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German Pages [225] Year 2019
Nikolaus Knoepffler
Würde und Freiheit Vier Konzeptionen im Vergleich
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495817506
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B
Nikolaus Knoepffler Würde und Freiheit
ALBER PHILOSOPHIE
A
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Nikolaus Knoepffler
Würde und Freiheit Vier Konzeptionen im Vergleich
Verlag Karl Alber Freiburg / München
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Nikolaus Knoepffler Dignity and Freedom Four Conceptions in Comparison December 10, 2018 marks the 70th anniversary of the Universal Declaration of Human Rights of the United Nations. This work compares the concepts of dignity and freedom prevalent in the Declaration with the Christian and Kantian conceptions of these fundamental values. It brings to light how innovative the Declaration truly is, and how this document influenced the first two articles of the Grundgesetz of the Federal Republic of Germany. This comparative analysis of dignity and freedom conceptions demonstrates, why these four conceptions support various ethical responses, for example, in cases of conflict at the beginning and at the end of someone’s life, with questions relating to the permissibility of the death penalty and torture, in cases of struggles for freedom of religion, opinion and conscience, with issues surrounding discrimination based on gender or sexual orientation and questions regarding proper use of the right of asylum. Because this book analyses dignity and freedom within the context of particular ethical conflicts, it challenges our sometimes too simplified understanding and application of these concepts in areas of ethical conflict.
The Author: Nikolaus Knoepffler holds the Chair of Applied Ethics at the University of Jena and is director of the Ethics Centre of Jena University. He is founder and President of the Global Applied Ethics Institute.
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Nikolaus Knoepffler Würde und Freiheit Vier Konzeptionen im Vergleich Am 10. Dezember 2018 jährt sich zum siebzigsten Mal die Verabschiedung der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen. Diese Untersuchung vergleicht das in der Menschenrechtserklärung ausgedrückte Verständnis von Würde und Freiheit mit der christlichen und kantischen Konzeption dieser fundamentalen Werte. So wird deutlich, worin ihr innovativer Charakter besteht und wie sehr diese Erklärung die ersten beiden Artikel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland beeinflusst hat. Zugleich soll der Vergleich der vier Konzeptionen von Würde und Freiheit zeigen, weshalb beispielsweise in Konfliktfällen am Lebensanfang und Lebensende, bei der Frage nach der Zulässigkeit von Todesstrafe und Folter, beim Ringen um Religions-, Meinungs- und Gewissensfreiheit, beim Umgang mit Diskriminierung wegen des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung und bei der Frage nach einem angemessenen Asylrecht diese vier Konzeptionen nicht zu denselben Antworten kommen. Deshalb ist dieses Buch als ein Angebot zu verstehen, sich selbst mit diesen Konzeptionen von Würde und Freiheit auseinanderzusetzen, ihre jeweiligen Voraussetzungen besser zu verstehen und die hier vertretene Interpretation von Würde und Freiheit im Hinblick auf die benannten Konfliktfälle zu beurteilen.
Der Autor: Nikolaus Knoepffler ist Inhaber des Lehrstuhls für Angewandte Ethik an der Universität Jena und Leiter des dortigen Ethikzentrums. Er ist Gründer und Präsident des Global Applied Ethics Institute.
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Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg/München 2018 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-48831-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-81750-6
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Inhalt
Vorwort
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Hinführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 1.1 1.2
1.3
1.4
1.5 1.6
1.7
Würde und Freiheit als Recht auf Selbstbestimmung – die Menschenrechtserklärung . . . . . . . . . . . . . . . Menschenwürde als Kontraposition zum Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Würde im Verhältnis zur Freiheit . . . . . . . . . . . 1.2.1 Freiheit und Menschenrechte . . . . . . . . . . 1.2.2 Zur Frage des Absolutheitsanspruchs . . . . . . Drei Probleme mit der Freiheit . . . . . . . . . . . . . 1.3.1 Milgram-Experiment . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2 Libet-Experiment . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.3 Gedankenexperiment »Nachtzug nach Lissabon« Zwei transkulturelle Gründe der Anerkennung von Würde und Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1 Menschheitserfahrungen . . . . . . . . . . . . 1.4.2 Rationale Begründung . . . . . . . . . . . . . Adressaten der Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte . . 1.6.1 Grenzen des Selbstbestimmungsrechts und des Rechts auf Leben . . . . . . . . . . . . . . . . 1.6.2 Asylrecht und seine Grenzen . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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20
. . . . . . . .
20 26 26 28 30 30 35 38
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39 39 43 47 53
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53 55 56
2
Würde und Freiheit als Aufgabe, Jesus nachzufolgen – das Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Menschenwürde als Produkt einer christlichen Synthese aus biblischer Offenbarung, philosophischem Denken und Rechtsdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
59 7
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Inhalt
2.2 Würde im Verhältnis zur Freiheit . . . . . . . . . . . 2.3 Zwei Probleme mit der Freiheit . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Göttliche Prädestination . . . . . . . . . . . . 2.3.2 Abrahams Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Christliche Begründungen der Würde . . . . . . . . . 2.5 Adressaten der Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6 Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte . . 2.6.1 Grenzen des Rechts auf Leben . . . . . . . . . . 2.6.2 Umstrittene Grundrechte auf Religions-, Gewissens- und Meinungsfreiheit . . . . . . . . 2.6.3 Umstrittenes Grundrecht auf Selbstbestimmung: Sklaverei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.4 Umstrittenes Grundrecht auf Nichtdiskriminierung wegen des Geschlechts . . . . . . . . . 2.6.5 Grenzen des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.6.6 Überbietung eines Asylrechts . . . . . . . . . . 2.7 Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6
3.7
. . . . . . . .
69 76 76 79 83 86 89 90
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. 101 . 106 . 111 . 113 . 116
Würde und Freiheit als Aufgabe, die Menschheit zu achten – Kants »aufklärerische Wende« . . . . . . . . . . . . . . Menschenwürde als Achtung der Menschheit . . . . . . Würde im Verhältnis zur Freiheit . . . . . . . . . . . . Grundproblem der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . Zweifacher Grund der Würde . . . . . . . . . . . . . . Adressaten der Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte . . . 3.6.1 Grenzen des Rechts auf Leben und das Problem der Folter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2 Unumstrittenes Recht auf Religionsfreiheit im Sinn der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.3 Grenzen der Freiheit als Selbstgesetzgebung . . . 3.6.4 Enge Grenzen des Grundrechts auf Asyl . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Würde und Freiheit als Recht zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung – das Grundgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Menschenwürde in enger Verwandtschaft zur Menschenrechtserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
120 120 125 126 132 135 141 141 143 144 147 148
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152 152
Inhalt
Würde im Verhältnis zur Freiheit . . . . . . . . . . . Pragmatischer Umgang mit der Freiheitsproblematik . Der Grund der Menschenwürde . . . . . . . . . . . . Adressaten der Würde . . . . . . . . . . . . . . . . . Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte . . 4.6.1 Grenzen des Grundrechts auf Leben und umstrittene Grenzfälle . . . . . . . . . . . . . 4.6.2 Grenzen des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.3 Subjektives Recht auf ein »menschenwürdiges« Dasein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6.4 Asylrecht und seine umstrittenen Grenzen . . . 4.7 Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
»Familienähnlichkeit« der Würde- und Freiheitskonzeptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Gemeinsames Band . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Wesentliche Unterschiede . . . . . . . . . . . 5.3 Gesamtergebnis . . . . . . . . . . . . . . . .
. . . . .
160 162 163 166 173
. 173 . 181 . 190 . 192 . 194
5
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. . . .
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197 198 198 204
Verwendete Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort
Am 10. Dezember 2018 jährt sich zum siebzigsten Mal die Verabschiedung der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen. In diesem Buch möchte ich aufzeigen, warum sie von herausragender Bedeutung ist und worin ihr innovativer Charakter besteht. Dazu vergleiche ich das in ihr ausgedrückte Verständnis von Würde und Freiheit mit der christlichen und kantischen Konzeption dieser fundamentalen Werte. Darüber hinaus weise ich nach, wie sehr diese Erklärung die ersten beiden Artikel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vorbereitet hat und warum diese Artikel notwendigerweise eine offene Deutungsgeschichte haben müssen. Dabei ist dieses Buch als ein Angebot zu verstehen, sich selbst mit diesen Konzeptionen von Würde und Freiheit auseinanderzusetzen, ihre jeweiligen Voraussetzungen besser zu verstehen und die hier vertretene Interpretation von Würde und Freiheit im Grundgesetz zu beurteilen. Mein herzlicher Dank gilt meinen Kollegen Reiner Anselm, Konrad Hilpert, Hartmut Kreß, Elmar Nass und Jürgen Zerth für wertvolle Hinweise zu einer ersten Fassung dieses Buchs, sowie Johannes Achatz, Luca Färber, Lena Güngör, Philipp Hermann, Robert Ranisch, Tina Rudolph und Christina Knoepffler, die unterschiedliche Fassungen des Buchs kritisch gegengelesen haben. Auch danke ich Frau Gisela Schmidt für ihre Korrekturen sowie Herrn Trabert vom Alber-Verlag für die hervorragende Betreuung. Ich widme das Buch allen Menschen, die wegen ihres Einsatzes für die Menschenrechte verfolgt werden. Jena, 31. Juli 2018
Nikolaus Knoepffler
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Hinführung
Am 15. Februar 2018 wurde der Gladbecker Geiselnehmer und Mörder Dieter Degowski knapp dreißig Jahre nach seinen Verbrechen aus der Haft entlassen und mit einer neuen Identität ausgestattet. Er hatte mit seinem Freund Hans-Jürgen Rösner im August 1988 eine Bank in Gladbeck überfallen und war mit Geiseln geflüchtet. Als die Polizei die Freundin Rösners nicht rechtzeitig freiließ, tötete Degowski eine seiner Geiseln in einem entführten Linienbus, den 14-jährigen Italiener Emanuele De Giorgi, durch einen gezielten Kopfschuss. Nachdem die Geiselnahme mit dem Tod einer weiteren Geisel und eines Polizeibeamten blutig geendet hatte, verurteilte das Gericht Degowski zu einer lebenslänglichen Freiheitsstrafe und stellte die besondere Schwere der Schuld fest, denn er galt als voll schuldfähig, auch wenn sein IQ im unteren Normbereich lag und er eine Sonderschule besucht hatte. Hätte Degowski seine Tat in Texas begangen, wäre er vermutlich zum Tod verurteilt worden. Die Bundesrepublik Deutschland verzichtet dagegen mit Berufung auf ihre fundamentalen Werte, nämlich Menschenwürde und Entfaltung der freien Persönlichkeit, ausdrücklich auf Strafen, die die Existenz einer Person auslöschen, also auf die Todesstrafe, aber auch auf einen realen lebenslangen Freiheitsentzug, wenn die Gefährdungsgründe hinfällig geworden sind. Dies erklärt, warum die Staatsanwaltschaft der Entlassung Degowskis aus der Haft 2018 nicht widersprochen hat. Bereits in den Siebzigerjahren hatte das Bundesverfassungsgericht nämlich im Hinblick auf die verfassungsmäßige Rechtmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe geurteilt, dass die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde den »höchsten Rechtswert« 1 darstellen. Der Mensch wird als ein sittliches Wesen verstanden, das dazu veranlagt ist, »in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten«. Würde, Freiheit und Sittlichkeit werden 1
BVerfGE 45, 187 (227 f.). Auch die weiteren Zitate sind diesem Urteil entnommen.
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Hinführung
eng zusammengedacht. Dabei wird der Mensch einerseits als Selbstzweck verstanden, was bedeutet, dass er nicht vollständig vom Staat instrumentalisiert werden darf, andererseits begrenzt sein Gemeinschaftsbezug seine Freiheit. Das Bundesverfassungsgericht verbindet hier die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland festgelegte Fundamentalnorm der Menschenwürde also ganz wesentlich mit dem Grundrecht auf Freiheit. Dabei wird Freiheit als Selbstbestimmung und Selbstentfaltung der eigenen Persönlichkeit verstanden, die freilich nicht für sich steht und damit unbegrenzt sein kann, sondern in die Gemeinschaft eingebunden ist. Die eigene Freiheit ist durch die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz eingeschränkt. 2 Der eingangs genannte Straftäter Degowski hat das Lebensrecht eines Menschen, die Selbstbestimmungsrechte der Geiseln und damit die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung sowie die sittliche Grundordnung verletzt. Wenn er nach dreißig Jahren unter Auflagen freikommt, weil ihm jetzt zugetraut wird, resozialisiert und damit gesellschaftsfähig zu sein, so ist diese Freilassung in der Öffentlichkeit dennoch so wenig akzeptiert, dass er eine neue Identität benötigt. Ein anderes Fallbeispiel lässt erahnen, wie schwierig das Verständnis von Würde und Freiheit in unserem Rechtsstaat ist. Armin Meiwes, besser bekannt als »Kannibale von Rotenburg«, verteidigte sein Töten und Verspeisen von Bernd Brandes im Jahr 2001 damit, dass diesem kein Unrecht geschehen sei. Brandes habe freiwillig seiner Tötung und seinem Verspeisen zugestimmt. In diesem Sinn hätten beide nur von ihrer Freiheit Gebrauch gemacht. Niemandem sei also ein Unrecht geschehen. Man könne ihm also höchstens das strafrechtlich verbotene Töten auf Verlangen vorwerfen. Aber selbst die Verurteilung wegen Totschlags durch das Landgericht Kassel hob der Bundesgerichtshof (BGH) auf, weil er Mordmerkmale in der Tat sah, nämlich die »Befriedigung des Geschlechtstriebs« 3. Die Verfassungsbeschwerde von Meiwes gegen dieses Urteil nahm das Bundesverfassungsgericht »mit Beschluss vom 8. September 2005 nicht zur Entscheidung an, weil die Verwerfung der auf die Ablehnung einer Tötung auf Verlangen gestützten Sachrüge des Beschwerdeführers durch den Bundesgerichtshof einen Verfassungsverstoß nicht erken2 3
Vgl. Art. 2 (1) GG. BGH, Urteil vom 22. 4. 2005 – 2 StR 310/04.
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Hinführung
nen lasse« 4. Das Verfahren wurde daraufhin an das Landgericht Frankfurt verwiesen, das Meiwes wegen Mordes, u. a. aufgrund sexueller Motive, verurteilte. Meiwes, der mittlerweile seine Tat selbst als abnorm ansieht, wurde in die Justizvollzugsanstalt Kassel II, eine sozialtherapeutische Einrichtung, verlegt. Daraus lässt sich erahnen, dass man trotz seiner grundsätzlichen Schuldfähigkeit dennoch von einer gewissen gestörten Veranlagung ausgeht. Die unterschiedlichen Bewertungen der Tat von Meiwes durch die Gerichte verdeutlicht, wie schwierig es ist, Würde und Freiheit im Sinne des Grundgesetzes zu verstehen und von daher die Strafgesetze angemessen anzuwenden, in welcher Weise also Tötungshandlungen und Körperverletzungen zu bestrafen sind, wenn das Opfer explizit in diese Handlungen eingewilligt hat. 5 Während dieser Fall aber einen sehr exzeptionellen Charakter hat, kann die Schwierigkeit, wie Würde und Freiheit im Sinne des Grundgesetzes zu verstehen sind, noch viel deutlicher im Zusammenhang einer aktuellen Debatte aufgewiesen werden, nämlich der Debatte über die Zulässigkeit der Beihilfe zur Selbsttötung, die zur Neufassung des § 217 StGB führte. Im Jahr 2015 hatte der Bundestag zwischen vier verschiedenen Gesetzesentwürfen zur Frage der Beihilfe zur Selbsttötung zu entscheiden. Diese Entwürfe zeigen, wie interpretationsoffen das Verständnis der Menschenwürde in der Bundesrepublik ist und wie unterschiedlich Art. 1 des Grundgesetzes ausgelegt werden kann. An diesen Entwürfen lässt sich exemplarisch festmachen, wie sehr bis heute darum gerungen wird, ob die Menschenwürde im Grundgesetz im Sinn der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen oder in einem christlichen oder kantischen Sinn zu verstehen ist. 6
Hier zitiert nach BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 07. Oktober 2008 – 2 BvR 578/07 – Rn. (1–42). In diesem Urteil wurde auch die erneute Verfassungsbeschwerde gegen das revidierte Urteil im Jahr 2008 vom Bundesverfassungsgericht nicht angenommen. 5 So ist nach § 216 eine Tötung auch dann strafbewehrt, wenn um diese Tötung voll einwilligungsfähig vom Betroffenen gebeten wurde. Nach § 217 ist die Beihilfe zur Selbsttötung strafbewehrt, wenn die Handlung geschäftsmäßig durchgeführt wird, also auf Wiederholung angelegt ist, und nach § 218 ist eine Körperverletzung trotz Einwilligung des Betroffenen dann strafbewehrt, wenn sie gegen die guten Sitten verstößt. Hierbei ist freilich der Begriff »gute Sitten« sehr deutungsoffen, worauf noch im 4. Kapitel einzugehen sein wird. 6 Vgl. https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2015/kw45_de_sterbebeglei 4
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Hinführung
Im Entwurf von Dörfler, Sensburg, Beyer und Hüppe (alle CDU) wurde die Strafbarkeit der Beihilfe zur Selbsttötung gefordert. Dieser Entwurf zeigte eine große Nähe zu Kants Verständnis der Menschenwürde und der menschlichen Autonomie sowie zu christlichen Überlegungen zur Sterbehilfe. Freiheit wurde hier ausdrücklich von Willkürfreiheit unterschieden. Der Entwurf von Künast (Bündnis90/Die Grünen), Sitte (Die Linke) und Gehring (Bündnis90/Die Grünen) verteidigte das Selbstbestimmungsrecht aufgrund der Menschenwürde und forderte die Straffreiheit der Hilfe zur Selbsttötung: Das Subjekt realisiert sich, indem es sich selbst bestimmt, selbst wenn dies bedeutet, dass es seinen eigenen Tod herbeiführen möchte. In ähnlicher Weise, aber etwas abgeschwächt, sprach sich der Entwurf von Hintze (CDU), Reimann, Lauterbach, Lischka (alle SPD) für eine Zulässigkeit des ärztlich begleiteten Suizids unter bestimmten Vorsichtsmaßnahmen aus. Hier wird nämlich bereits auf einen objektiven Lebensschutz Bezug genommen. Noch vorsichtiger war in dieser Hinsicht der letztlich erfolgreiche Gesetzesentwurf von Brand (CDU), Griese (SPD), Vogler (Bündnis90/Die Grünen) und Terpe (Die Linke), der die Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung verlangte. Zwar wurde auch in diesem Gesetzesentwurf die Menschenwürde in enger Verbindung zur Selbstbestimmung verstanden, dennoch schien die Sorge um den Lebensschutz von größerem Gewicht zu sein. Der Entwurf sah eine Gefahr darin, dass Suizidbeihilfe bei Geschäftsmäßigkeit zur Normalität werden könnte und so der Lebensschutz geschwächt würde. Was könnte der Grund sein, warum es zu einer so wesentlichen Frage vier so divergierende Positionen gibt, obwohl sich alle an der Debatte Beteiligten auf dem Boden des Grundgesetzes verorten und zum Prinzip der Menschenwürde und zur Freiheit des Einzelnen bekennen? Einen Hinweis, woher diese Problematik rührt, hat der ehemalige Bundesverfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde angesprochen, als er davon sprach, dass der freiheitliche, säkularisierte Rechtsstaat von Voraussetzungen lebt, die er nicht selbst garantieren kann. 7
tung/392450, dort auch die entsprechende Verlinkung mit den einzelnen Entwürfen (BT-Drs. 18/5373–76) (zuletzt eingesehen: 30 .07. 2018). 7 Vgl. Böckenförde (2007 [1967]), 229 f. Unter 4.4 wird das Zitat wörtlich und in seinem Gesamtzusammenhang zitiert und auch ausführlich behandelt.
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Hinführung
Doch was sind das dann für Voraussetzungen? Wenn man sich die Debatten zum Verständnis der Menschenwürde und der mit ihr verbundenen Freiheitsspielräume seit Verabschiedung des Grundgesetzes ansieht 8, so lassen sich vor allem drei »Kandidaten« ausmachen: 1. grundlegende Menschheitserfahrungen, die den wesentlichen Grund für die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen von 1948 bildeten; 2. das christlich-naturrechtliche Verständnis von Menschenwürde und Freiheit, insbesondere in seiner katholischen Ausprägung; 3. die kantische Würdekonzeption, die ganz wesentlich auf seinem spezifischen Freiheitsverständnis beruht. Die geschilderten Fälle und das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur lebenslangen Freiheitsstrafe zeigen, warum es nicht möglich ist, über die Würde des Menschen nachzudenken, ohne zugleich Überlegungen zum Freiheitsverständnis anzustellen. Sie lassen auch erahnen, dass es nicht das eine Bekenntnis zu Menschenwürde und mit ihr verbundenen Freiheits- bzw. Menschenrechten gibt. Drei Bekenntnisse ringen hierbei um die Vorherrschaft. Zwei dieser Bekenntnisse, das christliche und das kantische, verbinden trotz unterschiedlicher Begründungsstrukturen Würde und Freiheit eng mit dem Glauben an die Heiligkeit des menschlichen Lebens. Es gibt nämlich gute Gründe, »den Glauben an die Menschenrechte und die universale Menschenwürde als das Ergebnis eines spezifischen Sakralisierungsprozesses aufzufassen – eines Prozesses, in dem jedes einzelne menschliche Wesen mehr und mehr und in immer stärker motivierender und sensibilisierender Weise als heilig angesehen und dieses Verständnis im Recht institutionalisiert wurde […].« 9
Dabei ist es allerdings wichtig, den Begriff »Sakralisierung« nicht misszuverstehen. »Der Terminus ›Sakralisierung‹ darf nicht so aufgefasst werden, als habe er ausschließlich eine religiöse Bedeutung. Auch säkulare Gehalte können die Qualitäten annehmen, die für die Sakralität charakteristisch sind: subjektive Evidenz und affektive Intensität.« 10 Vor dem Hintergrund eines solchen Verständnisses von Vgl. Baldus (2016). Joas 2011, 18. Auf diese »guten Gründe« wird in der Behandlung der Menschenwürde- und Freiheitskonzeption der Menschenrechtserklärung ausführlich einzugehen sein. 10 Ebd., 18. 8 9
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Hinführung
Würde, das mit einer Heiligkeit menschlichen Lebens eng verbunden ist, lässt sich nachvollziehen, warum beispielsweise Gegner aktiver Sterbehilfe sich ausdrücklich auf die Menschenwürde berufen können, die gerade auch die Heiligkeit und Unantastbarkeit menschlichen Lebens selbst gegen die betroffene Person schützt. Anders gelagert ist das »Bekenntnis« aufgrund von Erfahrungen der Verletzungen menschlicher Grundrechte, insbesondere des Rechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit. In diesem Fall geht es nicht um eine Heiligkeit menschlichen Lebens in einem objektiven Sinn, sondern die Menschenwürde ist der Grund dafür, dass die Grundrechte jedes einzelnen Menschen nicht verletzt werden dürfen. Nur so kann jeder seine eigene Persönlichkeit möglichst gut entfalten. In diesem Sinn ist Würde vor allem mit der eigenen Selbstbestimmung verbunden, nicht mit Pflichten, insbesondere nicht mit Pflichten gegen sich selbst. Befürworter aktiver Sterbehilfe begründen ihre Position mit diesem Verständnis von Würde. Jeder sollte selbst bestimmen dürfen, wann und wie er aus dieser Welt gehen möchte. Ganz grundsätzlich gilt: Bis heute wird darum gerungen, wie Würde und Freiheit verstanden werden sollten und was die Voraussetzungen sind, von denen dieses Verständnis gespeist wird. Darum sollen im Folgenden die drei Konzeptionen von Menschenwürde herausgearbeitet werden, die in der bundesdeutschen Diskussion maßgeblich für das Verständnis von Würde und Freiheit im Grundgesetz sind: die Konzeptionen der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, des Christentums und Kants. 11 Anschließend geht es vor diesem Hintergrund darum, das Würde- und Freiheitsverständnis im Grundgesetz zu durchdenken. Dadurch kann abschließend vergleichend gezeigt werden, worin die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede dieser Konzeptionen von Würde und Freiheit liegen. Dabei finden in der Behandlung der Konzeptionen verwandte Fallbeispiele Verwendung, damit die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen diesen Konzeptionen sichtbarer werden. Eine derartige Untersuchung steht allerdings vor einer mehrfachen systematischen Herausforderung. Das Christentum als gelebIch greife dabei auf eigene Vorarbeiten zurück, zu Kapitel 1 und 4 insbesondere auf Knoepffler (2004b), zu Kapitel 2 auf Knoepffler (2012), zu Kapitel 3 auf Knoepffler (2011a, 2014 und 2017). Eine erste Skizze der Grundidee des Buchs habe ich in Knoepffler (2011b) entwickelt.
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18 https://doi.org/10.5771/9783495817506 .
Hinführung
te Religion befindet sich seit seinen Anfängen in einem Entwicklungsprozess und hat vielfältige Gestalt angenommen. Deshalb gehe ich in diesem Fall typologisch vor. Ich kann also nicht den historischen Detailreichtum berücksichtigen. Dennoch lässt sich, dies werden die Ausführungen belegen, ein bestimmbares Freiheits- und Würdeverständnis aufweisen. Kant ist ein klassischer Philosoph, dessen Theorie zwar für viele Menschen eine Quelle der Inspiration ist, der aber dennoch in erster Linie keine juristischen Vorgaben machen, sondern die großen Fragen der Menschheit nach Gott, Freiheit, Unsterblichkeit und damit die Frage nach dem Menschen beantworten wollte. 12 Die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen dagegen ist eine Deklaration auf Weltebene, ein Gegenentwurf zu verbrecherischen Prinzipien, die insbesondere die Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs ermöglichten. Diese Deklaration stellt Idealnormen auf, ist also nicht wie das Grundgesetz auf staatlicher Ebene rechtsverbindlich. Alle drei Traditionen spielen eine entscheidende Rolle für das Verständnis der Menschenwürde und der mit ihr verbundenen Freiheit im Grundgesetz. Darin liegt eine der wesentlichen Ursachen, warum sich Gegner und Befürworter von aktiver Sterbehilfe und Abtreibung auf das Grundgesetz berufen, warum bei der Frage, ob ein von Terroristen entführtes Passagierflugzeug mit dem Ziel, dieses als tödliche Großbombe zu verwenden, abgeschossen werden dürfe, die Mehrheit des Parlaments das Grundgesetz anders verstand als das Bundesverfassungsgericht, warum selbst angesehene Juristen entgegen der herrschenden Meinung den Einsatz von Folter in bestimmten Situationen als nicht grundgesetzwidrig ansehen und warum in der Frage des Umgangs mit Asylsuchenden so erbittert gestritten wird. Auch wenn es grundlegende Gemeinsamkeiten im Verständnis von Würde und Freiheit bei Befürwortern und Gegner gibt, sind diese Wertbegriffe doch so interpretationsoffen, dass konträre Lösungen bestimmter Konfliktfälle möglich scheinen. Die folgenden Überlegungen werden zeigen, was die Gründe hierfür sind und warum das Grundgesetz zwar eine Richtung vorgibt, aber nicht erzwingt.
Vgl. Kant (1968 [1800]), 25: »1) Was können wir wissen? 2) Was sollen wir tun? 3) Was dürfen wir hoffen? 4) Was ist der Mensch?«
12
19 https://doi.org/10.5771/9783495817506 .
1 Würde und Freiheit als Recht auf Selbstbestimmung – die Menschenrechtserklärung
1.1 Menschenwürde als Kontraposition zum Nationalsozialismus »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen« 1, so lautet der erste Artikel der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1948. Die Weltgemeinschaft bildet in dieser Deklaration einen politischen Konsens ab, an dessen Entstehung neben Delegierten aus den USA, Frankreich und Großbritannien u. a. auch Delegierte aus der Sowjetunion, aus China, dem Libanon und Brasilien mitwirkten. Dieser Konsens lässt sich auf die schrecklichen Menschheitserfahrungen zweier Weltkriege zurückführen. 2 Die Menschenrechtserklärung hatte insbesondere die nationalsozialistischen, aber auch die japanischen Menschenrechtsverletzungen während des 2. Weltkriegs vor Augen. Ausdrücklich verweist die http://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf (zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018). Auch die folgenden Zitate der Menschenrechtserklärung werden nach dieser Quelle zitiert. 2 So betont die Charta der Vereinten Nationen von 1945: »Wir, die Völker der Vereinten Nationen, fest entschlossen, künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal zu unseren Lebzeiten unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat, unseren Glauben an die Grundrechte des Menschen, an Würde und Wert der menschlichen Persönlichkeit, an die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie von allen Nationen, ob groß oder klein, erneut zu bekräftigen, Bedingungen zu schaffen, unter denen Gerechtigkeit und die Achtung vor den Verpflichtungen aus Verträgen und anderen Quellen des Völkerrechts gewahrt werden können, den sozialen Fortschritt und einen besseren Lebensstandard in größerer Freiheit zu fördern, […] haben beschlossen, in unserem Bemühen um die Erreichung dieser Ziele zusammenzuwirken.« (https://www.unric.org/html/german/pdf/charta.pdf, zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018). 1
20 https://doi.org/10.5771/9783495817506 .
Menschenwürde als Kontraposition zum Nationalsozialismus
Präambel der Menschenrechtserklärung auf diese »Akte der Barbarei« als Ereignisse, die sich niemals wiederholen sollen. 3 Bei der Abfassung der Menschenrechtserklärung war durch die Nürnberger Prozesse (1945–1946) das Ausmaß der rassistisch motivierten nationalsozialistischen Verbrechen, vor allem gegen Menschen jüdischen Glaubens und jüdischer Herkunft, der Weltöffentlichkeit bekannt. Bereits Anfang Juli 1942 hatten Mitglieder der katholischen Widerstandsgruppe Weiße Rose an der Universität München Flugblätter verteilt, in denen sie die Tatsache benannten, »dass seit der Eroberung Polens dreihunderttausend Juden auf bestialischste Weise ermordet worden sind« 4. Sie sahen darin »das fürchterlichste Verbrechen an der Würde des Menschen, ein Verbrechen, dem sich kein ähnliches in der ganzen Menschheitsgeschichte an die Seite stellen kann« 5. »Zwischen fünf und sechs Millionen Juden« 6 sollten am Ende des Krieges Opfer des nationalsozialistischen Mordprogramms geworden sein. Trotz seiner Singularität war dieser Massenmord freilich nicht das einzige Verbrechen gegen die Menschlichkeit, welches das Gewissen der Menschen in der Welt aufrüttelte. Mordprogramme gegen Menschen mit Beeinträchtigungen, die sogenannte Aktion T4, die als »Gewährung des Gnadentods« durch Hitler beschönigt wurde, die Verfolgung von Homosexuellen und sogenannten »gemeinschaftsfremden« Menschen gehörten zum nationalsozialistischen Programm. Auch verloren Millionen russischer Kriegsgefangener ihr Leben. In den eroberten Gebieten ermordeten die Nationalsozialisten eine große Zahl von Zivilisten. Es war auch die deutsche Luftwaffe, die ohne jede Rücksicht auf die Zivilbevölkerung Warschau, Rotterdam und Coventry in Schutt und Asche setzte, um nur drei der prominentesten Beispiele zu nennen. Aber auch die Japaner leisteten sich bei ihrem Krieg, insbesondere in China, unzählige Gräueltaten. Die Menschenrechtserklärung wendet sich ausdrücklich gegen diese Untaten, wenn sie alle Menschen von Geburt an als frei und gleich an Würde und Rechten erklärt. Die fundamentale Gleichheit aller Menschen wird in Artikel 2 nochmals ausführlich entfaltet:
http://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf (zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018). 4 Hier zitiert nach Friedländer (2008), 895. 5 Ebd., 895. 6 Ebd., 1046. 3
21 https://doi.org/10.5771/9783495817506 .
Würde und Freiheit als Recht auf Selbstbestimmung
»Jeder hat Anspruch auf alle in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Anschauung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand. Des Weiteren darf kein Unterschied gemacht werden auf Grund der politischen, rechtlichen oder internationalen Stellung des Landes oder Gebietes, dem eine Person angehört, gleichgültig ob dieses unabhängig ist, unter Treuhandschaft steht, keine Selbstregierung besitzt oder sonst in seiner Souveränität eingeschränkt ist.« 7
Gleichheit ist also nicht in dem Sinn zu verstehen, dass alle Menschen kontrafaktisch als gleich bezeichnet werden, obwohl jeder von uns einmalig ist. Selbst eineiige Zwillinge unterscheiden sich aufgrund epigenetischer Faktoren und unterschiedlicher Lebensgeschichten ganz wesentlich. Selbst wenn man einen Menschen klonen würde, wäre der geklonte Mensch gerade nicht eine Kopie des Zellkernspenders, sondern hätte analog zu einem Zwilling seine eigene Individualität. Vielmehr meint Gleichheit hier in Absage an die nationalsozialistische Abwertung mancher Menschen aufgrund ihrer Rassenzugehörigkeit, ihrer Religion oder sonstiger Eigenschaften, dass wahrnehmbare Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen gerade nicht rechtfertigen, sie im Hinblick auf ihre Würde und ihre Rechte verschieden zu behandeln. Dabei wird diese Würde bereits im ersten Satz der Präambel der Menschenrechtserklärung als »innewohnende Würde [inherent dignity]« bezeichnet, um deutlich zu machen, dass sie sich keiner Eigenschaften verdankt und auch nicht verloren gehen kann. Diese Bestimmung stellt keine Entscheidung für eine naturrechtliche Begründung dar, da die Mütter und Väter dieser Erklärung sich bewusst nicht auf eine bestimmte philosophische Denkfigur festlegen wollten. 8 In der Präambel wird gerade auf eine naturrechtliche Begründung verzichtet. Dies zeigt sehr deutlich der Zusammenhang, in den diese Bestim-
Ebd. Wie Saure (2017) gezeigt hat, beklagte dies beispielsweise Jacques Maritain, der Sprecher einer Gruppe von Philosophen war, die im Auftrag der UNESCO 1947 die theoretischen Grundlagen der Menschenrechtserklärung erörterte. Trotz seines Bedauerns empfahl er sogar diesen Verzicht auf ein weltanschauliches Fundament in einer pluralistischen Welt mit unterschiedlichen Wahrheitsansprüchen, weil nur so ein praktisch durchsetzbarer Konsens erreicht werden konnte. Vgl. dazu auch Joas (2017), 71–74.
7 8
22 https://doi.org/10.5771/9783495817506 .
Menschenwürde als Kontraposition zum Nationalsozialismus
mung eingebettet ist, denn es werden die schrecklichen Menschheitserfahrungen benannt, die den Anlass für die Abfassung der Erklärung bilden. Allerdings schließt ihr Menschenrechtskatalog an die Menschenrechtserklärung der französischen Nationalversammlung von 1789 und ebenso auch an Formulierungen der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 4. Juli 1776 an, die in der naturrechtlichen Tradition Lockes federführend von Jefferson verfasst worden war: »We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.« 9
Der Pennsylvanische Staatsbote, eine damals in Philadelphia auf Deutsch erscheinende Zeitung, übersetzte diesen Textabschnitt auf folgende Weise: »Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht, dass alle Menschen gleich erschaffen worden, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden [sic!], worunter sind Leben, Freiheit und das Bestreben nach Glückseligkeit.« 10
Vor diesem Hintergrund kann man darum zwar sagen, dass die Menschenrechtserklärung für eine naturrechtliche Begründung offen ist, aber gerade nicht, dass sie naturrechtlich argumentiert. 11 Darüber hinaus wendet sich die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen (1948) Artikel für Artikel gegen die grausamen Menschenrechtsverletzungen, insbesondere der Nationalsozialisten. 12 Deshalb lässt sich das Prinzip der Menschenwürde in diesem Sinne als Kontraposition gegenüber den beiden nationalsozialistischen Prinzipien verstehen und in folgender Weise entfalten:
https://www.archives.gov/founding-docs/declaration-transcript (zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018). Eigentlich lautet der Titel der Erklärung: »The unanimous Declaration of the thirteen united States of America«. 10 https://de.wikipedia.org/wiki/Unabh%C3%A4ngigkeitserkl%C3%A4rung_der_ Vereinigten_Staaten 11 Darum halte ich die Einschätzung Fassbenders (2009, 59): »Indem die Menschenrechtserklärung die ›angeborene Würde‹ und die ›unveräußerlichen Rechte‹ aller Menschen an den Anfang stellt, bekennt sie sich zu einem naturrechtlichen Verständnis der Menschenrechte«, für nicht korrekt. Die Menschenrechtserklärung ist zwar naturrechtlich anschlussfähig, aber sie argumentiert selbst ausdrücklich nicht naturrechtlich, wie noch ausführlich zu zeigen ist (vgl. 1.4). 12 Vgl. Morsink 2000. 9
23 https://doi.org/10.5771/9783495817506 .
Würde und Freiheit als Recht auf Selbstbestimmung
1.
Das Prinzip der Menschenwürde wird als Prinzip eines grundsätzlichen Subjektstatus verstanden: Statt des NS-Prinzips: »Du bist nichts, dein Volk ist alles«, wird jetzt affirmiert, dass der Einzelne nicht für das Volk oder sonstige Ziele aufgeopfert werden darf. 2. Das Prinzip der Menschenwürde beinhaltet zudem auch den Gleichheitsgrundsatz: Statt des NS-Prinzips: »Die arische Rasse ist besonders kostbar, andere Rassen sind als minderwertig zu versklaven oder sogar wie Ungeziefer auszurotten«, wird jetzt die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen affirmiert. Das so verstandene Prinzip der Menschenwürde als Prinzip, das grundsätzlichen Subjektstatus und grundsätzliche Gleichheit affirmiert, ist zugleich ein Freiheitsprinzip. Es ermächtigt den Einzelnen, sein eigenes Leben zu gestalten und zu bestimmen. Das Prinzip der Menschenwürde steht damit nicht nur konträr zu den nationalsozialistischen Prinzipien, sondern beispielsweise auch zu einer Weltanschauung wie dem Marxismus in der Form, wie er im »real existierenden Sozialismus« vertreten wurde. Auch hier wurde nämlich faktisch das erste Prinzip des grundsätzlichen Subjektstatus jedes Menschen preisgegeben, denn nicht der Einzelne zählt, sondern es zählt die Partei bzw. das zu erstrebende Ziel einer klassenlosen Gesellschaft: »Die Partei, die Partei hat immer Recht«, so lautete ein auf vielen Parteitagen gesungener Slogan. Aber auch die Gleichheit galt nicht in derselben Weise, denn Mitglieder der Partei hatten andere Rechte als Nichtmitglieder und wurden in ganz anderer Weise gefördert. Das Prinzip der Menschenwürde, wie es von den Vereinten Nationen vertreten wird, unterscheidet sich aber auch dezidiert von bestimmten ethischen Ansätzen. So negiert beispielsweise der Utilitarismus, wie ihn Bentham (1748–1832) klassisch begründet hat, das erste Prinzip, da der Einzelne für das »Glück« der größtmöglichen Zahl geopfert werden kann. Der Präferenzutilitarismus heutiger Prägung, wie ihn Singer vertritt 13, bestreitet auch das zweite Prinzip der grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen, da seiner Ansicht nach die Präferenzen der einzelnen Menschen nicht gleichwertig sein müssen und manche Menschen überhaupt keine Präferenzen ausbilden können. Letztgenannte sind deshalb auch moralisch nicht zu berücksichtigen, sofern nicht andere Menschen eine indirekte Berücksichti13
Vgl. dazu sein Grundwerk Practical Ethics (Singer (2011)).
24 https://doi.org/10.5771/9783495817506 .
Menschenwürde als Kontraposition zum Nationalsozialismus
gung aufgrund ihrer Präferenzen ermöglichen. Andererseits sind nach Singer nicht-menschliche Lebewesen dann moralisch zu berücksichtigen, wenn sie Präferenzen ausbilden können. Gleichheit bedeutet demnach, gleiche Präferenzen als gleichwertig moralisch zu berücksichtigen. Darum haben diese beiden utilitaristischen Ansätze keinerlei Verwandtschaft mit dem Nationalsozialismus, denn sowohl Bentham als auch Singer ist jeglicher Rassismus, jegliche Benachteiligung aufgrund von Rasse, Religion, politischer Einstellung, Geschlecht usw. fremd. 14 Durch ihre klare Affirmation der Menschenwürde hat die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen gegen alle Positionen, die dies negieren, festgehalten: Alle geborenen Menschen sind unabhängig von aktuellen Eigenschaften, die sie ausdrücken können, durch das Prinzip der Menschenwürde mit unveräußerlichen Rechten »ausgestattet«. Diese Rechte sichern dabei die Freiheit jedes Einzelnen, seine eigene Lebensgeschichte zu schreiben. Sie sind nach der Menschenrechtserklärung nicht von spezifischen Eigenschaften wie Geschlecht, Rassenzugehörigkeit, aber auch Leistungsfähigkeit und sonstigen Fähigkeiten abhängig. Die Rede von der »innewohnenden Würde« unterstreicht dies. Es handelt sich nach von der Pfordten »um eine im Kern unveränderliche, notwendige und allgemeine Eigenschaft […], die nicht erst erworben wird und die nicht verloren werden kann.« 15 Als ethische Folgerung lässt sich von daher aus diesem international anerkannten Prinzip der Menschenwürde erschließen: Nie wieder darf es geschehen, dass Menschen aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit oder aus sonst welchen Gründen, z. B. weil sie den Herrschenden gegenüber missliebige Meinungen vertreten oder geistig beeinträchtigt sind, misshandelt, versklavt oder ermordet werden. Nie wieder dürfen Grundrechte von Menschen verletzt werden. Auch wenn die Menschenrechtserklärung in ihrem Menschenrechtskatalog Teilhabe- und Leistungsrechte formuliert, so sind vor diesem Erfahrungshintergrund doch die fundamentalen AbwehrPeter Singer, dessen jüdische Großeltern von den Nationalsozialisten ermordet wurden, wird manchmal völlig zu Unrecht aufgrund seines Präferenzutilitarismus und damit verbundener medizinethischer Positionen in die Nähe der Nationalsozialisten gerückt. In Deutschland und der Schweiz wurde er am Reden gehindert. Vor diesem Hintergrund ist es sehr wichtig, den wesentlichen Unterschied zwischen einer nationalsozialistischen Einstellung und einer utilitaristischen Ethik zu begreifen. 15 Von der Pfordten (2016, 44). Darauf ist noch ausführlicher einzugehen: vgl. 1.5. 14
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Würde und Freiheit als Recht auf Selbstbestimmung
rechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit die zentralen mit der Menschenwürde verbundenen Menschenrechte. Von daher ist auch sehr gut nachvollziehbar, dass die Menschenrechtserklärung auf einen Menschenpflichtenkatalog verzichtet, denn der Vorschlag des sowjetischen Mitglieds der Redaktionskommission der Menschenrechtserklärung, von einer »Pflicht zur Brüderlichkeit« 16 zu sprechen, wurde nicht angenommen. Selbst die bereits recht schwache Formulierung »sollen einander behandeln wie Brüder« wurde aufgrund der brasilianischen Kritik, hier werde doch implizit eine Menschenpflicht postuliert, abgeschwächt zu »sollen einander behandeln im Geiste der Brüderlichkeit«. Die Menschenwürde und die mit ihr verbundenen Rechte, die Leben und Freiheit gewährleisten, werden zuerkannt, unabhängig davon, ob die betreffenden Menschen sich ihrer würdig zeigen. Doch welche Freiheit hat die Menschenrechtserklärung im Blick?
1.2 Würde im Verhältnis zur Freiheit 1.2.1 Freiheit und Menschenrechte Die Vereinten Nationen haben das Prinzip der Menschenwürde mit grundlegenden Menschenrechten verbunden. Nach dem ersten Artikel: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt 17 und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen«, formulieren die folgenden Artikel grundlegende Rechte, die ausdrücklich als »Freiheiten« konnotiert sind bzw. mit der Freiheit im Sinn persönlicher Selbstbestimmung in enger Verbindung stehen. So lautet Artikel 2: »Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.« Die folgenden Zitate werden nach Tiedemann (2006, 18 f.) wiedergegeben. Dies ist nicht in dem Sinn gemeint, dass der konkrete Mensch Gewissen und Vernunft zeigen muss, schließt also weder gewissenlose Menschen noch geistig schwer beeinträchtigte Menschen aus. Vgl. dazu 1.4.1.
16 17
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Würde im Verhältnis zur Freiheit
Nachdem in Art. 3: »Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person«, dieser Freiheitsanspruch noch ausdrücklich in den Zusammenhang von Leben und Sicherheit gestellt wird, verbieten die folgenden Artikel ausdrücklich die Sklaverei, Sklavenhandel, Leibeigenschaft, Folter und erniedrigende Behandlung, die konträr zum Freiheitsrecht auf Selbstbestimmung stehen. Auch die Forderung nach Gleichheit vor dem Gesetz 18 und der Schutz vor Diskriminierungen kann in diesem Zusammenhang genauso wie die Forderung des Art. 12: »Niemand darf willkürlichen Eingriffen in sein Privatleben, seine Familie, seine Wohnung und seinen Schriftverkehr oder Beeinträchtigungen seiner Ehre und seines Rufes ausgesetzt werden«, als ausdrückliche Absicherung der Freiheit verstanden werden. Besonderes Gewicht legen die Vereinten Nationen in ihrer Menschenrechtserklärung auf die Religionsfreiheit: »Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht schließt die Freiheit ein, seine Religion oder Überzeugung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen zu bekennen.« 19
Allerdings gibt es eine wesentliche Einschränkung der Menschenrechte und der mit ihr verbundenen Freiheiten. Die Menschenwürde des Einzelnen als Freiheit, die eigene Lebensgeschichte zu schreiben, findet logischerweise seine Grenze in der Würde des anderen, der seine Lebensgeschichte schreiben will. Wenn die Menschenrechtserklärung den Begriff der Brüderlichkeit aller Menschen einführt, will sie damit genau diese Grenze beschreiben. Die eigene Selbstverwirklichung hat die Grundrechte der anderen Menschen als Grenzen zu respektieren. Deshalb kann die Menschenrechtserklärung auch unbefangen in ihrem letzten Artikel, Art. 29, eine Pflichtdimension einziehen, die freilich wiederum als im Dienst der Entfaltung der eigenen Persönlichkeit verstanden wird: »Jeder hat Pflichten gegenüber
Die Gleichheit vor dem Gesetz ist nicht mit Gleichheit im Sinn von egalitärer Gerechtigkeit (»allen das Gleiche«) zu verwechseln, denn letztere bedeutet wie schon John Stuart Mill und später Horkheimer betont haben, den Verlust der Freiheit. Letzterer benannte noch kurz vor seinem Tod 1973 prägnant die Problematik: »Je mehr Gerechtigkeit, desto weniger Freiheit, je mehr Freiheit, desto weniger Gerechtigkeit.« Hier zitiert nach Ackermann (2013), 25. 19 Artikel 18. 18
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Würde und Freiheit als Recht auf Selbstbestimmung
der Gemeinschaft, in der allein die freie und vollständige Entfaltung seiner Persönlichkeit möglich ist.« 20 Als Ergebnis lässt sich festhalten: Das Menschenwürdeverständnis der Vereinten Nationen und die mit ihm verbundenen Menschenrechte lassen sich ganz wesentlich als Ermächtigung zur Freiheit als persönlicher Selbstbestimmung verstehen, deren Grenze nur die Rechte anderer Menschen sind. Dieses Verständnis leitet sich fundamental von den Menschheitserfahrungen seiner Verletzung, insbesondere im Zweiten Weltkrieg, ab und stellt, wie der Vergleich zu den Konzeptionen des Christentums und Kants zeigen wird, eine Innovationsleistung höchsten Grades dar, weil die Menschenrechtserklärung die Menschenwürde mit Rechten, nicht mit Pflichten, mit Ermächtigung zu Freiheitsspielräumen, nicht mit Forderungen an den Einzelnen verbindet. Allerdings ist bis heute national umstritten, was dies konkret bedeutet. Ist die Würde des Menschen absolut und damit seine Freiheit als Selbstbestimmung nur durch die Freiheit der anderen Menschen begrenzt oder gibt es doch einen anderen Wert, der noch höher gewichtet wird als die Menschenwürde und die mit ihr verbundene Freiheit?
1.2.2 Zur Frage des Absolutheitsanspruchs »Menschenwürde als verfassungsmäßiges Recht ist die Freiheit einer Person, ihre eigene Lebensgeschichte zu schreiben« 21, mit diesen Worten setzt der ehemalige oberste Richter des höchsten israelischen Gerichts, Aaron Barak, die Begriffe »Würde« und »Freiheit« zueinander in Beziehung. Würde ist dann der Grund von verfassungsmäßig zuzugestehenden Rechten, die uns Freiheitsspielräume ermöglichen. Und doch besteht in der israelischen Rechtsdiskussion des Begriffs der Menschenwürde keine Klarheit darüber, ob beispielsweise die Geiselnahme von Libanesen als »Tauschmittel« für im Libanon vermisste israelische Soldaten rechtens ist oder nicht. 22 Den Grund hierfür hat Barak klar herausgearbeitet: Menschenwürde und Freiheit Vgl. Fassbender (2009), 73. Barak (2015), xix (eigene Übersetzung). Barak war oberster Richter des israelischen Supreme Court. 22 Vgl. Kretzmer (2002), 171 ff. 20 21
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Würde im Verhältnis zur Freiheit
werden im israelischen Recht relativ zum absoluten Wert der Existenz und Grundwerte des Staates Israel gedacht. Menschenwürde und Freiheit sind also nur relative Werte. Wenn die Existenz Israels auf dem Spiel steht, dürfen die Würde und die Freiheit verletzt werden. 23 Dieses Würdeverständnis enthält darum nicht mehr den Absolutheitsanspruch, den die Menschenrechtserklärung der Menschenwürde zuerkennt. Auch in anderen Staaten gibt es Debatten, die in dieser Richtung interpretiert werden können. Beispielsweise wird in den USA, dem sogenannten Land der Freiheit, öffentlich darüber nachgedacht, ob »Terroristen« gefoltert werden dürfen. Obwohl der Supreme Court der USA im ersten, sechsten, achten und vierzehnten Amendment den Begriff »Menschenwürde« verwendet und damit Folter ausgeschlossen sein sollte, da sie die Würde und Freiheit verletzt, verteidigte Donald Trump als amtierender Präsident der USA noch Anfang 2017 Folteranwendung: »Folter funktioniert absolut [Torture absolutely works].« 24 Da in der auf Kuba an die USA verpachteten US Naval Base Guantanamo Bay das US-Rechtssystem und damit auch die US-Verfassung nicht rechtswirksam sind, bleibt die Frage offen, ob im dortigen Militärgefängnis gefoltert werden dürfte, ohne US-Gesetze zu verletzen. In der Auslegung des Würdeverständnisses des Grundgesetzes gab es ebenfalls eine Debatte, ob in ganz bestimmten Extremsituationen gefoltert werden dürfte. Als der Frankfurter Vizepolizeipräsident Daschner dem gefassten Kindesentführer Gäfgen Folter androhte, glaubte er sich aufgrund einer besonderen Notstandssituation im Recht. Er ging davon aus, dass das entführte Kind noch am Leben wäre und dass man es, falls Gäfgen das Versteck nennen würde, noch retten könnte. Selbst renommierte bundesdeutsche Juristen wie Dreier, der Verfasser eines der wichtigsten Grundgesetzkommentare, verteidigten zumindest die Möglichkeit der Folterandrohung trotz der klaren Absolutsetzung von Würde im Grundgesetz. 25 Auf die FolterVgl. Barak (2015), 281 (eigene Übersetzung): »Keines dieser Rechte im Basic Law: Menschenwürde und Freiheit und das Grundrecht Beschäftigungsfreiheit, gelten absolut. Sie sind alle relative Rechte, sie können begrenzt werden.« 24 https://www.youtube.com/watch?v=YXKJkT-nrPo (zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018). 25 Diese Verteidigung sollte Dreier nach einer großen publizistischen Kampagne in überregionalen deutschen Zeitungen seine Ernennung zum Richter am Bundesverfassungsgericht kosten. 23
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Würde und Freiheit als Recht auf Selbstbestimmung
problematik wird im Zusammenhang mit der Behandlung des Grundgesetzes nochmals vertieft einzugehen sein. 26 Jedenfalls zeigen diese Fälle, dass bis heute umstritten ist, was mit Würde als Freiheit, die eigene Lebensgeschichte zu schreiben, in der Menschenrechtserklärung konkret gemeint ist bzw. unter welchen Umständen diese Freiheit begrenzt werden darf. Doch haben wir überhaupt diese Freiheit, unsere eigene Lebensgeschichte zu schreiben, oder sind Freiheit und damit auch Gewissen und Vernunft möglicherweise nur Illusionen, weil entweder unsere Handlungen bei genauem Hinsehen von Autoritäten bestimmt oder sogar vollständig von neuronalen Prozessen determiniert oder nur rein zufällig sind?
1.3 Drei Probleme mit der Freiheit 1.3.1 Milgram-Experiment Die Menschenrechtserklärung betont, dass wir frei und mit Gewissen begabt sind. Wohl die meisten Menschen empfinden sich als frei und dürften bejahen, dass gerade diese Freiheit und damit verbundene mögliche Gewissensentscheidungen unsere Würde realisieren. Aber sind wir wirklich frei? Ist das, was wir Gewissen nennen, die unser Handeln bestimmende Größe? Oder haben wir nur Glück gehabt, wenn wir in einer Weise leben, die uns als Menschen erscheinen lässt, die selbstbestimmt und verantwortlich leben? Anders gefragt: Haben wir wirklich die Freiheitsspielräume, von denen wir glauben, dass wir diese haben? Ein Experiment, das unter dem Namen seines Versuchsleiters, Stanley Milgram, als Milgram-Experiment weltweit Bekanntheit erlangt hat, seitdem mehrfach in unterschiedlichen kulturellen Settings wiederholt wurde und ein vergleichbares bestürzendes Ergebnis in diesen unterschiedlichen Settings zur Folge hatte, kann diese Grundüberzeugung, wir seien in unseren Handlungen frei, erschüttern. 27 In diesem Experiment, das Milgram, Sohn jüdischer
Vgl. 4.6.1. Vgl. Milgram (1997). Man kann sowohl Filmaufnahmen des ursprünglichen Experiments (https://www.youtube.com/watch?v=wdUu3u9Web4, zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018) als auch einer neuen Version, durchgeführt in Großbritannien (https:// www.youtube.com/watch?v=Xxq4QtK3j0Y, zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018), auf
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Drei Probleme mit der Freiheit
Eltern, die noch rechtzeitig vor den Nationalsozialisten in die USA hatten fliehen können, Anfang der Sechzigerjahre durchführte, geht es ganz wesentlich um diese Frage. Hintergrund für den Versuchsaufbau des Experiments war die Erfahrung der Shoa. Wie war es möglich, dass so viele zivilisierte Menschen derartiges unbeschreibliches Unrecht mittragen konnten? Die Probanden rekrutierten sich aus allen Bevölkerungsschichten, im Ursprungsexperiment aus der Umgebung der Universität Yale. Ihnen wurde erklärt, dass es sich um ein Experiment handele, bei dem überprüft werden solle, ob der Lernerfolg durch Strafe erhöht werden kann. Der Prüfling solle Wortreihen lernen. Der Lehrer las dazu Wortpaare vor, die der Prüfling anschließend korrekt wiederzugeben hatte. Bei der Versuchsanordnung bestand das Team aus dem Versuchsleiter, der Autorität, dem Prüfling und dem Probanden, der als Lehrer auch die Strafen austeilen musste, nämlich einen Schalter betätigen, um dem Prüfling einen Elektroschock zu geben. Diese Strafen stiegen bei jeder falschen Antwort des Prüflings um 15 Volt, beginnend mit einem milden Elektroschock von 15 Volt bis zu einem schweren Schock von 450 Volt. Zwar betonte der Versuchsleiter, dass auch der höchste Schock nicht die Gesundheit gefährden würde, die Instrumententafel dagegen signalisierte klar das extrem hohe Risiko dieses Stromschlags. Der Prüfling war ebenso wie der Versuchsleiter in das Experiment eingeweiht, in den Augen des Probanden jedoch ebenso wie er selbst ein Proband, da der Prüfling ihm als Mitproband vorgestellt und nur per manipuliertem Losverfahren die Rollen von Prüfling und Lehrer vergeben wurden. Der Proband musste also davon ausgehen, dass er genauso Prüfling hätte sein können. Der Prüfling wurde auf einem Stuhl in einer Weise angeschnallt, die Assoziationen an den elektrischen Stuhl wachrufen konnte. Durch ein Kommunikationssystem konnte der Proband hören, wie sich der Prüfling über die immer stärker werdenden Stromschläge beschwerte (er hatte zwar keine Schmerzen, da in Wirklichkeit kein Strom floss, aber simulierte diese für das Experiment). Zur Überraschung Milgrams und seines Teams waren 26 von 40 Probanden bereit, dem Prüfling, der sich verabredungsgemäß als sehr lernschwach zeigte, den höchsten Schock zu verabreichen. Dabei konnten die Probanden auf der Apparatur klare Warnhinweise lesen. Bei StuYouTube finden. Vgl. dazu auch teils textgleich meine Überlegungen zu diesem Experiment: Knoepffler (2018).
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Würde und Freiheit als Recht auf Selbstbestimmung
fe 17 begann mit 255 Volt der schwere Schock, bei 315 Volt der sehr schwere Schock und ab 375 Volt stand auf der gut einsehbaren Apparatur »Gefahr! bedrohlicher Schock« 28. Ab der 29. Stufe, also ab 435 Volt, war »XXX« 29 angegeben. Diese Angaben legten den Probanden zumindest die Vermutung nahe, dass dieser Schock im Gegensatz zu den Beschwichtigungen des Versuchsleiters, also der Autorität, tödlich sein könnte. Im Detail ergaben sich folgende Resultate, je nachdem, wie das Experiment konkret ausgestaltet war: • 26 von 40 Probanden gaben den höchstmöglichen Schock bei Fernraum, also wenn der Proband den Schüler weder hören noch sehen konnte. Alle Probanden waren dabei sogar bereit, dem Schüler zumindest einen mittleren Schock zu geben. • 25 Probanden gaben den höchstmöglichen Schock, selbst wenn sie den Schüler hören konnten (akustische Rückkoppelung). Selbst also, wenn die Probanden hören konnten, wie der Prüfling ab der Höhe von 135 Volt mehr und mehr vor Schmerzen schrie, die Einstellung des Experiments forderte und schließlich ab 330 Volt überhaupt nicht mehr antwortete, gaben sie weiterhin die Schocks. • 16 Probanden gaben den höchstmöglichen Schock, selbst wenn sie den Schüler nicht nur hörten, sondern sehen konnten (Raumnähe). • 12 Probanden gaben den höchstmöglichen Schock sogar dann, wenn der Schüler von ihnen berührt werden konnte. Noch bestürzender war, dass sogar 37 von 40 Probanden aus New Haven in einer Variante des Grundexperiments bis zum »bitteren« Ende bereit waren, eine Hilfsleistung zu erbringen, also beispielsweise Wortpaare vorzulesen, wenn nur eine andere Person die Stromschläge gab. Dieses Experiment wurde weltweit in unterschiedlichen kulturellen Settings wiederholt und führte zu einem ähnlichen Resultat. Die überwiegende Anzahl der Probanden ist bereit, einen anderen Menschen, den sie kaum kennen, schwer zu verletzen, vermutlich sogar zu töten, wenn die entsprechende Autorität dies befiehlt. Sogar fast alle sind bereit, Hilfsdienste zu leisten, solange sie nicht selbst die »Grausamkeit« zu begehen haben, also nicht selbst den Schalter mit
28 29
Milgram (1997), 45. Ebd., 45.
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Drei Probleme mit der Freiheit
dem Stromschlag bedienen müssen. Milgram schloss darum aus seinen Forschungsergebnissen: »Dies ist vielleicht die fundamentalste Erkenntnis aus unserer Untersuchung: Ganz gewöhnliche Menschen, die nur schlicht ihre Aufgabe erfüllen und keinerlei persönliche Feindseligkeit empfinden, können zu Handlungen in einem grausigen Vernichtungsprozess veranlasst werden. Schlimmer noch: Selbst wenn ihnen die zerstörerischen Folgen ihres Handelns vor Augen geführt und klar bewusst gemacht werden und wenn man ihnen dann sagt, sie sollen Handlungen ausführen, die in krassem Widerspruch stehen zu ihren moralischen Grundüberzeugungen, so verfügen doch nur vereinzelte Menschen über genügende Standfestigkeit, um der Autorität wirksam Widerstand entgegenzusetzen.« 30
Milgram, aufgrund seiner eigenen Biografie sicher keine Person, welche die Shoa, also das nationalsozialistische Mordprogramm gegen die Juden, verharmlosen wollte, entschuldigte sogar in gewisser Weise die Menschen in Deutschland. Er benannte nämlich einen wesentlichen Unterschied zwischen der Situation seiner Probanden und der Situation in Nazideutschland: »Zumindest ein wesentliches Charakteristikum der Situation in Nazideutschland wurde hier nicht betrachtet: die starke Abwertung des Opfers, ehe Aktionen dagegen unternommen werden. Zehn und mehr Jahre lang bereitete eine heftige antijüdische Propaganda die deutsche Bevölkerung darauf vor, die Vernichtung der Juden hinzunehmen. Schritt für Schritt wurden die Juden aus der Kategorie der Bürger und Landsleute ausgeschlossen, bis man Ihnen endlich den Rang als Menschen absprach. Die systematische Herabwürdigung des Opfers ist eine Maßnahme der psychologischen Rechtfertigung einer brutalen Behandlung des Opfers und lässt sich stets als Begleiterscheinung beim Massenmord, Pogromen und Kriegen feststellen.« 31
Milgram wollte damit klarstellen: Wenn schon die Probanden beim Milgram-Experiment »versagen«, dann wundert es noch weniger, dass die Deutschen es taten, da sie über Jahre hinweg einer heftigen Abwertung der Juden, die, so die nationalsozialistische Propaganda, an allem Unglück Deutschlands Schuld hätten 32, ausgesetzt waren. Milgram (1997), 22. Ebd., 26. 32 Vgl. noch Hitlers Politisches Testament, in dem er paranoid verlangte, dass »auch jenes Volk zur Verantwortung gezogen werden wird, das der eigentlich Schuldige an diesem mörderischen Ringen ist: das Judentum«. Hier zitiert nach Friedländer (2008), 1043. 30 31
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Würde und Freiheit als Recht auf Selbstbestimmung
Milgram beendete seine Zusammenfassung der Ergebnisse der Untersuchung mit einer weiteren, diesmal für alle Kriege typischen Einschätzung, indem er George Orwell zitierte: »George Orwell erfasste den Kern der Sache, als er schrieb: ›Während ich dies schreibe, sitzen über mir hochzivilisierte Menschen in Flugzeugen und versuchen mich zu töten. Sie hegen gegen mich als Individuum keinerlei Feindschaft, wie ich nicht gegen sie. Sie ›erfüllen nur ihre Pflicht‹, wie es so schön heißt. Ich zweifle nicht daran, dass im meisten von ihnen gutherzige, gesetzestreue Männer sind, die im Privatleben nicht einmal im Traum daran dächten zu morden. Wenn es aber andererseits einem von ihnen gelingt, mich mit einer gut gezielten Bomben zu zerfetzen, wird er deswegen keineswegs schlechter schlafen.‹« 33
Milgram hat in seinen sozialpsychologischen Studien in hervorragender Weise nachgewiesen, wie Freiheit und Gewissen durch eine Autoritätsperson missbraucht werden und so viele Menschen zu Handlungen verführt werden können, die anderen Menschen größten Schaden zufügen. Allerdings zeigen diejenigen, die das Experiment abbrachen, dass es nicht dazu taugt, Freiheit vollständig auszuschließen. Andererseits sind diese Personen nicht notwendig ein Beweis für die Realität von Freiheit in einem gehaltvollen Sinn. Selbst Personen, die das Experiment abbrachen, führten entweder stärkere Autoritäten an, z. B. ein Theologieprofessor die Autorität Gottes, oder aber brachen aufgrund eigener Erfahrungen mit dem Missbrauch von Autorität das Experiment ab, so eine aus Deutschland emigrierte Krankenschwester. Vor diesem Hintergrund lässt sich noch radikaler fragen: Sind wir möglicherweise vollständig determiniert, sodass Freiheit eine Illusion ist und die Würde in Wirklichkeit einem Lebewesen zugesprochen wird, das nichts anderes als ein hochentwickelter biologischer Roboter ist, dessen Tun Algorithmen bestimmen, die vor dem Hintergrund von Umweltbedingungen deterministisch ablaufen? 34 Sind also Freiheit, Vernunft und Gewissen letztlich fiktionale Begriffe?
33 34
Ebd., 29. So beispielsweise die These von Hararis (2018) Bestseller Homo Deus.
34 https://doi.org/10.5771/9783495817506 .
Drei Probleme mit der Freiheit
1.3.2 Libet-Experiment Empirisch gesehen, gibt es in unserer Welt keinen voraussetzungslosen Anfang. Alles ist in ein Wirklichkeitsgefüge eingebunden. Jedes Geschehen, auch jedes Handeln und Wollen ist letztlich nicht durchschaubar und mitbedingt von einer Fülle von anderen Ereignissen, anderem Handeln und Wollen. Die Rede von einem absoluten Anfang wird dadurch unsinnig. Es wäre also falsch zu glauben, es sei empirisch möglich, eine unbedingte Freiheit »dingfest« zu machen. Vor dem Hintergrund von Erkenntnissen aus Humangenetik, Neurobiologie und Psychologie gehen Forscher wie Roth und Pauen 35 von vier Hauptfaktoren aus, die unsere Persönlichkeit festlegen: erstens unsere Gene und epigenetische Prozesse, zweitens Besonderheiten der Hirnentwicklung, drittens affektiv-emotionale Erlebnisse vor und in den ersten Jahren nach der Geburt und viertens Erfahrungen in der Jugend. Die ersten beiden Hauptfaktoren bestimmen wesentlich unsere Persönlichkeit, insbesondere »das Temperament einer Person, ebenso wie große Teile ihrer spezifischen Begabungen einschließlich ihres Intelligenzgrades« 36. Der dritte wesentliche Faktor, die affektiv-emotionalen Erlebnisse, prägen die Hirnstruktur. Wenn die Mutter beispielsweise Alkoholikerin ist und deshalb auch während der Schwangerschaft trinkt, verändert dies die Hirnstruktur des Ungeborenen und führt im späteren Leben oftmals zu sozial unerwünschtem Verhalten. 37 Ebenfalls ist es von großer Bedeutung, ob die Mutter bzw. die primäre Bezugsperson bindungsfähig und dies auch für das Kind spürbar ist. Der letzte Hauptfaktor, der jeden Einzelnen wesentlich prägt, besteht in den Einflüssen, denen sich der Jugendliche vor, während und nach der Pubertät aussetzt bzw. ausgesetzt sieht. Hier sind insbesondere die von ihm akzeptierten Peers, also die Personen, deren Normen und Werte er überzeugend findet, sehr wichtig. Durch diese Einflüsse wird seine Persönlichkeit wesentlich sozialisiert. Insgesamt billigen Pauen und Roth dem Einzelnen aufgrund dieser Faktoren höchstens bei »emotional-sozial-rationalen Entscheidungen« 38 in größerem Maß Selbstbestimmung zu. Dabei werden diese Entscheidungen meist aus »guten« Gründen getroffen, 35 36 37 38
Vgl. Pauen/Roth (2008), 100 ff. Ebd., 101. Dies wird als fetaler Alkoholeffekt bezeichnet. Ebd., 106
35 https://doi.org/10.5771/9783495817506 .
Würde und Freiheit als Recht auf Selbstbestimmung
ohne dass dafür die Annahme unbedingter Freiheit nötig wäre. Pauen und Roth gehen vor dem Hintergrund dieser Befunde von einer Vereinbarkeit von Freiheit und Determinismus aus: »So absurd wie die Behauptung, die Texte, Bilder oder Musikstücke [im PC] seien ›in Wirklichkeit nichts anderes‹ als magnetisierte Eisenpartikel, so abwegig wäre die Aussage, geistige Prozesse seien ›in Wirklichkeit nichts anderes als‹ neuronale Aktivitäten.« 39 Noch einen Schritt weiter gehen Interpretationen der Experimente des Physiologen Benjamin Libet zur Handlungsinitiierung. 40 1979 führt er ein Experiment durch, bei dem er die zeitliche Abfolge zwischen bewusster Entscheidung und motorischer Umsetzung der Entscheidung messen wollte. Versuchspersonen sollten sich innerhalb einer bestimmten Zeit entscheiden, die rechte Hand zu bewegen. Dabei hatten sie auf eine »Oszilloskop-Uhr zu schauen, auf der ein Zeiger mit einer Periode von 2,56 Sekunden rotierte« 41. In dem Moment, in dem sie sich entschlossen, die Hand zu heben, sollten sie auf die Uhr schauen und sich die Position des Zeigers merken, so lautete die Vorgabe in einem der Experimente. Sensationell an dem vielfach wiederholten Experiment ist, dass die bewusste Entscheidung zeitlich später zu sein scheint als der Beginn der motorischen Vorbereitung. »Die Experimente zeigten, dass das Bereitschaftspotential im Durchschnitt 550 bis 350ms […] dem Willensentschluss vorausging, nicht mit ihm zeitlich zusammenfiel oder ihm etwa folgte.« 42 Dieses Experiment wurde in modifizierter Form Ende der Neunzigerjahre von Haggard und Eimer 43 in einer verbesserten Variante neu durchgeführt. Jetzt hatten die Probanden die Möglichkeit, frei zu entscheiden, ob sie eine rechte oder eine linke Taste drücken wollten. Auch diese Experimente bestätigten, dass das Bereitschaftspotential vor dem subjektiven Wahrnehmen des eigenen Willensentschlusses gegeben ist, sodass man daraus den Schluss ziehen könnte, dass wir uns nur einbilden würden, wir selbst hätten Entscheidungen bewusst getroffen. Höchstens eine Art Vetomöglichkeit sei der Vernunft zuzubilligen, also ein bereits vorliegendes Bereitschaftspotential aus gu-
39 40 41 42 43
Ebd., 126. Vgl. Libet (1985). Vgl. Pauen/Roth (2008), 75. Ebd., 75. Vgl. Haggard/Eimer (1999).
36 https://doi.org/10.5771/9783495817506 .
Drei Probleme mit der Freiheit
ten Gründen doch nicht zu aktivieren. 44 Allerdings lassen neueste Experimente Zweifel aufkommen, ob das Bereitschaftspotential wirklich unbewusst ist. Lüder Deeke, einer der Entdecker des Bereitschaftspotentials in den Sechzigerjahren, vermutet, dass das Bereitschaftspotential nicht ein Effekt des Unbewussten, sondern eine Folge bewusster Entscheidung ist. Dafür sprächen Experimente mit Bungeespringern, die er zusammen mit seinen Kollegen Nann, Cohen und Soekadar durchgeführt hat. Die Bungeespringer zeigten vor dem Sprung ein erhöhtes Bereitschaftspotential, obwohl es hätte geringer ausfallen müssen, wenn es vom Unbewussten gesteuert worden wäre. Unbewusst, so die Annahme der Forscher, wollen wir gerade nicht in die Tiefe springen, weil dies für uns als lebensbedrohlich wahrgenommen wird. 45 Doch reicht ein solches Freiheitsverständnis, um zu verstehen, warum uns Menschen Würde zukommt? Ein Beispiel kann helfen zu verstehen, wo das Problem liegt. Jeder weiß, dass selbst eineiige Zwillinge trotz aller Ähnlichkeiten unterschiedlich handeln. Dafür gibt es viele Gründe. So haben sie trotz derselben genetischen Voraussetzungen keine absolut identischen Umweltbedingungen, selbst wenn sie ein Leben lang miteinander verbringen. Was aber wäre, wenn – ein reines Gedankenexperiment – die Umweltbedingungen absolut identisch wären? Angenommen, es gäbe eine Zwillingserde, auf der alles genauso wäre wie auf unserer Erde, könnten dann auf dieser Zwillingserde unsere jeweiligen Zwillinge anders handeln als wir auf unserer Erde? Geht man davon aus, dass gilt: Wenn die physischen Eigenschaften auf Erde und Zwillingserde identisch sind, dann sind auch die Bewusstseinsvollzüge auf beiden Erden identisch, dann folgt daraus, dass die jeweiligen Zwillinge die gleichen Bewusstseinsvollzüge haben und damit gleiche Handlungen vollziehen. Dann aber verliert Freiheit ihren spezifischen Sinn, originäre Handlungsermöglichung zu sein. Freiheit ist dann doch nur noch begrifflich von physischen Eigenschaften unterschieden. In Wirklichkeit reduziert sich Freiheit ontologisch auf neuronale Prozesse. Aber würde uns die Alternative helfen, nämlich eine unbedingte Freiheit, sodass unsere Zwillinge auf der Zwillingserde anders handeln könnten als wir auf unserer Erde, obwohl ansonsten alles gleich Aber auch Veto Entscheidungen können unbewusst getroffen werden. Vgl. Kühn/ Brass (2009). 45 Vgl. Nann, M. et al. (2018). 44
37 https://doi.org/10.5771/9783495817506 .
Würde und Freiheit als Recht auf Selbstbestimmung
ist? Wäre ein solches Handeln dann wirklich Handeln aus Freiheit oder nicht nur ein spontanes Tun im Sinne von Zufälligkeit? Taugte eine solche Freiheit als Spontaneität dann dazu, uns als Wesen auszuzeichnen, denen Würde zukommt?
1.3.3 Gedankenexperiment »Nachtzug nach Lissabon« Der Philosoph Peter Bieri ist unter dem Künstlernahmen Pascal Mercier in seinem Roman »Nachtzug nach Lissabon« dieser Frage nachgegangen. Die Hauptfigur des Romans Raimund Gregorius, Lehrer für Latein, Griechisch und Hebräisch an einem Berner Gymnasium, verlässt sein bisheriges Leben aufgrund der Begegnung mit einer Frau und der Entdeckung eines Buchs. Das Faszinierende an diesem Buch besteht darin, dass Gregorius eigentlich nicht die Gründe kennt, warum er sich in den Nachtzug nach Lissabon setzt. Es geschieht in gewisser Weise mit ihm. Er fährt ganz spontan, aber damit auch ganz zufällig mit diesem Zug. Doch kann es eine solche Freiheit geben? So hat beispielsweise Des Bosses in seinem Brief an Leibniz diesem gegenüber diese Widersprüchlichkeit thematisiert: »Ich gestehe, dass die Möglichkeit der Selbstbestimmung ohne eine Ursache oder ohne irgendeine Wurzel der Bestimmung einen Widerspruch impliziert, denn der Wille kann sich nicht selbst wählen oder bestimmen ohne ein Motiv, das immer irgendein ihm vorgesetztes Gut ist.« 46 Angenommen jedoch, es wäre eine derartige Form von Freiheit im Sinn willkürlicher Entscheidungen möglich, also Entscheidungen ohne ein Motiv, die möglich sind, weil wir nicht durch einen äußeren Zwang davon abgehalten werden, ist dies die Freiheit, um die es der Menschenrechtserklärung geht? Wenn die Deklaration davon spricht, dass wir mit Gewissen und Vernunft begabt sind, scheint es ihr jedoch um einen viel gehaltvolleren Begriff von Freiheit zu gehen. Die Menschenrechte von Meinungs-, Gewissens- und Religionsfreiheit beispielsweise sind fundamentale Rechte, weil die Väter und Mütter der Deklaration davon ausgingen, dass wir Menschen die Freiheit haben, unsere eigene Lebensgeschichte zu schreiben, wobei uns unser Gewissen und unsere Vernunft bestimmen. Die gerade behandelte, tiefer gehende philosophische Frage, ob eine solche Freiheit überhaupt möglich sei, wird 46
Des Bosses (2007 [1711]), 206.
38 https://doi.org/10.5771/9783495817506 .
Zwei transkulturelle Gründe der Anerkennung von Würde und Freiheit
nicht thematisiert. Die Menschenrechtserklärung legt stattdessen unbefangen unsere Erfahrung zugrunde, wonach wir uns als frei empfinden. Wie lässt sich dann aber eine so verstandene Würde als Ermächtigung zur Freiheit, sich selbst zu bestimmen, begründen, sodass wir zu seiner Anerkenntnis als absolutem Prinzip bzw. Wert »gedrängt« werden?
1.4 Zwei transkulturelle Gründe der Anerkennung von Würde und Freiheit 1.4.1 Menschheitserfahrungen Menschen haben während des Zweiten Weltkriegs erfahren, was es bedeutet, wenn Menschenwürde und Freiheit nicht anerkannt werden. Die Vereinten Nationen haben vor diesem Hintergrund die Notwendigkeit gesehen, die Menschenwürde und die mit ihr verbundenen Grundrechte zum Fundament einer neuen Weltgesellschaft zu machen. Sie haben sich dabei dafür entschieden, die Menschenwürde nicht naturrechtlich zu begründen, sondern in der Präambel mit einer geschichtlichen Perspektive zu beginnen. 47 Als gemeinsame Wertegrundlage sollte die Menschenrechtserklärung dienen. Sie beginnt sie mit den Worten: »Da die Anerkennung der angeborenen [inherent] Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet, da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Akten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen, und da verkündet worden ist, dass einer Welt, in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Freiheit von Furcht und Not genießen, das höchste Streben des Menschen gilt, da es notwendig ist, die Menschenrechte durch die Herrschaft des Rechtes zu schützen, […], verkündet die Generalversammlung diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als das von allen Völkern und Nationen zu erreichende gemeinsame Ideal […].« 48
Vgl. Dicke (2002), 117. http://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf (zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018).
47 48
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Würde und Freiheit als Recht auf Selbstbestimmung
Die Anerkennung der Menschenwürde im Sinne eines Wertes, der mit Grundrechten verbunden ist, hat ein fundamentales Ziel, nämlich Bedingungen zu schaffen, mit denen menschliches Leben geschützt wird und gelingen kann. Wie gesagt ist es bezeichnend, dass die Vereinten Nationen in der Präambel und auch im weiteren Text darauf verzichten, religiös oder naturrechtlich zu begründen, dass allen geborenen Menschen Menschenwürde zukommt. Dieser Verzicht lässt sich exemplarisch anhand der Entstehungsgeschichte des ersten Artikels der Allgemeinen Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen zeigen, die in der verabschiedeten Fassung mit den Worten beginnt: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren« (»All human beings are born free and equal in dignity and rights«). In einer vorausgehenden Fassung, die das französische Mitglied Cassin zusammen mit dem philippinischen Delegierten Rómulo erarbeitet hatte, lautete die Passage noch: »Alle Menschen (men) sind von Natur aus gleich frei und gleich geboren in Würde und Rechten. Sie sind von Natur aus (by nature) ausgestattet mit Vernunft und Gewissen und sollen einander behandeln wie Brüder.« 49 Damit hätte sie sich in eine Tradition von Naturrechtslehren gestellt, nach denen alle Menschen als von Natur aus gleichermaßen frei und unabhängig verstanden wurden. Der sowjetische Delegierte Pawlow regte schließlich die Streichung von »by nature« an und verwahrte sich auch gegen die Aufnahme eines Gottesbezugs, den der brasilianische Delegierte anstelle des Naturrechtsbezugs vorgeschlagen hatte. Nach weiteren Diskussionsrunden setzte sich schließlich der Vorschlag durch, die weltanschauliche Neutralität der Menschenrechtserklärung dadurch zu gewährleisten, dass weder auf Natur noch auf Gott Bezug genommen wurde. Dem konnte auch der in der Tradition des Konfuzianismus stehende chinesische Delegierte Chang zustimmen, dem es ebenfalls darum ging, »zu verhindern, dass eine einzelne religiöse Tradition oder eine rationalistisch-areligiöse Position sich zur einzigen Begründung aufspreizen könne« 50. Auch wurde Menschen im englischen Original statt mit »men« in der Schlussfassung durch »human beings« wiedergegeben. Zwar wurde und wird immer wieder der Vorwurf erhoben, bei der Menschenrechtserklärung handele es Hier zitiert nach Tiedemann (2006), 18. Auch im Folgenden nehme ich auf Tiedemanns Darstellung der Debatte Bezug (vgl. ebd., 18 ff.). 50 Joas (2015), 73. 49
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Zwei transkulturelle Gründe der Anerkennung von Würde und Freiheit
sich um ein Manifestationsprojekt des Kulturimperialismus. Das vorsichtig gewählte, neutrale Vokabular und die neutrale Begründung entkräften jedoch diesen Vorwurf. Es ist deshalb einfach falsch zu behaupten, die Menschenrechtserklärung repräsentiere in irgendeiner Weise einen westlichen Kulturimperialismus. 51 Der beste Beleg hierfür besteht darin, dass die zustimmenden Staaten alle Kontinente repräsentierten 52 und auch die später unabhängig gewordenen Staaten die Menschenrechtserklärung annahmen. Es sind jedoch nicht nur Unheilserfahrungen, sondern auch Erfahrungen der Faszination für Menschenwürde und mit ihr verbundenen Werten, die bewirkt haben, dass Menschenwürde als Freiheit, die eigene Lebensgeschichte zu schreiben, nicht nur verbal zuerkannt wird, sondern in vielen Gesellschaften ein wirkmächtiges Prinzip, in manchen sogar ein Verfassungsprinzip geworden ist. Was aber heißt hierbei, die Anerkenntnis von Menschenwürde basiere auf Menschheitserfahrungen? Die Verwendung des Begriffs »Anerkenntnis« zeigt an, dass die Menschenwürde sich nicht einer menschlichen Konstruktion verdankt, also beliebig sein könnte. Dagegen lässt diese Sprechweise offen, ob dieses Zum-BewusstseinKommen der Bedeutung der Werte von Menschenwürde und Freiheit sozusagen einer Art Entdeckung dieser Prinzipien und Werte entspricht, so wie es Naturrechtslehren nahelegen würden, oder ob sie als echte geschichtliche Innovation entstanden sind. Gerade die Väter und Mütter der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen haben hierzu keine Entscheidung getroffen. Sie haben aber aufgrund der ausdrücklichen Interventionen der sowjetischen Seite und des Vgl. dazu weitere Belege in Joas (2011), 265–281, sowie Joas (2015). Im letztgenannten Buch widmet sich Joas ausdrücklich der Frage: »Sind die Menschenrechte westlich?«, und weist überzeugend nach, dass die Menschenrechtserklärung das Ergebnis »einer Verständigung zwischen einer Vielfalt von beteiligten Denk- und Kulturtraditionen« (ebd., 74) darstellt. 52 Es stimmten zu: Afghanistan, Ägypten, Äthiopien, Argentinien, Australien, Belgien, Bolivien, Brasilien, Burma, Chile, China, Costa Rica, Dänemark, Dominikanische Republik, Ecuador, El Salvador, Frankreich, Griechenland, Guatemala, Haiti, Indien, Irak, Iran, Island, Kanada, Kolumbien, Kuba, Libanon, Liberia, Luxemburg, Mexiko, Neuseeland, Nicaragua, Niederlande, Norwegen, Pakistan, Panama, Paraguay, Peru, Philippinen, Schweden, Syrien, Thailand, Türkei, Uruguay, Venezuela, Vereinigtes Königreich, USA. Es enthielten sich: Jugoslawien, Polen, Saudi-Arabien, Südafrikanische Union, Tschechoslowakei, Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik, Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, Weißrussische Sozialistisches Sowjetrepublik. Es gab keine Gegenstimmen. 51
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Würde und Freiheit als Recht auf Selbstbestimmung
chinesischen Delegierten auf jeden Bezug zu Naturrechtslehren verzichtet. Versteht man Menschenwürde auf diese Weise, so handelt es sich hier um eine wirkliche historische Innovation. Das mit ihr verbundene, durch Menschenrechte abgesicherte Freiheitsverständnis kann im Unterschied zur Vorstellung einer Konstruktion – darauf weist der Begriff der Erfahrung hin – ihren Evidenzcharakter bewahren, den eine solche Innovation für die Beteiligten aufweist. Menschenwürde und Menschenrechte, so begriffen, leuchten sozusagen unmittelbar ein, wenn sie entstanden sind. 53 Anders ausgedrückt: Wir können uns nicht mehr vorstellen, ohne diesen Wertekomplex auszukommen. Wir erkennen Menschenwürde als Ermächtigung zur Freiheit als Selbstbestimmung und die dafür nötigen Menschenrechte als absolut gültig, als unbedingt an, wohl wissend, dass diese Anerkenntnis zugleich eine Innovation darstellt und es eine lange Zeit gegeben hat, in der diese Werte noch nicht »auf der Welt waren«. Darum kann auch die Metapher der »Geburt« angemessen sein, um auszudrücken, wie »ein historisch neu gesetzter Beginn Unbedingtheit annehmen kann« 54. Die Sprechweise von einer Menschheitserfahrung als Wurzel des modernen Menschenwürdeprinzips und eines Verständnisses von Freiheit, das Grundrechte fordert, enthält einen solchen Evidenzcharakter, dass die mit der Menschenwürde verbundenen Werte des Lebens, der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens aus sich heraus eine große Faszination ausüben. Beispielsweise setzen sich Menschen, die nie Krieg am eigenen Leib erlebt haben, für Frieden in der Welt ein. Wenn heute im Religionsunterricht die Schriftstelle gelesen wird, wie der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs die Ägypter ins Meer Hans Joas (2011, 15) hat dies im Hinblick auf die Menschenrechte exemplarisch ausgeführt: »Während der Begriff der Entdeckung es nahelegt, von einem präexistenten Reich der Werte oder einem objektiv gegebenen Naturrecht auszugehen, klingt ›Konstruktion‹ nach einer willentlichen Erzeugung, von der dann schwerlich Bindungswirkungen ausgehen können, es könnten jedenfalls nur Bindungen einer selbstgewählten Art sein. Der Begriff der Entstehung zielt dagegen darauf, die echte historische Innovation, die etwa die Menschenrechte darstellen, als Innovation kenntlich zu machen und dabei gleichzeitig den Evidenzcharakter zu bewahren, den eine solche Innovation für die Beteiligten auch aufweisen kann. Für die Menschen, die sich an Werte gebunden fühlen, stellen diese Werte ganz offensichtlich das Gute dar, und dies nicht, weil sie das so beschlossen oder sich darauf geeinigt haben.« 54 Ebd., 15. Joas fährt fort: »In diesem Sinne also geht es hier um die ›Geburt‹, die ›Entstehung‹ eines zentralen Komplexes universalistischer Werte und seine rechtliche Kodifizierung.« 53
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Zwei transkulturelle Gründe der Anerkennung von Würde und Freiheit
stürzt und vernichtet und so sein Volk Israel rettet, fragen sich viele Schülerinnen und Schüler: Wie kann Gott nur so grausam sein und so viele Ägypter einfach töten? Für sie sind jetzt vor allem Friedensstifter wie Mahatma Gandhi und Martin Luther King leuchtende Vorbilder. Wenn es aber die geschichtliche Menschheitserfahrung der Grausamkeiten insbesondere des Zweiten Weltkriegs ist, die den Evidenzcharakter einer Anerkenntnis von Menschenwürde und Freiheit und damit von Menschenrechten vornehmlich begründet, warum konnte es dennoch zum Völkermord in Ruanda, zum Massaker von Srebrenica und den grausamen Formen der Bürgerkriege im Kongo, in Syrien, im Irak und in Afghanistan kommen? Zudem lässt sich fragen, ob dieser Erfahrungshintergrund von Verletzungen der Menschenwürde in einer Weise verblassen kann und neue geschichtliche Erfahrungen, insbesondere eines global agierenden Terrorismus, so wirkmächtig werden können, dass Kernbestände der Bedeutung von Würde, z. B. das Folterverbot, aufgegeben werden.
1.4.2 Rationale Begründung Das Prinzip der Menschenwürde und der Wert der Freiheit im Sinn, die eigene Lebensgeschichte zu schreiben, sodass sie durch Menschenrechte abzusichern ist, lässt sich auf einer mittleren, also weltanschaulich voraussetzungsarmen Ebene, rational rechtfertigen. Diese Rechtfertigung setzt wie auch die Menschenrechtserklärung weder theologische noch philosophische Systeme voraus. Sie ist auch nicht mit einer vertragstheoretischen Konstruktion zu verwechseln, die einen bestimmten (fiktiven) Urzustand benötigt. 55 Das Prinzip der Menschenwürde ist nämlich aufgrund realer, konkreter geschichtlicher Erfahrungen als evident anzusehen. Im Folgenden soll auf diese Erfahrungen näher eingegangen werden. Ausgangspunkt ist die subjektive Perspektive. Diese subjektive Wendung erlaubt eine Begründung von Menschenrechten und damit auch von deren Grund, nämlich Menschenwürde und Freiheit, die nur die eine Annahme macht, dass wir als Menschen absichtsvoll Ich entwickle diese Rechtfertigung in Anlehnung an den Ansatz von Gewirth (1978, 1998) und Beyleveld/Brownsword (2001).
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Würde und Freiheit als Recht auf Selbstbestimmung
handeln wollen, also, in Anlehnung an Baraks Bestimmung von Freiheit, unsere je eigene Lebensgeschichte schreiben wollen. Wenn ich meine eigene Lebensgeschichte schreiben möchte, dann beabsichtige ich, bestimmte Lebensziele zu verwirklichen. Um meine Lebensziele verwirklichen zu können, benötige ich dazu die notwendige Bedingung, dass mich die anderen meine Lebensgeschichte schreiben lassen. Daraus ergibt sich folgerichtig, dass es in meinem Interesse ist, dass andere nicht gegen meinen Willen diese allgemeine notwendige Bedingung »verletzen«. Darüber hinaus habe ich sogar den Anspruch, dass man mir hilft, diese allgemeine Bedingung zu sichern, wenn ich dies benötige. Würde mein Interesse von den anderen verletzt, dann würden sie meine Möglichkeit, die eigene Lebensgeschichte zu schreiben, beschränken oder sogar entziehen. Ich muss also fordern, dass die anderen meinen Anspruch, meine eigene Lebensgeschichte zu schreiben, anerkennen. Warum aber sollten das die anderen tun? Wenn sie mir diese Anerkennung verweigern, dann würden sie implizit damit eingestehen, dass man auch ihnen diese Anerkenntnis verweigern dürfte. Dies hätte die Konsequenz der pragmatischen Selbstwidersprüchlichkeit 56, denn dann hätte derjenige, der mir die Anerkenntnis verweigert, meine eigene Lebensgeschichte zu schreiben, zugleich pragmatisch zugestanden, dass auch ihm diese Anerkenntnis verweigert werden könnte. Gerade der Zweite Weltkrieg und die Potsdamer Konferenz 1945 zeigen eindrücklich, wie das Nicht-Anerkennen von Menschenwürde und Menschenrechten schreckliche Konsequenzen hatte. Das nationalsozialistische Deutschland hatte durch seine Herrenmenschenideologie, seinen menschenverachtenden Rassismus und seine zutiefst unmoralische Kriegsführung Millionen von Menschen den Tod gebracht oder anderes schreckliches Leid zugefügt. Auch die japanische Kriegsführung war von schrecklichen Menschenrechtsverletzungen geprägt. Es verwundert darum – realpolitisch betrachtet – nicht, dass die Alliierten nach und nach ebenfalls sehr grausam mit den Deutschen, aber auch den Japanern verfuhren. So hat ihr Bombenkrieg gegen Deutschland und Japan Millionen Zivilisten das Leben Diese Selbstwidersprüchlichkeit ist nicht mit logischer Widersprüchlichkeit zu verwechseln, sondern meint eine Selbstwidersprüchlichkeit auf der Handlungsebene, wie das folgende Beispiel der Potsdamer Konferenz zeigen wird.
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Zwei transkulturelle Gründe der Anerkennung von Würde und Freiheit
gekostet. Aufgrund der mit Flüchtlingen überfüllten ausgebombten Städte wie Dresden schwanken die Zahlen zwischen ein und zwei Millionen, da sich viele der Flüchtlinge nicht bei den Behörden registrieren ließen und so ihr Tod auch nicht dokumentiert wurde. Das großflächige Bombardement des Großraums von Tokio dürfte nicht weniger Tote gefordert haben als die Abwürfe der beiden Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki. Auch bei den Massenvergewaltigungen deutscher Frauen durch russische Soldaten in der Endphase des Zweiten Weltkriegs dürfte der Wunsch nach Rache ein wichtiger Faktor gewesen sein. Von den über 100000 deutschen Kriegsgefangenen der 6. Armee in Stalingrad kehrten weniger als 7000 aus russischer Kriegsgefangenschaft zurück. Die ethnischen Säuberungen des ehemaligen deutschen Ostens und die Zwangsvertreibungen der Sudetendeutschen aus der Tschechoslowakei sowie aus den Balkanstaaten kosteten je nach Berechnung ein bis zwei Millionen Menschen das Leben und führten dazu, dass mehr als 12 Millionen Deutsche (und darüber hinaus Millionen von Polen und anderer Volksgruppen) ihre Heimat verloren. 57 Das Potsdamer Abkommen ließ diese zahlenmäßig wohl größte ethnische Säuberung nicht nur zu, sondern regelte sie im Artikel 13 mit der Folge, dass im Anschluss daran die großen Vertreibungen weitergingen oder sogar, wie im Sudetenland oder Teilen Niederschlesiens, erst richtig begannen. Die Entscheider in Potsdam hatten mit den davon betroffenen Deutschen nach Ende des europäischen Kriegs und der Entdeckung der schlimmsten Verbrechen in den Konzentrationslagern kein Mitleid. 58 Zu präsent waren die nazistischen Gräueltaten. Zudem waren Amerikaner und Briten bemüht, Stalin möglichst weit entgegenzukommen, weil sie den Eintritt der Sowjetunion in den Krieg gegen Japan wünschten, das zum Zeitpunkt der Potsdamer Konferenz noch nicht besiegt war. Zu dieser Zeit ging man noch davon aus, dass die Eroberung der japanischen Hauptinsel bis zu zwei Millionen alliierten Soldaten das Leben kosten könnte. Rein rational lassen sich diese Entscheidungen zu Bombenkrieg und ethnischen Säuberungen im Hinblick auf »die Deutschen« gut Vgl. Erdmann 1986, 385. Allerdings wurde dennoch nicht Gleiches mit Gleichem vergolten, da auf der Potsdamer Konferenz ausdrücklich betont wurde: »Es ist nicht die Absicht der Alliierten, das deutsche Volk zu vernichten oder zu versklaven.« (Artikel III, im Original kursiviert, hier zitiert nach https://potsdamer-konferenz.de/dokumente/potsdamer_pro tokoll.php, zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018).
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Würde und Freiheit als Recht auf Selbstbestimmung
verstehen. Der »nationalsozialistische Übermensch«, der meinte, dass für ihn die Anerkenntnis der Würde und Freiheit keine Geltung hat, wird faktisch zum »Untermenschen«, dessen Würde und Freiheit dann ebenfalls keine Anerkennung mehr findet, zumindest in bestimmten Konstellationen. Allerdings waren die von diesen Entscheidungen Betroffenen – man denke nur an die Polen, aber auch die vielen Deutschen, die das Regime nicht wirklich unterstützten oder noch zu jung waren, als dass man ihnen dafür irgendeine Verantwortung hätte zuschreiben können – unschuldig und wurden so selbst zu Opfern, deren Würde und Freiheit verletzt wurde. 59 Allein diese geschichtliche Erfahrung sollte für alle Menschen »Beweis« genug sein, dass es für alle Menschen selbstschädigend ist, wenn sie einander Würde und Freiheit absprechen, weil sie dann, wenn sich die Umstände ändern, selbst fürchten müssen, dass ihnen die Möglichkeit genommen wird, ihre eigene Lebensgeschichte zu schreiben. Diese rationale Begründung der Menschenwürde kann also sehr gut erklären, warum die zur Anerkenntnis von Menschenwürde konträren nationalsozialistischen Prinzipien nicht nur als menschenverachtend empfunden werden, sondern zudem irrational, weil pragmatisch selbstwidersprüchlich sind. Im Falle des Nicht-mehr-der-Stärkere-Seins führt die Anwendung dieser Prinzipien dazu, dass die eigene Würde und Freiheit nicht mehr durch den dann Stärkeren geachtet werden, sofern er zumindest in bestimmten Fällen diese Prinzipien nun gegen die Unterlegenen anwendet. 60 Eine derartige zweifache Rechtfertigung aus Erfahrungen und aus rationalen Interessenserwägungen lässt eine wichtige Frage offen: Wer ist der Adressatenkreis der Menschenwürde und der Freiheit? Die Menschenrechtserklärung spricht unbefangen davon, dass alle Menschen frei und gleich an Würde und Rechten geboren und dass sie mit Vernunft und Gewissen begabt sind. Doch wissen wir, Wenn die Konferenz davon sprach: »[…] das deutsche Volk fängt an, die furchtbaren Verbrechen zu büßen, die unter der Leitung derer, welche es zur Zeit ihrer Erfolge offen gebilligt hat und denen es blind gehorcht hat, begangen wurden« (ebd., Artikel III), so zeigt sich hier eine typische Form einer Kollektivschuldzuweisung. 60 Wenn Frick (2017, 136, teils Gewirth zitierend) bezweifelt, dass der Einzelne »nun aber unter Androhung des Verdikts eines Selbstwiderspruchs […] genötigt sein soll zu akzeptieren ›that all other agents also have rights with his or her own‹«, verfehlt sie den entscheidenden Punkt der Argumentation. Es geht nicht darum, dass sich Menschen faktisch anders verhalten, als es pragmatisch vernünftig wäre, sondern aufzuzeigen, warum es gerade aufgrund geschichtlicher Erfahrungen vernünftig ist, Menschenwürde und Menschenrechte gegenseitig anzuerkennen. 59
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Adressaten der Würde
dass es Menschen zu geben scheint, die nicht, noch nicht oder nicht mehr mit Gewissen und Vernunft begabt sind. Auch äußert sich die Menschenrechtserklärung weder über Ungeborene noch über nichtmenschliche Lebewesen. 61
1.5 Adressaten der Würde Die Menschenrechtserklärung spricht explizit nur von geborenen Menschen. Ihnen allen kommt Würde als Ermächtigung zur Freiheit zu. Sie alle werden als mit Gewissen und Vernunft begabt vorgestellt. Diese Aussage ist empirisch gesehen kontrafaktisch, da es Menschen gibt, die geistig so schwer beeinträchtigt sind, dass sie niemals aus Gewissens- oder Vernunftgründen handeln können. Auch Neugeborene, selbst Kleinkinder sind weit davon entfernt, ein Gewissen entwickelt zu haben oder aus Vernunftgründen handeln zu können. Demente Menschen können ebenfalls ab einem gewissen Schweregrad der Erkrankung nicht mehr als mit »Gewissen und Vernunft begabt« angesehen werden. Andererseits scheint es bestimmte Tiere zu geben, die uns den Eindruck vermitteln, sie hätten Vernunft und möglicherweise sogar ein Gewissen. Wie die Debatten bei der Entstehung der Menschenrechtserklärung nahelegen, war jedoch diese Extensionsproblematik, also die Problematik, wer alles zum Adressatenkreis derjenigen gehört, die mit Gewissen und Vernunft begabt sind, nicht Thema der Beratungen. 62 Vielmehr ging man wie selbstverständlich davon aus, dass die Würde allen geborenen Menschen zuzuerkennen ist: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Damit sind Menschen unabhängig von aktuellen Eigenschaften, die sie zeigen, eingeschlossen. Indirekt werden damit auch die Tötung von Menschen, die die Nationalsozialisten als »unwertes Leben« diffamierten, und alle damit vergleichbaren Handlungen als Verbrechen gegen Menschenwürde und Menschenrechte gebrandmarkt. Menschenwürde als Ermächtigung zur Freiheit, seine eigene Lebensgeschichte zu
Auch scheinen diejenigen Menschen, die noch gar nicht existieren, keine Rolle zu spielen. Dürfen wir die Lebensgrundlage kommender Generationen aufs Spiel setzen, die diesen ermöglicht, ihre eigene Lebensgeschichte zu schreiben? Auf diese wichtige Frage kann jedoch im Rahmen dieses Buchs nicht weiter eingegangen werden. 62 Vgl. Tiedemann (2006), 21. 61
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Würde und Freiheit als Recht auf Selbstbestimmung
schreiben, ist eben nicht von spezifischen Eigenschaften wie Geschlecht, Rassenzugehörigkeit, aber auch Leistungsfähigkeit und sonstigen Fähigkeiten abhängig. Jedem geborenen Menschen kommt diese Würde zu. Sie ist sein genuines Recht. Dieser Rechtsanspruch, der gerade an keine andere Eigenschaft als die des Menschseins auf dieser Welt geknüpft ist, entspringt der Erfahrung, was es bedeutet, wenn dieses Recht von konkreten Eigenschaften geborener Menschen abhängig gemacht wird: Menschen können dann aufgrund bestimmter Eigenschaften aus der Rechtsgemeinschaft ausgeschlossen und ermordet werden, wofür stellvertretend der Name »Auschwitz« steht. Jede Inanspruchnahme der Definitionsgewalt darüber, wer zum Kreis der von ihm zu respektierenden menschlichen Wesen gehört, ist gleichbedeutend »mit der Ermächtigung eines letztlich willkürlich zusammengesetzten Kreises seiner Bürger, das aus diesem Kreis ausgeschlossene menschliche Leben daraufhin zu beurteilen, ob und inwieweit seine Zulassung zu diesem ausgewählten Zirkeln den Interessen der bereits zu ihm Gehörigen dient oder nicht.« 63 Also darf es eine derartige Definitionsgewalt eines privilegierten Kreises von Menschen nicht geben. Dahinter steht die Überzeugung, dass die Würdeanerkenntnis eben nicht von Eigenschaften abhängig, sondern ein Status ist. Dafür steht der Begriff »inherent«: »Würde ist ein Status, kein Verdienst.« 64 Die so verstandene Menschenwürde ist damit von einem Würdeverständnis »in jenem schwachen Sinn, in dem wir auch dem menschlichen Leichnam ›Würde‹ zusprechen« 65, zu unterscheiden. Diese schwache Würde wird nicht dadurch verletzt, dass Rechte irgendeines existierenden Individuums missachtet werden. Genau darum aber geht es bei der Bestimmung von Menschenwürde als prinzipieller Gleichheit und prinzipiellem Subjektstatus. Die Rede von der Würde Verstorbener ist deshalb nur in einem übertragenen Sinn zu verstehen, denn auch diese Würde kann schon rein begrifflich gerade nicht prinzipiellen Subjektstatus und prinzipielle Gleichheit zugestehen, denn Verstorbene sind nicht mehr Subjekte und Personen. Das lässt sich leicht an einem einfachen Beispiel verstehen: Wenn zwei Schweidler (2003), 25. Schweidler (2018), 77. Vgl. Schaber (2017), 49: »Die Würde des Menschen kommt uns als Menschen und nicht als Inhaber sozialer Funktionen zu, die wir nur haben, sofern sie uns sozial zugeschrieben wurden. Und wir können die Menschenwürde auch nicht verlieren, weil sie auf Eigenschaften beruht, die wir als Menschen haben.« 65 Birnbacher (2001), 400. 63 64
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Adressaten der Würde
Boote in Seenot sind, wovon das eine Boot einen lebenden Menschen, das andere Boot einen menschlichen Leichnam »beherbergt«, dann ist es Pflicht, den lebenden Menschen zuerst zu retten, selbst wenn der Leichnam in einem kostbaren Sarg liegt. Die Würde des Leichnams ist nämlich nur eine nachhallende Würde der ehemalig lebenden Person. Deshalb bezieht sich die Menschenwürde als Status in der Menschenrechtserklärung auf lebende, geborene Menschen. Was aber bedeutet dies für Embryonen und Föten? Die Deklaration äußert sich nicht dazu, ob die Anerkenntnis von Menschenwürde auch vor der Geburt von Bedeutung ist. Eine Konsequenz hieraus mag sein, dass bis heute renommierte internationale Gerichte in dieser Frage keine direkte Antwort geben. Explizit lässt sich dies an einem Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) in Straßburg zeigen. Dabei ging es um eine Klage gegen den französischen Staat, der einen Arzt, der einen Abgang des Embryos gegen den Willen der Mutter verschuldet hatte, nicht wegen fahrlässiger Tötung belangte. Der EGMR urteilte am 8. Juli 2004 mit 14 zu 3 Stimmen in folgender Weise: »Nach Ansicht des GH ist es daher weder wünschenswert noch möglich, die Frage, ob das ungeborene Kind ein durch Art. 2 EMRK [Europäische Menschenrechtskonvention] geschützter Mensch ist, in abstracto zu beantworten. Im vorliegenden Fall hält er es nicht für notwendig zu prüfen, ob das abrupte Ende der Schwangerschaft der Bf [Beschwerdeführerin] in den Anwendungsbereich des Art. 2 EMRK fällt, da selbst unter der Annahme der Anwendbarkeit dieser Bestimmung kein Versäumnis des belangten Staates vorliegt, den Erfordernissen des Schutzes des Lebens im Bereich der öffentlichen Gesundheitsfürsorge zu entsprechen. Der G [Gerichtshof] hat diesbezüglich untersucht, ob der rechtliche Schutz, den Frankreich der Bf hinsichtlich des Verlusts ihres ungeborenen Kindes einräumte, den verfahrensrechtlichen Erfordernissen des Art. 2 EMRK entsprach. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, dass das Fehlen eines eindeutigen rechtlichen Status des ungeborenen Kindes dieses nicht notwendigerweise jeglichen Schutzes durch das französische Recht beraubt. Das Leben des Fötus war eng mit jenem seiner Mutter verbunden und konnte durch sie geschützt werden, insbesondere da kein Konflikt zwischen seinen Interessen und denen der Mutter bestand, sondern der Verlust des Fötus durch die fahrlässige Handlung eines Dritten verursacht wurde.« 66
https://www.ris.bka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=Justiz&Dokumentnummer= JJT_20040708_AUSL000_000BSW53924_0000000_000, (zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018).
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Würde und Freiheit als Recht auf Selbstbestimmung
Damit ist aber klar, dass der EGMR zwar die Schutzmöglichkeit offen lässt, aber gerade nicht das mit der Menschenwürde verbundene Recht auf Leben auf Ungeborene ausweitet. Auch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Patentierung von aus menschlichen Embryonen gewonnenen Stammzellen aus dem Jahr 2011 fällt keinerlei Grundentscheidung in der Sache, zumal es um die Frage ging, ob eine Stammzelle ein Embryo ist: »Es ist Sache des nationalen Gerichts, im Licht der technischen Entwicklung festzustellen, ob eine Stammzelle, die von einem menschlichen Embryo im Stadium der Blastozyste gewonnen wird, einen »menschlichen Embryo« im Sinne von Art. 6 Abs. 2 Buchst. c der Richtlinie 98/44 darstellt.« 67 Diese Urteile zeigen, dass nicht das Prinzip der Menschenwürde hier als solches deutungsoffen ist, sondern vielmehr die eigentliche Frage eine anthropologische ist: Ist bereits der frühe menschliche Embryo als ein Mensch zu identifizieren, dem Menschenwürde zukommt, oder ist er zwar ein menschlicher Organismus, aber eben gerade noch kein Mensch im Vollsinn des Wortes. Diese Frage hat jedoch nichts mit dem Verständnis von Menschenwürde zu tun, sondern ist dieser sozusagen vorgeordnet und wird von den Gerichten den einzelnen Staaten zur Entscheidung überlassen. Die Menschenrechtserklärung selbst hat mit ihrer Beschränkung auf die geborenen Menschen weder den Konfliktfall der Abtreibung in den Blick genommen noch für erst nach der Verabschiedung entstandene Konfliktfälle eine Antwort geben können. Sie hat sich schlicht zum vorgeburtlichen menschlichen Leben und seinem moralischen Status, also ob ihm Menschenwürde zukommt, nicht geäußert. Der Grund hierfür ist ein sehr einfacher. Die Menschenrechtserklärung will die Menschenwürde in dem Sinn affirmieren, dass mindestens alle geborenen Menschen als Subjekte und Gleiche anzuerkennen sind. Die Menschenwürde ist darum immer dann verletzt, wenn Menschen, wie bei der Shoa geschehen, aufgrund von
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte (Große Kammer) (2004): Beschwerdesache Vo gg. Frankreich, Urteil vom 8. 7. 2004, Bsw. 53924/00. In: https://www.ris. bka.gv.at/Dokument.wxe?Abfrage=Justiz&Dokumentnummer=JJT_20040708_AUS L000_000BSW53924_0000000_000, (eingesehen 30. 07. 2018). Dennoch wird dieses Urteil immer wieder in der Weise interpretiert, als wäre damit der Embryo als Grundrechtsträger anerkannt worden.
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Adressaten der Würde
Eigenschaften aus dem Kreis der Menschen ausgeschlossen und ermordet werden. Auch im Hinblick auf das Lebensende schweigt die Menschenrechtserklärung. Sie hat sich nicht dazu geäußert, wann ein Mensch als tot gilt. Bis heute gibt es auch keine weiterführende Auslegung, die klären würde, welches Todeskriterium entscheidend ist. Man kann aber davon ausgehen, dass hier dasselbe gilt, was für das vorgeburtliche Leben durch Gerichte ausgesagt wurde. Dies wird den einzelnen Staaten zur Entscheidung überlassen. Wenn die Menschenrechtserklärung ausdrücklich nur von Menschen, nicht aber von Tieren spricht, hat dies einen einfachen Grund: Die Tiere und ihr moralischer Status standen bei ihrer Abfassung nicht zur Debatte. Man ging damals davon aus, dass nur Menschen mit Gewissen und Vernunft begabt sind. 68 Sollte es jedoch Staaten geben, die kognitiv hochstehenden Tieren eine Würde zuerkennen, dann hätten diese Tiere dieselben Grundrechte wie wir Menschen. Diese Würdeanerkenntnis wäre nicht mit dem Reden von einer »Würde der Kreatur« zu verwechseln. Die Rede der Schweizer Verfassung von der »Würde der Kreatur« 69 hat also mit Menschenwürde im Sinn prinzipieller Gleichheit und prinzipiellen Subjektstatus nichts zu tun, sondern soll die Achtung vor allem Lebendigen als eine Grunderfahrung, die nochmals von allen konkreten Eigenschaften abstrahiert, ausdrücklich machen. Diese Achtungsdimension ist das Band, welches diesen Würdebegriff mit dem Begriff der Würde in »Menschenwürde« verbindet und ein Verbot einschließt, Lebewesen in einer Weise zu instrumentalisieren, die jeden Respekt vor ihnen vermissen lässt. 70 Dabei wird die Selbstzwecklichkeit der Lebewesen ontologisch verstanden: Lebewesen haben eine innere Struktur, die sie zur Vollendung bringen wollen. Diese im Sein des Tieres angelegte Selbstzwecklichkeit darf jedoch gerade nicht mit dem Menschenwürdeverständnis der Vereinten Nationen verwechselt werden. Im Unterschied zur Menschenrechtserklärung wird nämlich in der Schweizer Verfassung allem Lebendigen gerade kein prinzipieller
Der libanesische Delegierte Malik betonte, »dass es nun einmal Vernunft und Gewissen seien, die den Menschen vom Tier unterscheiden. Damit konnte er Chang überzeugen und sogar der sowjetische Delegierte Pawlow stimmte der Auffassung Maliks zu« (Tiedemann (2006), 19). 69 Artikel 120 Abs. 2. 70 Vgl. Kunzmann (2010) und Odparlik (2010). 68
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Würde und Freiheit als Recht auf Selbstbestimmung
Subjektstatus und keine prinzipielle Gleichheit zugebilligt. Vielmehr geht es um eine nicht näher bestimmte Achtung vor der Integrität nicht-menschlicher Lebewesen 71, während die Menschenwürde als Freiheit, die eigene Lebensgeschichte zu schreiben, nicht gradualisierbar ist. Die Würde einer Ratte dagegen ist gradualisierbar, weswegen auch in der Schweiz Forschungsvorhaben mit Ratten zulässig sind, wenn diese beispielsweise dazu dienen, für Menschen Medikamente zu testen. Als Zwischenergebnis lässt sich festhalten: Bei Menschen kann es keine unterschiedliche Qualität eines Würdeanspruchs geben, wenn man der Menschenrechtserklärung und der Begründung für die Menschenwürde folgt. Gerade in der Diskussion um Konfliktfälle am Lebensanfang ist dies von besonderer Bedeutung. Es kann dann nämlich nicht um abgestufte Menschenwürdeansprüche gehen, sondern um die Frage: Kommt der Zygote, der Blastozyste oder anderen Frühformen menschlicher Lebensgestalt Menschenwürde in diesem gehaltvollen Sinn zu oder nicht. 72 Die Antwort auf diese Frage entscheidet sich aber an der Beantwortung der ontologischen Frage: Sind Embryonen bereits Menschen im Vollsinn des Wortes oder sind sie menschliche Lebewesen, die sich zu Menschen entwickeln? Am Lebensende gilt analog: Sind Hirntote, die an Maschinen beatmet werden und deren Herzen noch schlagen, lebende Menschen, wenn auch in einem Sterbeprozess, oder sind sie zwar lebendige menschliche Körper, aber nicht mehr Menschen in dem Sinn, dass ihnen gemäß der Menschenrechtserklärung Menschenwürde zukommt? Die Menschenrechtserklärung hat diese Fragen nicht beantwortet, weil der Fokus der Deklaration auf andere Konfliktfälle gerichtet war. Es ging ihr darum herauszuarbeiten, welche Menschenrechte uns Menschen aufgrund unserer Würde zuzuerkennen sind.
So spricht Art. 24 der Schweizer Verfassung in französischer Sprache von der »l’integrité des êtres vivants [Integrität lebender Entitäten]«, gebraucht also für das deutsche Wort »Würde« nicht das französische »dignité«. Auch das Grundgesetz spricht sich in Art. 20a zwar für einen Schutz der Tiere aus, aber ist weit davon entfernt ihnen Würde zuzugestehen. 72 Darauf wird nochmals im Zusammenhang der Behandlung des Grundgesetzes einzugehen sein. 71
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Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte
1.6 Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte 1.6.1 Grenzen des Selbstbestimmungsrechts und des Rechts auf Leben Artikel 4 der Menschenrechtserklärung untersagt jede Form der Sklaverei. Der Einzelne darf sich nicht in die Sklaverei verkaufen. Wer sich versklaven lässt, gibt nämlich eine Grundbedingung von Würde preis, seinen eigenen Subjektstatus, weil er sich damit vollständig von seinem Herren als Instrument gebrauchen lässt. Der Herr würde damit objektiv die Würde des »freiwilligen« Sklaven verletzen, selbst wenn er ihn im konkreten Fall subjektiv liebevoll behandelt. Könnte vor diesem Hintergrund auch die Tat des Kannibalen von Rotenburg als Verletzung seiner Würde untersagt werden 73, denn wer einen Menschen tötet, um ihn zu essen, beendet doch objektiv dessen eigene Möglichkeit, seine Lebensgeschichte weiterzuschreiben? Oder ist entscheidend, ob die betreffende Person für sich aus voller Überzeugung diese Form des Aus-dem-Leben-Scheidens wählen möchte, wenn sie also gegessen werde möchte, damit so das eigene Leben zu Ende geht? Ist eine solche Person notwendig psychisch krank, weswegen ihre Entscheidung nicht wirklich frei getroffen ist? Wäre der Fall dann anders gelagert, wenn jemand wie Iwan in Dostojewskijs Brüder Karamasow aus dem Leben gehen möchte, weil er für sich zur Überzeugung gekommen ist: Es genügt! Anders gefragt: Ergibt sich aus dem Selbstbestimmungsrecht und dem Recht auf Leben implizit eine Selbstbestimmungspflicht und eine Lebenspflicht, weil andernfalls die Möglichkeit, die eigene Lebensgeschichte zu schreiben, endet? Dieser Konfliktfall, den die Menschenrechtserklärung nicht vor Augen hat, bekommt nochmals eine besondere Zuspitzung, wenn ein Mensch an einer unheilbaren Krankheit leidet, die zum Tod führt. Ein Beispiel hierfür ist der Fall Diane Pretty. Sie war an amyothropher Lateralsklerose erkrankt. Bei dieser Erkrankung versagen nach und nach alle Muskeln des Körpers, sodass die erkrankte Person sich am Ende nicht mehr selbst das Leben ohne die Hilfe einer anderen Person Diese Frage ist von der anderen Frage zu unterscheiden, ob der Staat aufgrund seiner verfassungsmäßigen Ordnung derartige Tötungshandlungen unter Strafe stellen sollte. Vgl. dazu 4.6.2.
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Würde und Freiheit als Recht auf Selbstbestimmung
nehmen kann, selbst wenn sie dies will und der Überzeugung ist, so selbst über das »letzte Kapitel« ihrer Lebensgeschichte zu entscheiden. Pretty wollte mit ihrem Ehemann in die Schweiz fahren, damit er ihr dort Beihilfe zum Suizid leisten könne, was in der Schweiz zulässig ist. Sie wollte aber sicher gehen, dass ihr Mann sich bei der Rückkehr nach Großbritannien deswegen nicht vor Gericht verantworten müsse. Sie stellte einen dementsprechenden Antrag, durch den der Generalstaatsanwalt des Vereinigten Königreichs gezwungen gewesen wäre, ihrem Ehemann zuzusagen, dass er nicht strafrechtlich gemäß Suicide Act von 1961 74 verfolgt würde, wenn er ihr bei der Selbsttötung in der Schweiz helfen würde. Sie begründete dies mit einem »Recht auf Sterben« 75. Das House of Lords lehnte diesen Antrag jedoch im November 2001 mit der Begründung ab, das Recht auf Leben impliziere kein Recht auf Sterben. Daraufhin wandte sie sich, bereits nicht mehr imstande, ohne technische Hilfsmittel zu atmen, an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EMRG) in Straßburg. Hier argumentierte sie damit, dass die Unsicherheit, wie ihr Mann nach seiner Rückkehr aus der Schweiz behandelt würde, ihr die Wahl verunmögliche, wann und wie sie ihr Leben beenden wolle. Doch diese Argumentation überzeugte die Richter nicht. Zwar erkannte der EMRG an, dass das Recht auf einen eigenen Lebensentwurf das Recht die Umstände des eigenen Todes zu wählen einschließen könne, doch das impliziere noch kein Recht auf Beihilfe zu dieser Wahl. Er akzeptierte nicht die Argumentation ihres Anwalts, der zufolge sie vermutlich qualvoll ersticken müsste, sofern sie nicht vorher aus dem Leben gehe, sondern stellte fest: »Staaten haben das Recht, Handlungen durch die Anwendung des allgemeinen Strafgesetzes zu regeln, die das Leben und die Sicherheit anderer Individuen gefährden.« 76 Denn die der Würde innewohnenden Rechte seien nicht absolut. Das Menschenwürdeprinzip wird also in einer Weise interpretiert, in der die Freiheit, die eigenen Lebensgeschichte zu schreiben, nicht notwendig das Recht einschließt, mit Hilfe eines anderen dieser Lebensgeschichte ein Ende zu setzen. Darf dann aber überhaupt ein Mensch getötet werden? In den Fällen von Notwehr, Nothilfe und entschuldigendem oder sogar auVgl. https://www.cps.gov.uk/legal-guidance/suicide-policy-prosecutors-respectcases-encouraging-or-assisting-suicide (zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018). 75 Hier zitiert nach Callus (2018, im Druck). 76 Pretty v. UK, App. no. 2346/02 at § 74 (hier zitiert nach Callus (2018)). 74
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Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte
ßergesetzlichem Notstand scheint die Antwort zu lauten: Wer das Leben oder wesentliche Güter eines anderen Menschen bedroht, der darf getötet werden, nicht deshalb, weil er den Tod verdient, sondern weil dies die einzige Möglichkeit nach subjektivem Empfinden des Bedrohten bzw. des dem Bedrohten zur Hilfe Eilenden ist, die Bedrohung abzuwehren. Wie aber verhält es sich dann mit der Todesstrafe? Hier geht von dem verurteilten Verbrecher keine direkte Gefahr mehr aus. Dennoch schweigt die Menschenrechtserklärung zur Frage der Todesstrafe, obwohl auch diese objektiv eine Lebensgeschichte beendet. Allerdings hatte eine Vorfassung der Menschenrechtserklärung sogar noch eine ausdrückliche Erlaubnis der Todesstrafe enthalten: »Jeder hat das Recht auf Leben. Dieses Recht darf nur denjenigen Personen verweigert werden, die unter dem allgemeinen Gesetz für ein Verbrechen verurteilt wurden, auf das die Todesstrafe steht.« 77
1.6.2 Asylrecht und seine Grenzen Menschen, die aufgrund ihrer politischen oder religiösen Einstellung, ihrer Rasse und ihres Geschlechts in ihren Staaten diskriminiert oder verfolgt werden, sind besonders gefährdet, in ihrer Würde verletzt zu werden. Die Erfahrungen des nationalsozialistischen Umgangs mit in den Augen des Regimes missliebigen Menschen hat die Weltgemeinschaft für das Recht auf Asyl sensibilisiert. Vielen Staaten wurde bewusst, dass sie insbesondere Menschen jüdischen Glaubens bzw. jüdischer Herkunft das Leben hätten retten können, wenn sie diese in ihrem Land aufgenommen hätten. In ihrem Artikel 14 (1) hält die Menschenrechtserklärung darum fest: »Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.« Durch den Gebrauch des Wortes »genießen« wird deutlich, was später in der Genfer Flüchtlingskonvention auch für die Staaten, die diese Konvention akzeptierten, bindendes Recht geworden ist: Menschen haben nach dieser Konvention ein Anrecht auf Asyl, wenn sie in ihrem eigenen Land politisch verfolgt oder aus sonstigen Gründen diskrimi-
Draft Outline of International Bill of Rights, E/CN.4/AC.1/3, 4. 6. 1947, Art. 3, hier zitiert nach Frick (2017), 48.
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Würde und Freiheit als Recht auf Selbstbestimmung
niert werden und keine Möglichkeit besteht, in diesem Land Schutz in Anspruch nehmen zu können. 78 Allerdings schränkt die Menschenrechtserklärung das Asylrecht in Artikel 14 (2) ganz wesentlich ein: »Dieses Recht kann nicht in Anspruch genommen werden im Falle einer Strafverfolgung, die tatsächlich auf Grund von Verbrechen nichtpolitischer Art oder auf Grund von Handlungen erfolgt, die gegen die Ziele und Grundsätze der Vereinten Nationen verstoßen.« Diese Einschränkung ist von großer Bedeutung, weil es einen Graubereich gerade in Fragen der Diskriminierung aufgrund von Rasse und Geschlecht gibt. Mehr als 70 Staaten haben Gesetze, wonach sich Menschen, die homosexuelle Handlungen vollziehen, strafbar machen. Haben diese Menschen ein Recht, Asyl zu beantragen? Als die Genfer Flüchtlingskonvention verabschiedet wurde, waren diese Handlungen in praktisch allen Staaten strafbar, beispielsweise auch in der Bundesrepublik Deutschland. Auch thematisiert die Menschenrechtserklärung nicht das Problem, dass viele Menschen in ihren eigenen Staaten in so ärmlichen Verhältnissen leben, dass sie gern in andere Länder fliehen möchten, um so dieser bedrohlichen Situation zu entkommen. Sie spricht zwar vom Recht auf ein menschenwürdiges Leben, aber sie gibt keine Anweisungen, wie dieses konkret in den einzelnen Staaten durchzusetzen ist. Allerdings scheint Artikel 13 dafür eine Lösung anzubieten, da hier jedem das Recht »der freien Bewegung und der Niederlassung innerhalb der Grenzen eines jeden Staates« zugesprochen wird. Dadurch, dass daraus »kein Recht auf Einwanderung« 79 folgt, weil die einzelnen Staaten souverän darin bleiben, wen sie in ihr Land lassen, ist dies jedoch ein »stumpfes Schwert«.
1.7 Ergebnis Aufgrund der Menschheitserfahrung, was es bedeutet, wenn Menschen ihrer Würde beraubt und millionenfach ermordet werden, haben sich die Vereinten Nationen in der Menschenrechtserklärung in ihrem ersten Artikel zur Menschenwürde bekannt. Die MenschenVgl. http://www.unhcr.org/dach/wp-content/uploads/sites/27/2017/03/GFK_ Pocket_2015_RZ_final_ansicht.pdf (zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018). 79 Fassbender (2009), 111. 78
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Ergebnis
würde wird jedem geborenen Menschen unabhängig von Rasse und Religion, Geschlecht oder sonstigen Eigenschaften zuerkannt. Sie ist auch nicht an Verdienste oder die Erfüllung bestimmter Pflichten gebunden, sondern kommt gerade bedingungslos zu. Die Würde hat hier eine in gewissem Sinn emphatische Bedeutung: Jeder Mensch gilt als gleich und gilt als Subjekt, das die Freiheit hat, seine eigene Lebensgeschichte zu schreiben. Sie bildet den Gegensatz zur Ideologie des Nationalsozialismus, wo Menschen rassistisch als ungleich kategorisiert wurden und auch der Einzelne für das Volk geopfert und so in seinem Subjektstatus missachtet werden durfte.
Grundrechte Internationale Idealnorm grundsätzlichen Subjektstatus und grundsätzlicher Freiheit Menschenwürde und Freiheit als Selbstbestimmung Schreiben der eigenen Lebensgeschichte im »Geist der Brüderlichkeit«
Verbot vollständiger Instrumentalisierung anderer
Grenzen der Grundrechte aufgrund von Grundrechten anderer
Abbildung 1: Menschenwürde in der Menschenrechtserklärung (vereinfachte Darstellung)
Diese so verstandene Würde ist damit der Grund der Menschenrechte im Sinn einer aus Erfahrung gewonnenen Evidenz. Das Prinzip der Menschenwürde hat in der Menschenrechtserklärung dabei einen Bedeutungsüberschuss zu allen Menschenrechten. Menschenrechte können in einer konkreten Situation miteinander in einen Konflikt geraten. Der gerade behandelte Fall der Diane Pretty ist ein Beispiel hierfür. Ein weiteres Beispiel ist die Folterproblematik. So berufen sich Menschen, die das Leben eines entführten Kindes retten wollen, indem sie den Entführer unter Androhung von Gewalt zur Preisgabe des Verstecks zwingen wollen, auf das Recht des Kindes auf Leben. Dagegen begründen die Gegner einer solchen Form der Gewaltandrohung diese mit dem Recht des Entführers, nicht in einer Weise gegen seinen Willen gebrochen zu werden, wodurch er schweren Schaden 57 https://doi.org/10.5771/9783495817506 .
Würde und Freiheit als Recht auf Selbstbestimmung
nimmt. Auch argumentieren sie mit dem Dammbruchargument: Wenn die Folter erst einmal in einem Fall zugelassen werde, bestehe die Versuchung, die Foltererlaubnis immer weiter auszuweiten. Eine feste Grenze lasse sich nicht wirklich ziehen. Der Konflikt scheint unauflösbar, doch vielen Menschen ist das mit der Menschenwürde verbundene Folterverbot so wichtig, dass sie dafür bereit wären, eher den Tod eines entführten Kindes in Kauf zu nehmen, als die Folter zuzulassen. Das Prinzip der Menschenwürde hat damit selbst für einen derartigen dilemmatischen Fall eine regulierende Kraft, da es verhindert, den Entführer als ein rechtloses Gegenüber anzusehen, dem man alles antun darf. Darüber hinaus steht die Menschenrechtserklärung vor einer weiteren schwierigen Frage, die bereits anklang: Allen Menschen werden Gewissen und Vernunft zuerkannt, obwohl wir wissen, dass nicht alle Menschen diese Fähigkeiten zeigen können. Die Anerkenntnis von Würde als Freiheit ist also gerade nicht auf eine empirisch feststellbare Eigenschaft des einzelnen Menschen gegründet, seine Lebensgeschichte schreiben zu können, sondern sie gilt bedingungslos, weil allen Menschen Vernunft und Gewissen und damit Freiheit zugesprochen werden. Egal ob ein Mensch schwer geistig behindert ist, egal ob er für die Gesellschaft keinen Wert mehr zu haben scheint, ihm ist die Achtung seiner unbedingten Würde geschuldet. Dies ist keine theoretische Annahme, sondern eine geschichtlich gewachsene gemeinsame Überzeugung, dass unsere Rechtsgemeinschaft alle geborenen Menschen umschließen sollte. Doch diese Überzeugung wird unter dem Vorwurf, hier würde ungerechtfertigt die Spezies Mensch vor anderen Lebewesen ausgezeichnet, hier würde »Speziesismus« getrieben, in Frage gestellt. 80 Auch die rationale Argumentation, dass jeder sich pragmatisch selbstwidersprüchlich verhält, wenn er andere Menschen aus unserer Rechtsgemeinschaft ausschließt, kann nicht erklären, warum auch diejenigen, die – empirisch gesehen – nicht mit Vernunft begabt sind, in die Rechtsgemeinschaft eingeschlossen werden sollten. Allerdings gibt es eine Begründung der Menschenwürde aller Menschen, die diesen Speziesismusvorwurf zu entkräften versucht, nämlich die christliche. Ist allerdings die dann so begründete Menschenwürde noch identisch mit dem Menschenwürdeverständnis der Menschenrechtserklärung?
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Prominentester Vertreter dieses Speziesismusvorwurfs ist Peter Singer (1999).
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2 Würde und Freiheit als Aufgabe, Jesus nachzufolgen – das Christentum
2.1 Menschenwürde als Produkt einer christlichen Synthese aus biblischer Offenbarung, philosophischem Denken und Rechtsdenken Am 18. April 2008 hielt Papst Benedikt XVI. vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York eine viel beachtete Rede über die Menschenrechtserklärung. In ihr vertritt er die Überzeugung, dass Menschenwürde und Menschenrechte »auf jeden Menschen aufgrund des gemeinsamen Ursprungs der Personen angewendet werden, der für die Welt und die Geschichte der zentrale Punkt des Schöpfungsplanes Gottes bleibt. Diese Rechte haben ihre Grundlage im Naturrecht […].« 1 Im Unterschied zur Menschenrechtserklärung, deren Verfasser bewusst auf einen naturrechtlichen Begründung verzichtet haben, hält Benedikt eine derartige naturrechtliche Rückbindung für notwendig, denn ansonsten öffnet sich die Tür für »eine relativistische Konzeption, aufgrund derer der Sinn und die Interpretation der Rechte variieren und ihre Universalität im Namen kultureller, politischer, sozialer und sogar religiöser Entwürfe verneint werden könnte.« 2 Drei Jahre später hielt der Papst eine Rede im Bundestag, in der er ebenfalls direkt auf die Menschenwürde und die mit ihr verbundenen Menschenrechte einging. Noch deutlicher als in seiner Rede vor den Vereinten Nationen schreibt er hier der christlichen Synthese aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom zu, die Idee der Men-
Benedikt XVI. (2008), 334. In ähnlicher Weise hat auch Fassbender (2009), 71, das Christentum als einen Kandidaten ausgemacht, der die Begründung liefern könnte, wenn er schreibt, dass sich die Idee der Freiheit und Gleichheit aller Menschen, also die Idee der Menschenwürde, »auf das Christentum zurückführen« lässt. 2 Ebd., 334. 1
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Würde und Freiheit als Aufgabe, Jesus nachzufolgen
schenwürde grundgelegt zu haben. Dabei steht Jerusalem für den Gottesglauben Israels, Athen für das philosophische Denken der Griechen und Rom für das römische Rechtsdenken. »An dieser Stelle müsste uns das kulturelle Erbe Europas zu Hilfe kommen. Von der Überzeugung eines Schöpfergottes her ist die Idee der Menschenrechte, die Idee der Gleichheit aller Menschen vor dem Recht, die Erkenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde in jedem einzelnen Menschen und das Wissen um die Verantwortung der Menschen für ihr Handeln entwickelt worden. Diese Erkenntnisse der Vernunft bilden unser kulturelles Gedächtnis. Es zu ignorieren oder als bloße Vergangenheit zu betrachten, wäre eine Amputation unserer Kultur insgesamt und würde sie ihrer Ganzheit berauben. Die Kultur Europas ist aus der Begegnung von Jerusalem, Athen und Rom – aus der Begegnung zwischen dem Gottesglauben Israels, der philosophischen Vernunft der Griechen und dem Rechtsdenken Roms entstanden. Diese dreifache Begegnung bildet die innere Identität Europas. Sie hat im Bewusstsein der Verantwortung des Menschen vor Gott und in der Anerkenntnis der unantastbaren Würde des Menschen, eines jeden Menschen Maßstäbe des Rechts gesetzt, die zu verteidigen uns in unserer historischen Stunde aufgegeben ist.« 3
Aus dieser Aussage kann man den Eindruck gewinnen, dass sich unsere heutigen Menschenrechte und unser heutiges Verständnis der Menschenwürde dem Christentum verdanken. Tatsächlich geht Benedikt XVI. davon aus, dass von »dieser vorchristlichen Verbindung von Recht und Philosophie […] der Weg über das christliche Mittelalter in die Rechtsentfaltung der Aufklärungszeit bis hin zur Erklärung der Menschenrechte« 4 verläuft. Nach dieser Ansicht besteht eine Kontinuität zwischen dem christlichen und unserem heutigen Menschenwürdeverständnis und den damit verbundenen Menschenrechten. Für diese These könnte sprechen, dass sich die erste Verfassung, die ausdrücklich das Prinzip der Menschenwürde bekennt, nämlich die irische Verfassung von 1937, in der christlichen Tradition verortet. 5 Benedikt XVI. (2011), 38. Ebd., 34. 5 »In the Name of the Most Holy Trinity, from Whom is all authority and to Whom, as our final end, all actions both of men and States must be referred, We, the people of Éire, humbly acknowledging all our obligations to our Divine Lord, Jesus Christ, Who sustained our fathers through centuries of trial, gratefully remembering their heroic and unremitting struggle to regain the rightful independence of our Nation, and seeking to promote the common good, with due observance of Prudence, Justice and 3 4
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Menschenwürde als Produkt einer christlichen Synthese
Andererseits ist diese These zu hinterfragen, da beispielsweise Papst Pius VI. (1717–1799) in seiner Breve Quod Aliquantum 1791 die Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution ablehnte, weil diese es als »Naturrecht festlegte, dass der in Gesellschaft lebende Mensch völlig frei sein müsse, und zwar in Religionsdingen« 6. Pius stellt sogar die Frage: »Aber welche größere Dummheit kann man sich vorstellen als anzunehmen, dass alle Menschen in solcher Weise frei und gleich seien […]?« Dabei kommt eine große Schwierigkeit hinzu: Es gibt neben der katholischen Kirche weitere christliche Kirchen, sodass nicht einfach von dem christlichen Verständnis von Würde und Freiheit gesprochen werden kann. Auch hierfür kann sehr gut Pius VI. als Zeuge gelten, da er in der bereits zitierten Breve »eine solch absurde Erfindung von Freiheit« als »törichten Gedanke der Valdenser und […] Irrtum, der schließlich auch derjenige Luthers ist«, abqualifiziert. Dennoch lässt sich zeigen, dass das heutige christliche Verständnis von Menschenwürde und Freiheit in ihrer Entstehung philosophische Strömungen der Antike und anthropologische Überzeugungen der Bibel aufnimmt. In der Antike verband man Würde normalerweise vor allem mit dem Rang einer Person in der Gesellschaft. Bis heute spricht man von »Würdenträgern«. Das derzeit geltende lateinische Kirchenrecht kennt die Begriffe der bischöflichen Würde und der Kardinalswürde. 7 Dieses Verständnis von Würde als einer besonders hervorgehobenen Stellung, ist bis heute tief in unserem Alltagsverständnis verwurzelt: »Wer in Amt und Würde ist, steht über dem Normalbürger, wen man mit ›Hochwürden‹ anredet, dem erkennt man einen herausgehobenen Status zu, wer etwas unter seiner Würde hält, ist in seinen Augen mehr wert, als dass er das Betreffende tun oder erleiden müsste, und wer die Doktorwürde erworben hat, hat nicht nur irgendeine Prüfung gemacht, sondern gehört Charity, so that the dignity and freedom of the individual may be assured, true social order attained, the unity of our country restored, and concord established with other nations, Do hereby adopt, enact, and give to ourselves this Constitution.« (Hier zitiert nach Barak (2015), 50). 6 https://w2.vatican.va/content/pius-vi/it/documents/breve-quod-aliquantum-10marzo-1791.html (eigene Übersetzung, zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018). Auch die folgenden Zitate sind dieser Breve entnommen. 7 Vgl. CIC Can. 833 2o: »zur Kardinalswürde erhoben [ad cardinalitiam dignitatem]« sowie Can. 481 § 2: »sowie sie nicht Bischöfe sind«, wörtlich: »wenn sie nicht mit bischöflicher Würde versehen sind [nisi episcopali dignitate aucti sint]«. Vgl. auch zum Verlust des Rangs im Sinne der dignitas z. B. Can 1331 § 2 4o-5o.
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Würde und Freiheit als Aufgabe, Jesus nachzufolgen
zu einer besonderen Art von Menschen, weshalb diese Bezeichnung Teil seines Namens wird wie ein Adelsprädikat.« 8
Wir reden von Würdenträgern und erkennen die ausgeübte soziale Rolle als würdevoll an. Aber nicht nur die Würdenträger leiten daraus Ansprüche an die Achtung ihrer sozialen Rolle ab, sondern auch umgekehrt stellen wir Ansprüche an die Träger der sozialen Rolle, sich gemäß dieser Rolle zu verhalten. Man kann darum die Rechte, die diese Stellung mit sich bringt, wieder einbüßen, wenn man sich ein gravierendes Fehlverhalten geleistet hat, selbst wenn dieses nicht direkt mit dem Amt verbunden ist, das man innehat oder das Fehlverhalten lange Jahre zurückliegt. So sind in den letzten Jahren Politiker von ihren Ämtern zurückgetreten, weil sich herausstellte, dass ihre Doktorarbeiten zum Teil abgeschrieben waren. Auch haben Bischöfe ihre Amtswürde verloren, weil sie pädophile Priester gedeckt hatten oder sich selbst an Kindern vergingen. Diese Beispiele verdeutlichen, dass eine derartige Würde von bestimmten Bedingungen abhängt und man sie verlieren kann. Das Christentum kennt jedoch bereits früh auch den Gebrauch von Würde, nämlich Würde als etwas, was dem Menschen durch die Schöpfung, sozusagen mit seiner Natur, gegeben ist, bzw. was dem Menschen durch Gott zuerkannt wird, weil er aus freiem Entschluss einen Bund mit den Menschen eingeht. Dabei nimmt das Christentum von der griechischen Philosophie beeinflusste Überlegungen auf und verbindet diese mit biblischen Aussagen über den Menschen. 9 Bereits bei Platon (428–348) wird die besondere Stellung des Menschen betont. Der Mensch hat aufgrund seiner Vernunft, seiner Geistseele, eine besondere Stellung in der Welt, denn sie ist unsterblich, ist das Göttliche in uns. 10 Bittner (2017), 91. Allerdings nimmt der Würdebegriff im Christentum keinesfalls eine so zentrale Rolle ein, wie es heutige kirchliche Stellungnahmen nahelegen. Das kann man gut daran ersehen, dass im wichtigsten deutschsprachigen katholischen Lexikon, dem Lexikon für Theologie und Kirche noch in seiner zweiten Auflage, dessen lexikalischer Teil mit dem 1965 publizierten Band 10 abschloss, das Stichwort »Menschenwürde« fehlt und beim Stichwort »Würde« kein eigener Eintrag vorgenommen wird. Vielmehr wird hier auf die Stichworte »Autorität« und »Ehre« verwiesen. 10 Vgl. z. B. Platon: Timaios, 90a, wo er davon spricht, dass Gott jedem Menschen einen göttlichen Geist [δαιμων/daimon] gegeben hat, der uns »himmlisch« macht. Im Folgenden geht es darum, wichtige Meilensteine zu benennen, um das »christliche« Verständnis besser fassbar zu machen, nicht um eine Begriffsgeschichte von Würde. 8 9
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Menschenwürde als Produkt einer christlichen Synthese
Aristoteles nimmt diese Gedanken seines Lehrers Platon auf. Auch für ihn ist der Mensch aufgrund seiner Vernunft dazu berufen, ein Leben dem Geist nach zu führen, weil er die anderen Lebewesen an »Würde« überragt. Jedenfalls legt das griechische Wort τιμιoτης/ timiotes, abgeleitet vom griechischen Wort für Ehre τιμη/time, eine derartige Übersetzung mit Würde nahe. 11 Bereits bei Aristoteles findet sich der zentrale Gedanke, dass der Mensch aufgrund seiner Würde sein eigenes Leben führen sollte, nicht das Leben anderer, also ein Leben, wie man leben sollte. 12 Er scheint bereits die moderne Vorstellung zu vertreten, dass wir aufgrund unserer Würde unser eigenes Leben realisieren sollen. Doch ist auch hier Vorsicht geboten, da seine Überlegungen lediglich für den freien Mann gelten. So geht Aristoteles beispielsweise ganz unbefangen davon aus, dass manche Menschen dazu geboren sind, als Sklaven zu leben, weil sie – modern gesprochen – nicht imstande sind, sich ihres Verstandes ohne Anleitung durch andere zu bedienen. 13 Darum sind sie sogar zu Recht Besitz ihres Herrn und sein Werkzeug. 14 Auch ist ihm im Unterschied zu seinem Lehrer Platon jeder Gedanke an eine Gleichberechtigung von Mann und Frau fremd, denn Frauen sind nach der Überzeugung von Aristoteles von Natur aus schwächer als Männer, weshalb die Männer herrschen, die Frauen aber beherrscht werden sollen. 15 Beispielsweise ist dies eine seiner Bedeutungen neben »Herrlichkeit«, »Kostbarkeit« und »Wert« gemäß dem für Generationen von Griechischlehrenden und -lernenden genutzten griechisch-deutschen Wörterbuch von Hermann Menge (1979 [1913]). 12 Aristoteles: Ethica Nicomachea, 1178a1. Vgl. das Zitat im Gesamtzusammenhang: »Wenn also der Geist [νους/nus] in Bezug auf den Menschen etwas Göttliches ist, dann muss auch das Leben gemäß diesem Geist göttlich sein. Nicht darf man also denen Folge leisten, die raten, dass man als Mensch nur Menschliches und als Sterblicher nur Sterbliches denken solle, sondern, soweit möglich, soll man unsterblich sein und alles tun, um zu leben gemäß dem Stärksten, was in einem ist; denn wenn es auch an Umfang klein ist, so überragt es doch an Kraft und Würde [τιμιοτητι/timiotäti] alles viel mehr. […] Unpassend dürfte also sein, wenn man nicht das eigene Leben wählen würde, sondern das Leben eines anderen.« (1177b30–1178a4, eigene Übersetzung). 13 Vgl. Aristoteles: Politica, 1254b20–24: »Von Natur aus ist Sklave, […], wer insoweit an der Vernunft teilhat, dass er sie wahrnehmen, aber nicht besitzen kann« (eigene Übersetzung). Aristoteles gesteht sogar eine Praxis der Sklaverei zu, die mit dieser Theorie im Konflikt steht, nämlich wenn beispielsweise Kriegsgefangene versklavt werden (vgl. dazu 1255a3 ff.). 14 Vgl. ebd., 1254a13–17. 15 Vgl. ebd. 1254b13–15. Hierbei verwendet Aristoteles in gewisser Weise etwas ab11
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Würde und Freiheit als Aufgabe, Jesus nachzufolgen
Platon und Aristoteles haben mit ihren Überlegungen dem Verständnis des Begriffs »Würde« erste Grundlagen gegeben, jedoch den Begriff selbst nicht ausdrücklich gebraucht. Erst Cicero (106–43) führt explizit den Begriff »dignitas« in einer neuen Bedeutung in die Diskussion ein. Dabei ist er auch von stoischem Gedankengut beeinflusst gewesen. Während »dignitas« üblicherweise vor allem den Rang einer Person bezeichnete oder auch ihre würdige Erscheinung benannte 16, bezieht Cicero diesen Begriff nun erstmals direkt auf den Menschen als Menschen und nicht den Menschen aufgrund seiner Stellung in der Gesellschaft. »Dignitas« ist damit eine Würde, die dem Menschen von Natur aus aufgrund seiner Vernunft zukommt. 17 Dabei verbindet Cicero diese naturgegebene Würde mit der Verpflichtung, sich ihr gemäß zu verhalten. 18 Bezeichnenderweise heißt der Titel des Werks, in dem er diese Gedanken entwickelt »De officiis [Von den Pflichten]«. Das frühe Christentum hat ähnliche, wohl stoisch inspirierte schwächend Adjektiva, d. h. er spricht nicht von Männern und Frauen, sondern vom Männlichen und Weiblichen. Dies lässt sich so interpretieren, dass Aristoteles in der Realität Frauen kennt, die »typisch« männlich auftreten, und Männer, die »typisch« weiblich auftreten, und möglicherweise diesem Sachverhalt Rechnung tragen möchte. 16 Cicero gebraucht dignitas auch ganz unbefangen in diesem Sinn, z. B. wenn er davon spricht, dass manche Menschen in ihrem Aussehen Würde haben, andere Schönheit: »itemque in formis aliis dignitatem inesse, aliis venustatem« (De Officiis, 107). 17 Inwieweit Cicero dabei bereits auf im vorliegende stoische Quellen zurückgreift und das griechische Axioma mit dignitas übersetzt, braucht hier nicht weiter behandelt werden. Vgl. zur Debatte die Kritik Dietmar von der Pfordtens (2016), 16–19, an Schaber (2012), 21, und Tiedemann (2006), 52, die behaupten, dass bereits Axioma »Würde« bedeute, obwohl eigentlich das griechische Time mit Würde korreliert ist (vgl. Pleger (2011), 2602; 2605). Es ist allerdings bemerkenswert, dass Cicero diese Aussagen macht, da für das römische Recht keine Definition vom Menschen möglich [war], denn der Sklave ließe sich darunter nicht subsumieren« (Hegel (2013 [1821]), 22). 18 Vgl. Cicero: De Officiis I, 106 f.: »Darüber hinaus: Wenn wir bedenken wollen, was für Exzellenz und Würde [excellentia et dignitas] in unserer Natur liegt, werden wir einsehen, wie schändlich es ist, sich in Zügellosigkeit aufzulösen und verzärtelt und verweichlicht zu leben, obwohl es ehrenhaft ist, sparsam, enthaltsam, streng und nüchtern zu leben. Auch muss man einsehen, dass wir praktisch mit zwei Naturen ausgestattet sind, von denen wir die eine gemeinsam haben, weil wir alle Anteil an der Vernunft und ihrer Hervorragendheit haben, aufgrund der wir uns vor den Tieren auszeichnen, von der alles Ehrenhafte und Schickliche herkommt und von der der Vernunftgrund die Pflicht aufzufinden erforscht wird [ex qua ratio inveniendi officii exquiritur]« (eigene Übersetzung).
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Menschenwürde als Produkt einer christlichen Synthese
Gedanken von der Vernunftnatur des Menschen aufgenommen und mit biblischen Aussagen zusammengedacht. Dabei ist es allerdings sehr wichtig, sich bewusst zu machen, dass der Begriff der Würde in der hebräischen Bibel, was den Menschen angeht, keine große Rolle spielt. Zudem ist dieser Begriff nicht deckungsgleich mit dem, was später unter »dignitas« gefasst werden wird, sondern das hebräische Wort [כבד/chavod] bedeutet wörtlich eigentlich »Herrlichkeit«. 19 Der Grund für diese menschliche Herrlichkeit [כבד/chavod] besteht dabei in der Gottebenbildlichkeit des Menschen. 20 Deswegen kann den Menschen in Psalm 8 zugesagt werden: »Du hast ihn nur wenig geringer gemacht als Gott, hast ihn mit Herrlichkeit [כבד/chavod] und Ehre gekrönt.« 21 Das hellenistische Judentum hat vor diesem biblischen Hintergrund auch Frauen und Kinder als Ebenbilder Gottes bekannt. Jeder Mensch gilt als einzigartig und so kostbar, dass seine Vernichtung als Vernichtung einer ganzen Welt gilt und seine Rettung als Rettung der ganzen Welt. 22 Im Neuen Testament kommt der Begriff der »Würde« im Sinn der Menschenwürde überhaupt nicht vor. Allerdings lässt sich in der Sache ein wesentliches Element für das spätere christliche Verständnis von Würde finden, nämlich die Gottebenbildlichkeit des Menschen, die nicht nur von der Schöpfung her dem Menschen zugesagt wird, sondern von Christi Sohnschaft, dem Sohn Gottes im strengen Sinn, abgeleitet wird. 23 Der zentrale Gedanke lautet: 19 Die deutsche Übersetzung des Hebräischen כבד/chavod mit Herrlichkeit entspricht den Übersetzungen ins Griechische der Septuaginta mit doxa und Lateinische der Vulgata mit gloria, wobei der Begriff der Herrlichkeit eng mit dem Begriff der Würde verbunden ist. Ein Beleg hierfür ist die Verwendung dieser Stelle in der Pastoralkonstitution des Vatikanum II Gaudium et Spes 12, das mit De humanae personae dignitate überschrieben. 20 Bereits im ersten Kapitel des ersten biblischen Buchs werden Gott die Worte zugeschrieben: »Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich.« (Gen 1,26). 21 Ps 8,5 f. Während hier die Einheitsübersetzung das hebräische אלהימ/Elohim mit »Gott« übersetzt, haben die Septuaginta und auch die Vulgata dies mit »Engel« übersetzt, da dieses Wort im Hebräischen im Plural steht. Diese Übersetzungen haben insofern eine große Wirkungsgeschichte, auch für den Begriff der Würde, als nicht wenige Autoren später davon sprechen werden, dass der Mensch sich zu einem engelhaften Leben erheben kann, aber auch ins Tierische hinabsinken kann. Typisch hierfür ist Pico della Mirandola (1997 [1486]). Vgl. zu Pico ausführlicher 3.1. 22 Vgl. Kreß (2012), 139 mit Verweisen auf die entsprechenden Stellen. 23 Vgl. z. B. seine Aussagen von der »Herrlichkeit Christi, der Gottes Ebenbild ist« (2 Kor 4,4).
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Würde und Freiheit als Aufgabe, Jesus nachzufolgen
»Ihr seid alle durch den Glauben Söhne Gottes in Christus Jesus. Denn ihr alle, die ihr auf Christus getauft seid, habt Christus (als Gewand) angelegt. Es gibt nicht mehr Juden und Griechen, nicht Sklaven und Freie, nicht Mann und Frau; denn ihr alle seid ›einer‹ in Christus Jesus.« 24
Es ist diese gemeinsame Kindschaft Gottes, welche die Gleichheit in Christus verbürgt und ermöglicht, Gott Vater nennen zu dürfen: »Denn alle, die sich vom Geist Gottes leiten lassen, sind Söhne Gottes. Denn ihr habt nicht einen Geist empfangen, der euch zu Sklaven macht, sodass ihr euch immer noch fürchten müsstet, sondern ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht, den Geist, in dem wir rufen: Abba, Vater! So bezeugt der Geist selbst unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind.« 25
Die Gotteskindschaft, so lässt sich der neutestamentliche Befund zusammenfassen, macht die Würde des Menschen aus, auch wenn der Begriff »Würde« selbst von Paulus nicht ausdrücklich gebraucht wird. In der Sache jedoch lässt sich sagen, dass jeder Mensch vor Gott gleich ist und als Person verstanden wird, der das grundsätzliche Recht zukommt, Gott Vater zu nennen. Alle Menschen sind deshalb Geschwister. Zugleich bedingt diese Würde grundlegende Pflichten. Wenn Christen auf der ganzen Welt die Psalmen der hebräischen Bibel mit der Doxologie abschließen: »Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geist«, dann zeigt sich hier der entscheidende Grundzug der aus der Würde entspringenden Verpflichtung, nämlich Gottes Willen in allem, was man tut, zu verwirklichen: »Alles meinem Gott zu Ehre, in der Arbeit in der Ruh’«, wie es in einem alten Kirchenlied heißt und wie bereits das Johannesevangelium formulierte: »Gib Gott die Ehre!« 26 Auch wenn die Ausdrücke »Gott die Ehre geben« bzw. »Gott ehren« etwas altertümlich klingen, zeigt sich doch darin gerade die entscheidende Dimension, um zusammenzufassen, worin die aus der von Gott geschenkten Würde entspringende Aufgabe eines Christen besteht und was es bedeutet, wenn diese verfehlt wird. Was mit »Gott ehren« konkret gemeint ist, fassen die Evangelien auch mit Ausdrücken wie »Gottes Willen tun«, »Jesus nachfolgen«, Gott aus
Gal 3,26–28. Röm 8,14–16. 26 Joh 9,24: vgl auch Röm 11,36: »Ihm sei Ehre in Ewigkeit!«, und 2 Kor 4,15: »Alles tun wir euretwegen […] Gott zur Ehre.« 24 25
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Menschenwürde als Produkt einer christlichen Synthese
ganzem Herzen zu lieben und den Nächsten wie sich selbst zu lieben« zusammen. 27 In der patristischen Epoche verbinden viele Kirchenväter den Gedanken der Gottebenbildlichkeit mit dem besonderen Rang des Menschen in der Schöpfung, ohne dabei die Einschränkung zu vergessen, dass Christus das wahre Bild Gottes ist. Darum finden sich feine Unterscheidungen. Für Origines (185–254) haben Menschen zwar aufgrund der Schöpfung eine Würde, aber sie sind als Bild Gottes doch Gott nur ähnlich, denn nur Gott hat Würde im vollen Sinn. 28 Weil aber die Gottebenbildlichkeit durch den Sündenfall verdunkelt ist, wird erst in der Allversöhnung am Ende der Zeit die wahre Würde realisiert. 29 Allerdings ist sie bereits in der Inkarnation Gottes, in seiner Menschwerdung in Jesus Christus, hier auf Erden antizipiert. Auch die späteren patristischen Theologen verbinden den Gedanken der Gottebenbildlichkeit bzw. Gottähnlichkeit mit der Überzeugung, dass der Mensch dazu verpflichtet ist, sich gemäß dieser Gabe der Gottebenbildlichkeit zu verhalten. Seine Aufgabe besteht darin, dem wahren Menschen (und wahren Gott) Jesus Christus nachzufolgen. Was diese Gabe und Aufgabe angeht, sind alle Menschen gleich, egal ob Kaiser oder Sklave. Beispielhaft findet sich dieser Gedanke beim Patriarchen von Konstantinopel, Johannes Chrysostomos (347–407). Er denkt die paulinische Grundüberzeugung der fundamentalen Gleichheit aller Menschen vor Gott explizit mit dem Begriff der Würde zusammen: »Denn die Gnade ist auf alle ausgegossen und wird nicht dem Juden, nicht dem Griechen, nicht dem Barbaren, nicht dem Skythen, nicht dem Freien, nicht dem Sklaven, nicht dem Mann, nicht der Frau, nicht dem Alten und nicht dem Jungen verweigert. Allen wird sie auf gleiche Weise zugeteilt mit gleichen Anteil an Würde.« 30
Vgl. exemplarisch Mt 6,10 zur Vaterunserbitte »Dein Wille geschehe«, Mk 10,17– 27 zur Frage der Nachfolge und Mk 12,28–34 zum Liebesgebot. 28 Dieser Gedanke war philosophiegeschichtlich sehr wirksam. Noch Descartes sprach von Gott als der einen wahren res (deutsch: Substanz), an der der Mensch als res cogitans (denkende Substanz) und res extensa (ausgedehnte Substanz) nur Anteil hat. 29 Vgl. Origines: Vier Prinzipien, III.6.1. Biblisch bildet dafür z. B. Gen 9,6 den Hintergrund. 30 Chrysostomos: Homilia in Ioannem. 8,1 (eigene Übersetzung). Dabei wird das griechische Wort »τιμη/time« mit »Würde«, lateinisch mit »honor« übersetzt. Dignitas ist also für diese Epoche noch kein eingeführter Begriff. Ähnliche Beispiele lassen sich viele weitere finden. Von den Kappadokiern Basilius, Gregor von Nazianz und 27
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Würde und Freiheit als Aufgabe, Jesus nachzufolgen
Der eigentliche Gedanke ist genuin theologisch: Weil Gott heilig ist, ist auch der Mensch als Gottes Ebenbild heilig, denn im damaligen patristischen wie bis heute auch im katholischen Verständnis ist das Abbild mit dem Urbild in gewisser Hinsicht identisch. Der Mensch ist Repräsentant Gottes. Damit dreht sich das Begründungsverhältnis um: Nicht weil der Mensch eine Vernunftnatur hat, ist er Gottes Ebenbild, sondern weil Gott ihn als sein Ebenbild geschaffen hat, hat der Mensch eine vernünftige Natur und mit dieser Gabe die zentrale Aufgabe, sich gemäß dieser Ebenbildlichkeit zu verhalten. Andernfalls gehen diejenigen, die sich nicht gemäß ihrer von Gott geschenkten Würde verhalten, an ihrer eigenen Bosheit zugrunde. 31 Auch wenn der Gleichheitsgedanke aller Menschen sehr an die Menschenrechtserklärung erinnert, so ist diese Gleichheit auf den religiösen Bereich eingeschränkt, denn Chrysostomos hat keine Probleme mit der Institution »Sklaverei« und der Unterordnung der Frau, denn gleiche Würde impliziert nach seiner Überzeugung keine Gleichstellung in irdischen Belangen. 32 Auch im religiösen Bereich bedeutet die fundamentale Gleichheit nicht, dass Frauen Priesterinnen oder Bischöfinnen werden können. Die Synthese zwischen biblischen Aussagen, griechischer Philosophie und römischem Denken findet sich vielleicht am prägnantesten in der Aussage Papst Gregors (540–604): »Christ, erkenne deine Würde. Du bist der göttlichen Natur teilhaftig geworden, kehre nicht zu der alten Erbärmlichkeit zurück und lebe nicht unter deiner Würde. Denk an das Haupt und den Leib, dem du als Glied angehörst!« 33 Auch Gregor betont die Verpflichtungsdimension der Würde. Dies entspricht der katholischen Tradition bis heute, sodass der Katechismus der Katholischen Kirche in seiner heutigen, verbindlichen Fassung Gregors Gedanken wörtlich zitiert.
Gregor von Nyssa über Ambrosius und Augustinus bis zu Gregor dem Großen wird dieser Gedanke in ähnlicher Weise ausgedrückt. 31 Ebd.: »Und diejenigen, die nicht bereit sind, diese Gabe zu genießen, denen soll ihre Blindheit negativ angerechnet werden. […] Sie gehen aufgrund ihrer eigenen Boshaftigkeit und nichts anderem zugrunde.« 32 Vgl. dazu die späteren Ausführungen zum Verhältnis von Menschenwürde und Menschenrechten in der christlichen Synthese. 33 Gregor der Große: Sermo 21, 3: CCL 138,88 (PL 54, 192 f.), zitiert nach KKK, Nr. 1691.
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Würde im Verhältnis zur Freiheit
2.2 Würde im Verhältnis zur Freiheit Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, dass das christliche Verständnis von Würde wie die Menschenrechtserklärung alle Menschen als Personen und gleiche versteht. Allerdings zeigt sich bereits hier eine erste wesentliche Differenz. Die Gleichheit besteht christlich vor Gott. Deshalb ist diese Würde nicht in gleicher Weise mit innerweltlichen Rechten verbunden, wie dies bei der Menschenrechtserklärung der Fall ist. Der entscheidende Grund hierfür liegt darin, dass das Christentum die Würde ganz wesentlichen mit Pflichten verbindet. Christliche Freiheit bedeutet, Gottes Willen zu tun, und das heißt, mit den eigenen Fähigkeiten Jesus nachzufolgen, wobei diese Nachfolge sich ganz wesentlich darin konkretisiert, das Liebesgebot zu erfüllen. Der bedeutendste Theologe der römisch-katholischen 34 Kirche, Thomas von Aquin (1224–1274) 35, formuliert zum einen ganz biblisch, zum anderen höchst modern, wie ein Mensch seine Freiheit gemäß der Würde realisiert: »Wir ehren Gott durch die äußeren Opfer und Geschenke nicht seinetwegen, sondern unseretwegen und des Nächsten wegen; denn er bedarf unserer Opfer nicht, sondern will, dass sie ihm dargebracht werden um unserer Hingabe und um des Nutzens des Nächsten willen. Deshalb ist das Erbarmen, durch das wir dem Elend der anderen zu Hilfe kommen, ein Opfer, das ihm wohlgefälliger ist, weil es dem Nutzen des Nächsten näherkommt.« 36
Bei Thomas findet sich auch bereits die nach der kantischen Objektformel 37 klingende Aussage, dass »der Mensch von Natur aus frei ist und als Selbstzweck existiert [scilicet homo est naturaliter liber et propter seipsum existens]« 38. Doch handelt es sich hier nicht um eine Da die katholischen Kirchen in Gemeinschaft mit dem Papst im ökumenischen Dialog die Selbstbezeichnung »römisch-katholisch« tragen, gebrauche ich diesen Begriff, wenn es ausschließlich um diese Kirche geht, obwohl beispielsweise auch die unierten Ostkirchen den Papst anerkennen, aber begrifflich als »griechisch-katholisch« bezeichnet werden. 35 Bis heute wird Thomas als theologischer Lehrer empfohlen, so im Zweiten Vatikanischen Konzil im Dekret Optatam Totius (AAS 58, 713–727) und im derzeitigen Codex Iuris Canonici, can. 253 § 3. 36 ST II-II, q 30 a 4 ad 1 (Übersetzung zitiert nach GE, Nr. 106). Papst Franziskus zitiert 2018 in Gaudium et Exsultate diese Thomasstelle, die den biblischen Gedanken »Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer« (Mt 9,13) aufnimmt und auslegt. 37 Siehe das Kapitel zu Kant. 38 ST II-II, q 64 a 2 ad 3 (eigene Übersetzung). 34
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Würde und Freiheit als Aufgabe, Jesus nachzufolgen
Selbstzwecklichkeit im ethisch verpflichtenden Sinn, sondern dieser Begriff hat aristotelische Wurzeln. 39 »Selbstzwecklichkeit« bedeutet, dass die Menschen sich im Unterschied zu den Tieren nicht nur als Mitglieder einer Spezies, sondern als Individuen verwirklichen können. Die Selbstzwecklichkeit hat darum im Grunde eine ontologische Bedeutung, aus der darauf gründend eine moralische Pflicht erwächst: Mensch, verhalte dich entsprechend dieser deiner Natur, also gemäß dieser deiner Selbstzwecklichkeit als Individuum. Darum impliziert diese Selbstzwecklichkeit folgerichtig keine unantastbare Würde. Die zitierte Stelle findet sich nämlich in folgendem Zusammenhang: »Zum Dritten muss man sagen, dass ein Mensch, wenn er sündigt, die Vernunftordnung verlassen hat, und deswegen fällt er von seiner menschlichen Würde ab [et ideo decidit a dignitate humana] – in dem Verhältnis wie der Mensch selbstverständlich von Natur frei und um seiner selbst willen existiert – und fällt in die Sklaverei wilder Tiere, sodass er selbstverständlich durch sich selbst auf das hin ausgerichtet wird, was der Fremdzwecklichkeit dient [quod est utile aliis]. […] Und deswegen kann es, obwohl es in sich schlecht ist, einen Menschen, der in seiner Würde bleibt [in sua dignitate manentem], zu töten, dennoch gut sein, einen sündigen Menschen zu töten, wie es gut sein kann, ein wildes Tier zu töten: Schlimmer nämlich ist ein schlechter Mensch als ein wildes Tier, und er schadet mehr« 40.
Der Mensch ist also verpflichtet, sich gemäß seiner Würde zu verhalten. Wer sich dagegen nicht der Würde gemäß verhält, bleibt nicht in seiner Würde. Das kann sogar zur Konsequenz haben, dass er damit sein Lebensrecht verliert. Dabei ist dieses Nicht-Bleiben-in-derWürde nicht in dem Sinn zu verstehen, dass der Mensch seine Würde vollständig verlieren könnte, denn der objektive »Anteil« der Würde, die Gottebenbildlichkeit, die wiederum durch die unsterbliche Seele verbürgt und in der Menschwerdung Gottes bestätigt ist, kann nicht genommen werden. Diese Würde kann der Mensch nicht verlieren, selbst wenn er sich wie ein wildes Tier verhält, sich also nicht dieser Würde entsprechend verhält, indem er schwer sündigt. 41 Er missbraucht dann seine mit der Würde gegebene Freiheit. Piechowiak (2010), 301. ST II-II, q 64 a 2 ad 3 (eigene Übersetzung). 41 Vgl. ST I, q 29 a 3 ad 3: »Und weil es ein Zeichen großer Würde ist, in einer vernünftigen Natur zu subsistieren, deshalb wird jedes Individuum einer vernünftigen Natur Person genannt. Aber die Würde der göttlichen Natur übersteigt jede Würde, und deshalb kommt Gott am berechtigtsten die Bezeichnung Person zu.« Dieses Zitat 39 40
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Würde im Verhältnis zur Freiheit
Auch die Reformatoren Luther (1483–1546) und Calvin (1509– 1564) sowie die vielleicht bedeutendste Person der katholischen Reform, Ignatius von Loyola (1491–1556), der Gründer des Jesuitenordens, argumentieren in ähnlicher Weise, wenn sie Würde und Freiheit in der Sache in Beziehung setzen. Freilich spielt auch bei ihnen der Begriff der Würde selbst keine entscheidende Rolle. Vielmehr ist nur der christliche Grundgedanke, was den Einzelnen so wertvoll macht, zentral, nämlich, dass Gott mit den Menschen aus freiem Entschluss eine personale Beziehung eingeht. Luthers Werk ist geprägt von der Überzeugung, dass der Einzelne seine Freiheit dadurch realisiert, dass wir »Gott gleichförmig und nach seinem Bilde geschaffen, […] nur noch die Aufgabe haben, mit Freude und freiwillig Gott zu dienen in freier Liebe.« 42 Dabei erweisen wir Gott durch den Glauben die Ehre: »Denn nicht durch die Werke, sondern durch den Glauben ehren [glorificamus] wir Gott« 43. In diesem lutherischen Geist haben beispielsweise Bach und Händel ihre musikalischen Werke mit einem »soli Deo gloria [Gott allein die Ehre]« gekennzeichnet. Der Christ hat darum nach Luther, ohne dass er hier ausdrücklich das Wort »Würde« gebraucht, diese Würde, nämlich »ein ganz und gar freier [liberrimus] Herr über alles und keinem untertan« zu sein, weil Gott sein Vater ist. Zugleich ist er »ein ganz und gar dienender Knecht [servus] und allen untertan« 44. Luther hat im Jahr vor seinem Tod in der Vorrede zum ersten Band seiner lateinischen Schriften den entscheidenden Gedanken zusammengefasst: »Gott aber stärke das in uns, was er gewirkt hat, und vollende sein Werk, das er in uns angefangen hat, zu seiner Ehre.« 45 Auch der zweite große Reformator, Calvin, teilt mit Luther die Überzeugung, dass wir alles zur Ehre Gottes tun sollten, denn »es ist ein einiger Gott, der alle Wesen mit der Absicht lenkt und leitet, dass wir auf ihn blicken, unser Vertrauen auf ihn setzen, ihn ehren und ihn anrufen.« 46 Auch nach Calvin geht die Initiative letztlich von zeigt zugleich die tiefere theologische Dimension der Würde. Im Rahmen der Fragen nach der Freiheit und der Begründung der Würde (vgl. 2.4) ist darauf noch vertieft einzugehen, da die meisten evangelischen Theologen das substanzontologische Denken so nicht mittragen. 42 Luther, M. (2006 [1520]), 149. 43 Ebd., 139 (korrigierte Übersetzung). 44 Beide Stellen finden sich ebd., 121. 45 Luther (2006 [1545], 509. 46 Calvin (1997 [1559]), I, 5,6.
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Würde und Freiheit als Aufgabe, Jesus nachzufolgen
Gott aus, der als »der Herr in uns sein Leben, seine Weisheit, seine Kraft zur Geltung bringt«. 47 Als Konsequenz soll der Christ im Bewusstsein seiner Gotteskindschaft die Welt zur Ehre Gottes umgestalten. Darin besteht seine Würde, seine Freiheit. Man könnte sie eine theozentrische Freiheit nennen, eine Freiheit die von Gott her kommt und auf Gott bezogen ist. Ähnlich wie bei Thomas kann aber der Mensch diese Würde aber in dem Sinn verlieren, dass er es verdient, wie ein wildes Tier getötet zu werden, beispielswiese, wenn er eine Häresie vertritt. Ihr katholisches Gegenüber, Ignatius von Loyola, formuliert als »Prinzip und Fundament« christlichen Lebens: »Der Mensch ist darauf hin geschaffen, Gott, unseren Herrn, zu loben, ihm Ehre zu erweisen [hacer reverencia] und zu dienen und dadurch seine Seele zu retten.« 48 Die Formel »omnia ad maiorem Dei gloriam [alles zur größeren Ehre Gottes]« ist, davon inspiriert, bis heute der Leitspruch der Mitglieder des Jesuitenordens. Warum diese ignatianische Überzeugung eng mit der Thematik von Würde und Freiheit und ihrem Verhältnis zueinander verbunden ist, hat der Jesuit Karl Rahner (1904–1984), der bedeutendste katholische Theologe des 20. Jahrhunderts, in einem bezeichnenderweise den Titel Würde und Freiheit des Menschen tragenden Beitrag aufgezeigt. 49 Nach Rahner ist die Würde wesenhaft gegeben (Gabe), und zwar notwendig gegeben, d. h. ohne diese Würde ist der Mensch nicht Mensch, sondern ein findiges Tier. Diese Gabe bleibt immer zugleich eine Aufgabe, die eigene Freiheit so zu gebrauchen, dass der Mensch sich der Wirklichkeit Gottes öffnet, also Gottes Ruf Folge leistet. Darin besteht die »wesenhafte Würde des Menschen« 50. Rahner betont darum auch, ähnlich wie Papst Gregor und Thomas, dass die Würde in ihrer endgültigen Form verloren gehen kann: »Diese Würde kann betrachtet werden als vorgegebene, d. h. als Anlage und Aufgabe, oder als erfüllte. Die Erfüllung, die Einnahme und Bewahrung der vorEbd., I, 5,10. Der Frage, welche Probleme dies für den Freiheitsbegriff aufwirft, soll unter 2.3.2 nachgegangen werden. 48 Ignatius (1991 [1544]), 228 f. (eigene Übersetzung). 49 Rahner (2003 [1952]). 50 Vgl. Ebd., 186: »Die wesenhafte Würde des Menschen besteht darin, dass innerhalb einer geschlechtsdifferenzierten Gemeinschaft in raumzeitlicher Geschichte der Mensch geistig sich erkennend und sich selbst frei auszeugend auf die unmittelbare personale Gemeinschaft mit dem unendlichen Gott hin sich der diesen Gott selbst mitteilenden Liebe in Jesus Christus öffnen kann und öffnen soll.« 47
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Würde im Verhältnis zur Freiheit
gegebenen Würde konstituiert selbst die letzte und endgültige Würde des Menschen, die darum verlorengehen kann […].« 51 Dabei bedeutet das Verlorengehen freilich wie bei Thomas nicht ein Nicht-existent-Werden der ursprünglichen Gabe, da »die vorgegebene Würde nicht einfach aufhören [kann], nicht-existent zu werden, wohl aber existieren [kann] als verleugnete und Verdammnis und Gericht begründende«. Im Unterschied zur Menschenrechtserklärung spielen also auch bei Rahner der Gottesbezug der Würde und auch die verleugnete Würde eine wesentliche Rolle. Der innerweltliche persönliche Würdestatus kann so wesentlich relativiert werden, dass alle innerweltlichen Rechte verloren gehen und sogar eine mögliche ewige Verdammnis des hartnäckigen Sünders in der »Hölle« angenommen wird. Erst mit der Enzyklika Pacem in Terris hat der damalige Papst Johannes XXIII. im Jahr 1963, also 25 Jahre nach der Menschenrechtserklärung, grundlegende Menschenrechte anerkannt und ausdrücklich einer Verlierbarkeit der innerweltlichen Würde eine Absage erteilt: »Überhaupt muss man immer die Irrtümer von denen unterscheiden, die in ihrer Meinung fehlgehen, auch wenn es sich um Menschen handelt, die entweder im Irrtum über die Wahrheit oder in ungenügender Kenntnis jener Dinge gefangen sind, die das Heilige oder die beste Lebensführung betreffen. Denn ein in Irrtum gefallener Mensch hört deswegen nicht auf, mit dem Menschsein ausgestattet zu sein, und verliert niemals seine persönliche Würde, die ja immer zu berücksichtigen ist.« 52
Zugleich betont der Papst in dieser Enzyklika an mehreren Stellen jedoch ausdrücklich die Pflichtdimension der Würde 53 und damit eine mit ihr verbundene Freiheitsdimension, die nicht mit Selbstbestimmung im heutigen Sinn verwechselt werden darf. Sie besteht nämlich darin, »dass wir Gott, der uns erschafft, den gerechten und schuldigen Gehorsam leisten, ihn allein kennen, ihm folgen.« 54 Diese ökumenische Grundüberzeugung, dass unsere Würde in Freiheitsakten realisiert wird, in denen wir Gottes Willen tun und ihn so ehren, hat bis heute nichts an ihrer Überzeugungskraft für Ebd., 186. Dort auch das folgende Zitat. DH 3996. 53 Vgl. exemplarisch DH 3957. 54 Hier zitiert nach DH 3961, wobei der Papst hier den Kirchenvater Laktanz (ca. 250– 320) zitiert. 51 52
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Würde und Freiheit als Aufgabe, Jesus nachzufolgen
die betreffenden Kirchen verloren. Dies zeigen beispielhaft Aussagen des Zweiten Vatikanischen Konzils, wonach »der Mensch ›nach dem Bild Gottes‹ geschaffen ist, fähig, seinen Schöpfer zu erkennen und zu lieben, von ihm zum Herrn über alle irdischen Geschöpfe gesetzt, um sie in Verherrlichung Gottes zu beherrschen und zu nutzen« 55. Die von Benedikt benannte Synthese zwischen biblischen Aussagen (Jerusalem) und philosophischen Überlegungen (Athen) wird besonders sichtbar, wenn die Konzilsväter im Dekret Gaudium et Spes ausdrücklich die Würde des Menschen auf das Engste mit der Würde der Vernunft und mit der Würde des sittlichen Gewissens verbinden. »Denn der Mensch hat ein Gesetz, das von Gott seinem Herzen eingeschrieben ist, dem zu gehorchen eben seine Würde ist und gemäß dem er gerichtet werden wird. Das Gewissen ist die verborgenste Mitte und das Heiligtum im Menschen, wo er allein ist mit Gott, dessen Stimme in diesem seinem Innersten zu hören ist.« 56
Damit wird der Grundgedanke in der christlichen Synthese – Würde als Freiheit, Gott die Ehre zu geben – mehr als deutlich und seine Konsequenzen für das Verständnis von Freiheit sichtbar, da diese »ein erhabenes Kennzeichen des Bildes Gottes im Menschen« 57, sich für Gott zu entscheiden, ihm die Ehre zu geben, wobei sie »nur mit Hilfe der Gnade Gottes die Hinordnung auf Gott zur vollen Wirksamkeit bringen« kann. Papst Franziskus hat in seinem Apostolischen Schreiben Gaudete et Exsultate aus dem Jahr 2018 beschrieben, wie dieses Gott-dieEhre-Geben konkret wird. »Wer in Wahrheit Gott mit seinem Leben ehren möchte, wer sich wirklich nach der Heiligung sehnt, damit sein Dasein Gott, den Heiligen, verherr-
GS, Nr. 12. Dabei wird keineswegs naiv ein optimistisches Menschenbild vertreten. Vielmehr bewirkt die Erlösungstat Christi, dass die durch die Sünde verlorene Würde wiederhergestellt wurde. Denn es ist Christus, »der den Kindern Adams die Gottebenbildlichkeit wiedergab, die von der ersten Sünde her verunstaltet war« (GS, Nr. 22). 56 GS, Nr. 15 f.: Hier spielen die Konzilsväter auf das Naturrecht (Rom) an, worauf Johannes Paul II. in Veritatis Splendor ausdrücklich Bezug nimmt: »Das Naturrecht ist, wenn es ›die Würde der menschlichen Person zum Ausdruck bringt und die Grundlage für ihre fundamentalen Rechte und Pflichten legt, […] in seinen Geboten universal‹« (VS, Nr. 51). Vgl. dazu 2.4. 57 GS, Nr. 17. Auch das folgende Zitat ist diesem Textabschnitt entnommen. 55
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Würde im Verhältnis zur Freiheit
licht, der ist berufen, sich voll Leidenschaft zu verzehren und abzuplagen im Bemühen, die Werke der Barmherzigkeit zu leben.« 58
Dabei gilt, dass man Gott mit dem eigenen Leben ehrt, wenn man die Menschenwürde des Nächsten anerkennt, also diesen ehrt: »Wenn ich einem Menschen begegne, der in einer kalten Nacht unter freiem Himmel schläft, kann ich fühlen, dass dieser arme Wicht etwas Unvorhergesehenes ist, das mir dazwischenkommt, ein Nichtsnutz und Gauner, ein Störenfried auf meinem Weg, ein lästiger Stachel für mein Gewissen, ein Problem, das die Politiker lösen müssen, und vielleicht sogar ein Abfall, der den öffentlichen Bereich verschmutzt. Oder ich kann aus dem Glauben und der Liebe heraus reagieren und in ihm ein menschliches Wesen erkennen, mit gleicher Würde wie ich, ein vom Vater unendlich geliebtes Geschöpf, ein Abbild Gottes, ein von Jesus Christus erlöster Bruder oder Schwester. Das heißt es, Christ zu sein! Oder kann man etwa die Heiligkeit abseits dieses konkreten Anerkennens der Würde jedes menschlichen Wesens verstehen?« 59
Der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Wolfgang Huber (* 1942), bezeugt ein ähnliches Verständnis von Würde: »Gott die Ehre zu geben ist deshalb die erste Aufgabe des menschlichen Lebens.« 60 Dabei betont Huber zugleich – im Unterschied zu Thomas – die Nichtverlierbarkeit der Würde: »Diese Würde wird nicht durch menschliche Leistungen erworben und auch nicht durch menschliche Fehlleistungen verspielt.« 61 Es mag so scheinen, als würde Huber Würde und Freiheit trennen, wenn er in diesem Zusammenhang schreibt: »Die Würde anzunehmen und anzuerkennen, die Gott schenkt, ist die zweite Aufgabe«, aber dies trifft nicht den Kern seines Gedankens. Vielmehr zeigt sich die Würde des Menschen zugleich darin, dass der Mensch in einer von Gott getragenen GE, Nr. 107. Ebd., Nr. 98. Der Papst hat dies, darauf ist noch unter 2.6.6 vertieft einzugehen, für aktuelle Fragen, z. B. die Frage des Umgangs mit Migranten, konkretisiert. 60 Huber (2005), 77. Papst Franziskus hat mit Verweis auf seinen Vorvorgänger Johannes Paul II. diese ökumenische Dimension vertieft, wenn er das Martyrium, das größte Zeugnis, Gott die Ehre zu geben bzw. das größte Zeugnis von Heiligkeit, als gemeinsames ökumenisches Zeugnis versteht: »Im Übrigen erinnerte uns der heilige Johannes Paul II. daran, dass ›das Zeugnis für Christus bis hin zum Blutvergießen […] zum gemeinsamen Erbe von Katholiken, Orthodoxen, Anglikanern und Protestanten geworden‹ ist. Bei der schönen ökumenischen Gedächtnisfeier im Jubiläumsjahr 2000 im Kolosseum sagte er, dass die Märtyrer ›ein Erbe [sind], das lauter spricht als die Faktoren der Trennung‹« (GE, Nr. 9). 61 Ebd., 77. 58 59
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Würde und Freiheit als Aufgabe, Jesus nachzufolgen
Freiheit diese Würde anerkennt, also sozusagen seine Freiheit frei übernimmt. Doch kann es eine derartige Freiheit überhaupt geben?
2.3 Zwei Probleme mit der Freiheit Im Zusammenhang mit der Menschenrechtserklärung hatten sich drei wesentliche Probleme beim Ringen um die Möglichkeit von Freiheit in einem gehaltvollen Sinn gestellt: Sind wir durch unsere Umstände oder auch unsere biologischen Voraussetzungen so festgelegt, dass Freiheit im Sinn, eigene Entscheidungen zu treffen, eigentlich nur eine Illusion ist? Wenn dies aber nicht der Fall ist, warum sind dann bestimmte Gründe in uns wirkmächtiger, sodass wir uns dafür bzw. dagegen entscheiden, etwas zu tun? Diese Probleme bleiben für die katholische Position bestehen, da Freiheit beispielsweise vom Zweiten Vatikanischen Konzil als echte Wahlfreiheit charakterisiert wird. »Die wahre Freiheit aber ist ein erhabenes Kennzeichen des Bildes Gottes im Menschen […] Die Würde des Menschen verlangt daher, dass er in bewusster und freier Wahl handle, das heißt personal, von innen her bewegt und geführt und nicht unter blindem innerem Drang oder unter bloßem äußeren Zwang.« 62
Diese Konzeption hängt freilich – theologisch gesprochen – davon ab, dass die Gottebenbildlichkeit durch die Sünde nicht vollständig zerstört worden ist. 63
2.3.1 Göttliche Prädestination Die Reformatoren Luther und Calvin gehen von einer anderen Lösung des Freiheitsproblems aus, das wesentlich am Römerbrief 64 und GS, Nr. 17. Wie sehr der Begriff der Person bzw. des Personalen mit Freiheit verbunden ist, hat Kobusch (1993) herausgearbeitet. Er hat gezeigt, dass die Verbindung von Personsein und Freiheit ursprünglich christologisch von Theologen wie Alexander von Hales (1185–1245) entwickelt wurde. Alexander unterscheidet »subjectum«, »individuum« und »persona Christi«, wobei das Personsein Christi mit der moralischen Ordnung verbunden ist: Freiheit konstituiert Personsein und macht damit den Wert der Person aus. Weil der Mensch Bild Gottes ist, hat er an dieser Freiheit Anteil. 63 Vgl. Huber (2006), 296. 64 Vgl. Röm 8, 28–29: »Wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum 62
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Zwei Probleme mit der Freiheit
an der Theologie des späten Augustinus orientiert ist. Bereits in der Heidelberger Disputation 1518 formuliert Luther die grundlegende These, dass durch den Sündenfall das freie Willensvermögen ein bloßer Name sei. 65 Diese These ist bis heute maßgeblich für das evangelische Verständnis. 66 In seiner großen Schrift über die Freiheit begründet er noch weitergehend, warum wir nicht frei sein können. »Alles, was wir tun, alles, was geschieht, geschieht – auch dann, wenn es uns veränderlich und zufällig zu geschehen scheint – in Wirklichkeit notwendig und unveränderlich, wenn du Gottes Willen betrachtest. Denn der Wille Gottes ist wirksam [efficax], er kann nicht gehindert werden, weil er Gottes natürliche Macht selbst ist.« 67
Wir können uns deshalb nicht durch eigene Werke retten, sondern nur im Glauben an Gottes Gnade werden wir gerechtfertigt und damit gerettet. Dabei ist mit »Glauben« nicht in erster Linie das Annehmen von Glaubenssätzen gemeint, sondern ein bedingungsloses Vertrauen auf Gott. Das hebräische Wort »Amen«, das wörtlich »sich festmachen« bedeutet, lässt diese Grundbedeutung gut erkennen. Calvin entwickelt Luthers Überlegungen zum unfreien Willen – Luthers umfangreiche Schrift trägt den Titel De servo arbitrio – zur Lehre von der doppelten Prädestination der Menschen weiter. Gott hat eine vorbestimmte Zahl von Menschen zum Heil bestimmt, die anderen zur Verdammnis, ohne dabei auf das Verdienst des Einzelnen Guten führt, bei denen die nach seinem ewigen Plan berufen sind; denn alle, die er im Voraus erkannt hat, hat er auch im voraus dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben [wörtlich: bestimmte er im Voraus als gleichgestaltig dem Bild seines Sohnes].« 65 Vgl. Luther (2006 [1518], 46: »Liberum arbitrium post peccatum, res est de solo titulo«. Calvin stimmt dem ausdrücklich zu, wenn er schreibt: »Die aus Augustin entlehnte allgemein angenommene Meinung, nach welcher im Menschen die natürlichen Gaben durch die Sünde verderbt, die übernatürlichen Gaben dagegen ganz und gar ausgetilgt sind, findet meine Zustimmung. Unter den ›übernatürlichen Gaben‹ im zweiten Glied des Satzes versteht man dabei das Licht des Glaubens und die Gerechtigkeit, die genügt hätten, um das himmlische Leben und die ewige Seligkeit zu erlangen.« (Calvin (1997 [1559]), II, 2, 32). 66 Vgl. dazu die Aussage des ehemaligen Ratsvorsitzenden der EKD Huber (2006), 296: »Evangelische Theologie geht […] von einer relationalen Auffassung der Gottebenbildlichkeit aus, die von der Seite des Menschen in der Sünde gänzlich pervertiert, von der Seite Gottes aber in seiner gnädigen Treue zu seinem Geschöpf wiederhergestellt wird.« 67 Luther (2006 [1525]), 253.
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zu schauen, denn »Gott ist doch selbst die Ursache von allem, was ist, und er soll es auch billig sein!« 68 Er schenkt den Glauben, das Vertrauen auf sein Heilswirken, den der Einzelne nicht verlieren kann und der jede Willensfreiheit wegnimmt. Stattdessen ist es Gott selbst, der in den ihm wohlgefälligen Werken tätig ist und diese bewirkt. Der Einzelne ist nur Werkzeug Gottes. Er verdankt Gott alles. Es kann keine Rede von einem Subjektstatus im Sinne der Menschenrechtserklärung sein. Nicht der Mensch schreibt seine Lebensgeschichte, sondern die Lebensgeschichte ist von Gott vorherbestimmt. Die zum Heil vorbestimmten Menschen können dabei aufgrund der göttlichen Gnade gar nicht anders, als ein gottgefälliges Leben zu führen. Allerdings stellt sich dann die Frage, ob Gott nicht ungerecht ist, wenn er die einen zum Heil bestimmt, die anderen aber zur Verdammnis. Darauf antwortet Calvin: »Gottes Wille ist die höchste Richtschnur der Gerechtigkeit: wenn er also etwas will, so ist es eben darum, weil er es will, für gerecht zu halten.« 69 Calvin, aber nicht nur er, ist aufgrund dieser Aussage mit der Frage zu konfrontieren, ob Gott Sollensforderungen aufstellen kann oder selbst Handlungen verursacht, die wir nach menschlichen Vernunftmaßstäben für moralisch verwerflich halten.
Calvin (1997 [1559], I, 23, 1 f. Im diesem Zusammenhang greift Calvin auf Röm 9,22 f. zurück: »Gott […] hat die Gefäße des Zorns, die zur Vernichtung bestimmt sind, mit großer Langmut ertragen, um an den Gefäßen des Erbarmens, die er zur Herrlichkeit vorherbestimmt hat, den Reichtum seiner Herrlichkeit zu erweisen.« 69 Calvin (1997 [1559], III, 23,2. Dabei zitiert er Augustinus. In Deutschland haben sich die evangelischen Kirchen 1973 in der Leuenberger Konkordie auf eine mildere Form der Prädestinationslehre geeinigt: »Im Evangelium wird die bedingungslose Annahme des sündigen Menschen durch Gott verheißen. Wer darauf vertraut, darf des Heils gewiss sein und Gottes Erwählung preisen. Über die Erwählung kann deshalb nur im Hinblick auf die Berufung zum Heil in Christus gesprochen werden. Der Glaube macht zwar die Erfahrung, dass die Heilsbotschaft nicht von allen angenommen wird, er achtet jedoch das Geheimnis von Gottes Wirken. Er bezeugt zugleich den Ernst menschlicher Entscheidung wie die Realität des universalen Heilswillens Gottes. Das Christuszeugnis der Schrift verwehrt uns, einen ewigen Ratschluss Gottes zur definitiven Verwerfung gewisser Personen oder eines Volkes anzunehmen.« Hier zitiert nach https://www.ekd.de/Leuenberger-Konkordie-III-Die-Ubereinstimmungangesichts-der-Lehrverurteilungen-der-Reformationszeit-11308.htm, zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018. 68
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Zwei Probleme mit der Freiheit
2.3.2 Abrahams Opfer Das bekannteste Beispiel einer göttlichen Forderung, die fundamental zum Würdeverständnis und dem mit ihm verbundenen Lebensrecht im Widerspruch steht, ist Gottes Befehl an Abraham, er solle seinen Sohn als Brandopfer darbringen. 70 Gott befiehlt also eine zutiefst unmoralische Handlung, nämlich die Tötung des eigenen Kindes. Die Bereitschaft, das eigene Kind zu töten und damit auch die eigene Zukunft preiszugeben, die im damaligen Verständnis in den eigenen Kindern lag, wird selbst im Neuen Testament ausdrücklich gelobt: »Aufgrund des Glaubens brachte Abraham den Isaak dar, als er auf die Probe gestellt wurde, und gab den einzigen Sohn dahin, er, der die Verheißungen empfangen hatte.« 71 Das Opfer Abrahams bildet zudem den Hintergrund des viel größeren Opfers: »Denn Gott hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern das ewige Leben hat.« 72 Der Kreuzestod Jesu wird als Opfer Gottes, des Vaters, interpretiert, der seinen eigenen Sohn hingibt. Dieser Kreuzestod wird als entscheidendes Erlösungsgeschehen verstanden. In Anspielung auf den jährlich sich wiederholenden Versöhnungstag (Jom Kippur) wird Jesu Kreuzestod biblisch und christlich als das eine Opfer gedeutet, das ein für alle Mal die Welt erlöst. 73 Selbst das zölibatäre Leben (virginitas) wird noch 1954 von Pius XII. in dieser Linie als »Leben des Gekreuzigtseins« 74 und somit als Opfer gedeutet. Auch Paul VI. Diese Geschichte hat eine über das Christentum hinausgehende Bedeutung, sowohl für das Judentum – die Geschichte wird im ersten Buch der Hebräischen Bibel erzählt (Gen 22) –, als auch für den Islam., denn die Erzählung findet sich im Koran in der 37. Sure (Verse 99–113). 71 Hebr. 11,17. Aufgrund göttlichen Eingreifens darf Abraham in letzter Sekunde statt seines Sohns ein Tier opfern. Es geht also um seine Bereitschaft, Gott zu gehorchen, nicht um das reale Ausführen dieser Tat. 72 Joh 3,16. 73 Vgl. Hebr. 9,24–27: »Denn Christus ist nicht in ein von Menschenhand gemachtes Heiligtum hineingegangen, in ein Abbild des wirklichen, sondern in den Himmel selbst, um jetzt vor Gottes Angesicht zu erscheinen für uns; auch nicht, um sich selbst viele Male zu opfern, wie der Hohepriester jedes Jahr mit fremdem Blut in das Heiligtum hineingeht; sonst hätte er viele Male seit der Erschaffung der Welt leiden müssen. Jetzt aber ist er am Ende der Zeiten ein einziges Mal erschienen, um durch sein Opfer die Sünde zu tilgen. Und wie es dem Menschen bestimmt ist, ein einziges Mal zu sterben, worauf dann das Gericht folgt, so wurde auch Christus ein einziges Mal geopfert, um die Sünden vieler hinwegzunehmen […].« 74 SV, Nr. 49. 70
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spricht von einem Leben des Opfers zur Begründung des priesterlichen Zölibats, bei der in der englischen Übersetzung sogar das Wort »holocaustum« verwendet wird. 75 Abrahams und Jesu Opfer werden hier spiritualisiert. Der Verzicht auf eigene Kinder (und das Ausüben der eigenen Geschlechtskraft) wird als ein Opfer gedeutet, das hilft, besser Gottes Willen zu erfüllen und Gott auf diese Weise besser die Ehre zu geben. Freilich ist hier die Brutalität der Forderung an Abraham wesentlich abgemildert, denn es wird nicht mehr verlangt, das eigene unschuldige Kind zu opfern. Die Reformatoren haben dagegen völlig mit dieser Tradition gebrochen und in sehr großer Schärfe eine derartige Opfertheologie abgelehnt. 76 Allerdings kann man die Geschichte von Abrahams Opferbereitschaft im Kontext seiner Zeit als Ablösung von den damals bei den Phönikiern üblichen Kindesopfern verstehen, also der Praxis, den Erstgeborenen den Göttern als Brandopfer darzubringen, interpretieren. Opfer können dabei den Sinn haben, den Glauben zu stärken. Wer das Kostbarste opfert, nämlich sein erstgeborenes Kind, wird an den Gott oder die Götter umso mehr glauben, denn sonst wäre sein Opfer ja sinnlos gewesen. Die Ablösung der Kindsopfer durch Tiere wäre dann als eine Humanisierung der Opferpraxis zu verstehen: Gott verlangt keine Kindsopfer mehr. Zugleich profitieren die Priester von der Ersetzung der Menschenopfer durch Tieropfer, da sie beispielsweise durch den Verkauf der Opfertiere Profit machen können. Christlich ist es möglich, die Kreuzigung Jesu mit Papst Bene-
In der englischen Übersetzung seiner Enzyklika Sacerdotalis Caelibatus heißt es in Nr. 29: »acting in the person of Christ, the priest unites himself most intimately with the offering, and places on the altar his entire life, which bears the marks of the holocaust.« (deutsch: »Der Priester, der ja in der Person Christi handelt, wird inniger mit der dargebrachten Opfergabe verbunden, indem er sein ganzes Leben, das die Zeichen des Versöhnungsopfers an sich trägt, auf dem Altar darbringt.«) (http://w2. vatican.va/content/paul-vi/en/encyclicals/documents/hf_p-vi_enc_24061967_ sacerdotalis.html, zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018). 76 Vgl. beispielsweise Calvin (1997 [1559]), IV,12,23: »In einer einzigen Sache sind die Papisten mehr als hart und unerbittlich, nämlich darin, dass sie den Priestern die Ehe nicht gestatten wollen. […] Sie sind im Vertrauen auf ihren stinkigen ›Zölibat‹ auch für alle Schandtaten gefühllos geworden. Dies Verbot aber zeigt deutlich, wie Verderben bringend alle Menschensatzungen sind; denn es hat nicht nur die Kirche der rechtschaffenen und brauchbaren Hirten beraubt, sondern eine gräuliche Schmutzflut von Freveltaten herbeigeführt und viele Seelen in den Schlund der Verzweiflung gestürzt. Auf jeden Fall ist das Verbot der Priesterehe aus gottloser Tyrannei erfolgt, nicht nur im Gegensatz zum Worte Gottes, sondern auch gegen jegliche Billigkeit.« 75
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Zwei Probleme mit der Freiheit
dikt XVI. als eine Hingabe zu deuten, die alle Menschen vereint und zu Menschen füreinander macht: »Der Vorgang der Kreuzigung erscheint darin als ein Vorgang der Öffnung, in der die verstreuten Mensch-Monaden 77 in die Umarmung Jesu Christi, in den weiten Raum seiner ausgespannten Hände einbezogen werden, um in solcher Vereinigung an ihrem Ziel, am Ziel der Menschheit anzukommen. Wenn es aber so ist, dann ist Christus als der kommende Mensch nicht der Mensch für sich, sondern wesentlich der Menschen für die anderen; […] Das bedeutet anders ausgedrückt: Die Zukunft des Menschen liegt im ›Sein-für‹.« 78
Was damit gemeint ist, lässt sich am Einsatz des französischen Polizisten Beltrame im März 2018 sehr gut nachvollziehen, der sozusagen in unserer Zeit das »Sein-für« konkret bezeugt hat. Ein islamistischer Attentäter hatte in einem Supermarkt in Südfrankreich Geiseln genommen. Beltrame ließ sich gegen eine Geisel austauschen und bezahlte dies mit seinem Leben. Als nämlich der Supermarkt gestürmt wurde, verletzte ihn der Attentäter so schwer, dass er daran verstarb. Der französische Präsident und auch der Innenminister würdigten ihn mit einer Trauerfeier und mehreren posthum verliehenen Orden. Der Innenminister schrieb: »Niemals wird Frankreich sein Heldentum, seinen Mut und sein Opfer vergessen.« 79 Wenn man das Abrahamsopfer in dieser Weise deutet, lassen sich christliche und säkulare Vorstellungen von Würde und Freiheit verbinden. Sobald man jedoch zur eigentlichen Fragestellung zurückkehrt, nämlich ob Gott fordern kann, unschuldige Menschen zu opfern, geraten wir in eine ausweglose Diskussion. Dann gibt es auch keine rational nachvollziehbare Begründung von Würde und Freiheit mehr, wonach unsere Menschenwürde mit Grundrechten verbunden ist. Ein derartiges religiöses Verständnis widerspricht jedoch fundamental unserem heutigen Rechtsempfinden. So verurteilte 2002 ein texanisches Gericht eine Mutter, die ihre fünf Kinder ertränkt hatte, weil sie glaubte, Gott habe dies von ihr verlangt, um die Kinder Benedikt nimmt hier eine Begrifflichkeit des Jesuiten Teilhard de Chardin auf, der wiederum von Leibniz beeinflusst ist, auf dessen Überlegungen noch einzugehen sein wird. 78 Ratzinger (2014), 222. Er verweist als Beispiele für die Nachfolge Jesu auf Märtyrer der frühen Kirche. 79 Hier zitiert nach https://www.stern.de/politik/ausland/geiselnahme-in-frankreich –er-liess-sich-gegen-geisel-tauschen–helden–polizist-erliegt-seinen-verletzungen-79 13614.html (zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018) 77
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vor der bösen Welt zu schützen, zu lebenslanger Haft. Ihre Berufung auf Gottes Willen akzeptierten die Geschworenen nicht. Kein Staat würde eine solche Berufung auf den göttlichen Willen akzeptieren. Möglicherweise würde sie in manchen Staaten in die Psychiatrie eingeliefert und für schuldunfähig erklärt. Auch heutige Vertreter der großen Kirchen und Weltreligionen würden diese Berufung auf Gott für blasphemisch halten, da es mittlerweile eine gemeinsame Überzeugung aller Gläubigen ist, dass Gott von niemandem verlangt, die eigenen Kinder zu töten. Wie sehr diese heutige Überzeugung jedoch ebenfalls zeitbedingt sein könnte, lässt sich an drei Beispielen verdeutlichen. 80 Dabei wirkt das erste Beispiel noch recht harmlos. Ein jüdisches Kind fragt seinen Vater: »Warum essen wir kein Schweinefleisch?« Der Vater antwortet: »Yankele, du bist noch jung und verstehst es jetzt noch nicht, aber Gott würde uns bestrafen, wenn wir Schweinefleisch essen. Wir müssen Gott gehorchen, denn er hat die Welt so eingerichtet, dass wir kein Schweinefleisch essen dürfen.« Im Jahr 1943 fragt der Sohn eines SS-Offiziers seinen Vater: »Warum töten wir Juden?« Der Vater antwortet: »Fritz, du bist noch jung und verstehst es jetzt noch nicht, aber Gott würde uns bestrafen, wenn wir ihm nicht gehorchen, denn die Welt ist so eingerichtet, dass Juden und Arier in einem Kampf auf Leben und Tod stehen. Die Juden sind aber böse und schlimmer als wilde Tiere. Sie haben deshalb den Tod verdient.« Im Jahr 2018 fragt der Sohn eines Bundestagsabgeordneten seinen Vater: »Warum nehmen wir in Deutschland muslimische Flüchtlinge auf?« Der Vater antwortet: »Leo, du bist noch jung und verstehst es jetzt noch nicht, aber alle Menschen haben eine Würde und Menschenrechte. Wir müssen sie aufnehmen, wenn sie politisch verfolgt werden. Gott hat allen Menschen Würde und Freiheit geschenkt und sie als unsere Nächsten ausgezeichnet, die wir lieben sollen wie uns selbst. Deshalb müssen wir Gott gehorchen und diesen Menschen helfen.« Wenn eine christliche Theologie nie mehr in diese Ausweglosigkeit geraten soll, die Anerkenntnis von Würde und Freiheit von einem willkürlich entscheidenden Gott abhängig zu machen bzw. von einer willkürlichen Auslegung des vermeintlichen Willens Gottes, dann benötigt sie nachvollziehbare Argumente, warum der Vater von Leo im Recht ist, nicht aber der Vater von Fritz. Diese Beispiele sind dem Buch Homo Deus des israelischen Historiker Harari (2018), 249–251, entnommen, aber hier für unsere Fragestellung leicht verändert.
80
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Christliche Begründungen der Würde
Gerade wer sich das schreckliche Wüten der Kreuzfahrer bei der im christlichen Abendland bejubelten Eroberung Jerusalems (1099) und bei der durch Papst Innozenz III. gefeierten Eroberung Konstantinopels (1204) sowie die furchtbaren Formen von Ketzer- und Hexenverfolgung mit Folter und Verbrennungstod und auch die grausamen Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts im Namen Gottes in Erinnerung ruft, weiß, wie sehr gerade Christen immer wieder einen falsch verstandenen Gehorsam Gott gegenüber realisiert haben und glaubten, so Gott die Ehre zu erweisen. Aber es gibt auch wesentlich weniger offensichtliche Formen, einen Willkürgott zu predigen, der Menschen in unnötiger Weise leiden lässt. Papst Franziskus kritisiert in seinem Apostolischen Schreiben Gaudete et Exsultate in aller Deutlichkeit diejenigen Theologen, die »danach […] streben, die Lehre Jesu auf eine kalte und harte Logik zu reduzieren, die alles zu beherrschen sucht« 81, und dabei vergessen, »dass die wahre christliche Weisheit nicht von der Barmherzigkeit gegenüber dem Nächsten getrennt werden darf« 82. Es entscheidet sich darum sehr viel daran, wie Gott verstanden wird: Ist Gott die Wirklichkeit, die alles befehlen kann, selbst wenn es unmenschlich und grausam ist wie das Brandopfer des eigenen Kindes? Oder hat die menschliche Freiheit ihr Maß an fundamentalen Werten zu nehmen, konkret an der Würde des Menschen und an seinen Rechten, sodass diesen Werten widersprechende Forderungen zurückzuweisen sind, selbst wenn sie im Namen eines Gottes eingefordert werden?
2.4 Christliche Begründungen der Würde Vor diesem Hintergrund spielt die Begründung, warum dem Menschen Menschenwürde zukommt, zur Vermeidung eines Willkürgottes eine zentrale Rolle. Eine wesentliche Begründungslinie klang bereits in der Beschreibung obiger Synthese aus griechischer Philosophie, römischem Rechtsdenken und biblischen Aussagen an, nämlich die Begründung GE, Nr. 39. Franziskus nennt dies auch »subtile Feinde der Heiligkeit«, so die Überschrift zum entsprechenden Kapitel. Heilig sind dabei die Menschen, die Gott die Ehre geben und den Nächsten lieben (vgl. 2.6.6). 82 GE, Nr. 46, wobei Franziskus hier Bonaventura zitiert. 81
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Würde und Freiheit als Aufgabe, Jesus nachzufolgen
der Würde mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen aufgrund seiner Vernunftnatur: »Dass der Mensch und nur er unter allen Lebewesen ›Bild Gottes‹ genannt wird, ist zunächst Ausdruck seines Herausgehobenseins aus der Natur.« 83 Sehr treffend weist der Erlanger Theologe Dabrock, langjähriger Vorsitzender des Deutschen Ethikrats, entscheidende Konsequenzen aus diesem Verständnis von Gottebenbildlichkeit, beispielsweise für das Grundrecht auf Leben, aus. Das Menschenrecht auf Leben gewinnt er »aus dem unabweisbaren Anspruch […], der mir im Antlitz des anderen als die unbedingte Verpflichtung entgegentritt, ihn nicht zu töten«, wie Dalferth 84 diese Position zusammenfasst. Dabrocks Aussage erinnert dabei an säkulare Versuche, beispielsweise Gewirths Ansatz, den ursprünglichen Naturrechtsgedanken in fundamentalethischem Gewand ohne »Naturbezug« zu retten und auf diese Weise Relativierungen grundlegender Rechte und Werte zu verhindern: Weil wir Handelnde sind und sein wollen, würden wir uns selbst widersprechen, wenn wir einen ethischen Ansatz erlaubten, der die Tötung von Handelnden zuließe, denn unser Leben ist notwendige Bedingung dafür, dass wir handeln können. Sollte allerdings der andere unser Leben bedrohen und damit diesen »Vertrag« brechen, so sind wir praktisch gezwungen, wenn wir unsere Möglichkeit zu handeln wahren wollen, uns gegen diese Bedrohung zur Wehr zu setzen. Allerdings ist unter Theologen umstritten ist, ob die Natur des Menschen, sein Antlitz, als der eigentliche Grund der Gottebenbildlichkeit angenommen werden soll. Vielmehr wird auch die Überzeugung vertreten: »Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen ist nicht die Natur des Menschen, sie besteht nicht in seiner Geistigkeit, Innerlichkeit, Sittlichkeit oder in seinem freien Ich, sondern sie ist im biblischen Verständnis eine reine Funktionsbestimmung.« 85 Menschliches Leben ist nur in einem abgeleiteten Sinn heilig: Der Mensch ist Repräsentant Gottes, des Heiligen schlechthin. Die Würde des Menschen verdankt sich einzig und allein Gott. 86 Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (1990), 39. Dieses ökumenische Dokument aller in der damaligen Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen zusammengeschlossenen Kirchen und Gastkirchen der alten Bundesrepublik entstand im Kontext der Frage, wie der Lebensschutz gesichert werden kann. 84 Dalferth (2008), 21. 85 Vgl. Seidel (2010), 169. 86 Vgl. Dalferth (2008), 43: »Bild Gottes ist man daher nicht, man wird es, und Men83
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Christliche Begründungen der Würde
Wenn Luther in seiner Schrift Disputatio D. Martini Lutheri de homine 1536 unbefangen davon spricht, dass die »Vernunft die Hauptsache von allem ist und vor allen übrigen Dingen dieses Lebens das Beste und etwas Göttliches (divinum). […], sodass sie von da aus der wesentliche Unterschied (differentia essentialis) genannt werden muss, durch den begründet wird, dass der Mensch sich von den Tieren und den anderen Dingen unterscheidet« 87, so referiert er hier nur die christliche Philosophie. In dem, was für das Heil entscheidend ist, hängt, wie der zweite Teil dieser Schrift zeigt, alles an Gottes Gnade. Allein durch die rechtfertigende Erlösungstat Christi ist der sündige Mensch in seine nun besondere Würde gestellt, die Luther in eine besondere christologische Fassung gebracht hat. Bezugnehmend darauf, dass Christus die Würden des eigentlichen Priesters und Königs hat, spricht er den Christen die Teilhabe an diesen Würden zu. Die Vernunft ist in diesem Sinn »ratio Christi«, also eine durch Christus Erlösungstat und Gnade von Gott her geheiligte Vernunft. 88 Darum betonen evangelische Theologen, dass »gerade im Protestantismus stets auch das Bewusstsein tradiert worden [ist], dass dem Menschen aus sich selbst heraus, auf Grund irgendwelcher Eigenschaften oder Fähigkeiten grundsätzlich keine eigene, intrinsische Würde eigne, sondern dass ihm alle Würde allein von außen, durch Gottes Handeln zukomme« 89. Würde ist damit ein relationales Geschehen. Sie wird dem Menschen »unabhängig von seinen Wesenseigenschaften in kommunikativen Bezügen zugesprochen, verbal und nonverbal. […] Analog zum Gnadenzuspruch in der Taufe ist eine
schen werden Gottes Bild, indem sie so zum Ort seiner Gegenwart werden« und Seidel: »Die Menschenwürde an der Vernunftnatur des Menschen und dessen Autonomie festmachen zu wollen, wie es Philosophen von Cicero bis Kant versucht haben, impliziert aus biblischer Sicht eine unzulässige Vergötzung der menschlichen Natur« (2010, 170 f.). Allerdings ließe sich auch mit der thomanischen Tradition so argumentieren, dass die menschliche Natur als von Gott geschaffene für die göttliche Offenbarung prädisponiert und insofern auch Grund der Würde sein kann. 87 Luther (2006 [1536]), 665. 88 Vgl. Luther (2006 [1520]), 141: »Wie aber Christus durch seine Erstgeburt diese beiden Würden [dignitates] erlangte, so teilt er sie mit jedem seiner Gläubigen und macht sie zu einem gemeinsamen Besitz nach dem Recht der vorher erwähnten Ehe, nach welchem alles Eigentum des Bräutigams auch der Braut gehört. Daher sind wir alle in Christus Priester und Könige, die wir an Christus glauben.« 89 Anselm (2000), 222.
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Würde und Freiheit als Aufgabe, Jesus nachzufolgen
einmal zugesprochene Würde unbegrenzt gültig. Auch relational zugeschriebene Würde ist nicht einfach beliebig wieder entziehbar.« 90 Die Menschenwürde kommt darum dem einzelnen Menschen nicht mehr kraft seines Menschseins als ontologischem Faktum zu, sondern aufgrund göttlicher Rechtfertigung. Das eigentliche Problem, das aus einer derartigen Annahme entspringt, lautet dann: Wenn es nicht auf Eigenschaften ankommt, also das Menschsein, warum beschränkt dann Gott seine Rechtfertigung auf uns Menschen? Warum sind diejenigen Lebewesen, die zumindest, wie es scheint, auch moralisch zu handeln vermögen, beispielsweise Delfine oder Bonobos, von seiner Rechtfertigung ausgeschlossen? Die gnadentheologische Begründung der Würde ist von daher bundestheologisch zu ergänzen. Gott schließt aus freier Entscheidung seinen Bund mit allen Menschen, und nur mit den Menschen.
2.5 Adressaten der Würde Genau wie in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen spielt für die Kirchen die Frage, ob auch Tieren eine dem Menschen vergleichbare Würde zukommt, praktisch keine Rolle, denn nur der Mensch ist von Gott zum ewigen Heil bestimmt und erwählt. Nur der Mensch ist tauf- und gnadenfähig. Dagegen haben sich christliche Denker und auch die Kirchenleitungen ausdrücklich mit der Frage auseinandergesetzt, ab wann und bis wann Menschen Menschenwürde zukommt. Was das Lebensende angeht, so gilt ein Mensch als verstorben, wenn entweder sein Organismus irreversibel zusammengebrochen oder wenn sein Gehirn völlig zerstört ist. Die Päpstliche Akademie der Wissenschaften hat diese herrschende kirchliche Meinung im Jahr 2008 ausdrücklich bestätigt. 91 Wenn nämlich niemals mehr Bewusstseinsvollzüge möglich sein werden, dann ist der Mensch verstorben. Allerdings gibt es erste kirchliche Stellungnahmen, die Zweifel am Ganzhirntodkriterium anmelden. So nimmt die Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern in ihrer Handreichung zur Organspende sogar die Position ein: 90 91
Ebd., 224 f. Päpstliche Akademie der Wissenschaften (2008).
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Adressaten der Würde
»Ob der Hirntod wirklich der vollständige und endgültige Tod des Menschen ist, lässt sich deshalb nicht entscheiden, weil medizinisches Todesverständnis und religiöses Todesverständnis nicht deckungsgleich sind – und auch nicht sein müssen. […] Theologie und Glauben können ihrerseits auch nicht abschließend erklären, wann der Tod des Menschen definitiv eingetreten ist […].« 92
Der katholische Philosoph Walter Schweidler spricht sogar ausdrücklich davon, dass Hirntote noch nicht verstorben seien, sondern sich noch in einem Sterbeprozess befänden. Allerdings sei eine Organentnahme mit Einwilligung dennoch zulässig, weil sie »die Beendigung einer Sterbensverzögerungsmaßnahme« 93 darstelle und damit nicht als aktive Sterbehilfe zu deuten sei. Aufgrund eines solchen Verständnisses bleibt die Möglichkeit zur Organentnahme erhalten und die Kontroverse ist kirchlich ohne weitreichende Folgen. Dagegen gibt es innerkirchlich im Hinblick auf den Lebensanfang heftige Kontroversen, ab wann dem Ungeborenen Menschenwürde zukommt, ob bereits im Zygotenstadium, also unmittelbar nach der Vereinigung des Erbguts von Ei- und Samenzelle, oder in einem späteren Stadium seiner Existenz. Selbst die katholische Tradition ist hier nicht eindeutig. Im Gegenteil: Thomas von Aquin war davon überzeugt, dass erst mit der Beseelung der Mensch mit Gewissen und Verstand begabt ist. Diese Beseelung aber findet erst in einem späteren Stadium der Schwangerschaft statt. Thomas geht vor dem Hintergrund seines naturwissenschaftlichen Wissens davon aus, dass im männlichen Samen eine »virtus formativa« 94, eine Gestalt gebende Kraft wirkt, die bei der Zeugung dafür sorgt, dass Körperwerdung [formatio corporis] geschieht, aber erst das »Wirken Gottes aber bringt die menschliche [Geist]Seele hervor, auf die die Kraft des Samens lediglich vorbereitet [disponit], die sie aber nicht hervorbringen [producere] kann.« 95 Die Beseelung mit der Geistseele, erfolgt erst, wenn die körperliche Grundlage dafür vorhanden ist. 96 In heutigem Sprachgebrauch würde Vgl. Evangelisch-Lutherische Kirche in Bayern (2014), 53 f. Schweidler (2018), 115. Schweidler verweist hier auf den katholischen Neurologen Shewmon, der als einer der ersten die Hirntoddefinition in Frage gestellt hat. 94 SG II, 2, cap. 86, no. 5, 95 Ebd., cap. 89, no. 15. 96 Vgl. ebd., cap. 89, no. 3; vgl. SG II, 2, cap. 86. Allerdings macht Thomas selbst in diesem Zusammenhang keine Zeitangabe, wann dies der Fall ist. Für diese Überlegungen sind seine zeitbedingten biologischen Vorstellungen gerade nicht relevant. 92 93
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man sagen: Beseelung setzt eine körperliche Bedingung der Möglichkeit voraus. Thomas versteht deshalb die Abtreibung, zumindest bis zu dem Zeitpunkt, an dem diese körperliche Bedingung noch nicht vorhanden ist, auch nicht als Tötung eines Menschen (»homicida«) und würde logischerweise auch die Embryonenforschung, die zu einem Zeitpunkt stattfindet, in dem sogar noch eine Zwillingsbildung möglich ist, nicht als homicida ansehen. Es ist gerade nicht so, dass diese thomanischen Gedanken an systematischer Relevanz verloren hätten. Karl Rahner argumentiert etwa 700 Jahre nach Thomas in einer ähnlichen Weise – er nimmt sogar ausdrücklich Bezug auf die »mittelalterliche Lehre« 97. Nach seiner Überzeugung »steuert ein noch-nicht-menschlicher biologischer Organismus auf eine Zuständlichkeit zu, in der die Entstehung einer Geistseele ihr genügendes biologisches Substrat hat.« Selbst das Lehramt der katholischen Kirche hat derartige Überlegungen so ernst genommen, dass sie bis heute nicht zu behaupten wagt, dass wir sicher sein können, dass der menschlichen Zygote Menschenwürde zukommt. 98 In der ökumenischen Diskussion schien dennoch lange Zeit zumindest im deutschsprachigen Raum ein Konsens unter den Kirchen vorherrschend, dass bereits der menschlichen Zygote Menschenwürde zukommt. 99 Doch dieser Konsens ist so nicht mehr gegeben. So erkennt die Bischofskonferenz der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD) in ihrer Stellungnahme, nur zwölf Jahre nach Gott ist ein Freund des Lebens, an, »dass die anstehenden Fragen in medizinisch-wissenschaftlicher wie auch in theologisch-ethischer Hinsicht sehr komplex sind. Gründliche Information ist nötig, schnelle und einfache Antworten sind der Komplexität des Themas nicht angemessen« 100. Diese Stellungnahme wurde zu einem Zeitpunkt verfasst, in dem der Deutsche Bundestag erstmals darüber abstimmte, ob es in Deutschland eine embryonale Stammzellforschung geben dürfe. Als der Bundestag 2007 darüber debattierRahner (2002a [1961]), 88. Hier auch das folgende Zitat. Vielmehr wird in allen römischen Dokumenten seit dem 2. Vatikanum, De Abortu Procurato (1974), Donum Vitae (1989), Evangelium Vitae (1996) und Dignitas Personae (2008) ausdrücklich das Vorsichtsargument bemüht, um zu begründen, warum bereits der Zygote Menschenwürde zukommt. 99 Vgl. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.) (1990), 44. 100 VELKD (2001), 8. 97 98
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Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte
te, ob der Stichtag zum Import embryonaler Stammzellen verschoben werden sollte, sprach die Evangelische Kirche in Deutschland erneut nicht mit einer Stimme. Vielmehr befürwortete der damalige Ratsvorsitzende der EKD Wolfgang Huber ausdrücklich eine Verlegung des Stichtags, während sein bischöflicher Amtskollege Johannes Friedrich von der Bayrischen Landeskirche explizit die Position der römisch-katholischen Bischöfe teilte und für eine möglichst strikte Lösung optierte. Damit spiegelte sich nun auch auf bischöflicher Ebene die Pluralität unterschiedlicher ethischer Bewertungen konkreter Konfliktsituationen wider. 101 Drei Jahre später, als der BGH im Jahr 2010 102 die Zulässigkeit der Präimplantationsdiagnostik in bestimmten Fällen feststellte, zeigte sich diese Pluralität erneut. Als Ergebnis lässt sich festhalten: Was die Antworten auf die Frage betrifft, ab wann und bis wann einem Menschen Menschenwürde zukommt, sprechen am Lebensanfang weder die Tradition noch die heutigen Kirchen mit einer Stimme. Das hat einen guten Grund, weil die Frage nach dem Lebensanfang nicht im eigentlichen Fokus der christlichen Botschaft steht. Das Thema der Abtreibung kommt im Neuen Testament an keiner Stelle vor.
2.6 Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte Bereits bei der Herausarbeitung der christlichen Synthese war aufgefallen, dass die Menschenwürde im Christentum in erster Linie als Freiheit zu verstehen ist, Jesus nachzufolgen, Gottes Willen zu tun und so Gott die Ehre zu geben.
101 Diese Pluralität lässt sich auch mit der lutherischen Tradition sehr gut verbinden. In einer anderen, im weiteren Sinn dennoch mit den hier verhandelten Themen verbundenen Frage hat Martin Luther selbst seine Unwissenheit ausdrücklich eingestanden: »Dann gibt es da noch das Problem, ob ein noch ungeborener Säugling schon die Taufe empfangen könnte, wenn er nun eben eine Hand oder einen Fuß aus dem Leib der Mutter hervorschauen lässt. Hier möchte ich kein vorschnelles Urteil fällen und gebe zu, dass ich das selbst nicht weiß [meamque ignorantiam confiteor]. Und ich weiß auch nicht, ob es genug ist, was sie hier als Basis betrachten, nämlich dass die Seele in jedem Körperteil vollständig da sei. Denn es wird ja nicht die Seele mit Wasser getauft, sondern äußerlich der Leib. […] Auch wenn die Sache dringlich ist, überlasse ich sie also dem Lehramt des Geistes, um unterdessen jedermann zu gestatten, seiner eigenen Einsicht zu folgen« (Luther (2009 [1520]), 283). 102 BGH, Urteil vom 6. Juli 2010 – StR 386/09.
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2.6.1 Grenzen des Rechts auf Leben Christsein ist nur in Gemeinschaft realisierbar. Wer diese Gemeinschaft verletzt, verdient es bestraft zu werden. So hat schon Thomas von Aquin die Todesstrafe ausdrücklich gerechtfertigt, wenn ein Mensch schwer sündigt. Vor diesem Hintergrund ist auch nachvollziehbar, dass noch die Erstausgabe des von Papst Johannes Paul II. 1992 approbierten und auf dessen Anordnung veröffentlichten Katechismus der Katholischen Kirche die Möglichkeit der Todesstrafe rechtfertigt. Die explizite Erlaubnis der Todesstrafe führte zu einer heftigen Diskussion innerhalb der römisch-katholischen Kirche. Diese Diskussion hatte so weitreichende Konsequenzen, dass sich Papst Johannes Paul II. gezwungen sah, 1997 eine revidierte Fassung des Katechismus veröffentlichen zu lassen, in der die Todesstrafe nur noch im Sinne der überlieferten Lehre zulässig ist, wenn sie der einzige Weg ist, um Menschenleben gegen einen ungerechten Angreifer zu verteidigen. Die traditionelle Erlaubnis der Todesstrafe wird zu einer Handlung aus Notwehr bzw. Nothilfe umgedeutet. 103 Am 11. Mai 2018 billigte Papst Franziskus eine Neufassung der entsprechenden Stelle des Katechismus. Seitdem gilt auch für die römischkatholische Kirche als offizielle Lehre, dass die Todesstrafe nicht mit der menschlichen Würde vereinbar ist: »Heute ist das Bewusstsein immer lebendiger, dass die Würde der Person nicht verloren geht, auch nicht nachdem jemand schlimmste Verbrechen begangen hat. […] Deswegen lehrt die Kirche im Licht des Evangeliums, dass die Todesstrafe unzulässig ist, weil sie einen Anschlag auf die Unverletztlichkeit und Würde der Person darstellt, und sie engagiert sich mit Entschiedenheit für deren Abschaffung auf der ganzen Welt.« 104
103 In KKK, Nr. 2266 (Fassung von 1992) hieß es noch, dass die überlieferte Lehre »die Rechtmäßigkeit des Rechtes und der Pflicht der gesetzmäßigen öffentlichen Gewalt anerkannt [hat], der Schwere des Verbrechens angemessene Strafen zu verhängen, ohne in schwerwiegendsten Fällen die Todesstrafe auszuschließen.« KKK, Nr. 2267 (Fassung von 1997) schwächt dies ab, wenn sie die Todesstrafe im Sinne von Notwehr und Nothilfe umdeutet: »Unter der Voraussetzung, dass die Identität und die Verantwortung des Schuldigen mit ganzer Sicherheit feststeht, schließt die überlieferte Lehre der Kirche den Rückgriff auf die Todesstrafe nicht aus, wenn dies der einzig gangbare Weg wäre, um das Leben von Menschen wirksam gegen einen ungerechten Angreifer zu verteidigen.« 104 Neufassung der Nr. 2267 des Katechismus, hier nach eigener Übersetzung der veröffentlichten italienischen Fassung wiedergegeben: https://www.vaticannews.va/it/
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Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte
Die römisch-katholische Kirche erlaubt allerdings unter besonderen Umständen sogar die Tötung eines nach ihrem Verständnis unschuldigen Menschen, wenn diese Tötung nicht direkt angestrebt wird, sondern im Sinne der Handlung mit doppelter Wirkung eine nicht abwendbare Handlung ist, um das Leben eines Menschen zu retten oder sonst einen schweren Schaden von diesem Menschen abzuwehren. Obwohl der frühe Embryo nach katholischer Vorstellung nämlich bereits ein Mensch ist, dem Menschenwürde zukommt, darf bei einer Eileiterschwangerschaft der Eileiter entfernt werden, wodurch der Embryo abstirbt, weil nur so die für die Mutter lebensbedrohliche Situation beendet werden kann. Die deutschen Bischöfe gehen sogar so weit, die direkte Tötung eines Fötus dann zumindest nicht zu verurteilen, wenn als Alternative Mutter und ungeborenes Kind sterben würde: »In seltenen, aber nicht auszuschließenden Fällen stehen sowohl das Leben der Mutter wie auch das Leben des Kindes auf dem Spiel (vitale Indikation). Hier wird die Situation so dramatisch, dass alle Beteiligten vor einem schweren persönlichen Konflikt stehen; hier scheinen auch die ethischen Kategorien über die Unantastbarkeit des Lebens kaum mehr zu greifen. Die ethische Forderung, in einem solchen Fall der Natur ihren Lauf zu lassen und beide, Mutter und Kind, sterben zu lassen, wird allgemein als unmenschlich empfunden. Man wird in diesem extremen Ausnahmefall aber auch das Argument derer beachten, die es ethisch für vertretbar halten, dass von zwei sonst unrettbaren Leben wenigstens eines gerettet werden dürfe, zumal das Ziel der Handlung die Rettung von Leben sei.« 105
Diese beiden Fallbeispiele sind vor dem Hintergrund heutiger Diskussionen in einem ganz anderen Bereich von Konfliktfällen von höchster systematischer Relevanz: Darf es beispielsweise erlaubt sein, ein von Terroristen entführtes Flugzeug abzuschießen, wenn dieses als Waffe benutzt wird, um Tausende unschuldiger Menschen zu töten, obwohl im Flugzeug, das abgeschossen wird, selbst wiederum unschuldige Menschen sterben werden? Könnte man die Tötung der unschuldigen Menschen in der entführten Maschine mit der Argumentationsfigur der nicht-intendierten Handlungsfolge zulassen, analog zum Abbruch einer Eileiterschwangerschaft? Nach meiner Interpretation der kirchlichen Lehre wäre dies theologisch möglich. Der papa/news/2018-08/papa-francesco-pena-morte-catechismo-chiesa-cattolica.html, zuletzt eingesehen: 02. 08. 2018. 105 Deutsche Bischofskonferenz (1995), 292.
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Würde und Freiheit als Aufgabe, Jesus nachzufolgen
Abschuss der Maschine intendiert die Rettung Tausender von Menschen, beispielsweise wenn das Flugzeug in ein Hochhaus gelenkt werden soll, die Rettung der in diesem Hochhaus befindlichen Menschen. Die nicht-intendierte Handlungsfolge ist hierbei, dass die im Flugzeug befindlichen Passagiere zusammen mit den Terroristen dadurch sterben werden und nicht erst, wenn das Flugzeug in das Hochhaus fliegt und explodiert.
2.6.2 Umstrittene Grundrechte auf Religions-, Gewissens- und Meinungsfreiheit Die Heilsnotwendigkeit der kirchlichen Gemeinschaft 106 erklärt, warum es beispielsweise der römisch-katholischen Kirche in ihrer Geschichte so schwergefallen ist, das Recht auf Religionsfreiheit anzuerkennen. Dieses für die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen und die meisten heutigen Staaten unumstrittene Grundrecht ist von Päpsten bis in die Sechzigerjahre des letzten Jahrhunderts überall dort mit Nachdruck bekämpft worden, wo die staatliche Macht römisch-katholisch war. Auch in protestantisch geprägten Staaten wie Schweden, das bis Ende des letzten Jahrhunderts eine lutherische Staatskirche hatte, gab es bis 31. 12. 1950 klare Restriktionen für all diejenigen, die nicht der Staatskirche angehörten. Bereits kurz nach der konstantinischen Wende im 4. Jahrhundert, die das Christentum zur Staatsreligion werden ließ, übte die Kirche Druck aus, die Religionsfreiheit Andersgläubiger einzuschränken. Schon im Jahr 341, also nicht einmal dreißig Jahre nach der Mailänder Vereinbarung von Konstantin (270–337) und Lincinius (263– 325), die den Christen Religionsfreiheit gewährte, erließen die Söhne Konstantins auf kirchliches Drängen hin scharfe Gesetze gegen Andersgläubige. Konstantius II. (317–361) drohte 352 allen die Todesstrafe an, die heidnischen Göttern Opfer bringen wollten. Auch die Juden wurden mehr und mehr diskriminiert und verfolgt. Ambrosius (339–397), der selbst eine Schrift über die Würde
106 Römisch-katholisch wird dies im Hinblick auf die Taufe sogar kirchenrechtlich festgehalten: »[…] ihr tatsächlicher Empfang oder wenigstens das Verlangen danach ist zum Heil notwendig; durch sie werden die Menschen von den Sünden befreit zu Kindern Gottes neu geschaffen und, durch ein untilgbares Prägemal Christus gleichgestaltet, der Kirche eingegliedert« (CIC, can. 849).
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des Menschen geschrieben hatte, drohte 388 Kaiser Theodosius (347– 395) die Exkommunikation an, wenn er weiterhin verlangen sollte, dass der katholische Bischof die Synagoge in Thessaloniki wieder aufzubauen habe, die aufgebrachte Christen seiner Diözese, dazu von eben diesem Bischof angestachelt, zerstört hatten. Dies war der offizielle Beginn eines auch von staatlichen Autoritäten mitgetragenen, immer wieder von Hass geprägten Umgangs mit Menschen jüdischen Glaubens, für den man sich beispielsweise auf das Matthäusevangelium berief: »Da rief das ganze Volk: Sein Blut komme über uns und unsere Kinder!« 107, und das Johannesevangelium zitierte: »Darum waren die Juden noch mehr darauf aus, ihn zu töten« 108. Augustinus nahm diese Bibelstellen zum Anlass, um in seiner Schrift Adversos Judaeos Juden als Gottesmörder zu verstehen, mit Schimpfworten zu belegen und ihre ewige Knechtschaft bzw. Versklavung [servitus] zu fordern, die Papst Innozenz III. (1161–1216) 1205 als andauernde (perpetua) deklarierte. Diese Überzeugungen wurden auch politisch wirksam, als der Kaiser die Kammerknechtschaft der Juden einrichtete. 109 Juden wurden als »Gottesmörder« aus ehrbaren Berufen gedrängt, in Ghettos weggeschlossen und als verblendete und für den Erlöser blinde Menschen angesehen. Immer wieder kam es zu Pogromen, gerade auch im Anschluss an die Karfreitagsliturgie, bei der die Kirche Jesu Tod gedenkt dabei die Passionsgeschichte vorgelesen wird, nach der die Juden pauschal die Schuld an seiner Kreuzigung unterstellt wird. 110 Selbst Luther, der noch 1523 so achtungsvoll über die Juden geschrieben hatte, dass niederländische Juden seine Schrift von 1523 als Trostschrift an spanische Juden schickten, schloss sich gegen Ende seines Lebens diesem Feindbild an und veröffentlichte 1543 seine von den Nationalsozialisten gern zitierte judenfeindliche Schrift Von den Juden und ihren Lügen. Luther forderte darin u. a. die Synagogen zu zerstören, die Häuser der Juden zu verbrennen und sie zu vertreiben. Auch wenn von Seiten der Kirche diese Geringschätzung des Judentums auf den Glauben bezogen war und keine Rassenideologie beinhaltete, ist dieses jüdische Feindbild dennoch einer der Mt 27,25. Joh 5,18. 109 Vgl. die Belege bei https://de.wikipedia.org/wiki/Augustinus_von_Hippo#cite_ note-17 (zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018) 110 Vgl. Joh 19,12–15: »Daraufhin wollte Pilatus ihn freilassen, aber die Juden schrien: Wenn du ihn freilässt, bist du kein Freund des Kaisers; […] Weg mit ihm, kreuzige ihn.« 107 108
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Böden gewesen, auf dem die bösartige Ideologie des Antisemitismus wurzelte, die in der Shoa, ihren entsetzlichen Höhepunkt fand. Bei den Nürnberger Prozessen 1946 verteidigte sich der für sein Hetzblatt Der Stürmer bekannte Kriegsverbrecher Julius Streicher damit, »Dr. Martin Luther säße heute an meiner Stelle auf der Anklagebank«, da er geschrieben habe, »die Juden seien ein Schlangengezücht, man solle ihre Synagogen niederbrennen, man solle sie vernichten« 111. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg distanzierten sich die Kirchen nach und nach von ihrer judenfeindlichen Einstellung, die römisch-katholische Kirche ausdrücklich auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–65) in der Erklärung Nostra Aetate. Ebenfalls von sehr großer Bedeutung für die Einschränkung der Religions- und Gewissensfreiheit wurden die Forderungen von Augustinus nach einer »gerechten Verfolgung [iusta persecutio]« 112 und der Zwangsbekehrung: »zwingt sie einzutreten [cogite intrare]« 113, aufgrund seiner Interpretation von Lk 14,23: »Da sagte der Herr zu dem Diener: Geh zu den Wegen und Zäunen und nötige die Leute hereinzukommen, damit mein Haus voll wird.« Er legte damit den Grundstein einer langen Geschichte der katholischen Kirche von Verfolgung Andersgläubiger und von Zwangsbekehrungen, beispielsweise der Sachsen durch Karl den Großen (747–814). Dahinter steht folgende Überzeugung: Wer den einen wahren Glauben nicht anerkennt, verliert grundlegende Rechte, u. a. das Recht auf Leben, denn das Grundrecht auf Religionsfreiheit kann es nicht geben, weil es nur die eine wahre Religion gibt und diese mit der Vernunft erkannt werden kann. Wer sich nicht um die einsehbare Wahrheit bemüht, ist darum schwer schuldig. Zudem droht demjenigen, der nicht gegen die Andersgläubigen vorgeht, die Strafe Gottes. 114 Im Hochmittelalter verlangt Thomas von Aquin in seiner Summa Theologica bezeichnenderweise in der Quaestio mit dem Titel Utrum haeretici sint tolerandi [Ob Häretiker zu tolerieren sind] für 111 Hier zitiert nach https://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Luther_und_die_Juden (zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018). 112 Brief 185,11, zitiert nach Siebenrock (2009), 136. 113 Brief 93,5, zitiert nach ebd., 136. 114 So beispielsweise mit Berufung auf 1 Sam 28,18: »Weil du nicht auf die Stimme des Herrn gehört und seinen glühenden Zorn an Amalek nicht vollstreckt hat, hat dir der Herr heute das getan.« So auch mit Berufung auf Lk 19, 27: »Doch meine Feinde, die nicht wollten, dass ich ihr König werde – bringt sie her, und macht sie vor meinen Augen nieder!«
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hartnäckige Häretiker die Todesstrafe. 115 Er geht dabei auf das Problem ein, ob nicht möglicherweise auch Unschuldige fälschlichweise getötet werden könnten. Dabei zitiert er das Gleichnis von Unkraut unter dem Weizen, wonach auch das Unkraut bis zur Ernte stehen bleiben solle und erst dann nach seiner Trennung vom guten Getreide zu verbrennen sei. 116 Im klaren Fall des Häretikers ist nach seiner Überzeugung dieses Gleichnis nicht anzuwenden, weil dieser schlimmer ist als normale Verbrecher. Er verführt Menschen, ihr ewiges Seelenheil zu verlieren. Deshalb ist es gut, ihn bereits jetzt zu töten und seine Bestrafung nicht Gott am Jüngsten Tag zu überlassen. 117 Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass aufgrund des Glaubens Andersgläubige verfolgt und getötet wurden. Beispielsweise feierte Papst Gregor XIII. (1502–1585) die Ermordung tausender Hugenotten in der Bartholomäusnacht 1572 mit einem Te Deum. Er ließ sogar eine Gedenkmünze prägen. Auch die Reformatoren Luther, Zwingli und Calvin haben die Religions- und Gewissensfreiheit abgelehnt. Exemplarisch hierfür steht die Verbrennung von Miguel Serveto y Reves auf Betreiben Calvins 1553 in Genf, weil er die Dreifaltigkeit bestritt. Nur christliche Minderheiten wie Puritaner, Baptisten und Quäker haben sich seit Beginn des 17. Jahrhundert für Religions- und Gewissensfreiheit eingesetzt. 118 Die erbarmungslosen Religionskriege des 17. Jahrhunderts zeigen, wie tief diese Überzeugung im römischen Katholizismus, aber auch im Protestantismus verwurzelt war. Dazu »passt«, dass die Kirchen auch die Folter nicht nur tolerierten, sondern gegen Andersgläubige (»Ketzer«) für ein probates Mittel hielten. Spätestens seit der Aufklärung gehen die Wege zwischen römisch-katholischer Kirche einerseits und anglikanischen und evangelischen Kirchen andererseits mehr und mehr auseinander. Dabei ist es aufgrund der Vielzahl der aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen nicht möglich, einen kurzen Überblick über deren Entwicklung im Hinblick auf die Religions-, Gewissens- und MeinungsVgl. ST II-II, q 11 a 3 resp. und a 4 resp. Zu dieser Personengruppe gehören auch diejenigen, die bereuen, dann jedoch wieder in die häretische Ansicht zurückkehren. Selbst wenn sie dann ein zweites Mal ihre Häresie bereuen, sollen sie die Todesstrafe erleiden, auch wenn sie von der Exkommunikation gelöst werden. 116 Vgl. Mt 13,24–30. 117 Vgl. ST II-II, q 11 a 3 ad 3. 118 Vgl. bereits zu diesen religiösen Ursprüngen der Menschenrechtsidee (Jellinek ([1974 (1895]). 115
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freiheit nachzuzeichnen. 119 Jedoch war auch in den evangelischen Kirchen die Akzeptanz der Menschenrechte lange Zeit nicht einhellig. 120 Im Unterschied zum Protestantismus ist der Umgang mit diesen Freiheiten in der römisch-katholischen Kirche seit dem 19. Jahrhundert einfacher nachzuzeichnen. So übte Pius VII. (1742–1823) in seinem Apostolischen Brief vom April 1814 an den Bischof von Troyes heftige Kritik an der französischen Verfassung nach der Restauration des Königtums, weil sie die Rechte auf Religions- und Gewissensfreiheit beinhalte: »Dadurch nämlich, dass unterschiedslos die Freiheit aller Religionen erklärt wird, wird zwangsläufig die Wahrheit mit dem Irrtum verwechselt, und die Kirche, die heilige und unbefleckte Braut Christi, außer der es kein Heil geben kann, auf die gleiche Stufe gestellt mit den Sekten der Irrgläubigen und mit dem jüdischen Unglauben.« 121
In ähnlicher Weise äußerten sich auch die Päpste Gregor XVI. (1765– 1846) und Pius IX. (1792–1878), der in seiner Enzyklika Quanta Cura 1864, Gregor XVI. zitierend, ausdrücklich bestritt, »dass die Gewissens- und Religionsfreiheit ein jedem Menschen eigentümliches Recht sei« 122 und in seinem Syllabus aus dem gleichen Jahr folgenden Satz als Irrtum verurteilte: »Es steht jedem Menschen frei diejenige Religion anzunehmen und zu bekennen, die man, vom Lichte der Vernunft geführt, für wahr erachtet.« 123 Pius IX. setzte im damaligen, von ihm regierten Kirchenstaat sogar durch, dass 1858 ein jüdischer Junge, Edgardo Motara, seinen jüdischen Eltern weggenommen wurde, um eine christliche Erziehung zu gewährleisten. Edgardo war nämlich von seiner christlichen Amme notgetauft worden, als er lebensbedrohlich erkrankte. Selbst Pius XII. (1876–1958) folgte Thomas von Aquin und griff in seiner Ansprache vom 6. Dezember 1953 massiv die Idee der ToleVgl. zur Vielfalt protestantischer Denominationen Graf (2017). Vgl. Kreß (2012), 144 f.: »Bemerkenswert ist aber, wie nachdrücklich evangelische Kirchen sowie sogar namhafte Vertreter der akademischen evangelischen Theologie bis weit in das 20. Jahrhundert hinein der Anschauung widersprachen, den einzelnen Menschen stünden eigene Grund-, Menschen- und Freiheitsrechte zu.« Kreß hat im Anschluss an diese Aussage beispielhaft die Kritik protestantischer Theologen Anfang der Fünfzigerjahre an der Menschenrechtserklärung zitiert. 121 Hier zitiert nach Reuter (Hg.) (1978), 407. 122 Hier zitiert nach https://w2.vatican.va/content/pius-ix/la/documents/encyclicaquanta-cura-8-decembris-1864.html 123 DH 2915. 119 120
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ranz an, wenn religiöse oder moralische Werte betroffen sind, »weil eine derartige Toleranz in sich unmoralisch sei« 124, und fügte dann hinzu: »Was der Wahrheit und moralischen Norm nicht entspricht, hat objektiv kein Recht, weder auf Existenz noch auf Propaganda noch auf Handlung […].« Man könnte hier zwar entschuldigend sagen, dass der Papst im Unterschied zu Thomas mit Verweis auf das Gleichnis vom Unkraut in der Bibel, ausdrücklich betonte, dass man es rechtfertigen könne, keine Gewaltmaßnahmen oder Gesetze gegen dasjenige aufzustellen, was der Wahrheit und moralischen Norm nicht entspricht 125, doch bleibt der grundsätzliche thomanische Gedanke erhalten. Pius XII. ist nur etwas vorsichtiger geworden bzw. die Umstände haben sich in einer Weise geändert, dass der weltliche Arm nicht mehr die Todesstrafe vollzieht. 126 Erst in der bezeichnenderweise den Titel Dignitatis Humanae Personae [Würde der menschlichen Person] tragenden Erklärung über die Religionsfreiheit kam es am 7. Dezember 1965 auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil zur offiziellen Anerkennung der Religionsfreiheit durch die römisch-katholische Kirche und, damit verbunden, zur endgültigen Aufgabe der Überzeugung, wonach der Ketzer die Todesstrafe verdienen. Erst in dieser Erklärung des Konzils wird auch ausdrücklich betont, dass das Menschenrecht auf Religionsfreiheit »auf die Würde der menschlichen Person selbst gegründet« 127 ist und »nicht in einer subjektiven Verfassung der Person«. Darum folgern die Konzilsväter, dass dieses Recht auf Religionsfreiheit selbst dann besteht, wenn die betreffenden Personen »ihrer Pflicht, die Wahrheit zu suchen und daran festzuhalten, nicht nachkommen«. Damit wird ausdrücklich Pius XII. widersprochen, nach dessen Überzeugung der Irrtum kein Existenzrecht hat. 128 Pius XII. (1953), 799. Hier auch das folgende Zitat. Vgl. ebd., 799. 126 Dies ist in bestimmten islamischen Staaten bis heute nicht der Fall, wo auf das Verlassen des muslimischen Glaubens die Todesstrafe steht. 127 Dh 2. Dort auch die folgenden Zitate. Im Gesamtzusammenhang lautet die entscheidende Passage: 128 Schockenhoff (2010, 224 f.) hat herausgearbeitet, dass die Konzilsväter in Dignitatis Humanae die Religionsfreiheit als ein Menschenrecht anerkennen und damit eine neue Perspektive einnehmen, da jetzt diese Freiheit gerade nicht mehr an die Wahrheitssuche gekoppelt ist. Jetzt wird nicht mehr wie bei Augustinus und von ihm beeinflussten Theologen, beispielsweise auch Ratzinger, die Religionsfreiheit ausschließlich damit gerechtfertigt, dass jeder Mensch auf die Wahrheit hin geordnet ist, die ihm dann in Fülle im Christusereignis begegnet. 124 125
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»Dieses Vatikanische Konzil erklärt, dass die menschliche Person das Recht auf religiöse Freiheit hat. Diese Freiheit besteht darin, dass alle Menschen frei sein müssen von Zwang sowohl von Seiten Einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen und jeglicher menschlichen Gewalt, und zwar so, dass im religiösen Bereich niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und öffentlich, als einzelner oder in Verbindung mit anderen innerhalb der gebührenden Grenzen nach seinem Gewissen zu handeln. Ferner erklärt das Konzil, das Recht auf religiöse Freiheit sei in Wahrheit in der Würde der menschlichen Person selbst gegründet, so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft selbst erkannt wird. Dieses Recht der menschlichen Person auf religiöse Freiheit muss in der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft so anerkannt werden, dass es zum bürgerlichen Recht wird.« 129
Zu Recht wird darum die Erklärung zur Religionsfreiheit als »kopernikanische Wende« 130 der kirchlichen Lehre zur Religions-, Gewissens- und Meinungsfreiheit bezeichnet. Daran ändert auch die Aufforderung der Konzilsväter nichts, dass alle Menschen zur Wahrheitssuche verpflichtet sind. 131 Der zentrale Unterschied zur bis zum Vatikanum II vertretenen Lehre, die wirkliche »kopernikanische Wende« besteht darin, dass auch Menschen, die subjektiv im Irrtum sind, nicht der Religionsfreiheit beraubt werden dürfen: »Dieser Verpflichtung aber können die Menschen auf die ihrer eigenen Natur entsprechenden Weise nicht nachzukommen, wenn sie nicht im Genuss der psychologischen Freiheit und zugleich der Freiheit von äußerem Zwang stehen. Demnach ist das Recht auf religiöse Freiheit nicht in einer subjektiven Verfassung der Person, sondern in ihrem Wesen selbst begründet. So bleibt das Recht auf religiöse Freiheit auch denjenigen erhalten, die der Verpflichtung, die Wahrheit zu suchen und daran festzuhalten, nicht nachkommen, und ihre Ausübung darf nicht behindert werden, wenn nur die gerechte öffentliche Ordnung gewahrt bleibt.« (DH 4241)
Dh 2, hier zitiert nach DH 4240. So beispielsweise Böckenförde (2007, 461). 131 Vgl. Dh 2, hier zitiert nach DH 4241: »Weil die Menschen Personen sind, d. h. mit Vernunft und freiem Willen begabt und daher durch persönliche Verantwortung herausgehoben, werden alle – ihrer Würde gemäß – von ihrem eigenen Wesen gedrängt und zugleich durch eine moralische Verpflichtung gehalten, die Wahrheit zu suchen, vor allem jene Wahrheit, welche die Religion betrifft. Sie sind auch dazu verpflichtet, an der erkannten Wahrheit festzuhalten und ihr ganzes Leben an den Erfordernissen der Wahrheit auszurichten.« 129 130
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Diese fundamentale und neue Überzeugung der Religionsfreiheit des Einzelnen wird auch auf religiöse Gemeinschaften ausgedehnt 132 und sowohl das augustinische »cogite intrare« als auch die thomanische Interpretation des Gleichnisses vom Unkraut und Weizen zurückgewiesen. 133 Die Konzilsväter erwähnen in diesem Zusammenhang nur ganz beiläufig die mehr als 1500jährige Verfolgungsgeschichte Andersdenkender, die für sich das Recht auf Religionsfreiheit einforderten. Es klingt dabei verharmlosend, wenn sie einräumen: »Gewiss ist bisweilen im Leben des Volkes Gottes auf seiner Pilgerfahrt – im Wechsel der menschlichen Geschichte – eine Weise des Handelns vorgekommen, die dem Geist des Evangeliums wenig entsprechend, ja sogar entgegengesetzt war […].« 134 Darum dürften die betroffenen Opfer derartige Aussagen nicht wirklich als eine Entschuldigung akzeptieren. Sie würden es auch als eine Verhöhnung empfinden, wenn noch in diesem Jahrtausend ein evangelischer Theologe die Meinung vertritt, dass eigentlich nur dann die Beteiligten am »Ausrottungskrieg gegen die Ketzerei« 135 zu kritisieren sind, wenn egoistische Motive (Macht, Habgier) involviert seien, da sie subjektiv diesen Kampf mit einem guten Gewissen geführt hätten, »getrieben vom Bewusstsein ihrer unentrinnlichen Verantwortlichkeit für das ewige Heil der ihnen anvertrauten Menschen, das sie durch falsche Lehre und Praxis in tödlicher Gefahr sahen.« 132 Vgl. Dh 4, hier zitiert nach DH 4243: »Die Freiheit bzw. das Freisein von Zwang im religiösen Bereich, das den einzelnen Personen zukommt, ist ihnen auch dann zuzuerkennen, wenn sie in Gemeinschaft handeln. […] Deshalb wird diesen Gemeinschaften, sofern nur die gerechten Erfordernisse der öffentlichen Ordnung nicht verletzt werden, zurecht die Freiheit geschuldet, dass sie sich gemäß ihren eigenen Normen leiten, die höchste Gottheit in öffentlichem Kult verehren […].« 133 Vgl. Dh 11: »Gott ruft die Menschen zu seinem Dienst im Geiste und in der Wahrheit, und sie werden deshalb durch diesen Ruf im Gewissen verpflichtet, aber nicht gezwungen. Denn er nimmt Rücksicht auf die Würde der von ihm geschaffenen menschlichen Person, die nach eigener Entscheidung in Freiheit leben soll. […] Als [Jesus] bemerkte, dass Unkraut zugleich mit dem Weizen gesät war, befahl er, dass man beides wachsen lasse bis zur Ernte, die am Ende der Weltzeit geschehen wird.« 134 Dh 12. Es lässt sich darum auch kaum nachvollziehen, wenn im Anschluss an diese Aussage behauptet wird: »Der Sauerteig des Evangeliums hat sich so im Geist der Menschen schon lange ausgewirkt und hat viel dazu beigetragen, dass die Menschen im Laufe der Zeit die Würde ihrer Person besser erkannten und dass die Überzeugung heranreifte, in religiösen Dingen müsse sie in der bürgerlichen Gesellschaft vor jedem menschlichen Zwang geschützt werden.« 135 Osth 2008, 97. Dort auch das folgende Zitat.
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Kein geringerer als Papst Benedikt XVI. hat (noch als Präfekt der Glaubenskongregation) eine derartige subjektive Entschuldigung – freilich im Kontext einer anderen Fragestellung – zurückgewiesen, als er folgendes persönliches biographisches Erlebnis wiedergab, in dem er mit Kollegen über die rechtfertigende Kraft des irrenden Gewissens diskutierte. Ein Kollege vertrat dabei die Überzeugung: »Es bestehe überhaupt kein Zweifel, dass Hitler und seine Mittäter zutiefst von ihrer Sache überzeugt, gar nicht anders handeln durften und daher – bei aller objektiven Schrecklichkeit ihres Tuns – subjektiv moralisch gehandelt hätten. Da sie nun einmal ihrem – wenn auch fehlgeleiteten – Gewissen folgten, müsse man ihr Handeln als für sie moralisch anerkennen und könne daher auch an ihrer ewigen Rettung nicht zweifeln.« 136
Dies führte Benedikt dazu, für sich zu eindeutiger Klarheit in der Frage zu kommen: »Seit jenem Gespräch weiß ich mit Sicherheit, dass irgendetwas an der Theorie von der rechtfertigenden Kraft des subjektiven Gewissens nicht stimmt, dass – mit anderen Worten – ein Gewissensbegriff falsch ist, der zu solchen Ergebnissen führt. Das feste subjektive Überzeugtsein und das daraus folgende Fehlen von Zweifel und Skrupel rechtfertigt den Menschen nicht.« 137
Die mögliche subjektive Schuld der verfolgenden Kirchenvertreter könnte deshalb darin bestehen, dass sie ihr Gewissen nicht hinreichend gebildet haben, also jeder Einzelne nicht hinreichend am Evangelium Maß nahm (theologischer Grund: Jesus hat keinen Zwang ausgeübt) und sich nicht die Frage stellte, »ob sein konkretes Tun und er selbst vor dem Maßstab des secundem rationen vivere [vernunftgemäß leben] Bestand hat« 138. Dies gilt für Ambrosius, Augustinus, Thomas bis zu allen Päpsten, Bischöfen, Priestern und Laien, die andere wegen ihres Glaubens verfolgten. Sie hatten nämlich nicht nur Verantwortung dafür, ihrem Gewissen als Letztinstanz zu folgen, sondern auch ihr Gewissen immer neu fortzubilden. Wie in Anlehnung an Gewirth gezeigt, wäre die an und für sich gültige, allgemeine und vernunftmäßige Handlungsweise gewesen, Religions-, Gewissens- und Meinungsfreiheit zu gewähren, weil diejenigen, die andere wegen ihres Glaubens verfolgten, doch sicher
136 137 138
Ratzinger (2014a), 700. Ebd., 700. Schockenhoff (2013), 156.
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nicht gewollt hätten, dass sie selbst wegen ihres Glaubens verfolgt worden wären. Allerdings urteilen die Konzilsväter auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil milder. Allein Gott dürfe als Richter über die innere Schuld eines anderen Menschen urteilen. 139 Das heißt, dass es weder richtig ist zu sagen, dass das irrende Gewissen einen Verbrecher rechtfertigt, noch zu behaupten, man wisse, dass dieser subjektiv wirklich schuldig sei.
2.6.3 Umstrittenes Grundrecht auf Selbstbestimmung: Sklaverei Aber nicht nur das Recht auf Religionsfreiheit und Gewissensfreiheit haben die Kirchen lange Zeit nicht anerkannt. Vielmehr haben sie auch nicht ausdrücklich die Abschaffung der Sklaverei gefordert. Zwar hat das Christentum seit seinen Anfängen gerade für die Armen und die Versklavten seine Stimme erhoben, aber nur zögerlich ausdrücklich die Sklaverei verurteilt. Wie bereits biblische Stellen hierzu zeigen, ging es der Kirche nicht um die Abschaffung der Sklaverei, sondern um ihre Humanisierung und Christianisierung. Der Herr soll seinen Sklaven als Bruder in Christus erkennen. Exemplarisch hierfür ist der Brief von Paulus an Philemon im ersten Jahrhundert. Diese Humanisierungsforderung machte das junge Christentum gerade unter Sklaven sehr attraktiv, sodass die frühe Kritik am Christentum diese auch als Religion von Sklaven verspottete. Dennoch aber hat sich das Christentum, selbst nachdem es zur Reichskirche geworden war, politisch nicht wirklich dafür eingesetzt, dass das Rechtsinstitut Sklaverei im römischen Reich und später die Leibeigenschaft als Sklaverei im weiteren Sinn im Mittelalter abgeschafft wurden. Der Sklavenhandel nahm insbesondere nach der Ent139 Vgl. GS 28: »Achtung und Liebe sind auch denen zu gewähren, die in gesellschaftlichen, politischen oder auch religiösen Fragen anders denken oder handeln als wir. Je mehr wir in Menschlichkeit und Liebe inneres Verständnis für ihr Denken aufbringen, desto leichter wird es für uns, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Diese Liebe und Güte dürfen uns aber keineswegs gegenüber der Wahrheit und dem Guten gleichgültig machen. Vielmehr drängt die Liebe selbst die Jünger Christi, allen Menschen die Heilswahrheit zu verkünden. Man muss jedoch unterscheiden zwischen dem Irrtum, der immer zu verwerfen ist, und dem Irrenden, der seine Würde als Person stets behält, auch wenn ihn falsche oder weniger richtige religiöse Auffassungen belasten. Gott allein ist der Richter und Prüfer der Herzen; darum verbietet er uns, über die innere Schuld von irgendjemandem zu urteilen.«
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deckung Amerikas ein noch größeres Ausmaß an und endete erst mit dem amerikanischen Bürgerkrieg. Einer der wesentlichen Gründe für die Überzeugung, Menschenwürde und Sklaverei seien vereinbar, liegt darin, dass bereits die Bibel unbefangen die Sklaverei als Institution akzeptiert 140 und selbst Rechtsvorschriften zum Umgang mit Sklaven enthält, die im Vergleich zu zeitgenössischen Rechtssystemen auch Schutzrechte für Sklaven fordert, so das Verbot von Grausamkeiten 141, der Schutz der Sabbatruhe 142, insbesondere die Begrenzung der Zeit der Sklaverei für hebräische im Unterschied zu heidnischen Sklaven 143. Darum gilt auch die Aufforderung: »Die Sklaven und Sklavinnen, die euch gehören sollen, kauft von den Völkern, die rings um euch wohnen; von ihnen könnt ihr Sklaven und Sklavinnen erwerben.« 144 Das Neue Testament akzeptiert die Sklaverei als »irdische« Realität. Im 1. Petrusbrief werden die christlichen Sklaven zum Gehorsam gegenüber ihren Herren aufgefordert und ihr Sklavesein sogar in die Nähe zum Leiden Christi gerückt: »Ihr Sklaven, ordnet euch in aller Ehrfurcht euren Herren unter, nicht nur den guten und freundlichen, sondern auch den launenhaften! Denn es ist eine Gnade, wenn jemand deswegen Kränkungen erträgt und zu Unrecht leidet, weil er sich in seinem Gewissen nach Gott richtet. […] Dazu seid ihr berufen worden; denn auch Christus hat für euch gelitten und euch ein Beispiel gegeben, damit ihr seinen Spuren folgt. Er hat keine Sünde begangen und in seinem Mund war keine Falschheit. Als er geschmäht wurde, schmähte er nicht; als er litt, drohte er nicht, sondern überließ seine Sache dem gerechten Richter.« 145
Auch wenn das Christentum das Rechtsinstitut Sklaverei also nicht direkt bekämpfte und ihr sogar theologisch etwas abgewinnen konnte, hat es doch Sklaven als Kinder Gottes verstanden. Sie haben die gleiche fundamentale Menschenwürde im Sinne eines Anrechts auf die Taufe, die Ehe usw. Der Willkür christlicher Herren und Herrin140 Kurioserweise hat noch im Herbst 2017 bei einer Wahlveranstaltung zur Senatswahl in Alabama ein Teilnehmer ausgerufen: »Zeig’ mir die Stelle in der Bibel, wo Sklaverei verdammt wird [Show me the place in the Bible where slavery is condemned!]« (hier zitiert nach The Economist, Sept 23rd 2017, 40) 141 Ex 21,20 f. 142 Ex 20,10. 143 Ex 21,2–6. 144 Lev 25,44–46. 145 1 Petr 2,18
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nen werden deshalb Grenzen gesetzt. Diese Würde als Kinder Gottes ist auch der Grund, warum Herren wie Sklaven natürliche Pflichten haben. 146 Paulus legt in seinem Brief an Philemon diesem ausdrücklich nahe, den Sklaven Onesimus als »geliebten Bruder« 147 anzusehen. Während Kirchenväter wie Augustinus (354–430) noch nach der konstantinischen Wende die Sklaverei verteidigen, haben andere Kirchenväter wie Gregor von Nyssa (334–394) die Sklaverei scharf verurteilt: »Ich kaufte Sklaven und Sklavinnen. Was meinst du damit? Du verurteilst Menschen zur Sklaverei, deren Natur frei ist und die einen freien Willen haben, und du gibst Gesetze im Wettstreit mit Gott, indem du sein Gesetz für die Menschheit umstürzt. Ein Gesetz, das er speziell zu diesem Problem erlies, lautete, dass der Mensch sich die Erde untertan machen sollte, und diesen Menschen beugst du unter das Joch der Sklaverei, als ob du das göttliche Dekret bekämpfen und abschaffen wolltest? […] Gott sprach: Lasst uns den Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich. Wenn der Mensch nach dem Ebenbild Gottes geschaffen ist und die ganze Welt regiert und nach Gottes Willen Herrschaft über alles ausübt, wer kann dann sein Käufer sein?« 148
Mit der Zeit wurden auch vor dem Hintergrund derartiger theologischer Überlegungen durch kirchlichen Einfluss die Formen der Sklaverei zumindest gemildert, insbesondere in Nord- und Mitteleuropa hin zu Hörigkeit und Leibeigenschaft. In der byzantinischen Kirche setzte sich durch, dass Klöster keine Sklaven besitzen durften. Dennoch hat beispielsweise Thomas von Aquin die Sklaverei noch mit Bezug auf Aristoteles 149 gerechtfertigt: Manche Menschen besäßen keine hinreichend Vernunft, um selbst ihr Leben zu bestimmen. Thomas schränkt dabei ausdrücklich ein, dass dies aufgrund der zufälligen Eigenschaften des betreffenden konkreten Menschen der Fall ist, nicht aber sozusagen aufgrund der eigentlichen Natur des Menschen. Die Institution der Sklaverei ist deshalb nicht absolut, sondern nur relativ gerechtfertigt, nämlich aufgrund bestimmter fehlender Eigenschaften. 150 Dem Sklaven sind zudem bestimmte Rechte zuEph 6,5–8; Kol 3,22–24; Tit 2,9 f. Phm 16. 148 Gregor von Nyssa, 4. Homilie zum Buch Kohelet 335,5 ff. (hier zitiert nach Fischer (2018), 99 f.). 149 Vgl. Aristoteles: Politica, 1254b20–24. Die Stelle wurde bereits unter 2.1 zitiert und behandelt. 150 Vgl. ST II-II, q 57 a 3 ad 2. 146 147
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zugestehen, weshalb er nicht wie eine Sache absolut versklavt werden darf, aber dennoch Besitz seines Herrn sein kann, sodass er sogar als ein »etwas« bezeichnet wird, »das dem Herrn gehört, weil es sein Werkzeug ist« 151. Noch im Jahr 1962 heißt es im deutschsprachigen katholischen Standardwerk der Moraltheologie in Anlehnung an Thomas: »Um die Stellung des Christentums zur Sklaverei zu verstehen, muss man einen doppelten Begriff unterscheiden: 1. die Sklaverei im strengen, absoluten Sinne, bei der der Sklave rechtlos ist und nicht als Person, sondern als sachliches Eigentum betrachtet wird; 2. eine mildere Form der Sklaverei, die zwar die Arbeitskraft und äußere Freiheit des Sklaven dem Herrn überliefert, aber seine Menschenwürde und gewisse unverletzliche Menschenrechte anerkennt. Die erstere Form widerspricht dem Naturrecht und der christlichen Moral; sie ist als geschichtliche Tatsache eine der traurigsten Folgen und Strafen der Sünde, gegen die das Christentum stets angekämpft hat. Die zweite Form ist nicht unbedingt verwerflich, obschon sie weder dem natürlichen noch dem christlichen Ideal entspricht; sie ist vom Christentum aus wichtigen sozialen Gründen geduldet und nur allmählich, in Anpassung an die geschichtliche Entwicklung überwunden worden.« 152
Nach der Entdeckung der neuen Welt begannen Spanier und Portugiesen damit, Indianer zu versklaven. Sie konnten sich dabei auf Papst Nikolaus berufen, der in seiner Bulle Dum diversas 1452 ausdrücklich erlaubt hatte, dass Christen auf Entdeckungsreisen Feinde Christi versklaven dürften. Der Dominikaner De las Casas (1484–1566), berührt vom Leid der versklavten Indianer, betonte dagegen deren Würde als Menschen und argumentierte gegen ihre Versklavung. Die Einfuhr von Sklaven aus Afrika sah er zwar als geringeres Übel an, aber dennoch als Übel. Auch seine Argumente wirkten mit, dass in der Folgezeit Päpste die absolute Sklaverei ausdrücklich verurteilten, so Pius III. (1534–1549) 1537 in der Bulle Sublimis Deus. 153 Auch Indianer seien Menschen, mit Vernunft begabt und tauffähig. Allerdings relativierte er kurz darauf auf Drängen des spanischen Königs die Aussagen der Bulle wieder. Noch im 19. Jahrhundert verkauften beispielsweise die Jesuiten, die mit ihrer Georgetown Universität in Washington in Geldschwierigkeiten steckten, Sklaven, ohne auf deren 151 ST II-II, q57 a 3 resp. Im Orignal lautet die Stelle mit Verweis auf die Stelle bei Aristoteles: »et servus est aliquid domini, quia est instrumentum eius, ut dicitur in I Polit.« 152 Mausbach 1962, 454 f., der hier praktisch ST II-II a 3 ad 2 paraphrasiert. 153 Er nahm diese Verurteilung aber später auf politischen Druck hin wieder zurück.
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Familienbande zu achten. Sie missachteten damit nach katholischem Verständnis auf jeden Fall das absolute Menschenrecht, durch das Ehe und Familie geschützt werden sollten. 154 Auf protestantischer Seite verfasste der Quäker Burling (1678– 1743) eine sehr bedeutende Schrift gegen die Sklaverei und initiierte, unterstützt von Glaubensbrüdern und -schwestern, eine Bewegung, die zur Abschaffung der Sklaverei führte. Doch gerade im mehrheitlich protestantischen Süden der Vereinigten Staaten dauerte es bis zum Ende des Bürgerkriegs (1861–1865), ehe die Institution der Sklaverei abgeschafft wurde, und sogar bis in die Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts, ehe die Rassentrennung durch Gerichtsurteile offiziell aufzugeben war. Spätestens seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil ist es allgemeine christliche Überzeugung, dass nicht nur die absolute Sklaverei, sondern jede Form der Sklaverei im weitesten Sinn »die menschliche Würde angreift, wie unmenschliche Lebensbedingungen, willkürliche Verhaftung, Verschleppung, Sklaverei, Prostitution, Mädchenhandel und Handel mit Jugendlichen, sodann auch unwürdige Arbeitsbedingungen, bei denen der Arbeiter als bloßes Erwerbsmittel und nicht als freie und verantwortliche Person behandelt wird«. 155 Aufgrund des christlichen Würdeverständnisses, das eng damit verbunden ist, Gott die Ehre zu geben, schließen die Konzilsväter an diese Aussage ihre Überzeugung an: »[A]ll diese und andere ähnliche Taten […] entwürdigen weit mehr jene, die das Unrecht tun, als jene, die es erleiden. Zugleich sind sie in höchstem Maße ein Widerspruch gegen die Ehre des Schöpfers.« 156 Dabei schärft das Konzil nochmals den anthropologischen und theologischen Grund für diese Überzeugung einer grundsätzlichen Gleichheit aller Menschen ein: »Da alle Menschen eine geistige Seele haben und nach Gottes Bild geschaffen sind, da sie dieselbe Natur und denselben Ursprung haben, da sie, als von Christus Erlöste, sich derselben göttlichen Berufung und Bestimmung erfreuen, darum muss die grundlegende Gleichheit aller Menschen immer mehr zur Anerkennung gebracht werden.« 157 154 Vgl. dazu: https://www.nytimes.com/2016/04/17/us/georgetown-universitysearch-for-slave-descendants.html (zuletzt eingesehen 30. 07. 2018). 155 GS 27. 156 GS 27. 157 GS 29. Dabei wird an dieser Stelle keinesfalls in naiver Weise die faktische Unterschiedlichkeit der konkreten Menschen bestritten: »Gewiss, was die verschiedenen
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Daraus ergibt sich für das Konzil auch die konkrete Forderung, »die Wahrung der Grundrechte des Menschen unter jedem politischen Regime [zu] sichern.« 158 Päpste, Synoden und Bischofskonferenzen haben seitdem diese Botschaft immer wieder neu unterstrichen und Regierungen und Unternehmensleitungen ins Gewissen geredet, für menschenwürdige gesellschaftliche Lebensverhältnisse zu sorgen und sich im Bereich der Wirtschaft dafür einzusetzen, dass die Arbeitgeber Arbeitsbedingungen schaffen, die der Menschenwürde entsprechen.
2.6.4 Umstrittenes Grundrecht auf Nichtdiskriminierung wegen des Geschlechts Auch in der Frage der Nichtdiskriminierung der Geschlechter hat das Christentum lange Zeit eine wesentliche Unterscheidung vorgenommen, die an die Differenz von absoluter und relativer Sklaverei erinnert. Biblischer Ausgangspunkt ist die Schöpfungserzählung, wonach die Frau um des Mannes willen und aus seiner Rippe geschaffen ist. Sie ist es auch, die Adam verführt, weshalb sie ihm untertan zu sein hat. 159 Es verwundert darum nicht, wenn die hebräische Bibel davon spricht, dass Frau und Kinder Besitz des Mannes sind. Darum darf der Vater sogar die eigene Tochter als Sklavin verkaufen. 160 Die Zehn Gebote spiegeln dieses Besitzdenken ausdrücklich wieder, wenn verboten wird, Frau und Kinder des Nächsten oder andere Besitztümer zu begehren: »Du sollst nicht nach der Frau deines Nächsten verlangen, und du sollst nicht das Haus deines Nächsten begehren, nicht sein Feld, seinen Sklaven oder seine Sklavin, sein Rind oder seinen Esel, nichts was deinem Nächsten gehört.« 161 physischen Fähigkeiten und die unterschiedlichen geistigen und sittlichen Kräfte angeht, stehen nicht alle Menschen auf gleicher Stufe. Doch jede Form einer Diskriminierung in den gesellschaftlichen und kulturellen Grundrechten der Person, sei es wegen des Geschlechts oder der Rasse, der Farbe, der gesellschaftlichen Stellung, der Sprache oder der Religion, muss überwunden und beseitigt werden, da sie dem Plan Gottes widerspricht.« 158 GS 29. 159 Vgl. Gen 2–3. 160 Vgl. Gen 21,7 ff. 161 Dtn 5,21; vgl. Ex 20,17.
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Allerdings spiegeln bereits älteste Texte der hebräischen Bibel eine Praxis wider, die zeigt, dass die Beziehungen in Familien oft von großer Herzlichkeit geprägt waren. So fragen Rebekkas Eltern sie, ob sie bereit ist, mit Abrahams Diener ins ferne Land zu Abraham zu reisen, um seinen Sohn Isaak zu heiraten. 162 Ein ganzes Buch der hebräischen Bibel, nämlich das Hohelied, erzählt eine Liebesgeschichte, bei der Mann und Frau als Partner und Liebende gleichgestellt erscheinen. Ganz praktisch zeigt sich jedoch im Kontext der Bibel, dass Frauen zwar immer wieder von größter heilsgeschichtlicher Bedeutung sind – der Stammbaum Jesu im Matthäusevangelium erwähnt Tamar, Rut, Urijas Frau als Mutter Salomos und natürlich Maria die Mutter Jesu –, aber dennoch keine führenden Funktionen haben. Die zeitgenössischen Vorstellungen von den Aufgaben der Geschlechter werden nicht aufgebrochen, auch wenn theologisch wichtige und bahnbrechende Aussagen getroffen werden. Frauen sind die ersten Zeuginnen der Auferstehung. Frauen sind als Kinder Gottes genau wie Männer durch Christi Erlösungstat gerechtfertigt. Sie haben in der Taufe wie die Männer »Christus als Gewand angelegt« 163, sodass theologisch die Geschlechterdifferenz irrelevant geworden ist. Von daher haben sie dieselbe Würde wie die Männer, was die Erlösung angeht. Wer darum einer Frau das Recht auf die Taufe und ein christliches Leben verweigert, macht sich schuldig. Dennoch schreibt Paulus auch: »Ihr sollt aber wissen, dass Christus das Haupt des Mannes ist, der Mann das Haupt der Frau und Gott das Haupt Christi. […] Der Mann darf sein Haupt nicht verhüllen, weil er Abbild und Abglanz Gottes ist; die Frau aber ist der Abglanz des Mannes. Denn der Mann stammt nicht von der Frau, sondern die Frau vom Mann. Der Mann wurde auch nicht für die Frau geschaffen, sondern die Frau für den Mann.« 164
Epheser- und Kolosserbrief stehen fest in dieser Tradition und der römischen Rechtsordnung, wenn hier ausdrücklich von der Ehefrau gefordert wird:
Vgl. Gen 24,57 f. Gal 3,26. 164 1 Kor 11,3.7–9. Im Sinn des Galaterbrief rudert Paulus aber auch wieder zurück, wenn er anschließend schreibt: »Doch im Herrn gibt es weder die Frau ohne den Mann noch den Mann ohne die Frau« (1 Kor 11,11) 162 163
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»Ihr Frauen ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn (Christus); denn der Mann ist das Haupt der Frau, wie auch Christus das Haupt der Kirche ist; er hat sie gerettet, denn sie ist sein Leib. Wie aber die Kirche sich Christus unterordnet, sollen sich die Frauen in allem den Männern unterordnen.« 165
Freilich wird auch verlangt, dass die Männer ihre Frauen lieben sollen, wie Christus seine Kirche geliebt hat, aber das hat im öffentlichen Leben keine Bedeutung. Frauen sollen weder staatlich, noch kirchlich wichtige Ämter ausüben. Es wird sogar gefordert: »Wie es in allen Gemeinden der Heiligen üblich ist, sollen die Frauen in der Versammlung schweigen; es ist ihnen nicht gestattet zu reden. Sie sollen sich unterordnen, wie auch das Gesetz es fordert. Wenn sie etwas wissen wollen, dann sollen sie zu Hause ihre Männer fragen; denn es gehört sich nicht für eine Frau, vor der Gemeinde zu reden.« 166
Bei den Kirchenvätern und in der Scholastik wird die Überordnung des Mannes über die Frau als von Gott gewollt und von Natur aus gegeben vorgestellt. Dabei spielt theologisch neben den beiden Schöpfungsgeschichten vor allem die Geschichte vom Sündenfall eine zentrale Rolle. Sie wird so gedeutet, dass durch die Verführbarkeit der Frau die Sünde in die Welt gekommen sei, weshalb die Frau dem Mann untertan zu sein hat. Thomas von Aquin hat dies systematisch auf den Punkt gebracht, wenn er zwei Formen der Gottebenbildlichkeit unterscheidet. Grundsätzlich ist die Frau Abbild Gottes, da auch sie eine Geistseele hat, aber dann wird doch eingeschränkt, dass die Frau in einer zweiten Weise nicht Gottes Ebenbild ist, »denn der Mann ist Anfang und Zweck [principium et finis] der Frau, wie Gott Prinzip und Ziel der ganzen Schöpfung ist« 167. Thomas nennt die Frau auch hinsichtlich ihrer besonderen Natur »etwas, das einen Mangel hat und zufällig ist [aliquid deficiens et occasionatum]« 168, denn sie sei dem Mann vernunftmäßig unterlegen, weshalb sie ihm auch unterworfen sein soll. 169
Eph 5,22–24. 1 Kor 14,33–35. In der heutigen Bibelwissenschaft ist umstritten, ob diese Stelle von Paulus selbst stammt oder ein späterer Einschub der Paulusschule ist, der auch der Epheserbrief zugeschrieben wird. 167 ST I, q 93 a 4 ad 1. 168 ST I, q 92 a 1 ad 1. 169 »Et sic ex tali subiectione naturaliter femina subiecta est viro: quia naturaliter in homine magis abundat discretio rationis« (ebd., ad 2) 165 166
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Pius XI. (1857–1939) formuliert noch 1930 in der Enzyklika Casti Connubii im Sinne einer (auch zu seiner Zeit ökumenischen) Tradition, die bis zur Bibel zurückreicht: »Ist die häusliche Gemeinschaft schließlich durch das Band dieser Liebe gestärkt, so muss in ihr jene von Augustinus so genannte Ordnung der Liebe erblühen. Diese Ordnung umfasst nämlich sowohl den Vorrang des Mannes gegenüber der Gattin und den Kindern als auch die freiwillige und nicht widerwillige Unterwerfung und Folgsamkeit der Gattin, die der Apostel mit folgenden Worten empfiehlt: ›Die Frauen seien ihren Männern untertan wie dem Herrn; denn der Mann ist das Haupt der Frau, so wie Christus das Haupt der Kirche ist‹ [Eph 5,22f].« 170
Bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil ist es gängige römisch-katholische Überzeugung, von einer kognitiven männlichen Überlegenheit auszugehen und ebenso von größeren Rechten, denn im »geistigen Leben zeigt sich […] eine gewisse Überlegenheit des Mannes über die Frau, was die reine Verstandestätigkeit und das überlegte, produktive Wollen angeht. […] Mit den schweren Pflichten im öffentlichen Leben fallen dem Manne auch die größeren Rechte zu.« 171 Das Konzil hatte dann zwar betont, dass Frauen nicht aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert werden dürfen 172, doch erst Johannes Paul II. hat in seinem Apostolischen Schreiben Mulieris Dignitatem im Jahr 1988 im Unterschied zur Jahrtausende alten Tradition, die er bezeichnenderweise als »Tradition der Zeit« ausweist, die biblische Überzeugung von der Unterordnung der Frau in der Ehe in völlig neuer Weise interpretiert, wenn er schreibt: »Der Verfasser des Epheserbriefes sieht keinen Widerspruch zwischen einer so formulierten Aufforderung und der Feststellung, dass ›sich die Frauen ihren Männern unterordnen sollen wie dem Herrn (Christus); denn der Mann ist das Haupt der Frau‹ (vgl. Eph 5,22–23). Der Verfasser weiß, dass diese Auflage, die so tief in der Sitte und religiösen Tradition der Zeit verwurzelt ist, in neuer Weise verstanden und verwirklicht werden muss: als ein ›gegenseitiges Sich-Unterordnen in der gemeinsamen Ehrfurcht vor Christus‹ (vgl. Eph 5,25).« 173 Hier zitiert nach DH 3708. Mausbach 1962, 327. 172 Vgl. GS 29: »Es ist eine beklagenswerte Tatsache, dass jene Grundrechte der Person noch immer nicht überall unverletzlich gelten; wenn man etwa der Frau das Recht der freien Wahl des Gatten und des Lebensstandes oder die gleiche Stufe der Bildungsmöglichkeit und Kultur, wie sie dem Mann zuerkannt wird, verweigert.« 173 MD 24, hier zitiert nach Knoepffler (2012), 104. 170 171
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Dennoch lehnt er in demselben Schreiben das Priestertum der Frau ab, indem er ausgehend von seiner Überzeugung, dass die Berufung der Frau entweder in Mutterschaft oder Jungfräulichkeit besteht und dass die Frau allererst empfangende ist, wieder die alten Bilder des Epheserbriefs bemüht. 174 Während dieser Papst für weltliche Angelegenheiten die Gleichstellung der Frau einfordert, begründet er das Verbot, Frauen zu Priesterinnen zu weihen, mit den alten Bildern der Frau als Empfangenden. Zudem führt er die faktische Entscheidung Jesu an, wenn er glaubt, nicht befugt zu sein, Frauen zu Priestern zu weihen: »Wenn Christus nur Männer als seine Apostel berief, verhielt er sich auf gänzlich freie Weise und nach eigenem Recht« 175. Von dieser Entscheidung behauptet er, dass sie gerade nicht zeitbedingt sei. 176 Diese Entscheidung des Papstes ist von größter Bedeutung für das Verständnis von Menschenwürde und Menschenrechten in der heutigen römisch-katholischen Kirche. Denn wenn einerseits die Nichtdiskriminierung von Frauen im weltlichen Raum gefordert wird, andererseits in der katholischen Kirche jedoch die Priester- und Bischofsweihe Männern vorbehalten ist, dann haben wir hier ein Menschenrechtsverständnis, das sich eindeutig von der Menschenrechtserklärung unterscheidet. Es ist im Sinne der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen gerade nicht zulässig, wegen des Geschlechts zu diskriminieren, wenn klar ist, dass Frauen oder Männer einer Aufgabe gewachsen sind, soweit wir dies beurteilen können. Die Bischöfinnen und Priesterinnen der Anglikanischen Kirchengemeinschaft weisen überzeugend nach, dass dies der Fall ist. Sobald 174 Vgl. MD 26, hier zitiert nach DH 4840: »Wenn Christus, als er die Eucharistie einsetzte, sie auf so ausdrückliche Weise mit dem priesterlichen Dienst der Apostel verbunden hat, darf man zugleich annehmen, dass er auf diese Weise auch die Beziehung zwischen Mann und Frau, die von Gott bestimmt ist, zwischen dem, was ›weiblich‹ und dem, was ›männlich‹ ist, sowohl im Geheimnis der Schöpfung wie der Erlösung vor Augen stellen wollte. Vor allem aber in der Eucharistie wird auf sakramentale Weise der Erlösungsakt Christi, des Bräutigams für seine Braut, die Kirche, ausgedrückt. Dies wird vollständig sichtbar und eindeutig wiedergegeben, wenn der sakramentale Dienst der Eucharistie, wo der Priester ›in persona‹ Christi handelt, von einem Mann vollzogen wird […].« 175 MD 26, hier zitiert nach DH 4840 (im Original kursiviert). 176 Vgl. auch dazu sein Apostolisches Schreiben Ordination Sacerdotalis, in dem er die obige Stelle aus Mulieris Dignitatem zitiert und ausdrücklich betont, dass Christus nur Männer berief, »ohne sich nach den herrschenden Sitten und nach dem durch das Gesetz jener Zeit festgelegten Traditionen zu richten«, hier zitiert nach DH 4981.
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Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte
man religiöse Gründe ausweist, kann man mit der Bibel auch andere Formen der Diskriminierung rechtfertigen, wie oben gezeigt wurde. Das Grundproblem, das wir bei der Frage nach dem Verständnis der Freiheit bereits angesprochen haben, kehrt hier wieder: Sollen wir Gott, der in der Botschaft Jesu Christi mit der Liebe gleichgesetzt wird, in der Weise verstehen, dass er zwischen Männern und Frauen diskriminiert, weil dahinter ein bestimmtes Verständnis von Mannund Frausein steht? Selbst wenn ein künftiger Papst in Analogie zu Johannes Paul II., der die biblischen Aussagen, die eine Unterordnung der Frau unter den Mann für die Ehe formulierten, als zeitbedingt einstufte, das Kriterium der Männlichkeit bei der Auswahl der zwölf Apostel ebenfalls als zeitbedingt 177 verstünde und die Bischofs- und Priesterweihe von Frauen zuließe, ließen sich das säkulare Menschenrechtsverständnis und das christliche Menschenrechtsverständnis nicht vollständig zur Deckung bringen. Ein weiteres Beispiel hierfür stellt das Ringen in der Beurteilung von homosexuellen Handlungen und Selbsttötungen dar, die lange Zeit von allen Kirchen verurteilt wurden und bis heute in fast allen Kirchen als Streitfragen gelten.
2.6.5 Grenzen des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit Nach den Äußerungen der Heiligen Schrift verbietet Gott auch homosexuelle Handlungen und Selbsttötungen. Bis heute verfolgen mehr als siebzig Staaten homosexuelle Beziehungen zwischen konsentierenden Erwachsenen strafrechtlich. Nicht nur die römisch-katholische und die orthodoxen Kirchen, sondern auch viele Kirchen, die aus der Reformation hervorgegangen sind, bewerten homosexuelle Handlungen zwischen konsentierenden Erwachsenen als schweres Vergehen. 178 Sobald man nämlich ein bestimmtes Bild vom Mann- und Frausein, von Ehe und Geschlechtlichkeit hat, können bestimmte Hand177 Interessanterweise wurde das Kriterium, das Jesus zwölf Apostel wählte, die alle Juden waren, bereits in der zweiten Generation des Christentums als zeitbedingt aufgegeben. 178 Dabei gehen die Kirchen der Reformation in diesen Fragen heute sehr unterschiedliche Wege. In bestimmten Kirchen werden mittlerweile homosexuelle Handlungen akzeptiert, in anderen sehr streng verurteilt. Ich beschränke mich deshalb auf die römisch-katholische Sicht.
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lungen als intrinsisch schlecht verurteilt werden. In der hebräischen Bibel stand auf homosexuelle Handlungen noch die Todesstrafe 179, Paulus verurteilt diese Form der Sexualität als widernatürlich 180 und Thomas nennt die homosexuelle Handlung ein »widernatürliches Vergehen [vitium contra naturam]« 181. Er formuliert auch den nach seiner Überzeugung eigentlichen moralischen Grund: »Und so, insoweit die Entstehung von Nachkommenschaft verhindert wird, ist dies ein Vergehen wider die Natur, was in jedem Geschlechtsakt geschieht, aus dem keine Nachkommen entstehen können.« 182 Von diesem Argument sind freilich nicht nur homosexuelle Akte betroffen, sondern überhaupt alle Geschlechtsakte, aus denen keine Kinder hervorgehen können, also auch zwischen heterosexuellen Paaren, die keine Kinder bekommen wollen oder nicht mehr bekommen können. 183 Bis heute versteht das römisch-katholische Lehramt homosexuelle Handlungen als »gegen das natürliche Gesetz« 184 verstoßend, als »in sich nicht in Ordnung«, weshalb sie »in keinem Fall zu billigen sind«. Konsequenterweise lehnt Papst Franziskus deshalb auch noch 2016 in Amoris Laetitia ausdrücklich die staatliche Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften ab.185 Noch schärfer wird die Selbsttötung beurteilt. Auch wenn nicht mehr wie zu früheren Zeiten ein kirchliches Begräbnis verweigert wird, so ist die Selbsttötung, aus welchen Motiven auch immer, ausdrücklich als objektiv schwere Verfehlung gegen Eigen- und Nächstenliebe gebrandmarkt: »Der Selbstmord widerspricht der natürlichen Neigung des Menschen, sein Leben zu bewahren und zu erhalten. Er ist eine schwere Verfehlung gegen die rechte Eigenliebe. Selbstmord verstößt auch gegen die Nächstenliebe, denn er zerreißt zu Unrecht die Bande der Solidarität mit der Familie, der
Vgl. Lev 20,13. Vgl. Röm 1,26 f. 181 Vgl. ST II-II q 154 a 11 resp. 182 ST II-II q 154 a 1 resp. 183 Über Jahrhunderte litten deshalb ältere Ehepaare unter dieser kirchlichen Positionierung. Erst in Gaudium et Spes auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil hat das katholische Lehramt ausdrücklich neben dem Zweck der Nachkommenschaft auch die Stärkung der gegenseitigen Liebe als einen Sinn des Geschlechtsakts akzeptiert. 184 KKK, Nr. 2357. Auch die folgenden Stellen befinden sich in diesem Abschnitt des Katechismus. 185 Vgl. AL, Nr. 251. 179 180
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Nation und der Menschheit, denen wir immer verpflichtet sind. Der Selbstmord widerspricht zudem der Liebe zum lebendigen Gott.« 186
Konsequenterweise gelten auch Beihilfe zur Selbsttötung und aktive Sterbehilfe als schwere Vergehen. Sie sind nicht Ausdrucksformen menschlicher Selbstbestimmung am Lebensende, sondern werden sogar als »Mord« 187 und »schweres Vergehen gegen die Menschenwürde und gegen die Achtung, die man dem lebendigen Gott, dem Schöpfer schuldet« bezeichnet, selbst wenn es darum geht »dem Schmerz ein Ende zu machen«. Hier zeigt sich nochmals ganz deutlich, dass zumindest das römisch-katholische Würdeverständnis der Freiheit gerade bestimmte Möglichkeiten der Selbstbestimmung definitiv ausschließt. Allgemein christlich ist die Grundüberzeugung, dass die Würde des Menschen nicht in einer Freiheit besteht, das zu tun, was man möchte, solange man dadurch nicht andere schädigt, sondern das zu tun, wodurch Gott verherrlicht wird. Menschenwürde ist zwar einerseits eine Auszeichnung als Kind Gottes, das diesen Vater nennen darf, aber vor allem auch der Anruf an jeden Einzelnen, Christus mit seinen Fähigkeiten nachzufolgen und so zu verherrlichen.
2.6.6 Überbietung eines Asylrechts Im Hinblick auf das Asylrecht wird dies besonders deutlich. Bereits die hebräische Bibel kennt Beispiele eines solchen Rechts, so die Einrichtung von Asylstädten für Menschen, die in Notwehr einen anderen getötet haben. 188 Dennoch ist gerade das Tempelasyl zweischneidig, wie die Geschichte von Joab verdeutlicht. Dieser floh vor Salomo in den Tempel von Jerusalem, wurde aber dennoch getötet. 189 Andererseits gibt es weitreichende Forderungen im Hinblick auf Fremde, die über ein derartiges Asylrecht hinausgehen. So heißt es beispielsweise im Buch Deuteronomium: »[Gott] liebt die Fremden und gibt
186 KKK, Nr. 2281. Allerdings kann eine psychische Erkrankung die Person subjektiv vollständig entschuldigen, weswegen heute Menschen, die sich das Leben genommen haben, meist kirchlich beerdigt werden können, wenn dies die Angehörigen wünschen. 187 KKK, Nr. 2277. Dort auch die beiden folgenden Zitate. 188 Vgl. Dtn 4,41–43. 189 Vgl. 1 Kön 2,28–35.
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ihnen Nahrung und Kleidung – auch ihr sollt die Fremden lieben, denn ihr seid Fremde in Ägypten gewesen.« 190 Noch radikaler ist die Forderung im Buch Levitikus: »Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen […].« 191 Dabei wird von den Fremden gefordert, sich bestimmten Vorschriften, insbesondere religiöser Art, zu beugen. So gilt: »Der Fremde muss ebenso wie der Einheimische getötet werden, wenn er den Gottesnamen schmäht« 192, weil »gleiches Recht […] für den Fremden wie für den Einheimischen gelten [soll]« 193. Die Evangelien gehen noch einmal weit über die Forderungen der hebräischen Bibel hinaus. In der matthäischen Gerichtsrede, dem prominentesten Beispiel, ist ein wesentliches Kriterium, ob man zur Gemeinschaft mit Gott kommen darf, dass man den Fremden aufgenommen hat, weil man im Fremden den Herrn selbst aufgenommen hat: »[I]ch war fremd und obdachlos, und ihr habt mich aufgenommen« 194. Die gesamte christliche Botschaft seit ihren Anfängen hat konfessionsübergreifend immer neu die christliche Forderung der Nächstenliebe als zentrales Gebot betont: »Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort erfüllt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« 195, weil die Liebe zu Gott untrennbar mit der Liebe gegenüber dem Nächsten verbunden ist. Sie kulminiert in der Forderung: »Wenn du vollkommen sein willst, geh, verkauf deinen Besitz und gib das Geld den Armen: so wirst du einen bleibenden Schatz im Himmel haben; dann komm und folge mir nach.« 196 Auch die Feier der Eucharistie bzw. des Abendmahls fasst diese Wirklichkeit des Christseins zusammen: So wie Christus sein Leben, sein Fleisch und Blut hingegeben hat, soll auch der Christ sein Leben ganz in den Dienst Gottes stellen und den Nächsten, ob Freund oder Feind, ob nahestehend oder fremd, lieben, und das bedeutet auch, mit ihm teilen, wenn dieser in Not ist. Diese Radikalität der christlichen BotDtn 10,18 f. Lev 19,33–34. Papst Franziskus hat diese Stelle ausdrücklich im Jahr 2018 in Gaudete et Exsultate in Erinnerung gerufen (vgl. GE, Nr. 103). 192 Lev 24,16. 193 Lev 24,22. Allerdings gibt es Ausnahmen, so wenn die Tochter eines hebräischen Sklaven nicht an Fremde verkauft werden darf (vgl. Ex 21,8). 194 Mt 25,35. 195 Gal 5,14, zitiert von Papst Franziskus (2018), Nr. 60. 196 Mt 19,21. 190 191
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schaft gilt universal. Sie kennt allerdings eine Grenze, die biblisch klar benannt wird, nämlich die grundsätzliche Bereitschaft, selbst für sich zu sorgen: »Denn als wir bei euch waren, haben wir euch geboten: Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen. Wir hören aber, dass einige von euch ein unordentliches Leben führen und alles Mögliche treiben, nur nicht arbeiten. Diesen gebieten wir und wir ermahnen sie in Jesus Christus, dem Herrn, in Ruhe ihrer Arbeit nachzugehen und ihr eigenes Brot zu essen.« 197
Wenn über die Jahrhunderte bis heute die Kirchenvertreter Kirchenasyl für Menschen gewähren, die vor Urteilen weltlicher Gerichte flohen bzw. fliehen, so ist dies eine immer neu umstrittene Praxis. Bereits seit dem ausgehenden Mittelalter haben staatliche Stellen von den Kirchen verlangt, bestimmte Personen vom Kirchenasyl auszuschließen, da das Gewaltmonopol in Händen des Staates liegen soll. So lässt sich fragen, ob ein Kirchenasyl in einem Rechtsstaat wie der Bundesrepublik Deutschland überhaupt noch eine ganz spezifische Form christlicher Nächstenliebe oder nicht schlicht Rechtsbruch ist. 198 Wenn sich die Kirchen also für die Verfolgten und Armen aller Länder einsetzen, so geht es nicht um ein bei Staaten einklagbares Recht. Vielmehr handelt es sich um eine Aufforderung an die eigenen Gläubigen, vor Ort und weltweit gerechte Verhältnisse zu schaffen, die allen ein »menschenwürdiges« Leben ermöglichen, sodass sie Gott ihren Vater nennen und ihm durch das eigene Leben die Ehre geben können. Als Papst Franziskus beispielsweise nach der Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa im Juli 2013, als viele Bootsflüchtlinge ertrunken waren, fragte: »Wer hat geweint über den Tod dieser Brüder und Schwestern? Wer hat geweint um diese Menschen, die im Boot waren? Um die jungen Mütter, die ihre Kinder mit sich trugen? Um diese Männer, die sich nach etwas sehnten, um ihre Familien unter-
2 Thess 3,10–12. Nach herrschender Meinung heutiger Exegeten ist dieser Brief an die Thessaloniker nicht von Paulus selbst verfasst worden, sondern stammt von einem seiner Schüler, der die paulinische Aufforderung in 1 Thess 4,11 f. verschärft. Dort hatte Paulus geschrieben: »Setzt Eure Ehre darein, ruhig zu leben, euch um die eigenen Aufgaben zu kümmern und mit euren Händen zu arbeiten, wie wir euch aufgetragen haben. So sollt ihr vor denen, die nicht zu euch gehören, ein rechtschaffenes Leben führen und auf niemand angewiesen sein.« 198 Vgl. dazu Kodalle (2018). 197
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Würde und Freiheit als Aufgabe, Jesus nachzufolgen
halten zu können?« 199, dann spricht hieraus diese fundamental christliche Aufforderung zur Nächstenliebe. Der Papst spricht hier nicht von staatlichen Rechten, sondern appelliert an die Barmherzigkeit, denen zu helfen, die sich so sehr nach einem besseren Leben sehnen, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzen. Er folgt damit einem seiner heilig gesprochenen Vorgänger, Johannes XXIII. Dieser hatte in der Enzyklika Pacem in Terris 1963 ausdrücklich davon gesprochen, dass »unter die Rechte der menschlichen Person auch jenes zu rechnen [ist], dass es jedem erlaubt ist, sich in die Nation zu begeben, wo er hofft, angemessener für sich und seine Angehörigen sorgen zu können.« 200
2.7 Ergebnis In einem zentralen Bedeutungsgehalt von Menschenwürde (grundsätzlicher Subjektstatus und grundsätzliche Gleichheit) treffen sich das christliche Verständnis und das Verständnis der Menschenrechtserklärung. Allen Menschen kommen Freiheit, Gleichheit und Teilhabe zu. Heißt das dann, dass das säkulare Verständnis von Freiheit, Gleichheit und Teilhabe als »Entsprechung zu Grundinhalten des christlichen Glaubens« 201 verstanden werden sollte? Besteht die Differenz zwischen christlichem und säkularem Verständnis von Freiheit, Gleichheit und Teilhabe dann vor allem in einer »Zuspitzung, die über das in einer säkularen Rechtsordnung jeweils realisierte hinausweist« 202, nämlich dass »auch das Verständnis der Menschenrechte unter der hermeneutischen Regel ›einer vorrangigen Option für die Armen‹« steht? In gewisser Weise ist dieser Aussage zuzustimmen: Die Pflichten gegenüber dem Nächsten gehen weit über das hinaus, was die Menschenrechtserklärung verlangt. Wer nur seine Familie und seine 199 Hier zitiert nach Sedmak (2017), 11. Sedmak zitiert den Papst am Anfang seines Buchs, das ein einziger Appell für eine »Menschenwürde in tiefer Praxis« ist, so der Titel des ersten Kapitels. Auch sein Apostolisches Schreiben von 2018 Gaudete et Exsultate hat diese Zielstellung, zu Barmherzigkeit und Nächstenliebe aufzurufen. 200 Hier zitiert nach DH 3990. Der Papst spricht ebd. sogar von der »Pflicht der Staatslenker, fremde Ankömmlinge aufzunehmen«, auch wenn er diese Pflicht durch die Klausel »soweit es das unverfälschte Wohl ihrer Gemeinschaft zulässt« (ebd.) einschränkt. 201 Huber (2006), 297. 202 Ebd., 297. Dort auch das folgende Zitat.
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Ergebnis
Freunde liebt, der tut nichts Besonderes. Radikal wird die Nächstenliebe erst, wenn man sogar seine Feinde liebt. 203 Auch verlangt die Nachfolge Christi, die eigenen Familienbande nicht mehr zu berücksichtigen. 204 Das geht so weit, dass selbst darauf zu verzichten ist, den eigenen Vater zu begraben, wenn es in der konkreten Situation erforderlich ist. 205 Andererseits übersieht Huber aber die Innovation der Menschenrechtserklärung. Während die Menschenwürde als Gabe Gottes nach christlichem Verständnis in erster Linie damit verbunden ist, als Kind des göttlichen Vaters dessen Willen zu tun, begründet das Menschenwürdeprinzip der Vereinten Nationen in erster Linie Menschenrechte. Wir haben es also mit einer anderen Perspektive zu tun und mit einem völlig anderen Erfahrungshintergrund. Während die Menschenwürde nach christlichem Verständnis in einem göttlichen Akt wurzelt, also letztlich im Glauben anzunehmen ist, gründet das Menschenwürdeprinzip der Vereinten Nationen in einer grausamen Menschheitserfahrung. Die Geschichte des Christentums zeigt zudem, dass die Verbindung von Menschenwürde und grundlegenden Menschenrechten, die Freiheit, Gleichheit und Teilhabe ermöglichen, wie sie in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen vertreten werden, gegenüber kirchlichen Autoritäten mühsam erkämpft werden musste. Auch wenn mittlerweile praktisch alle großen Kirchen die fundamentalen Menschenrechte für den säkularen Raum anerkennen 206, so bleiben doch grundsätzliche Differenzen. 203 Vgl. Mt 5,44–48: »Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten? Tun das nicht auch die Zöllner? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr damit Besonderes? Tun das nicht auch die Heiden?« 204 Vgl. Mt 12,46–50: »Als Jesus noch mit den Leuten redete, siehe, da standen seine Mutter und seine Brüder draußen und wollten mit ihm sprechen. Da sagte jemand zu ihm: Siehe, deine Mutter und deine Brüder stehen draußen und wollen mit dir sprechen. Dem, der ihm das gesagt hatte, erwiderte er: Wer ist meine Mutter und wer sind meine Brüder? Und er streckte die Hand über seine Jünger aus und sagte: Siehe, meine Mutter und meine Brüder. Denn wer den Willen meines himmlischen Vaters tut, der ist für mich Bruder und Schwester und Mutter.« 205 Vgl. Mt 8,21 f.: »Ein anderer aber, einer seiner Jünger, sagte zu ihm: Herr, lass mich zuerst weggehen und meinen Vater begraben. Jesus erwiderte: Folge mir nach; lass die Toten ihre Toten begraben!« 206 In diesem Sinn kann man die Entwicklung der letzten Jahrzehnte als eine Lern-
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Würde und Freiheit als Aufgabe, Jesus nachzufolgen
Grundsätzlicher Subjektstatus und grundsätzliche Gleichheit vor Gott Menschenwürde und Freiheit als Aufgabe, Jesus nachzufolgen
Recht auf Taufe und Gemeinschaft der Kirche
Verbot vollständiger Instrumentalisierung
Pflicht zur Erfüllung kirchlicher Normen Alles Handeln zur größeren Ehre Gottes Christliches Liebesgebot
Abbildung 2: Menschenwürde im Christentum (vereinfachte Darstellung)
Für die Frage des Würde- und Freiheitsverständnisses lässt sich damit festhalten, dass es zwischen dem christlichen Menschenwürdeverständnis und der Menschenwürdekonzeption der Menschenrechtserklärung sowohl Übereinstimmungen als auch wesentliche Unterschiede gibt, weswegen weder Benedikt XVI. noch Huber zugestimmt werden kann. Die »säkulare Eigenstruktur der Idee der Würde« 207 der Menschenrechtserklärung im Unterschied zum christlichen Verständnis dürfte aufgrund des dargestellten Befunds offensichtlich sein. Darauf wird noch weiter einzugehen sein, wenn es um die Darstellung der Würde- und Freiheitskonzeption des Grundgesetzes geht. Zuvor jedoch ist eine weitere Tradition zu behandeln, die
geschichte der Kirchen begreifen, die bis heute nicht abgeschlossen ist und zu einer Annäherung zwischen christlichem und säkularem Menschenrechtsverständnis führt. Vgl. in diesem Sinn beispielsweise den katholischen Theologen Hilpert (1991, 161 f.). Der evangelische Theologe Kreß (2012, 143) hält dies allerdings für eine beschönigende Beschreibung. Kreß (2014) hat dabei detailliert herausgearbeitet, in welcher Weise beispielsweise in Deutschland bis heute das kirchliche Arbeitsrecht hinter den Standards des säkularen Arbeitsrechts zurückbleibt (vgl. auch Kreß (2016) zum Religionsrecht insgesamt). 207 Bielefeldt (2011), 162. Er betont sogar (ebd., 162): »Nach wie vor muss die Säkularität des die moderne Verfassung und die modernen Menschenrechte tragenden Würdebegriffs gegen etwaige religiöse oder krypto-religiöse Inbeschlagnahme […] verteidigt werden.«
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Ergebnis
ebenfalls oftmals für das Grundgesetz als bestimmend gilt, nämlich Kants Verständnis der Menschenwürde aufgrund menschlicher Autonomie.
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3 Würde und Freiheit als Aufgabe, die Menschheit zu achten – Kants »aufklärerische Wende«
3.1 Menschenwürde als Achtung der Menschheit Kant (1724–1804) hat wesentliche Überlegungen zur Menschenwürde und Freiheit entwickelt 1, die auch die Väter und Mütter des bundesdeutschen Grundgesetzes und die folgende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts inspirierten. 2 Sein Verständnis der Menschenwürde scheint derzeit gerade in ethischen Debatten eine Renaissance zu erleben. Wenn Kant davon spricht, dass der Mensch aufgrund seiner Würde Zweck an sich selbst ist und nicht vollständig instrumentalisiert werden darf 3, so scheint es auf den ersten Blick Bemerkenswert ist allerdings, dass der Würdebegriff in Kants philosophischem Hauptwerk, der Kritik der reinen Vernunft, nur fünfmal gebraucht wird. Auch kommt in seinen Schriften der Begriff der Würde nicht an zentralen Stellen vor. Selbst in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten verwendet er ihn achtmal nur an peripheren Stellen, zudem weder im Zusammenhang mit der vierten Formel des kategorischen Imperativs (Menschheitsformel) noch im zentralen dritten Abschnitt, in dem er auf die Freiheit als »Schlüssel zur Erklärung der Autonomie« zu sprechen kommt. Vgl. dazu Sensen (2011), 180 f. 2 Vgl. dazu das in der Hinführung zitierte Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur lebenslangen Freiheitsstrafe, das mit der Verwendung von Begriffen wie »bloßes Objekt« und »Zweck an sich« auf Kants Würdeverständnis angespielt. Das Gericht schrieb: »Es widerspricht daher der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staate zu machen […]. Der Satz, ›der Mensch muss immer Zweck an sich selbst bleiben‹ gilt uneingeschränkt für alle Rechtsgebiete; denn die unverlierbare Würde des Menschen als Person besteht gerade darin, dass er als selbstverantwortliche Persönlichkeit anerkannt bleibt.« BVerfGE 45, 187 (228), hier zitiert nach Bumke/Voßkuhle (2015), 78. 3 Allerdings ist zu bedenken, dass Kant in seiner Verwendung des Begriffs der Würde ähnlich wie bei seinem anderen Schlüsselbegriff, dem des Transzendentalen (vgl. Knoepffler (2014), 59–153), nicht immer ganz konsequent ist. Er gebraucht »Würde« nicht univok. Im Folgenden werde ich mich nur auf die zentrale Bedeutung von »Würde« bei Kant beschränken, leiste also keine Begriffsarbeit in dem Sinn, dass ich die vielfältigen Nuancen seiner Verwendung herausarbeite. Dies hat bereits Sensen (2011, 174–211) vorbildhaft getan. 1
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Menschenwürde als Achtung der Menschheit
gut nachvollziehbar zu sein, warum man sich in manchen heutigen Fragestellungen auf ihn beziehen zu können scheint. 4 Doch verhält es sich wirklich so? Kants Verständnis der Würde ist bei all seiner innovativen Kraft zugleich eingebettet in die ihm vorliegende christliche Tradition. Allerdings hat er insbesondere durch Pico della Mirandola (1463–1494) und Rousseau (1712–1778) wichtige Anregungen für sein Verständnis der Würde und ihr Verhältnis zur Freiheit bekommen. Berühmt ist Picos Deutung der menschlichen Würde als – modern gesprochen – »Entwurfsvermögen« 5. Der Mensch kann nach Pico »nach unten hin ins Tierische entarten [degenerare]«, aber auch »aus eigenem Willen wiedergeboren werden [regenerari] nach oben in das Göttliche« 6. Das Entwurfsvermögen wird freilich von Pico nicht wertfrei gedeutet, wie seine Verwendung der Begriffe »degenerare« und »regenerari« zeigt. Die menschliche Fähigkeit, sich selbst zu entwerfen, selbst »Former und Bildner [plastes et fictor]« 7 seiner selbst zu sein, ist keine Freiheit im Sinn moderner Selbstbestimmung. Die Freiheit des Menschen hat vielmehr an einer vorgegebenen Ordnung Maß zu nehmen, will der Mensch nicht entarten, sondern seiner Art entsprechen. Er kann seine Natur bestimmen, aber zugleich hat diese Natur eine vorgegebene Bestimmung, »nach oben in das Göttliche«. Auch Wolffs (1679–1754) Überlegungen, die Kant wesentlich beeinflusst haben, stehen in gewisser Weise in dieser Tradition. Wolff verbindet die klassische naturrechtliche Überlegung von der Geistseele als Grund der Würde mit dem für seine Metaphysik sehr wichtigen Konzept der perfectio [Vollkommenheit]: Die perfectio essentialis [Wesensvollkommenheit] ist dabei mit der dignitas hominis naturalis [von Natur aus gegebenen Menschenwürde] identisch. 8 Damit verwandt ist auch Rousseaus (1712–1778) These, dass der Mensch von Natur aus mit einer Freiheit begabt ist, sein Leben selbst
Beispielsweise haben in den Neunzigerjahren Neumann und Lorz die These vertreten, Kant sei ein wesentlicher Vater des modernen Menschenwürdegedankens. Vgl. dazu Baldus (2016), 167–169. 5 Vgl. Gröschner (1995), 29 ff. 6 Pico (1997 [1486]), 9. 7 Ebd., 9. 8 Vgl. die Zusammenfassung seiner wichtigsten Überlegungen zur Würde durch Lutterbeck (2013), 38 f. 4
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Würde und Freiheit als Aufgabe, die Menschheit zu achten
zu bestimmen. »Es ist seine Perfektibilität, die ihn gegenüber allen anderen Lebewesen auszeichnet.« 9 Kant stellt sich in diese Tradition, wenn er den Menschen als denjenigen auszeichnet, der »einen Charakter hat, den er sich selbst schafft, indem er vermögend ist, sich nach seinen von ihm selbst genommenen Zwecken zu perfectioniren; wodurch er als mit Vernunftfähigkeit begabtes Thier (animal rationabile) aus sich selbst ein vernünftiges Thier (animal rationale) machen kann […].« 10
Auch wenn Kant diese Überlegung erst in seinem Spätwerk Anthropologie in pragmatischer Hinsicht veröffentlicht, bildet sie den Hintergrund seines Würdeverständnisses, das er bereits in wesentlichen Zügen in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten entwickelt hat: »Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat Würde. Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; das, was, auch ohne ein Bedürfnis vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d. i. einem Wohlgefallen am bloßen zwecklosen Spiel unserer Gemüthskräfte, gemäß ist, einen Affectionspreis; das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Werth, d. i. einen Preis, sondern einen inneren Werth, d. i. Würde.« 11
Um diese Grundbestimmung Kants besser zu verstehen, ist es nötig zu klären, wie Kant »Reich der Zwecke« definiert: »Ich verstehe aber unter einem Reiche die systematische Verbindung verschiedener vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche Gesetze.« 12 Dabei ist von ganz wesentlicher Bedeutung, dass hierbei der kategorische Imperativ gilt, und zwar präzisiert in der Weise der Zweckformel: »Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem Gesetz, daß jedes derselben sich selbst und alle andere niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst behandeln solle.« 13
So fasst Herb (2013), 39, Rousseaus Grundgedanken zusammen. Kant (1968 [1798]), 321. 11 Kant (1968 [1785]), 434 f. 12 Ebd., 433. 13 Ebd., 433. 9
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Dieser Imperativ verlangt nicht nur, andere »vernünftige Wesen«, sondern gerade auch sich selbst als Zweck an sich zu behandeln. Hier zeigt sich Kants eigentliche Stoßrichtung. Die Würde ist nicht wie in einem modernen Verständnis mit Rechten verbunden, sondern mit Pflichten, und zwar nicht nur mit Pflichten anderen gegenüber, sondern auch sich selbst gegenüber. Wichtig ist dabei auch, dass Kant nicht naiv ein allgemeines Instrumentalisierungsverbot ausspricht. Natürlich dürfen wir uns selbst und andere auch instrumentalisieren, also als Mittel gebrauchen, aber eben nicht vollständig. Ein einfaches Beispiel kann dies verdeutlichen. Wir gebrauchen wie selbstverständlich andere Menschen als Mittel, wenn wir jemanden nach dem Weg fragen und diesen damit als Ersatz für eine Straßenkarte instrumentalisieren. Dennoch wird unser Gegenüber dadurch nicht vollständig instrumentalisiert, denn wir vernichten ihn nicht wie einen unbrauchbar gewordenen Stadtplan, wenn er uns den richtigen Weg nicht nennen kann. Es ist darum ein schwerer Fehler, das »bloß« im kantischen kategorischen Imperativ zu übersehen und jede Instrumentalisierung eines Menschen als verboten zu verstehen. Vielmehr darf diese nicht »vollständig« sein, darf der Mensch nicht bloß als Mittel gebraucht werden. Darüber hinaus enthält das Instrumentalisierungsverbot eine sehr wichtige Komponente, die leicht übersehen werden kann. Es bezieht sich nicht nur auf das Gegenüber, sondern ist auch selbstreferentiell, d. h. jeder Mensch hat die Pflicht, sich im Hinblick auf die Menschheit, die er selbst repräsentiert, nicht vollständig instrumentalisieren zu lassen oder sich selbst vollständig zu einem Objekt zu machen. 14 Damit verbunden ist Kants Überzeugung, dass dieses so verstandene Instrumentalisierungsverbot darin begründet liegt, dass vernünftigen Wesen als Zweck an sich selbst Würde als »innerer Wert« zukommt. Der innere Wert, den er auch als »absoluten inneren Werth« 15 bezeichnet, wird dem relativen Wert gegenübergestellt, der einen Preis hat, also abgewogen werden kann. Der absolute Wert, die Würde, dagegen hat keinen Preis, oder anders gesagt, kann durch
Vgl. dazu die Beispiele bei der Behandlung der Grenzen des Grundrechts auf Selbstbestimmung. 15 Kant (1968 [1797]), 435. 14
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Würde und Freiheit als Aufgabe, die Menschheit zu achten
nichts aufgewogen werden. 16 Kant schließt damit jede Güterabwägung aus, wonach beispielsweise ein vernünftiges Wesen vollständig instrumentalisiert werden darf, um mehrere andere vernünftige Wesen zu retten. Damit hat seine Würdebestimmung eine klare antiutilitaristische Stoßrichtung, auch wenn der elaborierte Utilitarismus als ethische Theorie zu seiner Zeit erst im Entstehen war. Doch ehe man vereinfachend Kants Würdeverständnis in die Nähe des Würdeverständnisses der Vereinten Nationen oder des bundesdeutschen Grundgesetzes bringt, sollte man berücksichtigen, was Kant in demselben Werk nur wenige Seiten später ausführt: »Die Gesetzgebung selbst aber, die allen Werth bestimmt, muss eben darum eine Würde, d. i. unbedingten, unvergleichbaren Werth, haben, für welchen das Wort Achtung allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung abgiebt, die ein vernünftiges Wesen über sie anzustellen hat.« 17
An dieser Stelle bezieht sich Würde auf einmal auf »Gesetzgebung«. »Gesetzgebung« ist dabei nicht im politischen Sinn zu verstehen, sondern als das Gesetzgebungsvermögen der praktischen Vernunft. Diese hat eine Würde, einen unbedingten unvergleichbaren Wert. Diese Stelle ist der Schlüssel zum eigentlichen Verständnis, wie Kant »Würde« versteht. Es ist gerade nicht der empirische Mensch, also der Mensch, den wir messen und wiegen können, den wir fotografieren und diagnostizieren können, dem Würde zukommt, denn der »Mensch im System der Natur (homo phaenomenon, animal rationale) ist ein Wesen von geringer Bedeutung und hat mit den übrigen Thieren als Erzeugnissen des Bodens, einen gemeinen Werth (pretium vulgare).« 18
Wenn die Bundesrepublik Deutschland für durch deutsche Einsätze getötete Zivilopfer in Afghanistan Entschädigungen an die Familien zahlt, so darf dies also nicht in dem Sinn missverstanden werden, hier werde das Leben von Menschen mit Geld aufgewogen. Vgl. http://www.spiegel.de/politik/ausland/afghanistan-bund-zahlt-5000dollar-fuer-getoeteten-zivilisten-a-1014868.html, zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018. 17 Kant (1968 [1785]), 436. 18 Kant (1968 [1797]), 434. Kant schließt daran unmittelbar seine Überzeugung an: »Selbst, dass er vor diesen den Verstand voraus hat und sich selbst Zwecke setzen kann, das gibt ihm doch nur einen äußeren Werth seiner Brauchbarkeit (pretium usus), nämlich eines Menschen vor dem anderen, d. i. ein Preis, als einer Ware, in dem Verkehr mit diesen Thieren als Sachen, wo er doch noch einen niedrigeren Werth hat, als das allgemeine Tauschmittel, das Geld, dessen Werth daher ausgezeichnet (pretium eminens) genannt wird« (ebd., 434 f.). 16
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Würde im Verhältnis zur Freiheit
Im eigentlichen Sinn kommt darum der Menschheit, nicht dem empirisch wahrnehmbaren Menschen (kantisch: dem homo phaenomenon), Würde zu, weil die »Menschheit in seiner Person […] das Objekt der Achtung ist« 19. Es ist – in kantischer Terminologie – der homo noumenon, also der Mensch als Person praktischer Vernunft und Repräsentant der Menschheit, dem die Würde zukommt, die von den anderen derartig vernunftbegabten Lebewesen Achtung einfordert und so jeden Einzelnen als Subjekt und in dieser Hinsicht prinzipiell gleichen auszeichnet. 20 Anders gesagt: Nicht das Menschsein als biologisches Faktum ist Adressat der Würde des Menschen, sondern im strengen Sinn eigentlich seine moralisch-praktische Vernunft, also seine Fähigkeit zur Gesetzgebung, seine Sittlichkeit. In Kants Worten in der Grundlegung: »Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat.« 21 Der Nachschlag, »und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist«, erscheint hier als Synonym für Sittlichkeit. Diese Sittlichkeit ist aber letztlich das, was Kant unter der Freiheit als realisierte Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung versteht.
3.2 Würde im Verhältnis zur Freiheit Der Mensch als »Subject einer moralisch-praktischen Vernunft« 22, also der homo noumenon, besitzt nach Kant Würde. Die moralischpraktische Vernunft ist dabei die Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung als Prinzip der Sittlichkeit, wofür Kant auch den aus dem griechischen entlehnten Begriff der Autonomie verwendet. »autos/αυτος« bedeutet nämlich »selbst«, »nomos/νομος« bedeutet »Gesetz«. Kant geht es darum nachzuweisen, dass der kategorische Imperativ kein Gesetz Kant (1968 [1797]), 434. Vgl. ebd., 435: »Die Menschheit in seiner Person ist das Objekt der Achtung, die er von jedem anderen Menschen fordern kann; deren er aber auch sich nicht verlustig machen muß.« 20 Vgl., ebd., 434: »Allein der Mensch, als Person betrachtet, d. i. als Subject einer moralisch-praktischen Vernunft, ist über allen Preis erhaben; denn als ein solcher (homo noumenon) ist er nicht bloß als Mittel zu anderer ihren, ja selbst seinen eigenen Zwecken, sondern als Zweck an sich selbst zu schätzen, d. i. er besitzt eine Würde (einen absoluten inneren Werth), wodurch er allen andern vernünftigen Weltwesen Achtung für ihn abnöthigt, sich mit jedem anderen dieser Art messen und auf den Fuß der Gleichheit schätzen kann.« 21 Kant (1968 [1785]), 435. 22 Kant (1968 [1797]), 434. 19
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Würde und Freiheit als Aufgabe, die Menschheit zu achten
ist, das dem Menschen von außen aufgezwungen wird, sondern ein Gesetz, das jeder Einzelne aufgrund seiner Vernunft in sich selbst findet. Der Mensch bindet sich also nicht an ein anderes Gesetz im Kernbestand des Sittlichen, ist also nicht heteronom [heteros/ετερος = ein anderer] bestimmt, sondern an das eigene Gesetz, weil nur das eigene Gesetz unbedingt verpflichtet. Das ist das »Princip der Autonomie des Willens im Gegensatz mit jedem andern, das ich [Kant] deshalb zur Heteronomie zähle« 23. Warum kann nur eine Freiheit als Autonomie unbedingt verpflichten? Jede Heteronomie ist »von etwas anderm genöthigt«, weshalb daraus »niemals Pflicht, sondern Nothwendigkeit der Handlung aus gewissen Interesse heraus« entspringt. Diese Fähigkeit zur Autonomie realisiert sich, wenn der Mensch aus praktischer Vernunft sich selbst das Gesetz gibt: »[H]andle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst« 24. Vor dem Hintergrund dieses Freiheitsverständnisses dürfte erwiesen sein: Es geht Kant gerade nicht in erster Linie darum, mit der Menschenwürde eigene Rechte zu verbinden, sondern den Menschen in die Pflicht zu nehmen, die Menschheit in der Person des anderen zu achten. Würde bedingt also grundsätzlich die Verpflichtung, aus gutem Willen seine Pflicht zu tun, nämlich den kategorischen Imperativ zu befolgen. Aber gibt es überhaupt diese Fähigkeit zur Autonomie? Kann es Freiheit in diesem gehaltvollen Sinn geben?
3.3 Grundproblem der Freiheit Kant ist entschieden davon überzeugt, dass dem Menschen nur aufgrund seiner Freiheit im Sinne von Autonomie Würde zukommt. Das Ebd., 433. Auch die folgenden beiden Zitate sind dieser Stelle entnommen. Ebd., 429. In der Metaphysik der Sitten ergänzt er diese Argumentationslinie durch einen weiterführenden Gedanken: »Gleichwie [der Mensch] also sich selbst für keinen Preis weggeben kann (welches der Pflicht der Selbstschätzung widerstreiten würde), so kann er auch nicht der ebenso notwendigen Selbstschätzung anderer als Menschen entgegen handeln, d. i. er ist verbunden, die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen, mithin ruht auf ihm eine Pflicht, die sich auf die anderen Menschen notwendig zu erzeigende Achtung bezieht« (Kant (1968 [1797]), 462).
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Grundproblem der Freiheit
reine Lebenkönnen, selbst ein glückliches Leben sind keine Werte an sich, sind nicht absolut wertvoll. 25 Wenn aber die Freiheit im Sinn von Autonomie als Fähigkeit, sich aus Vernunftgründen moralisch zu verhalten, entscheidend dafür ist, dass dem Menschen Würde zukommt, stellt sich nach Kant das Problem, dass wir empirisch keine Freiheit identifizieren können. Dahinter liegt seine Annahme, dass empirisch Gegebenes, von Kant als »Erscheinungen« bezeichnet, unter den strikten Gesetzen der Natur steht. Ereignisse, wie sie uns erscheinen, sind stets als Wirkung von Ursachen zu erklären. Es gilt folgender Syllogismus: Prämisse 1: Alle Zustandsgrößen sind zum Zeitpunkt t determiniert. Prämisse 2: Es gelten für die Erscheinungen durchgängig die empirischen Gesetze (kausale Geschlossenheit). Konklusion: Alle Zustandsgrößen sind für einen beliebigen Zeitpunkt t’ determiniert. Aus dem Syllogismus folgt, dass Freiheit bzw. menschliches Handeln als echte anfangslose Ursache »in der Welt« und das heißt im Bereich der Erscheinungen methodisch ausgeschlossen sind. Für diesen Bereich gelten die Naturgesetze ohne Ausnahme; denn in der transzendentalen Ästhetik und Analytik der Kritik der reinen Vernunft hatte Kant klargemacht, dass wir uns mit Notwendigkeit alles in Raum und Zeit vorstellen müssen und nur darauf den Begriff der Kausalität anwenden können. Eine Handlung wäre deshalb innerhalb der empirischen Realität als determiniert anzusehen und auf seine empirischen Ursachen hin zu untersuchen. Allerdings wird gegen diese kantische Sicht der Einwand vorgebracht, die moderne Quantentheorie habe das Kausalitätsprinzip bereits für die empirische Realität außer Kraft gesetzt. Manche folVgl. Kant (1968 [1797]), 208 f.: »Dass aber eines Menschen Existenz an sich einen Wert habe, welcher bloß lebt (und in dieser Absicht noch so sehr geschäftig ist), um zu genießen, sogar er dabei anderen, die alle eben sowohl nur aufs Genießen ausgehen, als Mittel dazu aufs Beste beförderlich wäre und zwar darum, weil er durch Sympathie alles Vergnügen mitgenösse, das wird sich die Vernunft nie überreden lassen. Nur durch das, was er tut ohne Rücksicht auf Genuss in voller Freiheit und unabhängig von dem, was ihm die Natur auch leidend verschaffen könnte, gibt er seinem Dasein als der Existenz einer Person einen absoluten Wert; und die Glückseligkeit ist mit der ganzen Fülle ihrer Annehmlichkeit bei weitem nicht ein unbedingtes Gut.«
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Würde und Freiheit als Aufgabe, die Menschheit zu achten
gern, dass dieser Indeterminismus auf subatomarer Ebene ein Beweis für die Möglichkeit von empirischer Freiheit sei. Diese Folgerung ist freilich aus drei Gründen falsch. Erstens bedeutet Freiheit im positiven Sinn als Autonomie etwas ganz anderes als Indeterminismus und Zufälligkeit. Es geht nicht um eine Willkürfreiheit, denn diese ist nicht von der Vernunft gesteuert, sondern wäre durch den Zufall bedingt. Eine ideale Kugel, die auf eine weitere ideale Kugel ideal mittig gelegt wird, ist nicht determiniert, in welche Richtung sie hinunterrollt. Dies ist dem Zufall überlassen; und doch hat dies nichts mit der Freiheit im kantischen Sinn zu tun. Also kann selbst in einer indeterminierten Welt Freiheit im Sinn von Autonomie bzw. ein Handeln aus Pflicht niemals nachgewiesen werden. Zweitens sind jenseits der Mikrophysik die Newtonschen Gesetze auch heute noch gültig. Damit aber bleibt das Problem der kausalen Geschlossenheit der physischen Welt bestehen. Drittens benötigt das methodische wissenschaftliche Vorgehen bis heute das Ursache-Wirkung-Schema. Es zeichnet die sogenannten exakten Wissenschaften aus, dass sie als Erklärung bestimmter Vorgänge nicht zulassen, dass beispielsweise ein Experiment deshalb gelungen sei, weil vom Übergang von Stadium A zu Stadium B eine überirdische Macht geholfen habe. Das Experiment zeichnet sich gerade in seiner Wissenschaftlichkeit dadurch aus, dass es wiederholbar ist. Für das Problem, wie Freiheit selbst mit einem deterministischen System der Natur kompatibel sein könnte, bietet Kant eine bahnbrechende Lösung. Auf theoretischer Ebene sind nach seiner Überzeugung die Gründe für oder gegen die Möglichkeit von Freiheit gleich stark. Diesen Gedanken entwickelt er in einer Gegenüberstellung von These und Antithese, um die Antinomie, die Unvereinbarkeit der gleichzeitigen Annahme von Freiheit und Determinismus klar hervortreten zu lassen. 26 »Thesis Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zur Erklärung derselben anzunehmen notwendig.
Antithesis Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.«
Kant (1968 [1787]), 308 f. (B 472 f.). Die Kritik der reinen Vernunft wird im Folgenden nur nach der üblichen Zitierweise angegeben. Dabei steht das »B« für die 2. Auflage von 1787 mit der entsprechenden Seitennummerierung der Originalausgabe.
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Grundproblem der Freiheit
Nach Kant sind sowohl These als auch Antithese dieser dynamischen Antinomie beweisbar. Dabei versteht er unter einer dynamischen Antinomie eine Antinomie, in der die Welt als Natur, als ein dynamisches Ganzes verstanden wird. Ein dynamisches Ganzes ist etwas, in dem man »auf die Einheit im Dasein der Erscheinungen sieht«. 27 Warum lässt sich eine Kausalität aus Freiheit beweisen? Sie lässt sich beweisen, weil wir immer weiter zurückfragen können und für den jeweiligen Zustand bzw. die jeweiligen Ursachen nach der ihr vorausgehenden Ursache fragen können. Damit aber kommen wir an kein Ende. »So giebt es nur einen subalternen, niemals aber einen ersten Anfang und also überhaupt keine Vollständigkeit der Reihe« 28. Umgekehrt lässt sich aber auch die Idee einer »Freiheit im transcendentalen Verstande als eine besondere Art von Kausalität, […] nämlich ein Vermögen, einen Zustand, mithin auch eine Reihe von Folgen desselben schlechthin anzufangen«, widerlegen. Eine solche Idee von Freiheit zerstört nämlich das naturgesetzliche Regelwerk und verletzt damit die dynamische Einheit. Zudem ist es gar nicht nötig »ein dynamisch Erstes der Kausalität nach zu suchen« 29. These und Antithese sind nach Kant darum als regulative Prinzipien wahr. Die These ist wahr, wenn man praktisch vom Sittengesetz her denkt. Die Antithese ist wahr, wenn man sich auf die Erscheinungswelt beschränkt. Sie spiegelt auf diese Weise das systemischmechanistische Vorgehen der Naturwissenschaften wider: »Wenn […] Erscheinungen für nichts mehr gelten, als sie in der Tat sind, nämlich nicht für Dinge an sich, sondern bloße Vorstellungen, die nach empirischen Gesetzen zusammenhängen, so müssen sie selbst noch Gründe haben, die nicht Erscheinungen sind. Eine solche intelligible Ursache aber wird in Ansehung ihrer Kausalität nicht durch Erscheinungen bestimmt, obzwar ihre Wirkungen erscheinen und sie durch andere Erscheinungen bestimmt werden können.« 30
Da die Zeit nur eine Anschauungsform des inneren Sinnes ist, widerspricht es nämlich nicht der transzendentalen Idee von Freiheit einen strengen Determinismus in der Zeit, also in der Welt, wie sie uns erscheint, anzunehmen.
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B 447. B 474. Dort auch das folgende Zitat. B 477. B 565.
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Würde und Freiheit als Aufgabe, die Menschheit zu achten
Der deutsche Idealismus wird Kant vorhalten, mit dieser Position selbstwidersprüchlich zu argumentieren, da er hier ja die Kategorie der Kausalität anzuwenden scheint, um auf die Realität der Dinge an sich zu schließen. Doch trifft dieser Vorwurf Kant nicht. Vielmehr geht er nicht im Sinne der Kategorie »Kausalität«, sondern einfach im Sinne der Bedingung der Möglichkeit aller Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis davon aus, dass es etwas gibt, was wir zwar nicht erkennen können, was aber real ist. In einem Bild lässt sich diese Grundannahme leicht verdeutlichen. Wer von einer Lawine verschüttet wird, erkennt nach Kant zwar nicht, was eine Lawine ist, sondern nur, wie diese dem Verschütteten erscheint, aber es gibt keinen Zweifel daran, dass hier etwas ist. Spätestens wenn der Erstickungstod eintritt, sollte der philosophische Idealismus sich für den Betroffenen erledigt haben. Im Unterschied zum späteren deutschen Idealismus zeigt sich die Bescheidenheit Kants beispielhaft in seiner Behandlung der Freiheit, weil nach seiner Überzeugung die theoretische Vernunft nicht einmal die Möglichkeit von Freiheit beweisen kann, sondern nur zeigt, dass das System der »Natur der Kausalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite« 31. Diese Lösung des Dilemmas der kausalen Geschlossenheit »von unten« birgt in sich zugleich die Lösung des Dilemmas »von oben« gegen die reformatorische Lehre von der Prädestination des Menschen im Hinblick auf sein Heil, also im Hinblick auf das sola gratia [allein durch Gnade]. Dadurch, dass die Zeit nur unsere Anschauungsform ist, kann Gott unser Handeln vorherwissen, ohne dass wir dadurch die Freiheit, sittlich aus Pflicht zu handeln, verlieren. 32 Auch der Gedanke, Gott prädeterminiere die Wirklichkeit, wodurch Freiheit ausgeschlossen würde, setzt die subjektive Anschauungsform Zeit voraus. Also gibt es »in Wirklichkeit« keinen WiderB 586. Vgl. Kant (1968 [1793]), 50: »Den Begriff der Freiheit mit der Idee von Gott, als einem notwendigen Wesen, zu vereinigen, hat gar keine Schwierigkeit: weil die Freiheit nicht in der Zufälligkeit der Handlung (dass sie gar nicht durch Gründe determiniert sei), d. i. nicht im Indeterminismus (dass Gutes oder Böses zu tun Gott gleich sein müsse, wenn man seine Handlung frei nennen sollte), sondern in der absoluten Spontaneität besteht, welche allein beim Prädeterminismus Gefahr läuft, wo der Bestimmungsgrund der Handlung in der vorigen Zeit ist, mithin so, dass jetzt die Handlung nicht mehr in meiner Gewalt, sondern in der Hand der Natur ist, mich unwiderstehlich bestimmt; da dann, weil in Gott keine Zeitfolge zu denken ist, diese Schwierigkeit wegfällt.«
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Grundproblem der Freiheit
spruch zwischen der Annahme von Freiheit und der Idee Gottes. Der Begriff »Freiheit« hat in diesem Zusammenhang einen rein negativen Sinn. »Freiheit« wird als unabhängig von genau genommen prädeterminierenden Faktoren bestimmt, besteht also in absoluter Spontaneität. Positiv besagt damit Freiheit das »Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein […] als Vermögen der Prinzipien (und hier praktischer Prinzipien, mithin als gesetzgebendes Vermögen)«. 33 Sie ist also nicht nur negativ als absolut spontan, sondern positiv als autonom und sich selbst determinierend definiert. Zwei Fragen brechen in diesem Zusammenhang auf: Was ist aber dann der Grund, warum manche Menschen diese Freiheit verwirklichen, andere jedoch nicht? Kehrt hier nicht das Problem des »Nachtzugs nach Lissabon« in neuer Weise zurück? Und zweitens lässt sich fragen, warum diese Idee der Freiheit nicht nur ein schöner Gedanke ist, sondern ihr eine Wirklichkeit entspricht? Auf die erste Frage gibt Kant zwei Antworten. Entweder ist der Einzelne aus Mangel des Verstandes nicht fähig, sich seiner auch praktischen Vernunft ohne Anleitung durch einen anderen zu bedienen 34, oder aber er ist dazu zu feige oder einfach böse. 35 Doch wie lässt sich die zweite Frage beantworten? Wie lässt sich zeigen, dass der Idee der Freiheit eine Wirklichkeit entspricht? Die Lösung kann ausschließlich praktisch erreicht werden. Nach Kant ist das moralische Gesetz der Erkenntnisgrund für die Wirklichkeit von Freiheit, nicht spekulative Überlegungen. Es ist der Sollensanspruch selbst, der berechtigt, die Idee von Freiheit als Wirklichkeit zu beweisen, weil sie »die Bedingung des moralischen Gesetzes ist, welches wir wissen« 36, weil nach Kant »Freiheit allerdings die ratio essendi [Seinsgrund] des moralischen Gesetzes, das moralische Gesetz aber die ratio cognoscendi [Erkenntnisgrund] der Freiheit sei. […] Wäre aber keine Freiheit, so würde das moralische Gesetz in uns gar nicht anzutreffen sein.« 37 Während also in der Antithese der Antinomie auf theoretischer Ebene die Idee einer solchen Freiheit noch widerlegt werden konnte, ist sie auf der praktischen Ebene unabweisbar. Diese
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Kant (1968 [1797]), 214. Vgl. Kants Aufklärungsschrift: Kant (1968 [1784]. Vgl. ebd. und Kants Religionsschrift: Kant (1968 [1793]. Kant (1968 [1788]), 4. Ebd., 4 in der Anmerkung.
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Würde und Freiheit als Aufgabe, die Menschheit zu achten
Freiheit nennt Kant »die transzendentale Freiheit« 38, weil sie nicht empirisch feststellbar ist und doch die Bedingung der Möglichkeit dafür ist, dass es Sollensforderungen und damit ein moralisches Gesetz gibt. Sie ist die notwendige Bedingung, die ermöglicht, dass wir Menschen moralfähig sind. Diese Freiheit ist darum auch der Grund der Würde des Menschen. Hier zeigt sich praktisch eine große Nähe zur Argumentation, die bei der Menschenrechtserklärung in Anlehnung an Gewirth zur Begründung der Menschenwürde entwickelt wurde, denn führt man diesen Gedanken zu Ende, so ergibt sich ein ganz praktischer Grund, die Würde des anderen zu achten.
3.4 Zweifacher Grund der Würde Was Kant mit »praktisch anzuerkennen« andeutet, lässt sich verstehen, wenn man davon ausgeht, dass jeder von uns geachtet werden möchte, und umgekehrt die Überzeugung vertritt, dass jeder Mensch dem anderen gegenüber anerkennt, dass dieser nicht vollständig instrumentalisiert werden darf. Wer nämlich vollständig instrumentalisiert wird, kann den kategorischen Imperativ nicht mehr autonom aus Pflicht befolgen. 39 Bestreitet jemand dies, dann würde er zugestehen, dass andere ihn vollständig instrumentalisieren, also in seinem Menschsein als vernünftiges Wesen missachten dürften. Dies hätte die irrationale Konsequenz der pragmatischen Selbstwidersprüchlichkeit: Wer davon ausgeht, andere Menschen vollständig instrumentalisieren zu können, gesteht damit zu, dass auch er umgekehrt vollständig instrumentalisiert werden dürfte, dass auch ihm die Freiheit in einem gehaltvollen Sinn entzogen werden könnte. Daran ändert auch nichts, dass jemand sich für so unbesiegbar hält, dass er davon ausgeht, dass ihm dies niemals widerfahren könne. Diese subjektive Einschätzung
Ebd., 5. Vgl. Gewirth (1998), 96 ff. In ähnlicher Weise haben Beyleveld/ Brownsword (2001, 87) Überlegungen von Kant und Gewirth aufeinander bezogen: »The moral theories of Kant and Gewirth share a number of features. Most importantly, Kant and Gewirth agree that (a) morality purports to impose categorically binding standards for action; (b) there is a supreme principle of morality, which actually is categorically binding; (c) a principle can be justified as categorically binding only by demonstrating that it is an absolutely unconditional requirement of reason.«
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Zweifacher Grund der Würde
ist objektiv einfach falsch, weil niemand vor Krankheit usw. geschützt ist, also jeder in eine Situation der Schwäche geraten kann. Nimmt man die Anerkenntnis von Freiheit als das Zentrum dessen, was Kant mit seiner Fassung des Instrumentalisierungsverbots und des kategorischen Imperativs bezüglich der Menschenwürde anzudeuten scheint, so ergibt sich: Die Achtung meiner Würde bedeutet gerade, dass ich als Person, also als Subjekt von Autonomie, geachtet werde. Will ich mich nicht pragmatisch selbstwidersprüchlich verhalten, so muss ich zugleich damit anerkennen, dass ich die Pflicht habe, »die Würde der Menschheit an jedem anderen Menschen praktisch anzuerkennen« 40. Dabei ist im Unterschied zu Gewirth der von Kant explizit genannte Grund für die Anerkenntnis der Würde nicht das biologische Faktum des Menschseins. Die Sittlichkeit und die Autonomie verdienen eigentlich die Achtung. Nicht der Einzelne ist also um seinetwillen zu achten, sondern insofern er die Menschheit repräsentiert, die der Selbstgesetzgebung fähig ist. Zugleich wird damit deutlich, dass nicht die Würde selbst eine Begründungsfunktion hat, sondern Resultat eines anderen Grundes ist. 41 Dieser Grund ist die Fähigkeit des Menschen (als homo noumenon) sich selbst Gesetze zu geben, also seine Autonomie, weshalb Kant sogar ausdrücklich der Selbstgesetzgebungsfähigkeit selbst Würde im Sinn unvergleichbaren Werts zuerkennt: »Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.« 42 Kants wesentliche Argumentationslinie zur Begründung der Menschenwürde verläuft damit in folgender Weise: Der eigentliche Wert des Menschen besteht darin, als Vernunftwesen »Subject der Moralität« und gerade so Zweck an sich selbst zu sein. Im Bereich des Sollens hat der Mensch die Befähigung, sich selbst ein moralisches Gesetz zu geben, das analog zu den Naturgesetzen im Bereich des Seienden gedacht ist. Darin liegt der entscheidende Punkt. Die Fähigkeit des Menschen, sich selbst ein Gesetz zu geben, ist nicht individuell zu denken, sondern überindividuell. Es ist eine Fähigkeit Kant (1968 [1797]), 462. Es ist Sensen (2011, 23) vollumfänglich zuzustimmen, wenn er in seiner überarbeiteten Dissertation als Ergebnis zusammenfasst: »In conclusion, a proof that Kant conceives of the value of human beings as a distinct property all human beings possess is elusive. To the contrary, Kant does not even entertain such a conception, and his arguments rule out any knowledge of such a value as an independent starting point.« 42 Kant (1968 [1785]), 436. 40 41
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Würde und Freiheit als Aufgabe, die Menschheit zu achten
aller moralfähigen Wesen, und das Resultat ist ebenfalls überindividuell: der kategorische Imperativ. Er gilt nämlich gerade für alle moralfähigen Wesen an allen Orten zu allen Zeiten. Alle moralfähigen Wesen kommen mit Notwendigkeit aus sich heraus zu diesem kategorischen Imperativ als dem grundlegenden moralischen Gesetz. 43 Kant begründet also die Würde mit der transsubjektiven Autonomie jedes Menschen, d. h. »die Idee des Willens jedes vernünftigen Wesens als eines allgemein gesetzgebenden Willens« 44. Das ist für ihn äquivalent mit der Begründung, dass der Mensch moralfähig ist. 45 In der Kritik der Urteilskraft fasst Kant diesen inneren Zusammenhang zwischen menschlicher Freiheit und menschlicher Würde prägnant zusammen: »In der ganzen Schöpfung kann alles, was man will, und worüber man etwas vermag, auch bloß als Mittel gebraucht werden; nur der Mensch und mit ihm jedes vernünftige Geschöpf ist Zweck an sich selbst. Er ist nämlich das Subjekt des moralischen Gesetzes, welches heilig ist, vermöge der Autonomie seiner Freiheit. Eben um dieser willen ist jeder Wille, selbst jeder Person ihr eigener, auf sie selbst gerichteter Wille auf die Bedingung der Einstimmung mit der Autonomie des vernünftigen Wesens eingeschränkt, es nämlich keiner Absicht zu unterwerfen, die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Willen des leidenden Subjekts selbst entspringen könnte, möglich ist; also dieses niemals bloß als Mittel, sondern zugleich selbst als Zweck zu gebrauchen. Diese Bedingung legen wir mit Recht sogar dem göttlichen Willen, in Ansehung der vernünftigen Wesen in der Welt Vgl. den Gesamtzusammenhang der Würdigung der Autonomie als Grund der Menschenwürde ebd., 435: »Und was ist es denn nun, was die sittlich gute Gesinnung oder die Tugend berechtigt, so hohe Ansprüche zu machen? Es ist nichts Geringeres als der Anteil, den sie dem vernünftigen Wesen an der allgemeinen Gesetzgebung verschafft und es hierdurch zum Gliede in einem möglichen Reiche der Zwecke tauglich macht, wozu es durch seine eigene Natur schon bestimmt war, als Zweck an sich selbst und eben darum als gesetzgebend im Reiche der Zwecke, in Ansehung aller Naturgesetze als frei, nur denjenigen allein gehorchend, die es selbst gibt und nach welchen seine Maximen zu einer allgemeinen Gesetzgebung (der es sich zugleich selbst unterwirft) gehören können. Denn es hat nichts einen Werth als den, welchen ihm das Gesetz bestimmt. Die Gesetzgebung selbst aber, die allen Werth bestimmt, muss eben darum eine Würde, d. i. unbedingten, unvergleichbaren Wert, haben, für welchen das Wort Achtung allein den geziemenden Ausdruck der Schätzung abgibt, die ein vernünftiges Wesen über sie anzustellen hat. Autonomie ist also der Grund der Würde der menschlichen und jeder vernünftigen Natur.« 44 Ebd., 431. 45 Vgl. ebd., 435: »Nun ist Moralität die Bedingung, unter der allein ein vernünftiges Wesen Zweck an sich selbst sein kann, weil nur durch sie es möglich ist, ein gesetzgebendes Glied im Reiche der Zwecke zu sein.« 43
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Adressaten der Würde
als seiner Geschöpfe bei, indem sie auf der Persönlichkeit derselben beruht, dadurch allein sie Zwecke an sich selbst sind.« 46
Darum stellt sich für Kant auch nicht das Problem, dass Gott Sollensforderungen aufstellen könnte, die dem kategorischen Imperativ widersprechen könnten. Gott würde also niemals von Abraham fordern, Isaak zu opfern, selbst nicht, um ihn auf die Probe zu stellen. Das christliche und das kantische Würdekonzept unterscheiden sich also ganz wesentlich. Kant denkt hier universal in dem Sinn, dass nach seiner Überzeugung alle vernünftigen Lebewesen seine Überlegungen teilen müssten, während Offenbarungsreligionen einschließlich der christlichen die Vernunft transzendierende Forderungen aufstellen können und von daher in einer pluralistischen Welt immer als partikulare Positionen wahrgenommen werden. 47
3.5 Adressaten der Würde Kants Bedeutungsbestimmung der Würde bezieht sich auf die Menschheit in uns, noch genauer der Moralfähigkeit und Autonomie in uns. Wem kommt also Würde eigentlich im Vollsinn zu? Auf den ersten Blick scheint klar zu sein, wem Würde zukommt, nämlich vernünftigen Wesen, also, so würde man meinen, uns Menschen, zumindest inklusiv verstanden, denn Kant schloss zu seiner Zeit weder Gott, noch Engel, noch vernünftige Wesen auf anderen Planeten aus. Was bedeutet dies im Hinblick auf diejenigen Tiere, die sehr hoch entwickelt sind und sogar Moralfähigkeit zu zeigen scheinen? Und was heißt das im Hinblick auf diejenigen Menschen, die noch nicht Moralfähigkeit zeigen können, beispielsweise menschliche Embryonen? Wenn Kant davon spricht: »Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat« 48, so scheinen Menschen, die, empirisch gesehen, nicht zu moralischen Handlungen fähig sind, genau wie Tiere, die nicht moralfähig sind, keinen Anteil an der Würde zu haben. Doch
Kant (1968 [1790]), 49. Die Anerkenntnis von Jesus als einem Propheten im muslimischen Glauben, steht das christliche Bekenntnis, Jesus als Sohn Gottes zu glauben, entgegen. Diese beiden Positionen können mit reiner Vernunft nicht versöhnt werden. 48 Kant, (1968 [1785]), 435. 46 47
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Würde und Freiheit als Aufgabe, die Menschheit zu achten
Kant legt sich mit der wichtigen Einschränkung »sofern sie derselben fähig ist« nicht wirklich fest. Dies lässt sich zeigen, wenn man Kants Position mit derjenigen von Peter Singer kontrastiert. Singer erkennt manchen Tieren Personenstatus zu, während er diesen den Menschen, die dazu nicht fähig sind, also Embryonen, Kleinkinder, Menschen mit schwerer geistiger Beeinträchtigung oder irreversibel Komatösen, abspricht. 49 Wer darum beispielsweise Menschen mit geistiger Beeinträchtigung einen höheren moralischen Status zubilligt als Menschenaffen, ist für Singer Speziesist. Er bevorzugt willkürlich Angehörige der Spezies homo sapiens gegenüber Angehörigen anderer Spezies. Eine Ähnlichkeit zu Singer scheint darin zu bestehen, dass für Kant nur Wesen, die vernünftig und damit zur Moralität befähigt sind, Würde haben. Kant ist also gerade kein Speziesist. Er vertritt nicht die These, dass nur Menschen eine Würde zukommt. Vielmehr kommt allen moralfähigen Wesen Würde zu. Darum kann er auch ganz unbefangen davon sprechen, dass der Mensch »als mit Vernunftfähigkeit begabtes Thier (animal rationabile) aus sich selbst ein vernünftiges Thier (animal rationale) machen kann […].« 50 Im Unterschied zu Singer nimmt Kant jedoch an, dass zumindest jeder geborene Mensch eine Geistseele und damit Personenstatus hat, selbst wenn der homo phaenomenon keine Vernunft zeigen kann. Kants Sprechen vom Menschen als vernünftigem Tier zeigt, dass er nicht das Tier als Tier abwertet, sondern von der Vernunftlosigkeit aller Tiere mit Ausnahme des Menschen ausgeht, weil er allen übrigen Tieren ein Ichbewusstsein als notwendige Bedingung für Moralfähigkeit abspricht. 51 Noch klarer werden Kants Überlegungen zur Differenz von Mensch und Tier, oder, sprachlich präziser, zum Verhältnis vom verVgl. Singer (2011), 101: »Some members of other species are persons; some members of our own species are not.« 50 Kant (1968 [1798]), 321. 51 Vgl. Kant (1968 [1798]), 127: »§ 1. Dass der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle andere auf Erden lebende Wesen. Dadurch ist er eine Person und vermöge der Einheit des Bewußtseins bei allen Veränderungen, die ihm zustoßen mögen, eine und dieselbe Person, d. i. ein von Sachen, dergleichen die vernunftlosen Thiere sind, mit denen man nach Belieben schalten und walten kann, durch Rang und Würde ganz unterschiedenes Wesen, selbst wenn er das Ich noch nicht sprechen kann, weil er es doch in Gedanken hat […].« Allerdings legen heutige Forschungen nahe, dass es Tiere wie Wale und Menschenaffen, eventuell auch Vögel gibt, die sehr wohl zu einem Ichbewusstsein fähig sind. 49
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Adressaten der Würde
nunftbegabten Tier, dem Menschen, zum vernunftlosen Tier, also allen übrigen Tieren, wenn Kant in der Metaphysik der Sitten schreibt: »Das Vermögen sich überhaupt irgendeinen Zweck zu setzen ist das Charakteristische der Menschheit (zum Unterschiede von der Thierheit). Mit dem Zwecke der Menschheit in unserer eigenen Person ist also auch der Vernunftwille, mithin die Pflicht verbunden, sich um die Menschheit durch Cultur überhaupt verdient zu machen, sich das Vermögen zu Ausführung allerlei möglichen Zwecke, sofern dieses in dem Menschen selbst anzutreffen ist, zu verschaffen oder es zu fördern, d. i. eine Pflicht zur Cultur der rohen Anlagen seiner Natur, als wodurch das Thier sich allererst zum Menschen erhebt: mithin Pflicht an sich selbst. […] b) Cultur der Moralität in uns. Die größte moralische Vollkommenheit des Menschen ist: seine Pflicht zu tun und zwar aus Pflicht (daß das Gesetz nicht blos die Regel, sondern auch die Triebfeder der Handlungen sei).« 52
Es ist also nicht die Vernunft an sich, die den Menschen zu einem besonderen Wesen macht, sondern die Vernunft als eine Anlage, die den Menschen befähigt, sich höhere Zwecke zu setzen, insbesondere aufgrund des Zwecks der Menschheit, in der eigenen Person aus Pflicht zu handeln. Anders formuliert: Der Mensch als vernunftbegabtes Tier unterscheidet sich vom vernunftlosen Tier nicht durch die Vernunft an sich – diese könnte auch nur eine dem tierischen Instinkt analoge Fertigkeit sein –, sondern die mit der Vernunft gegebenen Möglichkeit, sich höhere Zwecke zu setzen und das heißt insbesondere aus Pflicht zu handeln. 53 Wie aber steht es dann mit Menschen, die (noch) keine Moralfähigkeit haben, denn es gibt Angehörige der Spezies Mensch, die nicht, zumindest soweit wir empirisch nachweisen können, imstande sind, sich selbst Zwecke zu setzen und aus Pflicht zu handeln. Dies betrifft insbesondere Menschen am Anfang ihrer Existenz. Kants Position scheint in dieser Frage nach Ansicht nicht weniger Kantkenner eindeutig zu sein. Dem menschlichen Embryo
Kant (1968 [1797]), 392. Vgl. Kant (1968 [1788]), 61 f.: »Denn im Werthe über die bloße Thierheit erhebt ihn das gar nicht, daß er Vernunft hat, wenn sie ihm nur zum Behuf desjenigen dienen soll, was bei Thieren der Instinkt verrichtet; sie wäre alsdann nur eine besondere Manier, deren sich die Natur bedient hätte, um den Menschen zu demselben Zwecke, dazu sie Tiere bestimmt hat, auszurüsten, ohne ihn zu einem höheren Zwecke zu bestimmen.«
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Würde und Freiheit als Aufgabe, die Menschheit zu achten
kommt bereits die Würde zu. 54 Dies belegt beispielsweise Starck mit folgender kantischer Reflexion: »Wenn man aus der Natur des erwachsenen Menschen auf dessen ewige Dauer schließen kann, so muss auch der neugeborene Mensch eben dieses hoffen lassen. Also auch der Embryo […].« 55
Starck schließt daraus, dass also bereits der menschliche Embryo im Sinne des gerade gezeugten menschlichen Lebewesens nach Kant als Person zu verstehen ist. Allerdings ist die Situation nicht so eindeutig, ließen sich diese Stellen doch auch anders deuten, da die gerade zitierte Passage in eine größere Gesamtüberlegung eingebettet ist und vollständig lautet: »Wenn man aus der Natur des erwachsenen Menschen auf dessen ewige Dauer schließen kann, so muss auch der neugeborene Mensch eben dieses hoffen lassen. Also auch der Embryo, das ovulum, das ovulum vom ovulo. Dieser Anspruch auf die Ewigkeit kann nicht von der zufälligen Verbindung mit dem Körper abhängen; denn diejenige Vollkommenheit, die nicht ohne Verbindung mit körperlichen Dingen entspringen kann, kann auch nicht ohne dieselbe fortdauern. Also haben die menschlichen Seelen ein geistiges Leben auch vor dem Körper gehabt; also kann das thierische Leben nicht über ihr ewiges Schicksal entscheiden.« 56
Im Gesamtzusammenhang zeigt sich hier eine Sicht des Menschen, die im Hinblick auf Embryonen eine Lösung anbietet, warum diese moralfähig sind, unabhängig von dem, was wir empirisch wahrnehmen: Die Seele verbürgt, dass sie moralfähig sind und ihnen Würde zukommt. Der Embryo ist bereits homo noumenon, aber als homo phaenomenon ist er noch so wenig entwickelt, dass er keine moralrelevanten Handlungen setzen kann. Er ist nach Kants Überlegungen sogar homo noumenon als präexistente Seele, bevor überhaupt der Embryo entstanden ist. Dies sind freilich so große Vorannahmen, dass Kant selbst sie niemals veröffentlicht hat. 57 In seiner klassischen
Vgl. z. B. Brandt (2003), 42; Höffe (2002), 70 ff.; Starck (2002). Starck (2002, 1070) zitiert dabei Kant (2003/1925 [1753–1803], 473). 56 Kant (2003/1925 [1753–1803]), 473. Im letzten Teilsatz wird nochmals deutlich, dass Kant den Tieren im Unterschied zum Menschen eine Seele in dem Sinn abspricht, dass sie ein ewiges Leben haben können. 57 Ausführlich hat Geismann (2004, 443–469) diesen Sachverhaltet herausgearbeitet. Zugleich setzt er sich in diesem Beitrag mit den Argumenten der Kantinterpreten auseinander, die Kant für den Personenstatus des Embryos in Anspruch nehmen. 54 55
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Adressaten der Würde
theoretischen Philosophie, nämlich der Kritik der reinen Vernunft, wird die übliche Seelenvorstellung zudem als transzendentes Ding an sich bezeichnet, auf das wir durch einen Fehlschluss kommen, weil wir die Kategorie »Substanz« fälschlich auf etwas anwenden, was uns nicht durch die Anschauungsformen gegeben ist. 58 Wer mit Kant meint begründen zu können, warum Embryonen Würde zukommt, sieht sich darum mit dem Einwand konfrontiert: »Für Kant kann es eine theoretische Erklärung einer noumenalen Person nicht geben.« 59 Nur letzterer aber kommt Würde zu. Darum widerspricht es dem Kern kantischer Philosophie, wenn man meint, man könne »die Würde des Menschen irgendwie in dessen ›biologischem Substrat‹ gleichsam dingfest« 60 machen. Auch Kants Überlegungen in der Metaphysik der Sitten lassen nicht den Schluss zu, er würde Embryonen bereits als Personen achten. Dabei scheint Kant auf den ersten Blick genau dies nahezulegen, wenn er schreibt: »Denn da das Erzeugte eine Person ist, und es unmöglich ist, sich von der Erzeugung eines mit Freiheit begabten Wesens durch eine physische Operation einen Begriff zu machen: so ist es eine in praktischer Hinsicht ganz richtige und auch notwendige Idee, den Akt der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt, und eigenmächtig in sie herübergebracht haben; für welche That auf den Eltern nun auch eine Verbindlichkeit haftet, sie, so viel in ihren Kräften ist, mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu machen. – Sie können ihr Kind nicht gleichsam als ihr Gemächsel (denn ein solches kann kein mit Freiheit begabtes Wesen sein) und als ihr Eigenthum zerstören oder es auch nur dem Zufall überlassen, weil an ihm nicht bloß ein Weltwesen, sondern
Vgl. insbesondere Kant (1968 [1787]), 269 (B 410 f.): »In den Verfahren der rationalen Psychologie herrscht ein Paralogismus [Fehlschluss], der durch folgenden Vernunftschluss dargestellt wird: Was nicht anders als Subject gedacht werden kann, existirt auch nicht anders als Subject und ist also Substanz. Nun kann ein denkendes Wesen, bloß als ein solches betrachtet, nicht anders als Subjekt gedacht werden. Also existirt es auch nur als ein solches, d. i. als Substanz. Im Obersatz wird von einem Wesen geredet, das überhaupt, in jeder Absicht, folglich auch so, wie es in der Anschauung gegeben werden mag, gedacht werden kann. Im Untersatz aber ist nur von demselben die Rede, sofern es sich selbst als Subject nur relativ auf das Denken und die Einheit des Bewußtseins, nicht aber zugleich in Beziehung auf die Anschauung, wodurch es als Objekt zum Denken gegeben wird, betrachtet.« 59 Siep (2004), 329, wenn man eben von seinen Aussagen in den Reflexionen absieht, die aber nicht mit der Kritik der reinen Vernunft übereinstimmen. 60 Geismann (2004), 457. 58
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Würde und Freiheit als Aufgabe, die Menschheit zu achten
auch ein Weltbürger in einen Zustand herüberzogen, der ihnen nun auch nach Rechtsbegriffen nicht gleichgültig sein kann.« 61
Doch die Interpretation der Stelle, Kant sei ein Befürworter der Anerkenntnis der Menschenwürde aller Menschen ab dem Embryonalstadium, wird von ihm selbst widerlegt, wenn er in eben dieser Metaphysik der Sitten »dem (unehelich) geborenen Kind keinen absoluten Würdeschutz zuschreibt« 62: »Da die Gesetzgebung die Schmach einer unehelichen Geburt nicht wegnehmen […] kann: So scheint es, dass Menschen in diesen Fällen sich im Naturzustand befinden und Tödtung (homicidium), die alsdann nicht einmal Mord (homicidium dolosum) heißen müsste, in beiden zwar ganz allerdings strafbar sei, von der obersten Macht aber mit dem Tode nicht könne bestraft werden. Das unehelich auf die Welt gekommene Kind ist außer dem Gesetz (denn das heißt Ehe), mithin auch außer dem Schutz desselben geboren. Es ist in das gemeine Wesen gleichsam eingeschlichen (wie verbotene Waare), so daß diese seine Existenz (weil es billig auf diese Art nicht hätte existieren sollen), mithin auch seine Vernichtung ignorieren kann.« 63
Kant unterscheidet also die Rechtssituation in der Ehe, in der eine Abtreibung absolut unzulässig ist, von der Rechtssituation außerhalb der Ehe. Kant schreibt dies zu einer Zeit, in der Kindstötungen unverheirateter Frauen häufiger vorkamen. 64 Worum geht es Kant dann mit diesen Stellen? Er möchte darauf hinweisen, dass mit der Zeugung eine Verantwortung entsteht, sodass das später geborene Kind seinen Eltern nicht gleichgültig sein darf oder gar ihr Besitz wäre. Zugleich verdeutlicht er, dass die Zeugung von Kindern mit ehelicher Gemeinschaft verbunden sein soll. Es geht ihm um die Bedeutung der Rechtsgemeinschaft »Ehe« im Hinblick auf die Anerkenntnis des Rechtsstatus des Kindes. Zugleich kann die letztzitierte Stelle als ein Plädoyer interpretiert werden, gegen unverheiratete Mütter, die ihr Neugeborenes aus Verzweiflung getötet hatten, nicht die Todesstrafe zu verhängen. Zugleich belegt diese Stelle sehr klar, dass Kant als Adressaten seiner Philosophie an erwachsene, vernünftige Menschen denkt. Die Frage nach dem Status Kant (1968 [1797]), 280 f. Siep (2004), 329. 63 Ebd., 336. 64 Dies war auch Thema in der Dichtung der damaligen Zeit. Am bekanntesten ist hierbei wohl Goethes Faust I, an dessen Ende das Flehen Margaretes um Vergebung bei Gott geschildert wird, denn sie hat ihr eigenes Kind getötet und wurde zum Tod verurteilt. 61 62
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Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte
von Menschen am Lebensanfang und Lebensende ist nicht seine Problemstellung, und diese Frage will er in seinem philosophischen Entwurf auch nicht behandeln. Als Ergebnis lässt sich festhalten, dass Kant keine gute Autorität dafür ist, die Frage zu beantworten, ab wann und bis wann einem Menschen Würde zukommt, ob also beispielsweise bereits ein menschlicher Embryo Subjekt einer moralisch-praktischen Vernunft ist. Der Adressat seiner Philosophie ist der moralfähige geborene Mensch. Kant möchte diesen Adressaten davon überzeugen, sich seiner Fähigkeit bewusst zu werden, sich selbst das Gesetz des kategorischen Imperativs zu geben und so die Menschheit in den (erwachsenen) Menschen, mit denen er konkret zu tun hat, zu achten.
3.6 Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte Kants Würdekonzeption basiert darauf, dass wir als Menschen moralfähig sind, und zwar in dem Sinn, dass wir uns aus uns selbst die fundamentale Handlungsanleitung geben können, nämlich den kategorischen Imperativ, der in seiner »Würdefassung« die Achtung der Menschheit in jedem Menschen einfordert.
3.6.1 Grenzen des Rechts auf Leben und das Problem der Folter Vor diesem Hintergrund leuchtet ein, warum Kant unbefangen in der Metaphysik der Sitten davon ausgehen kann, dass der Einzelne seine Würde auch verspielen kann, denn als Verbrecher verletzt er den kategorischen Imperativ, missachtet damit die Menschheit im anderen und in sich selbst. Das hat nach Kant weitreichende Konsequenzen: »Ohne alle Würde kann nun wohl kein Mensch im Staate sein, denn er hat wenigstens die des Staatsbürgers; außer, wenn er sich durch sein eigenes Verbrechen darum gebracht hat, da er dann zwar im Leben erhalten, aber zum bloßen Werkzeuge der Willkür eines anderen (entweder des Staats, oder eines anderen Staatsbürgers) gemacht wird. Wer nun das letztere ist (was er aber nur durch Urteil und Recht werden kann), ist ein Leibeigener (servus in sensu stricto) und gehört zum Eigenthum (dominium) eines anderen […,] dadurch er aufhört, eine Person zu sein.« 65 65
Kant (1968 [1797]), 329 f.
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Würde und Freiheit als Aufgabe, die Menschheit zu achten
Allerdings darf der Eigentümer eines solchen Menschen nicht über dessen Leben verfügen. Diese Einschränkung gilt jedoch nicht mehr für einen Verbrecher, der zum Mörder geworden ist. In diesem Fall verteidigt Kant nicht nur die Todesstrafe, sondern erklärt sie sogar zu einer Notwendigkeit, weil der Mörder auf jeden Fall den Tod erleiden muss, damit der Gerechtigkeit Genüge getan wird. 66 Kant geht sogar so weit zu fordern: »Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit aller Glieder Einstimmung auflösete […], müßte der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit jedermann das widerfahre, was seine Thaten werth sind […].« 67 Hier spiegelt sich die Logik der kantischen Konzeption wider. Wer die Anerkenntnis der Würde des andern dadurch aufkündigt, dass er den anderen ermordet, verliert selbst nicht nur den Anspruch auf die Anerkenntnis seines eigenen Lebensrechts, sondern er muss sogar getötet werden, weil nur so seine Würde wiederhergestellt werden kann. Es gilt nämlich, »dass der kategorische Imperativ der Strafgerechtigkeit (die gesetzwidrige Tötung eines anderen müsse mit dem Tode bestraft werden) bleibt« 68. Reinhard Merkel 69 interpretiert Kant sogar in einer Weise, dass er die Folter zulassen würde, wenn nur so das Leben Unschuldiger zu retten ist. Im Fall der Pflichtenkollision zwischen Lebensrettung Unschuldiger und der Androhung und Durchführung von Folter gegen den Angreifer gibt die Lebensrettung den Ausschlag. Allerdings würde dies Kant, wenn überhaupt, wohl nur dem Bedrohten selbst zugestehen, und zwar im Sinn eines subjektiven Notrechts, das er strikt vom objektiven Recht unterscheidet. 70 Sein Beispiel ist freilich nicht Ebd., 334: »So viel also der Mörder sind, die den Mord verübt oder auch befohlen oder dazu mitgewirkt haben, so viele müssen auch den Tod leiden; so will es die Gerechtigkeit als Idee der richterlichen Gewalt nach allgemeinen, apriori begründeten Gesetzen.« (Ebd., 334) 67 Ebd., 333. 68 Ebd., 336 f. 69 Merkel (2008). 70 Vgl. Kant (1968 [1797]), 235, wo er »von einer erlaubten Gewaltthätigkeit gegen den, der keine gegen mich ausübte« spricht, also von dem Problem, das nicht unter den Begriff der Notwehr fällt. Hier kommt der zu dem Urteil: »Es ist klar: daß diese Behauptung nicht objectiv, nach dem, was ein Gesetz vorschreiben, sondern bloß subjectiv, wie vor Gericht die Sentenz gefällt werden würde, zu verstehen sei. Es kann nämlich kein Strafgesetz geben, welches demjenigen den Tod zuerkennte, der im Schiffbruche, mit einem Andern in gleicher Lebensgefahr schwebend, diesen von dem Brette, worauf er sich gerettet hat, wegstieße, um sich selbst zu retten. Denn die 66
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Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte
die Folter, sondern die Situation Schiffbrüchiger. Wenn jemand bei einem Schiffbruch sein Leben nur dadurch retten kann, dass er einen anderen von der Planke wegstößt, damit nicht beide untergehen, so ist dies »nicht etwas als unsträflich (inculpabile), sondern nur als unstrafbar (impunibile) zu beurtheilen« 71. Es ist deshalb unwahrscheinlich, dass Kant die Folter als zulässiges Mittel gesehen hätte, wenn derjenige, der die Folter androht, nicht selbst persönlich bedroht gewesen wäre. Als also der Polizeipräsident dem verhafteten Kindesentführer Folter androhte, wenn dieser nicht das Versteck des Kindes preisgebe, hätte er sich vermutlich nicht auf Kant berufen können. Dagegen dürfte nach Kant wohl jemand einen Bombenleger, der sich in seiner Gewalt befindet, ungestraft foltern, falls dies die einzige Möglichkeit ist, dass der Bombenleger das Versteck verrät und dadurch der Folternde so das eigene Leben retten kann. 72
3.6.2 Unumstrittenes Recht auf Religionsfreiheit im Sinn der Aufklärung Kant hat das Gewissen ganz im Sinn seiner Moraltheorie verstanden und deshalb definiert als »die dem Menschen in jedem Falle eines Gesetzes seine Pflicht zum Lossprechen oder Verurtheilen vorhaltende praktische Vernunft« 73, anders gesagt: Wer seinem Gewissen verbunden ist, erkennt seine Pflichten und im eigentlichen Sinn den kategorischen Imperativ an. 74 In seiner Religionsschrift Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft hat Kant deshalb das Gewissen auch knapp als »Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist« 75 definiert. Was die Offenbarungsreligionen angeht, ist Kant im Sinn der Aufklärung davon überzeugt, dass die Offenbarung in Glaubensdingen nicht eindeutig und zudem auf historischen, d. h. kontingenten
durchs Gesetz angedrohte Strafe könnte doch nicht größer sein, als die des Verlusts des Lebens des ersteren.« 71 Ebd., 236. 72 Vgl. Bielefeldt (2006, 7), der das Folterverbot mit Kants Instrumentalisierungsverbot begründet, da die Folter den Gefolterten vollständig instrumentalisiere. 73 Ebd., 400. 74 Vgl. ebd., 400. 75 Kant (1968 [1793]), 185.
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Würde und Freiheit als Aufgabe, die Menschheit zu achten
Beweisgründen fußt, also irrtumsanfällig ist. 76 Kant dreht vor diesem Hintergrund das Problem der Religions- und Gewissensfreiheit um und klagt denjenigen, der Andersgläubige verfolgt, an. »Man nehme z. B. einen Ketzerrichter an […]. Er war zwar vermuthlich des festen Glaubens, daß ein übernatürlich=geoffenbarter göttlicher Wille (vielleicht nach dem Spruch: compellite intrare [zwingt sie einzutreten]) es ihm erlaubt, wo nicht gar zur Pflicht macht, den vermeinten Unglauben zusammt den Ungläubigen auszurotten. Aber war er denn wirklich von einer solchen geoffenbarten Lehre und auch diesem Sinne derselben so sehr überzeugt, als erfordert wird, um es darauf zu wagen, einen Menschen umzubringen? Daß einem Menschen seines Religionsglaubens wegen das Leben zu nehmen unrecht sei, ist gewiß: wenn nicht etwa (um das Äußerste einzuräumen) ein göttlicher, außerordentlich ihm bekannt gewordener Wille es anders verordnet hat. Daß aber Gott diesen fürchterlichen Willen jemals geäußert habe, beruht auf Geschichtsdocumenten und ist nie apodiktisch gewiß.« 77
Für Kant ist darum Religionsfreiheit ein Grundrecht, während Gewissensfreiheit eigentlich im Sinn der Aufklärung ein Unbegriff ist, da das wahre Gewissen am kategorischen Imperativ Maß zu nehmen hat und deshalb auch zu bilden ist. Der Verstand ist, ganz im Sinne der Aufklärung, imstande, darüber zu urteilen, »ob eine Handlung recht oder unrecht sei […], nicht das Gewissen« 78.
3.6.3 Grenzen der Freiheit als Selbstgesetzgebung Vor diesem Hintergrund seines Gewissensbegriffs ist zu verstehen, warum Kant kein Grundrecht auf Selbstbestimmung im modernen Sinn kennt. Kants berühmte Forderung des sapere aude [sich seines eigenen Verstandes ohne Anleitung durch andere zu bedienen] als Leitspruch der Aufklärung ist also nicht mit dem heutigen Verständnis von Selbstbestimmung zu verwechseln. Dies zeigt sich sehr klar in der Frage des Umgangs mit der eigenen Sexualität. Wie das Christentum vertritt Kant hier eine sehr klare Position und lehnt jede Form der sexuellen Befriedigung ab, die
76 77 78
Vgl. ebd., 187. Ebd., 186 f. Ebd., 186.
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Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte
nicht zwischen Mann und Frau stattfindet, 79 also auch jede gelebte Homosexualität, selbst zwischen konsentierenden Erwachsenen. Alle derartigen Formen stellen eine fundamentale Würdeverletzung im Sinn der Pflicht gegen sich selbst dar, nämlich die Missachtung der Menschheit in uns selbst, weil der »Zweck der Natur […] in der Beiwohnung der Geschlechter die Fortpflanzung [ist], d. i. die Erhaltung der Art; jenem Zwecke darf also wenigstens nicht zuwider gehandelt werden.« 80 Kant geht darum so weit, Selbstbefriedigung für schlimmer zu halten als die Selbsttötung. 81 Die Selbsttötung ist dabei nach Kant ein verwerflicher Selbstmord. Dies erstaunt nur auf den ersten Blick, wonach gerade die Berufung auf die Autonomie des Menschen als Argument für ein Recht auf Selbsttötung gebraucht wird. Doch sind eben Kants Verständnis der menschlichen Autonomie und das moderne Autonomieverständnis ganz wesentlich unterschieden. Kants Autonomiebegriff ist, wie gezeigt, wörtlich zu nehmen, also als Selbstgesetzgebung, meint also gerade nicht ein individuell-persönliches Selbst-Bestimmen, sondern eine Normierung des eigenen Handelns nach dem moralischen Gesetz, das für alle moralfähigen Lebewesen in gleicher Weise gilt. Autonomie als Selbstgesetzgebung ist damit etwas völlig anderes als Patientenautonomie in der Medizin im Sinne der mittlerweile klassisch zu nennenden Bestimmung als freie Selbstbestimmung einer Person, die mit Verständnis eines Sachverhalts ohne kontrollierende Einflüsse ihre Absichten verwirklicht. 82 Kants Position zur Selbsttötung im Allgemeinen bzw. in seiner Begrifflichkeit zur »Selbstentleibung« ist eindeutig, denn er nennt sie ein Verbrechen und Mord. Dabei unterscheidet Kant bei der Selbst79 Vgl. Kant (1968 [1797]), 277: »Geschlechtsgemeinschaft (commercium sexuale) ist der wechselseitige Gebrauch, den ein Mensch von eines anderen Geschlechtsorganen und Vermögen macht […] und entweder ein natürlicher (wodurch seines Gleichen erzeugt werden kann), oder unnatürlicher Gebrauch und dieser entweder an einer Person ebendesselben Geschlechts, oder einem Thiere von einem anderen als der Menschengattung; welche Übertretungen der Gesetze, unnatürliche Laster (crimina carnis contra naturam), die auch unnennbar heißen, als Läsion der Menschheit in unserer eigenen Person durch keine Einschränkungen und Ausnahmen wider die gänzliche Verwerfung gerettet werden können.« 80 Ebd., 426. 81 Vgl. ebd., 425. 82 Vgl. Beauchamp/Childress (2013) 104: »We analyze autonomous action in terms of normal choosers who act (1) intentionally, (2) with understanding, and (3) without controlling influences that determine their action.«
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Würde und Freiheit als Aufgabe, die Menschheit zu achten
tötung zwei Möglichkeiten der Pflichtverletzung, der Verletzung der Pflicht gegenüber anderen und damit auch gegenüber Gott einerseits sowie der Pflicht gegenüber sich selbst andererseits, auf die er fokussiert. 83 Diese strenge Pflicht gegen sich selbst beruht auf dem stimmigen Grundgedanken im Rahmen seiner Moraltheorie: »Das Subjekt der Sittlichkeit in seiner eigenen Person zernichten, ist ebenso viel, als die Sittlichkeit selbst ihrer Existenz nach, so viel an ihm ist, aus der Welt vertilgen, welche doch Zweck an sich selbst ist; mithin über sich als bloßes Mittel zu ihm beliebigen Zweck zu disponiren, heißt die Menschheit in seiner Person (homo noumenon) abwürdigen, der doch der Mensch (homo phaenomenon) zur Erhaltung anvertrauet war.« 84
Kants zentrales Argument gegen eine Selbsttötung selbst in einer verzweifelten Lage, zum Beispiel am Lebensende, lautet also: Der Mensch zerstört in der Selbsttötung die notwendige Bedingung aller moralischen Möglichkeiten seiner Person, denn wer tot ist, kann nicht mehr moralisch handeln. Zugleich verletzt der Mensch in der Selbsttötung den kategorischen Imperativ, da er sich als »bloßes« Mittel gebraucht, also nicht als Zweck an sich selbst. Außerdem, so hat Kant bereits in der Grundlegung argumentiert, verstößt der sich selbst Tötende gegen den kategorischen Imperativ, wonach ein Mensch nur nach der Maxime handeln soll, von der er wollen kann, dass diese ein allgemeines Naturgesetz sei. 85 Ob sein Argument frei-
Vgl. Kant (1968 [1797]), 422: »Die Selbstentleibung ist ein Verbrechen (Mord). Dieses kann nun zwar auch als Übertretung seiner Pflicht gegen andere Menschen (Eheleute, Eltern gegen Kinder, des Unterthans gegen seine Obrigkeit, oder seine Mitbürger, endlich auch gegen Gott, dessen uns anvertrauten Posten in der Welt der Mensch verlässt, ohne davon abgerufen zu sein) betrachtet werden; – aber hier ist nur die Rede von Verletzung einer Pflicht gegen sich selbst, ob nämlich, wenn ich auch alle jene Rücksichten beiseitesetzte, der Mensch doch zur Erhaltung seines Lebens bloß durch seine Qualität als Person verbunden sei und hierin eine (und zwar strenge) Pflicht gegen sich selbst anerkennen müsse.« 84 Ebd., 423. 85 Allerdings sollte man dabei bedenken, das Kant nicht die Selbsttötung als schlimmste Verletzung der Menschenwürde im Sinn der Pflicht gegen die Menschheit in der eigenen Person, also gegen sich selbst, ansieht, sondern die Lüge: »Die größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, blos als moralisches Wesen betrachtet (die Menschheit in seiner Person), ist das Widerspiel der Wahrhaftigkeit: die Lüge (aliud lingua promtum, aliud pectore inclusum gerere)« (Kant (1968 [1797]), 429). Zur Darstellung und auch Problematik von Kants Bewertung der Lüge vgl. Knoepffler (2014), 227–239. 83
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Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte
lich trägt, dass es nicht auch ein allgemeines Naturgesetz geben könnte, das Menschen in der Sterbephase erlaubt, sich das Leben zu nehmen, darauf ist Kant nicht eingegangen. Nur wenn man Kants Argumentation teilt, wird man Autonomie in dem Sinn interpretieren, dass wir nicht über den Zeitpunkt des eigenen Todes verfügen dürfen. Aber Kant lehnt nicht nur die Selbsttötung kategorisch ab. Er würde auch die Lebendspende von Organen mit einer verwandten Argumentationslinie als unmoralisch ablehnen, auch wenn er natürlich die moderne Transplantationsmedizin nicht kennen konnte. Kant kommt hier zu einer sehr eindeutigen Aussage: »Sich eines integrierenden Teils als Organs berauben (verstümmeln), z. B. einen Zahn zu verschenken oder zu verkaufen, um ihn in die Kinnlade eines andern zu pflanzen, oder die Kastration mit sich vornehmen zu lassen, um als Sänger bequemer leben zu können, und dergleichen gehört zum partialen Selbstmord.« 86
Kant spricht hier sogar von einem »partialen Selbstmord« 87 und einem »Verbrechen an seiner eigenen Person« und verletzt damit die eigene Pflichtdimension der Menschenwürde. 88Er bezeichnet sogar den Verkauf von Haaren als »nicht ganz schuldfrei« 89, wobei er hier allerdings kein eindeutiges Verbot ausspricht. Wenn man so will, steht darum zumindest die in Deutschland geltende Subsidiaritätsklausel, wonach Organe von Lebenden nur verwendet werden dürfen, wenn keine passenden Organe von Verstorbenen verfügbar sind, in einer gewissen Nähe zu dieser kantischen Intuition.
3.6.4 Enge Grenzen des Grundrechts auf Asyl Kant hat in seiner Schrift Zum ewigen Frieden einen Vorschlag gemacht, wie mit Menschen umzugehen ist, die in seinen Worten »vom Untergang« 90 bedroht sind. Sie dürfen von anderen Staaten nicht abgewiesen werden. Doch eben nur diese dürfen nicht abgewiesen wer-
86 87 88 89 90
Kant (1968 [1797]), 423. Ebd., 423. Auch das folgende Zitat ist dieser Stelle entnommen. Vgl. dazu ausführlich Kerstein 2009. Vgl. Kant (1968 [1797]), 423. Kant (1968 [1795]), 358.
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Würde und Freiheit als Aufgabe, die Menschheit zu achten
den, während alle anderen nur ein Besuchsrecht, nicht einmal ein Gastrecht haben. 91 Konkret bedeutet dies, dass nach Kant der jeweilige Staat die Aufgabe hätte zu definieren, was mit »Untergang einer Person« bezeichnet wird, also was eine die Existenz bedrohende Situation wäre, die ihre Aufnahme rechtfertigt. Selbst diese Aufnahme hätte nur solange Bestand, wie die Bedrohung bestünde. Wenn also ein politisch Verfolgter aufgrund eines Politikwechsels in seinem Heimatland nicht mehr existentiell gefährdet ist, würde er seinen Asylanspruch verlieren. Möchte er dennoch im Gastland bleiben, so hängt es von den jeweiligen Rechtsbestimmungen ab, ob ihm eine Ansiedlung erlaubt wird. Allerdings darf in diesem Fall den Bürgerinnen und Bürgern des betreffenden Staats kein Land entzogen werden. 92 Darüber hinaus gibt es mit der kantischen Einstellung zum Asylrecht ein weiteres Problem. Kant selbst hält homosexuelle Handlungen für in hohem Maß strafwürdig, wie wir gesehen haben. Nehmen wir an, jemand sei wegen seiner Homosexualität in seinem Herkunftsstaat mit der Todesstrafe, also dem Untergang bedroht. Würde Kant in diesem konkreten Fall einem solchem, vom Untergang bedrohten Menschen Asylrecht gewähren?
3.7 Ergebnis Kant hat eine Konzeption von Menschenwürde und Freiheit entwickelt, die bis heute systematisch diskussionswürdig ist. Im ethischen Grundlagendiskurs gibt Kant eine Begründung der Menschenwürde, die keine naturrechtlichen Voraussetzungen benötigt und zudem nicht auf das einzelne Individuum abzielt. Vielmehr ist die Fähigkeit des Menschen zur Selbstgesetzgebung durch seine reine Vgl. ebd., 357 f.: »Es ist hier wie in den vorigen Artikeln nicht von Philanthropie, sondern vom Recht die Rede, und da bedeutet Hospitalität (Wirthbarkeit) das Recht eines Fremdlings seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen von diesem nicht feindselig behandelt zu werden. Dieser kann ihn abweisen, wenn es ohne seinen Untergang geschehen kann, so lange er aber auf seinem Platz sich friedlich verhält, ihm nicht feindlich begegnen. Es ist kein Gastrecht, worauf dieser Anspruch machen kann ([…]), sondern ein Besuchsrecht, welches allen Menschen zusteht, sich zur Gesellschaft anzubieten vermöge des Rechts des gemeinschaftlichen Besitzes der Oberfläche der Erde […].« 92 Vgl. Kant (1968 [1797]), 337 f. 91
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Ergebnis
praktische Vernunft, also die Autonomie des homo noumenon, der Grund für die Anerkenntnis von Würde. Die Autonomie als Fähigkeit, den kategorischen Imperativ aufzustellen, sind der Grund, warum Menschen zu achten sind, ihnen also Würde zukommt, und nicht umgekehrt begründet die Würde, warum Menschen geachtet werden sollen. Man könnte zugespitzt sagen, die Achtung der Würde der Menschheit ist die Umwendung der Verherrlichung Gottes in eine Verherrlichung der Menschheit. Damit wird bereits eine grundlegende Differenz zur christlichen Menschenwürdekonzeption sichtbar. Während christliche Konzeptionen zur Begründung der Würde auf die Gottebenbildlichkeit des konkreten, tauffähigen Menschen rekurrieren und von der liebenden Beziehung Gottes zu allen Menschen ausgehen, wodurch allen Würde zukommt, argumentiert Kant dezidiert philosophisch mit der menschlichen Autonomie und Moralfähigkeit. Aber auch gegenüber der Konzeption der Vereinten Nationen, die von Menschheitserfahrungen bestimmt ist, die konkrete Menschen erlebt haben, geht Kant einen völlig anderen Weg, um die Menschenwürde zu begründen. Kant argumentiert mit der Selbstgesetzgebungsfähigkeit des Menschen, die gerade empirisch nie erfahrbar ist. Deswegen spricht Kant ja vom »homo noumenon«, einem »Menschen«, genauer gesagt einer Realisationsinstanz der Menschheit, die wir aus praktischen Gründen postulieren müssen. Man sollte darum Kant keinesfalls für heutige Würdekonzepte (außer dezidiert kantische) in Anspruch nehmen. 93 Damit verbunden ist ein zweiter wesentlicher Unterschied. Während die Vereinten Nationen die mit der Menschenwürde verbundenen Menschenrechte, insbesondere die Abwehrrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit, ins Zentrum ihrer Erklärung rücken, betont Kant, indem er die Menschenwürde in einen kategorischen Imperativ fasst, gerade die mit der Würde verbundene Pflichtendimension. Kant verortet deshalb seine Überlegungen zur Würde in der Metaphysik der Sitten gerade nicht in der Rechtslehre, sondern in der Tugendlehre. Während die Menschenrechtserklärung auf der Rechtsebene wirksam werden soll, geht es Kant dagegen darum, dem Einzelnen die Pflichtdimension der Würde bewusst zu machen. Jeder Einzelne hat in seinem persönlichen Leben an seiner Menschenwürde Maß zu nehmen. Darum gibt es, wie beim Thema der Selbsttötung 93
Hierin stimme ich mit der Grundthese von Sensen (2011) vollständig überein.
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Würde und Freiheit als Aufgabe, die Menschheit zu achten
gezeigt, in einer solchen Handlung nicht nur eine Pflichtverletzung gegenüber anderen, sondern gerade auch gegenüber sich selbst. 94 Zwar steht Kant mit seiner Betonung der Pflichtendimension dem christlichen Konzept nahe, aber Kant säkularisiert diese Konzeption radikal. 95 Würde ist jetzt nicht mehr mit einer Freiheit verbunden, Jesus nachzufolgen und so alles zur Ehre Gottes zu tun, sondern erweist sich in der Selbstgesetzgebung des kategorischen Imperativs und im Handeln aus reiner Pflicht. Auf diese Weise wird die Menschheit geachtet, die Menschheit geehrt.
Repräsentation der Menschheit
Recht auf Anerkenntnis als Subjekt und als gleicher, insofern die Menschheit repräsentierend Verbot vollständiger Instrumentalisierung aufgrund des absoluten Werts der Repräsentanz
Menschenwürde und Freiheit als Aufgabe, die Menschheit zu achten
Selbstgesetzgebung (Autonomie)
Pflicht zur Befolgung des kategorischen Imperativs
Abbildung 3: Menschenwürde bei Kant (vereinfachte Darstellung)
Als Ergebnis lässt sich also festhalten: In seinem zentralen Bedeutungsgehalt von Menschenwürde, dass alle Menschen prinzipiell Subjekte und prinzipiell Gleiche sind, zeigt Kant auf den ersten Blick eine große Nähe zur Menschenrechtserklärung. Jedoch sind bei Kant sowohl die Begründungsstruktur als auch die Konsequenzen unterschiedlich, was entscheidende Auswirkungen auf das mit der Würde verbundene Freiheitsverständnis hat. Für Kant realisiert der Mensch seine Würde als Repräsentant der Menschheit, die durch ihre Vernunft ausgezeichnet ist. Darum bedeutet Freiheit bei Kant Selbstgesetzgebung (Autonomie), indem der Mensch sich selbst den kateVgl. eine ähnliche Analyse bei Kreß (2012), 125–127. Das thematisiert Sensen (2011), 164–173 nicht, wenn er Kant als Vertreter der traditionellen Konzeption von Würde versteht.
94 95
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Ergebnis
gorischen Imperativ als Gesetz setzt, und die Befähigung, aus gutem Willen diesen Imperativ zu befolgen. Die Menschenwürde und das Freiheitsverständnis sind wie im Christentum in erster Linie nicht mit Rechten verbunden, sondern mit der Realisierung von Pflichten. Würde und Freiheit sind in erster Linie auf den moralischen Bereich bezogen, während die Menschenrechtserklärung auf der Rechtsebene beheimatet ist. Es ist deswegen ein Irrtum zu meinen, eigentlich hätten das Christentum oder Kant bereits das Entscheidende zur Menschenwürde erarbeitet und es wäre hinreichend, ihre Einsichten heute wiederzuentdecken. Die Menschenrechte, insbesondere die Abwehrrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit, und das sie begründende Verständnis der Menschenwürde als Freiheit, die eigene Lebensgeschichte selbst zu bestimmen, stellt die eigentliche Innovation in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen dar. Gelingt es dem Grundgesetz diese Innovation zu bewahren?
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4 Würde und Freiheit als Recht zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung – das Grundgesetz
4.1 Menschenwürde in enger Verwandtschaft zur Menschenrechtserklärung Die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen ist eine internationale Deklaration, die als Resolution keine rechtlich bindende Wirkung hat. Auch die kirchlichen und kantischen Aussagen zur Menschenwürde und Freiheit sind zwar theologisch und philosophisch bedeutsam, sie können aber für sich genommen in Deutschland nicht rechtlich geltend gemacht werden. Ganz anders verhält es sich mit dem Prinzip der Menschenwürde im Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland, da es in diesem Staat Rechtsgeltung besitzt. Das Bundesverfassungsgericht betont dabei ausdrücklich: »Achtung und Schutz der Menschenwürde gehören zu den Konstitutionsprinzipien des Grundgesetzes. Die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde stellen den höchsten Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung dar […].« 1 Der normative Begriff der Menschenwürde nimmt im Grundgesetz eine zentrale Stellung ein. Er wird bereits in Artikel 1 Abs. 1 GG eingeführt und wirkt damit auch rechtlich normorientierend: »(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt. (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.«
1
BVerfGE 45, 187 (227 f.), hier zitiert nach Bumke/Voßkuhle (2015), 77.
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Menschenwürde in enger Verwandtschaft zur Menschenrechtserklärung
Das Grundgesetz gebraucht dabei den Begriff der Menschenwürde ähnlich wie die Menschenrechtserklärung 2, denn gerade das deutsche Volk 3 wollte sich mit dem Grundgesetz ausdrücklich gegen die im eigenen Namen begangenen nationalsozialistischen Gräuel wenden, »um den ganzen Geist des neuen Staatswesens in seinem Gegensatz zu der im Mai 1945 vernichteten Staatsordnung darzutun« 4. So ist der Artikel 1 ein Bekenntnis zu den vom Nationalsozialismus verachteten Grundwerten. Wie in der Menschenrechtserklärung ist darum der Begriff der Menschenwürde in dem Sinn zu verstehen, dass jeder Mensch prinzipiell als Subjekt und als gleicher zu achten ist, dem wesentliche Grundrechte zukommen. Der Einzelne darf also nicht für sein Volk geopfert werden, und Menschen dürfen nicht aus rassistischen oder sonstigen Gründen unterjocht, verfolgt oder ermordet werden. Dadurch wird der Einzelne zur Freiheit ermächtigt, sich selbst zu entfalten und über seine eigene Lebensgeschichte zu bestimmen. Damit sich die Schrecken des Nationalsozialismus nicht wiederholen, steht das Prinzip der Menschenwürde nach Art. 79 Abs. 3 GG sogar unter einer »Ewigkeitsgarantie«, weil die Preisgabe dieser Ermächtigung zur Selbstbestimmung und der Gleichheit aller Menschen die Preisgabe der Werteordnung bedeuten würde, die sich in der bundesdeutschen »Verfassung« ausdrückt. Selbst wenn sich das deutsche Volk eine neue Verfassung geben sollte, wäre es umstritten, ob es zulässig wäre, dass dieses Prinzip in der neuen Verfassung seine zentrale Rolle verlieren würde. 5 Das Bundesverfassungsgericht hat dabei in exemplarischer Weise in seinem Urteil zur verfassungsmäßigen Rechtmäßigkeit der lebenslangen Freiheitsstrafe Würde und Freiheit ganz eng aufeinander bezogen:
Vgl. Herdegen (2005), Rn. 15. Herdegen verweist als Inspirationsquelle auf v. Mangoldt, JöR n.f. 1 (1951), 50; Parl. Rat, Stenographische Berichte V, S. 586, 592. 3 Aufgrund der sich anbahnenden deutschen Teilung konnte der Parlamentarische Rat, der 1948 das Grundgesetz entwarf, nur mit Mitgliedern der westlichen Zonen besetzt werden. Darum wurde dieses als Provisorium verfasst. Erst durch die bundesdeutsche Einheit 1990 hat es praktisch den vollen Status einer Verfassung aller Deutschen angenommen. 4 Abg. v. Mangoldt, Schriftlicher Bericht zum Entwurf des GG, Anlage zum stenogr. Bericht der 9. Sitzung des Parlamentarischen Rates am 6. 5. 1949, S. 6, hier zitiert nach Herdegen (2005), Rn. 15. 5 Vgl. BVerfGE 123, 267–437. 2
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Würde und Freiheit als Recht zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit
»Der Staatsgewalt ist in allen ihren Erscheinungsformen die Verpflichtung auferlegt, die Würde des Menschen zu achten und sie zu schützen. Dem liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten […] Sie kann im Hinblick auf diese Gemeinschaftsgebundenheit nicht ›prinzipiell unbegrenzt‹ sein. Der Einzelne muss sich diejenigen Schranken seiner Handlungsfreiheit gefallen lassen, die der Gesetzgeber zur Pflege und Förderung des sozialen Zusammenlebens in den Grenzen des bei dem gegebenen Sachverhalt allgemein Zumutbaren zieht; doch muss die Eigenständigkeit der Person gewahrt bleiben.« 6
Ganz deutlich wird dieses Bekenntnis zur Selbstbestimmung jedes Menschen in diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, wenn es heißt: »[…] denn die unverlierbare Würde des Menschen als Person besteht gerade darin, dass er als selbstverantwortliche Person anerkannt wird.« 7 Dabei betont das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich die Unverlierbarkeit der Würde: »Selbst durch unwürdiges Verhalten geht [die Menschenwürde] nicht verloren. Sie kann keinem Menschen genommen werden. Verletzbar ist aber der Achtungsanspruch, der sich aus ihr ergibt.« 8 Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Urteil das Prinzip der Menschenwürde weiter durch den Satz »der Mensch muss immer Zweck an sich bleiben« 9 expliziert. In einem weiteren Urteil heißt es, dass das Prinzip der Menschenwürde es verbiete, »den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt« 10. Hier wird ausdrücklich jeder Ideologie, die den Einzelnen für das Volk oder andere Ziele opfern möchte, ein Riegel vorgeschoben. Diese unter dem Namen »Objektformel« berühmt gewordene Aussage des Bundesverfassungsgerichts wurde von Dürig 11 entwickelt, um in gewisser Nähe zu Kants Objektformel die Kontraposition zum nationalsozialistischen Prinzip, wonach der Einzelne nichts, die Volksgemeinschaft alles ist, zu fassen. Dies geht weit über ein Verständnis von Würde hinaus, wonach die Würde darin besteht, nicht erniedrigt zu
BVerfGE 45, 187 (227 f.), hier zitiert nach Bumke/Voßkuhle (2015), 77 f. BVerfGE 45, 187 (228). 8 BVerfGE 87, 207 (228). 9 BVerfGE 45, 187 (228). 10 BVerfGE 50, 166 (175); 87, 209 (228). 11 Vgl. Dürig (1956), 117, 127. 6 7
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Menschenwürde in enger Verwandtschaft zur Menschenrechtserklärung
werden. 12 »Menschenwürde« ist einerseits unbestimmter als das konkrete Erniedrigen und andererseits viel umgreifender, weil es diese Ermächtigungsdimension zur Freiheit einschließt, sich selbst zu bestimmen und zu entfalten, sofern die genannten Grenzen berücksichtigt werden, also die Rechte der anderen, die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz. Allerdings bedarf der Satz: »Der Mensch muss immer Zweck an sich bleiben«, der Auslegung, zumal Kant selbst, wie wir oben gesehen haben, einschränkend »von nicht bloß als Objekt« spricht. Warum dieser Satz der Auslegung bedarf, hat der Rechtsphilosoph Hoerster beispielhaft herausgearbeitet: »In einem See droht ein Kind zu ertrinken. Es kann nur dadurch gerettet werden, dass A und/oder B, die gemeinsam am Ufer stehen, in einem vor Anker liegenden Motorboot auf den See hinausfahren. B, dem das Boot gehört, will jedoch nicht fahren und auch sein Boot zur Lebensrettung des Kindes nicht zur Verfügung stellen. Darf A ihm unter Anwendung von Gewalt den Schlüssel für das Boot wegnehmen und das Kind retten? Jeder, der diese Frage mit ›Ja‹ beantwortet, kann die Instrumentalisierung eines Menschen nicht mehr unter allen Umständen missbilligen […]« 13
Wer sich hier für die Gewaltanwendung ausspricht, unterscheidet zwischen ethisch legitimen und ethisch illegitimen Instrumentalisierungen. Daraus ergibt sich nach Hoerster konsequenterweise: »Die Verletzung der Menschenwürde ist nunmehr nicht mehr gleichbedeutend mit der Instrumentalisierung eines Menschen, sondern mit der ethisch illegitimen Instrumentalisierung eines Menschen. Das aber hat zur Folge: Das Menschenwürdeprinzip bietet für sich genommen gar keinen Maßstab mehr für legitimes Verhalten, sondern setzt für seine Anwendung ein normatives Werturteil darüber, was legitim ist, voraus.« 14
Aber nicht nur die Frage, was mit dem Instrumentalisierungsverbot gemeint ist, bleibt umstritten. Auch in dilemmatischen Situationen, in denen beispielsweise in einem Katastrophenfall die Hilfskräfte nicht allen Opfern zugleich helfen können, ist nicht klar, was das »Wenn wir einem Menschen Würde zusprechen, sprechen wir ihm das moralische Recht zu, nicht erniedrigt zu werden. Dabei wird eine Person dann erniedrigt, wenn sie nicht mehr in der Lage ist, sich selbst zu achten« (Balzer/Rippe/Schaber 1998, 31). Schaber hat seine Position mittlerweile weiterentwickelt (vgl. Schaber 2017). 13 Hoerster (2002), 15. 14 Ebd., 18. Im Zusammenhang der Folgerungen für die Grundrechte soll diese Problematik weiter untersucht werden. 12
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Würde und Freiheit als Recht zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit
Prinzip der Menschenwürde konkret bedeutet. Im Katastrophenfall wird je nach den Umständen nach dem Prinzip der Triage vorgegangen. Dieser aus der Militärmedizin kommende Begriff bezeichnet eine Anleitung, wie bei den betroffenen Verletzten geholfen werden soll, wenn nicht genug medizinisches Personal oder medizinische Ressourcen zur Verfügung stehen. Dabei geht es darum, das bestmögliche Ergebnis für die Gesamtheit der Verletzten zu erreichen. Wird in einem solchen Fall die Würde derjenigen verletzt, die nicht oder zu spät behandelt werden? Die Antwort auf diese Frage ist abhängig davon, wie man die Rechtsnorm »Würde« genauer versteht. Ist sie ein Konstitutionsprinzip, also ein »Recht der Rechte« 15, das rein »als objektive Basis für ein grundrechtliches Wert- und Anspruchssystem« 16 zu deuten ist, oder ist es darüber hinaus auch ein subjektives Grundrecht? Dass die Menschenwürde durch ihre Stellung im Grundgesetz in Art. 1 Abs. 1 Satz 1 als objektive Basis und Konstitutionsprinzip fungiert, ist unbestritten. 17 Dies hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich bestätigt, wenn es davon spricht, dass die Menschenwürde »oberster Wert« und »tragendes Konstitutionsprinzip« ist. 18 Hier wird die Absage an den Nationalsozialismus nochmals betont, indem der »Wert der Würde, den die Nazis entweiht hatten, den allerhöchsten Rang auf der Werteleiter bekommen hat« 19. Allerdings ist umstritten, ob die Menschenwürde dadurch ausschließlich Rechtsgrund der Rechte ist, wofür Enders argumentiert: »Mit der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG ist das abstrakte Vermögen des Menschen anerkannt, als das Subjekt, das er schon vorstaatlich ist, auch Rechtssubjekt, Subjekt möglicher Rechte sein zu können, ist mithin anerkannt, dass er ein Recht auf Rechte hat. Anders gesprochen setzt Art. 1 [Abs. 1 Satz 1 GG] damit die Rechtsfähigkeit des Menschen als Menschen.« 20 So die Grundthese der Habilitationsschrift von Enders (1997). So fasst Herdegen (2005), Rn. 26. die eine Position zusammen. 17 Dürig hat dies in seinem Grundgesetzkommentar explizit formuliert, wonach »im Grundgesetz nach Wortlaut und Systematik der Art. 1 I GG den Charakter eines obersten Konstitutionsprinzips allen objektiven Rechts« (Dürig (1958), 6) innehat. 18 Beispielsweise BVerfGE 30, 173 (193). 19 Barak (2015), 230 f. (eigene Übersetzung). 20 Enders (1997), 502 f. Vgl. ähnlich u. a. Gröschner: »Stünde der Satz von der Unantastbarkeit der Menschenwürde nicht am Anfang einer normativen Verfassungsordnung, wäre er ein rein deskriptiver Satz, der nichts als die sprachliche Fassung eines Menschenbildes enthielte. Als Anfangssatz des Grundgesetzes muss er deshalb 15 16
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Menschenwürde in enger Verwandtschaft zur Menschenrechtserklärung
Die herrschende Meinung vertritt dagegen die Position, die Menschenwürde selbst sei auch ein subjektives Grundrecht. Dafür spricht »der besondere Rang der Menschenwürdegarantie in der Grundrechtsordnung und ihre zentrale Funktion für den Schutz des Einzelnen als selbstbestimmte Person« 21. Herdegen führt zusätzlich ein sehr einleuchtendes Beispiel an: »Gerade der geistesgeschichtliche Hintergrund der Würdegarantie streitet gegen deren Reduktion auf ein objektives Prinzip oder gar eine bloße Ordnungsidee. Es erscheint schlechthin unerträglich, etwa den Opfern des Holocausts nach heutigen Verfassungsstandards die Verletzung in ihrem eigenen Würdeanspruch abzusprechen und den staatlichen Terror nur als Verstoß gegen ein objektives Würdeprinzip einzustufen.« 22
Geht man von einem rein objektiven Würdeprinzip aus, so kann die Triage nicht als Würdeverletzung verstanden werden, denn die Situation zwingt dazu, die Grundrechte, die sich aus der Würde ergeben aufgrund des objektiven Mangels an Hilfsmöglichkeiten einzuschränken. Versteht man das Würdeprinzip dagegen als subjektives Recht, also als Anspruch des einzelnen Betroffenen, dann hängt die Antwort davon ab, wie weit dieses Recht dann geht, wenn die Mittel nicht für alle ausreichen. Es wäre auf jeden Fall dann verletzt, wenn die Regeln der Triage gegen das Gleichheitsprinzip verstießen, wenn also beispielsweise aufgrund von Rasse, Religionszugehörigkeit oder Geschlecht entschieden würde. Dagegen verstoßen Entscheidungen nach den Kriterien der Triage nicht gegen das Gleichheitsprinzip, wenn sie konsensfähig sind, also im Prinzip alle Betroffenen zustimmen würden, wenn sie noch nicht wüssten, wie schwer verletzt sie in der konkreten Situation wären. Selbst wenn man das Menschenwürdeprinzip zugleich als subjektives Recht interpretiert, so ist es doch in einer Weise unbestimmt, dass man der Versuchung widerstehen sollte, rasch Urteile zu fällen, wann die Menschenwürde verletzt ist. Hier ist »die vielzitierte Formel von Heuss, bei der Menschenwürde handele es sich um eine als dessen Menschenbild formulierender Basissatz verstanden werden, der zwar in einem normativen Zusammenhang steht und in diesem Zusammenhang durchaus rechtlich relevant ist, aber nicht den Status eines Rechtssatzes hat, der unmittelbar Rechte und Pflichten begründen könnte.« (Gröschner (1995), 45 f.). 21 Herdegen (2005), Rn. 26. 22 Ebd., Rn. 26.
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Würde und Freiheit als Recht zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit
›nichtinterpretierte These‹« 23, sehr ernst zu nehmen, weil ansonsten der Absolutheitsanspruch der Menschenwürde in Frage steht und die Würde zur kleinen Münze verkommt. Ist bereits die Würde verletzt, wenn ein Vater seinen Sohn, der aus aussichtsreicher Position am Tor vorbeischießt, nach dem Spiel nicht tröstet, sondern tadelt, wie Donna Hicks behauptet? 24 Ist also der Begriff der Würde so eng mit »Achtung« verbunden, dass bereits die kleinste Nachlässigkeit eine Würdeverletzung darstellt? Der Philosoph Peter Bieri benennt als Beispiel der Missachtung unserer Würde, dass uns jemand bewusst im Ungewissen lässt: »Wenn das Medikament nicht wirkt und der Arzt nicht weiß, warum, so ist meine Würde nicht in Gefahr. In Gefahr gerät sie erst, wenn er es weiß, es mir aber nicht sagen will. Es kann auch um weniger wichtige Dinge gehen. Warum mein Internet nicht geht, frage ich die Dame von der Telekom mit der scheißfreundlichen Telefonstimme. ›Es wird schon einen Grund geben. Einen schönen Tag noch!‹ Warum wir nun schon eine halbe Stunde auf offener Strecke stünden, frage ich den Schaffner. […] Eine Weiterfahrt sei vorerst ›aus betrieblichen Gründen‹ nicht möglich hören wir. ›Wie der letzte Dreck wird man hier behandelt!‹, ruft jemand. Er meint nicht bloße Höflichkeit oder eine unverbindliche Art von Respekt. Er meint den Respekt vor vernünftigen, denkenden Wesen, die Gründe hören und verstehen möchten.« 25.
Wer uns diesen Respekt wissentlich vorenthält, der verletzt unsere Würde, weil er uns als vernünftige Wesen nicht ernst nimmt, so Bieris Vorwurf. Aber dies ist keine Würdeverletzung im Sinne von Art. 1 GG. Eine derartige Verletzung sollte nicht mit den gerade zitierten Formen von Missachtung verwechselt werden, so ärgerlich diese sind. Sonst kann man praktisch jede Form von Missachtung als Menschenwürdeverletzung interpretieren. Menschenwürde als oberste Verfassungsnorm und subjektives Recht sollte auch nicht mit weniger fundamentalen und handhabbaren Rechten vermischt werden, die in bestimmten Kontexten eingeschränkt oder aufgehoben werden. Das Prinzip der Menschenwürde beansprucht ja gerade absolute Gültigkeit. Es kann keine Situation geben, die berechtigt, es außer Kraft zu setzen. Gerade aufgrund seines fundamentalen Charakters hat dieses Prinzip damit auch eine Leitbildfunktion und ist insofern in seinem
23 24 25
Hier zitiert nach Herdegen (2005), Rn. 21. Vgl. Hicks (2013). Bieri (2013), 124 f.
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Menschenwürde in enger Verwandtschaft zur Menschenrechtserklärung
»Wie« der Anwendung zu lernen. Es steht in besonderer Weise in einem dynamischen Verhältnis zum Handelnden und zur Situation. Was bedeutet das? Das Prinzip der Menschenwürde steht in einer Wechselwirkung mit den Entscheidungen der Akteure. Die konkreten Entscheidungen und Handlungen lassen erkennen, wie dieses Prinzip ausgelegt wird. Diese Interpretation ist nicht als Relativierung der absoluten Geltung des Prinzips der Menschenwürde misszuverstehen, sondern entspricht der hier vertretenen Grundüberzeugung, dass gerade das Prinzip der Menschenwürde eine besondere Plastizität beinhaltet. Es entfaltet sich die in ihm enthaltene Bedeutung in seinen jeweiligen Anwendung, die vom Prinzip allein, abstrakt genommen, so nicht aussagbar ist. Wenn man die Menschenwürde in dieser Weise versteht, stellt sie nicht nur das Konstitutionsprinzip der Verfassung dar, aus dem sich die Grundrechte ergeben, sondern ist selbst ein eigenes subjektives Recht. Dabei ist der Verfassungstext selbst deutungsoffen: Einerseits heißt es in Art. 1 Abs. 2 GG, dass sich das deutsche Volk wegen der Menschenwürde (»darum«) zu den Grundrechten bekennt, und in Art. 1 Abs. 2 GG wird sogar von den »nachfolgenden Grundrechten« gesprochen, andererseits jedoch steht Artikel 1 unter der Überschrift »Die Grundrechte«. Vor diesem Hintergrund scheint Barak 26 überzeugend zusammenzufassen, wie die »nichtinterpetierbare These«, nämlich die Menschenwürde, zu verstehen ist. Insofern die staatliche Gewalt zu ihrem Schutz aufgefordert ist, ist sie ein subjektives Recht, das ein eigenes konstitutionelles Recht schafft, allerdings ohne eine »eigene normative Zone« 27 zu begründen. Anselm hat die Menschenwürde, angewendet auf spezifische Konfliktfälle, deshalb auch eine »Orientierungsnorm« genannt, die »kein eigenes inhaltliches Konzept« repräsentiert«. 28 Die dem Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG folgende Präskription der Achtung und des Schutzes ist von daher durch die folgenden Grundrechte konkretisiert. Diese können dann als positive Entfaltung dessen verstanden werden, worin die Achtung der überpositiven Menschenwürde als Konstitutionsprinzip und als subjektivem Recht besteht.
26 27 28
Barak (2015), 234 f. Ebd., 235. Anselm (2000), 226.
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Würde und Freiheit als Recht zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit
In diesem Sinn ist das Menschenwürdeprinzip des Grundgesetzes mit dem Menschenwürdeprinzip der Menschenrechtserklärung verwandt, auch wenn wir es im ersten Fall mit einem Verfassungsprinzip zu tun haben, das für die Bundesrepublik Deutschland bindende Kraft hat, im anderen Fall mit einer Erklärung ohne vergleichbare Rechtskraft. In beiden Fällen ist das Prinzip in dem Sinn regulativ zu nennen, weil Entscheidungen vor dem Hintergrund dieses Prinzips geschehen sollten, ohne dass dieses aber direkt auf die konkrete Handlungsebene anwendbar sein muss.
4.2 Würde im Verhältnis zur Freiheit Die dem Art. 1 GG folgenden Artikel des Grundgesetzes formulieren die wesentlichen Grundrechte, die vielfach Freiheitsrechte sind, aber zugleich durch die »Gemeinschaftsgebundenheit« begrenzt werden. 29 Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Zusammenhang zwischen Würde, Freiheit und Gemeinschaftsgebundenheit sehr klar herausgearbeitet: »Die freie menschliche Persönlichkeit und ihre Würde stellen den höchsten Rechtswert innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung dar. […] Dem liegt die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten […] Sie kann im Hinblick auf diese Gemeinschaftsgebundenheit nicht ›prinzipiell unbegrenzt‹ sein.« 30
Bemerkenswert ist hierbei, dass die »freie menschliche Persönlichkeit« und ihre »Würde« gemeinsam als »höchster Rechtswert« bezeichnet werden, weswegen man wirklich Würde als Ermächtigung zur Freiheit verstehen kann. Zugleich aber werden dieser Freiheit Grenzen gesetzt. Deshalb schließt auch Art. 2 Abs. 1 GG schlüssig an Art. 1 an. 31 Die Menschenwürde ermächtigt zu einem selbstVgl. Vogel (Hg.) (2006), 18, wonach es angemessen ist, mit der Orientierung an der Menschenwürde den »konkreten Menschen als Individuum in Gemeinschaft in das Zentrum der Aufmerksamkeit [zu rücken], um damit sowohl die Abstraktionen und Irrwege des Individualismus als auch die des Kollektivismus zu vermeiden.« 30 BVerfGE 45, 187 (227 f.), hier zitiert nach Bumke/Voßkuhle (2015), 77 f. Bereits unter 4.1. wurde dieses Zitat ausführlicher widergegeben. An dieser Stelle geht es darum, nochmals den Gemeinschaftsbezug in Erinnerung zu bringen. 31 Deshalb gibt es auch z. B. in Hinblick auf die heutige technische Entwicklung das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und das Grundrecht auf Gewähr29
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Würde im Verhältnis zur Freiheit
bestimmten Leben, das durch den Gemeinschaftsbezug, nämlich die Rechte anderer und die verfassungsmäßige Ordnung bzw. das Sittengesetz begrenzt ist. Deutlich stärker und prominenter als in der Menschenrechtserklärung wird hier eine Pflichtdimension eingezogen. Das zeigt auch die Auslegung dieses Konstitutionsprinzips durch das Bundesverfassungsgericht. Das Gericht beschränkt sich nämlich nicht allein auf die Rechtedimension (Menschenwürde im Sinn einer Unterstützung der Selbstbestimmung, modern gesprochen: »human dignity as empowerment« 32), sondern bringt auch ausdrücklich die Pflichtdimension der Menschenwürde ins Spiel (im Sinne einer Beschränkung der Selbstbestimmung: »human dignity as constraint«): »Eine Verfassung, welche die Würde des Menschen in den Mittelpunkt des Wertsystems stellt, kann bei der Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen grundsätzlich niemandem Rechte an der Person eines anderen einräumen, die nicht zugleich pflichtgebunden sind und die Menschenwürde des anderen respektieren.« 33
Wichtig hierbei ist jedoch, dass diese Pflichtgebundenheit sich nicht aus der eigenen Würde ergibt, sondern aus der Würde der anderen. Dies ist ein fundamentaler Unterschied gegenüber den Würdeverständnissen des Christentums und Kants. Die Begrenzungen der Freiheit haben ihren Grund darin, dass der Einzelne als Glied einer Gemeinschaft verstanden wird. Er ist als Mensch eingebunden in ein Miteinander, sodass die Rechte bzw. Schutzansprüche der anderen zu respektieren sind. Er ist eingebunden in ein Staatswesen mit seiner verfassungsmäßigen Ordnung und eingebunden in eine sittliche Grundordnung, die jeder Mensch zu berücksichtigen hat, wenn er seine Persönlichkeit frei entfaltet. Freilich ist umstritten, was dies konkret bedeutet, selbst wenn man mittlerweile das Sittengesetz in der Weise interpretiert, dass es in der verfassungsmäßigen Ordnung aufgeht. Doch bevor darauf näher einzugehen ist, soll zuerst die Frage beantwortet werden, wie diejenigen, die das Grundgesetz auslegen, damit umgehen, dass Freiheit und Selbstbestimmung heute von namleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, die beide aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG gelesen werden, weil diese ein Ausdruck der Selbstbestimmung sind. 32 Beyleveld/Brownsword 2001. Dort auch das folgende Zitat. 33 BVerfGE 24, 119 (144).
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Würde und Freiheit als Recht zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit
haften Neurowissenschaftlern und Philosophen entschieden in Frage gestellt wird.
4.3 Pragmatischer Umgang mit der Freiheitsproblematik Bereits im Zusammenhang mit der Menschenrechtserklärung der dreifachen Problematik von Freiheit durch Umweltbedingungen (Milgram-Experiment), aufgrund der eigenen Neurobiologie (LibetExperiment) und auch aufgrund der grundsätzlichen Frage, was eigentlich eine freie Entscheidung sei (»Nachtzug nach Lissabon«), hatte sich gezeigt, dass es keine einfache Lösung für das Freiheitsproblem gibt. Auch theologisch und philosophisch ließ sich Freiheit als Selbstbestimmung nicht nachweisen, sondern nur grundsätzlich in Frage stellen (Luther, Calvin) oder als Erfordernis der Moral praktisch einfordern (Kant). Wenn das Grundgesetz, wie gerade nachgezeichnet, Würde ganz wesentlich mit der Freiheit als Selbstbestimmung in Gemeinschaft verbindet, so wird diese Grundproblematik, ob Freiheit überhaupt möglich sei, in der Auslegung des Grundgesetzes nur am Rand gestreift. Die Thesen von Hirnforschern wurden zwar in den Feuilletons überregionaler Zeitungen besprochen, aber »man war sich einig, dass kein Anlass bestand, die Vorstellung von Freiheits- und Selbstbestimmungsfähigkeit des Menschen tatsächlich zu hinterfragen« 34. Manche gingen sogar so weit »aus der Würdenorm eine Pflicht des Staates [abzuleiten], ›solche wissenschaftlichen Erkenntnisse zu ignorieren, die Art. 1 Abs. 1 GG selbst in Frage‹ stellten« 35. Die vermittelnde Position ist pragmatisch, da sie umgekehrt auf die Beweisbarkeit von Freiheit verzichtet: »Staatliche Strafen sind im Lichte des Grundgesetzes Grundrechtseingriffe mit einem hohen Belastungsgehalt. […] ›Wenn aber die Bejahung menschlicher Schuld nur dazu dient, einem aus präventiven Gründen notwendigen staatlichen Eingriff eine Grenze zu setzen, hängt die Legitimität ihrer Anerkennung als eines Mittels bürgerlicher Freiheitswahrung nicht von ihrer empirischen und erkenntnistheoretischen Beweisbarkeit ab.‹« 36
Baldus (2016), 222. Diese Forderung wird hier nach ebd., 222 zitiert. Baldus kursiviert in seinem Buch alle Zitate, ohne dass dies im Original so der Fall ist. Ich gebe sie hier und auch später unkursiviert wieder. 36 Schmidt-Aßmann (2007), 76, hierbei den Strafrechtler Roxin zitierend. 34 35
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Der Grund der Menschenwürde
Das Bundesverfassungsgericht als rechtsverbindliche Auslegungsinstanz des Grundgesetzes geht in diesem Sinn unbefangen pragmatisch von der menschlichen Freiheit aus, ohne darüber eine weiter reichende philosophische Begründung zu geben.
4.4 Der Grund der Menschenwürde In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war es die fundamentale Überzeugung, die auch von den Mitgliedern des Parlamentarischen Rats 1948 geteilt wurde, dass niemals wieder vom deutschen Volk derartiges Unrecht ausgehen dürfe, wie es die Nationalsozialisten begangen hatten. In Anlehnung an den Einleitungssatz der Unabhängigkeitserklärung der USA könnte man auch im Hinblick auf die Mitglieder des Parlamentarischen Rats sagen, dass sie das Prinzip der Menschenwürde und die Freiheit als gemeinschaftsbezogene Selbstbestimmung für aus sich heraus evident und darum auch nicht weiter begründungsbedürftig angesehen haben. 37 Allerdings lassen bereits die Unterlagen des Parlamentarischen Rats erkennen, dass einige Mitglieder der Meinung waren, dass Art. 1 auf dem Naturrecht gründet. 38 Bereits mit Dürigs Überlegungen, insbesondere seiner Kommentierung des Art. 1 GG in den Fünfzigerjahren, beginnt die Phase der ausdrücklichen naturrechtlich-christlichen oder auch kantischen Vgl. in diesem Sinn beispielsweise Gröschner (1995), 27 f.: »Die amerikanische Unabhängigkeitserklärung vom 4. Juli 1776 hat das Bekenntnis zu unveräußerlichen Freiheitsrechten bekanntlich mit dem Satz eingeleitet: ›We hold these truths to be selfevident‹ – in zeitgenössischer Übersetzung: ›Wir halten diese Wahrheiten für ausgemacht‹, in wahrheitskritischer aktueller Paraphrase: ›Wir setzen dies als selbstverständliche und deshalb nicht weiter begründungsbedürftige Prämisse voraus‹. Nimmt man nun die dezidierte Äußerung […] des späteren Bundespräsidenten Theodor Heuss hinzu, die ›Würde des Menschen‹ stehe in seinem Vorschlag als ›nicht interpretierte These‹, dann findet man mit ›These‹ genau den Befund bezeichnet, den die Autoren der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung mit ›We hold …‹ zum Ausdruck gebracht haben: es wird weder auf etwas außerhalb der Rechtsordnung schlicht Vorfindliches verwiesen noch auf etwas durch die Rechtsordnung erst Normiertes, sondern es wird eine basale Setzung vorgenommen, die unveränderlich ist, solange das Grundgesetz gilt, und auf die sich die jeweilige Rechtsordnung als Konstitutionsprinzip bezieht.« 38 Vgl. beispielsweise Hermann von Mangoldt (hier zitiert nach Baldus (2016), 17): »Wir wollten dem Art. 1 eine Fassung geben, mit der auf dem Naturrecht aufgebaut wird.« 37
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Würde und Freiheit als Recht zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit
Rückgriffe, um das Menschenwürdeprinzip im Grundgesetz theologisch oder philosophisch zu begründen. Dies schien umso dringlicher zu werden, als in den Sechzigerjahren marxistische Gesellschaftsvorstellungen, die einen freiheitlichen Rechtsstaat grundsätzlich in Frage stellten, auch in Westdeutschland eine nicht geahnte Akzeptanz zu bekommen schienen. Das bereits in der Hinführung angesprochene Böckenförde-Diktum hat die Frage nach einer über die Menschheitserfahrung der Weltkriege und Schreckensregime hinausgehenden Begründung der Menschenwürde als Grundprinzip des freiheitlichen Rechtsstaats und überhaupt die Frage nach den Fundamenten dieses Staats auf den Begriff gebracht: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.« 39 Böckenförde fährt fort: »Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.«
Böckenförde spielt hier auf die Frage nach den Wurzeln der Voraussetzungen des freiheitlichen Rechtsstaats und damit auch auf die Wurzeln der Würde an. Sein Ansprechen der konfessionellen Bürgerkriege – man denke an den 30jährigen Krieg – verdeutlicht, dass er christliche Wurzeln vermutet, aber zugleich weiß, dass gerade der Anspruch einzelner Konfessionen, im Besitz der Wahrheit zu sein, einen freiheitlichen Rechtsstaat lange Zeit undenkbar machten, wie der Grundsatz cuius regio, eius religio [wessen Gebiet, dessen Religion] verdeutlichte, der nach der Reformation eine Zeitlang galt. Damit ist bereits die erste große Begründungsproblematik angesprochen. Das Christentum hat sich in seiner geschichtlichen Realität zwar immer zur Würde des Einzelnen als Kind Gottes bekannt, der erlöst ist und so den Willen Gottes erfüllen kann. Es hat in diesem Sinn den Einzelnen als unverwechselbare Person und als fundamental Gleichen vor Gott gesehen, aber zugleich mit diesem Verständnis von Würde nicht die Menschenrechte verbunden, die gerade im Grund39
Böckenförde (2007 [1967]), 229 f.
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Der Grund der Menschenwürde
gesetz leitend geworden sind. Katholische und evangelische Christen haben in ihren jeweiligen Territorien über eine lange Zeit die Religionsfreiheit anderer Konfessionen und Religionen massiv beschnitten, teilweise sogar deren Religionsausübung unter (Todes)Strafe gestellt. Die Religionskriege, insbesondere des 17. Jahrhunderts bilden den Höhepunkt dieses Bestreitens von Religions-, Gewissens- und Meinungsfreiheit. Aber auch der philosophische Bezug auf Kant steht vor dem wesentlichen Problem, dass Kant mit der Menschenwürde gerade nicht Freiheit im Sinn persönlicher Selbstbestimmung verbindet bzw. damit, die eigene Lebensgeschichte schreiben zu dürfen, sondern mit Freiheit als Selbstgesetzgebung, sodass der Einzelne aus Pflicht zur Sittlichkeit berufen ist, in der Würde des Gegenübers die Menschheit zu achten. 40 Darum bietet sich auch im Fall des Grundgesetzes wie bei der Menschenrechtserklärung an, neben der Menschheitserfahrung in Anlehnung an Gewirth ganz pragmatisch für die Achtung der Menschenwürde zu argumentieren: Wer die Achtung der Menschenwürde negiert, handelt selbstwidersprüchlich, weil er dann im Akt dieses Nicht-Achtens, also pragmatisch in einem derartigen Handlungsvollzug, den Anspruch auf die Achtung der eigenen Menschenwürde preisgibt. Diese Achtung ist aber die notwendige Bedingung dafür, selbst ungefährdet leben zu können, weil die Menschenwürde der Grund der Menschenrechte ist. Also ist es für jeden Einzelnen sinnvoll, die Menschenwürde der anderen als notwendige Bedingung für Handlungsvollzüge zu achten. Aus diesem Grund hat der Einzelne einen sehr guten Grund, einen freiheitlichen Rechtsstaat zu wollen und sich in der Demokratie dafür einzusetzen, dass dieser freiheitliche Rechtsstaat mit der Anerkennung der Menschenwürde, die Selbstbestimmung in Gemeinschaft ermöglicht, dauerhaft bestehen bleibt. 41 Bereits in der Behandlung des christlichen und kantischen Menschenwürdeverständnisses sollte deutlich geworden sein, dass weder eine christlich-naturrechtliche noch eine kantische Begründung der Menschenwürde allgemein zustimmungsfähig ist. Vgl. auch Baldus (2016), 66 ff., der dies im Hinblick auf die Begründung für das Menschenwürdeprinzip des Grundgesetzes belegt. 41 Vgl. 1.3. Dort ist die Argumentation ausführlich Schritt für Schritt dargestellt. Sie sollte nicht einfach mit der Goldenen Regel verwechselt werden: »Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu!«, denn im Unterschied zur Goldenen Regel als lebenspraktischem Sprichwort geht es hier um die argumentationspragmatische Selbstwidersprüchlichkeit desjenigen, der die Menschenwürde des anderen be40
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Würde und Freiheit als Recht zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit
4.5 Adressaten der Würde Der Parlamentarische Rat hat bei der Abfassung des Grundgesetzes nicht nur auf ein theologisches oder philosophisches Fundament für das Konstitutionsprinzip der Menschenwürde verzichtet, er hat auch nicht entschieden, ab wann und bis wann Mitglieder der Spezies »Mensch« durch das Prinzip der Menschenwürde geschützt werden. Es wurde keine Entscheidung getroffen, ob bereits der menschlichen Zygote oder Ganzhirntoten Menschenwürde zukommt. 42 Allerdings war das Bundesverfassungsgericht in den Siebzigerjahren, als die Frage der Strafbarkeit von Abtreibungen zur Debatte stand, der Überzeugung, »dass die Formulierung ›jeder hat das Recht auf Leben‹ auch das ›keimende‹ Leben einschließen sollte.« 43 Es war also zu diesem Zeitpunkt herrschende juristische Meinung, »dass der Schutz menschlichen Lebens, den die Rechtsordnung zu gewährleisten hat, das geborene ebenso wie das noch ungeborene, werdende menschliche Leben umfasst.« 44 Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Diskussion um die juristische Bewertung der Abtreibung im Jahr 1975 wurde die herrschende Meinung dann eine höchstrichterliche: »Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst zu wahren weiß.« 45 Dabei erläutert das Gericht, was mit »Wo menschliches Leben existiert« gemeint ist, bereits vor der gerade zitierten Stelle: »b) Bei der Auslegung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ist auszugehen von seinem Wortlaut: ›Jeder hat das Recht auf Leben […]‹. Leben im Sinne der geschichtlichen Existenz eines menschlichen Individuums besteht nach gestreitet, weil er dann implizit anerkennen würde, dass dies auch umgekehrt gilt. Die daraus folgenden, praktischen Konsequenzen können nicht in seinem Interesse sein. 42 Auch die Frage nach einer Würde von Tieren, die mit Singers Speziesismusvorwurf sichtbar in den Blick kam, spielte für den Parlamentarischen Rat 1948 keine Rolle. Ob es in dieser Hinsicht eine Ausweitung der Extension der Würde auch auf nichtmenschliche Lebewesen geben sollte, dürfte ähnlich wie bei der Menschenrechtserklärung zu entscheiden sein. Wenn Tiere nachweislich mit Vernunft und Gewissen begabt wären, müssten sie in die Rechtsgemeinschaft der Personenwürdeträger aufgenommen werden. 43 BVerfGE 39, 1 (40). Zur Diskussion der Problematik dieser Aussage vgl. Merkel (2002), 31. 44 Böckenförde (2007 [1971]), 337 mit Verweis auf führende Kommentare seiner Zeit zum Grundgesetz. 45 BVerfGE 39, 1 (41).
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Adressaten der Würde
sicherter biologisch-physiologischer Erkenntnis jedenfalls vom 14. Tag nach der Empfängnis (Nidation, Individuation) an.« 46
In ihrem Urteil von 1993 haben die Verfassungsrichter erneut bestätigt, dass ihr Urteil sich nur auf den Zeitpunkt ab der Nidation bezieht, zugleich haben sie den Zeitpunkt »Empfängnis« in ihren Überlegungen erwähnt, aber ausdrücklich keine Entscheidung getroffen, ob bereits zu diesem Zeitpunkt dem menschlichen Keim Menschenwürde zukommt. 47 Der BGH hat im Juli 2010 die Vereinbarkeit von genetischer Präimplantationsdiagnostik und Embryonenschutzgesetz anerkannt und so eine in dieser Hinsicht wegweisende Entscheidung getroffen. Wenn es zulässig ist, in bestimmten Fällen einen lebensfähigen Embryo nicht zu implantieren, dann dürften ihm vor der Implantation keine Grundrechte zukommen. Zudem lässt sich vermuten, dass der BGH einen Wertungswiderspruch im Blick hat. Dieser würde entstehen, wenn bei einem Verbot der genetischen Präimplantationsdiagnostik die bisherige Praxis der Pränataldiagnostik und der mit ihr verbundenen Folgen in Deutschland weiter in Geltung bliebe. Dann wäre es zwar nicht zulässig, im Blastozystenstadium, also bei einem frühen Embryo, auf todbringende oder Veranlagungen für schwerwiegende Erkrankungen zu untersuchen und bei derartigen Befunden auf eine Implantation zu verzichten, aber Föten könnten dennoch, wie es seit 1993 zulässig ist, nach einer Pränataldiagnostik bis zum Beginn der Geburtswehen im Mutterleib getötet werden, wenn bestimmte genetische oder morphologische Veränderungen festgestellt werden und die betreffenden Mütter dies aus medizinischen Gründen einfordern. Nach ausführlichen Debatten infolge dieses Urteils hat der Deutsche Bundestag am 7. Juli 2011 mit einer Mehrheit von 326 zu 260 Stimmen einen BVerfGE 39, 1 (37). Vgl. BVerfGE 88, 203. Die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts Jutta Limbach (2002, 305) hat im Hinblick auf diese beiden Urteile von 1975 und 1993 klargestellt: »Beide Urteile gestatten keine Aussage darüber, wie das Bundesverfassungsgericht den Grundrechtsstatus eines in-vitro gezeugten Embryos beurteilen wird; denn beide Entscheidungen bezogen sich auf die Zeugung herkömmlicher Art. Man kann allenfalls Vermutungen anstellen, wie das Gericht im Falle einer extrakorporalen Befruchtung entscheiden wird, sollte es eines Tages über die Verfassungsmäßigkeit der Präimplantationsdiagnostik oder der Stammzellforschung zu therapeutischen Zwecken an in-vitro befruchteten Embryonen ohne Entwicklungschancen zu urteilen haben.«
46 47
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Würde und Freiheit als Recht zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit
neuen § 3a in das Embryonenschutzgesetzes eingefügt, aufgrund dessen die Präimplantationsdiagnostik unter bestimmten Bedingungen für zulässig erklärt wurde. Würde man nämlich bereits dem Embryo vollen Würdeschutz und ein Recht auf Leben zuzuerkennen, wäre eine Nicht-Implantation nach der Präimplantationsdiagnostik nur zu rechtfertigen, wenn der Embryo nicht lebensfähig wäre. Nur dann könnte seine Nicht-Implantation als Sterbenlassen verstanden werden, was auch für geborene Menschen zulässig ist. Deshalb ergibt sich logisch zwingend, dass die Menschenwürde im vollen Sinn von Art. 1 jedenfalls dem Embryo/Keim nicht vor der Nidation zukommt. 48 Aber selbst im Hinblick auf das ungeborene Kind ist fragwürdig, ob die ihm zuerkannte Würde identisch mit der Würde ist, die dem geborenen Menschen zukommt. Wie gezeigt, hat das Grundgesetz keine ausdrückliche Entscheidung getroffen, ob Embryonen bereits Menschenwürde zukommt und damit verbunden notwendigerweise auch ein Recht auf Leben. Allerdings zeigen die Urteile des Bundesverfassungsgerichts, dass zumindest ab der Nidation für den Embryo angenommen wird, dass ihm Menschenwürde zukommt. Es hat jedoch keine Entscheidung getroffen, ob diese Würdeanerkenntnis auch als subjektives Recht zu verstehen wäre oder man besser aufgrund der Würde nur von einer staatlichen Schutzpflicht für Ungeborene sprechen sollte. Dann kommt das subjektive Grundrecht auf Leben im Sinn von Art. 2 Abs. 2 GG erst dem geborenen Menschen zu. Wir haben es dann mit einer »unterschiedlichen Qualität des Würdeanspruchs von Zygote, Blastozyste oder anderen Frühformen und dem geborenen Menschen andererseits« 49 zu tun. Der Würdeanspruch des geborenen Menschen strahlt in gewisser Weise auf den Embryo aus. Für diese Einschätzung spricht, dass in Deutschland 101.209 straffreie Abtreibungen für das Jahr 2017 dokumentiert sind. 50 Allerdings bleibt die Blastomerenbiopsie, also im Achtzellstadium, aufgrund der Vorgaben des Embryonenschutzgesetzes weiterhin verboten, weil jede einzelne Zelle in diesem Frühstadium möglicherweise noch totipotent ist, also sich zu einem Menschen entwickeln kann. Dieser Schutz der einzelnen Zellen der Blastomere muss aber nicht als eine Menschenwürdeanerkenntnis zu diesem frühen Zeitpunkt interpretiert werden. Vielmehr kann dies als eine Gesetzgebung verstanden werden, die als unerwünscht verstandenen Vorhaben wie der verbrauchenden Embryonenforschung von vornherein einen Riegel vorschieben will. 49 Herdegen (2005), Rn. 65. 50 http://www.cdl-rlp.de/Download/Abtreibungen-2017.pdf (zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018). 48
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Adressaten der Würde
Wenn Artikel 1 dagegen so zu interpretieren wäre, dass auch dem Ungeborenen wie einem geborenen Menschen die Menschenwürde als subjektives Recht, also im vollen Sinn, zukäme, dann wäre ihm auch ein Grundrecht auf Leben zuzuerkennen. Unter dieser Annahme ließe sich bereits die vitale Indikation kaum verteidigen, wenn man in ähnlicher Strenge denkt, wie es das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf den Abschuss eines Flugzeugs formuliert hat. Wenn nämlich ein Embryo getötet werden darf, um das Leben der Mutter zu retten, so könnte man ebenfalls in Analogie zum Bundesverfassungsurteil gegen das Luftsicherheitsgesetz argumentieren: Auch der Staat, der in einer solchen Situation, in der das Leben der Frau gefährdet ist, zu ihrer Rettung als Abwehrmaßnahme die Tötung des unschuldigen Embryos durch einen Schwangerschaftsabbruch zulässt, behandelt den Embryo als bloßes Objekt seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer, in diesem Fall der Mutter. Anders gelagert ist der Konfliktfall des Schwangerschaftsabbruchs nach einer Vergewaltigung, die eine schwere Verletzung des Grundrechts auf Entfaltung der eigenen Persönlichkeit darstellt. Zur Lösung dieses Konfliktfalls ist ein von Thompson verfasster, konstruierter Vergleichsfall von großer systematischer Relevanz. 51 Hierbei werden folgende Annahmen gemacht. Man wird gekidnappt und bewusstlos geschlagen. Am nächsten Morgen erwacht man und ist mit einem bewusstlosen berühmten Violinisten in ein gemeinsames Blutsystem zusammengeschlossen, sodass man mit dem eigenen Blut dafür sorgt, dass der Violinist nicht stirbt. Der Klinikdirektor erklärt: »Die Gesellschaft der Liebhaber klassischer Musik haben ihnen das angetan. Hätten wir gewusst, dass sie nicht freiwillig zugestimmt haben, hätten wir dies nie getan. Jetzt aber sind sie mit seinem Blutkreislauf verbunden. Aber machen sie sich keine Sorgen! In etwa neun Monaten wird der Violinist von seiner Krankheit soweit hergestellt sein, dass wir sie wieder voneinander trennen können.« Die entscheidende Frage lautet: Ist es erlaubt, in einem solchen Fall zu verlangen, von dem Violinisten losgemacht zu werden und ihn damit dem Tod preiszugeben, einem Menschen, dem unzweifelhaft Menschenwürde zukommt, und der selbst, so soll die Geschichte weitergehen, nichts davon wusste, dass der Blutspender gegen seinen Willen zur Hilfeleistung gezwungen wurden? Wer diese Frage mit einem
51
Vgl. Thompson 2001 (1971), 26.
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Würde und Freiheit als Recht zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit
»Ja« beantwortet, der kann auch einer Abtreibung zustimmen, selbst unter der Voraussetzung, dass dem Embryo ein Lebensrecht zukommt, zumal der Konflikt auf eine noch erniedrigendere Weise zu Stande kam als in dem konstruierten Vergleichsfall. Er könnte beispielsweise vorschlagen, den Embryo zu entnehmen, ohne ihn direkt zu töten, wohl wissend, dass dieser ohne die mütterliche Gebärmutter nicht wird überleben können. 52 Geht man freilich nur von einer staatlichen Schutzpflicht im Hinblick auf den Embryo aus, weil sozusagen die Würde der geborenen Menschen pränatal bedeutsam ist, aber kein subjektives Recht begründet, dann ist nachvollziehbar, warum eine Abtreibung bis zu einem gewissen Zeitpunkt in der Schwangerschaft zwar rechtswidrig ist, aber straffrei bleibt. Eine Erklärung, die verständlich machen kann, wie es zur heutigen Rechtsprechung kommen konnte, hat Böckenförde bereits 1971 noch vor der ersten Novellierung des damaligen § 218 gegeben, zu einem Zeitpunkt also, als Abtreibung noch unter Strafe stand. »Vermag [die Strafe] ihr Ziel, den Schutz werdenden menschlichen Lebens, in der konkreten Wirklichkeit in keiner Weise mehr zu erreichen, führt sie stattdessen vielmehr erhebliche Schädigungen für das soziale Zusammenleben herbei, oder dient sie nur dazu, andere mögliche und wirksamere Schutzmaßnahmen, die aber kostspieliger sind, zu unterlassen, so wird ihre Notwendigkeit und auch ihre Berechtigung fragwürdig; sie verliert dann im eigentliche Sinn ihren Gemeinwohlbezug.« 53
Dennoch erscheint es höchst problematisch, wenn der Staat, der von einer Menschenwürde des Ungeborenen und seiner Schutzpflicht dem Ungeborenen gegenüber spricht und vor diesem Hintergrund die Abtreibung außer nach Vergewaltigung oder Gefahr für das Le-
Die katholische Kirche würde eine solche Entscheidung für sittlich unzulässig halten: »Auch das durch Vergewaltigung oder Notzucht empfangene Kind hat ein fundamentales Recht auf Leben, das Vorrang hat vor dem Selbstbestimmungsrecht der Mutter. Sicher sind nicht die vielen Probleme gelöst, die für die Schwangere aus einer aufgezwungenen Schwangerschaft entstehen, aber diese sind nicht dadurch zu lösen, dass das empfangene Kind getötet wird« (Deutsche Bischofskonferenz (1995), 291 vgl. EV, Nr. 57 ff.). Manche katholisch geprägte Staaten folgen dieser kirchlichen Lehre. Irland hat erst 2018 seine diesbezügliche strenge Gesetzgebung geändert. 53 Böckenförde (2007 [1971]), 339 f. Bereits in den Sechzigerjahren wurden in der alten Bundesrepublik weniger als ein Prozent aller Abtreibungen strafrechtlich verfolgt. Zudem waren die Strafen sehr mild. Andererseits gerieten Abtreibungswillige nicht selten an »Kurpfuscher« mit schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen. 52
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Adressaten der Würde
ben der Mutter (medizinische Indikation) als rechtswidrig bezeichnet, zugleich im Hinblick auf die rechtswidrigen Abtreibungen festlegt: • Der Abtreibungsvertrag zwischen Arzt und Schwangeren, also eine nach Aussagen des Bundesverfassungsgerichts rechtswidrige Tötungshandlung einer grundrechtsgeschützten Person ist entgegen den §§ 134, 138 BGB wirksam, wenn die Frau einen Beratungsschein nachweist. • Jede Nothilfe zugunsten des Ungeborenen, dessen subjektives Recht auf Leben verletzt wird und dem nach dem Bundesverfassungsgerichtsurteil Menschenwürde zukommt, wird dann verboten. • Die um eine Abtreibung nachsuchende Frau hat nach der rechtswidrigen Tötungshandlung für die Dauer der damit verbundenen Arbeitsunfähigkeit einen Anspruch auf Lohnfortzahlung. • Der Staat wird dazu verpflichtet, »ein ausreichendes und flächendeckendes Angebot sowohl ambulanter als auch stationärer Einrichtungen zur Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen sicherzustellen« 54. Diese Maßnahmen können sicher nicht als Schutzmaßnahmen zugunsten des Ungeborenen interpretiert werden. Möglicherweise ist eine Strafandrohung im Schwangerschaftskonfliktfall gesellschaftlich nicht dienlich, jedoch erscheint die staatliche Unterstützung einer als rechtswidrig verstandenen Abtreibung zur behaupteten Schutzpflicht widersprüchlich zu sein. Im Unterschied zum Lebensanfang scheint das Lebensende klar definiert zu sein. Wenn jemand verstorben ist, kommt ihm keine Menschenwürde mehr zu. Dass die Rede von der Würde des Leichnams im Transplantationsgesetz nicht die Menschenwürde im strengen Sinn bezeichnen kann, sondern die mit der Würde des vormaligen Lebenden verbundenen postmortalen Persönlichkeitsrechte, sollte allein schon begriffslogisch klar sein. 55 Ein Toter kann kein Subjekt und kein Gleicher mehr sein. »Würde des Leichnams« bezeichnet eine relative Würde, den Nachhall der absoluten Menschenwürde. Das ist gemeint, wenn das Bundesverfassungsgericht in seinem »Mephisto-Urteil« davon spricht, dass die Menschenwürde nicht mit dem Tod endet. 56 54 55 56
BVerfGE 88, 203 (328 f.). Dies ist bereits unter 1.5 ausgeführt worden. Vgl. auch das dortige Bootsbeispiel. Vgl. BVerfGE 30, 173 (194). Vgl. Herdegen (2005, Rn. 54): »Der menschliche
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Würde und Freiheit als Recht zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit
Allerdings ist mittlerweile in bestimmten Fällen umstritten, wann ein Mensch tot ist. Zwar wurde im Transplantationsgesetz festgehalten, dass der Mensch als tot gilt, wenn »der Tod […] nach den Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, festgestellt ist« 57, aber im Hinblick auf das Ganzhirntodkriterium werden die Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft unterschiedlich interpretiert. So haben beispielsweise sieben von 25 Mitgliedern des deutschen Ethikrats in ihrer Stellungnahme von 2015 das Hirntodkriterium als Todeskriterium mit der Begründung abgelehnt, es handele sich in diesem Fall um Menschen in einem irreversiblen Sterbeprozess. 58 In ähnlicher Weise hatte bereits Herdegen in seinem Grundgesetzkommentar formuliert: »Erst hirntote Menschen sind todgeweihte Personen und noch keine Leichname.« 59 Er kommt dennoch wie zehn Jahre später auch einige Vertreter des Deutschen Ethikrats, die das Hirntodkriterium bezweifeln, zum Ergebnis: »Dies hindert aber für die Zwecke der Organentnahme nicht ein Transplantationsregime im Einklang mit dem erklärten Willen der Sterbenden.« 60 Doch handelt es sich dann nicht um aktive Sterbehilfe mit Einwilligung des Sterbenden? Nach Ansicht der Vertreter im Deutschen Ethikrat, die einerseits das Hirntodkriterium als Todeskriterium ablehnen, aber dennoch eine Organentnahme akzeptieren, lautet die Antwort auf diese Frage: »Nein!« Sie verstehen diese Entnahme »als eine besondere Form des Sterbenlassens« 61, »eingebettet in einen größeren medizinethischen Diskurszusammenhang, in dem selbstbestimmten Entscheidungen von Patienten über Leben und Sterben Leichnam ist nicht Träger eines eigenen Würdeschutzes. Vielmehr äußert sich in der gebotenen Achtung die nachwirkende Respektierung der Menschenwürde des Verstorbenen.« Vgl. ebenfalls Di Fabio (2001), Rn. 226: »Die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung lehnt einen sog. postmortalen Persönlichkeitsschutz im Anwendungsbereich des Art. 2 Abs. 1 GG ab und anerkennt ihn nur (unter restriktiveren Voraussetzungen im unmittelbaren Rückgriff auf Art. 1 Abs. 1 GG. […] Verstorbene Personen sind nicht selbst Träger des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Immerhin bietet aber der Schutz der Menschenwürde auch ein ausreichendes Schutzniveau […]« 57 § 3 Abs. 1 (2) TPG. 58 Deutscher Ethikrat (2015), 84–94. 59 Herdegen (2005), Rn. 52. Herdegen zitiert hier den Verfassungsrechtler Höfling. Der Deutsche Ethikrat (2015, 96) stellt sogar fest, dass die Mehrheit der Kommentarliteratur zum Grundgesetz das Hirntodkriterium ablehnt. 60 Herdegen (2005), Rn. 52. 61 Deutscher Ethikrat (2015), 97. Dort auch die folgenden Zitate.
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Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte
eine zentrale Bedeutung zugewiesen wird.« Daraus ergibt sich, dass »die Entnahme lebenswichtiger Organe bei Menschen mit irreversiblem Ganzhirnversagen unter bestimmten Voraussetzungen […] ethisch wie verfassungsrechtlich legitim« ist. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Frage, wann einem Menschen die Würde als Subjekt und Gleichem zukommt, bis heute weder am Lebensanfang noch am Lebensende abschließend geklärt ist. Aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes lässt sich dies gut verstehen. Es ging den Vätern und Müttern des Grundgesetzes darum, dass niemals mehr Menschen aus rassistischen oder sonstigen Gründen als minderwertig oder gar tötenswert verstanden und so ihrer Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit beraubt werden.
4.6 Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte Die Menschenwürde ist Konstitutionsprinzip und damit oberstes Prinzip des Grundgesetzes. Die folgenden Grundrechte können als positive Entfaltung der Menschenwürde verstanden werden, denn dies »zeigt der kausale Anschluss, den Art. 1 GG für das Bekenntnis zu den Menschenrechten gefunden hat: Weil die Menschenwürde für unantastbar zu erachten ist, bekennt sich das Deutsche Volk zu Menschenrechten« 62, um »gegen den Rechtsmissbrauch der NS-Zeit feste Dämme zu bauen.« 63
4.6.1 Grenzen des Grundrechts auf Leben und umstrittene Grenzfälle Das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ist mit dem Verständnis der Menschenwürde aufs Engste verbunden. Art. 2 Abs. 2 des Grundgesetzes affirmiert dieses Recht eindrücklich: »Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.« Allerdings endet der Absatz mit der Aussage: »In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.« Wie ist dann die Aussage
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Enders (1997), 171. Böckenförde (2007), 336.
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Würde und Freiheit als Recht zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit
des Bundesverfassungsgerichts zu interpretieren: »Die Unantastbarkeit [der Menschenwürde] lässt einer Rechtfertigung für Eingriffe durch die bei anderen bekannten verfassungsimmanenten Schranken im Sinne einer Güterabwägung keinen Raum. Der Schutz der Menschenwürde gilt ›absolut ohne die Möglichkeit eines Güterausgleichs‹« 64? Zumindest in bestimmten Situationen scheint hier die Antwort klar zu sein, beispielsweise als das Bundesverfassungsgericht das Luftsicherheitsgesetz für in Teilen für verfassungswidrig erklärte. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in New York, als Terroristen zwei Flugzeuge in die Zwillingstürme des World Trade Centers flogen und Tausende einschließlich der Personen in den Flugzeugen töteten, beschäftigte sich das bundesdeutsche Parlament mit der Frage, wie derartige Anschläge in Deutschland verhindert werden könnten. Die Debatten führten zur Verabschiedung eines Gesetzes, wonach der Abschuss eines von Terroristen entführten Flugzeugs erlaubt gewesen wäre, wenn »das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, und [Waffengewalt] das einzige Mittel zur Abwehr dieser gegenwärtigen Gefahr ist« 65. Die Richter des Bundesverfassungsgerichts hielten diesen Teil des Gesetzes für nicht mit der Verfassung vereinbar. Sie begründeten dies mit der Menschenwürde der unschuldigen Passagiere. »Auch der Staat, der in einer solchen Situation zur Abwehrmaßnahme des § 14 Abs. 3 LuftSiG greift, behandelt sie als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer. Die Ausweglosigkeit und Unentrinnbarkeit, welche die Lage der als Opfer betroffenen Flugzeuginsassen kennzeichnen, bestehen auch gegenüber denen, die den Abschuss des Luftfahrzeugs anordnen und durchführen. Flugzeugbesatzung und -passagiere können diesem Handeln des Staates auf Grund der von ihnen in keiner Weise beherrschbaren Gegebenheiten nicht ausweichen, sondern sind ihm wehrund hilflos ausgeliefert mit der Folge, dass sie zusammen mit dem Luftfahrzeug gezielt abgeschossen und infolgedessen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit getötet werden. Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als Subjekte mit Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich entrechtlicht; indem über ihr Leben von Staats wegen einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst schutz-
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Herdegen (2005), Rn. 69, teilweise BVerfGE 75, 369 (380) zitierend. Hier zitiert nach Baldus (2016), 201.
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Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte
bedürftigen Flugzeuginsassen der Wert abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst willen zukommt.« 66
Doch lässt sich fragen, ob diese Argumentation im konkreten Konfliktfall wirklich tragfähig ist. Von Schirach ist dieser Frage in einem Theaterstück, das eine fiktive Gerichtsverhandlung schildert, sehr tiefgehend nachgegangen. Ein Major der Luftwaffe, Lars Koch, hat ein von Terroristen entführtes Zivilflugzeug, das sich im Anflug auf die vollbesetzte Münchner Allianzarena befand, abgeschossen, ohne dafür einen Befehl von einer höheren Instanz erhalten zu haben. Er hat durch den Abschuss 164 Menschen getötet, aber wohl Zehntausenden das Leben gerettet. Das Theaterstück endet mit zwei Szenarien, der Verurteilung von Major Koch bzw. dem Freispruch von Major Koch. Das Publikum wird involviert. Es darf entscheiden: Verurteilung oder Freispruch. Seit der Uraufführung am 3. Oktober 2015 haben bis zum 29. Juli 2018 in 2008 »Verhandlungen« 91,5 % aller Theaterpublika mit Mehrheit für einen Freispruch plädiert, durchschnittlich haben bei allen Aufführungen 62,1 % der Zuschauer einen Freispruch gefordert. 67 Aber der Konflikt bleibt bestehen: Dürfen unschuldige Menschen getötet werden, um das Leben einer noch größeren Zahl unschuldiger Menschen zu retten? Wird durch den Abschuss des Flugzeugs ihre Würde missachtet, weil sie vollständig dafür instrumentalisiert werden, andere zu retten, so das Hauptargument im Szenarium »Verurteilung«? Philosophisch basiert eine derartige Verurteilung auf der Überzeugung, dass zwar »der Wert von zehn Menschenleben größer sein [mag] als der eines einzigen«, dass jedoch »die Würde von zehn Menschen […] nicht mehr als die eines einzigen Menschen [bedeutet]. Personen sind überhaupt nicht addierbar.« 68 Doch treffen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts und das Argument Spaemanns auf den konkreten Konfliktfall zu? Stehen hier wirklich 164 Leben gegen das Leben Zehntausender? Oder sind nicht auch die 164 Passagiere eigentlich bereits so todgeweiht, dass es umgekehrt unmoralisch wäre, nicht das Leben Zehntausender zu retten? Haben wir es also in diesem konkreten Konfliktfall wirklich mit einer Kosten-Nutzen-Rechnung zu tun, wonach möglichst viele Leben zu retten sind, selbst wenn dabei einige wenige geopfert werden müs66 67 68
BVerfGE, 115, 118 (154). Vgl. http://terror.theater/cont/results_main/de (zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018). Spaemann (2006), 195 f.
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Würde und Freiheit als Recht zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit
sen? Könnte man nicht stattdessen so argumentieren, dass in einer solchen Situation, in der auch die Passagiere wenige Augenblicke später durch den Aufprall getötet würden, aber durch den Abschuss zumindest Zehntausende gerettet werden könnten, eine solche Handlung auf jeden Fall nicht nur ethisch gerechtfertigt und gesetzlich durch einen übergesetzlichen Notstand entschuldigt werden kann, sondern sogar ethisch geboten ist? Wenn man in dieser Weise argumentiert, liegt die Nähe zu einer Argumentation mit intendierter und nicht-intendierter Folge auf der Hand. Der Abschuss des Flugzeugs zielt nicht direkt darauf ab, die Passagiere zu töten, sondern vielmehr beabsichtigt direkt nur, die Gefahr zu beseitigen. Es wird also nur indirekt in Kauf genommen, dass die Passagiere dabei sterben. Sie werden also gerade nicht durch den Abschuss ihrer Würde beraubt, sondern ihnen wird eine Solidarität mit den möglichen Opfern unterstellt, die im Stadion sterben würden, wenn sie nicht bereit wären, die letzten Momente ihres Lebens verkürzen zu lassen. Man könnte jedoch auch ganz anders argumentieren: Passagiere, die heute ein Flugzeug besteigen, wissen um das Risiko, dass die Maschine gekapert und terroristisch missbraucht werden kann. Sie sollten sich also dessen bewusst sein, dass sie in einer Extremsituation abgeschossen werden und haben mit dem Kauf des Flugtickets sozusagen ihr Einwilligung dazu gegeben. Allerdings könnte man dann auch umgekehrt argumentieren: Wer sich heute ein Stadionticket kauft, sollte sich bewusst sein, dass er Opfer eines terroristischen Anschlags werden könnte. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dieser Argumentation nicht angeschlossen, sondern entschieden, dass es kein Gesetz geben darf, das ein Abschießen eines als Terrorwaffe missbrauchten Flugzeugs erlauben würde. Bis jetzt ist jedoch nicht entschieden, ob sich der Pilot eines Totschlags gem. § 212 Abs. 1 StGB strafbar gemacht hätte. Einer Verurteilung könnte z. B. ein übergesetzlicher Notstand entgegenstehen. Die Existenz eines solchen ist allerdings umstritten. Zudem würde ein Aufweichen der strengen Haltung bedeuten, dass Unschuldige nicht getötet werden dürfen. Allerdings führt dies zu sehr weitreichenden und unliebsamen Konsequenzen: Müsste dann nicht aufgrund dieser Argumentation im Kriegsfall darauf verzichtet werden, feindliche Bomber abzuschießen, wenn in diesen unschuldige Zivilisten, z. B. politische Gefangene, sitzen, selbst dann, wenn diese Bomber mit Atombomben be176 https://doi.org/10.5771/9783495817506 .
Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte
stückt wären? Oder ist der Kriegsfall ein Ausnahmefall? Ist dann nicht aber auch ein terroristischer »Angriff« ein Ausnahmefall, zumal sich Terroristen in ihrem eigenen Verständnis oftmals als Soldaten einer gerechten Sache empfinden? 69 Noch schwieriger ist es zu entscheiden, ob der Einsatz von Drohnen zulässig ist, um mit ihrer Hilfe Terroristen auszuschalten. Beispielsweise könnte eine Drohne dazu benutzt werden, einen Terroristen zu beseitigen, der mit seiner Familie in einem Fahrzeug unterwegs ist. Jedoch würden auch seine Angehörigen getötet. Selbst wenn man der Ehefrau noch eine Mitschuld geben kann, so ist dies im Hinblick auf die zweijährige Tochter, die sich ebenfalls im Auto befindet, nicht möglich. Darf man einen Terroristen töten, der als Drahtzieher auch zukünftiger Anschläge eine große Gefahr darstellt, wenn dabei auch unschuldige Menschen ihr Leben verlieren? In der Logik des Bundesverfassungsgerichts darf man dies wohl nicht tun, aber man bezahlt diesen Verzicht möglicherweise mit dem sehr hohen Preis weiterer Anschläge. Dagegen geht das deutsche Recht eindeutig davon aus, dass es Situationen gibt, welche die Tötung eines Menschen rechtfertigen, ohne dass dabei seine Würde verletzt wird, beispielsweise wenn durch einen finalen Rettungsschuss ein Geiselnehmer getötet wird. Es wird also die Tötung einer Person legitimiert, die danach die eigene Persönlichkeit nicht mehr wird entfalten können. Diese Tötung wird nicht als Verletzung der Menschenwürde interpretiert. Warum wird dann die Folter als mit der Menschenwürde unvereinbar angesehen, während die Tötung eines Menschen unter bestimmten Bedingungen nicht als Würdeverletzung interpretiert wird? Das Verbot der Folter ist eng mit dem Verständnis von Würde als Ermächtigung zur Selbstbestimmung, zur freien Entfaltung der Persönlichkeit verbunden; denn Folter wird gerade dazu angewendet, um den Willen der Person, der Gewalt angetan wird, zu brechen. Das Folterverbot scheint also zum Kernbestand dessen zu gehören, was die Menschenwürde ausmacht. Dennoch wurde das absolute Folterverbot in Frage gestellt, als sich in Deutschland im September 2002 Folgendes ereignete. Der Frankfurter Jurastudent Magnus Gäfgen entführte seinen eigenen Nachhilfeschüler, den elfjährigen Jakob von Metzler, um von dessen Eltern ein Lösegeld zu erpressen. Die Polizei beobachtete die Geldübergabe und konnte so den Erpresser 69
Man denke nur an die Selbstbezeichnung »Rote Armee Fraktion«.
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Würde und Freiheit als Recht zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit
festnehmen. Die Beweise in seiner Wohnung (Teile des Lösegelds, Entführungspläne) ließen keine Zweifel aufkommen, dass Gäfgen der Entführer des Jungen war. Zu diesem Zeitpunkt ging die Polizei bei ihren Ermittlungen davon aus, dass Jakob zwar noch am Leben war, aber in höchster Lebensgefahr schwebte. Sein Versteck, war jedoch nicht bekannt. Gäfgen selbst war nicht bereit, den Ort zu nennen. Als der Frankfurter Vize-Polizeipräsident Daschner ihm androhen ließ, dass man ihm Schmerzen zufügen werde, wenn er nicht das Versteck des Kindes verriete, gab Gäfgen zu, dass der Junge bereits tot sei, und nannte auch den Ort, wo er ihn verscharrt hatte. Doch mit der Androhung von physischer Gewalt überschritt der Vizepolizeipräsident eine Grenze. Er hatte praktisch mit Folter gedroht. Jedenfalls verurteilte ihn das Frankfurter Landgericht in diesem Sinn. Dabei begründete es die Verurteilung damit, »dass der verfassungsrechtliche Schutz der Menschenwürde in seiner Absolutheit durchbrochen und einer Abwägung zugänglich gemacht würde« 70, wenn man die Folter erlauben würde, und sprach von einem »Tabubruch«. Das Gericht rekurrierte in seinem Urteil sogar auf die »Gräueltaten des nationalsozialistischen Regimes« 71, die sich nicht wiederholen dürften: »Der Mensch sollte nicht ein zweites Mal als Träger von Wissen behandelt werden können, das der Staat aus ihm herauspressen will, und sei es auch im Dienste der Gerechtigkeit.« Dennoch war die Strafe extrem mild – es wurde nämlich nur eine Geldstrafe von 90 Tagessätzen verhängt –, wenn man bedenkt, dass es sich nach den Worten des Gerichts um einen »Verstoß gegen die Achtung der Menschenwürde« handelte. Wie konnte es zu diesem janusköpfigen Urteil kommen? Dahinter steht ein fundamentales Dilemma, nämlich dass man die Würde des Opfers nur schützen kann, indem man die Würde des Täters antastet, der die Würde seines Opfers bewusst verletzt und missachtet. Das Frankfurter Landgericht begründete die Milde des Urteils sogar mit Daschners »ehrenwerte[r], verantwortungsbewusste[r] Gesinnung« 72. Das Dilemma mit der Absolutsetzung der Menschenwürde in dem Sinn, dass sie notwendig jede Form von Folter ausschließt, weil Hier zitiert nach Baldus (2016), 216. Dort auch die folgende Belegstelle. Ebd., 215. Dort auch das folgende Zitat. 72 Ebd., 216. Im April 2005 wurde das gegen Daschner eingeleitete Disziplinarverfahren eingestellt und er wurde nach Wiesbaden versetzt. Dort wurde ihm die Leitung des Präsidiums für Technik, Logistik und Verwaltung der hessischen Polizei übertragen, was zugleich eine Beförderung bedeutete. 70 71
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diese gerade den Willen des Gefolterten brechen soll, also seine Freiheit zerstört, lässt sich in seiner Schärfe am besten erkennen, wenn es nicht nur um ein Opfer geht, sondern wenn ein Täter sogar die ganze Menschheit in ihrer Existenz bedrohen würde. So könnte jemand durch geschickte genetische Manipulationen ein Supervirus schaffen, das so wirkmächtig ist, dass es die gesamte Menschheit zu vernichten droht. Angenommen, das Virus wird in Kürze automatisch freigesetzt werden, es sei denn, man stoppt diese Freisetzung rechtzeitig, dürfte dann die betreffende Person gefoltert werden, damit sie den Ort nennt, an dem sich das Virus befindet? Dieses Dilemma lässt die zentrale Herausforderung für das Verständnis von Würde erkennen: Gibt es Handlungen, die absolut verboten sind, wenn wir sagen, dass Menschen Würde zukommt? Wenn eine Handlung absolut verboten ist, heißt dies, dass sie – im wörtlichen Sinn – losgelöst von allen Umständen niemals vollzogen werden darf. Wenn das mit der Würde verbundene Folterverbot absolut gilt, wenn also die Handlung »Folter« in jedem Fall die Würde antastet, diese aber nicht angetastet werden darf, dann heißt das: Eher muss die Welt zugrunde gehen, als dass man foltern darf! Sollte man mit von Schirach auch in einem solchen Fall sagen: »Mit den Rechten des Menschen ist es nämlich in Wirklichkeit wie mit der Freundschaft. Sie taugt nichts, wenn sie sich nicht auch und gerade in den dunklen, in den schwierigen Tagen bewährt« 73? Oder ist vor diesem Hintergrund die Interpretation von Art. 1. Abs. 1 GG durch Herdegen angemessener, wonach es problematisch ist, »wenn jede Vornahme derart willensbeugender oder willenskontrollierender Eingriffe rein modal beurteilt und deswegen stets – in völliger Abstraktion vom intendierten Lebensschutz – als Würdeverletzung beurteilt wird« 74? Im Gegensatz zu von Schirach bezieht Herdegen in gewisser Analogie zum Fall der Nothilfe die Bedrohung für die Menschenwürde und das Lebensrecht anderer mit ein, wenn er zu dem Ergebnis kommt: »Dabei geht es nicht um eine Abwägung der Menschenwürde gegenüber anderen Verfassungswerten (Abwägung von Würde gegen Leben oder Würde Dritter). Ebensowenig wird hier die Würde des Einzelnen durch kollidierende Rechtsgüter ›gemindert‹. Vielmehr bestimmt sich das Maß der kraft der (stets gleichbleibenden) Menschenwürde geschuldeten Ach73 74
Von Schirach (2015), 15. Herdegen (2005), Rn. 45.
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tung auch nach seinem eigenen Vorverhalten und darin wurzelnden Bedrohungen für Würde oder Leben anderer (auch des eigenen Lebens).« 75
Obwohl im Unterschied zu Kant und dem Christentum das Grundgesetz die Würde als unverlierbar versteht, lässt sich die Folter oder das Töten eines Menschen nach Ansicht mancher Verfassungsrechtler als allerletztes Mittel rechtfertigen, weil eben der Begriff der Menschenwürde in dem Sinn formal ist, dass selbst das Foltern in bestimmten Fallkonstellationen, nämlich zur Lebensrettung Unschuldiger, nicht notwendig als Würdeverletzung verstanden werden muss. Doch lässt sich das Problem nochmals zuspitzen, wenn das fiktive Supervirusbeispiel nochmals anders gestaltet wäre. Was wäre der Fall, wenn man zwar nicht denjenigen, der im Besitz dieses Supervirus ist und es in Kürze freisetzen möchte, fassen könnte, aber stattdessen seine Tochter. Dürfte dann die Staatsgewalt androhen, die Tochter zu foltern, es sei denn ihr terroristischer Vater würde sich stellen? Darf also eine unschuldige Person als allerletztes Mittel gefoltert werden, damit die mit dieser unschuldigen Person emotional verbundene, schuldige Person sich stellt? An der Beantwortung dieser Frage, ob zur Rettung der Welt als allerletztes Mittel ein unschuldiger Mensch gegen seinen Willen gefoltert werden darf, entscheidet sich grundsätzlich, wie Menschenwürde als Ermächtigung zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit zu verstehen ist. Wer den prinzipiellen Subjektstatus einer unschuldigen Person zumindest in diesem einen Fall preiszugeben bereit ist, wer bereit wäre, die Tochter solange zu foltern, bis der Vater sich stellt, kann rein rechtslogisch nicht mehr auf dem Boden des Grundgesetzes stehen. Moralphilosophisch kann nur derjenige in diesem konkreten Fall bereit sein, die Tochter zu foltern, der im konkreten Fall bereit wäre, einen unschuldigen Menschen gegen seinen Willen zu opfern, um alle Übrigen zu retten. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist die Verurteilung des Frankfurter Vize-Polizeipräsidenten Daschner symbolisch bedeutsam, weil auf diese Weise der Folter eine Grenze gesetzt wird. Um einen Dammbruch durch ungewollte symbolische Wirkung und die Schaffung von Präzedenzfällen zu vermeiden, kann man weder die Folter noch den Abschuss eines Flugzeugs rechtlich erlauben. Ebd., Rn. 45. Vgl. auch Winfried Bruggers Rechtfertigung der Folter in Extremsituationen in: http://www.bpb.de/apuz/29567/einschraenkung-des-absoluten-folter verbots-bei-rettungsfolter?p=all (zuletzt eingesehen: 30. 07. 2018).
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Gleichzeitig werden wohl nicht wenige hoffen, dass sich in derartigen dramatischen Situationen jemand wie der Polizeivizepräsident Daschner (im realen Fall) bzw. jemand wie Major Koch (im fiktiven Fall) »opfert« und den Rechtsbruch begeht, um Menschenleben zu retten. Alle diese Fälle, fiktive wie reale, zeigen, dass wir bis heute dabei sind zu lernen, wie wir das Menschenwürdebekenntnis des Grundgesetzes zu verstehen haben. Dies gilt auch für die Frage nach der Bedeutung des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, zu der wir aufgrund der Menschenwürde ermächtigt sind.
4.6.2 Grenzen des Grundrechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit Der Artikel 2 des Grundgesetzes verbindet das Grundrecht auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit und auf die Unverletzlichkeit der Freiheit mit dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit: »(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.«
Die Schranke dieser Grundrechte bilden, wie dieser Artikel ausführt, die Rechte anderer, die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz. Dabei werden nach herrschender Meinung die Rechte anderer unter die verfassungsmäßige Ordnung subsummiert, d. h. »als eigenständige Grundrechtsschranke sind die Rechte anderer aufgrund der Oberbegriffswirkung der verfassungsmäßigen Ordnung damit an sich entbehrlich« 76. Um einen »überaus deutungsoffenen und ausfül-
Di Fabio (2001), Rn. 44. Er räumt zwar ebd. ein: »Was die ›Rechte anderer‹ im Einzelnen bedeuten, ist vom Bundesverfassungsgericht aber nicht definiert worden.«, stellt aber fest: »In der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung bleibt der Begriff letztlich angesichts der umfassenden und damit überragenden Bedeutung der ›verfassungsmäßigen Ordnung‹ praktisch ohne Bedeutung, […]. Durch die weite Interpretation der Schranke der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als Gesamtheit aller verfassungsmäßigen Normen fallen darunter eben auch diejenigen Normen, die ›Rechte anderer‹ begründen […].«
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lungsbedürftigen Begriff« 77 handelt es sich beim Sittengesetz. Ob dieses »eine freiheitsbegrenzende Wirkung ohne autorisierenden Akt der Gesetzgebung« 78 ist, bleibt bis heute umstritten, da nicht klar zu bestimmen ist, was dieses Gesetz normativ vorgibt. Wie schwierig die Interpretation des Sittengesetzes ist, kann ein Beispiel aus der frühen Geschichte der alten Bundesrepublik zeigen. Mit Berufung auf das Sittengesetz hatte das Bundesverfassungsgericht im sogenannten »Homosexuellen-Urteil« im Mai 1957, bei dem es um die Strafbarkeit homosexueller Handlungen zwischen konsentierenden Erwachsenen ging, entschieden, dass derartige Handlungen eindeutig gegen das Sittengesetz verstoßen. Deshalb sei der entsprechende § 175 StGB eine »verfassungsrechtlich gerechtfertigte Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit« 79. Wie kam das Gericht zu dem Urteil eines eindeutigen Verstoßes gegen das Sittengesetz? Es nahm die empirisch nachweisbare damalige Ablehnung homosexueller Handlungen durch die beiden großen Kirchen in Deutschland als Beleg für die Sittenwidrigkeit, da weit über 90 % der Bevölkerung diesen Kirchen angehörten. 80 Wie brüchig diese Berufung auf das Sittengesetz ist, zeigt sich daran, dass nicht nur das strafrechtliche Verbot homosexueller Handlungen längst beseitigt ist, sondern seit 2017 auch die Ehe unter homosexuellen Menschen möglich wurde, ohne dass überhaupt das Bundesverfassungsgericht zu prüfen hatte, ob dies verfassungskonform sei. So stehen auch die Ehen homosexueller Menschen unter dem Schutz von Art. 6 GG. Es lässt sich dann die Frage stellen, ob damit diese Entwicklung zu Ende ist oder nicht aufgrund der Religionsfreiheit auch weitere Möglichkeiten im Bereich von Ehe und Familie offenstehen sollten, die dem christlichen und kantischen Verständnis von Sittlichkeit widersprechen. In unserem Land leben Millionen Menschen muslimischen Glaubens. Der Koran erlaubt ausdrücklich, dass ein Mann bis zu vier Frauen heiratet, auch wenn die Anforderungen hierfür sehr hoch sind. 81 Mit welchen Gründen sollte man daran festhalten, dass die Ebd., Rn. 45. Ebd., Rn. 45. 79 BVerfGE 6, 389 in der Zusammenfassung von Di Fabio (2001), Rn. 45. 80 Vgl. BVerfGE 6, 389 (434 ff.). 81 Vgl. Sure 4,1–4: Der Mann muss eine Gleichbehandlung der Frauen gewährleisten. Das bedeutet nach muslimischem Verständnis, dass keine der Ehefrauen finanziell oder emotional bevorzugt werden darf und der Mann darüber hinaus finanziell in der Lage sein muss, jeder seiner Ehefrauen einen eigenen Haushalt zu finanzieren. 77 78
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Ehe nur eine Verbindung von einem Menschen mit einem zweiten Menschen ist, wenn beispielsweise mehrere Frauen (oder auch Männer) freiwillig einen Mann (oder eine andere Frau) heiraten möchten und auch dieser eine solche Ehe wollen würde? Anders gefragt: Warum soll die Exklusivität der Geschlechtsgemeinschaft so wesentlich für das Eheverständnis sein? Ein ebenfalls mit der menschlichen Sexualität verbundener Konflikt, nämlich die Frage, ob es zulässig sei, wenn Frauen freiwillig in einer Peep-Show auftreten, hat ebenfalls die Gerichte beschäftigt. So hat das Bundesverwaltungsgericht in seinem Urteil vom 15. 12. 1981 dieses freiwillige Auftreten von Frauen in einer Peep-Show als Verletzung der Menschenwürde dieser Frauen bezeichnet. Auch wenn es vordergründig darum ging, dass Frauen nicht durch die Zuschauer instrumentalisiert werden sollten, steckt hinter den Urteilen auch die christliche und kantische Überlegung, dass Frauen sich in einer solchen Show selbst entwürdigen. Das Gericht hat nämlich in einer sehr an Kant erinnernde Weise argumentiert: »Diese Verletzung der Menschenwürde wird nicht dadurch ausgeräumt oder gerechtfertigt, dass die in einer Peep-Show auftretende Frau freiwillig handelt. Die Würde des Menschen ist ein objektiver, unverfügbarer Wert […] Hier muss die Menschenwürde wegen ihrer über den Einzelnen hinausreichenden Bedeutung auch gegenüber der Absicht des Betroffenen verteidigt werden, seine vom objektiven Wert der Menschenwürde abweichenden subjektiven Vorstellungen durchzusetzen.« 82
Kantisch würde man sagen, sie verletzen die Achtung der Menschheit, die sie repräsentieren, wenn sie sich in dieser Weise gebrauchen lassen. Die Argumentation ähnelt zudem derjenigen der Katholischen Kirche, nämlich dass ein derartiges Auftreten einen Verstoß gegen die eigene Menschenwürde darstelle. 83 Das Bundesverfassungsgericht hat in derselben Sache im Jahr 1986 vorsichtiger argumentiert. Jetzt trägt nicht mehr die Interpretation der Menschenwürde die Beweislast gegen eine freiwillige Handlung, sondern wie bereits 1957 die Sittenwidrigkeit. 84 Indem das GeIn Tunesien verbot man vor diesem Hintergrund 1956 die Polygamie, weil es faktisch einem Mann nicht möglich sei, alle Ehefrauen gleich zu behandeln (vgl. Rohe (2013), 65). 82 BVerwGE 64, 274 (279 f.). 83 Vgl. KKK, Nr. 2277. 84 Vgl. BVerfGE 84, 314.
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richt nicht mehr auf die Menschenwürde Bezug nahm, verzichtete es darauf, mit der Würde Pflichten gegen sich selbst zu verbinden. Allerdings schwächte sich auch diese Begründung immer mehr ab, sodass seit der Verabschiedung des Prostitutionsgesetzes im Jahr 2001 selbst die Sittenwidrigkeit der Prostitution aufgehoben ist. Mittlerweile zeigt sich jedoch, dass dieses Gesetz auch zu nicht-intendierten Folgen hatte. So kommt es seitdem in Deutschland vermehrt zur Zwangsprostitution. 85 Vor diesem Hintergrund fordert die Sozialethikerin Mack beispielsweise ein Verbot der Prostitution als »eine logische Konsequenz aus rechtsstaatlichen Verfassungsprinzipien zum Würdeschutz […]. Denn Prostitution ist eine Menschenrechtsverletzung.« 86 Allerdings lässt sich dieses Argument nur für die Fälle von Zwangsprostitution geltend machen, die mit Recht strafbewehrt sind. Wer einen Menschen zu Prostitution zwingt, begeht eine Straftat. Aber Mack geht einen Schritt weiter. Sie möchte selbst denjenigen die Prostitution verbieten, die dies freiwillig tun: Prostitution sei »kein Beruf wie jeder andere, sondern ein Preisgeben der eigenen Intimität auf Kosten der eigenen Identität.« 87 Hier zeigt sich erneut ein Verständnis von Menschenwürde, das dem des Bundesverwaltungsgerichts im Peep-Show-Urteil ähnelt und an christliche und kantische Überlegungen erinnert. Mit der Menschenwürde sind nach diesem Verständnis auch Pflichten gegen sich selbst verbunden. In einem Zwischenbereich zwischen Fragen im Bereich der Sexualität und Fragen der Religionsfreiheit treten sehr verwandte Argumentationsmuster auf, beispielsweise wenn es darum geht, ob das Tragen einer Burka verboten werden sollte. Die sunnitische Muslimin und Rechtsanwältin Syran Ateş fordert ein gesetzliches Verbot des Burkatragens. »Denn es geht hier um die Menschenwürde. Frauen sollen als Menschen sichtbar sein.« 88 Warum geht es um die Menschenwürde der betroffenen Frauen? Nach Ateş »ist die Verhüllung der ultimative Ausdruck dessen, dass die Frau zum Sexualobjekt erklärt wird.« 89 Burkaträgerinnen dagegen würden sich auf ihre Religionsfreiheit und ihr Selbstbestimmungsrecht berufen und bestreiten, dass sie in ihrer Menschenwürde verletzt wären. So wie es
85 86 87 88 89
Vgl. zu Belegen Mack (2015), 96. Ebd., 100. Ebd. 100. Ateş (2016), 37. Ebd., 37.
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Frauen nicht von einer »wohlmeinenden« Autorität verboten sein sollte, sich auszuziehen, sollte es ihnen genauso wenig von anderen verboten werden, sich zu verhüllen. Wer dagegen mit einem im kantischen Sinn objektiven Menschenwürdeverständnis argumentiert, also analog zum Peep-Show-Fall oder bezüglich freiwilliger Prostitution davon ausgeht, dass eine Burkaträgerin ihre eigene Würde verletzt, verbindet die Menschenwürde mit Pflichten gegen sich selbst. Ein anders gelagertes Beispiel stellt im Hinblick auf die Grenzen der Religionsfreiheit der Konfliktfall der Beschneidung von Jungen dar. Gerade vor dem Hintergrund der jüngeren deutschen Geschichte ist besonders von Bedeutung, dass im Jahr 2012 ein Landgericht, nämlich das LG Köln, die Beschneidung von Jungen als tatbestandliche Körperverletzung qualifiziert hat. Damit wäre es gläubigen Juden und Muslimen in Deutschland nicht mehr erlaubt gewesen, ihre Jungen zu beschneiden. Die Beschneidung hat aber eine zentrale Bedeutung im jüdischen und muslimischen Glauben. Sie stellt das Bundeszeichen Gottes mit den männlichen Mitgliedern seines Volkes dar. Hätte das Urteil Bestand gehabt, hätte dies das jüdische und muslimische Leben in Deutschland schwerwiegend beeinträchtigt. Durch eine Neuregelung im Bürgerlichen Gesetzbuch, wonach eine gemäß anerkanntem medizinischen Sachstand durchgeführte männliche Beschneidung zulässig ist, konnte das Problem gelöst werden. Dennoch zeigt das Urteil des Landgerichts, wie problematisch Religionsfreiheit immer dann wird, wenn sie mit bestimmten gesellschaftlichen Vorstellungen kollidiert: Darf eine muslimische Beamtin ein Kopftuch tragen; darf dies eine katholische Ordensschwester in einer staatlichen Schule tun? Dass der Staat ein Recht hat, dem Grundrecht auf Religions- und Gewissensfreiheit Grenzen zu ziehen, kann nicht bezweifelt werden. Wer beispielsweise die alten phönikischen Götter verehren möchte, darf dennoch keinesfalls diesen, wie es vor 3000 Jahren religiöse Vorschrift war, sein erstgeborenes Kind opfern. Auch heute noch gibt es Angehörige bestimmter Religionen, die aus religiösen Überzeugungen heraus lebensrettende Maßnahmen verweigern. Auch wenn dies nicht aktive Tötungshandlungen sind, hat sich der Staat entschlossen, hier Schranken zu setzen. So darf Eltern, die sich als Zeugen Jehovas bekennen, das noch nicht volljährige Kind entzogen und unter Betreuung gestellt werden, wenn die Eltern eine lebensrettende Fremdbluttransfusion für dieses Kind verweigern. Die Zeugen Jehovas interpretieren nämlich die Bibel in der Weise, dass sie derartige 185 https://doi.org/10.5771/9783495817506 .
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Transfusionen als Gottes Geboten widersprechend ablehnen, selbst wenn die Transfusionen das Leben retten können. Wie beim Thema der Sexualität, so bleibt auch beim Thema der Religionsfreiheit also immer neu zu lernen, was es heißt, dass die Menschenwürde zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit ermächtigt, gleichzeitig aber durch die Gemeinschaftsbezogenheit auch eingeschränkt werden kann. Einen der schwierigsten Konfliktfälle in der Frage nach der Reichweite der eigenen Selbstbestimmung stellt heute das Problemfeld der Sterbehilfe dar, insbesondere der Konflikt, in welcher Weise die Beihilfe zum Suizid erlaubt sein sollte. Auch wenn die Selbsttötung nicht unter Strafe steht und es damit eigentlich nicht konsequent zu sein scheint, eine Handlung, die Beihilfe zu einer nicht strafbaren Handlung leistet, unter Strafe zu stellen, gab es eine sehr heftige Debatte im Bundestag, die zeigte, wie verschieden Art. 1 und Art. 2 des Grundgesetzes ausgelegt werden können. 90 Ein Gesetzesentwurf, den etwa 30 CDU-Abgeordnete aufgrund ihrer Glaubensüberzeugung und zugleich mit Bezug auf Kant unterstützten, forderte die Strafbarkeit der Beihilfe, weil sie letztlich die Menschenwürde verletze. Ein anderer Gesetzesentwurf dagegen forderte mit Berufung auf die Menschenwürde, die mit Selbstbestimmung eng verknüpft sei, die Beihilfe grundsätzlich straffrei zu stellen. Schließlich wurde ein Gesetz beschlossen, das der Beihilfe Grenzen setzt. Zwar gilt laut Gesetz, dass die Beihilfe im Sinn des § 27 StGB zur Selbsttötung selbst straflos ist. Strafbar ist allerdings die geschäftsmäßige Förderung gemäß § 217 StGB. Dabei bedeutet »Geschäftsmäßigkeit«, anders als im umgangssprachlichen Sprachgebrauch, auch ein auf Wiederholung angelegtes Handeln, selbst wenn dieses ohne Gewinnerzielungsabsicht geschieht. Das Gesetz hat zur Folge, dass sich im Wiederholungsfall ein Arzt, eine Pflegekraft oder Mitarbeiter eines gemeinnützigen Sterbehilfevereins strafbar machen können. Durch das Verbot der »Geschäftsmäßigkeit« bleiben diese Personengruppen auch in denjenigen Einzelfällen von Strafverfolgung bedroht, hinsichtlich derer fast alle Abgeordneten in ihren Reden beteuerten, dass sie weiterhin erlaubt sein sollten.
Bereits in der Hinführung des Buchs wurde dieser Konfliktfall thematisiert und die vier Gesetzesvorhaben im Deutschen Bundestag, die als Lösung dieses Konflikts vorgeschlagen wurden, kurz dargestellt.
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Der Gesetzentwurf, der sich also durchsetzte, verband zwar im Buchstaben des Gesetzes die Menschenwürde eng mit der Selbstbestimmung, in den Auswirkungen des Gesetzes hatte jedoch die Sorge um den objektiven Lebensschutz Priorität. Diese Sorge war nämlich der entscheidende Grund für die letztlich getroffene, sehr vorsichtige Regelung, welche die Möglichkeiten einer Beihilfe klar einschränkt, um so zu vermeiden, dass Suizidbeihilfe bei Geschäftsmäßigkeit zur Normalität werden könnte. In der Argumentation für diesen Gesetzesentwurf war ein Dammbruchargument spürbar, das Beauchamp und Childress in ihrer weltweit rezipierten Medizinethik Principles of Biomedical Ethics formuliert hatten: »Regeln in unserem moralischen Regelwerk gegen das aktive oder passive Verursachen des Todes einer anderen Person sind nicht isolierte Fragmente. Sie sind Fäden in einem Regelwerk, das Achtung vor menschlichem Leben unterstützt. Je mehr Fäden wir entfernen, umso schwächer wird das Regelwerk. Wenn wir auf Verhaltensänderungen unsere Aufmerksamkeit richten, nicht nur auf Regeln, könnten Verschiebungen in der öffentlichen Handhabung die allgemeine Einstellung zur Achtung vor dem Leben aufweichen. Verbote sind oft sowohl instrumentell als auch symbolisch von Bedeutung, und ihre Aufhebung kann eine Menge von Verhaltensweisen ändern […].« 91
Wenn man diese Überlegung teilt, so ist es gut nachvollziehbar, dass der Lebensschutz eine so hohe Bedeutung einnimmt. Allerdings besteht dabei die Gefahr, das Selbstbestimmungsrecht, das Recht auf die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit zu sehr einzuschränken. Als geklagt wurde, dass in bestimmten Extremfällen ein Sterbender das Recht auf die Beihilfe zur schmerzlosen Selbsttötung habe, kam das Bundesverwaltungsgericht am 2. März 2017 zu einem Urteil, das man zugleich als Affirmation der Menschenwürde im Sinne eines »Fundaments« von Rechten, nicht von Pflichten ansehen kann: »Das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG umfasst auch das Recht eines schwer und unheilbar kranken Patienten, zu entscheiden, wie und zu welchem Zeitpunkt sein Leben beendet werden soll, vorausgesetzt, er kann seinen Willen frei bilden und entsprechend handeln. Daraus kann sich im extremen Einzelfall ergeben, dass der Staat den Zugang zu einem Betäubungsmittel nicht verwehren darf, das dem Patienten eine würdige und schmerzlose Selbsttötung ermöglicht. [… Schwer und unheilbar Kranken] darf der Zugang zu einem verkehrs- und verschrei91
Beauchamp/Childress (2013 [1979]), 180 (eigene Übersetzung).
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bungsfähigen Betäubungsmittel, das eine würdige und schmerzlose Selbsttötung erlaubt, nicht verwehrt sein.« 92
Vor diesem Hintergrund lassen sich die bisherigen Gesetze zur Sterbehilfe im Sinn eines Menschenwürdeverständnisses interpretieren, das mit Grundrechten verbunden ist, während die Pflichten sich aus der verfassungsmäßigen Ordnung und aus dem Sittengesetz ergeben, nicht aber aus der Würde des Menschen selbst. Es geht um den Schutz des Lebens, aber nicht darum, mit der Menschenwürde Pflichten gegen sich selbst zu verbinden. Es sind also das Sittengesetz und die verfassungsmäßige Ordnung, die freilich in ihrer Bedeutung ebenfalls immer neu zu verstehen sind, wie das Beispiel der Abschaffung der Strafbarkeit homosexueller Handlungen beweist. Auch im Fall des Kannibalen von Rotenburg, von dem in der Hinführung die Rede war, ging es deshalb bei seiner Verurteilung darum, den Lebensschutz zu verbürgen. Die Handlung des Kannibalen konnte deshalb auch mit Recht schwer bestraft werden, weil es sich um eine Verletzung unserer verfassungsmäßigen Ordnung handelte, die von Voraussetzungen lebt, die sie nicht aus sich heraus begründen kann, also einer »Vorstellung« von sittlicher Ordnung, die immer neu verstanden werden muss, aber doch im Fall des Lebensschutzes klare Grenzen setzt. Auch andere Beschränkungen von Freiheitsrechten, z. B. der Zwang zur Gurtpflicht beim Autofahren, lassen sich in dieser Weise deuten. Es geht nicht darum, dass uns die Würde selbst dazu verpflichtet, den Gurt anzulegen, sondern der objektive Schutz unseres Lebens wird durch den Staat paternalistisch eingefordert, weswegen er zum Anlegen der Gurte verpflichtet. Dieser Paternalismus ist freilich umstritten und lässt sich eventuell besser damit rechtfertigen, dass die Kosten für gesundheitliche Schäden nach einem Unfall nicht durch den Einzelnen getragen werden, weswegen er zu einem Mindestmaß an Schutz der eigenen Gesundheit verpflichtet werden kann. Auf diese Weise lässt sich auch begründen, warum wir bestimmte Substanzen nur auf Rezept oder überhaupt nicht rechtmäßig bekommen können. Dieser Anspruch auf Fürsorge durch den Staat ist auch der Grund, warum er uns in die Pflicht nehmen darf, ohne damit unser Grundrecht auf Entfaltung der freien Persönlichkeit oder sogar unse92
BVerwG 3 C 19.15.
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re Menschenwürde zu verletzten. Beispielsweise kann er nicht nur verbieten, dass wir bestimmte Substanzen zu uns nehmen, sondern er kann uns sogar verpflichten, dass wir uns impfen lassen. So war die Pockenschutzimpfung bis 1975 in der alten Bundesrepublik verpflichtend. Hier spielt die sogenannte Herdenimmunität eine Rolle. Nur wenn ein genügend großer Anteil der Population geimpft ist, kommt es bei einzelnen Infektionen nicht zur rasanten Ausbreitung. Auch gab es zur Bekämpfung der Tuberkulose lange Zeit eine verpflichtende Röntgenuntersuchung. Bis heute können Schulen einfordern, dass Kinder gegen Hepatitis A geimpft werden müssen, wenn an ihrer Schule ein solcher Fall aufgetreten ist. Andernfalls wird ihnen der Zutritt zur Schule verboten. Trotzdem könnte man fragen: Instrumentalisiert ein solcher Zwang nicht den Betroffenen in einer Weise, dass seine Würde verletzt wird? Bereits in seinem Grundgesetzkommentar hat Dürig in den Fünfzigerjahren zu dieser Problematik Stellung genommen: »Selbst wenn man also – an sich völlig abwegig – im Menschen nur das reine Subjekt der Logik sieht, das in rein äußeren, sozialethisch ganz indifferenten Beziehungen zu ebenso beschaffenen Subjekten steht, hat die dem Staat nach Art. 1 I Satz 2 obliegende Schutzverpflichtung bewirkt, dass den einzelnen Angehörigen dieses schutzverpflichteten Verbandes mindestens insoweit von vornherein auch Pflichten treffen, wie ohne ihre Erfüllung die staatliche Schutzpflicht nach Art. 1 I Satz 2 nicht realisierbar ist. Bereits in Art. 1 I wird also der Mensch auch als Pflichtsubjekt vorausgesetzt und davon ausgegangen, dass durch die Erfüllung gesetzlicher Pflichten der Mensch als solcher keine Einbuße in dem ihm zukommenden Wert- und Achtungsanspruch erleidet, wenn dadurch der Staat überhaupt erst in die Lage versetzt wird, die menschliche Würde zu schützen. So hat etwa der BayrVerfGH zutreffend entschieden, dass die gesetzliche Verpflichtung zur Röntgenreihenuntersuchung die Menschenwürde nicht antastet.« (Dürig (1958), 24 f.).
Im Ergebnis hält er fest – und dies ist bis heute die herrschende Meinung –, dass von uns bestimmte Pflichten abverlangt werden können. 93 Aber, und das ist hierbei entscheidend, diese unsere Pflichten Vor diesem Hintergrund verwundert es, dass beispielsweise die Masernimpfung nicht verpflichtend ist. So haben z. B. sehr kleine Kinder (< 1Jahr), weil sie selbst noch nicht gegen Masern geimpft werden können, im Fall einer Ansteckung unter Umständen einen sehr schwerwiegenden Verlauf mit zerebralen Folgeschäden zu erwarten. Um sie zu schützen bedarf es im Besonderen des möglichst breiten Impfschutzes aller Übrigen, bei denen sie sich sonst anstecken könnten.
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sind nicht Pflichten aufgrund unserer eigenen Menschenwürde, sondern Pflichten zum Schutz und Wohl der Menschenwürde anderer: »Eine Verfassung, welche die Würde des Menschen in den Mittelpunkt des Wertsystems stellt, kann bei der Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen grundsätzlich niemandem Rechte an der Person eines anderen einräumen, die nicht zugleich pflichtgebunden sind und die Menschenwürde des anderen respektieren.« 94
In dieser Weise ist auch der Satz des Grundgesetzes Art. 14 Abs. 2 GG: »Eigentum verpflichtet«, zu verstehen. Diese Verpflichtung, die beispielsweise die Steuergesetzgebung rechtfertigt, verletzt weder die Menschenwürde noch beschränkt sie das eigene Selbstbestimmungsrecht in unzulässiger Weise. Sie ermöglicht dem Staat nämlich gerade, seinen Verpflichtungen nachzukommen. Aber in allen Fällen gilt: Alle diese Pflichten sind sehr gut zu begründen. Der Staat muss die Verhältnismäßigkeit (legitimer Zweck, Geeignetheit, Erforderlichkeit, Angemessenheit) ebenso wahren wie eine überzeugende Gemeinwohlbegründung vorlegen. Damit verbunden ist ein weiterer Problemkreis. Lange Zeit war umstritten, ob der Staat aufgrund der zu schützenden Menschenwürde die Verpflichtung hat, uns notwendige Bedingungen zur Verfügung zu stellen, damit unser Leben nicht gefährdet ist. Haben wir also aufgrund unserer Menschenwürde und aufgrund des Grundrechts auf Leben und Entfaltung unserer Persönlichkeit ein subjektives Recht auf ein »menschenwürdiges« Dasein, also auf materielle Lebensbedingungen, die notwendig sind, um sich frei entfalten zu können? 95
4.6.3 Subjektives Recht auf ein »menschenwürdiges« Dasein Im ersten großen Kommentarwerk zum Grundgesetz verteidigte Dürig mit Verweis auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Witwenversorgung von 1951, in der das Gericht ein subjektives Recht aufgrund der Menschenwürde verneint hatte, noch dessen UrBVerfGE 24, 119 (144). Im Folgenden beschränke ich mich auf diese Frage und verzichte auf hochsensible Themen, die eng mit subjektiven Rechten verbunden sind wie Inklusion, das Thema geschlechtergerechter Arbeitsplatzchancen und Bezahlung usw., da dies den Umfang des Buchs sprengen würde.
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Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte
teil mit der Begründung, »dass auch das positive Tun des ›Schützens‹ abwehrende Staatstätigkeit und nicht positive Gestaltung ist« 96. Andererseits hatte Dürig bereits in demselben Kommentar mit der Aussage: »Die Menschenwürde als solche ist auch getroffen, wenn der Mensch gezwungen ist, ökonomisch unter Lebensbedingungen zu existieren, die ihn zum Objekt erniedrigen« 97, bereits den Weg zu staatlichen Hilfeleistungen aufgrund der Menschenwürde angedeutet. Allerdings sollte es bis zum Februar 2010 dauern, ehe das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zu »Hartz-IV« erstmals ein »Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums« 98 anerkannte. Die entscheidende Passage des Urteils, die explizit der lange Zeit gültigen Interpretation von Art. 1 GG widersprach, wonach ein subjektives Recht aufgrund der Menschenwürde verneint worden war, lautet: »a) Art. 1 Abs. 1 GG erklärt die Würde des Menschen für unantastbar und verpflichtet alle staatliche Gewalt, sie zu achten und zu schützen […]. Als Grundrecht ist die Norm nicht nur Abwehrrecht gegen Eingriffe des Staates. Der Staat muss die Menschenwürde auch positiv schützen […] Wenn einem Menschen die zur Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins notwendigen materiellen Mittel fehlen, weil er sie weder aus seiner Erwerbstätigkeit, noch aus eigenem Vermögen noch durch Zuwendungen Dritter erhalten kann, ist der Staat im Rahmen seines Auftrages zum Schutz der Menschenwürde und in Ausfüllung seines sozialstaatlichen Gestaltungsauftrages verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass die materiellen Voraussetzungen dafür dem Hilfebedürftigen zur Verfügung stehen. Dieser objektiven Verpflichtung aus Art. 1 Abs. 1 GG korrespondiert ein Leistungsanspruch des Grundrechtsträgers, da das Grundrecht die Würde jedes individuellen Menschen schützt […] und sie in solchen Notlagen nur durch materielle Unterstützung gesichert werden kann.« 99
Aus der Menschenwürde ergibt sich auch ein subjektives Recht auf eine angemessene medizinische Versorgung, denn diese ist notwendige Bedingung für ein »menschenwürdiges« Leben. Analog zur Festlegung des Existenzminimums ist auch hier ein immer neuer Aushandlungsprozess darüber nötig, wie weit die Ansprüche reichen. 100 Dürig (1958), 5. Vgl. BVerfGE 1, 97 (104). Dürig (1958), 21. 98 Hier zitiert nach Baldus (2016), 231. 99 BVerfGE 125, 175 (222). 100 Vgl. dazu Knoepffler/Daumann (2018). 96 97
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Würde und Freiheit als Recht zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit
Nur zwei Jahre nach dem Urteil von 2010 hat das Bundesverfassungsgericht das »menschenwürdige« Existenzminimum als »Menschenrecht« 101 bezeichnet, das auch ausländischen Staatsangehörigen zukomme, wenn sie sich in Deutschland aufhalten. Dies berührt eine Frage, die gerade in unserer Zeit von großer Dringlichkeit ist. Was bedeutet dieses Prinzip darüber hinaus im Hinblick auf das Grundrecht auf Asyl?
4.6.4 Asylrecht und seine umstrittenen Grenzen Art. 16a Abs. 1 GG hält knapp fest: »Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.« Dieser Artikel lässt sich sehr gut vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands verstehen. Asylsuchende Deutsche, die vor nationalsozialistischer Verfolgung fliehen wollten, deutsche Juden, aber auch andere Verfolgte des Regimes, wurden oftmals bei ihrem Ersuchen von anderen Staaten abgewiesen und überlebten ihre Verfolgung nicht. Das Bundesverfassungsgericht hat »politische Verfolgung« dabei eindeutig als »staatliche Verfolgung« 102 definiert und so von einer privaten Verfolgung, z. B. durch eine Verbrecherorganisation oder eine fanatische religiöse Gruppierung, unterschieden. Allerdings gilt auch eine Verfolgung als politisch, wenn die herrschende Partei die Verfolgung initiiert und die Staatsgewalt die von der Verfolgung Betroffenen nicht schützt. Dagegen gilt das Asylrecht nicht in dem Fall »anarchischer Zustände oder der Auflösung der Staatsgewalt« 103 oder aufgrund wirtschaftlicher Not. Dies hat einen guten Grund, da sonst mehr als eine Milliarde Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, prinzipiell asylberechtigt wären. Damit wird aber auch sehr deutlich, dass das Menschenwürdeprinzip des Grundgesetzes als staatliches Recht territorial gedacht ist. Wer sich auf deutschem Territorium befindet hat neben einem Anspruch auf grundlegende Abwehrrechte wie den Schutz seines Lebens und seiner körperlichen Unversehrtheit auch ein subjektives Recht, medizinische Versorgung in Anspruch nehmen
BVerfGE 132, 134 (hier zitiert nach Baldus (2016), 232). BVerfGE 80, 315 (333 f.): »Politische Verfolgung ist somit grundsätzlich staatliche Verfolgung«, so mit Verweis auf BVerfGE 9, 174 (180); 54, 341 (356–358); 76, 143 (157 f., 169), hier zitiert nach Bumke/Voßkuhle (2015), 334. 103 Vgl. BVerfGE 80, 315 (335 f.). 101 102
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Konsequenzen im Hinblick auf die Menschenrechte
zu dürfen und nicht zu verhungern. 104 Dagegen haben Notleidende in anderen Staaten keine subjektiven Rechte aufgrund ihrer Menschenwürde gegenüber dem deutschen Staat. Das Asylrecht ist also ein sehr klar definiertes und eingeschränktes Recht. Es gilt nur für diejenigen, die einer zielgerichteten staatlichen Verfolgung bzw. dem Unterlassen ihres Schutzes vor Verfolgung ausgesetzt sind, bei denen Grundgüter wie Leben, körperliche Unversehrtheit oder die Religionsfreiheit intensiv bedroht sind und die keine Fluchtmöglichkeit im eigenen Land in sichere Gebiete haben. Außerdem hat niemand einen Anspruch auf Prüfung seiner Asylbewerbung, wenn er aus einem sicheren Drittland einreist. 105 Mit Bezug auf diese Möglichkeit lehnte das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde dreier Tamilen ab, deren Asylersuchen abgelehnt worden war. Auch wenn sie wegen ihrer politischen Forderung nach einem unabhängigen Tamilenstaat schon mehrfach inhaftiert und misshandelt worden waren, sah es das Gericht als erwiesen an, dass es für sie sichere Gegenden auf Sri-Lanka gäbe. Wem freilich eine Prüfung seines Asylanspruchs gewährt wurde, der hat auf dem Territorium der Bundesrepublik ein subjektives Recht auf ein Existenzminimum aufgrund seiner Menschenwürde. Wie weit dieses Recht freilich reicht, ist umstritten. So gilt es als zulässig, die Selbstbestimmung von Asylbewerbern einzuschränken, beispielsweise bezüglich der freien Wahl ihres Wohnorts usw. Wer fordert, dass Deutschland aufgrund der Anerkenntnis der Menschenwürde alle Menschen aufnehmen müsste, die in Not sind, vertritt deshalb nicht das Menschenwürdeprinzip des Grundgesetzes, sondern ist inspiriert von einem Verständnis von Menschenwürde, das mit der Pflicht zur Nächstenliebe und zur Barmherzigkeit verbunden ist.
104 Freilich hat er, wenn er dies vermag, dafür zu bezahlen. Im andern Fall hat er nur Anspruch auf eine Versorgung im Notfall. 105 Allerdings ist dies bisher nicht abschließend durch das Bundesverfassungsgericht geklärt worden, weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (NVmZ 2011, 413 ff.) und auch der Europäische Gerichtshof (NVmZ 2012, 417 ff.) entschieden haben, »dass eine unwiderlegliche Vermutung der Sicherheit von EU-Mitgliedstaaten grundrechtswidrig ist« (Bumke/Voßkuhle (2015), 337).
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Würde und Freiheit als Recht zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit
4.7 Ergebnis Im Grundgesetz nehmen das Menschenwürdeprinzip und auch das mit ihm verbundene Freiheitsverständnis durch ihre Stellung als erste Artikel einen zentralen Platz ein. Diese Artikel sind Rechtssätze, die sich sowohl von theologischen als auch von philosophischen Sätzen unterscheiden. Sie sind Resultat eines Rechtsetzungsverfahrens, das nach klar bestimmten Regeln abläuft. In diesem Sinn sind sie Setzung, also positives Recht. Dies ist unbestritten, während es eine offene Frage ist, ob das Bekenntnis zur Menschenwürde und Freiheit als Entfaltung der eigenen Persönlichkeit reine Setzung ist? Sind für eine staatsrechtliche Betrachtung, wie Herdegen anmahnt, »allein die (unantastbare) Verankerung im Verfassungstext und die Exegese der Menschenwürde als Begriff des positiven Rechts maßgeblich« 106, oder gilt, was bereits viele Vertreter des Parlamentarischen Rats 1948, aber auch Verfassungsrechtler, z. B. Dürig, und Bundesverfassungsrichter wie Böckenförde betonten, dass sich das Grundgesetz und damit auch das Bekenntnis zur Menschenwürde vorpositiven Voraussetzungen verdanken? 107 Anders gefragt: Basiert die rechtliche Setzung ausschließlich auf einem Aushandlungsprozess, im konkreten Fall einem Aushandlungsprozess innerhalb des Parlamentarischen Rats unter Aufsicht der Alliierten? Ist sie eine reine kulturelle Konvention? Oder stellt das Bekenntnis zur Menschenwürde die rechtliche Fixierung einer vorgängigen Entdeckung eines Sinnhorizonts dar, »in dem sich dieses Gesetztsein erschließt« 108, als »kein vom Individuum oder der Gemeinschaft gesetzter oder entworfener, sondern ein entdeckter und anerkannter Horizont« 109? Es ist eindeutig, dass zumindest die große Mehrheit des Parlamentarischen Rats einen vorstaatlichen Geltungsgrund für ihr Bekenntnis zur Menschenwürde anerkannte, 110 denn die Präambel beginnt mit den Worten: »Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen«. Dieser Bezug verdeutlicht einerseits die Offenheit für einen transzendenten Sinnhorizont ohne ausdrück-
106 107 108 109 110
Herdegen (2005), Rn. 17. Vgl. beispielsweise das bereits zitierte Diktum Böckenfördes (2007 [1967]), 229 f. Vogel (2006), 25. Ebd., 25. Vgl. die Belege bei Herdegen (2005), Rn. 17.
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Ergebnis
lichen christlichen Bezug 111, in den das Grundgesetz eingebettet wird, andererseits die anthropologische Ausrichtung ohne eine bestimmte Interpretation der menschlichen Natur, sei sie naturrechtlich, kantisch oder nochmals anders gedacht. Es wird also keine »religiös und weltanschaulich homogene Gemeinschaft« 112 vorausgesetzt. Der Sinnhorizont ermöglicht es vielmehr, die geschichtliche Erfahrung der Grausamkeiten des Nationalsozialismus als wirkliche Verbrechen gegen Gott als nicht definierten, transzendenten Sinnhorizont und gegen uns Menschen zu verstehen. Dieser Rückbezug gibt dem Bekenntnis zur Menschenwürde und der mit ihr verbundenen Ermächtigung zur Freiheit in der Gemeinschaft des Volkes, in dessen Namen die Verbrechen begangen wurden, ihren tieferen Sinn. Nicht aufgrund von willkürlichen Setzungen, sondern weil es durch die Verbrechen an Menschen für uns Menschen einen unmittelbaren Evidenzcharakter hat, deshalb bekennt sich das deutsche Volk zur Menschenwürde und den Menschenrechten, die zugleich vom Einzelnen verlangen, seine Freiheit durch die Freiheit der anderen, die verfassungsmäßige Ordnung und das Sittengesetz begrenzen zu lassen, weil der Einzelne nur in Gemeinschaft existiert. Dieser Evidenzcharakter der Menschenwürde führt zu einem Bekenntnis von Würde und Freiheit, das nicht mit einer zufälligen Zuschreibung von Würde und Freiheit zu verwechseln ist, sondern aus tiefen Unrechtserfahrungen »geboren« ist. Darum bedarf dieser Evidenzcharakter von Menschenwürde und Freiheit im Grundgesetz nicht bestimmter religiöser oder metaphysischer Voraussetzungen. Auch sein Bedeutungsgehalt ist bei aller Ähnlichkeit nicht mit dem christlichen oder kantischen Verständnis zu verwechseln. Das Bekenntnis des Grundgesetzes zur Menschenwürde und zur freien Entfaltung der Persönlichkeit in ihrer Gemeinschaftsbezogenheit verpflichtet nicht dazu, Gott zu ehren oder aus praktischer Vernunft sich selbst das Gesetz des kategorischen Imperativs zu geben.
111 Im Unterschied hierzu hat sich die irische Verfassung von 1937 explizit zum dreieinigen, christlichen Gott bekannt. 112 Herdegen (2005), Rn. 17, der genau diese Voraussetzung fürchtet, weil daraus »Intoleranz gegenüber allen, denen der rechte Zugang zu den Gewissheiten einer überpositiven Wertordnung versagt ist« (ebd.) die Folge wäre.
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Würde und Freiheit als Recht zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit
Grundrechte Staatliches Verfassungsprinzip als Recht der Rechte Menschenwürde und Freiheit als Entfaltung der eigenen Persönlichkeit in Gemeinschaft Eingebundensein in die verfassungsmäßige Ordnung
Verbot vollständiger Instrumentalisierung Grenzen der Grundrechte aufgrund von Grundrechten anderer Pflichten im Rahmen der geltenden Gesetze
Abbildung 4: Menschenwürde im Grundgesetz (vereinfachte Darstellung)
Das Verständnis der Menschenwürde im Grundgesetz ist also weder einfach eine Synthese aus Athen, Rom und Jerusalem, auch wenn griechische Philosophie, römisches Rechtsdenken und jüdisch-christliche Glaubensüberzeugungen wesentlich zur Entstehung der Überzeugung der Würde jedes Menschen beigetragen haben, noch ist es Frucht der kantischen Philosophie. 113 Vielmehr ist seine Nähe zum Verständnis der Menschenrechtserklärung unübersehbar. Es geht im Verständnis der Menschenwürde vor allem um Grundrechte und damit darum, dem Einzelnen möglichst große Freiheitsspielräume zu ermöglichen.
113 Vgl. Joas (2011), 21, der davon überzeugt ist, dass »Werte wie der der universalen Menschenwürde und Rechte wie die Menschenrechte nicht in einer bestimmten Tradition ›eingesperrt‹« sind.
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5 »Familienähnlichkeit« der Würde- und Freiheitskonzeptionen
Das Verständnis der Menschenwürde der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, des Christentums, Kants und des Grundgesetzes zeigen wesentliche Gemeinsamkeiten, aber auch fundamentale Differenzen, was sich gerade im unterschiedlichen Verständnis der mit der Würde verbundenen Freiheitskonzeption zeigt. Dieser spezifische Gebrauch von Würde kann deshalb in Anlehnung an Wittgenstein am besten mit dem Begriff »Familienähnlichkeit« 1 ausgedrückt werden, den er, wie folgt, erklärt: »Betrachte z. B. einmal die Vorgänge, die wir »Spiele« nennen. Ich meine Brettspiele, Kartenspiele, Ballspiel, Kampfspiele, usw. Was ist allen diesen gemeinsam? […] wenn du sie anschaust, wirst du zwar nicht etwas sehen, was allen gemeinsam wäre, aber du wirst Ähnlichkeiten, Verwandtschaften, sehen, und zwar eine ganze Reihe. […] Und das Ergebnis dieser Betrachtung lautet nun: Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen. Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ›Familienähnlichkeiten‹ ; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc.«
Wittgenstein hat diesen Begriff »Familienähnlichkeit« also geprägt, um deutlich zu machen, wie die gleichen Worte dennoch nicht das Gleiche bedeuten, sondern die »Verwandtschaft […] ebenso unleugbar [ist] wie die Verschiedenheit.« 2 Es gibt in diesem Sinn ein gemeinsames Band zwischen den vier Konzeptionen, aber zugleich auch wesentliche Differenzen.
Der Begriff und die erklärenden Abschnitte stammen aus der Spätphilosophie Wittgensteins (1984 [1952], Nr. 66 f.). 2 Vgl. ebd., Nr. 76. 1
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»Familienähnlichkeit« der Würde- und Freiheitskonzeptionen
5.1 Gemeinsames Band Die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, das Christentum, Kant und das Grundgesetz stimmen darin überein, dass allen Menschen eine Würde zukommt, die keinen Preis kennt. Insbesondere bedeutet dies, dass jeder Einzelne als Subjekt anerkannt wird, das moralfähig ist und das nicht vollständig instrumentalisiert werden darf. Diese Würde wird nicht nur zugeschrieben, sondern anerkannt. Das Prinzip der Menschenwürde ist also gerade nicht auf eine empirisch feststellbare Wertigkeit des einzelnen Menschen gegründet, sondern sie gilt bedingungslos, weil uns Menschen, und zwar empirisch kontrafaktisch im Hinblick auf einzelne Menschen, Moralfähigkeit zugesprochen wird, sei es in der Menschenrechtserklärung aufgrund von Vernunft und Gewissen, im Christentum aufgrund der Gottebenbildlichkeit und Gottesbeziehung, bei Kant aufgrund der praktischen Vernunft oder im Grundgesetz aufgrund der Möglichkeit, Verantwortung zu übernehmen. Egal ob ein Mensch schwer geistig beeinträchtigt ist, egal ob ein Mensch für die Gesellschaft keinen Wert mehr zu haben scheint, ihm ist die Achtung seiner unbedingten Würde geschuldet. Darum kommt jedem Menschen ein Recht auf Leben zu, in das nur eingegriffen werden darf, wenn er zu einer ernsten Bedrohung für andere Menschen geworden ist. Jeder ist unabhängig von Rasse und Geschlecht darin fundamental gleich, dass ihm ganz wesentlich das Recht einzuräumen ist, sein Leben in Freiheit zu gestalten. Dafür sind ihm notwendige Lebensbedingungen zu gewährleisten. Doch bereits hier deuten sich wesentliche Unterschiede an, denn der Begriff »Freiheit« ist ebenso ein deutungsoffener Begriff wie der Umfang notwendiger Lebensbedingungen, die zu ihrer Verwirklichung mindestens notwendig sind.
5.2 Wesentliche Unterschiede Im Christentum ist die Würde des Menschen von Gott verliehen. Während der Mensch diese unbedingt anzuerkennen hat, ist es Gottes völlig freie Entscheidung, den Menschen in dieser Weise wertzuschätzen. Der eigentliche Sinn menschlicher Würde besteht darum auch in der Verherrlichung Gottes durch den eigenen Lebensvollzug. Darin sind alle Menschen gleich, dass sie daraufhin geschaffen und 198 https://doi.org/10.5771/9783495817506 .
Wesentliche Unterschiede
erlöst sind, Gott die Ehre zu geben bzw., was dasselbe ist, Gott mit allen Kräften zu lieben und den Nächsten wie sich selbst, und so ewiges Leben in der Gemeinschaft Gottes geschenkt zu bekommen. Diese fundamentale Gleichheit impliziert innerweltlich nicht notwendig eine Gleichheit im Staatsgefüge, weswegen im Lauf der Kirchengeschichte ganz unterschiedliche Gesellschaftsformen theologisch verteidigt wurden, vom Gottesgnadentum des absoluten Monarchen bis hin zu vielfältigen Formen demokratischer Staatswesen. Auch die kirchlichen Strukturen sind je nach Konfession teils – in politischer Nomenklatur – eine absolute Wahlmonarchie, so das Papsttum, oder synodal-demokratisch, so viele evangelische Kirchenverfassungen. Seit den Anfängen ist die Verherrlichung Gottes durch das eigene Leben untrennbar mit der Nächstenliebe verbunden, die keine völkischen und religiösen Grenzen kennt, so beispielhaft ausgedrückt in der Geschichte vom barmherzigen Samariter. 3 Die Hochachtung der Armen und Kleinen in der Gesellschaft ist ein Wesensmerkmal des christlichen Würdeverständnisses, weswegen das Christentum gerade auch für die unteren Schichten der Gesellschaft trotz fehlenden Engagements zur Ablehnung der Sklaverei 4 attraktiv war. Die Pflichten gegenüber dem Nächsten gehen weit über das hinaus, was beispielsweise Kant, die Menschenrechtserklärung oder das Grundgesetz verlangen, weil alle Freundschafts-, Familien und Volksbande zu überschreiten sind. Wer nur seine Familie und seine Freunde liebt, der tut nichts Besonderes. Die Nachfolge Christi ist viel radikaler zu verstehen. Dafür steht paradigmatisch die Forderung der Feindesliebe. Zu den Pflichten des Christen gehört die Nächstenliebe, die gerade im Armen, Obdachlosen oder Gefangenen Gott zu entdecken und zu lieben hat. Wer dies nicht tut, erleidet die »ewige Strafe« 5. Derartige biblische Strafandrohungen rechtfertigten im Lauf der Kirchengeschichte ein hartes Vorgehen gegen alle, die den gemeinsamen Glauben nicht teilten. Gottes Botschaft anzuerkennen und sich ihr gegenüber nicht zu verschließen, wurde lange Zeit als eine Pflicht gesehen, die mit der Menschenwürde verbunden ist. Wer dieser Die Samariter galten zur Zeit Jesu als ablehnungswürdige Ketzer. Dass Jesus es wagte, gerade ein Mitglied dieser Irrlehre als Vorbild der Nächstenliebe auszuzeichnen, lässt erahnen, warum er manchen verhasst war, denn er bestritt die gängigen Freund-Feind-Schemata. 4 Selbst Jesus spricht unbefangen davon, dass »ein Sklave nicht über seinem Herrn« (Mt 10,24) steht. 5 Mt 25,46. 3
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»Familienähnlichkeit« der Würde- und Freiheitskonzeptionen
Pflicht nicht nachkam, verlor seine Würde in dem Sinn, dass er sein Recht auf Leben verlor. Deshalb galten Ungläubige und Ketzer lange Zeit als die schlimmsten Feinde, gegen die Krieg zu führen (Zwangsbekehrungen, Kreuzzüge, Religionskriege) als gottgefällige Tat eingefordert wurde. Als Friedrich II. den zugesagten Kreuzzug immer wieder verschob, exkommunizierte ihn Papst Gregor IX. im Jahr 1227. Aber auch der schreckliche Umgang mit Menschen jüdischen Glaubens wurde theologisch gerechtfertigt. Dieser Antijudaismus war einer der Gründe für die Entwicklung des Antisemitismus mit seinem Hass auf alles Jüdische, der in der Shoa mit der Ermordung von Millionen Menschen jüdischer Herkunft gipfelte. Spätestens seit den Sechzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts haben sich alle großen Kirchen ausdrücklich von dieser Verfolgungsgeschichte distanziert. Dennoch bleibt auch heute noch eine wesentliche Differenz zum säkularen Würdeverständnis bestehen. Der Christ bleibt verpflichtet, nicht irgendwie seine Freiheit zu leben, sondern sie als Christ in der Nachfolge Jesu zu realisieren. Für die katholischen Kirchen heißt dies, den wahren Glauben in der Weise zu befolgen, wie er von der kirchlichen Autorität gelehrt wird. Nicht ohne Grund heißen die Oberhäupter der katholischen Kirchen, ob römisch-katholisch, orthodox oder altorientalisch, »Papst« bzw. »Heiliger Vater« oder »Patriarch«, weil die einzelnen Gläubigen ihm Gehorsam schulden. 6 Aber nicht nur die eigenen Gläubigen haben an der kirchlichen Botschaft Maß zu nehmen, sondern die Kirchen versuchen, ihren Überzeugungen in der Gesellschaft bis hinein in die Gesetzgebung Gewicht zu verleihen. Bis heute engagieren sich Christen in vielen Staaten politisch und versuchen, ihrem Freiheitsverständnis Gewicht und Gesetzeskraft zu geben. Dies gilt beispielsweise im Bereich der Medizinethik. So gibt es nach christlicher Morallehre Pflichten gegen sich selbst, beispielsweise das Verbot des Suizids am Lebensende als einer Handlung, in der derjenige, der sich selbst tötet, gegen seine eigene Würde verstößt. Als der Bundestag in Berlin 2015 über die Frage der Beihilfe zum Suizid über vier Gesetzesentwürfe abstimmte, gewann derjenige Entwurf die Abstimmung, der sehr weitreichende Beschränkungen der Beihilfe vorsah und der ganz wesentlich auch von kirchlicher Seite unterstützt wurde. Das Grundrecht auf Nichtdiskriminierung wegen des Geschlechts hat nach dem Verständnis der römisch-katholischen, ortho6
Vgl. beispielsweise CIC Can. 212 § 1, CIC Can. 218.
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Wesentliche Unterschiede
doxen und orientalischen Kirchen dort ihre Grenze, wo es um das Priesteramt geht. Dies steht nach deren Theologie nur Männern offen, weil nur dies dem Willen Gottes entspreche. Dies erinnert an die Problemstellung von Abrahams Opfer. Auch wenn es hier nicht um Leben und Tod eines Kindes geht, das Gott geopfert werden soll, sondern »nur« um eine Diskriminierung wegen des Geschlechts. Diese Diskriminierung wird als Gottes Wille gedeutet, weil Frauen Christus nicht repräsentieren könnten, wenn es um die Vollmacht der Sakramente und die Leitung der Kirche geht. Diese Funktionen werden mit seiner Männlichkeit verbunden bzw. Jesu Entscheidung, nur männliche Apostel zu wählen. 7 Die kantische Konzeption steht dem christlichen Verständnis in mehrfacher Hinsicht nah. So kennt auch Kant Pflichten gegen sich selbst und verurteilt auf das Schärfste Suizid, Homosexualität und jede Form sexueller Handlungen außerhalb der Ehe. In den Pflichten anderen gegenüber unterscheidet sich sein Verständnis allerdings insofern, als er nicht mehr die Radikalität der christlichen Forderungen übernimmt. Vielmehr ist sein kategorischer Imperativ eine formale Pflichtethik, die deshalb kein vergleichbares Liebesgebot kennt wie die christliche Ethik. Der wesentliche Unterschied zum Christentum und zur Menschenrechtserklärung sowie zum Grundgesetz besteht jedoch in seiner philosophischen Grundkonzeption. Im Unterschied zum Christentum verliert die menschliche Freiheit ihre transzendente Dimension, ihren göttlichen Bezug. Es geht nicht mehr darum, Gott zu lieben und zu ehren. Vielmehr ist sie als transzendentale Freiheit ausgewiesen, also als eine Freiheit, die gerade nicht die individuelle Freiheit des Einzelnen ist, sondern die transsubjektive Freiheit, die jedes Lebewesen hat, das praktische Vernunft besitzt. Es ist die Freiheit, sich selbst das moralische Gesetz zu geben, das wie die Naturgesetze in der Vorstellung des 18. Jahrhunderts ausnahmslos gilt und besagt, so zu handeln, dass die Maxime des Handels ein ausnahmslos gültiges Gesetz sein könnte. Dieses Gesetz ist gerade keine Konvention oder Konstruktion. Vielmehr gilt es absolut, und deshalb verlangt auch die Menschenwürde absolute Geltung, weil die Würde des Menschen darin besteht, der Menschheit die Ehre zu geben. Dies
Dagegen hat bereits die frühe Kirche bald auch Nichtjuden zu den Ämtern zugelassen, obwohl alle von Jesus erwählten Apostel nicht nur Männer, sondern jüdische Männer waren.
7
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»Familienähnlichkeit« der Würde- und Freiheitskonzeptionen
ist Kants praktische kopernikanische Wende, weil er an die Stelle Gottes die Menschheit setzt: Alles zur Ehren der Menschheit. Menschenrechtserklärung und Grundgesetz verbindet, dass sie beide aufgrund der Menschheitserfahrung entstanden sind, damit niemals mehr Menschen entwürdigt und millionenfach ermordet werden. Deshalb haben sich die internationale Gemeinschaft in der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen und das deutsche Volk im Grundgesetz jeweils im ersten Artikel ausdrücklich zur Menschenwürde bekannt. Sie ist nicht an Verdienste oder die Erfüllung bestimmter Pflichten gebunden, sondern kommt gerade bedingungslos zu, damit der Einzelne die Freiheit hat, seine eigene Lebensgeschichte zu schreiben bzw. seine Persönlichkeit zu entfalten. Darum ist sie auch nicht verlierbar. Die Würde hat hier eine in gewissem Sinn emphatische Bedeutung: Jeder Mensch gilt als gleicher und als Subjekt im Gegensatz zu jeder Ideologie, in der Menschen rassistisch als ungleich kategorisiert werden und auch der Einzelne für bestimmte Zwecke geopfert und so in seinem Subjektstatus missachtet werden darf. Dies ist keine bloße Annahme, sondern eine aufgrund geschichtlicher Ereignisse als Evidenz geborene gemeinsame Überzeugung: Unsere Rechtsgemeinschaft muss alle geborenen Menschen umschließen. Damit ist ein solches Verständnis von Würde eine echte Innovation gegenüber Christentum und kantischer Philosophie, und dies in dreifacher Hinsicht: 1. Nicht mehr ist wie im Christentum das Geschaffensein durch Gott und Gottes Beziehung mit uns der Grund der Würde, nicht mehr ist wie bei Kant die (empirisch nicht nachweisbare) Fähigkeit des Menschen als homo noumenon zur Selbstgesetzgebung (Autonomie) der Grund der Würde, sondern unsere aus Erfahrung gewonnene Einsicht, was es bedeutet, wenn Menschen aus der menschlichen Rechtsgemeinschaft ausgegrenzt und entwürdigt werden. 2. Diese Würde kann nicht mehr wie bei Thomas von Aquin oder Kant in dem Sinn verloren gehen, dass ein Mensch den Tod verdient, der sich unwürdig verhält, sondern selbst der Verbrecher behält seine Würde und hat einen Anspruch auf Achtung. Er darf nicht wie ein wildes Tier behandelt werden. Wenn die Presse manchmal Menschen als »Bestie« charakterisiert, so verliert sie genau dies aus dem Blick. Sie hat das Gespür verloren, worin eine zweite wesentliche Innovation des Menschenwürdeprinzips im Sinn von Menschenrechtserklärung und Grundgesetz besteht: Selbst der Mensch, der sich bestialisch 202 https://doi.org/10.5771/9783495817506 .
Wesentliche Unterschiede
aufführt, verdient die Achtung seiner Würde als Mensch. Er bleibt trotz bestialischer Taten Mensch, wird dadurch nicht selbst zur Bestie. 3. Nicht mehr bedingt die Menschenwürde Pflichten gegen sich selbst, sodass der Einzelne seine eigene Würde verletzen kann, wie das Christentum und Kant lehren, sondern unsere Pflichten ergeben sich aus der Menschenwürde der anderen. Der Achtung und dem Schutz ihrer Würde sind wir verpflichtet, damit alle Menschen die Freiheit zu einem selbstbestimmten Leben haben. Es sind diese drei zentralen Punkte, in denen sich das Prinzip der Menschenwürde in der Menschenrechtserklärung und im Grundgesetz vom christlichen und kantischen Menschenwürdeverständnis bei aller sonst bleibenden Ähnlichkeit ganz wesentlich unterscheiden. Das Prinzip der Menschenwürde im Sinne der Menschenrechtserklärung und des Grundgesetzes hat vor diesem Hintergrund einen Bedeutungsüberschuss zu allen Menschenrechten und eine heuristische Funktion. Die Menschenwürde ist unantastbar, Menschenrechte dagegen können in einer konkreten Situation miteinander in einen Konflikt geraten, wie die angeführten Beispiele gezeigt haben, vielleicht am deutlichsten die Folterproblematik. So berufen sich Menschen, die das Leben eines entführten Kindes retten wollen, indem sie den Entführer unter Androhung von Gewalt zur Preisgabe des Verstecks zwingen wollen, auf das Recht des Kindes auf Leben, während die Gegner einer solchen Form der Gewaltandrohung ihre Ablehnung mit dem Verweis auf das Recht des Entführers auf körperliche Unversehrtheit begründen. Der Konflikt zwischen diesen Rechten scheint unauflösbar, es sei denn, man entscheidet sich dafür, eher den Tod eines entführten Kindes in Kauf zu nehmen, als die Folter zuzulassen, oder umgekehrt, eher zu foltern, als den Tod des Kindes in Kauf zu nehmen. Trotz der sehr großen Ähnlichkeit zwischen dem Prinzip der Menschenwürde in der Menschenrechtserklärung und dem Prinzip der Menschenwürde im Grundgesetz gibt es doch einen zentralen Unterschied. Im Falle der Menschenrechtserklärung handelt es sich um eine internationale Erklärung, sodass im strengen juristischen Sinn dieser Erklärung Rechtsverbindlichkeit fehlt. Sie stellt Idealnormen auf, die, wenn sie wirksam würden, die Not der ganzen Welt lindern könnten. Hier treffen sich die Intentionen von Christentum, Kant und Menschenrechtserklärung. Im Grundgesetz ist das Prinzip der Menschenwürde hingegen rechtsverbindliches Konstitutionsprinzip der bundesdeutschen Verfassung, also eines Einzelstaats. Da203 https://doi.org/10.5771/9783495817506 .
»Familienähnlichkeit« der Würde- und Freiheitskonzeptionen
rum verpflichtet Art. 1 Abs. 1 GG auch nicht dazu, die Not der ganzen Welt zu lindern. In gewisser Weise drückt sich hier das bereits im griechischen und römischen Staatsdenken gültige Prinzip aus, dass die eigene Polis [lateinisch: civitas, deutsch: Staat] und damit die eigenen Bürger an erster Stelle stehen. Während die grundlegenden Abwehrrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit also universal gelten, sind die subjektiven Rechte, die Ansprüche an den Staat, damit einem bestimmten Personenkreis vorbehalten. So hat auch der deutsche Staat für die Ansprüche seiner Bürgerinnen und Bürger eine besondere Verantwortung, weswegen es sogar Grundrechte gibt, die nur für Deutsche gelten.
5.3 Gesamtergebnis Insgesamt lässt sich damit festhalten: Unbestreitbar finden sich christliche und kantische Spuren in der Menschenrechtserklärung und im Grundgesetz. Alle vier Konzeptionen von Würde und Freiheit verbindet, dass jeder Mensch als Subjekt anerkannt wird, das ein Anrecht hat, nicht für das Wohl der Vielen, des Staates oder einer Weltanschauung geopfert zu werden. Jeder wird zudem in dem Sinn als gleich anerkannt, dass das Wesentliche, was das Menschsein ausmacht, jedem in gleicher Weise offenzustehen hat. Was allerdings das Wesentliche ist, darüber gehen die Konzeptionen entscheidend auseinander. Menschenrechtserklärung und Grundgesetz verbindet trotz ihrer unterschiedlichen rechtlichen Wirksamkeit, dass sie Menschenwürde in erster Linie mit Rechten verbinden. Von daher verstehen sie die mit der Menschenwürde verbundene Freiheit als Selbstentfaltungsmöglichkeit der eigenen Persönlichkeit. Jeder darf seine eigene Lebensgeschichte schreiben. Diese Konzeptionen von Würde und Freiheit unterscheiden sich damit fundamental von der christlichen und der kantischen Konzeption, nach denen die Würde ganz wesentlich mit einem pflichtgebundenen Freiheitsverständnis verbunden ist. Christlich bedeutet dies, dass der Einzelne mit seinem Leben Jesus nachfolgen und so Gott ehren soll. Kantisch besteht die Würde in der Autonomie, also darin, sich selbst das allgemein gültige Gesetz des kategorischen Imperativs zu geben, dieses aus Pflicht zu erfüllen und so die Menschheit in jedem einzelnen Menschen zu achten. Zwar bleiben Menschenrechtserklärung und Grundgesetz christlich und kantisch anschlussfähig, aber sie können auch ohne diesen 204 https://doi.org/10.5771/9783495817506 .
Gesamtergebnis
Rückbezug einen eigenen Evidenzcharakter in einer pluralistischen Gesellschaft einfordern, der geschichtliche Wurzeln hat, ohne dadurch an Geltung zu verlieren. Die folgende Übersicht fasst dieses Ergebnis zusammen.
Menschenwürde als prinzipieller Subjektstatus und prinzipielle Gleichheit
Menschenrechtserklärung: internationale Idealnorm aufgrund geschichtlicher Erfahrungen
Freiheit als Recht, die eigene Lebensgeschichte aufgrund der Menschenrechte zu schreiben
Christentum: zentraler religiöser Wert aufgrund der Gottebenbildlichkeit und Gottesbeziehung
Freiheit als Aufgabe, Jesus nachzufolgen und so Gott zu ehren
Kant: absoluter moralischer Wert aufgrund menschlicher Autonomie
Freiheit als Aufgabe, den kategorischen Imperativ zu setzen und zu befolgen und so die Menschheit zu achten
Grundgesetz: nationales Verfassungsprinzip aufgrund geschichtlicher Erfahrung
Freiheit als Recht, die eigene Persönlichkeit im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung zu entfalten
Abbildung 5: Familienähnlichkeit der Konzeptionen (vereinfachte Darstellung)
Für die bundesdeutsche Gesellschaft steht in den kommenden Jahren an, weiter zu klären, welcher Spielraum der mit der Menschenwürde verbundenen Freiheit gewährt wird. So bleibt es eine bleibende, spannende Aufgabe herauszufinden, was wir unter Würde und Freiheit und, damit verbunden, was wir unter einem freiheitlichen Rechtsstaat verstehen.
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Verwendete Literatur
Im Folgenden ist weitgehend nur die im Text angegebene und direkt verwendete Literatur aufgeführt. Jede weitere Auswahl kann bei der internationalen Fülle der Literatur zu den hier gestellten Fragen nur unbefriedigend sein oder würde selbst den Umfang eines Buchs sprengen. 1 Die Zitate werden mit Ausnahme von Kant nach der neuen deutschen Rechtschreibung wiedergegeben. Hervorhebungen in Zitaten sind grundsätzlich von den jeweiligen Verfassern. Übersetzte Zitate sind im Literaturverzeichnis angegebenen Ausgaben entnommen, es sei denn, ich habe diese als eigene Übersetzung kenntlich gemacht. Als Verlagsort ist immer nur der erste Ort angegeben. Bei den Vornamen wird nur der erste Vorname abgekürzt genannt. Fachzeitschriften werden entweder nach den international üblichen Abkürzungen oder mit dem vollständigen Namen einschließlich Nennung der Jahrgangsnummer angegeben. Eine Besonderheit stellen bestimmte kirchenamtliche Texte dar, die nach offiziellen Abkürzungen angegeben sind. 2 Diese erschließt das Literaturverzeichnis. Biblische Zitate und Abkürzungen biblischer Bücher sind nach der Einheitsübersetzung der Jerusalemer Bibel wiedergegeben. Für antike und mittelalterliche Texte ist meist kein genaues Erscheinungsdatum bekannt. Darum werden sie im Text mit den üblichen Kürzeln und Zitationsweisen angegeben und im LiteraturverEine Besonderheit stellt der Umgang mit eigenen, bereits publizierten Vorarbeiten dar, die ich nicht wie Fremdzitate durch Anführungszeichen kennzeichne, selbst wenn ich Teile daraus wörtlich übernehme. Die entsprechenden Untersuchungen sind jedoch im Literaturverzeichnis aufgeführt. Ich folge hier der bisherigen geisteswissenschaftlichen Praxis, wonach es unüblich ist, sich selbst zu zitieren, da es für dieses Buch keine Impact-Faktoren wie in den Naturwissenschaften gibt. 2 Sie werden in Großbuchstaben geschrieben und nach Möglichkeit auch in Großbuchstaben abgekürzt, da es sich um Titel handelt, auch wenn sie üblicherweise nach den ersten Worten des jeweiligen Textes benannt sind. 1
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Verwendete Literatur
zeichnis mit den Jahreszahlen der Edition aufgeführt. Bei neueren klassischen Werken sind die Ersterscheinungsdaten in eckigen Klammern beigefügt. Sie werden nach der verwendeten, im Literaturverzeichnis angegebenen Edition mit Seitenzahl zitiert. Ackermann, U. (2013): Freiheit und Gleichheit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 34–36, 24–27. AL: Franziskus (2016): Amoris Laetitia. O. V.: Bonn. Andorno, R. (2009): Human dignity and human rights as a common ground for a global bioethics. In: Journal of Medicine and Philosophy 34, 223–240. Anselm, R. (2000): Menschenwürde als regulatives Prinzip in der Bioethik. In Knoepffler, N./Haniel, A. (Hg.) Menschenwürde und medizinethische Konfliktfälle. Stuttgart: Hirzel Verlag, 221–226. Anselm, R. et al. (2003): Starre Fronten überwinden. Eine Stellungnahme evangelischer Ethiker zur Debatte um die Embryonenforschung. In: Anselm/Körtner (Hg.) (2003), 197–208 (erstmals abgedruckt in etwas gekürzter Form im Jahr 2002 in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 19, 9). Anselm, R./Körtner, U. (Hg.) (2003): Streitfall Biomedizin. Urteilsfindung in christlicher Verantwortung. Vandenhoeck & Ruprecht: Göttingen. AP: Kongregation für die Glaubenslehre (1974): Declaratio de Abortu Procurato. In: AAS 66, 730–747. Aristoteles EN (1894): Ethica Nicomachea (hg. von I. Bywater). Oxford University Press: Oxford. Ateş, S. (2016): Ein Stück Stoff, das Frauen schadet. In: Bayernkurier 9/2016, 36 f. Baldus, M. (2016): Kämpfe um die Menschenwürde. Die Debatten seit 1949. Suhrkamp: Frankfurt (a. M.). Balzer, P. et al. (1998): Menschenwürde vs. Würde der Kreatur. Begriffsbestimmung, Gentechnik, Ethikkommissionen. Alber: Freiburg (i. B.). Barak, A. (2015): Human Dignity. The Constitutional Value and The Constitutional Right. Cambridge University Press: Cambridge. Baranzke, H. (2010): Menschenwürde zwischen Pflicht und Recht: Zum ethischen Gehalt eines umstrittenen Begriffs. In: Zeitschrift für Menschenrechte/ Journal for human rights 1,10–24. Baumbach, C./Kunzmann, P. (Hg.) (2010): Würde – dignité – godnosc – dignity. Herbert Utz Verlag: München. Beauchamp, T. L./Childress, J. F. (2013): Principles of Biomedical Ethics, 7. Aufl. Oxford University Press: Oxford. Benedikt XVI. (2008a): Rencontre avec le Membres de l’Assemblé Générale des Nations Unies. Discours du Pape Benoît/Ansprache an die Generalversammlung der UNO. In: AAS 100, 334. (deutsche Übersetzung: http://w2.vatican. va/content/benedict-xvi/de/speeches/2008/april/documents/hf_ben-xvi_spe_ 20080418_un-visit.html). Benedikt XVI. (2008b): Schöpfungsglaube und Wissenschaft widersprechen sich nicht. Ansprache an die Teilnehmer der Vollversammlung der Päpstlichen
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