen. Rassistische Aggression kann Abwehr und Angst vor der Konkurrenz der Arbeitskraftverkäufer kanalisieren; sie kann aber auch andersherum das projektive Gegenbild bekämpfen – nämlich die, die angeblich unproduktiv und unnütz sind. In beiden Varianten verbrüdert sich der Ungleichmacher Rassismus mit einer Gesellschaft, die die Warenförmigkeit der Arbeitskraft als großen Gleichmacher in ihrem Zentrum hat. Rassismus muss auch als Angst vor dem Rückfall in Natur verstanden werden. Für diesen Rückfall stehen die ›Anderen‹. Aus Perspektive Kritischer Theorie erscheint Rassismus also als Modus des Umgangs mit den Folgen der Unterdrückung von innerer Natur: als Naturverhältnis. Und Kritische Theorie macht diese Zusammenhänge sichtbar als Fragen des Naturverhältnisses – als Probleme gesellschaftlicher Hervorbringungen von innerer und äußerer Natur ebenso wie des Quasi-Natur-Werdens von Gesellschaft. Rassismuskritiken, die vollständig Natur in Konstruktion aufgehen lassen, die Natur in bester Absicht verleugnen, übersehen daher zentrale Motive des Rassismus.

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Danksagung

Das vorliegende Buch ist die leicht veränderte Fassung meiner Habilitationsschrift, die ich im März 2022 an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Rostock eingereicht habe. Viele Ansätze und Anregungen, die in diese Arbeit eingegangen sind, gehen auf Diskussionen in inner- und außerakademischen Räumen zurück. So habe ich unschätzbare Hinweise, Impulse und Kritik in den Kolloquien und Gesprächsrunden mit meinen Gutachtern und Gutachterinnen – Matthias Junge, Karin Stögner und Oliver Decker – erfahren. Ihnen danke ich nicht nur für anregende Diskussionen, sondern auch für die Zeit und Mühe, die ein Gutachten zu erstellen eben bedeutet. Bei Matthias Junge habe ich fast 13 Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin gearbeitet. Ohne sein Vertrauen und den Forschungsfreiraum, den er mir gewährte, würde dieses Buch heute sicher nicht vorliegen. Ich möchte mich zudem bei Robert Kehl, Heike Hausmann, Alexander Maschke, Leo Roepert und Christian Helbig bedanken, die bereit waren, Teile des Manuskriptes zu lesen und mit mir intensiv zu diskutieren. Mein besonderer Dank gilt Dennis Wutzke, der mit viel sprachlichem und sortierendem Geschick sowie theoretischer Expertise die Hochschulschrift-Fassung lektorierte. Nicht zu vergessen ist Romy N. Asmus, die unzählige Bücher herbeigeschleppt, Artikel gescannt und kopiert hat – ihr danke ich daher für die Hilfe bei der Literaturbeschaffung. Danken möchte ich auch dem »Professorinnenprogramm« an der Universität Rostock für einen Lektorats- und Druckkostenzuschuss. Wie immer in solchen Phasen der wissenschaftlichen Qualifikation mussten nahestehende Personen einiges an Missmut und emotionaler Vernachlässigung ertragen. Ich bedanke mich für Nachsicht und Geduld. Für die einmal wöchentlich stattfindende Ablenkung möchte ich meiner Nichte Yuna danken. Unendlicher Dank gebührt meinen Eltern für ihre Liebe, die sie mir stets gaben.

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