Wozu Philosophie?: Stellungnahmen eines Arbeitskreises 9783110838190, 9783110075137


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German Pages [404] Year 1978

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Table of contents :
Vorwort
Was kann, soll und darf Philosophie?
Bemerkungen zur Frage "Was ist und soll Philosophie?"
Philosophie als Fokus und Forum
Skeptische Betrachtungen zur Lage der Philosophie
Der Streit der Philosophen
Philosophie oder Wissenschaftstheorie?
Wozu Philosophie? Aspekte einer ärgerlichen Frage
Über Esoterik und Exoterik der Philosophie
Zur Metaphysik-Funktion der Philosophie
Arbeitsteilige Philosophie?
Gedanken zur Frage: Wozu Philosophie?"
Wozu noch Philosophie?
Philosophieren nach dem „Ende der Philosophie"?
Ist Philosophie als Institution nötig?
Die Geliebte mit den vielen Gesichtern
Rolle und Funktion der Philosophie
Bibliographie - Rolle und Funktion der Philosophie
Namensregister
Teilnehmerverzeichnis
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Wozu Philosophie?: Stellungnahmen eines Arbeitskreises
 9783110838190, 9783110075137

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Wozu Philosophie? Stellungnahmen eines Arbeitskreises Herausgegeben von Hermann Lübbe

W DE

G 1978 Walter de Gruyter · Berlin · New York

Gedruckt mit Unterstützung der Fritz-Thyssen-Stiftung

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Wozu Philosophie? : Stellungnahmen e. Arbeitskreises / hrsg. von Hermann Lübbe. - Berlin, New York : de Gruyter, 1978. (De-Gruyter- Studienbuch) ISBN 3-11-007513-X NE: Lübbe, Hermann [Hrsg.]

1978 by Walter de Gruyter & Co., vormals G.J. Göschen'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz: Walter de Gruyter & Co., Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin

Vorwort Viele wissenschaftliche Untersuchungen, ja ganze Wissenschaften sehen sich seit einigen Jahren in mannigfachen Zusammenhängen unserer öffentlichen Kultur durch Relevanzfragen bedrängt. Die Frage „Wozu Geschichte?" ist dafür das Beispiel der größten Publizität mit erheblicher bildungs- und schulpolitischer Wirkung. Für die Philosophie gilt, bei schwächerem Interesse der Öffentlichkeit, Analoges. „Wozu Philosophie?" — so oder so ähnlich heißt es, seit einigen Jahren, in Überschriften zahlreicher Aufsätze und Bücher. Die diesem Band beigegebene Bibliographie von Jürgen Christian Regge, die Schriften umfaßt, die die Philosophie nach ihren Zwecken, Einrichtungen und Selbstverständigungen zum Thema haben, belegt das. Relevanzfragen sind in der Wissenschaftspraxis nicht Fragen einer Normalsituation. Es ist nicht normal, wenn Wissenschaftler in einem Maße, wie es für die Gegenwart konstatierbar ist, statt mit ihrer Wissenschaft sich mit der Beantwortung der Frage beschäftigen, wofür ihre Wissenschaft gut sei. In solcher Selbstbeschäftigung steckt ein pathologisches Moment; sie ist ein Krisenzeichen. Relevanzfragen sind Indizien eines Schwunds kultureller Selbstverständlichkeiten. Normalerweise werden ja Relevanzfragen nicht deswegen nicht gestellt, weil man, aufklärungsscheu, gegenüber Fragen, die Selbstkritik verlangen, sich verschlösse. Sie werden vielmehr deswegen nicht aufgeworfen, weil es müßig wäre, Selbstverständlichkeiten von problemloser Geltung in Frage zu stellen. Das gilt auch für die Philosophie in ihrer kulturellen und institutionellen Existenz und Verfassung. Die Philosophie, gewiß, ist eine Kunst, nach Fälligkeit Rückfragen an die Orientierungsbedingungen unserer theoretischen, moralischen, politischen und sonstigen Praxis zu stellen, die normalerweise im Aufmerksamkeitsschatten unserer praktischen Einstellungen liegen. Für die Philosophie ist es insofern tatsächlich charakteristisch, daß sie Bestände thematisiert und problematisiert, die außerhalb philosophischer Disziplin, ständig oder zeitspezifisch, den Status fragloser Prämissen haben. Aber die Philosophie, soweit sie in solcher Tätigkeit als Element und als wissenschaftliche Profession

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Vorwort

präsent ist, setzt doch im Regelfall ihrerseits eine Anerkennung voraus, die sie vom Druck permanenter Relevanznachweisverpflichtung entlastet. Es verriete eine romantische Präferenz für den Ausnahmefall, wenn man die Philosophie für eine Instanz der Dauerbeunruhigung hielte, die von der Wissenschaft bis zur Politik eo ipso den Argwohn der befestigten Mächte und ihrer Repräsentanten auf sich zöge. Selbst diejenigen Philosophien, die den Prädikator „kritisch" zum Bestandteil ihres Schulnamens erhoben haben, verdanken ja ihre Publizität primär nicht dem Respekt, den wir Philosophen wie anderen Bürgern schulden, die sich ihre Kritik, indem diese sich intern gegen totalitäre Unrechtsordnungen richtete, etwas kosten ließen. In liberalen Systemen ist demgegenüber Kritik als solche beifallsträchtig und im formalen Sinne systemkonform, und das kritische Bewußtsein inflationiert. In die Lage des Sokrates geraten Philosophen unter solchen Bedingungen kaum - nicht nur des Abstands im Range wegen, sondern vor allem deswegen, weil unter solchen Bedingungen die Fragen und Rückfragen der Philosophen nur in seltenen Ausnah me fälle n den Charakter einer öffentlichen Herausforderung annehmen. So darf man auch hinter der aktuellen Relevanzfrage „Wozu Philosophie?" nichts vermuten, worauf als Antwort erneut, sofern möglich, eine große Apologie nötig wäre. Die zitierte Frage wird ja heute bei uns primär auch im Blick auf die Rolle der Philosophie in den Einrichtungen der Wissenschaft und des öffentlichen Unterrichtswesens gestellt, und das nicht deswegen, weil man die Phüosophie in dieser ihrer Rolle für ein kulturell und politisch gefährliches Ferment der Zersetzung hielte. Wieso fragt man also „Wozu Philosophie?" A priori ließe sich natürlich die Vermutung nicht abweisen, daß die Philosophie sich diese Relevanzfrage deswegen zugezogen hat, weil sich auf sie eine befriedigende Antwort nicht mehr geben läßt. Indessen: es ist generell ein Kennzeichen der Gegenwart unserer wissenschaftlichen Zivilisation, daß das Potential der curiositas, der theoretischen Neugier, zur Legitimation unserer Wissenschaftspraxis sich zu erschöpfen scheint, und unter Relevanzkontrolldruck gerät die Philosophie insofern unspezifisch, nämlich wie etliche andere Wissenschaften auch. Auf der anderen Seite ist eine Änderung in der Legitimationsstruktur unserer wissenschaftlichen Kultur selber ein eminent orientierungskrisenträchtiger, also Philosophie herausfordernder Vorgang, und wir müßten uns, insofern, wissenschaftspraktisch und kulturell in einer eminent

Vorwort

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philosophischen Phase befinden. Das ist, wohlverstanden, tatsächlich der Fall, und zwar nicht nur wegen der Provokation zu philosophischer Reflexion, die von der Legitimationskrise der Wissenschaften ausgeht. Sozialer Wandel ist generell von Orientierungskrisen begleitet, und zwar im Sinne von Nebenfolgenlasten auch dann, wenn wir dem Wandel seiner Richtung nach zustimmen, ihn also wollen und ihm deswegen den Charakter des Fortschritts zuschreiben. Aber es wäre befremdlich, sich vorstellen zu sollen, daß die Philosophie, die als Antwort auf Orientierungskrisen herausgefordert wird, die in der Konsequenz sich beschleunigender Geschichte unsere Zivilisation im Ganzen betreffen, nach Umfang und Erscheinungsweise mit der akademischen Philosophie der Philosophischen Seminare identisch sein könnte. Vielmehr reicht die Philosophie, die in der Tat unsere kulturelle Gegenwart penetriert, von den fachwissenschaftsimmanent geführten Grundlagendebatten bis zu den ideologischen Produktionen kulturrevolutionären Ursprungs, und die professionelle Philosophie ist, darauf bezogen, insoweit lediglich die methodologische, topische und historische Disziplin dieser Philosophie, die innerhalb der Philosophischen Seminare eben nicht Produkt, vielmehr Thema ist. Je weiter und tiefer in einer dynamischen Zivilisation wissenschaftspraktisch und kulturell der Zwang zur Orientierungsrestabilisierung durchgreift, um so schwieriger wird es, das Ganze der Philosophie, in der eine Zivilisation jeweils diesem Zwang folgt, in der Einheit eines Faches zu reflektieren und zu disziplinieren. Bei jedem Versuch, das dennoch zu tun, sind Kompetenzmängelerfahrungen unvermeidlich. Dabei sind die Mängel an Fachwissenschaftskompetenz, im Ganzen, noch die geringsten, weil sie am ehesten noch durch spezialisierte Bemühungen sich ausgleichen lassen. Schwerwiegender sind, als Folgen abnehmender kultureller Reichweite unserer Primärerfahrungen, die Kompetenzverluste des common sense; denn für schwindenden common sense gibt es keine Kompensationen. Kurz: nach Maßgabe gegebener Nötigkeitsbedingungen ist die Lage der Philosophie ausgezeichnet; aber für die Möglichkeitsbedingungen, dem zu entsprechen, gilt nicht das gleiche. Das ist eine Lage, die für die Philosophie tatsächlich kritisch ist. Die Krise, auf die, insoweit, die Relevanzfrage „Wozu Philosophie?" zielt, wäre dann keine Irrelevanzkrise, vielmehr eine Überforderungskrise. Dabei beträfe diese Überforderungskrise nicht nur ein traditionsreiches akademisches Fach. Sie wäre darüber hinaus

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Vorwort

Reflex einer Zivilisation, die anwachsende Schwierigkeiten zeigt, ihrer selbst orientierungspraktisch gewachsen zu sein. Ob Irrelevanzkrise oder Überforderungskrise —: das Faktum der Häufigkeitszunahme im Auftritt der Frage „Wozu Philosophie?" war für einige Philosophen der Anlaß, im institutionellen Rahmen eines von der Fritz Thyssen Stiftung geförderten Arbeitskreises zwischen 1974 und 1977 im Abstand jeweils eines halben Jahres sich zur Erörterung jener Frage zu treffen. Die Querfrage nach der Veranlassung der Relevanzfrage „Wozu Philosophie?" interessierte dabei ebenso wie die Prüfung von Vorschlägen, wie man diese Relevanzfrage, nachdem sie einmal aufgeworfen worden ist, ebenso zweckmäßig wie sachgerecht beantworten sollte. Grundlage der Erörterungen waren die Referate, die hier in der Reihenfolge, in der sie gehalten wurden, abgedruckt sind. Ein Vorurteil will, daß Philosophen besondere Schwierigkeiten haben, über die Grenzlinien der Richtungen und Traditionen hinweg, die ihre Schulen trennen, sich zu verständigen. Die Teilnehmer des Arbeitskreises „Rolle und Funktion der Philosophie" (so der Arbeitstitel), der in seiner Zusammensetzung nach Ausweis der Teilnehmerliste eine Mannigfaltigkeit von Schulen repräsentiert, haben dieses Vorurteil nicht bestätigt gefunden. Bei Anwesenheit von Gästen aus Frankreich, aus Großbritannien sowie aus den USA dominierten im Arbeitskreis die Teilnehmer aus den westlichen deutschsprachigen Ländern. Parallel arbeitende Kreise in den genannten anderen Ländern haben sich konstituiert. Auch an ihnen partizipieren deutsche Kollegen als Gäste. Für die Förderung dieser Kooperationen und für die Gelegenheit, mit diesem Band der Öffentlichkeit ein Arbeitsergebnis vorzulegen, sei hiermit der Fritz Thyssen Stiftung und insbesondere ihrem Vorstandsmitglied, Herrn Professor Dr. Gerd Brand, gebührend gedankt. Einsiedeln, Dezember 1977

Hermann Lübbe

Inhaltsverzeichnis Vorwort RÜDIGER BUBNER: Was kann, soll und darf Philosophie? . . . FRIEDRICH KAMBARTEL: Bemerkungen zur Frage "Was ist und soll Philosophie?" HANS LENK: Philosophie als Fokus und Forum ODO MARQUARD: Skeptische Betrachtungen zur Lage der Philosophie ROBERT SPAEMANN: Der Streit der Philosophen JÜRGEN MITTELSTRASS: Philosophie oder Wissenschaftstheorie? HERMANN LÜBBE: Wozu Philosophie? Aspekte einer ärgerlichen Frage HERMANN KRINGS: Über Esoterik und Exoterik der Philosophie RAINER SPECHT: Zur Metaphysik-Funktion der Philosophie . WALTHER CH. ZIMMERLI: Arbeitsteilige Philosophie? JOSEPH J. KOCKELMANS: Gedanken zur Frage: Wozu Philosophie?" HANS MICHAEL BAUMGARTNER: Wozu noch Philosophie? . MANFRED RIEDEL: Philosophieren nach dem „Ende der Philosophie"? CARL FRIEDRICH GETHMANN: Ist Philosophie als Institution nötig? NORBERT HINSKE: Die Geliebte mit den vielen Gesichtern . . GERD BRAND: Rolle und Funktion der Philosophie JÜRGEN CH. REGGE: Bibliographie - Rolle und Funktion der Philosophie Namensregister Teilnehmerverzeichnis

V l 17 35 70 91 107 127 148 163 181 213 238 259 287 313 344 356 389 393

RÜDIGER BUBNER

Was kann, soll und darf Philosophie? Ah! I see - in at the palace door one day, out at the window the next. Philosopher, sir? Charles Dickens, The Pickwick Papers

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Die Philosophie befindet sich in einer ständigen Legitimitätskrise. Was das reine Denken soll,hat noch niemand verstanden, der es nicht selbst versuchte. Damit hat es sich nie anders verhalten. Bereits Plato hatte Mühe, dem Sokrates, der vom aristophanischen Spott bloß ins Reich der Wolken entrückt, von der Athener Gesellschaft dann als Jugendverführer aber physisch liquidiert worden war, im ,Gorgias' einen ehrenwerten Platz unter den Staatsführern und wahrhaft nützlichen Bürgern zu verschaffen. Endgültig ließe sich die Legitimitätskrise höchstens durch einen Gewaltstreich lösen. Erst wenn die Philosophen Könige sind, taucht die unstillbare Frage nicht mehr auf: Wozu Philosophie? In der Lage, die einzige Legitimationsinstanz zu sein und daher aller Sorgen vor Berechtigungsfragen ledig, in solcher Lage befand die Philosophie sich indes weder zu Platos Zeiten noch später jemals. Aristoteles suchte der reinen Theorie dadurch Reputation zu verschaffen, daß er insinuierte, ähnliches trieben die Götter auch. Danach gab es Jahrhunderte, wo Philosophie als Magd der Theologie ihre Existenz fristete, um sich in der beginnenden Neuzeit schließlich mit den naturwissenschaftlichen und technischen Evidenzen zu verbünden. Kant fand die Philosophie in einer so skandalösen Lage vor, daß man besser die Finger von der abgewirtschafteten Metaphysik ließ, es sei denn, sie wäre durch radikale Kritik der Vernunft an sich selbst derart neu zu begründen, daß sie inskünftig „als Wissenschaft wird auftreten können". Von dem Nachweis transzendentaler Existenzberechtigung hat die Philosophie dann einige Zeit ganz gut gelebt, bis die Substanz aufgebraucht war und sich im

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19. Jahrhundert die Frage wieder mit Macht erhob: Wozu noch Philosophie? Unter dem Eindruck jenes Zweifels stehen wir im Grunde heute noch. Die aktuelle Verwunderung, daß es so etwas wie Philosophie noch gibt und wozu das taugen soll, ist in meinen Augen ganz ephemer gegenüber dem Bruch der Legitimationsbasis in der nachhegelschen Epoche. Politische und historische Praxis einerseits, die populär werdenden Erfolge der Naturwissenschaft andererseits stehen als Türhüter an der Schwelle einer neuen Epoche der Krise des philosophischen Selbstbewußtseins. Zwar fällt das Praxispostulat nicht vom Himmel, es ist rückwärtig mit der hegelschen Philosophie, die ihre Zeit in Gedanken zu fassen vorgab, als Aufruf zur Verwirklichung der Gedanken vermittelt. Seither erborgt ein Teil der Philosophie die nötige Glaubwürdigkeit bei der Weltgeschichte höchstpersönlich, die, wenn irgend etwas, so ein philosophisches Konzept ist. Aber auch die Alternative eines Faktums der Wissenschaft stellt keine abrupte Neubesinnung dar. Es war der Hegelschüler K. Fischer, der die Logik zuerst als Wissenschaftstheorie instrumentierte. Damit ist das Zeitalter der philosophischen Legitimitätsanleihe bei den etablierten und allseits als Paradigma der Rationalität anerkannten Wissenschaften eingeläutet. Das Schibboleth praktischer Relevanz und die Residualexistenz angesichts des wissenschaftlichen Fortschritts sind die Merkmale der Legitimitätskrise der Philosophie, die aus dem 19. Jahrhundert ungelöst tradiert wird. Meine erste These lautet daher: Die Legitimitätskrise ist eine ständige Begleiterscheinung der Philosophie. Seit es Philosophie gibt, folgt ihr die Wozu-Frage wie ein Schatten. Es ist ein Irrtum, darin etwas historisch Neues zu sehen. Sogar die zeitgenössischen Formen der Legitimitätsbestreitung stammen aus dem 19. Jahrhundert. Aus der Feststellung der Anciennität der Legitimitätskrise folgt nun keineswegs das Recht zur Vernachlässigung, so als verjährten alte Fragen mit der Zeit. Im Gegenteil spricht die historische Beobachtung dafür, daß Philosophie die Legitimitätsfrage ernst nehmen und sich selber stets neu stellen muß. Ich sehe jedenfalls keinen Gerichtshof, vor dem die Frage Rechtens entschieden werden könnte, der entweder schlechterdings aphilosophisch oder der Philosophie nicht wenigstens zugänglich wäre. Aus ihrer Geschichte sollte Philosophie immerhin lernen, daß sie äußerlichen Fragen nach gesellschaftlicher Relevanz oder wissenschaftlicher Satisfaktionsfähigkeit nicht einfach nachgeben

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darf, wenn sie dieselben Fragen sich ihrerseits nicht auch stellen oder für sich aus Gründen der Vernunft anerkennen kann. Über die Bedeutung der Philosophie kann nicht jenseits der Philosophie oder unter Ausschluß philosophischer Erwägungen befunden werden. Gegen solche Einschüchterung hat Philosophie sich zu wehren. Die bohrende Nachfrage ,Wozu denn Philosophie?' und das entnervende Kopfschütteln des gesunden Menschenverstandes bedeutet im Falle der Philosophie so wenig ein Argument wie im Falle irgendeiner Wissenschaft. Der Gestalt von Philosophie, die unter ungeteiltem Beifall ein allgemein wohl angesehenes Wesen triebe, wäre wohl eher zumißtrauen. Ich spreche hier nicht von volkswirtschaftlichen, hochschulpolitischen oder wissenschaftsideologischen Gesichtspunkten, die allesamt ihr Recht haben. Ich spreche von der Ebene, auf der der Streit um die Berechtigung von Philosophie sinnvoll nur ausgetragen werden kann. Philosophie darf sich keinesfalls Erwartungen aussetzen, die sie nicht selber vertreten könnte, denn derlei entspringt aus dogmatisierten Wertsetzungen oder begründungsunfähigen Überzeugungen. Sie darf sich auch keinem Verdikt unterwerfen, an dessen Zustandekommen sie denkend nicht beteiligt war. Diese Weigerung, prinzipiell außerphilosophische Maßstäbe hinzunehmen, hat nichts mit einer obsoleten Arroganz von selbsternannten Weltweisen zu tun. Sie ergibt sich vielmehr logisch aus dem, was das Philosophieren immer tat, nämlich gerade dort Fragen zu stellen, wo es ihrer augenscheinlich nicht bedurfte, und Gründe zu verlangen, wo die Alltagsvernunft längst befriedigt war. Es hieße gegen die professionelle Fragehaltung des Philosophierens verstoßen, wenn ausgerechnet bei der Erörterung der Existenzberechtigung solchen Tuns einem Octroi gehorcht würde. Daraus folgt die zweite These: Die Legitimitätsfrage ist eigenste Sache der Philosophie, von deren Erörterung und Entscheidung sie nicht ausgeschlossen werden kann. Einer der ältesten Einwände gegen das philosophische Geschäft besteht in dem Verweis auf die lange Geschichte und das vermeintlich magere Ergebnis. Offenbar kann an einer Disziplin nicht viel daran sein, die länger als alle anderen bereits an der Arbeit ist und nahezu keine Fortschritte erzielt hat. Kaum eine der überlieferten Aufgaben scheint gelöst, vielmehr herrschen unvermindert Verwirrung und Schulstreit. Die der Diagnose zugrunde liegenden Fakten sind unbestreitbar, man muß sie aber ganz anders interpretieren. Die Tatsache

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eines immer wieder neu sich meldenden Interesses an Philosophie widerlegt die altkluge Skepsis, die sich nichts erhofft, wo auf nichts Sicheres zurückgegriffen werden kann. Die Erfahrung, daß wechselnde Epochen, verschiedene Situationen der intellektuellen und gesellschaftlichen Entwicklung, daß regelmäßig auch wissenschaftsinterne Auseinandersetzungen auf philosophische Reflexion rekurrieren, kann gar nicht im Lichte eines Fortschrittsglaubens verstanden werden, der sich an die Ansammlung positiver Ergebnisse eines etablierten Faches knüpft. Daß es mit der Philosophie nicht vorangeht, weil es immer um dasselbe geht, war eine alte sokratische Auskunft, in deren Ironie die Abweisung falscher Hoffnungen versteckt ist. Wieso aber schreitet Philosophie nicht wie die Wissenschaften voran? Eines der Resultate der neueren wissenschaftshistorischen und wissenschaftstheoretischen Debatte, das nicht ganz ohne Mitwirkung philosophischer Überlegungen zustande gekommen ist, besteht in gründlichem Zweifel am geradlinigen Evolutionismus des Erkennens. Wie auch immer es um den Fortschritt der Wissenschaft eigentlich stehen mag, man glaubt nicht mehr, daß Fortschreiten mit Vernunft schlechterdings identisch sei. Jedenfalls ist Philosophie gemäß der Evidenz ihrer Geschichte keine fortschreitende, sondern eine dauernde Tätigkeit des Geistes. Nur aufgrund einer Präokkupation mit dem Evolutionismus kann dies als Mangel gelten. Die Geschichte ist in Wahrheit kein Schicksal der Philosophie, sondern Ausdruck ihrer Natur. Die Züge des Historischen lassen sich deshalb nicht der menschlichen Unzulänglichkeit anlasten, die das Ganze der wahren Theorie erst nach und nach und über Irrtümer hinweg zu erfahren vermag, während die aufzubauende Theorie von Hause aus wie in allen Realwissenschaften keinen historischen Charakter trägt. Sogar das absolute System Hegels verdankt seine Absolutheit nur der denkerischen Verarbeitung der Geschichtlichkeit der Philosophie. Wie tief Philosophie von Geschichte geprägt ist, zeigt schon die Schwierigkeit, ohne historische Verweise zu sagen, was Philosophie ist. Wer das scheut, steht bei dem Versuch, ganz unter Verzicht auf Philosophiegeschichte möglichst direkt und unverblümt das Wesen der Philosophie zu definieren, in der größten Gefahr des engstirnigen Dogmatismus. Üblicherweise wird für die Philosophie die jeweils herrschende Mode ausgegeben. Das ist heute phänomenologische Wesensschau und morgen die Geworfenheit, einmal der Physikalismus und dann wieder die Logik der Umgangssprache. Dabei gehört

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schon an dem Beginn der Geschichte, deren belastete Erben wir sind, die Bestimmung der theoretischen Aufgabe durch sachorientierte Vergegenwärtigung vorliegender Positionen zum Konstituens der philosophischen Selbstverständigung. Was die Ideenlehre eigentlich leisten muß, zeigt die platonische Kritik an den Vorsokratikern, und die aristotelische Metaphysik präzisiert ihre Begriffe gar mit Hilfe einer geordneten Problemgeschichte. Philosophiegeschichte in einem nicht doxographisch-narrativen Sinne ist der Ort der Abklärung dessen, was eine jede philosophische Aktivität sich als Probleme auferlegt. Die historische Blickrichtung für ein Indiz der Dekadenz zu halten, ist nicht minder irrig als die Vermutung, die Legitimitätskrise sei spezifisch neueren Datums. Demgegenüber hat man häufig ein Kennzeichen der positiven Wissenschaften darin gesehen, daß sie ohne Rücksicht auf ihre eigene Geschichte angemessen zu studieren sind. Mehr noch, es bedeutet bereits ein Ausscheren aus der inhaltlichen Problembewältigung, wenn man sich statt für die in Lehrbüchern niedergelegte Doktrin für die in Vorworte verbannte Tradition des Faches interessiert. Mit dem jeweils neuesten Forschungsstand sind frühere Ansichten ein für allemal überholt. Die Annahme wissenschaftlichen Fortschritts hängt innerlich mit der Ungeschichtlichkeit des Forschungsinhalts zusammen. Nicht so im Falle der Philosophie. Die Fragwürdigkeit ihres Inhalts macht den Rückgriff auf frühere Vorschläge unerläßlich. Somit heißt es inadäquate Muster anlegen, wenn man den mangelnden Fortschritt innerhalb der Geschichte der Philosophie beklagt. Da Historizität zur Philosophie selber gehört, ist in ihr kein Progreß zu erwarten, der seiner Idee nach letztlich auf Überwindung des Geschichtlichen und definitive Präsenz der Wahrheit abzielt. Mit historischer Unbildung geht sicher eine für die Philosophie nicht zwangsläufig förderliche Borniertheit einher. Wer nur deshalb seiner Wahrheit gewiß ist, weil er keine Alternativen zur Kenntnis nimmt, hat kaum überzeugende Gründe auf seiner Seite. Borniertheit wird auch dadurch nicht rationaler, daß durch Schulbildung etwa eine sekundäre Stabilisierung eingeführt wird und potentielle Alternativen zum Schweigen gebracht werden. Freilich gilt auch das Umgekehrte. Aus einer undogmatischen Breite der Kenntnisse kann niemals auf die Tiefe des Gedankens geschlossen werden. Ich behaupte demnach in einer dritten These: Was Philosophie ist, läßt sich nicht unter grundsätzlicher Ausklammerung ihrer Geschichte

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entscheiden. Die Tradition der unterschiedlichen Antworten auf jene Fragen ist zugleich das Demonstrationsfeld der Regenerationsfähigkeit des Philosophierens. Die Philosophiegeschichte liefert nicht nur Beispiele einer permanenten Legitimitätskrise, sondern belehrt auch darüber, daß im Falle der Philosophie mindestens die Legitimitätskrise nicht fatal ausgeht.

II Dafür müssen sich freilich Gründe namhaft machen lassen. Der bloße Umstand, daß der prognostizierte Exitus seit eh und je nicht eingetreten ist, gibt zwar zum Nachsinnen darüber Anlaß, ob die Voraussetzungen solcher Prognose die Lebensquellen der Philosophie überhaupt erfaßten. Andererseits stellt ein kontingentes Überlebthaben noch nicht den Beweis der Existenzberechtigung dar und garantiert erst recht nicht die Aussicht weiterer Lebenschancen. An dieser Stelle beginnt ein neuer Gedankengang. Während ich bislang in der Hauptsache damit ausgekommen bin, bekannte Diagnosen anders zu deuten oder ihre Voraussetzungen zu bestreiten, wobei dem Versuch immerhin eine gewisse Plausibilität zugute gehalten werden mochte, langt dies Verfahren in der Folge nicht mehr zu. Die hermeneu tische Umdeutung von Erfahrungen endet, wo nicht gängige Einschätzungen korrigiert werden, sondern die einschlägigen Aufgaben der Philosophie genau zu umschreiben sind und ihre Aufstellung der Begründung bedarf. Nachdem zunächst in der Widerlegung einer von außen herzutretenden Skepsis durch Infragestellen von deren Fundamenten zu zeigen war, was Philosophie kann, muß jetzt gesagt werden, was sie soll. Eine lange herrschende Vorstellung von theoretischer Autonomie und Ursprünglichkeit hat verdeckt, daß die philosophische Reflexion sich wesentlich auf schon vorhandenes Wissen bezieht. Philosophische Gedanken fallen nie vom Himmel, sondern erwachsen auf einem vorphilosophischen Boden von Kenntnissen und Meinungen. Die Wissensvorgabe, die der verbreiteten Anschauung vom Philosophen als frei schwebendem Theoretiker widerspricht, macht die eigentliche Leistung des Denkens erst begreiflich und untermauert die reine Reflexion mit inhaltlicher Konkretion. Das vorhandene Wissen, auf das Philosophie sich bezieht, kann die Gestalt eines allgemeinen Weltverständnisses,

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gesellschaftlicher Gesamtorientierung oder geschichtlicher Auffassungen besitzen. Heute legen in aller Regel die Wissenschaften im weitesten Sinne jenes Wissen vor. Aus dieser besonderen historischen Lage der generellen Verwissenschaftlichung menschlicher Lebenseinstellungen kann jedoch keineswegs gefolgert werden, daß alle Philosophie stets und ausschließlich Wissenschaftstheorie sei. Der Bezug auf vorhandenes Wissen bringt die philosophische Reflexion in eine Sekundärposition, aber ihre Leistung ist deshalb nicht derivativ. Vielmehr besteht die philosophische Aufgabe gegenüber anderem Wissen in einer prinzipiellen Klärung, Begründung oder Kritik. Klärung dringt darauf, das in Ansichten und Redeweisen ohnehin bereits Gemeinte so unverwechselbar und allgemeinverständlich zu Bewußtsein zu bringen, daß auf es in der Folge intersubjektiv Verlaß ist. - Begründung wird immer dann verlangt, wenn Überzeugungen oder Behauptungen, die Gefolgschaft oder Zustimmung beanspruchen, den Nachweis allgemeiner Geltung erbringen müssen. - Kritik ist dort nötig, wo falsche Prätentionen und vermeintliche Rechtstitel auftreten, denen in Wahrheit die von ihnen reklamierte Verbindlichkeit und Vernünftigkeit nicht zukommt. Die drei genannten philosophischen Grundsatzfunktionen der Klärung, Begründung und Kritik bedürften keiner eigenständigen Disziplin, wenn sie von den Wissensformen, hinsichtlich deren sie nötig werden, selber problemlos erfüllt würden. Dies ist jedoch nicht der Fall, weil gemeinhin dasjenige, was Thema der Philosophie wird, im vorhandenen Wissen als sicher unterstellt, unreflektiert benutzt oder überhaupt nicht thematisiert wird. Die Eigenständigkeit philosophischer Reflexion angesichts des vorhandenen Wissens begründet sich aus dessen Vernunftmängeln. In der Hauptsache betreffen die von der Philosophie geübten Grundsatzfunktionen dreierlei, nämlich Begriffe, Verfahren und Einstellungen. Begriffe als die umfassendste und rationalste Weise der Weltvermittlung sind für alles Wissen konstitutiv und gehören zum ältesten Problembestand der Philosophie. Das Urbild dürfte die sokratische Frage sein. - Verfahren sind rationale Verhaltensweisen zur Wissensgewinnung und unterstehen daher der methodologischen Reflexion der Philosophie. Die gibt es ebenfalls seit der Kritik an der mathematischen Hypothesis, die der Dialektiker Plato vorträgt. - Einstellungen sind Handlungsdispositionen von einzelnen oder sozialen Gruppen, zu deren Prüfung Philosophie aufgerufen ist. Mit der Frage nach dem Guten installiert sich die Disziplin der Ethik

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und politischen Philosophie. - Für alle drei Typen von Grundsatzfragen der Rationalität gibt es von der Antike bis in die Gegenwart eine ununterbrochene Folge gültiger Exempel. Meine vierte These dürfte daher am wenigsten kontrovers sein: Philosophische Reflexion bezieht sich auf bereits vorhandenes Wissen zum Zwecke der Klärung, Begründung und Kritik, Die Gegenstände solcher Reflexion sind insbesondere Begriffe, Verfahren und Einstellungen. Es gilt nun, die entwickelte Aufgabenstellung mit der Behauptung einer charakteristischen Historizität der philosophischen Gedanken in Einklang zu bringen. Das vorhandene Wissen, von dem wir redeten, ist natürlich eine historische Größe, insofern von seiner Gegebenheit die Reflexion auszugehen hat. Das scheint mir so wahr wie unanstößig, und man mag sich gar fragen, ob damit mehr als eine bloße Trivialität erinnert wird. Die Feststellung des historischen Vorhandenseins von Wissen berührt dann erst eine brisante Zone, wenn der Wissensstatus derartigen Wissens durch die Erinnerung einer geschichtlichen Bedingheit etwa relativiert würde. Allein die Verquickung von Historic und Rationalität macht aus der schlichten Aufmerksamkeit auf Historizität einen Streitpunkt. Darüber wird aber noch gar nichts behauptet, wenn festgestellt wird, vorhandenes Wissen sei als solches ein historisches Faktum. Die am Faktum der Wissenschaft orientierte Philosophie hat immer vergessen, daß sie sich auch an einem historischen Faktum orientiert. Sie glaubte sich statt dessen eines unerschütterlichen Paradigmas von Rationalität sicher, wenn sie programmatisch auf das eine, alles Wissenswürdige umfassende und alles Wissensfähige sukzessive in sich aufnehmende Erkenntnisgebäude blickte. Der nachpositivistischen Diskussion der Wissenschaftstheorie ist es gelungen, die Faszination eines ahistorisch entrückten Faktums der Wissenschaft zu brechen. Es gehört zur Vorhandenheit eines gegebenen Wissens, kein Bewußtsein von seiner Historizität ausbilden zu können. Jedes Wissen, das von sich überzeugt ist, bleibt auf diese Weise naiv. Allein für die auf gegebenes Wissen bezogene Reflexion der Philosophie gewinnt die Dimension des Historischen Bedeutung. Reflexion auf gegebenes Wissen ist immer auch Reflexion auf dessen Gegebensein, und Reflexion auf das Gegebensein von Wissen bringt ein unaufgeklärtes Moment der Einschränkung der Rationalität zu Gesicht. Die philosophische Reflexion vermag die Grenzen der beanspruchten Ratio-

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nalität vorhandenen Wissens abzuschätzen, da sie solches Wissen als Wissen respektiert, aber zugleich in seiner Gegebenheit erkennt. Die Erkenntnis der Gegebenheit von Wissen aber erfolgt im historischen Vergleich. Es ergibt sich eine fünfte These: Indem Philosophie sich auf vorhandenes Wissen bezieht, erkennt sie dessen Gegebenheit als ein historisches Faktum. Sie erkennt damit ein jenem Wissen notwendig verborgenes, d. h. dessen Rationalitätsanspruch einschränkendes Moment. Die Überwindung einer Vernunftbeschränkung in historischem Zusammenhang kennzeichnet die besondere Reflexion der Philosophie. Wenn die philosophische Reflexion sich auf vorhandenes Wissen bezieht und dies eine historische Aufklärung darstellt, so fragt sich, was Philosophie denn darüber hinaus noch leiste. Die wohlfeile Versicherung, daß alles irgendwie historisch vermittelt sei, kann womöglich auch von anderer Seite bereitgestellt werden. Die These, Philosophie beziehe sich auf vorhandenes Wissen, impliziert nicht, daß die Reflexion sich in der fallweisen Konstatierung geschichtlicher Bedingtheit von Wissen erschöpft. Die Philosophie nimmt vielmehr Probleme auf, die im vorhandenen Wissen ungelöst bleiben, und es stellt ein Nebenergebnis solcher Reflexion dar, daß mit der Geschichtlichkeit des Vorhandenen die Grenze von dessen Rationalität erkannt wird. Die Einsicht in Rationalitätsschranken demonstriert als solche zwar formal das Recht der weitergehenden Reflexion, die sich aber inhaltlich bewähren muß. Kurz, nicht die formale und in jeder Situation gleich lautende Demonstration historischer Bedingheit ist Gegenstand der Philosophie, sondern die dank der Einschränkung des Wissens ungelösten Probleme in ihrer verschiedenen Bestimmtheit. Man mag einwenden, bei der Argumentation fehle ein Glied; denn aus der Einsicht in die Beschränktheit anderen Wissens folge nicht logisch die sachliche Bewältigung der dort liegengebliebenen Fragen. Es gilt also, noch einleuchtend zu machen, daß die Rationalitätsbeschiänkung, die in der Blindheit vorhandenen Wissens gegen seine jeweilige geschichtliche Lage zum Ausdruck kommt, sich unmittelbar in einem inhaltlichen Problemdesiderat niederschlägt, das als solches von philosophischer Reflexion diagnostiziert und einer angemessenen Lösung zugeführt werden kann. Es hält schwer, den entsprechenden Nachweis zu führen, da man den von der Philosophie traktierten Problemen nicht ohne weiteres ihre Herkunft aus einem historisch

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lokalisierbaren, in der Problembewältigung jedoch lückenhaften Wissenszusammenhang ansieht. Unter dem Fragenarsenal, das weithin als philosophischer Problembestand angesehen wird, finden sich auf den ersten Blick alle Spielarten zwischen den überzeitlichen, den sogenannten ewigen Rätseln, und den aktuellen Themen, die nach einiger Zeit wieder als überholt gelten. Nun liefert aber der Umstand, daß den Problemen, die die Philosophie als die ihren anerkennt, in höchst unterschiedlicher Weise Zeichen einer historischen Provenienz auf die Stirn gedrückt scheinen, noch keinen Beleg gegen den historischen Ursprung von Problemen. Die Philosophie soll Probleme ja als Probleme und nicht als historische Dokumente behandeln, sie vernachlässigt also zwangsläufig deren chronologische Signatur. Im übrigen gibt es zweifellos Probleme, die weiterwirken, solange der Wissenskomplex weiter besteht, dem sie entstammen. Beispiele dafür sind ontologische und logische Probleme, die sich stellen, solange es Annahmen über die Wirklichkeit und solange es sinnvolle Rede gibt. Ebenso ist mit vergänglicheren Problemen zu rechnen, die deshalb aber nicht für einer philosophischen Behandlung unwürdig gehalten werden sollten. Hierzu zählen m. E. die sogenannten Grundlagenprobleme der Wissenschaften, die in unserem Jahrhundert sich häufen. Hinsichtlich der Problemgenese ist es eine vernünftige Prämisse, daß alle Probleme zu irgendeinem Zeitpunkt einmal problematisch geworden sind. Fragen tauchen auf, und das pflegt unerwartet zu geschehen. Ein wohlgehüteter Kanon ewiger Themen hat dagegen das Fragliche verloren und wird zum Zierat einer fiktiven philosophia perennis. Der Versuch wäre reizvoll, jene Kardinalfragen der Philosophie, die überzeitliches Ansehen genießen, in einer historischen Situation jeweils vorgegebenen Wissens als Ort der Problemgenese zu situieren. Überspitzt formuliert gibt es nämlich die Logik erst seit Platos Sophistenkritik, auch das Gute stammt daher, das Sein verdankt sich einer vorsokratischen Kontroverse, die Willensfreiheit dem christlichen Theodizeeinteresse des Augustinus und das Selbstbewußtsein dem Fundierungsbedürfnis wissenschaftlicher Weltansicht nach dem Glaubensverlust. Die Vergegenwärtigung einer historischen Problemgenese hat mit historischer Nivellierung nicht das mindeste zu tun. Die genannte Überlegung verstärkt die Ernsthaftigkeit jener Fragen, statt sie zu mindern. Es gibt jene Fragen, und sie machen die Aufgaben der

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Philosophie aus. Aber es gibt sie erst seit einer bestimmten Situation unvollkommener Lösungskapazität des je vorhandenen Wissens. Die Einschränkung der Rationalität ist historisch festzumachen. Die Übernahme des Ungelösten als philosophische Probleme überwindet jene Rationalitätsschranke, und damit gewinnen die Probleme eine sachliche Bedeutung, die den historischen Moment hinter sich läßt. Ich halte demnach in meiner sechsten These dafür, daß die Sachprobleme der Philosophie in einer Situation limitierter Leistungsfähigkeit des vorhandenen Wissens entstehen, ihren historischen Ursprung aber dadurch ablegen, daß philosophische Reflexion jenes Rationalitätsdeflzit überwindet. In diesem Sinne verdient Hegels Wort durchaus Geltung, jede Philosophie sei ihre Zeit in Gedanken erfaßt. Die von der Philosophie ausgebildeten Gedanken beziehen sich auf vorhandenes Wissen, das sie als historisches Faktum vorfinden und dessen Rationalitätslücken sie als Sachprobleme erkennen. Das Gewahren von Problemen dort, wo das normale, die Alltagspraxis und die Wissenschaften tragende Wissen keine sieht, ruft die Arbeit des philosophischen Begriffs auf den Plan — soviel hatten wir behauptet. In welcher Weise wird indes die philosophische Begriffsarbeit von dem Verhältnis zu vorhandenem Wissen bestimmt, dem sie ihr Entstehen verdankt? Es liegt auf der Hand, daß philosophische Gedanken nicht einfach dasselbe auf dieselbe Weise weiterdenken können wie dasjenige Wissen, dessen Vernünftigkeit sie aufhelfen sollen. Eine Art Komplettierung des vorhandenen Wissens auf dem gleichen Niveau wäre kein philosophisches Verdienst, sondern eine immanente Verbesserung oder Korrektur. Ein Akt bloßer Komplettierung ist aber auch logisch ausgeschlossen, wenn gilt, daß die Philosophie solche Probleme erfaßt, die außerhalb ihrer gar nicht als Probleme erkannt werden. Damit wird nämlich gesetzt, daß der Ort, wo Probleme sich stellen, nicht zugleich der Ort sein kann, wo Lösungsmittel bereitstehen. Zeichnete es doch den besonderen Typ der von der Philosophie erfaßten Probleme aus, im Rahmen des jeweils vorhandenen Wissens eben nicht als problematisch aufzufallen. Problematisch werden diese Probleme erst im Lichte erweiterter Rationalität. Wie sieht Rationalitätserweiterung aber aus? Nach dem Gesagten steht eines fest: die philosophische Problemerkenntnis läßt sich grundsätzlich nicht von der Ebene des vorhandenen Wissens her präjudizieren. Das würde den Verlust der Spezifität philosophischer Leistung bedeuten und die relevante Problemdimension

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verschließen. Man muß daher annehmen, daß die eigentümlich philosophische Begriffsleistung im Gegenzug gegen die jeweils herrschende Rationalität sich nur bestimmen läßt. Die Bestimmung ist dann fürs erste negativ. Der philosophische Begriff denkt nicht so wie die Formen des Wissens, auf die er sich bezieht. Dennoch soll in der Philosophie, wenn in ihr überhaupt etwas geschieht, gedacht werden. Somit liegt die Struktur vor, daß zwei Weisen intellektueller Tätigkeit einen ungeteilten Rationalitätsanspruch erheben, wobei die eine sich nur negativ gegen die andere zu bestimmen vermag. Die negative Selbstbestimmung der einen läuft auf Bestreitung des Rationalitätsanspruchs der ändern hinaus. Der philosophische Gedanke legitimiert sich, indem er dem vorhandenen Wissen ungenügende Rationalität, einen Vernunftmangel, vorwirft. Die zwei Denkweisen unterscheiden sich daher so, daß die eine zeigt, daß die andere nicht vernünftig genug ist. Gelingt dieser Versuch, etwa im Nachweis latenter, aber unerkannter und daher nicht zu bewältigender Probleme, so muß das Eigenrecht der diesen Nachweis führenden Denkweise anerkannt werden, falls der Anspruch auf Rationalität überhaupt ernst genommen wird. Die Legitimierung des philosophischen Gedankens erfolgt auf dem Wege, einen Mangel an Vernunft im vorhandenen Wissen nachzuweisen und so dessen Rationalitätsanspruch zu bestreiten. Da die Existenzberechtigung der Philosophie, die stets von Legitimationskrisen begleitet ist, aufgrund ihres historischen Charakters nie ein für allemal in apriorischer Transzendentali tat sichergestellt werden kann, muß ein solcher Nachweis immer durch die Tat selber geführt werden. Mithin ist außer der reinen Formalstruktur des Nachweises nicht für jeden Fall und in alle mögliche Zukunft der Philosophie festzulegen, wie und an welchen Inhalten er zu vollziehen ist. Die Begründung philosophischer Vernunft durch Nachweis der Unzulänglichkeit, Bestreitung des Rationalitätsanspruchs und Überwindung eingeschränkter Vernünftigkeit im vorhandenen Wissen ist negativer Natur. Da ich die letzten Überlegungen als eine möglichst idiomfreie, aber möglichst adäquate Auslegung des Begriffs der Dialektik verstehe, so wie beispielsweise Plato oder Hegel ihn als eine formale und methodische Denktechnik der Philosophie entwickelten, lautet die siebente These wie folgt: Der philosophische Gedanke bestimmt sich wesentlich negativ gegen das vorhandene Wissen, indem er dessen Rationalitätsanspruch bestreitet und in seine Schranken weist. Die tätige Überwindung eingeschränkter Rationalität erwirbt sich durch die Erweite-

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rung der Vernunft einen eigenen Rechtstitel. Dieses Verfahren heißt Dialektik.

III

Wer zeigt, in welchen Grenzen er etwas kann, und wer dazu noch weiß, was er soll, dem wird die Frage nicht erspart bleiben, wieviel er denn darf. Einige Gesichtspunkte zu den zwei ersten Fragen an die Philosophie sind vorgebracht worden. Die dritte Frage steht noch aus. Sie ist vielleicht die heikelste, denn für die beiden ändern Themen konnte man sozusagen die Philosophie selber sprechen lassen, man konnte ihr Potential durchweg benutzen und hatte meist auch wohl beleumdete Berufungsinstanzen zur Hand. Die Scheidelinie, die umreißt, was Philosophie darf, ist nicht gezogen, sie zählt nicht zum tradierten Kanon und welche Instanz sollte dafür schon zuständig sein? Ich möchte in diesem letzten Teil Betrachtungen zur Funktion der Philosophie in größeren, die eigentlich philosophische Aktivität übersteigenden Zusammenhängen anstellen. Es ist wohl deutlich geworden, daß ich die allenthalben erhobene Frage nach der Funktion der Philosophie nicht für eine wirklich philosophische Frage halte. Im Gegensatz zur Legitimationsfrage ist Philosophie hier nicht der erste Adressat. Nach der Funktion von Philosophie kann man als Bildungsforscher, Nationalökonom, als Geschichtsschreiber oder Hochschulpolitiker fragen, aber nicht als Philosoph. D. h. keineswegs, daß Philosophen dieser Frage gegenüber taub sein sollen, weil sie sie nichts angeht. An der im weitesten Sinne politischen Standortsbestimmung sollten die Philosophen sich sehr wohl beteiligen. Es scheint mir aber eine Verkehrung in der Sache zu sein, wenn man sich, statt etwas zu tun, nur noch damit aufhält, wozu man das tut, was man dann gar nicht mehr tut, weil man an der Durchführung vor lauter geschäftigem Selbstzweifel und vorgängiger Funktionserwägung gehindert wird. Funktion ist eine systemtheoretische Kategorie. Derjenige Zusammenhang muß bekannt sein, innerhalb dessen ein Element eine Funktion ausübt. Da viele Zusammenhänge denkbar sind, in denen Philosophie auf Funktionalität geprüft werden kann, muß zunächst klar sein, welcher Zusammenhang gemeint ist und welche Bedeutung dementsprechend eine Funktionszuschreibung oder -abschreibung verdient. Da dies strenggenommen nicht Sache der Philosophie sein

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kann — die Funktionskategorie höbe sich nämlich auf, wenn Philosophie sowohl eine Funktion innerhalb eines Ganzen übte, als auch das Ganze selbst bestimmte —, so räsoniere ich in der Folge auch nicht zeitgemäß über die Philosophie als Funktion in einem anders definierten Zusammenhang. Was sich jedoch von Seiten der Philosophie zu ihrer Funktion nach außen überhaupt sagen läßt, fällt unter das Stich wort ,Kritik'. So möchte ich die Frage aufgreifen, was Philosophie darf. Die kritische Rolle der Philosophie gegenüber Zeiterscheinungen gehört wiederum zu ihren ältesten Traditionen. Wahrscheinlich schon Heraklit, sicher aber Plato waren Zeitkritiker. Die politische Kritik trägt dabei die stärksten Akzente, sollte indes nicht in Vergessenheit drängen, daß allgemeine Lebenseinstellungen in dem weiten Sinne eines herrschenden Kulturklimas ebenso Gegenstände der Kritik waren und sein können. Die gesamte neuzeitliche Philosophie durchzieht ein kritisches Selbstverständnis. An allen Stellen enthalten in der Neuzeit philosophische Aussagen Momente einer kritischen Pointierung gegenüber der Enge gängiger Meinungen, gegenüber Obskurantismus und intellektuellem Kleinmut. In der nachhegelsehen Periode wurde Kritik an den politischen Zuständen und gesellschaftlichen Verkehrsformen sowie an den herrschenden Weltanschauungen vollends der wahre Gehalt von Philosophie. Die junghegelianische Übersetzung von Spekulation in Zeitkritik steht freilich ganz unter dem Vorzeichen des absoluten Denksystems von Hegel. Die alles umfassende Weltphilosophie schien nur eins offenzulassen: ihre Umsetzung in welthistorische Praxis. Diese Schwäche meint die radikale Kritik zu beheben. Die Kritische Theorie unserer Tage ist in allem ein Nachfahr der Junghegelianer, und ihre offiziöse Berufung auf Marx beruht in gewissem Sinne auf einem Mißverständnis. Denn für Marx war deutlich geworden, daß Philosophie nicht ihre kritische Funktion vis-ä-vis dem schlechten Bestehenden üben und auf zwangsläufige Besserung rechnen, aber selbst Philosophie bleiben konnte. Er sah wie niemand sonst, daß Philosophie, wenn sie an einer bestimmten gesellschaftlichen und historischen Funktion interessiert ist, ihr Funktionieren selber in die Hand nehmen und d. h. den Boden der Philosophie verlassen muß. Sie muß den Rahmen schaffen, in dem eine kritische Funktion erst zustande kommt. Sie tut das als realpolitische Organisation und als po siti vis tische Wissenschaft von historischer und sozialer Universal-

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kompetenz. Philosophen beißen sich seither die Zähne aus an jenem philosophisch motivierten Übergang von Philosophie ins Nichtphilosophische. Die marxistische Debatte, wo sie theoretisch von Gewicht ist, zieht ihr Interesse aus dem Versuch der Bestimmung jenes Übergangs. Ich will an dieser Stelle nicht in die Erörterung der Gründe für und der Überzeugungskraft von Marxens Programm eintreten. Man muß sich aber den Hintergrund vor Augen halten, vor dem die heute weitgehend akzeptierte Auffassung erst Sinn bekommt, daß Philosophie sich ganz auf Kritik zurückzuziehen habe. Die fatalistische Behauptung, daß Philosophie überhaupt nur noch Kritik sein könne und jenseits dessen der Verrat beginne, diese Behauptung wird nur konsistent unter den massiven Prämissen einer Katastrophenvision der Geschichte, die den von Marx analytisch beschriebenen Fetischismus zu einem allumgreifenden Verblendungszusammenhang verdichtet sieht, aus dem es kein Entrinnen gibt. Die entscheidende Prämisse ist aber entweder ein gutes Stück Geschiehtsphilosophie, und dann widerlegt die Prämisse die Conclusio: es ist nämlich dann doch verschwiegene Theorie möglich und nicht ausschließlich Kritik. Oder die Diagnose des Verblendungszusammenhangs trifft die historische Wirklichkeit, dann ist aber Diagnose ihrerseits unmöglich, und alle Kritik wäre ein undurchschauter Beitrag zur Verblendung. Daraus folgt, wenn ich recht sehe, die achte These, daß die Position nicht haltbar ist, die darauf baut, Philosophie sei heute nur noch Kritik oder sie sei keine Philosophie. Ich habe mich einzig mit einer Extremposition der Kritischen Theorie auseinandergesetzt, die man allem kritischen Ernst zum Trotz vom Dogmatismusverdacht nicht freisprechen kann. Unbeschadet dessen gilt aber, daß der Philosophie kritische Potenzen innewohnen, die auch immer wieder ihre Wirkung getan haben. Wahrscheinlich ist es eine Berufstäuschung von Philosophen, solche Wirkungen historisch zu überschätzen. Wieviel nun gerade die Philosophie des 18. Jahrhunderts zur Französischen Revolution beigetragen hat, wird sich kaum ausrechnen lassen. Daß Wirkungen von Philosophie ausgehen, kann indessen nicht sinnvoll bezweifelt werden. Die Wirkungen, die Philosophie außerhalb ihrer tätigt, gründen auf der kritischen Funktion, die dem Philosophieren im Zusammenhang seiner Zeit zukommt. Da die Zusammenhänge, für die Philosophie eine Funktion übernimmt, unter mannigfachen Aspekten bestimmt werden

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können, läßt sich das Funktionieren auch nicht eindeutig und endgültig umgrenzen. Die Weise einer möglichen Funktion nach außen ist aber klar festgelegt durch die negative Zuordnung der philosophischen Gedanken zum vorhandenen Wissen. Die der Philosophie eigne Vernünftigkeit wird immer in einem fundamentalen Kontrast zu außerphilosophischen Bereichen stehen. Der Kontrast verschärft sich zur Kritik, sofern einsichtig wird, daß das reine Denken Aussagen trifft, die sich in einen konkreten Bezug zu Zeiterscheinungen setzen lassen. Kritik ist die Einsicht in das wesentlich negative Verhältnis zwischen einem philosophischen Gedanken und einem Teil der historischen Lebenswelt. Wann solch eine über die Philosophie im engen Sinne hinausgehende Einsicht stattfindet, untersteht keiner philosophischen Reglementierung. Die Philosophie verfügt nicht über ihre kritischen Wirkungen, und wo sie ihr Denken allein auf solche Wirkungen hin manipuliert, gibt sie sich als Philosophie auf. Das haben in ungewollter Übereinstimmung Heidegger und Adorno mit Recht hervorgehoben. Ich schließe mit einer neunten These, die weniger explizit ausfällt, da sie den Grenzbereich der Philosophie betrifft. Philosophie tut Wirkungen, die ihr authentisches Feld übersteigen. Sie wirkt kritisch, insoweit die Selbständigkeit des philosophischen Gedankens ohnehin nur auf dem Wege der Negation erworben wurde. Ex cathedra ist sie zu positiven und direkten Beiträgen unfähig. Rhetorische Vermittlung ist möglich, aber keine eigentlich philosophische Angelegenheit mehr, da nie Vernunftgründe allein festlegen, wann und wie eine Einsicht in das kritische Spannungsverhältnis zwischen reiner Theorie und Zeiterscheinungen sich herstellt.

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Bemerkungen zur Frage „Was ist und soll Philosophie?"* Die Philosophie ist von alters her von Geschichten oder Bildern einer besonderen Ferne zum pragmatisch Relevanten begleitet gewesen. Während lebensklügere Wesen Wasser aus dem Brunnen holen, fallen Philosophen hinein. Auch neuere analytische Aufgabebestimmungen der Philosophie haben hier häufig trostreichere Erklärungen nicht bereit: Wittgensteins Diktum etwa, Philosophie solle sich damit beschäftigen, der Fliege den Ausweg aus dem Glas zu zeigen, würde die Situation nur dann anders beleuchten, wenn wir in der Deutung der Metapher die Fliege mit der thrakischen Magd zu identifizieren hätten. Solange allerdings Philosophie im wesentlichen Philosophietherapie sein soll, ist ja aber die Fliege auch nur wiederum ein Philosoph, die Philosophie also im übrigen vorderhand so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß diskutiert werden muß, ob es sich bei der beschriebenen Situation lediglich um ein Fliegenglas im Fliegenglas handelt. Einen Vorschlag, der Philosophie einen gesicherten Stand oder Ort außerhalb der Brunnen und Fliegengläser zu geben, besser: diesen Ort wieder zu erinnern, haben Sie in meiner Konstanzer Antrittsvorlesung von 19681 vorliegen. Dieser Vorschlag wird häufig und manchmal etwas vorwurfsvoll so verstanden, daß er die Philosophie selbst in ein anständiges Dienstverhältnis bringen wolle, sie also als Magd, zwar nicht mehr der Theologie wohl aber der Wissenschaft, ordentlich zu beschäftigen gedenke. Diese Kennzeichnung hat sicher etwas richtiges: In der Tat geht es um einen Dienst, den die Philosophie den Wissenschaften leisten soll, darum nämlich, für die Philosophie eine Aufgabenstellung zurückzugewinnen, die auf eine Verbesserung (oder mit Bubners Wort 2 , auf eine Vernunfterweiterung) des wissenschaftlichen Handelns * Die hier niedergelegten Überlegungen greifen zum Teil zurück auf F. KAMBARTEL: Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis, in F. KAMBARTEL: Theorie und Begründung (Frankfurt a.M. 1976), p. 62-75. 1 Was ist und soll Philosophie? (Konstanz *1968, 2 1974). 2

Cf.oben p. 12 f.

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hinausläuft. Im übrigen kommt es mir hier nicht darauf an, der Wissenschaft gegenüber dem sonstigen Wissen und Meinen einen besonderen Status zu geben3. Daher mögen Sie, wenn ich jetzt von den Wissenschaften und ihrem Verhältnis zur Philosophie reden werde, das Wissen und Meinen, das sich schon außerhalb und vor den Wissenschaften vollzieht, einbeziehen. Durch die vorgeschlagene Funktion ist für die Philosophie natürlich nur dann etwas gewonnen, wenn wir für die Wissenschaften selbst fordern, daß sie sich als Mägde der Gesellschaft verstehen sollen. Erst dann nämlich läßt sich dem gewählten Ausdruck „Verbesserung der Wissenschaften" eine Bedeutung geben, die sich nicht an den faktischen Interessen und Handlungsweisen der Wissenschaftler orientiert, sondern am Beitrag des Wissenschaftlerhandelns zu sonstigen, also nicht lediglich wissenschaftsimmanent bestimmten Zwecken. Was aber ist denn an den Wissenschaften, so wie sie gegenwärtig sind, zu verbessern, das nicht in die Reform- und Kritikkompetenz, welche die Wissenschaften selbst definitionsgemäß in Anspruch nehmen, fiele? Ich fasse einige Kernthesen meiner Vorlesung von 1968 noch einmal als Antwort auf die genannte Frage zusammen, arbeite dabei gleich einige Ergänzungen ein und sage dann einiges zur Erläuterung und Begründung: 1. Wissenschaftliche Theorien werden gegenwärtig weitgehend ohne Fundierung im engeren Sinne aufgebaut. 2. Das hat Folgen für die Qualität des Lebens in einer wissenschaftlichen, das soll hier heißen, auf die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung angewiesenen Zivilisation. 3. Der Verzicht auf Begründungsansprüche ist methodisch nicht notwendig. 4. Das Vertreten solcher Ansprüche ist daher eine mögliche und als Fortsetzung ihrer Tradition auch eine adäquate Aufgabe der Philosophie. Ich möchte einem Argumentationszusammenhang z. B. auch einer wissenschaftlichen Theorie den Anspruch fundierten oder begründeten Vorgehens genau dann zusprechen, wenn dieser Argumentationszusammenhang beansprucht, daß jede in ihm auftretende Behauptung begründet, jeder in ihm vertretene oder praktizierte Vorschlag gerechtfertigt und jedes in ihm verwendete Wort allgemein verfügbar einge3

Diese Bemerkung bezieht sich auf die Ausführungen oben p. 7.

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führt werden kann. Mit einer Formel des Sokratisch-Platonischen Philosophie- und Wissenschaftsverständnisses gesprochen, kein Teil einer mit Begründungsanspruch auftretenden Argumentation kann prinzipiell von der Forderung des \oyov ausgenommen werden. In an H. Dingler angeschlossenen Wortgebrauchstraditionen hat sich auch das Wort „Voll begrün düng" eingebürgert4 und dies wiederum ist Anlaß zu kritischen Bemerkungen, z. B. von H. Albert, gewesen. Das Wort „Vollbegründung" ist m. E. mißverständlich. Bekanntlich läßt sich praktisch alles begründen, wenn für das Begründen unbegründete Voraussetzungen zugelassen werden. Soll aber eine begründete Auszeichnung unter den in Frage kommenden unbegründeten Voraussetzungen für eine Te/'/begründung getroffen werden, so sind wir offenbar schon wieder bei einer Vollbegründung angelangt. Lassen wir es also bei dem schlichten Wort Begründung bewenden. Auf ein begründetes Reden und Handeln kann man sich nur der Ausführung, nicht aber dem Anspruch nach teilweise einlassen. Ich komme nun auf meine erste Behauptung zurück, nämlich, daß in den Wissenschaften der Anspruch einer Begründung im skizzierten Sinne weithin aufgegeben worden ist. Das Interesse daran, Wissenschaft ohne Fundierungsanspruch zu betreiben, resultiert aus den offenbaren Schwierigkeiten mit der Einlösung dieses Anspruchs. Wer Behauptungen begründen, Vorschläge rechtfertigen und Termini definieren will, muß,so scheint es, schließlich stets auf andere Behauptungen, zumindest auf methodische Vorschläge und schließlich auf im Definiens von Definitionen bereits verwendete Worte rekurrieren. Begründungsansprüche würden danach nur in einen unendlichen Regreß führen. Oder sie müßten bei dogmatisch gesetzten Voraussetzungen (Axiomen, Prinzipien etc.) halt machen. Daß dem nicht so ist, auch wenn es sich um ein die gegenwärtige Wissenschaftsentwicklung dominierendes Vorurteil handelt, darf inzwischen als argumentationstheoretisch geklärt gelten. Die Einsichten, die sich der Unabdingbarkeit des unendlichen Begründungsregresses entgegenhalten lassen, sind die folgenden: Das Problem dieses Regresses besteht nur dort, wo Begründungen sich lediglich innerhalb der Welt der Sätze und Worte abspielen, wo also lediglich 4

Cf. etwa H. DINGLER: Aufbau der exakten Fundamentalwissenschaft, hrsg. von P. LORENZEN (München 1964), 1. Teü, I 2: Vollbegründung aus der Aktivität.

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Sätze zur Begründung oder Rechtfertigung von Sätzen und Worte zur Definition von Worten herangezogen werden dürfen. Diese Beschränkung ist unnötig. Sie übersieht, daß Begründungen aus dem Bereich der sprachlichen Ausdrücke hinausführen können und, wenn sie ihrem Anspruch gerecht werden sollen, auch hinausführen müssen in den pragmatisch-lebensweltlichen Kontext, in welchem sprachliche und damit auch wissenschaftliche Handlungen erst ihren Sinn gewinnen. Wo Unterscheidungen und Behauptungen schließlich die Möglichkeit und die Bedingungen von Handlungen betreffen, lassen sie sich allemal in pragmatischem Gelingen und Mißlingen kontrollieren. Und auch wo Theorie nicht durch den unmittelbaren Eintritt in eine Gemeinsamkeit des Handelns gesichert werden kann - und dies ist in einsamer oder esoterischer Überlegung unabdingbar der Fall —, da muß sie im Modus der Unterstellung auf rational herzustellende Einverständnisse in realen Handlungszusammenhängen wenigstens vorgreifen. Daher meine dritte These: Der Verzicht auf Begründungsansprüche ist methodisch nicht notwendig; er ist nämlich pragmatisch hintergehbar. Das Verständnis wissenschaftlicher Theorien, mit dem wir es inzwischen vorherrschend zu tun haben, hat den geschilderten Zusammenhang aus dem Auge verloren. Wissenschaftliche Theorien werden danach vornehmlich als Saizsysteme, nicht als Handlungssysteme y die über begründete Argumentation in sonstige Handlungssysteme eingebettet sind, begriffen. Für reine Satzsysteme aber bleibt letzten Endes keine andere Wahl als der Anfang mit Sätzen, mögen sie nun Hypothesen, Annahmen oder Axiome heißen, und die Einführung einer Undefinierten Basis sogenannter Theoriesprachen. So organisierte Wissenschaft ist auf ein Fundierungswissen nicht mehr angewiesen. Ihre Theorien werden gewissermaßen „von oben" konstruiert. „Von oben", d. h. an den Anfang stellt man gleich ein ganzes System von Sätzen, deren sprachlicher Aufbau überdies bereits deutlich macht, daß man sie als begründetes Ergebnis allenfalls nach einer ganzen Reihe von nicht explizit gemachten methodischen Schritten gewinnen kann. Darunter hätten insbesondere verständigungsdienlich gewählte sprachliche Normierungsschritte zu sein, weil das, was hier in der Regel das Fundament einer Theorie heißt, häufig eine (leider ungestörte) Wanderung auf den Gipfeln unserer höchst vagen und unverständlichen Bildungs- und Wissenschaftssprache bedeutet. Gestützt wird die Meinung, dies sei gleichwohl ein methodisch zulänglicher

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Anfang, vor allem durch zwei weit verbreitete wissenschaftstheoretische Irrtümer: Das erste Mißverständnis ist heute vor allem mit der im übrigen berechtigten Empirismuskritik des Kritischen Rationalismus verbunden, tritt aber auch in anderen, z. B. hermeneutisch orientierten, Diskussionszusammenhängen auf. Es besteht in einer bestimmten Interpretation der Behauptung, jede Aussage, auch eine elementare Konstatierung, sei, wie man sagt, theoriehaltig. Diese Behauptung enthält dann einen wohlberechtigten Hinweis, wenn sie besagen soll: auch elementare Feststellungen können als gemeinsame nur auf der Basis sprachlicher Vereinbarungen getroffen werden und setzen damit methodische Vorentscheidungen, die zumal im erheblichen Fall gern auch theoretische Vorentscheidungen genannt werden, voraus. - In der Regel sieht man sich bei der Rede von der Theoriehaltigkeit jeder Aussage allerdings mit einer ganz anderen Interpretation konfrontiert, die sehr prägnant bereits in Poppers Logik der Forschung vertreten wird. Dann ist nämlich damit gemeint, daß Aussagen überhaupt nur in einem präsupponierten begrifflichen oder theoretischen Rahmen (im häufig so genannten conceptual oder theoretical frame work} möglich werden, einem Rahmen, für dessen Konstruktion bereits aus dem Vollen der Bildungs- und Wissenschaftssprache geschöpft werden kann. 5 Wer dies glaubt, z. B. weil er eine verbreitete ungute Wissenschaftspraxis für die einzig mögliche hält, der kann auf einen sukzessiven Aufbau seiner sprachlichen Mittel subjektiv guten Gewissens verzichten und seine methodischen Schritte fröhlich durcheinandergehen lassen. Setzen doch gemäß diesem Vorschlag vermeintlich erste Schritte als unabdingbar theoriehaltige Schritte schon methodisch spätere Schritte voraus. Damit verbindet sich häufig ein definitionstheoretischer Irrtum, der letztlich aus der Hilbertschen Deutung der mathematischen Axiomatik Eingang in die Wissenschaftstheorie und zwar zunächst über Carnaps Der logische Aufbau der Welt in die empiristische, dann auch schließlich in die kritisch-rationalistische Wissenschaftstheorie gefunden hat. Es ist dies die irrtümliche Meinung, es ließe sich eine Reihe erster Worte (insbesondere Prädikatoren) der Wissenschaftssprache 5

„[. . .] jeder Satz hat den Charakter einer Theorie, einer Hypothese." (Logik der Forschung (Tübingen 41971), p. 61) „Unsere Sprache ist von Theorien durchsetzt [...]" (ibid. p. 76).

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jeweils dadurch gleichzeitig einführen, daß eine Liste von satzartigen Gebilden, in denen diese Worte vorkommen, schlicht aufnotiert wird. Man nennt eine solche Liste gern ein Axiomensystem, im gleich unten erläuterten Verständnis genauer: ein formales Axiomensystem. Auch soweit heute, vor allem in der empirischen Sozialwissenschaft, vergleichsweise vage von Komtrukten oder Modellen die Rede ist, handelt es sich nach meinen Diskussionserfahrungen in der Regel um nichts anderes, darum nämlich, daß 1. eine Reihe von Sätzen an den Anfang einer Untersuchung gestellt werden sollen, gegenüber denen Begründungsansprüche vereinbarungsgemäß nicht gestellt werden dürfen und bei denen 2. die Antwort auf die Frage, was denn mit den Worten in diesen Sätzen gemeint sei, im wesentlichen darin besteht, das gesamte Satzsystem selbst, evtl. nach einigen abgezwungenen Ergänzungen, als Festlegung dieser Bedeutung auszugeben. Eine einschlägige Bemerkung, in der Hubert dieser Auffassung prägnant und klassisch Ausdruck verliehen hat, möchte ich vorlesen. Sie steht in einem Brief an Frege vom 22. 9. 1900: „Meine Meinung ist die", schreibt Hubert dort, „daß ein Begriff6 nur durch seine Beziehungen zu anderen Begriffen logisch festgelegt werden kann. Diese Beziehungen, in bestimmten Aussagen formuliert, nenne ich Axiome und komme so dazu, daß die Axiome [. . .] die Definitionen der Begriffe sind."7 Weil man sich die Bestimmung von Wortbedeutungen durch Axiome so ähnlich vorstellte wie bei den vorher so genannten impliziten Definitionen von Zahlen-n-Tupeln durch geeignete Gleichungssysteme, sprach man auch im Fall der axiomatischen so genannten Definitionen Huberts von impliziten Definitionen.8 Der hier zugrundeliegende methodische Fehler, der über Camap dann schließlich wesentlich in die heutige allgemeine Wissenschafts6

Das Wort „Begriff" kann hier durch das Wort „Prädikator" („Begriffswort") ersetzt werden. 7 G. FREGE: Wissenschaftlicher Briefwechsel, hrsg. von G. GABRIEL u.a. (Hamburg 1976), p. 79. 8 Cf. zu den axiomatischen oder impliziten „Definitionen" die ausführlichere Darstellung in meiner Abhandlung Frege und die axiomatische Methode, in: Frege und die moderne Grundlagenforschung, hrsg. von CHR. THIEL (Meisenheim a. Glan 1975), p. 77-89, ferner in: Studien zu Frege I: Logik und Philosophie der Mathematik, hrsg. von M. SCHIRN (Stuttgart 1976), p. 215-228. Neues historisches Material enthält G. GABRIEL: Implizite Definitionen - Eine Verwechselungsgeschichte, erscheint demnächst in: Annals of Science 35 (1978).

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theoriedebatte eingegangen ist9, läßt sich inzwischen ganz kurz und deutlich benennen: Durch Axiome mit Zeichen, die eine Anzahl Prädikatoren Pj, . . ., Pn unbestimmt andeuten sollen, werden nicht Prädikateren definiert, wohl aber Prädikaterenrelatoren, die auf n Prädikatoren genau dann zutreffen, wenn diese Prädikatoren, eingesetzt an der Stelle der unbestimmt andeutenden Symbole, das Axiomensystem in ein System begründeter Aussagen überführen. Man hat es also mit der (expliziten) Definition eines Relators 2. Stufe zu tun, nicht damit, daß eine Reihe von Prädikatoren 1. Stufe „implizit" eingeführt werden. Hubert irrte also. Dies sahen Frege damals sofort, die anderen Logiker großenteils etwas später, die Mathematiker und diejenigen, die sich an deren meist laienhafte definitionstheoretische Aussagen hielten, vor allem Physiker, dann auch empirische Sozialwissenschaftler, vielfach bis heute nicht. Eine Disziplin übrigens, die jetzt gerade beginnt, auf diesen Irrtum hereinzufallen, ist die Linguistik, insbesondere dort, wo sie der Texttheorie, genauer einer textorientierten Semantik, gegenüber einer wort- und satzbezogenen Linguistik methodische Priorität einräumt. Wenn gleichwohl das Festhalten an der Illusion quasi impliziter oder theoriesprachlicher Definitionsmöglichkeiten heute in verschiedenen Formen, vor allem außerhalb der Mathematik, immer noch eine große Rolle spielt, so hat dies weitgehend die Funktion, den Anfang von oben, nämlich mit ganzen Systemen theoretischer Sätze, definitionstheoretisch abzustützen und mit der vorgeblich möglichen impliziten Konstruktion sogenannter Theorie sprachen die berechtigte Frage nach einem schrittweise verständlich aufgebauten sprachlichen Fundament abzuwehren. Auf dieser Basis kommt es dann auch zum so genannten Theorienpluralismus, d. h. zu der unbeschränkten Erlaubnis, nicht nur (der Intention nach) begründete Argumente, sondern ganze theoretische Systeme des genannten bereits sprachlich völlig unmethodisch aufgebauten Typs in die Diskussion einzuführen. Im Rahmen eines hinreichend weit getriebenen Theorienpluralismus kann dann weiter praktisch jede Aussage gegen Einwände, insbesondere gegen Begründungsansprüche stellende Einwände, höchst wirkungs9

Cf. dazu meinen Artikel Struktur, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hrsg. von H. KRINGS u. a., III (München 1974), p. 1430-1439, insbes. 1435.

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voll abgeschirmt werden. Zunächst verhindert schon die Tatsache, daß die benutzten sprachlichen Mittel nicht eingeführt vorliegen (und dafür gibt es bei diesem Ansatz die beschriebene Legitimationsstrategie), die genaue Festlegung von Verteidigungspflichten. Wo aber nicht feststeht, ob jemand im konkreten Fall seinen Argumentationsverpflichtungen nachgekommen ist, bleibt jedes Widerlegungsbemühen schließlich ergebnislos. Und eine vage Vorstellung von Widerlegung stellt schließlich das einzige Kriterium wissenschaftlicher Kritik dar, über das der Kritische Rationalismus verfügt. Da es ferner schlechter, aber akzeptierter Brauch ist, den sogenannten theoretischen Rahmen von Aussagen niemals vollständig vorzubringen, ist der Hinzuziehung immer weiterer Zusammenhänge und der Einbettung in immer allgemeinere Rahmenvorstellungen meistens kein Ende zu setzen. Nur die Empfänglichkeit der Wissenschaft gegenüber neuen theoriesprachlichen Moden garantiert dann zugleich auf andere Weise das Ableben der leider so genannten Theorien,indem sich selten begründete Sätze, meistens neue Dogmen an ihre Stelle setzen. Thomas Kühn hat das etwas anders, aber vielfach zutreffend beschrieben und nur, nach meinem Urteil irrtümlich, die Konsequenz gezogen, was sei, sei zwar nicht vernünftig, aber wenigstens unvermeidlich und darum müsse es dabei bleiben. Ich möchte an dieser Stelle die bisher allgemein gebliebenen Erörterungen mit einigen Beispielen fortsetzen und dazu zunächst eine der jüngsten der Disziplinen auswählen, die sich aus dem Verbund mit der Philosophie (hier: der Logik und Sprachphilosophie) gelöst haben, nämlich die allgemeine formale Linguistik. Wir alle gebrauchen, und nicht gerade wenig, das Wort „alle", z. B. in Sätzen der Art „Alle Philosophen sind überflüssig". Die philosophische Tradition hat sich lange, intensiv und nicht ohne Ergebnis mit einem begründeten Verständnis dessen beschäftigt, was wir tun, wenn wir Allsätze behaupten. Ein Teil dessen, was bei dieser Bemühung herausgekommen ist, läßt sich in die nachträglich vielleicht, wie häufig in der Philosophie, selbstverständliche, nunmehr gleich folgende Einführung des sogenannten logischen Allquantors bringen: Wer eine Aussage der Form „für alle gilt: a(x)" behauptet, verpflichtet sich, so lautet der hier wiedergegebene Verständnisvorschlag, ein Verfahren anzugeben, das angewendet auf eine beliebige Aussage der Form a(x) eine Begründung für a(x) liefert. Das pragmatische Fundament des Allquantors bildet also die Existenz von BegTündungsverfahren. Ein Begründungsverfahren im enge-

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ren Sinne liegt dort vor, wo für Aussagen einer bestimmten Art angegeben ist, wie sie zu begründen sind. Ein Begründungsverfahren muß also, angewendet auf den Einzelfall einer Aussage a der zugehörig präzisierten Art, eine Begründung für a liefern. Eine kleine Veränderung unserer Ausdrucksweise bewirkt in diesem Falle leicht den Schein eines Zirkels. Läßt sich doch die Forderung an ein Begründungsverfahren ohne Härte auch so formulieren, daß es für alle Aussagen der betrachteten Art eine Begründung angeben soll. Allerdings hat das „alle" in diesem Satze keinen logischen, sondern einen pragmatischen Sinn. Dieser wird deutlich, wenn wir ihn abgelöst vom Kontext der Begründungshandlungen erläutern. Wer ein Verfahren kennt, Nägel in Betonwände zu treiben, kann im Regelfall des Verfahrens einen bestimmten Nagel an einer bestimmten Beton wand befestigen. Die Angabe des Verfahrens besteht darin, zu sagen, was man in jedem solchen Falle zu tun hat. Sie besteht daher in der Regel nicht in der Angabe von Handlungen, welche Situationen herbeifuhren, die durch Allaussagen beschrieben sind. Wie sollten solche Allaussagen auch aussehen? Sicher nicht so: ,,ln allen Betonwänden sind Nägel befestigt", oder: „Alle Nägel sind in Betonwänden befestigt", oder gar: „In allen Betonwänden sind alle Nägel befestigt". Steht uns also die Bezugnahme auf Verfahren unabhängig von Allaussagen zur Verfügung, so können wir insbesondere von Begründungsverfahren für diejenigen Aussagen reden, die aus einer Aussageform a(x) durch Einsetzung eines geeigneten Wortes an der durch markierten Stelle hervorgehen. Das fuhrt dann zu der angegebenen Begründungsverpflichtung für den logischen Aliquanter, die ich hier noch einmal wiederhole: Wer eine Aussage der Form „für alle gilt: a(x)" behauptet, verpflichtet sich, auf Verlangen ein Verfahren anzugeben, das es gestattet, Aussagen der Form a(x) zu begründen. 10 10

Das hier am Beispiel des Allquantors exemplifizierte argumentative Verständnis der logischen Sprachpartikeln wird detailliert behandelt in meinen Überlegungen zum pragmatischen und zum argumentativen Fundament der Logik, demnächst in: Konstruktionen versus Positionen, hrsg. von K. LÜRENZ (Berlin u. a. 1978), ferner in F. KAMBARTEL: Zu den Grundlagen einer pragmatischen Theorie der Sprache - Zwei Studien (Konstanz l9T6,Sonderforschungsbereich 99: Linguistik).

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Was ist nun aus diesen Bemühungen um ein begründetes Verständnis genereller Sätze in der modernen Linguistik geworden? Oder besser: Was droht während des von uns gerade miterlebten Auszugs der formalen Linguistik aus der Logik und Sprachphilosophie aus der genannten Bemühung zu werden? — Sehen wir also nach, was aus dem logischen Allquantor in neueren in der formalen Linguistik geschätzten Theorien geworden ist. Ich halte mich im folgenden an die in der Tarski-Schule entwickelte Semantik.11 Zunächst einmal sind dort allgemein aus den Bedeutungen von Behauptungssätzen Mengen möglicher Welten geworden, d. h. die Bedeutung einer Aussage soll die Menge derjenigen möglichen Welten sein, in denen diese Aussage gilt. Die metaphysischen Annahmen, die hier bereits das Vokabular mitführt, sind offenbar gewaltig; jedoch darf uns dies jetzt nicht stören, befinden wir uns doch in einer wissenschaftlichen Theorie, die es sich nach geltenden Usancen gestatten kann, „Voraussetzungen" zugrunde zu legen. Bleibt uns zu begreifen, wie diejenigen Mengen möglicher Welten aussehen, die als Bedeutungen von Allaussagen infrage kommen. Die Antwort der Tarski-Schule sieht wie folgt aus: Eine mögliche Welt W gehört zur Bedeutung einer Allaussage „für alle x: a(x)" genau dann, wenn für alle gilt, daß die Welt W in der Bedeutung von a(x) enthalten ist. Offenbar haben wir bei dieser Klärung der Bedeutung von Allaussagen die Ausdrucksweise „für alle x" bereits gebraucht. Von einer begründeten Theorie kann im weiteren bereits deswegen keine Rede sein. Vorderhand haben wir es also sogar mit einem defmitorischen Zirkel zu tun. Dieser wird in der Tarski-Semantik dadurch behoben, daß die Verwendung des Wortes „alle" in der Bedeutungserklärung für den Allquantor einer metasprachlichen Ebene zugeordnet wird, einer Ebene, heißt das, in der über Bedeutungsfragen für einen bestimmten sprachlichen Rahmen geredet wird, nicht dieser Rahmen selbst gebraucht wird. Stellt man noch Begründungsansprüche im genannten Sinne, so ist offenbar die Frage berechtigt, wie wir denn zum metasprachlichen Gebrauch des Wortes „alle" gelangen. Eine schlichte Wiederholung der eben angegebenen Einführung des Allquantors würde offenbar in einen unendlichen defmitorischen Regreß führen. 11

Zu nennen sind hier vor allem R. MONTAGUE und D. K. LEWIS. Einen charakteristischen Eindruck vermittelt z. B. M. J. CRESSWELL: Logics and Languages (London 1973).

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Wir könnten ja dieselbe Frage immer wieder stellen. Daher haben sich die Tarski-Semantiker entschlossen, die jeweils vertraute, sogenannte „natürliche" Alltags- und Wissenschaftssprache, z. B. das Logikerund Linguistenenglisch, als „letzte" nicht weiter problematisierte Metasprache schlicht zu benutzen. Ich möchte diese nicht mehr infrage gestellte sprachliche Ebene Loli-Englisch nennen. Damit wird die Tarski-semantische Theorie der Allsätze nicht nur mit den ontologischen Problemen der Rede von den möglichen Welten, sondern auch noch mit den unkontrollierten Unterstellungen des Loli-Englischen belastet, belastet selbstverständlich nur dann, wenn wir Begründungsansprüche noch ernst nehmen. Sie werden fragen, ob dieser Streit nicht eine Sache spezieller Logikerschulen ist und über den Universitätsbetrieb kaum hinausreicht. Dazu ist jedenfalls der Hinweis am Platze, daß Auswirkungen eines unkritischen Gebrauches einer dem Loli-Englischen verwandten Sprache zur mengentheoretischen Reorganisation der mathematischen Sprache und schließlich zur Einführung der Mengenlehre im mathematischen Schulunterricht geführt haben, so daß in der Bundesrepublik inzwischen ein großer Teil der Einwohner, die Eltern oder Kinder sind, als unmittelbar Betroffene eingestuft werden müssen. Bemühungen, den Sprachunterricht in Integration mit dem Mathematikunterricht Tarski-semantisch umzustellen, zeichnen sich bereits ab. So kann es bald dahin kommen, daß unser naives Verständnis des Wortes „alle" im Schulunterricht nicht durch ein begründetes Verständnis, sondern nur durch ein kompliziertes Mißverständnis ersetzt wird, ein Mißverständnis, in dem der argumentative Gebrauch und damit auch der argumentative Verpflichtungscharakter von Allbehauptungen nicht mehr eigens gelernt wird. Die geschilderte und mit diesem Beispiel erläuterte Situation hat, so lautet oben meine 2. These, Folgen für die Qualität des Lebens in einer wissenschaftlichen Zivilisation. Sie erlaubt nämlich den Wissenschaften, sich mit der Aufgabe von Begründungsansprüchen im charakterisierten Sinne auch von der pragmatischen Basis der Begründungszusammenhänge abzulösen. Daher können wir bei Verzicht auf fundierte wissenschaftliche Theorien heute weder sicher sein, daß uns die Wissenschaften sagen, warum es so ist, wie es ist, noch daß diese Theorien im großen und ganzen ein Ergebnis pragmatisch orientierter Vernunft sind. Für einen inzwischen weitgehend auf Wissenschaft angewiesenen gesellschaftlichen und individuellen Handlungszusammen-

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hang bedürfen die Folgen und Kosten einer solchen Verselbständigung des Wissenschaftsbetriebes keiner weiteren Ausmalung. Solange Theorie oder Wissenschaft noch selbst durch den damit gestellten Begründungsanspruch definiert war, bestand kein Anlaß, der Philosophie als grundlagenorientierter Wissenschaftstheorie einen Ort neben den Wissenschaften zu geben. Philosophie war hier entweder gleichbedeutend mit theoretischer Wissenschaft oder bezeichnete deren grundlegende Teile. Dies war der Sprachgebrauch seit der Antike bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Daher sind die beliebten Darstellungen der Geschichte des Verhältnisses von Philosophie und Wissenschaft ungenau, nach denen die Philosophie ihre hergebrachten Aufgaben nacheinander an Wissenschaften verliert, Wissenschaften, welche sie, die Philosophie, aus sich entläßt, wobei sich diese Wissenschaften der mitgebrachten Aufgaben noch allemal besser annehmen, als dies der dafür ursprünglich zuständigen Philosophie gelang. Vielmehr steht es nach dem Gesagten so: Indem die Wissenschaften aus dem Zusammenhang mit der Philosophie heraustreten, hinterlassen sie dieser zugleich und nunmehr arbeitsteilig eine zuvor nicht hervorhebenswerte Aufgabe: die Aufgabe nämlich, die Fundierungsfragen wissenschaftlicher Theorien dort weiter zu diskutieren und zu beantworten, wo diese, die Fundierungsfragen, im Rahmen eines hypothetisch oder axiomatisch deduktiv orientierten Theorienverständnisses an den Rand der wissenschaftlichen Tätigkeit im engeren Sinne geraten sind. Ich möchte noch ein Beispiel folgen lassen, das aus dem logischsprachphilosophischen Kontext im engeren Sinne herausführt, ein Beispiel nämlich aus den Sozialwissenschaften. Auch dieses Beispiel soll dartun, wie es um heute übliche wissenschaftliche Theoriestücke steht, wenn man sie, insbesondere ihre sprachliche Verfassung, unter Fundierungsanspniche stellt. „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie" heißt ein vielen von Ihnen bekannter Band, in dem Autoren, die derzeit zu den meist gelesenen Sozialwissenschaftlern gehören, miteinander diskutieren.12 Ich möchte anhand einiger Passagen dieser Diskussion zunächst dartun, daß beide Autoren — wie viele ihrer sozialwissenschaftlichen Kollegen — offenbar mit immensen Artikulationsschwierigkeiten zu kämpfen haben. 12

J. HABERMAS und N. LUHMANN, Il97l in der Reihe Theorie-Diskussion.

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Beginnen wir mit einigen Sätzen von Luhmann, die, so scheint es, für den Terminus „soziales System" einen Gebrauch in einer von Luhmann gemeinten Richtung vorschlagen sollen. Es heißt dazu a.a.O. S. 11 f.: „Soziale Systeme sind sinnhaft identifizierte Systeme. Ihre Grenzen sind nicht physischer Natur . .., sondern sind Grenzen dessen, was in Sinnzusammenhängen relevant sein kann." Wenn wir etwas untertreiben, so können wir sagen, daß diese Sätze nicht gerade verständlich sind. Dies meint lobenswerterweise auch ihr Autor, denn er fährt fort „Was das nun besagt, liegt nicht ohne weiteres auf der Hand." Nach einer kurzen Zwischenbemerkung wird signalisiert, daß es nun mit der Einführung des Schlüsselwortes „Sinn" weitergehen soll. Dies geschieht dann auf die folgende Weise: ,,Sinn ist eine bestimmte Strategie des selektiven Verhaltens unter der Bedingung hoher Komplexität. Durch sinnhafte Identifikationen ist es möglich, eine im einzelnen unübersehbare Fülle von Verweisungen auf andere Erlebnismöglichkeiten zusammenzufassen und zusammenzuhalten, Einheit in der Fülle des Möglichen zu schaffen und sich von da aus dann selektiv an einzelnen Aspekten des Verweisungszusammenhanges zu orientieren. Dabei ist bezeichnend, daß die Selektion einer spezifischen Sinnverwendung andere Möglichkeiten zwar vorläufig neutralisiert oder auch negiert, sie aber als Möglichkeiten nicht definitiv ausmerzt.'Die Welt zieht sich nicht durch Akte der Selektion auf den jeweils gewählten Aufmerksamkeitsbereich zusammen, sondern bleibt als Horizont der Verweisung auf andere Möglichkeiten und damit als Bereich für anschließende weitere Selektionen erhalten." Diese Ausführungen sind offenbar von der Art, daß wir Luhmanns bereits zitierte Bemerkung am Ende schlicht noch einmal wiederholen können: „Was das nun besagt, liegt nicht ohne weiteres auf der Hand." Vielmehr ist der Text überladen mit Ausdrücken einer vagen Bildungssprache wie „selektives Verhalten", „Komplexität", „Verweisung" bzw. „Verweisungszusammenhang", „Einheit (in der Fülle des Möglichen)", „Horizont (der Verweisung)" und dergleichen mehr. Dürfen wir den Satz „Sinn ist eine bestimmte Strategie des selektiven Verhaltens unter der Bedingung hoher Komplexität" übersetzen in „Sinn" (das Wort „Sinn"!) heiße hier (in Luhmanns Ausführungen gemäß einem Vorschlag von Luhmann) ein bestimmtes Auswahlverfahren für den Fall zahlreicher Alternativen? Die Rede von der Auswahl aus Alternativen hätte für uns einen lebensweltlich (aus der Alltagspraxis) einigermaßen vertrauten Sinn, wenn unter den Alternativen Hand-

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lungsmöglichkeiten zu verstehen sind. Auch was Verfahren der Auswahl sind, läßt sich elementar exemplifizieren. Schwierigkeiten macht bei der angegebenen Übersetzung dann jedoch die Rede von einem bestimmten Auswahlverfahren (Luhmann: „einer bestimmten Strategie des selektiven Verhaltens"). Soll damit unter allen möglichen Auswahlverfahren genau eines als Bedeutung des Wortes „Sinn" gekennzeichnet werden? Dann müßte Luhmanns Definition von „Sinn", wenn es denn eine sein soll, mit einer solchen Kennzeichnung weitergeführt werden. Das Wort ,,Sinn" wäre damit, logisch gesehen, ein Nominator für dieses Verfahren. Als Nominator verträte es genau dieses Verfahren in der Rede, so wie der Nominator „Willy Brandt" den derzeit amtierenden Bundeskanzler. Daß Luhmann im Folgetext weiter im allgemeinen bleibt, stützt die Vermutung, jedem Auswahlverfahren könne das Wort „Sinn" zugesprochen werden. „Sinn" wäre dann, logisch gesehen, ein Frädikator, wie z. B. auch die Worte „rot" und „Mensch", ein Prädikator, der Verfahren zukommt, und zwar genau dann, wenn sie (möglicherweise mit der Zusatzbedingung „rasch") eine Auswahl unter zahlreichen Handlungsmöglichkeiten zu treffen gestatten. Gestützt wird diese Interpretation durch die Formulierung eines Vorwurfes, den Luhmann Parsons macht (S. 13): Sinn werde bei Parsons „wie eine Eigenschaft von Handlungen gesehen und nicht als Selektion aus einem Universum anderer Möglichkeiten". Käme es Luhmann auf die Auszeichnung bestimmter Selektionsverfahren an, so müßte er in dieser Formulierung wohl statt „ . . . nicht als Selektion" sagen „ .. . nicht als Eigenschaft von Selektionen". Andererseits: Handelt nicht, wer Verfahren der Wahl zwischen Handlungsalternativen anwendet? Ist damit nicht Sinn eine Eigenschaft von Handlungen, der so genannten Selektionshandlungen nämlich? Was soll uns dann Luhmanns verbale Opposition zu Parsons? Oder meint Luhmann den Satz „Sinn wird wie eine Eigenschaft von Handlungen angesehen . . ." etwa nicht in Analogie zu „ein Laubbaum zu sein wird als eine Eigenschaft von Bäumen eingeführt"? Vielmehr vielleicht so: „Einen Sinn zu haben ist (bei Parsons) per definitionem eine Eigenschaft aller Handlungen"? Dann könnte er natürlich fortfahren: Sinn kommt aber nach meinem, Luhmanns, Vorschlage nur Auswahlhzndlungen zu. Andererseits könnten diese logischen Erörterungen deswegen gegenstandslos sein, weil es Luhmann auf ein Plädoyer für einen mit Erlebnis-, nicht Handlungszusammenhängen verbundenen Gebrauch

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der Worte „Sinn" und „Selektion" ankommt. Dafür spricht die Ausdrucksweise, durch „sinnhafte Identifikationen" sei es möglich, „eine im einzelnen unübersehbare Fülle von Verweisungen auf andere Erlebnismöglichkeiten zusammenzufassen und zusammenzuhalten". Auch daß der Kontext auf Phänomene der „Aufmerksamkeit" abstellt, deutet in diese Richtung. Und in einem anderen, im selben Bande wiedergegebenen Aufsatz heißt es gar, „daß der Sinnbegriff die Ordnungsform menschlichen Erlebens bezeichnet" (S. 31). - Spätestens hier geraten wir dann in ein verbales Dickicht von Pragmatik, Wahrnehmungspsychologie, Phänomenologie und Hermeneutik, aus dessen Dunkel wir ohne nähere definitorische Bestimmung der Worte ,.Handlung" und „Erlebnis" kaum hervortauchen können. Wir sehen: Nicht nur operiert Luhmann ohne weiteres mit einer Fülle von Termini, deren bildungs- und leider auch wissenschaftssprachlicher Gebrauch entweder gänzlich ungeregelt ist oder eine ganze Reihe höchst verschiedener Bedeutungen zeigt. Auch lassen sich seine Sätze in der Regel auf sehr verschiedene Weise methodisch, insbesondere logisch strukturiert verstehen. Daher lassen sie uns über das Gemeinte fast völlig im Ungewissen. Luhmanns Opponent Habermas hat mit dessen Äußerungen offenbar nicht die hier hervorgehobenen Probleme. Er versteht Luhmann, meint jedoch, dieser habe unrecht. Wir wollen hier nicht untersuchen, wie Habermas das dazu notwendige Verständnis Luhmannscher Gedankengänge gelingen kann. Wichtiger für unser Thema ist, daß auch Habermas vielfältige Beispiele gerade jener Theoriepraxis liefert, die uns bei Luhmann, wenn wir ihn verstehen wollen, vor große Probleme stellt. Den systematischen Kern der Argumente von Habermas enthält z. B. die folgende Ankündigung auf S. 137: „Ich möchte nun nachweisen, daß die Kommunikationsstruktur selber dann und nur dann keine Zwänge produziert, wenn für alle möglichen Beteiligten eine symmetrische Verteilung der Chancen, Sprechakte zu wählen und auszuüben, gegeben ist." Nach diesem Satz erwarten wir nun den bezeichneten Nachweis. Tatsächlich beginnt auch der folgende Satz mit den Worten: „Dann besteht nämlich . . .", Worte, die wir so verstehen können, als werde nun die eine Richtung des Habermasschen „dann und nur dann" bewiesen. Dem ist aber nicht so; es geht nämlich wie folgt weiter: „. . . nicht nur eine prinzipielle Austauschbarkeit der Dialogrollen, sondern eine effektive Gleichheit der Chancen bei der

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Wahrnehmung von Dialogrollen, d. h. auch bei der Wahl und der Performanz der Sprechakte". Setzen wir hier das zu den Worten „dann besteht nämlich . . ." gehörige „wenn" aus dem vorhergehenden Satz ein, so erhalten wir unter Weglassung von Pleonasmen und Nebenbemerkungen etwa den folgenden Satz: „Wenn für alle möglichen Beteiligten eine symmetrische Verteilung der Chancen, Sprechakte zu wählen, gegeben ist, dann besteht eine effektive Gleichheit der Chancen bei der Wahl der Sprechakte". Diese Tautologie ist, wie alle Tautologien, richtig. Nur, warum wird uns von Habermas zugemutet, sie überhaupt und dann auch an dieser Stelle seiner Überlegungen zur Kenntnis zu nehmen? Hatte sich doch Habermas den Nachweis vorgenommen, daß aus der von ihm formulierten Symmetriebedingung, kurz gesagt, kommunikative Zwanglosigkeit folgt und umgekehrt. Was wir nun wissen, ist, daß aus der genannten Symmetriebedingung diese Symmetriebedingung folgt und umgekehrt. Sehen wir einmal von der Schwierigkeit ab, daß Habermas einen Nachweis ankündigt, den er dann nicht führt, und überlegen wir, welchen Nachweis er denn hätte führen müssen. Auch dies lassen die Formulierungen von Habermas völlig im Dunkeln. Ist hier das „dann und nur dann" etwa so zu verstehen: aus den gegebenen Worterläuterungen folgt, daß eine symmetrische Kommunikationsstruktur keine Zwänge produziert und umgekehrt? Dann hätte Habermas Schwierigkeiten, weil er die für derartige Behauptungen notwendigen Wortgebrauchsvereinbarungen vorher nicht getroffen hat. Natürlich könnte Habermas auch meinen, daß erfahrungsgemäß zwanglose Kommunikationsstrukturen symmetrisch sind und umgekehrt. In diesem Falle müßte eine methodische Präzisierung des hier verwendeten „erfahrungsgemäß" vorliegen, damit wir wüßten, was Habermas zu tun hätte, um seinen Nachweis zu führen. Nachdem Habermas nicht bewiesen hat, was immer er, wenn nicht die genannte Tautologie, beweisen wollte, vergißt er, daß das „dann und nur dann" zwei Beweise verlangt, einen für das „dann", von dem die Rede war, und einen Beweis für das „nur dann", den Habermas überhaupt aus dem Auge verloren hat. Vielmehr läßt er einen weiteren, ganz anderen Beweisvorsatz folgen, mit dem Satz nämlich: „Aus dieser allgemeinen Symmetrieannahme lassen sich spezielle Annahmen für jede der genannten vier Klassen von Sprechakten ableiten." (Die von Habermas hier als „genannt" aufgeführten vier Klassen von Sprechakten werden a.a.O. S. U l f . eingeführt und durch Listen von

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Beispielen erläutert.) Schwierigkeiten bereitet einem bildungs- und wissenschaftssprachlich noch nicht hinreichend integrierten Leser zunächst, daß jetzt plötzlich von einer Symmetrieannahme die Rede ist, aus der weitere, „spezielle", wie Habermas sagt, Annahmen hergeleitet werden sollen. Will Habermas nur sagen: nehmen wir einmal an, eine Sprechsituation sei symmetrisch, dann müssen wir auch vier weitere Annahmen für diese Sprechsituation machen? Angenommen, es sei so. Mit dem nächsten Satz argumentiert Habermas dafür, daß mit einer symmetrischen Regelung „kommunikativer" und ,,konstativer" Rede „die Grundlage dafür geschaffen" werde, „daß keine Vormeinung auf Dauer der Thematisierung und der Kritik entzogen bleibt". Nehmen wir wiederum an, damit sei eine der vier speziellen Annahmen abgeleitet, wie von Habermas angekündigt. Selbst dann läßt uns der folgende Satz eher ratlos. Er lautet: ,, diesen beiden Annahmen sind die Sprechakte, die wir in Diskursen verwenden, ideal geregelt". Welche beiden Annahmen hier wohl gemeint sind? Oder ist an die Chancensymmetrie zum einen bei kommunikativen, zum anderen bei konstatierenden Sprechakten gedacht, welche die Symmetrie diskursiver Kritik nach den Argumenten von Habermas herbeiführen soll. Da auch die Zahl von vier Annahmen im folgenden explizit nicht wieder erscheint, finden wir uns vor dem Text wie Pythagoräer, denen der arithmetische Halt fehlt. Ich will gar nicht versuchen, ihn zurückzugewinnen. Ging es doch bei den vorangehenden Erörterungen gerade nicht darum, Luhmann oder Habermas zu interpretieren, vielmehr darzustellen, in welche, häufig vergebliche (methodische) Mühsal wir in den Sozialwissenschaften selbst dann geraten, wenn wir Autoren von Rang lesen. Keineswegs ist es nun sinnvoll, aus den zuletzt angestellten Erwägungen zu Argumentationen von Luhmann und Habermas lediglich den Schluß zu ziehen, hier handele es sich noch um die traditionelle ungenaue Rede in den Geisteswissenschaften, welche durch schlichte Übertragung der z. B. in der Mathematik, der formalen Linguistik oder der Physik erreichten präzisen Methoden auszumerzen sei. Das vorhergehende Beispiel aus den so genannten exakten Theorien der Linguistik veranschaulicht demgegenüber, daß wir überall denselben Zustand wissenschaftlicher Theorien diagnostizieren können, der häufig mit dem bereits behandelten Argument legitimiert wird: es gebe schließlich gar keine andere Möglichkeit als diese, mit einer ganzen Theoriesprache und damit zugleich mit einem ganzen System von

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„Annahmen" zu beginnen. Wie hoffentlich die allgemeinen Überlegungen dieses Vertrages hinreichend deutlich gemacht haben, ist dieses Argument falsch und das Unternehmen begründeter Theorien, wie es die Griechen und die Wissenschaft der Aufklärung meinten, weiterhin aussichtsreich. Viele von Ihnen werden die folgende Geschichte von Herrn Keuner kennen: „Was tun Sie", wurde Herr K. gefragt, „wenn Sie einen Menschen lieben?" „Ich mache einen Entwurf von ihm", sagte Herr K., „und sorge, daß er ihm ähnlich wird." „Wer? Der Entwurf?" ,,Nein", sagte Herr K., „der Mensch." Ob und — gegebenenfalls - wie Philosophie gegenüber der vorfmdlichen Wissenschaftspraxis die von Herrn Keuner praktizierte Art der Liebe betreiben soll, ist die grundsätzliche und wichtige Frage, auf welche die vorhergehenden Erörterungen letztendlich hinauslaufen. Wie die Philosophen wissen, wird solche Liebe, wo immer sie derzeit praktiziert wird, leider eher unglücklich sein.

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Philosophie als Fokus und Forum Zur Rolle einer pragmatischen Philosophie Negatives Image und pessimistische Diagnosen Vor einiger Zeit sah ich in einer Fernsehsendung zufällig folgenden Sketch: Ein Doktor der Medizin, praktischer Arzt, kam zum Dekan der Medizinischen Fakultät einer Universität, einem alten Freund, und wollte bei ihm einen Studienplatz für seinen Sohn erreichen, der nur 2,0 in seinem Abiturzeugnis als Notenmittel bekommen hatte - statt der für ein Medizinstudium erforderlichen 1,6 oder 1,8 (für die korrekte Wiedergabe von Zehntelpunkten kann ich mich nicht verbürgen). Es war natürlich trotz burschenschaftlicher Bundesbruderschaft der ehrbaren Alten Herren »nichts zu machen«: Der Dekan konnte hur auf die ZVS, auf die Zentrale Vergabestelle für Studienplätze, verweisen — deren Richtlinien besagten, es war eben »nichts zu machen«: Der Sohn konnte nicht genommen werden. Ja, der Dekan mußte sogar gestehen, daß sein eigener Sohn nur einen Abitursnotendurchschnitt von 3,5 hatte und also nicht einmal für Pharmazie oder Lebensmittelchemie in Frage käme, sondern bei diesem unterdurchschnittlichen Ergebnis bliebe ihm nur noch die Möglichkeit offen, Rechtswissenschaft oder, »wenn auch das nichts würde«, schließlich gar noch Philosophie zu studieren. Als das Wort .Philosophie' fiel, erhob sich ein allgemeines Gelächter des Publikums, das zahlreich im Studio vertreten war. Dieses spontan ansteckende und ohne weiteres verstandene Auflachen ist eigentlich der Grund, warum ich von diesem Sketch berichte. Man sieht hieran, was für eine Reaktion das Etikett und die Vokabel .Philosophie' in der Öffentlichkeit heutzutage, abgesehen von dieser etwas dramatisch auf Überraschung hin fingierten Situation, erzeugt. Zeitungsberichten zufolge soll es übrigens inzwischen auch einer der Verantwortlichen für die Notenarithmetik, der Wissenschaftsminister des Landes Nordrhein-Westfalen, »nicht gut

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finde(n)«, daß Abiturienten 1,5 im Durchschnitt haben müssen, um Landarzt werden zu können, daß dagegen die Durchschnittsnote »4,6 gerade noch zum Philosophieprofessor« reiche. Ein weiteres, nicht so dramatisch zugespitztes Symptom, das die gängige Einschätzung der Philosophie in Organen der öffentlichen Meinung spiegelt: Eine Coverstory des Spiegel(\915/Ni. 7) behandelte ziemlich ausführlich das Euthanasieproblem, ein Thema, zu dem Philosophen einiges beizutragen hätten. Der gespannte und zumal der philosophieinteressierte Leser vermißte aber eigentlich jedes philosophische Statement. Es kommen nur zwei Zitate von Philosophen vor: zum einen Kant mit dem geradezu umwerfenden Satz: ,,Wenn wir die Ziele wollen, wollen wir auch die Mittel." Und zum anderen Kolakowski mit der ebenfalls nicht sehr philosophischen Aussage, die nur eine Frage umfaßte: „Warum sollen Wohlstandsgesellschaften und begüterte Klassen zurückgebliebene und verkrüppelte Kinder mit großem Aufwand am Leben erhalten, wenn gleichzeitig Millionen normal entwickelter Kinder der Unterernährung oder mangelnder ärztlicher Versorgung zum Opfer fallen?" Man findet in dieser Veröffentlichung also keine philosophische Problemsicht, keinen Vorschlag zur Lösung oder zur Präzisierung des Problems von philosophischer Seite. Das Erwähnte illustriert und »spiegelt« eben auf andere Weise die mangelnde öffentliche Resonanz unseres Faches, die auch wohl Walter Schulz zu der Diagnose veranlaßte: „Die Philosophie ist gegenwärtig, auf das Ganze der Zeit gesehen, an den Rand geraten. Das ist ein Faktum, das kaum zu bestreiten ist" (FAZ 8.2.75). Man erinnert sich auch an Löwiths pessimistisches oder defätistisches Votum vor einigen Jahren: ,,Die ganze Fakultät nennt sich philosophisch, aber die Philosophie gibt es eigentlich heute nicht mehr" (Spiegel 1969/Nr. 43). Man ist versucht hinzuzufügen: Und nun gibt es seit einiger Zeit selbst die Philosophische Fakultät nicht mehr oder kaum noch, seit diese sich in Einzelfachbereiche aufsplitterte. Die eigentlichen Neuanstöße scheinen von den Erfahrungswissenschaften zu kommen — oder pointiert gesagt: „The new priests come from the lab (Die neuen Priester kommen vom Labor)" (McKeon in Time, 7. 1. 1966). Die Philosophie scheint überflüssig, müßiges Geschäft nutzloser „Spinner" geworden zu sein. Ist die Lage der Philosophie wirklich so hoffnungslos? Bleibt dieser einstigen „Königin der Wissenschaften" nur noch der völlige Verfall, lediglich ideologische Inzucht in Selbstrechtfertigungsversuchen,

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akademische Isolation, Unproduktivität und Nutzlosigkeit für andere Disziplinen sowie für neue Problemlösungsansätze zu attestieren? Im folgenden wird in kritischen und programmatischen Thesen eine Antwort auf die angedeuteten Verfallsdiagnosen versucht — eine Antwort, die neue oder wenigstens neu aktualisierte Funktionen eines pragmatischen (an praktischen Problemen orientierten) Philosophierens beleuchten soll. Im ersten Teil möchte ich philosophiedefätistische Äußerungen referieren und ansatzweise diskutieren, die in der letzten Zeit — gerade auch von philosophischen Kollegen — veröffentlicht worden sind. Der zweite Teil soll darin bestehen, daß ich programmatische Thesen oder besser gesagt: thesenartige Abschnitte - vorbringe und kurz begründe zu gewissen Aufgaben, die die Philosophie heute noch hat. Hier werde ich mich teilweise anschließen an Thesen aus meiner früheren Karlsruher Antrittsvorlesung (1970), diese aber nur kurz zitieren und einige etwas modifizieren, um dann einige weitere Thesen hinzuzufügen. Leistet die Philosophie heute nur noch Sprachkritik, indem sie etwa Alltagssprachgebräuche beschreibt oder Kalküle analysiert; ist sie nur noch spezielle Wissenschaftstheorie oder historische Selbsterforschung oder gar narzißtische Selbstrechtfertigungsbemühung, nämlich die endlose Diskussion um Möglichkeit und Nötigkeit ihrer selbst? Ist die phänomenologische Philosophie, die sich zuletzt fast als einzige Richtung wirklich zu inhaltlichen Stellungnahmen aufraffen konnte, im Dauerrückzug begriffen, wie vielfach behauptet wird? Schwindet die Zahl der Anhänger metaphysischer Thesen oder umfassender Entwürfe wirklich gänzlich dahin? Oder ist doch das von Kant erwähnte „metaphysische Bedürfnis" des metaphysischen Wesens par excellence nach wie vor virulent? Ist der Philosophierende auf unbegründete Naivität, auf bloßen Dilettantismus verwiesen? Müssen Dilettantismus oder eine gewisse Naivität von vornherein etwas Verwerfliches sein? Können sie nicht unter Umständen neue Perspektiven beisteuern, die den Fächerscheuklappen und dem Fächer-Egoismus des allzu spezialistisch eingestellten Fachexperten entgegenwirken? Im Geflecht der zunehmend unübersehbaren Problemverzahnungen muß heute selbst der Experte — auch und zumal der generalistische Experte, sei es ein Systemanalytiker oder wer immer — ,,Mut zur Lücke" aufbringen, sozusagen zu einer entwurfsfreudigen „Brain-storming"-Kreativität. Dies gilt natür-

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lieh erst recht für die seit alters so bezeichneten „Spezialisten für das Allgemeine", die Philosophen. Könnte dieser Problemdruck in gewissem Sinne der Philosophie neue Aufgabenfelder und Betätigungschancen erschließen? Bevor hierauf zu antworten ist, soll kurz noch zu der angedeuteten Behauptung über die philosophische Naivität Stellung genommen werden. Die erwähnte Naivität der Philosophie sieht Spaemann (1974), keineswegs ein Pessimist oder Defätist in Sachen der Philosophie, darin, daß sich die Philosophie, wie er meint: fälschlich, für eine Therapie der Krise hält und zwar für „Orientierungskrisen-Management" (nach Lübbe 1973), während sie doch in Wahrheit gelbst nur ein Krisensymptom" (Spaemann 1974, 97) sei. Specht hat in ähnlicher Weise geäußert, die Misere der heutigen Philosophie sei eigentlich nicht die Misere der Disziplin, sondern eine Misere, die eine allgemeine Krise der Hoffnung ausdrückt und zugleich als „Spezialfall der Misere des Menschen" (1970, 25) aufzufassen sei. Philosophie also lediglich als Krisensymptom? Philosophie ist nach Spaemann darüber hinaus das „Resultat einer nicht überwundenen Pubertätsphase" (Spaemann, a.a.O. 97). Philosophieren also als Ausdruck perpetuierter geistiger Pubertätsmentalität? Spaemann meint weiterhin, darin eben bestehe Naivität, daß man sich weigere oder unfähig sei, in der Argumentation die Form vom Inhalt zu trennen, das Denken vom Denkenden, vom denkenden Subjekt: Philosophen sind . . . Leute, die ihr Identitätsproblem nicht gelöst haben und aus dieser Not eine Tugend bilden, fehlende Handlungsorientierung kompensieren sie durch permanente Thematisierung" (ebda. 97). Das letztere allerdings unterscheidet eigentlich den Philosophen nicht von Verhaltenswissenschaftlern anderer Art, etwa von Psychologen oder Soziologen; kennzeichnenderweise wird gerade diese Behauptung, die Disziplinwahl bedeute oft ein Versuch zum Abarbeiten der eigenen Probleme, häufig auf Psychologen angewandt (meinem unmaßgeblichen Eindruck nach zum Teil nicht einmal ungerechtfertigt, aber das mag natürlich für die Philosophen auch zutreffen). Wir haben hier zweifellos keine Differentia specifica der Philosophie vor uns. Es könnte sich durchaus um typische Probleme des intellektuellen Räsonierens überhaupt handeln; und damit wären wir wieder bei der Frage der Orientierungskrisen, der intellektuellen Identitätskrisen im Zusammenhang mit der sozialpsychologischen attitüdenbeeinflussenden Funktion philosophischer Entwürfe, wie

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sie Lübbe in seinen letzten Vorträgen und Aufsätzen (besonders 1973) behandelt hat. Spaemann betont allerdings, die „Behauptung", die Forderung nach Verwirklichung und die Reflexion eines Begriffes wie ,Menschenwürde' etwa im Grundgesetz unserer Bundesrepublik oder auch im Katalog der Menschenrechte, „gegenüber allen Versuchen seiner psychologischen Überwindung oder systemfunktionalen Domestizierung" zu verteidigen, das sei „Sache der Philosophie" (Spaemann, a.a.O. 10). Dies nun ist nicht mehr bloß Feststellung eines Krisensymptoms, sondern eine inhaltlich-normative, politisch und praktisch wichtige Aufgabe. Die Institutionalisierung des philosophischen Gesprächs im Rahmen des organisierten Wissenschaftsbetriebes sei auch deswegen notwendig, weil sie ein Kennzeichen freiheitlicher Systeme sei. Ein Kennzeichen freiheitlicher Systeme, meint er, sei es, daß in ihnen Institutionen möglich und bereitgestellt seien für ein „durch keinen Systembedarf definiertes, durch keine gesellschaftliche Relevanz ausgewiesenes, durch keinen Methodenkonsens abgesichertes, also ein freies, seine Naivität reflektierend behauptendes Denken" (ebda. 101). Lobkowicz (1974, 85f.) hingegen sieht gerade in dieser Einordnung der Philosophie und des Philosophierens in den Wissenschaftsbetrieb eine Gefahr, weil in dieser Institutionalisierung Typen der Philosophie die Oberhand gewinnen, in denen die Diskussion einen greifbaren Fortschritt erbringt, die selbst aber kein weltanschauliches Engagement, kein commitment, erfordern. — Dieses institutionalisierte Philosophieren habe zwar einerseits Vorteile: Der Stil des Philosophierens ist dialogisch, offener für die Diskussion zwischen verschiedenen Richtungen, auch für Teamarbeit. Ein Nachteil sei es aber andererseits, daß die philosophischen Problemstellungen auf „second order questions" reduziert würden. Man diskutiere lange die Methodologie und komme nicht zum Inhalt, nicht zu den „wesentlichen" Fragen. Man diskutiere fachspezialistische Fragen statt der allgemein-menschlichen, wichtigsten Probleme. Eine Gefahr sei weiterhin, daß die Philosophie nur ihrer eigenen Reproduktion diene, zu 70% sei sie ausschließlich mit der Erforschung ihrer eigenen Geschichte befaßt (ebda. 87). Man könnte jedoch unter .Reproduktion' auch folgendes verstehen — das aber ist nun eine Interpolation zwischen Lobkowicz' Zeilen: Der akademische Wissenschaftsbetrieb der Philosophie habe eben in erster Linie die Funktion, die akademischen Stellen zu ver-

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mehren oder heutzutage wenigstens zu erhalten bzw. immer mehr drohende Streichungen zu verhindern — eine zynische Selbstbeschreibung, Selbstbescheidung, Selbstbeschneidung, Selbstbefriedigung, eine, wie man sagen könnte, intellektuelle Inzucht mit allen analogen negativen Folgeerscheinungen der Inzucht, wie sie aus der Biologie und auch der Anthropologie bekannt sind. Als Wissenschaftsbetrieb, „der nur sich selbst, seine Aufrechterhaltung und Reproduktion zum Zweck hat, ist Philosophie sinnlos und wird auf die Dauer zu steriler Scholastik" (ebda. 88). In der Tat, die Philosophie braucht offenbar »frisches Blut« nicht nur in einer den Immobilismus herausfordernden Schulendurchmischung und in dialogischer Konfrontation, sondern - und das deutet auf eine spätere Hauptthese hin — auch, um im biologischen Bild zu bleiben, durch Kreuzung mit anderen »Rassen«, nämlich mit den Erfahrungswissenschaften und der Diskussion öffentlich-praktischer Fragen. Nur so läßt sich auch für die Philosophie ein wirksamer Belebungseffekt ausnutzen der — wieder mit einem biologischen Schlagwort — jedem analog als „Luxurierung der Bastarde" bekannt ist. Die pointierteste und mit besonders viel Esprit vorgebrachte und wohl doch defätistische Kompetenzbestreitung der Philosophie leistete Marquard (1974), gleichsam unter dem Motto „tristesse oblige" (ebda. 123), einer der schönsten Formulierungen Marquards. ihm zufolge hat die Philosophie die Erwartungen, die von verschiedenen Seiten an sie gerichtet wurden, nicht erfüllen können: nämlich erstens die Seelentrösterfunktion, die Marquard (ebda. 115 f) „soteriologische Herausforderung" nennt — die Hoffnung, die Philosophie könne das Heil der Menschen befördern; die Philosophie sei daher wenigstens eine Zeitlang — aber eben nur eine Zeitlang — zur „ancilla theologiae", zur Magd der Theologie, geworden, doch angesichts der mächtigeren christlichen Heilsbotschaft verfiel ihre „Heilskompetenz", und sie selbst degenerierte „zum Fürsorgefall". Die zweite Herausforderung ist nach Marquard die „technologische", die Erwartung, die Philosophie könne zum technologisch verwertbaren Nutzenwissen beitragen. Dies führte dazu, daß die Philosophie eine Zeitlang und zum Teil wohl auch heute noch zu r „ancilla scientiae", zur Magd der Wissenschaft, geworden sei. Schließlich die „politische Herausforderung", die in der Erwartung besteht, die Philosophie hätte die Menschheit zum gerechten Glück führen können oder sollen. Diese Hoffnung habe

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eine Zeit hindurch, die vielleicht noch andauert, die Philosophie zur „ancilla emancipationis" gemacht. Dagegen hat die Philosophie nach Marquard in Wirklichkeit nie ein Monopol auf Lebensweisheit gehabt. Ein beträchtlich hegelianisch anmutendes Endzeitdenken des eschatologischen Erfülltseins oder Überflüssigwerdens durchzieht Marquards Ausführungen, wenn er betont: „Die Philosophie: sie ist zuende; wir betreiben Philosophie nach dem Ende der Philosophie" (ebda. 117). Während die Philosophie früher kompetent für alles gewesen sei, später dann für einiges, sei sie heute nur noch für eines kompetent, nämlich für das Eingeständnis ihrer eigenen Inkompetenz. Sie habe nur noch „Inkompetenzkompensationskompetenz" (ebda. 118). Marquard gibt immerhin zu, es könne noch Residualkompetenzen der Philosophie geben; doch kennzeichnenderweise gesteht er, allein schon - und wohl nur — aus dramaturgischen Gründen, könne er dafür keine Argumente beibringen. — Dies aber ist der Punkt, an dem ich gern kritisch einhaken möchte; doch dazu später mehr. Eine weitere, noch relativ skeptisch-pessimistische Stellungsnahme, die jedoch schon näher hinführt zu dem, was ich im folgenden vertreten möchte, stammt von Specht (1970). Er unterscheidet zwischen „Frustrierten" und „Dennoch-Sagern" in der Philosophie (ebda. 19). Ich habe seinen Beitrag so interpretiert, daß er es in gewisser Weise dennoch mit den Dennoch-Sagern halten will — wenn auch vielleicht weniger optimistisch, als ich geneigt bin, es zu tun. Vielleicht kann sich jeder - und sei es noch so zaghafte — Optimismus angesichts der Rolle und Aufgabe der Philosophie in der Tat nur auf eine PalmströmProphetie des Dennoch-Sagens stützen,daß „nicht sein kann, was nicht sein darf". Dies bringt natürlich die Philosophie und jeden Legitimationsversuch in einen Ideologieverdacht, und darüber wird noch zu sprechen sein. Für Specht bedeutet es immerhin einen Trost, feststellen zu können: „Wer da, wo eine große Gegenwart sein sollte, zumindest eine große Vergangenheit hat, der ist nicht ganz beklagenswert" (ebda. 20). Doch bleibt dieser Trost nicht zu schwach, bietet er nicht zu wenig, um daraus eine sinnvolle und positive Deutung der Aufgabe und Funktion der Philosophie heute gründen zu können? Drückt dieser zitierte Satz nicht doch eine halbherzige Stellungnahme mit halbwegs schlechtem Gewissen aus, die zu sehr dem Status der Philosophie nach den vorher angeführten defätistischen Äußerungen entspricht? Nach Specht kann die Philosophie in der derzeitigen Situ-

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ation nämlich überhaupt keine positiven Beiträge liefern oder leisten, sondern nur drei negative (ebda. 22ff.). Er führt in erster Linie Ideologieanalyse und Ideologiekritik an. Zweitens die undogmatische Erarbeitung eines „Katalogs sinnvoller Verhaltensregeln für den persönlichen Bereich" im Zusammenwirken mit anderen Disziplinen, also die interdisziplinär orientierte Erstellung eines „minimalen Ethikersatzes", „praktischer Orientierungshilfen", die - obwohl nur in logisch oder wissenschaftlich nicht entscheidbare Aussagen zu kleiden dennoch in gewissem Sinne kontrolliert werden können, intersubjektiv kontrollierbar, gleichsam »intersubjektivierbar« sind. Man kann sich natürlich fragen, wieso das kein positiver Beitrag sein soll; meines Erachtens wäre dies durchaus eine positive inhaltliche Leistung einer undogmatischen, sich in ihren Selbstansprüchen bescheidenden Philosophie. Der dritte Beitrag der Philosophie ist nach Specht das Sprechen „von der Situation des Menschen": die berühmte und berüchtigte „condition humaine" sei von der Philosophie deutlich zu machen, insbesondere hinsichtlich der prinzipiellen Begrenztheit des Wissens, der Begrenztheit des Glücks und der Begrenztheit des eigenen Könnens. Auch diese permanente Thematisierungsaufgabe scheint mir kein nur „negativer" oder bloß reaktiver Beitrag des Philosophierens zu sein. Wie die vorige Aufgabe ist auch er von erheblicher kultureller und sozialer Bedeutsamkeit, da die menschliche Situation allgemein auch von der Eigeninterpretation und der Situationsdeutung geprägt wird. Deutungen gehören notwendigerweise zu den Komponenten der Situation, in der sich das handelnde (auf Zielentwürfe und Situationsauslegung wie -definition angewiesene) Wesen stets befindet. „Wenn Menschen Situationen als real definieren, dann sind diese real in ihren Konsequenzen" (W. I. Thomas zit. n. Merton 1957, 421). (Trotz der semantisch fehlerhaften Äquivokation im Ausdruck ,real' liegt dieser Aussage ein sozial sehr wirksamer Mechanismus zugrunde, der hier nicht näher diskutiert werden kann.) Hiermit möchte ich die skizzenhafte Revue der bisherigen pessimistischen Stellungnahmen zur Rolle und Aufgabe der Gegenwartsphilosophie abschließen und nochmals zu der Frage zurückkehren, ob die Lage der Philosophie heute tatsächlich so hoffnungslos ist, wie sie, wohl mit Ausnahme Spaemanns, in den meisten skizzierten Stellungnahmen geschildert wird.

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Neue Anforderungen und Aufgaben Trotz aller pessimistischen oder gar defätistischen Diagnosen glaube ich nicht, das Ende der Philosophie sei gekommen. Wir philosophieren nicht „nach dem Ende der Philosophie". Nur das Zeitalter des Absolutismus in der Philosophie scheint vorbei zu sein, zu Ende gegangen zu sein, nicht aber die Philosophie selber und ihre erkenntnisrelevanten, kulturellen, intellektuellen und politischen Funktionen. Nach wie vor hat die Philosophie erstens so etwas wie eine sokratische Funktion, wie man sie nennen könnte — eine Aufgabe, die Experten ins Gespräch zu ziehen, Perspektiven und Interessen der Allgemeinheit oder des Allgemeinen einzubringen und in einer gewissen Integrationsfunktion über die verschiedenen Disziplingrenzen hinweg als ein Forum und Brennpunkt der Diskussion (besonders an der Universität) zu wirken. Dies wird insbesondere deswegen immer wichtiger, weil die Koordinierung von interdisziplinären und fächerübergreifenden Problemen zunehmend schwieriger und nötiger wird: Systemprobleme, Zielsetzungs- und Wertprobleme gewinnen immer größere Aktualität und Bedeutsamkeit bei fast allen umfangreicheren langfristigen und mittelfristigen Planungsproblemen. Das soll im folgenden noch näher behandelt werden. Ein zweiter Punkt: Der Philosoph bleibt nach wie vor ein Fachmann für eine zwar tastende, aber in gewisser Weise doch wagende argumentative Behandlung des Normativen, selbst wenn er keine absolute Moralphilosophie oder absolut begründete Kritik vorlegen kann. Dies scheint im übrigen für die Moraltheologie ebenso zuzutreffen wie für die Moralphilosophie. Im Unterschied zur Philosophie jedoch ist offenbar die Moraltheologie durchaus noch publizitätsfähig. Man muß es ferner drittens auch weiterhin noch als eine sinnvolle Aufgabe oder als ein Arbeitsfeld für die Philosophen ansehen, am exemplarischen Problem eine Erziehung zur rationalen Diskussion zu vermitteln. Die Einübung disziplinierter und disziplinierender Diskussionsmethoden, der Logik, der sachlichen Argumentation - gerade auch etwa im Normativen - scheint nach wie vor für Studenten, ja, besonders für heutige Studenten, nicht ganz überflüssig zu sein. Ich glaube, auch hier könnte und müßte der Philosoph heute und künftig eine entscheidend wichtige Erziehungsfunktion ausüben. Ein vierter Punkt: Es existiert durchaus auch heute noch ein Bedürfnis nach philosophischen Fragestellungen. Man kann mit Lübbe

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(1973) ein gewisses Sinnerfahrungsvakuum diagnostizieren, einen gewissen Mangel an Identitätsfindung und Konsolidierung, der ein intellektuelles Orientierungsbedürfnis erzeugt. Im übrigen läßt in dieser Hinsicht auch die Theologie die jungen Orientierungssuchenden heute im Stich. Philosophen könnten und sollten wieder neuen Mut zu konstruktiven Vorschlägen, ja, zur Spekulation aufbringen, da ohnehin keine absoluten philosophischen Letztbegründungen mehr möglich sind, also das Wagnis des Entwurfs in jedem Falle eingegangen werden muß. Das Ausmalen alternativer Utopien spielt für die intellektuelle Orientierung sicherlich eine wesentliche Rolle. Warum soll man all das allein den Erfahrungswissenschaftlern, den Zukunftswissenschaftlern, überlassen, die mit Szenariotechniken auch eher spekulativ, wenn auch teilweise von Daten hochgerechnet oder extrapoliert, globale Zukunftsentwürfe machen? Warum sollte man das den (eben nur angeblich rein empirischen) Zukunftsforschern zutrauen und nicht auch zum Beispiel gerade zum Entwerfen alternativer Utopien etwa Sozialphilosophen eine Chance geben? Die Diskussion der letzten Jahre hat gezeigt, daß sich hier sogar wirksame Möglichkeiten der politischen Einflußnahme bieten; greifen der Vernunft verpflichtete Philosophen diese Diskussion nicht auf, so wächst die Gefahr, daß der Freiraum von ideologischen Taktikern besetzt und die Diskussionsfunktion usurpiert wird. Als fünfter Punkt wäre das altbekannte Hegeische Dictum anzuführen, daß die „Philosophie ihre Zeit in Gedanken erfahren" sei, stets und immer erneut als eines ihrer Hauptthemen die Diagnose der Gegenwart zu versuchen habe. Dies gilt zumindest seit Nietzsches Prophetie von der Heraufkunft des europäischen Nihilismus in dramatischer Zuspitzung. Man könnte auch Adorno zitieren: „Das Rimbaudsche »ilfautetre absolument moderne« ist kein ästhetisches Programm und keines für Ästheten, sondern ein kategorischer Imperativ der Philosophie" (1963,28) - nach wie vor. Hierzu gehört zweifellos auch als sechster Punkt, der bisher erheblich vernachlässigt worden ist und sicherlich einen wesentlichen Grund für den Mangel an Resonanz der Philosophie in der Öffentlichkeit darstellt, das Ansprechen öffentlicher Probleme im Bereich der Philosophie und von Seiten der Philosophen. Wir haben bei uns keine Zeitschrift wie Philosophy and Public Affairs. Kaum einmal haben Philosophen seit Jaspers' Beispiel wieder zu den aktuellen öffentlichen Fragen Stellung genommen — nicht einmal, soweit diese Moralisches

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betreffen. Die Diskussionen um die Abtreibung und den § 218 StGB, um Antikonzeption,Euthanasie,um das Dilemma zwischen dem Recht jedes einzelnen auf Leben und dem Recht auf einen menschenwürdigen Lebensstandard in einer Zeit der Bevölkerungsexplosionen sind unabhängig von einer »professionellen« philosophischen Stellungnahme geführt worden. Und auch solche Fragen, die an die Grundrechte rühren, wie jene über Menschenwürde, Freiheit und Gesellschaft, Individualisierung gegenüber sozialen Werten, Individualismus gegen Sozialismus, Freiheit und Manipulation, Rationalität bei der Setzung und Projektion von Planungszielen, über Feststellung und Wirkung technologischer Machbarkeit und der mit ihr verbundenen Normativität technologischer Möglichkeiten: man solle alles das auch herstellen, was man herstellen kann, schließlich die politischen Partizipationsprobleme, Fragen von Mitspracherechten aller Betroffenen und prinzipieller Konsensbildung, ja, die Begründung der Prinzipien unserer repräsentativen Demokratie selbst - alles das sind Probleme, die durchaus normative Aspekte haben und letztlich auf philosophischen Grundüberzeugungen beruhen oder zumindestens mitberuhen. Der Philosoph ist hier herausgefordert und könnte und sollte Stellung beziehen. Trotz des Eindrucks eines gewissen negativen Etikettenschwindels in Sachen Philosophie muß man also konstatieren, daß die Philosophie in gewissem Sinne doch eine — vielleicht eine „heimliche" — Konjunktur hat, selbst wenn dies teilweise von philosophischer Seite pessimistisch, gleichsam defätistisch bestritten wird. Allerdings muß man sagen, daß offenbar die philosophischen Stellungnahmen heute kaum mehr unter dem Etikett .Philosophie' die Öffentlichkeit erreichen können und diskutiert werden. Man könnte behaupten, das Wort, das Etikett ,Philosophie' sei abgewirtschaftet, und diese Tatsache sei aufzufassen als eine gewisse „gesunde" Reaktion auf die absolutistische Epoche der Philosophie mit ihrem hochfliegenden Übermut oder ihrem überfliegenden Hochmut, nämlich dem Anspruch, vermeintlich zu allen Problemen eine logisch deduzierbare Lösung aus absolut gewissen Axiomen zur Hand zu haben. In der Tat waren es, wie schon angedeutet, in den letzten Jahren durchaus philosophische Thesen und Kritiken, die sozial- und kulturpolitischen und im allgemeinen Sinne gesellschaftspolitischen, also jedenfalls politischen, Einfluß gewannen: Marxens politisch wirksame Thesen, teilweise mißverstanden, sind nicht diejenigen des Ökonomen Marx, sondern des Sozial- und Geschichtsphilosophen Marx, der ein Utopist, ein

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Visionär war, teilweise als ein neuer Heiliger verehrt wurde und wird. Marx war und ist Philosoph und als solcher durch seine Ideen wirksam gewesen. Die Grenze zwischen Philosophie und Ideologie ist zwar oft kaum auszumachen. VieDeicht kann Philosophie, wenn nicht kritischaufklärerisch, manchmal nur ideologisch in eine größere Öffentlichkeit hineinwirken — dies kann hier nicht diskutiert werden. Jedenfalls ist ihre - oft eher mittelbare gesellschaftliche und politische Auswirkung nicht zu leugnen. Oft treten heute auch philosophische Aussagen oder Stellungnahmen unter dem Signum der Soziologie auf. Etwa die sogenannte kritische Sozialwissenschaft der Frankfurter Schule ist eine solche Sozialphilosophie, die sich als Wissenschaft drapiert; dabei mag das Phänomen der ideologischen Aufwertung der eigenen Bemühung durch das Prädikat wissenschaftlich' eine gewisse Rolle gespielt haben. Entsprechendes gilt auch für andere Thesen und Problemlösungsvorschläge, die teilweise unter dem wertgeladenen Markenetikett der Wissenschaft „verkauft" werden, in Wahrheit jedoch philosophische Stellungnahmen umfassen: z. B. für Gesellschaftstheorie, Ideologiekritik, Normen und Wertprobleme, sog. Methodenprobleme usw.

„Rehabilitierung der praktischen Philosophie" Allgemein läßt sich konstatieren: Einen gewissen Aufschwung der Philosophie hat es zumindest dem Bedarf nach gegeben — für die Sozialphilosophie und wohl auch für die Moralphilosophie, allgemeiner für die praktische Philosophie. In diesem Sinne kann man mit einer gelungenen und vielleicht sogar begrenzt öffentlichkeitswirksamen schlagw ortartigen Formulierung von einer , »Rehabilitierung der praktischen Philosophie" (Riedel) sprechen und zwar einer Rehabilitierung der praktischen Philosophie aus praktischen Gründen und unter dem Druck (lebens)praktischer Probleme, einer »praktischen« Rehabilitierung der praktischen Philosophie, wobei ersichtlich dieses Wort praktisch' in zweierlei Bedeutung verwendet wird. Für diese Revitalisierung der praktischen Philosophie, lassen sich viele Gründe anführen, von denen einige kurz resümiert seien: Neben dem zuerst zu nennenden methodologischen Erfordernis der SpezialWissenschaften, daß ihre Grundlagenprobleme wissenschaftstheoretisch erörtert werden, sind zweitens anzuführen: die Orientierungs- und

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Identitätssicherungsbedürfnisse, das Zieldefizit in chronisch virulenten „Orientierungskrisen" (insbesondere bei der jeweils heranwachsenden akademischen Generation); diese zutreffende Diagnose von Lübbe (1973 u. a.) erklärt einiges von der Ansteckungswirkung ideologisierter traditioneller Heilslehren in der Universität des letzten Jahrzehnts von z. T. philosophischen Ansätzen in nicht-philosophischer (nicht-analytischer, nicht erkenntnisbezogener) Funktion. Allerdings bin ich nicht der Meinung Lübbes(1973,4), die Philosophie sei nun auf die Aufgabe des „Orientierungskrisen-Managements" durch die „professionellen Konfusionsspezialisten", der Seminarphilosophen, zusammenzustreichen. Übrigens hat Lübbe gesprächsweise dieser Relativierung zugestimmt. Der dritte Grund für die Wiederbelebung der Philosophie liegt in der Ausdehnung interdisziplinärer Problemverflechtungen angesichts der jedes Einzelfach übergreifenden kulturell-sozial-politisch-ökonomisch-ökologischen Systemzusammenhänge: Einzelne Fachexperten einer Disziplin können, auf sich gestellt, die Problemlage einfach nicht mehr überschauen. Neben der Notwendigkeit interdisziplinärer und teamartiger Kooperation entsteht für jeden ein gewisser Zwang zur Lücke, wird auch „Mut zur Beschränkung auf das Wesentliche", ja, oft auch geradezu „Mut zur Lücke", zu Perspektivenbegrenzungen in der Einzelsicht, und zur Toleranz gegenüber anderen Ansätzen und die Einsicht von deren Notwendigkeit unerläßlich. Dies wiederum eröffnet dem Mut zur Kritik, zur konstruktiven Spekulation neue Spielräume, Generalisten werden gebraucht — doch nicht nur diese, sondern auch Universalisten. Der „Spezialist für das Allgemeine", als der der Philosoph traditionell oft bezeichnet wurde, der philosophische Universalist oder Globalist, der neben dem erfahrungswissenschaftlichen Generalisten stehen sollte, kann heute angesichts der Problem- und Informationsexplosion der letzten Jahrzehnte kein Universalgenie mehr sein: Ein Leibniz ist nicht wiederholbar. Zu Recht enttäuscht worden sind zwar die hochfliegenden Hoffnungen des Deutschen Idealismus in dieser Hinsicht, die Ansprüche, alle Probleme ließen sich ohne ernsthafte Erfahrungskontrolle allein durch spekulatives Denken lösen. Doch generalistische und universalistische Stellungnahmen zu fächerübergreifenden Fragen sind nach wie vor, ja, heute mehr denn je nötig. Sie können sich heute nur verwirklichen in der inter- und supradisziplinären Zusammenarbeit, im Teamwork von Wissen-

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schaftler n, Philosophen —der Philosophen verschiedener Richtungen — und anderen Generalisten. Ein dialogisches oder besser: »multilogisches« Philosophieren und spekulativ-konstruktiv-synthetisches Denken ist neben aller präzisierenden zerlegenden Analyse nötig zur Sicherung der Perspektivenvielfalt und zur Integration innovativer Entwürfe. Eine multilaterale Diskussion zur Konfrontation und zur wechselseitigen Korrektur zwischen Fachwissenschaftlern,Philosophen und Praktikern — etwa Planern und Politikern — ist ein Gebot der Stunde. Die schon erwähnte sokratische Forumsfunktion, die die Philosophie auch gegenwärtig übernehmen sollte, führt mit einer gewissen inneren Notwendigkeit zur teamartigen Arbeitsteilung - im übrigen auch in der Philosophie selbst (vgl. u. S. 62). Hinsichtlich der Zusammenarbeit der Philosophie mit den Verhaltenswissenschaften und auch den Naturwissenschaftlern läßt sich immerhin zustimmend Adornos These (1963, 25) zitieren - soweit geht die /««erphilosophische Übereinstimmung über Schulendifferenzen hinweg, heute wenigstens wieder: „Unter den fälligen Aufgaben der Philosophie ist sicherlich nicht die letzte, ohne amateurhafte Analogien und Synthesen dem Geist die naturwissenschaftlichen Erfahrungen zuzueignen." Ich möchte dieses Zitat allerdings nicht nur auf die naturwissenschaftlichen, sondern auf alle verhaltenswissenschaftlichen (insbesondere die sozialwissenschaftlichen) Resultate und bei den Naturwissenschaften insbesondere auf die Biologie bezogen wissen, ohne nun behaupten zu wollen, daß etwa alle oder auch nur einige der geistigen oder philosophischen Probleme völlig auf naturoder verhaltenswissenschaftliche zurückführbar wären. Den vierten Grund für die neue Aktualisierung der Philosophie bieten Bewertungsfragen und die Etablierung und Rechtfertigung von Beurteilungskriterien, z. B. für Planungsentwürfe und Diskussionen im Lichte erfahrungswissenschaftlich und praktisch voraussehbarer Konsequenzen, die wiederum anhand von Werten, von Grundwerten zu beurteilen sind. Eine rationale Diskussion über Werte und Normen ist möglich, wenn auch keine absoluten Aussagen über Grundwerte verlangt werden können, so kann doch die Annahme oder Verwerfung von Normen, sogar von Grundnormen rational diskutiert werden, nämlich angesichts anderer als höherrangig eingeschätzter (Grund-) Werte oder hinsichtlich der beurteilbaren Konsequenzen. Es gibt also durchaus praktische, praktikable Argumente und im Allgemeinen auch Konsensmöglichkeiten (s. u.) im Normativen, ohne daß deshalb strikte

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Ansprüche auf eine absolute Letztbegründung erfüllt werden müßten oder könnten, ohne daß deshalb etwa notwendig die apriorische Generierung einer voll ausgearbeiteten inhaltlichen Moral aus einem letzten Erzeugungsgrund beschworen werden müßte. Das Gesagte über die normative Diskutierbarkeit gilt besonders für Zielprojektionen, für Systemplaner, Zukunftsforscher, die heute geradezu nach ,,neuen Werten", „neuen Normen" (Ozbekhan 1969, 93, 143, 152ff. u. a.) rufen. Bei Zielbegründungsproblemen, Zielsetzungsfragen, Zielplanungsdurchführungen und in ähnlichen Zusammenhängen wird die Philosophie neuerdings immer wieder dazu aufgefordert, Rezepte für neue Werte, neue Normen, neue Zielprojektionen, neue Leitlinien zu entwickeln. Ozbekhan (1970) hat pointiert geäußert, die Technologen hätten ihre Schuldigkeit getan, nun seien die Philosophen wieder an der Reihe. Die Philosophen aber hätten sich bis zur Selbsttrivialisierung auf Sprachgebrauchsanalysen, auf bloße historische Hermeneutik oder formale Kalkülkonstruktionen zurückgezogen. Ohne die Verdienste und auch unverzichtbaren Ergebnisse der analytischen Philosophie schmälern zu wollen, muß man feststellen, daß Ozbekhan durchaus zum guten Teil recht hat. In ihrem falsch verstandenen Gewißheitsstreben waren nämlich die Philosophen zu vorsichtig, zu mutlos; sie haben lieber triviale, aber objektiv lösbare, als dringend wichtige Probleme behandelt. Analytische Philosophen haben vielfach die Probleme beiseitegelassen, die uns auf den Nägeln brennen, die aber heute zu wichtig sind, als das man Jahrhunderte daraufwarten könnte, bis man über präzisere Instrumente zu ihrer Behandlung verfügt und gar eine endgültige Lösung erzielt. In der Philosophie gibt es kaum endgültige Lösungen. Dies gilt gerade auch dann, wenn bestimmte Problementwicklungen, Perspektivenentdeckungen, Grundeinsichten nicht mehr übergangen werden, geistesgeschichtlich nicht mehr rückgängig zu machen sind. Die Hoffnung allerdings, von den Philosophen neue, absolut sicher und strikt fundierte Werte und Normen, gleichsam neue Rezepte zu erhalten, ist logisch überzogen und utopistisch; dies dürfte ein wichtiges Ergebnis auf der wissenschaftstheoretischen Diskussion der letzten Jahrzehnte sein. Es gibt keinen philosophischen Königsweg zur Lösung aller Probleme. Insbesondere die Forderung der Technologen und Planer nach „neuen Werten" und Zielen ist überzogen, wenn sie in den Anspruch an den Philosophen mündet, daß dieser absolut

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gültige Rezepte liefe re. Das zeigt sich besonders deutlich an Ozbekhans selbstgestrickter Wertphilosophie, die er mangels einer Stellungnahme von Philosophen anbringt: Er stellt fest, die Technik stehe unter dem Wert der „Nützlichkeit", die Wissenschaft unter dem der „Wahrheit" und der soziale Verkehr unter dem guten alten Wert der christlichen Nächstenliebe". Alle diese sind natürlich keine neuen Werte. Ozbekhan fordert als neuen Grundwert, als „wertgenerierende" ,,neue Fundamentalnorm" (1969, 146-150), den des ökologischen Gleichgewichts („ecological balance") auf unserem Planeten. Nun handelt es sich zwar um eine äußerst interessante und seit einigen Jahren höchst aktuelle Wertvorstellung mit zugehörigem normativem Anspruch, aber hier liegt zweifellos kein Grundwert vor; denn dieser Wert und die entsprechende Norm können aus den Grundwerten des unbehinderten, gesunden menschenwürdigen Überlebens der Menschheit oder des Überlebens der größtmöglichen Zahl der Menschen oder gar aller lebenden Kreatur mitsamt der Sicherung optimaler Überlebenschancen abgeleitet werden, wie die Diskussion um die Gefährdung der Lebensqualität und ihre ökologische Problematik in den letzten Jahren zeigte. Übrigens sind auch die Appelle und Diskussionen um den Schlagwortkomplex „Qualität des Lebens" übrigens nicht erst von Forrester, und das noch vor Eppler, initiiert worden, sondern solche Vorstellungen deuteten sich in anderer Ausdrucksweise durchaus schon in der Antike an, haben eine ehrwürdige Tradition; allerdings wurde dieser Wert damals recht pauschal in das Ideal vom maßvollen und vernünftigen »guten Leben«,der,»richtigen Lebensweise" (Platon: Nomoi, 890a, d, s. a. 733c, d), nicht des „Überlebens" aufgenommen. Allgemein darf man sogar die These wagen, daß die überkommenen philosophischen Wertsysteme in Normenprägung und Gesetzeskodifizierung — zumal in Hinsicht auf die Erhaltung (oder gar Wiederherstellung) der „Natur" und „Natürlichkeit" noch keineswegs ausgeschöpft sind. Die Probleme der Wertrechtfertigung scheinen wesentlich nicht in der Diskussion der letztfundierenden Grundlagen zu stecken, sondern bei der Anwendung von Bewertungen, in der Abgrenzung von Reichweiten, mehr in den Gewichtungsfragen und Akzentuierungskonflikten, in den Ausführungsmodalitäten und bei den praktischen normativen Auswertungen der Sekundärwerte, in der Implementation statt im Konsens über Grundwerte. Über die letzten Fundamentalwerte in abstrakter Bezeichnung ist man sich zumeist relativ einig oder kann man sich bald einig werden, soweit es sich umkultur- oder institutio-

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nensichernde Werte handelt und sobald man nicht einzelne von ihnen verabsolutiert und dadurch andere „unterdrückt". Es lassen sich nämlich funktionale Überlegungen und Argumente im Lichte von Grundwertbeurteilungen beibringen — etwa zur Sicherung des menschenwürdigen Überlebens -, die durchaus eine Chance auf interkulturelle Einsehbarkeit haben, zumindestens innerhalb einer Epoche, in der die abendländische Kultur sich weltweit ausbreitet und, fragwürdig genug, alle anderen Kulturen zu »überrollen« scheint. Auch dabei sind Fragen der Gewichtung, sind Akzentuierungskonflikte und andere Schwierigkeiten zu berücksichtigen, aber man kann vielleicht behaupten: Die Einheit der Moral ist heute in gewisser Weise — eben wegen dieses teilweise fragwürdigen Siegeszuges der abendländischen Kultur — eine empirische, eine aposteriorische Angelegenheit. Einem Eskimo wie einem Maori kann durchaus angesichts einmal als gelöst unterstellter Versorgungsprobleme im Wohlfahrts- und Fernsehzeitalter durch schulische Erziehung oder durch massenmediale Beeinflussung beigebracht werden, daß die überkommene Stammesmoral nicht mehr zu rechtfertigen ist, nach der die alten Eltern sich töten oder getötet werden müßten, um den Clan nicht zu belasten. Natürlich ist es sehr schwierig, die altüberkommenen Moralen abzuschaffen oder sinnvoll abzuändern und modifiziert in neue Wertsysteme zu integrieren. Man braucht nur an die korsische Blutrachegesellschaft als Beispiel zu erinnern mit ihren Problemen des Überganges zu neueren normativen Orientierungen. Aber dennoch sind gewisse übergreifende und historisch feststellbare Systementwicklungen, man kann fast sagen: »Systemzwänge«, im Zuge der sich ausbreitenden abendländischen Industriekultur festzustellen, die zu einer nachträglichen Vereinheitlichung gewisser minimaler Normen der Moral auf dem (vorerst kleinen) gemeinsamen Nenner der Lebens-, Kultur- und Institutionensicherung führen. Jedoch scheint ein weitreichender Optimismus über das wechselseitige Verhältnis von Großgruppen und ihren Moralen nicht gerechtfertigt zu sein. Man kennt die internationalen Drohgebärden zwischen Völkern, die oft den Eindruck vermitteln: je größer die Gruppe, desto primitiver die moralische Reaktion, wenn man hier überhaupt noch (oder schon) von moralischer Reaktion sprechen kann. Offenbar haben sich unsere überkommenen Gruppen-,, Moralen" aus Stammes- oder Hordengebräuchen, aus einer ausschließlichen „Nächsten"-Ethik entwikkelt, sind noch zu sehr an Bedingungen des Face-to-face-Kontaktes

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orientiert und an einer sicherlich stammesgeschichtlich bedingten Kleingruppenmentalität, als daß sie schon die Probleme des systemtechnologischen und planetarischen Zeitalters bewältigen könnten. Man denke nur an die Problematik der moralanalogen Hemmschwelle, die offenbar versagt, wenn jemand durch Knopfdruck Hunderttausende töten soll, obwohl sich diese Schwelle bei den meisten Menschen z. B. durchaus wirksam einschalten würde, wenn man einen Menschen mit bloßen Händen umbringen wollte. Auch das vielbeschworene atomare Patt heutzutage führt zu gewissen „Systemzwängen", die bei den Supermächten im eigenen Interesse eine „vernünftige" Zurückhaltung vor der Auslösung einer Fremd- und zugleich Selbstauslöschungskatastrophe erzeugen. Man erkennt: Manche „Systemzwänge" im Zeitalter der Fernwirkungsverllechtungen erhöhen die Chancen für eine interkulturelle oder zwischen den verschiedenen Machtsphären stattfindende Minimaleinigung. Vielleicht sollte man aber bei solch einem listigen Zwang zur Vernünftigkeit nicht mehr von einem Fortschritt der (Gruppen-) Moralität sprechen. Man braucht nicht noch einzelne andere Normen als Beispiele für das Gesagte anzuführen, zumal solche schon teilweise erwähnt wurden. Es ließe sich deren eine ganze Reihe bringen - von solchen im Umkreis der Geburtenverhütung bis hin zu jenen über Informationsmanipulation und Sicherung der Individual- und Intimsphäre. Angesichts aller dieser Problembereiche wären Analysen und neue Stellungnahmen von Philosophen zu wünschen. Der Philosoph kann hierbei Vorschläge ausarbeiten und unterbreiten, ohne selbst den Moraldiktator oder unmittelbar den Moralreformer zu spielen. Es ist insgesamt zu begrüßen, wenn auch die Philosophen von den Praktikern der Politik und der Planung wieder aufgerufen sind, zu moralphilosophischen Problemen nicht nur analytisch-formal, sondern auch inhaltlich Stellung zu nehmen, mutig neue Entwürfe normativer Beurteilungsregeln zu wagen, ohne falsche Sicherheiten oder Absolutheiten zu versprechen und ohne die Erfordernisse der interdisziplinären Zusammenarbeit und die Resultate der empirischen Verhaltenswissenschaften außer acht zu lassen. So darf man vielleicht doch mit vorsichtigem Optimismus für die Rehabilitierung der praktischen Philosophie in die Zukunft sehen mit einem gewissen »Mut zur Utopie«, in der Hoffnung auf die Verwirklichung der noch unwahrscheinlich anmutenden Vernünftigkeit. Darin besteht vielleicht die geschichtlich wirksame, aber absichtslose

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„List der Vernunft", daß funktionale Systemzwänge angesichts der globalen Problemverflechtungen und wechselseitigen Abhängigkeiten zunehmend die Vernünftigkeit aus Eigeninteresse unterstützen. Doch der nur in sog. „überraschungsfreien", von Wahnsinnstaten absehenden Szenarioprojektionen abzusteckende „Weg der Vernunft" ist weit — unendlich weit? Jedenfalls ein Weg, der in eine bestimmte Richtung führt. Die Philosophie kann, muß bei der Trassenprojektierung mithelfen. Entsprechend ihrer Grundentscheidung zur Vernunft, gerade auch im Normativen, darf, ja, kann sie nicht den Kopf in den Sand stecken — es sei denn sie gäbe alles Lebenswerte, alle Lebenswerte auf und ergäbe sich einem umfassenden Nihilismus, der nicht einmal Nietzsches „nihilistischer" Heroismus sein könnte. Insgesamt verbindet sich also das Plädoyer für die Revitalisierung der Philosophie angesichts neuer Anforderungen und Funktionsmöglichkeiten mit einem Appell zu einer offenen Zusammenarbeit unterschiedlichster wissenschaftlicher und intellektueller Ansätze, einer Aufforderung zu mehr und mutigen Entwürfen, zu innovativer Kreativität, zum Übersteigen der bloßen Philosophie rein analytischer Techniken durch mehr spekulative Konstruktion, zu mehr Mut in inhaltlichen Entwürfen und normativ-urteilenden Stellungnahmen. Wir haben die Ergebnisse ernst zu nehmen, daß die bloßen Untersuchungen von Methoden, etwa in der Wissenschaftstheorie und in der analytischen Philosophie, für sich genommen oder allein zur Lösung von inhaltlichen Problemen nicht sehr viel beitragen können. Der Optimismus über neue (durchaus im Sinne von Kants „pragmatischer Vernunft" (KrV A 800, AA VIII 119, II 312, 294ff.) pragmatische Aufgaben der Philosophie kann sich also nicht auf einen inhaltlichen Erzeugungsmechanismus für optimale Problemlösungen gründen, sondern auf einen Bedarf, der von außen — wenn man so will: von der „Gesellschaft" — an die Philosophie herangetragen wird. Er basiert auf einer mehr praktischen, dialogischen oder sokratischen Forumsfunktion und der Hoffnung auf deren Durchführbarkeit und Wirksamkeit. Vornehmlich ist hier die Universität gefordert — trotz aller deprimierenden Erfahrungen der letzten und vorvorletzten Jahrzehnte über die aufklärerische Wirkung philosophischer Belehrung, trotz allen Mißbrauchs philosophischer Ansätze zu Ideologien der Gewalt. Es wurde schon zugegeben, daß der hier vielleicht zu pointiert vertretene, wohl noch zu relativierende Optimismus teilweise von der Art einer „self-fulfilling prophecy" ist, ähnlich einem Palmström-Ar-

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gument schließend, „daß nicht sein kann, was nicht sein darf". Daher ist dieser vorsichtige Optimismus mit Appellcharakter darauf angewiesen, daß Philosophen in engagierter Mitarbeit die Eigendynamik dieser optimistischen Prognose fördern und diese tatkräftig lancieren. Dies wird in einigen der zehn folgenden programmatischen Thesen nochmals deutlich werden.

Zehn Thesen über pragmatische Philosophie Das in diesem Vortrag bisher Entwickelte bzw. Angedeutete soll nachfolgend in thesenartiger Konzentration nochmals resümiert werden. Im ersten Teil wird dabei der früheren Karlsruher Antrittsvorlesung (1970) des Verf. gefolgt. Soweit die folgenden zehn thesenartigen Abschnitte sich auf diese beziehen, werden sie nur kurz wiederholt und, wo nötig, modifiziert. Der erste Thesenkomplex behandelt das Verhältnis zwischen Philosophie und Sozialwissenschaften und gewisse in neuerer Zeit aktuell gewordene „philosophische Funktionen" oder gar Ersatzfunktionen der letzteren, hier dargestellt besonders am Beispiel der Soziologie. These 1: Die Sozialwissenschaft könnte die Aufgaben der Philosophie nur dann erfüllen, wenn sich in ihnen Sozialphilosophie als „Soziologie" oder „Sozialwissenschaft" drapierte. Dies geschah und geschieht in der Tat — jedoch zur ideologischen Rechtfertigung normativer Aussagen als „wissenschaftlicher" Sätze und zu einer bloß konzeptuellen Überbrückung zwischen Theorie und Praxis. Nach wie vor ist ein philosophisches Fragebedürfnis virulent und strukturell unverzichtbar, obwohl es oft nicht mehr unter dem Etikett .philosophisch' erscheint, zumindest als so gekennzeichnetes öffentlich nicht wirksam Resonanz findet. Das Vermeiden des Ausdrucks philosophisch' besagt allerdings nichts über die fehlende Relevanz philosophischer Probleme. These 2: Die Formulierung und Analyse von gewissen ,,Brückenprinzipien" (Albert) zur Verbindung von theoretischen Erkenntnissen und normativen Handlungsregeln ist nach wie vor eine dringliche Aufgabe für die Philosophie. Das ist auch aus der Erörterung von Planungsproblemen und aus entsprechenden Forderungen von seilen vieler Politiker, Planer und Pädagogen deutlich geworden. Diese methodischen Brückenprinzipien zu entwickeln, zu analysieren und argumentativ zu

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stützen, ist eine wichtige Aufgabe für die Philosophie. Bei der Untersuchung von Wertsystemen und bei der Konstruktion global orientierter Moralen, besonders der Modelle einer gesamtmenschheitlich orientierten, funktional bestimmten Minimalethik und der erforderlichen Entscheidungsmaßstäbe für strategische und systemhafte Planungen sollten Philosophen kritisch mitsprechen, um nicht dezisionistischen oder technokratischen Tendenzen oder jenem ideologischen Etikettenschwindel das Feld überlassen, der philosophische Probleme unter das Etikett „Wissenschaft" bringt und nötige Differenzierungen nach Methoden, Erfahrungsgehalt, normativem Charakter usw. verwischt. Philosophen können heute freilich kein absolut begründetes oder aus letzten Axiomen deduziertes vollständiges System der Moral liefern, aber sie können sich auf eine gewisse funktionale Übereinstimmung in lebens-, kultur- und institutionensichernden Grundwerten stützen. Es gibt neben normenlogischen Vereinbarkeitsschlüssen Praktikabilitätsargumente ex post und e consequentibus für moralische Entwürfe und gegen den totalen Relativismus von Moralen. Grundwerteund -normen wie Achtung, möglichst weitgehende Sicherung und der Schutz menschlichen, aber auch kreatürlichen Lebens oder Verhinderung/Minimierung unnötigen Leidens spielen dabei eine fundierende Rolle und sind in allen Kulturen irgendwie institutionell sanktioniert, selbst wenn die Formen der diesbezüglichen Normen kulturrelativ variieren. Über konkrete Gewichtungen und Konfliktlösungen sowie über Ausführungsmodalitäten kann der Philosoph natürlich nichts von oben, ex abstracto dekretieren, sondern nur im Konzert mit anderen Vorschläge machen, zur Diskussion stellen und andere Ansätze argumentativ beurteilen. Im übrigen scheint sich eine gewisse Minimalethik gleichsam empirisch durchzusetzen, ineins mit dem an und für sich fragwürdigen Siegeszug der abendländischen Kultur. Die Rede war auch von gewissen Systemzwängen zur Vernunft — oder vielleicht besser: zu einer vernünftigen Zurückhaltung im eigenen Interesse -, denen Supermächte und andere Großgruppen unterworfen sind. Was den Relativismusvorwurf angeht, so denke ich immer an die treffende Formulierung Bouldings, der angesichts des anscheinend totalen moralischen Relativismus gesagt hat, wenn es darum gehe, den Relativisten selbst zu fressen, dann habe der Relativismus eine gewisse, nicht zu übersehende Tendenz, zusammenzubrechen. These 3 handelt von der Nichtparzellierbarkeit der Erkenntnis: Philosophische Probleme können nicht mehr in isolationistischer Unab-

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hängigkeit von wissenschaftlichen Erkenntnissen und auch nicht prinzipiell losgelöst von der Lebenspraxis behandelt werden. Umgekehrt hängen fachliche Problemstellungvon von methodologisch-wissenschaftstheoretischen, also philosophischen Perspektiven ab. Es gibt keine strikt disziplinäre Schubfächereinteilung der Erkenntnis, insbesondere in vielen Bereichen der Grundlagenforschung, der System- und Sozialwissenschaften und der technologischen Großforschung. Problemorientierung in einer nichtparzellierten Grundlagendiskussion und von Vertretern verschiedener Schulen, Disziplinen und Richtungen ist nötig, nicht nur zur wissenschaftstheoretischen Kriteriendiskussion, sondern zur Lösung interdisziplinärer Systemprobleme. Hierbei hat die Philosophie als metatheoretisch-methodologische Disziplin und als „ehrlicher Makler" auf dem Diskussionsforum durchaus eine unverzichtbare vermittelnde Funktion. Die Forderung nach interdisziplinärer Zusammenarbeit bedeutet natürlich nicht die Senkung des erreichten logischen Niveaus oder den Verzicht auf erreichte methodische Einsichten, sondern gerade deren forcierte Anwendung in entsprechenden Zusammenhängen. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Realwissenschaften setzt selbstverständlich eine fachwissenschaftliche Mithörerkompetenz seitens der Philosophen voraus. Wenn festgestellt wurde (von Marquard in der Diskussion dieses Referats), daß „solche Aktivitäten und Funktionen der Philosophie", z. B. die Ermunterung zu interdisziplinärer Arbeit," kein eigenes Philosophenmonopol begründen", ja, „ebensogut ohne Anwesenheit von Philosophen funktioniert(en)", so kann dem nicht zugestimmt werden. Die Wissenschaftstheorie als philosophische Disziplin ermöglicht erst die vergleichende methodologische Diskussion. Freilich können auch Fachwissenschaftler wissenschaftstheoretisch argumentieren — sie tun dies dann aber in philosophischer Weise: Nicht nur Philosophen philosophieren. Wenn die Philosophie (wie Marquard selbst betonte (1973, 116), überhaupt kein thematisches „Kompetenzmonopol" in Lebensfragen und dann wohl erst recht nicht in inhaltlich gebundenen Wissenschaftsfragen hat, dann kann man nicht gut die fehlende Begründung eines inhaltlichen Monopols zum kritischen Argument erheben. - Marquard hält nun „gerade die Funktionslosigkeit, die Narrenfreiheit für eine erstrebenswerte Position" des Philosophen. Dies sei den Philosophen unbenommen, zumal die fruchtbare Nutzung der intellektuellen Narrenfreiheit (s. o. S. 37f., 40f.) eben auch eine wichtige

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Funktion zur Eröffnung neuer Perspektiven, zur Entdeckung und unorthodoxen Formulierung neuer Probleme haben kann. Zudem bedeutet die Übernahme einer — besonders einer nichtbereichsspezifischen methodologischen - Funktion keineswegs, daß der Funktionsträger auf diese zu beschränken sei. Es gibt noch andere Funktionen — und unter Umständen kann gerade deren kennzeichnende Kombination oder eben der funktionsentzogene Restspielraum dasSpezifikum der Philosophie ausmachen. These 4 betrifft aus anderer Blickrichtung ebenfalls die in der vorigen These schon behandelte interdisziplinäre Kooperation mit Erfahrungswissenschaftlern, nämlich deren Nutzen für die Philosophie selbst: Interdisziplinäre Zusammenarbeit ist nicht nur vorteilhaft und nötig für die wissenschaftstheoretische Grundlagendiskussion und für den Fachspezialisten angesichts solcher fächerübergreifenden Problemen, die ihn insbesondere in den erwähnten systemhaften Verflechtungen überfordern, sondern auch der Philosoph kann von der überfachlichen Diskussion profitieren. Die philosophische Forschung ist auf kritische Korrektive aus anderen Disziplinen, insbesondere aus den Verhaltenswissenschaften, angewiesen — heute mehr denn je. Selbst ein noch universell interessierter Philosoph kann z. B. nicht mehr die verzweigten Problemfelder des menschlichen Verhaltens überblicken. Er ist auf Anregungen aus den Einzelwissenschaften angewiesen. Die Personalunion des aktiv forschenden Fachwissenschaftlers mit dem Philosophierenden ist zwar fallweise weiterhin erwünscht und nötig, sie reicht aber nicht aus, um der Bildung von fachspezifischen Scheuklappen und perspektivischen Einseitigkeiten vorzubeugen. - Eine ständige inter- und supradisziplinäre Diskussion ist die notwendige Ergänzung zur Schreibtischphilosophie, eine Diskussion, die sich auf argumentativer Kritik und Konfrontation sowie auf wechselseitiger wohlwollender Korrekturbereitschaft und auf permanenter problemorientierter Kooperation aufbaut. Der kooperative Stil der Diskussion mit Experten anderer Richtungen entspricht zudem der Komplexität der meisten fachgrenzenübergreifenden Problembereiche, einer Komplexität, welche die Kapazität eines jeden Einzelforschers übersteigt. Auch in Universitäten wurden - vor dem Hereinbrechen bürokratischer Lehrdeputatsordnungen, die eine wohlverstandene Interdisziplinarität verhindern, zumindest behindern — zunehmend Vorlesungsmonologe durch interdisziplinäre Seminare ersetzt. — Eine sinnvolle Lösung, besonders in einem Fach wie Philosophie, das eine Problem-

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disziplin und primär kein Stoffach ist. Es ist klar: Ein Philosoph kann heute nicht mehr über die Wahrnehmung reflektieren, ohne die Ergebnisse der Wahrnehmungspsychologie zur Kenntnis zu nehmen. Eine Zusammenarbeit ist umgekehrt auch für den Wahrnehmungspsychologen interessant, wie wiederholt von psychologischer Seite (etwa von Herrmann) ausdrücklich bestätigt und betont wurde. Die überwiegende Mehrheit auch der analytischen Philosophen ist neuerdings bereit, die Unverzichtbarkeit metaphysischer Ideen anzuerkennen. Daher dürfte die These 5 nicht kontrovers sein: Widerspruchsfreie Metaphysik wäre nur mit Hilfe von Metaphysik sicher zu verwerfen (Stegmüller 1954,105). Die Philosophie kann sich also nicht absolut begründet selber aufgeben; das Transparentmachen der philosophischen Grundvoraussetzungen und deren kritische Diskussion ist daher ein unerläßliches Korrektiv gegenüber den (unter Umständen untergründigen, kultur- und sozialgeschichtlich aber stets unterschätzten, höchst wirksamen) Langzeiteffekten philosophischer Überzeugungen und Strömungen. Philosophie ist also nötig zur Korrektur ihrer selbst und der nicht völlig zu vermeidenden, ja, für Orientierungen in unübersichtlichen Krisenlagen sogar in gewisser Weise nötigen Ideologien. Hier ist Specht (a. a. 0., 20) völlig zuzustimmen - und dies hat auch die Diskussion über die Wissenschaftstheorie im Zusammenhang mit der Wissenschaftsgeschichte ergeben -: Metaphysische Spekulationen haben sich als unentbehrliche ,,Motoren" des wissenschaftlichen Fortschritts erwiesen. Feyerabend bezeichnete metaphysische Ideen als „wissenschaftliche Theorien im Embryonalzustand": „Metaphysische Systeme sind wissenschaftliche Theorien in ihrer primitivsten Phase" (1963, 37). Lakatos (in Lenk 1971, 86 vgl. a. Lakatos 1970,132,136 u.a.)imdElkana (1974, 198, 218, 227 u. a.) sprechen sogar von einer „wissenschaftlichen Metaphysik", die „integraler Bestandteil der Wissenschaft" (Lakatos) sei und eine entscheidende Rolle spiele bei der Grundlegung und der ersten Entwicklung erfahrungswissenschaftlicher Theorien. Beispiele bieten etwa die Theorien Keplers und Newtons und ihre Genesis. Specht (a. a. O., 20f.) meint allerdings, es handle sich hier nur um eine „parasitäre Legitimität", um eine Art „Trostpreis" für die Metaphysik. Dies halte ich für ein zu bescheidenes »understatement of legitimation«. Jedenfalls muß man sich neu dieser von der Wissenschaftstheorie und der Wissenschaftsgeschichte ausgehenden Herausforderung an metaphysische Entwürfe stellen; und es scheint durchaus

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sinnvoll, auch eine Auferstehung metaphysischen Denkens zu fordern und zu fördern — und sei es nur aus heuristischen Überlegungen oder aufgrund des Arguments, daß Metaphysik eben nicht metaphysikfrei zu verwerfen sei. Natürlich muß dabei das erreichte Niveau analytischer Methodenpräzision nach Möglichkeit voll gewahrt bleiben und genutzt werden. Zum Abschluß dieser These sei noch einmal der Psychologe Herrmann zitiert, der für seine Wissenschaft, nämlich für die lange Zeit nahezu rein behavioristisch orientierte Psychologie, in ähnlicher Weise argumentiert: Vor wenigen Jahren schloß er auf einem Deutschen Kongreß für Psychologie seine Präsidentenrede mit dem Ausspruch: „Es darf wieder gedacht werden." Bei Philosophen ist das Denken zwar nie völlig unter den Tisch gefallen, aber vielleicht ist die Mahnung nicht ganz nutzlos — nach einer Phase der Selbstrestriktion der Philosophie auf einen theoriefeindlichen sensualistisch-empiristischen Protokollsatzpositivismus, falls noch einige versprengte Exemplare dieser aussterbenden Gattung harter Positivisten existieren sollten. Die These 6 ist die letzte der modifizierten älteren Thesen: Nach dem Scheitern des absoluten Letztbegründungsrationalismus orientiert sich rationales Philosophieren methodologisch unter anderem an der Idee einer prinzipiell universellen (interdisziplinären), aber von Praktikabilitäts- und Humanitätsüberlegungen geleiteten bzw. gezügelten rationalen Kritik, die freilich nicht notwendig als naiv-falsifikationistisch oder auch nur fallibilistisch i. e. S. aufgefaßt werden muß (vgl. Lakatos 1970,S. 116ff.). Hierzu sei unter Zustimmung Habermas( 1971,29), offenbar ein »kritischer Rationalist«, zitiert: „Philosophie kann sich nicht länger als Philosophie,, d. h. wohl: als große Systemphilosophie, „begreifen, sie versteht sich als Kritik. Kritisch gegen Ursprungsphilosophie, verzichtet sie auf Letztbegründung und auf eine affirmative Deutung des Seienden im ganzen." Die Kritik bedarf der vorweg geleisteten Konstruktion, wenn sie vorgelegte konstruktive Entwürfe argumentgeleitet kontrolliert. Kritik allein ist nicht genug. Konstruktivität, Mut zum inhaltlichen Entwurf (der erst die methodologische Form zur Philosophie ergänzt), die Ausgangsbasis gemeinsamer kultureller, lebenspraktischer oder durch Konvention gewonnener Grundüberzeugungen (die freilich selbst nicht grundsätzlich der Kritik entzogen sind) - all dies erweist sich als unerläßlich für philosophische Entwürfe, die zugleich praxisnah und undogmatisch sein sollen.

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Die Grundidee eines von absolutistischen Letztbegründungsansprüchen freien, entwurfsfreudigen und doch der rationalen Kontrolle und der Rechtfertigung (im Normativen etwa der erwähnten pragmatischen Ex-post- und ex-consequentibus-Rechtfertigung unter lebenspraktischen Umständen) verpflichteten Denkens kann daher als der methodische Kern einer gewissen programmatischen neokritischen Aufklärungsphilosophie verstanden werden. Eine solche philosophische Aufklärung ist gewissermaßen als ein ständiger normativer Appell zu verstehen, eine Aufklärung, die keine sicheren Einlösungsgarantien der Erkenntnis und keine falschen Hoffnungen darbietet, die aber optimistisch Erkenntnisfortschritt sucht, freilich ohne überfliegendem Optimismus zu huldigen. Als sozialphilosophisches Modell verspricht diese neokritische Philosophie nicht utopisch-optimistisch eine mündige Gesellschaft, sondern sie bietet nur eine regulative Leitidee; sie stellt eigentlich nur ein methodisches Gerüst für ein erst mit philosophischem Inhalt zu füllendes Programm dar. Die geforderte Leitidee und das praxisnahe Programm präziser zu formulieren, Ansätze dafür zu entwickeln und anzuwenden, ist eine dringliche Aufgabe heutigen Philosophierens. Philosophen sollten sich im Konzert der Richtungen und Wissenschaften, Bildungsinstitutionen und Politikdebatten und der öffentlichen Diskussionen wieder für ein solches Leitideal engagieren. Sie können dann dazu beitragen, daß dieses Ideal institutionell wird, daß die regulative Idee der kritischen Vernunft sich sozial verbreitet. Vernunft ist höchstens noch als Ideal auffaßbar. Sie ist kein reales psychisches Vermögen, sie bezeichnet eher eine normative Leitidee, hat regulative Funktion und hat sich nur in dieser Interpretation bewährt. Die traditionellen Thesen von der reinen, von allen Realbedingungen abgelösten — oder ablösbaren — Vernunft haben sich als Fiktionen erwiesen. These 7 bezieht sich auf die Rolle und die Aufgaben der Philosophie und der Philosophen in bezug auf die öffentlichen Probleme und Lebensfragen: Mit dem Gewinn neuer konstruktiver, ja, spekulativer Freiräume (oder soll man sagen: Spielräume?) angesichts unübersichtlicher systemhafter Fernwirkungs- und Problemverkettungen in der komplexen modernen Weltgesellschaft müssen sich die Philosophen vermehrt den aktuellen Themen der Gegenwart zuwenden und sich den Problemen von öffentlicher Bedeutsamkeit stellen. Ein neues soziales und öffentliches Engagement der Philosophie ist nötig, eine neue pragmatische Philosophie, eine Philosophie der lebenspraktischen Fra-

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gen, einschließlich eben gerade der gesellschaftlichen und der durch die Wissenschaften und durch soziotechnische sowie ökonomische und ökologische Umstände gegebenen Probleme. Pragmatisches Philosophieren ist sehr wohl zu unterscheiden vom pragmatistischen Philosophieren, ist zu verstehen als praxisnahes, problemnahes ,,multilogisches" und kooperatives Philosophieren. Es gibt z. B. bis heute keine ausgearbeitete Philosophie des Arbeits- und Leistungsverhaltens, außer der marxistischen Variante keine ersthafte alternative Philosophie der wirtschaftlichen Phänomene, seit Simmels gleichnamigem Buch keine neue ,»Philosophie des Geldes", keine Philosophie der Planung, kaum eine differenzierte Philosophie der Technik. Es existieren kaum Ansätze zur Wissenschaftstheorie der Wirtschaftswissenschaften, der Systemwissenschaften, der Planungswissenschaften, einschließlich der Zukunftsforschung. Es findet sich bisher wenig Seriöses zur Methodologie der Sozial- und Verhaltenswissenschaften. Um den „cultural lag" und die zeitgemäße Aufmachung zeitloser philosophischer Thesen ironisierend zu beleuchten,sei noch eine wahre Anekdote kurz berichtet: An dem berühmten Massachusetts Institute of Technology lehrt ein Philosoph namens Huston Smith, der den Konfuzianismus als die modernste, weil umweltfreundlichste Philosophie verbreiten möchte und entscheidend das Weltmodell von Meadows beeinflußt hat. Eine Diskussion mit Donella Meadows ergab, daß diese konfuzianische Idee und auch übrigens einige vom Alttaoismus inspirierte Yin-Yang-Prinzipien hinter dieser ökologischen System-Konzeption stehen, die freilich nur in veränderter, nämlich hochcomputerisierter Form Eindruck erwecken konnte und lediglich als solche weltweit wirken konnte. Offenbar muß man heute seine philosophischen Ideen schon in computerhafter Imponier-Auf machung „verkaufen", um die Öffentlichkeit wirkungsvoll zu erreichen: eigentlich ein schrecklicher Gedanke. Gibt es einen »Zwang« zur publizitären Hochstapelei? Zweifellos sind in der Öffentlichkeit solche Bücher wie etwa Steinbuchs Falsch programmiert gerade deswegen zum Bestseller avanciert, weil sie offenbar ein exakter Technikwissenschaftler aus seiner, wie man vermuten würde, präzisen Methodenkenntnis heraus formuliert hat, obwohl Steinbuch in diesem Buch sich fast durchweg traditioneller geisteswissenschaftlicher Methoden, teilweise ohne die gerade von diesen geforderte Präzision, etwa beim Zitieren, bediente. Hätte jedenfalls ein Philosoph dasselbe Buch geschrieben, es hätte bei weitem nicht diese Wirkung gehabt. Das ist ein Effekt, der zu be-

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achten ist und im Zusammenhang steht mit dem abgewirtschafteten Etikett und dem Halo-Effekt, der sich auf das öffentliche Image der Philosophie so auswirkt, wie im eingangs berichteten Fernsehsketch belegt: Alles, was Philosophie ist oder heißt, scheint »verstaubt«. Hier ist von Seiten der Philosophie noch viel zu tun (s. u. These 10): Aufgeschlossene Philosophen, die sich nicht mehr im Elfenbeinturm vergraben wollen, sollten sich bei solchen Imageproblemen engagieren und durch überzeugende Argumente Vorurteile entlarven und entkräften. Auf der deutschen philosophischen Szene findet sich bisher kaum ein Aufnehmen, geschweige eine durchdringende Diskussion der sogenannten lebenspraktischen, uns alle bedrückenden Fragen der Menschen von heute. Vergeblich sucht man bei uns, wie erwähnt, eine Zeitschrift wie Philosophy and Public Affairs. Der oben angeführte Negativkatalog läßt sich natürlich positiv in Aufforderungen ummünzen, und er sollte so verstanden werden. Dies leitet über zur These 8, die eine Folgerung aus diesen Versäumnis- bzw. Aufgabenkatalogen darstellt, und zwar zur Arbeitsteiligkeit innerhalb der Philosophengemeinschaft selbst: Nicht nur in den Analysen der speziellen Wissenschaftstheorie, sondern auch in der Diskussion öffentlicher Fragen muß unter Philosophen eine gewisse Arbeitsteiligkeit eingeführt und gepflegt werden, soweit sie nicht schon von selbst eingetreten ist oder eintritt. Arbeitsteiligkeit unter den Philosophen: ein Widerspruch in sich — zumindest eine höchst unangemessene Forderung? Die »Spezialisten für das Allgemeine« können jedenfalls nicht Spezialisten für alles sein. Dieser Vorschlag umfaßt keineswegs, wie in der Diskussion dieses Referats vermutet wurde, die Forderung, der Philosoph solle sich um alles und jedes kümmern, sondern besagt, daß er eine sinnvolle Arbeitsteilung zwischen Einzelwissenschaft und Philosophie und auch innerhalb der Philosophie selbst (s. u. These 9) vertreten solle. Die in der vorigen These erwähnten Bereiche werden sinnvollerweise von »HalbSpezialisten« wahrgenommen; in dem entsprechenden Nachbarbereich müssen sie wenigstens eine ,,Mitführkompetenz" (Lübbe 1973, 9) besitzen. Das gilt für die Wissenschaftstheorie ohnehin und ist hier auch längst bekannt und anerkannt. Es läßt sich nicht mehr ohne Scharlatanerie behaupten, man könne ohne fundiertes Wissen von der Quantenmechanik ernsthaft zur Philosophie und Wissenschaftstheorie der nachklassischen Physik Stellung nehmen. Diese

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„Mithörerkompetenz" sollte möglichst schon in der Ausbildung angelegt sein: Studenten der Wissenschaftstheorie sollten ein zweites wissenschaftliches Hauptfach voll studieren, möglichst sogar wissenschaftliche Arbeit in diesem erfahrungswissenschaftlichen Fach leisten. Philosophen können trotz der sinnvollen Forderung nach Interdisziplinarität nicht oder nur höchstens in einer gewissen vorbereitenden programmatischen Phase „Leistungssportler des Interdisziplinären" (Marquard 1973, 119) sein. Eine gewisse mittlere Spezialisierung des »Spezialisten für das Allgemeine« ist nötig; der total integrierte Globalist ist ein Unding. Es wäre nämlich gerade jener „integrierte Gesamtidiot", über den Marquard (ebda. 112) geistreich schrieb; er verlöre auf dem Wege vom „Fachidioten" ,/ur Tyrannei der Stellenwerte" jegliche fachliche Identität. Auf die Vielfalt der arbeitsteiligen Aufgaben für diese Globalisten, wie man sie ironisch, sie sich selbstironisch immerhin noch nennen könnte(n), ist hier und jetzt nicht im einzelnen einzugehen. Es gehört aber u. a. zur Aufgabe des Philosophen, daß er in einen Freiraum hineinspringt, den zu betreten seriöse Fachexperten der Einzelwissenschaft sich oft scheuen. Es gibt bestimmte philosophische Methoden, die nicht den Wissenschaften im engeren Sinne zugehören, sondern über den erfahrungswissenschaftlichen Rahmen hinausgehen. Dazu gehört insbesondere das rationale Argumentieren im Bereich normativer Entscheidungsvorbereitung. Die Aufgabe des Philosophen besteht u. a. darin, im Gespräch mit den anderen Experten eine Forumsfunktion auszuüben, denn die Erfahrung lehrt, daß die Diskussion unter disziplinär spezialisierten Fachwissenschaftlern angesichts überfachlicher Probleme allzu häufig unzulänglich bleibt. Insbesondere die Grundlagenprobleme der Wissenschaften und der Bereich des Normativen stellen derartige Aufgabenbereiche für das philosophische Denken dar. Ähnlich wie der Narr bei Shakespeare hat der Philosoph eine fruchtbare kritische Funktion, eine außerordentliche praktische Bedeutung für Entscheidungen und für das Bloßlegen ideologischer Verzerrungen. Auch die Philosophen können natürlich bei ihrem Geschäft der Begriffs- und Ideologiekritik nicht eo ipso vor ideologischen Scheuklappen sicher sein. Man mag jedoch Hoffnung hegen, daß dem durch Konfrontation verschiedenartiger Perspektiven (verschiedener philosophischer und verschiedener wissenschaftlicher) zu begegnen sei; daß die Wahrscheinlichkeit einseitiger Verzerrungen durch die — Berücksichtigung — vielfältiger Ansätze herabgesetzt wird. Dies kann hier nicht näher behandelt werden.

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Statt dessen werde These 9 angeführt, wiederum eine Folgerung aus der letzten These: Dem erwähnten kooperativen Stil der Diskussion mit Experten und erfahrungswissenschaftlichen Generalisten sowie mit Praktikern anderer Richtungen - etwa in der wissenschaftlichen oder in der universitären Diskussion — entspricht nun auch in der Philosophie selbst die Notwendigkeit einer neuen Integration, einer Zusammenführung der arbeitsteilig spezialisierten Philosophen innerhalb ihres Bereichs. Oft sehen natürlich auch in der Philosophie vier Augen mehr als zwei und zehn wiederum mehr als vier. Daher sollten Kompetenz- und Schulenstreitigkeiten zurückgestellt werden, sie sollten nicht um ihrer selbst willen oder um der philosophischen Machtpolitik willen die Szene beherrschen, sondern statt dessen sollte lieber ein „liebender Kampf" um der fruchtbaren,»Frucht bringenden«, Diskussion willen stattfinden: Dialog nicht nur als geistiges Florettfechten der Rechthaberei (was bekanntlich den Philosophen keineswegs fremd ist selbst kritisch-rationalistischen nicht, die gelegentlich im Stil ihres Philosophierens eher eine dogmatische Antithese zu ihrem eigenen Programm zu vertreten, Polemik für Kritik zu halten oder gar diese durch jene zu ersetzen scheinen). Der alte Ruf nach dem dialogischen Philosophieren muß also institutionalisiert und durch ein »multilogisches«, sprachlich besser: »polylogisches«, Denken ergänzt werden, ohne daß deshalb das „einsame Denken" völlig verdrängt werden könnte oder sollte. Sinnvoll wäre eine permanente partnerschaftliche Kooperation der Angehörigen verschiedener philosophischer Schulen unter diesem Gesichtspunkt — einfach, um die Perspektivenvielfalt zu sichern und neue Begegnungs- und Kontrollgeiegenheiten sowie intellektuelle (nicht persönliche) Konfrontations- und Anknüpfungsmöglichkeiten zu liefern. Warum sollten nicht gemeinsame Seminare von Phänomenologen und Logikern, von Wissenschaftstheoretikern und Rechtsphilosophen, Metaphysikern und Ordinary-language-Leuten stattfinden? Sie würden sich sicher als fruchtbar erweisen, wie an Einzelbeispielen schon heute belegt werden kann. Die wechselseitige Methodendurchdringung, -ergänzung und -befruchtung ist dringend und nötig. Es scheint auch die Bereitschaft zu einer solchen Gemeinsamkeit auf verschiedenen Seiten zuzunehmen - selbst bei solchen Richtungen, die bisher einander widerstritten. Der im vorliegenden Band dokumentierte Workshop ,fiolle und Funktion der Philosophie", initiiert und gefördert von der Thyssen-Stiftung, führte bereits Philosophen

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verschiedenartiger Provenienz zu einer längerfristigen Diskussion ohne philosophische Grabenkämpfe zusammen und zeigt, daß die Bereitschaft zu einer solchen Zusammenarbeit der gerade auch in Kontrasten einander ergänzenden Beteiligten vorhanden ist und fruchtbare Anstöße und Resultate zeitigen kann. Die letzte, die These 10 betrifft die Öffentlichkeitsarbeit der Philosophen; dabei geht es — wie schon in These 7 — weniger um die Legitimierung der Philosophie vor Philosophen als um die Ermittlung der Möglichkeiten, wie die Philosophie wieder in der Öffentlichkeit wirksam werden könne: Um das in den vorherigen Thesen geforderte praxisnähere und kooperative Philosophieren zu intensivieren, zu forcieren, zu lancieren, bedarf es einer neuen Öffentlichkeitsarbeit der Philosophen — und zwar ohne Attitüde des vom hohen Kothurn der Weisheit herabblickenden und ex cathedra urteilenden Besserwissers. Bescheidenheit tut not. A. Kaplan (Time 7. 1. 1966, 21) hat zweifellos nicht immer recht, aber auch nicht völlig unrecht mit seiner These, daß es mit der Wahrheitsliebe, der „philosophia", ebenso stünde wie mit anderen Arten der Liebe: „Die Professionellen sind jene, die am wenigsten davon wissen." Zu der erwähnten Bescheidenheit gehören auch Verständlichkeit der Sprache und eine gewisse, keineswegs falsche oder auch nur bis zur Falschheit simplifizierende Bereitschaft zu Zugeständnissen an sprachliche Verständlichkeit. Die neue sozialphilosophische Gesellschaftskritik hat sich gerade durch ihren soziologischen oder eher »soziologesischen« Jargon fast völlig um die größere Publikumswirkung gebracht, die sie vergeblich — insbesondere von der Arbeiterschaft — erhofft hatte, während sie vielleicht innerhalb der Universität einen Großteil ihrer Wirkung gerade dem esoterischen Vokabular und einem „deutschen Tiefsinnsargument" zu verdanken scheint, nämlich der Neigung, Tiefsinniges hinter Nichtverständlichem zu vermuten. Um hierzu nochmals eine 4etzte' Anekdote einzufügen: Ich hatte einmal Gelegenheit, eine Vorlesung Adornos im Auditorium Maximum der Freien Universität Berlin zu hören — über das Thema „Negation und Utopie", wenn ich mich recht erinnere. Nachdem ich von dem sehr komplizierten Referat, das wortgetreu monoton vorgelesen wurde, kaum etwas unmittelbar verstanden hatte, fragte ich einen neben mir sitzenden Studenten, was er von dem Vortrag hielte. Er sagte: Ausgezeichnet, ganz hervorragend — so hervorragend, daß nicht einmal ich alles verstanden habe." Seitdem nenne ich diese, meist implizit ver-

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wendete, Folgerungsfigur, die dieser Student dankenswert deutlich ausgedrückt hatte, „das deutsche Tiefsinnsargument". Ein verständliches, bescheidenes, kooperativ beitragendes Philosophieren ohne Besserwisserei und ohne herrschend erhobenen Zeigefinger, ein solches sokratisches Philosophieren im eigentlichen Sinne ist nur ohne Dünkel möglich. Deswegen muß das publizistische Plädoyer für die Philosophie eben in kommunikationswilliger und daher praxisnaher, problemorientierter Verpackung erfolgen; es muß sich von der Sprache und vom Inhalt her auf den Partner einlassen. Ein solcherart sokratisches Philosophieren kann sich nicht auf das Rühmen vergangener philosophischer Großtaten oder gegenwärtiger Leistungen oder künftiger versprochener Soloresultate beschränken oder gar versteifen. Neben dem erwähnten Stil kooperativer Diskussion mit Experten anderer Richtungen entsprechen etwa Round-tableDiskussionen im Fernsehen mehr dem auf Abwechslung und Vielfalt eingestellten öffentlichen Erwartungshorizontais monolithische Monologe. Der alte, schon erwähnte Ruf nach dem dialogischen Philosophieren muß auch coram publico exerziert werden. Selbstverständlich prägen die Ziele und Umstände wie auch die Partner den Stil einer solchen Diskussion: Die Auseinandersetzung in der wissenschaftsinternen Fachdiskussion wird sich — das ist trivial — in Akzentsetzung und Stil von der universitären Lehrdisputation ebenso merklich unterscheiden wie von der televisionären Round-table-Diskussion, die oft zur telegenen Selbstdarstellung versierter Medienprofessoren, zu intellektuellem Showgefecht, Showgeschäft gerät. — Richtet sich etwa die fachdisziplinäre Diskussion mehr auf methodologische Kritik und präzise Details, so die letztere eher auf inhaltliche Gesamtstellungnahmen und -argumente. Die verwendete Sprache müßte dementsprechend und mit Rücksicht auf die jeweiligen Zuhörer nach Komplexität und Terminologie unterschiedlich ausfallen. Dennoch sollten auch Philosophen unter sich — etiam peccavi — das arabische Sprichwort bedenken (und beachten): „Große Weisheiten lassen sich stets in wenige — und meist einfache — Worte fassen".

Schlußbemerkungen An Stelle einer ausführlichen Zusammenfassung sei ein kurzes programmatisches Resümee formuliert: Weit davon entfernt, überflüssig,

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unnötig, überholt zu sein, ist der Beitrag der für disziplinäre und für interdisziplinäre Zusammenarbeit aufgeschlossenen Philosophen — nötig angesichts der immer unübersichtlicheren Problem- und Wirkungsverflechtungen in Zeiten schneller Orientierungsänderungen und eines gewissen Zielprojektionsdefizits. Es besteht nicht nur bei Wissenschaftlern und Praktikern (z. B. Planern) der Bedarf an philosophischer (und das bedeutet auch, aber nicht nur: an wissenschaftstheoretischer) Mitarbeit, sondern auch ein Problemformulierungs- und Orientierungsvakuum in der öffentlichen Meinung. Der Stil des Philosophen kann in der »postabsolutistischen« Epoche des Philosophierens nicht mehr absolutistisch sein; das heißt, der praktischen Problemen gegenüber und für Zusammenarbeit aufgeschlossene Philosoph kann nicht mehr aus scheinbar unumstößlichen Axiomen angeblich absolute Weisheiten deduzieren, in Wirklichkeit aber, von Willkürannahmen ausgehend, eher dekretieren, sondern er muß sich kooperativ und bescheiden in die interdisziplinäre Diskussion einfügen. Dies letztere zu wagen, dazu geben nicht nur die jedes Expertenwissen übersteigenden Problemsituationen im „planetarischen" Zeitalter Anlaß. Sondern auch methodologische Untersuchungen zur Wissenschaft, zur Rolle theoretischer Entwürfe und metaphysischer Grundideen bei der schöpferischen Neuentwicklung und ebenso Einsichten zur»Nichtparzellierbarkeit«der Erkenntnis (die nicht in sauber getrennte Schubfächer abgepackt werden kann) können dem Philosophen wieder Mut machen, den Mut, den er allzulange, allzu zaghaft (verängstigt, durch übermäßige Methodenskrupulosität und analytische Abstinenz von wesentlichen inhaltlichen Einsichten nahezu «"?rü geworden) vermissen ließ. Ein unbürokratisches Philosophieren, ein, wenn man will, risikofreudigeres, oder, um es mit Simon Moser zu sagen, ein „sportlicheres Philosophieren" ist wieder möglich und nötig. In der Öffentlichkeit kann dieses aufgeschlossene Philosophieren unter Umständen nur dann Resonanz finden, wenn es nicht unmittelbar unter dem Etikett Philosophie' betrieben wird. Gegen dieses ist an sich natürlich nichts einzuwenden, jedoch sollte eine in der Öffentlichkeit bereits eingefahrene abschreckende Wirkung vermieden werden. Es kann eigentlich auch nicht mehr von der Philosophie als einer strikt abgrenzbaren, in sich monolithischen Einheit die Rede sein. Jeder solche Ausdruck für eine Sammeldisziplin, so auch derjenige der Philosophie kann nichts anderes bezeichnen als eine Abstraktion aus verschiedenen Richtungen, Pe rspektiven, Theorien, „Schulen", geschichtlichen Traditionssträngen und Stellungnahmen.

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Dies aber mindert nicht das Gewicht und die Dringlichkeit der philosophischen Probleme. Die Philosophen sollten sich nicht an terminologischen Handikaps stören, sondern liberal in terminologischen Konventionen — fortiter in re, suaviter in modo — unverdrossen auch Probleme von öffentlicher Relevanz aufgreifen und ohne enge fachliche oder schulenbedingte Scheuklappen diskutieren. Das Inkompetenzkompensationskompetenz-Gestöhn jedenfalls scheint unter ein Inkompetenzüberkompensationsgetue zu geraten oder gar zu einem philosophischen Impotenzimponiergehabe allzu introvertierter isolierter Interpretatoren gesteigert worden zu sein. Für interdisziplinäres kooperatives und »polylogisches« (statt für ein bloß monologisches oder nur »bilateral« dialogisches), für ein neues pragmatisches Philosophieren ist eine Attitüde autistischen Verzichts unangebracht. Nicht nur tristesse oblige, auch urgence et importance obligent.

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Skeptische Betrachtungen zur Lage der Philosophie Meine Damen und Herren: ich widerrufe; aber darüber erst gleich. Zunächst tue ich das, was ich bei Referaten meistens tue: ich gliedere, damit Sie von vornherein wissen, wann Sie - falls Sie das überhaupt vorhaben - aufpassen müssen und wann nicht. Im übrigen: Ordnung muß sein, und sei es auch nur in der Gliederung. Mein Referat hat fünf Abschnitte, es sind die folgenden: l. Verspätetes; 2. Kompetenz; 3. die Kunst, sie loszuwerden: die eine und die andere; 4. einige ethnographische Feldstudien über philosophoides Verhalten beim Stamme der Skeptiker; 5. Schlußbemerkung. Aus dieser Gliederung können Sie entnehmen, daß die Frage ,wozu Wozufragen' hier nun doch nur beiläufig vorkommen wird im allgemeinen Kontext von skeptischen Betrachtungen zur Lage der Philosophie, die im übrigen eine knappe Stunde dauern werden. Damit — falls es denn eine ist — zur Sache. 1. Von Helmuth Plessner wissen wir, daß es sie gibt: die verspätete Nation.1 Durch Introspektion weiß ich, daß es sie gibt: die verspätete Lektüre. Aus der verspäteten Lektüre der „Verspäteten Nation" weiß ich, daß es sie gibt: die — ich zitiere Plessner - „Selbstunsicherheit der Philosophie" (163) und „die Selbstunsicherheit der Philosophen, die auf der Suche nach ihrem verlorenen Beruf sind" (158). Ich weiß es natürlich nicht nur dorther, von Plessner, aber dort ist das alles ganz besonders eindrucksvoll geschildert. Zitat: „Die Philosophie ist in sich und mit sich zerfallen" (71). Zitat: „Ihr Beruf war den Philosophen im Laufe des 19. Jahrhunderts selber zum Problem geworden und für die deutsche Philosophie gewiß das dringendste" (150). Zitat: „Mit dem Weltberuf des Philosophen, den noch das 18. und 19. Jahrhundert sah, scheint es aus" (l 53). Zitat: „Daß Philosophie heute noch existiert, 1

H. PLESSNER, Die verspätete Nation. Über die politische Verfuhrbarkeit bürgerlichen Geistes (zuerst 1935), Stuttgart (Kohlhammer) 1959, hier zit. nach: Frankfurt (Suhrkamp) 1974.

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nachdem der Fortschritt der Wissenschaften im Laufe des 19. Jahrhunderts sie um das letzte Arbeitsgebiet gebracht hat, verdankt sie nicht zuletzt dem ihr aufgezwungenen Kampf gegen die eigene Überflüssigkeit" (150). Zitat: „Durch Selbstausschaltung der Philosophie aus den lebensbestimmenden Mächten von entscheidender Wichtigkeit" (42) befindet sie sich im „Zustand ihrer Entmachtung" (156) mit „Angst vor der eigenen Überflüssigkeit" (159): „Sie ist überholt und damit funktionslos geworden" (176). Dies alles schreibt Plessner. Der Kontext dieser Äußerungen ist bei Plessner — ganz grobschlächtig und wohl auch etwas eigenwillig referiert, resümiert, generalisiert - der folgende: seit die Religion, die „heilsgeschichtliche Deutung des Menschen" (107) an Geltung verliert und zerbricht, fällt der modernen Diesseitskultur und insbesondere der modernen Philosophie die Aufgabe zu, diesen Orientierungsverlust zu kompensieren: die Philosophie fungiert fortan - wie Plessner sagt — als „ein vom Schicksal erzwungener grandioser Schadenersatz" (167). Diese Sinngebungskompensation durch Philosophie wird vor allem für jene Sozialformation - nämlich Deutschland - aktuell und unvermeidlich, die es - aus Verspätungsgründen komplizierter Art - versäumte, an den Einübungsjahrhunderten für liberale Traditionen der modernen Welt teilzunehmen: dieser Mangel an Traditionsbildung — an geschichtlich rechtzeitiger Ausbildung habitualisierter, von ausdrücklichen Sinnfragen entlasteter selbstverständlicher Sinnsicherheit der jeweils gelebten gegenwärtigen Realitäten - bewirkt bei dieser verspäteten Nation ein Defizit an mitkompensierender Wirklichkeit: darum fällt hier - vereinfacht gesprochen - alles auf die Philosophie. Ihre Entlastung zur bescheidenen Mit-Kompensation unter anderen Kompensationen findet hier nicht statt. Die Philosophie avanciert daher notgedrungen — zur großen Alleinkompensation, zum fundamentalen Exklusiversatz, zum Totalsurrogat: das aber ist problematisch. Denn es läuft auf den Versuch hinaus, versäumte und versagte Realität — ungelebtes Leben also - ausschließlich durch Philosophie zu ersetzen. Just dadurch aber wird die Philosophie überfordert: diese Evidenz ist - im Sinne der Plessnerschen Untersuchung - sozialbiographisch, sie ist aber — nota bene — auch individualbiographisch erreichbar. So wird die Philosophie nicht nur — in Deutschland etwa um 1800 — zum Felde enormer Anstrengungen und Leistungen. Sie wird auch zur Adresse übersteigerter Hoffnungen: schließlich wird alles von ihr erwartet. Diese Erwartung aber kann sie nur enttäuschen. Der Versuch,

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fehlende Wirklichkeit durch Philosophie zu ersetzen, verwandelt sich zwangsläufig in den Eindruck, durch Philosophie um Wirklichkeit betrogen zu sein: dieser Eindruck entwickelt sich zu einer allgemeinen Kultur des Verdachts gegen die Philosophie; es kommt zur Geburt der Ideologiekritik aus dem Geiste der Enttäuschung der absoluten Hoffnung auf die Philosophie. Dies aber setzt eine Bewegung in Gang, an deren Ende die Hoffnung auf die Philosophie ersetzt wird durch ihr Gegenteil: durch die Verzweiflung an der Philosophie. Diese Verlaufsanalyse habe ich — gemessen an Plessners differenzierten Überlegungen — zweifellos simplifiziert; entscheidende Befunde von ihm kamen hier sowieso gar nicht erst vor. Vielleicht auch habe ich das von mir Betonte — die These vom historisch bedingten Umschlag der historisch bedingten Überhoffnung auf die Philosophie in die Verzweiflung an der Philosophie — mehr in Plessner hinein- als aus ihm herausgelesen: das wäre dann ein Fall von Hermeneutik; denn Hermeneutik ist die Kunst, aus einem Text herauszukriegen, was nicht drinsteht: wozu - wenn man doch den Text hat - brauchte man sie sonst? Indes: ob die skizzierte Verlaufsanalyse nun mehr oder weniger Plessner ist, ich jedenfalls meine: sie ist einigermaßen plausibel; und ich meine zugleich: die heutige Konjunktur der durch Unbehagen inspirierten Wozufragen in bezug auf die Philosophie ist - bewußt oder unbewußt — eine Gestalt dieser Verzweiflung an der Philosophie, die eine umgekippte Hoffnung ist. Insofern läßt sich ein Zusammenhang erkennen zwischen dem von Plessner analysierten Syndrom und dem Tatbestand, der diesen workshop bewegte, to begin and to go on working. Just darum schien es mir sinnvoll, diesen Hinweis auf Plessner, auf die verspätete Nation und das Scheitern ihrer Philosophieüberforderung an den Anfang dieser Betrachtung zu stellen. Es hat dies im übrigen auch weitere zuträgliche Effekte. Zunächst: meine eigenen extremen Formulierungen, die zitiert wurden, weil man Herrn Hochkeppel zu zitieren pflegt und darum dann auch das, was er seinerseits zitiert, diese Formulierungen — etwa: daß wir „Philosophie (betreiben) nach dem Ende der Philosophie", weil die Philosophie schließlich „kompetent (ist) nur noch für eines: nämlich für das Eingeständnis der eigenen Inkompetenz"2 - diese Formulierungen also 2

Verf., Inkompetenzkompensationskompetenz? Über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie, in: H. M. BAUMGARTNER/O. HÖFFE/CHR. WILD

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werden durch den Hinweis auf Plessners einschlägige Sätze überflüssig, denn bei Plessner ist all das gesagt, was sich über die Bedrängnislage der Philosophie vernünftigerweise sagen läßt. Weiter: diese Rede von einer Bedrängnislage der Philosophie wurde durch den Hinweis auf Plessner zugleich historisch spezifiziert; durch seine Analyse wird insbesondere — und dies paßt zu Frau Schapers Beobachtung von Unlustreaktionen gegenüber der Frage ,wozu Philosophie?' außerhalb der Grenzen des bloßen deutschen Sprachraums — plausibel, daß und warum diese Frage zur verspäteten Nation gehört als eine quereile allemande. Die Deutschen, nach Plessners Analysen historisch erklärbar ein Mängelwesen unter den Nationen, kompensieren ihre Mängel durch Philosophie; aber gerade dadurch - sozusagen zwangsläufig entdecken sie, daß just die Philosophen in extremer Weise Mängelwesen sind: die grollende Wozufrage an die Philosophie ist dann in gewisser Hinsicht — offizielles Dementi und inoffizielles Eingeständnis einer verlegenen Kumpanei: ein faux pas de deux. Dabei schließe ich übrigens nicht aus, daß diese Wozufrage ihre Ernstphase schon hinter sich hat und — da das Verspätungssyndrom sich änderte — längst in ihre Spielphase eingetreten ist: warum sonst würden sich gerade Existenzen wie ich mit dieser Frage befassen? Allein: zuweilen ist Spiel zumindest gewesener Ernst; es reagiert dann auf eine Lage, in bezug auf die die Frage sinnvoll bleibt, ob es sie gibt oder nur gab. Schließlich: wenn die Verzweiflung an der Philosophie - und also auch die durch sie inspirierten Wozufragen in bezug auf die Philosophie — tatsächlich der zur Position gemachte Kollaps einer übersteigerten Erwartung an die Adresse der Philosophie ist, so liegt darin schon eine gewisse weitere Antwort, warum Wozufragen in bezug auf die Philosophie heutzutage hierzulande häufig und gern gestellt werden. Diese Fragen bedeuten eine Kompensationsausfallkompensation. Wenn — dies ist die Artikulation der Motivationsfigur dieser Schadloshaltung — wenn wir schon nicht mehr die anspruchvollste, die beste, die absoluteste Philosophie haben können, dann wollen wir wenigstens die anspruchsvollste, die beste, die absoluteste Verzweiflung an der Philosophie haben. Wozu also die Frage ,wozu Philosophie?'? Sie dient zunächst einmal dazu: bei der verspäteten Na(Hrsg.), Philosophie - Gesellschaft - Planung (Hermann K ring s zum 60. Geburtstag), München (Bayerisches Staatsinstitut für Hochschulforschung und Hochschulplanung) 1974, 114-125.

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tion in bezug auf die Philosophie eine mißlungene Hoffnung durch etwas Gelungenes zu ersetzen: nämlich durch eine gelungene Verzweiflung. 2. Ich widerrufe: dies jedenfalls hatte ich zu Beginn versprochen. Aber — so werden Sie jetzt fragen — wo bleibt er denn, der Widerruf? Das Bisherige war doch wohl vor allem eine taktische Maßnahme: die, Plessner in die Schußlinie zu rücken, um selber nicht beschossen zu werden. Im übrigen aber war es: eine Variante, allenfalls eine Differenzierung, bestenfalls eine Abschwächung; im Grunde aber blieb es: die verstockte Wiederholung der Behauptung, daß es der Philosophie heute nicht gutgeht. Wo also bleibt da der Widerruf? Nun: diese Ansicht, daß die Philosophie sich gegenwärtig in Bedrängnislage befindet, die wollte ich gar nicht widerrufen, oder allenfalls — und jedenfalls zunächst — nur ein bißchen. Widerrufen möchte ich — zunächst und zumindest — etwas anderes: nämlich daß sich diese Bedrängnislage der Philosophie als JMangel an Kompetenz' wohlgelungen beschreiben läßt. Der Kompetenzbegriff ist nämlich ein merkwürdiger Begriff. Ich erläutere das auf einem Umweg. Begriffsgeschichtliche Recherchen scheint mir — sind nützlich nicht zuletzt deswegen, weil man dabei Dinge findet, die man gar nicht sucht. Wer — wie ich das vor einiger Zeit getan habe, ohne es in Forschung ausarten zu lassen — wer in Registern und Lexika nach dem Worte Compensation' sucht, der findet mancherlei, was zu mancherlei Vermutungen Anlaß gibt; eines jedoch verdichtet sich ihm dabei alsbald zur sicheren Gewißheit: wo immer ein Stichwort Kompensation steht, wo immer man es erwartet, ohne daß es dort steht: stets befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft das Stichwort Kompetenz. Und da ich in der Regel statt das zu lesen, was ich lesen soll — das lese, was mich eigentlich gar nichts angeht, habe ich in manchen Kompetenzartikel hineingeschaut. Mein Eindruck — den mit einem Forschungsergebnis zu verwechseln freilich nicht ratsam sein dürfte - mein Eindruck ist: jener Kompetenzbegriff, der die — womöglich noch kontrafaktisch ideale — Zuständigkeit, Fähigkeit, Bereitschaft meint, der ist Chomsky hin, Habermas her — nur ein später und armer Überbau einer interessanten älteren und in der offiziellen Neudefinition unbemerkt aber wirkungswichtig weiterlebenden Grundbedeutung. Der heutzutage offiziell etablierte Kompetenzbegriff ist einerseits ein

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Juristenbegriff; das lasse ich hier beiseite, denn mit Juristen - mit Streitprofis - soll man nicht streiten. Und der heutzutage offiziell etablierte Kompetenzbegriff - der von Chomsky in Umlauf gebrachte - ist andererseits ein Linguistenbegriff, ein moderner, und so ahnt man gleich, daß da die Diachronie zu kurz kommt; aber nur die Diachronie zeigt, was mit diesem Begriff — mit seiner inoffiziellen aber wirkungswichtigen Subbedeutung — in Wirklichkeit los ist: daß es sich da um einen Möglichkeitsbegriff besonderer Art handelt. Nicht wahr: im alten Rom hießen competitores die Konsulatskandidaten; competentia war ihr Status, bis sie Konsuln wurden oder nicht wurden: danach war es aus mit ihrer competentia. Und wiederum in Rom — etwas später — hießen competentes die Papstkandidaten; competentia war ihr Status, bis sie Papst wurden oder nicht wurden: danach war es aus mit ihrer competentia. Und in Zedlers Lexikon von 17323 heißt es: „Competentes: war in der alten Kirche diejenige Klasse von denen Catechumenis, welche bisher in der christlichen Religion genugsam informiret waren, und nunmehro miteinander anhielten, daß sie zur Tauffe gelangen mögten . . . Sie führten aber diesen Namen nicht lange, denn den Palmen-Sonn tag hielten sie um die Tauffe an, und den Oster-Tag erhielten sie dieselbe": ihre Kompetenz dauerte also genau eine Woche. Zedler generalisiert folgendermaßen: „Competent .. . heißt einer, der mit ändern zugleich um etwas anhält": ein Anhalter, könnte man sagen, wenn es nicht so nach hitch-hiking klänge (obwohl dieser Anklang berechtigt ist). Kompetenz: dieser Begriff - scheint es - gehört ins Wortfeld der Rivalität; er meint — scheint es — eine Verfassung des Etwas-haben-oder-werdenwollens; kompetent ist der, der (a) etwas will, was nicht alle wollen, der (b) etwas will, was auch andere wollen, der (c) etwas will, was nur einer oder wenige bekommen können, und der (d) noch nicht erreicht hat, was er will: sobald er es nämlich erreicht (oder endgültig nicht erreicht) hat, ist es aus mit seiner Kompetenz. Darum ist der stärkste Oppositionsbegriff zur Kompetenz weder die Inkompetenz noch die Performanz, sondern das Avancement; ich habe mir überlegt, ob man das Arrivanz nennen könnte, aber meine Wortbildungsberater haben mir davon abgeraten. Kompetent ist, wer avancieren will und noch nicht avanciert ist: Kompetenz ist Eventualavancement, und d. h. 3

JOHANN HEINRICH ZEDLER, Großes vollständiges Universallexikon aller Wissenschaften und Künste, Halle/Leipzig 1732ff.

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vor allem: eventuelles Nichtavancement. Deshalb ist die stärkste Gemeinsamkeit aller Kompetenten — also der Kandidaten, Bewerber, Prätendenten, Konkurrenten, Aspiranten, Interessenten, Anwärter, derer, die sich Chancen ausrechnen und Hoffnungen machen, der Nebenbuhler und Rivalen, der Bitt- und Antragsteller und anderer, die zusammen mit anderen etwas wollen, was nicht jeder bekommen kann — ihre stärkste Gemeinsamkeit ist diese: daß sie, was sie wollen, noch nicht erreicht haben. Das wird von den heutigen Kompetenzenthusiasten aus durchsichtigen (aber keineswegs transparenten) Gründen nicht gesehen; sobald man es aber sieht, ist es mit der Karriere des Kompetenzbegriffs als Obenaufformel - möglicherweise vorbei; eher ist er eine getarnte Repressionsformel. Denn zwar: Kompetenz als Verfassung des Noch-nicht ist mögliches Thema einer Theorie - meinethalben auch einer Ontologie oder gar Universalpragmatik — des Noch-nicht-seins; aber: das Prinzip Hoffnung ist nur das Fiktions- und Lustprinzip der Kompetenz, ihr Realitätsprinzip aber ist das Prinzip Enttäuschung. Das gilt gerade für die Philosophie und für sie gerade dann, wenn man die philosophia — was ja schon von ihrem Namen her möglich ist — als competitrice begreift, die die sophia will. Wenn ihre einschlägige Appetenz eine Kompetenz ist — und dies ist sie ja mit der Zeit in wachsendem Maße geworden: die Geschichte der Philosophie ist die Geschichte der Vermehrung ihrer Mitbewerber bei einer offenbar immer spröder werdenden sophia —, dann ist diese Kompetenz — gerade ihre Kompetenz — mit einiger Sicherheit unglücklich; denn — und dies gilt zugleich generell — mit der Ausweitung des Kompetentenkreises wächst die Enttäuschungswahrscheinlichkeit. Darum — und dies ist hier der Punkt meines Widerrufs — dämm ist es keineswegs so, daß die primäre Bedrängnis der Philosophie heutzutage ihre Inkompetenz ist: die kommt — wie man so sagt — nur auch noch hinzu. Sondern belastet ist die Philosophie gerade und vor allem durch die Verfassung der Kompetenz: durch ihre riskante, enttäuschungsgewärtige Intentionslage, die eine Bedrängnislage ist. Sie sehen — dies jedenfalls hoffe ich — jetzt, was ich meinte, als ich sagte: daß sich die gegenwärtige Bedrängnislage der Philosophie als Mangel an Kompetenz nicht wohlgelungen beschreiben läßt. Denn nicht erst die Bestreitung, sondern bereits die Behauptung einer Kompetenz der Philosophie charakterisiert - im Zeitalter der (möglicherweise exponentiellen) Vermehrung ihrer Rivalen - jene Lage der Philosophie, die ich zu Beginn

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— im Anschluß an Plessner — beschrieben habe: in ihrer extremen Form als verzweifelte Lage, als Lage der Verzweiflung an der Philosophie. 3. Kierkegaard hat zwei Formen der Verzweiflung unterschieden: die Verzweiflung der Schwäche (verzweifelt nicht man selbst sein wollen) und die Verzweiflung des Trotzes (verzweifelt man selbst sein wollen)4. Wo die Philosophie an sich selber verzweifelt, aktualisiert sie diese beiden Formen: dann will die Philosophie ihrerseits entweder verzweifelt nicht sie selbst sein oder verzweifelt sie selbst sein. Wo ihre Verzweiflung gerade in ihrer Kompetenz besteht, entwickeln sich diese beiden Formen zu zwei Techniken, ihre Kompetenz loszuwerden. Die eine besteht darin, nichts mehr zu wollen; die andere besteht darin, nun erst recht zu wollen und alles zu wollen und dabei selber die Instanz zu werden, die darüber befindet, wer bekommt. Anders formuliert: angesichts der verzweifelten Kompetenz der gegenwärtigen Philosophie entstehen zwei Fluchttendenzen: die zur Flucht in die Inkompetenz und die zur Flucht in das Überavancement. Ich sage damit nichts Neues; ohnehin bestehen meine derzeitigen Ausführungen im wesentlichen im Versuche sorgfältiger Verschleierung der Tatsache, daß ich — in dieser Variante, dieser Parallelaktion meiner selbst, und einmal beiseitegelassen, daß ich ja widerrufe — hier nur wiederhole, was ich schon im September 1973 von mir gab 5 : damals war es diese Doppelreaktion der Gegenwartsphilosophie, die mich eigentlich interessiert hat; alles andere — insbesondere die finstere Rede von der Inkompetenz der Philosophie - war reine Pflichterfüllung: die Erfüllung jener Pointierungspflicht, die ein transzendentaler Entertainer nun einmal hat. Ich wiederhole darum hier auch, daß beide Fluchttendenzen meines Erachtens die aktuellen Gestalten uralter Fraktionen der Philosophie — des Skeptizismus und des Dogmatismus — sind: die „Selbstunsicherheit der Philosophie" disponiert diese gegenwärtig zur skeptischen Flucht in die Inkompetenz und zur dogmatischen Flucht in das Überavancement. Man kann das auch im Sinne einer groben Faustregel - so sagen: die Gegenwartsphilosophie — jedenfalls hierzulande — neigt dazu, stets entweder bei Pyrrhon oder bei Fichte zu landen. Es ist eine durchaus spannende Frage, ob der Versuch, beides auf einmal zu machen, — also der zu einem pyr4

S. KIERKEGAARD, Die Krankheit zum Tode (1849), Gesammelte Werke (ed. E. Hirsch), 24./2S. Abt., 8, 45 u. ff. 5 Vgl. oben Anm. 2.

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rhonischen Fichteanismus oder fichteanischen Pyrrhonismus — diese Disjunktion unterlaufen kann: diesen Versuch unternimmt, habe ich den Eindruck, gerade Christoph Wild; warten wir das ab (es könnte natürlich auch herauskommen, daß Fichte die graue Eminenz des Skeptizismus ist). Einstweilen besteht gegenwärtig angesichts der approximativ verzweifelten Verfassung ihrer Kompetenz bei der Philosophie ihre Kunst, diese Kompetenz loszuwerden, in zwei Künsten; nämlich der einen: dogmatische Flucht in das Überavancement; und der anderen: skeptische Flucht in die Inkompetenz. a) Zunächst ein paar Worte über die eine: die dogmatische Flucht in das Überavancement. Kompetent sein und Eignungszweifeln unterliegen ist dasselbe; dabei können sich eben - auch und gerade bei der Philosophie — die Eignungszweifel zur Eignungsverzweiflungsteigern. Die Flucht davor, die Flucht aus der Kompetenz geschieht hier so, daß die Philosophie aus dem Status des Objekts von Eignungszweifeln — auch von eigenen — dadurch entkommen will, daß sie den Status des Subjekts von Eignungszweifeln okkupiert, und zwar vorsichtshalber - und gegebenenfalls sukzessiv - gleich den des Subjekts aller Eignungszweifel. Das nenne ich Flucht in das Überavancement deswegen, weil es hier darauf ankommt: nicht nur etwas und möglichst viel, sondern darüberhinaus gerade das zu werden, was darüber entscheidet, wer etwas — weniger, mehr oder alles - werden darf oder nicht. Man wird die Kompetenz dadurch los, daß man sie zur unausweichlichen Verfassung des Anderen macht, indem man selber die Instanz ihres Schicksals wird, die, die darüber entscheidet, wer avanciert. Das klingt womöglich abstrakt, ist es aber nicht, denn es konkretisierte sich selber: in Kants Kritik war diese Entscheidung noch Sache der transzendentalen Deduktion (quid juris: mit welchem Recht avanciert eine bestimmte Kategorie zur legitimen?), heute ist es eine sehr empirische Sache geworden: zum Beispiel eine der Personalpolitik. In dieses Überavancement flieht nun jener philosophische Dogmatismus, der sich — und hier meine ich nicht nur die Frankfurter Schule heutzutage emphatisch Kritik nennt. Ihr dialektischer Fundamentaltrick ist der, eine gefürchtete Instanz dadurch loszuwerden, daß man sie wird6. Das ist - jedenfalls nenne ich es so — die Flucht aus dem 6

Anders formuliert: Legitimitätsprobleme wirft man auf, um derjenige zu sein oder zu werden, der sie entscheidet, also um diejenige Instanz zu sein oder zu werden, die über Legitimität oder Illegitimität befindet (die legitimiert oder diskriminiert).

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Gewissenhaben in das Gewissensein: eine Flucht ins Über-Ich. Dieses Über-Ich ist im Zeitalter der - nicht mehr nur bilateral-dialogistisch, sondern inzwischen multilateral-interaktionistisch begriffenen - Kommunikation natürlich kein Ich mehr, sondern ein Wir: das Über-Wir. Gleichwohl - bemerkenswerterweise - gehorcht dieses Wir den Direktiven Fichtes, so daß gilt: das Wir setzt sich selbst, indem es sich absetzt vom Nicht-Wir: es ,wird' das Über-Wir durch diese Absetzbewegung, die dann Geschichte genannt wird, die eine Geschichte der einen Emanzipation. Die Absetzungsmethode ist der Verdacht; er wird zum absoluten Pensum der Philosophie: kritische Philosophen sind Verdächtigungsprofis. Objekt dieses Verdachts ist alles, mit Ausnahme des philosophischen Verdächtigers: er verdächtigt ja, um diese Ausnahme zu sein. Darum muß für ihn das Verdächtige immer das Andere - das Nicht-Wir - sein oder werden; denn gerade dadurch bleibt das NichtAndere - das Subjekt des Verdachts, das er selber ist, die Philosophie als Kritik, das Über-Wir - immer das absolut Unverdächtige. So wird diese Philosophie mit den Bedenken, die gegen sie erhoben werden, dadurch leicht fertig, daß sie selber das Monopol für Bedenken behauptet. Andere dürfen also Bedenken nicht haben. Sich selber gegenüber ist sie bedenkenlos. Dies sichert sie durch exzessive Bedenken gegenüber den Anderen. Das Mittel dafür sind die Wozufragen, die immer Fragen an das Nicht-Wir sind oder das Nicht-Wir geradezu erst zum Nicht-Wir machen. Wozu?: so fragt man - hier, bei der Kritik stets nur die Anderen; das ist ja der Sinn der Sache, der Frager und ebendadurch nicht der Befragte zu sein. Wozu Philosophie?: diese Frage bedeutet hier also: wozu die Philosophie der Anderen? Denn die eigene Philosophie ist über Wozufragen erhaben. Die der Anderen ist natürlich etwas Schlimmes, und zwar deswegen, weil sie die der Anderen ist. Die Basisform der kritischen Wozufrage ist jedenfalls: wozu die Anderen? Wozu, das heißt vor allem: wozu gehören sie? Antwort: nicht zu uns. Sie sind — und das richtet sie - eben das Nicht-Wir, von dem sich das Über-Wir per philosophiam criticam durch Wozufragen absetzt. Wozu Wozufragen?: diese Anwendung der Kritik auf die Kritik selber ist — bei Androhung der Strafe, daß der Frager widrigenfalls unverzüglich zum Nicht-Wir erklärt und peinlichen Wozufragen unterworfen wird — verboten: denn kritische Wozufragen stellt die Kritik, um sie selbst nicht gestellt zu bekommen. Damit ist freilich die Frage zugleich auch beantwortet: ihren Sinn haben Wozufragen — innerhalb dieser kritischen Dogmatik

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der dogmatischen Kritik — ausschließlich als Instrumente der Flucht der Philosophie aus ihrer Kompetenz vor der Instanz dieser Kompetenz in diese Instanz: indem die Philosophie nunmehr ausschließlich selber die Wozufragen stellt, ist sie selber die Kompetenz los und signalisiert die Kompetenz der Anderen: eine allem und jedem durch Sollen auferlegte Kandidatur — Emanzipationskandidatur —, über deren Erfolg die Philosophie als Kritik nunmehr selber entscheidet. Wozufragen: das sind Fluchthelferfragen für die Flucht der Philosophie aus ihrer Kompetenz vorm Über-Wir ins Über-Wir. Im übrigen zitiere ich jetzt Aristoteles: „Hierüber sei soviel gesagt" (Eth. Nie. 1097 a 13/14), und: „Dies wollen wir nun lassen" (1096 a 10). b) Jetzt ein paar Worte über die andere der beiden Techniken und Künste, die Kompetenz der Philosophie loszuwerden: über die skeptische Flucht in die Inkompetenz. Das ist - im Zeitalter der Flucht aus dem Gewissenhaben in das Gewissensein — die Gegenflucht: der Versuch einer Flucht der Philosophie nicht in die absolute Wichtigkeit, sondern in die absolute Nichtigkeit. Der Skeptiker erwartet auf die Frage ,wozu Philosophie?' sowieso die schlimmstmögliche Antwort: nämlich daß sie ein absoluter Nichtsnutz sei, ein transzendentaler Taugenichts. Aber dadurch wird der Skeptiker nicht zermalmt, denn er läßt die Wozufrage ins Leere laufen und wird dafür notfalls selber dieses Leere, etwa nach Art des Trojanischen Pferdes. Hier ist also die Wozufrage pariert: nicht, indem der Philosoph — wie bei der verdächtigenden Kritik - derjenige wird, der sie - und zwar als einziger und nur an andere — stellen darf, sondern indem er der wird, bei dem diese Frage nicht ankommt, und zwar selbst dann nicht, wenn er selber sie stellt; vielleicht ist das der Grund, warum Skeptiker die Wozufrage gern an sich selber richten: um das Nichtankommen dieser Frage bei sich selber zu üben (das ist eine Art Torerotraining: wo die Wozufrage — ein, Nietzsche'sch gesprochen, „Problem mit Hörnern" - mit gesenkten Hömern anrennt und trifft, hat das Tuch zu sein und nicht der Mann). Sie ist dann zwar stets bedrohlich präsent, die Wozufrage, aber sie trifft nicht, sie ist unzustellbar, denn der Skeptiker und dadurch vollzieht er seine Skepsis — ist immer gerade nicht da. Er ist verschwunden, woanders, er ist unterwegs: Kant nennt — in der Kritik der reinen Vernunft - die Skeptiker „eine Art Nomaden" (A IX), mit Recht. Die moderne Form des Nomadismus ist der Tourismus und — innerhalb der Wissenschaften, gefördert durch die Stiftungen — der Wissenschaftstourismus; der Einwand, daß hier auch

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Nichtskeptiker reisen, ist nicht unbedingt stichhaltig: vielleicht ist gerade das Reisen ihr Skeptizismus. Dabei ist nicht die Ortsbewegung das Wichtige, sondern daß der Skeptiker unterwegs ist zwischen Rolle und Rolle, zwischen Philosophie und Philosophie und also stets entfernt von jeder: unerreichbar, allein, ein Einzelner und insofern das, was jedermann ist; denn die Wahrheit über das Leben ist der Tod. Indem er diesem sich angleicht (z.B. schläft oder verwaltet) bleibt er unerreichbar durch die Frage ,wozu Philosophie?'. Skeptiker sind Distanzprofis; der Skeptizismus ist eine Art Polytheismus der Überzeugungen; hätte der Skeptiker nur eine Philosophie, wäre er ihr verfallen; so hat er viele und bleibt ihnen gegenüber frei. Er kommt — denn Freiheit ist ja: verlassen leben können - den Enttäuschungen durch sie zuvor, indem er nichts von den Philosophien erhofft: von den großen Sinnerwartungen Abstand nimmt, sich ihrer enthält. Skepsis ist philosophic degagee, der Skeptiker eine Art Nullenthusiast. Das gilt auch für seinen Wirkungswillen; ihn fasziniert zum Beispiel, was die Provinz bietet: ein Wirkungskreis mit dem Radius Null. Der Einwand, gerade dadurch arbeite die Skepsis dem Bestehenden in die Hände, ist kein Einwand, solange man nicht sicher sein kann, daß das nächste Bestehende nicht mindestens so erträglich ist wie das jetzt Bestehende; in der Tat sind — das waren sie, historisch gesehen, schon immer - Skeptiker sozusagen Konservative auf Widerruf: ihre Epoche wirkt als Remedium gegen deplacierte Aktionseuphorien. Aber all das macht die Skepsis nicht schon empfehlenswert; denn sie bleibt ja in dem, was ich nannte: die Verzweiflungslage der Philosophie; sie ist eben nur eine Form, sich in dieser Verzweiflungslage zu bewegen: die gegenüber der hier zuerst abgehandelten andere Form. Aber vielleicht hat sie dadurch ihr relatives Recht. Das macht sie nicht unbedingt schmackhaft: hier besteht eben ein Unterschied zwischen einem gut durchverzweifelten Philosophen und einem gut durchgebratenen Schnitzel. Auch jetzt zitiere ich Aristoteles: „Hierüber sei nun soviel gesagt" (Eth. Nie. 1163 b 27/28), und: ,,Davon sei nun nicht weiter die Rede" (l 159 b 23). 4. Ich habe nicht verschwiegen, daß bei dieser Alternative die Skeptiker es sind, denen ich zuneige. Daraus folgt meine Unlust zum Repräsentativen — zum Fachtragenden — und meine Unfähigkeit zum Programm. Sir Edmond Percival Hillary hat den Mount Everest bestiegen, wie er sagte: weil es ihn gibt. Philosophen treiben Philosophie

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zunächst einmal ebenfalls, weil es sie gibt; und sie treiben sie so, wie es sie gibt. Das gilt auch für Skeptiker. Die Philosophen sind nun einmal da: und der Skeptiker ist ja — auf Widerruf — konservativ: also respektiert er das. Vielleicht ist es - zumal gerade hier in diesem workshop viele Vorschläge zu ihrer Besserung gemacht werden — richtig, auch schlicht (im Sinne einer Fachbrauchtumskunde, einer Ethnographie ihrer Tatsächlichkeit) zu sagen, was Philosophen — noch unverbessert, von den Bemühungen der Thyssen-Stiftung noch nicht geliftet und geläutert - sind: nicht, was sie tun sollen, sondern, was sie — auch wenn sie es am Ende gar nicht können und dürfen — tatsächlich tun. Ich muß mich natürlich auf Skeptiker beschränken, denn nur dort habe ich Resultate von Feldstudien durch teilnehmende Beobachtung: durch Beobachtung, teilsnahmsvoll in bezug auf mich selbst. Was tun Skeptiker faktisch, wenn sie als beamtete Philosophen ihres philosophischen Amtes walten? Ich meine, sie tun nichts wesentlich anderes als die meisten Nichtskeptiker. Vielleicht haben sie ein anderes Verhältnis zu dem, was sie tun. Aber sie tun: das Übliche. Hierzu noch vier Bemerkungen. a) Auch ein zu Philosophierzwecken beamteter Skeptiker treibt natürlich - Geschichte der Philosophie: das ist üblich. Es ist auch interessant: gerade heutzutage. Denn es gibt zwar die - ziemlich plausible — These von der wachsenden Veränderungs- und Innovationsgeschwindigkeit der modernen Welt: alles wird immer schneller zum Überholten und Alten. Daraus folgert man unter anderem die Notwendigkeit des Dauerumlernens. Indes: mit dem Wachstum der Innovationsgeschwindigkeit wächst möglicherweise auch die Chance, daß scheinbar Überholtes sich als tatsächlich nicht Überholtes, daß scheinbar Veraltetes sich wieder als gegenwartsfähig erweist. Die Renaissance des Systemdenkens oder des Marxismus ,und andere Nostalgiewellen der Sechziger- und Siebzigerjahre sind dafür Indizien. Wo Neues immer schneller zum Alten wird, könnte es sein, daß Altes immer schneller wieder das Neueste werden kann. Mir genügt es hier, daß dies - unter Voraussetzung der Knappheit nicht nur der Ressourcen Energie, Zeit und Sinn, sondern gerade auch der Ressource Sicht — auf Philosopheme zutrifft. Es wäre dies ein Kompensationsbefund: die zunehmende Veraltungsgeschwindigkeit wird kompensiert durch Zunahme der Reaktivierungschancen fürs Alte. - Hierzu ein Exkurs: für Philosophen - und vielleicht nicht nur für sie - würde daraus folgen, daß es ratsam ist, bei Veränderungen nicht allzuschnell mit-

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zulaufen. Beim Dauerlauf Geschichte rechnen ohnehin nur die fortschrittlichsten Fortschrittsphilosophen damit, daß er ad finem stattfindet: für sie lohnt es sich, sich zu sputen und möglichst jeden zu überholen, um stets ganz vorn zu sein. Aus abstrakteren Gründen eilig sind auch noch die Transzendentalphilosophen; sie brauchen ihr regulatives Prinzip wie einst Nurmi die Stoppuhr: auch das treibt an. Die anderen aber dürfen bummeln, denn sie können einsehen: die aussichtsreiche Aktualitätsstrategie besteht gar nicht darin, die eigene Aktions- und Lerngeschwindigkeit zu steigern, sondern im Gegenteil darin, gelassen zu warten, bis der Weltlauf — von hinten überrundend — wieder bei einem vorbeikommt: vorübergehend gilt man dann bei denen, die überhaupt mit Avantgarden rechnen, irrtümlich wieder als Spitzengruppe. Diesen Tatbestand kann man auch formulieren, indem man Günther Patzigs bekannte Maulwurfshügelmetapher aufgreift und weiterdenkt: „den Urheber des Hügels" - schreibt Patzig in seinem Nachwort zu Carnaps „Scheinproblemen"7 — „wird man unter ihm selten antreffen", und ebenso — meint er — „zeigen" „die Werke" der ,,Philosophen . . . immer nur an, wo" diese „einmal gewesen sind, was" ihnen „einmal als wahr und wichtig erschien": diese verlassenen Maulwurfshügel alias Denkwerke sind dann — wenn ich ihn richtig verstehe — das Studierfeld der Historiographie. Aber was Patzig schreibt, das gilt — meine ich — nur für naturwüchsig traditionelle Maulwürfe, die sich — wie dies ihrer Art gemäß zu sein scheint — fleißig aber langsam bewegen. In dem Maße jedoch, in welchem Maulwürfe — wie faktisch die Philosophen — ins moderne Lebenstempo fallen würden, in dem Maße also, in dem auch die unterirdische Bewegungsgeschwindigkeit von Maulwürfen exponentiell zunähme, würde - bei begrenztem Raum - die Wahrscheinlichkeit wachsen, daß sie immer wieder unter den alten Hügeln vorbeikommen und dortselbst anzutreffen sind. — Zurück zum Grundgedanken: die zunehmende Veraltungsgeschwindigkeit - sagte ich - wird kompensiert durch Zunahme der Reaktivierungschancen fürs Alte. Wenn dies stimmt, wird es - je schneller die moderne Welt umlebt und umdenkt - immer wahrscheinlicher, daß - jedenfalls im Terrain der Philosophie und bei Knappheit der Ressource Sicht - die Historiographie des Alten sich gar nicht mit vergangenen Positionen be7

R. CARNAP, Scheinprobleme der Philosophie. Das Fremdpsychische und der Realismusstreit. Nachwort von Günther Patzig, Frankfurt (Suhrkamp) 1966, 85.

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schäftigt; denn mit wachsender Innovationsgeschwindigkeit wächst zumindest im Bereiche der Philosophie - dann zugleich die Chance, daß gerade das Alte das nächste Neueste ist. Die Philosophiegeschichte gehört insofern — zumindest auch und zumindest möglicherweise — zu den Renovierungsunternehmen: sie ist Altbausanierung im Reiche des Geistes. Daran ist ein Skeptiker dann auch ganz spezifisch interessiert: die Philosophiegeschichte - so betrachtet — reproduziert jene Mannigfaltigkeit und Buntheit kontroverser Positionen, die der Skeptiker für seinen Polytheismus der Überzeugungen braucht. b) Auch ein zu Philosophierzwecken beamteter Skeptiker erfüllt — ob er es nun will oder nicht — die üblichen systematisch-philosophischen Orakelpflichten. Ihnen entkommt - und auch dies entspricht dem Brauch oder wenigstens den Tatsachen — ohnehin kein Philosoph; allenfalls — aber dies ist keineswegs sicher — macht ein nichtskeptischer Philosoph sich mehr Illusionen über die einschlägig tatsächliche Rolle der Philosophie. Durch ihre systematischen Fundamentalerörterungen rücken Philosophen — scheint mir — faktisch in jene Funktion ein, die der berühmte Parkinson den Betriebsberatern zusprach8: sie 8

C. NORTHCOTE PARKINSON, In-Laws & Outlaws, dt. Favoriten und Außenseiter, Hamburg (Rovvohlt) 1967, 45ff.: die Frage, warum es eine spezifische Sonderzuständigkeit der Philosophie geben müsse für etwas, für das andere - also etwa die sog. Einzelwissenschaften - jedenfalls auch und mindestens ebensosehr zuständig sind, dieses Rätsel - wieso eine spezifische Zuständigkeit für etwas Unspezifisches? - läßt sich durch Übertragung der dort entwickelten Theorie der Rationalisierungsberatung von Betrieben auf die Philosophie lösen: „Bei einem Unternehmen", heißt es bei Parkinson, „dem" - wie etwa in der germanistischen, romanistischen, historischen, physikalischen, biologischen etc. Branche - „ein hervorragender Generaldirektor vorsteht, das von erfahrenen Direktoren geleitet wird, das von Angestellten mit erprobten Fähigkeiten und Eifer überquillt, muß es stets merkwürdig anmuten, daß Außenstehende" - Philosophen - „um Rat gebeten werden müssen . . . Man kann sich . . . Gedanken darüber machen, aus welchem Grunde angenommen wird, daß außenstehende Berater können müßten, was der Vorstand nicht kann. Diese Fragen . . . scheinen eine Beantwortung zu verdienen. Hier ist sie: wir können billigerweise annehmen, daß die Berater sehr wenig wissen" (45/46); dieses hier nicht im einzelnen zu referierende - bei Parkinson recht detaillierte - Urteil ist, angewandt auf Philosophen, auch sonst ungemein treffend (z. B. 46: „ist es ihnen bloß nicht gelungen, auf andere Weise ihren Lebensunterhalt zu verdienen?"). Jedenfalls: „Eine sorgfältige Untersuchung hat jetzt die Tatsache erbracht, daß die Kunden, die sich an eine Betriebsberatungsfirma" - an die Philosophie - „wenden, dies aus einem von zwei Motiven tun. Die einen suchen Sündenböcke für die Reorganisation, die sie bereits beschlossen haben. Die anderen trachten danach, solch eine Reorganisation tunlichst zu verhin-

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erstellen Fundamentalgutachten zur Lage des Weltlaufs, zu dem auch der Wissenschaftslauf gehört, und geraten damit in die typische Gutdern" (47). Der „springende Punkt ist, daß . . . der Rationalisierungsberater etwas (tut), was die Direktoren selbst nicht tun (können)" (48). wenn sie nicht „auf dem firmeneigenen Parkplatz geteert und gefedert werden" (47) wollen: „In einer Situation wie dieser" - schreibt Parkinson, und dies ist seine entscheidende Aussage - „besteht der Hauptvorteil des Beraters darin, daß er nicht auf der Szene zu verweilen braucht" (47), was die Fachleute müssen: justament das ist auch und gerade das Plus des Philosophen; er ist im genannten Fall in bezug auf Spezial Wissenschafte n dafür da und geeignet, die Begründungsverantwortung für die - selbstverständlich nicht durch die Philosophen, sondern durch die SpezialWissenschaftler selber gefällte Entscheidung für bestimmte Theorientendenzen oder für ungeschützte Einzelthesen zu übernehmen, seine Kompetenz dafür wurzelt nicht in der Fähigkeit, besser oder auch nur gleichgut begründen zu können, sondern in seiner besonderen - sozusagen exzentrischen - Lage, den innerfachlichen Argumentationsüblichkeiten bzw. dem Rezensions- und Reputationswesen der betreffenden SpezialWissenschaft (analog auch dem der Literatur) nicht unmittelbar ausgesetzt zu sein: er hat eben den „Hauptvorteil . . ., daß er nicht auf der Szene zu verweilen braucht": er tut nichts Besseres, er tut nichts Anderes, er braucht nur die Spielregeln nicht zu beachten: sein Ort ist außerhalb der jeweiligen Fachräson, seine Profession ist es, das Alibi zu sein: dies - in diesem Sinne das Orakel zu sein - ist sein Metier. - Es ist vielleicht nicht überflüssig, darüber zu meditieren, daß in bezug auf die Philosophie, sofern sie ein spezielles Fach ist, diesen exzentrischen Status gerade Nichtphilosophen haben: ein Platoniker wird tunlicherweise, wo es mulmig wird, einen absichernden Altphilologen aufbieten, ein Geschichtsphilosoph einen Historiker, und ein Philosoph der Wissenschaft Philosophie etwa Parkinson. - Falls diese Analogie plausibel ist, wäre zusätzlich zu prüfen, ob nicht auch Parkinsons Theorem der unabsichtlichen Nützlichkeit von Rationalisierungsberatern auf die Philosophie angewandt werden kann: da ein Philosoph das angedeutete Metier in bezug auf verschiedene SpezialWissenschaften betreibt oder - hierin pflichte ich H. LENK, Philosophie im technischen Zeitalter, Stuttgart etc. 1971, 29 (interdisziplinäre Zusammenarbeit ist nützlich für die Philosophie) durchaus bei - betreiben sollte, hat er „die Möglichkeit, ein Unternehmen mit dem anderen zu vergleichen. Er mutmaßt, welches das beste ist, und kann daraufhin die anderen kritisieren, weil sie nicht so sind" (Parkinson 49); so kann er durchaus befruchtend wirken: „Der Rationalisierungsexperte ist die Biene der Industrie" (49), der Philosoph ist die Biene der Wissenschaft: „von einem Betrieb zum nächsten brummend, bestäubt er sie. Manche Biene wird standhaft behaupten, daß der Blutenstaub selbstverständlich ihre eigene, durch ein den anderen Bienen unbekanntes Geheimverfahren vervollkommnete Erfindung sei. Solch eine Biene ist ein Schwindler" (49): auch das gilt für Philosophen. Vielleicht auch dies: „Alte Imker können sich der Zeiten entsinnen, als sie für ihre Bienenweide Pacht zahlen mußten. Dank fortgeschrittener Erkenntnisse ist es heute der Obstgartenbesitzer, der den Imker für seine Mitwirkung bezahlen darf" (49). Und möglicherweise gilt für den Philosophen sogar dies: „auf diese Weise kann sein Rat, falls er wirklich erwünscht ist - und das kommt sehr selten vor -.überraschend spürbar sein" (49).

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achtersituation: die weitläufigen und wissenschaftsläufigen Leute also Praktiker oder Wissenschaftler — wollen bestätigt bekommen, was sie längst selber beschlossen haben, und sie wollen es auf jemanden abschieben können, wenn der Beschluß anderen wehtut oder wenn die Sache schiefläuft: also wenn sie sich selber nicht exponieren wollen oder können. Dafür sind dann Philosophen erwünscht. Wenn wir - das sind natürlich Gedanken eines Skeptikers über unser Metier — zum Welt- und Wissenschaftslauf eingeladen werden, dann nicht, weil man Anstöße oder Ideen von uns erwartet: die traut man sich ja selber zu, und dies gewiß nicht ohne Recht; Korrektiv (Rationalitätsdefizitkompensation) des vorhandenen Wissens im Sinne von Herrn Bubner, Pionierkatalysator des Interdisziplinären im Sinne von Herrn Lenk, Begründungsgewissen der Wissenschaften im Sinne von Herrn Kambartel, Konjunkturspritze für Investitionsmaßnahmen in Dingen Begründungseifer der Wissenschaften im Sinne von Herrn Mittelstrass, Naivitätsdefizitkompensation im Sinne von Herrn Spaemann9 zu sein: das - und manch anderes Fundamentale - ist ja kein Monopol der Philosophen. Es ,wird' nur zu ihrem Monopol, und zwar ex post genau dann, wenn die Dinge schiefgehen: dann ist man gern überzeugt, daß die Philosophen es waren. Die jeweils gegenwärtigen Philosophen sind keine Fundamentalexperten, aber sie werden Fundamentalexperten gewesen sein. So werden - zum Beispiel — in irgendeiner Zukunft selbst Physiker die Erlanger Schule brauchen: denn irgendjemand wird dann in Begründungsdingen an irgendetwas schuld gewesen sein müssen. Die Rolle der Philosophen ist das zukünftige Fundamentalgewesensein. Vielleicht haben sie — notabene — deswegen ein Faible für das, was gewesen ist, und ebendarum immer wieder einmal die Tendenz, sich in ihre Geschichte aufzulösen. Die Philosophen haben dies also meine ich - kein primäres Monopol, wohl aber haben sie ein sekundäres Ex-post-Monopol für die Entscheidung von Grundsatzfragen, nämlich für die, mit deren Folgen man hadert. Und die Innung überlebt, weil immer Viele mit Vielem hadern. Für dieses Schicksal, nach dem Schwarzen-Peter-Prinzip negative Grundlagenverantwortun9

Vgl. die vorau^egangenen Referate von: R. BUBNER, Was kann, soll und darf Philosophie? H. LENK, Wozu Philosophie? Die soldatische Aufgabe pragmatischer (praxisnaher) Philosophie. F. KAMBARTEL, Bemerkungen zur Frage ,Was ist und soll Philosophie?'. J. MITTELSTRASS, Philosophie oder Wissenschaftstheorie; außerdem: R. SPAEMANN, Philosophie als institutionalisierte Naivität, in dem in Anm. 2 zit. Band 95-101.

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gen schließlich zugerechnet zu bekommen, sind die Philosophen — die im übrigen dann auch defensiv positive Gegenlegenden lancieren — freilich prädestiniert. Ihre Sonderstellung, die solch negative Zurechnungen auf sich zieht, ist nicht inhaltlicher Natur, sondern gründet in einer temporal defmierbaren Anomalie: nämlich in der grundsätzlichen Flüchtigkeit, die zum Verhältnis der Philosophen zu Formationen und Fächern des Welt- und Wissenschaftslaufs unabdingbar gehört. Die Anderen - die Nichtphilosophen - haben eine strenge Präsenzpflicht gegenüber der eigenen begrenzten Sache, der eigenen Sippe, den eigenen Fachkollegen, den Mitbürgern und Genossen: daraus folgt die Unmöglichkeit, sich bei Verletzungen der Kommunikations- und Reputationsregeln der jeweiligen Fach- und Formationsräson den darauf liegenden Sanktionen zu entziehen. Die Philosophen hingegen wesensmäßige Tatortflüchter — sind in bezug auf diese sogenannt nichtphilosophischen Formationen von solchen Lasten frei; sie dürfen - in diesen sogenannt nichtphilosophischen Formationen - die Spielregeln verletzen; denn wo es dort dann zu Sanktionen kommt, sind sie eben nicht da, sondern bei der Philosophie, was immer das ist (vor allem ist sie das Nichtdasein: die Absenz). Just deswegen — wegen dieser fundamentalen Nichtpermanenz ihrer Teilnahmen und ihrer darin gründenden Orakeldistanz - kann man diesen Flüchtigen - statt sich selber — die globalen Fehler gut zurechnen, sobald diese merklich werden. Die Philosophie gehört also in die Ökonomie der Entlastungsprophylaxe. Die Philosophen werden als Grundlagendenker begrüßt und bezahlt, weil sie künftig einmal Sündenböcke des Welt- und Wissenschaftslaufs gewesen sein werden: das - bestenfalls - ist ihre faktische Rolle. Ich weiß natürlich, daß dies auszuplaudern — wieder einmal — gegen die philosophische Fachräson verstößt; aber wir sind unter uns, und niemand sollte sich Illusionen machen. Die Philosophen - ich wiederhole es - haben nur ein sekundäres Ex-post-Monopol als die transzendentalen - die erst künftig empirischen - Väter von Mißerfolgen; darin gleicht ihr Schicksal dem heutigen Schicksal der Fußballtrainer: dies ist immerhin ein Grund, warum ihre Honorare angemessen sein sollten. c) Auch ein zu Philosophierzwecken beamteter Skeptiker erfüllt ob er es will oder nicht - die üblichen metaphysischen Deponiepflichten. Auch dies entspricht dem Brauch oder wenigstens den Tatsachen. Es gibt Probleme, die in die Hände von Philosophen gehören, weil jeder andere damit Unfug anrichtet. „Die menschliche Vernunft" —

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beginnt Kant seine erste Kritik - „hat das besondere Schicksal . . ., daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann. . ., die sie aber auch nicht beantworten kann" (A VII): das sind die metaphysischen Fragen, bei denen es ein Kunstfehler wäre, sie nicht zu stellen, und ein Kunstfehler, sie zu beantworten. Die Kunst, diese Kunstfehler nicht zu begehen, ist die Metaphysik. Bei diesen Problemen - die keine ewigen sein müssen (denn falls es die gibt, gibt es sie nur in begrenztem Umfang: etwa als die Diltheyschen Lebensrätsel: Geburt, Zeugung, Tod) - bei diesen Problemen also, die somit auch aktuelle Global- oder Extremprobleme sein können — kommt es darauf an, sie möglichst umweltfreundlich zu transportieren, und zwar über verschiedene Distanzen: von Kultur zu Kultur, von Generation zu Generation, von Kongreß zu Kongreß, oder auch nur von der einen Seele - ach! - zu der anderen Seele - ach! - in einer Brust. Das einschlägige Transportunternehmen ist die Philosophie, und ihr Spezialtransporter ist die Metaphysik. Denn es handelt sich um brisante Ladungen. Darum ist hier nicht die Zustellung das Wichtige, und also eigentlich auch nicht der Transport, sondern ihre sichere Verwahrung. Deshalb gehören diese Probleme in die Obhut der Metaphysiker, denn Metaphysiker sind die einzigen Menschen, bei denen — weil sie es gelernt haben — man sich darauf verlassen kann, daß sie mit ihnen nicht fertigwerden: sie lösen die Probleme nicht, sie lassen aber auch nicht ab von ihnen und liquidieren sie nicht: beides wäre viel zu gefährlich: drum auch ist das Nichtfertigwerden kein Mangel, sondern eine Qualität. Metaphysik ist Nichtfertigwerden: das ist ihre Gemeinsamkeit mit dem Lachen10 (in dem ja auch irgend10

„Zum Lachen ist es ja nur, weil wir nicht damit fertig werden": H. PLESSNER, Lachen und Weinen (1941), in: Ds., Philosophische Anthropologie, Frankfurt (Fischer) 1970, 75. Darum sind gerade die philosophische Theorie und das Lachen, auch wenn man es genau und systematisch nimmt, unzertrennlich. Freilich muß man dabei zwischen Theorie und Theorie unterscheiden. Denn es gibt - wie es politisch eine Staatsräson oder eine Parteiräson und wie es ästhetisch·eine Werkräson· gibt - auch eine Sichträson: wo Theorien Probleme definitiv lösen und etwas beherrschen oder bewirken und recht behalten und Folgen haben wollen, werden sie stets zu Gefangenen ihres Anfangs; sie haben ihren point of no return: politische Formationen kehren nicht mehr um, wenn in ihrem Namen zu viel Blut, wissenschaftliche Formationen kehren nicht mehr um, wenn in ihrem Namen zu viel Geist und Ansehen und Tinte vergossen oder auch nur zuviel Zeit vertan wurde: sie kapitulieren dann nicht mehr. Aber wenn eine Theorie nicht mehr kapituliert, muß sie jene Hilfsinterpretationen und Zwecklügen in sich aufnehmen, die sie braucht, um

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wie das Staunen steckt) und ihre Gemeinsamkeit mit dem, was in der Theorie Theorie und nicht nur Disziplin ist. Die Metaphysik ist eine Aporien-Deponie, ein Problemasyl für unlösbare Fragen: das ist ihre skeptische Definition, und für den Skeptiker - das wird man hiernach sofort einsehen — kann es niemals zuviel Metaphysik geben. So, wie es Krankenheime gibt, gibt es Fragenheime: die Metaphysik ist eine solche Klinik (Zwischenfrage: was hat die Geburt der Klinik mit dem Tod der Metaphysik zu tun: immerhin geschahen sie gleichzeitig?). Die Metaphysik ist — auch noch in ihrem post-mortem-Leben - eine Isolierstation für gefährliche Fundamentalprobleme, mit denen man nicht fertig wird, insbesondere nicht in den aktuellen Situationen, und die darum übrigbleiben als die restlichen. Metaphysik ist die Verweigerung der Restlosigkeit und die unschädliche und pflegliche Behandlung der Reste. Ich weiß, daß ich mit dieser Charakterisierung der Metaphysik in die Nähe der Konzeption Nicolai Hartmanns gerate, den ich — als promovierter Freiburger einschlägig solide ausgebildet in Überheblichkeit - zunächst statt für einen Philosophen für einen bedeutenden Tafelmaler gehalten habe; ihm - seiner Intention zur Aporetik, seiner Neigung, Probleme zu „behandeln" und „metaphysische Reste" geltend zu machen und zu respektieren 11 - scheine ich in diesem Punkte näherzukommen und nehme das wahr und in zu bleiben, was sie schon war: gerade durch diese Anstrengung, die eigene Linie zu halten, wird sie selber ein offiziell Geltendes, welches dasjenige, was nicht in den Kram paßt, als Nichtiges traktiert: aber just dadurch hört sie auf, das zu sein, was sie doch sein wollte: Theorie, also Zusehn, wie es wirklich ist. Die Rettung der Theorie ist das Lachen, das Lachen über sich selber, das im offiziell Geltenden der Theorie das Nichtige, und im Offiziell Nichtigen der Theorie das Geltende sichtbar werden läßt (vgl. Verf., Das Komische und die Philosophie, 1967, in: Gießener Universitätsblätter 1974 H. 2, 79-89). Das impliziert, daß die Theorie für ihre Distanz den gleichen Preis zu zahlen hat wie das Lachen, nämlich Ohnmacht: Theorie - wirkliche Theorie - ist gegenwärtig Zusehn, das das Nachsehn hat. Aber - und zwar gerade wegen dieses unerläßlichen Ingrediens des Lachens über sich selber, das zu ihr gehört - trotz des Nachsehns, das dieses Zusehn hat, befreit d. h. erleichtert die Theorie, weil sie - indem sie alles aufzunehmen sucht - eine Verdrängungsersparung ist; Suspension des Aufwands an Bornierungsdisziplin. Dies alles gilt für die philosophische Theorie und dort insbesondere für die Metaphysik. 11 N. HARTMANN, Grundzüge einer Metaphysik der Erkenntnis (1921), Berlin (de Gruyter) 31941; dort „behandeln": 122ff.; metaphysische Reste: 8f., 12ff., 35ff.; vgl. außerdem Ds., Wie ist kritische Ontologie überhaupt möglich (1921), in: Ds., Kleinere Schriften III, Berlin (de Gruyter) 1958, 310ff.; Ds., Systematische Selbstdarstellung (1933), in: Ds., Kleinere Schriften I, Berlin (de Gruyter) 1955, 4ff., 11 ff.

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kauf. Im übrigen war von dieser Art - wenn ich es richtig verstehe auch die Tätigkeit von Sisyphus12; er kümmerte sich um gefährliche Felsbrocken: behutsam rollte er sie bergauf, behutsam ließ er sie bergab rollen, er nahm sie in seine Obhut, um die anderen Zonen auf den Steilhängen des normalen Lebens vor Steinschlag zu sichern: seine Tätigkeit war — wie die der skeptisch d. h. wohlverstandenen Metaphysiker — eine Art von höherem Umweltschutz. d) Auch ein zu Philosophierzwecken beamteter Skeptiker hat — mit all diesem — ein bestimmtes Verhältnis zur Praxis. Gerade deswegen — weil nämlich dieses Verhältnis zur Praxis mir zeitraubend dazwischenkam - kann ich dieses Verhältnis zur Praxis hier - aber dies dient wohltätig der Straffung - nicht explizieren.13 Darum gehe ich gleich über: 5. zur Schlußbemerkung. In ihr muß ich sagen, worauf diese Betrachtungen hinauswollten, und das läßt sich ganz kurz sagen: für die Philosophie wollen sie das Ende der Unbescheidenheit. Philosophie ist, wenn man trotzdem denkt. Im übrigen muß ich mich dazu äußern, daß ich mein Widerrufsversprechen — so mag es jedenfalls scheinen - stark gegeben, aber nur schwach gehalten habe. Das ist zwar nicht überraschend für den, der bei mir von vornherein - ganz realistisch - damit gerechnet hat, daß — weil ja meine Behauptungsmasse nie groß und auch nie kunstgerecht exponiert ist - meine Widerrufsmasse zwangsläufig gering ist; und da gibt es dann eben: Schwierigkeiten mit dem Widerrufen, sozusagen mangels Masse. Gleichwohl war mein Versprechen kein leeres Versprechen: ich hatte ja - streng genommen - gar nicht gesagt, daß ich hier schon während meines Referates zulänglich widerrufen wolle; denn schließlich: irgendetwas muß doch übrigbleiben für die Diskussion. Meine Damen und Herren: ich widerrufe; darüber also erst gleich.

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„. . . mirum non est, quod huius indaginis studiosi saxum suum Sisypheum volvendo in aevum vix aliquid adhucdum profecisse videantur." Diese bei KANT, De m und i sensibilis atque mtelligibilis forma et principiis (1770) § 23, auf die Metaphysik bezogene Formulierung kann vom Skeptiker unkantisch, nämlich positiv verstanden werden. 13 Beabsichtigt war eine Fürsprache für die halben Maßnahmen.

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Der Streit der Philosophen Philosophen argumentieren, ohne einander zu überzeugen. Genauer gesagt, sie überzeugen nur diejenigen, die schon zuvor weitgehend mit ihnen übereinstimmen. Um sich zu einigen, muß man schon über einiges einig sein. Dieses Einige aber scheint im Gespräch, das Philosophie heißt, zu fehlen. Was kann aber dann Sinn dieses Gesprächs sein? Wie wollen Philosophen anderen plausibel machen, daß das, was sie treiben, wichtig ist, wenn man ihnen entgegenhalten kann: ,,Die Philosophen sollten sich erst einmal einig werden, was sie denn eigentlich mitzuteilen haben". Wenn alles, was Philosophen sagen, von anderen Philosophen wieder bestritten wird, dann bleibt die Entscheidung darüber, wer recht hat, am Ende dem gesunden Menschenverstand überantwortet. Ähnliches gibt es freilich auch in Fachdisziplinen, z. B. in der Medizin. Wenn von Vertretern zweier medizinischer Schulen zwei verschiedene Therapienempfohlen werden, fällt die Entscheidung zwischen den beiden Schulen auf den Patienten als Nichtmediziner zurück. Zwar geht auch der medizinische Disput weiter. Aber für ihn gilt: ,Ars longa, vita brevis". Die ars longa der Wissenschaft führt einen endlosen Diskurs. Das Leben ist jedoch zu kurz, als daß ich das Ende des Diskurses abwarten könnte. Ich muß handeln. Nach welchen Gesichtspunkten? Zur Rechtfertigung des Handelns genügen nicht Hypothesen. Die Bedeutung von Hypothesen für das Handeln kann nicht wieder durch Hypothesen entschieden werden, denn Handeln ist im Unterschied zum Reden definitiv. Das hat Descartes gesehen, wenn er schreibt, daß wir auf Gewißheit in praktischer Hinsicht nie verzichten können. Die paradoxe Lage der Philosophie ist die, daß sie die nichthypothetischen Gesichtspunkte für die Beendigung des Diskurses selbst noch einmal zum Gegenstand eines Diskurses macht, und daß dabei die Philosophen in noch größere Uneinigkeit geraten als es jene war, die sie überwinden wollten. Die Uneinigkeit geht so weit, daß Philosophen sich nicht einmal darauf einigen können, was Philosophie ist. Nicolai Hartmann fragte jemanden, der bei ihm sein Stu-

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dium fortsetzen wollte: „Wo haben Sie bisher Philosophie studiert?" Antwort: „Bei Professor Heidegger". Hartmann darauf: „Ich habe Sie gefragt, wo Sie Philosophie studiert haben". Heidegger hat die Herausforderung insofern aufgenommen, als er seine Bemühungen als „Denken" der bisherigen ,Philosophie" entgegensetzte. Auch in den Wissenschaften kennen wir Situationen, in denen die Standards selbst zur Diskussion stehen: Grundlagenkrisen, Paradigmenwechsel. Die Gründe für Paradigmenwechsel zu verstehen, ist eine neue Aufgabe der Wissenschaftsgeschichte. Vieles scheint hier hineinzugehören, und gerade, weil es vieles ist, scheint der Paradigmenwechsel ein unaufhebbares Moment von Naturwüchsigkeit zu haben. Versteht Philosophie die Paradigmenwechsel, oder ist sie ihnen ihrerseits unterworfen? Würden wir Philosophiegeschichte nach dem Kuhnschen Schema verstehen, so käme das einer Aufhebung des Selbstverständnisses der Philosophie gleich. Sie könnte sich dann selbst nicht denken, sondern ihre kritischen Phasen wären Gegenstand anderer Disziplinen, z. B. der Wissensoziologie, in der es dann freilich wiederum Paradigmenwechsel geben würde. Philosophie als Versuch des Denkens, sich selbst zu begreifen, kann aber nicht in Normalphasen und revolutionäre Phasen geschieden werden. Philosophie hat nicht Grundlagenkrisen, sie ist die institutionalisierte Grundlagenkrise. In ihr macht sich die ursprüngliche Naivität des Denkens gegenüber seinen eigenen Modellen, Paradigmen und Methoden geltend. Da es für das Denken nicht noch einmal eine übergeordnete Schlichtungsinstanz gibt, da es keine vorgeordneten Verfahrensregeln anerkennt, es sei denn, es setze sie selbst als vernünftige, gleichen daher Auseinandersetzungen zwischen Philosophen eher Kriegen als wissenschaftlichen Debatten. Der Schluß liegt nahe, philosophische Grundentscheidungen seien irrational. Und das sagen ja auch die „kritischen Rationalisten". Ist also der Streit der Philosophen nicht doch ein Weltanschauungskampf, eine ideologische Auseinandersetzung? Nehmen wir an, er wäre es — hieße das, daß er mit Rationalität nichts zu tun hätte? Wir übersehen oft, daß ja auch ideologische Auseinandersetzungen und Weltanschauungskämpfe mit Worten geführt werden, mit Argumenten. Die klassischen europäischen Parteien haben gewisse Ähnlichkeit mit philosophischen Schulen. Was geschieht denn in einer Parlamentsdebatte? Es werden Argumente ausgetauscht, und doch überzeugt in der Regel eine Fraktion die andere nicht. Aber heißt das, daß es dabei einfach irrational zuginge? Seit Plato sind wir

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in der Philosophie und Wissenschaft" gewohnt, Rhetorik als Kunst nur scheinrationalen Redens anzusehen. Aber Rhetorik ist nicht irrational. In der Redeschlacht geht es im allgemeinen einfach darum, die Aufmerksamkeit auf verschiedene Aspekte desselben komplexen Sachverhalts zu lenken. Und natürlich wird jeder Versuch, eine Integration der Gesichtspunkte zu leisten, selbst wieder dominiert von einem derselben, selben. Philosophie unterscheidet sich von Ideologie und Rhetorik nicht prinzipiell wie Vernunft von Unvernunft. Ideologien sind ja nicht reine Interessenstandpunkte. Ideologien unterscheiden sich von Zynismus dadurch, daß in ihnen bereits die Forderung nach vernünftiger Allgemeinheit anerkannt ist. Der Unterschied zur Philosophie liegt auch nicht umgekehrt darin, daß Philosophie im Denken dieser vernünftigen Allgemeinheit allePartikularität abgestreift hätte. Der Unterschied ist nur ein tendenzieller: er ist vergleichbar mit dem Unterschied zwischen Anwalt und Richter im Zivilprozeß. Der Richter wird nie unmittelbar mit Interessen konfrontiert, sondern mit Vorschlägen für ein Urteil. Die Vorschläge haben selbst bereits Rechtsform und beanspruchen, den Rechten der anderer; Seite Genüge zu tun. Und doch sind es parteiliche Vorschläge. Nun beendet zwar der Richterspruch den Prozeß. Aber er beendet ihn nicht aufgrund seiner Überzeugungskraft, sondern aufgrund seiner legalen Autorität, die auch durch das dissenting vote nicht außer Kraft gesetzt wird. Im Unterschied zu der erlaubten und gebotenen Parteilichkeit des Anwalts würde nachweislich beabsichtigte Parteilichkeit des Richters den Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllen. Unbeabsichtigte Parteilichkeit aufzudecken ist hingegen Sache des Streits der Juristen, der weitergeht, nachdem der Streit der Parteien durch das Urteil beendet wurde. Ars longa! Und so auch der Streit der Philosophen. Worum geht es in diesem Streit? Was ist der Grund der Verschiedenheit der Positionen? Was ist das Ziel der Diskussionen? Von welcher Art sind die ausgetauschten Argumente? Die Verschiedenheit der Ausgangsposition ist offenbar naturwüchsig. Und sie ist es umso mehr, je weniger eine Philosophie ihre eigene naturwüchsige Ausgangslage reflektiert: Veranlagung, Erziehung, Glaubensüberzeugungen, zufällige Begegnungen mit bestimmten Lehrern, bestimmten Büchern und Interessenrichtungen. Es macht einen Unterschied, ob Fortschritt in der Naturbeherrschung, Bedürfnisbefriedigung, Kontemplation oder Konfliktregelung als dominante Ziele erscheinen. Der Versuch von Max Scheler, so etwas wie eine evidente

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Rangordnung von Werten herauszuarbeiten, ist nicht schon deshalb gescheitert, weil ein solcher Versuch das Problem der Konfliktregelung gerade nicht lösen kann und auch nicht so etwas wie eine voraussetzungslose Technik der Konsensbildung garantiert. Der Versuch will ja auch für das Ziel: „Konfliktregelung und Konsensbildung" erst den Stellenwert ausmachen. Und wenn die Unfähigkeit einer philosophischen Position, universellen Konsens zu erzeugen, als Gegenargument gilt, dann trifft dieser auch die Konsens- und Diskurstheoretiker selbst. Die Tatsache, daß jemand vorrangig an Konsenserzeugung interessiert ist, macht seine Position nicht a priori konsensfähiger als eine andere. Der Streit der Philosophen bezieht sich auch auf die Schlichtungsvorschläge. Die Philosophie ist diskursiv. Sie vermittelt, wie alles Gespräch, ihre naturwüchsigen Ausgangsbedingungen mit andersartigen. Was unterscheidet den philosophischen Diskurs vom nichtphilosophischen? Ich behaupte: sein monologischer Charakter, d.h. der Versuch, das jeweils vom Dialogpartner Gesagte selbst zu rekonstruieren, es in die eigene Denkweise zu transponieren und so neu zu denken — entweder indem man eine Interpretation vorschlägt, unter welcher man bereit wäre, der These des Partners zuzustimmen, oder indem man den Grund für die Nichtübereinstimmung zu denken sucht. Natürlich verändert sich bei diesem Übersetzungsversuch unter der Hand auch die eigene Position. In jedem Fall ist Philosophie wesentlich „Selbstdenken". Die Dialogform ist in Wirklichkeit nicht ihre Form, sondern eine Eigentümlichkeit ihres Inhalts: Dialektik. Wissenschaftler führen Dialoge, aber sie schreiben nicht Dialoge. Philosophen schreiben gerade dann Dialoge, wenn sie keine führen. Die platonischen Dialoge sind solche fiktiven Dialoge. Karl Jaspers hat Plato dies vorgeworfen und den echt dialogischen Charakter seiner Philosophie bestritten. Aber ist das ein Argument gegen Plato? Die Philosophie von Jaspers war auch nicht dialogisch, sie redet nur über das Dialogische. Plato hat den fiktiven Charakter, des Dialogs gelegentlich selbst deutlich gemacht. So z. B. in der Politeia, wenn im 1. Buch die Position des Trasymachos in radikalisierter Form vorgetragen wird durch die Sokrates-Schüler Glaukon und Adeimantos. Plato zeigt hier sozusagen, daß das schwerste Geschütz gegen die Thesen, die er verteidigt, gar nicht von seinen Gegnern aufgefahren wird; er selbst kann sich immer noch stärkere Gegenargumente ausdenken als seine Gegner. Etwas ähnliches geschieht im Gorgias, wenn Kalli-

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kies, der Gesprächspartner des Sokrates, den Dialog abbricht. Sokrates wird dadurch nicht weiter irritiert. Solange Kallikles nicht mehr mitmacht, übernimmt einfach Sokrates selbst dessen Part, und führt den Dialog als Ein-Mann-Stück mit verteilten Rollen fort. Nun gehört der Versuch, das, was der andere gesagt hat, zu verstehen, d. h. auf irgend eine Weise zu rekonstruieren, zu jedem vernünftigen Gespräch. Diskussionen, die nicht die Möglichkeit enthalten, daß die Teilnehmer über das, was der andere sagt, „mit sich zu Rate gehen" können, sind ohnehin für die Wahrheitsfindung ungeeignet. Im philosophischen Dialog aber ist dieses „mit sich selbst zu Rate gehen" das eigentlich Wichtige. Ziel der philosophischen Kontroverse ist es gar nicht primär, den Gegner von der eigenen Position unmittelbar zu überzeugen, auch nicht das Publikum auf seine Seite zu ziehen, sondern die Herausforderung zu bedenken, die in dem einen Umstand liegt, daß ich etwas behaupte, wofür ich beanspruchen muß, daß alle ihm zustimmen müßten und zugleich in dem weiteren Umstand, daß tatsächlich nicht alle zustimmen. Meine Überzeugung, daß das, was ich sage, auch einsichtig sei, ist ja in dem Augenblick, wo jemand es nicht einsieht, in Frage gestellt. Evidenz ist eine selbstverständliche Voraussetzung all unseres Redens. Aber sie ist keine Berufungsinstanz, denn genau dann, wenn man sich auf sie berufen möchte, zählt sie nicht. Wo sie bestritten wird, hat sie kein Kriterium, um sich von Idiosynkrasie zu unterscheiden. „Ein trockenes Versichern gilt so viel wie ein anderes", heißt es in der Einleitung zur Phänomenologie des Geistes. Aus dieser Verunsicherung kommt die Philosophie jeweils nur heraus, wenn sie versucht zu verstehen, warum der andere nicht zustimmt. Und über diese Interpretation wird natürlich auch wieder Streit entstehen. Aber der Verzicht auf solchen Streit wäre das eigentlich Unphilosophische. Das bloße tolerante Nebeneinanderbestehen philosophischer Schulen, die voneinander keine Notiz nehmen, ist eine unphilosophische Situation. Der Versuch zu verstehen, warum der andere nicht zustimmt, ist nicht identisch mit der Bereitschaft, jederzeit die eigene Position im Ernst zur Disposition zu stellen. Eine solche Forderung läßt sich leicht aussprechen, aber was in Wirklichkeit geschieht, ist natürlich etwas anderes: nämlich der Versuch der Selbstbehauptung angesichts der Bestreitung durch andere. Professor Albert denkt eben in Wirklichkeit nicht daran, den kritischen Rationalismus auf gleiche Weise zur ständigen Disposition zu stellen, wie er es für wissenschaftliche Theorien und moralische Normen verlangt. Wenn ein

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solches Zur-Disposition-stellen Bedingung für Philosophie wäre, dann gäbe es gar keinen Philosophen. Seit jeher besteht die Philosophie aus „Schulen". Der mittelalterliche Dominikaner war Thomist, der Franziskaner Augustinist bzw. Scotist. Aber das war auch vor dem Mittelalter so - man war Stoiker oder Epikuräer - und es ist bis heute so. Das Philosophische der Schulen liegt darin, daß die eigene Position nicht einfach mit Rhetorik verteidigt, sondern daß systematisch versucht wird, die Gründe der Nichtzustimmung durch die anderen so zu verstehen, daß mit dieser verstehenden Selbstbehauptung der eigene Systemhorizont modifiziert wird. Systemstabilisierung ist eben stets zugleich Systemveränderung. So hat Fichte seinen Systemansatz modifiziert unter der Herausforderung durch Hegel und Schelling. Warum diese Hartnäckigkeit der Selbstbehauptung in der Philosophie? Das hängt damit zusammen, daß jede Philosophie einen praktischen und theoretischen Totalitätsanspruch stellt. Ihn nicht stellen heißt, nicht Philosophie treiben. Auch die Ablehnung von „Letztbegründungen" bedarf einer Rechtfertigung, die wenigstens in praktischer Hinsicht so etwas wie eine Letztbegründung sein muß. Eine nur partielle Rechtfertigung ist nur dann eine, wenn es nicht-partielle Kriterien gibt, die es rechtfertigen, jene partielle Rechtfertigung gelten zu lassen. Descartes hat das deutlich gesehen, wenn er angesichts der Unabgeschlossenheit der Wissenschaft eine Moral forderte, die jederzeit einen abgeschlossenen Begründungszusammenhang zur Verfügung hat. In diesem Sinne ist Philosophie immer ein „abgeschlossener" Systemzusammenhang. Nun gibt es ja auch in den Wissenschaften — wie wir heute wissen - zentrale Systemstücke, die so leicht nicht für Falsifikation freigegeben werden. Aber diese Stücke bilden gewissermaßen den unausgesprochenen und unreflektierten common sense der Wissenschaft, der nur in Situationen der Grundlagenkrise überhaupt thematisch wird. Die Philosophie ist die Thematisierung dieses harten Kerns unseres Denkens. Aber hart ist der Kern eben gerade durch das Schweigen über ihn. Indem die Philosophie das Schweigen bricht, macht sie den „harten Kern" kontrovers. Wie sieht aber dann eine solche Kontroverse aus? Man versucht, eine Philosophie zu widerlegen, indem man ihr nachweist, daß die nicht all das leistet, was die eigene zu leisten im Stande ist. Der Nachweis kann nicht definitiv gelingen, weil die Gesichtspunkte, die wir kritisch ins Spiel bringen, nie erschöpfend sein können. Außerdem wird die Leistungsfähigkeit jedes Systems im Zuge seiner Selbstverteidigung ständig erhöht. Nur

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eine Philosophie, deren schriftliche Fixierung ihre letzte Form ist und die keine lebendigen Verteidiger findet, kann „überwunden" werden. Darum sagt Sokrates, ein Buch habe immer seinen Vater zur Verteidigung nötig, es könne sich nicht selbst verteidigen. Ein definitiver Konsens der Philosophen ist also nicht zu erhoffen. Dennoch gehört es zur Aufgabe der Philosophie, im Andersdenken anderer einer Herausforderung zu sehen und den Versuch zu machen, dieses Andersdenken zu rekonstruieren bzw. im eigenen Systemrahmen zu begründen. Es gibt verschiedene Typen solcher Begründung. 1. Man versucht eine Diskrepanz festzustellen zwischen dem, was der andere meint und was er sagt. Der Versuch, den anderen besser zu verstehen als er sich selbst versteht, ist sozusagen das klassische Modell philosophischer „Widerlegung". Sie ist Plato und Hegel gemeinsam: Überwindung durch Interpretation, durch „Aufhebung" im Hegeischen Sinne. 2. Man kann versuchen, die Falschheit einer gegnerischen These aufzuzeigen. Das kann einmal so geschehen, daß ein Fehler in der Ableitung von Prämissen gezeigt wird, welche als solche zugestanden werden. Es können aber auch die Prämissen angegriffen werden bzw. — und das ist der häufigste Fall — es kann nachgewiesen werden, daß verborgene Prämissen in das gegnerische System eingeflossen sind. Die Prämissen können angegriffen werden, weil sie ungeprüft sind, oder weil sie gegen die evidente Selbstgegebenheit eines Phänomens verstoßen. Das kann wieder so geschehen, daß man dem Gegner eine diesem selbst nicht bewußte fehlerhafte theoretische Rekonstruktion eines Phänomens vorwirft. Oder aber, man muß zu der von Scheler, Hildebrand u. a. vertretenen These von der „Phänomenblindheit" greifen. Diese These ist zwar heute in Mißkredit geraten, und zwar deshalb, weil sie natürlich nicht im Stande ist, einen Konflikt zu schlichten. Stattdessen wird durch sie der Gegner disqualifiziert. Man muß sich nur klar machen, daß diejenigen, die diese Art der Argumentation verwerfen, selbst nicht auf ein Äquivalent verzichten können. Was z. B. unter dem Stichwort „Ideologiekritik" vorgetragen wird, unterscheidet sich nicht wesentlich von dem, was mit dem Vorwurf der Phänomenblindheit gemeint ist. Immer ist es der Versuch zu zeigen, warum jemand etwas nicht einsieht, was er doch bei unparteilicher Betrachtung der Dinge einsehen müßte. Der andere ist also parteilich. Seine Optik ist durch Interessen verzerrt; nur, daß die Ideologiekritik mehr auf Gruppen-

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Interessen abhebt, die These der Phänomenblindheit mehr auf individuelle Interessen, z. B. auf die moralische Integrität. Vielleicht könnte man sich auf zweierlei einigen: erstens auf das Zugeständnis, daß es eine solche Verzerrung der Optik durch Interessen gibt. Zweitens darauf, daß die Behauptung einer solchen verzerrten Optik des anderen manchmal wahr, manchmal falsch ist. Drittens aber, daß die Behauptung einer solchen Phänomenblindheit oder interessenbedingten Ideologie auch dort, wo sie zutrifft, kaum geeignet ist, eine Einigung herbeizuführen. Denn für die Wahrheitsfindung gibt diese Behauptung nicht viel her. Es ist ja möglich, daß jemand partikulare Interessen hat und von ihnen motiviert wird, etwas zu behaupten, was gleichwohl wahr ist. Die Frage: „Cui bono" lenkt zwar den Verdacht in eine bestimmte Richtung, aber nicht immer in die richtige. Der Nachweis, daß mein Onkel Großgrundbesitzer war, beweist noch nichts bezüglich der Wahrheit oder Falschheit meiner philosophischen Auffassungen. Die Falschheit müßte allemal an der Theorie selbst gezeigt werden. Wenn dies aber gelingt, ist die Frage, woher der Irrtum kommt, eine sekundäre Frage. Diese bleibt allerdings wichtig, weil hartnäckige Meinungsverschiedenheit über die Interpretation eines Phänomens für jeden der Kontrahenten eine Verunsicherung enthält, so lange er für sie keine Erklärung hat. 3. Eine weitere Form des Arguments ist die Behauptung der Sinnlosigkeit der gegnerischen Fragestellung, das „methodisch geübte Kannitverstan", wie Habermas es genannt hat, das vor allen Dingen von den analytischen Philosophen geübt wird. Sie bezeichnen einfach einen bestimmten Sprachgebrauch als den einzig verständlichen. Dabei sind natürlich andere Sprachspiele für die, die sie hinreichend lange betrieben haben, ebenso verständlich. Jemand, der Mathematik nicht gelernt hat, wird kein Wort verstehen von dem, was Mathematiker reden. Sie werden ihm sagen: Du kannst in einer angebbaren endlichen Reihe von Schritten dazu kommen, zu verstehen, was wir sagen. Das stimmt natürlich auch nicht. Denn erstens muß er dazu eine bestimmte Begabung besitzen. Zweitens muß er bereit sein, nicht zu oft „Warum" zu fragen. Aber, wenn er eine entsprechende Begabung und Bereitschaft besitzt, kann er die Hegeische Logik auch verstehen. Die verschiedenen Formen der Begründung für die Nichtzustimmung des anderen führen in der Regel nicht zur Überzeugung des Gegners.

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Die Integrationsversuche provozieren vielmehr im allgemeinen einfach eine Umkehrung. Die Prämissen werden verteidigt. Die unmittelbare Evidenz, die der andere behauptet, wird bestritten und behauptet, daß in ihr eine illegitime Vermittlung stecke. Die aufgewiesenen Interessen werden entweder als verallgemeinerbar behauptet, oder es wird der Nachweis versucht, daß die These unabhängig von den Interessen sei. Da das cui bono nicht schlüssig ist, kann der, der es vorbringt, ohnehin der Beweislast nicht genügen. Solange der andere sich nicht auf die ersten Schritte von Fichtes Wissenschaftslehre einläßt, läßt man sich seinerseits nicht auf die ersten Schritte der „Logischen Propädeutik" ein. Was können also die angeführten und leicht vermehrbaren Argumentationsfiguren eigentlich leisten? l. Zunächst zur Figur der Integration. Dieser Versuch ist in gewisser Weise notwendig. Er ist die Antwort darauf, daß eine Position allgemein Gültigkeit beansprucht und dieser Anspruch bestritten wird. Die Herausforderung muß jede Philosophie annehmen, indem sie versucht, auch den, von dem sie ausgeht, noch zu verstehen. Hier liegt — wie mir scheint — die Schwäche der Empiristen, wenn sie über Metaphysik reden. Man kann versuchen, Metaphysik rational oder pragmatisch zu rekonstruieren, zu transponieren, um so die Metaphysiker besser zu verstehen, als sie sich selbst verstehen. Aber, wenn man — wie Camap — sagt, Metaphysik sei eine Art von Musik, dann kann man das, was in ihr gesagt wird, nicht verstehen. Ja, man kann es weniger verstehen, als man Musik verstehen kann. Man kann nämlich den Unterschied zwischen Mozart und Beethoven analysieren. Aber Camap kann den Unterschied zwischen Duns Scotus und Thomas von Aquin nicht analysieren, ohne zu unterstellen, daß hier von irgendetwas die Rede ist. Wenn man aber gegenüber einer philosophischen Theorie, von der eine große Anzahl von Menschen behauptet, sie verstünden sie, erklärt, sie sei schlechterdings unverständlich, dann fällt der Vorwurf auf einen selbst zurück. Andererseits ist aber der Versuch, eine gegnerische Position durch Integration, durch „Besser-Verstehen" aufzuheben, immer von der Mißlichkeit begleitet, daß wir kein Kriterium dafür besitzen, ob wir das von dem kritisierten Autor Gemeinte bei unserer Rekonstruktion und Interpretation wirklich in seinem Sinne verstanden haben; ob wir das von ihm Gemeinte getroffen haben. Es gibt im Grunde nur ein Kriterium, und das wäre die Zustimmung des Autors selbst. Die Interpretation ist deshalb eher die Angabe der Bedingungen, unter denen man bereit wäre, dem interpretierten Autor zuzustimmen. Auf jeden Fall geht

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bei dem Integrationsversuch einer fremden Phüosophie etwas Entscheidendes verloren, nämlich der Anspruch dieser Philosophie, selbst die umfassende Interpretationsebene zu repräsentieren. Mindestens diesen Anspruch kann man nicht „integrieren", man kann ihn nur bestreiten. Wenn Leibniz sagte, er hätte in allem, was er gelesen habe, Richtiges gefunden, heißt das natürlich auch soviel wie, daß er nichts von dem, was er gelesen hat, ganz so genommen hat, wie der Autor es gemeint hatte. 2. Die Berufung auf Evidenz bleibt stets problematisch. Evidenz und Idiosynkrasie sind objektiv nur durch die faktische Zustimmung aller unterscheidbar. Wo diese nicht erreichbar ist, muß der Versuch gemacht werden, hinter das behauptete evidente Phänomen zurückzugehen auf ursprünglichere Formen der Evidenz. Evidenz ist keine Berufungsinstanz. Vermittlung kann immer nur diskursiv sein und die Berufung auf Evidenz steht sozusagen jenseits der Philosophie. Plato spricht im 7. Brief von dem plötzlichen Einleuchten der Idee des Guten, das nach „langen familiären Gesprächen" plötzlich stattfinde. Man kann sagen: ein solches Einleuchten ist das Ziel der Philosophie. Aber es ist auch deren Ende. 3. Die Disqualifizierung erkenntnisleitender Interessen als partikularer und der Ersetzung der Frage: Warum? durch die Frage:Cuibono? ist besonders charakteristisch für alle marxistischen Argumentationen. Sie enthält eine petitio principii. Es muß dazu nämlich vorausgesetzt werden, daß man über einen absoluten Bezugsrahmen verfügt, in Bezug auf welchen sich alle Positionen zu definieren haben. ,,Wer nicht für mich ist, der ist gegen mich". Wenn ich einen absoluten Bezugsrahmen habe, kann ich natürlich sagen, daß niemand in Bezug auf diesen neutral sein kann. So sagt der christliche Glaube: „In Bezug auf Gott mußt du dich entscheiden. Wenn du dich nicht entscheidest, dann ist das auch eine Entscheidung, nämlich gegen den Anspruch Gottes." Das war die Struktur von Pascals Wette. Ein solcher Absolutheitsanspruch aber ist immer vorausgesetzt, wo die Frage: Cui bono mit der Fragenach der Sache selbst verwechselt wird. Was der als absolut gesetzten „Sache" dient, ist dann wahr; was ihr nicht dient, ist eben dadurch definiert, daß es ihr nicht dient. Für wen Revolution das schlechthin Gute ist, der wird jede Tätigkeit, die der Revolution nicht dient, interpretieren als Stabilisierung derjenigen Verhältnisse, die er durch seine Tätigkeit nicht ändert. Nun kann man natürlich von allen Tätigkeiten, die wir in bestimmten institutionellen Rahmen ausüben, sagen, daß wir durch

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sie diesen Rahmen stabüisieren, da wir uns in ihm bewegen, ohne uns weiter um ihn zu kümmern. Aber die Forderung, man müsse sich darum kümmern und jeder, der dies nicht tue, sei eben dadurch definiert, daß er es nicht tue, ist eine terroristische Forderung. Sie lag vielen Umfunktionierungsversuchen in den letzten Jahren zugrunde. Jede Diskussion, wenn sie nicht das zum Gegenstand hat, was im Augenblick als Gegenstand verlangt wird, wird dann durch das definiert, worüber sie nicht redet. Die Willkürlichkeit einer solchen Absolutheitsforderung wird am deutlichsten in Bezug auf die Philosophie. Denn die Philosophie stellt und erörtert die Frage nach Kriterien der Relevanz, nach dem, was wichtig und was unwichtig ist. Sie fragt nach so etwas wie einem evident allgemeinen Interesse, nach dem, was für alle gut wäre. Wer ihre Antworten aus einem ideologiekritischen Gesichtspunkt bestreitet, den er selbst nicht innerhalb der Philosophie in einem philosophischen Disput zur Diskussion zu stellen bereit ist, dessen Position kann die Philosophie als Philosophie nicht zur Kenntnis nehmen. Was nun die Sprachregelung betrifft, den Versuch, den anderen dadurch zu disqualifizieren, daß man ihm sagt, er müsse erst einmal lernen, ordentlich zu sprechen, so muß man sich klar machen, daß in solchen Forderungen immer schon inhaltliche Positionen vorausgesetzt sind. Wittgenstein hat ja bekanntlich seinen Satz: ,Alles, was man sagen kann, kann man klar sagen", schließlich nicht aufrechterhalten. Er kam nämlich zu der Einsicht, daß er von dem, was er gerne sagen wollte, fast gar nichts sagen konnte, wenn er den Maßstäben vom klaren Reden, die er selbst formuliert hatte, entsprechen wollte. Natürlich ist es erlaubt, auch aus einer philosophischen Position Sprachregeln abzuleiten. Aber man muß sich klar sein, daß eine solche Sprachregelung nie inhaltlich neutral ist. Mit jeder Sprachregelung wird die Möglichkeit, bestimmte Dinge zu sagen, die man sagen möchte, ausgeschlossen. Wer aber etwas zu sehen glaubt, der wird es in der Sprache sagen, die es ihm erlaubt, das zu sagen, was er sieht. Gegen die Forderung nach einer Ab-ovo-Konstruktion der Sprache spricht ganz einfach die Endlichkeit des Lebens. Philosophie bringt im Unterschied zu den Wissenschaften nicht nur einen Diskurs in Gang, sondern sie ist ein Diskurs über das Ende des Diskurses. Philosophie bringt nicht einen Part in ein Gespräch, dessen Ergebnis sie nicht absehen kann, sondern sie ist der Versuch, das Ergebnis zu antizipieren. In Wirklichkeit beginnt sie damit einen neuen Diskurs. Noch einmal: die Philosophie ist

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in einer ähnlichen Lage wie der Anwalt vor Gericht. Auch vor Gericht werden nicht unmittelbar partikulare Standpunkte und Interessen präsentiert, sondern durch die Anwälte Vorschläge für Urteile gemacht, die bereits den Anspruch erheben, gerechte Urteile zu sein. Zu diesem Zweck aber muß der Anwalt sich nicht in erster Linie einer Sprache bedienen, die von seinen Mandanten unmittelbar nachvollziehbar ist, sondern der Sprache, in der am Ende das Urteil gefällt wird. Der Unterschied liegt nur darin, daß der Anwalt dem Richter das letzte Wort zugesteht und außerdem das Verfahren als vorgegeben anerkannt. Die Philosophie hingegen antizipiert nicht nur ein Urteil, sie zieht sozusagen die gesamte Rechtsordnung und die Sprache, in der die Urteile zu formulieren wären, in das strittige Verfahren mit hinein. Ihr Beitrag zum Diskurs besteht in der Antizipation von Diskursergebnissen. So ist sie eine Wegstrecke aus lauter Punkten, deren jeder als Endpunkt der Strecke gedacht ist. Oder, um es wieder in der Sprache des Dialogs auszudrücken: die Transzendierung der eigenen Partikularität, die Verallgemeinerung findet nicht erst im Diskurs statt: sie muß schon vorher stattgefunden haben, damit ein philosophischer Diskurs überhaupt stattfinden kann. Deshalb muß jede Sprachregelung für die Philosophie scheitern. Denn die Rekonstruktion der Sprache hinkt der Entwicklung des Redens, das schon stattgefunden hat, einschließlich der Bildungssprache und der Sprache der philosophischen Systeme notwendig hinterher. Sie versucht den Weg nachträglich zu korrigieren, indem sie ihn in vernünftigen Schritten noch einmal geht. Wenn man sich aber einmal klar gemacht hat, daß die Philosophie wesentlich die Antizipation des Endes dieses Weges ist, daß sie im Unterschied zu den Wissenschaften nicht schrittweise Entwicklung von Teilen, sondern Vorstellung eines Ganzen ist, dann ist es klar, daß die Anarchie in der Philosophie prinzipiell unüberwindbar ist. Wegen dieser Anarchie der Selbstdenker ist deshalb auch so etwas wie Arbeitsteilung in der Philosophie nicht möglich. Die Philosophie ist deshalb etwas Archaisches. In gewisser Weise kommt sie nicht vom Fleck. Die effizienten Wissenschaftsmethoden der Neuzeit kann sie am Ende nicht verwenden, da sie über diese Methoden nachdenkt. So fällt sie immer wieder zurück auf das einfache Mit-sich-zu-Rate-gehenvon Individuen. Und in diesem Mit-sich-zu-Rate-gehen ist jeder am Ende selbst Partei, Gegenpartei und Richter in einer Person. Genau das ist allerdings die Bedingung der Freiheit in einer Welt der Wissenschaft, die Rückbindung dessen, was wir tun und treiben, ans Selbstdenken und Selbstwollen von In-

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dividuen, die am Ende das, was sie tun, selbst rechtfertigen und selbst entscheiden müssen, was sie als gute Gründe für ihre Überzeugung anerkennen wollen. Die Verfasser der „Logischen Propädeutik" haben ganz richtig gesehen, daß vernünftiges Denken die Rückbindung des Denkens an seinen eigenen „naiven" Anfang voraussetzt. Sie haben den Zusammenhang von Autonomie und dem Recht auf Naivität entdeckt. Aber sie sind bei weitem nicht radikal genug, wenn sie glauben, für diese Rückbindung wieder ein Verfahren angeben zu können. Genau das ist es, was nicht geht. Inhaltliche Kriterien für Autonomie verbindlich machen wollen, heißt Autonomie aufheben. Gibt es dann überhaupt so etwas wie einen rationalen Diskurs in der Philosophie? Ja, es gibt ihn; aber es gibt ihn nur, wenn wir Rationalität primär verstehen als Eigenschaft von Subjekten und nicht als eine von den Subjekten abgelöste Struktur. Es gilt hier das Gleiche wie für die Gerechtigkeit. Das Problem der Gerechtigkeit ist nicht auflösbar, ohne Rekurs auf Gerechtigkeit als Tugend von Individuen. Gerechtigkeit ist die Bereitschaft eines Individuums, einen für alle zumutbaren Verteilungsschlüssel anzuwenden. Wo nun alle tatsächlich zustimmen, existiert das Problem des Verteilungsschlüssels gar nicht. Das politische Problem entsteht ja dort, wo nicht alle einverstanden sind. Da müssen die, die mächtig sind und über den Verteilungsschlüssel zu entscheiden haben, so entscheiden, daß sie dabei die Zustimmung aller antizipieren. Ob der Verteilungsschlüssel für alle zumutbar ist oder nicht, das hängt nicht davon ab, ob die Betroffenen tatsächlich zustimmen - darauf kann man nämlich nicht warten — sondern ob der, der die Entscheidungsmacht hat, sich leiten läßt von dem Gesichtspunkt der Zumutbarkeit. Gerechte Entscheidungen sind dann in erster Linie solche, die von gerechten Individuen getroffen werden, d. h. von solchen, die die Tugend der Gerechtigkeit besitzen. Solange man das nicht einsieht und der Meinung ist, Gerechtigkeit müsse sich darin erweisen, daß tätsächlich ein allgemeiner Konsens stattfindet, redet man an dem Problem vorbei. Marx z. B. wollte nicht Gerechtigkeit, sondern die Herstellung eines Zustandes, in dem es der Gerechtigkeit nicht mehr bedarf. Und er war ebenso wie viele liberale Autoren heute der Meinung, daß, solange es der Gerechtigkeit bedarf, Gerechtigkeit gar nicht möglich ist. Ähnlich verhält es sich mit der Rationalität. Alle Versuche, sie so zu definieren, daß wir objektive Kriterien angeben für ihr Vorliegen, sind zum Scheitern verurteilt. Wir müssen sie zunächst verstehen als Selbstverpflichtung auf gerechtfertigtes Denken. Und gerechtfertigtes

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Denken ist zunächst ein Denken aufgrund von Gesichtspunkten, von denen ich selbst überzeugt bin, daß jedermann ihnen müßte zustimmen können. Beispiel für ein nichtgerechtfertigtes Denken wäre z. B. Rousseau, der auf seiner Insel im Bieler See in einem Brief schreibt, man solle ihn nicht auf Widersprüche festnageln; er schreibe eben immer das, was ihm gerade in den Sinn komme. Es komme ihm nur darauf an, sich selbst in aller Wahrhaftigkeit darzustellen. Wahrhaftigkeit tritt hier in Gegensatz zur Wahrheit. Bewußte Idiosynkrasie oder Fanatismus sind Gegensätze zur Tugend der Rationalität. Sie sind die Weigerung, entgegengesetzte Positionen ernsthaft zu durchdenken. Es gehört ja auch zur Gerechtigkeit, die eigene Entscheidung über die Zumutbarkeit für andere am wirklichen Urteil der anderen zu überprüfen, es dem wirklichen Urteil der anderen auszusetzen. Nicht, als ob der reale Konsens das Kriterium für die Berechtigung des eigenen Urteils wäre. Aber es gehört zur Gerechtigkeit, daß die von den Betroffenen vorgebrachten Gesichtspunkte ernsthaft in die eigene Überlegung, in die Rechenschaft vor sich selbst des Entscheidenden eingebracht werden. Wo dies nicht geschieht, muß unterstellt werden, daß es ihm bei seiner Entscheidung in Wirklichkeit doch um partikulare Interessen geht. Die Demokratie gewährleistet nicht den Rechtsstaat. Aber der Rechtsstaat, der sich der demokratischen Kontrolle entzieht, steht in dem unaufhebbaren Verdacht, keiner zu sein. So ist ein Kriterium der Rationalität die Befolgung der Forderung Nietzsches: „Nichts ungedacht lassen, was gegen deinen Gedanken gedacht werden könnte." Nur so kann der Prozeß des philosophischen Denkens der Naturwüchsigkeit entzogen werden, der dem Wissenschaftsprozeß anhaftet. Der Wissenschaftsprozeß hat kern Subjekt. Es ist ein Prozeß mit verteilten Rollen. Das Eigentümliche des Prozesses, der Philosophie heißt, ist, daß jeder Philosoph den Versuch machen muß, alle Rollen zu rekonstruieren. Von außen betrachtet hat die Geschichte der Philosophie auch kein Subjekt. Aber man kann ebenso sagen, sie hat viele Subjekte. Jedes Subjekt ist in gewisser Weise das totale Subjekt des ganzen Prozesses. Und im Gespräch der großen Philosophien haben sich die Philosophen gegenseitig auch als solche wiedererkannt. So war Hegel der Überzeugung, daß auch Aristoteles schon das Ganze begriffen habe. Zur Rationalität als Tugend von Subjekten gehört dreierlei: l. das Bewußtsein der Partikularität, der Naturwüchsigkeit des eigenen Ausgangspunktes. Philosophie ist der Versuch, diese Partikularität

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nicht einfach abzustoßen, sondern sie zu begreifen und im Begreifen zu überwinden. Dazu gehört paradoxerweise eine gewisse Treue zur eigenen Partikularität. Es ist kein Kriterium für Rationalität, daß jemand bereit ist, zentrale Positionen aufgrund einer zufälligen Diskussionsüberlegenheit des Partners aufzugeben. Denn auch diese ist kontingent. Die bloße Auslieferung an den gegenwärtigen Diskussionsstand würde die naturwüchsige Kontingenz stärker vermehren, als das starre Festhalten am partikularen Ausgangspunkt. Es liegt deshalb ja auch Vernunft darin, daß in Parlamentsdebatten nicht plötzlich ein Argument der Fraktion der Gegenseite das Abstimmungsverhalten einer Fraktion beeinflußt. Die Fraktion selbst hatte ja bereits den Punkt lange beraten. Erst langfristig kann sich ein vernünftiges Argument als vernünftig erweisen und eine vernünftige Wirkung entfalten. Einer der tiefsten Eindrücke meiner Jugend war die Beobachtung, daß in der Nazi-Zeit gerade Intellektuelle häufig der Niedertracht und Unmenschlichkeit zustimmten, während katholische Bauern des Münsterlandes empört waren. Argumentativ waren die Leute, die für die Ermordung der Juden plädierten, diesen Bauern überlegen. Aber die Bauern ließen sich auf Argumente in dieser Richtung gar nicht einmal ein, sondern beharrten darauf: so etwas kann nicht richtig sein. Intransigenz beim Festhalten an Elementen der eigenen Identität und des eigenen Gewissens, die im Augenblick nicht rational vermittelbar sind, ist nicht ein Beweis für die Unvernünftigkeit des betreffenden Individuums. Das Argument der Gegenseite zu hören, gehört nun zwar nicht zum Münsterländer Bauern, aber zum Philosophen. Aber es gehört auch zum Philosophen, daß er darüber mit sich selbst zu Rate geht, d. h., daß er versucht, dieses Argument in Kontinuität mit dem, was er bisher gedacht hat, zu denken. Nur in solcher Kontinuität kann Vernünftigkeit gedeihen und kann ein Klima entstehen, in dem rationale Überzeugung von Überredung unterschieden werden kann. 2. Zur Rationalität als Tugend gehört Wohlwollen. Gerade, weil das philosophische Gespräch nicht durch Verfahren geregelt werden kann, die der Philosophie vorausliegen oder die dezisionistisch statuiert werden, muß dieses Gespräch durch Freundschaft geregelt sein. Freundschaft ist ein durchgehendes Element der platonischen Dialoge. Und wenn Sokrates den Kallikles als Gesprächspartner so nachdrücklich begrüßt, dann deshalb, weil Kallikles ihm die Freundschaft erweist, mit seinen wahren Ansichten nicht hinter dem Berge

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zu halten. Die Bereitschaft, Einwände des anderen, die mir zunächst nicht plausibel erscheinen, ernst zu nehmen und sie mir selbst zu machen, ist ein solcher Ausdruck wohlwollenden Vorurteils zugunsten des Gesprächspartners. Ohne ein solches wohlwollendes Vorurteil findet ein philosophisches Gespräch nicht statt. Es wird zur ,,Podiumsdiskussion" und nimmt propagandistische Formen an. Die Grenzen des philosophischen Streitgesprächs sind daher durch die Grenzen möglichen Wohlwollens bezeichnet. Wenn jemand sagt, man dürfe seine Mutter töten, so verdient er nicht Argumente, sondern Zurechtweisung, schreibt Aristoteles. Warum? Weil man über diese Behauptung nicht wohlwollend sprechen kann. 3. Die Einheit der Philosophie kann nicht bestehen in einem gemeinsamen philosophischen System oder auch nur in gemeinsamen Grundannahmen oder Prämissen. Sie hängt vielmehr an dem, was ich Rationalität als Tugend genannt habe. Zu dieser Tugend gehört auch die Bereitschaft, diejenigen Positionen, mit denen ein fruchtbares Gespräch zu fuhren man tatsächlich nicht in der Lage ist, gleichwohl im allgemeinen und öffentlichen Gespräch der Philosophie zu Wort kommen zu lassen. Die Menge der Positionen, die vernünftig diskutierbar sind, muß nicht zusammenfallen mit der Menge der Positionen, die irgendein faktisch Philosophierender zu diskutieren imstande ist. Diese Unfähigkeit ist nämlich stets kontingent. Eliminierung aller Positionen, die man selbst für irrational hält, wäre deshalb selbst irrational. Das hat ganz praktische Konsequenzen, die bis hin zur Besetzungspolitik bei philosophischen Lehrstühlen geht. Das Ergebnis ist ein paradoxes: jeder Versuch, den Streit der Philosophen auf eine objektiv-rationale Weise zu schlichten, ist am Ende nur der subjektive und partikulare Versuch zur Durchsetzung einer bestimmten Position. Nur wo wir Rationalität subjektiv und moralisch bestimmen, können wir diesem Streit eine Form geben, der ihn von Weltanschauungskonflikten, Ideologiekämpfen und Parteidoktrinen unterscheidet.

JÜRGEN MITTELSTRASS

Philosophie oder Wissenschaftstheorie? „Um noch über das Belehren, wie die Welt sein soll, ein Wort zu sagen, so kommt dazu ohnehin die Philosophie immer zu spät. Als der Gedanke der Welt erscheint sie erst in der Zeit, nachdem die Wirklichkeit ihren Bildungsprozeß vollendet und sich fertig gemacht hat."1 Dieses bekannte Diktum Hegels scheint auf eine überraschende Weise unter Philosophen erneut an Aktualität gewonnen zu haben. Getreu dem Hegeischen Programm „das was ist zu begreifen"2 und nicht länger darüber nachzudenken, was eigentlich sein soll, hat die Philosophie zum zweiten Mal die Wissenschaften entdeckt. Die erste Entdeckung betraf die historische Ausbildung der Wissenschaften selbst, insofern die Bemühung um rationale Orientierungen, die man in einem zunächst noch sehr allgemeinen Sinne als philosophische Bemühung bezeichnen kann, von Anfang an ihr methodisches Bewußtsein im Aufbau bereichsspezifischer Theorien, z. B. Geometrie und Astronomie, fand. In diesem Sinne war weder für Platon und Aristoteles noch für Galilei und Descartes Philosophie etwas, das sich sozusagen neben den Wissenschaften (in architektonischer Metaphorik auch einmal über oder unter den Wissenschaften) sinnvoll betreiben ließ. Auf welche Weise sich eine solche Überzeugung nun wiederum einen selbst theoretischen (oder philosophischen) Ausdruck verschaffte, soll hier nicht näher erörtert werden. 3 Entscheidend ist, daß dieser ursprüngliche Zusammenhang von philosophischer Reflexion und spezialwissenschaftlicher Theorienbildung unter dem Gesichtspunkt von Begründungs- oder Fundierungsfragen wissenschaftlicher Theorien rekonstruierbar ist. Das gilt im übrigen auch noch für den Logischen Empirismus mit seiner am Aufbau einer Einheitswissenschaft orientierten Theorie der Wissenschaftssprache. Positivismus in seinen verschiedenen histori1

G. W. F. HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts (ed. J. HOFFMEISTER), Hamburg 41955 (Philos. Bibliothek 124a), S. 17 (Vorrede). 2 A.a.O., S. 16. 3 Vgl. dazu den Beitrag von F. KAMBARTEL ; n diesem Band.

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sehen Ausprägungen, also z. B. als Logischer Empirismus, ist durchaus, was häufig übersehen wird, mit älteren philosophischen Begründungsprogrammen der methodischen Orientierung nach verträglich. Wenn hier von einer zweiten Entdeckung der Wissenschaft durch die Philosophie gesprochen wird, dann ist daher auch primär nicht die Entwicklung einer Wissenschaftstheorie, die sich Traditionen des Wiener Kreises verdankt, gemeint. Diese darf in einem bestimmten, wenn auch sehr allgemeinen Sinne noch als begründungsorientiert bezeichnet werden. Anders eine philosophische Auffassung von Wissenschaft, die sich wie folgt artikuliert: ,J)er Wissenschaftstheoretiker kann nicht mit der Frage beginnen: ,Was ist Wissenschaft?'. Diese Frage könnte bestenfalls am Ende aller wissenschaftstheoretischen Analysen — wenn es ein solches Ende gäbe! — gestellt werden; denn die Explikation des Wissenschaftsbegriffs setzt die Lösung der wissenschaftstheoretischen Spezialprobleme voraus"4; der „Wissenschaftstheoretiker stellt die existierenden Wissenschaften nicht in Frage. Vielmehr versucht er deren Rekonstruktion unter der Voraussetzung, daß eine rationale Rekonstruktion möglich ist"5; daß „der Wissenschaftstheoretiker [. . .] diese ,Vorgabe' an den Einzelwissenschaftler macht, die intuitiven Auffassungen des Wissenschaftlers als im Prinzip richtig anzuerkennen, solange nicht das Gegenteil erwiesen wurde, ist Ausdruck dessen, daß trotz der später ins Gefecht geworfenen normativen Geschütze der deskriptive Aspekt überwiegt, da das Faktum der Wissenschaft' den einzig möglichen Ausgangspunkt wissenschaftstheoretischer Analysen bildet"6. Berücksichtigt man, daß nach der hier programmatisch formulierten Auffassung »normative Geschütze'eigentlich zu schweigen haben, so hat man es anstelle eines begründungsorientierten Zugangs zu den Wissenschaften mit einem nur noch bestätigungsorientierten oder affirmativen Zugang zu tun. In der sogenannten Analytischen Wissenschaftstheorie, wie die ,offizielle' Bezeichnung lautet, findet sich die Philosophie, scheinbar endgültig, mit der Verselbständigung wissenschaftlicher Theorien außerhalb der Grenzen einer ehemals als philosophisch bezeichneten 4

W. STEGMÜLLER, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie IV (Personelle und Statistische Wahrscheinlichkeit), 1. Halbband: Personelle Wahrscheinlichkeit und Rationale Entscheidung, Berlin/Heidelberg/New York 1973, S. 5. 5 A.a.O., S. 23. 6 A.a.O., S. 24.

Philosophie oder Wissenschaftstheorie?

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Reflexion ab und beschränkt sich auf eine Analyse der in den Wissenschaften faktisch eingeschlossenen Rationalität. Die Philosophie kommt, wenn die Wissenschaften ,sich fertig gemacht haben' — dies ist der wortwörtliche Sinn des Hegeischen Diktums. Ich sehe es nicht als meine Aufgabe an, dieser sich anbahnenden Mesalliance über die üblichen philosophiehistorischen Einteilungen hinweg entgegenzutreten. Es genügt der Hinweis, daß das Hegeische Programm „das was ist zu begreifen" nun auch innerhalb einer sich als Wissenschaftstheorie verstehenden Philosophie eine überraschende und vermutlich oberflächliche Anwendung gefunden hat. Die Kontroverse um ein richtiges Verständnis der Philosophie und ihrer Aufgaben gewinnt dadurch eine neue Nuance. Wer nämlich heute für eine wissenschaftstheoretische Orientierung der Philosophie unter Aufrechterhai tung von Begründungsansprüchen eintritt, der hat gleich an zwei Fronten zu kämpfen: (1) gegen das Mißverständnis, daß Philosophie dann ihre allgemeinen Begründungsaufgaben nicht mehr wahrnehmen könne oder wolle, (2) gegen das Mißverständnis, daß Wissenschaftstheorie sich an das .Faktum der Wissenschaft' zu halten habe und ihrem Wesen nach analytisch sei. Im einen Falle beruft sich Philosophie auf ein in der Regel als spekulativ bezeichnetes Wissen neben den Wissenschaften, im anderen Falle versteht sie sich in Form von Wissenschaftstheorie quasi selbst als eine empirische Wissenschaft. Die zurückliegenden Kontroversen liefen über genau diesen Gegensatz: Spekulation versus Empirie - gegenüber einer Begründungsansprüche aufrechterhaltenden Wissenschaftstheorie bieten sich auf einmal merkwürdige Koalitionsmöglichkeiten: beide Positionen bestreiten die Möglichkeit einer methodisch und normativ geleiteten Diskussion von Fundierungsfragen wissenschaftlicher Theorien. In den folgenden Bemerkungen geht es um den Aufweis eben dieser Möglichkeit. Sie beziehen sich im wesentlichen auf meine Konstanzer Antrittsvorlesung „Das praktische Fundament der Wissenschaft und die Aufgabe der Philosophie" (1972). Einige Gesichtspunkte sind in dem Taschenbuch „Die Möglichkeit von Wissenschaft" (1974) weiter ausgeführt, andere hier ergänzt. Dabei soll es wiederum im Kern auf die Frage eines praktischen oder normativen Fundamentes der Wissenschaften und die der Philosophie bei der Bestimmung eines solchen Fundamentes zufallende Aufgabe ankommen. Diese Frage ist, wie die einleitenden Überlegungen verdeutlichen sollten, nicht neu, auch nicht der Versuch, mit ihrer Beantwortung gleich Begründungs-

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Probleme der Philosophie mitzuerledigen. Doch fehlt es nach wie vor an überzeugenden Lösungen; ja schon die Analyse der Problemlage selbst ist häufig kontrovers. Ich gebe eine Darstellung in Thesenform, die in erster Linie einen in vielen Teilen selbst noch vorläufigen Orientierungsversuch enthält. Ich möchte aber auch nicht verschweigen, daß ich die gestellte Frage für beantwortbar halte, und zwar mit den Mitteln der Philosophie. Zunächst jedoch noch einmal zur Diagnose des gegenwärtigen Zustandes der Philosophie, die, abgesehen von der Position dessen, der seinen Frieden mit einer bestätigungsorientierten Wissenschaftstheorie gemacht hat, erstaunlich einheitlich ist und nichts Gutes ahnen läßt. Unter dem Titel „Was ist heute noch Philosophie?" hat zuletzt Walter Schulz wieder hervorgehoben, daß die Philosophie ,an den Rand' geraten ist, daß man, beinahe mitleidig schon, fragen muß „Was »treiben* denn die Philosophen eigentlich?", und daß es genauer „die Aufhebung der Metaphysik des Geistes und die Ablösung der Wissenschaft von der Philosophie" gewesen ist, die diese „in eine prekäre Lage geraten" ließ.7 Die Lage ist in der Tat prekär, aber nicht nur für die Philosophie, sondern auch fur die Wissenschaften. Nur ist sie es dort auf eine andere Weise und nicht so offenkundig. Auf den ersten Blick scheint sogar alles in bester Ordnung zu sein. Die Wissenschaften — methodologisch definiert als reine Objektrationalität (Theorien werden daraufhin beurteilt, ob sie dem Erkenntniszuwachs in vorgegebenen, begrenzten Sachbereichen dienen), teleologisch definiert als reine Zweckrationalität (Theorien werden daraufhin beurteilt, ob sie als Mittel genommen die Realisierung vorgestellter Zwecke zur Folge haben) — haben seit dem 19. Jahrhundert ein Selbstverständnis ausgebildet, das in methodischen Dingen keiner Ergänzung, am wenigsten einer philosophischen Ergänzung, mehr zu bedürfen scheint. Die partikulare Rationalität positiver Wissenschaften wird als die ganze, ungeteilte Rationalität ausgegeben; die von der Philosophie als Erbe aus einer gemeinsamen, besseren Vergangenheit beanspruchte Rest-Rationalität als intellektueller Müßiggang dargestellt. Gegen diese im Blick auf ihre offenkundige Folgenlosigkeit in wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen ausge-

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FAZ,8. 2. 1975, Nr. 33, S. 21.

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sprochene Disqualifikation sucht sich Philosophie in der Regel als überregionale Legitimationsinstanz, häufig dann nur noch bestätigungsorientiert, als voraussetzungslose Kritik, häufig ohne konstruktive Alternativen, als fortgeschrittenstes Bewußtsein (Adorno), häufig darin doch wieder nur alles der Eule der Minerva überlassend, oder als universale Gründlichkeit, häufig dabei unter Naivitäts- oder Dilettantismusverdacht geratend, zu behaupten. Wo dies in Form von Wissenschaftstheorie geschieht, hat Philosophie dabei noch mit erheblichen Verunsicherungen eigener Produktion zu kämpfen - sie ist sich selbst eben als ein ursprünglich begründungsorientiertes Unternehmen suspekt geworden. Das heißt, sie ist gegenüber den Wissenschaften gerade dort ins Stolpern geraten, wo sie bislang mit beiden Beinen fest auf dem Boden positiven Wissens und fundamentalen Könnens zu stehen glaubte: eben in Begründungsfragen. Die Begründungsbemühung selbst erscheint ihrem Wesen nach entweder als regressiv, d. h. die Kette der zur Begründung anstehenden Sätze bricht nicht ab, oder als zirkulär, d. h. Sätze treten als ihre eigene Begründungsbasis auf. In dem einer solchen, sehr verbreiteten Auffassung zugrunde liegenden deduktiven Modell der Begründung werden Begründungen prinzipiell als Ableitungen aus ihrerseits unbegründeten ,ersten' Sätzen verstanden, bleibt eine Begründung der jeweils angenommenen Begründungsbasis eine nur noch ,axiomatisch' oder Dogmatisch', in jedem Falle faktisch-dezisionistisch lösbare Aufgabe. Der Versuch, an dieser Stelle fundamentale Begründungen anzugeben, erscheint erkenntnistheoretisch naiv und wissenschaftstheoretisch dogmatisch; die Frage, wie sich eine Theorie in einer gegen Einwände von Anfang an möglichst abgesicherten Weise (das heißt übrigens nicht: gegen Kritik von vornherein immunisierten Weise) methodisch aufbauen läßt, wird unbeantwortbar. Als Folge einer solchen, einen Spezialfall von Begründung unversehens zum allgemeinen Begründungsmodell erhebenden Auffassung erhält die Theoriefähigkeit des Menschen, und dies gilt nun sowohl für ihre wissenschaftlichen als auch für ihre sogenannten philosophischen Realisierungen, ein dezisionistisches Fundament. Begründungsansprüche werden, vermeintlich aus allein methodischen Gründen, von der Begründungsbasis ferngehalten, der Begründungsbegriff selbst, wenn man dabei an das Postulat eines schrittweise zu begründenden Aufbaues theoretischer Zusammenhänge denkt, aus dem Spiel genommen. Was zunächst allein für die Wissenschaften galt, gewissermaßen

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als Ausweis ihrer erworbenen Unabhängigkeit von der Philosophie, gilt nunmehr auch für die Philosophie selbst: man hat sich in Begründungsfragen daran gewöhnt, auf einem Bein zu stehen — die Amputation des anderen wird als Sieg über die Spekulation ausgegeben. Auf dem Hintergrund einer solchen Entwicklung, die für die Wissenschaften im 17. Jahrhundert, für die Philosophie erst um die Mitte dieses Jahrhunderts, einsetzt, wird auch die eigentümliche Verträglichkeit der als reine Zweckrationalität eingestuften wissenschaftlichen Rationalität mit wissenschaftlichen Autonomieansprüchen verständlich: Als Zweckrationalität sind die Wissenschaften charakterisiert als ein Mittelwissen, als ein Ensemble von Werkzeugen, deren Einsatz nicht durch die wissenschaftliche Rationalität selbst, sondern durch den in historischen und situationsgebundenen Abhängigkeiten stehenden Bedürfnisprimat einer sich selbst als das Resultat zweckrationalen Handelns verstehenden Gesellschaft geregelt wird. Andererseits wird für die Herstellung und Ausarbeitung eines solchen Mittelwissens bzw. solcher Werkzeuge Autonomie in Anspruch genommen. Autonomie nicht im pragmatischen Sinne verstanden als ein Verfügen über Handlungsmöglichkeiten, mit denen man in ein sonst heteronom bestimmtes Geschehen eingreift, auch nicht in einem davon abgeleiteten Sinne als die von unkritischen Traditionen unabhängige Begründung theoretischen Wissens. Autonomie vielmehr in dem Sinne, daß unter Hinweis auf die Theoriefähigkeit des Menschen das Theoretisieren selbst als ein Handlungszusammenhang erscheint, der um seiner selbst willen, also als Selbstzweck, ausgeführt wird, sich jedenfalls in dieser Weise auffassen läßt. Die pragmatische Interpretation von Autonomie wird hier durch eine praktische Interpretation ersetzt; es wird nicht mehr über Autonomie als Eigenschaft von Handlungen, sondern von Autonomie als Eigenschaft von Zwecken (oder Zielen) gesprochen. Das aber bedeutet für den vorliegenden Fall, daß sich Zweckrationalität gegenüber den sie leitenden gesellschaftlichen' Zwecken verselbständigt, daß sie über die Behauptung autonomer wissenschaftlicher Zwecke als Mittel unabhängig zu werden trachtet. Die prekäre Lage auch der Wissenschaften, von der im Anschluß an die Bemerkung von Walter Schulz die Rede war, läßt sich durch den Umstand charakterisieren, daß hier über einen Begründungsverzicht an der Basis einem falschen Autonomieverständnis Vorschub geleistet wird.

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These l : Die über die Behauptung autonomer wissenschaftlicher Zwecke definierte praktische Autonomie der Wissenschaften ist die (behauptete) Autonomie eines Mittels. Mittel aber können per definitionem niemals autonom im praktischen Verstande sein. Autonomie im praktischen Verstande ist daher auch keine Eigenschaft von Theorien, sondern eine Eigenschaft von Praxis hinsichtlich der in ihr geleisteten Rechtfertigung von Zwecken, einschließlich der wissenschaftlichen Zwecke. Die in dieser These herausgestrichene praktische Bedeutung von Autonomie (gegenüber einer pragmatischen Bedeutung) setzt allerdings die Klärung der Begründbarkeit von Normen, hier als Rechtfertigungsleistung gegenüber Zwecken bezeichnet, voraus. Diese Voraussetzung schränkt jedoch die Geltung der These nicht ein, etwa indem sie noch einmal die Möglichkeit offenließe, bei Nichterfüllung gegebenenfalls wieder von Autonomie in pragmatischer Hinsicht zu sprechen. Sie besagt lediglich, daß immer dann, wenn eine Begründung von Normen (Rechtfertigung von Zwecken) nicht vorliegt (bzw. aus methodischen Gründen für unmöglich gehalten wird), auch nicht von Autonomie im eigentlichen, nämlich praktischen Sinne gesprochen werden kann. Aufgaben der Philosophie sollen nun in eben diesem durch Autonomieansprüche charakterisierten Bereich lokalisiert werden. Daß damit zugleich Fundierungsfragen wissenschaftlicher Theorien aufgeworfen sind, liegt nicht nur an dem historischen Faktum, daß die Wissenschaften selbst unter dem Gesichtspunkt reiner Zweckrationalität ein bestimmtes (kritisierbares) Autonomieverständnis ausgebildet haben, sondern daran, daß die theoretische Arbeit als solche systematisch als Ausbau einer zunächst pragmatisch, d. h. als Verfügbarkeit über nicht bereits heteronom bestimmte Handlungsmöglichkeiten, gegebenen Autonomie verstanden werden muß. Eine derartige Aufgabenbestimmung schließt die Aufforderung ein, Philosophie gegen alle mehr deskriptiv bzw. affirmativ an den Wissenschaften orientierten oder sich auf systematische Einsichten in die vermeintliche Unbegründbarkeit ,erster Schritte' stützenden wissenschaftstheoretischen Auffassungen wieder als ein begründungsorientiertes Unternehmen zu begreifen. Ich will mich an dieser Stelle auf einige Überlegungen zum Status der Theorienbildung und seines Zusammenhanges mit einem nicht mehr nur bestätigungsorientierten Verständnis von Wissenschaft auf

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dem Hintergrund des eben Gesagten beschränken.8 Soweit dabei eine Klärung der Aufgaben beabsichtigt ist, die sich der Philosophie in Form von Wissenschaftstheorie stellen, lassen sich die folgenden Überlegungen wohl am geeignetsten unter dem Titel einer Allgemeinen Wissenschaftstheorie' einordnen. Es soll gar nicht bestritten werden, daß die heute das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis des Fachwissenschaftlers weitgehend beherrschende Analytische Wissenschaftstheorie den faktischen Bestand wissenschaftlicher Theorien zutreffend analysiert, es soll vielmehr darauf hingewiesen werden, daß die Philosophie, indem sie sich allein am faktischen Bestand der Wissenschaften orientiert, ihre Begründungsaufgaben unzureichend wahrnimmt. Natürlich bedeutet dies wieder einmal, daß sich der Philosoph als Spezialist für das Allgemeine versteht. Entscheidend ist nur, daß er das Allgemeine nicht mehr neben einer konkreten Wissenschafts- und Verständigungspraxis sucht, sondern dort, wo dieses Allgemeine, z. B. in Form einer Klärung von Fundierungsbeziehungen in eben dieser Praxis, entweder überhaupt nicht oder unzureichend wahrgenommen wird. Deswegen ist es auch erforderlich, Wissenschaftstheorie nicht lediglich in Form einer im wesentlichen an der (nicht konstruktiven) Metamathematik orientierten Metatheorie gegebener Theorien oder Theorienkomplexe zu betreiben, wie dies wiederum für die Analytische Wissenschaftstheorie charakteristisch ist, sondern bereits die Anfänge einer Theorie in die Rekonstruktionsbemühung einzubeziehen. Sofern auch das nicht nur ,technisch' in der Weise geschieht, daß bestimmte Grundbegriffe und Grundsätze einer Theorie besonders ausgezeichnet werden, sondern so, daß dabei auch die methodisch zu einer solchen Auszeichnung führenden (jedenfalls begründungsmäßig gehörenden) Schritte, die nicht selbst wieder von der aufgebauten Theorie abhängen können (sollten!), angegeben werden, hat es Wissenschaftstheorie nicht allein mit fertigen Theorien, sondern auch mit Fragen der Theoriengenese zu tun. Damit tritt die hier in Wahrnehmung älterer philosophischer Begründungsansprüche empfohlene wissenschaftstheoretische Bemühung wiederum in Gegensatz zu Positionen, die hinsichtlich der Unterscheidung zwischen Theorienbegründung (context of 8

Soweit dabei Fragen eines nicht mehr lediglich konventionalistisch gedeuteten Begründungsbegriffs berührt werden, sei erneut auf die auf pragmatische Zusammenhänge zurückgreifende Konstitutionsanalyse von F. KAMBARTEL in diesem Band verwiesen.

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justification) und Theoriengenese (context of discovery) im Umkreis des Kritischen Rationalismus gehalten werden und hier neuerdings im Anschluß an die Arbeiten Thomas Kuhns zu einer Renaissance wissenschaftshistorischer Forschung im Sinne einer deskriptiven Analyse von Theoriengenesen geführt haben. Die folgende These wehrt ein solches deskriptives Verständnis von Theoriengenesen ab. These 2: Wissenschaft ist ihrem Wesen nach praxisstabilisierende Theorie, und zwar in einem doppelten Sinne: l.Alle theoretischen Zusammenhänge, darunter die Wissenschaften, sind Mittel, die praktischen Orientierungen, das sind in der Regel Systeme von Zwecken und Handlungsregeln, dienen. 2. In theoretischen Zusammenhängen ist ein pragmatischer, der Theorienbildung selbst noch vorausliegender Zusammenhang von zweckgeleiteter Reflexion und .ausführendem', auf Sicherung seiner einzelnen Schritte bedachtem Handeln in begründeter Form konstruierbar. Dieser pragmatische Zusammenhang nimmt mit der Unterordnung der Theorienbildung unter praktische Orientierungen selbst praktische Züge an. Während der erste Gesichtspunkt z. B. historisch darin zum Ausdruck kommt, daß die Entdeckung der Möglichkeit von Wissenschaft und ihre ersten Realisierungen konkret der Stabilisierung erfahrungsleitender Orientierungen, kurz: der theoretischen Sicherung einer Praxis dienten (z. B. Logik als Theorie des begründenden Redens, Geometrie als Theorie des Bauens und der Herstellung von Werkzeugen, Physik als Theorie eines komplexen, erfahrungsmäßig — wenn auch schlecht beherrscht — zur Verfügung stehenden Wissens über Vorgänge, die der Mensch nicht jn der Hand hat'), zielt der zweite Gesichtspunkt auf den systematischen Zusammenhang einer vortheoretischen mit einer theoretischen Praxis: in einer vor-theoretischen Praxis liegen bereits in Form von handlungsvorbereitender Reflexion und Ausführung einer Handlung theoretische Zusammenhänge vorgebildet. Das aber bedeutet, daß sich Theorie, deren Gegenstand eine Praxis ist, als konstruktiver Bestandteil dieser Praxis erweist, zum anderen aber auch als abhängig von dieser Praxis, sofern sie dabei stets als praxisrekonstruierende Theorie (darin praxisimmanenten Strukturen theoretische Geltung verschaffend) aufgefaßt werden muß. Beispiel: Behauptungen werden auch in elementaren Redesituationen mit Geltungsansprüchen verbunden. Deren Einlösung erfolgt

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zunächst ohne theoretische Hilfsmittel, d. h. ohne Rekurs auf eine in Form von Theorie oder Technik zur Verfügung stehende Logik. Für elementare Verständigungssituationen darf in der Regel vorausgesetzt werden, daß eine solche Einlösung von Geltungsansprüchen schlicht gelingt. Wäre dies nicht der Fall, käme ein gemeinsames Handeln überhaupt nie, oder allenfalls zufällig, zustande. Dieses Umstandes bedient sich eine wissenschaftliche Intention': die Theoretisierung der Mittel für einen zweckbestimmten praktischen' Dialog schließt unmittelbar an die Praxis des elementaren begründenden Redens, d. h. an eine Dialogpraxis, an. Logik verschafft auf diese Weise den praxisimmanenten Strukturen des begründenden Redens eine nun auch theoretische Geltung. Mit der theoretischen Sicherung einer Praxis aber gewinnt diese eine sowohl pragmatisch als auch praktisch auslegbare Autonomie, sie gewinnt, wie ich zu sagen vorschlage, vernünftige Selbständigkeit, Theorie wäre damit nicht erst daran zu messen, wieviel Objektrationalität und wieviel Zweckrationalität im eingangs formulierten Sinne sie enthält, sondern bereits daran, wieviel Autonomie sie zu realisieren erlaubt. Das läßt sich thesenhaft auch zur Charakterisierung von Theorie oder Wissenschaft im allgemeinen heranziehen. These 3: Sofern in der Theorie (in der Wissenschaft) alle Abhängigkeiten als beherrscht gelten, wird Theorie selbst zum Paradigma des Übergangs von einer abhängigen zu einer unabhängigen Praxis. Die Transformation einer abhängigen in eine unabhängige Praxis setzt allerdings voraus, daß die eine Praxis konstituierenden Handlungszusammenhänge pragmatisch beherrscht und die sie leitenden Zwecke bzw. Normen praktisch begründbar sind. Gibt es etwa keine Begründung einer Praxis, die ihre Rechtfertigung gegenüber möglichen anderen praktischen Orientierungen einschließt, so gibt es auch keine Theorie dieser Praxis, die ihr normative Kraft verleihen könnte. Dazu ein Beispiel, das ich schon in meiner Antrittsvorlesung verwendet habe: In der Arithmetik werden begründete Aussagen einerseits über die elementare Praxis des Zählens, Addierens, Multiplizierens usw., andererseits über die komplexe Praxis der Konstruktion von Zahlenbereichen (z. B. rationale Zahlen) gemacht, wie sie bereits in vor-theoretischen Handlungszusammenhängen, insbesondere aber in theoretischen Zusammenhängen, Anwendung finden. Damit ist das

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pragmatische Fundament der Arithmetik angegeben. Was darüber hinaus ihr praktisches Fundament betrifft, so läßt sich dieses durch Hinweis auf Bedürfnisse wie die gerechte Verteilung von Gütern, Bedürfnisse, die ein gemeinsamer Wille als solche anerkennt, sowie durch die Art und Weise kennzeichnen, in der andere Wissenschaften, sofern diese sich selbst schon als gegenüber einer bestimmten Praxis gerechtfertigte Theorien darstellen lassen, von arithmetischen Hilfsmitteln Gebrauch machen müssen. Die Arithmetik wäre demnach durch den Nachweis gerechtfertigt oder praktisch begründet, daß sie gerechtfertigte Anwendungen hat. Das hat übrigens sofort auch methodologische Konsequenzen. Der Aufbau einer Wissenschaft wie hier der Arithmetik ist in seiner Begründung wesentlich abhängig von den aus ihren Anwendungen abstrahierten Bedingungen; im Falle der Arithmetik z. B. von den pragmatischen Bedingungen eines stets in endlichen Bereichen erfolgenden Fortschreitens — wodurch im konstruktiven Sinne etwa der ontologische Begriff der aktualen Unendlichkeit unbegründet bleibt. Mit anderen Worten: der praktische Begriff der Anwendbarkeit (»anwendbar in einer gerechtfertigten Praxis') wird zum wesentlichen Kriterium auch des methodisch geordneten Aufbaus der Arithmetik. Wo eine Anwendung nicht vorliegt (nicht angegeben werden kann), ist insofern schon aus methodologischen Gründen eine arithmetische Theorie - und das gilt für Theorien allgemein - pragmatisch unzureichend begründet; wo eine Anwendung zwar vorliegt (angegeben werden kann), diese sich aber auf keine ihrerseits schon gerechtfertigte Praxis stützt, ist sie praktisch unzureichend begründet. Über diesen Umstand hilft auch das in diesem Zusammenhang häufig gemachte oder stillschweigend als in Geltung befindlich angenommene Argument der potentiellen Werkzeuge oder ein Liberalitätspostulat für wissenschaftliche Produktionen nicht hinweg. Grundsatz: Wofür sich keine Zwecke und damit keine Anwendungsbereiche angeben lassen, dafürkann auch die Bezeichnung eines Mittels, z. B. in Form von Wissenschaft, nicht in Anspruch genommen werden. Es kommt mir darauf an, hier nicht in den sattsam bekannten Jargon einer Vermittlung von Theorie und Praxis zu verfallen. — Es ist angenehm still um dieses Verhältnis geworden, wenn man auch nicht recht weiß, aus welchen Gründen eigentlich. So könnte man geradezu die Vermutung hegen, in der plausiblen Annahme, daß Theorie immer irgendwie Praxis beeinflußt und umgekehrt, seien mittlerweile alle zu

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guten Marxisten geworden. - Meine Absicht ist die Darstellung einer schrittweisen Herausbildung von Theorie aus Praxis und damit zusammenhängende Begründungsfragen. In einem anderen, wenngleich durch die besten Stücke philosophischer Tradition geformten Jargon wäre dies als Primat der Praxis bzw. als Primat der praktischen Vernunft gegenüber der Theorie bzw. der theoretischen Vernunft auszudrücken. Doch derartige Unterscheidungen werden auf dem Boden der hier vorgeschlagenen Orientierungen in ihrer statutarischen Schlichtheit gerade wieder problematisch. Wenn Theorie nämlich unter anderem praxisimmanenten Strukturen zu systematischer (theoretischer) Geltung verhilft, gerade als Theorie also praxisrekonstruierenden Charakter besitzt, dann läßt sich offenbar so einfach zwischen einer elementaren Praxis und Theorie als einem Überbauphänomen gar nicht unterscheiden. Deshalb auch die folgende, sicher nicht nur in marxistisch gerichteten Ohren ketzerische These. These 4: Der Umstand, daß sich Theorie stets auch auf praxisimmanente Strukturen bezieht, die den Zusammenhang von zweckgeleiteter Reflexion und Ausführendem' Handeln betreffen, macht es erforderlich, einen (partiellen) Primat der Theorie gegenüber ,theorieloser' Praxis zu konstatieren. Was ist gemeint? Nicht mehr und nicht weniger, als daß im Sinne der vorangegangenen Erläuterungen bereits mit dem Eintritt in eine Beratungssituation (diese kann auch monologisch zur Reflexion des Einzelnen verkürzt erscheinen) der erste Schritt in einen theoretischen Zustand getan ist. Sich über Voraussetzungen klar werden, Chancen einschätzen, Folgen bedenken, Mittel wählen, Schwierigkeiten in Rechnung stellen, Kosten abschätzen, etc. - das alles sind solche .reflektierenden' Schritte, die wohl vor einem Theoretisieren im engeren Sinne liegen, gleichwohl aber in dem dargestellten genetischen Zusammenhang mit Theorie stehen. Das gilt allgemein gesprochen von jeder Form der Orientierung, wobei Orientierungen hier durchaus als Handlungen bezeichnet werden können, als solche aber, die das Handeln im engeren Sinne, nämlich das verändernde oder bewahrende ,sinnliche' Handeln vorbereiten. Auch Rechtfertigungen, die in begründender Rede für Handlungszwecke vorgetragen werden, gehören selbstverständlich zu einer so verstandenen Orientierung. Eine theorielose Praxis bestünde entsprechend in einem

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orientierungslosen Draufloshandeln, gegebenenfalls auch in der Weigerung, sich auf eine gemeinsame Verständigung über ,das in einer Situation Erforderliche* mit anderen einzulassen. Von einem Primat der Theorie gegenüber Praxis kann immer dann gesprochen werden, wenn eine begründete oder vernünftige Praxis bzw. eine Praxis, die durch die Bemühung um Begründung charakterisierbar ist, besteht und diese Praxis einem bloßen Draufloshandeln abgerungen wurde. Zu einer solchen Praxis gehört, einfach gesagt, erst zu reden (sich gemeinsam zu orientieren) und dann zu handeln. Handlungsleitende Eigenschaften von Theorie setzen demnach systematisch gesehen sehr früh ein, nämlich noch innerhalb eines als pragmatisch charakterisierbaren Zusammenhanges selbst. Das alles mag auf den ersten Blick wie ein Eiertanz um einen Weberschen Wissenschaftsbegriff erscheinen. Richtig ist, daß die Thesen 3 und 4 eine Modifikation des bisherigen Verständnisses von Wissenschaft als Zweckrationali tat, nämlich als eines für beliebige Zwecke zur Verfügung stehenden Mittelwissens, darlegen. Sowohl der Begriff der Anwendbarkeit in einer selbst unter Begründungsoder Rechtfertigungsansprüchen stehenden Praxis als auch die Auszeichnung theoretischer Elemente innerhalb einer als begründet oder vernünftig zu bezeichnenden Praxis erlauben eine Rechtfertigung der Zweckrationalität gegen deren sich auf einen falschen Autonomieanspruch stützende Tendenz zur Verselbständigung gegenüber Begründungszusammenhängen. Wissenschaft wird also (mit Weber) als Zweckrationalität bestätigt, gleichzeitig aber (gegen Weber) in ihren Autonomieansprüchen an vor-wissenschaftliche Bedingungen gebunden. Liegt eine in ihren Zwecken begründete Praxis vor, dann ist Wissenschaft, die sich als ein Mittelwissen auf diese Praxis stabilisierend bezieht, selbst zur begründeten Praxis geworden. Autonomieansprüche, die sich auf diesen Umstand, nicht auf die vermeintliche Selbständigkeit reiner Zweckrationalität beziehen, sind berechtigt. Nun soll damit nicht der Eindruck erweckt werden, als würde hier gegenüber jeder Praxis ein Begründungsanspruch erhoben, der (a) keine Ausnahmen vorsieht und (b) selbst wiederum nur unter Einsatz erheblicher theoretischer Mittel einlösbar ist. Daß dies auf eine ganz unsinnige Einteilung in begründete und nicht-begründete Handlungszusammenhänge hinausliefe, wird deutlich, wenn man Handlungen betrachtet, deren Zweck die Herstellung von Gegenständen ist. Herstellungshandlungen erfolgen nach Regeln (Herstellungsregeln), die

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selbst keiner Begründung im praktischen Sinne bedürfen. Regeln werden vielmehr allein pragmatisch daraufhin beurteilt, ob sie geeignet sind, die gewünschten Gegenstände, Artefakte,hervorzubringen oder nicht. Von Praxis im weiteren Sinne ist damit, gleichzeitig als ein Spezialfall rein pragmatisch bestimmter Handlungszusammenhänge, Poiesis im engeren Sinne zu unterscheiden. Diese stellt sich als ein Handlungszusammenhang dar, in dem von bloß gegebenen Zwecken zu reden, sinnvoll ist, weil man allein zu beurteilen sucht, wie etwas hergestellt wird, nicht, wozu es hergestellt wird. Das bedeutet nicht, daß Poiesis etwas gänzlich anderes als Praxis wäre, sie ist es allein hinsichtlich ihres Abstrakten' Charakters, des Umstandes nämlich, daß Poiesis ein von einer Begründungsverpflichtung unter bestimmten Bedingungen, nämlich rein pragmatischen Bedingungen, suspendiertes Stück Praxis ist. Der relevante Unterschied läßt sich wieder in einer These formulieren. These 5: Während die Zwecke des poietischen Handelns Artefakte und als solche gegebene Zwecke sind, ist der Zweck des nicht-poietischen, nicht bloß auf Herstellungsprozesse und deren interne Orientierung am Begriff der pragmatischen Regelgemäßheit gerichteten Handelns das begründete Handeln, die ,gutePraxis'(nachPlaton und Aristoteles). Es ist klar, daß damit die Wissenschaften nicht unter das poietische und damit rein pragmatisch bestimmbare Handeln fallen - ihre Zwecke sind nicht Gegenstände, Artefakte, sondern begründete Aussagen über Gegenstände. Andererseits lassen sich z. B. die methodologischen Teile der Wissenschaften, die Konstruktion und Anwendung von Begründungsverfahren, durchaus in diesem Sinne verstehen. Tatsächlich erweist sich der Begriff der Zweckrationalität im engeren, nicht auf eine begründete Praxis bezogenen Sinne weitgehend äquivalent mit dem Begriff des poietischen, im weiteren Sinne pragmatischen Könnens. Hier wie dort geht es um die Produktion von Mitteln unter als vorgegeben angesehenen Zwecken. Im Anschluß an die Autonomiediskussion läßt sich hier deshalb auch von pragmatischer Autonomie (im Gegensatz zu praktischer Autonomie) sprechen. Auch dazu ein Beispiel: Wo die Logik nicht als eine Theorie des begründenden Redens verstanden, sondern als ein formale s Regelsystem aufgebaut wird (Kalkülisierungsprogramm), gibt sie sich statt als Theorie einer (poietische Elemente einschließenden) Praxis als Poiesis

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einer Theorie (mit ihrerseits unklaren Bezügen zu der ihr zugrunde liegenden Praxis) zu erkennen. Sie verliert damit, in Form einer poietischen Verselbständigung der Theorie, ihre praktische Begründungsbasis; sie wird zum bloßen Mittel, verbunden mit dem Anspruch, die Ausarbeitung dieses Mittels als Selbstzweck betreiben zu dürfen. Ähnliches ließe sich anhand der Mathematik zeigen, wo diese etwa primär als Technik der Beherrschung formaler Strukturen aufgefaßt wird. Derartige Auffassungen von Wissenschaft, die diese strukturell als Poiesis erscheinen lassen, haben Gründe, die sich aus der Entwicklung der Wissenschaften selbst herleiten. Das wird auch in der Regel gar nicht bestritten. Nur korrespondiert hier häufig dem Verzicht auf ein begründungsorientiertes Theorieverständnis ein historistisches Verständnis von Wissenschaftsgeschichte, in dessen Rahmen sich zwischen begründeten Entwicklungen und Fehlentwicklungen nicht unterscheiden läßt. Unter methodologischen Gesichtspunkten führt dies zu einer Beschränkung auf Wirkungsgeschichte. Die Geschichte der Wissenschaften wird als ein Wirkungszusammenhang vorgestellt, wobei die einzelnen Entwicklungen dabei zugeordneten ,Ursachen' in einem quasi empirisch-hypothetischen Sinne als empirische Korrelate von Wirkungen auftreten. In sogenannten Verlaufsmodellen historischer Entwicklungen werden die in faktischen Entwicklungen eingeschlossenen praktischen Orientierungen, d. h. die hier leitenden Zwecke und die zu ihrer Verfolgung eingesetzten Handlungsweisen, selbst als Teil, nämlich als verursachender' Teil, von Entwicklungen angesehen, die als Wirkungszusammenhänge insgesamt betrachtet unter sozusagen naturgeschichtlichen Bedingungen stehen. Im Gegensatz dazu kommt es nun darauf an. die Geschichte der Wissenschaften in Form einer Gründegeschichte zu rekonstruieren. Wirkungszusammenhänge wären daraufhin zu beurteilen, inwieweit sie zugleich Ausdruck von Gründezusammenhängen sind. Unter einem Gründezusammenhang sei dabei eine Situation verstanden, in deren Rahmen die Befolgung bestimmter Handlungen oder das Eintreten bestimmter Zustände als Realisierung praktischer Orientierungen aufgefaßt wird. Auf deren Beurteilung richtet sich das begründungsorientierte Rekonstruktionsinteresse, das insofern auch die Geschichte ernster nimmt als jedes andere allein erklärungsorientierte Interesse. Die Behauptung lautet, daß es nur im Rahmen einer solcherart begründungsorientierten Analyse auf eine methodisch abgesicherte Weise

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möglich ist: 1. reine wirkungsgeschichtliche Entwicklungen, für die sich im Sinne einer begründeten Praxis systematisch nicht mehr argumentieren läßt, von anderen, Teile eines begründeten Aufbaues realisierenden Entwicklungen zu unterscheiden^. Fehlentwicklungen als solche zu kennzeichnen; 3. Teile der herrschenden wissenschaftlichen Praxis bis in ihren Lehrbuchbestand hinein gegebenenfalls als Folge historischer Fehlentwicklungen zu begreifen und über geeignete Vorschläge selbst zu verändern. These 6: Aufgabe einer historischen Analyse wissenschaftlicher Orientierungen ist der Versuch, die das Faktum der Wissenschaft inhaltlich wie institutionell konstituierende Wirkungsgeschichte, aufgefaßt als ein Stück Naturgeschichte, wenigstens in Teilen durch eine Gründegeschichte ersetzt zu denken. Wissenschaftsgeschichte als Gründegeschichte betrifft die Abhängigkeit historischer Entwicklungen von praktischen Orientierungen und die in ihnen eingeschlossenen Ansätze zu einem begründungsorientierten Aufbau von Wissenschaft. Historische Rekonstruktionen, die unter heuristischem Rekurs auf .konstruierte' kritische Genesen Beurteilungen faktischer Genesen enthalten, dienen insofern dem Ziel einer Reorganisation der bestehenden wissenschaftlichen Praxis unter dem Gesichtspunkt ihrer konstruktiven Begründung. Soviel im übrigen auch noch einmal zur gegenwärtigen Konjunktur von wissenschaftshistorischen Theoriekonzeptionen, die sich - nicht unerwartet, wenn man den dabei im wissenschaftstheoretischen Hintergrund stehenden Rest-Begriff von Begründung beachtet - nahezu ausschließlich auf wirkungsgeschichtliche Aspekte beschränken, Theoriegenesen damit nur deskriptiv erfassen. Philosophie, die in Form von Wissenschaftstheorie eine konstruktive Begründung theoretischer Handlungs- und Satzzusammenhänge ins Auge faßt und dafür die erforderlichen Mittel zur Verfügung zu stellen sucht, hat nach dem hier Gesagten eine methodologische und eine teleologische Komponente. Die methodologische Komponente betrifft eine Bewährung im Formalen, d.h. den Aufbau eines kontrollierbaren Begründungszusammenhanges von Sätzen und Schrittfolgen, die teleologische Komponente eine Bewährung über gerechtfertigte Anwendungen, in deren Rahmen der Geltungsanspruch einer Theorie direkt an die Bedingungen eines pragmatisch fundierten, praktischen Begrün-

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dungs- und Rechtfertigungszusammenhanges verwiesen wird. Nach den Ausführungen zu These 5 (Zweck des nicht-poietischen Handelns ist ein begründetes Handeln) genügt der Hinweis auf die Existenz von Anwendungen allein noch nicht, um die Beschäftigung mit Theorien und deren Geltung zu rechtfertigen. Es kommt vielmehr darauf an, daß sich ^ute Gründe' für diese Anwendungen selbst beibringen lassen. Wo dies nicht der Fall ist, wird Theorie blind gegenüber ihren Anwendungen, nimmt sie ihre praxisstabilisierende Rolle unkritisch wahr. Das alles setzt natürlich voraus, daß sich über praktische Orientierungen begründet reden läßt, anders formuliert: daß Normen mit methodischen Mitteln begründbar sind, was wiederum den Aufbau von Verfahren zur Beurteilung von Gründen und Gegengründen in praktischen Dialogen erforderlich macht. Auch ein solcher Aufbau soll daher zu den Aufgaben einer kritischen Philosophie gehören. Philosophie hätte sich demnach unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten 1. als konstruktive Methodologie und 2. als regulative Teleologie zu verstehen oder kürzer: als Logik und Ethik in einem auf den Aufbau handlungsleitenden theoretischen Wissens bezogenen Sinne. In klassischer Terminologie wäre sie als Logik eine allgemeine Lehre der theoretischen Vernunft, die den methodischen Aufbau begründungsorientierter Theorien betrifft, als Ethik eine allgemeine Lehre der praktischen Vernunft, die die Ausarbeitung begründeter Systeme von Handlungsregeln einschließlich deren fachwissenschaftlicher Anschlußstücke theoriebezogen betrifft. In diesem Zusammenhang erweist sich im übrigen die Logik im engeren Sinne erneut als ein Organen der Wissenschaften, und zwar als ein durch ihren praktischen Bezug gerechtfertigtes Organon. Sie bezieht sich nämlich l. entsprechend den hier für theoretische Zusammenhänge geforderten Kriterien auf eine Praxis, und diese Praxis, nämlich das begründende Reden, ist bereits durch ihre Beziehung zur Rechtfertigung als einer Handlung gerechtfertigt: als eine Rechtfertigung kann nur akzeptiert werden, was in begründender Rede vorgetragen wird. Und Logik ist 2. als Theorie des begründenden Redens theoretischer Bestandteil einer Rechtfertigung (Begründung) von Zwecken und somit sowohl in methodologischer als auch in ideologischer Hinsicht notwendiges erstes Stück jeder Wissenschaft. Auch und gerade sie ist es damit, die die für Begründungsfragen zentrale Existenz eines praktischen bzw. normativen Fundamentes der Wissenschaften sichert.

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Der von Philosophen gegenüber Philosophen häufig geltend gemachte Verdacht, Philosophie in Form von Wissenschaftstheorie gäbe die Sache der Philosophie preis und befördere einen oberflächlichen Szientismus., der den Wissenschaften gelegen käme, für die Philosophie aber ruinös sei, scheint mir damit unbegründet zu sein. Szientismus läge vor, wenn empfohlen würde, Fundierungsprobleme wissenschaftlicher Theorien mit den Mitteln dieser Theorien selbst zu lösen, und dabei außerdem, orientiert an positivistischen Traditionen, naturwissenschaftlichen Theorien der Primat eingeräumt würde (ich erinnere in diesem Zusammenhang an den Physikalismus im Logischen Empirismus). Ein naturalistisches Mißverständnis wissenschaftlicher Theorien übertrüge sich auf die philosophische Behandlung von Fundierungsfragen und gäbe sich in der Tat darin als Szientismus zu erkennen. Eben diesem Mißverständnis sollte aber gerade durch die Gegenüberstellung eines bestätigungs- bzw. erklärungsorientierten Vorgehens und eines begründungsorientierten Vorgehens gewehrt werden, wobei letzteres, wenn überhaupt etwas, die Sache der Philosophie ist. So mag man in der Beurteilung der Geschichte der Philosophie unterschiedlicher Meinung sein,mag der eine Syllogistik, der andere Gottesbeweise besonders schätzen, in der Beurteilung, daß sich hier ein besonderes Begründungsinteresse geltend macht, das sich nicht einfach über die Fachwissenschaften verrechnen läßt, ist man sich in der Regel einig. Wer an dieser Stelle übrigens das Wort Begründungsinteresse vermeiden möchte, weil er Verwechslungen mit fundamentalistischen Positionen ä la Cartesischer Metaphysik befürchtet, der verfahre, wie er es sprachlich für besser hält. Es soll ja nicht auf die Wörter, sondern auf die Unterscheidungen ankommen, deren Artikulation die Wörter dienen. Und Wörter wie Reflexion, Dialektik oder Analyse tun es auch, wenn mit ihrer Hilfe zum Ausdruck gebracht werden soll, daß Philosophie allemal etwas mit Platons Forderung des \oyov oder Leibnizens principium reddendae rationis zu tun hat. Wie bereits erwähnt, verbirgt sich hinter dieser zunächst wortstrategischen Frage häufig auch die Behauptung, daß Begründungen im strengen Sinne - man spricht dann auch mit einem leichten metaphysischen Schauder von Absolut- oder Letztbegründung - unmöglich sind. Das wiederum kann eine sich methodisch ausweisende Einschätzung innerhalb einer wissenschaftstheoretischen Debatte um Fundierungsprobleme wissenschaftlicher Theorien sein (so z. B. in den hier zentralen Stellungnahmen im Umkreis des Kritischen Rationalis-

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mus), der sich mit wissenschaftstheoretischen Argumenten begegnen läßt. Eine solche Behauptung kann aber auch als willkommener theoretischer Schlußstein im Gewölbe einer neuen Skepsis aufgefaßt werden, in das sich weniger wissenschaftstheoretisch gesonnene Zeitgenossen unter den Philosophen zurückzuziehen beginnen. Hier sitzt denn auch die These von der Funktionslosigkeit oder Kompetenzschwäche der Philosophie, zunächst gegenüber den Wissenschaften, die zu besorgten, manchmal aber auch heiter gestimmten Wozu-Fragen Anlaß gibt. Nur über eines muß man sich dabei im Klaren sein: Sollte der Verzicht auf Begründungsansprüche (sei er nun eher theoretisch oder eher skeptisch ausgewiesen) endgültig sein, so läßt sich zwar in philosophischer Absicht der Umstand, als Philosophie überflüssig zu sein, noch eine gute Weile kommentieren (die Existenz von philosophischen Lehrstühlen allein ist dafür schon eine beruhigende Gewähr), nur wird man nicht verhindern können (strenggenommen ja auch gar nicht wollen), daß dann zumindest die anderen Konsequenzen aus der hier angebotenen .Einsicht' ziehen. Die anderen, das sind die Fachwissenschaften, denen auf diese Weise von zuständiger Seite klargemacht würde, daß die von ihnen selbst seit langem praktizierte Großzügigkeit gegenüber Fundierungsproblemen gar auf philosophischer Einsicht beruht. Man sieht damit, daß die Erörterung wissenschaftstheoretischer Fragen keine Nebensache ist, in der die Philosophie zusätzliche Wirkungsmöglichkeiten entdeckt. Wenn die hier gegebene Darstellung zutrifft, dann entscheidet sich in Form von Wissenschaftstheorie die Zukunft der Philosophie. Nicht in der anfangs über eine kleine Anleihe bei Hegel geschilderten Weise, daß die Philosophie kommt, wenn die Wissenschaften ,sich fertig gemacht haben', sondern so, daß die ursprüngliche Einheit von Philosophie und Wissenschaft in der begründungsorientierten Behandlung von Fundierungsfragen nicht nur wissenschaftlicher Theorien, sondern theoretisch bestimmter Orientierungen allgemein wieder zurückgewonnen wird. Daß dies nicht im Lichte einer cartesischen Morgenröte gesehen wird, ist an vielen Stellen deutlich zu machen versucht worden. Ich beziehe mich in ein paar abschließenden Worten dazu auf meine leider zu akademisch geratene Polemik „Wider den Dingler-Komplex": Der normative Anspruch, der hier erhoben und neuerdings als Dinglerismus verdächtigt wird, betrifft die Aufforderung zur Ausarbeitung von Begründungszusammenhängen, ohne die jede Analyse und jede

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Kritik einer wissenschaftlichen Praxis orientierungslos bleiben muß, nicht jedoch ein Abonnement auf ein spezielles Begründungswissen und eine damit verbundene Annahme, man könne sich nicht mehr irren. Wer dies unterstellt, der hat die Intentionen einer konstruktiven Wissenschaftstheorie entweder nicht verstanden oder deutet sie bewußt zu polemischen Zwecken um. Im Rahmen ausgearbeiteter konstruktiver Begründungszusammenhänge wird weder die Forderung aufgestellt, vollständige Konstruktionen aller Unterscheidungen und Sätze einer wissenschaftlichen Disziplin zu erarbeiten, noch wird die Behauptung vertreten, daß ein anderer Anfang als der jeweils vorgelegte unmöglich sei. Eine ,Absolutbegründung' oder ,Letztbegründung' in diesem Sinne steht weder in ihrer dogmatischen Variante (Descartes und der klassische Rationalismus) noch in ihrer dezisionistischen Variante (Dingler) zur Verfügung.9 Mit anderen Worten: Die Konstruktion begrün deter Vor schlage, zu der hier in wissenschaftstheoretischer Absicht aufgerufen wird, ist nicht unfehlbar, sie schließt andere Anfänge nicht aus und steht jederzeit einer ernstgemeinten Kritik, die sich ihrerseits auf begründete Vorschläge zu stützen vermag, offen. Allerdings schließt sie auch die Verpflichtung ein, bereits ausgearbeitete Begründungszusammenhänge als gemeinsam zur Verfügung stehende Mittel auch zu benutzen. Wer immer nur über Werkzeuge redet, ohne sie selbst zu konstruieren oder ohne sie zu benutzen, der kann zwar unter Hinweis auf die Geschichte der Philosophie für sich in Anspruch nehmen, Philosoph zu sein, er wird dabei nur gleichzeitig dem bekannten Marxschen Diktum über die hermeneutische Vergangenheit der Philosophie unterliegen. Nicht weil er nicht revolutionär handelt — das halte ich nach wie vor nicht für die Sache der Philosophie -, sondern weil er gar nicht handelt.

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Die Möglichkeit von Wissenschaft, Frankfurt 1974 (suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 62), S. 100.

HERMANN LÜBBE

Wozu Philosophie? Aspekte einer ärgerlichen Frage Es häufen si ch Publikationen mit der Titel-Frage „Wozu Philosophie?". Auch in der schärferen Fassung „Wozu noch Philosophie?" tritt diese Frage auf. Für Philosophen von Profession ist das ein lästiges Faktum. Normalerweise tut man ja, wofür man da ist, fragt aber nicht, wofür man da sei. Die Beantwortung der Frage, wofür, was man tut, gut sei, sollte sich von selbst verstehen, wenn man es unabgelenkt und auf Dauer gut soll tun können. Diesen Schutz des Charakters einer kulturellen Selbstverständlichkeit für ihr Tun in Anspruch zu nehmen haben Philosophen zur Zeit also Schwierigkeiten. Die Erörterung dieser Schwierigkeiten findet heute durchaus in der akademischen und kulturpolitischen Öffentlichkeit statt. Die Philosophen fühlen sich offensichtlich provoziert, gerade bei herausragenden Gelegenheiten zur Frage „Wozu Philosophie?" Stellung zu nehmen — in Antrittsvorlesungen, in Rektoratsreden oder in Versuchen fachlicher Selbstdarstellung, zu denen Redaktionen oder Organisationen der Forschungsförderung Anlaß gaben oder aufforderten. Einige äußere Umstände, die in der Tat die Philosophie zur Selbstverteidigung veranlassen müssen, sind bekannt. Das gilt vor allem für die jüngere Geschichte des „Philosophicum", das heißt der philosophischen Hälfte der sogenannten „Allgemeinen Prüfung" im Examen der Kandidaten des Höheren Lehramts. Dieses Philosophicum ist ja als obligater Prüfungsbestandteil entweder bereits abgeschafft oder bedroht. Die Verheißung, das relevante Allgemeine in akademischen Ausbildungsprozessen zu repräsentieren, liegt heute eher bei den Sozialwissenschaften, und nach Analogie der Relevanz-Frage „Wozu Philosophie?" würde heute die Frage „Wozu Soziologie?" von keinem Curriculum-Planer aufgeworfen werden. An der universitären Expansion der sechziger Jahre hat gewiß auch die Philosophie teilgenommen, und wo es in den fünfziger Jahren einen Lehrstuhl für Philosophie gab, gibt es inzwischen drei oder vier. Insgesamt gibt es heute in der Bundesrepublik Deutschland mehr als ein halbes

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Tausend beamteter Philosophen, und in der hinter uns liegenden Phase rascher Stellenplanexpansion waren die Karriereaussichten entsprechend günstig. Inzwischen ist dieser Trend gebrochen, und zwar, soweit mit dem obligaten Philosophicum auch die entsprechenden obligaten Ausbildungsaufgaben wegfielen, schärfer noch als in anderen akademischen Fächern. Aus dem 1974er Bericht des Bayrischen Staatsinstituts für Hochschulforschung über die Lage des Faches „Philosophie" können wir wissen, daß gegenwärtig 75% der bediensteten Philosophen jünger als fünfzig Jahre alt sind. Was diese Altersstruktur unter Bedingungen stagnierender Stellenpläne für die Karriereaussichten der Nachwuchskräfte im Fach bedeutet, bedarf keiner Erläuterung. Alle haushaltspolitischen Argumentationsvorteile liegen heute bei den Massenfächern. Aber soweit es das Philosophicum nicht mehr gibt, hat die Philosophie aufgehört, eines zu sein. Von den Beschränkungen eines numerus clausus ist ihr Studium in absehbarer Zeit nicht bedroht. Anders als der Pharmazeut oder der Zahnmediziner unterliegt der Philosoph den Anforderungen eines qualifizierten Notendurchschnitts auf seinem Abiturzeugnis nicht. Damit haben sich inzwischen Karrikaturisten beschäftigt, und das ist tröstlich; denn das bekundet immerhin, daß man darauf wie auf eine verkehrte Welt reagiert. In Zürich hat man übrigens - der erste Fall einer Liquidation philosophischer Institutionen im deutschen Sprachraum seit einem Vierteljahrhundert — einen freigewordenen Lehrstuhl für Philosophie und Psychologie, den es dort noch gab, bei der Wiederbesetzung den Philosophen entzogen, um ihn ganz der Psychologie zuzuschlagen. In einer solchen Situation kommt in der Tat die Philosophie nicht umhin, sich die Frage „Wozu Philosophie?" zu stellen. Selbst wenn sie in der Immanenz ihres Tuns am Nutzen dieses Tuns keinen Zweifel hätte, so muß sie nun doch diesen Nutzen ausdrücklich zur Geltung bringen, weil das für ihre fachlich-institutionelle Selbstbehauptung erforderlich ist. Das Problem läge recht einfach, soweit bloß Hörerzahlen, Semesterwochenstunden und die entsprechende Zahl erforderlicher Lehrpersonen in Frage stünden. Insoweit müßte sich auch die Philosophie, wie jedes Fach, gefallen lassen, an fiskalisch zu verantwortenden Meßgrößen der Wissenschaftsadministration gemessen zu werden, und auch der erwähnte Zürcher Fall erklärt sich so aus der Raison knapper Kassen. Die eigentliche Herausforderung liegt in der heute so genannten Relevanzfrage. Wozu ist das Studium der Philosophie überhaupt gut?

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Die bildungspolitische Stellung der Philosophie hängt in letzter Instanz von der Antwort ab, die auf diese Frage hin Beteiligte und Betroffene zu geben wissen. Auch die Philosophie ist kulturell und sozial nicht autark durch sich selbst etwas, sondern durch die Anerkennung, die sie in dem, was sie leistet und ist, findet. Daraus folgt nicht, daß sie in einer Situation bedrohter Geltung und Anerkennung, anstatt das Ihrige zu tun, dazu übergehen solle zu sagen, was sie tut. Aber es ist unvermeidlich, eben das zusätzlich zu tun. Eindrucksvoll haben uns das die Historiker vorgemacht, und sie haben uns auch gezeigt, wie wirksam das sein kann. Auch die Geschichtswissenschaft fand sich ja plötzlich von der Relevanzfrage bedrängt. Die Existenz der Geschichte als selbständigen Schulfachs schien bedroht, und ihr Nachteil für das Leben wurde ihr in politischer Absicht vorgehalten. Das hat die Konjunktur der Geschichtswissenschaftstheorie, für die es auch einige andere Gründe gibt, zusätzlich angeregt bis zum Überdruß vieler Historiker, die richtig das pathologische Moment im Übergang von der Beschäftigung mit der Geschichte zur Beschäftigung mit dieser Beschäftigung erkannten. Reflexion ist ein Tun in der Krise, und die Krise ist nicht ein Zustand der Dauer, sondern des Übergangs zu einem Ende. Für die deutsche Geschichtswissenschaft war dieses Ende ein gutes. Sie ist aus ihrer Krise kultur- und wissenschaftspolitisch gestärkt hervorgegangen, und dazu hat beigetragen, daß sie die Frage „Wozu Historic?", nachdem sie nun einmal gestellt worden war, prompt beantwortet hat. Sie hat sich der Zumutung der Selbstbeschäftigung, der Zumutung also zu philosophieren, nicht entzogen, und sie genießt nun den Schutz ihrer entsprechenden Philosophie. Es ist keineswegs eine in jeder Hinsicht neue Philosophie. Aber das behindert nicht die stabilisierende Funktion dieser Philosophie. Es gehört ja überhaupt zur Geschichte der Philosophie, daß in ihr nicht nur neue, vielmehr auch erneuerte Philosophien auftreten. — Der kultur- und wissenschaftspolitische Erfolg, den die Geschichtswissenschaft in Deutschland mit ihrer geschiehtswissenschaftsphüosophischen Selbstverteidigung hatte, hängt freilich an Voraussetzungen, die nicht zur Esoterik des Faches gehören, vielmehr Elemente der öffentlichen Kultur sind, in der die Geschichtswissenschaft selbst ihren Ort hat. Die wichtigste dieser Voraussetzung ist die kulturelle Realität eines historischen Bewußtseins, das die Geschichtswissenschaft nicht eigentlich darstellt, zu dem sie sich vielmehr als seine akademische Disziplin verhält. Mochten ideologisierte Curriculum-Reformer am Gegenwarts-

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sinn der Zuwendung zur Vergangenheit zweifeln. Eine kulturpolitisch eindrucksvolle Mehrheit von Gebildeten, ja von Bürgern setzte das Recht des Prinzips Erinnerung dagegen - vom wahlwirksamen Elternprotest gegen die Abschaffung des selbständigen Geschichtsunterrichts in Hessen bis zu den Museumswallfahrten in Hamburg oder in Köln, wo das Interesse an römischen Sarkophagen sich durch den Nachweis seiner emanzipatorischen Irrelevanz keinen Augenblick irritieren ließ. Die Apologie ihrer Disziplin fiel also den Historikern nicht zuletzt deswegen leicht, weil sie ihr Fach eben als die wissenschaftliche Disziplin eines kulturellen Interesses dartun konnten, das praktisch und sozial weit über die Grenzen der Historiker-Kommunität hinausreicht. Gilt für die Philosophie Analoges? Das wäre in apologetischer Absicht vorteilhaft, und dem Philosophiehistoriker dürfte es nicht schwer fallen, Exempel für Philosophien des Verhältnisses der esoterischen Philosophie als akademischer Disziplin zur Philosophie in ihrer exoterischen Existenz als Element unserer öffentlichen moralischen, politischen und religiösen, auch wiederum wissenschaftlichen Kultur herbeizuschaffen. Kants Unterscheidung eines „Schulbegriffs" der Philosophie von ihrem „Weltbegriff" gehörte in diesen Zusammenhang. „Vorzüglich den Moralisten" führt Kant als Repräsentanten dieser Weltphilosophie an, und er zitiert ohne Widerspruch, daß man „noch jetzt", „nach einer gewissen Analogie", ,,Philosoph nennt", wer auch nur durch den Anschein „der Selbstbeherrschung durch Vernunft" auffällig sei. Es gibt die Philosophie, die, soziologisch gesehen, nicht sowohl zur akademisch-wissenschaftlichen als vielmehr zur literarischen Kultur gehört, deren Text-Produkte nicht nur kollegiale Kritiker, sondern darüber hinaus ein gebildetes Leser-Publikum finden. Kant selbst hat in der Orientierung an einem solchen Publikum etliche seiner kleinen Stücke geschrieben. Schopenhauer hat, wider Willen, auf diese Weise gewirkt und mit Widerwillen gegen das AkademischProfessorale Nietzsche willentlich. Wittgenstein wäre dann ein Beispiel des Falls, in der eine Philosophie in ihrer esoterisch-wissenschaftlichen Präsentation zugleich exoterisch wirksam wurde, zum Beispiel als Provokation einer bestimmten Sorte esoterischer Lyrik. Wenn man bei der Analyse solcher Philosophie im „Weltbegriff" nun auch noch berücksichtigt, daß sie zumindest einen Teil ihrer Probleme, für die sie dann ein exoterisches Interesse findet, nicht erfunden, vielmehr als die offenkundigen oder latenten Probleme ihres

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Publikums gefunden und aufgenommen hat - dann läßt sich sinnvoll von der Existenz einer Philosophie reden, zu der, insoweit, die professionelle Fach-Philosophie sich verhält wie die Geschichtswissenschaft zum allgemeinen Historismus unserer kulturellen Öffentlichkeit. Es erübrigt sich, weitere Beispiele aus der Geschichte der Philosophie des Verhältnisses von esoterischer und exoterischer Philosophie anzuführen. Dieses Verhältnis ist nämlich auch präsent in einem auffällig doppelten Gebrauch des Wortes „Philosophie". Philosophie das ist einerseits die esoterische akademische Disziplin dieses Namens, und andererseits ein Inbegriff für Orientierungssysteme letzter Instanz in den Zusammenhängen jeglicher Praxis. Genau in diesem zweiten Sinn habe ich eben selber das Wort .Philosophie" gebraucht, als ich von der „Philosophie" der Geschichtswissenschaft sprach, die diese kürzlich in ihrer Krise explizit gemacht und nun als ein Ensemble orientierungsstabilisierender Leit-Sätze zur Verfügung hat, auf die man verweisen kann, so oft man sich Richtungskontrollfragen ausgesetzt findet. Dieses Beispiel der aktuellen Geschichtswissenschaftsphilosophie hat, als ein Beispiel exoterischer Philosophie, auch den Vorzug, sichtbar zu machen, daß der hier gemeinte Begriff exoterischer Philosophie nicht mit dem traditionsreichen Begriff der PopularPhilosophie deckungsgleich ist. Die aktuelle GeschichtswissenschaftsPhilosophie gehört ja ihrerseits durchaus in einen Fachzusammenhang, dem man durch Kompetenzen angehört, die spezieller sind als die Kompetenzen des gebildeten Laien. Aber dieser Fachzusammenhang der Geschichtswissenschafts-Philosophie ist eben nicht der Fachzusammenhang der Philosophie in ihrer Bedeutung als esoterischer akademischer Disziplin. Die Geschiehtswissenschafts-Philosophie ist eine Philosophie nicht von Fachphilosophen, vielmehr eine Philosophie anderer Leute. Dem steht nicht entgegen, daß in den einschlägigen geschichtswissenschaftstheoretischen Arbeitskreisen, Workshops und Kolloquien, in denen die Historiker sich über ihre Philosophie verständigten, auch Fachphilosophen als Gäste regelmäßig willkommen, ja nützlich waren, zum Beispiel als Repräsentanten habituell gewordener Kunst, Rückfragen zu stellen, als Kontroll-Experten für argumentative Konsistenzen, als philosophiehistorische Kenner von Präzedenzfällen der Behandlung analoger Probleme in der Vergangenheit oder als Spezialisten für die Herstellung von Verknüpfungszusammenhängen der infrage stehenden Philosophie mit Orientierungssystemen von systematisch höherer Ordnung.

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Unbeschadet solcher Mitwirkung von Fachphilosophen bei der Explikation einer Philosophie blieb jedoch diese Philosophie eine Philosophie anderer Leute, im exemplarischen Fall die Philosophie von Historikern. Das heißt: diese Philosophie, indem sie in bezug auf die Praxis der Historiker orientieren soll, kann in ihrer entsprechenden Orientierungsleistung nur durch diejenigen voll beurteilt werden, die die volle Kompetenz dieser Praxis besitzen, also durch die Historiker selbst. Die Geschichtswissenschaft, nicht die Fachphilosophie, ist der praktische, in diesem Falle wissenschaftspraktische Ort, an welchem sich die Fragen nach Nötigkeit und Nutzen einer Philosophie zur Bestimmung und Verteidigung dieses Ortes stellen. Den Fachphilosophen bleibt es natürlich unbenommen, in Kooperation oder auch in wissenschaftlicher Konkurrenz mit den philosophierenden Historikern sich ihrerseits der aktuell gewordenen Geschichtswissenschafts-Philosophie anzunehmen. Aber sie könnten das gar nicht und es gäbe sie insoweit gar nicht, wenn es die Philosophie, die sie so in ihre fachliche Disziplin nehmen, nicht ihrerseits jenseits der Grenzen der Fach-Philosophie und in diesem Sinne exoterisch längst gäbe. Exoterisch ist also, nach dieser so exemplarisch verdeutlichten Unterscheidung, in Relation zur esoterischen Fachphilosophie diejenige Philosophie, die jeweils als zumeist sogar explizit gemachte Orientierung letzter Instanz auf Sorten von Praxis bezogen ist, mit der man Intimität nicht durch fachwissenschaftliche Tätigkeit als akademischer Philosoph gewinnt, sondern durch das, was man, in eins damit oder zusätzlich, tut, zum Beispiel als Historiker zumal in der Spezialität des Philosophiehistorikers, als zumindest mithörkompetenter Mathematiker oder Linguist, oder als Bürger und als Subjekt moralischer oder religiöser Praxis. Philosophie esoterisch und Philosophie exoterisch - sie verhalten sich somit wie die Philosophie des kategorischen Imperativs zur Goldenen Regel in der Sprichwörterverwendungspraxis, wie die ethische Theorie des guten Lebens zur gewerkschaftseigenen Lebensqualitäts-Programmatik, wie die wissenschaftstheoretisch argumentierende Historizismus-Kritik zum historischen Materialismus als parteioffiziell herrschender Lehre, wie die Topik zur Praxis politischen oder juristischen Argumentierens, oder wie die Theorie des Erklärens zur Historiker-Philosophie historistischer Provenienz usw. usf. überall gibt es also, in diesem Verhältnis, eine Philosophie längst bevor der Fachphilosophie sich ihr zuwendet, und genau diese Philo-

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sophie ist es, die wir nach Ausweis unseres Sprachgebrauchs auch so nennen, wenn wir beispielsweise von der Philosophie" der Koexistenzpolitik reden, von „Wachstumsphilosophie", von der „Selbstzweckphilosophie" in der Grundlagenforschung oder von „Laissezfaire-Philosophie" etc. Allerdings schließt dieser Gebrauch des Wortes ,.Philosophie" auch Fälle ein, von denen man nie gehört hat, daß sie eine fachphilosophische Entsprechung gefunden hätten. Das gilt für die Philosophie der Olympischen Spiele", ob zwar immerhin Beiträge dazu auch von fachphilosophischer Seite in Olympischen Festreden geliefert wurden; es gilt für die „Philosophie des Kölner Humors", obwohl man sie unter diesem Titel sogar nachlesen kajin, und es gilt für die , Philosophie der französischen Küche", soviel die Menschheit ihr auch verdankt. Philosophien dieser Sorte gibt es so viele wie Kulturen, Institutionen und auf Dauer gestellte Produktionen. Gleichwohl wäre es irreführend zu sagen, daß in der Reihe, die von der »Philosophie des Extrem-Alpinismus" über die Philosophie des american way of life "bis zur professionellen „Philosophie des common sense" reicht, das Wort .Philosophie" eben synonym, als identischer Name verschiedener Begriffe, gebraucht würde. Die bedeutungsvolle „Philosophie", die uns scheidungsrechtspolitisch vom „Schuldprinzip" zum „Zerrüttungsprinzip" übergehen läßt, unterscheidet sich von der harmlosen »Philosophie des Angeins" nicht strukturell, sondern erstens durch ihre praktische Bedeutung und durch die Universalität ihres Anspruchs und zweitens durch Grade der Komplexität, die für den Zweck ihrer Analyse Fachwissen einerseits und andererseits fachlich trainierte Reflexionskompetenz (,Philosophie") erfordern. Analog bleibt in allen Fällen die Struktur des Verhältnisses der Philosophie zur Praxis, deren „Philosophie" sie ist, nämlich als das Ensemble von Grund- und Leit-Sätzen, auf die man, unter anderem, rekurriert, wenn es einen Anlaß gibt zu sagen, wieso man überhaupt tut, was man tut. Übrigens ist es schwieriger, als man aufs erste annehmen mag, die zu Recht und unvermeidlicherweise von der Fach-Philosophie beiseite gelassene Trivial- und Alltagsphilosophie in einer Weise, die auch diejenigen überzeugt, deren Philosophie sie ist, explizit zu machen oder gar „auf den Begriff zu bringen". Dazu gehört regelmäßig eine sprachliche Kultur, für deren Ausbildung das Philosophische Seminar selten der günstigste Ort ist. Aber in extraordinären Fällen können Philosophen selbst das - Simmel zum Beispiel in seinen Essays oder Adorno und Gehlen in ihren Aphorismen und Sprüchen.

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Es wäre meines Erachtens eine zusätzliche Studie wert, die ja weithin bekannte Geschichte des Begriffs der Philosophie um diejenigen Teile zu ergänzen, die die gegenwärtige Streubreite des Wortes „Philosophie" von der Fachphilosophie bis zur Trivialphilosophie auch begriffshistorisch erklärten. Auch die bekannte Synonymität von „Philosophie" und „Wissenschaft" bzw. ihrer englischen Äquivalente noch im 18. Jahrhundert brauchte man wohl fur diese Erklärung. Auch damals streute ja das Wort breit über alle Bereiche der Realität, von denen es eben eine „philosophy" gab — bis hin zur Agrikultur, so daß es entsprechend, wie Hegel sich lustig machte, sogar eine Philosophie des Mistes hätte müssen geben können. Indem später die Philosophie als Wissenschaft sich semantisch von den übrigen Wissenschaften trennte, verblieb sie in Zuordnung zum Garten und analogen örtern und Tätigkeiten in der semantischen Relikt-Position der Bedeutung einer jeden Dauer-Orientierung nichtwissenschaftlichen Charakters, und eben das ist ja die „Philosophie", wie wir sie heute noch in der trivialen Bedeutung dieses Wortes kennen. Aber man braucht solche begriffshistorischen Vermutungen nicht einmal, um plausibel zu finden, daß solche Trivial-Philosophie ebenso wie die große Philosophie, die rechtspolitische Entscheidungen, ja Revolutionen steuert, beide „Philosophie" genannt werden. Diese Plausibilität beruht, wie gesagt, auf der strukturellen Analogie im Verhältnis unserer Praxis zu den Systemen der Orientierung, die sie, auf welcher Stufe auch immer, in letzter Instanz leiten und legitimieren. Und die Fachphilosophie, die professionelle Philosophie der Philosophischen Seminare? Welche Funktion hat sie in Relation zur Philosophie, die in der angedeuteten Funktion faktisch leitender und legitimierender Orientierungen mehr oder minder explizit als ein Moment in den Systemen unseres institutionell gesicherten Handelns ohnehin stets schon da ist? Die esoterische akademische Philosophie ist, insoweit, die wissenschaftliche Disziplin unserer exoterischen Philosophien. Mit dieser Antwort ist nicht gesagt, die professionelle Philosophie habe keine andere als diese Funktion. Es ist aber diese Funktion, die erklärt, wieso die wissenschaftliche Philosophie, was ja der Fall ist, ein exoterisches öffentliches Interesse findet, und es ist somit diese Funktion, auf die man in erster Linie verweisen sollte, wenn es sich darum handelt, auf die in wissenschaftspolitischer Relevanzkontrollabsicht gestellte Frage „Wozu Philosophie?" eine Antwort zur Verfügung zu haben.

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Die esoterische akademische Philosophie ist also, zumindest unter anderem und nicht zuletzt, die wissenschaftliche Disziplin unserer exoterischen Philosophien. Diese Antwort enthält implizit auch eine Antwort auf die immer wieder einmal traktierte Frage, „ob die Philosophie noch einen Gegenstand habe". Diese Frage, die auf Außenstehende wohl eher befremdlich wirkt, erklärt sich ja aus der plausiblen, gleichwohl irreführenden Vorstellung, die Geschichte der Wissenschaften sei ein Prozeß der Ablösung immer weiterer positiver „Einzelwissenschaften" von ihrer Mutter, der Philosophie, bis diese, in Folge ihrer großen Fruchtbarkeit erschöpft und schließlich unfruchtbar geworden, unter den Wissenschaften der Gegenwart sozusagen das Alter repräsentiert, das man ehrt, ohne noch Leistungen von ihm zu erwarten. In der Charakteristik der Wissenschaften durch ihre Gegenstände hätte dann die Philosophie keinen mehr. Die Welt ist an die emanzipierten „Einzelwissenschaften" weggegeben, und die akademisch-institutionelle Verselbständigung der Psychologie und Soziologie seit dem Ausgang des vorigen Jahrhunderts wären jüngste und für die Philosophie besonders folgenreiche wissenschaftsgeschichtliche Beispiele dieses Prozesses. — Irreführend ist diese plausible wissenschaftshistorische Vorstellung von der die Philosophie schließlich erschöpfenden Geburt der positiven Wissenschaften aus ihr, weil - metaphernfrei gesprochen - im Prozeß der methodischen und institutionellen Differenzierung unserer wissenschaftlichen Erkenntnispraxis die Philosophie, statt zum Relikt zu werden, selber sich differenziert und als ihr philosophisches Moment in den Begründungs- und Handlungszusammenhängen der Einzelwissenschaften verbleibt. Auch der so beschriebene Vorgang läßt selbstverständlich, wie man sieht, die Philosophie als akademisch institutionalisiertes Fach nicht unberührt. An dieser Stelle genügt es zu sagen, daß die Philosophie, soweit sie als Fach in Relation zu den anderen Fächern sich den wissenschaftspraktischen Differenzierungs- und Spezialisierungsprozessen soll gewachsen zeigen können, personell und einrichtungsmäßig selber sich spezialisieren und differenzieren muß. Genau diesem Erfordernis entspricht die Konjunktur der sogenannten Bindestrich-Philosophien von der altvertrauten Rechts-Philosophie bis zur Philosophie der exakten Wissenschaften. Auch für diese spezialisierten Philosophien gilt also, daß sie regelmäßig in exoterisch-esoterischer Doppelung existieren. Die juristischen Spezialdisziplinen, das Strafrecht zum Beispiel oder auch die Mathematik, enthalten als

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solche bereits ein philosophisches Element, mehr oder weniger explizit, und die spezialisierte Fach-Philosophie nimmt es in ihre Disziplin. Hat die Philosophie also noch einen Gegenstand? Selbstverständlich, lautet die insoweit triviale Antwort; sie nimmt die Philosophien, die unsere institutionalisierte Praxis einschließlich der hochspezialisierten wissenschaftlichen Praxis leiten, auf und thematisiert sie. Andererseits: die Philosophie hat insoweit nicht einen Gegenstand a part. Ihr Thema ist, insoweit, stets die Philosophie anderer Leute und deren Gegenstand, und es stellt sich die Frage, worin des näheren die Leistung besteht, die sie als die esoterische Disziplin der Philosophien, die sie aufnimmt, erbringt. Zur Beantwortung dieser Frage wiederhole ich, was ich oben bereits als Beiträge zur Arbeit philosophierender Historiker beiläufig aufgeführt habe, mit der die Fach-Philosophen sich nützlich zu machen vermochten. Es erwies sich zunächst als nützlich, Experten dabei zu haben, die über den Vorteil eines Trainings in der Kunst, „transzendental" zu fragen, verfügen, das heißt geübt sind im Festhalten des obliquen Blicks, der sich nicht geradewegs auf die Sachen richtet, sondern auf die Bedingungen, von denen abhängt, wie wir blicken und als was wir aus diesem Grund die Sachen zu sehen bekommen. Wie gesagt: den Rekurs auf die Bedingungen seines theoretischen und praktischen Tuns hat, wenn er sein Tun von außen in Frage gestellt sieht, jedermann nötig, und er vollzieht ihn entsprechend und findet, konsolidiert oder verändert so seine Philosophie. Aber es erweist sich unverändert praktisch als vorteilhaft, dabei interdisziplinär mit solchen zu kooperieren, die im Wissenschaftsbetrieb sowie im Kontext unserer öffentlichen, auch politischen Kultur arbeitsteilig-institutionell für die Ausbildung der tatsächlich schwierigen Kunst freigestellt sind, Rückfragen an die Orientierungsbedingungen unseres Tuns zu stellen, die unser Tun bestimmen, aber eben nicht ihr Gegenstand sind und daher nicht in der Richtung unserer normalen Aufmerksamkeit liegen. Diesen Vorteil also einer habituell gewordenen intellektuellen Reflexionskultur sichern wir durch professionelle Philosophie. Natürlich kann man darüber streiten, wie groß dieser Vorteil tatsächlich ist, zumal Maße seiner Vermessung nicht zur Verfügung stehen. In der Praxis wissenschaftspolitischer Apologie der Fach-Philosophie dürfte es genügen, auf den Anteil zu verweisen, den unsere professionellen Philosophen an den Erörterungen zur Bewältigung fachwissenschaftsimmanenter Grundlagenkrisen tatsächlich nehmen, oder an der sogenannten interdisziplinären Forschung zur kom-

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pensatorischen Redintegration dessen, was in den Prozessen der Spezialisierung auseinanderläuft. Faktisch ist dieser Anteil erheblich, wie durch Listen einschlägiger Projekte oder Veranstaltungen nach Namen und Daten mühelos dargetan werden könnte. Esoterische Disziplin von Philosophie, die sich zu ihr in exoterischer Position befindet, ist die Fach-Philosophie weiterhin als Kontrollinstanz für argumentative Konsistenzen. Das schließt vielerlei ein — vom Geltendmachen der Regeln korrekten Schließens, von denen selbst in einfachen Fällen nur das Vorurteil annehmen kann, das jeder kompetente Sprachgenosse sie ohnehin stets schon beachte, über die Einforderung der Markierung des Übergangs zu Varianten im Gebrauch vertrauter Fachwörter bis zur Aufdeckung des so oft unbemerkt bleibenden Wechsels von der Sacherörterung zum Streit um Worte. Von Sokrates stammt die medizinische Metapher, die die (dialektische) Philosophie ein Kathartikon, also ein Abführmittel nennt, das uns von der Verstopfung der Wege unseres Denkens durch Sprachschlacken frei macht. Jeder Philosoph oder Geisteswissenschaftler, der aus Deutschland kam und durch die Sprechattitüden in der Tradition des sogenannten Deutschen Idealismus gezeichnet war, hat die entsprechende Erleichterung verspürt, die ihm durch Teilnahme an den Übungen sprachanalytischer Philosophie in England zuteil werden konnte, und das gilt auch dann, wenn die in solchen Übungen traktierten Fragen inhaltlich viertrangig waren - es handelte sich ja um Übungsstoff —, oder wenn man in der sprachanalytischen Deskriptionskultur die normativen Aspekte vermißte. Nichts hindert uns ja, in bezug auf die grundlegenden Elemente unseres wissenschaftlichen und auch sonst vernünftigen Redens zweckmäßige und begründete Normierungen vorzunehmen. Die Logische Propädeutik von Wilhelm Kamiah und Paul Lorenzen ist dafür ein Beispiel, das in seiner kunstvollen Simplizität eindrucksvoll ist, und die Wirkungen dieses zu Recht viel benützten Buches auf die Kultur des Redens studentischer künftiger Bürger und Wissenschaftler sind bemerkenswert wohltuend. Soweit die Philosophie auch für solche Disziplinierungsleistungen zuständig ist, muß man von ihr billigerweise nicht größere Effizienz als die hier exemplarisch erwähnte verlangen. Esoterische Disziplin von Philosophie, die sich zu ihr in exoterischer Position befindet, ist die professionelle Fach-Philosophie weiterhin durch die in ihr institutionell gesicherte Kennerschaft philosophiehistorischer Präzedenzfälle in der Behandlung von Pro-

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blemen, die aktuellen Problemen und ihrer gegenwärtigen Diskussion analog sind. Günter Bien hat dafür die Formel „Philosophie nach dem Muster des juristischen Prozesses betrachtet" gefunden. Tatsächlich gibt es, soweit ich sehe, nur zwei Möglichkeiten, die historische Beschäftigung mit den theoretischen Behauptungen Früherer ihrerseits für eine theoretisch relevante Sache zu halten. Entweder braucht man die historischen Behauptungen über die theoretischen Behauptungen Früherer als Basis für sekundäre Theorie-Bildungen, zum Beispiel für eine Theorie der Evolution cognitiver Systeme, oder man braucht die philosophiehistorische Kultur zur traditionalen Sicherung eines Fundus begründeter Einsichten für Krisenfälle, in denen ihre Reaktivierung, die nur über eine solche historische Kultur jederzeit möglich ist, uns die Zufälligkeiten und Mühseligkeiten von Versuchen erspart, die nur in glücklichen Fällen zu ihrer Neuentdeckung führen könnten. Der letzte Fall ist der von Bien formulierte Fall einer Problemlösung durch Rückgriff auf Präzedenzen, und in der Absicht einer Bekräftigung durch Wiederholung erwähne ich als Beispiel eines solchen Vorgangs noch einmal die Reaktivierung der klassischen Theorie des guten Lebens, mit der die Philosophie als Disziplin an den öffentlichen Lebensqualitätsdebatten beteiligt war. Natürlich ist es nicht der Griff nach verstaubten Büchern und die philologisch kontrollierte Hermeneutik ihrer Texte, über die die Philosophie sich in solchen Zusammenhängen akut nützlich machte. Vielmehr ist es umgekehrt solche Hermeneutik als ständige kulturelle Leistung, die dazu beiträgt, jene Sensibilität wortfähig und somit wach zu halten, die uns die Devianz unseres Lebens vom Ziel des guten Lebens überhaupt erst rechtzeitig bemerken läßt. Akut präsentiert die Philosophie dann die fälligen Zitate, erneuert kommentierend und begründend die Evidenz ihrer alten und fortdauernden Wahrheit, und auch ein rituelles Moment muß dabei, sofern sie in dieser Weise in der Öffentlichkeit wirkt, nicht fehlen. - Ich füge noch hinzu, daß der Nutzen der Philosophiehistorie natürlich nicht nur über deren theoretische Gehalte vermittelt ist. In der Historie ist eine Zuwendung zur Vergangenheit gegenwärtig, deren Interesse von der Beantwortung der Frage gar nicht abhängt, ob wir daraus, sozusagen, auch für die Zukunft etwas lernen können. Aber die Explikation und Begründung dieses historischen Interesses gehört, weil damit auf die spezielle Frage „Wozu Historie?" geantwortet würde, nicht mehr in den Zusammenhang der Frage „Wozu Philosophie?".

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Esoterische Disziplin von Philosophie, die sich zu ihr in exoterischer Position befindet, ist die professionelle Fachphilosophie schließlich als Spezialdisziplin für die Herstellung von Verknüpfungszusammenhängen der infrage stehenden Philosophien mit Orientierungssystemen von systematisch höherer Ordnung. Die Toleranzdoktrinen des 17. und 18. Jahrhunderts wären ein Beispiel für das Resultat einer solchen Verknüpfung. Sie verknüpften den naheliegenden Grundsatz der politischen Verbindlichkeit wichtiger Wahrheiten mit dem in diesem Zusammenhang neu formulierten Grundsatz höherer Ordnung, daß die Geltung dieses Grundsatzes an die pragmatischen Bedingungen der Raison eines Friedens gebunden sei, der sich seinerseits nicht auf der politischen Verbindlichkeit jener wichtigen Wahrheiten gründet. Ein aktuelles Analogen dieser Episode in der politischen Orientierungsgeschichte Europas wäre, mutatis mutandis, die Verknüpfung des plausiblen Anspruchs, daß die Geltung von Normen sich als Resultat unverzerrt geführter „verbindlicher Diskussionen" der Betroffenen und als Schluß aus „zwingenden Argumenten' ergebe, mit dem Anspruch höherer Ordnung, daß unbeschadet jenes Anspruchs die politische und soziale Verpflichtung zur Anerkennung geltender Normen auf Entscheidungen in Verfahren beruhe, die die Ewigkeit der Diskussion und Unabsehbarkeit der Anzahl möglicher Argumente auf Bedingungen der Kürze des Lebens einschränkt. — Solcher philosophische Rekurs von der aktuell propagierten auf die Orientierung systematisch höherer Ordnung ist nicht folgenlos, sondern genau das, was die Repräsentanten einer bestehenden Ordnung vollziehen müssen, wenn sie sollen begründen können, wieso die Verbindlichkeit von Normen dieser Ordnung nicht durch das Argument, und wenn es zuträfe, aufgehoben ist, es gäbe bessere. - Solche Argumentationen sind theoretisch gewiß trivial. Aber wenn öffentliche Orientierungsdebatten am trivialen Fehler der Einseitigkeit leiden, wenn in der Euphorie einer Neuorientierung offensichtlich schädliche Orientierungsnebenfolgen übersehen werden, dann ist die Erinnerung an einschlägig relevante, theoretisch triviale Lehren praktisch nicht trivial, und die Philosophie, indem sie professionell Resistenz gegen Horizontverengung fördert, prädisponiert zu solcher Erinnerung. Diese kleine Reihe in der Aufzählung von Leistungen, durch die sich die Philosophie in unserer öffentlichen Kultur von der Wissenschaft bis zur Politik als nützlich empfiehlt, ließe sich lange fortsetzen. Sie genügt aber wohl zur exemplarischen Verdeutlichung der allge-

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meinen Antwort auf die Relevanzkontrollfrage „Wozu Philosophie?", daß sie nämlich, als professionelle, zumindest unter anderem und nicht zuletzt, die wissenschaftliche Disziplin der exoterisch unsere Praxis stets leitenden und legitimierenden Philosophien sei. Die Beispiele genügen wohl auch, um den tatsächlich erheblichen Anteil, den die Philosophen am wissenschaftlichen, kulturellen und politischen, näherhin ideologiepolitischen Leben nehmen, als begründet und plausibel erscheinen zu lassen. Die Philosophie hat, wie gesagt, vor allem über die personellen Erfordernisse des sogenannten Philosophicums an der universitären Expansion zunächst durchaus teilgenommen. Unverändert erfüllt sie heute im akademischen Unterricht die wichtigste ihrer Aufgaben. Was sie, durch den Abbau des Philosophicums, an personellen Reserven gewinnt, sollte nicht seinerseits abgebaut, vielmehr für Spezialisierungen innerhalb des Faches genutzt werden. Dieser Prozeß ist im Gange, und der Zeitpunkt ist absehbar, an dem der traditionswidrige Überhang von Philosophen einseitig geisteswissenschaftlicher Orientierung abgebaut sein wird und eine angemessene Anzahl von Kollegen mit mathematisch-naturwissenschaftlicher, ökonomischer und sonstiger einzelwissenschaftlicher Kompetenz zur Verfügung stehen. Entsprechend wächst gegenwärtig das personelle Potential unseres Faches zur Teilnahme an der interdisziplinären Kooperation der Wissenschaften erfreulich an, und es sind die skizzierten fachspezifisch kultivierten Leistungen, die eine entsprechende Mitwirkung von Philosophen regelmäßig nachgefragt sein lassen. Es ist, kurz gesagt, ihre Rolle als Spezialisten für's jeweils vorauszusetzende Allgemeine, auf die sich die Mitwirkung der Philosophen gründet, und zwar in Zusammenhängen weit über die akademische Esoterik von Lehre und Forschung hinaus. Schließlich ist es ja, im exoterischen Sinne, Philosophie, auf die wir auch in politischer Praxis in letzter Instanz rekurrieren, wenn uns Rechtfertigung für unser Tun und Lassen abverlangt wird. Erst in der Orientierung durch solche Philosophie sind wir überhaupt in der Lage zu sagen, wer wir sind und was wir wollen, was wir fürchten und hoffen. Die Spuren und Elemente solcher Philosophie sind in jeder parlamentarischen Grundsatzrede nachweisbar. Wir finden sie in parteiprogrammatische Orientierungsrahmen gefaßt; auf ihre Stützen legt man Wahlplattformen aus, und auch der politische Fanatismus ernährt sich in selektiver Einseitigkeit aus ihrem Sinnangebot. Entsprechend sitzen unsere professionellen Philosophen auch in Parteiprogrammreformkommis-

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sionen, wirken als verbandspolitische Grundsatzredner, organisieren ideologieanalytische Aufklärungskurse für administrative oder wirtschaftliche Führungskader, fungieren als Generalisten in staatsnahen Räten und Kommissionen für Bildungsreform oder zur Erforschung des sozialen Wandels, und sie leisten Formulierungshilfen für Texte, durch deren Veröffentlichung Politiker die Weite ihres Horizonts dokumentieren. Hinweise dieser Art ließen sich ihrerseits ins Weite führen. Über den langen Marsch gelangten die Kräfte der Chinesischen Revolution zum Sieg. Aber zu den Elementen der Orientierung, von denen diese Kräfte sich leiten ließen, gehörte wiederum, wie bei anderswo Marschierenden auch, Philosophie, und deswegen war es durchaus angemessen, daß zwei, die das wissen, Mao und der deutsche Bundeskanzler, bei ihrer Begegnung im November 1975 zwei Themen erörterten: zunächst die Bestrebungen ungenannt gebliebener „Hegemonisten", und alsdann die Philosophie Kants und die Lehre der Materialisten. Und dieser Bundeskanzler philosophiert ja auch sonst. Es ist das ein Element seines Versuchs, die sogenannte Theorie-Diskussion auf linken Flügeln seiner Partei an die Räson der Selbsterhaltung dieser Partei zu binden, die ja, wie Selbsterhaltungsräson auch sonst, partiell mit Vernunft überhaupt identisch ist. Die Grundsätze, auf die solche Vernunft überhaupt sich bringen läßt, formuliert jener Kanzler bekanntlich gern mit Karl Popper. Dieser gilt ja gemäß dem in Deutschland, sonderbarerweise selbst unter Philosophen, nicht vollständig verschwundenen Sprachgebrauch als ,,Positivist", und die Geschichte des in diesem weitesten Sinne so genannten Positivismus ist ein eindrucksvolles Beispiel für den Zusammenhang, der selbst noch zwischen den Sätzen esoterischer Wissenschaftstheorie und der praktischen Politik durch ideologiepolitische Vermittlungen wirklich besteht. Die Epistemologie macht nämlich für die Begründungslasten empfindlich, die übernimmt, wer Großes behauptet, und dieses ihr kritisches Potential hat ihren Vertretern plausiblerweise überall Verfolgung durch die totalitären Bewegungen dieses Jahrhunderts, die ja von großen Behauptungen leben, eingebracht. Daß Popper ein Buch, das unter anderem trocken über „quantitative Methoden" handelt, dem „Andenken" derer gewidmet hat, die Opfer des totalitären „Irrglaubens an unerbittliche Gesetze eines weltgeschichtlichen Ablaufs" wurden, wirkt rührend, aber kraft der angedeuteten Zusammenhänge zu Recht.

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Wenn so, durch die Relevanzkontrollfrage „Wozu Philosophie?" herausgefordert, sich einiges aufbieten ließe, um die akademische Philosophie als wissenschaftliche Disziplin der uns exoterisch stets schon bestimmenden Philosophien zu empfehlen, so dürfte es sinnvoll sein, für Zwecke exoterischer Argumentation nun auch noch zu sagen, wie sich, auf jeglicher Stufe, sei es in esoterischen, sei es in exoterischen Zusammenhängen, unsere Philosophien zur Praxis und zu deren Institutionen strukturell verhalten. Zur Verdeutlichung der Struktur dieses Verhältnisses habe ich an anderer Stelle die Kartenmetapher verwendet, und darauf möchte ich hier zurückgreifen. In Karten bilden wir für Orientierungszwecke Teile der Wirklichkeit ab, und insofern ist die Karte ein naheliegendes und auch altes Bild für das, was uns die wissenschaftliche Erkenntnis bietet (die Begriffsgeschichte dieser Metaphorik ist übrigens meines Wissens noch nicht geschrieben). Nun ist die Bild-Metaphorik in ihrer Eignung für die Verdeutlichung der Erkenntnisfunktion epistemologisch als irreführend verdächtig. Das gilt vor allem deshalb, weil sie den Blick einseitig auf die Korrespondenzverhältnisse zwischen den Elementen des Abbildes und den Elementen des Abgebildeten zu lenken scheint und darüber den Charakter der Erkenntnis als eines Produkts der Tätigkeit ihres Subjekts vernachlässigt. Lenins dürftige Polemik gegen Ernst Mach ließe sich als eindrucksvolles, weil ideologiepolitisch folgenreiches Exempel einer Wissenschaftstheorie zitieren, die ein Opfer solcher Fixierung des epistemologischen Blicks durch die Metaphorik der Abbildung geworden ist. Für die einschlägig gefahrlose Nutzung der Kartenmetaphorik genügt es jedoch, die Historizität der Kartographie in den Repräsentationszweck dieser Metaphorik einzubeziehen. Damit ist dann auch das Moment der Subjektivität, der Produkt-Charakter, in das Kartenbild der Erkenntnis einbezogen; denn Karten ändern sich ja historisch, und wenn sie Karten von Begebenheiten sind, die im fraglichen Zeitraum ihrerseits praktisch unverändert blieben, so änderten sie sich aus Gründen der Änderung ihres sie produzierenden Subjekts. - Mit dieser Erweiterung im Repräsentationszweck der alten Kartenmetapher läßt sich nun sagen, daß sich unsere jeweilige Philosophie zu den Systemen unserer jeweiligen Orientierung verhält wie die kartographischen Symbolismen zu den Karten selbst. Karten sind für Orientierungszwecke nur deswegen brauchbar, weil das von ihnen repräsentierte Bild der Wirklichkeit weniger komplex ist als diese selbst. Der kartographische Symbolismus regelt die entsprechend

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fällige Selektion im Beschreibungsvorgang; er fixiert unsere jeweilige praktische Vorentscheidung darüber, was wir wissen müssen und was nicht; die Theorien, von denen abhängt, wie wir in bezug auf das, was ist, unterscheiden und zuordnen, sind in ihn eingegangen, und ebenso Theorien über die Wirkungen von Tätigkeiten, für die wir die Kartenorientierung brauchen. Indem wir die Karte gebrauchen, so philosophieren wir nicht, metaphorisch gesprochen, und auch nicht, metaphorisch gesprochen, wenn wir nach Maßgabe eines gegebenen Symbolismus kartographieren. Unsere Philosophie ist ja als dieser Symbolismus vorausgesetzt; wir haben sie, sozusagen, im Rücken, und sie erfüllt ihre Funktion dann am besten, wenn es keinen Grund gibt, von ihr zu reden. Die Philosophie als Tätigkeit ist der reflexive Akt der Änderung der für Theorie und Praxis maßgegebenen Symbolismen in der Konsequenz geänderter praktischer Bedürfnisse sowie in der Konsequenz theoretisch erfahrener Mängel im unterstellten Korrespondenzverhältnis zwischen Elementen der Symbolismen und der von ihnen symbolisierten Elemente jeweiliger Wirklichkeitsbereiche — sei es, daß die Wirklichkeit sich änderte, sei es, daß diese Mängel aus immanenten theoriepraktischen Gründen sich störend bemerkbar machten. So oder so sind es Krisen der Orientierung, die erst die philosophische Reflexion auf ihre Bedingungen erzwingt. Die so explizierte kartographische Metaphorik, nach der sich die Philosophie zu unserer Orientierungspraxis verhält wie der Symbolismus zur Kartographie, hat den Vorzug, die folgende Charakteristik der Philosophie ins Bild zu bringen und so behaltbar zu machen. Zunächst: die Philosophie, als wissenschaftliche Disziplin, ist A-priori-Forschung, das heißt: sie ist für die in normaler Einstellung bei gelingender theoretischer, politischer oder sonstiger Praxis nicht in der Richtung unserer Aufmerksamkeit liegenden Orientierungsvoraussetzungen dieser Praxis zuständig. Sodann: die Nachfrage nach Philosophie ist krisenabhängig. Die Funktion der philosophischen Reflexion ist die der Bewältigung von Orientierungskrisen, die ihren Grund in Unzulänglichkeiten bislang maßgebender Prämissen unserer Orientierungspraxis haben. Weiterhin: die Philosophie hat insoweit keinen speziellen Gegenstand, sondern ist die methodische Disziplin der Reflexion auf die maßgebenden Prinzipien unserer Orientierungspraxis. Außerdem: Philosophie in dieser Charakteristik findet nicht nur im Philosophischen Seminar statt, sondern von den Wissenschaften bis zur Politik überall, wo Orientierungskrisen zu

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bewältigen sind. Als akademisches Fach ist sie allein durch den erweisbaren, oben geschilderten Nutzen gerechtfertigt, den es in unserer öffentlichen Kultur hat, für orientierungskrisenbedingte Reflexionsprozesse den Beistand professioneller Reflexionsexperten zur Verfügung zu haben. Schließlich: mit anwachsendem Tempo des wissenschaftlichen und sozialen Wandels einerseits und mit zunehmender funktionaler Differenzierung unserer Kultur andererseits wächst der Bedarf an Philosophie an und sinken zugleich die Chancen, ihn zu befriedigen. Die Philosophie gerät in einen Zustand permanenter Überforderung. Jedoch ist die Hilflosigkeit, die sie in dieser Lage immer wieder einmal zeigt, nicht speziell ihr Problem, so daß man sie auf sich beruhen lassen könnte; es ist vielmehr das Problem einer Zivilisation, die anwachsende Schwierigkeiten hat, sich ihrer selbst orientierungspraktisch gewachsen zu zeigen. Nachdem insoweit auf die Frage „Wozu Philosophie?" eine Antwort gegeben ist, sollte zum Schluß noch die Frage gestellt sein, wieso denn überhaupt die Frage „Wozu Philosophie?" so irritierend häufig gestellt wird, wenn anders doch ihre Beantwortung nicht schwer fällt. Den wichtigsten und gegenwärtig generell geltenden Grund habe ich soeben genannt: die Frage „Wozu noch Philosophie?" drängt sich in der Tat auf, wenn die komplexitäts- und änderungstempobedingten Orientierungskrisen nach Zahl und Ausmaß die Reflexionskapazität erschöpfen, die uns für ihre Bewältigung zur Verfügung steht. Die Frage, wozu etwas noch gut sei, kann ja zweierlei Richtungssinn haben. Entweder stellt sie etwas in frage, anstelle dessen wir inzwischen etwas Besseres haben. Oder sie stellt etwas infrage, was selbst als die ultima ratio nun nicht mehr ausreicht. Der Fall der Philosophie ist der zuletzt genannte Fall. Die Frage „Wozu Philosophie?" hat allerdings auch einen speziell deutschen Ton, und zwar als historische Folge der für die jüngere deutsche Bildungsgeschichte charakteristischen engen Korrelation zwischen akademischem Studium und Beruf. Beiläufig befragt, was er studiere, zog es in Deutschland mancher Philosophiestudent vor, nicht „Philosophie" zu sagen. Stattdessen gab er eines seiner Nebenstudienfächer an. Ich selbst erinnere mich an solche Szenen, die uns als Studenten der Philosophie bedrückten. Wieso verhielt man sich so? Die Antwort liegt auf der Hand: durch das Studium der Philosophie erlangt man keine bürgerlich-professionelle Qualifikation. Zwar gibt es den Beruf des Philosophieprofessors. Aber der Beruf des Univer-

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sitätsprofessors hatte ja in Deutschland seinerseits das Besondere, daß es dem jungen Mann nicht erlaubt war zu sagen, er wähle ihn. Man hatte sich zu ihm zu verhalten wie zu etwas, zu dem man erwählt wird. Diese professionelle Unbestimmtheit der Philosophie ist nun allerdings unaufhebbar. Aber es ist deutsch, daß Philosophiebeflissene diesen Mangel als Makel an ihrer Bürgerlichkeit empfinden. Wie erklärt sich das? Um eine lange Geschichte kurz zu machen: es erklärt sich aus Schicksalen deutschen Bürgertums, die die politisch-öffentliche Nutzbarkeit bürgerlich-akademischer Bildung stark begrenzten, so daß das Selbstgefühl aus dieser Bildung ein Selbstgefühl der Zugehörigkeit zum Akademiker-Stand wurde, dessen Praxis sich primär beruflich und nicht politisch versteht. Die Philosophie als das akademische Bildungsmedium der Kompetenz zur Teilnahme an den öffentlichen Reflexionen und Raisonnements, in denen sich unsere öffentlichen Orientierungen (Philosophien") bilden, geriet darüber in eine prekäre Abseitsstellung. Prekär ist diese Abseitsstellung als Nährboden einer Anspruchshypertrophie, die nun gleichfalls ein charakteristisches Element der deutschen Philosophie in der Tradition des sogenannten Deutschen Idealismus ist. Die Philosophie Fichtes, zum Beispiel, ist, sowohl im Inhalt einiger ihrer Teile wie in der Art ihres Autors, sie öffentlich zu vertreten, ein herausragender und denkwürdiger Fall dieser philosophischen Anspruchshypertrophie. Sein Fanatismus im Willen, das Leben zunächst der eigenen Frau, dann der Nation und endlich der Menschheit vernünftig und moralisch zu machen, korrespondiert seinem Mangel an politischer, bürgerlicher Kultur. Weltverbesserungspathos in Kombination mit common-senseSchwäche - diese Mischung ist in wichtigen Gestalten solcher Philosophie präsent, und die unbeschädigte praktische Urteilskraft reagiert darauf plausiblerweise wie Goethe auf Fichte: indigniert. Unpragmatische Wirklichkeitstranszendenz („Idealismus") ist ja bei uns auch heute noch, oder wieder, als ein Medium der Zerstörung politischer Kultur wirksam, und zwar durch Orientierung an den Prinzipien einer Vernunft, die sich der Kontrolle durch den Verstand, der auf Realität verpflichtet, entzogen hat. Natürlich gibt es in der Tradition deutscher öffentlichkeitswirksamer Philosophie auch Gegenbeispiele produktiver Angepaßtheit der Theorie an die Vernunft der Verhältnisse. Für die politische Philosophie des Berliner Hegel gilt das, und seine biedermeierliche Gewißheit, daß die Philosophie der Vernunft sich praktisch zur Geltung

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bringt, indem, wer sie vorher studiert hat, später als Landrat, als Kanzleichef oder Abgeordneter in ihrer Orientierung tätig wird, blieb bis an den Rand des Vormärz eine durchgängige, auch berechtigte Überzeugung. Gleichwohl ist auch die Philosophie Hegels durch einen hypertrophen, in eine öffentliche Kultur schwerlich integrierbaren Anspruch geprägt. Exemplarisch drückt er sich in der beiläufigen Metapher aus, die in der Vorrede zur ersten Ausgabe der „Wissenschaft der Logik" die in dieser Wissenschaft erneuerte „Metaphysik" zum „Volk" in ein Verhältnis setzt, das dem Verhältnis des „Allerheiligsten" zum „Tempel" analog ist. Die entsprechende Selbstzuschreibung philosophischer Gottesdienstfunktionen ist zunächst folgenlos, solange die Priesterschaft der Philosophen im Dienst des Absoluten, wie bei Hegel, professoral verbleibt und die „Logik" ein Buch unter Büchern der philosophischen Seminarbibliothek. Brisanz bekommt die philosophische Prätention, die Präsenz des Absoluten zu vermitteln, wenn sie die akademische Öffentlichkeit transzendiert und politisch wird. Für diesen Vorgang ist natürlich die Philosophie des Karl Marx das wichtigste, weil folgenreichste Beispiel. Bevorstehe, so kann man dort lesen, „die Emanzipation der Deutschen zu Menschen". Treuherzig verstanden wäre das eine rhetorische fa£on de parier, ein abkürzender Ausdruck für die Ankündigung, eine Änderung herrschender Zustände in Deutschland sei fällig, indem sie begründeten Vorstellungen ,..menschlicherer" Zustände nicht entsprechen. Wenn man, wie angemessen, die Darstellung dieser menschlicheren Zustände eine „Philosophie" nennte, so ließe sich dann auch die Einrichtung dieser Zustände eine „Verwirklichung" dieser Philosophie nennen. Aber solche Treuherzigkeit wäre natürlich nicht marxistisch. Nicht eine Philosophie soll ja verwirklicht werden, vielmehr die Philosophie, und indem diese eine Philosophie in ihrer letzten, durch eben unseren Philosophen repräsentierten Gestalt lehrt, in ihrer Verwirklichung geschähe die Selbstverwirklichung des Menschen, und indem sie weiterhin lehrt, diese Verwirklichung geschähe, indem das „Proletariat" sich durch diese Philosophie als das exklusive politische Subjekt dieser geschichtlichen Selbstverwirklichung des Menschen gewinnt, verlangt sie in der Konsequenz die Metamorphose des Philosophen zum philosophiegeleiteten politischen Führer. Marx und Engels in Anfängen, Lenin dann weltgeschichtlich repräsentieren diese Metamorphose, und wer dann, aus dem philosophieinduzierten Wunsch, auf der Siegerlinie der Weltgeschichte zu

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marschieren, dem nachfolgen möchte, wird die Frage „Wozu noch Philosophie?" auch seinerseits stellen müssen. Für die „bürgerliche" Philosophie beantwortet sie sich prospektiv durch die Geschichte von selbst, und für die Philosophie in ihrer Endgestalt, die sich in dieser Geschichte verwirklicht, aus ihrem Dasein als Kanon institutionell geltender Lehre, als der wir ihr überall im Machtbereich des herrschenden Marxismus begegnen. Der marxistische Dogmatismus ist insofern kein historischer Unglücksfall, vielmehr theoriekonsequent. Diese Konsequenz war ja vor wenigen Jahren auch dort bemerkbar, wo der Marxismus über seine Herrschaft in Köpfen noch gar nicht hinausgelangt war, also beispielsweise im akademischen Milieu WestBerlins oder Frankfurts oder Marburgs. „Wozu Philosophie?" - die hier einige Jahre lang in einigen Kreisen geltende Antwort auf diese Frage ließ sich exemplarisch an der Praxis der Verwendung von Klassiker-Bildern ablesen, nämlich an der Art, sie in Quadratmetergröße bei Umzügen umherzutragen. Es ist durchaus verständlich, daß Philosophen es faszinierend finden, ihre Disziplin in einer politischen Rolle zu sehen, die es erfordert, auf dem Roten Platz oder auf dem Platz des Himmlischen Friedens bei gegebenem Anlaß den Doktor der Philosophie Marx nun sogar in einer Größe zu zeigen, die man zweckmäßigerweise bereits in Prozentsätzen preußischer Morgen ausdrückt, und man braucht gute Philosophie, um gegen diese Faszination resistent zu bleiben.

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ber Esoterik und Exoterik der Philosophie Einige weltgeschichtliche Vermutungen m gen am Beginn stehen. Sie sind so global, da sie in der Diskussion rasch erledigt sein werden. Gleichwohl k nnen sie geeignet sein, eine Gegenstimmung zu verbreiten; ich meine eine Stimmung gegen eine hierzulande gepflegte Resignation, gegen die intellektuelle Traurigkeit ber die paupertas nova philosophiae, gegen die Kultivierung des zeitgen ssischen Zerw rfnisses der Philosophie mit sich und der Welt. l.Der Unterschied der europ ischen Kultur gegen ber Asien, Afrika, Australien, S damerika und anderen Teilen der Erde hat mancherlei Herk nfte, er ist aber ohne die europ ische Philosophie nicht zu begreifen. Die Griechen haben jene neue Weise des Denkens und Sprechens entwickelt, welche seither als ,4ogisch" bezeichnet wird. Mit Logos bezeichneten die Griechen bekanntlich eine bestimmte Redeweise, die sie von anderen Redeweisen wie έ>ήμα, λαλύζ oder μύ&οσ unterschieden. Logos bezeichnete den geordneten, eine Vielfalt durchgehenden oder gar aufz hlenden, dadurch vollst ndigen und gesicherten Bericht. Diese als Logos bezeichnete Art der Rede geht ein Ganzes nach seinen wesentlichen Bestandteilen durch und grenzt es durch Unterscheidung (διαίρεσις) von anderem ab. Diese erkl rende Redeart hielt Platon f r die vollkommenste Erkenntnisweise (ή τελεωτάττ? έπιστημτ? Theait. 206C—209e). Dadurch, da man eine Sache durchgeht und unterscheidet, begreift man sie: Logos im Sinn von Begriff. Leute, die nach der Art des Logos redeten, wurden allerdings nicht Philologen, sondern Philosophen genannt, und die Weiterentwicklung dieser Denk- und Sprechweise ist dann Philosophie genannt worden. Gewi , auch die Spruch Weisheit oder das Erz hlen von Geschichten (oder Geschichte) sind sinnvolle Redeweisen, doch kultur- und staatenpr gend ist die mit Logos bezeichnete Redeweise (und brigens die mit Ethos bezeichnete Lebensweise) geworden. Sie hat die Entwicklung der europ ischen Kultur und Unkultur teils initiiert (es hat auch andere Initiatoren gegeben wie die germanischen

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Völker oder die pauperes aller Epochen), teils begleitet - es hat auch andere Begleiterscheinungen gegeben, teils kommentiert — es hat auch andere Kommentatoren gegeben von den griechischen Tragikern über Dante und Goethe bis heute, teils denunziert — es hat auch andere Denunzianten gegeben, insbesondere die Heiligen. 2. Wie immer man die europäische Geschichte in Epochen einteilt, jede Epoche kann als eine Epoche der Aufklärung verstanden werden: Angefangen von den Vorsokratikern und den Sophisten über die klassische Philosophie der Griechen, über Epikur und die Stoa, die Patristik, die Früh-, Hoch- und Spätscholastik, über Nominalismus, Rationalismus, Empirismus, Kant, Fichte, Hegel, Marx, Freud, Wittgenstein. Das Epochemachende der Epochen wird durch diese Namen von Philosophen lediglich signalisiert, aber es kann eben philosophisch benannt werden. 3. Die epochemachenden Tendenzen der Gegenwart haben unter anderen Ursachen auch eine Herkunft in der Philosophie. Allgemein zählt man zu diesen Tendenzen — das Verschwinden der Stände- und Klassengesellschaft zugunsten einer nach Funktionen strukturierten oder auch wenig strukturierten Gesellschaft, - den Relevanzschwund von geographischen und staatlichen Grenzen zugunsten größerer, aber noch wenig strukturierter Räume, letzthin der einen Welt, — eine Rationalisierung der menschlichen Lebensbereiche, der damit verbundene Systemzwang und der durch sie ermöglichte Komfort. Diese Rationalisierungstendenz scheint auch die Politik zu erreichen, wiewohl es Indien und Afrika gibt. Es lassen sich Versuche der Intellektualisierung der Politik feststellen. Kriege „brechen" nicht mehr ,,aus", sondern ein computerunterstütztes Krisenmanagement organisiert, meist mittels logistischer Instrumente, Krieg und Frieden bzw. das, was man so nennt. - Schließlich nenne ich das zur Rationalisierung komplementäre Phänomen: ein elementares Defizit an Orientierung im Hinblick auf Ziel und Sinn des menschlichen Tuns und Lebens. Nicht Ziele regen die Erfindung der Mittel an, sondern die Entwicklung der Mittel von höherer Rationalität und Effizienz verläuft autonom und findet kein Ziel und Ende. Das Defizit an Zielorientierung scheint sowohl in Industrie- wie in Entwicklungsländern zu bestehen.

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Die im 19. und 20. Jahrhundert zu beobachtenden sozialen, kulturellen und politischen Veränderungen sowie die Entstehung eines Bewußtseins von Menschheit und der einen Welt sind in den Philosophien der Aufklärung und des deutschen Idealismus angelegt. Rationalisierung und Orientierungsdefizit tragen mehr als nur Spuren der Philosophie seit Leibniz und der Metaphysikkritik der letzten drei Jahrhunderte; sie sind Geschichte gewordene Philosophie. 4. Im Hinblick auf den Ost-West-Gegensatz der Weltmächte ist es trivial, darauf hinzuweisen, daß er nicht nur ideologisch, sondern philosophisch ist. Hüben und drüben hat man nicht nur andere Interessen; man denkt anders und spricht anders. Die one world bedeutet nicht „eine Philosophie".

Meine These: Die Philosophie ist wirksam. Die Gesellschaft und ihre Geschichte in unserer Welt sind heute wie gestern von Philosophie •bestimmt; wahrscheinlich mehr, als manchem lieb ist. Die Philosophie ist wirksam - vergleichbar den Hormonen im Organismus, die, als Energiequelle unbedeutend, als Biokatalysatoren bedeutend sind und die organischen Prozesse auslösen und steuern. Ist die innere Sekretion der hormonerzeugenden Organe gestört, kommt es zu Fehlsteuerungen, und der organische Prozeß läuft aus dem Ruder. Daher kann es sein, daß sich die Rolle und Funktion der Philosophie in der Gesellschaft deutlicher am weltgeschichtlichen Desaster zeigt oder auch an der persönlich-individuellen Katastrophe in der Wohnung im 9. Stock eines Zwanzigtausendbettenprojekts der Neuen Heimat; - deutlicher als an den Titelproduktionen unserer Kultur, in denen die Philosophie verschwunden zu sein scheint. Wenn nach der „Rolle" der Philosophie gefragt wird, schwingt wohl der Wunsch mit, der Philosophie möge eine Titelrolle zum mindesten eine stücktragende Rolle auf dem Welttheater zugewiesen werden; nicht Wagner, sondern Faust, der standhafte Prinz oder Don Carlos. Doch wenn es hochkommt, spielt sie eine Rolle analog der Rolle des Mephisto im „Faust" - allerdings in der gehörigen Modifikation: die meist das Gute will und oft das Böse schafft. Die Frage nach der Rolle der Philosophie wird vielleicht eher beantwortbar, wenn der Fragesteller darauf gefaßt ist, daß die Philosophie eine zwielichtige Rolle spielt, daß die Folgen ihrer Wirksamkeit bedenklich oder auch katastrophal sein können, auch heute, wo sie teils

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affektiert, teils borniert sich auf eine angebliche Funktionslosigkeit zurückzieht. Die bedenkliche Rolle der Philosophie in der Geschichte Europas soll nicht überbewertet werden, aber sie wird betont, weil die Frage nach Rolle und Funktion der Philosophie in der Gesellschaft hierzulande leicht einen kulturpathetischen Ton annimmt und dann ungemein schwer zu beantworten ist. Dann wird unterstellt, Philosophie gehöre zu den großen Kulturgütern; gemäß Hegel vollende sich in ihr der Gang des Geistes zu sich selbst. Aber die hohen und edlen Dinge spielten in unserer elenden Gegenwart eben keine Rolle mehr. Diese in kulturpathetischem Ton gestellte Frage nach der Rolle der Philosophie wird allerdings — heute übrigens ebenso wie in früheren Zeiten — negativ beantwortet werden müssen. Die Philosophie, sofern sie es mit sich zu tun hat und in sich bleibt, ist zunächst eine abstrakte Angelegenheit. Das schließt nicht aus, daß sie auch eine Erscheinung der Kultur sein kann, aber als solche tritt sie meist hinter Literatur, Kunst und Architektur zurück. Die Antwort fällt aber auch aus einem ganz anderen Grund negativ aus. Denn die Philosophie, sofern sie aus ihrer Esoterik heraustritt in die Exoterik, verliert ihre kulturelle Unschuld. Sie tritt dann - möglicherweise inkognito - als eine der geistigpolitischen Mächte auf; als eine stille oder als eine lautstarke Macht, möglicherweise als ein militantes Potential der Geschichte - als ideologische Waffe. Esoterisch können wir Rationalisten, Analytiker, Positivisten, Skeptiker, Transzendentalphilosophen, Marxisten, Phänomenologen und vieles andere sein. Exoterisch kann das Totalitarismus, Anarchie, Despotismus, Privatismus, Technokratie und vieles andere bedeuten. Es kann auch Demokratie, politische Freiheit, menschenwürdiges Leben und vernünftige Daseinsvorsorge bedeuten. Ein naheliegender Einwand gegen die Effizienz der Philosophie: Früher mag es so gewesen sein, aber heute sei die Philosophie überholt und damit funktionslos geworden, wie Odo Marquard Helmuth Plessner zitiert. Diese These ist nicht widerlegbar, da sich die Behauptung einer empirischen Verifizierung entzieht, eine historische Falsifizierung aber noch nicht möglich ist. Jedoch ist diese These überaus unwahrscheinlich; denn ein überzeugendes Symptom dafür, daß die zweieinhalbtausendjährige Geschichte gesellschaftlich-politischer Wirkungen der Philosophie soeben, 1900 oder 1950, eine einschneidende Zäsur erfahren habe, ist nicht erkennbar. Im Gegenteil: Alles scheint weiterzugehen. Der ersten industriellen Revolution folgt die zweite. Der

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französischen und der russischen Revolution soll die Weltrevolution folgen. Die Nebenfolgen von Technisierung und Rationalisierung sollen durch Konservierung von Natur, Umweltschutz und anderen Maßnahmen sekundär rationalisiert werden. Die wissenschaftliche Psychoanalyse findet den Urschrei als therapeutisches Mittel zum Zweck. Die Philosophie ist nicht funktionslos. Unser Gegenwert steht unter der Wirkung einer im Rahmen der europäischen Tradition durchaus identifizierbaren Philosophie, die möglicherweise von den professionellen Philosophen nur partiell zur Kenntnis genommen wird, weil diese mit sich selbst beschäftigt sind, und das heißt nicht mit dem Heute, sondern mit dem Morgen. Allerdings soll nicht geleugnet werden: es gibt Störungen in den philosophieerzeugenden Organen. Damit ist ein anderes naheliegendes Argument für die Funktionsund Wirkungslosigkeit der Philosophie angesprochen: ihr akademischer Charakter zusammen mit ihrer fatalen Position in der akademischen Organisation. Nun ja, Männer machen Geschichte; so falsch dieser Satz sein mag, er hat eine relative Wahrheit gegenüber der Behauptung, Inhaber von H 4-Stellen machten Geschichte. Das haben andere in diesem Kreis schon vor mir gesagt. Ich komme darauf zurück, weil ich gestehen möchte, daß ich schon ein wenig enttäuscht bin, daß mein philosophisches Arbeiten nicht epochemachend zu sein scheint, und daß diese ein wenig beschämende Feststellung anscheinend auch auf nicht wenige meiner Kollegen zutrifft. Aber erstens „weiß man nichts Gewisses nicht" — wie Karl Valentin zu sagen pflegte — und zweitens dürfen wir nicht die Philosophie mit den professionellen Philosophen verwechseln: darauf hat Hermann Lübbe am Ende der letzten Diskussion hingewiesen. Die persönlichen Schwierigkeiten bei der Beantwortung der Frage nach der Rolle der Philosophie liegen also auch darin, daß man nicht weiß, wer hier und jetzt der Philosoph ist. Man wird darum den Philosophen differenziert sehen müssen, insofern er nach wie vor die Welt interpretiert — und insofern er nach wie vor zu einem noch unbestimmten Zeitpunkt die Welt verändert haben wird — möglicherweise ohne daß er es gewußt hat. Marquard sagt: „. . . aber sie werden die Fundamentalexperten gewesen sein". Das Perfekt des Skeptikers ist sinnigerweise das Perfekt im Futur, das Futur II. Man weiß es erst, wenn es vorbei sein wird, und auch dann ist es noch eine Interpretationsfrage. Philosophen, die es eilig haben, als Philosophen die Welt zu verändern oder - etwas weniger anspruchs-

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voll — eine Funktion in der Gesellschaft zuhaben, welche auch immer, haben einen anderen Beruf im Auge als den des Philosophen. Die Philosophie mahlt langsam — dieses Merkmal hat sie mit Gottes Mühlen gemeinsam; andere Gemeinsamkeiten zu finden, wird nicht leicht sein. II

Plädoyer für eine esoterische Philosophie Die philosophieerzeugenden Organe scheinen gestört. Als Therapie wird Praxisbezug empfohlen. Nichts gegen Praxisbezug; davon soll noch die Rede sein. Auch ist bekannt, daß es Störungsfälle gibt, für die eine Arbeitstherapie angezeigt ist. Jedoch was hilft es, eine Blume, die nicht blühen will, auf die Frucht zu verpflichten. Oder um die fatale Analogie zu bemühen: Wenn eine Ehe gestört ist, empfiehlt man, um der Kinder willen beieinander zu bleiben. Gewiß soll man das; aber die Frage ist nicht, warum man beieinander bleiben soll, sondern wie — oder genauer, wie man wieder miteinander reden kann. Nichts gegen den Praxisbezug, ich plädiere jedoch für eine esoterische Philosophie. Ich plädiere dafür, das Pferd von vorne aufzuzäumen. Unter Philosophie kann man sehr Unterschiedliches verstehen. Philosophie kann generell als das bestimmt werden, was kein Mensch versteht, es sei denn, er ist Philosoph. Wer aber ist Philosoph? Prinzipiell jeder; das ist festzuhalten. Historisch ist es nicht jedermann gewesen, sondern jeweils nur wenige. Diese Feststellung muß nicht unbedingt mit einem Elitebewußtsein geschmückt werden. Prinzipiell kann jeder auf dem Kopf stehen; das ist lernbar. Historisch sind es nur wenige gewesen, die das lernen wollten. Ob diese schon deswegen, weil sie wenige sind, auch eine Elite darstellen, kann dahingestellt bleiben. Odo Marquard hat sich auf das bezogen, was in der Philosophie üblich ist. Üblich ist auch, daß wenige die Philosophie professionell betreiben. Von dieser Philosophie rede ich zunächst. Sie ist unmittelbar unverständlich. Sie muß nicht unverständlich sein, aber sie darf es sein; denn ihre Unverständlichkeit hat einen guten Grund. Die philosophische Reflexion und Spekulation suspendiert zahlreiche Vor-

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aussetzungen, auf denen der Lebensvollzug (und die Einzelwissenschaften) beruhen, und es ist nur natürlich, daß man nicht gut steht, wenn der Boden unter den Füßen weggezogen ist. Die Philosophie steht, wie Marx richtig bemerkt hat, auf dem Kopf. Natürlich ist es ungewohnt, auf dem Kopf zu stehen, vor allem wenn der Kopf nicht nur statt der Füße benutzt wird, sondern zugleich jeweils den Boden produziert, auf dem er steht. Der Philosoph praktiziert das mittels verschiedener noetischer Verfahren, wovon Platons Dialektik eines der klassischen ist, dem dann viele ähnliche oder auch andere merkwürdige Verfahren gefolgt sind. Natürlich versteht das kein Mensch, es sei denn, er hat es gelernt — wie ein Schwimmer, ein Seiltänzer oder auch ein Zauberer von Profession ihre jeweilige Fertigkeit, im Bodenlosen zu agieren, lernen. Die Geschäfte der esoterischen Philosophie sind bekannt. Trotzdem möchte ich sie aus meiner Sicht benennen. Über das analytisch-kritische Geschäft wird heute soviel gesprochen, daß ich es lediglich zu vermerken brauche. Diese Kürze bedeutet weder Geringschätzung noch gar Mißachtung. Im Gegenteil: Ich vermute Konsens. Ein weiteres Geschäft besteht in der Aufgabe, für die Analyse wie für das Analysierte die geeignete Kategorialstruktur zu finden. Hier sind Fantasie und Erprobung im engen Kreis vonnöten. So schnell hat man seine Zeit ja nicht ,4n Gedanken erfaßt" und die Gedanken nicht auf den Begriff gebracht. Dieser Teil des Geschäfts ist übrigens auch nicht ohne Sprachschöpfung möglich. Unter der Sprache, die hier erfunden und gesprochen werden soll, verstehe ich nun nicht eine ziselierte Fachterminologie, sondern jene Sprachleistung, durch welche die Klassiker der Philosophie Klassiker der Philosophie geworden sind. Ein drittes Geschäft möchte ich als Relevanzbestimmung bezeichnen. Um die unvermeidliche Kritik, nun werde dem Dogmatismus Tür und Tor geöffnet, auf das gehörige Maß zu reduzieren, sei sogleich angemerkt: Beim Geschäft der Relevanzbestimmung befindet sich die Philosophie in einem starken Feld von wohlkonditionierten und vielfach mit besserem Material ausgerüsteten Konkurrenten, als da sind die Künste, die Religionen, die Politik, die Wissenschaften, die Medien, die Werbung etc. Zahlreiche Agenturen vermitteln in unserer Gesellschaft Relevanz; unter ihnen auch die Philosophie. Das ist nicht nur üblich, sondern ganz unvermeidlich; denn schon mit dem ersten Satz, den der Philosoph sagt, sei er noch so abstrakt, analytisch, skeptisch, zynisch, versucht er Relevanz zu bestimmen. Philosophische Relevanz

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wird allerdings nicht schon durch eine Themenwahl bestimmt, also durch die Festsetzung der Sache, welche der kritischen Analyse und der kategorialen Strukturierung unterworfen wird. Sie geschieht auch nicht dadurch, daß man Seinspyramiden oder Werteordnungen auf dem Markte anbietet. Philosophische Relevanzbestimmung geschieht vielmehr durch die Setzung eines neuen Verhältnisses zur thematisierten Sache und damit der thematisierten Sache zu anderen Sachen. Als Beispiel können Platons Lehre von der Noe'sis und Aristoteles' Prinzipienlehre, aber auch Augustins Lehre von der memoria, Occams Lehre von der absoluten Freiheit, Kants Lehre vom Sittengesetz, Schellings Naturphilosophie und vieles andere gelten. Die Relevanzbestimmung geschieht also dadurch, um bei den genannten Beispielen zu bleiben, daß Platon ein neues Verhältnis zur Erkenntnis, Aristoteles ein neues Verhältnis zu den Prinzipien, Augustinus ein neues Verhältnis zur Erinnerung, Occam ein neues Verhältnis zur Freiheit, Kant ein neues Verhältnis zur Sittlichkeit, Schelling ein neues Verhältnis zur Natur begründen — und eben dadurch die Phänomene oder Bereiche relevant werden. Relevanzbestimmung geschieht nicht dadurch, daß ein Dogmatiker sich herausnimmt zu bestimmen, dieses oder jenes habe Bedeutung, sondern dadurch, daß ein neues Verhältnis gültig gesetzt und auf den Begriff gebracht wird. Die philosophische Verhältnissetzung hat antizipatorischen Charakter; d. h. der Praxisbezug ist proleptisch, nicht aktuell. Der Philosoph denkt an eine Zukunft, die in der Gegenwart noch Esoterik ist. Aber vielleicht ist das zu pathetisch ausgedrückt. Man sollte wohl nicht sagen, er denkt an die Zukunft, sondern einfach: er denkt. Schließlich sei jenes philosophische Geschäft nicht vergessen, durch das der philosophische Begriff sich in das Verhältnis zu sich selber setzt und sich seiner selbst vergewissert: die Logik — oder sich über sich selbst lustig macht: die Skepsis. Logik bzw. Skepsis sind die schönsten Formen der Abstraktion. In ihr abstrahiert die Philosophie nicht nur vom bunten Leben, sondern auch von sich selbst - und so erfreut sie sich einer potenzierten Esoterik. Die Esoterik der Philosophie ist generell dadurch begründet, daß sie ein Denken von Relationen und von Relationen der Relationen ist, von Identität und Nichtidentität und deren Identität, wie Hegel sagt (Differenzschrift, Ges. Werke, IV, 64). Sie vermehrt nicht material das Wissen; das besorgen die Leute mit Sachkunde und die Wissenschaftler. Sie verändert aber dieses Wissen, indem sie es reflektiert,

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analytisch aufschließt und spekulativ zusammenschließt. Es ist zwar nicht richtig, daß der Mensch sein natürliches Wissen ablegen müsse, wenn er die Esoterik der Philosophie betritt; es ist jedoch richtig, daß die Philosophie nicht nur eine Extrapolation des naturalen Wissens ist. Der Philosoph ist nicht derjenige, der die Wahrheit weiß, die der Nichtphilosoph noch nicht weiß. Eher umgekehrt: Er erkennt die Relativität jener Wahrheit, die der Nichtphilosoph legitimerweise hat. Denn der Nichtphilosoph weiß seine Wahrheit, und soweit er sie nicht weiß, fühlt er sich unwohl. Der Philosoph hingegen beginnt sich unwohl zu fühlen, wenn er die Wahrheit weiß, da er sich wohl bewußt ist, lediglich Vermittlungen zu wissen. Im übrigen glaubt er an die Wahrheit, d. h. er denkt ihre Idee als Regulativ seines Philosophierens. Dies tut wohl auch der Agnostiker; denn niemand wird sein Leben damit verbringen wollen, darzulegen, der Tragelaphos sei nicht erkennbar. Nicht im gleichen Sinn wird gesagt, man könne nicht wissen, was die Wahrheit sei, und man könne nicht wissen, was der Bockhirsch sei - um Aristoteles zu zitieren (Aristoteles, Periherm. I 16*16. II. Anal. 2,7.92b7). Sich in ein Verhältnis zur Wahrheit zu setzen, ohne sie zu wissen, ist nicht jedermanns Sache. Der gesunde Menschenverstand verfährt anders: teils weiß er die Wahrheit, teils errät er sie, teils weiß er sie nicht und großenteils interessiert sie ihn nicht. Die Philosophie verwirft nicht den gesunden Menschenverstand, nimmt aber insofern Abstand, als sie sich für die ganze Wahrheit interessiert, die sie nicht weiß. Der gesunde Menschenverstand ist ja nicht naiv; die Philosophie hingegen ist es, wie Robert Spaemann gezeigt hat. Die Philosophie erweist sich damit als eine sublime Manifestation der Freiheit. Esoterisch bewegt sie sich im offenen Feld der Wahrheit, und ihre Bewegungen sind zunächst nur durch sie selbst behindert. Der Denkhorizont des gesunden Menschenverstandes sollte für sie keine Behinderung sein; die Philosophie eröffnet neue Denkmöglichkeiten. Den Verhältnissen, in denen wir leben, wissen und handeln, erlaubt sie nicht, daß sie zu einem Zwang werden, und sie kreiiert neue Verhältnisse aus eigenem Entschluß, - sofern sie ihn faßt. Dergleichen geschieht auch anderenorts, nicht nur in der Philosophie. Die Freiheit des Denkens jedoch in methodischer Form auszuüben, ist wiederum nicht jedermanns Sache. Dazu bedarf es eines Abstrahierens, zu dem nicht jeder Lust hat; es bedarf eines Denkens in relationalen Begriffen, das nicht jeder lernt; es bedarf gewisser

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Sprach- und Kommunikationsformen, an die sich nicht jeder gewöhnt. Und das ist auch nicht nötig. Sokrates ging ja nicht auf den Markt, weil er zum Volke reden wollte oder gar ein Marktschreier war; er ging als ironischer Dialektiker auf den Markt und warb Knaben und junge Männer, um sie in die Esoterik seines Dialogs zu ziehen. Der Akademos des Platon und der Peripatos des Aristoteles, der Garten des Epikur, die Disputation der Scholastiker, das Seminar der Universitäten sind Beispiele für die Sozietät dieser Esoterik. Dieser Workshop ist es auch, wenngleich die vom Praxisbezug gesättigte Bezeichnung Workshop das zu verdecken sucht. III

Plädoyer für eine exoterische Philosophie Das Plädoyer für eine esoterische Philosophie ist nicht ein Plädoyer für die Philosophie als Tart pour Tart. Die esoterischen Zirkel der Philosophie haben sich vielfach im Trubel des Marktes und der Städte gebildet: auf der Agora in Athen, im mittelalterlichen Paris, in den Massenuniversitäten, (im Hilton Hotel). Esoterik heißt nicht Abgeschlossenheit; heißt nicht, die Philosophie würde a huis dos betrieben; anderenfalls liefe sie Gefahr, mit der „geschlossenen Abteilung" einer Klinik verwechselt zu werden. € &€ heißt nicht nur „innerhalb", sondern auch „von innen her". Die Esoterik der Philosophie ist ohne Exoterik so sinnlos, wie das Kloster sinnlos ist ohne Kirch ea Ein Plädoyer fürs Exoterische kann dieses aber nicht naiv zur Esoterik hinzuaddieren. Exoterik kann nicht bedeuten, das Esoterische unvermittelt zu exportieren. Andererseits wird die Exoterik auch nicht darin bestehen, daß das Volk zum Philosophen wie zu einem Wüstenheiligen oder zu einem Starez pilgert, von dem es Weisung und Lebenshilfe erwartet. Wenn das Plädoyer für eine exoterische Philosophie nicht das eben geführte Plädoyer für eine esoterische Philosophie dementieren soll, dann wird es ohne einen Schuß Dialektik nicht abgehen. Diese könnte folgendermaßen aussehen: Der Philosoph soll sich außerhalb des esoterischen Kreises auf eine philosophische Weise unphilosophisch verhalten, also nicht, wie er es gelernt hat, auf dem Kopf, sondern auf den Füßen stehen. Nun kann man Marxens schwungvolles Bild nicht

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entlehnen, ohne in den Verdacht zu geraten, jetzt sei der Zeitpunkt gekommen, sachte zum Neomarxismus hinzulenken. Das ist keineswegs die Absicht. Die Absicht ist auch gar nicht, die esoterische Philosophie auf die Fuße zu stellen; wozu hat der Mensch schließlich den Kopf, wenn nicht zum Denken und schließlich auch dazu, daß er sich als Philosoph auf diesen seinen Kopf stellt. Nur: Wenn man sich inmitten von Menschen befindet, die auf den Füßen stehen, sollte nicht ein einzelner auf dem Kopf stehen; das befremdet. Der Philosoph, wenn er den Kreis der Esoterik verläßt, wird gut daran tun, sich auf die Füße zu stellen. Damit wird er zwar zunächst ununterscheidbar, was unsere Eitelkeit kränkt; aber nur dieses bewährt sich auf die Dauer. Anderenfalls wird dem Philosophen, selbst wenn er politisch so erfolgreich ist wie Thaies, die Anekdote von der thrakischen Magd angehängt — vorzüglich von boshaften Kollegen, wie offenbar der platonische Sokrates einer gewesen ist (Theait. 174a). Die Aufgabe läßt sich mit einfachen Worten so bezeichnen: Man soll auf philosophische Weise normal, d. h. so, wie die anderen Menschen auch sein. Die Aufgabe besteht also nicht darin, unter den Nichtphilosophen den Philosophen zu spielen, sondern im privaten und gesellschaftlichen Leben die anfallenden Funktionen so wie die anderen auch zu übernehmen - jedoch more philosophico. Was- heißt more philosophical Das wurde im Plädoyer für eine esoterische Philosophie schon skizziert: Der Philosoph, der exoterisch einen Job übernimmt, sei es als Geschäftsmann oder Vereinsvorstand, als Politiker oder dessen ungeliebter Berater, als Medienstar oder Lückenbüßer im dritten Programm, als Kommissionsmitglied oder -versitzender, Senator, Rektor, Präsident oder Minister, als Vater, Onkel, Ehemann oder Geliebter — lassen wir es gut sein —, der Philosoph oder die Philosophie soll zunächst beim analytisch-kritischen Geschäft tüchtig mithelfen; dort braucht man Leute, die das gelernt haben. Exoterisch wird er zwar nicht Begriffe oder Sätze oder auch ganze Philosophien analysieren, sondern Situationen, meist vertrackte Situationen, die wieder auf andere Situationen, unbemerkte Randbedingungen, Interessen und Vorurteile, zurückgeführt werden müssen. Ferner soll er bei der kategorialen Strukturierung von Situationen mithelfen; hier hat er möglicherweise einen Vorsprung vor den meisten anderen Beteiligten. Gewiß bieten sich hier zunächst die fachwissenschaftlichen, politischen oder pragmatischen Kategorien an; aber deren

Über Esoterik und Exoterik der Philosophie

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Leistungsfähigkeit ist begrenzt. In komplexen Situationen bedürfen sie einer Strukturierung zweiter Ordnung, welche die Komplexität reduziert, ohne sie zu versimpeln, oder doch wenigstens bessere Abgrenzungen erlaubt. Philosophia ancilla hominis seu societatis wäre der bescheidene Ausdruck, sapientis est ordinäre wäre der anspruchsvolle Ausdruck für dieses Geschäft. Schließlich kommen wir zur Relevanzbestimmung. Hier ist der Philosoph zweifellos am meisten in Gefahr, seinen esoterisch produzierten Begriff mehr oder weniger schön verpackt zu exportieren und als Ware von besonderer Qualität auf dem Markt anzubieten. Das aber geht aus mindestens zwei Gründen nicht an. 1. Der Mensch ist zwar ein Mängelwesen, aber doch nicht derart, daß er vollständig wäre außer einer leeren Stelle für Grundsatzfragen, die vom Philosophen zu füllen wäre. Der Mensch hat seine Grundsatzfragen immer schon so oder so beantwortet (die Einzelwissenschaften übrigens nicht immer); er hat seine „Philosophie", sei sie pragmatisch oder verzweifelt, sei sie materialistisch, skeptisch, realistisch, ethisch oder idealistisch. Das schließt nicht aus, daß er nach der professionellen Philosophie ausschaut. 2. Der esoterisch produzierte Begriff existiert nur so lange, als er produziert, d. h. gedacht wird. Wird er in der Exoterik objektiviert, also gewissermaßen in Serie produziert und als Stückware in Umlauf gebracht,dann wird er zum Schlagwort, zur ideologischen Parole oder zu einer leeren Hülse, wenn er nicht überhaupt verfliegt. Generell wird er, mit Platon oder Hegel zu sprechen, zur „Meinung" und hat damit seine besondere Qualität eingebüßt. Der Beitrag des Philosophen zur geschichtlichen Relevanzbestimmung wird, sofern er sich exoterisch daran beteiligt, darin begründet sein, daß er sich der in der Esoterik gewonnenen Einsicht erinnert. Die Relevanz einer Sache zeigt sich möglicherweise gerade umgekehrt, je nachdem ob sie aus der Perspektive dessen, der auf dem Kopf steht, oder dessen, der auf den Füßen steht, bestimmt wird. So zum Beispiel: Der Philosoph weiß, es geht um Freiheit - und esoterisch kann er darüber kräftig produzieren; exoterisch aber geht es um Freiheiten, genauer um Bindungen und zwar um solche Bindungen, die Freiheit nicht verunmöglichen. Der Philosoph weiß, es geht um Wahrheit und esoterisch vergnügt er sich mit Wahrheitstheorien; exoterisch aber geht es um Unwahrheiten in verschiedener Art, die es zu unterscheiden, zu beurteilen und möglicherweise auch einmal zu tolerieren gilt. Esoterisch wird der Begriff

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der Chancengleichheit gehandelt - wirklich ein schöner Begriff. Stelle ich mich auf die Füße, so sehe ich zwar einige evidente Ungerechtigkeiten und Chancenungleichheiten, die mich fuchsteufelswild machen (die aber trotz ihrer praktischen Evidenz von denen geleugnet werden, die den Begriff töten möchten); aber in der Tat ist von Chancengleichheit nichts zu sehen. Esoterisch geht es um Bildung; stelle ich mich auf die Füße, so sehe ich vornehmlich Berechtigungen und Sozial prestige. Esoterisch geht es um die Dialektik von Selektion und Förderung der Kinder; exoterisch geht es um die Orientierungsstufe. - Ich bitte um Verständnis dafür, daß ich einige Beispiele aus einem mir bekanntgewordenen exoterischen Feld genommen habe. Das Plädoyer für eine exoterische Philosophie bedeutet also dieses: auf den Füßen stehen wie die anderen auch, aber sich des Gedachten erinnern, mithin die Vergleichsmöglichkeit behalten, sowie die erlernten formalen Fähigkeiten ins politische oder gesellschaftliche Treiben einbringen. Diese Art von Beitrag ist eine Besonderheit der Philosophen, aber kein Einzelfall; denn andere Leute bringen andere Vergleichsmöglichkeiten mit und haben andere Fähigkeiten gelernt und anzubieten; so z. B. die erfahrene Frau, der sachkundige Pragmatiker, auch der Heilige. Mit dem Künstler steht es anscheinend strukturell anders, da er der einzige ist, der in seiner Kunst jeweils zugleich auf den Füßen und auf dem Kopfe steht. Er kann fast alles, nur nicht abstrahieren. Deswegen wirkt er in der Politik noch deplacierter als der Philosoph, der ja dieses Abstrahieren gelernt haben sollte. Wenn nun die durchgeführte Unterscheidung zwischen exoterischer und esoterischer Philosophie auf den sog. Praxisbezug der Philosophie angewendet werden soll, so ergibt sich, daß dieser nicht mit der exoterischen Philosophie gleichzusetzen ist. Auch die esoterische Philosophie hat - dies versuchte die Anfangsthese zu zeigen - ihren vermittelten Praxisbezug. Doch das Verhältnis muß differenziert gesehen werden. Die exoterische Philosophie bedarf keines formellen Praxisbezugs; denn der Philosoph, der sich auf seine Füße stellt, ist nicht mehr esoterisch-professioneller Philosoph, sondern quasi freischaffender Praktiker. Die exoterische Philosophie ist nicht Philosophie mit Praxisbezug, sondern Praxis mit Philosophiebezug, mit Theoriabezug oder einfacher: Praxis mit besonderen Vergleichsmöglichkeiten. Daß diese Vergleichsmöglichkeiten mehr bei praktischen Begründungen als bei der tech-

Über Esoterik und Exoterik der Philosophie

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nischen oder organisatorischen Exekution, mehr für Zieleinstellungen als für die Ziel-Mittel-Rationalität zu Buche schlagen, ist naheliegend. Die esoterische Philosophie bedarf jedoch auch keines besonderen Praxisbezugs; denn entweder ist sie wahrhaft esoterisch, und dann muß sie warten können, zum mindesten so lange, bis der betreffende Philosoph dahingegangen ist. „Ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus." (Hegel an Niethammer 28. 10. 1808) Oder sie kann nicht warten, sei es, weil der Philosoph selber zu ungeduldig ist und eine Rolle spielen möchte, sei es, daß die Nichtphilosophen zu ungeduldig sind und die nutzlosen Philosophen nicht mehr bezahlen wollen; dann ist ihre Esoterik hin, und der Praxisbezug wird banal und marginal. IV

Rolle und Funktion der Philosophie Die Frage nach Rolle und Funktion der Philosophie ist verständlich, jedoch — esoterisch gesprochen — ist sie falsch gestellt. Was die Philosophie tut, ist eben das, was in der Gesellschaft keine Rolle spielt; sie hat weder esoterisch noch exoterisch betrachtet als Philosophie eine operationalisierbare Funktion, die mit den Funktionen der Wissenschaften, der Wirtschaft oder des Militärs vergleichbar wären. Gleichwohl liegt die Frage auf dem Tisch. Da sie, wie gezeigt worden ist, nicht aus dem Wesen der Philosophie gewonnen werden kann, muß angenommen werden, daß sie durch die besondere geschichtliche Situation bedingt ist. Dieses ist nun in der Tat der Fall. Anlaß zu der Frage nach Rolle und Funktion der Philosophie geben einmal die professionellen Philosophen selbst; denn sie wollen leben. Da aber in einer Leistungsgesellschaft im Prinzip nur der am Leben bleibt, der etwas leistet, müssen auch sie etwas leisten. Sie gebärden sich darum so, als ob sie etwas leisteten. Das tun sie wohl auch; doch ihre Leistung kann trotz inständiger Bemühungen nicht als Funktion dargestellt werden. Anlaß gibt ferner die Demokratie. Sie hat — wie uns die kritische Theorie belehrt hat — einen unersättlichen Legitimationsbedarf. Sie kann nicht, wie der Feudalstaat, Luxus treiben; wenigstens hat die Demokratie dieses noch nicht gelernt. Alles muß legitimiert werden; nicht nur politisch durch einen Mehrheitsbeschluß, sondern auch sachlich und womöglich ideologisch. Fazit: Die Philosophie fällt ihrer ei-

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genen kritischen Theorie zum Opfer; denn sie kann sich nicht legitimieren außer dadurch, daß sie philosophiert, aber das soll sie zuvor legitimieren: ein circulus vitiosus. Der Zirkel ist vermeidbar, wenn sich eine Funktion in der Gesellschaft nachweisen läßt. Hat sie keine, ist sie in der legitimationssüchtigen Demokratie erledigt. Das will sie aber nicht sein; also muß eine Funktion her, und sei es nur die einer Wissenschaftstheorie oder einer Gesellschaftskritik. Anlaß gibt schließlich der moderne Staat, der von einem Beamtenapparat verwaltet wird. In früheren Gesellschaften mußten sich Großfamilien, Stände, Klöster, Universitäten, auch Philosophen selbst erhalten. Heute erhält sie der Staat. Die Politik ist aber nicht mehr die Nebenbeschäftigung eines aufgeklärten Monarchen. Der Politiker kann in seinem Haushaltsplan keinen Titel dulden für Dinge, die keine Rolle spielen. Darum die Frage: Welche Rolle spielt die Philosophie? - Der moderne Staat wird von Beamten verwaltet, auch die Universitäten und die Philosophie. Sie verwalten nach juristischen Schemata, die das Verwaltungstun möglichst störungsfrei halten. Etwas, was keine Rolle spielt, zu verwalten, ist störend, eigentlich unzumutbar angesichts der vielen Dinge, die eine große Rolle spielen. Aber möglicherweise spielt die Philosophie doch eine Rolle, nur daß diese unerkennbar ist. Solche Zwielichtigkeit erzeugt Unsicherheit in der Behörde, und das hat die Folge, daß die Sache schlecht behandelt wird. Darum ist die Philosophie dazu übergegangen, der Behörde darzulegen, daß sie eine wichtige Rolle spielt. Und nun glaubt sie selber an ihre Schutzbehauptung, d. h. sie diskutiert über Rolle und Funktion der Philosophie in der Gesellschaft. Diese zeitgemäße Betrachtung erweist die Philosophie als unzeitgemäß, aber darum doch nicht weniger liebenswert. Sie ermutigt zur Esoterik. Ungewöhnlich bleibt jedoch, daß der Philosoph nicht wie der Apostel Paulus durch Zeltmacherei seinen Lebensunterhalt verdient, sondern durch Philosophie und Universitätsgeschäfte. Das verpflichtet zur Exoterik. Darum sollte der Philosoph sich nicht entfremdet fühlen, wenn er eine Gutachtertätigkeit, einen Kommissionsvorsitz, eine Stiftungsverwaltung oder ein anderes von der Zunft mit Herablassung angesehenes Geschäft zu übernehmen hat. Ist er der Auffassung, daß die Zeltmacherei weniger entfremdet als die uns obliegenden Tätigkeiten, so sollte er Zelte machen. Zwar wird die Philosophie auch dadurch keine Funktion in der Gesellschaft gewinnen; aber der Zeltmacher wird nicht mehr danach gefragt.

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Zur Metaphysik-Funktion der Philosophie I Die Entstehung der Philosophie hängt unter anderem damit zusammen, daß Individuen und Gruppen schon immer über implizite tiefe Theorien und Skalen der Erwünschtheit verfügen. Der erste Philosoph zeigte seinen Mitunterrednern, daß sie Präferenzen hatten, zu deren Begründung sie keine vertretbaren Argumente wußten, und daß sie wichtige Behauptungen nicht rechtfertigen konnten. Darüber, daß eine solche Art von Aufklärung zu den Aufgaben der Philosophie gehört, besteht noch heute Einigkeit. — Ferner zeigte die Philosophie von Anfang an, daß es bei aller Veränderlichkeit der Dinge stabile und veränderungsresistente Strukturen gibt. Auch dieser Nachweis gilt nach wie vor als Aufgabe der Philosophie. Sie übt ihn heute am eindrucksvollsten im Bereich der Logik aus. - Die Philosophie versuchte drittens von Anfang an, ihre Aussagen über Stabiles und Vergängliches in umfassende Theorien einzubetten. Das erste könnte man als ihre kritische, das zweite als ihre stabilisierende und das dritte als ihre Metaphysik-Funktion bezeichnen. Die Metaphysik-Funktion der Philosophie gilt aber inzwischen (im Gegensatz zur kritischen und stabilisierenden) als problematisch. Das hängt unter anderem mit einer Veränderung im Katalog der Wahrheitskriterien zusammen und scheint zunächst aus einleuchtenden religiösen und politischen Gründen beabsichtigt gewesen zu sein. Solange Schau, die der Lehrer vermittelt, Autorität in Gestalt kanonischer Schriften oder auch private Plausibilität als Kriterien für die Wahrheit von Aussagen dienten, blieben metaphysische Theorien entscheidbar und stellten keine speziellen Wissenschaftsprobleme. Im siebzehnten Jahrhundert kamen aber erfolgreiche Autoren zu der Überzeugung, es gebe ein Empirie de fizit, während der Bedarf an metaphysischen Theorien endgültig gedeckt sei. Sobald man Empirie (was immer das bedeuten mochte) zum alleinigen Kriterium für die Wahrheit nichtanalyti-

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scher Aussagen erhob, wurden nichttautologische metaphysische Theorien unentscheidbar. Sofern darüber hinaus (was nicht selbstverständlich ist) in der Wissenschaft außer einigen wenigen „selbstevidenten" Prinzipien nur noch entscheidbare Aussagen als zulässig galten, hatten metaphysische Theorien im Rahmen von Wissenschaft keine Stätte mehr. Soweit die Philosophie dessen ungeachtet bestrebt war, auch weiterhin als Wissenschaft aufzutreten, verlor sie mehr als ein Drittel ihres früheren Tätigkeitsbereiches.1 Zwar blieben metaphysische Theorien nach wie vor im Spiel, das Eigentümliche aber war, daß sie nicht mehr im Rahmen der Wissenschaft explizit werden konnten und daher implizit oder allenfalls privatexplizit zu bleiben hatten. Mit dieser Situation hängt eine bekannte Stelle aus Hegels Vorrede zur Logik von 1812 zusammen: „Indem so die Wissenschaft und der gemeine Menschenverstand sich in die Hände arbeiteten, den Untergang der Philosophie zu bewirken, so schien das sonderbare Schauspiel herbeigeführt zu werden, ein gebildetes Volk ohne Philosophie zu sehen." Daß nichtsdestoweniger implizite Metaphysik am Zuge blieb, hat vor allem Hegel betont. In unserem Jahrhundert haben es die Positivismuskritiken der Popperschule und der Kritischen Theorie gleichermaßen hervorgehoben. Die Mehrzahl der Autoren ist heute überzeugt, daß ein solches Überleben fundamentaler Unterstellungen in den verschiedensten Gestalten normal und unvermeidlich ist. Die impliziten oder expliziten Metaphysikelemente in Philosophien, Wissenschaften und vergleichbaren Phänomenen bezeichne ich als „tiefe Theorien". Dieser Ausdruck geht auf einen Scherz Niels Bohrs zurück2 und bietet sowohl durch „tief" als auch durch „Theorien" Gelegenheit zu Mißverständnissen. „Tief" sollte bei Bohr wohl andeuten, daß von Sinngebungssätzen die Rede war („tiefer Sinn"). Ganz ähnlich soll es hier zunächst zum Ausdruck bringen, daß Sätze höherer Begründungsstufen gemeint sind. Doch liegt die Assoziation von „Tiefentheorien" (in Analogie zu „Tiefenstruktur") nicht ferne. Sie ist auch hilfreich, falls man annehmen darf, daß bei Philosophien, 1

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Dies zeigt mit geradezu frappierender Direktheit G. Tonelli: The Problem of the Classification of the Sciences in Kant's Time, in: Rivista Critica di Storia della FUosofia 3/1975, S. 243-294 (zu beachten S. 286). Nach Mitteilung meines Lehrers C. Fr. v. Weizsäcker pflegte Bohr zu sagen: „Es gibt wissenschaftliche Wahrheiten und tiefe Wahrheiten. Die ersten sind solche, deren Gegenteil falsch ist, die zweiten solche, deren Gegenteil ebenfalls wahr ist."

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Wissenschaften und vergleichbaren Phänomenen eine Anzahl von Schichten zu unterscheiden ist. Fundamental ist eine Schicht von Grundüberzeugungen, die metaphysische Tiefenschicht oder die Schicht der tiefen Theorien (sie wird heute zuweilen — mit einer nicht eben kantischen Art zu reden - als „Apriori" bezeichnet). An dieser orientieren sich die fundamentalen Wünsche - beispielsweise Verlangen nach Glück in der Schau,Naturbeherrschung, Leidminimierung, gleiche Bedürfnisbefriedigung oder was auch immer. Diese sind einerseits an den tiefen Theorien ausgerichtet, sie stecken aber andererseits die im Rahmen einer solchen Orientierung möglichen Probleme ab. Zu deren Lösung werden schließlich Methoden und Oberflächentheorien entwickelt, die wissenschaftliche Methoden oder Theorien sein können, 3 aber auch religiöse, politische oder andere. Unterschiedlichen Typen von Problemen entsprechen unterschiedliche Typen von Methoden und Oberflächentheorien, die ihrerseits vermittelst der fundamentalen Wünsche in funktionalem Zusammenhang mit den tiefen Theorien stehen. Ob die angedeutete Schichtung tatsächlich in dieser Weise angenommen werden darf, ist eine empirische Frage, und zwar eine schwierige.4 Der Ausdruck „tiefe Theorie" bietet zweitens durch „Theorie" Anlaß zu Mißverständnissen. Denn „Theorie" muß in ihm einen unziemlich weiten Sinn besitzen, sofern es nicht nur etwas Formuliertes bezeichnet. Soweit das, was es darüber hinaus bezeichnet, sekundär eine Formulierung findet, handelt es sich um Sätze unterschiedlicher Klassen wie Meistersprüche und Sprichwörter, Slogans und Grundsätze. Ein Grundsatz wie beispielsweise „Alles neigt zum Guten" wird nicht in allen Fällen deshalb ausgesprochen, weil jemand gleichsam ein Enthymem aus schon formulierten Grundsätzen durch eine vollständigere Figur ersetzen möchte und darum etwa fehlende Grundsätze hinzuformuliert. „Alles neigt zum Guten" kann der bloße Ausdruck von etwas Nichtsprachlichem sein, zum Beispiel dem sogenannten Urvertrauen. In diesem und in vergleichbaren Fällen dient also Überlegungen zur Rolle von Metaphysikelementen speziell bei der Wissenschaftsentwicklung finden sich in Verbindung mit knappen Fallstudien bei G. Radnitzky: Preconceptions in Research, in: The Human Context, London (Chaucer) 1974 („focussing attention on the role of preconceptions at the level of the world picture in scientific research", ebd. S. 3). Es ist zu erwarten, daß über diese Frage das Thyssen-Projekt einer empirischen Zeitgeisterforschung Aufschlüsse geben wird.

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„tiefe Theorie" primär als Bezeichnung für etwas Nichtsprachliches, und das ist ohne Zweifel mißlich. Nichtsdestoweniger verwende ich mit Rücksicht auf sonstige Vorzüge den Ausdruck einstweilen. Ich bezeichne tiefe Theorien als „metaphysisch". Des näheren bezeichne ich explizite tiefe Theoriegefuge als „Metaphysiken" und unformulierte tiefe Theoriegefüge als „potentielle Metaphysiken". Diese Verwendung von „Metaphysik" ist vor allem in Popperschen Kreisen üblich geworden und kommt der traditionellen Bedeutung des Wortes zumindest in einigen Hinsichten nahe. Insofern ist sie geeignet, in der Geschichte der Philosophie eine Kontinuität erkennbar zu machen, die in den letzten hundert Jahren durch den Schein der Diskontinuität verdeckt worden ist. Den Satz „Die Philosophie hat eine Metaphysik-Funktion" interpretiere ich nun als „Die Philosophie hat unter anderem die Aufgabe, sich mit der Feststellung, Beurteilung und Selektion von tiefen Theorien zu beschäftigen" (in der erwähnten nichtkantischen Weise zu sprechen: „ Zu den Aufgaben der Philosophie gehört die Apriori-Forschung").

II Auf ihre Metaphysik-Funktion kann die Philosophie, solange sie eine kritische (und damit eine selbstkritische) Disziplin bleiben möchte, nicht verzichten. Sie selbst operiert schon bei der Ausübung ihrer kritischen und stabilisierenden Funktion, die nach wie vor von der Öffentlichkeit akzeptiert wird, mit tiefen Theorien. Sowohl Kritik als auch der Aufweis von Gesetzen ist Individuen zu danken, die historischen Welten angehören und sich daher an gewöhnlichen Sprachen, impliziten oder expliziten tiefen Theorien und Skalen der Erwünschtheit orientieren. Über diese kann mit den heute zugelassenen Wahrheitskriterien in der Regel nicht direkt oder indirekt entschieden werden, so daß an ihnen orientierte Handlungen (einschließlich sogenannter Philosophiehandlungen) gewisse Rechtfertigungsprobleme stellen. Kritik, die sich dagegen richtet, daß eine Philosophie überhaupt an einer bestimmten gewöhnlichen Sprache, bestimmten tiefen Theorien und bestimmten Skalen der Erwünschtheit orientiert ist, geht im Prinzip von vergleichbaren Startbedingungen aus und ist insofern kritisierbar. Beim Kritisieren bezieht sie sich auf eine Position, von welcher aus sie kritisieren kann, identifiziert sich mit einem tiefen Theoriegefüge, um sich von einem anderen tiefen Theoriegefuge abzusetzen. Ähnlich wie philoso-

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phische Leistungen der Kritik sind auch philosophische Stabilisierungsleistungen aus den genannten Gründen prinzipiell kritisierbar. Daß Philosophie und Metaphysik nicht voneinander zu trennen sind, versteht sich bei den sogenannten Weltanschauungsphilosophien von selbst. Man kann es an Vitalismen und Existentialismen zeigen; früher war es bei einigen neoscholastischen Systemen und heute ist es bei einigen neomarxistischen Philosophien sehr leicht zu sehen. Doch wird es auch deutlich bei Autoren wie Malebranche, Leibniz oder Berkeley - nicht weniger als bei anderen wie Bayle, Voltaire oder Bilfinger. Bei allen Philosophien, denen ich bislang begegnet bin, ist etwas Vergleichbares zu beobachten. Das gilt auch für Philosophien mit expliziter Metaphysikdistanz. Die Philosophie David Humes wirkt mehr oder weniger unplausibel, wenn nicht im Hintergrund einer weise sorgenden Natur auf irgend eine nicht anthropomorphe Weise das Überleben der menschlichen Art am Herzen liegt. Die Philosophie John Lockes leuchtet völlig ein, sobald man eine Weltordnung unterstellt, in der jeder von Gott gerade das bekommt, was er braucht, um sich selbst auf anständige Weise weiterzuhelfen. Sogar zur kantischen Philosophie gehören eindrucksvolle tiefe Theorien, zum Beispiel über Würde und Aufgaben der menschlichen Vernunft. Abgesehen davon liegt es auf der Hand, daß niemand die Möglichkeit hat, sich von metaphysischen Positionen freizuhalten. Wenn Marxismus eine metaphysische Position ist, dann ist auch Antimarxismus eine metaphysische Position, wenn Determinismus, dann Indeterminismus, wenn Theismus, dann Atheismus. Selbst der Agnostizist, der das Bestehen auf weltanschaulichen Entscheidungen dieser Art für verblendet hält, rekurriert auf tiefe Theorien über die menschliche Vernunft. Die Überzeugungen, daß man autonom zu sein hat und daß man einen gesellschaftlich realisierbaren Anspruch auf Freiheit, Glück und Selbstverwirklichung besitzt, setzen tiefe Theorien über den Menschen und seine Geschichte voraus, und zwar rezente. Ich verweise im übrigen der Kürze halber auf § 38 von Hegels Berliner Enzyklopädie. Wir begegnen in den angeführten Fällen tiefen Theorien, die theoretisch nicht entscheidbar, aber für die Aussagen und das Verfahren von Philosophien maßgeblich sind. Berücksichtigt man ihre Häufigkeit und ihre Wichtigkeit, so ist es schwer zu verstehen, daß es bis heute keine philosophische Disziplin gibt, die sie behandelt und deren Kategorien und Verfahren zugleich in Hinsicht auf Praktikabilität und allgemeine Akzeptierbarkeit etwa mit denen der heutigen Wissenschaftstheorie zu vergleichen wären.

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Jede Philosophie stößt auf tiefe Theorien, sobald sie über sich selbst reflektiert. Sie stößt auf tiefe Theorien, wenn sie zu verstehen sucht, was andere Philosophien tun, oder wenn sie beobachtet, was Wissenschaften für selbstverständlich nehmen bzw. was Individuen oder Gruppen für selbstverständlich nehmen. Sie begegnet also einer Region von Phänomenen, die bloß in theoretisch nicht entscheidbaren Aussagen bestehen oder in sie übersetzt werden können, die aber nichtsdestoweniger für die Meinungen und Entscheidungen von Individuen und Gruppen maßgeblich sind. Daher liegt es nahe, solche Phänomene zu beobachten, zu klassifizieren und ihre Konsequenzen festzuhalten. Indem man das tut, konstruiert oder rekonstruiert man Metaphysiken. Im Rahmen der Selbstreflexion von Philosophien und im Rahmen der Kritik an konkurrierenden Philosophien sowie an den Naturwüchsigen" Vorgaben vergleichbarer Systeme geschieht etwas, das von der als problematisch empfundenen traditionellen Metaphysik-Funktion der Philosophie kaum zu unterscheiden ist: man ermittelt explizite oder „naturwüchsige" Vorgaben, bringt sie, ihre Modifikationen und Konsequenzen in einen Plausibilitätszusammenhang und identifiziert sich mit ihnen oder tritt unter Berufung auf andere Plausibilitäten zu ihnen in Distanz. Tiefe Theorien sind aber nicht nur für Philosophien, sondern auch für die Realität von Belang, denn sie spielen bei der Prägung der Realität und der Attitüden zu ihr eine Rolle. Beispielsweise ist das Axiom ,JPerfectum prius imperfecto", das zu den wichtigsten Sätzen noch frühneuzeitlicher Philosophien gehört, nicht nur der unmittelbare Anlaß für die Formulierung zentraler philosophischer Theoreme wie ,,Accidens non est principium substantiae" oder ,,Accidens non praecedit substantiam nisi in genere causae materialis"; vielmehr gehört dieses Axiom zu den Gründen dafür, daß der Entwicklungsgedanke in den Wissenschaften, die in seinem Bereich existierten, a limine absurd erscheinen mußte, daß es dort mit Utopien seine Schwierigkeiten hatte und daß der Progreßgedanke nur in höchst spezialisierter Form rezipierbar war. Entsprechend ist die Durchsetzung des Grundsatzes ,,Imperfectum prius perfecto", der genau so wenig zu beweisen ist wie sein Gegenteil, eine nicht nur für Philosophien sehr folgenreiche Veränderung im Bereich der tiefen Theorien, die sich im wesentlichen im achtzehnten Jahrhundert vollzogen hat. Auch die Entstehung der neuen Wissenschaft, ein immer noch ungeklärtes Phänomen, hängt unter anderem mit einer Veränderung der Problemstel-

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Jungen zusammen, die sich am Bereich der tiefen Theorien orientierte. Es kam punktuell zu Veränderungen der Attitüde gegen Armut, Mühsal und Krankheit, die nicht mehr als völlig normale Items eines Tests verstanden wurden, der gegebenenfalls den Zugang zum ewigen Glück eröffnet. Sie erschienen nunmehr als vermeidbare und bedauerliche Verhinderungen des Glückes selbst, die mit Hilfe einer zu entwickelnden neuen Mechanik und Medizin beseitigt werden sollten. In Kreisen, die dieser Ansicht waren, lautete bezeichnenderweise die Begründung für die Abkehr von der Schulwissenschaft, mit der man so lange zufrieden gewesen war: „Philosophia peripatetica est inutilis". Dieses Motiv spielt mit Sicherheit nicht bei allen an der Umwälzung Beteiligten eine Rolle. Es hat jedoch bei wichtigen Autoren einen hohen Stellenwert, und selbst seine Depravationen sind charakteristisch. III

Die Philosophie hat gegenüber tiefen Theorien eine Anzahl von Verhaltensweisen entwickelt, von denen ich an einige erinnere. Man kann sich bekanntlich auf den Standpunkt stellen, daß beim Betreiben von Philosophie nicht mehr expliziert werden soll, als unmittelbar erforderlich ist — eine Analogie zum causa-proxima-Verfahren, bei der sich der Rückgriff auf tiefe Theorien erübrigt. Ein solches Verfahren ist in bestimmten Situationen sehr nützlich, solange nicht durch eine etwas unfeine Verwendung von ,,nonsense" der Eindruck erweckt wird, daß tiefe Theorien unsinnig sind. Ich kann mich aber zu seiner Übernahme nicht entschließen, weil ich vermute, daß es den Bereich des in der Philosophie Behandelbaren zu stark einengt; daß es auf lange Sicht Sinngebungsvakuen entstehen läßt, in die faute de mieux völlig unkontrollierte Irrationalismen einströmen (womit es etwas erreicht, das bedenklicher ist als alles, was es vermeiden wollte); und daß es drittens den Blick für den funktionalen Zusammenhang von Problemen und Methoden mit metaphysischen Vorgegebenheiten abstumpft. Außerdem wurde häufiger das Verfahren empfohlen, sich von tiefen Theorien, die man etwa teilt, dadurch frei zu machen, daß man ihren Vorurteilscharakter erkennt. Was es aber bedeuten kann, daß Selbstreflexion hier eine Art von Befreiung vermittelt, wäre erst zu prüfen. Die Einsicht in die Kontingenz metaphysischer Vorgaben führt in der Regel nicht in der Weise zu einer Befreiung von ihnen, daß sie sie verfügbar macht. Mit jeder Vorgabe müßte ein gewachsener Köm-

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plex gleichsam schon institutionalisierter sozialer wie individueller Gewohnheiten und Tendenzen aufgegeben werden, der weder praktisch entbehrt noch beliebig schnell durch einen gleichvermögenden ersetzt werden kann. Hinzu kommt, daß ausrangierte kontingente Vorgaben nur durch andere kontingente Vorgaben ersetzt werden können. Es mag zwar Gründe geben, sich einer solchen Mühe zu unterziehen, nur lohnt sie kaum um ihrer selber willen. Das gebräuchlichste Verfahren von Interessenten, in durch diese Einsicht entstandenen Indifferenzlagen nachzufassen, ist nach wie vor die Umdeklarierung kontingenter Alternatiworgaben in solche, die von Gott, der Natur, der Geschichte oder von etwas anderem (zur Zeit vor allem: von der Vernunft) gefordert sind. - In Wirklichkeit kann die Einsicht in die Kontingenz von Vorgaben zunächst nur zur Einsicht in ihre prinzipielle Verfügbarkeit führen, die von tatsächlicher Verfügung zu unterscheiden ist. Denn die prinzipielle Verfügbarkeit ist nur für denjenigen Fall von praktischem Belang, in dem es geraten oder erforderlich ist, sich von bestimmten Vorgaben zu trennen. Trotz aller Einsicht in die prinzipielle Verfügbarkeit von Vorgaben kommt es im Normalfall (auch im philosophischen) nicht zu Distanzierung, sondern zu Identifizierung. Selbst wer das Haus, das er bewohnt, kritikwürdig findet, stellt nicht schon deshalb seine Möbel auf die Straße. Einigen Folgen der prinzipiellen Verfügbarkeit theoretischer Vorgaben begegnet das von der Erlanger Schule vorgeschlagene Verfahren, sich auf alle zuzulassenden Aprioris im Diskurs zu einigen und sie dadurch bis auf Widerruf fest zu machen. Hier werden kontingente Prämissen als solche explizit gemacht, auch werden keine nichtargumentativen Konsense erstrebt. Für die am Diskurs Beteiligten werden Rechtfertigungsprobleme, die mit der Lebensweltverwurzelung der Philosophie oder mit dem sogenannten Reflexionscharakter der Philosophie zusammenhängen, durch gemeinsame freie Entscheidung gelöst. Ungelöst bleiben sie lediglich für die am Diskurs nicht Beteiligten. Allerdings ist mir die Ausdehnung dieses Verfahrens von der theoretischen auch auf die praktische Philosophie nicht ganz plausibel. Zunächst ist man durch den Grundsatz, man habe nicht willkürlich, sondern vernünftig begründet zu handeln, trotz aller formalen Absicherungen stets in der Gefahr, den Diskurs an ein nichtformales Kriterium zu verweisen. Zweitens erkenne ich keinerlei Zweckmäßigkeit darin, die Forderung nach einem grundsätzlich als Diskurs aller mit allen ausgelegten Diskurse so, wie es geschieht, auch auf die gesell-

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schaftliche Gesamtpraxis und auf den politischen Willen zu beziehen. Das Funktionieren des hierorts akzeptierten politischen Systems hängt überhaupt nicht von Konsensen über Praxisrechtfertigung ab, es ist im Gegenteil so konstruiert, daß es gerade im Normalfall, das heißt beim Vorhandensein von Begründungs- und Zielkonflikten, funktionsfähig bleibt. „Gemeinsamer Wille" darf hier — im Gegensatz zu den weltpolitisch konkurrierenden Konsenssystemen — gerade nicht als Wille aller, sofern sie in Begründungs- und Zielkonsens getreten sind, verstanden werden. Deswegen ist nicht einzusehen, wieso das prinzipielle Erstreben eines allgemeinen gesellschaftlichen Begründungs- und Zielkonsenses für uns von irgendwelchem Nutzen ist. Das eindrucksvollste Paradigma bietet das etwa zu derselben Zeit wie die liberalen Systeme erfundene Parallelogramm der Kräfte: die Richtung der Resultante gibt keine Information über die Richtung einer bestimmten sie mitverursachenden Einzelkraft. Daß es bei politischen Entscheidungen in liberalen Konfliktsystemen auf einen vernünftig gerechtfertigten allgemeinen Begründungs- und Zielkonsens überhaupt nicht ankommt, mag zwar, für sich gesehen, enttäuschend wirken, erweist sich aber bei Betrachtung der Alternativen als tief befriedigend. Denn da Rechtfertigungskonsense in Großgesellschaften in der Regel am schwersten durch vernünftige Argumentation und am leichtesten durch Druck oder Emotionalisierung erreicht werden können, begibt man sich verständigerweise nicht in die Verlegenheit, auf sie angewiesen zu sein. Keine der möglichen Entscheidungen in dieser Frage wird etwas daran ändern, daß die Beschäftigung mit tiefen Theorien zu den normalen Funktionen der Philosophie gehört. Die Philosophie ist eine Veranstaltung, die unter allen Umständen selbst mit tiefen Theorien zu operieren hat und die zugleich als Disziplin für tiefe Theorien und damit für Metaphysik zuständig ist. Obgleich man über Philosophie auch andere und wichtige Bemerkungen machen kann und soll, werde ich jetzt allein von dieser Einzelheit sprechen und unterstellen, daß es sich empfiehlt, in stärkerem Maß und mit veränderter Attitüde ein Phänomen ins Auge zu fassen, mit dem man beim Betreiben von Philosophie wohl oder übel zu schaffen hat; und für den Umgang mit ihm ein geordnetes und allgemein akzeptiertes Verfahren zu entwickeln oder zu rekonstruieren. Man kann sich nicht zu ihm verhalten wie zu der Leiche im häuslichen Keller. Tiefe Theorien sind für uns in vieler Hinsicht das erste, und wir werden sie als solches akzeptieren müssen,

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wenn wir verstehen wollen, was wir tun. Es gibt für Philosophien keine Parthenogenese; in ihnen vermischt sich reine Vernunft nicht mit sich selbst, sondern mit etwas anderem. IV

Eins der Probleme, die auch beim unbefangenen Umgang mit nichttautologischen tiefen Theorien alsbald als störend in Erscheinung treten, ist die im Zusammenhang mit der Durchsetzung des Empiriekriteriums entstandene Schwierigkeit, über sie zu entscheiden. Es gibt keine Wissenschaftsempirie, die bei Sätzen wie „Das Unvollkommene ist vor dem Vollkommenen", „Der Mensch ist eine Bestie" oder „Alles neigt zum Guten" eine Wahrheitsentscheidung erlaubt. Es dürfte auch untunlich sein, dieser Schwierigkeit dadurch zu begegnen, daß man das Empiriekriterium wieder abgeschafft. Dann müßte man zum methodologischen Stand des siebzehnten Jahrhunderts zurückkehren, sich also zu einem mörderischen Schritt entschließen. Auf der anderen Seite fällt es schwer zu glauben, daß rationales Verhalten allein im Bereich des Entscheidbaren möglich ist. Dann wäre im Bereich des Unentscheidbaren nur irrationales Verhalten möglich, eine Konsequenz, für die erstaunlich wenig spricht. Ich bin der Meinung, daß die Lösung dieser Schwierigkeiten schon in der Philosophie der Aufklärung vorgezeichnet ist. Sie unterscheidet nicht zwischen entscheidbaren Aussagen und unsinnigen Aussagen, sondern zwischen 1. entscheidbaren, 2. vertretbaren und 3. nicht vertretbaren Aussagen. Entsprechend heißen die klassischen Traktate zur Erkenntnistheorie (Essay IV und Treatise I 3) nicht „Of Knowledge", sondern „Of Knowledge and Probability". Sie enthalten außer einer Theorie der entscheidbaren Aussagen auch eine Theorie für Aussagen, die nicht entscheidbar, aber vertretbar sind (Essay IV 16: „Of the degrees of assent", Treatise I 3, 11/12: probability of chances" und ,,Probalility of causes", beides unter dem Sammelnamen „Philosophical Probability"). Auch wer nicht risikofreudig ist, wird zu behaupten wagen, daß seitdem die philosophische Assenslehre nahezu verwahrlost ist, und zwar nicht nur zum Nachteil der Philosophie, die es weithin mit unentscheidbaren Aussagen zu tun hat. Gelegentliche ideologische Hilflosigkeiten im Bereich der Fachphilosophie könnten damit zusammenhängen, daß diese zwar im Zusammenhang mit Ausdrücken wie „p · p v q = p" fundierte Aussagen zu machen weiß, es aber nicht gelernt hat, sich zu Ausdrücken wie

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„Semper imperfectum est propter perfectum" etwas Nichtprivates einfallen lassen. Wenn über die Vertretbarkeit von tiefen Theorien etwas auszumachen ist und wenn es Möglichkeiten gibt, sich ihnen gegenüber auf eine rationale und allgemein vertretbare Weise zu verhalten, dann ist deren Realisierung am ehesten durch eine von der Philosophie noch oder wieder zu erarbeitende Assensgrammatik zu erwarten. Daß über tiefe Theorien nicht empirisch entschieden werden kann, bedarf keiner Frage. Daß man mit etwa siebzig Jahren weiß, ob die eigenen tiefen Theorien vertretbar waren, ist einigermaßen wahrscheinlich. Zur Frage steht, ob man sie nicht (zumindest teilweise) in allgemein kommunikabler Form auch vorher schon als vertretbar oder als nicht vertretbar erweisen kann. Durch ,4n allgemein kommunikabler Form" soll ausgeschlossen werden, daß eine tiefe Theorie aufgrund spezifischer Argumente einer anderen tiefen Theorie als widerlegt gilt. Ein Maoist kann einen Stalinisten und ein Stalinist einen Maoisten intern widerlegen, ohne daß die Öffentlichkeit oder auch der Betroffene selbst davon beeindruckt ist. Nur für so begrenzte Auditorien plausible Gründe sind hier nicht von Interesse, es geht um einen allgemeineren Konsens. Ich nehme an, daß allgemeinere Konsense über einander widerstreitende tiefe Theorien am ehesten aufgrund solcher Sachverhalte Zustandekommen können, die in den jeweiligen Lagern gleichermaßen unumstritten sind. Die Überprüfung der Vertretbarkeit von tiefen Theorien könnte somit auf eine Gruppe trivialer Assenskriterien zurückgreifen, die die Realisierbarkeit, Erforderlichkeit und Wünschbarkeit der Konsequenzen tiefer Theorien betreffen. Bestehen gegen deren Realisierbarkeit mit den gegebenen Mitteln beiderseits begründbare Bedenken, so spricht dies allgemein gegen die Assenswürdigkeit der tiefen Theorie. Werden keine hinreichenden Gründe dafür erbracht, daß erstens die von der entsprechenden tiefen Theorie nicht geprägten Verhältnisse unakzeptabel sind und daß zweitens die Konsequenzen der tiefen Theorie zu akzeptableren Verhältnissen führen, so hat man ein weiteres Argument der gesuchten Art. Ist drittens erkennbar, daß eine für sich akzeptable tiefe Theorie zu Folgen oder Nebenfolgen führt, die allgemein nicht gewünscht werden können, so ist sie schon im voraus als nicht vertretbar erwiesen. Allerdings steht es außer Frage, daß solche kostennutzenartigen Gesichtspunkte, die stets von größerem Nutzen sind als gegenseitige ideologische Beteuerungen, nur in denjenigen Fällen hinreichend nützlich

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sind, in denen Konsens darüber besteht, ob etwas als Aufwand oder als Ertrag zu gelten hat. Dieser Konsens ist aber nicht selbstverständlich. Gegebenenfalls muß man also versuchen, in einem zweiten Prüfgang zu Ergebnissen zu kommen. Dieser könnte auf eine weitere Klasse von Trivialitäten zurückgreifen, die man unter dem Stichwort „conditio humana" zusammenzufassen pflegt. Dabei ist an die hohe Konsensfähigkeit von sprichwortähnlichen Sätzen zu denken, wie sie bei der Formulierung tiefer Theorien in Erscheinung treten. Allaussagen über den Menschen sind nicht empirisch entscheidbar, doch werden aus vielen Generationen übereinstimmende Ansichten zu diesem Thema überliefert — Pascals „epreuve si longue, si continuelle et si uniforme" (Br. 425). Die erste dieser Trivialitäten behauptet die Begrenztheit des menschlichen Wissens: wir pflegen uns zu irren, und wir durchschauen weder sehr komplexe Systeme noch gar die Geschichte. Die zweite behauptet die Begrenztheit des menschlichen Erfolges: wir sind bei allen Unternehmungen des Scheiterns fähig und kontrollieren ihre Konsequenzen nur bedingt, und zwar um so weniger, je komplexer ein Wirkungszusammenhang ist. Auch gibt es in der Regel einen Sachzwang derart, daß etwas, das A gegeben wird, zuvor B abgenommen werden muß, oder daß B nur gewinnen kann, wenn A verliert - zwar nicht mehr in krasser Form bei der Güterverteilung, aber nach wie vor beispielsweise bei der Liebe. Die dritte Trivialität betrifft die Begrenztheit des menschlichen Glücks. Daraus, daß die genannten Trivialitäten sehr breiten Konsens genießen, kann man auf allgemeine Akzeptierung folgender Phänomene als anthropologischer Konstanten rechnen: relative Unwissenheit, relative Ohnmacht und prinzipielle Anfälligkeit für Schmerz. Diese Konstanten können sodann als Kriterien bei einer zweiten Stufe der Entscheidung über tiefe Theorien fungieren. Tiefe Theorien, zu deren Voraussetzungen die Nichtakzeptierung anthropologischer Konstanten in dem genannten Trivialsinn gehört, mögen zwar erhebend sein, verdienen aber kein Vertrauen, weil an ihnen orientierte Programme keine Realisie rungschancen haben und weil das Scheitern entsprechender Versuche zum Anlaß von Gruppenbeschuldigung und Terror werden kann. Bislang spricht nichts dafür, daß der Mensch definitiv verbesserbar ist und daß es für ihn Endlösungen, Reiche Gottes auf Erden oder letzte Gefechte gibt, die zu etwas anderem führen als zu der Vernichtung seiner Art. Ein Prüfverfahren der genannten Art hat zunächst die Eigentümlichkeit, daß in ihm Kriterien auf tiefe Theorien angewendet werden,

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die ihrerseits aus tiefen Theorien gewonnen sind. Der einschlägige Unterschied zwischen kriteriengebenden und kriteriennehmenden Theorien liegt darin, daß lediglich über die ersteren ein allgemeiner Konsens besteht. Ein solches ziemlich untechnisches Verfahren unterscheidet sich prinzipiell (und auch wohl nicht allein zu seinem Vorteil) beispielsweise von transzendentalphilosophischen. Doch hat es den Vorzug, daß bei ihm die Chance der Erzielung von Konsensen in einem überschaubaren Zeitraum etwas größer ist. Es hat ferner die Eigentümlichkeit, mehr ein Verfahren zur Assensverweigerung als zur Begründung von Assens zu sein; und es erlaubt daher lediglich eine Negativselektion, die solche tiefe Theorien übrig läßt, von denen nicht inzwischen erwiesen ist, daß sie unvertretbar sind. Dadurch grenzt es gewissermaßen koexistenzfähige Metaphysiken von nicht koexistenzfähigen ab, ohne darüber hinaus über die größere Wahrheitsnähe der einen oder der anderen etwas auszumachen. Ob es außerdem unter den gegebenen Verhältnissen auch positive Kriterien, die zugleich allgemein akzeptierbar sind, für die Herstellung einer Rangordnung und für die weitere Selektion unter koexistenzfähigen Metaphysiken gibt, ist eine Frage von großer philosophischer und praktischer Bedeutung. Daß eine Richtung intern-stringente Beweise ihrer Überlegenheit über alle anderen erarbeiten kann, ist bekannt. Daß diese Beweise wahr und richtig sind, kann ihren Vertretern gewiß sein. Auch können Außenstehende es in der Regel zumindest im Prinzip nicht ausschließen, daß solche Beweise tatsächlich wahr und richtig sind. Das Problem liegt darin, den Außenstehenden diese Wahrheit und Richtigkeit zwingend nachzuweisen. Ich sehe gute Gründe für die Annahme, daß man stattdessen auch in Zukunft auf bloß persuasive Verfahren angewiesen bleiben und sich im übrigen mit der Erarbeitung formaler Regeln der Koexistenz begnügen muß. Die Tatsache, daß es bislang so war, hat die Gestaltung der in Europa seit der Neuzeit mehr oder weniger eingeführten gesellschaftlichen und politischen Verfahren maßgeblich beeinflußt und kann daher am ehesten abstrakt bedauert werden.

Die lange Nichtbefassung mit tiefen Theorien aufgrund ihrer Unentscheidbarkeit hat zur Verbreitung der Überzeugung geführt, daß tiefe Theorien belanglos sind. Eins der eindrucksvollsten Argumente gegen

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diese Überzeugung ist der Hinweis auf die politische Rolle, die im Hegelschen System der Weltgeist spielt.5 Die genannte Überzeugung hat ihrerseits Interessenten zu der Meinung veranlaßt, daß man den Inhalt tiefer Theorien ohne Folgen mit Hilfe von Aufklärung oder Agitation beliebig modifizieren kann. Ich halte diese Meinung für gefährlich und begründe das mit einem Beispiel. Das vielerorts als sperrig empfundene Faktum der Nichtveränderung der Produktionsverhältnisse im Kapitalismus trotz hoher Entwicklung der Produktivkräfte veranlaßte einige Neomarxisten dazu, die tiefe Theorie von der gesetzmäßigen Verknüpfung der Produktivkraftentwicklung mit der Produktionsverhältnisentwicklung, die objektive Indikatoren für die Angemessenheit einer revolutionären Praxis gibt, aus dem Katechismus zu streichen. Dies mochte prima facie die Plausibilität des Systems erhöhen, es war jedoch nicht ohne Folgen. Nach der klassischen Lehre ist zwar primär das Proletariat der Agent der wahren Sache, zugleich ist aber die Existenz des Kapitalismus eine historische Notwendigkeit, denn er treibt den Stand der Produktivkräfte auf die erforderliche Höhe. Insofern wird hier mindestens mittelbar auch der Kapitalismus zum Agenten der wahren Sache. Die klassische Lehre verfügt also über metaphysische Sicherungen gegen eine mehr als pragmatische Kriminalisierung des Klassenfeindes. Der genannte Neomarxismus kommt dagegen, nachdem er auf die objektive Ätiologje der marxistischen Überlieferung verzichtet hat, zu einer Erklärung des Kapitalismusphänomens mit allgemein verbrecherischen Neigungen oder allenfalls mit Sadomasochismus. Die Aufgabe einer klassischen tiefen Theorie setzt also metaphysisches Grünlicht zur Kriminalisierung eines Klassenfeindes, demgegenüber nun Bestrafung oder bestenfalls ein Bestrafungssurrogat in Gestalt von Gruppentherapie als angemessene Maßnahme erscheint. Daß man mit der willkürlichen Verfügung über tiefe Theorien ohne Wimpernzucken fundamentale praktische Entscheidungen präjudiziert, in deren Konsequenzen man eines Tages selbst hineingezogen wird, kann nur mit einer allgemeinen Ahnungslosigkeit über die Rolle tiefer Theorien zusammenhängen, die nicht zuletzt auf eine lange Nichtbefassung mit tiefen Theorien zurückzuführen ist. Andererseits können Autoren, die tiefen Theorien ihre Aufmerksamkeit schenkten, auf dem Weg über eine Interpretation des Verhältnisses von Theorie und Praxis zu Mißverständnissen darüber kommen, 5

Dazu H. Lübbe: Theorie und Entscheidung, Freiburg 1971, S. 121ff.

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was Philosophie durch Reflexion für die Praxis erreichen kann. Im Gegensatz zu der erwähnten Interpretation entspricht der Einigung zwischen Kontrahenten über die Assensunwürdigkeit einer politisch relevanten tiefen Theorie im Hinblick auf ihre Konsequenzen fast niemals unmittelbar eine politische Veränderung, sondern lediglich die Vorklärung eines Teilaspektes der Frage nach der Angemessenheit dieser Veränderung. Denn sobald tiefe Theorien sozial vermittelt sind, haben sie nicht mehr nur das Gewicht theoretischer Sätze, sondern werden zu Faktoren institutioneller Selbstbehauptung, für die noch andere Regeln gelten als Regeln theoretischer Argumentation. Untersucht man beispielsweise Fälle, in denen eine Institution über theoretisch nicht entscheidbare umstrittene Sachverhalte entschieden und ihre Entscheidung repressiv behauptet hat, so kann man die Beobachtung machen, daß dieses Verhalten nicht beliebig war, sondern unter Situationsdruck beschlossen und aufrecht erhalten wurde — meistens wohl infolge unangemessener taktischer Vorentscheidungen. In solchen Fällen stößt man auf Effizienzgrenzen des Konsenses in herrschaftsfreien Diskursen, denn ob eine Institution ihr Verhalten ändern kann, hängt nicht allein und wohl auch nicht primär von solchen Konsensen, sondern von ganz anderen Dingen ab, zum Beispiel von der Antwort auf die Frage, ob die Machtlage nunmehr eine Korrektur gestattet oder erzwingt und ob die Sache durch Entstehung neuer Kontexte inzwischen an Brisanz verloren hat. Es empfiehlt sich unter anderem deshalb, die in Deutschland schon im neunzehnten Jahrhundert kompromittierte Hoffnung zu vergessen, man könne Politik durch Philosophie oder Aufklärung ersetzen. Daraus ergibt sich kein Argument für die gesellschaftliche Belanglosigkeit der Beschäftigung mit tiefen Theorien. Denn aus der Feststellung, daß ein Sachverhalt besonders komplex ist, folgt gerade nicht, daß man seine Details vernachlässigen darf. Daß die Entlarvung der Assensunwürdigkeit einer tiefen Theorie etwas völlig anderes ist als die Veränderung mit ihr zusammenhängender gesellschaftlicher Zustände, ist eine Tatsache von großer Bedeutung. Man wird jedoch noch weiter gehen und sagen müssen, daß die Aufklärung der Abhängigkeit beispielsweise einer rechtlichen Regelung von einer tiefen Theorie, die nicht mehr allgemein akzeptiert ist, im Gegensatz zu verbreiteten Ansichten allein kein Argument dafür erbringt, daß diese rechtliche Regelung beseitigt oder verändert werden sollte. Die Erfahrung zeigt, daß die Entdeckung eines solchen

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nachträglichen Begründungsdefizits allein noch keine Verbesserung gegenüber bestehenden Situationen garantiert. Man kann das an diversen Reformversuchen im Zusammenhang mit § 218 des Strafgesetzbuches zeigen. Man kann aber auch an eine Entwicklung im Zusammenhang mit § 1626 BGB erinnern. Weil die elterliche Gewalt des Vaters bei der Erziehung der Kinder mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung nicht zu vereinbaren war, konstruierte man eine gemeinsame elterliche Gewalt mit Stich entscheid des Vaters im Nichteinigungsfalle. Das Bundesverfassungsgericht erkannte Ende der fünfziger Jahre, daß auch diese Regelung mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung nicht zu vereinbaren ist. Seither besteht die Regelung, daß im Nichteinigungsfalle anstelle der Eltern das Vormundschaftsgericht zu entscheiden hat. Man könnte sich jedoch die Frage stellen, ob abgesehen von der Frage der Gleichberechtigung, die in diesem Falle zur Gleichnichtberechtigung geworden ist, die Situation der Ehefrau tatsächlich angenehmer ist, wenn statt des Ehemannes der Vormundschaftsrichter oder gar die Vormundschaftsrichterin gegen sie entscheiden darf. Dieses Beispiel legt wie manche andere die Vermutung nahe, daß die Meinung, Aufgeklärtheit über die Begründungsrolle bestimmter tiefer Theorien ersetze institutionellen Sachverstand und institutionelle Vernünftigkeit, ein Irrtum ist. Dieser Irrtum hängt wahrscheinlich mit einem öffentlich gewordenen Reflexionsverständnis zusammen, welches den Freiheitsbegriff so abstrakt gemacht hat, daß es zwischen innerlicher Befreiung durch die Entlarvung verinnerlichter tiefer Theorien einerseits und politischer Befreiung andererseits nicht mehr unterscheiden kann, und das sich dadurch des Anlasses beraubt hat, über die institutionelle Vermittlung von Freiheit nachzudenken. Das Durchschauen der Rolle bestimmter Gefüge von tiefen Theorien, die ich als „Metaphysik" bezeichne, ist nicht in erster Linie und unter allen Umständen sozialrelevant und muß weder zu einer Verbesserung noch überhaupt zu einer Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse führen. Es gibt uns zunächst nur Aufschluß über das Denken von Menschen und macht uns klar, was es bedeutet, eine endliche Intelligenz zu sein. Das ist nicht wenig, solange der Mensch sich für ein Wesen hält, das über sich Bescheid zu wissen hat. Die Beschäftigung mit tiefen Theorien zeigt sodann, daß ein großer Anteil menschlicher Überzeugungen und Entscheidungen an Metaphysiken hängt. Das ist allerdings nicht ohne praktische Bedeutung. Man verstellt gemeinhin einen Hebel mit größerer Vorsicht, wenn man weiß, daß viel Gewicht

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an ihm hängt. Genaueres ist bis auf weiteres nur in wenigen Fällen zu sagen. Metaphysik und Praxis stehen in enger Beziehung, doch sind die Übersetzungen sehr kompliziert, die Wirkungen beinahe äquivok. Wir wissen, daß tiefe Theorien eine Anzahl beträchtlicher Wirkungen haben, vermögen aber meistens nicht vorauszusagen, welche, und sind deshalb in einer ähnlichen Situation wie David Humes Erforscher der Natur, dem Ursachen begegneten, „which have been found more irregular and uncertain; nor has rhubarb always proved a purge, or opium a soporific to every one, who has taken these medicines" (Enquiry I 6, 47). Es zeichnen sich für unsere medicina mentis vielleicht bei längerer Beobachtung von tiefen Theorien gewisse Regelmäßigkeiten und Detailzusammenhänge ab. Ob wir jedoch in diesem Punkt jemals zu einer solchen Stufe der Klarheit kommen wie inzwischen die Erforscher von Rhabarber und Opium, ist ungewiß. Ich fasse zum Schluß meine Meinungen zusammen. 1. Philosophische Positionen, gleichgültig, ob man sie zu Zwecken der Kritik, der Stabilisierung oder der Sinngebung bezieht, operieren mit tiefen Theorien. 2. Daher hat sich die Philosophie, wenn sie kritisch sein will, nach wie vor mit tiefen Theorien zu beschäftigen. Insofern ist die problematisierte Metaphysik-Funktion der Philosophie so aktuell wie früher auch. 3. Man kann sich mit tiefen Theorien nicht nur im Wege der Distanzierung beschäftigen. Distanzierung von einer Position setzt Identifizierung mit einer anderen Position voraus. Zur Wahl steht lediglich, ob diese Identifizierung bewußt gemacht wird oder nicht. 4. Die Beschäftigung mit tiefen Theorien ist dadurch erschwert, daß der Katalog der Kriterien für die Vertretbarkeit nicht entscheidbarer Theorien seit einigen Generationen nicht fortgeschrieben wurde. Die Philosophie muß diesen Rückstand aufarbeiten und wieder eine Assenslehre entwickeln. Es genügt nicht, daß sie das Vorhandensein von tiefen Theorien registriert und hinnimmt. Sie muß darüber hinaus in öffentlich akzeptabler Weise über sie urteilen können. 5. Das Verhältnis zwischen tiefen Theorien und gesellschaftlicher Praxis ist nicht so unvermittelt, daß die Veränderung der tiefen Theorien eine Verbesserung der gesellschaftlichen Praxis zur Folge haben muß. Deshalb sind Bestrebungen, das öffentliche Gewicht der Philosophie durch ihre Ernennung zur unmittelbaren politi-

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sehen Instanz zu erhöhen, weder angemessen noch erfolgversprechend. 6. Tiefe Theorien sind für die Gestaltung der Philosophie wie der menschlichen Praxis so belangreich, daß die Philosophie als eine der für tiefe Theorien zuständigen Disziplinen mit jeder Arbeit zur Aufklärung des komplizierten Verhältnisses zwischen tiefen Theorien und menschlicher Praxis eine Sache betreibt, deren Nützlichkeit und Dringlichkeit erkennbar ist.

WALTHER CH. ZIMMERLI

Arbeitsteilige Philosophie? Gedanken zur Teil-Rehabilitierung der Popularphilosophie Es ist eine alte, aber nichtsdestoweniger zutreffende Binsenweisheit, daß nicht mit der Faust auf den Tisch schlagen kann, wer in allem seine Finger hat, und mit dieser Formel läßt sich, so meine ich, recht gut auch die Lage beschreiben, in der sich die Philosophie befindet - nicht erst heute, aber heute in besonderem Maße: Die Philosophie als universalistische Disziplin' beschäftigt sich seit eh mit allen Bereichen menschlicher Theorie und Praxis, aber auch, wie viele, sowohl Philosophen wie Nicht-Philosophen, meinen, mit allen Bereichen, die außerhalb des Tuns und Denkens der Menschen liegen. Und eben dies ist der Grund dafür, daß es der Philosophie schwerfällt, ,mit der Faust auf den Tisch zu schlagen', sprich: radikale Selbstbestimmungskonzepte zu entwickeln.1 Das gilt sowohl im diachronen Sinne wirkungsgeschichtlichen Immer-Schon-Bestimmt-Seins als auch im synchronen Querschnitt durch systematische Interdependenzen. Hiermit aber ist nun ein metaphilosophischer Bezugsrahmen in den Blick genommen, der meine folgenden Gedanken bestimmen wird und den es daher vorab zu explizieren gilt.2 Er besteht a) in der Unterstellung eines regulativen Begriffs des Ganzen geschichtlich-gesellschaftlicher Realität, technischer ausgedrückt: der ,synchron-diachronen Totalität', und 1

Vgl. dazu die unterschiedlichen Selbstbestimmungskonzepte der Philosophie, wie sie exemplarisch ausgefächert sind in H. HOLZHEY/W. CH. ZIMMERLI (Hg.): Esoterik und Exoterik der Philosophie. Beiträge zu Geschichte und Sinn philosophischer Selbstbestimmung (Basel/Stuttgart 1977). 2 Vgl. zu den Vorformen dieses Konzepts metaphilosophischer Art K. HÜBNER: Zur Frage des Relativismus und des Fortschritts in den Wissenschaften, in: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie V/2 (1975) 285ff.; zu meiner eigenen Umformulierung des Hübnerschen Modelles vgl. meinen Vortrag am XL Deutschen Kongreß für Philosophie 1975 in Göttingen: Ästhetik, Geisteswissenschaftstheorie und Forschungslogik. Thesen zu einer alternativen Wissenschaftsphilosophie, in: G. PATZIG/E. SCHEIBE/W. WIELAND (Hg.): Logik, Ethik, Theorie der Geisteswissenschaften (Hamburg 1977) 528ff., speziell 541.

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b) in der Annahme, diese synchron-diachrone Totalität sei als Bündel interdependenter, sich aber immanent mit je unterschiedlicher Geschwindigkeit und aufgrund nur teilweise identischer Regeln entwickelnder Systeme zu interpretieren. Aufgabe einer Gesamttheorie, die zwar vermutlich niemals ausformuliert werden kann, deren wesentliche Elemente sich aber hypothetisch gleichsam als regulativer Bezugsrahmen aller Theorien entwerfen lassen, wäre es mithin, Interdependenzregeln unterschiedlichen Allgemeinheitsgrades und unterschiedlicher Reichweite zu formulieren, die in der Lage wären, die in den einzelnen Systemen kontingent wirkenden Fremdbestimmungsgrößen als Folge diachron verschobener Querbeziehungen zu erklären. Mit dieser metaphilosophischen Grobskizze soll gesagt sein, daß, zumindest um ein Selbstbestimmungskonzept der Philosophie zu entwickeln, das Ganze der Realität, in welche Philosophie eingebettet ist, weder ignoriert noch naiv als eindimensional vorausgesetzt werden darf. Das Ganze, als dessen Element Philosophie sich auch selbst zu begreifen hat, muß vielmehr in einer Weise aufgefaßt werden, die Raum für die Wiedergabe der hochkomplexen Kausalitätsbeziehungen läßt.3 Man pflegt zwar bei Teilen der synchron-diachronen Totalität von Regelmäßigkeiten' und ,Mechanismen' zu sprechen, so vor allem in den sozialen und ökonomischen Bereichen. In historischen Zusammenhängen aber weigert man sich bekanntlich mit mehr Beharrlichkeit als Berechtigung, ähnliches zuzugeben.4 Hier spricht man dann von 3

Man kann hierbei an eine Art von zwingend notwendiger Totalisierung als Kennzeichen philosophischer und metaphüosophischer Reflexion denken, die aber nicht auf die Extension aller Elemente eines Ganzen geht - diese ist vermutlich in der Tat niemals zu erfassen -, sondern in regulativem Sinne intensional ist. Der Begriff ,Totalisierung' ist dabei in der Bedeutung zu nehmen, die ihm J.-P. SARTRE als einem methodischen Grundterminus von progressiv-regressivem dialektischem Verfahren und menschlichem Weltverhalten in Theorie und Praxis gegeben hat in: Kritik der dialektischen Vernunft. Theorie der gesellschaftlichen Praxis (1960, dt. Reinbek bei Hamburg 1967). 4 Jede Behauptung, es ,gebe' Gesetze in der Geschichtswissenschaft, oder es ,gebe' solche nicht, ist unüberprüfbar und daher sinnlos, wenn sie nicht die hier angebrachte Unterscheidung zwischen dem theoretischen und dem nichttheoretischen Teil der Geschichtswissenschaft macht. Daß im theoretischen Teil Gesetzesannahmen vom Explananstyp eines .covering law' (W. DRAY) enthalten sind, läßt sich nur im terminologiepuristischen »Streit um Worte' bezweifeln. Wie sich hingegen der nicht-theoretische Teil angemessen konzeptualisieren läßt, darüber gehen die Meinungen auseinander. VgL dazu neuestens H. LÜBBE: Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse. Analytik

Arbeitsteilige Phüosophie?

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,narrativer Erklärung'5, womit man nicht viel mehr meint, als daß individuelle historische Ereignisse eben nur als individuelle ,erzählt' werden können. Unter Voraussetzung des umrissenen Systemkonzeptes aber ließe sich zumindest die Möglichkeit denken, daß individuelle Geschehnisse zwar nicht aufgrund generalisierter Ereignisfolge-Regeln eines einzigen diachron sich entwickelnden Systemes, aber doch aufgrund systematisch erfaßbarer Interdependenzen verschiedener diachron sich entwickelnder Systeme ,nomologisch' erklärt werden könnten.6 Dies sei anhand eines bewußt nicht-philosophisch gewählten Beispieles etwas verdeutlicht: Im Herbst des Jahres 1976 waren es zwei ,Schaukämpfe', die das Fernsehpublikum, zumindest in der Bundesrepublik Deutschland, in ihren Bann schlugen, nämlich die abendfüllende Debatte der bundesdeutschen ,Großen Vier' und, gut 36 Stunden zuvor, der Kampf des ,Größten' im Boxsport, Muhammad Ali, gegen Ken Norton. Kurz nach diesem Kampf, den Muhammad ebenso knapp und umstritten gewann wie die sozialliberale Koalition die Bundestagswahl, gab der ,Größte' seinen — wie wir unterdessen wissen, nicht endgültigen — Rücktritt vom Profiboxsport bekannt. Dieses Ereignis, das ein anderthalb Jahrzehnte umfassendes Kapitel im internationalen Schwergewichtsboxsport beendet hätte, läßt sich zugegeben idealtypisch — als Ergebnis der Interrelation verschiedener sich diachron entwickelnder Systeme im Zusammenhang eines Systembündels deuten, das seinerseits wieder Element des Systembündels ,synchron-diachrone Totalität' ist. und Pragmatik der Historic (Basel/Stuttgart 1977), der die „Analyse der nicht-theoretischen Elemente der Historic" explizit als „die Absicht" dieses Buches deklariert (a.a.O. 25 ff.). Zum Streit um den .covering law'-Charakter historischer .Gesetze' vgl. die exzellente und präzise Diskussion der verschiedenen Positionen bei A. DONAGAN: Neue Überlegungen zur PopperHempel-Theorie (1966), dt. in H. M. BAUMGARTNER/J. RÜSEN (Hg.): Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik (Frankfurt a. M. 1976) 173ff. 5 Vgl. dazu den .Klassiker' der Narrativisten A. C. DANTO: Analytische Philosophie der Geschichte (1965, dt. Frankfurt a. M. 1974), aber auch z. B. M. WHITE: Foundations of Historical Knowledge (New York/Evanstone/ London 1965). 6 .Nomologisch' hieße dann allerdings nicht mehr: gemäß einem allgemeinen Gesetz von der logischen Form ,(x) (p(x) -»· q(x))', sondern: gemäß einer Strukturformel, die die intersystemare Relation zwischen den an dem Explanandum .beteiligten' Ereignisfolgeregeln des Allsatz-Typs regelt und die von den die Erklärung Fordernden - pragmatisch - ebenso als genügend erklärungsleistungsfähig akzeptiert wird wie von dem oder den Erklärenden.

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So können wir etwa einen bestimmten Schnitt durch das sich in Interdependenzen mit anderen Systemen entwickelnde System der philosophic' oder Ideologie des Profisports, speziell des Boxens, legen, der sich datieren läßt durch den Zeitpunkt der Rücktrittserklärung. Diese Profiboxideologie kann man bezüglich des uns interessierenden Zusammenhanges auf den Nenner bringen: Ein amtierender Weltmeister sollte nicht erst dann abtreten, wenn er geschlagen wird. Diese ,Regel' reicht aber noch nicht aus, um das Ereignis vollständig zu erklären, denn daraus ließe sich auch ableiten, daß ein amtierender Boxweltmeister sofort nach Gewinn des Titels abtreten sollte, weil er ja nicht sicher sein kann, daß er nicht schon bei seiner ersten Titelverteidigung geschlagen wird. Es müßte also noch in die Formulierung der Regel eingebaut werden,daß ein amtierender Boxweltmeister seinen Titel möglichst oft verteidigen, aber zurücktreten sollte, sobald er merkt, daß seine Kampfstärke ihm vermutlich eine weitere Verteidigung des Titels nicht erlaubt. Indem sich nach zum Teil eigenen Regeln entwickelnden System der Boxrealität nun aber war dieser Punkt nach dem Kampf Ali—Norton offenbar erreicht. Dies wiederum hängt unter anderem zum Beispiel von dem Schnitt ab, den man zum Zeitpunkt nach dem Kampf durch das System der psychischen Entwicklung Alis legen muß, welches seinerseits, wie ohne weiteres ersichtlich ist, von vielen anderen Faktoren im synchronen oder diachronen Sinne abhängig ist.7 Nun hätte aber, wie sich leicht absehen läßt, ein Ereignis wie der Rücktritt des Weltmeisters aller Klassen sicherlich Konsequen7

Dies ist eine die Terminologie der Systemtheorie verwendende Beschreibung jenes offenbar nicht einkalkulierbaren Faktors, der alle historische Gesetzesformulierung im nicht-theoretischen Teil der Geschichtswissenschaft immer wieder vereitelt: der menschlichen Freiheit. Es gelten wohl historisch je verschiedene Regeln, und es sind unterschiedliche Wertsysteme in Kraft, denen gemäß Menschen im .Normalfall' handeln; aber die Menschen haben die .Freiheit', diesen Regeln und Wertsystemen die Gefolgschaft zu verweigern. Das verhindert im Zusammenhang der praktischen Wertbeziehung' (RICKERT) prognosefähige Generalisierungen, hindert aber nicht daran, in der ,theoretischen Wertbeziehung', also in der rationalen Rekonstruktion regelkonformen oder regelwidrigen Verhaltens, wieder einen Regelzusammenhang auf einer Metastufe ex post zu formulieren. Zur praktischen' und .theoretischen Wertbeziehung' vgl. als neukantianische Quelle dieses Theorems H. RICKERT: Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine Einführung (Heidelberg 1924), bes. 42 ff; gekürzter Nachdruck dieses Abschnitts unter dem Titel „Individualisierende Methode und historische Wertbeziehung" in: H. M. BAUMGARTNER/ J. RÜSEN (Hg.), a.a.O. (Anm. 4) 253ff.

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zen in anderen Systemzusammenhängen, etwa in dem der Gestaltung von Fernsehprogrammen, der Vermögensverhältnisse verschiedener Promoter etc. Was hier im kleinen Maßstab an einem einzigen Ereignis aufgezeigt bzw. skizziert worden ist, läßt sich natürlich auch an umfassenderen Systembündeln zeigen, so, wie ich meine, auch für die verschiedenen Funktionen, die Philosophie haben kann, gehabt hat oder auch haben wird, besser: haben soll. Es müßte nicht eigens gesagt werden, ist aber von so großer Wichtigkeit für das Folgende, daß ich es doch hervorheben will: Konsequenz dieses so umrissenen, stets nur theorieregulativ zu verstehenden metaphilosophischen Bezugsrahmens ist, daß die auf diese Weise funktional bestimmte Bedeutung und Rolle der Philosophie niemals generell bestimmt werden kann, sondern jeweils nur für die eine Situation, in der nach ihr gefragt ist. Denn nur in der einzelnen konkreten Situation lassen sich, wenn überhaupt, die relevanten Parameter und intersystemaren Relationen erfassen, die die Funktion der Philosophie —wie die aller anderen Systeme auch — j e bestimmen.8 Dabei mag es wohl sein, daß einige Züge, wie etwa der vorhin genannte des Universalismus oder Generalismus der Philosophie sich durch alle historisch verschiedenen Situationen durchhalten — wenigstens bisher —, indessen ist es der übliche Philosophenfehler, solche einzelnen Züge zu verabsolutieren, wodurch denn in seiner Relativität Gültiges gemäß Hegels dialektischem Begriff der Wahrheit sich zu Falschem verkehren kann. Ausgehend von der Einsicht in die grundsätzliche Je-Gegenwärtigkeit philosophischer Selbstbestimmung, will ich im folgenden versuchen, die synchron-diachrone Situation der Philosophie anhand der Analyse gegenwärtig bestimmender Parameter zu umreißen, um hieraus die Rolle und Funktion der Philosophie Abzuleiten'. Zunächst soll das Verhältnis des diachron sich entwickelnden Systems Philosophie zu dem es gegenwärtig ohne Frage am stärksten bestimmenden System Wissenschaft aufgezeigt werden (I). Anhand dieses Aufweises wird sich zweierlei ergeben: einerseits aus einer reflexiven Befragung der Fehler 8

Daraus erklärt sich nun auch recht schlicht, warum keine historischen Prognosen möglich sind: Wenn es schon für die Vergangenheit schwerfällt, alle relevanten Parameter auszumachen, so ist dies jedenfalls für die Zukunft allerhöchstens konditional möglich, und auch das nur unter Berücksichtigung der menschlichen .Freiheit', sich den geltenden Regeln zu unterwerfen oder nicht (s. o. Anm. 7).

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der thematisierten Interdependenz von Philosophie und Wissenschaft eine quasi-programmatische Skizze der Beziehungen zu einem anderen wesentlichen Systembündel, das man als das der ,Lebenswelt' bezeichnen kann (II), zum anderen die Konfrontation dieses Programmes mit seinem historischen Vorläufer, was eine Diskussion der veränderten Bedingungen impliziert (III). Wenn auf diese Weise das Konzept synchron und diachron gewonnen ist, muß in einem letzten Schritt seine Ausfaltung angegangen werden, was ich unter dem Topos 'Arbeitsteilige Philosophie' tun werde (IV). (In methodischer Hinsicht sei noch daraufhingewiesen, daß ich der Ansicht bin, daß die Philosophie nicht nur in beiläufiger, sondern in konstitutiver Weise auf Mitreflexion ihrer eigenen Geschichte angewiesen ist.9 Es möge daher nicht verwundern, wenn ich in systematischen Zusammenhängen auch philosophiehistorisch argumentieren werde. Ich werde darauf nochmals zurückkommen.) I.

Wollte man das Verhältnis, das die Philosophie sich in unserem Jahrhundert zu den Wissenschaften gegeben hat, mit einem Leitmotto kennzeichnen, so würde sich meines Brach tens J)as Kaninchen und die Schlange" hierfür gut eignen. Damit dürfte in etwa bereits die Linie klar sein, die meiner Behandlung dieses Verhältnisses die Richtung geben wird. 10 Die Hochkonjunktur, die die ,Wozu'-Frage heute unter Philosophen hat, verdankt sich sicherlich zum einen der reflexiven Wendung, die die Philosophie unseres Jahrhunderts überhaupt genommen hat: Philosophie wird selbst Gegenstand der Philosophie, was man dann mit ,Meta-' oder JPeri-Philosophie' zu bezeichnen begann. Fragt man indessen dieser einstweilen nur deskriptiv festgehaltenen Kennzeichnung ätiologisch nach, so zeigt sich schon bald, daß die reflexive Wendung der Philosophie sich einer zunehmenden Unsicherheit verdankt: Die 9

Die theoretische Begründung für diese Ansicht habe ich dargelegt in: Wozu noch Philosophiegeschichte? Legitimationsprobleme als Ansatz zu einer Philosophiegeschichtstheorie, in: Studia Philosophica XXXVII (1977), 199ff. 10 Vgl. hierzu und im folgenden meinen Aufsatz: Esoterik und Exoterik in den Selbstdarstellungsbegriffen der Gegenwartphilosophie. Eine historische Analyse in systematischer Absicht, in: H. HOLZHEY/W. CH. ZIMMERLI (Hg.), a.a.O. (Anm. 1) 253ff.

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Fraglosigkeit der Annahmen über Inhalte philosophischen Tuns ist einer immer stärkeren In-Frage-Stellung gewichen, so daß nicht mehr bestimmte Gegenstände, sondern das philosophische Erfassen dieser Gegenstände zum Gegenstand geworden ist. Zu nicht geringen Teilen muß für diese Unsicherheit der Umstand verantwortlich gemacht werden, daß der beunruhigend an Gewichtigkeit zunehmende Faktor Wissenschaft jene Aufgabe vollständig zu erfüllen schien, die ehedem die Philosophie als die ihrige reklamierte: nämlich die Bereitstellung mehr oder minder umfassender Welt- und Handlungsorientierung. Es ist natürlich ärgerlich, daß es gerade die Wissenschaften sind, die diese Aufgabe übernommen zu haben scheinen, denn schließlich sind diese, einer weitverbreiteten (wenn auch nicht zutreffenden) 11 Vorstellung zufolge, einst von der Philosophie gleichsam sowohl ,gezeugt' als auch ,geboren' worden, und es sieht so aus, als seien die engen verwandtschaftlichen Beziehungen heute in Familienzwist umgeschlagen, der - freudianisch gesprochen - auch vor Vater- und Muttermord nicht zurückschreckt. In den Augen der Philosophie ist dies Undank und Usurpation,Kompetenzusurpation, wie wir von Odo Marquard wissen, allerdings eine Usurpation, der man so recht nichts entgegenzusetzen hat. 12 — Es spricht vieles dafür, die Geschichte der Philosophie unserer Gegenwart als eine Reaktionsgeschichte der Philosophie auf die Herausforderung zu betrachten, die diese Usurpation darstellt. In besagter Reaktionsgeschichte sind - im großen gesehen - zwei Hauptphasen zu unterscheiden: die erste Phase, die ich als die der Jiollaborateurreaktion' bezeichnen möchte, und die zweite Phase von insgesamt vier Typen der ,Metareaktion' auf eben diese Kollaborateurreaktion: die fiesignationsreaktion', die fiinterrücksreaktiorf, die Jikepsis-Metaphysik-Reaktion1' und schließlich die Radikalkur der ßb-ovo-Reaktion''. Auf diese beiden Phasen bzw. die in ihnen sich manifestierenden verschiedenen Reaktionstypen möchte ich im folgenden knapp - charakterisierend und kennzeichnend - eingehen. 11

Es lassen sich nämlich in verschiedenen Fällen gute Gründe dafür geltend machen, daß sich neue Wissenschaften nicht aus der Philosophie, sondern geradezu gegen sie entwickelt haben. Vgl. dazu etwa P. K. FEYERABEND: Wider den Methodenzwang. Skizze einer anarchistischen Erkenntnistheorie (1975, dt. Frankfurt a. M. 1976). 12 O. MARQUARD: Inkompetenzkompensationskompetenz? Über Kompetenz und Inkompetenz der Philosophie, in: H. M. BAUMGARTNER/O. HOFFE/ CH. WILD (Hg.): Philosophie - Gesellschaft - Planung (München 1974), 114ff.; meine Auseinandersetzung mit O. MARQUARD a.a.O. (Anm. 10).

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Es ist eine im Grunde einfache Idee, die der fiollaborateurreaktioni zugrundeliegt. Es ist die Idee, daß Philosophie nur dadurch wieder in Beziehung zu ihrer alten Aufgabe gesetzt werden könne, daß sie sich einordne in den neuen Lösungszusammenhang, daß sie mithin ebenfalls Wissenschaftlich' werde. Dies aber kann sie nur, indem sie sich ihrerseits in die Botmäßigkeit der Wissenschaften begibt und zur methodenreflektierenden ,ancilla scientiarum' wird. Es ist dies, wie ersichtlich, die Reaktion, die den Logischen Empirismus bzw. Neopositivismus hervorbrachte 13 und die dadurch sehr schnell in die eigene fachwissenschaftliche Esoterik der Rekonstruktion von Überprüfungs- bzw. Rechtfertigungszusammenhängen in wissenschaftlichen Satzsystemen geriet. Wir brauchen nicht darüber zu rech ten, ob die Wissenschaften diese Dienstleistungen stets goutierten - wir wissen heute eh, daß dies im objektiven Sinne nur in verschwindend geringem Ausmaße der Fall war, obwohl sich Gedanken des Logischen Empirismus subjektiv, also im Bewußtsein der Wissenschaftler, mit großer Resistenzkraft sedimentiert haben. Allein - wie gesagt - nicht darauf soll es uns ankommen. Die ,Kollaborateurreaktion' stellte jedenfalls eine Reduktion der Aufgaben der Philosophie dar, eine Reduktion zudem, die von der Philosophie aus eigenen Stücken vorgenommen wurde. Hans Reichenbach z. B. sagt noch 1951 mit aller Deutlichkeit, daß die wissenschaftliche Philosophie jeden Anspruch auf Welt- und Handlungsorientierung zugunsten der Wissenschaften aufgegeben habe, und er hält dies für einen der großen Vorzüge der wissenschaftlichen Philosophie.14 Es ist einleuchtend, daß eine dergestalt reduktionistische Auffassung von Philosophie ein Echo in der Philosophie selbst finden mußte, und in dem hier vertretenen Sinne sind alle folgenden Selbstbestimmungsversuche der Philosophie metareaktiv auf die ,Kollaborateurreaktion' zu verstehen. Bevor ich das skizzenhaft mit der Philosophie vor und nach 1945 vorführe, sei noch daraufhingewiesen, daß sowohl die Phänomenologie als auch die Existenzphilosophie nicht eigens thematisiert werden (obwohl man das sicherlich auch in diesem Kontext gut tun 13

Vgl. dazu V. KRAFT: Der Wiener Kreis. Der Ursprung des Neopositivismus (2., verb. Aufl. Wien/New York 1968); L. KOLAKOWSKI: Die Phüosophie des Positivismus (1966, dt. München 1971), bes. Kap. VIII: Der logische Empirismus — die szientistische Verteidigung der Zivilisation in der Krise, a.a.O. 203 ff. 14 H. REICHENBACH: Der Aufstieg der wissenschaftlichen Phüosophie (1951, dt. Berlin-Grunewald 1953) 339f.

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könnte); der Grund für diesen Verzicht liegt darin, daß es meiner Meinung nach im Zusammenhang der Phänomenologie und der Existenzphilosophie, insbesondere in der Heideggerschen Form, zusätzlicher Parameter in Form von eigenen sich diachron entwickelnden Systemen außer der Wissenschaft bedürfte, um eine auch nur ansatzweise befriedigende Erklärung zu liefern. Untersucht seien also zunächst die, wie ich sie nenne, ,Resignations'und die ,Hinterrücksreaktion'. Mit der ,Resignationsreaktioni meine ich die vor-Habermas'sche Phase der Kritischen Theorie, mit ,Hinterrücksreaktion' deren wissenschaftstheoriekritische Wende, also: Habermas und die Folgen. — Nun mag es, betrachtet man die Frühphase der Kritischen Theorie in den Dreißiger- und beginnenden Vierzigerjahren, merkwürdig erscheinen von Designation' zu sprechen. Indessen scheint mir bereits im frühen Ansatz Horkheimers und Adornos der resignative Keim zu liegen: in dem Versuch nämlich, das historische Subjekt, das Proletariat mithin, über die Dialektik der Aufklärung aufzuklären, der die traditionelle Theorie unterliege. Die in der Emigrationszeit von verschiedenen Mitgliedern des ehemaligen Frankfurter Instituts durchgeführten Faschismusanalysen können als die eigentliche Wende zur Resignation bezeichnet werden. Daß Adorno und Horkheimer sich in den Vierzigerjahren, zumal in den Fragmenten, die dann - völlig einsichtigermaßen - ,Dialektik der Aufklärung' heißen, in der Tat nur noch darauf beschränken, wenigstens das wahre Anliegen der Aufklärung, ,,die Negation der Verdinglichung" nicht zu verraten, ist ein sprechender Beleg für diese resignative Wendung, ebenso wie die weitere Entwicklung bis hin zur ,Negativen Dialektik' und der ästhetischen Theorie' Adornos, von Horkheimers religiösem ,Salto mortale' ganz zu schweigen.15 Und selbst die militante Färbung, 15

Vgl. hierzu die mit einem hohen Dokumentationswert versehene Sammlung der Aufsätze HORKHEIMERs: Kritische Theorie, 2 Bde. hg. von A. SCHMIDT (Frankfurt a. M. 1968); zu den Faschismus-Analysen insbesondere F. NEUMANN: Behemoth: The Structure and Practice of National Socialism (19331944, neu bearbeitete Ausg. New York 1944) sowie für HORKHEIMER und ADORNO von besonderer Wichtigkeit F. POLLOCK: Is National Socialism a New Order?, in: Studies in Philosophy and Social Sciences IX/3 (1941); M. HORKHEIMER/T. W. ADORNO: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944, Neuausgabe Frankfurt a, M. 1969) zit. 5; als guten Überblick über die Entwicklung der Frankfurter Schule bis nach dem 2. Weltkrieg vgl. M. JAY: Dialektische Phantasie. Die Geschichte der Frankfurter Schule und des Instituts für Sozialforschung 1923-1950 (1973, dt. Frankfurt a. M. 1976).

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die Herbert Marcuse der theoretischen Hoffnungslosigkeit in eine studentenbegeisternde neue praktische Hoffnung der Großen Weigerung gibt,16 ist nicht mehr als eine Konsequenz der ResignationsReaktion: Kritische Aufklärung des Menschen kapituliert in aller Form vor dem integrativen Potential dialektisch verkehrter und verkehrender Aufklärung. Der Grund dafür liegt - und diese Einsicht beginnt sich bei allen Frankfurtern offenbar durchzusetzen — im falschen Adressaten der Kritik und der mangelhaften theoretischen Aufarbeitung der positivistischen, sprich: dialektisch wider sich selbst gewendeten Aufklärung. Es galt mithin, diese Aufklärung mit wissenschaftstheoretisch elaborierter Kritik über sich selbst aufzuklären, und diese Reaktion habe ich die ,Hinterrücksreaktioni genannt. Ihr Exponent und bis heute wirksamster Haupt Vertreter ist Jürgen Habermas, und es kann natürlich hier nicht darum gehen, die ihrerseits recht komplexe Entwicklung der Habermas'schen Theorieprogrammatik und -pragmatik vollständig nachzuzeichnen. ,Hinterrücksreaktion' nenne ich sie, weil sie sich orientiert an der von Hegel inaugurierten, von Marx zur Methode gemachten systematischen und dialektik-konstitutiven Differenz von a) einem an sich verlaufenden Prozeß, der aber ,hinter dem Rücken' der in ihm handelnden Subjekte, wenngleich durch deren Aktionen allererst vermittelt, sich abspielt, und b) der Art und Weise, wie dieser Prozeß für die handelnden Subjekte erscheint. Das, was ,hinter dem Rücken' der handelnden Subjekte der Wissenschaft geschieht, ist Gegenstand der Interessentheorie, die Jürgen Habermas in den Sechzigerjahren vertreten hatte. Und daß es das auch heute noch ist, zeigt sich an seiner über den Umweg einer Auseinandersetzung mit analytischer Sprachphilosophie, Hermeneutik und Systemtheorie erst jüngst erfolgten ,Rückkehr zum Ansich', das nun evolutionär als rekonstruierte Gattungsgeschichtslogik auftritt und - so heißt es - etwas mit dem Historischen Materialismus zu tun haben soll.17 Für unsere Frage von Interesse ist dabei, in welcher Weise und in welchem Ausmaße Habermas dabei den Teufel mit Beelzebub austreibt: an die Stelle der Wissen16

H. MARCUSE: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft (1964, dt. Neuwied/Berlin 1967). 17 Zur Interessentheorie von HABERMAS vgl. J. HABERMAS: Erkenntnis und Interesse (1965), wiederabgedruckt in ders.: Technik und Wissenschaft als Ideologie' (Frankfurt a. M. 1968); zur neuesten Entwicklung ders.: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus (Frankfurt a. M. 1976).

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schaft positivistischen Typs, der sich der Neopositivismus unterwarf, tritt nun nämlich die genetische Erkenntnistheorie und Entwicklungspsychologie Piagets und Kohlbergs, der evolutionäre Muster abgewonnen werden, die dann per Homologieverfahren auf die Gattungsentwicklung übertragen werden. Ob sich so allerdings die aufklärungsdialektische Verkehrung brechen oder auch nur hintergehen lassen wird, möchte ich einstweilen füglich bezweifeln - aber das ist ein weites Feld . .. Indessen: auch im Lager der im engeren Sinne so genannten ,Wissenschaftsphilosophie und -theorie' stieß die ,Kollaborateurreaktion' auf Widerspruch und dementsprechend auf Metareaktionen, zum einen auf die quasi-interne Weiterentwicklung im Kritischen Rationalismus, die ich die .Skepsis-Metaphysik-Reaktion' nenne und die einstweilen international wohl noch die bedeutendste der genannten ist, zum anderen auf die ,ab-ovo-Reaktion', deren Repräsentanten natürlich Lorenzen und in einem gewissen Sinne auch die Konstanzer sind. — Ich will hier keine Beiträge zu der Frage liefern, ob Poppers Kritischer Rationalismus in seiner ersten Phase eine gewisse Verwandtschaft mit dem Neopositivismus gehabt habe oder nicht; die Vehemenz, mit der Kritische Rationalisten, allen voran Hans Albert, diese Verwandtschaftsbeziehung ableugnen, hat allerdings für mich immer den leicht komischen Beiklang von familieninterner Vergangenheitsbewältigung eines neureichen Kindes, das sich seiner mißratenen armen Eltern schämt. Poppers Reaktion auf die durch die ,Kollaborateurreaktion' vermittelte Herausforderung der Philosophie durch die Wissenschaft ist sattsam bekannt. Weniger bekannt und wohl auch nicht ohne weiteres ersichtlich dagegen ist, daß diese Reaktion letztlich eine Wiederherstellung der Metaphysik ist, die — so meine ich — noch hinter die kantischen Ansätze der Metaphysik zurückfällt. Das war beim frühen und mittleren Popper und seinen Jüngern bzw. Propheten noch nicht so klar. Damals erschöpfte sich die Metaphysik noch im methodischen Skeptizismus, der zuerst wissenschaftlicher Falsifikationismus', dann genereller Fallibilismus' war und dem in Zusammenhängen der Lernpsychologie etwa das Lernniveau kleinhirniger Säugetiere entspricht (was selbstverständlich nur ein Indiz, nicht ein definitives Urteil über die wissenschaftstheoretische Dignität des Popperschen Modelles ist). Bereits mit der Einführung des Gedankens der Wahrheitsähnlichkeit allerdings tritt der Zug zu einem objektiven Idealismus hervor, der von

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Popper in der Dreiweltenlehre von ,Objective Knowledge' dann auch unverhüllt expliziert wird.18 Daß bei einer metaphysischen Theorie dieses Zuschnittes ein ganzes Paket ungelöster und — meines Erachtens — auch unlösbarer Probleme auftauchen muß, ist eine Sache; eine andere ist die Rückkehr in vorkantisch metaphysische Metasysteme, ein Schritt, mit dem offenbar auf die totale Sinnentleerung reagiert werden soll, die die Philosophie des Neopositivismus kennzeichnet. Daß der Effekt in einer nachkantisch metaphysikkritisch eingeübten Zeit allerdings derselbe ist, daß auch hier totale Sinnentleerungeintritt, und zwar in demselben Maße, in dem sie bekämpft wird, entgeht Popper: der Grund dafür liegt darin, daß mit der quasi-platonischen Dreiwelten-Konzeption die letzten Kriterien dafür, welche Sätze wahr und falsch, d.h. welche Sätze sinnvoll sind, abhanden gekommen sind. Die ohne Frage bei weitem radikalste Reaktion stammt von der Gruppe der Konstruktivisten und Operationalisten. Ihnen geht es letzten Endes nicht um eine neue Form der logischen Rekonstruktion von Überprüfungszusammenhängen, noch auch um eine reflexive Aufklärungskritik, sondern schlicht um einen Neuaufbau des ganzen Wissenschaftsgebäudes ,ab ovo\ Fundamentbereich bei dieser Rekonstruktion soll bekanntlich die intersubjektiv nachvollziehbare Lebenspraxis sein; es sollen konstruktive Fundamente gelegt werden, die es erlauben, die Wissenschaften „von elementaren Handlungsvollzügen der Lebenspraxis her zu begreifen".19 Dabei drängt sich natürlich auf, besagte Fundierungsprobleme normativ' zu lösen. Ihren gemeinsamen Boden finden Philosophie und Wissenschaft mithin in der Praxis, nämlich ,.Philosophie als praxisleitende Aufklärung, Wissenschaft als praxissichernde Zweckrationalität".20 Der Philosophie wird in dieser Form der Metareaktion auf die Herausforderung durch die Wissenschaft ein neues Aufgabengebiet zugewiesen, bzw. ein altes Aufgabengebiet 18

Zum frühen POPPER vgl. K. R. POPPER: Logik der Forschung (1934, 4., verb. Aufl. Tübingen 1971); zum Übergang in erweiterte Formen des Falsifikationismus ders.: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde (1944, dt. Bern 1957/58); zum .metaphysischen' POPPER ders.: Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf (1972, dt. Hamburg 1973). 19 P. JANICH/F. KAMBARTEL/J. MITTELSTRASS: Wissenschaftstheorie als Wissenschaftskritik (Frankfurt a. M. 1974) 20, dort nur bezogen auf die Mathematik. 20 J. MITTELSTRASS: Philosophie und Wissenschaft (1973), wiederabgedruckt in ders.: Die Möglichkeit von Wissenschaft (Frankfurt a. M. 1974) 24.

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wiedergewonnen, nämlich, „die fundierende Disziplin unter den oft durch ein falsches Autonomiebewußtsein charakterisierten anderen wissenschaftlichen Disziplinen"21 zu sein. Im Hinblick auf den weiteren Fortgang unserer Argumentation gilt es zunächst einmal festzuhalten, daß hiermit ein anderer diachron sich entwickelnder Systemstrang angesprochen ist, auf den es noch näher einzugehen gilt: nämlich der Systemzusammenhang lebensweltlicher Praxis. Und es ist ohne Frage ein Verdienst der Konstruktivisten, diesen Systemzusammenhang erneut in die Diskussion um Rolle und Funktion der Philosophie eingebracht zu haben — indessen, wie ich meine und auch nachweisen möchte: in defizienter Form. II.

Wenn wir die skizzierten Reaktionen der Philosophie auf die quasiusurpatorische Herausforderung durch die Wissenschaften reflexiv befragen, so zeigt sich, wie ich meine, in allen die Grundtendenz, die ich als ,Kaninchen-Schlange-Verhältnis' gekennzeichnet habe: Die Philosophie, vertreten durch die sich in Publikationen einer Diskussion stellenden Philosophen, zeichnet sich in unserer Gegenwart durch ein fast hypnotisiertes Schielen auf die Wissenschaften und deren wachsende Kompetenzen aus, was sich in den dargestellten Reaktionen, der ,Kollaborateurreaktion' und den auf diese metareaktiven Reaktionen, der ^Resignations-', hinterrücks-', ,Skepsis-Metaphysik-' und ,ab-ovo-Reaktion' manifestiert. In allen diesen Fällen, die ein recht repräsentatives Gesamtspektrum gegenwärtiger Philosophie darstellen, sind die aufgezeigten Reaktionen aber auch inhaltlich reaktiv, soll heißen: es wird wissenschaftsbezogen auf die Herausforderung durch die Wissenschaften reagiert; der Herausforderer diktiert bereits die Art, in der auf ihn reagiert werden kann. Wie aber - wenn es gar keine Herausforderung wäre, was der Philosophie in Form von Wissenschaft gegenübersteht? — Wenn sich das in der Tat so verhielte, dann wären auch die Reaktionen der Philosophie gar keine Beiträge zu ihrer Kompetenzrechtfertigung, mithin gar keine Antwort auf die ,Wozu'-Frage, sondern allenfalls Aussagen über der Philosophie zusätzlich zugewachsene Aufgaben. Sieht man sich näm21

J. MITTELSTRASS: Das praktische Fundament der Wissenschaft und die Aufgabe der Philosophie (Konstanz 1972) 82.

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lieh einmal genau an, auf welchen Voraussetzungen die Herausforderungsannahme (mithin auch das ,Kaninchen-Schlange-Verhältnis') beruht, so zeigt sich, daß diese Voraussetzungen in dem Ausgliederungstheorem des Zusammenhanges von Philosophie und Wissenschaft zusammenzufassen sind, nach dem Muster: Die Philosophie führt Gedanken in den Status der Theoriefähigkeit, um sie dann zur theoretischen Ausformulierung und, in bestimmten Bereichen, zur empirischen Überprüfung aus sich auszugliedern. Auf diese Weise sollen, so will es der Mythos, neue Wissenschaften entstehen. Betrachtet man dieses Muster noch genauer, dann sieht man, 22 daß aus ihm allein noch gar keine Herausforderungssituation konstruiert werden kann, es sei denn, man nehme zusätzlich an, daß das Potential zur Produktion theoriefähiger Gedanken prinzipiell endlich und seine Grenze gegenwärtig erreicht sei. Und auch dies würde noch nicht genügen; es bedürfte noch der Zusatzannahme, dies, die Produktion theoriefähiger Gedanken, sei die einzige Funktion der Philosophie. Für all diese Zusatzannahmen aber läßt sich, so meine ich, keine einigermaßen vernünftig plausibel zu machende Begründung geben, sie entbehren jeglichen Realfundamentes, insbesondere wenn man sich von eben der zur Diskussion stehenden vorurteilshaften Meinung frei macht, Philosophie sei eine von der Wissenschaft in hartem Konkurrenzkampf an den Rand gedrängte wissenschafts-analoge Einrichtung. Wir können somit vorläufig festhalten, daß das Kaninchen Philosophie (wie alle Kaninchen) gleichsam schlechte Augen hat, da es sich bei den Wissenschaften gar nicht um die gefährliche Schlange handelt, die die Philosophie auffressen will: Die Herausforderung der Philosophie durch die Wissenschaften ist eine subjektiv projizierte Chimäre. Es bieten sich prinzipiell zwei Strategien an, um diese These zu stützen. Zum einen könnte man zeigen, daß es der Philosophie weiterhin gelingt, einige ihrer Gedanken theoriefähig zu machen, vielleicht 22

Zum Theoriefähigkeitslheorem als Beschreibung der Aufgaben der Philosophie vgl. J. v. KEMPSKI: Philosophie und theoretischer Fortschritt (1963), erweiterter Wiederabdruck in ders.: Brechungen. Kritische Versuche zur Philosophie der Gegenwart (Reinbek bei Hamburg 1964) 310 ff. - Als Kennzeichnung für eine der Aufgaben der Philosophie halte ich das Theoriefähigkeitstheorem für recht zutreffend; in seiner verschärften Fassung dagegen, als Ausgliederungstheorem und zudem aufgefaßt als Theorem zur Erklärung der historischen Entstehung der Wissenschaften, halte ich es für einen ,Mythos', eine gut erfundene, aber mit unserem heutigen Wissensstand nicht mehr recht vereinbare ,Story'. Vgl. auch oben Anm. 11.

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könnte man sogar noch zeigen, welche Gedanken momentan die größte Chance für eine solche ,Karriere' haben. Jedoch: diese Strategie hätte zwei Nachteile. Zum einen nämlich wäre ihre prognostische Seite auf reine Trendextrapolation angewiesen, und wir wissen alle, wie invalide solche Prognosen im Rahmen geisteswissenschaftlicher Zusammenhänge sind; zum anderen aber — und dies ist nur in einem übertragenen Sinne ein ,N ach teil' - ist diese Strategie überflüssig, da es argumentationspragmatisch hier völlig ausreicht zu zeigen, daß sich keine vernünftigen Gründe für die (gegenteilige) Annahme nennen lassen, die Philosophie werde inskünftig nicht mehr in der Lage sein, theoriefähige Gedanken zu produzieren. — Die andere Strategie ist direkter und verspricht, wie ich meine, auch einen stärkeren Überzeugungseffekt: Daß die wissenschaftliche Herausforderung keine Herausforderung der Philosophie ist, läßt sich nämlich dadurch zeigen, daß man aufweist, welche Funktionen neben der Funktion, den Wissenschaften theoriefähige Gedanken anzuliefern, der Philosophie sonst noch zuzuschreiben sind. Nun - es sind dies nicht im eigentlichen Sinne andere Funktionen, sondern es handelt sich bei genauerem Zusehen um die gleiche Funktion, nur bezogen auf die Interdependenz der Philosophie mit jenem anderen Systembündel, das uns bereits bei der Diskussion der konstruktivistischen ,ab-ovo-Reaktion' begegnete: dem Systembündel »Lebenswelt', das eine ganze Menge ihrerseits interdependenter, sich diachron entwickelnder Teilsysteme umfaßt, die generell nur dadurch bestimmbar sind, daß sie mcftf-wissenschaftliche, mc/zf-philosophische, nichttheoretische, aber dennoch im Zusammenhang der Verhältnisse MenschMensch und Mensch-Natur stehende sind. Damit soll selbstverständlich nicht ausgeschlossen sein, daß auch diese Teilsysteme im heute generalisierbaren Sinne verwissenschaftlicht' sind. Hier hat die Philosophie eine bestimmte Funktion oder auch bestimmte Funktionen, die sie, wenn man die Ausgliederungsannahme nochmals beizieht, natürlich auch auf die von ihr bis zur Theoriefähigkeit gebrachten und dann in den Kontext der Wissenschaften entlassenen Gedanken überträgt: eben die Vermittlung von weit-und handlungsorientierendem Wissen, anders formuliert: die Vermittlung von Vertrautheit des Menschen mit seiner Welt und den diese bestimmenden Größen, noch anders: dort, wo es bereits nötig ist, die Vermittlung von Beiträgen zur Aufhebung der Entfremdung von Mensch und Welt und den diese bestimmenden Größen. - In dieser Allgemeinheit könnte man die genannte Bestim-

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mung sogar als eine diachron unabhängige, soll heißen: überzeitliche, verstehen. Ihre Konkretion erhielte sie jeweils, indem man die gerade vorliegende Situation der Entfremdung bzw. Vertrautheit in sie einbrächte. Nun ist in unserer Zeit, d.h. in dem von uns zu thematisierenden idealen synchronen Querschnitt, eine zunehmende Tendenz zu der Ansicht zu beobachten, daß die Wissenschaften gerade nicht in der Lage seien, diese ihre ihnen von ihrer philosophischen Ent-bindung mitgegebene Aufgabe zu erfüllen. Die Wissenschaft und die von ihr abhängige Technik geraten in eine Krise, die letztlich eine Vertrauenskrise ist und die darin besteht, daß das grenzenlose Vertrauen der Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts in die Wissenschaft einen empfindlichen Bruch erhalten hat durch die Einsicht, daß der Mensch nicht ungestraft und nicht unbegrenzt in das Reservoir der Natur eingreifen darf. Wenn aber sich auf diese Weise Wissenschaft tendenziell selbst in ihrem Totalitätsanspruch ad absurdum führt - wie sollte sie dann noch die generellen Orientierungsfunktionen erfüllen können, die man ihr zu Lasten der Philosophie zugeschanzt hatte? Von daher wächst also der Philosophie, unbeschadet ihrer sonstigen Funktionen, eine zusätzliche zu: nämlich die, die zweifellos zu konstatierende Kluft zwischen Fachwissenschaft und Lebenswelt schließen zu helfen. Es ist eine gewisse ,Ironie der Wissenschaftsgeschichte', daß diese Kluft genau dadurch entstanden ist, daß man die Philosophie nicht länger brauchen zu müssen meinte, und daß es nun gerade die Philosophie ist, die die Sekundärfolgen ihrer versuchsweisen Abschaffung zu beseitigen hat. Aber dies ist nur die eine Hälfte der Aufgabe, über deren Realisierung zudem noch geredet werden müßte. Die andere Hälfte liegt gleichsam auf der ,Input-Seite': In die Philosophie müssen lebensweltliche Probleme eingefüttert werden, wenn sie denn überhaupt zur Generierung neuer Gedanken, die sie theoriefähig zu machen hat, soll kommen können. Daß eine solche Vorstellung sich auch systematisch in einem ausgeführten Konzept niederschlagen muß, ist mir durchaus klar, und darauf ist noch einzugehen — hier aber interessiert vorläufig allein der Grundgedanke: Philosophie hat, was sie aufgrund ihrer .Kaninchen-Kurzsichtigkeit' bislang vernachlässigte, einerseits die Wissenschaften an die Lebenswelt zurückzubinden, andererseits aber auch zur eigenen Gedankenentwicklung direkt lebensweltliche Probleme aufzugreifen und zu verarbeiten.

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Genau dies aber hat die konstruktivistische Reaktion auf die vermeinte Herausforderung durch die Wissenschaften nicht getan, und das ist der Grund, warum auch sie bei all ihren Verdiensten um eine Wiederentdeckung der lebensweltlichen Bereiche das Vertrautheitsdefizit der Wissenschaft gegenüber eben dieser Lebenswelt nicht einmal hat angehen können. Was die Konstruktivisten unternommen haben und, soweit es abzusehen ist, jetzt noch unternehmen, war und ist, die bestehenden Wissenschaften (unter grundsätzlicher Ausnahme relativistischer und nachrelativistischer Physik) durch Schiedssprüche über lebenspraktische Vernünftigkeit oder auch, wie in einer gewissen Entwicklungsphase, durch Rekurs auf letzt begrün de n de n Fallibilismus neu und diesmal vernünftig zu (re-)konstruieren. Wo das endet, war und ist für sie kein Problem; zum einen, weil man auf diesem Wege wohl ohnehin kaum je zu einem Ende kommen wird, zum anderen aber auch, weil sie die Notwendigkeit der Rückbindung ,vernünftig' rekonstruierten wissenschaftlichen Wissens nicht sehen. Ähnliches gilt für den Problemaufgriff, der ja keineswegs immer schon auf der Basalebene des operativen Fundamentes oder aber bereits formulierter fallibler Ansichten liegen muß, was unmittelbar einsichtig wird, wenn man sich etwa die Frage der Euthanasie, die die des § 218 in gewissem Sinne einschließt, oder das Problem der Kernkraftwerke, aber auch neuerdings wieder das Problem des Terrorismus als Beispiele für aufzugreifende Probleme vergegenwärtigt, um nur die zu nennen, an denen sich Philosophie heute vordringlich zu bewähren hätte. Es ist, wie sich sehen läßt, mit diesem Fragenkomplex der Beziehung von Philosophie auf das Systembündel ,Lebenswelt' eine qualitative Bestimmung berührt: die Bestimmung der .Öffentlichkeit' von Philosophie. Daß auch diese Frage - allem Strukturwandel der Öffentlichkeit zum Trotz — nicht zu den typisch zeitgebundenen, sondern vielmehr in das seit ehedem gängige Arsenal philosophischer Selbstbestimmungsmuster gehört, zeigen besonders plastisch die durch die letzten zwei Jahrtausende hindurch sozusagen unterbrechungsfrei geführten Diskussionen um den esoterischen oder exoterischen Charakter der Philosophie, Diskussionen die nie dazu geführt haben, daß sich die Philosophie für hermetische Esoterik entschieden hätte, wie heute vielfach vermutet wird. - So betrachtet, kann man den Fehler der Gegenwartsphilosophie, der, wie angedeutet, ihrer ,Kaninchen-Kurzsichtigkeit' entstammt, ein ,Exoterik-Defizit' nennen. Es ginge also in einer Neuzuteilung der philosophischen Aufgaben darum, einen Träger

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für die Abarbeitung dieses Defizits zu finden, und ich habe diesen Träger als ,Popularphilosophie' bezeichnet,23 gewiß eine etwas riskante Bezeichnung, da sie sofort die Assoziation ,Vulgärphilosophie', ,Philosophie-Surrogat' und Dilettantismus' hervorruft. Der historische Standard-Einwand gegen das Plädoyer für eine — teilweise — erneuerte Popularphilosophie war immer der, ob dieses Programm sich denn nicht gefährlich in die Nähe der bekanntlich gescheiterten Popularphilosophie der deutschen Aufklärung begebe. Dieser Einwand, mit dessen pragmatisch unterschiedlichen Beantwortungsmöglichkeiten ich mich hier nicht befassen will, weist aber auf eine Möglichkeit hin, das Programm der hier vertretenen Popularphilosophie durch Konfrontation mit und Abhebung von der Popularphilosophie der deutschen Aufklärung etwas präziser zu pointieren. (Davon bleibt n. b. völlig unberührt, daß ich die deutsche Popularphilosophie, was auch immer sie sei (s. u.), als Gestalt der philosophiegeschichtlichen Entwicklung keineswegs für gescheitert halte, und dies in zweifacher Hinsicht: zum einen nämlich hat die in den Philosophiegeschichts-Lehrbüchern seit Mitte des letzten Jahrhunderts zur ,Popularphilosophie' eingeschmolzene Philosophie der deutschen Spätaufklärung ihre durchaus wichtige, purgative Funktion gehabt; sie hat sogar in vielen Belangen eine durch die Wertmaßstäbe der Philosophiegeschichtsschreibung völlig verzerrte ungemein große politische Wirkung gehabt, zum anderen aber ist sie entwicklungslogisch eine der wichtigsten, nicht fortzudenkenden Voraussetzungen der sich entwickelnden ,großen deutschen Philosophie' gewesen, des Kritizismus ebenso wie des Deutschen Idealismus.)

III. Was von mir mit ,Popularphilosophie der Deutschen Aufklärung' gemeint ist, versteht sich nun allerdings keineswegs von selbst.24 Je 23

Vgl. hierzu etwa meinen Aufsatz zu den Selbstdarstellungsbegriffen der Gegenwartsphilosophie, a.a.O. (Anm. 10) bes. 278, aber auch schon W. CH. ZIMMERLI: Aufklärung und/oder Philosophie, in: R. SIMON-SCHAEFER/ W. CH. ZIMMERLI: Theorie zwischen Kritik und Praxis. Jürgen Habermas und die Frankfurter Schule (Stuttgart-Bad Cannstatt 1975) 38f. 24 Vgl. dazu H. HOLZHEY: Der Philosoph für die Welt - eine Chimäre der deutschen Aufklärung?, in: H. HOLZHEY/W. CH. ZIMMERLI (Hg.), a.a.O. (Anm. 11) 117ff. sowie die ausdifferenzierte Ausarbeitung der Popularphilo-

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weiter sich das 18. Jahrhundert uns entfernt, desto verschwommener und weniger griffig werden die historischen Bezeichnungen; dies gilt in äußerst starkem Maße jedenfalls für die Bezeichnung ,Popularphilosophie', und man neigt heute mehr und mehr dazu, diesen Ausdruck als eine Sammelbezeichnung zu verwenden, unter die alles fällt, was man anderweitig im 18. Jahrhundert nicht einordnen kann. Umgekehrt fällt es allerdings auch schwer, eindeutige Merkmale zur Abgrenzung der Popularphilosophie von anderen aufklärungsphilosophischen Strömungen namhaft zu machen. Absichten, spezifische Quellen des eigenen Philosophierens sowie Formen seiner Durchführung überlappen sich in den verschiedenen Gruppen der Aufklärungsphilosophie vielfach, und so wird es methodisch wohl besser sein, die Popularphilosophie durch einzelne Kennzeichnungen zu bestimmen. Vorab ist aber der ,Schuldige' zu benennen, der für den seither nicht mehr auszuräumenden pejorativen Beiklang der Bezeichnung JOpularphilosophie' verantwortlich ist. Es ist dies Karl Leonhard Reinhold, der den zur damaligen Zeit gängigen, auch zur Selbstbezeichnung gewisser Philosophen verwendeten Begriff aller Bedeutung, die er möglicherweise hatte, entleerte, um ihn zur Bezeichnung derjenigen zu verwenden, die Kant nicht verstanden hatten. 25 „Die Popularphilosophen werden durch dieses ihr Un- und Mißverständnis geradezu definiert",26 wie H. Holzhey treffend feststellt, und diese Identifikation von Popularphilosophie und Unverstand hat sich seit Reinholds sicherlich nicht ganz unberechtigter, aber verkürzender Stellungnahme durchgehalten. - Aber, wie gesagt, Reinhold bezog sich nur auf die Kant-Kritiker, die im Namen des gesunden Menschenverstandes sich die Anstrengung kritischer Transzendentalphilosophie vom Leibe halten wollten. Daß diese sich teilweise selbst als »Popularphilosophen' bezeichneten, ist wohl eher ein unglücklicher Zufall, der mit zu dem epochemachenden Fehlurteil Reinholds beigetragen haben mag. sophie der deutschen Aufklärung im Zusammenhang mit dem .gesunden Menschenverstand' in L. HASLER/R. W. MEYER/W. CH. ZIMMERLI: Hegel - ein Philosoph des gesunden Menschenverstandes? Hegel-Studien Beiheft (Bonn 1979, im Druck), Kap. III: „Funktion des gesunden Menschenverstandes im Zusammenhang der Ausgliederung (deutscher) Popularphilosophie". 25 K. L. REINHOLD: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens (Prag und Jena 1789) 18ff. 26 H. HOLZHEY, a.a.O. (Anm. 24) 124.

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Kurzum: hier gilt es genauer zu differenzieren. In Wahrheit nämlich war die Wertung, die sich mit dem Ausdruck ,Popularphilosophie' verband, ursprünglich durchaus positiv. Johann August Ernestis vermutlich schon 1754 geschriebenen27 ,Prolusio* zu seiner Schrift ,De philosophia populari' führt diesen Ausdruck im Anschluß an Diderots „Philosophie populaire" in Deutschland ein und postuliert eine „subtilis et erudita popularitas", die gegenüber der trockenen Spitzfindigkeit der Schul philosophic auch größere Chancen habe, von einem weltmännischen Publikum rezipiert zu werden. Zudem aber wird die Popularität geradezu am Wesen der Philosophie selbst festgemacht: „Wenn die Philosophie sprechen könnte, würde sie unzweifelhaft selbst bekennen, daß sie populär zu sein begehre. Denn wenn sie Weisheitslehre, d. h. Lehre von der Verfolgung des Glücks ist: was ist so populär als das Glück (felicitas)? Wenn sie Wissenschaft von den göttlichen und menschlichen Dingen ist: was muß so ans Licht gebracht und dem Menschen dargestellt werden, dem schönsten der göttlichen Werke? Wenn sie die Natur aufschließt: wer soll davon ausgeschlossen werden, ihre Wunder zu betrachten und zu bewundern? Wenn sie von Pflichten, Sitten und einem gut einzurichtenden Leben lehrt: welcher Mensch ist davon auszuschließen, die menschlichen Pflichten zu erkennen und liebzugewinnen?"28 Popularphilosophie wird mithin, zu Beginn ihrer eigentlichen Blütezeit ganz anders gesehen, als Reinhold sie 1789 — epochemachend — darstellt. Nun ist Ernesti selbst nicht im engeren Sinne als ,Popularphilosoph' zu bezeichnen. Diejenigen, die das von ihm nur umrissene und vordringlich aus Frankreich importierte Programm verwirklichen, sind andere. Welche aber sind es, wen kann man im engeren Sinne als .Popularphilosophen der Deutschen Aufklärung' bezeichnen, und welches sind die Kennzeichnungen, die man für die Popularphilosophen angeben kann? - Es läßt sich in der Philosophie der Aufklärung nur ein relativ sicheres Indiz dafür nennen, welche Philosophen in der Tat Popularphilosophen' sind, und dieses Indiz ist zudem ein negatives: Popularphilosophen sind solche, die eine eigenständige, sich aus der eigentlichen wissenschaftlichen Schulphilosophie ausgliedernde populäre Philosophie vertreten. Nicht die Beantwortung lebenspraktischer 27 28

So jedenfalls die Datierung HOLZHEYs, a.a.O. 127. J. A. ERNESTI: De philosophia populari, in: Opuscula Oratoria, orationes, prolusiones et elogia. Ed. secunda multis partibus auctior et emendatior (Lugduni Batavorum 1767) 189ff.,zit. 190.

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Fragen durch Deduktion aus dem schulphilosophischen System darf als ,Popularphilosophie der Deutschen Aufklärung' betrachtet werden — sonst gehörte ein Großteil der Wolff-Schule zu den Popularphilosophen —, sondern eine eigene, von der Fach philosophic weitgehend unabhängige Form vernünftigen Räsonnierens über jene ständig wachsenden Restbestände an konkreten Problemen, zu deren Lösung die Fachphilosophie keinen Beitrag zu leisten vermag. Will man gemäß dieser einen Kennzeichnung die Extension des Begriffes ,Popularphilosophie' exemplarisch durch Nennung der wichtigsten unter ihm subsumierten Positionen umreißen, so ergäbe sich etwa folgende Bestimmung: Unter den Begriff ,Popularphilosophie' im engeren Sinne fallen die Lebensklugheitslehre Sulzers, die eher pragmatische Philosophie um Friedrich II., aber auch die Lebensphilosophie von Geliert oder Garve, die politisch ausgerichtete Weltweisheit für den Bürger, wie sie etwa von Abbt oder Engel (,Der Philosoph für die Welt') repräsentiert wird, bis hin zur Philosophie für alle Stände (Basedow, v. Rochow) und der Berliner Diskurs- und Dissensgesellschaft um Nicolai, Gedike, Biester und Riem (,MittwOchsgesellschaft' und ,Berlinische Monatsschrift'). Was hingegen auszugrenzen ist, obwohl es gemäß diesem genannten Indiz noch zur Popularphilosophie gehören würde, ist das ganze bunte Gemisch anonymer, sich selbst als ,popularphüosophisch' bezeichnender Schriften unterschiedlichster Provenienz, die das publizistische Bild der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mitprägen.29 Wie man sieht, ist ebenfalls nicht eingeschlossen die Gruppe der Göttinger Philosophen um Feder, Meiners, Hißmann und Lichtenberg, auf die wir noch kurz eingehen werden. 30 29

Vgl. etwa: Anon.: Beyträge zur Beförderung der populären Philosophie, allen weisen Gottes- und Menschenfreunden gewidmet (Halberstadt 1791), eine Zusammenstellung von Aufsätzen, die sich u. a. auch explizit mit Reinholds kritischem Verdikt gegenüber der Popularphilosophie auseinandersetzen. 30 Die ,Göttinger' nämlich sind eher als Philosophen aufzufassen, die schulphilosophische Theoreme populär formulieren, damit sie auch „das lesende Frauenzimmerpublicum" verstehen möge, anderenfalls sich hier ja immer noch mit „Erläuterungen kommentierender Väter, Brüder, Gatten etc." eine Optimierung erzielen lasse, so M. HISSMANN: Briefe über Gegenstände der Philosophie, an Leserinnen und Leser (Gotha 1778), Vorwort. - An diesem Punkte, in der Einschätzung der Göttinger weiche ich mit L. HASLER und R. W. MEYER, a.a.O. (Anm. 24) von der Auffassung H. HOLZHEYs ab, der von der These ausgeht: „Die Zentren der Popularphilosophie in Deutschland waren Göttingen und Berlin", a.a.O. (Anm. 24) 119. - Zu den

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Aus dem so extensional bestimmten Begriff .Popularphilosophie' lassen sich nun weitere Kennzeichnungen rückschließen, die zwar nicht ausschließlich auf die Popularphilosophie zutreffen, die aber ihren Charakter noch deutlicher herausstellen können. Es sind dies zumindest dreierlei verschiedene Hinsichten, nach denen sich die Popularphilosophie kennzeichnen läßt: Zielpublikum, Inhalt und Darstellungsweise. Was das Zielpublikum anbetrifft, so steht die Popularphilosophie im Gefolge jener öffentlichen Philosophie, die bei Thomasius als ,Philosophia aulica', als Hof-Philosophie mithin, explizit bezeichnet wurde. 31 Von jener Öffentlichkeit, die der königliche oder fürstliche Hof war, wendete sich die Popularphilosophie, den Zeitläufen entsprechend, zunehmend ab, der bürgerlichen Öffentlichkeit zu. Dabei muß man beachten, daß die drei Stände, auf die sich die ,Philosophie für alle Stände'32 bezog, keineswegs die ganze Gesellschaft umfassen: ,unter' diesen drei Ständen nämlich befindet sich weiterhin der Bereich des ,Pöbels', der ,breiten Massen' oder „niederen Volksclassen", bei denen sich Garve gar fragt — vielleicht durchaus zu Recht —, ,,ob es überhaupt nöthigsey, für diese Classejn] eigne Bücher zu schreiben".33 Die Popularphilosophie ist mithin keine Pöbel- oder Vulgärphilosophie; sie richtet sich vielmehr an das lesende Bürgertum beiderlei Geschlechts, ausgeschlossen aus dem Zielpublikum bleiben jedoch die niederen Volksklassen. Dies muß man sich vor Augen halten, und der ,Aristokratismus der Philosophie', der sich nach Meinung von Lukäcs etwa in Schellings eben auf diesen Pöbel bezogenem Horaz-Zitat ,,odi profanum volgus et arceo"34 ausdrückt, ist eine nicht mehr gar so arg elitäre Ausnahme, wie dieser meint. .Berlinern' vgl. N. HINSKE (Hg.): Was ist Aufklärung? Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift (2., verm. Aufl. Darmstadt 1977), bes. „Einleitung" (XIHff.) und „Nachwort zur zweiten Auflage" (519ff.). 31 CH. THOMASIUS: Introductio ad philosophiam aulicam (1688, 2. Aufl. Halle 1702). 32 Vgl. etwa J. B. BASEDOW: Practische Philosophie für alle Stände. Erster Theil (Copenhagen und Leipzig 1758). .Alle Stände' werden dort genauer bestimmt als „Gelehrte, Staatsleute, der Adel, der Kaufmann oder gesittete Bürger, und das andere Geschlecht", a.a.O. 4. 33 CH. GARVE: Von der Popularität des Vertrages, in ders.: Vermischte Aufsätze welche einzeln oder in Zeitschriften erschienen sind (Breslau 1796) 341 f. 34 F. W. J. SCHELLING: Werke. Münchner Jubiläumsdruck, hg. von M. SCHRÖTER (München 1927) Bd. 3, 283; vgl. G. LUKÄCS: Die Zerstörung der Vernunft, Werke Bd. 9 (Neuwied 1962) 131ff.

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Inhaltlich bestimmt sich die Popularphilosophie, nun verstanden als Philosophie für die Welt, als Vermittlung von pragmatisch brauchbarer Information, von „Wahrheiten, die den Menschen bilden, und von schädlichen Begriffen befreien",35 so jedenfalls W. L. G. Eberstein, der anonyme Verfasser der 1794 von J. A. Eberhard herausgegebenen Philosophiegeschichte des 18. Jahrhunderts. Es geht darum, „die zu allen Ständen nötigen Erkenntnisse . . nach dem Bedürfnisse unserer Zeiten"36 zu formulieren, „den Verstand durch einige Übung praktisch zu machen, sich in den gewöhnlichen Verhältnissen zu helfen",37 wie es der hauptsächlich pädagogisch interessierte Johann Bernhard Basedow ausdrückte. Und ähnliche Formulierungen findet man in fast allen Bereichen, bis hin zur ,Wirthschaft eines philosophischen Bauern' von Hans Caspar Hirzel.38 Für alle die eigentlichen ,Popularphilosophen der Deutschen Aufklärung' ist in diesem Zusammenhang charakteristisch die Verbindung von Nützlichkeit und Glückseligkeit - im Prinzip eine durchaus utilitaristische Position. Was schließlich die Darstellungsweise betrifft, so läßt sich auch hier eine Traditionslinie bis zu Thomasius zurückverfolgen: die des Eklektizismus (die ja erklärtermaßen bis auf Leibniz zurückgeht).39 Mit diesem Eklektizismus hängt aber, vermittelt dadurch, daß in ihm die Wahrheiten ausgewählt werden, die das Volk bereits kennt und versteht, die Darstellungsform der Allgemeinverständlichkeit eng zusammen. Die Reflexion auf die Art des „Vertrags", die „Manier, seine Gedanken anderen mitzuteilen, um eine Doktrin verständlich zu machen",40 wie Kant das formuliert, gehört unablösbar in das Pflichtenheft philosophischer Reflexion hinein. Garve formuliert das präzis und prägnant: „das Wort Popularität soll nicht sowohl die Gegen-

35

J. A. EBERHARD (Hg.): Versuch einer Geschichte der Fortschritte der Philosophie in Deutschland, vom Ende des vorigen Jahrhunderts bis auf die gegenwärtige Zeit, 1. Theil (Halle 1794) 339. 36 J. B. BASEDOW: Vorstellungen an Menschenfreunde und vermögende Männer über Schulen und Studien und ihren Einfluß in der öffentlichen Wohlfahrt (Hamburg 1768) §24. 37 J. B. BASEDOW: Das Methodenbuch (Dessau 1773) 140. 38 H. C. HIRZEL: Die Wirthschaft eines philosophischen Bauern (Neue, verm. Aufl. Zürich 1774). 39 Vgl. dazu W. TINNER: Leibniz: System und Exoterik, in: H. HOLZHEY/ W. CH. ZIMMERLI (Hg.), a.a.O. (Anm. 11) 101 ff. 40 I. KANT: Logik, Einleitung II; Akademie-Ausgabe Bd. IX, 19.

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stände bezeichnen, welche man behandelt, als die Art und Weise, wie man sie behandelt".41 Neben Publikum, Inhalt und Darstellungsweise gilt nun, wie wir bereits gesehen haben, als viertes und wichtigstes Charakteristikum der Popularphilosophie der Deutschen Aufklärung die Gegnerschaf t gegen die Schulphilosophie, durch die die ,Philosophie für die Welt' ihren Standort geradezu definiert. Zwar ist es die Schulphilosophie Wolffs, gegen die sich die Popularphilosophen richten, und nicht die Schulphilosophie schlechthin, aber das macht keinen großen Unterschied, da Popularphilosophen ähnliche Vorbehalte auch gegenüber der Kantischen Philosophie und der Philosophie des beginnenden transzendentalen Idealismus Fichtes und Schellings geltend machten. Und wir wissen, daß in gewisser Weise auch noch Kant dieses Paar von Reflexionsbegriffen in seiner Gegenüberstellung von „Philosophie nach dem Schulbegriff" und philosophic nach dem Weltbegriff" wiederaufgegriffen und abgewandelt hat. 42 Genau hier aber, nicht so sehr in Zielpublikum, Inhalt und Darstellungsweise , sehe ich den Grund für das nicht philosophiegeschichtliche, sondern reelle Scheitern der Popularphilosophie der Deutschen Aufklärung, ganz im Gegensatz zu ihren englischen und französischen Entsprechungen: Mit der teils planen, unvermittelten Frontstellung gegen jegliche Schulphilosophie begab sich die Philosophie für die Welt zugleich ihrer wichtigsten theoretischen Innovationsquelle, wie sich bereits in ihrem Unvermögen zeigte, die Philosophie Kants in vernünftiger Weise auch nur zu rezipieren, geschweige denn zu bemerken, daß sie sogar als eine Art erster und fundamentaler Schritt in Richtung auf eine Verwirklichung des eigenen Programmes aufzufassen wäre. Genau diesen Fehler hätte also jede Philosophie zu vermeiden, die als nicht-vulgäre Popularphilosophie will auftreten können. Der Grund für den namhaft gemachten Fehler liegt, wie gezeigt, in der Abtrennung der popularphilosophischen Entwicklung von der der Fach- oder Schulphilosophie, und zwar in beiden Hinsichten, nicht nur so, daß die abgetrennte Popularphilosophie sich nicht auf Ergebnisse der Fachphilosophie deduktiv stützen konnte, sondern auch 41 42

CH. GARVE, a.a.O. (Anm. 33) 353. Vgl. dazu H. HOLZHEY: Kants Erfahrungsbegriff. Quellengeschichtliche und bedeutungsanalytische Untersuchungen, IV C 2: „Philosophie nach dem Weltbegriff" (Basel/Stuttgart 1970) 301 ff.

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umgekehrt so, daß die Fachphilosophie selbst, von ihrer lebensweltlichen Basis abgeschnitten, trocken und steril werden mußte. Und dies ist nun die Stelle, an der ich nochmals auf die Göttinger zu sprechen komme, denn es könnte ja so aussehen, als ob die von dieser Gruppe von Aufklärungsphilosophen vertretene Verbindung von Schulphilosophie und populärer Anwendung derselben das wäre, was ich als Remedium gegen das .Versagen' der aufklärerischen Popularphilosophie vorschlagen möchte. Indessen, hier kann ich mich kurz fassen: die Göttinger Popularphilosophie ist eine letztlich akademische Philosophie, fußend auf Deduktionen aus schulphilosophischen Prinzipien, die nur deswegen einen lebensnahen Eindruck zuweilen zu erwecken scheinen, weil sie stark vom englischen Empirismus beeinflußt sind. Bei den Göttingern trifft leider der Vorwurf der Plattheit, der gegen sie erhoben wurde, ziemlich oft recht genau. Dazu kommt aber noch, daß sie, wie gesagt, im engeren Sinne nicht als ,Popularphilosophen' zu bezeichnen sind, sondern eher als popularisierende Schulphilosophen. Es gilt für das Folgende, die Differenz dieser Konzeption von der nun zu entwickelnden von allem Anfang an festzuhalten. - Es wird nicht verwundern, obwohl es primär vielleicht verblüffend wirkt, daß ich der Ansicht bin, der erste systematisch ernstzunehmende, wenn auch vielleicht nicht gelungene Versuch, den Gegensatz von Schule und Welt produktiv zu überwinden, sei Hegels Weg durch die Jugendschriften und die Jenaer Systementwürfe bis hin zur jPhänomenologie des Geistes'. Dabei ist die von Hegel vorgeschlagene Lösung bekanntlich die, die Entgegensetzung von Popularphilosophie und Schulphilosophie durch systematisch geordnete, sich aufstufende Lernprozesse des gesunden Menschenverstandes zu unterlaufen, so bereits 1802 in der Einleitung zum ,Kritischen Journal' programmatisch formuliert und schon zuvor, in der ,Differenzschrift', in ersten Ansätzen vorgeführt.43 Die Konsequenz aus dem Entwickelten ist mithin, daß zur Vermeidung des Grundfehlers der Popularphilosophie in der deutschen Auf43

G. W. F. HEGEL: Über das Wesen der philosophischen Kritik überhaupt, und ihr Verhältnis zum gegenwärtigen Zustand der Philosophie insbesondere (1802), Gesammelte Werke Bd. 4, hg. von H. BUCHNER und O. PÖGGELER (Hamburg 1968) 117 ff.; ders.: Differenz des Fichte'schen und Schelling'schen Systems der Philosophie in Beziehung auf Reinhold's Beyträge zur leichtern Übersicht des Zustande der Philosophie zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, l stes Heft (1801), a.a.O. 3ff.

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klämng eine zu postulierende neue Popularphilosophie in einen engen Wechselwirkungszusammenhang mit der Fachphilosophie gebracht werden müßte. Ob man dabei auf Hegels Konzept schlicht zurückgreifen kann, möchte ich allein schon aus hermeneutischen Gründen bezweifeln, ganz abgesehen davon, daß mir - wie ja auch wohl bereits Hegel selbst - im nachhinein fraglich ist, ob die .Phänomenologie' bereits zu ihrer Zeit eine gelungene Realisierung ihres zweifellos einleuchtenden Konzeptes darstellt. - Für die Art und Weise, wie ich mir eine heute mögliche, nicht-disjunktive Beziehung von Fachphilosophie und Popularphilosophie vorstelle, habe ich den Ausdruck .Arbeitsteilung' gewählt. In einem letzten Schritt soll es nun darum gehen, die Grundgedanken dieser Arbeitsteiligen Philosophie' auszufallen. IV.

Der Begriff Arbeitsteilung' ist bekanntlich von Adam Smith zum Grundterminus der Ökonomie gemacht worden, und zwar anhand des Beispiels der Stecknadelfabrikation. Arbeitsteilung entspringt nach Smith nicht der menschlichen Erkenntnis, sondern gleichsam naturwüchsig, als „the necessary, though very slow and gradual, consequence of a certain propensity in human nature (...), the propensity to truck, barter and exchange one thing for another".44 Marx unterzieht diese generalistische These, wie ebenfalls bekannt ist, einer produktionsverhältnis-spezifischen Differenzierung: die Arbeitsteilung entwickelt sich, entsprechend der jeweiligen ökonomischen Gesellschaftsformation immer weiter von ihrem naturwüchsigen Urzustand fort.45 — Es soll hier nicht darauf eingegangen werden, welche spezifischen Formen und Sorten der Arbeitsteilung Marx dabei unterscheidet. Wichtig ist mir nur, daß Adorno und Horkheimer in der ,Dialektik der Aufklärung' in einer ähnlichen Unterscheidung wie der von mir vorgenommenen zwischen Fachphilosophie und Popularphilosophie auf eine Variante ebendieses Marxschen Begriffes der Arbeits44

A. SMITH: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776) Buch I, Kap. 2, rev. Ausg. hg. von J. R. MC CULLOCK (London/Edinburgh 1846)6. 45 Zur Konzeption der Arbeitsteilung beim reifen MARX vgl. K. MARX: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band (1867). Erstes Buch, Kapitel 12: Teilung der Arbeit und Manufaktur. F. ENGELS/K. MARX: Werke Bd. 23 (Berlin 1969) 356ff.

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teilung zurückgreifen, wenn sie die „offizielle Philosophie", die als eine Art „Taylorismus des Geistes" der Produktionsmethodenoptimierung dient, von der eigentlichen Philosophie dadurch unterscheiden, daß diese im Gegensatz zu ihren offiziellen „Verwaltern" das Denken bezeichne, „sofern es vor der herrschenden Arbeitsteilung nicht kapituliert und seine Aufgaben von ihr sich nicht vorgeben läßt".46 - Wie reimt sich das nun mit meinem Versuch, der Philosophie interne Arbeitsteilung zu vindizieren? Philosophie muß, in meinen Augen, insofern arbeitsteilig sein, als es ihr um ihre Beziehung nach außen, anders: um ihre Interdependenzen mit anderen Systembündeln geht. Das hat zum einen nichts mit den ökonomisch-erkenntnistheoretischen Implikaten der AdornoHorkheimerschen These zu tun, deren argumentativer Sinn es ja ist, die Möglichkeit einer durch das ökonomische Sein nicht strikt determinierten Bewußtseinsart, eben der kritischen Philosophie, offenzuhalten. Das tangiert aber zum anderen auch nicht den ausgezeichneten Status der Philosophie, noch in all ihrer Spezialisierung, die es in ihr zweifelsohne gibt, generalistisch bleiben zu können. — Gemeint ist damit vielmehr, daß es nicht zwei verschiedene, sich vielleicht sogar gegenseitig ausschließende Arbeiten sind, die von Fachphilosophie und Popularphilosophie zu leisten wären, sondern daß es sich dabei um eine, allerdings gleichsam vertikal geteilte Arbeit handelt. Dadurch ist auch nicht gesagt, daß diese vertikal geteilte Arbeit nicht auch von einer Person geleistet werden könnte; das, was täglich von uns ,Fachphilosophen' gefordert wird, beweist vielmehr das Gegenteil. Mithin ist die Bezeichnung Arbeitsteilung' auch kein möglicher Anlaß zu irgendwelchen Spekulationen über den Grad an Entfremdung, der diese Arbeit auszeichnet. Womit nicht gesagt sein soll, daß es nicht auch und gerade in der Philosophie Arbeitsteilung im ökonomisch definierten Sinne mit den ihr anhaftenden Depravationen und Entfremdungserscheinungen gebe. Versuchen wir, den Gedanken der Arbeitsteiligkeit der Philosophie in das zu Beginn als Rahmenkonzept skizzierte Systembündel-Modell zu übertragen, so ergibt sich folgendes: Die Philosophie ist selbst ein Bündel von sich diachron entwickelnden Systemen, das sich zunächst einmal in zwei Unterbündel teilt, in das der Fachphilosophie und in 46

M. HORKHEIMER/T. W. ADORNO: Philosophie und Arbeitsteilung, in: dies., a.a.O. (Anm. 15) 259f.

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das der Popularphilosophie im eben bestimmten Sinne. Die Interdependenzen zwischen diesen beiden Bündeln, nicht zwischen einzelnen Personen vordringlich, sind es, die durch den Ausdruck ,arbeitsteilig' bezeichnet werden. Das Systembündel ,Fachphilosophie', das wir zuerst näher betrachten wollen, besteht aus ihrerseits in mannigfacher Weise voneinander abhängigen, sich diachron entwickelnden Systemen, die wir als Logik, Metaphysik, Ethik, Ästhetik usw., aber auch als Wissenschaftstheorie traditionellerweise voneinander zu unterscheiden und durch regionale Gegenstandsbereichskriterien abzugrenzen gelernt haben. Die diachrone Entwicklung dieses Systembündels gehorcht zum einen einem Set immanenter Regeln, die sich unter anderem durch die Interdependenzen der einzelnen Systeme ergeben. So sind die Entwicklungsregeln der Wissenschaftstheorie bislang ganz offenkundig abhängig gewesen von dem Stand der formalen Logik,47 und ähnliches gilt für das Verhältnis von Sprachanalyse und neuerer Ethik. Andererseits muß aber noch ein zusätzlicher Set von Regeln angenommen werden, die sich aus den Interdependenzen dieses Systembündels Fachphilosophie mit außerphilosophischen Systembündeln und Einzelsystemen ergeben. Unter diesen außerphilosophischen Systembündeln steht aber an erster Stelle das Bündel, das wir ,Lebenswelt' genannt haben. 48 Zur 47

In den letzten Jahren hat sich die Wissenschaftstheorie bekanntlich stärker an Theorien der Wissenschaftsgeschichte orientiert, und zwar im Anschluß an TH. S. KÜHN: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen (1962, dt. 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1973). Die .klassische' Auseinandersetzung mit Kuhns Thesen ist dokumentiert in I. LAKATOS/A. MUSGRAVE (Hg.): Criticism and the Growth of Knowledge (Cambridge 1970), dt. unter dem Titel „Kritik und Erkenntnisfortschritt" (Braunschweig 1974); neuere Stellungnahmen finden sich bei H. DIEDERICH (Hg.): Theorien der Wissenschaftsgeschichte (Frankfurt a. M. 1974); im deutschen Sprachbereich teils unbekannte Arbeiten von Kühn aus den Jahren 1959-1975 bringt der neue Sammelband von TH. S. KÜHN: Die Entstehung des Neuen, Studien zur Struktur der Wissenschaftsgeschichte, hg. von L. KRÜGER (Frankfurt a. M. 1977); zur Weiterentwicklung des Kuhnschen Konzeptes bei den .Starnbergern' vgl. neben den umstrittenen früheren ,Finalisierungsaufsätzen' (wiederabgedruckt z. T. in DIEDERICH, a.a.O.) neuerdings G. BÖHME/W, v. d. DAELE/W. KROHN: Experimentelle Philosophie. Ursprünge autonomer Wissenschaftsentwicklung (Frankfurt a, M. 1977). Die sonst hier einschlägige Literatur beläuft sich wohl bereits heute auf an die tausend Titel, da jeder, der auf sich hält, etwas zu ,Paradigmenwechseln' schreibt - es hat eine Art von ,Paradigmen-Wechselreiterei' begonnen. 48 In diesem Zusammenhang, in dem ,Lebenswelt' als Terminus zur Bezeichnung eines eigenen regel-definierten Systembündels verwendet wird, erweist

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Eingabe von Entwicklungsparametern, die aus diesem Systembündel stammen, bedarf es aber ebenso wie zur Rückmeldung eines eigenen ,Filters', da das von der Lebenswelt her eingegebene Problemmaterial gleichsam noch nicht den ,restringierten Code' der Fachphilosophie hat. Einfacher gesprochen: Die Fachphilosophie entwickelt sich sowohl nach den ihr immanenten Gesetzen, die dann in ideen- und begriffsgeschichtlichen Untersuchungen wiederzufinden sind, als auch nach Gesetzen ihres Bezuges auf Außerphilosophisches, zumal aber Lebensweltliches, da sich leicht zeigen läßt, daß alles Außerphilosophische, insbesondere auch die Wissenschaft, letztlich zurückgebunden ist an Bereiche des alltäglichen Lebens. In dem Moment aber, in dem die Philosophie auf die immanente Weiterentwicklung oder auf ihre lebensweltbezogenen Aspekte Verzicht tut, ist sie als ganze am Ende, denn ohne immanente Gedankenentwicklung ist sie nicht mehr in der Lage, neuauftretende lebensweltliche Probleme wenn auch vielleicht nicht zu lösen, so doch wenigstens differenziert zu stellen oder theoriefähig zu machen; ohne problem-Input' aus außerphilosophischen Bereichen kommt sie zur leeren Nabelschau und bringt sich damit letztlich auch um die Möglichkeit theoretischer Weiterentwicklung. Es ist wohl kaum ein Geheimnis, daß ich der Ansicht bin, die Philosophische Hermeneutik, wie sie ansatzweise von Gadamer entwickelt, besser: weiterentwickelt wurde, sei als erster Schritt in Richtung auf eine sich in dieser Weise verstehenden Philosophie zu betrachten. Gadamer spricht zuzugebendermaßen in einer etwas anderen Sprache als ich und bezieht sich — wenigstens vordergründig — scheinbar einstweilen nur auf die Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften. Dem liegt aber die Absicht zugrunde, jene lebensweltliche Dimension sichtbar zu machen, die nicht nur die Trennung von Wissenschaftsgruppen, sondern vorab bereits die Trennung von Wissenschaft, Philosophie und Lebenswelt hintergeht. „So sehen wir in den Wissenschaften selbst die hermeneutische Dimension sich als die eigentlich sich besonders deutlich, wie wenig genau er selbst bestimmt ist. Indessen gibt es gute Gründe dafür, diese positive Kennzeichnung anstelle einer bloß negativen zu verwenden: Zwar ist heute eine scharfe Trennung zwischen Wissenschaft, Technik und Lebenswelt kaum mehr zu ziehen; daß etwas nicht ist, ist aber in keiner Weise ein Argument dafür, daß es auch nicht sein soll, und insofern läßt sich der Terminus ,Lebenswelt' regulativ bzw. idealtypisch dennoch verwenden.

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tragende und begründende erweisen — in den Naturwissenschaften als die Dimension der Paradigmen und der Relevanz der Fragestellungen. In den Sozialwissenschaften ließe sich Ähnliches als die Selbstaufhebung des Sozial-Ingenieurs in den gesellschaftlichen Partner beschreiben. In den geschichtlichen Wissenschaften endlich ist sie als die beständige Vermittlung von Einst und Jetzt und Morgen am Werk".49 Und dies, was Gadamer 1974 bezüglich der Wissenschaften festhielt, gilt in nicht geringerem Maße natürlich auch für all die anderen Faktoren, die in der Lebenswelt gegenwärtig eine Rolle spielen: die Technik, die Kunst, die Politik, die gesellschaftlichen und ökonomischen Faktoren von Arbeits- und Freizeitwelt, die Liebe, die Bedürfnisse, der Sport, aber in jüngster Zeit erneut auch der Terrorismus — kurz: alles, was in den Beziehungsgefügen von Mensch zu Mensch und von Mensch zu bearbeiteter und unbearbeiteter Natur sich findet. Der nun schon bald klassisch gewordene Satz von Jürgen Habermas ,JDie Philosophie bleibt ihrer großen Tradition treu, indem sie ihr entsagt"50 ist — all seiner Prägnanz zum Trotz — wenn nicht falsch, so doch irreführend: Die Philosophie bleibt vielmehr ihrer großen Tradition nur treu, indem sie sie erneuert, ihrer Tradition nämlich, Begreifen von allem zu sein, ohne Ausnahme. Den Rahmen der Realisierungsbedingungen für dieses Konzept hat ebenfalls Gadamer abgesteckt, wenn er auf die symmetrische Beziehung von Hermeneutik und Rhetorik hinweist.51 Hermeneutik als — wenn man so will — Heuristik der lebensweltlichen Probleme, Rhetorik als Weg der Rückübermittlung von exoterisch, in Beziehung auf die Lebenswelt gewonnenen Problemen und deren Klärungen an den Bereich der Lebenswelt, oder: Hermeneutik gleichsam als Input-, Rhetorik als Outputmechanismus, Fachphilosophie als Black-box , der Mitten'.

49

H.-G. GADAMER: Philosophie oder Wissenschaftstheorie?, in: H. HOLZHEY (Hg.): interdisziplinär. Philosophie aktuell Bd. 2 (Basel/Stuttgart 1974) 101. 50 J. HABERMAS: Erkenntnis und Interesse (1965), a.a.O. (Anm. 17) 167. 51 Vgl. H.-G. GADAMER: Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik, in: K.-O. APEL/C. v. BORMANN/R. BUBNER/H.-G. GADAMER/H. J. GIEGEL/ J. HABERMAS: Hermeneutik und Ideologiekritik (Frankfurt a. M. 1971) 57ff. - Ohnehin wird in letzter Zeit der Rhetorik auch rein pragmatisch bedeutend größeres Gewicht beigemessen. H. Lübbe will gar in der Philosophie „auf literarisch-rhetorische Potenzen Prämien" aussetzen, vgl. H. LÜBBE: Unsere stille Kulturrevolution (Zürich 1976) 95 et passim.

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Daß eine solche Konzeption es aus ihrem Inhalt selbst verbietet, bloße Konzeption, reines Programm zu bleiben, habe ich schon verschiedentlich betont.52 Sie fordert vielmehr Realisierungen oder wenigstens Realisierungsversuche. Diese müßten in hermeneutischem Problemaufgriff aus der lebensweltlichen Sphäre, fachphilosophischer Analyse und rhetorischer Rückmeldung' bestehen. Da aber, wie sich gezeigt hat, die Wissenschaften nicht nur eines der für die Philosophie wichtigsten Systembündel bilden, sondern auch gleichsam ins Theoretische verlängerte, von der Philosophie theoriefähig gemachte Gedanken der Philosophie sind, leuchtet ein, daß die fachphilosophische Problemdiskussion sich immer auch in Auseinandersetzung mit den wissenschaftlichen Aspekten der je anstehenden Probleme abspielen muß, sofern solche bereits elaboriert vorliegen. Das hochproblematische, einer präzisen Bestimmung immer noch harrende, heute modisch gewordene Postulat der Interdisziplinarität53 erhielte hier seinen für die Philosophie sinnvollen Stellenwert. Unsere Ausgangsfrage war die nach Rolle und Funktion der Philosophie — heute. Im Zusammenhang des skizzierten SystembündelModelles synchron-diachroner Totalität ergibt sich nun eine Antwort: Es ist nicht etwa so, daß die Philosophie durch die Wissenschaften herausgefordert oder gar funktionslos gemacht worden wäre, sondern ohne Philosophie wäre weitere wissenschaftliche Theorieninnovation ebenso wie Welt- und Handlungsorientierung nicht mehr gegeben, sodaß man, sollte die bestehende Philosophie sich in ihrer genannten ,Kaninchen-Kurzsichtigkeit' in der Tat selbst ums Leben bringen (wofür n. b. trotz allem immer noch viele Indizien sprechen), sie neu erfinden müßte. Eingangs hatte ich in methodischer Hinsicht darauf hingewiesen, daß die Philosophie in konstitutiver Weise auf ihre eigene Geschichte angewiesen sei. Unter Voraussetzung des bisher Entwickelten läßt sich dies nun auch belegen: Philosophie könnte nämlich ebenfalls 52

Vgl. a.a.O. (Anm. 10) 279; sowie meinen Aufklärung/Philosophie-Aufsatz, a.a.O. (Anm. 23) 38 Anm.; als erste Realisationsschritte vgl. etwa einzelne Bände der Taschenbuchreihe .Philosophie aktuell' (Basel/Stuttgart 1974ff.); der Intention nach treffen sich indessen auch die Ansätze von H. LENK: Pragmatische Philosophie (Hamburg 1975) oder von J. MITTELSTRASS und F. KAMBARTEL, z. B. a.a.O. (Anm. 19-21) mit dem hier vorgeschlagenen Konzept. 53 Zur Interdisziplinarität vgl. u. a. H. HOLZHEY (Hg.), a.a.O. (Anm. 49).

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weder theorieinnovativ noch weit- und handlungsorientierend wirken, wenn sie den diachronen Zusammenhang ihres eigenen Systembündels, genauer: seines immanenten Regelsets, mit vorhergehenden Stufen und mit intervenierenden Querbeziehungen zu anderen Systembündeln nicht reflektierte, da nur aus diachronen Längs- und synchronen Querbeziehungsparametern zusammen sich überhaupt eine historische Resultante ergeben kann. Es dürfte klar sein, daß ich hier einer Philosophiegeschichte in systematischer Absicht das Wort rede, nicht etwa rein historisierend-klassifizierenden Schubladisierungsanstrengungen — dem Philosophiehistoriker mithin als dem (selbstredend detaillistisch informierten) philosophischen Verstehenspragmatiker, nicht aber dem ,Schub-Laden-Hüter' vergangener Meinungen. 54 Jürgen von Kempski, mit dem ich den Gedanken teile, daß Philosophie begriffliche Konstrukte zur Theoriereife zu bringen habe, hat vorgeschlagen, sich der belastenden wirkungsgeschichtlichen Autorität der ,Alten' zu entledigen, da sie nur dekorativ, nicht aber konstitutiv sei für das philosophische Hauptgeschäft, Gedanken theoriefähig zu machen. „Dann aber", so führt er aus, ,,besteht für uns kein Anlaß, vor den großen Philosophen der Vergangenheit ins Nichts zu versinken und uns hinter ihren Texten zu verstecken. Was immer sich hinter diesen Texten entdecken läßt, so jedenfalls nicht die Begriffe, die uns erlaubten, neue Übergänge zu Theorien zu finden und zu vollziehen." Und er faßt das in einer seiner unüberbietbar anschaulichen Formeln zusammen: Es sei an der Zeit, auch einmal ,,Narr auf eigene Faust ohne Platon zu sein".55 - Wenn dem, was ich hier entwickelt habe, aber auch nur einiger Wahrheits- oder wenigstens Plausibilitätswert soll zukommen können, dann müßte man das umformulieren — ebenso plakativ: Wenn die Philosophie einer Zeit glaubt, sie könne ,ohne Platon' philosophieren, macht sie sich - zugegebenermaßen ,auf eigene Faust' - selbst zum Narren. Und nicht einmal die Philosophie kann behaupten, das im Ernst zu wollen. 54

Natürlich existieren andere Auffassungen von Philosophiegeschichte, mit denen ich mich ausfuhrlicher auseinandersetze a.a.O. (Anm. 9). Ebenso verzichte ich hier auf die damit zusammenhängende Diskussion der Institutionalisierung von Philosophie und Philosophiegeschichte in Zusammenhängen der Lehrerbildung. Vgl. dazu W. GÖLZ/U. SCHMIDHÄUSER/ E. THIES/L. ZAHN (Hg.): Wozu heute Philosophie? Versuch einer Ortsbestimmung in der Lehrerbildung (Bad Heübronn/ObB. 1976). 55 J. v. Kempski, a.a.O. (Anm. 22) 326.

JOSEPH J. KOCKELMANS

Gedanken zur Frage: „Wozu Philosophie?" I, Einleitung In diesem Aufsatz möchte ich über die Frage: „Wozu Philosophie?" nachdenken, um ihre Bedeutung zu bestimmen und einige konkrete Vorschläge zu machen, wie man diese Frage vielleicht beantworten könnte. Um meinen Überlegungen die notwendige Perspektive zu verleihen, werde ich zuerst kurz andeuten, wie ich unter dem Einfluß der Phänomenologie und der hermeneutischen Bewegung zu meiner Auffassung von Philosophie gekommen bin. Nach einer kurzen Zusammenfassung dieser Ideen werde ich dann versuchen, eine mögliche Interpretation des Sinnes der im Titel dieses Aufsatzes genannten Frage zu entwickeln, und die so aufgefaßte Frage zu beantworten. Schließlich werde ich einige Bemerkungen über die Bedeutung der Diskussion zwischen Philosophen machen. Die Fragen, was Philosophie ist, was ihr Anliegen ist, in welchem Verhältnis sie zur Religion und Wissenschaft steht, welche Methode sich am besten 7.u philosophischen Überlegungen eignet usw., haben mich über viele Jahre beschäftigt, und bei Gelegenheit habe ich versucht, einen positiven Beitrag zur Diskussion dieser Fragen zuliefern. Ich werde mich in den folgenden Seiten auf eine kurze Zusammenfassung solcher Ideen beschränken, welche die Hauptdiskussionspunkte direkt angehen. Zur weiteren Dokumentation muß ich auf meine früheren Publikationen über diese Probleme verweisen.1

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Die Hauptthesen die hier entwickelt werden, waren veranlaßt durch La Philosophie et les experiences naturelles, das in den sechziger Jahren durch A. de Waelhens publiziert wurde (Den Haag: Nijhoff, 1961). Die Interpretation Hegels ist durch die Publikationen von Hyppolite, Merleau-Ponty, und de Waelhens mitbestimmt. Die grundlegende Perspektive meiner Reflexionen ist aber Heideggers Sein und Zeit entnommen (Tübingen: Max Niemeyer, 1963). Eine ausführliche Darstellung dieser Ideen habe ich in meiner Antrittsrede Over de zin der Wijsbegeerte (Den Haag: Lannoo, 1963) und in meinem Buch

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Joseph J.Kockelmans II. Was ist Philosophie?

Wie viele andere zeitgenössische Philosophen bin ich allmählich zu der Einsicht gelangt, daßes notwendig ist, gegenüber allen klassischen Auffassungen der Philosophie eine kritische Haltung einzunehmen. In dieser kritischen Haltung gegenüber den klassischen metaphysischen Konzeptionen verstehe ich unser Interesse jedoch als positiv, weil wir davon überzeugt sind, daß sich in den klassischen Auffassungen ein Ideal offenbart, welches bis jetzt noch nicht ganz verwirklicht worden ist. Anstatt die Geschichte der Philosophie zu verneinen, versuchen wir, sie als ein wichtiges Untersuchungsfeld der philosophischen Reflexionen zu bestimmen, um die wahre Bedeutung des Ideals, wie es zuerst in Griechenland von Parmenides und Heraklit gesehen wurde, hervorzuheben und zu artikulieren. In diesem Vorgang der Wiederholung versuchen wir das zu erhalten, was die wirkliche Größe der Philosophien der Vergangenheit darstellte. Wir stimmen mit den griechischen Philosophen überein, daß das Untersuchungsfeld der Philosophie im ,Sein der Seienden', im Sein selbst, zu finden ist. Aber anstatt unsere Aufmerksamkeit hauptsächlich auf die Seienden zu konzentrieren, d. h. auf die onta, wenden wir unser Interesse der begrenzten Totalität des Sinnes oder dem Ganzen zu, worin, was ihren Sinn anbelangt, die Seienden sich selbst manifestieren können als die Seienden, die sie sind. Mit Descartes und Kant jedoch sind wir der Überzeugung, daß, indem man das Ganze betrachtet, man den Standpunkt der menschlichen Subjektivität als Ausgangspunkt einnehmen soll. Im Gegensatz zur modernen Philosophie jedoch verstehen wir diese Subjektivität nicht als eine denkende Substanz, eine geschlossene Monade, ein passiv registrierendes Denkgerät, das Ideen von Eindrücken her entwickelt mit Hilfe bestimmter Assoziationsgesetze, oder als ein reines Bewußtsein, oder sogar als die Stelle selbst, wo das Absolute sein Selbstbewußtsein realisiert als absolutes Wissen. Der Mensch erfährt sich je unmittelbar als ein Seiendes, welches sich in einer Welt befindet und welches (was immer er auch tut, denkt, fühlt, oder wünscht) weiß, daß er ein noch nicht The World in Science and Philosophy zu entwickeln versucht (Milwaukee: The Bruce Publishing Company, 1969). Zu Dank bin ich Herrn Prof. Dr. Manfred Keune verpflichtet, der einen ersten Entwurf der deutschen Übersetzung hergestellt hat, und Frau Marion Heinz, die den definitiven Text sorgfältig durchgesehen hat.

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vollständig artikuliertes Wissen über diese Welt hat. Es ist dieses vorontologische Verständnis der Welt, welches der Philosophie eines Menschen in seinem Versuch, die Frage nach dem Sinn des Ganzen zu beantworten, als Ausgangspunkt dienen muß. Mit anderen Worten, wir teilen mit fast allen großen Philosophen der Vergangenheit die Ansicht, daß Philosophie als kritische Reflexion auf den Sinn des Ganzen verstanden werden muß, d. h. auf die Totalität des Sinnes, die in jeder Epoche vom Menschen verstanden werden kann. Anders als die Griechen verteidigen wir jedoch die Ansicht, daß die Philosophie in der Behandlung des Ganzen dem Menschen eine Sonderposition einräumen muß. Im Gegensatz zur Mehrzahl der modernen Philosophien aber soll der Mensch nicht im Sinne eines abgeschlossenen Bewußtseins verstanden werden, sondern als ein ,Subjekt', das wesentlich durch Offenheit charakterisiert werden muß, d. h. durch seine existenziale Orientierung zur Welt, seine Transzendenz und seine Freiheit. Wir verteidigen daher die These, daß eine echte Ontologie, welche ihre ganze Aufmerksamkeit der Frage nach dem Sinn des Ganzen widmet, ihren Ausgangspunkt in eine interpretative Analyse des Seins des Menschen verlegen muß, welche dem Sein des Menschen entspricht. Diese Analyse zeigt, daß die menschliche Subjektivität wesentlich intentional ist; der Mensch ,ex-sistiert', er steht zur Welt heraus, und mit Notwendigkeit transzendiert er sich und die Dinge in die Richtung der Welt. Somit ist der Mensch nicht ein in sich selbst verwickeltes Ego oder ein komplizierter Mechanismus, der in kausaler Weise in seine Umwelt verwoben ist, Von Anfang an und im tiefsten Kern seines Seins manifestiert sich der Mensch als ein Seiendes, das in der Welt und zu der Welt hinaus steht. In und durch den Dialog mit den innerweltlichen Dingen und seinen Mitmenschen läßt der Mensch die Seienden und die Welt das sein, was sie sind. Er entdeckt sie, artikuliert ihren Sinn, und bringt so ihren wirklichen Sinn ans Licht. Wenn wir erkennen, daß der Mensch nichts anderes als ein Projekt der Welt ist, und daß seine existenziale Orientierung zur Welt verschiedene konkrete Formen annehmen kann, stellt sich sofort die Frage: Welche dieser Verhaltensweisen zur Welt ist die ursprünglichste? Während Descartes und Kant glaubten, daß unser Verhältnis zur Welt ursprünglich und primordial ein kognitives Verhältnis ist, welches sich in theoretischem Wissen konstituiert und erhält, behaupten wir, daß theoretisches Wissen und Wissenschaft nur als spezifische und

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gerade eben nur als abgeleitete Arten und Weisen der fundamentalen Orientierung des Menschen zur Welt gelten können. Die Orientierung des Menschen zur Welt konstituiert sich ursprünglich in der Gestalt einer besorgenden Beschäftigung mit den Dingen und den Mitmenschen. Der Mensch erhebt sich zur theoretischen Überlegung und zur Wissenschaft nur von diesem Ausgangspunkt innerhalb seines besorgenden Zu-tun-habens mit der Welt. Das Verstehen, welches für das Sein des Menschen wesentlich ist, besteht daher ursprünglich nicht in einem starren Begaffen eines nur Vorhandenen, sondern das Besorgen der besorgten Welt impliziert eine Art ,Praktognosie', worin das innerweltliche Seiende unmittelbar als es selbst gegeben ist. Aus diesen kurzen Betrachtungen folgen, notwendigerweise, sehr wichtige Konsequenzen. Erstens ist es mittlerweile klar, warum wir glauben, daß die traditionelle Philosophie seit Platon und Aristoteles in ihrer fragenden Beschäftigung mit dem Ganzen, d. h. mit dem Problem des Seins, ihre Orientierung zu einseitig am Sein der innerweltlichen Seienden genommen hat. Es ist weiterhin klar, daß in der modernen Philosophie die Dinge selbst zu einseitig als Objekte eines nur theoretischen Wissens und spezifisch als Objekte der empirischen Wissenschaften betrachtet worden sind. Auf diese Weise werden Seiende durch Objekte ersetzt und Dinge durch objektivierte Entitäten. Sobald aber die Dinge nur als Objekte theoretischer, wissenschaftlicher Erkenntnis verstanden werden, wird es klar, warum das Ganze als Realität (res) verstanden und so reifiziert wurde. Dieser Verlagerung des Seinsverständnisses entsprechend rückte dann auch das ontologische Verstehen des Menschen selbst in den Horizont dieses Seinsbegreifens. Auch der Mensch selbst ist ein Ding, zwar ein sehr spezielles Ding, ein denkendes Ding, ein Subjekt, das sich irgendwie zu anderen vorhandenen Dingen als Objekten verhält. Auch der Mensch ist wie andere Dinge nur rein vorhanden. Diese Auffassung aber von Sein als Realität, von Ding als Objekt und vom Menschen als denkender Substanz mußte dann notwendig zum modernen Realitätsproblem führen, so wie dies durch Descartes und später durch Kant formuliert worden ist. Dieses Problem ist unabwendbar, sobald Subjekt und Objekt getrennt werden, so wie es in der modernen Philosophie geschehen ist. In diesem Zusammenhang ist es auch verständlich, warum das Interesse für Werte später erheblich zunahm. Denn in dem Moment, da die Dinge bloß als Gegenstände wissenschaftlicher Er-

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kenntnis verstanden werden, haben sie offensichtlich als objektivierte Entitäten keine Wertqualitäten mehr. Wenden wir uns nun anderen sehr wichtigen Elementen unserer Auffassung der Philosophie zu: ihrer wesentlichen Geschichtlichkeit und der Idee, daß Philosophie in der kritischen Reflexion auf unsere menschlichen Erfahrungen besteht. Beide Ideen wurden zuerst von Hegel formuliert. Es wäre hier interessant, einmal genau zu untersuchen, wie Hegel selbst diese Ideen verstanden hat, wie er sie rechtfertigte, und warum so viele moderne Philosophen sie neu formulierten. Da ich mich an anderen Stellen schon mit dieser Frage beschäftigt habe, ziehe ich es vor, mich hier auf eine kurze Charakterisierung der Position zu beschränken, die wir in unserem Versuch Hegels Philosophie wiederholend wiederzugewinnen, erreicht haben. Mit Hegel behaupten wir, daß der Mensch wesentlich zeitlich und geschichtlich ist und daß, wenn der Mensch wesentlich geschichtlich ist, auch jede menschliche Äußerung an dieser Geschichtlichkeit teilnimmt. Das bedeutet u. a., daß die Philosophie des Menschen auch grundlegend geschichtlich ist. In dem Versuch innerhalb des Bereiches, der durch Hegels Auffassung der Geschichtlichkeit der Philosophie geöffnet wurde, ihren eigenen Weg zu finden, behaupten einige zeitgenössische Philosophen, daß diese Geschichtlichkeit letztlich in dem wesentlich geschichtlichen Charakter des Ganzen selbst wurzelt, d . h . in der Totalität allen Sinnes, welche sich in den verschiedenen Epochen der menschlichen Geschichte auf verschiedene Art und Weise offenbart und verbirgt. Andererseits wurzelt die Geschichtlichkeit der Philosophie natürlich auch in der Geschichtlichkeit des Seins des Menschen selbst. Hieraus kann man sofort schließen, daß eine vollkommene philosophische Synthese nie erreicht werden kann. Jeder Philosoph versucht die Welt zu verstehen, in der er lebt. Da diese bestimmte Welt jedoch nicht identisch ist mit der Welt, und die Welt nicht identisch mit dem Ganzen des Sinnes ist, sondern bloß in der bestimmten Weise besteht, in der die Totalität alles möglichen Sinnes zu einem bestimmten Moment in der menschlichen Geschichte sich offenbart und verbirgt in einer begrenzten Anzahl artikulierter Welten, und da weiterhin der Philosoph selbst durch diese Welt mitgebildet wird, ist es offensichtlich, daß seine Philosophie nie der Begrenzung seiner geschichtlichen Situation entgehen kann. Mit anderen Worten, wir stimmen mit Hegel überein, daß die unterschiedlichen philosophischen

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Perspektiven im Sinne einer progressiven Entwicklung der Wahrheit verstanden werden können, d. h. als ein Prozeß allmählicher Entbergung und Aufdeckung. Dementsprechend irrt das naive Bewußtsein, wenn es in diesen Unterschieden einen Widerspruch sieht. Der einzige Punkt, in dem wir Hegel hier nicht folgen können, besteht darin, daß Hegel die verschiedenen philosophischen Perspektiven als Elemente eines organischen Systems oder einer Einheit versteht, in der das eine Element ebenso bedeutend ist wie das andere, und daß er daher behauptet, Notwendigkeit sei für das Leben des Ganzen wesentlich. Im Gegensatz dazu versuchen wir, spätere philosophische Synthesen als freie Konsequenzen früherer Denkformen zu verstehen und verneinen entscheidend, daß die jeweiligen Philosophien und Epochen der Geschichte der Philosophie gesetzmäßig entstanden sind und sich nach Gesetzen abgelöst haben, die in der Notwendigkeit eines dialektischen Prozesses gründen. Mit anderen Worten, die Geschichte der Philosophie bindet den zeitgenössischen Philosophen heute nicht durch die Notwendigkeit der unzerbrechlichen Gesetze der Dialektik Hegels, sondern die philosophische Tradition (wie alle anderen Traditionen) erlöst und befreit den Menschen. Die Antwort auf eine philosophisch relevante Frage besteht in der authentischen Antwort eines Denkers auf das, was in der Geschichte der Philosophie schon auf ihn zukommt. Solch eine authentische Antwort impliziert die Bereitschaft des Denkers, auf das schon Gesagte zu hören, sowie den Mut, sich von dem Gehörten zu distanzieren. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer gewissen Kritik gegenüber der Vergangenheit in der Philosophie. Aber diese Kritik soll weder als Bruch mit der Vergangenheit verstanden werden noch als Verwerfen der Geschichte der Philosophie, sondern als eine Übernahme (in der Gestalt einer Transformation und Anpassung an die Welt, in der wir leben) dessen, was uns überliefert worden ist. Manche Denker haben behauptet, daß die grundlegende Schwäche der Philosophie, so wie sie hier bestimmt worden ist, in der Tatsache besteht, daß, nachdem Hegels Auffassung der Erfahrung angenommen wurde, die Notwendigkeit fallengelassen wird, die Erfahrungen neu aus der Perspektive des absoluten Wissens zu durchdenken, eine Notwendigkeit, für welche Hegel ausdrücklich argumentiert hat. In der Tat verteidigen wir die Ansicht, daß die Art und Weise, wie Hegel die menschlichen Erfahrungen neu durchdenkt und transzendiert, unannehmbar ist. Jedoch deutet diese negative Ansicht nicht auf die

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Überzeugung hin, daß unsere Erfahrungen nicht in philosophischer Reflexion wieder erlebt werden sollten. Denn nur die kritische Reflexion ist imstande uns zu helfen, den wahren Sinn unserer Erfahrungen zu erfassen. Aber die Perspektive, innerhalb derer das unternommen werden muß, ist nicht das absolute Wissen des Absoluten, sondern die Perspektive des Ganzen, d. h. der Totalität des Sinnes, die wir jetzt verstehen können. Es liegt in dieser Perspektive, daß der Mensch sein eigenes Sein in seiner vollen Potentialität verstehen kann, so daß er jeden Modus seines Seins, wie er in jeder Erfahrung sich manifestiert, mit dem Ganzen aller Möglichkeiten vergleichen kann; denn nur so versteht man den echten Sinn dieses Seinsmodus. Weiterhin liegt es auch innerhalb dieser Perspektive, daß man jedes Ding von ihm selbst her sehen lassen kann, so wie es sich von ihm selbst her zeigt. Denn nur innerhalb dieser Perspektive kann, durch die Projektion des Dinges auf die Totalität des Sinnes, das Ding in seinen gesamten Möglichkeiten gezeigt werden, so daß der konkrete Modus der Gegebenheit, wie er in einer bestimmten Erfahrung gefunden wird, im wahren Sinne erscheinen kann. Weiterhin wurde behauptet, daß die philosophische Reflexion kritisch sein muß. Obwohl wir Voraussetzungslosigkeit und Absolutheit ablehnen müssen, werden wir natürlich Methode und Strenge nicht verstoßen. Die erste, letzte, und bleibende Aufgabe unserer philosophischen Reflexion ist es, niemals unsere Vorurteile ununtersucht anzunehmen und uns von bloßen willkürlichen Auffassungen beherrschen zu lassen, sondern die relevanten Themen wissenschaftlich zu sichern, indem wir unsere antizipierten Auffassungen aus den Sachen selbst her ausarbeiten. Das führt uns zu einem anderen Element der Hegeischen Auffassung der Philosophie, das für uns hier von größter Wichtigkeit ist, nämlich die Idee, daß die Philosophie als kritische Reflexion auf menschliche Erfahrungen angesehen werden muß. In derPhänomenologie des Geistes behauptet Hegel, daß die Philosophie die Wissenschaft der Erfahrungen des Bewußtseins ist; und da die Totalität aller Erfahrungen des Bewußtseins ,Geschichte' genannt wird, ist die Philosophie die Vernunfteinsicht in die geschichtliche Erfahrung und die Geschichte selbst das Werden der Philosophie. In der Phänomenologie des Geistes war es nicht Hegels erste Absicht, die ganze Geschichte in ein vorher bestimmtes System der Logik einzupassen. Die Einleitung sagt, daß der Philosoph sich nicht an die Stelle der verschiedenen menschlichen Erfahrun-

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gen versetzen soll; seine Aufgabe besteht vielmehr darin, diese Erfahrungen, wie sie die Geschichte ihm liefert, zu sammeln und zu entziffern. In der Enthüllung dieser immanenten Logik der Erfahrung in allen ihren Sektoren wird nicht mehr ausschließlich nach den notwendigen Bedingungen der Möglichkeit unserer wissenschaftlichen Erfahrungen gefragt — wie es in Kants „Kritik der reinen Vernunft" der Fall war; Hegels Problem besteht vielmehr in der Frage, wie soziale, moralische, ästhetische und religiöse Erfahrungen möglich sind, und daher in der Frage, wie man die grundlegende Situation des Menschen hinsichtlich der Welt und anderer Menschen entziffern kann. Was Hegel eigentlich voranbringen wollte, war das Verständnis sozialer Ordnung, ökonomischer und juridischer Systeme, Kunstwerke, Wissenschaft, Technologie, Ethik und Religion, als ebensoviele Weisen, in denen der Mensch den Begrenzungen seines eigenen Seins entgegentritt. Von diesem Standpunkt her wird es verständlich, daß Hegel die Erfahrung als die dialektische Bewegung definiert, welche das Bewußtsein an ihm selbst vollzieht. Erfahrung bedeutet hier nicht mehr einfach unseren bloß theoretischen und reflexiven Kontakt mit der sinnlichen Welt, wie das bei Kant noch der Fall war; das Wort nimmt wieder ,tragische' Resonanzen an, die es in der Umgangssprache hat, wenn ein Mensch z. B. über das spricht, was er erlebt hat. Später interpretierte Hegel diese Idee idealistisch und verteidigte ausdrücklich die Ansicht, daß der Philosoph, und der Philosoph allein, durch sein Denken die Wahrheit über alle Erfahrungen erkennen kann, sie integrieren, überwinden, und von der Tiefe dieser Weisheit den wahren Sinn der Weltgeschichte entdecken kann, der anderen Menschen nur durch den Glauben zugänglich ist. Wir verwerfen diese idealistische Interpretation und behaupten, daß die Philosophie die Aktualisierung einer wesentlich menschlichen Möglichkeit ist, und daß es daher Unsinn ist zu hoffen, man könne das religiöse, moralische, politische, juridische, soziale, und ästhetische Leben des Menschen, so wie alle anderen Modi der menschlichen Existenz, innerhalb einer rein philosophischen Existenz vollständig erschöpfen. Die Philosophie ist die radikale Erklärung unseres vorphilosophischen Lebens in und mit der Welt. Sie deckt einen Teil der Wahrheit auf, die stets auf implizite Weise in unserem Leben versteckt ist. Sie bringt es zustande, daß unser ursprüngliches Verstehen der Welt und unseres Selbst, welches uns durch die Tradition, der wir angehören, vermittelt wurde, übergeht in ein authentisches Verstehen. Philo-

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sophie ist jedoch nicht nur eine bestimmte Ausarbeitung unseres alltäglichen Wissens über die Welt und unseres Seins in der Welt; sie ist zunächst die Zerstörung dieses Wissens. Denn wenn wir anfangen, als Philosophen zu denken und uns philosophische Fragen zu stellen, haben wir schon unsere Meinungen, Auffassungen, Ideen und Einsichten, was immer auch ihre Wurzeln und Ursprünge sein mögen. Wie jeder aus seinem eigenen Leben weiß, ist es sehr schwer, sich von der Macht dieser .Selbstverständlichkeit' zu trennen, da diese Vorurteile unsere Gedanken ohne unser Wissen beherrschen. ,Reduktion' und ,Kritik' sind daher hier notwendig, und wie Hegel schon gesehen hat, manifestieren sich diese Vorgänge vor allem als die Zerstörung unserer natürlichen und naiven Gewißheiten. Das Problem ist jedoch viel komplizierter, als es sich auf erste Sicht hin zeigt. Das wird sofort klar sein, wenn man berücksichtigt, daß das vorphilosophische Leben mit den ersten Erfahrungen eines Kindes oder der Weltanschauung eines primitiven Menschen nicht identisch sein kann. Im Bereich unseres vorphilosophischen Lebens, das für die ganze natürliche Einstellung so charakteristisch ist, ist unser Leben, das in der ursprünglichsten Erfahrung unseres In-der-Welt-seins selbst wurzelt, schon vielseitig ,organisiert'. In der anfänglichen Erfahrung, welche unser In-der-Welt-sein selbst ist, kündigen sich vielerlei grundlegende, aber begrenzte Erfahrungen an. Die bedeutendste dieser artikulierten und ausgearbeiteten Erfahrungsfelder sind uns als Mythos, Religion, Theologie, Kunst, Politik, Sozialtheorie, Ethik, Wissenschaft, Technologie, und allgemein als unsere ,Kultur'bekannt. Gerade gegen diese artikulierten Erfahrungsfelder, die schon in der vorphilosophischen Erfahrung entwickelt wurden, muß die Philosophie kontinuierlich ihre Existenzberechtigung verteidigen. Zusätzlich zum dialektischen Verhältnis zwischen meiner eigenen philosophischen Reflexion und den unterschiedlichen philosophischen Strömungen, die in unserer Tradition meiner eigenen Reflexion vorangegangen sind, gibt es eine weitere Anzahl von Verhältnissen (welche mindestens so bedeutend sind wie die gerade erwähnten) zwischen meiner persönlichen philosophischen Auffassung und einer oder mehreren Formen nicht-philosophischer Erfahrungen, welche, allgemein gesagt, zur gleichen kultur-historischen Periode wie ich selbst gehören. In gewisser Hinsicht könnte man daher sagen, daß die Geschichte der Philosophie nichts weiteres als eine Dialektische Bewegung' ist, innerhalb derer die philosophische Dimension im Leben des Menschen

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fortwährend versucht hat, ihre eigene Existenzberechtigung gegenüber allen Arten von Erfahrungen zu verteidigen, welche meistenteils gerade durch ihre eigene Entwicklung hervorgerufen wurden. Die philosophische Dimension ist unzertrennlich von allem, was im Leben des Menschen nicht Philosophie ist. Aus diesem Grunde muß die philosophische Dimension den nicht-philosophischen Formen der Erfahrung die Möglichkeit geben, sich unabhängig von ihr zu entwickeln, oder selbst explizit und wiederholt der philosophischen Reflexion zu widerstehen, oder gegen sie in Opposition zu treten. Andererseits jedoch müssen wir uns klar machen, daß die verschiedenen Formen der nicht-philosophischen Erfahrung niemals in der Lage sein werden, die Aufgabe der philosophischen Reflexion, die im Interesse um das Ganze wurzelt, zu übernehmen. Mit anderen Worten, die Philosophie selbst ist nicht imstande, unmittelbar Sinn zu konstituieren. Dieses ist gerade die Aufgabe der verschiedenen Formen der menschlichen Erfahrung. Jedoch, gerade weil sie selbst nicht philosophisch sind, können diese Erfahrungen den Sinn nicht in einer total verständlichen Weise konstituieren. Erfahrung will Vernunft sein, ohne das explizit zu wissen. Weiterhin setzt jede Erfahrung einen Sinnhorizont voraus, den sie nicht thematisieren kann. Die Wahrnehmung innerweltlicher Dinge, die wissenschaftliche Forschung, das Nachdenken des Menschen über sein Schicksal, das Leben der Gesellschaft, das Schaffen von Kunst — dies alles ist noch keine Philosophie, obwohl es offensichtlich der Vernunft entspringt. Philosophie, die wesentlich auf diese verschiedenen Formen der Erfahrung hin orientiert ist und versucht, ihren wahren Sinn innerhalb des Ganzen durch kritische Reflexion ans Licht zu bringen, weiß, daß sie weder am Anfang noch am Ende alle die Mittel haben wird, mit denen sie normativ vorschreiben könnte, was die Funktion einer jeden artikulierten Form der Erfahrung innerhalb der Totalität des Sinnes sein soll. Das einzige, was die Philosophie weiß, ist, daß die Begründung des Sinnes immer schon angefangen hat und daß diese nie ganz gescheitert ist, obwohl sie auch nie ganz erfolgreich war. Die Aufgabe der Philosophie liegt in der Enthüllung der Bedeutung dieses Prozesses innerhalb der Perspektive der Totalität des Sinnes und in der Enthüllung der Weise, in der dieses Ganze in diesem kontinuierlichen Prozeß sich manifestiert und gleichzeitig verbirgt. In welchem Sinne die nicht-philosophischen Erfahrungen der Ursprung der Philosophie sind, sollte jetzt klar sein. Die Philosophie muß

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bei diesen Erfahrungen ihren Ausgangspunkt nehmen und dann versuchen, sie in Richtung auf das Ganze zu transzendieren. Dieses Verhältnis zwischen Philosophie und ursprünglicher Erfahrung jedoch reicht nicht aus, um den Ursprung und die Genese einer persönlichen philosophischen Perspektive zu erklären. Das »horizontale' Verhältnis zwischen der philosophischen Reflexion und den nicht-philosophischen Formen der Erfahrung muß mit einer ,vertikalen' Relation der Philosophie hinsichtlich der Geschichte der Philosophie verbunden werden. Das bedeutet, daß eine gegebene Philosophie, obwohl sie sich ursprünglich aus einer neuen Erfahrung, welche ihr oft fremd ist, entwickelt, nichtsdestoweniger ihre tiefste Intention so wie auch ihr eigenes Gerüst realisiert, wenn sie sich explizit innerhalb des typisch philosophischen Problemhorizontes der Tradition ansiedelt. Aber dies weiß sie nur, indem sie sich kritisch der Geschichte der Philosophie zuwendet. III. Warum Philosophie? Die Frage: Warum Philosophie? ist eine zweideutige Frage und in der Tat gibt es verschiedene Gründe, warum das so ist. Zunächst: Schon viele Denker seit Aristoteles haben dagegen argumentiert, daß Philosophie eine Funktion außerhalb ihrer selbst hat; die Philosophie ist nicht so etwas, von dem man angeben könnte, welchem Zweck es diene. Der Begriff „Funktion' ist eine systemtheoretische Kategorie; es ist bei jedem gegebenen System möglich, die Funktion der verschiedenen Elemente, die es ausmachen, anzudeuten. Die Tatsache, daß Philosophie sich mit dem Ganzen des Sinnes beschäftigt, impliziert, daß sie selbst kein Element dieses Ganzen sein kann. Da weiterhin dieses Ganze die Totalität alles möglichen Sinnes ist und die Philosophie sich nur mit dem beschäftigt, was sich unmittelbar zu diesem Ganzen verhält, wird die Frage: Warum Philosophie? eine philosophisch irrelevante Frage. Das bedeutet offensichtlich nicht, daß diese Frage für einen Dozenten, einen Politiker, einen Ökonomen nicht sinnvoll sein könnte, wie wir später sehen werden. Zweitens ist die Frage zweideutig, weil sie auf zwei verschiedene Weisen verstanden werden kann. Man kann die Frage wie folgt lesen: Wozu Philosophie? Aber man kann sie auch folgendermaßen auffassen: Wozu die Philosophie? Die zweite Lesemöglichkeit deutet an, daß Philosophie so etwas wie eine Religion ist oder vielleicht auch

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eine Art von Wissenschaft. Dagegen kann die erste Lesemöglichkeit so interpretiert werden, daß die Frage lautet: Warum gibt es und warum soll es eine philosophische Dimension im menschlichen Leben geben? Meine Argumente im zweiten Teil dieses Aufsatzes sollten klarstellen, daß ich die erste Frage als sinnvoll betrachte, während ich die zweite für sinnlos halten muß. Da ich diesem Punkt einiges Gewicht zumesse, werde ich später noch einmal darauf zurückkommen. Drittens ist der Begriff »Philosophie' selbst zweideutig. Jeder, der die Geschichte der Philosophie kennt, wird oft den Eindruck gewonnen haben, daß die Philosophie in der Tat eine Art Wissenschaft oder Disziplin ist, und viele Philosophen haben sogar explizit behauptet, daß die Philosophie die Königin der Wissenschaften sei, die Wissenschaft aller Wissenschaften, auf jeden Fall eine Wissenschaft, die unter allen anderen Wissenschaften eine privilegierte Stellung einnimmt. Manchmal wurde die Philosophie auch dargestellt, als wäre sie die Verkündigung einer Weltanschauung und somit der Religion sehr ähnlich. Ferner gab es Denker, die die Philosophie als das wissenschaftliche Fundament einer Weltanschauung verstanden haben. Für andere Denker wiederum sollte die Philosophie den Menschen mit einem Moralsystem versorgen, mit etwas, das Halt verleihen kann, wenn im Geist der Emanzipation und Aufklärung die eigene .primitive' Religion und ihr Glaube aufgegeben werden. In ihrer langen Geschichte ist die Philosophie auf viele andere Weisen verstanden worden, die vom Ästhetischen bis zum Politischen reichen. Im vorhergehenden Teil habe ich versucht zu erklären, warum ich diese Auffassungen als Mißverständnisse betrachte; denn in allen diesen Ansichten hat die Philosophie unrechtmäßig versucht, sich selbst als Ersatz für die eigentlichen menschlichen Erfahrungen und die begrenzten Sinnbereiche, die durch diese Erfahrungen begründet wurden, einzusetzen. Ich halte es daher für unannehmbar, daß die zeitgenössische Philosophie uns eine Weltanschauung anbieten könnte, wie die des Judaismus und des Christentums. Es ist auch einfach falsch anzunehmen, daß die Philosophie uns mit einer moralischen Ordnung versehen könnte, wie die, welche die frühe Kirche mit Hilfe von Elementen des Judaismus, des Christentums, der griechischen Philosophie und des römischen Gesetzes entwickeln konnte. Zuletzt betrachte ich es als falsch zu glauben, daß die Philosophie die Funktion einer Wissenschaft übernehmen kann, welche Wissenschaft zwischen Mathematik und Soziologie man auch in diesem Zusammenhang wählt.

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Viertens ist die Frage zweideutig, weil sich jeder Mensch einerseits mit der Philosophie beschäftigen kann, während sie andererseits gelehrt und gelernt werden kann und muß. Die Tatsache, daß Philosophie gelehrt und gelernt werden kann und auch wurde, suggeriert, daß sie einer Wissenschaft mit einem klar definierten Gegenstandsgebiet einer bestimmten begrifflichen Struktur, und einer bestimmten Methode gleicht. Weiterhin deutet diese Tatsache an, daß es Lehrer gibt, die das alles schon wissen und wiederum andere, die es noch nicht wissen, und daß der Bildungsvorgang daher darin besteht, daß die Lehrer ihr Wissen ihren Studenten vermitteln. Zuletzt suggeriert diese Tatsache, daß den Lehrern nur zwei Alternativen zur Verfügung stehen: Autorität oder Beweis. Obwohl nicht verneint werden kann, daß Philosophie gelehrt und gelernt werden kann und soll, hat Philosophie mit einer Disziplin dennoch nichts gemeinsam: sie hat keinen klar definierbaren Gegenstandsbereich, sie hat keine universell annehmbare begriffliche Struktur, und sie gebraucht weder logische noch empirische Methoden. Es gibt auch keine Einsichten, die als endgültig gelten könnten und die als definitive Errungenschaften den Studenten überreicht werden könnten. Weiterhin gibt es auch keine Einsichten, für die Beweise erbracht werden könnten, wenn man diesen Terminus im strengen und begrenzten Sinne versteht. Alles das läßt sich von der Tatsache ableiten, daß die Philosophie in der kritischen Reflexion auf die menschlichen Erfahrungen besteht, wobei diese Reflexion sich mit dem Ganzen beschäftigt und hauptsächlich nicht mit den Elementen, die dieses Ganze konstituieren. Es ist selbstverständlich nicht meine Absicht, hier vorzuschlagen, daß Philosophie sich mit nichts beschäftigt, oder daß sie selbst ohne methodische Strenge sein kann. Ich behaupte nur, daß sich die Philosophie mit etwas beschäftigt, mit dem keine Wissenschaft sich beschäftigen kann und daß sie ihr ,Ziel' mit einer Strenge verfolgt, die wesentlich anders ist als die der formalen und empirischen Wissenschaften. Einbegriffen in meinen Anspruch ist auch die These, daß die Wahrheit innerhalb der Philosophie nicht im Sinne einer absoluten Gewißheit definiert werden kann. Daher kann die Philosophie unmöglich als eine absolute Wissenschaft verstanden werden. Ich glaube, daß Descartes irrte, wenn er behauptete, daß man von den mathematischen Disziplinen her eine ideale wissenschaftliche Auffassung ableiten kann, die sich mit allen Dingen befassen (scientia omnium rerum), und welche durch die Philosophie realisiert werden kann.

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Philosophie mag heute noch immer episteme sein, sie ist aber sicherlich nicht science. Dennoch scheint es mir auch, daß man die Frage: Wozu Philosophie? auf eine sinnvolle Weise interpretieren kann, indem die verschiedenen Arten, wie der Mensch Philosophie betreiben kann, erklärt werden und, dementsprechend, auch die Umstände, unter denen gewisse Beschäftigungen des Menschen als philosophisch betrachtet werden können. Es wird klar geworden sein, daß im vorhergehenden Teil der Versuch unternommen wurde, die Behauptung zu rechtfertigen, daß die philosophische Dimension ein wesentlicher Charakterzug der menschlichen Wirklichkeit ist, und daß aus diesem Grunde jeder erwachsene Mensch diese Dimension kultivieren kann und muß. Wenn die Philosophie die kritische Reflexion auf die schon stattgefundenen Erfahrungen ist, dann ist die philosophische Dimension ein inhärenter Teil des ganzen, endlichen, menschlichen Verstehens. Innerhalb dieser Dimension prüft jeder Mensch seine Erfahrungen auf ihren Sinn hin und zwar im Lichte der Tradition, innerhalb derer sich die Erfahrungen realisierten, d. h. im Lichte des begrenzten Sinnfeldes, welches in diesen Erfahrungen vorverstanden worden war, aber auch im Lichte der Sinntotalität oder Welt, die dieser Mensch mit seinen Zeitgenossen teilt, und letzthin auch im Lichte des Sinnganzen, das zu dieser Zeit von der westlichen Gesellschaft, zu der wir alle gehören, verstanden werden kann. Daher muß die philosophische Dimension im Menschen garantieren, daß jeder von uns sich mit der Tradition, aus der heraus er sich entwickelt, auseinandersetzt; denn jegliches menschliche Verstehen ist und bleibt etwas, das nur im Sinne unseres Stehens innerhalb der Tradition verstanden werden kann, einer Tradition, worin Individuen und Gruppen von Individuen mit der Tradition selbst kommunizieren um so mit einander kommunizieren zu können. Man wird jetzt leicht zugestehen, daß jeder Mensch in seiner philosophischen Reflexion seinen Ausgangspunkt bei den Erfahrungen nehmen muß, die er selbst in bezug auf seine Tradition gemacht hat. Auch muß berücksichtigt werden, daß diese Erfahrungen nicht für alle dieselben sind, wenn sie auch alle in der gleichen Tradition stattfinden. Es wird natürlich schwieriger sein, zu erklären, daß jeder Mensch in solchen Reflexionen auch die Resultate' der philosophischen Überlegungen seiner Vorfahren berücksichtigen muß, wenigstens sofern er Zugang zu ihnen hat.

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Um diesen Anspruch zu begründen, möchte ich erst hervorheben, daß die .Resultate' früherer philosophischer Reflexionen in unserer westlichen Kultur ein Teil unserer Tradition geworden sind. Hauptsächlich durch unser Bildungssystem und die Literatur unserer Kultur, werden die großen philosophischen Ideen der Vergangenheit jedem, der an unserer Kultur teilnimmt, übermittelt. Ferner wurde ein Teil unserer philosophischen Tradition fast allen Wissenschaften einverleibt. Es mag wahr sein, daß die meisten Leute in der westlichen Welt sehr wenig über das wissen, was wir die .Geschichte der Philosophie' nennen; aber es wäre schwierig zu verneinen, daß jeder von uns, wenn er seine philosophische Reflexion auf seinen Erfahrungen artikuliert, nicht von einer großen Anzahl von Einsichten Gebrauch macht, die ursprünglich den philosophischen Reflexionen vorhergehender Generationen entstammen. Weiterhin sollte bemerkt werden, daß, wenn wir die Philosophie als kritische Reflexion auf menschliche Erfahrungen definierten, welche schon stattgefunden haben, und wenn wir behaupteten, daß diese Reflexion ein wesentliches Element alles menschlichen Verstehens ist, es nicht unsere Absicht war, die Möglichkeit auszuschließen, daß unser Philosophieren mehr als nur eine persönliche Bedeutung hat, und daß die Reflexionen einiger einen Wert für alle anderen Menschen, die eine Tradition und ihre Welt teilen, haben können. Denn, obwohl es wahr ist, daß die philosophische Dimension ein wesentliches Element ist im Leben eines jeden erwachsenen und authentischen Menschen, ist es nichtsdestoweniger auch wahr, daß wir den Begriff .Philosoph' oft gebrauchen, wenn wir von einer begrenzten Menschengruppe sprechen. Wenn wir über Philosophen sprechen, meinen wir meistens diejenigen, die Philosophie beruflich praktizieren, d. h. wir sprechen über diejenigen, die innerhalb unseres Bildungssystems die jüngere Generation in die philosophische Reflexion einführen, indem sie ihr die großen philosophischen Ideen unserer Tradition, so wie sie in der Vergangenheit entwickelt wurden, und die Charakteristik der philosophischen Reflexion selbst erklären, d. h. ihre Intention, ihre Methode und ihre Normen. Denn obwohl es wahr ist, daß die philosophische Dimension ein wesentliches Element alles echten menschlichen Verstehens ist, ist es dennoch auch wahr, daß fast niemand sich mit dieser Dimension sinnvoll beschäftigen kann, wenn er für diese Aufgabe nicht ausreichend vorbereitet ist. Die notwendigen Bedingungen zum historisch-kritischen Reflektieren muß

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dem Menschen während seiner Entwicklung durch den Bildungsvorgang überreicht werden. Es gibt also Leute die diese Dimension in anderen Menschen zu aktivieren helfen. Wie alle anderen Lehrer nutzen diese Philosophen alle Arten von Materialien; aufgrund der besonderen Beschaffenheit dieser Dimension sind diese Materialien teilweise historisch, teilweise historisch-thematisch, und teilweise methodisch. Unter diesen Materialien, die die jüngere Generation in die kritische Reflexion einführen sollen, nehmen die Werke der großen Denker der Vergangenheit, die selbst versucht haben für ihre Generation auf ihre Erfahrungen kritisch zu reflektieren, einen wichtigen Platz ein. Der Dozent der Philosophie soll seinen Studenten helfen mit diesen Werken eine wirkliche Erfahrung zu machen. Was dort gefunden werden kann, ist weder eine Weltanschauung oder ein Glaubensbekenntnis, noch eine Reihenfolge methodischer Schritte, die, wenn sie genau befolgt werden, zu großen und wichtigen Gedanken und Ideen führen. Eher sollen dort Fragen gefunden werden, die es wert sind, überlegt zu werden, wie auch Hinweise, die kritisches Denken über wichtige Fragen fördern können. Wenn wir das Wort »Philosoph' gebrauchen, wenden wir es daher oft für diejenigen Denker der Vergangenheit an, die in einer bestimmten Ära oder Epoche versucht haben, ihre Auffassung des Ganzen und die Funktion eines jeden Erfahrungsbereiches innerhalb dieses Ganzen zu artikulieren. Diese großen Denker der Vergangenheit, die eigentlich das geschaffen haben, was wir jetzt die ,Geschichte der Philosophie' nennen, waren oft Philosophiedozenten, aber nicht immer; einige waren nicht einmal ausdrücklich philosophisch gebildet'. Der korrelative Gebrauch des Begriffes Philosophie' ist in einer Hinsicht der bedeutendste; andererseits ist er der zweideutigste, der uns die größten Schwierigkeiten verursacht, weil er nahelegt, daß die Philosophie etwas wie eine Religion, ein Moralsystem, eine Wissenschaft ist, also etwas, das wegen seines gut definierten Gegenstandsbereiches, seines Problemgebietes, seiner Grundvoraussetzungen, seiner Methode, usw., so gelernt werden kann, wie man Mathematik oder Biologie lernt. Dieser Gebrauch suggeriert daher, daß Philosophie etwas ist, worüber alle diejenigen, die Philosophie lehren, hinsichtlich Inhalt, begrifflicher Struktur und Methode übereinstimmen müssen. Nun scheint es mir, daß jeder, der die Frage ,Wozu Philosophie?' stellt, genau angeben muß, wie er die Frage verstanden hat. Dann wird es auch möglich sein, auf sinnvolle Weise mit der berühmten

Gedanken zur Frage: „Wozu Philosophie?"

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Legitimitätskrise fertig zu werden, in der sich die Philosophie fortwährend zu befinden scheint. Was das letztere Problem anbetrifft, stimme ich ganz mit Lenk überein, daß es hier für einen nur negativen Pessimismus kein Platz ist. Es mag wohl sein, daß die Zeit einer absoluten Philosophie vorbei ist; und es mag auch wahr sein, daß die Zeit der großen philosophischen Synthesen vorüber ist; man würde jedoch zu weit gehen, hieraus eine universelle Skepsis abzuleiten. Aus der Tatsache, daß die ,Bauherrn' absoluter Systeme das Unmögliche versucht haben und daher scheitern mußten, folgt nicht, daß die philosophische Reflexion entweder unmöglich oder überflüssig ist. Es scheint mir, daß Philosophie vorerst als wesentlich menschliche Möglichkeit verstanden werden kann. Als solche kann Philosophie nicht als überflüssig gelten, solange wir den Wunsch hegen, gebildete Menschen zu haben, die frei und schaffend in ihrer Tradition stehen. Zweitens: Wie in allen anderen wesentlich menschlichen Möglichkeiten müssen die Menschen auch in dieser Möglichkeit gebildet werden. Die eigenen Erfahrungen kritisch zu durchdenken, ist eine Kunst, die wir alle im Prinzip besitzen; aber dennoch ist diese Möglichkeit durch Bildung zu entwickeln. Aus diesem Grunde kann auch das Lehren der Philosophie nicht überflüssig sein. Wenn jemand die Berechtigung des Philosophieunterrichtes in Frage stellt, dann müßte er auch das Lehren von Sprachen, Literatur, Geschichte, und den schönen Künsten in Frage stellen. Meiner Meinung nach wären solche Gedanken einfach absurd. Zum Schluß möchte ich meinem Glauben Ausdruck verleihen, daß eine menschliche Gesellschaft sich ohne Denker und Leute mit tiefen und breiten Einsichten nicht erhalten kann. Jedoch sollen die großen Ideen dieser Denker nicht dogmatisch als religiöses Credo angenommen oder ideologisch interpretiert werden. Große Ideen können eine Gemeinschaft inspirieren, indem sie ihre Glieder an ihre großen Möglichkeiten wie auch an ihre Grenzen erinnern. Daher bin ich der Ansicht, daß die Philosophie, wenn sie richtig verstanden wird, nie in einer echten Legitimitätskrise gewesen ist. Denn wenn Philosophie als kritische Reflexion aufgewesene Erfahrungen verstanden wird, dann hat sie nie eine Legitimitätskrise gekannt in den Gesellschaften, wo ein historisches Bewußtsein schon entwickelt worden ist. Die Bedeutung und Funktion der Philosophie in diesem Sinne anzuzweifeln, würde die Auffassung implizieren, daß der

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ander kommunizieren können. In unserem vorphilosophischen Verstehen, in welchem unsere Tradition vermittelt wird, hat unser Verstehen die Form eines Dialogs, innerhalb dessen Zuhören und Sprechen Hand in Hand gehen müssen. In der philosophischen Reflexion auf unsere Erfahrungen tritt ein neues Element in unser Verstehen ein: der Versuch sich zu distanzieren, genauer zu beobachten, unsere eigenen Annahmen und Vorurteile kritisch zu überprüfen im Lichte der Totalität alles möglichen Sinnes, die wir uns jetzt vorstellen können, damit auf diese Weise ein berechtigtes ,Sehen' entstehen kann. Die Vermittlung der Tradition, welche innerhalb meines vorphilosophischen Dialogs mit der Tradition stattfindet, impliziert meine aktuelle Kommunikation mit meinen Zeitgenossen und unseren Vorfahren, während sie andererseits eine wirkungsvolle Kommunikation mit denjenigen, die die gleiche Tradition teilen, ermöglicht. Die kritische Reflexion der auf diese Weise gemachten Erfahrungen, ist natürlich Kommunikation in einer indirekteren und gebrechlicheren Weise; denn in der kritischen Reflexion distanziere ich mich von demjenigen, was ich mit denen teile, die die gleiche Tradition annehmen, damit ich mit mir selbst zu Rate gehen kann und mir so die echte und wahre Bedeutung des Überlieferten zu eigen machen kann. Außerdem werden einige der ursprünglich angenommenen Auffassungen, die in unserer Tradition allgemein akzeptiert werden, vielleicht als bloße Vorurteile entlarvt, während andere neu interpretiert werden. Hierin unterscheide ich mich also eigentlich von denjenigen, die, obwohl sie die gleiche Tradition mit mir teilen, dennoch in dieser Tradition leben ohne kritische Reflexion derselben und daher ohne den Versuch, ihren wahren Sinn für uns zu erkennen. Doch wird meine kritische Reflexion diesen Sinn in reinerer Form enthüllen; und das schließt wiederum neue Möglichkeiten für uns alle auf. Somit zeigt diese Reflexion die Welt, die wir mit einander teilen, und auch unser Sein innerhalb dieser Welt in ihren Möglichkeiten. Auf dieser Grundlage kann ein erneuter und bedeutungsvollerer Dialog mit meinen Zeitgenossen aufgenommen werden. Aber wenn es wahr ist, daß die philosophische Reflexion Distanz und Kritik wesentlich einschließt, dann ist es auch begreiflich, warum die Diskussion zwischen Berufsphilosophen eine Form der Kommunikation ist, die ebenso wesentlich Distanzierung, Spannung, und Diskrepanz impliziert. Es scheint mir, daß Spaemann eine sehr gute Be-

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Wir lernen von den großen Ideen, die er entwickelt hat, nicht von dem systematischen Rahmen, in den sie gebettet sind. Es gibt nur einen Fall, in dem der Ausdruck .Legitimitätskrise' für die Philosophie zutrifft: wenn die Philosophie unfähig ist zu verhindern, daß die verschiedenen Formen der menschlichen Erfahrung vollkommen selbstgenügsam werden. Wie wir alle wissen, hat es religiöse, politische und wissenschaftliche Fürsprecher gegeben, die diese Ansicht unbedingt und ausdrücklich verteidigt haben. Obwohl es in den meisten Fällen nicht schwierig ist zu erklären, warum diese Leute zu solch einem Glauben kamen, ist es dennoch auch wahr, daß diese Überzeugungen sich zurückführen lassen auf ein Mißverständnis der Endlichkeit des menschlichen Verstehens sowie der wesentlichen Funktion, die die kritische Reflexion im menschlichen Verstehen haben muß, wenn unser Verstehen authentisch bleiben soll.

IV. Einige Überlegungen zur Diskussion zwischen Berufsphilosophen In diesem Teil möchte ich noch etwas sagen über die Diskussion zwischen denjenigen, die sich auf irgendeine Weise beruflich mit der Philosophie beschäftigen. Unter dem Begriff .Berufsphilosoph' verstehe ich alle diejenigen, die versuchen, die philosophische Dimension im Leben des zeitgenössischen Menschen aufrecht zu erhalten und zur Echtheit der philosophischen Reflexion in uns allen etwas beizutragen, wie auch diejenigen, die durch Publikationen und persönliche Tätigkeiten glauben zur öffentlichen Diskussion etwas Wesentliches beitragen zu können. Ich beschränke mich hier auf diese Gruppe der Denker, weil sie in unserer zeitgenössischen Welt am direktesten in die philosophische Diskussion verwickelt sind, was ihre häufigen Treffen, Tagungen, Zeitschriften, Journale und Publikationen beweisen. Ich verstehe die philosophische Diskussion als das Mittel wodurch diejenigen, die beruflich mit der Philosophie beschäftigt sind, sich gegenseitig zu verständigen versuchen. Wenn das so ist, dann ist zu erwarten, daß die philosophische Diskussion mit anderen Kommunikationsformen etwas gemein hat. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß ich alles menschliche Verstehen innerhalb des Horizontes der Traditionsvermittlung auffasse, in der Individuen und Gruppen von Individuen sich mit einer Tradition verständigen, damit sie mitein-

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Mensch prinzipiell über ein unendliches Verstehen verfugt, oder daß Unwissenheit und der Gebrauch von Gewalt grundlegende menschliche Tugenden sind. Andererseits, wenn Philosophie als etwas Lernbares und Lehrbares verstanden wird, als Teil eines Lehrplanes an Universitäten, dann ist es wiederum schwer einzusehen, wie man von einer Legitimitätskrise sprechen kann. Obwohl angenommen werden kann, daß alle erwachsenen Amerikaner Englisch sprechen und schreiben können, bleibt die englische Sprache und ihre Literatur ein legitimer Unterrichtsbereich an unseren höheren Lehranstalten. Analog dazu könnte man nun behaupten, daß, obwohl im Prinzip alle Menschen in der vorher erklärten Weise philosophieren können, die Philosophie dennoch ein legitimes Unterrichtsgebiet auf der Ebene der Universität bleibt. In der Tat setzt die philosophische Dimension im Leben des Menschen ein erwachsenes, reifes, menschliches Wesen voraus, weil nur erwachsene Menschen gegenüber der überlieferten Tradition, auf der sie ihre echten Erfahrungen aufbauen, eine kritische Haltung einnehmen können. Daher ist die Philosophie gegenüber allen anderen Lernfächern das ,Fach', das bestens auf der Universitätsebene doziert werden kann. Wenn Philosophie im Sinne großer und tiefer Ideen der menschlichen Gesellschaft verstanden wird, dann ist es wiederum klar, daß Philosophie nicht in einer Legitimitätskrise stecken kann, wenn diese Gemeinschaft sich menschlich entwickeln soll. Denn es scheint mir, daß eine große menschliche Gesellschaft sich nicht erhalten kann ohne Mitglieder zu haben, die neue und große Ideen entwickeln können. Schließlich, wenn wir unter Philosophie eine systematisch entwickelte Konzeption der Welt verstehen, die als ein System mit universell annehmbaren Einsichten den Mitgliedern der menschlichen Gemeinschaft angeboten wird, dann soll die Philosophie in einer Legitimitätskrise sein, weil sich die Philosophie so selbst mißversteht. Wer die Philosophie so auffaßt, verwechselt sie entweder mit einer säkularisierten Religion oder mit einer universellen Wissenschaft. Im Sinne philosophischer Systeme und Weltanschauungen ist Philosophie meines Erachtens überflüssig. Diese These besagt jedoch nicht, daß wir von denjenigen, die solche Systeme aufgestellt haben, nichts lernen können. Ich behaupte lediglich, daß, wenn wir von einem Philosophen der Vergangenheit und seinem philosophischen System etwas lernen, wir es trotz seines von ihm entwickelten Systems tun.

Gedanken zur Frage: „Wozu Philosophie?"

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Schreibung dieser typischen Kommunikationsform gegeben hat, obwohl ich noch immer glaube, daß das Wort ,Diskussion' dem Wort .Streit' vorzuziehen ist. Aber es gibt noch einen anderen Punkt der in diesem Zusammenhang von Bedeutung ist. Obwohl wir oft auf positive Weise von Kommunikation sprechen, kann doch nicht geleugnet werden, daß jede Form der menschlichen Kommunikation ihre wesentlichen Schwierigkeiten hat, und daß die enorme Quantität und die hohe Qualität der modernen Kommunikationsmittel, die uns heute zur Verfügung stehen, nicht wesentlich die Tatsache ändert, daß in unserer zeitgenössischen Welt die Kommunikation zwischen uns oft dadurch erschwert wird, daß wir zwar die gleiche Tradition teilen, aber nicht länger derselben Welt angehören. Wenn Kommunikation scheitert und man sich mit den Mitmenschen nicht mehr verständigen kann, sagt man, daß man nicht sieht, was der andere behauptet oder auszuweisen versucht. In diesem Falle ist man unfähig, die Möglichkeiten, die der andere andeutet, zu erfahren. Zuletzt hat das seinen Grund in der Tatsache, daß die Welt (oder eine begrenztere Totalität des Sinnes), von der der andere spricht, keine Welt darstellt, in der man selbst sinnvoll leben könnte, d.h. eine Welt ist, die echte Möglichkeiten nur für ihn enthält. Unsere westliche Tradition ist jetzt eine Mischung von vielen ,Welten' und .Sprachen' geworden, innerhalb derer jedes Individuum oder jede Gruppe von Individuen einige vorzieht, während andere unterbewertet oder sogar verneint werden. Wenn wir nach besseren Kommunikationswegen suchen, stellen wir nur selten Fragen über die Bereitschaft des einen mit seinem Mitmenschen zu sprechen. Auch sind wir nicht hauptsächlich mit der Frage beschäftigt, wie wir mehr und bessere Kommunikationsmittel zur Verfügung stellen können, wenn das von einem praktischen Standpunkt aus auch unentbehrlich ist. Wir sind nicht einmal hauptsächlich mit den Fragen beschäftigt, die uns helfen könnten, die logischen, methodischen und rhetorischen Maßnahmen festzulegen, die unseren Meinungsaustausch wirkungsvoller gestalten könnten, wenn das auch offensichtlich unentbehrlich ist. Was wir wirklich in vielen Fällen suchen, ist die Möglichkeit, die Situation zu transzendieren, in der sinnvolle Kommunikation unmöglich geworden ist, weil wir alle einen bestimmten Sinnhorizont oder eine Welt bevorzugen, die von anderen nicht mehr oder noch nicht erfahren werden kann. Ich bin der Überzeugung, daß besonders die heutige Diskussion

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zwischen Fachphilosophen schwierig geworden ist, gerade weil wir nicht immer die gleiche Welt voraussetzen. Es wird oft behauptet, daß besonders Fachphilosophen in nichts übereinstimmen. Das ist offensichtlich nicht ganz wahr. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten stimmen die Fachphilosophen in vielen Ansichten überein, besonders was die Philosophie selbst anbetrifft. Ich nehme an, daß alle diejenigen von uns, die sich mit der Philosophie als Lehrfach beschäftigen, übereinstimmen, daß Philosophie keine Art von Religion ist, und daß sie auch keine Wissenschaft ist im Sinne der Mathematik, Physik, oder Biologie, obwohl die Philosophie vielleicht einige Aspekte der Religion und der Wissenschaft haben kann. Weiterhin stimmen wir überein in der Tatsache, daß nicht alles Denken philosophisches Denken ist, und daß nicht alle Reflexion philosophische Reflexion zu sein braucht. Die Philosophie ist Reflexion in einem ganz spezifischen Sinne, und sie muß sich, wenn sie auf Erfahrungen reflektiert, an bestimmte Normen und Maßstäbe halten, damit sie als kritisch gelten kann. Schließlich nehme ich an, daß wir alle zustimmen, daß die philosophische Reflexion als etwas wesentlich Menschliches betrachtet werden muß. Im Prinzip haben alle Menschen die Möglichkeit, philosophisch zu reflektieren; die philosophische Reflexion steht in einem Verhältnis zur Authentizität und Autonomie eines jeden Menschen, sofern sie eine entscheidende Rolle bei dem Versuch spielt, einen eigenen Standpunkt innerhalb seiner Tradition zu finden. Aber dennoch ist es wahr, daß einer der auffälligsten Charakterzüge des zeitgenössischen fachphilosophischen Schauplatzes die große Vielzahl der divergenten philosophischen Ansichten ist, die in verschiedenen Schulen und Strömungen verteidigt werden, und innerhalb derer man noch eine beliebige Anzahl verschiedener individueller Perspektiven finden kann. Jeder, der kein Berufsphilosoph ist, kann sich hinsichtlich dieses Zustandes und der Tatsache, daß die Fachphilosophen nicht darüber besorgt zu sein scheinen, eines Gefühls der Verwirrung nicht erwehren. Der Grund für die Verwirrung der NichtFachphilosophen wird klar, wenn man die Situation in der Philosophie mit einer angeblich gleichen Situation in der Physik z. B. vergleicht. Hier findet man auch manchmal Meinungsverschiedenheiten. Sollten diese sich mit wichtigen Themen befassen, dann werden Tagungen einberufen und Ideen werden durch persönlichen Kontakt und Publikationen ausgetauscht, um diese Unterschiede zu beheben. In der Philosophie hingegen scheint niemand an ähnliche Maßnahmen zu denken.

Gedanken zur Frage: „Wozu Philosophie?"

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Der Nicht-Fachphilosoph betrachtet die eigentliche Situation in der Philosophie jedoch nicht ganz objektiv. Jeder, der sich in der Geschichte der Philosophie auskennt, weiß, daß die Vielzahl philosophischer Ansichten (entweder als Vielzahl philosophischer Ansichten, wie sie sich in den letzten 2000 Jahren entwickelt haben, oder als die Vielzahl der Ansichten, die gleichzeitig in einer Epoche verteidigt werden) für eine Anzahl großer Philosophen der Vergangenheit ein Stein des Anstoßes gewesen ist. Es kann auch nicht verneint werden, daß heute national wie international Schritte unternommen werden, philosophische Meinungsverschiedenheiten zu werten und zu überwinden. In der Vergangenheit haben Denker wie Descartes, Leibniz, Kant, Natorp, Husserl, Rüssel, Wittgenstein, Schlick und Carnap versucht, den ,zersplitterten' Charakter der Philosophie zu verstehen und erfolgreich zu beheben, während in der zeitgenössischen Philosophie diese Ansicht von den meisten Phänomenologen, analytischen Philosophen, und logischen Positivisten vertreten zu sein scheint, die alle entweder an eine wissenschaftliche Philosophie oder an eine Philosophie im Sinne einer strengen Wissenschaft glauben. Ich habe schon darauf hingewiesen, daß der erste Phüosoph der Moderne, der die Vielzahl der philosophischen Systeme der Vergangenheit als etwas Notwendiges innerhalb der Entwicklung der Philosophie selbst betrachtete, Hegel gewesen ist, der in seiner ,JPhänomenologie des Geistes" den Unterschied philosophischer Systeme im Sinne der progressiven Entwicklung der Wahrheit verstanden haben wollte. Aber auch Hegel selbst gab zu, daß diese Unterschiede am Ende überwunden werden sollten, und daß diese Entwicklung sich auf das absolute Wissen des Ab solute n hin orientiert. Seit 1830 haben nur wenige Philosophen Hegels Position ohne grundlegende Abänderungen übernommen; aber die Anzahl derer, die von diesen Ansichten beeinflußt wurden, war relativ groß. Diese Philosophen stimmen mit Hegel überein, daß die Vielzahl vergangener philosophischer Systeme im Sinne der progressiven Entwicklung zur Wahrheit verstanden werden können. Sie bestreiten jedoch, daß eine neue philosophische Synthese die notwendige Konsequenz eines vorher entwickelten philosophischen Systems sein müsse. Ihrer Ansicht nach ist eine spätere philosophische Synthese bloß eine freie und mögliche Konsequenz des früheren Denkens. Aber dennoch betrachten diese Philosophen mit Hegel die große Vielzahl philosophischer Ansichten der Vergangenheit nicht nur als etwas ,Normales', sondern auch als etwas, das für die Philosophie

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wesentlich ist, weil diese Vielzahl eine notwendige Konsequenz der Geschichtlichkeit des Menschen ist wie auch der Tatsache, daß die Erfahrungen, auf die der Philosoph reflektiert, in einer Welt vorkommen, die sich selbst fortwährend verändert und entwickelt. Was die Vielzahl der zeitgenössischen philosophischen Ansichten angeht, so vertreten auch diese Philosophen die Meinung, daß dieses Phänomen in der Tat unsere Aufmerksamkeit und fortwährende philosophische Reflexion verlangt. Persönlich tendiere ich zur eben beschriebenen Position, bin aber der Überzeugung, daß man sich nicht zu sehr über die Vielzahl philosophischer Positionen sorgen sollte. Wenn Philosophie in der kritischen Reflexion auf Erfahrungen besteht, die die Menschen wirklich haben und machen, und wenn es wahr ist, daß diese Erfahrungen in Sinntotalitäten oder Welten, die wir nicht mehr universell teilen, vorkommen, dann, so scheint es mir, kann eine begrenzte Anzahl philosophischer Perspektiven (wenn vielleicht auch nicht erwünscht, dennoch) leicht verstanden werden. Denn wir haben weder alle die gleichen Erfahrungen, noch teilen wir dieselbe Welt, noch sind wir gleichermaßen sensibel für die verschiedenen Erfahrungsbereiche, noch sind wir gleich empfänglich für die heutige Relevanz der großen Philosophien der Vergangenheit. Schließlich ist es mir auch klar, daß es keine allgemein gültigen Kriterien gibt, mit deren Hilfe man bestimmen könnte, wann und unter welchen Bedingungen eine Reflexion kritisch genannt werden soll. Aufgrund der Komplexität der Welt, in der wir leben, sowie der relativ großen Mannigfaltigkeit der voneinander unabhängigen Erfahrungsbereiche, die diese komplexe Welt uns anbietet, scheint es mir, daß heute die Förderung einer dialektischen Einheit in der Philosophie gegenüber dem Versuch, eine einheitliche Philosophie für alle zu entwickeln, vorgezogen werden sollte. Aber, ob man nun eine Lösung in der Richtung einer einheitlichen wissenschaftlichen Philosophie sucht, oder wie ich es bevorzuge, die Richtung einer dialektischen Einheit in der Philosophie einschlägt, es scheint mir, daß alle übereinstimmen, daß der erste und bedeutendste Schritt in jede dieser beiden Richtungen einen nahen und direkten Kontakt und einen lebendigen Dialog zwischen denjenigen, die sich mit der philosophischen Reflexion beschäftigen, voraussetzt. Wenn das Lehren der Philosophie in unserer zeitgenössischen Welt noch eine Funktion haben soll, wird das nie ohne den offenen Dialog zwischen denjenigen,

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die ihr Leben der gewaltigen Aufgabe widmen anderen zu helfen ihre eigenen Gedanken zu verstehen, stattfinden. Ich habe immer mit Freude da Philosophie gelehrt, wo nicht alle Philosophiedozenten aus der gleichen Perspektive heraus denken, in der gleichen Weise reflektieren und über gleiche Erfahrungen nachdenken. In einer höchst differenzierten philosophischen Fakultät ist es relativ leicht den Eindruck zu vermeiden, daß das Lernen der Philosophie darin besteht, eine Menge stereotyper Antworten auf ebenso stereotype Fragen zu finden. In einer solchen Umgebung ist der Student schnell davon überzeugt, daß die Philosophie wenig mit einer Religion gemein hat und andererseits auch keine Art von Wissenschaft ist. Die Gefahr, daß die Lehrer ihre Studenten indoktrinieren ist dort minimal, und die meisten Studenten werden leicht Dozenten finden, die ähnliche Erfahrungen wie die eigenen hatten, und über ihre Erfahrungen so nachdenken, daß sie auch andere zur kritischen Reflexion auffordern. Es ist meiner Meinung nach falsch anzunehmen, daß alle Studenten wirkliche Erfahrungen mit den Wissenschaften gemacht haben, sowie es auch falsch ist anzunehmen, daß sie alle echte Erfahrungen mit der Religion, ihrem Moralsystem oder den Künsten gemacht haben. Aber wenn das so ist, und wenn es weiterhin wahr ist, daß nur dort, wo es Menschen mit echten Erfahrungen gibt, Raum für philosophische Reflexion ist, dann scheint es ratsam zu sein, die Studenten in differenzierten philosophischen Fakultäten in die Phüosophie einzuführen.

HANS MICHAEL BAUMGARTNER

Wozu noch Philosophie? Perspektiven einer berechtigten aber keineswegs bedrängenden Frage Als Adorno, in Kenntnis der anderthalb Jahrhunderte währenden Versuche, die Philosophie als beendet zu erklären, im Jahre 1962 die Frage „Wozu noch Philosophie?", für deren Formulierung er sich selbst verantwortlich hielt, aufwarf, schien es durchaus verständlich zu bemerken: „Wer eine Sache verteidigt, die der Geist des Zeitalters als veraltet und überflüssig abtut, begibt sich in die ungünstigste Position. Seine Argumente klingen schwächlich beflissen. Ja aber, bedenken Sie doch, sagt er, als trachte er, solchen etwas aufzuschwatzen, die es nicht wollen. Diese Fatalität muß einbeziehen, wer von der Philosophie nicht sich abbringen läßt."1 Solche Einsicht in die Fatalität einer Selbstverteidigung der Philosophie schien umso plausibler, als in der Tat die beiden herrschend gewordenen Richtungen in der deutschen Philosophie, Szientismus und Existenzphilosophie, der klassischen Tradition der Metaphysik den Todesstoß zu versetzen schienen. 15 Jahre später ist die geistige Landschaft und Situation wesentlich nüchterner geworden und entdramatisiert. „Der Geist des Zeitalters", wo er überhaupt noch bemüht wird, scheint mit Bezug auf Philosophie wesentlich weniger eindeutig. Und es war nicht zuletzt das Verdienst von Adornos seinerzeitigem Versuch, das klassische Potential der Philosophie als Idee der Kritik und als Autonomie der Vernunft gegenüber Wissenschaftsverherrlichung und Seinsandacht zur Geltung zu bringen, daß Philosophie heute unbefangener, wenn auch zugegebenermaßen nicht ohne jegliche Anfechtung, ihre eigene Situation in Geschichte und Gegenwart analysiert und sich der keineswegs unberechtigten Frage nach ihrer Legitimation stellt. Die sporadisch auftretenden Nachhutgefechte, wohlgemerkt philosophischer Selbstdestruktion der Philosophie ändern daran nichts: sie finden allent1

TH. W. ADORNO, Wozu noch Philosophie, in: Ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle ed. Surhkamp 10, Frankfurt am Main 1963, 11.

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halben Widerspruch und - ärgerlicherweise - wenig Resonanz. Sieht man deshalb einmal ab von dem jüngst erschienenen, mißvergnügten und bedauerlich selbstwidersprüchlichen Nekrolog Willy Hochkeppels, von der spekulativen Mythosgeschichte Ernst Topitschs und auch von den liebenswerten, in ihren Voraussetzungen keineswegs undogmatischen Formen einer philosophischen Traurigkeit über den vermeintlichen Kompetenzverlust der Philosophie (Odo Marquard), so zeichnet sich nicht nur im Rahmen des Arbeitskreises der Fritz-Thyssen-Stiftung ein zunächst ausreichender Konsens der am Gespräch Beteiligten und von ihm Betroffenen ab, dessen Basis darin besteht, daß Philosophie in jedem Falle „eine wissenschaftspolitische und ideologiepolitische Angelegenheit von öffentlichem Interesse ist"2 und daß, aus einem ganzen Ensemble von Gründen, ihre Existenz an den wissenschaftlichen Hochschulen aufrecht erhalten werden muß. Die Frage „Wozu noch Philosophie?" ist eine berechtigte, eine je nach den äußeren Umständen dringliche, aber keineswegs eine bedrängende Frage. Auf sie gibt es eine Vielzahl von Antworten, von denen eine Reihe in diesem Arbeitskreis zur Kenntnis genommen und diskutiert wurde. Die Teilnehmer dieses Arbeitskreises haben sich in der Mehrzahl dazu auch öffentlich geäußert; ebenso darf der Verfasser auf eine Reihe von einschlägigen Publikationen verweisen, deren jüngste gemeinsam mit Otfried Hoffe ausgearbeitet wurde und auf eine Kritik des von den Autoren mitveranstalteten Münchener Kolloquiums „Philosophie-Gesellschaft-Planung" zu Ehren von Hermann Krings zu antworten versuchte.3 2

H. LÜBBE, Unsere stille Kulturrevolution, in: Texte und Thesen 68, Zürich 1976, 97. 3 Vgl. H. M. BAUMGARTNER, Stellung und Aufgabe der Philosophie in der modernen Universität, in: Hochland 59 (1966/67), 413-420. - Ders., Transzendentalphilosophie (Art.) in: Sacramentum Mundi. Theologisches Lexikon für die Praxis. Bd. 4, Freiburg/Basel/Wien 1969, Sp. 979986. - Ders., Die Idee der Transzendentalität. Überlegungen zu einer Phänomenologie und Strukturtheorie der philosophischen Reflexion, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie 15/16 (1971/72), 7-19. - Ders., zusammen mit H. KRINGS und CHR. WILD, Philosophie (Art.), in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Hrsg. von HERMANN KRINGS, HANS MICHAEL BAUMGARTNER und CHRISTOPH WILD, München 1973, 1071-1087. -Ders., Wissenschaft (Art.), in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe, a.a.O. München 1974, 1740-1764. -Ders., Studieneinführung Philosophie, in: Aspekte. Das deutsche Studienmagazin 8 (1975) 12-16.

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Da einerseits die meisten der ins Feld geführten positiven Argumente zur Rechtfertigung des Sinnes von Philosophie mehr oder weniger einleuchtend erscheinen, und da andererseits die Gefahr besteht, durch Wiederholung bekannter Argumentationen der angesprochenen Problematik in unangemessener Weise überdrüssig zu werden, scheint es mir für diese Überlegungen zweckmäßig, nicht wiederum in einem direkten Zugriff die Frage nach Sinn, Rolle und Funktion der Philosophie zu beantworten, sondern einige in den Diskussionen dieses Arbeitskreises offen gebliebene Fragen zu erörtern. Desiderate waren jedenfalls: l.Eine Analyse der verschiedenen Fragedimensionen, die mit der Frage „Wozu Philosophie?" angesprochen sind. 2. Die Ermittlung des logischen Stellenwertes und des argumentativen Kontextes der in positiven Antworten verwendeten Prädikatoren: z. B. Philosophie sei unverzichtbar, erforderlich, notwendig; Philosophie sei wünschenswert, sie empfehle sich, sei möglich, sinnvoll. Diesen Fragenkomplex möchte ich jedoch nur nennen, ohne ihn aus Zeitgründen ausführlich zu behandeln. 3. Eine Erörterung der Frage, welche Voraussetzungen einer negativen Antwort auf die Themafrage zugrunde liegen. Da die unter 2 und 3 angesprochenen Desiderate nicht unabhängig von der jeweiligen Fragedimension der Wozu-Frage behandelt werden können, werde ich sie im Rahmen des ersten Fragenkomplexes nach den Dimensionen der Problemfrage mitbehandeln, die logische Erörterung der Prädikatoren jedoch nur im Vorbeigehen berühren. Wonach fragen wir, was versuchen wir zu rechtfertigen oder auch zu widerlegen, wenn wir die Frage „Wozu Philosophie?" stellen? Um die folgende Analyse vor dem Mißverständnis einer theoretischen Vollständigkeit der nun aufzuweisenden Problemebenen zu bewahren, ist es tunlich, die Frageform „wonach fragt man .. ." einzuschränken auf die Frageform „wonach haben wir gefragt" bzw. „wonach kann man fragen", wenn man die Frage „Wozu Philosophie?" stellt. Der Anspruch der folgenden Analyse geht nicht auf systematische Vollständigkeit, sondern auf mögliche Frageintentionen und auf die Verschiedenartigkeit der ihnen entsprechenden Argumentationsvoraussetzungen. Mit - Ders., zusammen mit O. HOFFE, Zur Funktion der Philosophie in Wissenschaft und Gesellschaft, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 30 (1976), 413-424.

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dieser gebotenen Einschränkung kann man ohne Schwierigkeit die folgenden 5 Problemebenen unterscheiden: 1. Die Frage „Wozu Philosophie?" ist sicher immer auch eine Frage nach der Ausweisbarkeit der Philosophie überhaupt, nach ihrem Sinn bzw. ihrer Legitimation, und darin eingeschlossen, eine Frage danach, ob Philosophie für den Menschen bzw. die Menschheit überhaupt Bedeutung besitzt. Sie kann aber auch 2. so verstanden werden, daß das „wozu" in historischer Perspektive als ein „wozu noch" gehört wird, spezifischer, als ein „wozu heute noch"; so daß hier die Frage gestellt ist, ob Philosophie, mag sie auch früher von großer Bedeutung gewesen sein, in der Perspektive der Gegenwart, angesichts der Grundbestimmungen und Charakteristika des gegenwärtigen Zeitalters, noch zeitgemäß sei, ob sie nicht schon als überholt und überflüssig geworden erscheinen muß. Eine 3. Fragerichtung wäre die nach der Bedeutung der Philosophie angesichts der sie in Frage stellenden Wissenschaften. Die Frage „Wozu Philosophie angesichts der Wissenschaften?" könnte natürlich auch so verstanden werden, daß sie ein Sonderfall der 2. Frageintention wäre: wenn nämlich Wissenschaft als eine historische Grundbestimmung, als Signatur des gegenwärtigen Zeitalters interpretiert würde. Dies ist jedoch hier nicht gemeint; vielmehr soll Wissenschaft in dieser Frageintention als Inbegriff von Begriffen, Aussagen und Methoden verstanden werden, als ein Insgesamt von Erkenntnissen, das den Anspruch erhebt, die einzig mögliche Art von Erkenntnis zu sein. Eine 4., wiederum verschiedene Frageintention bezieht sich auf die Rolle und Funktion, die Philosophie im Rahmen einer bestimmten Gesellschaftsformation, hier der unseren, einer hochkomplexen und dynamischen, demokratisch verfaßten Industriegesellschaft, spielen könnte. Es ist zu beachten, daß auch diese Frageintention nur dann von der Intention 2 (Philosophie in der Perspektive der Gegenwart) zu unterscheiden ist, wenn der Terminus ,GeSeilschaft' nicht im Rahmen von universalgeschichtlichen Theorien der sozialen Evolution verstanden wird. Die Frageintention dieser Stufe bezieht sich vielmehr auf die Analyse jener faktischen Bedingungen und Strukturen, die das gesellschaftliche Zusammenleben in einer Weise prägen, daß philosophische Ideen sowohl für die Existenz des Einzelnen als auch für die Sinnerwartungen der Kommunität im ganzen entweder als obsolet oder als geradezu gefordert erscheinen. Es ist die Frage, welche Bedeutung der Philosophie angesichts anderer und in der gegebenen Gesellschaftsfor-

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mation evtl. bevorzugter Deutungssysteme der Wirklichkeit im Hinblick auf möglicherweise dominierende Verlaufsformen der gesellschaftlichen Prozesse zugesprochen werden kann. Die 5. Frageintention betrifft den faktischen institutionellen Ort der Philosophie, also die Frage, ob und in welchem organisatorischen Rahmen Philosophie an den heute immer mehr zu „Ausbildungsdienstleistungsgroßbetrieben" werdenden Universitäten betrieben werden sollte. Läßt sich Philosophie nach wie vor als professionelle akademische Disziplin rechtfertigen oder nicht? Diese fünf Frageintentionen der Wozu-Frage sollen im folgenden in der Perspektive vor allem des unter 3 herausgestellten Desiderates behandelt und im Blick auf mögliche, der Frageintention korrespondierende Antworten stenogrammartig erörtert werden.

1. Frageintention: Wozu überhaupt Philosophie? Bezugspunkt dieser Fragestellung ist die grundsätzliche Negation der Philosophie, die ihre Gegenargumente aus der historisch immer wieder festgestellten Zerrissenheit der Philosophie, dem anscheinend ewigen Streit der Philosophen, aus dem Fehlen eines jeglichen einheitlichen Gegenstandes und endlich aus der offenkundigen Situation einer „Kritik aller gegen alle "bezieh t. Kein Wunder also, wenn angenommen wird, daß die Philosophie zu nichts gut sei, daß sie weder allgemein für die Menschheit noch für die konkrete menschliche Existenz irgendeine Bedeutung besitze. Die Konsequenz aus diesen Argumenten wäre, die Philosophen, wo man sie nicht von ihrer sinnlosen Tätigkeit überzeugen kann, mit sich selbst alleine zu lassen, ihnen jedenfalls keine weitere Aufmerksamkeit und Beachtung zu schenken: Die Philosophie ist zu nichts nütze, sie ist in sich zerstritten, widersprüchlich und überdies sinnlos, da sie sich stets selbst dementiert und destruiert. Fragen wir nach der Voraussetzung einer solchen oder ähnlich gelagerten Argumentation: Philosophie ist hier als ein Unternehmen verstanden, das ausschließlich aus einzelnen isolierten Erkenntnissen zu bestehen scheint und entsprechend von solchen Erkenntnissen und Sätzen eigentümlich pauschaler Art her beurteilt wird. Es werden mehr oder weniger abstrakte, einander widersprechende Sätze gegenübergestellt und miteinander verglichen, so, als ob philosophische

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Äußerungen nicht im Kontext einer bestimmten philosophischen Theorie stünden, die ihnen allererst ihre spezifische Bedeutung verleiht. Die Möglichkeit, daß trotz eines Streites der Philosophen an der Oberfläche eine grundlegende Gemeinsamkeit ihrer philosophischen Ansätze denkbar ist,wird nicht gesehen, geschweige denn eingeräumt. Zugegebenermaßen widerlegt dieser Hinweis noch nicht das Argument aus dem Widerstreit der Philosophen, obschon er den allzu naiven Umgang mit philosophischen Sätzen hinreichend problematisch werden läßt. Gravierend jedoch ist ein eigentümlicher Fehler in dieser Argumentation: Aus dem festgestellten Streit der Philosophen folgt weder, daß dieser Streit sich in alle Zukunft fortsetzen wird, noch, daß es in Bezug auf das Thema des Streites keine wahre Erkenntnis geben kann. Beides muß aber derjenige unterstellen, der daraus die Sinnlosigkeit der Philosophie folgern möchte. Die Konsequenz, die Philosophie deshalb abzuschaffen, ist daher theoretisch nicht stichhaltig und sonach lediglich eine präskriptive Äußerung, der gegenüber die andere von der Logik der Argumentation her sich als gleichrangig erweist: die Philosophie entschieden zu fördern, um den Streit zu beenden. Aus der Faktizität des Streites folgt nicht die allgemeingültige Aussage,er gehöre zum Wesen der Philosophie; weshalb a priori die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden kann, Philosophie führe ä la longue doch zu einem Konsens oder zu gültigen Erkenntnissen. Gleichwohl läßt sich durch diese Abwehr des versuchten Sinnlosigkeitsbeweises nicht schon der Sinn von Philosophie positiv behaupten: Wer ihn aufzuweisen unternimmt, kann sich m. E. prinzipiell nicht auf bestimmte philosophische Theoreme, Aussagen, Inhalte beziehen, sondern muß nach der Reflexionsform des philosophischen Denkens überhaupt fragen und ihre Struktur darlegen. Ich habe diesen Weg in der Abhandlung „Die Idee der Transzendentalität" eingeschlagen und die Ergebnisse dieser Überlegungen auch in den gemeinsam mit Hermann Krings und Christoph Wild verfaßten Philosophieartikel des Handbuchs Philosophischer Grundbegriffe eingebracht. Sie lassen sich stichwortartig wie folgt zusammenfassen: Die Form der philosophischen Reflexion ist wenigstens bei allen von uns als klassisch angesprochenen Philosophen identisch und invariant gegenüber einzelnen philosophischen Theoremen. Sie läßt sich als ,,negative Dynamik" einer Suche nach dem Unbedingten zu jedem gegebenen Bedingten beschreiben und, in Kantischer Terminologie formuliert, aus den für den Menschen konstitutiven Erkenntnisvermögen, des näheren aus

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dem Strukturverhältnis des theoretischen Verstandes zur praktischen Vernunft begründen. Die Philosophie gewinnt daher ihren Sinn aus der, mit jedem endlichen Vernunftwesen gegebenen, transzendentalapriorischen Struktur des endlichen Wissens. In ihr erreicht daher das menschliche Wissen und damit der sich in seinem Wissen verstehende endliche Mensch eine formale reflexive Vollkommenheit, die ihn im Vollzug von Philosophie sich erkennen, bei sich sein läßt. Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn der Philosophie besteht so darin, daß der Mensch als endliches Vernunftwesen gerade durch sie bei sich sein kann und mit sich identisch ist.4 Auf dieser Ebene der Fragestellung und der Argumentation ist Philosophie nicht zu charakterisieren als etwas, das wünschenswert, ohne Widerspruch möglich, brauchbar ist; als etwas, das sich als zweckmäßig empfiehlt; sondern: Philosophie ist auf dieser Ebene sinnvoll, notwendig und unverzichtbar. In ihr geht es, um wiederum mit Kant zu sprechen, nicht um die logische Vollkommenheit eines Erkenntnissystems, sondern um die höchsten Zwecke der Menschheit,um die Erkenntnis und Realisation der Selbstidentität des Menschen als endlicher Vernunft. Daß dieser Sinn von Philosophie behauptet werden kann, liegt darin begründet, daß die Idee des Unbedingten und die ihr zugehörigen Ideen der Einheit und Totalität nicht beliebig historisch wandelbare und argumentativ verwerfbare Elemente sind, sondern apriorische Strukturmomente, d. h. konstitutive Regeln unseres menschlichen Wissens.

2. Frageintention: Wozu heute noch Philosophie? Sofern Philosophie als methodische Ausarbeitung der Idee des Unbedingten einmal begründet und historisch auf den Weg gebracht worden ist, bleibt die eben skizzierte Antwort auf die primäre Frageintention historisch solange in Geltung, als die Struktur des menschlichen 4

Vgl. die kaum beachteten analogen, die klassische Tradition der Philosophie auslegenden Bestimmungen bei J. PIEPER, Verteidigungsrede für die Philosophie, München 1966, 70ff. sowie die zusammenfassende Charakteristik in: J. PIEPER, Was heißt akademisch? Zwei Versuche über die Chance der Universität heute, München 2 1964, 107: „Im Philosophieren geht es nicht allein darum, Fähigkeiten zu betätigen und Kräfte anzuspannen. Der menschliche Geist sieht sich vielmehr dazu aufgefordert, seine äußerste Seinsmöglichkeit zu realisieren; nicht allein zu tun, was er kann, sondern zu werden, was er ist: Empfänglichkeit für das Totum der Welt."

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Wissens sich nicht wesentlich ändert, d. h. — in klassischer Sprechweise — als das Wesen des Menschen konstant bleibt. Deshalb ist es grundsätzlich nicht denkbar, daß eine Analyse des gegenwärtigen Zeitalters auf Bedingungen stößt, die den Sinn von Philosophie in Frage stellen könnten. Keineswegs freilich ist dadurch ausgeschlossen, daß traditionelle und wie immer liebgewordene Gestalten der Philosophie ihren Glanz verloren haben, und daß herrschende Philosophien ihn nicht morgen bereits verlieren. Fragen wir deshalb in diesem Zusammenhang sogleich nach den Voraussetzungen, die jemand behaupten müßte, der das Ende der Philosophie aus der Konstellation des gegenwärtigen Zeitalters nicht nur evtl. konstatieren, sondern vielmehr rechtfertigen wollte. Theorien dieser Art schließen, gleichgültig ob sie das gegenwärtige Zeitalter positiv oder negativ bewerten, allgemeine Kennzeichnungen ein, die das Zeitalter global und seinem Wesen nach charakterisieren sollen: Sie reichen heute von Horkheimers und Adornos „Dialektik der Aufklärung" über Schelskys ,,Analyse der wissenschaftlichen Zivilisation" bis hin zur Auseinandersetzung zwischen Habermas und Luhmann um eine allgemeine Theorie der sozialen Evolution. Ohne im einzelnen auf diese geschichtsphilosophischen Theorien eingehen zu können, liegt mir daran hervorzuheben, daß unter den Stichworten: allgemeine Rationalisierung, neue Selbstentfremdung des Menschen, Selbstverdinglichung der Menschen unter Kategorien zweckrationalen Handelns und adaptiven Verhaltens, wissenschaftlich-technische Zivilisation, Ende des Subjekts bzw. des Individuums, etc. allgemeine Zeitsignaturen gewählt werden, die als Stadien eines irreduziblen, universalgeschichtlichen Gesamtprozesses konzipiert sind. Ich weiß natürlich, daß sowohl etwa Schelsky wie auch Habermas dem, sei es metaphysischen, sei es kritischen, Potential der Philosophie in diesem Zusammenhang eine wenn nicht entscheidende, so doch wichtige Rolle zusprechen, also keineswegs gemäß ihrer Diagnose der Gegenwart die Philosophie an ihr Ende gekommen sehen; meine Argumentation läuft indessen darauf hinaus zu prüfen, ob - unter der Voraussetzung, jemand wolle aus einer solchen Zeitdiagnose heraus das Ende der Philosophie in der Wissenschaft oder auch die Aufhebung des autonomen Subjekts, sei es im Verblendungszusammenhang der Zeit, sei es in den Systemzwängen komplexer Gesellschaftssysteme, beweisen — ein solches Verfahren überhaupt konsistent möglich sei. Wie mir scheint, läßt sich in zweierlei Hinsicht zeigen, daß ein solcher Beweisversuch

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zum Scheitern verurteilt ist. Auf der einen Seite nämlich handelt es sich schon bei den allgemeinen Deskriptionen eines Zeitalters um weder wissenschaftlich einlösbare, noch philosophisch zu rechtfertigende Totalisierungen, d. h. um unerlaubte Vergegenständlichungen von Totalität. Wie ich an anderer Stelle gezeigt habe, fallen solche Versuche unter die Kritik einer, in Erinnerung an Kant so genannten ,,Dialektik" der historischen Vernunft. 5 Zum anderen würden sie, selbst wenn man einmal eine solche Begriffsbildung als möglich unterstellen wollte, sich selbst widerlegen, weil die vermeintlich bewiesene Aufhebung der Philosophie dann ihrerseits wiederum Philosophie in Form von Geschichtsphilosophie als möglich behaupten müßte. Das sich hier abzeichnende Ergebnis läßt sich dahingehend formulieren, daß es einen prinzipiellen Beweis des Zu-Ende-Gekommenseins bzw. der Aufhebung der Philosophie aus einer wie immer konzipierten Diagnose der Gegenwart nicht geben kann. Aussagen also wie diese: angesichts der Selbstentfremdung des Menschen in der technischwissenschaftlichen Zivilisation sei Philosophie sinnlos geworden, oder auch, sei Philosophie gerade praktisch notwendig, sind unter der Bedingung, daß mit Selbstentfremdung etc. Wesensbestimmungen eines Zeitalters gemeint sind, nicht zu begründen. Im Gegenteil, es besteht der begründete Verdacht, daß bei solchen Beweisversuchen - die im übrigen ohne zureichende Kenntnis der philosophischen Diskussion des Problems der Geschichte unternommen werden — einer bestimmten Art spekulativer Geschichtsphilosophie unreflektiert ein theoretischer Rang beigemessen wird, der im Sinne einer kritischen Theorie der Geschichte nicht mehr aufrecht erhalten werden kann.

3. Frageintention: Philosophie und Wissenschaft Im Hinblick auf und durch die Wissenschaften sieht sich Philosophie als obsolete Weise der Erkenntnis, die ihren ehemals erhobenen Erkenntnisanspruch verloren habe, grundsätzlich in Frage gestellt. Die Wissenschaften hätten sich, so wird gesagt, im Laufe der Neuzeit sukzessive von der Philosophie emanzipiert und ihr damit fortschreitend 5

Vgl. H. M. BAUMGARTNER, Thesen zur Grundlegung einer transzendentalen Historik, in: Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik, hrsg. v. H. M. Baumgartner u. J. Rüsen, Suhrkamps Taschenbuch Wissenschaft 98, Frankfurt a. M. 1976, 274-302.

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alle einstmals zugehörigen Erkenntnisgegenstände entzogen, so daß es schließlich nichts mehr gäbe, was Philosophie erkennen könnte. Die Wissenschaften wären - sie ersetzend - an ihre Stelle getreten. Eine solche Argumentation ist jedoch zu keineswegs selbstverständlichen Voraussetzungen gezwungen. Setzt sie doch voraus: 1. daß die Wissenschaften in sich autark und unabhängig seien, 2. daß sie die einzige Art möglicher und sinnvoller Erkenntnis darstellen und 3. daß sie auch vollständig ausreichen, um das für den Menschen relevante Wissen zu erstellen. Eben diese Voraussetzungen eines absolutistischen Verständnisses von Wissenschaft lassen sich jedoch widerlegen. In einem ersten Schritt kann gezeigt werden, daß eben diese Voraussetzungen, legt man den Begriff einer hypothetisch verfahrenden empirischen Wissenschaft zugrunde, nicht selber wissenschaftlich begründet werden können; eben dies müßte jedoch möglich sein, soll — voraussetzungsgemäß - Wissenschaft die einzig mögliche Art von Erkenntnis sein. Die Behauptungen der Autarkie, der Einzigkeit, und die Bestimmung dessen, was relevantes Wissen sein soll, lassen sich durch bloß empirische Erkenntnis nicht erbringen. Was speziell relevantes Wissen sei, kann nur durch Bewertungen und d. h. durch Rückgriff auf Normen, also auf ein nichtempirisches Wissen, begründet werden; überdies läßt sich sowohl im Hinblick auf die Grundbegriffe, die Axiome und die Verfahrensweisen der einzelnen Wissenschaften - wie es beispielsweise Mittelstraß und Kambartel getan haben - nachweisen, daß die eigenen Voraussetzungen der Wissenschaften sowohl begründungsfähig, wie begründungsbedürftig sind und ein normatives Fundament voraussetzen, das nur in einer eigenen Anstrengung reflexiver Begründung dargetan werden kann. Schon darum stimmt die Voraussetzung nicht, Wissenschaft wäre die einzig mögliche Art von Erkenntnis — es sei denn, man würde unter Erkenntnis nur Erkenntnis von Dingen dieser Welt und ihrer Verhältnisse verstehen wollen. Das absolutistische Verständnis von Wissenschaft, das die Philosophie in Wissenschaft aufgehoben wissen möchte, ist darum selbst eine Philosophie der Wissenschaften, allerdings eine schlechte. Beansprucht sie doch, Sinn und Bedeutung der Wissenschaft — freilich ohne jeden näheren Ausweis — festzulegen. Eben diese Thematik aber, die Analyse des Sinnes, der Reichweite, der Grenzen und der Bedeutung der Wissenschaften, ist seit der griechischen Philosophie — man denke nur an Platon und Aristoteles — in besonderer Weise aber seit der Transzendentalphilosophie Kants, zen-

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traler Aufgaben- und Gegenstandsbereich der philosophischen Reflexion. Im Anschluß an diese Tradition, aber auch in der Linie etwa des konstruktivistischen Ansatzes, kann daher darauf bestanden werden, daß mindestens die Begründungsproblematik hinsichtlich der Rechtfertigung wissenschaftlicher Grundbegriffe, Axiome und Verfahren, wie auch wissenschaftlicher Ziele auf die sowohl theoretische wie praktische Notwendigkeit fuhrt, an Philosophie, wenigstens im Sinne einer normativen Wissenschaftstheorie, die sich als Logik und Ethik explizieren läßt, festzuhalten. Andererseits aber scheint es gerechtfertigt, über die Begründungsproblematik der Wissenschaften hinaus auf zwei weitere Aufgabenfelder philosophischer Reflexion zu verweisen, die Philosophie hinsichtlich schon der Bestimmung und nicht erst der Begründung des wissenschaftlichen Wissens erforderlich machen: denn l. bezieht sich Philosophie auf jede mögliche Art menschlichen Wissens, auf das menschliche Wissen im Ganzen, und nicht nur auf die spezifische Weise des wissenschaftlichen Wissens; und 2. fragt sie etwa als praktische Philosophie nicht nur nach der Rechtfertigung jener Ziele und Zwecke, welche die Bildung und Verwendung wissenschaftlicher Instrumentarien begründen, sondern zugleich nach der Verwertung der aus dem Begründungszusammenhang wissenschaftlicher Erkenntnisse ablösbaren und unabhängig verwendbaren Ergebnisse der wissenschaftlichen Tätigkeit. Philosophie also, im Sinne der klassischen Transzendentalphilosophie namentlich Kants, bestimmt Reichweite und Bedeutung des wissenschaftlichen Wissens sowohl in der Perspektive eines Ganzen möglicher Wissensmodi, als auch im Hinblick auf den humanen Sinn der wissenschaftlichen Tätigkeit in der Perspektive ihrer nichtintendierten Folgen und Nebenfolgen. In der transzendentalen Reflexion wissenschaftlichen Wissens, die von den Wissenschaften selbst gefordert wird, ist Philosophie darum nicht nur normative Wissenschaftstheorie, sondern auch Theorie etwa der Religion, der Kunst, oder der Geschichte als möglicher anderer Wissensmodi; darüber hinaus aber auch praktische Philosophie in einem umfassenderen Sinne, als es eine Analyse bloß des normativen Fundaments der Wissenschaften festlegen und begründen kann. Die Wissenschaft schien die Philosophie in sich aufzuheben. Diese Ansicht beruhte auf philosophischen Aussagen über die Wissenschaft, die philosophisch kritisierbar sind. Sowohl konstruktivistisch wie transzendentalphilosophisch läßt sich zeigen, daß die Wissenschaften

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auf eine Begründungsproblematik verweisen, die sie nicht selbst lösen können. Eine transzendentale Rekonstruktion des wissenschaftlichen Wissens hat gegenüber einer konstruktivistischen darüber hinaus die beiden Vorzüge, daß sie erstens die Wissenschaft nicht allein dem philosophischen Wissen gegenüber einschränkt, als gäbe es nur Philosophie und Wissenschaft, und daß sie zweitens nach der Seite der praktischen Philosophie dem Umstand Rechnung trägt, daß die Resultate wissenschaftlicher Tätigkeit und Forschung sich so verselbständigen können, daß es unmöglich ist, sie an das normative Fundament der betreffenden Wissenschaft rückzukoppeln. Gleichviel, die Wissenschaft, verstanden als logisches System von Begriffen, Axiomen und Verfahrensweisen, setzt sowohl in theoretischer wie in praktischer Hinsicht Philosophie um der Wissenschaft selbst willen als notwendig voraus. Ohne eine wenigstens implizite Philosophie würde wohl niemand auf die Idee kommen, Wissenschaft zu treiben, und ohne explizite Philosophie könnte, wer auch immer es sei, dieses Tun weder begreifen noch rechtfertigen.

4. Frageintention: Philosophie und Gesellschaft Ausgangspunkt der Fragestellung auf dieser Problemebene ist die nichtkontroverse Deskription der gegenwärtigen Industriegesellschaften als hochkomplexer Systeme, die sich gemäß der anwachsenden Beschleunigung sämtlicher gesellschaftlicher Prozesse in einem Zustand von permanent zu werden drohenden Orientierungskrisen befinden. Die Rolle und Funktion der Philosophie, die ihr im Hinblick auf in solcher Lage befindliche Gesellschaften zugesprochen wird, ist daher ebenso wie die Stichhaltigkeit der Argumentation pro und kontra davon abhängig, in welcher Weise diese Orientierungskrisen gedeutet werden. Wer diesen Krisenzustand etwa wie Luhmann primär als Problem einer Systemintegration und damit vorwiegend als Steuerungsproblem sich selbst regulierender Gesellschaftssysteme interpretiert, wird eher geneigt sein, Philosophie und die von ihr festgehaltene und affirmierte Ich-Identität von Vernunftsubjekten als zunehmend Komplexität erzeugende Störungspotentiale aufzufassen und entsprechend als für das Überleben des Gesellschaftssystems funktionslos gewordene oder schädliche Elemente schließlich abzuschaffen. Philosophie entbehrte

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dann nicht nur einer Funktion, sie wäre in der Konsequenz sogar lebensbedrohend. Im Gegensatz dazu würde etwa die gegenteilige Deutung der Orientierungskrise bei Habermas, der sie, auf dem Hintergrund eines Auseinanderklaffens von sozialer Integration und Systemintegration, nicht als Wachstumskrise mit positivem Sinn, sondern als Repressionsdrohung zu verstehen sich genötigt sieht, auf die notwendige Funktion der Philosophie verweisen, um den Sozialisationsmodus vernünftiger Subjekte gerade angesichts einer unter technokratischen Imperativen stehenden Gesellschaftsformation bewahren und eine neue Identität der Gesellschaft vernünftiger Wesen begründen zu können. Die Philosophie ist hier unverzichtbar, sie hat die Funktion, jede mögliche Gestaltvon Objektivismus, insbesondere das szientistische Selbstverständnis der Wissenschaften und das technokratische Bewußtsein zu reflektieren und zu kritisieren. Philosophie als Selbstreflexion ,,ist das einzige Medium, in dem sich heute die Identität der Gesellschaft und ihrer Mitglieder bilden kann . . . Ich sehe nicht, wie wir ohne Philosophie imstande wären, eine Identität auf einem so zerbrechlichen Boden, wie die Vernunft ihn bereitet, auszubilden und zu sichern" .6 Es ist hier nicht der Ort, in die Diskussion zwischen Habermas und Luhmann einzutreten. Was in unserem Zusammenhang wichtig erscheint, ist die Tatsache, daß beide ein prämissenreiches Theorem vortragen, das im Ansatz bereits, wenn nicht überhaupt die Bedeutung von Philosophie vorentschieden hat, so doch wenigstens philosophische Voraussetzungen über den Begriff von Gesellschaft im Ganzen einschließt; weshalb eine Auseinandersetzung mit beiden nicht erst bei den geschilderten Konsequenzen, sondern schon bei den philosophischen Grundlagen ihrer Gesellschaftsanalyse anzusetzen hätte. Beide konzipieren einen Wesensbegriff von Gesellschaft, der nicht unabhängig von selber philosophischen Positionen ist, und der philosophisch durchaus als kritisierbar erscheint. Ich möchte hier nicht verschweigen, daß mir der Ansatz von Habermas im Vergleich zu Luhmanns am bloßen Überleben orientiertem Funktionalismus philosophisch eher ausweisbar zu sein scheint; daß er aber in der Bestimmung der gegenwärtigen Züge einer spätkapitalistischen Gesellschaft (Stichworte: Technokrate und Verdinglichung) problematische Totalisierungen enthält. In 6

J. HABERMAS, Die Rolle der Philosophie im Marxismus, in: Ders., Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 154, Frankfurt a. M. 1976, 58.

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unserem Falle ist es daher sicher zweckmäßig, die Orientierungskrise in ihrer augenfälligen Präsentation selbst ins Auge zu fassen, ihre Implikate aufzuweisen und zu fragen, welche Bedeutung der Philosophie hierin zukommen könnte. Versucht man, ohne philosophisch-theoretische Vorgabe die Orientierungskrise nach ihren auffälligen Zügen zu bestimmen, so ist es jedenfalls unbestritten, daß Orientierungskrisen, deren Dauerzustand zu Identitätskrisen der Gesellschaft und ihrer Mitglieder gleichermaßen führt, darin bestehen, daß die normalen und eingelebten Muster unseres Selbstverständnisses im Bereich der Lebenspraxis brüchig werden und ihre stabilisierende Kraft verlieren: und dies, mit Lübbe formuliert, als Folge einer Jmmer noch zunehmende(n) Beschleunigung im Tempo gesamtgesellschaftlicher Veränderungen" 7 und mit der Konsequenz des allmählichen Verlusts der Fähigkeit, sich „in eine durch Primärerfahrung unterstützte Beziehung zum Ganzen hochkomplexer Gesellschaften zu setzen."8 Stellt man in diesem Kontext die Frage, wodurch evtl. solche Orientierungskrisen gemeistert werden könnten, so ist zu berücksichtigen, daß die herkömmlichen Orientierungs- und Deutungssysteme: Religion, bürgerliche Moral, Kunst, weitgehend ihre allgemeine Bedeutung verloren haben und auch die Wissenschaften aus sich nicht in der Lage sind, die durch sie selbst bedingten gesellschaftsbestimmenden Folgen und Nebenfolgen zu bewältigen. Außerdem ist es offenkundig, daß in unsere Orientierungsmuster immer schon philosophische Deutungen der Welt und des menschlichen Zusammenlebens eingegangen sind, so daß es sich geradezu aufdrängt, die Philosophie mindestens ihrer formalen Seite nach, als Kunst der Reflexion, zur Bewältigung der Orientierungsprobleme unserer Lebenspraxis in Anspruch zu nehmen. An dieser Stelle, und allerdings nur insoweit, möchte ich auf die Auffassung von Lübbe zurückgreifen und ihm beipflichten, wenn er die Philosophie als eine „intellektuelle Kunst der Reflexion mit dem Ziel der Lösung von Orientierungskrisen"9 bestimmt und sie als esoterische professionelle Philosophie von den vielfältigen, von ihm exoterisch genannten „Philosophien" unterscheidet, die jeweils die Grundsätze und Leitvorstellungen der ver7

H. LÜBBE, a.a.O. 81. A.a.O. 81. 9 A.a.O. 76.

8

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schiedenen Teilsysteme unserer Lebenspraxis enthalten. Man wird zustimmen müssen, daß so definierte Philosophie im gegebenen Falle einer Gesellschaft in Orientierungskrisen unentbehrlich ist: sie empfiehlt sich ohne jeden Zweifel. Denn in der Tat ist unsere Wissenschafts- und Lebenspraxis von sie rechtfertigenden und bestimmenden Leitvorstellungen geprägt, die entweder selbst aus philosophischen Traditionen stammen oder doch wenigstens als „philosophy" anzusprechen sind und daher überhaupt, insbesondere aber bei gegebener Krisensituation, philosophisch reflektiert werden können und müssen. Bedenken sind nur an einem, wenn auch vielleicht entscheidenden Punkt anzumelden: Lübbes Funktionsbeschreibung der Philosophie ist entweder nicht präzise oder sie bringt sich um den Erfolg, den sie beabsichtigt. Wenn er schreibt: „die Philosophie erfüllt die Funktion, die elementaren Schemata unserer Wirklichkeitsorientierung, durch die wir in wissenschaftlicher und sonstiger Praxis geleitet sind, an veränderte Lagen anzupassen"10; dann scheint doch Philosophie ihre Aufgabe bei anwachsendem Tempo der Lageveränderung gerade nicht erfüllen zu können, da sie stets im selben Tempo jeweils neue kategoriale Schemata der Wirklichkeitsorientierung produzieren würde. Müßte man hier nicht präzisieren, daß Philosophie nur dann wird orientieren können, wenn sie aus einem eigenen Fundus an mindestens formal-apriorischem Wissen (etwa über den Menschen) die veränderten Lagen analysiert, begreift und deutet, und sich ihnen gerade nicht anpaßt? Sie würde sonst doch nur das Orientierungsdefizit auf einer anderen Ebene lediglich spiegeln, aber nicht beheben. Die analytische Beschreibung des Zustandes uns bekannter, hochkomplexer Gesellschaften als Orientierungskrise unserer philosophisch geprägten Deutungssysteme der Lebenspraxis reicht aus, um der, wie immer für sich selbst näher zu bestimmenden Philosophie eine wesentliche, freilich nicht unvermittelt wirksam werdende Funktion zuzuschreiben. Diese positive Funktion ist jedoch sicher nicht ausreichend gekennzeichnet, wenn sie als „Orientierungskrisenmanagement" aufgefaßt würde, das eilfertig und ohne eigenen Fundus an gültigem apriorischen Wissen elementare Orientierungsschemata den veränderten Situationen gesellschaftlicher Wirklichkeit bloß anpaßt. Der hypothetische Imperativ: wenn immer Gesellschaften in eine Lage zunehmenden Identitätsverlusts geraten, ist Philosophie nicht nur empfeh10

A.a.O. 76.

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lenswert, sondern praktisch gefordert, läßt sich rechtfertigen; jedoch nur dann, wenn der Sinn von Philosophie jenseits und unabhängig von gesellschaftlichen Krisen und einer dadurch bedingten Nachfrage nach ihr ausgewiesen werden kann.

5. Frageintention: Wozu Philosophie an den Universitäten? Inwiefern und aus welchen Gründen Philosophie an den Universitäten ihre Daseinsberechtigung verloren habe, hat zuletzt Hochkeppel in seinem Buch ,,Mythos Philosophie" darzustellen unternommen. Er vermutet, daß Philosophie „als selbständige Theorie, Methode, Lehre oder als System . . . ihre Daseinsberechtigung (kaum wird) behaupten können" 11 und zieht die Konsequenz: ,»Philosophie aber als selbständiges, explizites und institutionalisiertes Unternehmen ist nun ernsthaft in Frage gestellt."12 Zentrales Argument ist für ihn, daß Philosophie durch die Wissenschaften aufgehoben und daher als selbständiges Fach überflüssig geworden sei. Was von ihr an den Universitäten zurückbleibe, sei neben dem „Spekulationsspiel", das jedoch gänzlich in den Kontext der einzelnen Wissenschaften integriert werden müßte, nur noch logische Propädeutik und Philosophiegeschichte: Logik als Organen des rationalen Argumentierens, das im übrigen schon an den Höheren Schulen Unterrichtsfach werden könnte und sollte; und Philosophiegeschichte als Denk- und Reflexionstraining, das immerhin ,,eine Selbstaufklärung über die seltsamen Wege und Abwege des Menschengeistes, seine Größe und seine Grenzen"13 bewirken könnte. Hochkeppels Zukunftsschilderung der Philosophie lebt von dem Vergleich von Philosophie und Wissenschaft, der zugunsten der letzteren ausfällt; sie ist im Hinblick auf zukünftige Möglichkeiten des Philosophierens differenziert, aber dennoch, wie ich meine,grundsätzlich falsch. Sofern sie nämlich aus dem Geist des Zeitalters argumentiert, ist seine Ansicht - wie gezeigt - theoretisch weder beweisbar noch widerlegbar; soweit Hochkeppel aus dem Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie seine Ansicht begründen zu können meint, ist sie bereits durch den konstruktivistischen Ansatz einer normativen 11

W. HOCHKEPPEL, Mythos Philosophie, Hamburg 1976, 162. A.a.O. 167. 13 A.a.O. 161.

12

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Wissenschaftstheorie, aber auch in der Perspektive einer transzendentalen Wissenschaftslehre, ausreichend widerlegt. Im übrigen bemerkt Hochkeppel nicht, daß Universitäten nicht bloß durch Erforschung und Weitergabe von Kenntnissen definiert sind, sondern durch die Vermittlung von wissenschaftlichem Denken, durch Lehre der Wissenschaft; und er übersieht ferner, daß die Universität als gesellschaftliche Institution einem Auftrag der Gesellschaft unterliegt, dem durch die bloße Zurkenntnisnahme von wissenschaftlichen Ergebnissen auf der Seite der für die Gesellschaft Auszubildenden nicht genügt werden kann. Unter Berücksichtigung der eben genannten Gesichtspunkte versuche ich meine eigene Antwort thesenartig vorzutragen und sie aus drei Perspektiven, 1. von der Philosophie her, 2. von der Universität her und 3. von der Gesellschaft und ihrem Anspruch her zu verdeutlichen: 1. Philosphie ist, von Seiten der Wissenschaft gesehen, die methodische Analyse von Sinn und Bedeutung des wissenschaftlichen Wissens: sie ist kritische Reflexion auf Berechtigung und Reichweite von Wissenschaft überhaupt. Ihr Gegenstand ist daher das Wissen als Wissen, sofern es sich auf je verschiedene Weise, u. a. eben auch in den Einzelwissenschaften, realisiert. Ihre Methodik bestimmt sich durch die Frage nach den in jedem Wissensakt nachweisbaren allgemeinen Prinzipien. Auf diese Weise ist sie sowohl in theoretischer wie in praktischer Hinsicht Erkenntnis des Ganzen der Wirklichkeit aus Prinzipien, sofern dieses Ganze der Wirklichkeit ausschließlich im Wissen erscheint. Von daher hat Philosophie eine bleibende Aufgabe gegenüber den Wissenschaften, die durch deren Emanzipation von der Philosophie nicht nur nicht beeinträchtigt, sondern im besonderen Maße gefordert ist. Es scheint mir entscheidend zu sein, daß durch Philosophie in einer methodischen Form die Idee des Ganzen des menschlichen Wissens wie auch die Idee der Humanität präsent gehalten wird und daß Philosophie dadurch sowohl für die Wissenschaften als auch — und nicht nur durch deren Vermittlung — für die Gesellschaft katalysatorische Bedeutung entfaltet. In Kontakt mit den Wissenschaften trägt sie zur Beibehaltung und zur Entwicklung der Qualitäts- und Reflexionsstandards der Wissenschaften bei und ist daruberhinaus in der Bearbeitung ihrer Tradition wie in der kritischen Aufnahme der durch Wissenschaften erbrachten Ergebnisse ein nicht zu unterschätzendes Ideen- und Theorienreservoir für Innovationen sowohl in den

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Natur- wie in den Humanwissenschaften. Beide Gesichtspunkte, die regulative Funktion für das Selbstverständnis der Wissenschaften wie auch die heuristische Funktion als potentieller Produzent von Hypothesen und Ideen, begründen die Notwendigkeit einer Institutionalisierung der Philosophie an den wissenschaftlichen Hochschulen. Aber auch für die Philosophie selbst, für die Beibehaltung ihres eigenen wissenschaftlichen und theoretischen Niveaus ist der unmittelbare Kontakt mit der wissenschaftlichen Forschung unverzichtbar, soll sie nicht, unter dem Niveau ihrer eigenen Geschichte, in spekulativen Wildwuchs verfallen. Dies bedeutet noch nicht, daß Philosophie ausschließlich in der Zuordnung zu bestimmten Fachwissenschaften als sog. Bindestrichphilosophie bei den Fächern selbst zu installieren wäre. Eine solche Institutionalisierung würde den desolaten Zustand einer Zersplitterung lediglich fortschreiben. Im Gegenteil: Philosophie kann die ihr eigentümliche Funktion nur als selbständiges Fach und mit einer eigenen Scientific Community erfolgreich in Angriff nehmen. Ob als Fachbereich, als Seminar oder als Zentralinstitut — Philosophie muß als eigenes Fach an den wissenschaftlichen Institutionen der Gesellschaft vertreten sein, an denen Wissenschaften nicht nur betrieben, sondern gelehrt werden. Nur so kann sie für ein angemessenes methodisches und humanes Selbstverständnis der Wissenschaft sorgen und jenseits einzelwissenschaftlicher Methoden die Standards und Normen theoretischer und praktischer Selbstreflexion setzen, deren Stelle ohne die Präsenz der Philosophie in den Wissenschaftsinstitutionen unvermeidlich naturwüchsig durch Ideologien besetzt würde. Zusammenfassend könnte man sagen: Philosophie hat gegenüber den Wissenschaften nicht den Charakter eines Universalfaches, das den Gegenstandsbereich der Wissenschaften im Sinne eines universalen Wissens umgreift; durch Philosophie wird das einzelne Wissen nicht zur Summe des Wissbaren überhaupt vervollständigt, jedoch erhält der Charakter des Wissens durch sie eine reflexive Vollkommenheit, die durch die Ideen sowohl des Ganzen des menschlichen Wissens wie der Humanität erzeugt und vermittelt wird. Auf diese Weise besitzt und realisiert Philosophie gegenüber den Wissenschaften die Funktion einer kritischen reflektierenden Urteilskraft. 2. Auch als DiensÜeistungsgroßbetrieb zur Ausbildung neuer Generationen von Wissenschaftlern ist die Struktur der Universität nicht durch bloße Weitergabe und Übernahme von Ergebnissen der Wissenschaften, und nicht als bloße Ansammlung von Wissenschaft-

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lichen Disziplinen definiert. Sie ist der Ort, an dem im Kreislauf von Entdecken-Lehren-Lernen-Entdecken Wissenschaft, wissenschaftliches Denken, selbst gelehrt wird, wozu aber die durch Philosophie vermittelte Distanz zum Wissen im Ganzen und d. h. die philosophische Reflexion von Sinn und Bedeutung wissenschaftlichen Wissens überhaupt gehört. Es ist gerade diese Bestimmung von Sinn und Bedeutung wissenschaftlichen Wissens, wodurch sich die Universität gemäß der ihr garantierten Freiheit in Forschung und Lehre, also auch in der Bestimmung dessen, was Wissenschaft sein soll, eine autonome Deutung ihrer selbst zu geben in der Lage ist. Soll die Institution Universität noch irgend mit Freiheit und Forschung in der Lehre wissenschaftlichen Wissens zu tun haben, so gehört von ihrer eigenen Struktur her Philosophie als eigenständig organisierte Scientific Community zu ihr hinzu. Das Begreifen der Wissenschaft als einer bestimmten Weise des Wissens hat darum an den Universitäten eine notwendige Funktion und repräsentiert die zur Wissenschaft gehörige kritische Haltung gegenüber der Wissenschaft selbst. Sie ermöglicht und vergegenwärtigt als Forderung jene Freiheit des Menschen von der Wissenschaft für den Menschen, ohne welche Wissenschaft gerade als Wissenschaft nicht betrieben werden kann. Die Universität garantiert sich durch die Institution der Philosophie ihre eigene Freiheit von der Wissenschaft um eben dieser Wissenschaft willen für den Menschen. 14 14

Zum Verhältnis der Philosophie, Wissenschaft und Universität, vgl. die im Ergebnis nahezu übereinstimmenden, wenn auch methodisch anders begründeten Darlegungen bei J. PIEPER, Was heißt akademisch? Zwei Versuche über die Chance der Universität heute, München 2 1964, 92f., 97, insbes. 100-102: „Das räumliche oder organisatorische Beieinander der Einzelwissenschaften genügt doch offenbar nicht schon, damit jenes Universum, das Wirklichkeitsganze, auf das die Universität durch ihren Namen verpflichtet ist, irgend jemandem wirklich zu Gesicht kommt. Die Universität selbst, als Institution, ist ja nicht ein Jemand, der .seinen Blick auf etwas richten' oder .etwas ins Auge fassen' könnte. Dazu ist der Einzelne, der individuelle Geist, die Person vonnöten. Nur die personalen Glieder der Universität vermögen überhaupt die Offenheit für das Ganze zu realisieren, von der wir gesprochen haben. Sie also, diese Einzelnen, mögen sie sich im übrigen noch so sehr, in ihrer Fachwissenschaft, je auf einen formulierten Teilaspekt der Wirklichkeit begrenzen - die individuellen Studenten müssen in den Stand gesetzt werden, ja sie müssen durch den Geist der Institution selbst ausdrücklich dazu angeregt, ermutigt, herausgefordert, gedrängt werden, immer wieder einmal als sie selber den Blick auf das Totum von Welt und Dasein zu richten - zum Beispiel, indem sie die Frage erörtern, wie es mit der menschlichen Freiheit bestellt sei, nicht allein psychologisch betrachtet, biologisch, juristisch, sondern »überhaupt',

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3. In der Perspektive der Gesellschaft ist die Universität AusbildungsDienstleistungsgroßbetrieb und Durchgangsinstitution für viele Studierende, die sich die Grundlagen ihres Berufs dort aneignen und Qualifikationen für bestimmte,wissenschaftliche Kenntnisse voraussetzende Tätigkeiten im Rahmen der Gesellschaft erwerben. In diesem Zusammenhang wird des öfteren übersehen, daß der Bedarf der Gesellschaft über eine bloße Ausbildung hinausreicht. Ihr Anspruch geht nicht auf wissenschaftliche Erkenntnisse bloß reproduzierende Fachleute, sondern auf wissenschaftlich geschulte und zugleich der Urteilskraft fähige Mitglieder der Gesellschaft. Es wird zurecht erwartet, daß der wissenschaftlich Ausgebildete in der Lage sei, das angeeignete Wissen in je konkreten Situationen anzuwenden, also eine Kunst, die nicht schon im Lernen von Wissenschaft mit angeeignet werden kann. Setzt doch Anwendung eines Wissens ein Beurteilenkönnen der Lage ebenso voraus wie ein Wissen davon, was man, sofern es als sein sollend und richtig eingesehen ist, je jetzt verwirklichen kann und soll. Der Bedarf der Gesellschaft geht auf wissenschaftlich geschulte und der Urteilskraft fähige Mitglieder. Die Kunst zu urteilen wird aber nicht schon im Lernen von Wissenschaft mit angeeignet, sie kann in einer direkten Weise überhaupt nicht gelernt werden, bestenfalls erzeugt sie sich durch eine ursprünglich freie Distanznahme in einem durch Philosophie angeregten und durch Wiederholung eingeübten Positionswechsel der Perspektiven Wissenschaft-Leben, Theorie-Praxis. Im Wechselbezug von Philosophie und Wissenschaften hat die Universität gerade dieser Möglichkeit Raum gegeben, daß die Studierenden nicht nur lernen und wissen, sondern das Gewußte im Lichte des als Idee entworfenen Ganzen des menschlichen Wissens und Lebens auch beurteilen. Die Philosophie als Fach bietet die Chance, rechtzeitig die Unterscheidung von Wissenschaft und Leben, von Praxis und Theorie einzuüben und zu begreifen.

unter jedem denkbaren Aspekt; oder: was Dichtung im Grunde sei und was sie .solle'; oder: was im Sterben eines Menschen, über das Physiologische und das bloß Biographische hinaus, sich wahrhaft zutrage; und so fort. Auf keine andere Weise sonst kommt der Gesamtzusammenhang der Existenz überhaupt zur Erfahrung und zu Gesicht. Hierfür aber das Gehäuse, den Hegungsraum, die ,Freistatt' zu bereiten und offenzuhalten, ausdrücklich, durch eine eigens und methodisch darauf abzielende Veranstaltung: das ist es, wodurch die Universität zur Universität wird. Würde sie das nicht leisten, dann würde sie ihre wesentliche Aufgabe verfehlen."

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Soweit die Übersicht über die verschiedenen Frageintentionen der Wozu-Frage, die Antwortmöglichkeiten und einige Vorschläge, darauf zu antworten. Anstelle eines Schlußwortes möge es erlaubt sein, einen Wissenschaftstheoretiker und Philosophen zu zitieren, der gewiß unverdächtig ist, kritisches Urteil durch Pathos zu ersetzen. Am Ende seines Buches „Grundfragen der Philosophie" schreibt Stephan Körner: ,,Nur Unwissenheit und mangelnde Nachdenklichkeit können einen Menschen zu der aufrichtigen Überzeugung verleiten, die Philosophie habe ihre Aufgaben erfüllt und sei nun am Ende ihrer Entwicklung angekommen . . . . Die philosophische Reflexion wird nur dann aufhören, wenn auch die nichtphilosophische Reflexion ein Ende findet. Zwar habe ich zu zeigen versucht, daß es keine ,Philosophia perennis', das heißt, keinen festen und unveränderlichen Kern philosophischer Wahrheit, gibt; dennoch ist die Philosophie ewig".15

15

ST. KÖRNER, Grundfragen der Philosophie (Deutsche Erstausgabe), List Taschenbücher der Wissenschaft, Philosophie, S. 1641, München 1970, 325.

MANFRED RIEDEL

Philosophieren nach dem „Ende der Philosophie*'? Zur Sache des Denkens im Zeitalter der Wissenschaft Der Titel des Vortrags ist mit einem Fragezeichen versehen. Er zeigt an, was man gemeinhin eine Verlegenheit, in gehobener Sprache eine Aporie nennt. „Aporie" heißt ursprünglich die Not eines Reisenden, dem auf der Fahrt durch schwieriges Gelände plötzlich der Weg versperrt ist, auch die Bedrängnis desjenigen, der bei der Verteilung von Gütern ausgeschlossen wird oder sonstwie zu kurz kommt. Beide Bedeutungen umschreiben die Lage des Philosophierens heute. Nur die heutige Lage? Darauf antwortet der folgende Vortrag. Was ich versuche, ist eine Analyse des Philosophierens unter dem Gesichtspunkt einer Frage, eben der nach dem „Ende der Philosophie". Dabei setze ich voraus, daß ein Gesichtspunkt andere, nicht weniger wichtige Gesichtspunkte neben sich hat. Aber aufgefordert, vor diesem Kreis über die vieldiskutierte Frage: Wozu Philosophie? zu sprechen, habe ich den Titel gewählt, weil er geeignet sein könnte, den Sinn jener Frage zu klären und nach einer Antwort zu suchen.

I

Die Möglichkeit einer Antwort auf die Wozu-Frage - lassen Sie mich mit dieser Vorbemerkung beginnen - scheint mir allerdings aus sachlichen Gründen begrenzt zu sein. Das folgt gewissermaßen aus der Grammatik der Frage, die zuerst der Klärung bedarf. Jede Frage motiviert sich durch eine bestimmte Fragesituation und enthält implizit Voraussetzungen, die ihrerseits bestimmte Antworten implizieren. Wozu-Fragen sind uns aus dem Alltagsleben vertraut. Sie werden gewöhnlich damit beantwortet, daß man entweder den Zweck von etwas angibt, was man tut, oder das Tun als Mittel versteht, um einen Zweck zu erreichen. Wir wollen diese Art von Fragen teleologische Fragen nennen. Danach ist Philosophieren ein Handeln, das grundsätzlich

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durch Vorerwartungen seiner Relevanz und unter Benutzung dieser Erwartung als Bedingung oder Mittel für rational erstrebte Zwecke oder Zweckzusammenhänge bestimmt ist. Wer philosophiert, so dürfen wir den Vorerwartungshorizont umschreiben, tut dies nicht um der Philosophie, er tut es um eines anderen willen, das bei fälliger Horizontverschiebung stets anders, als vielfach bestimmbares und vielgestaltiges „Anderssein"erscheint. Was gegenwärtig „die Wissenschaft" oder „Gesellschaft" heißt, war vor kurzem „die Volksgemeinschaft" oder „Weltanschauung", es wird künftig wiederum ein Anderes, mit ähnlich globaler Relevanzformulierungsein. Teleologische Fragen und Vorerwartungen einer Zweck-MittelRationalität gibt es nicht erst seit heute. Wir begegnen ihnen im ältesten Anfang der Philosophie. Nach der Legende soll Thaies, der zuerst hinter dem Wechsel des Vielen Einheit gewahrt und diese ins Wasser gesetzt hatte, statt Wasser zu schöpfen, in den Brunnen gefallen sein. Um Thaies' Gestalt rankt sich jedoch neben der Geschichte vom Brunnenfall und dem daran anschließenden Gelächter der wasserholenden thrakischen Magd eine weitere Legende: Er soll, von Bürgern seiner Vaterstadt mit der Nachrede provoziert, seine Armut beweise die Praxisferne der Philosophie, unter zweckrationaler Einsetzung astronomischer und ökonomischer Daten eine gute Olivenernte vorausgesehen, alle Ölpressen in Milet gemietet und durch Weitervermietung in der Erntezeit ein schwerreicher Mann geworden sein. Aristoteles, der diese Geschichte erzählt1, fügt hinzu: Thaies habe damit gezeigt, wie leicht den Philosophen der Gegenbeweis fällt, daß dies aber eben nicht Sache der Philosophie sei. Apologien dieser Art entspringen Fragen, die dem Philosophieren von außen gestellt und nach außen hin beantwortet werden. Wir können hier auch von pragmatischen Fragen sprechen. Obwohl sie seinen Gang von Anbeginn begleiten, treten sie innerhalb der Philosophie erst dann auf, wenn sie ihre Sache verfehlt oder sich zum Schuldogma verfestigt. In unserem Kulturkreis — die asiatischen Hochkulturen kennen ähnliche Erscheinungen - geschieht dies in den spätantiken Philosophenzirkeln, die das Christen turn auflöst, in der Schulphilosophie der frühen Neuzeit, die sich dem geschichtlich neuartigen Typ der Erfahrungswissenschaften verschließt, und schließlich — mutatis mutandis — nach der spekulativen Erschöpfung der antik-christlichen Lehrtradition in 1

Politik 111, 1259 a 5-28. Vgl. Diog. Laert. I § 26.

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Hegels Philosophie. Was „Zweck" der Philosophie sei, — dies ist die Frage der griechisch-römischen Denker von Epikur bis Seneca an Platon und Aristoteles, der Märtyrer und Väter des frühen Christentums von Justin bis Augustin an die antiken Philosophenschulen, von Galilei und Bacon an die Scholastik, von Marx an Hegel. Und die Antwort lautet: das Wohl der Seele, die Eudämonie des Einzelnen statt bloßer Theorie, der Glaube statt eudämonistischer Seelentechnik, Beherrschung der Natur statt bloßer Glaubenslehre, Weltveränderung statt Interpretation der Welt. Mit der Hegel-Kritik von Marx wechselt freilich die Grammatik der Wozu-Frage den semantischen Kontext. Aus der 11. These über Feuerbach — „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern" — hat Marx bekanntlich weiter gefolgert, daß Philosophie als universalhermeneutische Vernunftinterpretation im Sinne Hegels abgeschlossen und vollendet, ihr Anspruch einer vernünftig geordneten Welt aber erst noch praktisch zu verwirklichen sei. Weltveränderung, der Zweck von Wissenschaft und Industrie, setzt nicht mehr philosophische Theorie, sondern revolutionäre Politik und Sozialwissenschaft — die Kritik der politischen Ökonomie — voraus. Marx' Folgerung ist, makrohistorisch gesehen, eine Variante des ursprünglich positivistischen Geschichtsdenkens, wonach Philosophie den Mythos ablöst, bis sie ihrerseits durch Wissenschaft überwunden wird. Positivistische wie dialektische GeSchichtsphilosophie — auf die Unterschiede gehe ich nicht näher ein — sind dabei nicht nur an pragmatischen Zweckbegriffen, sondern am Begriff von einem Endzweck im Sinne eines „Äußersten" und „Letzten" orientiert. Indem sie behaupten, daß Philosophie im Anderen der Wissenschaft und der ihr zugehörigen Gesellschaft sich aufhebt, verkünden sie das zeitliche Ende der Philosophie. Ihr Ende, so erläutert M. Heidegger, der sich selbst als Denker und nicht mehr als Philosoph versteht, „zeigt sich als der Triumpf der steuerbaren Einrichtung einer wissenschaftlich-technischen Welt und der dieser Welt gemäßen Gesellschaftsordnung. Ende der Philosophie heißt: Beginn der im abendländisch-europäischen Denken gegründeten Weltzivilisation"2.

2

M. HEIDEGGER, Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens, Tübingen 1969,8.65.

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Wir untersuchen zunächst nicht den sachlichen Kern dieser historischen Aussage, sondern fragen: Was ist eigentlich sprachlich gemeint, wenn von einer Sache behauptet wird, sie gehe zu Ende? In der Umgangssprache heißt „Ende" nicht nur so viel wie „Aufhören" und „Verschwinden", sondern „Ort". Von einem Ende zum anderen gehen heißt: der Gang von einem Ort zum ändern. Wer von einem Ende der Stadt zum anderen geht, bleibt damit noch innerhalb derselben Stadt, wer in fremde Länder reist, verläßt damit noch nicht den Erdball. Obwohl sich auch Heidegger auf diesen Sprachgebrauch ausdrücklich bezieht, spricht er dem Wort „Ende" im Sinne von „Ort" eine andere („a-topische") Bedeutung zu. Die Rede vom „Ende der Philosophie" bezeichnet nach Heidegger einen „letzten Ort", nämlich „dasjenige, worin sich das Ganze ihrer Geschichte in seine äußerste Möglichkeit versammelt", die „Vollendung" der Philosophie durch ,»Aufhebung" in einem Anderen ihrer selbst. Wir können hier von einer dysteleologischen Bedeutung sprechen. In diesem Kontext — und nur in ihm — gewinnt die teleologische Frage die durch Enderwartung verschärfte Fassung: Wozu noch Philosophie? Es ist die Frage, die während der 60er Jahre neben dem Denker der Seinsgeschichte vor allem die kritische Theorie, das Denken von Adorno und danach von Habermas in Bewegung gehalten hat. Wer so fragt, setzt den Satz vom „Ende der Philosophie" voraus; er geht davon aus, daß im Zeitalter der Wissenschaft und Industrie die Zeit des Philosophierens abgelaufen und vorbei ist. Philosophie, so heißt es dialektisch-negativ beim späten Adorno, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.3 Die Philosophie, sagt Heidegger, endet im gegenwärtigen Zeitalter. Sie hat ihren Ort in der Wissenschaftlichkeit des gesellschaftlich handelnden Menschen gefunden.4 Die parallelen Antworten der Antipoden deutscher Nachkriegsphilosophie überschneiden sich im Verzicht auf apologetische Rede. Sie gebrauchen dafür Sprechweisen der Eschatologie. „Eschatologie" ist die Lehre von den „letzten Dingen", - der großen Katastrophe, die, wenn sie „radikal" oder die „letzte" ist, Philosophie mit einschließt. Abgründiges Reden vom „Letzten" ist Denkern, wenn sie nur radikal genug, d. h. Philosophen sind, die diesen Namen verdienen, nicht fremd. Radikale mögen, frei nach Marx, 3 4

Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1966, S. 13. Zur Sache des Denkens, a.a.O., S. 64.

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Leute heißen, die eine Sache an der Wurzel, d. h. an ihrem begrifflichen Ursprung fassen. Philosophisch radikal sein heißt, jede Behauptung, eschatologische Rede nicht ausgenommen, auf ihre Begreiflichkeit hin überprüfen. Zu fragen wäre demnach: Wie kann man es wissen, daß Philosophie mit dem Übergang zur Moderne untergeht? Oder anders ausgedrückt: Wie ist eine Geschichte a priori möglich? Mit Kant bin ich zu sagen versucht: Wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und veranstaltet, die er zum Voraus verkündet. Obwohl die Prognose eines zeitlichen Endes der Philosophie empirisch-historische Beweisaufnahmen nahelegt, möchte ich dieser Versuchung widerstehen und statt dessen mit Kant weiterfragen: Was will man hier wissen? Offensichtlich genügt es nicht zu wissen, ob diese oder jene Zeitgestalt des Philosophierens abgeschlossen und vollendet, daß Philosophie in ein „Anderes" ihrer selbst umgeschlagen ist. Wir wollen wissen, ob es zum Begriff der Philosophie gehört, je in der Zeit zu enden oder sich in anderer Gestalt, in Wissenschaft und Technik, in Kunst, Religion und Politik zu erfüllen. Wie aber können wir dasjenige wissen, was wir hier wissen wollen? Nicht anders, als daß wir philosophieren, nämlich fragen, wie Philosophie im Zeitalter der Wissenschaft möglich ist. Indem wir die Aporie so umformulieren, sind wir bei der Sache unseres Vortrags. Die Frage nach ihrer Möglichkeit gehört jedenfalls selbst zur philosophischen Rede; sie ist, in gewisser Hinsicht, sogar die Grundfrage der Philosophie. II

Wer nach „Bedingungen der Möglichkeit" einer Sache fragt, muß sich zuvor von ihrer Wirklichkeit Rechenschaft geben. Damit meine ich hier nicht den Satzbestand eines philosophischen Systems oder den faktischen Bestand verschiedener philosophischer Richtungen, die sich gegenwärtig ebenso wie in der Vergangenheit unverträglich gegenüberstehen. Gemeint sind vielmehr Tatbestände, die auf einen Wandel von Rahmenbedingungen des philosophischen Tuns hindeuten. Was sich gewandelt hat, ist der habitus cogitandi, die äußere Gestalt von Philosophie. Wir nehmen daher zunächst ebenfalls eine Art Ortsbestimmung vor, indem wir über institutionelle Bedingungen des Philosophierens oder kurz: über Philosophie als Institution sprechen. Philosophieren — was immer das heißen mag — vollzieht sich heute primär institutionell, im Rahmen von Großorganisationen der Wissen-

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schaff und damit unter Rahmenbedingungen jener Gesellschaft, in der Wissenschaft, nach den Prognosen von Marx und Comte, in der Tat zur wichtigsten Produktivkraft geworden ist. Als soziale Institution des wissenschaftlichen Zeitalters - so lautet meine erste These - ist die Philosophie Wissenschaft unter Wissenschaften, ein Fach unter Fächern ebenso wie ein Beruf neben anderen Berufen einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft auch. Die These betrifft zunächst Probleme einer Soziologie des Wissens und der Wissenschaftssoziologie, die ich hier — im Anschluß an die in Deutschland leider nicht weiter verfolgten Arbeiten von M. Weber und Scheler — nur in Grundzügen andeuten kann. Sie stützt sich empirisch auf den historisch langfristigen Vorgang einer sozialen Institutionalisierung von Philosophie, der, den Prognosen von ihrem Ende genau entgegensetzt, parallel zur Organisation von Wissenschaft in unserem Jahrhundert stattgefunden hat. Auffälligstes Symptom ist der planmäßig betriebene Ausbau einer marxistischen Schulphilosophie mit einer Vielzahl meist beamteter Anhänger, die seit der Oktoberrevolution von 1917 in der Sowjetunion, danach in China und anderen Ländern des Ostens, heute auch in Afrika und Lateinamerika entsteht. In den westlichen Ländern, voran in den USA, Großbritannien und Skandinavien, korrespondiert dem ein analoger, wenngleich mehr naturwüchsiger Institutionalisierungsprozeß. Während das revolutionärmarxistische Denken ironischerweise Traditionen vielfach weiter konserviert, zieht er hier, auf dem Hintergrund einer entschieden antihegelschen Opposition, jene Habitus-Änderung nach sich, die von Oxford-Philosophen, mit einiger Übertreibung, gern als „Revolution in der Philosophie" bezeichnet wird. 5 Bis zu J. St. Mill und anderen, so hat G. Ryle ihren soziologischen Aspekt beschrieben, pflegten Philosophen sich in normalen Zeitschriften einer breiten Öffentlichkeit mitzuteilen; dagegen publiziert man seit Moore und Rüssel in philosophischen Fachzeitschriften oder in Akademie- und Kongreßberichten - eine Gewohnheit, die philosophische Gedanken wie die von Physikern oder Archäologen fachmännischer Kritik aussetzt und dazu führt, daß sich das Philosophieren zunehmend an Standards von Argumentations- und Beweistechniken sowie an Spezialproblemen mit fließender Grenze hin zu anderen Fachwissenschaften orientiert. Diese Revolution, die Institutionali5

Vgl. G. RYLE (Ed.), The Revolution in Philosophy, London I960, S. 3f.

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sierung von Philosophie als Wissenschaft in der Gesellschaft, ist heute weltweit im Gang. Sie bedeutet a) eine mit traditionellen Gestalten des Philosophierens unverträgliche Professionalisierung, b) eine bis in Details von Routinearbeiten (wie Editionen, Kommentare, Dokumentation usf.) reichende Partialisierung und c) eine bereits weit vorangetriebene Instrumentalisierung des Denkens. Die Symptome werden erst dann diagnostizierbar, wenn wir die historische Kennzeichnung: Zeitalter der Wissenschaft um eine weitere ergänzen. Unser Zeitalter ist nicht allein die Zeit der Großorganisation von Wissenschaft, ja nicht einmal die Zeit der großen Technik. An seinem Grunde ist es das Zeitalter der ,großen Politik". Mit dieser Kennzeichnung meine ich die Anfänge der Großorganisation von Herrschaft in unserem Jahrhundert, den Kampf um die Erdherrschaft, die das Ende der „kleinen Politik",lokaler Staaten,kontinentaler Friedensgarantien und nationaler Kriege, voraussetzt. Grundzug des Zeitalters der großen Politik ist der weltweite Prozeß der Demokratisierung, der von den bürgerlichen Revolutionen der Neuzeit ausgegangen und heute in die Phase seiner Entscheidung getreten ist. Vordergründig der Machtkampf konkurrierender Herrschaftszentren, bewegt er sich im Hintergrund um das Prinzip „Demokratie", das, um es so auszudrücken, der „Philosophie" der miteinander Kämpfenden gemeinsam ist. Jetzt erst, so drückt Nietzsche die neue Lage aus, „ist das Zeitalter der Zyklopenbauten! Endliche Sicherheit der Fundamente, damit alle Zukunft auf ihnen ohne Gefahr bauen kann!"6 Daß der Habitus des Philosophierens vom politischen Kontext eines Zeitalters geprägt ist, liegt auf der Hand. Wie schon Hegel notiert hat, sind die Philosophen des europäischen Kulturkreises ursprünglich selbständige Individualitäten und ein eigener Stand in der Gesellschaft, während sich in der Folgezeit individuelle Selbständigkeit im Philosophieren, die Einheit einer Lebensform, mit beruflichen Ausdifferenzierungen der Stände verliert. Die Philosophen der Neuzeit leben in Institutionen des bürgerlichen Lebens, in Abhängigkeit von Arbeit, Amt und Beruf, oder sie sind Privatpersonen, deren Privatheit sie ebensowenig vom gesellschaftlich Allgemeinen isoliert. Während Hegel noch davon ausgehen mochte, der äußerlich fest gewordene Zusammenhang der Welt sei von solcher Macht, daß das philosophierende 6

Menschliches, Allzumenschliches (1886), Bd. 2, in: Werke, hrsg. von K. SCHLECHTA, Bd. l, München 1954, S. 981 f.

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Individuum ihm angehören und sich doch zugleich, in der „Reflexionsform des Systems", das Korrektiv einer inneren Welt erbauen kann, vergrößert sich danach der Zwiespalt im Leben des Philosophen. Sofern er uns nicht ausschließlich als Staatsbeamter entgegentritt, ist er entweder Rentner der neuen kapitalistischen Wirtschaft, der er einfach zuschaut (Schopenhauer), arbeitet im anderen Beruf (F. A. Lange), treibt nebenberuflich eine Fachwissenschaft (Fechner und Lotze, z. T. auch Dilthey und Stumpf), oder wird, wie Nietzsche und andere nach ihm, freier Schriftsteller.7 Heute ist die philosophische Lebensform teils zur freischwebenden des „Intellektuellen" zurückgebildet, teils ist sie hinter Zwängen des Wissenschaftsbetriebs ganz verschwunden. Im Zusammenspiel von Wissenschaft und Politik ist die Sozialinstitution „Philosophie" mit dem Übergang zur modernen Welt aus ihrer vormals beherrschenden Stellung verdrängt und durch die Institution „Wissenschaft" ersetzt worden. Nicht die Logik des wissenschaftlichen Fortschritts allein, sondern der Demokratisierungsprozeß beschleunigt den Wechsel. Was wir heute „Erfahrungswissenschaft" nennen, ist bis an die Schwelle des 17. Jahrhunderts häufig Nebensache von Dilettanten, Amateuren und Abenteurern gewesen. Erst im Zeitalter der vordringenden Demokratie wird Erfahrungskunde mit den geregelten Verfahren neuzeitlicher Wissenschaft institutionalisiert, zunächst an den Akademien der Aufklärung, danach an den Universitäten und technischen Hochschulen des 19. Jahrhunderts. Indem sie über die „große Politik" mit Technik und Wirtschaft in einen gesellschaftlich-geschichtlich folgenreichen Zusammenhang tritt, wird Wissenschaft, wie Max Weber erkannt hat, zum „Beruf".8 Meine zweite These ist: Über den Prozeß der Demokratisierung steht unser Zeitalter, wie kaum eine Zeit vorher, unter Wirkungen der Wissenschaft als Berufsinstitution, in der sich Philosophieren selber beruflich institutionalisiert. Die Aporie der heutigen Situation besteht darin, daß wir in einer Zeit steigenden philosophischen Interesses und expandierter Berufsphilosophien leben, ohne zu wissen oder auch nur gewissenhaft zu fragen, worin eigentlich „Philosophieren" oder die „philosophisch" genannte Tätigkeit besteht. 7

Vgl. M. SCHELER, Probleme einer Soziologie des Wissens, in: Gesammelte Werke, Bd. 8, Bern 1960, S. 175f. 8 Wissenschaft als Beruf (1918), in: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 2. Aufl., Tübingen 1951, S. 566ff.

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Allerdings ist der Berufsbegriff nicht nur in seiner Anwendung auf das Tun von Philosophen, sondern auch sonst ein sehr merkwürdiger Begriff. Formulieren wir, bevor wir dieses Tun näher analysieren, den Tatbestand so klar als möglich! Was M. Weber von der Politik behauptet, trifft ebenso auf Philosophie zu: man kann sie entweder als Gelegenheitsphilosoph, im Nebenberuf oder hauptberuflich treiben. Gelegenheitsphilosophen sind wir alle, bei vielerlei Gelegenheiten: in der Hinnahme einer schweren Krankheit oder angesichts des Todes, als Zeugen der Geburt von neuem Leben oder als Betrachter eines Kunstwerks, auf der Wanderung durch Fabrikvororte des 19. oder Industrielandschaften des 20. Jahrhunderts, bei Besuchen von Massenversammlungen oder der Wahl einer politischen Partei. Nebenberufliche Philosophen — sie werden inzwischen immer zahlreicher — sind „Experten", die um die Grenzen des Expertentums wissen: nicht nur Physiker und Biologen, Historiker und Archäologen, sondern Techniker und Architekten mit spezifischer Gelegenheitserfahrung wie des Verlusts und drohender Erstarrung von Lebensformen inmitten hochzivilisierter Gesellschaftsformationen. Hauptberuflich philosophiert wird an Wissenschafts-institutionen. Merkwürdigerweise glauben gerade Berufsphilosophen daran, daß Philosophieren kein Beruf sei. Obwohl er sich auf öffentliche Statistiken stützen kann, 9 scheint mir dieser Glaube inzwischen nicht nur dogmatisch ausgehöhlt, sondern auch praktisch gefährlich zu sein. Wer der Wirklichkeit heutiger Arbeitsteilung und der an Wissenschafts-institutionen betriebenen Philosophie nüchtern ins Auge sieht, wird daher meine dritte These am wenigsten kontrovers finden: Als Institution ist Philosophie entweder ohne Zukunft oder sie wird künftig ein Fach unter Fächern, philosophische Fachdisziplin sein. Fachdisziplinen institutionalisierter Philosophie sind in der Sache partiell, ohne selber Partialphilosophien mit universalem Begründungsanspruch und daraus abgeleiteten Denkreglementierungen zu sein. Ich verstehe unter dieser Bezeichnung propädeutische Fächer für Fachwissenschaften, im wesentlichen die seit langem fachmäßig betriebene Logik als Kunstlehre des verläßlichen Urteilens und Folgerns sowie die als Fach erst noch einzurichtende 9

Vgl. Klassifizierung der Berufe, Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 1961, S. 119. Während hier die Philosophen, zusammen mit den Historikern und Philologen, unter .Sonstige Wissenschaftliche Berufe' (8419) gestellt sind, kommen sie in der Internationalen Standardklassifizierung der Berufe, Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 1960, überhaupt nicht vor.

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Hermeneutik als Kunstlehre des verläßlichen Verstehens und Auslegens. Im Blick auf vielfältige Fachwissenschaftsverflechtungen plädiere ich ferner für -wissenschaftliche Methodenlehre sowie für Geschichte der Philosophie.

III

Logik und Hermeneutik sind herkömmlicherweise bestrebt, stets mehr als philosophische Fachdisziplinen zu sein. Im weiten Feld hieran anschließender Grenzüberschreitungen gibt es seit kurzem eine Disziplin, die sich erfolgreich der Mittel der zu Beginn unseres Jahrhunderts durch G. Frege und B. Rüssel neugeschaffenen Logik zur Analyse fachwissenschaftlicher Satzzusammenhänge bedient und unter dem Namen: Wissenschaftstheorie Konjunktur hat. Im angelsächsischen Sprachbereich heißt sie, bescheidener, „Philosophie der Wissenschaft" (Philosophy of Science), auch ,,Erkenntnislehre" (Epistemology) und „Theorie des Wissens" (Theory of Knowledge). Hierzulande bestätigt sie dem öffentlichen Bewußtsein eschatologische Prophezeiung. Einigen gilt sie als Grund-, anderen gar als Nachfolgedisziplin der Philosophie. Wissenschaftstheorie erledigt die philosophische Grundfrage: Im Zeitalter der Wissenschaft ist Philosophie allein als Wissenschaftstheorie möglich. Aus der Perspektive von Wissenssoziologie ist diese Annahme nicht entscheidbar, so daß wir nun die in unserer Fragestellung enthaltene Aporie radikalisieren, also an ihrem begrifflichen Ursprung aufsuchen müssen. Indem wir nach der Sache des Denkens im Zeitalter der Wissenschaft fragen, fragen wir danach, was Philosophie im Verhältnis zur Wissenschaft und ihrer Theorie ist. Fragen vom Typ: „Was ist Philosophie?" sind nicht weniger zweideutig als Wozu-Fragen. Sie können einmal besagen: Welche Klasse von Personen und/oder Sätzen benennt das Wort „Philosophie", — eine wiederum zweideutige Frage, die entweder meinen kann, wie es traditionell gebraucht wird, oder welchen Wortgebrauch wir selbst vorschlagen, — zuletzt eine Definitionsfrage, die als solche der Ersetzung durch das Wort „Wissenschaftstheorie" oder Gleichsetzungen mit Worten wie „Okkultismus", „Mystik" usf. beliebig Raum läßt. Gleichzeitig weist die Was-Ist-Frage über rein terminologische Festsetzungen wie über Begriffsgeschichten hinaus. Wenn wir etwa fragen, was die Zeit oder was der Mensch ist, wollen

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wir nicht wissen, was das Wort „Zeit" und das Wort ,,Mensch" heißt; wir verlangen vielmehr nach Sachkenntnis. Wer so fragt, will also etwas über die Sache wissen, mit der es der Philosophierende zu tun hat. Auf die Gefahr hin, allzu einfach und damit leicht trivial zu werden, sei an dieser Stelle gesagt, daß Philosophieren eine Tätigkeit, nämlich Denken ist. Dasselbe meint Hegel, wenn er geistreich - und vielleicht deshalb aus umgekehrten Gründen der Situation nicht ganz angemessen — vom Versuch, auf dem Kopf zu stehen, spricht. Denken ist eine Tätigkeit, die ein „Können" aktualisiert, das mit anderen Tätigkeiten vergleichbar und von ihnen zugleich unterschieden ist. Während es einige Dinge gibt, die wir auch ohne nachzudenken tun, z. B. einen Kopfstand machen, die Füße bewegen, verdauen, können wir andere ohne Denken entweder gar nicht oder wenigstens nicht „gut" tun, z. B. ein Gedicht machen, ein Haus bauen, kochen. Obwohl es niemand einfallen wird, das zum Hausbauen oder Kochen nötige Denken „philosophisch" zu nennen, liegt es nahe, das Philosophieren, wie jede andere Tätigkeit auch, als eine Art „Tatsache" zu betrachten, die als solche analysiert und der Definition dessen, was Philosophie ist, zugrunde gelegt werden kann. Eine der Besonderheiten der Philosophie besteht jedoch darin, daß sich die Frage, was sie ist, nicht unabhängig davon beantworten läßt, was sie sein soll. Was von der Kochkunst gilt — daß sie immer auch Versuch ist, die Aktualisierung eines Könnens, das sich in Übereinstimmung mit Standards einer „guten Küche" zu bringen sucht —, dies gilt nicht minder vom Philosophieren. Es läßt sich formal als ein Können definieren, das sich bei jedem Aktualisierungsschritt in der Spannung zwischen Sein und Sollen bewegt. Damit stellt sich die Frage nach dem modus cogitandi, der spezifischen Weise jenes Denkens, das wir vorgreifend als radikales Reflektieren bezeichnet haben. Wer radikal reflektiert, tut dies immer schon „inmitten" von Wissen, er weiß, daß er etwas weiß und zugleich nicht weiß, aber wissen will und, recht verstanden, auch wissen soll. Wir sprechen hier \oi\Mit-wissen oder von immanenter Reflexion. Die Tätigkeit des Philosophierens - so behaupte ich in einer vierten These — ist unabhängig von einer wie auch immer beschaffenen Institution; sie vollzieht sich ursprünglich, im Modus immanenter Wissensreflexion. Als Reflexionist Philosophie keine Wissenschaf t unter Wissenschaften, auch nicht Wissenschaftstheorie, Synthese von Fachwissenschaften oder monarchische Grundwissenschaft, sondern Klärung und

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Rechtfertigung jenes selber reflexiven Mit-wissens, das sich analog auch in anderen Gestalten ausbildet und diese zur Einheit einer gesellschaftlich-geschichtlichen Kultur verbindet. Die Elemente des Wissens, das in methodisch-wissenschaftlicher Gestalt intersubjektiver Prüfung und allgemeiner Zustimmung fähig ist, sind: I.Beobachtung, 2.Experiment, 3.Symbolkonstruktion und 4. Überlieferung. Zu ihnen tritt S.Reflexion, - für die Wissenschaft das „letzte" Element, das sie, so viel als immer möglich, ausschalten muß, für Philosophie das „erste", dem sie — ein stets aporetisches, zu keiner Zeit voll realisiertes Unterfangen - die Gestalt von Wissenschaft zu geben sucht. Das Wort „Reflexion", zu Hegels Zeiten und noch im Neuhegelianismus um 1910 kritisch traktiert, ist inzwischen Mode geworden, „Selbstreflexion", in sprachlich eigentümlicher Steigerung seines unübersehbar subjektiven Ursprungs, eine Art Erkennungszeichen von Dialektikern und Hermeneuten gegenüber „Szientisten" aller möglichen Schattierungen, von Positivisten und kritischen Rationalisten angefangen bis hin zu den Analytikern der Umgangssprache. Wir gebrauchen es in der elementaren, von subjektiv-psychischer Problematik vergleichsweise freien Bedeutung des deutschen Wortes „Überlegen", die Kant dem lateinischen Ausdruck in der ,Kritik der Urteilskraft' zuspricht. Es ist dieselbe Bedeutung, die das griechische ,,Phronesis" am Sokratisch-Platonischen Anfang des Philosophierens hat: nicht Vor- oder Grundwissen, sondern Mit-wissen in der Richtung auf Wissen in einer strengeren und zugleich umfassenderen Gestalt von „Wissenschaft", — philosophisches Wissen im Gegensatz zu allem nicht mit-wissen-wollenden Meinen, einschließlich dem der Wissenschaft. Ausgehend von diesen etwas globalen Behauptungen über das historisch wie systematisch einigermaßen komplexe Wechselverhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft möchte ich, im Blick auf gegenwärtige Mißverständnisse, die dritte These wie folgt erläutern: a) Philosophie und Wissenschaft sind in der europäischen Tradition des Philosophierens keineswegs fraglos eins gewesen.10 Obwohl über Gründe- und Beweisforderungen von Anbeginn mit Wissenschaft ver10

Das ist die Annahme von J. HABERMAS, Wozu Philosophie?, in: Philosophisch-politische Profile, Frankfurt/M. 1971. S. 23.

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bunden, stellen sich Begründungsprobleme des philosophischen Mitwissens stets anders dar, von Thaies bis Epikur ebenso wie von Descartes bis Kant und von Hegel bis Whitehead. Klassische Beispiele für die Fraglichkeit ihres Verhältnisses sind Platos Kritik am hypothetischen Verfahren der Geometer und Kants Diktum, in den Wissenschaften sei nur so viel Wissenschaft enthalten, als Mathematik darin ist, — nicht etwa Philosophie, deren Begriffsbildung stets reflexiv und damit außerhalb der Grenzen strenger Wissenschaft verläuft. Auch Aristoteles wäre in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dessen Analytik wohl eine systematisch begründete und ausgeführte Methodenlehre der Wissenschaften, aber nicht die der Aristotelischen Philosophie (im Sinne des von Aristoteles geübten Denkverfahrens) entwickelt. b) Zum Aufbau der Wissenschaft aus ihren Elementen gehört, und zwar methodisch, infolge der Vielzahl von Prüfverfahren, wie sachlich, infolge generischer Verschiedenheit der Wissenselemente, arbeitsteilige Vielheit. „Die" Wissenschaft existiert nicht, es existieren nur Wissenschaften.11 Es gibt daher auch keinerlei Einheitswissenschaften, wie es umgekehrt keine philosophische Fachdisziplin für alle Wissenschaften, unter dem Titel: „Wissenschaftstheorie", geben kann. Möglich - und in gewissem Umfange stets „wirklich" - sind dagegen Reflexionen auf Einzelwissenschaften und zusammengehörige Wissenschaft sgruppen, - ein Geschäft, das, über fachwissenschaftliche Methodenlehren hinaus, immer nur vereinheitlichende Theorien mit begrenzter Geltungsweite hervorbringt und sowohl von philosophierenden Wissenschaftlern als auch von wissenschaftlich ausgebildeten Philosophen wahrgenommen wird. c) Im Gegensatz zu den nicht-reflektierenden Wissenschaften ist die Reflexion der Philosophie auf sie selbst untrennbarer Bestandteil der Philosophie, — einer der Gründe für die vergleichsweise intensive Beschäftigung mit ihrer eigenen Geschichte. Reflektiert etwa ein Physiker wie Heisenberg auf die Geschichte und Theorie seines Fachs, so tut er dies nicht mehr in seiner Eigenschaft als Wissenschaftler, der dem Satzbestand der Physik etwas hinzufügt, er tut es als Philosoph. Ähnlich ist auch die Theorie der Geschichte kein Problem der Geschichtswissenschaft, sondern der Philosophie, — was den Historiker n

Vgl. bereits M. SCHELER, Weltanschauungslehre, Soziologie und Weltanschauungssetzung, in: Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre, Bd. l, Leipzig 1923, S. 9.

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nicht daran hindern wird, propädeutische Aufgaben philosophischer Fachdisziplinen zu ergänzen und im Nebenberuf Geschichtstheorie zu treiben. Dagegen sind Theorie und Geschichte der Philosophie für sie selbst ein Problem, und zwar nicht nur eines unter anderen, sondern ein Grundproblem des Philosophierens, das ihm von Anbeginn zur Lösung aufgegeben ist. d) Wer unter „Wissenschaftstheorie" die Nachfolgedisziplin der Philosophie versteht, mißversteht sowohl die Wissenschaften als auch die Philosophie. Nicht minder folgenschwere Mißverständnisse enthält das aus der Philosophie selbst hervorgegangene Konzept der Letztbegründung, das teils in den historisch wechselnden Gestalten einer Universalwissenschaft — unter den Namen „Metaphysik", „Phänomenologie", „Ontologie" —, teils in der Gestalt von Partial Wissenschaft, in Orientierungen philosophischen Denkens an universalisierten Fachdisziplinen wie der Mathematik, Psychologie, Geschichte, Soziologie und — neuerdings — der Linguistik. Während dort die Elemente strengen Wissens oft aus dem Blick geraten oder sich im Wirbel subjektiver Reflexion auflösen, werden hier Wissensfundamente in Abhängigkeit von partialer Begriffsbildung gelegt. Auf beiden Seiten bleibt das Ergebnis unbefriedigend: entweder die reflexive Überanstrengung des Denkens bis hin zu willkürlicher Begriffsspekulation oder begriffsblindes Reflektieren, das sich an eine Wissenschaft — meist die gerade modische — fixiert. Nachdem in den Grundlagenkrisen unseres Jahrhunderts die Wissenschaften selbst reflexiv geworden sind, haben sich diese Gestalten als haltlos und damit in der Tat als Endgestalten der Philosophie im Zeitalter der Wissenschaft erwiesen. Die Alternative zur Wissenschaftshörigkeit, die sich in ihnen dokumentiert, ist jedoch nicht der anarchische Ausbruch in Wissenschaftsfeindschaft oder Flucht in den Mythos, sondern Rehabilitierung des Philosophierens als eines spezifischen Könnens, das sich in der Situation des „Endes" wieder an seinem Anfang und damit — vielleicht — am tatsächlichen Können der Wissenschaften orientiert. Unter diesem Gesichtspunkt ergibt sich als fünfte These: Was Philosophie mit Wissenschaft verbindet, ist weder Methodenzwang noch endliche Sicherheit der Fundamente, sondern methodische Skepsis, verstanden als Wissen darum, die Wissenschaft nur vorläufig zu besitzen und sie immer erst noch zu suchen. Die Suche nach Wissenschaft heißt ,,Forschung"; sie umschreibt zugleich die Praxis immanenter Reflexion.

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„Forschung" ist einer jener Begriffe, die im Zeitalter der Wissenschaft am häufigsten gebraucht, aber am wenigsten bedacht werden. Der moderne Staat, in den Prozeß der „großen Politik" hineingezogen, betreibt Großforschung, die er an Wissenschafts-institutionen delegiert. Man spricht von „Grundlagenforschung" und „angewandter Forschung", von „Forschung in der Hochschule" und vom Grundsatz der „Einheit von Forschung und Lehre". Die Gedankenlosigkeit reicht weit, — bis hin zum Standardwerk phüosophiehistorischer Gegenwartsforschung, das, zwischen „Formwechsel" und „Fortschritt", einen Artikel über „Fortpflanzung", nicht aber den Begriff „Forschung" kennt. Seine Geschichte soll hier nicht nachgetragen, wohl aber darf daran erinnert werden, daß noch zu Humboldts Zeiten „Forschen" für „etwas vollständig zu erkennen streben" stand.12 Das Forschen, sagt Humboldt, „wenn es die Gründe der Dinge, oder die Schranken der Vernunft erreichen soll, setzt, außer der Tiefe, einen mannigfaltigen Reichtum und eine innige Erwärmung des Geistes, eine Anstrengung der vereinten menschlichen Kräfte voraus".13 Es handelt sich um ein „Können", das spezifisch menschlich ist oder den Menschen im Ganzen betrifft, weil es sich inmitten von GründeWissen stets auch am Abgrund des Nicht-Wissens entlang bewegt. Wer forscht, weiß etwas, um weiter wissen zu wollen, er weiß, daß jede Wissenschaft durch Nicht-Wissen begrenzt ist. Wer nie Begrenzungen gesehen und niemals an Grenzen gestanden hat, der wird die Wissenschaft nicht voranbringen und insofern nur Lehrer, kein Forscher sein, - wenn wir darunter die Fähigkeit verstehen, Bekanntes in Frage stellen und noch nicht Bekanntes durch Weiterfragen entdecken zu können. Forschen hat nicht nur mit methodischer Disziplin, es hat — neben Phantasie und Neugier - mit methodischer Skepsis zu tun. Während der Skeptiker gewöhnlich Zweifelsübungen an allem und jedem anstellt, um sich dann auf ein absolut sicheres Fundament — entweder des Wissens (Descartes) oder nichtwissender Skepsis — zurückzuziehen, ist der Forscher jemand, der radikal zweifelt. Im Unterschied zum 12

Vgl. J. RITTER (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel/Stuttgart 1972 (D-F). 13 Werke, hrsg. von W. FLITNER/K. GIEL, Bd. l, Darmstadt 1960, S. 137f. Vgl. den Begriffskontext von „Forschen" bei J. A. EBERHARD, Versuch einer allgemeinen deutschen Synonymik in einem kritisch-philosophischen Wörterbuch, 17951, 2. Auflage Leipzig 1826,Bd. 1,S. 312-415;Bd.2,S.470.

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bloßen Skeptiker stellt er noch den Zweifel in Frage, indem er fragt, was er tut, wenn er zweifelt, ob er auch radikal, etwa am Zweifel selbst, zweifelt, warum er zweifelt und wie er, was er da tut, eigentlich „kann". Methodisch-skeptisches, auf Untersuchung und nicht auf Zweifel oder Gewißheit gerichtetes Fragen-Können ist konsequenter Skeptizismus, der geschichtlich am Anfang der antiken Philosophie wie am Anfang neuzeitlicher Wissenschaft auftritt. Dem Skeptizismus, der nichts ununtersucht ( ) läßt und in der Bewegung des Untersuchens bleibt, verdankt sich der Begriff „Forschung". Er bezeichnet eine Praxis, die Wissenschaft und Philosophie gemeinsam ist. Daraus leitet sich eine sechste These ab: Wer philosophiert, verhält sich weder skeptisch oder alles Behaupten in Frage stellend noch doketisch oder jede Behauptung begründend, sondern zetetisch oder forschend: Behauptungen untersuchend. Als Forschung bezieht sich Philosophie nicht auf eine wie immer verstandene Wirklichkeit des Wissens, das „Faktum der Wissenschaft", sie ist auf mögliches Wissen und insofern auf eine ihrem Wissenschaftsstatus nach problematische Idee von Wissen überhaupt bezogen. IV

Daß Philosophie selbst nicht Wissenschaft, sondern im ursprünglichen Sinne „Forschung", d. h. als mögliche Wissenschaft erst noch zu suchen sei, - dies ist eine Voraussetzung, die am griechischen Ursprung des Philosophierens selbstverständlich, in der Neuzeit hingegen umstritten, ja zuweilen ganz vergessen ist. Sie ergibt sich aus der Lage desjenigen, der in der Aporie, nämlich bei der Aufteilung der verschiedenen Wissenschaften und Wissenschaftsgebiete zu kurz gekommen ist oder sich jedenfalls nicht im Besitz einer Wissenschaft, sondern zu ihr auf dem Weg und damit immer schon in schwierigem Gelände weiß. Dir entspringt der Begriff „Philosophie". Vor Platon mit vielerlei Nebenbedeutungen verbunden, bezeichnet er im Verlauf des Platonischen Philosophierens die Sokratische Einsicht, daß der Mensch weder jemand ist, der ohne Wissen sein Leben führt, noch jemand, der über das zur Lebensführung notwendige Wissen vollständig verfügt. 14 Wer, wie ein Gott, das Ganze des uns möglichen Wissens wirklich weiß, 14 Vgl. Platon,

Lysis, 218 a-b; Symposion 204 a.

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oder in. der Nachahmung göttlichen Alles-Wissens das Wirkliche ganz zu wissen meint, philosophiert ebensowenig wie der Fachmann, der sein Teilwissen genau weiß. Nicht ein Gott oder der Fachmensch, auch nicht der sogenannte Kulturmensch, der Mensch philosophiert. Er ist, allerdings, stets Mensch inmitten der Kulturlosigkeit einer geschichtlichen Kultur, deren heutige Lage, wenn wir recht sehen, durch das Zusammenspiel von Wissenschaft und „großer Politik" entschieden wird. Wozu, in dieser Lage, Philosophie? Im Unterschied zu Heidegger, der „Philosophie" mit ,,Metaphysik" und diese mit ihrer „Aufhebung" in Wissenschaft und Technik gleichsetzt,15 aber auch im Gegensatz zu Popper und manchen anderen Anhängern der „Wissenschaftstheorie", die darin nur Konventions- und Definitionsfragen zu sehen geneigt sind,16 scheint mir zur Beantwortung dieser Frage eine Besinnung auf die streng-begriffliche Fassung des Wortes Philosophie und seinen Zusammenhang mit der Aporie des Menschen in der geschichtlichen Kultur unumgänglich zu sein. ,,Kultur" bedeutet formal den Inbegriff des den Menschen eigenen Könnens, die Natur und von ihr vorgezeichnete Anlagen zweckmäßig zu gebrauchen. Wenn wir unter „Philosophieren" Denken-Können verstehen, scheint Denken, nicht anders als Essen und Zeugen, eine Naturanlage zu sein. In Analogie zum Nahrungs- und Geschlechtstrieb spricht man denn auch von einem Erkenntnistrieb des Menschen. Ohne mich in anthropologische Untiefen zu verlieren, ziehe ich mit Kant vor, hier von „Erkenntnisvermögen" zu sprechen. Wer denkt, „kann" etwas, das er zugleich immer besser zu können versucht, er hat es mit einer eigentümlichen Sache, der res cogitandi, zu tun. Damit schließt sich unsere Besinnung an die bisher gegebenen Begriffsbestimmungen an. Denken, so haben wir gesagt, vollzieht sich im Modus immanenter Reflexion, die sich in Wissenschaft und Philosophie als Forschung darstellt. Im Zeitalter der Wissenschaft, so haben wir weiter gesagt, vollzieht sich Forschung organisiert, im Rahmen von Wissenschafts-institutionen und deren Hilfsmitteln, Apparaten und Aufträgen. Ihre Sache ist unumstritten: Sie stellt methodisch überprüftes Wissen bereit, das grundsätzlich von jeder15 16

Zur Sache des Denkens, a.a.O., S. 61 f. Vgl. K. R. POPPER, Logik der Forschung, 3. Aufl., Tübingen 1969, p. XVIII XIX.

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mann angenommen, zur Grundlage weitergehenden Forschens dienen, damit die Kenntnisse des Menschen von ihm selbst und der Welt vermehren und so, in einem offensichtlich ganz unproblematischen Sinne, seinen Erkenntnistrieb befriedigen kann. Was ist, demgegenüber, die Sache der Philosophie? Indem ich mich unbekümmert der Gefahr aussetze, hermeneutischzirkulär oder vielleicht gar tautologisch zu reden, antworte ich darauf: die Sache des Denkens, die als solche zuerst inmitten der griechischen Kultur, genauer gesagt: in den Sokrates-Dialogen Platons, bezeichnet worden ist. Der Platonische Ausdruck ist . Er benennt, was Sokrates in Verruf und zuletzt vor Gericht bringt, 17 und bei Gelegenheit dieses Beispiels darf man sich wohl darauf berufen, daß auch das deutsche Wort auf „Gerichtsstreit", „Verhandlung", ,^Auseinandersetzung" hindeutet. Mit Rücksicht auf eine der miteinander streitenden Seiten ist die Sache gewöhnlich „ihre Sache", von der wir sagen, daß sie jemand zur seinigen machen, vertreten oder verteidigen kann. Im Philosophieren hingegen sind es nicht Parteisachen, es ist, um Hegel zu zitieren, die „Sache selbst", die strittig ist. Nicht von den Philosophien, so hat zu Beginn unseres Jahrhunderts Husserl verkündet, sondern von den Sachen und Problemen muß der Antrieb der Forschung ausgehen.18 Was sie am Grunde antreibt, läßt sich freilich weder mit Parolen noch durch Etymologie erklären. Ich versuche eine Antwort, indem ich jetzt die globalen Behauptungen über das Verhältnis von Wissenschaft und Philosophie an Hand einiger Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen wissenschaftlicher und philosophischer Forschung weiter differenziere, ohne mich dabei sonderlich eng an die obige Reihenfolge zu halten: a) Wie das Genus „Forschung" schon andeutet, haben beide mit Sachen und Problemen zu tun. „Problem" ist der schwächere Ausdruck für „Aporie", der aus Stärke, nämlich logisch-hermeneutischer Fachdisziplin, hervorgeht. Der Fachmann einer Wissenschaft ist wie der Philosoph Forscher, der, bestimmte Sachverhalte untersuchend, für bestimmte Probleme Lösungen sucht. Was den Forscher auszeichnet, ist Problembewußtsein, d. h. sein Vermögen, Probleme dort zu sehen, wo sie ein anderer vor ihm nicht gesehen hat, und die Probleme ,gichtig", nämlich so zu sehen, daß eine Lösungsaussicht besteht. Was 17 18

Apologie 20 c. Philosophie als strenge Wissenschaft, in: Logos I (1910/11), S. 340.

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die Forschung irreleitet, ist auf Seiten der Philosophie der Schein, den die Richtung ihrer Probleme auf das Ganze des uns möglichen Wissens leicht erzeugen kann, - der illusionäre Schein, als hätte sie es nur mit Aporien, den sogenannten „ewigen" oder „unlösbaren" Problemen und darin mit der „Sache selbst" zu tun. Auf Seiten der Wissenschaft entspricht dem die Illusion des Fachmenschen, der die Begriffe und Methoden einzelwissenschaftlicher Problemlösungen für das Ganze hält, — eine Verwechslung, der sich jedoch mehr der logisch und hermeneutisch ungebildete Dilettant, der eigentlich so zu nennende „Fachidiot", als der wirklich wissende Fachforscher, der niemals Fachidiot sein kann, schuldig macht. b) Philosophische und wissenschaftliche Forschung unterscheiden sich weniger hinsichtlich der Elemente, in denen sich Wissenschaft aufbaut; der Unterschied liegt in der Methode, die im philosophischen Forschen auf Reflexion beruht. Die Wissenschaften beziehen sich auf partikulare Gegenstände und Gegenstandsbereiche, denen unabhängig davon, ob und wie sie erforscht werden, Existenz zukommt. In bezug auf existierende Sachverhalte bilden systematische Beobachtung, experimentelle Kontrolle, metrische Beschreibung und historische Quellenkritik in Verbindung mit Regeln des logischen Folgerns und -hermeneutischen Verstehens Methoden, die Probleme begrenzen und dadurch überprüfbares Fachwissen produzieren. Dagegen kann sich die Philosophie, soweit sie sich nicht als Partialwissenschaft mißversteht, weder auf einen bestimmten Gegenstand bzw. Gegenstandsbereich noch auf eine bestimmte Methode oder Methodenkombination stützen. Sie bedient sich reflektierender Methoden von höchst unterschiedlicher Leistungsfähigkeit und Reichweite, um Problemisolierungen und methodisch verfestigtes Wissen, das immer zugleich Nicht-Wissen und dadurch spezifisch fachwissenschaftliche Begrenzungen produziert, wieder aufzubrechen. c) Im Gegensatz zur wissenschaftlichen Forschung, die ihre Gegenstände stets außerhalb ihrer selbst aufzeigen kann, fällt der Gegenstand philosophischer Forschung, um es so auszudrücken, in die Philosophie selbst: Philosophieren heißt im buchstäblichen Sinn die Philosophie „setzen" oder als solche erst Einstellen", nämlich NichtWissen in der Richtung auf mögliches Wissen „thematisieren". Da die Philosophie, genau genommen, keinen Gegenstand hat, ist die Frage nach einem Gegenstand der Philosophie ebenso sinnlos wie die im Zusammenhang mit der Eschatologie-These auftretende Behauptung,

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sie habe ihn mit dem Übergang zur Moderne durch Ausdifferenzierung an die Fachwissenschaften „verloren". Um Mißverständnisse zu vermeiden, sprechen wir nicht von einem Gegenstand, sondern vom Thema der Philosophie.19 Philosophische Forschung kann weder Wissen über existierende Sachverhalte oder neue Tatsachen bereitstellen noch diese dem von ihr gesuchten Wissen subordinieren. Ihr Thema ist das dem Menschen mögliche Wissen, verstanden als eine andere Art von Wissen, das nicht unter dem Gesichtspunkt von Tatsachen, sondern von Grundannahmen über Wissens· und Handlungsnormen strukturiert ist. Dieses zumeist bereits vor- oder außerwissenschaftlich strukturierte Wissen heißt herkömmlich praktisches Wissen. In Verbindung mit Logik, Hermeneutik und wissenschaftlicher Methodenlehre ist praktisches Wissen das einheitliche Thema der Philosophie, das sich stets zu einer Vielheit von Themen auseinanderlegt. Neben Sprache, Geschichte und Religion ist es die Frage nach dem ,,guten Leben", der Ethik, Technik und Politik, die das Philosophieren als Dauerthema bewegt. Philosophie, so würde ich deshalb einmal zu definieren wagen, ist Mitwissenschaft des Multiversums einer geschichtlichen Kultur. d)Nach dem methodischen Aufbau des ihr eigenen Themas ist Philosophie im strengen Sinne Apriori-Forschung, — Erschließung jenes Wissens, das wir als Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft überhaupt in allen theoretischen Orientierungen wie Beobachten, Experimentieren, Berechnen, Vergleichen und Unterscheiden sowie in jeder praktischen (moralischen, technischen oder politischen) Grundorientierung immer schon mit-wissen. Wir können deshalb auch, in buchstäblicher Auslegung des Apriori-Begriffs, von Vorherwissen sprechen. Wer philosophisch forscht, entdeckt nicht, wie der Wissenschaftler, etwas Neues, das er zuvor nicht gewußt hat. Ebensowenig vermag er Entdeckungen, die im Theoriezusammenhang einer Wissenschaft gemacht und dort hinreichend erklärt und begründet werden, ein weiteres Mal, etwa gar „abschließend" oder „vollständig", zu erklären und zu begründen. Das Konzept einer Letztbegründung, das vermeintliche Begründungslücken „schließen" soll, verbindet sich mit Wissenschaftsansprüchen, die geschichtlich gescheitert und im 19

Vgl. die gleichlautende Abhandlung von N. HINSKE, Das Thema der Philosophie: Zur Lage der Philosophie in der Gegenwart, Trier 1975, die zwischen „Gegenstand" und „Thema" jedoch nicht explizit unterscheidet.

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übrigen methodisch haltlos, weil zumeist bloße Reflexionsprodukte in trüber Vermischung von Einzelwissenschaften mit Philosophie sind. Im Unterschied zur Wissenschaft gibt es für die Philosophie keine Stufenfolge von völliger Unwissenheit über einen Sachverhalt zu „absolutem*' Wissen, da sie nur Zwischenstufen oder Grade von Wissen kennt. Philosophische Apriori-Forschung beginnt inmitten von Wissen, das teils unklar, teils bereits geklärt und teils wiederum bis hin an die Grenze des Ungewußten verborgen ist. Was sie methodisch leisten kann, ist Klärung des Mit-wissens, der beharrliche Versuch des Forschenden, etwas besser zu wissen, als er es zuvor gewußt hat, wobei der Ausdruck „besser" nicht meint, über eine Sache quantitativ „mehr", sondern sie „anders" zu wissen: explizit statt implizit, aktuell statt virtuell, wofür wir auch kurz sagen dürfen: methodisch bewußt oder aufgeklärt. Vermutlich gründen all diese Unterscheidungen zuletzt im unterschiedlichen Verhältnis der wissenschaftlichen und philosophischen Forschung zur Sprache, so daß ich dieser immer noch sehr unzulänglichen Skizzierung unserer Ausgangsfrage nach der Sache des Denkens abschließend eine siebente These hinzufüge: Während den Wissenschaften aus der sprachlichen Darstellung keine in ihren eigenen Gegenstandsbereich fallenden Probleme erwachsen, ist die Sprache für das Philosophieren ein methodisches Problem, das unmittelbar zu ihren Sachproblemen gehört. Die Sprache - das hat, lange vor der „linguistischen Wende" des Philosophierens in der Mitte dieses Jahrhunderts, bereits Wilhelm von Humboldt erkannt — ist jenes universale Element, das alle möglichen Wissenselemente, von der schlichtesten Alltagsbeobachtung bis hin zu philosophisch-subtilster Reflexion, noch umgreift: Ohne Wissen keine Sprache, aber ohne Sprache auch kein Wissen, weder Wissenschaft noch Philosophie. Sie ist zunächst Voraussetzung und tragender Grund für den Prozeß der Forschung, der erst in der Darstellung, durch das gesprochene oder geschriebene Wort, Gestalt erhält. Für die Sachverhalte, die sie entdeckt, benötigt jede Wissenschaft eine Fachsprache oder Terminologie. Eine fachwissenschaftliche Terminologie ist weder selbst Sprache noch ein spezieller Teil der Sprache, sondern — in verschiedenem Grad - ein Symbolismus ähnlich dem der Mathematik. Er setzt eine Sprache voraus, die ihn interpretiert, da die Termini einer Fachsprache bekanntlich nur durch Definition verständlich sind, und um nur einen Terminus zu definieren, benötigen wir

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schon Sprache. Die Sprache ist ferner Gegenstand verschiedener Wissenschaften, in ihrer Vielgestaltigkeit der Philologien, als sie selbst der allgemeinen Linguistik. Sie ist zugleich Thema der Philosophie, vielleicht das Thema des Philosophierens heute, im Zeitalter der Wissenschaft und großen Politik, dessen Gewicht an dieser Stelle freilich nur noch angezeigt werden kann. Während die Sprache Element des umgreifenden Allgemeinen einer geschichtlichen Kultur ist, schließen terminologische Fachsprachen einander aus. Wechselseitige Ausschließung ist logisches Merkmal auch ihrer einzelnen Bestandteile. Ein Wort wird erst dann zum Terminus einer Wissenschaft, wenn es eine festgelegte, konstante Bedeutung besitzt, die wechselseitiges Überschneiden mit anderen Termini ebenso ausschließt wie wechselweise Bestimmungen von Worten, die für den Fortgang eines Gesprächs charakteristisch sind. Im Kontext wissenschaftlicher Aussagen müssen Termini einander wechselseitig ausschließen, sofern ihre Sachverhalte entsprechend scharf getrennt sind. Das gilt nicht nur für empirische Wissenschaften wie die Biologie, deren Sachverhalte entweder Pflanzen oder Tiere, unter diesen entweder Wirbellose oder Wirbeltiere sind; im schärferen Maße - die Empirie kennt immer Übergänge — gilt die Regel wechselseitiger Ausschließung für Strukturwissenschaften wie die Geometrie: Linien sind entweder gerade oder gekrümmt, keine Linie kann beides zugleich oder ein drittes sein. Während die Wissenschaften stets um die Entwicklung einer die Vieldeutigkeit vermeidenden Terminologie bemüht gewesen sind, ist die Philosophie von Anbeginn einen anderen Weg gegangen. Soweit sie überhaupt Termini bildet, haben sie ihre Bedeutung immer wieder gewechselt, und zwar in einer Weise, die das genaue Gegenteil von dem zu sein scheint, was die Wissenschaften tun: durch kritisches Aufbrechen von Terminologien oder Bedeutungserweiterung von Termini, die sie wieder dem Sprechender Sprache des lebendigen Gesprächs, annähern. Wer darin einen Abweg von den Wissenschaften oder auch umgekehrt einen Beweis von Überlegenheit und Stärke sieht, der wird leicht dazu neigen, die methodische Schwierigkeit der Philosophie und das ihr eigentümliche Sachproblem zu übersehen. In den Wissenschaften — ich darf das wiederum an einem Beispiel erläutern - sind sprachliche Ausdrücke für Wissen und existierende Sachverhalte verschieden. Der Satz: „Ich weiß,daß die Lichtgeschwindigkeit c die höchste Geschwindigkeit für die Bewegung von Massen ist" heißt: Die Geschwindigkeit

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von 299790 km/s ist eine Grenzgeschwindigkeit, und ich weiß das". Nicht so in der Philosophie. Sagt jemand beispielsweise: „Ich weiß, daß die Würde des Menschen oberstes Verfassungsgut ist" so kann dies zwar auch heißen: „Der Satz steht in Art. l des Grundgesetzes, und ich weiß das". Aber diese Deutung, die ihn strukturell etwa auf die gleiche Ebene wie den Satz über Grenzgeschwindigkeiten bringt, nimmt den Satz gerade nicht als das, was er ist: als praktischen Satz über eine Grundannahme, von der wir in gewisser Hinsicht immer schon wissen, die aber nur denkend, durch Reflexion auf den sprachlichen Ausdruck und die durch ihn gemeinte Sache, zu erfassen und verständlich zu machen ist. Das Wort „Würde" bezeichnet weder einen unabhängig vom Sprecher existierenden Sachverhalt, noch meint es ein Rechtsgut neben anderen Rechtsgütern, das sich von ihnen dadurch unterschiede, daß es das oberste Gut wäre. Es handelt sich vielmehr um einen an ihm selbst unbestimmten Inbegriff von Rechtsgütern, der begrifflich stets weiter zu explizieren und auszulegen ist, - das Rechtsgut oder die „Sache selbst", philosophisch gesprochen: ihr Begriff. Wenn der Sprecher sagt, daß der Schutz der Menschenwürde oberstes Verfassungsgut sei, so spricht er damit, auch ohne Philosoph zu sein, einen Begriff aus. Aber er macht zugleich eine Grundannahme; er nimmt nämlich an, daß der Mensch Person und als solche Anfangs- und Grenzbegriff aller möglichen Sach- und Rechtsgüter einer geschichtlichen Kultur, daß er, anders gesprochen, Subjekt von Menschenrechten ist. Und diese Grundannahme, die Sache, worauf sich der Begriff bezieht, ist bekanntlich strittig. Sie wird jedenfalls immer wieder in Frage gestellt, weshalb auch ihr sprachlicher Ausdruck nicht so unmittelbar verständlich und klar ist wie der sonst analoge Ausdruck über die Lichtgeschwindigkeit c. Ich berühre damit nichts eigentlich Neues, sondern das Älteste des Alten, mit dem Philosophie im Kampf gegen technische Verkehrungen des Denkens durch die Sophistik allererst beginnt: das Problem der Begriffsbildung und ihrer Methoden in Wissenschaft und Philosophie. Strukturell neu an der heutigen Lage ist ein anderes: der Versuch, dieses Problem und damit die Möglichkeit philosophischen Sprechens unter Verwendung fachwissenschaftlicher Terminologie voreilig aufzulösen oder mit anderen Mitteln, ohne methodisch strenge Begriffsreflexion, zu umgehen. Ob dies die Wirkung einer sich als „wissenschaftlich" mißverstehenden Philosophie, der Einfluß der sich wechselseitig ausschließenden Sprechweisen der Wissenschaften oder

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anderer, etwa politischer, Voraussetzungen des Zeitalters ist, wage ich nicht zu entscheiden. Ich beschränke mich darauf, in Thesenform eine vorläufige Bestimmung dessen zu geben, was, nach meinem Verständnis, im Zeitalter der Wissenschaft Sache des Denkens ist. Es ist nichts anderes als die Sache der Aufklärung, die mit einer achten These etwa so ausgesprochen werden könnte: Als Aufklärung ist Philosophie Erkenntnis aus Begriffen, — analytisch-hermeneutische Begriffsreflexion mit dem Zweck der Rechtfertigung von Grundannahmen einer geschichtlichen Kultur.

Wer philosophiert, betätigt sich nicht unmittelbar wissenschaftlich oder politisch, er kann sich immer nur begrifflich betätigen. Philosophieren ist nicht zufallig, sondern wesentlich ein sekundäres Tun, das sich im Bereich der Sprache und der in ihm niedergelegten Begriffe bewegt. Begriffsanalyse und Begriffsinterpretation stehen an seinem Anfang. Aber die sprachliche Reflexion ist nicht selber Zweck philosophischer Betätigung. Sie wird vielmehr als Mittel gesucht, um ihren eigentlichen Zweck, die Rechtfertigung von „Grundannahmen", philosophisch gesprochen: der die Wissens- und Handlungsorientierungen einer geschichtlichen Kultur tragenden Fundamentalbegriffe oder Prinzipien, zu erreichen. In der Gegenwart haben sich beide Aufgaben verkehrt. Die angelsächsisch-analytische Philosophie treibt Begriffsanalyse in der Regel um ihrer selbst willen, während dialektischphilosophische Richtungen fundamentale Begriffe meist ohne vorhergehende Klärung zu rechtfertigen versuchen, womit sie sich immer wieder aus der Philosophie heraus- und in kulturell-geschichtliche Basisideologien des Zeitalters der Wissenschaft und großen Politik hineinreflektieren. Die Trennungslinie verläuft im Philosophieren selbst: Rechtfertigungen von Grundannahmen einer geschichtlichen Kultur, die ihre Begriffe analytisch und interpretativ ungeklärt lassen, sind Ideologien, — gesellschaftlich notwendiger Schein, der seinerseits Thema der Philosophie ist. Sofern sich Philosophie weder doketisch noch skeptisch-verneinend, sondern zetetisch versteht, fällt sie mit Funktionen der Bewahrung einer Kultur nicht umstandslos zusammen. Obwohl das Wort „Rechtfertigung" solche Ausdeutungen nahelegt, erfüllt das Philosophieren

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neben konservativen stets auch innovative Aufgaben. Das gilt zumal für ein Zeitalter wie das unsrige, in dem die Ruhmlosigkeit inmitten der Kultur ständig fortschreitet. Mit der Kritik tradierter oder allgemein akzeptierter Grundannahmen ist dann die Neubestimmung des Kulturbegriffs selbst ein zentrales Problem der Philosophie. Philosophische Probleme entspringen unverträglichen Typen von Grundannahmen, die zu geschichtlich verschiedenen Zeiten gemacht worden sind und in einer geschichtlich neuartigen Situation aufeinandertreffen. Paradigmatischer Fall ist hier wiederum die Entstehung der neuzeitlichen Wissenschaft, die einerseits bestimmten Grundannahmen der biblisch-christlichen Tradition wie der Geschöpflichkeit des Menschen und seinen Heilserwartungen widerspricht, andererseits aber selbst so elementare Annahmen wie den praktischen Grundsatz von der Würde des Menschen in Frage zu stellen scheint. Obwohl es unzweifelhaft zu den „allgemeinsten Zeichen" der Moderne gehört, daß der Mensch, zwischen Kopernikus und Darwin, in seinen eigenen Augen an Würde eingebüßt, daß er augenscheinlich „verkleinert" worden ist,20 müssen damit nicht schon traditionell-praktische Grundannahmen außer Kraft gesetzt sein. Sie sind immer wieder erneut und ebenso kritisch zu überprüfen, wie die Grundannahmen der Wissenschaften, auf die sich die Anhänger von Innovationen oft berufen. Das Bedürfnis nach philosophischer Rechtfertigung entsteht jedenfalls immer dann, wenn die Grundannahmen einer geschichtlichen Kultur einander ausschließen, wenn wir gute Gründe für die Zustimmung zu einer theoretischen oder praktischen Annahme zu haben glauben oder nach Gründen suchen, sie zu verändern bzw. ganz zu verwerfen. Eine Grundannahme kann erst dann gerechtfertigt heißen, wenn sie mindestens drei Bedingungen genügt. Die erste ist Widerspruchsfreiheit, die sich ihrerseits aus Grundannahmen der Logik ergibt. Widerspruchsfrei müssen sowohl die fundamentalen Begriffe als auch der Anwendungskontext einer Grundannahme sein. Wer beispielsweise den Begriff der Menschenwürde von besonderen Gruppen ausschließt oder die Menschenrechte nach außen, nicht aber im eigenen Land vertritt, widerspricht sich selbst. Die Sache der Menschenrechte - ein umgreifendes Allgemeines — wird partikular und damit leicht aus einer politisch gerechtfertigten Grundannahme zur Ideologie. Um gerechtfertigte Grundannahmen von gesellschaftlichem Schein unterscheiden zu kön-

20 F. NIETZSCHE, Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre, Werke, Bd. 3, S. 880.

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nen, müssen wir ferner von hermeneutischen Implikationen der Begriffe oder von Begriffsgeschichte wissen. In der Reflexion auf die Sprache versuchen wir zu verstehen, welche Bedeutung politischrechtliche Fundamentalbegriffe besitzen, was mit ihnen ursprünglich oder in gegenwärtigen Handlungskontexten gemeint ist und ob gegebenenfalls ein Bedeutungswechsel vorliegt. Zur Entscheidung von Bedeutungsfragen bedarf es zuletzt der Überprüfung an existierenden Sachverhalten. Während der Philosoph für die ersten beiden Bedingungen gut gerüstet ist, erscheint er hier nicht mehr in einer sonderlich priviligierten Position, da die Erforschung von Sachverhalten Hauptaufgabe der Wissenschaften ist. Im Zeitalter der Wissenschaft, so haben wir daraus gefolgert, bedarf der Philosoph fachwissenschaftlicher Kooperation; er darf sich dabei aber nicht die eigene Methodik der Rechtfertigung durch universale Wissenschaftsansprüche aus der Hand nehmen lassen. Aufgabe der Wissenschaften ist die Erklärung entdeckter Sachverhalte durch Gesetzesannahmen und ihre Deutung im Rahmen empirisch überprüfter Theorien, während die Philosophie erklärte und gedeutete Sachverhalte in der Beschränkung auf ihre Hauptaufgabe, zum Vergleich von Grundannahmen mit empirisch relevanten Tatsachen, heranzieht. Rechtfertigungen sind keine Erklärungen, wie andererseits Erklärungen von Tatsachen noch keine Rechtfertigungen für Grundannahmen, auch nicht für die einer Wissenschaft, sind. Die Mittel der Wissenschaft - das wird allzu oft übersehen - sind ihrerseits methodisch stets beschränkt. Sie erlauben weder eine Falsifikation praktischer Grundannahmen noch entsprechende Verifizierung. Wie sich Normen vom Typ der Menschenrechte, z. B. der Satz, daß alle Menschen gleich und frei geboren sind, aus Tatsachenaussagen nicht ableiten lassen— die Ergebnisse empirischer Wissenschaften sprechen mehr für das Bestehen natürlicher Unterschiede und Ungleichheiten unter Menschen—, so lassen sich umgekehrt Normen durch Tatsachen auch nicht widerlegen. Theoretische und praktische Sätze bleiben ihrer logischen Form nach getrennt. Gleichwohl sind sie an ihrem Grunde ungeschieden: sie entspringen derselben Reflexion, die dem „Leben selbst" immanent ist. Im Lichte dieser Unterscheidungen nimmt sich die Sache des Denkens im Zeitalter der Wissenschaft etwas anders aus, als es die These vom „Ende der Philosophie" nahelegt. Soweit sie nicht dem positivistischen Aberglauben an die Allmacht der Wissenschaften ent-

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springt, verdankt sie sich einem spezifisch deutschen Ge schien tsglauben, — dem von Heidegger wie Adorno geteilten Glauben daran, daß die mit Hegel und Marx entstandene Lage dem Philosophieren zum „Schicksal" geworden, d. h. geschichtlich unüberholbar sei. Diese im Kern historizistische These, deren Wirksamkeit durch den spätromantischen Affekt des seinsgeschichtlich-dialektischen Denkens gegen den Übergang zur modernen Welt - ein nicht minder deutsches Geschichtsphänomen — noch verstärkt wird, ist sowohl historisch als auch in der Sache fragwürdig. Die Rede von der „Aufhebung der Philosophie" in den Wissenschaften oder in der Gesellschaft impliziert selbst wiederum Annahmen über Wissens- und Handlungsfundamente, die nicht zu rechtfertigen sind. Sie gehört zu jenen Denkweisen des wissenschaftlich-politischen Zeitalters, die eine geschichtlich bestimmte Lage philosophisch verabsolutieren, ohne sich selbst analytisch und hermeneutisch durchleuchten zu können. Über diese Lage ist die Entwicklung der Wissenschaften und ihrer technischen Anwendbarkeit in unserem Jahrhundert hinweggegangen. Weit davon entfernt, die Philosophie überflüssig zu machen, haben die Wissenschaften der philosophischen Forschung neue Gebiete erschlossen, in denen die Fundamente der Wissens- und Handlungsorientierungen strittiger denn je sind. Historisch gesehen führt der Aufstieg der Wissenschaften zur Befreiung der Arbeit mit nachfolgender Hochqualifizierung der technischen Berufe in den industrialisierten Gesellschaftssystemen. Der weltweite Prozeß der Demokratisierung geht Hand in Hand mit der Verwissenschaftlichung des Arbeitsprozesses. Die aufsteigende Demokratie bedarf zur Institutionalisierung eines höheren Wissens- und Handlungsniveaus, fordert Skepsis, kritische Urteilsfähigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Einzelnen. Wenn sie die politisch notwendige Stabilität nicht erreicht oder sich auf anderen Wegen verfehlt hat, so liegt dies nicht zuletzt an einem falschen Glauben an die Wissenschaft, der ihre mehr als 200jährige Geschichte in ideologisch wechselnden Gestalten begleitet. Heute artikuliert er sich im außerwissenschaftlichen Gebrauch von Wissenschaftsterminologien, in der Gestalt totalisierter Partialsprachen wie der Kybernetik und soziologischer Interaktionstheorien, die sich im Zwischenfeld von Wissenschaft und Technik als Basisideologien des Zeitalters der großen Politik etablieren und dabei die gesprochene Sprache - die Sprache des Lebens, die der Boden von Reflexion und Überlieferung und zugleich das einzig verbindende Medium demo-

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kratischer Willensbildung ist - zu verdrängen suchen. Unser Zeitalter, in dem die Wissenschaft zur Destruktivkraft geworden ist, kann sich weder den Aberglauben an die endliche Sicherheit der Fundamente noch die Ausflucht in Gegenwelten zur modernen Welt länger leisten. Befreiung von Aberglauben heißt „Aufklärung". Aufklärung aber ist kein Prozeß, der je in der Zeit enden könnte. Als Aufklärung realisiert Philosophie, was ihr Begriff in sich enthält: das zeitlich nicht begrenzte Streben nach Klarheit, das in der Strenge wissenschaftlicher Forschung wie im philosophischen Rechenschaftgeben am Werke ist.

CARL FRIEDRICH GETHMANN

Ist Philosophie als Institution nötig? Die Philosophen sehen sich gegenwärtig offenkundig mit der Frage „Wozu (noch) Philosophie?" in einem Maße konfrontiert, das auch für diejenigen zu einer gewissen Unabweisbarkeit führt, die diese Frage für überflüssig oder unbeantwortbar halten. Es wären schlechte Philosophen, die vor eine Frage gestellt, versuchen wollten, sie unmittelbar zu beantworten, ohne zuvor ihre Möglichkeitsbedingungen zu untersuchen. Demgemäß beschäftigen sich auch die meisten Referate dieses Arbeitskreises u. a. mit einer Analytik der Frage „Wozu (noch) Philosophie?" — bis hin zur Frage: „Wozu Wozu-Fragen?". Entsprechend soll auch hier mit Überlegungen zum Verständnis der Wozu-Frage begonnen werden; und zwar in der Absicht, auch schließlich zu einem Antwortvorschlag zu gelangen. Relevante Unterscheidungen ergeben sich, wenn man nach dem möglichen Autor der Wozu-Frage fragt. Philosophen neigen aus naheliegenden Gründen dazu, die Frage so aufzufassen, wie Philosophen sie stellen. Dies nicht nur deshalb, weil sie ihnen so vertrauter ist, sondern auch, weil sie in einem bestimmten Sinn grundsätzlicher und daher — vermutlich — auch folgenloser ist. Mit der Wozu-Frage in grundsätzlicher Fassung — etwa in dem Sinn: „Wozu soll der Mensch sich mit philosophischen Problemen beschäftigen?" - kann man, so scheint es, relativ leicht fertig werden; im Falle einer negativen Beantwortung läßt sich nämlich eine contradictio exercita konstatieren (obwohl dieser Nachweis — wie sich zeigt1 — den Skeptiker wenig berührt). Aus diesen Gründen soll die Frage, insoweit sie als von Philosophen gestellt analysiert wird, hier nicht noch einmal verfolgt werden. Vielmehr sollen Vermutungen darüber angestellt werden, was NichtPhilosophen (und dazu gehören auch Menschen, die keiner wissenschaftlichen Kommunität angehören) meinen, wenn sie die Wozu1

Vgl. O. MARQUARD, „Skeptische Betrachtungen zur Lage der Philosophie", in diesem Band S. 70-90.

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Carl Friedrich Gethmann

Frage stellen. Es scheint, daft die Wozu-Frage von Nicht-Philosophen gestellt, weniger grundsätzlich aber folgenreicher gemeint ist. Und nur weil sie nicht so grundsätzlich ist, wie etwa die Fragen des Skeptikers grundsätzlich sind, ist sie auch nicht so harmlos, und deshalb können die Philosophen sie als existenzbedrohend empfinden. Wenn heute häufig, beispielsweise im Zuge der haushaltstechnischen „Durchforstungen" in Universitätsgremien und Ministerien die Wozu-Frage gestellt wird (meist in abgeleiteten Fassungen, wie: „Wozu diese Stelle?"), dann ist nicht das Philosophieren als individuelle Denktätigkeit, als Denkform oder Lebensweise oder Freizeitbeschäftigung gemeint, sondern der öffentliche Anspruch der Philosophie, als Fach, allgemeiner als Institution, unterhalten zu werden. Kaum jemand hat etwas gegen Philosophieren, (ähnlich wie kaum jemand etwas gegen Kunst als private Beschäftigung hat), aber viele haben etwas dagegen, sie aus öffentlichen Mitteln zu finanzieren, ihr curriculare Räume zu überlassen, beamtete Forscher für die Beschäftigung mit ihr freizustellen. Diese Legitimationskrise öffentlichen Anspruchs ist allerdings kein Sonderproblem der Philosophie, sondern muß - gemäß LÜBBE2 im Zusammenhang einer vermutlich andauernden Legitimationskrise unserer wissenschaftlichen Institutionen überhaupt gesehen werden — die im übrigen nicht nur durch finanzielle Engpässe, sondern auch durch philosophische Wissenschaftskritik mitverursacht worden ist. Die Wozu-Frage soll daher im Folgenden nicht so analysiert werden, als hätten wir es mit einem Frage-Autor zu tun, der uns vom Philosophieren abbringen möchte; eine solche Auseinandersetzung wäre nicht (unmittelbar) von dem öffentlichen Interesse, daß die WozuFrage derzeit zu leiten scheint. Vielmehr ist die Wozu-Frage zu explizieren im Sinne von: „Wozu Philosophie in unseren öffentlichen Forschungs- und Ausbildungsinstitutionen?" Wer also heute nach Rolle und Funktion der Philosophie fragt - so die Vermutung — fragt nicht nach Existenz- und Lebensorganisationsproblemen von Philosophierenden, nicht nach den kognitiven Prozessen und Dispositionen, die zu unterstellen sind, wenn jemand Philosophie betreibt, auch nicht nach den Kommunikations- und Interaktionsformen von Philosophengemeinschaften, sondern in 2

„Legitimationskrise der Wissenschaft. Über Ursachen wachsender Wissenschaftsfeindlichkeit": Wirtschaft und Wissenschaft (1976) H. 4, 2-8.

Ist Philosophie als Institution nötig?

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erster Linie nach der Legitimität der Institution Philosophie. Somit hat die Frage „Wozu (noch) Philosophie?" eine völlig andere Pointe als die in älteren Traktaten behandelte „Was heißt Philosophieren?". Zugespitzt gesagt: Die Fragesteller interessieren sich nicht für das Philosophieren und die Philosophierenden, sondern eben für „die Philosophie". Somit, so wird unterstellt, steht die Philosophie heute nicht vor einem Existenzprob lern, das dadurch entsteht, daß sich nicht mehr genügend Individuen bereitfinden, die Sache zu betreiben, weil sie in ihr keinen Sinn mehr sehen; vielmehr ist zu beobachten, daß das Interesse an Philosophie wächst und somit die Zahl der Interessenten; sondern sie steht vor einem Legitimationsproblem. Daher soll hier gefragt werden: „Ist Philosophie als Institution nötig?". Die Frage ist formuliert in pointierter Abhebung zu der Frage: „Ist Philosophie als Wissenschaft möglich?". Und zwar deshalb, weil die affirmative Beantwortung der letzteren eben der Art der Legitimationskrise nicht gerecht wird, in der die Philosophie steht, weil keineswegs (mehr) als ausgemacht gelten kann, daß als Institution all das wirklich sein soll, was als Wissenschaft möglich ist. Allerdings ist vorab zu betonen, daß kein Anlaß besteht, die Wozu-Frage im pointierten Sinn zu dramatisieren, und noch weniger, sie aus einer pessimistischen Einstellung heraus zu formulieren. Und zwar deshalb, weil die von LÜBBE generell diagnostizierte Legitimationskrise gegenwärtig in letzter Schärfe (noch?) gar nicht besteht. Die „Relevanzkontrollfrage"3 ist offenkundig (und aus der Sicht der Wissenschaftler glücklicherweise) nicht in der Schärfe gemeint, wie sie in wissenschaftskritischen Schriften mancher Philosophen gefordert wird, wenn man einmal überprüft, was an Funktion und Leistung erbracht werden muß, um Förderungswürdigkeit anerkannt zu bekommen. Die Ansprüche von Politik und Öffentlichkeit sind eher gering, wenn man sich vor Augen hält, was an Wissenschaft, Kunst und sonstiger Kultur gefördert wird. Meistens reicht es, eine Relevanz für irgendetwas nachzuweisen, ohne daß noch einmal nach der Relevanz des Irgendetwas gefragt wird. Immerhin fördert die Gesellschaft in der Bundesrepublik die Philosophie in einem Maße wie nie zuvor, sind auch die Wachstumsraten geringer als in anderen Bereichen.4 Philosophie expandiert — offen3 4

H. LÜBBE, „Wozu Philosophie", in diesem Band 142. Vgl. Philosophie. Zur Situation des Faches Philosophie an den Hochschulen der Bundesrepublik Deutschland. Hg. v. Bayrischen Staatsinstitut für Hochschulforschung, München 1974.

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sichtlich vertraut man darauf, daß die Relevanzkontrollfrage gelegentlich beantwortet wird. Statt schwere argumentative Geschütze einzusetzen, um gegen die Frage selbst anzugehen, sollten die Philosophen daher - die günstigen Bedingungen der Institutionalisierung nutzend danach trachten, ihre Öffentlichkeitsfähigkeit zu verbessern.

l. Möglichkeiten, die Philosophie zu rechtfertigen Die Frage, wie eine Institution überhaupt und Philosophie speziell gerechtfertigt werden kann, ist keineswegs trivial. Der Einfachheit halber sei mit Überlegungen der Anfang gemacht, wie eine solche Rechtfertigung nicht geschehen kann. Legitimationsverpflichtungen sind uns sowohl in lebensweltlichen als auch in wissenschaftlichen Kontexten durchaus bekannt. In einer Legitimationskrise kann sich ein Individuum oder ein Gremium in einer schwächeren oder in einer stärkeren Weise befinden. In einer Legitimationskrise der schwächeren Art ist man dann, wenn man unsicher ist, ob das eigene Handeln oder die eigenen Handlungsgewohnheiten anderen, deren Urteil von Bedeutung ist, gerechtfertigt erscheint. In einer stärkeren Weise ist man dann in einer Legitimationskrise, wenn man weiß, daß das eigene Handeln als ungerechtfertigt beurteilt wird. Gewöhnlich versucht man solche Krisen dadurch zu überwinden, daß man (im schwachen Fall) prophylaktische oder (im starken Fall) therapeutische Überlegungen anstellt, wie man um die Anerkennung seiner Handlungen und Handlungsgewohnheiten werben kann. Dabei wird man einen diskursiven, möglichst stringenten Zusammenhang zwischen den Maximen des eigenen Handelns und denjenigen Maximen herstellen, von denen man bereits weiß, daß sie schon anerkannt werden. Dabei ist natürlich damit zu rechnen, daß ein solcher Zusammenhang nicht auf Einsicht trifft. Im Fall dieser Nicht-Anerkennung sind zuweilen Rechtfertigungsversuche zu bemerken, die als „pathologische", weil zirkelhafte oder willkürliche, Strategien bezeichnet werden müssen. In bezug auf die Rechtfertigung der Institution Philosophie sind gelegentlich zwei solcher aussichtslosen Strategien anzutreffen, nämlich die historische und die „transzendentale" Strategie.

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Die historische Strategie besteht darin, die Bedeutung der Philosophie als Institution in früheren Zeiten (deren Folgen wir mehr oder weniger mittelbar zu übernehmen haben) herauszustellen. Ohne Zweifel hat die Philosophie in unterschiedlichen Institutionalisierungsformen in gewissen Zeiträumen der abendländischen Geschichte eine erhebliche kulturprägende Kraft gehabt. Es ist darüber hinaus nicht von der Hand zu weisen, daß dies auch in der Zukunft in einem allerdings schwer bestimmbaren Umfang der Fall sein wird. Diese Hinweise sind jedoch durchaus zweideutig. Schreibt man der Philosophie einen großen Einfluß zu, dann kann man diesen für heilbringend oder verheerend halten und daraus den Schluß ziehen, sie müsse gefördert oder beseitigt werden. Die Mehrdeutigkeit ist jedoch noch größer: Selbst wenn man das, was die Philosophie historisch ausgerichtet hat, für wünschenswert hält, kann man gleichwohl der Meinung sein, es müsse nunmehr ein Ende mit ihr haben, da der Zeitpunkt erreicht sei, wo Segen in Unheil umschlage. Ähnliche Argumentationen des „bis hierher und nicht weiter" begegnen uns beispielsweise in der Technologie-Diskussion. Die historische Rechtfertigungsstrategie, gleichgültig ob sie sich auf Traditionen, Konventionen oder Etymologien beruft, verbietet sich also, wenn die Wozu-Frage in ihrer institutionellen Pointierung aufgegriffen wird. Dies jedenfalls, so lange keine weiteren Bewertungsgesichtspunkte herangezogen werden. Eine Geschichte einer Institution erzählen ist nur dann legitimierend, wenn in dieser Geschichte ZweckMittel-Konstellationen dargestellt werden, deren Akzeptierbarkeit weiterhin unterstellt werden kann. Dies ist aber im Fall Philosophie gerade die Frage. Die transzendentale Strategie besteht in dem Verfahren, die verweigerte Anerkennung der eigenen Handlungsmaxime durch andere dadurch zu kompensieren, daß man seine Maxime als aus sich heraus gerechtfertigt hinstellt; und zwar dadurch, daß die anderen nicht umhin können, bei ihrer Anerkennungsverweigerung diese Maxime ebenfalls anzunehmen. Diese transzendentale Argumentation empfiehlt sich dann, wenn jemand, der regelmäßig bereit ist, die in seinem Reden präsupponierten Geltungsansprüche auch einzulösen, nur in einem bestimmten Fall nicht, überzeugt werden soll. Das Gelingen dieser Strategie hängt davon ab, daß zwei Prämissen akzeptiert werden: Einmal, daß dasjenige, was vorausgesetzt wird, auch akzeptiert werden soll; und zum anderen, daß pragmatische Widersprüche (also solche zwi-

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sehen sprachlicher Handlung und ihrem propositionalem Gehalt) nicht sein sollen. Das transzendentale Argument ist also Voraussetzungshaft. In unserem Fall ist es jedoch zudem nicht einschlägig. Der zur Debatte stehende Opponent leugnet nicht das Philosophieren als kognitives Unternehmen (ihm könnte - falls er die genannten Prämissen akzeptiert - in der Tat entgegengehalten werden, daß er bereits voraussetze, was er leugne) sondern die Philosophie als Institution. Jemandem, der beispielsweise fordert, Philosophie solle kein Fach an einer öffentlichen Universität sein, kann nicht gut entgegengehalten werden, er setze bereits die Existenz des Faches Philosophie voraus. Dies tut er zwar, weil es eine Präsupposition seines Angriffes ist, daß existiert, von dem gefordert wird, daß es nicht existieren soll; aber er anerkennt diese Voraussetzung gerade nicht. Es kann ihm aber auch nicht entgegengehalten werden, er verwende ja bereits ein philosophisches Argument. Denn selbst wenn er das zugesteht, trifft es nicht den Inhalt seiner Forderung. Die Skeptiker bezüglich der Institutionalisierung der Philosophie sind also keineswegs nur unter solchen zu suchen, die Philosophie auch kognitiv für ein sinnloses Unternehmen halten. Nicht wenige — auch Philosophen — glauben, daß gegen eine Institutionalisierung der Philosophie unter dem Gesichtspunkt der genuinen Aufgaben philosophischen Denkens schwerwiegende Gründe sprechen. Nicht gilt also die Gleichung, wer gegen die Institutionalisierung der Philosophie ist, ist gegen Philosophie — wer für Philosophie ist, ist für ihre Institutionalisierung. Lediglich wird gelten, daß wer gegen Philosophie ist, auch gegen eine Institutionalisierung ist (der Fall des Zynikers bleibe außer acht). Zusammenfassend läßt sich sagen, daß, wenn es gute Gründe gibt, die institutionelle Existenz der Philosophie zu verteidigen oder zu fordern, die Philosophie sich zwar selbst verteidigen muß, sich aber in dieser Hinsicht nicht selbst begründen kann. Und zwar weder durch Hinweis auf ihre historischen Leistungen noch durch Hinweis darauf, daß nicht ohne pragmatischen Widerspruch ihre Abschaffung gefordert werden kann. Die Aufgabe der Philosophie, ihre Öffentlichkeitsfähigkeit zu verbessern, hat also weithin den Charakter der Apologetik. Apologetik gilt als verdächtig; sie wird jedoch häufig zu Unrecht prinzipiell mit Ideologisierung gleichgesetzt. Immerhin gibt es - die Geschichte der Philosophie kennt gewichtige Zeugnisse — Selbstverteidigung zu nicht

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bloß privatem sondern allgemeinem Nutzen. Das bedeutet aber, daß apologetisches Argumentieren sich in besonderem Maß um die Verallgemeinerbarkeit seiner Argumentationen zu bemühen hat. Gerade in apologetischen Kontexten ist es also auch pragmatisch angebracht, Selbstverteidigung nicht durch trotzige Gegenangriffe zu versuchen, sondern vielmehr durch Argumente dafür, daß die Existenz der Philosophie wenn nicht in jedermanns so doch in vieler Interesse liegt. Dies gilt umso mehr, wenn — wofür noch plädiert werden soll — Philosophie dazu beitragen will, daß die Durchsetzung bloß individueller Geltungsansprüche zugunsten von Verfahren allgemeiner Anerkennung abgelöst wird. Wenn weder die historische noch die transzendentale Strategie die angemessene Selbstverteidigung angesichts der durch die Wozu-Frage in ihrer institutionellen Pointierung artikulierten Herausforderung ist, dann bleibt die Frage, wie anders verfahren werden soll. Philosophie sollte so gerechtfertigt werden, wie lebensweltliche Handlungen, Handlungsgewohnheiten, Handlungsweisen und Institutionen gewöhnlich gerechtfertigt werden, indem wir nämlich, ausgehend von einem eventuell erst herzustellenden Einverständnis über das, was zu tun ratsam ist, dafür argumentieren, daß eben die in Frage stehende Handlung usw. zu tun ratsam ist. Somit ist also zweierlei zu zeigen: a) Philosophie trägt zur Lösung der Probleme vieler bei. Nur wenn das Interesse vieler, und zwar als Ensemble, tangiert ist, kann von einem öffentlichen Interesse gesprochen werden. (Allerdings könnte auch ein spezifisches Gruppeninteresse unter bestimmten Bedingungen zur Institutionalisierung von Philosophie führen; diese Variante wird im folgenden ausgeklammert, obwohl sie höchst aktuell ist.) b) Das öffentliche Interesse verlangt eine Institutionalisierung. Hierbei ist zu beachten, daß öffentliches Interesse nicht zur Institutionalisierung führen muß. Dies wird von jenen Verteidigern der Philosophie nicht bedacht, die ihren Nutzen lediglich in der rechten Disponierung von Individuen sehen. Wenn die Philosophie selbst funktionslos ist, lediglich die Philosophen Funktionen haben können, dann spricht nichts mehr für eine Institutionalisierung. Astrologie beispielsweise ist ebenfalls funktionslos, obwohl Astrologen wichtige Funktionen z. B. bei der folgenreichen Entscheidungsvorbereitung haben. Astrologen läßt man demgemäß existieren, ohne die Astrologie zu einer öffentlichen Institution zu erheben.

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2. Zur Pragmatik von Begründungs- und

Rechtfertigungshandlungen

Will man den Sinn und die Bedeutung des Philosophierens und der Philosophie unter Rückgriff auf das, was zu tun überhaupt ratsam ist, bestimmen,, wird das Problem entstehen, warum gerade dieses oder jenes „Philosophie" genannt werden soll. Diese Frage, die als Problem der terminologischen Adäquatheit aufgefaßt werden kann, läßt sich nur unter Rückgriff auf ein allgemeines Vorverständnis unter Einbeziehung der Frage, was bisher Philosophie hieß, beantworten. Insoweit kann die Rechtfertigung der Philosophie zwar nicht durch historische Argumentation, aber auch nicht ohne eine solche erfolgen. Aus dem Vorverständnis dessen, was bisher Philosophie hieß, sei hier lediglich so viel entnommen, daß es sich bei den spezifischen Leistungen der Philosophie um einen Beitrag zu Argumentationsproblemen handelt. Hier sei nicht weiter ausgeführt, sondern lediglich unterstellt, daß es gelingt, dieses vage Vorverständnis zum Zwecke der Rechtfertigung eines Sprachgebrauchs zu belegen. Aus den programmatischen Überlegungen zur Rechtfertigungsstrategie zusammen mit diesem Vorverständnis ergibt sich dann als leitende Frage: „Was können gerade die philosophischen Argumente zur Bewältigung unserer Argumentationsprobleme beitragen?" Oder: „Von welcher Art sind in Begrün dungs- und Rechtfertigungskontexten gerade diejenigen Äußerungen, die wir als philosophische' auszeichnen?" Und weitergehend kann gefragt werden: „Welche Rolle spielen gerade diese philosophischen' Äußerungstypen bei der Ausdifferenzierung von Diskursen mit Allgemeinverbindlichkeitsanspruch, beispielsweise wissenschaftlichen oder politischen Diskursen?" Soll geklärt werden, zu welchen Argumentationsproblemen spezifisch „Philosophieren" ein Lösungsinstrumentarium bereitstellt, muß zuvor eine systematische Rekonstruktion derjenigen Probleme erfolgen, die sich sowohl in lebensweltlicher als auch in wissenschaftlich ausdifferenzierter Argumentationspraxis ergeben. Dies soll hier mit möglichst sparsamen Mitteln geschehen. Die Aufgabe der Erklärung leb ens weltlicher und wissenschaftlicher Argumentationspraxis kann zunächst mit dem Anspruch entwickelt werden, begründete Vorschriften für die Redepraxis zu explizieren (konstruktive Aufgabe); sie kann zusätzlich den Anspruch haben, eine bereits bestehende Praxis zu verstehen, d. h. z. B. ungenannte Vor-

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Schriften zu nennen, Defekte zu erkennen, Regelmäßigkeiten und Regelwidrigkeiten zu entdecken und Vorschriften auf ihre Vernünftigkeit hin zu beurteilen (rekonstruktive Aufgabe). Die Rekonstruktion von Begründungs- und Rechtfertigungshandlungen läßt sich auf zwei Ebenen betreiben. Erstens geht es darum, durch den Aufbau einer pragmatischen Terminologie eine gemeinsame Sprache zu schaffen, in der dann — zweitens — Reglementierungen von Sprechhandlungssequenzen vorgeschlagen und erörtert werden können. Für den Aufbau einer pragmatischen Terminologie sei hier als gelungen unterstellt, daß aus der lebensweltlichen Redepraxis die elementaren Sprechhandlungen des Aufforderns und Behaupten^ isoliert und identifiziert worden sind. Diskurse, in denen die Prüfung von in Behauptungen präsupponierten Geltungsansprüchen zu einer Bestätigung führt, sollen „Begründungen", Diskurse um Aufforderungen entsprechend „Rechtfertigungen" heißen. Die folgenden Vorschläge beschränken sich exemplarisch auf die Rekonstruktion von Begründungen.5 Der mit „Auffordern" und „Behaupten" begonnene Aufbau einer pragmatischen Terminologie läßt sich schrittweise um weitere Sprechhandlungstypen erweitern, wenn man unterstellt, daß Indikatoren für Zeitpunkte, Individuen, usw. in trivialer Weise zur Verfügung stehen. Während „Auffordern" und „Behaupten" elementare Sprechhandlungen sind, d. h. solche, zu deren Einführung nicht auf andere zurückgegriffen werden muß, sollen weitere Sprechhandlungen „komplex" genannt werden. Eine komplexe Sprechhandlung ist beispielsweise Bezweifeln": etwas bezweifeln soll heißen, jemanden auffordern, durch weitere Behauptungen den in einer ersten Behauptung ausgedrückten Geltungsanspruch einzulösen. Die andere Möglichkeit auf eine Behauptung zu reagieren, besteht darin, eine stärkere oder schwächere Zustimmungshandlung zu vollziehen. „Zustimmen" im starken Sinn heißt dabei, daßjemand eine zuvor von einem anderen vollzogene Behauptung in ihrem Geltungsanspruch so übernimmt, daß er von nun an bereit ist, diesen Geltungsanspruch ebenfalls einzulösen. Schwächere Formen von Zustimmung bestehen darin, daß eine solche 5

Vgl. genauer C. F. GETHMANN, Protologik (in Vorbereitung); zur Frage der Rechtfertigung ders., „Zur formalen Pragmatik der Normenbegründung": J. MITTELSTRASS (Hg.), Praktische Philosophie und kritische Sozialwissenschaft (in Vorbereitung).

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Übernahme mit der Zustimmungshandlung nicht zugleich ausgedrückt wird. Werden singuläre Sprechhandlungen wie „Behaupten", „Bezweifeln" und „Zustimmen" zu Redekontexten zusammengesetzt, soll von Sequenzen von Sprechhandlungen die Rede sein. „Begründen" ist ein Terminus für eine solche Sprechhandlungssequenz, und zwar dann, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: a) Die Autoren der in der Sprechhandlungssequenz vorkommenden singulären Sprechhandlungen übernehmen genau zwei Funktionen, nämlich die des anfänglichen und weiteren Behauptens auf der einen („Proponent") und die des Bezweifeins und Zustimmens auf der anderen Seite („Opponent"). Diese Funktionen sind von der Anzahl der Autoren unabhängig, können im Grenzfall also auch von einem Individuum allein übernommen werden. b) Für die Sprechhandlungssequenz „Begründen" ist charakteristisch, daß die Autoren abwechselnd und in einer bestimmten Abfolge agieren. Nach einer Eröffnungsbehauptung durch den Proponenten kann der Opponent dieser Behauptung zustimmen oder sie bezweifeln; bezweifelt der Opponent die Behauptung, dann vollzieht der Proponent eine erneute Behauptung, indem er weitere Behauptungen sowie Verbindungsregeln zwischen der ersten und der neuen Behauptung heranzieht. Diese neuen Behauptungen kann der Opponent entweder erneut bezweifeln oder er kann ihnen zustimmen. c) Stimmt der Opponent einer Behauptung des Proponenten nach endlich vielen Schritten zu, dann soll die Anfangsbehauptung des Proponenten „begründet" heißen. Handelt es sich um einen Diskurs zwischen Opponenten und Proponenten einer Gruppe G, dann soll von einer „relativen Begründung bezüglich G" gesprochen werden. Wird eine Begründung so durchgeführt, daß es gelingt, eine Behauptung in bezug auf jedermann zu begründen, bzw. kann die Begründbarkeit in bezug auf jedermann gemäß bereits begründeten Regeln begründet werden, soll von einer „absoluten Begründung" gesprochen werden. Eine Sprechhandlungssequenz vom Typ „Begründung" im eingeführten Sinn kann auch „Begründungsdiskurs" genannt werden. Damit Reglementierungen von Begründungs- und Rechtfertigungsdiskursen rekonstruiert werden können, muß eine Terminologie zur Verfügung stehen, die es erlaubt, verschiedene Diskurssituationen zu unterscheiden. Eine entsprechende Analyse heiße ,/orma/", wenn die

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Situation allein unter Rückgriff auf Sukzession von Sprechhandlungstypen unter Absehung von Typen und Formen propositionaler Gehalte unterschieden werden, sie heiße „material", wenn Typen und Formen propositionaler Gehalte zusätzlich herangezogen werden. Beschränkt man sich auf eine formale Analyse, können zunächst zwei fundamentale Unterscheidungen eingeführt werden. Gemäß den angegebenen Bedingungen hat der Opponent nämlich die Möglichkeit, die vom Proponenten herangezogenen neuen Behauptungen (die „Gründe") zu bezweifeln oder aber die angegebenen Verbindungsregeln zwischen den neuen Behauptungen und der Anfangsbehauptung. Entsprechend soll (in Anlehnung an das bekannte Schema von TOULMIN) von einer „horizontalen" bzw. „vertikalen" Begründungsdimension gesprochen werden. Begründungs- und Rechtfertigungsdiskurse in horizontaler wie in vertikaler Dimension können grundsätzlich gemäß zwei verschiedenen Strategien geführt werden. Naheliegend ist zunächst die Strategie, daß der Opponent die Behauptungen des Proponenten immer weiter bezweifelt, bis der Proponent schließlich auf eine Behauptung zurückgreift, der der Opponent zustimmen kann. Dabei ist allerdings nicht auszuschließen, daß ein unendlicher Regreß zu befürchten ist, zu dessen Vermeidung einer der Autoren den Diskurs durch Handlungsverweigerung abbricht. Ein diskursives Verfahren dieser Art soll „reduktiv" heißen. Es ist jedoch auch ein anderes Verfahren denkbar. Ist festzustellen, daß die am Diskurs beteiligten Autoren bezüglich einer bestimmten Behauptung Einverständnis erzielt haben, können sie ausgehend von diesem Einverständnis weitere Behauptungen unter Rückgriff auf dieses Einverständnis begründen. Der Proponent wird in diesem Falle strategisch darauf abzielen, seine Behauptungen schließlich mit den schon begründeten Behauptungen zu begründen. In diesem Fall soll von einer „produktiven" Begründungsrichtung gesprochen werden. Nimmt man zu den eingeführten Unterscheidungen von Begründungsdiskurssituationen noch hinzu, daß die Situation der Diskurseröffnung von einer Situation im Diskursverlauf und einer solchen am Ende eines Diskurses unterschieden werden kann, ergeben sich bereits mit diesen einfachen Mitteln zwölf verschiedene Diskurssituationen, für die im einzelnen jene Regeln zu formulieren wären, deren Befolgung den Zweck des Unternehmens, nämlich das Gelingen von Begründungen, am sichersten erreichen läßt. Hier genügt es, ledig-

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lieh eine grundsätzliche Regel anzugeben. Gemäß den eingeführten Unterscheidungen ist ein Diskurs, der in reduktiver Begründungsrichtung verläuft, ständig von den Möglichkeiten des Zirkels, des unendlichen Regresses oder des Abbruches bedroht. Dies hat seinen Grund darin, daß zufällig ist, ob dem Proponenten die Heranziehung einer Behauptung gelingt, in der er mit dem Opponenten übereinstimmt. Demgegenüber ist ein Argumentieren in produktiver Begründungsrichtung gerade dadurch ausgezeichnet, das jederzeit auf ein solches gemeinsames Einverständnis zurückgegriffen werden kann. Für die weiteren Überlegungen reicht daher aus, eine einzige Begründungs(und Rechtfertigungs-)regel anzugeben, nämlich die Regel: „Begründe und rechtfertige produktiv!"

3. „Ich schlage vor, daß p" und die Aufgabe der Philosophie Die Rekonstruktion von Begründungs- und Rechtfertigungsdiskursen läßt sich in verschiedene Differenzierungsrichtungen fortsetzen. Sie wäre durch eine materiale Analyse, d. h. durch eine Analyse der Strukturen der in den typischen Sprechhandlungen vorkommenden propositionalen Teile zu ergänzen. Die verwendeten Verbindungsregeln wären über die durch die formale Logik angegebenen Regeln hinaus zu untersuchen (Rhetorik, Topik). Die bei den Autoren vorausgesetzten Dispositionen, die sie befähigen, kompetent an Diskursen teilzunehmen, wären zu präzisieren. All dies soll hier nicht geschehen. Vielmehr soll gefragt werden, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit dem angeführten Rationalitätspostulat: „Begründe (rechtfertige) produktiv!" gefolgt werden kann. Die produktive Begründungsrichtung vermeidet die Risiken des Scheiterns der reduktiven Begründungsrichtung; dies jedoch nur dann, wenn die Begründungsbemühungen sich auf ein bereits bestehendes Einverständnis von Proponent und Opponent beziehen können. Solche Ein Verständnisse, die jeweils schon bestehen müssen, damit produktives Begründen und Rechtfertigen möglich ist, sollen „prädiskursive Einverständnisse" heißen. Davon unterschieden sind jene Einverständnisse, die sich erst als Folge eines Diskurses ergeben. Entsprechend soll zwischen einer prädiskursiven und einer (intra-) diskursiven Rationalität unterschieden werden.

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Diskursive Rationalität ist in lebensweltlichen Kontexten eine Angelegenheit der Erfahrung, in wissenschaftlichen Kontexten des Fach- und Sachverstandes. Insofern die Philosophie gegenüber den Wissenschaften den Gesichtspunkt lebensweltlicher diskursiver Rationalität eingebracht hat und einbringt, wird sie fortschreitend durch die Fachwissenschaften abgelöst. Das zuweilen kritisierte historische Schema der Ausdifferenzierung der Fachwissenschaften aus der Philosophie, demgemäß diese Ausdifferenzierung zu einer zunehmenden Funktionslosigkeit der Philosophie geführt habe, ist also nicht in jeder Hinsicht falsch. Bevor auf den Bereich prädiskursiver Verständigung eingegangen wird, ist daraufhinzuweisen, daß die Bereiche des Prädiskursiven und Diskursiven nicht disjunkt sind. Was nämlich in bezug auf einen Diskurs Diskursthema ist, kann in bezug auf einen nächsten prädiskursives Einverständnis sein. Es kann daher grundsätzlich jede Behauptung Gegenstand eines Begründungsdiskurses sein, aber es können nicht alle Behauptungen, Aufforderungen und Regeln Gegenstand ein und desselben Diskurses sein. Ohne eine jeweilige prädiskursive Einigung ist kein Diskurs (im produktiven Sinn) möglich. Neben diesen jeweils prädiskursiven Einverständnissen, die nur relativ in bezug auf einen bestimmten Diskurs prädiskursiv sind, gibt es jedoch auch prädiskursive Einverständnisse, die prädiskursiv überhaupt sind, und zwar in dem Sinn, daß über sie Einverständnis vor jedem Diskurs bestehen muß, also auch vor denjenigen Diskursen, die solche Einverständnisse zum Thema haben. In bezug auf solche prädiskursiven Einverständnisse kann von einer nichteinholbaren Prädiskursivität allen Redens und Denkens gesprochen -werden. Zu solchen prädiskursiven Einverständnissen überhaupt gehört beispielsweise das Einverständnis darüber, daß ein Dissens oder Konflikt überhaupt diskursiv aufgelöst werden soll. Es gehört das Wissen um Rechte und Pflichten beim Diskutieren,z. B. die rollenspezifischen Rechte und Pflichten von Opponent und Proponent, dazu; ferner die Anerkennung von Symmetriepostulaten, z. B. bei Begründungs- und Rechtfertigungsdiskursen das Prinzip der Abwechslung. Unter einem „ Vorschlag" soll nun jene sprachliche Handlung verstanden werden, durch die ein prädiskursives Einverständnis bezüglich einer Behauptung eingeführt wird, und zwar sowohl bezü$ichjeweiliger prädiskursiver Einverständnisse als auch bezüglich prädiskursiver Einverständnisse überhaupt. In bezug auf Aufforderungen in Rechtfer-

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tigungsdiskursen soll analog von einer „Empfehlung" gesprochen werden. Der entscheidende Unterschied zwischen Vorschlägen und Behauptungen in Diskursen liegt darin, daß der durch einen Vorschlag geäußerte Geltungsanspruch nur unter der Bedingung aufrecht erhalten wird, daß der Vorschlag auf Zustimmung trifft, sonst wird der Vorschlag zurückgezogen. Vorschlagen hat also in diesem Sinn wesentlich experimentellen Charakter, denn per definitionem kann ja vor einem Diskurs noch kein Geltungsanspruch eingelöst werden. Erfahrungsgemäß stellt sich ex post heraus, daß manche Vorschläge entweder nicht auf Zustimmung stoßen, oder zwar auf Zustimmung stoßen aber der Diskurs dennoch nicht zu einer diskursiven Einigung führt (es waren dann die falschen Vorschläge), oder aber auf Zustimmung stoßen und auch zu einer gelungenen Begründung führen. In lebensweltlichen (relativen) Diskursen können wir es uns in der Regel leisten, „es darauf ankommen zu lassen", ob der Diskurs gelingt. Anders verhält es sich bei absoluten Begründungen und Rechtfertigungen, wie sie in wissenschaftlichen oder politischen Konsensprozessen angestrebt werden. Ihr Gelingen hängt wesentlich davon ab, ob von einem prädiskursiven Einverständnis ausgegangen wurde, dem zwar nicht jedermann de facto zustimmt, von dem aber bekannt sein muß, daß es jedermann zumutbar ist, so daß jeder zustimmen könnte, wenn die entsprechenden Voraussetzungen der Diskursteilnahme gegeben wären. Offensichtlich ist die Frage, ob ein Vorschlag geeignet oder ungeeignet ist, entscheidend für die Frage, ob es überhaupt eine absolute Begründung gibt oder nicht gibt. Je nachdem, ob nun ein solcher Vorschlag gelingt oder nicht, soll zwischen einem begründeten und einem unbegründeten Vorschlag (analog: von einer begründeten oder unbegründeten Empfehlung) unterschieden werden. Die Frage, die sich nun zwangsläufig ergibt, ist diejenige, wie sich begründete Vorschläge (Empfehlungen) erreichen lassen. Versucht man, Vorschläge diskurspragmatisch auszuzeichnen, kann man nicht jene Kriterien des Gelingens oder Mißlingens der Einlösung von Geltungsansprüchen heranziehen, zu deren Unterscheidung die Vorschläge überhaupt erst gemacht werden. Anders gesagt: Ist ein Vorschlag erst Bedingung eines Diskurses, kann er nicht in gleicher Hinsicht Resultat desselben Diskurses sein. Dennoch ist eine Unterscheidung möglich. Es sollen dazu drei Kriterien genannt werden: a) Vorschläge sind Vorschläge, Behauptungen zuzustimmen; Empfehlungen sind Empfehlungen, Aufforderungen zu befolgen. Insoweit

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Vorschläge auf Einverständnis stoßen, sind sie diskursentzogen, gehen dem Diskurs voraus. Dies gilt jedoch nur für den jeweiligen Diskurs. D. h. Vorschläge und Empfehlungen müssen in einem anderen Diskurs auch Eröffnungen (Behauptungen oder Aufforderungen) sein können, sie müssen grundsätzlich argumentationszugänglich sein. Dies gilt auch für prädiskursive Einverständnisse überhaupt. Wer etwas vorschlägt, muß also abschätzen können, welche Chancen der Vorschlag in einem anderen Diskurs hätte. b) Vorschläge müssen aussichtsreich sein. Ein Vorschlag ist aussichtsreich, wenn er zu den Präsuppositionen und Prämissen der übrigen Diskursteilnehmer gehört. Wer einen aussichtsreichen Vorschlag machen will, muß also absehen können, wie Diskursteünehmer gewöhnlich argumentieren, und aus welchen Präsuppositionen und Prämissen sich ihre Behauptungen ergeben. c) Vorschläge müssen folgenreich sein. Sie müssen etwas Neues bieten gegenüber dem, was schon geäußert ist (und gerade zum Dissens oder Konflikt geführt hat). Vorschläge, die alles so lassen, wie es ist, sind pragmatisch redundant. Wer begründete Vorschläge (und Empfehlungen) im Sinne dieser drei Kriterien machen will, muß über eine Reihe von Fähigkeiten verfügen. Er muß Diskursverläufe aus seiner Kenntnis von Diskursregeln antizipieren können, Behauptungen auf Prämissen und andere Präsuppositionen hin analysieren können, die Verallgemeinerbarkeit von Begründungen und Rechtfertigungen abschätzen können, Handlungsgewohnheiten und Handlungsweisen kennen, faktische Genesen von Dissensen und Konflikten überblicken, Unvollständigkeiten, Asymmetrien und andere Kommunikationsverzerrungen aufdecken können usw. Die Aufzählung zeigt, daß das Hervorbringenkönnen von begründeten Vorschlägen und Empfehlungen eine Kunst ist. Das Ausüben dieser Kunst soll „philosophieren" heißen. Vorschläge und Empfehlungen, die geeignet sind, prädiskursive Einverständnisse bezüglich Begründungs- bzw. Rechtfertigungsdiskursen zu konstruieren oder zu rekonstruieren, sind der spezifisch philosophische Äußerungstyp. Wer auf etymologische Adäquatheit Wert legt, dem sei vorgeschlagen, den Terminus „Weisheit" als Disposition zu rekonstruieren, die durch Erfahrung mit diskursivem Handeln und seinen Präsuppositionen entsteht; jedenfalls geht es um eine Kunst, nicht um ein Wissen (dieses müßte intra-diskursiv begründet werden), und eine Kunst erwirbt man durch Erfahrung.

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Während die Wissenschaften Informationen für Behauptungen in Diskursen liefern, beziehen sich die philosophischen Vorschläge auf die Ermöglichung von Diskursen. Die Philosophie hat es nicht mit pragmatischen Problemen in Diskursen, sondern mit Problemen von Diskursen zu tun. Dies ist der begründungspragmatische Sinn der Rede vom Reflexionscharakter der Philosophie gegenüber den verschiedenen Weisen des Wissens. Analoges wäre über das Verhältnis der Philosophie zum Handeln zu sagen Andererseits kann der Philosophierende als solcher im Diskurs keine Argumente beibringen, obwohl es vorkommt, daß der Philosophierende sowohl als Diskurspartei als auch als Diskurssachverständiger auftreten möchte. „Sophismus" wäre dann der Versuch, sich durch seine Diskurssachverständigenposition als Diskurspartei Vorteile verschaffen zu wollen. Gemäß dem hier entwickelten Vorschlag ist der Philosophierende zufolge seiner Orientierung an den Diskursbedingungen überhaupt nicht nur an der pragmatischen Ermöglichung eines jeweiligen Diskurses, sondern an der praktischen Zwecksetzung diskursiver Willensbildung überhaupt orientiert. Er schlägt vor, anzuerkennen was vorausgesetzt ist, ohne diese Anerkennung allerdings diskursiv erzwingen zu können. Um begründete Vorschläge machen zu können, muß nach dem jeweils und überhaupt Vorausgesetzten, dem der argumentationspragmatischen Ordnung nach Früheren, dem was im vorhinein (a priori) gilt, geforscht werden. Dies liegt nicht immer auf der Hand, sondern muß in Rede und Gegenrede ermittelt werden. Aprioriforschung hat somit einen experimentierenden Charakter, nämlich den des schrittweise aufbauenden Vorschlagens und Empfehlens und der jeweiligen Kontrolle, ob die Vorschläge und Empfehlungen tatsächlich akzeptiert werden. Dies gilt vor allem bei prädiskursiven Einverständnissen überhaupt. Begründete Vorschläge beziehen sich auf diejenigen Bedingungen von Behauptungen, die die zu erwartenden Opponenten vertreten; dies ist bei Präsuppositionen von diskursiven Handlungen überhaupt grundsätzlich der Fall. Wer an zustimmungsfähigen Vorschlägen interessiert ist, wird sein Augenmerk vorzüglich auf diese Präsuppositionen richten, also den „obliquen Blick"6 einüben. Analysiert man die Probleme, die die Kunst des Vorschlagens und Empfehlens im einzelnen bewältigen muß, ergeben sich weitere 6

H. LÜBBE, „Wozu Philosophie", in diesem Band 136.

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Differenzierungen und Teilaufgaben der Philosophierenden. Dazu gehört die Kenntnis der schon früher gemachten erfolgreichen oder erfolglosen Vorschläge, das Verfügen über einen „Tresor von Argumenten". Dazu gehört ferner das Verfügen über zweckgemäße Regelvorschläge. Die übliche Standard-Logik ist allerdings wegen ihres unpragmatischen Charakters dafür weithin ungeeignet. Wichtiger sind die z. Zt. weniger kultivierten methodischen Regeln, die beispielsweise unter dem Titel Rhetorik schon bei ARISTOTELES zu finden sind. Dazu gehört auch die Analyse von Unvollständigkeiten, die Explikation von Begriffen, die Rekonstruktion formaler Unterscheidungen. Schließlich gehören zu den Aufgaben des Philosophierenden die Entwicklung normativer Vorstellungen zum Zweck diskursiver Willensbildung, aus welcher regulative Orientierungen über das Handeln in Diskursen zu entwickeln sind, beispielsweise die Verteilung von Begründungs- und Rechtfertigungslasten, oder die Aufstellung von Symmetrieregeln. Dazu gehört aber auch die Entwicklung inhaltlicher Vorschläge für prädiskursive Einverständnisse in Begründungsdiskursen. Diese Auflistung enthält die Behauptung einer gewissen Instrumentalität des philosophischen Verhältnisses zur Philosophie-Geschichte. Die Philosophie im hier vorgeschlagenen Verständnis soll der Vernünftigkeit unserer Rede und Handlungszusammenhänge nicht interpretierend hinterherlaufen, sondern vielmehr - als Vorschlagskunst der Vernünftigkeit, ihr entspringend, vorauslaufen. Der Philosoph schlägt vor (nicht nach). Bei Vorschlägen und Empfehlungen gibt es so wenig Eindeutigkeit, wie gewöhnlich immer dann, wenn Instrumente zu einem Zweck, Lösungen zu einer Aufgabe gesucht werden. Die meisten Ziele lassen sich auf mehreren Wegen erreichen. Eine Einigkeit der Philosophierenden untereinander ist daher nicht zu erwarten und in Ansehung eines möglichst großen Vorschlagspotentials auch nicht wünschenswert. Deswegen ist der Streit der Philosophierenden grundsätzlich anders zu charakterisieren, als der intradiskursive Streit von Fachwissenschaftlern, wo ein solcher Streit in der Tat zur Skepsis gegenüber den kognitiven Mitteln gegebenenfalls einer ganzen Disziplin Anlaß geben kann. Die Diskussion der Philosophierenden untereinander, sozusagen der „prädiskursive Diskurs", hat daher notwendig eine andere Struktur als der durch Regeln einer Wissenschaftlergemeinschaft geregelte Diskurs einer Fachwissenschaft.

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4. Die institutionelle Funktion der Philosophie Den weitverzweigten gegenwärtigen Diskussionen um den Institutionenbegriff kann hier nicht nachgegangen werden. Daher sei zunächst bezüglich dieser Auseinandersetzungen eine These formuliert. Die Idee der diskursiven Willensbildung in theoretischen und praktischen Fragen wird gegenwärtig meistens im Gegensatz zum sog. „Institutionalismus" diskutiert, wie umgekehrt der „Institutionalismus" dahin tendiert, sich bezüglich philosophischer Fragen eher auf den Dezisionismus als auf eine Konsensustheorie zu stützen. Den folgenden Überlegungen liegt nun die These zugrunde, daß es sich hier um einen scheinbaren Gegensatz zwischen Diskurstheorie und Institutionenlehre handelt. Der scheinbare Gegensatz entsteht durch die intuitiv einsichtige Überlegung, daß die „aufklärerischen" Konsenstheoretiker durch ihre Forderung, alles und jedes in Frage zu stellen — anscheinend — der anthropologischen und auch lebensweltlichen Selbstverständlichkeit nicht Rechnung tragen, daß wir aus Gründen der Handlungsentlastung auf Unproblematisiertes angewiesen sind. Der hier liegende Gegensatz in der sozialphilosophischen Diskussion läßt sich auflösen, wenn man sich daran macht, die Bedeutung von Institutionen unter dem Gesichtspunkt des Diskurses zu rekonstruieren. Ersichtlich liegt der Ansatzpunkt dieses Programms in der schon herausgestellten prinzipiellen Prädiskursivität menschlichen Redens und Handelns. Dieser Gedanke ist weiterzuführen durch Hinzunahme der lebensweltlich hinreichend begründeten Einsicht, daß Diskurse unter den Bedingungen endlichen, besser: kurzen Lebens, d. h. strukturellen Zeitmangels zu führen sind. Pragmatisch notwendiger Bestandteil prädiskursiven Einverständnisses ist daher das Einverständnis darüber, daß Diskurse abzukürzen und möglichst bald zu beenden sind; und zwar dadurch, daß bestimmte Prämissen bzw. Regeln als unbestreitbar gelten (Institutionen im weiteren Sinn); oder dadurch, daß bestimmten Personen oder Gremien zugestanden wird, Zustimmungshandlungen stellvertretend zu antizipieren bzw. nachzuholen (Institutionen im engeren Sinn). Der Gedanke der Institution kommt also prinzipiell dann ins Spiel, wenn man von der Ebene der Diskurslogik zu derjenigen der Diskurspragmatik übergeht.

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Um den Begriff der „Institution" im Aufbau einer diskurspragmatischen Terminologie einzuführen, sind folgende Schritte denkbar, die hier lediglich genannt aber nicht durchgeführt werden: 7 a) Eine (Sprech-)Handlung wird unter bestimmten Bedingungen immer wieder vollzogen: Handlungsgewohnheit. b) Eine Handlungsgewohnheit wird von allen (vielen) Mitgliedern einer Gruppe angenommen: Handlungsweise. c) Für die Wiederholbarkeit von Handlungen liegen implizit oder explizit Handlungsschemata fest: Regeln. d) Es ist der Fall, daß man sich in Diskurskontexten in nicht mehr begründungsverpflichtender Weise auf Regeln berufen kann: Institutionen im weiteren Sinn. e) Die Befolgung solcher Regeln wird durch soziale Sanktionen gesichert: Institutionen im engeren Sinn. Zusammenfassend läßt sich die normative Genese einer Institution also als begründungspragmatischer Umschlag von einer prinzipiell begründungsbedürftigen Prämisse bzw. Regel in eine faktisch begrün dungsunbedürftige rekonstruieren. Gelingt eine solche begründungs- und rechtfertigungspragmatische Einführung von Institutionen, sind Präzisierungen bezüglich des Problems der Rechtfertigung von Institutionen möglich. Obwohl Institutionen Entlastungen von Begründungsverpflichtungen bewirken sollen, sind sie prinzipiell argumentationszugänglich,d.h. ihre Zwecke können in einer normativen Genese überprüft werden. Während den Anti-Institutionalisten somit entgegengehalten werden kann, daß wir aus Gründen der Entlastung von permanenter Einlösung von Geltungsansprüchen auf Unproblematisiertes angewiesen sind, muß den Institutionalisten entgegengehalten werden, daß de facto Unproblematisiertes nicht zugleich prinzipiell unproblematisierbar zu sein braucht, um seine Funktion erfüllen zu können. Normativ sind daher zwei Fälle zu unterscheiden: Einmal ist die Frage zu stellen, ob die Genese einer Institution als ein abgebrochener Begründungs- bzw. Rechtfertigungsdiskurs in reduktiver Richtung zu rekonstruieren ist, d. h. als prinzipieller Versuch der Rechtfertigungsausschaltung; zum anderen kann es sich bei einer Institution in nor7

Genauer s. C. F. GETHMANN, „Zur normativen Genese wissenschaftlicher Institutionen"; C. BURRICHTER (Hg.), Probleme der Wissenschaft sforschung, Erlangen 1978,69-91.

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mativ-genetischer Betrachtung um ein prädiskursives Einverständnis in produktiver Diskursrichtung handeln, dessen Zustimmungsfähigkeit im Prinzip, wenn auch gerade nicht ständig überprüft werden kann. Die leitende Frage der Institutionenkritik ist daher folgende: Zu welchem Zweck ist die normativ-genetisch zu rekonstruierende prädiskursive Einigung das Mittel und ist diese Zwecksetzung allgemein? Es wäre nun gerade ein Widerspruch, und zwar ein pragmatischer, wollte man Institutionen so zur Disposition stellen, daß ständig Institutionenkritik getrieben werden soll. Die handlungsentlastende Funktion von Institutionen wäre dadurch gerade depotenziert. Andererseits würde es dem instrumentellen Sinn von Institutionen widersprechen, wollte man sie — nachdem sie einmal begründeter- oder unbegründeterweise entstanden sind - für argumentationsunzugänglich erklären. Es liegt daher nahe, das Geschäft der Kritik von Institutionen, die ja eine Kritik prädiskursiver Einverständnisse ist, Experten für solche Einverständnisse zu übertragen. Zu solchen waren in den vorhergehenden Überlegungen die Philosophierenden erklärt worden. Nun soll die Pointe der hier angestellten Überlegungen nicht in einem Plädoyer für die Notwendigkeit des Philosophierens liegen, sondern in der Notwendigkeit der Philosophie (als Institution). Nach den vorhergehenden Überlegungen könnte man sich nun folgenden Einwand denken: einen spezifischen intra-diskursiven Beitrag leistet die Philosophie nicht; die Kunst der prädiskursiven Einigung sollte jedoch jedermann jederzeit beherrschen. Also: daß jedermann philosophieren kann, ist notwendig, wozu aber dann noch Philosophie? Die Antwort ergibt sich aus den hier angestellten Überlegungen zum Begriff der Institution. Philosophie als Institution (d. h. als anerkanntes Instrument der Begründungspflichtenentlastung) ist notwendig, weil die unverzichtbare Aufgabe der Institutionenkritik (sollen Institutionen nicht zweckwidrig zerstört werden) institutionell delegiert werden muß.Philosophie ist institutionalisierte Institutionenkritik kraft Kritikdelegation. Die Tätigkeit des Philosophierenden, nämlich begründete Vorschläge und Empfehlungen in institutionellem Kontext zu produzieren, soll „Beratung" heißen. Philosophie ist demzufolge die Institutionalisierung (prädiskursiver) Beratungskapazitäten. Philosophie wäre dann gerechtfertigt, wenn sie diese Funktion erfolgreich übernähme. Mit diesem Verständnis von Philosophie wird der in der Philosophiegeschichte und auch in der Gegenwart immer wieder vorgetragenen,

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vermutlich aber oft bloß kokettierend gemeinten These entgegengetreten, Philosophie habe es als ihre oberste Aufgabe anzusehen, Aufklärung so zu verbreiten, daß sie selbst als Advokat von Aufklärung eine überflüssige Institution wird. Diese These beruht auf der Verkennung der Tatsache, daß die Stellvertreterfunktion der Philosophie — die selbstverständlich abhängig ist von allgemeiner Anerkennung — nicht nur didaktischer Art ist (ein Lehrer soll sich überflüssig machen), sondern instrumentell auf die Ausdifferenzierung von Institutionen bleibend bezogen ist. Philosophie (oder etwas ihr entsprechendes) kann nur dadurch überflüssig werden, daß wir ohne Institutionen leben wollen, also in einen anarchischen, vorzivilisatorischen Zustand zurückfallen. Philosophie hat sich historisch (neben anderen Legitimationsinstrumenten) gerade deshalb ausdifferenziert, weil nicht jedermann die ständige Legitimationskritik unserer Institutionen übernehmen kann und will, besser: nicht sinnvoll wollen kann. Nach der hier vertretenen Institutionenlehre ist es grundsätzlich falsch, Formen der Repräsentation und stellvertretenden Autorität als Übergangszustand anzusehen, der nur angesichts nicht hinlänglicher Aufklärung (eines mangelhaften Bewußtseinszustandes) noch geduldet werden kann, möglichst bald aber zu überwinden ist. Institutionen entstehen jedoch nicht durch Aufklärungsmangel, sondern dienen der Überforderungsabwehr. Eine Gesellschaft Aufgeklärter ist nicht eine solche, die keine Institutionen hat, sondern eine solche, die bessere Institutionen hat, somit auch eine bessere (bessere Beratung leistende) Philosophie. Philosophie soll somit nicht auf ihre Abschaffung, sondern auf ihre Verbesserung hinwirken. Das kritische Beratungsgeschäft der Philosophie ist daher auch nicht so zu verstehen, als sei die Stoßrichtung der Kritik prinzipiell auf Destabilisierung ausgerichtet. Vielmehr wird das Geschäft der kritischen Beratung bewirken, daß Destabilisierung stattfindet, wo nicht zu rechtfertigende Stabilität ist; Stabilisierung, wo unerträgliche Labilität ist. In einfacheren Worten: Philosophen sollen neue Vorschläge machen, wo alte nicht mehr Zustimmung finden, sie sollen überhaupt Vorschläge machen, wo Einverständnisse fehlen. Philosophie als Institution entsteht (im Sinne normativer Genese) also dadurch, daß die Experten für prädiskursive Einverständnisse (die Philosophierenden) sich zu einer öffentlich anerkannten Fachgemeinschaft zusammenschließen, mit dem Ziel in handlungsentlastender Weise ständig die Vernünftigkeit unserer Institutionen zu kritisieren.

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Jene Philosophen, die dieses Geschäft nicht nur im Prinzip, sondern de facto jedermann zumuten wollen, erfüllen also gerade nicht die ihnen öffentlich zugedachte Aufgabe; ebensowenig aber auch diejenigen, die die prinzipielle Kritikbedürftigkeit von Institutionen unter Hinweis auf deren anthropologische Unverzichtbarkeit abstreiten. Wenn Philosophie institutionalisierte Institutionenkritik ist, das Stellen der Legitimitätsfrage also ihr ureigenstes Geschäft, dann muß sie sich als Institution die Legitimitätsfrage: „Wozu (noch) Philosophie?" nicht nur gefallen lassen, sondern sie selbst ständig wachhalten. Sich in einer Legitimationskrise zu befinden, muß der Philosophie jederzeit ins Gesicht geschrieben sein. Während für jede Institution die permanente Bezweiflung der Legitimität institutionenvernichtend wäre, ist sie für die Philosophie gerade institutionenkonstitutiv. Die Institutionalisierung von Institutionenkritik ist die einzige Alternative zu „permanenter Revolution" (d.h. ständiger Bezweiflung der Legitimität von Institutionen durch jedermann) auf der einen und „totalitärer Diktatur" (d. h. institutionalisiertem Verbot der Legitimitätsfrage) auf der anderen Seite. Ist man gegen das eine wie gegen das andere, muß man für die Institutionalisierung von Philosophie sein.

5. Philosophie als Institution H. LÜBBEhat am Beispiel der Selbstverteidigung der Historiker darauf hingewiesen, daß diesen die Selbstverteidigung gelungen sei, weÜ sie an ein kulturelles Interesse appellieren konnten. Und er hat die Frage aufgeworfen, ob das auch die Philosophie könne. Er hat dabei auf den Vorteil einer ,jiabituell gewordenen intellektuellen Reflexionskultur" 8 hingewiesen. In einer Terminologie, die mentalistische Konnotationen vermeidet, wird man analog von einer „Argumentationskultur" sprechen dürfen. Diese Argumentationskultur kann jedoch ihren Sinn nicht in sich haben, denn argumentiert wird ja zu einem Zweck. Entsprechend kann der hier ausgeführte Vorschlag auch dahingehend formuliert werden, Philosophie solle (ggf. kontrafaktisch) als Einrichtung 8

„Wozu Philosophie", in diesem Band 136.

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zur Pflege und Förderung der Argumentationskultur im Interesse spezialisierter und delegierter Institutionenkritik betrachtet werden. Es liegt auf der Hand, daß mit dieser Auffassung an ein kulturelles und öffentliches Interesse appelliert wird. Dies beinhaltet die Überzeugung, daß Philosophie, die diese Aufgabe (schlecht und recht) in für Entscheidungsträger sichtbarer Weise wahrnimmt, sich auf diese Funktion erfolgreich berufen kann, und ihre Abschaffung nicht droht. In welcher institutionellen Situation sich die Philosophie nun im einzelnen befindet, hängt wesentlich von diesen ihren Leistungen ab. Hier kann es Rückschläge geben (wie etwa bezüglich der Präsenz der Philosophie in der Lehrerbildung) aber auch Fortschritte (wie z. B. bezüglich der Präsenz der Philosophie in der reformierten Oberstufe und in nichtphilosophischen Studiengängen). Die Erarbeitung von Vorschlägen zur Verbesserung der institutionellen Lage der Philosophie ist Aufgabe der Philosophie selbst. Die Philosophie sollte nicht nur ihre institutionelle Situation prinzipiell, sondern im einzelnen bis hin zur Erarbeitung von Reformvorschlägen behandeln. Und zwar nicht so sehr in apologetischer, sondern in funktioneller Hinsicht (in der Hoffnung, daß sich die Apologetik damit erledigt). Abschließend sollen daher einige — wenn auch noch recht allgemein formulierte — Thesen zur Verbesserung der institutionellen Lage der Philosophie entwickelt werden. Bisher ist von „Institution" im Zusammenhang mit der Philosophie nur in einem abstrakten Sinn gesprochen worden, wobei meistens die Bedeutung von „Institut" oder „Fach" an einer Universität unterstellt wurde. Natürlich ist noch nicht begründet, warum Philosophie gerade als Fach an einer Universität institutionalisiert werden soll (immerhin gibt es ja auch ein Max-Planck-Institut für Philosophie, obwohl es nicht so heißt). Für die Existenz der Philosophie als universitäres Fach lassen sich jedoch — unter Einbeziehung der Bedeutung der Wissenschaften für unsere gesamte Zivilisation - vermutlich bessere Gründe angeben als je zuvor. Auch die folgenden Thesen beschränken sich — schon aus Kompetenzgründen - auf die Situation des Faches Philosophie an den wissenschaftlichen Hochschulen. Deswegen sei vorab jedoch wenigstens bemerkt, daß man auch darüber nachdenken müßte, ob in unseren gesellschaftlich dominierenden Institutionen nicht ansatzweise viel mehr Philosophie institutionalisiert ist, als gewöhnlich unterstellt wird — in öffentlich oder privat genutzten Denk-, Planungs- und Beratungs-

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agenturen, in Stäben von Verbänden und Einrichtungen überall dort, wo prominente Philosophen Vorträge (meist Eröffnungsreferate) halten - und über diese Institutionalisierungsfragen nicht ebenfalls beraten werden müßte. Ohne ihr im folgenden nachzukommen, sei hier die Forderung nach Überwindung der Universitätsperspektive bezüglich der Wozu-Frage wenigstens erhoben. Die folgenden, sich mehr oder weniger stringent aus dem vorher Gesagten ergebenden Thesen sind durch individuelle Erfahrungen und bestimmte institutionelle Umwelten geprägt. Sie lassen sich also nicht allein aus der vorgetragenen Auffassung von Philosophie deduzieren.9 Die ersten 4 Thesen betreffen die Ausbildung von Philosophierenden: These 1: Philosophieren-lernen heißt lernen, Vorschläge und Empfehlungen zur Erreichung prädiskursiver Einverständnisse zu produzieren, bzw. bestehende Einverständnisse bis hin zu Institutionen zu rekonstruieren und zu kritisieren, d . h . begründete Vorschläge und Empfehlungen zu ihrer Aufrechterhaltung oder Abschaffung zu machen. These 2: Vorschläge und Empfehlungen produzieren können, ist eine Kunst, kein Wissen. Philosophieren kann so gelernt, gelehrt, geprüft werden, wie andere Künste auch, z. B. Chirurgie, Klavierspielen,Politik. Nämlich nicht durch Aneignung von Informationen, sondern durch Habitualisierung von Handlungen. Die Lernziele des Philosophiestudiums sind also nicht primär kognitiver, sondern pragmatischer Art: sie betreffen Geschicklichkeit, Erfahrung, Umsicht, Ausgewogenheit, Unparteilichkeit, Angemessenheit usw. in Beratungskontexten. These 3: Vorschläge und Empfehlungen prädiskursiver Einigung sind bezogen auf Typen von Diskursen. Wer Instrumente entwickeln will, muß die 9

Zu einzelnen Fragen vgl. C. F. GETHMANN, „Funktion der Philosophie im Rahmen reformierter Studiengänge": Die Deutsche Universitätszeitung (1975) H. 9, 344-350; C. F. GETHMANN / R. HEGSELMANN, „Stellenwert der Propädeutik im Philosophie-Studium": Die Deutsche Universitätszeitung (1976) H. 13,365-368;C. F. GETHMANN, „Studieneinführung Philosophie": aspekte (1976) H. 12; C. F. GETHMANN / W. PIEL, „Möglichkeiten des Projektstudiums im Fach Philosophie": Philosophie an Schule und Hochschule l (1979).

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Zwecke kennen. Daraus ergibt sich die häufig erhobene Forderung nach Doppelkompetenz der Philosophierenden. Man kann nicht Philosoph und sonst nichts sein wollen. Allerdings wird diese zweite (erste) Kompetenz des Philosophen in der gegenwärtigen Diskussion fast ausschließlich auf wissenschaftliche Disziplinen bezogen. Demgegenüber ist festzuhalten, daß der Philosoph nicht notwendig z. B. Philosoph und Mathematiker sein muß, er kann auch Philosoph und aktiver Staatsbürger sein. In diesem Sinne ist Philosophie nicht mit Wissenschaftstheorie identisch, daß sie sich nur auf wissenschaftliche Diskurse bezieht, als sei sonst alles bereits wohlbegründet oder begründungsunbedürftig. These 4: Das Studium der Philosophie besteht im Kern in einem Beratungstraining. Dies spricht für eine Projektorientierung des Studiums. Allerdings setzt die Fähigkeit, in Projekten zu arbeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten voraus, die propädeutisch vorhergehen müssen. Die Projektorientierung des Studiums zieht also gemäß dieser „konservativen" Projektkonzeption eine gewisse Scholastisierung, jedenfalls „Entgenialisierung" des Philosophie-Studiums nach sich. Projektorientierung bedeutet dabei ein Training an (fiktiven) Fällen unter Berücksichtigung der zweiten Kompetenz; also das Lernen, die Standardmittel (Philosophiegeschichte, Logik, Ethik usw.) der Philosophie im konkreten Fall einzusetzen. Die Folgen dieser Thesen für ein konkretes philosophisches Curriculum dürften in etwa absehbar sein. Daher seien abschließend noch drei Thesen zur philosophischen Forschung formuliert. Der Terminus „Forschung" soll dabei dahingehend verstanden werden, daß es um eine Erweiterung und Verbesserung des Instrumentariums philosophietypischer Beratung und den Einsatz dieses Instrumentariums in Beratungs- und Forschungsprojekten geht. These 5: Philosophiehistorische Forschung sollte sich ausdrücklich (im Unterschied zur Forschungsperspektive der historischen Wissenschaften) dem Zweck des Philosophierens unterordnen. Ebenso aber auch z. B. das Interesse an der Entwicklung formaler Sprachen zur Rekonstruktion von Argumentationskontexten.

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These 6: Philosophie sollte verstärkt ihre Mitarbeit in interdisziplinären Projekten anbieten und entsprechend ein Beratungspotential zu entwickeln versuchen, das anbietenswert ist. Was hier für wissenschaftliche Forschungsprojekte formuliert ist, gilt analog auch für gesellschaftliche Beratungsprojekte. These 7: Philosophische Forschung sollte den internen Problemen ihrer Selbstorganisation mehr Aufmerksamkeit widmen. Vermutlich befinden wir uns bereits in einer Übergangsphase, die wegführt von Schulen (besser spricht man von „Familien", weil die akademische Abstammung in der Regel das Mitgliederprinzip ist) zu Forschungsprogrammen, an denen jeder unabhängig von akademischer Herkunft und sog. „Standpunkt" partizipieren kann. Anzustreben wäre ein Arbeiten in zeitlich begrenzten Projekten mit wohldefinierten Aufgaben. Die Gründung zahlreicher sog. Arbeitskreise" läßt Tendenzen in die richtige Richtung erkennen. Zur Bestimmung der „Rolle und Funktion der Philosophie" dürfte es wenig sinnvoll sein, unabhängig vom situativen Kontext darüber zu räsonieren, ob Philosophie esoterisch, exoterisch, populär usw. sein soll (darf). Nimmt die Philosophie ihre öffentlichen Aufgaben im vorher angedeuteten Sinne wahr und sind zur Wahrnehmung dieser Aufgaben spezielle Kompetenzen und Freiräume erforderlich, wird diese niemand streitig machen wollen. Ein begrenztes institutionelles Eigenleben der Philosophie wird man dulden und fördern, wie das der extraterrestrischen Physik, der gewerkschaftlichen Erwachsenenbildung oder der J.ungen Musik. Unsere Gesellschaft braucht nicht mit der Tatsache vertraut gemacht zu werden, daß, wer von einer Sache profitieren möchte, ihre Eigengesetzlichkeit zu akzeptieren hat. Eliten werden demgemäß allenthalben akzeptiert. Hier für Esoterik zu plädieren, wirkt daher eher verdächtig, weil der Anschein entsteht, man wolle mehr, als dieses funktionell zu rechtfertigende Eigenleben. Wenn es gelingt, die spezifischen Aufgaben und Leistungen der Philosophie öffentlich deutlich zu machen, dann wird auch dieses Eigenleben zugestanden werden, das man gemäß den materiellen Erfordernissen des Selbst-Denkens zum Zwecke, begründete Vorschläge und Empfehlungen auszuarbeiten, beanspruchen darf.

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Die Geliebte mit den vielen Gesichtern Zum Zusammenhang von Selbstdefmition und Funktionsbestimmung der Philosophie „Und wenn ich Allahs Namenhundert nenne, Mit jedem klingt ein Name nach für dich" Goethe, West-östlicher Divan

Man braucht nur einige Dialoge Platons zu lesen oder auch nur ein paar Lexika oder Handbücher des 17. und 18. Jahrhunderts zur Hand zu nehmen, um sehr bald feststellen zu können, wie verschieden sich die Frage: Was ist Philosophie? beantworten läßt, ja wie unterschiedlich die Antworten sogar bei einem und demselben Autor ausfallen können. Das Geschäft des Philosophen läßt sich offenbar auf ganz verschiedene Art und Weise definieren. Die folgenden Überlegungen gehen von der Überzeugung aus, daß diese Definitionsproblematik für die Fragen unseres Arbeitskreises nicht ohne Belang ist, sondern daß zwischen Selbstdefinition und Funktionsbestimmung der Philosophie ein innerer wechselseitiger Zusammenhang besteht. Wie die Frage nach Rolle und Funktion der Philosophie beantwortet wird, hängt zu einem guten Teil davon ab, welche Antwort zuvor die Frage: Was ist Philosophie? gefunden hat. Negativ formuliert bedeutet das: Jeder Fehler, jede Unscharfe, jede Einseitigkeit im Selbstverständnis der Philosophie meldet sich in ihrem Funktionsverständnis wieder zu Worte. Diese Überzeugung hat, das sei gleich zu Beginn vorangeschickt, etwas epimetheushaftes: Sie hat sich nicht zuletzt in den zurückliegenden drei Jahren unserer gemeinsamen Arbeit herausgebildet. Daß die folgenden Überlegungen, die ja fast am Ende dieses Arbeitskreises stehen, den vorangegangenen Referaten und Diskussionen — trotz mancherlei Kritik in dieser oder jener Richtung - ungewöhnlich viel verdanken, versteht sich daher von selbst. Dire Grundabsicht ist, in der Sprache des 18. Jahrhunderts geredet, die Konzilianz und nicht die Kritik.

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Die wichtigsten Ergebnisse der folgenden Überlegungen lassen sich, grob gesprochen, in drei längeren Thesen zusammenfassen: 1. Was Philosophie ist, kann — die Geschichte zeigt es - auf diese oder jene Art und Weise definiert werden. Die verwirrende Vielfalt der Philosophiedefmitionen resultiert nun aber paradoxerweise nicht nur, ja nicht einmal zuerst, aus der Verschiedenheit der inhaltlichen Positionen oder Standpunkte, die von den Betroffenen eingenommen werden. Sie gründet vielmehr zuerst und zunächst in der meist nicht einmal bemerkten Verschiedenheit des methodischen Zugriffs. Nicht die Differenz in der Sache, sondern die Divergenz im Ansatz ist die erste und grundlegende Quelle der verschiedenen Philosophiebegriffe. Die Philosophie läßt sich nämlich aus ganz verschiedenen Gesichtspunkten heraus betrachten. So kann man z. B. von ihren spezifischen Arbeitsmitteln ausgehen oder von den charakteristischen Zügen, Merkmalen, Momenten ihres Wissens, von den genuinen Sachfragen der Philosophie, von den Aufgaben, die sie sich stellt, oder von den prinzipiellen Möglichkeiten des Menschen, diesen gerecht zu werden, von ihrem Verfahren oder schließlich auch von den primären Antrieben, die hinter der Philosophie als einer Grundmöglichkeit menschlichen Verhaltens stehen. Jeder dieser Ausgangspunkte führt mehr oder minder zwangsläufig zu einer andersgearteten Definition von Philosophie. Jeder von ihnen läßt aber auch die Frage nach Rolle und Funktion der Philosophie in unterschiedlichem Licht erscheinen, oder anders formuliert: jeder von ihnen verweist auf andere Aufgabenstellungen der Philosophie. 2. Ordnet man die vorliegenden Philosophiedefmitionen nicht nach inhaltlichen, sondern nach methodologischen Gesichtspunkten, so läßt sich feststellen: Keiner der möglichen Ansätze reicht für sich allein genommen aus, die Frage: Was ist Philosophie? abschließend zu klären. Eben deshalb ist auch keiner von ihnen imstande, die Frage nach Rolle und Funktion der Philosophie erschöpfend zu beantworten. Die einzelnen Ansätze mögen in unterschiedlichem Maße geeignet sein, das Phänomen Philosophie zu erhellen, und auch jeweils andere Probleme oder Aporien mit sich bringen. Keiner von ihnen aber hat Anspruch auf Exklusivität. Die verschiedenen Definitionen von Philosophie stehen daher, sofern sie in unterschiedlichen methodischen Ansätzen wurzeln, nicht so sehr in einem Verhältnis der Konkurrenz als vielmehr der Komplementarität. Wer die Frage nach Rolle und Funktion der Philosophie zureichend beantworten will, muß folglich

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zuvor die Philosophie selber in ihrer ganzen Komplexität zu begreifen suchen. Die Verabsolutierung eines einzelnen Ansatzes dagegen führt nicht selten zu den ernstesten Mißverständnissen der Philosophie selbst und ihrer möglichen Funktionen. 3. Ein besonders aktuelles und anschauliches Beispiel für die skizzierten Zusammenhänge bietet die Definition der Philosophie als Begründungs- oder Begründungsverpflichtungswissen, die selbst wieder die unterschiedlichsten Gestalten annehmen kann. Sie trifft ohne Zweifel einen wesentlichen Zug der Philosophie. Sie ist aber, isoliert genommen, nicht imstande, die Frage: Was ist Philosophie? zureichend zu beantworten und das proprium der Philosophie herauszuarbeiten. Ihre Verabsolutierung fuhrt vielmehr zu schwerwiegenden Verzeichnungen der Philosophie, und zwar nicht nur ihrer Geschichte, sondern auch ihrer Rolle und Funktion in der Gegenwart. Mit diesen drei Thesen ist zugleich die Gliederung der folgenden Überlegungen in knappen Strichen vorgezeichnet. Sie werden zunächst in einem ersten, allgemeiner gehaltenen und stärker historisch orientierten Teil in aller Kürze den Versuch machen, die genannte Vielfalt der Philosophiedefinitionen anhand einer Reihe von Beispielen etwas genauer zu analysieren und auf eine mögliche methodologische Verschiedenheit im jeweiligen Ausgangspunkt zurückzuführen (These 1). Eine besondere Rolle wird dabei der Frage nach dem Verhältnis der einzelnen Definitionsversuche zueinander sowie nach ihrer jeweiligen Bedeutung für das Selbst- und Funktionsverständnis der Philosophie zukommen müssen (These 2). In einem zweiten, aktuelleren Teil soll dann an einem konkreten Beispiel, der Definition der Philosophie als Begründungswissen und deren möglichen Erscheinungsformen als Begründungszuversicht, Begründungsentschlossenheit und Begründungsverzweiflung, gezeigt werden, welche Probleme und Konsequenzen die stillschweigende Verabsolutierung eines einzelnen methodischen Ansatzes mit sich bringen kann (These 3). I. Was ist und will Philosophie? - sieben verschiedene Ansätze zur Beantwortung der Fragestellung l. Instrumentardefinitionen Ein erster möglicher Definitionsansatz geht von der Voraussetzung aus, daß sich für die Philosophie ähnlich wie für bestimmte Stände, Hand-

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werke und Einzelwissenschaften ein Werkzeug angeben lasse, das ihre Arbeitsweise in besonderem Maße charakterisiert und sie von allen anderen Disziplinen zur Genüge unterscheidet. Ähnlich wie der Bauer in seiner täglichen Arbeit durch die Sichel, der Schmied durch den Amboß oder der Schuhmacher durch den Leisten vorgestellt wird, wie man vielleicht den Chemiker durch das Reagenzglas oder die modernen Erziehungswissenschaften durch ihre aufwendigen Video-Anlagen charakterisieren könnte, so läßt sich, diesem Definitionsansatz zufolge, auch für die Philosophie ein bezeichnendes Arbeitsinstrument angeben. Die Philosophiegeschichte kennt eine ganze Reihe von Versuchen, was Philosophie ist, auf diesem Wege zu bestimmen. Sie sollen im folgenden alslnstrumentardefinitionenbezeichnet werden. An erster Stelle ist hier wohl Kants bewußt prosaische Bestimmung der Philosophie als „Vernunfterkenntnis aus Begriffen" bzw. „nach Begriffen" zu nennen 1 , die insbesondere bei den Frühkantianern in zahlreichen Variationen wiederkehrt.2 Sie geht von der Einsicht aus, daß das einzige Werkzeug, das die Philosophie von Hause aus mitbringt, der Begriff ist, so daß der Vorschlag, „poetisch zu philosophieren", dem Ratschlag an den Kaufmann gliche, „seine Handelsbücher künftig nicht in Prose sondern in Versen zu schreiben"3. Gelegentlich wird diese Instrumentardefinition der Philosophie auch durch ganz andersgeartete Definitionsformen, etwa durch eine Themendefinition, ergänzt. So heißt es z. B. bei Gottfried Immanuel Wenzel: Philosophie ist das „System von Vernunfterkenntnissen aus bloßen Begriffen, angewandt auf die letzten Zwecke der menschlichen Vernunft" 4 . Wo der Philosophie so etwas 1

IMMANUEL KANT, Kritik der reinen Vernunft, Riga 21787 ('1781), B 741 u. 760 (Immanuel Kant, Werke in sechs Bänden, hrsg. von WILHELM WEISCHEDEL, Darmstadt S 1975 ('1956-1964), Bd. II, S. 613 u. S. 626). Vgl. ebd. B 865 (a.a.O. Bd. II, S. 699) sowie Immanuel Kants Logik, ein Handbuch zu Vorlesungen, hrsg. von GOTTLOB BENJAMIN JÄSCHE, Königsberg 1800, A 23 (a.a.O. Bd. III, S. 446); ferner Kant's gesammelte Schriften, hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. XXIV: Vorlesungen über Logik, Berlin 1966, S. 697 u. 79T;Immanuel Kant, Vorlesungen, Abt. I: Vorlesungen über Enzyklopädie und Logik, Bd. I: Vorlesungen über Philosophische Enzyklopädie, (hrsg. von GERHARD LEHMANN], Berlin 1961, S. 32. 2 Vgl. z. B. JOHANN GOTTFRIED KARL CHRISTIAN KIESEWETTER, Grundriß einer allgemeinen Logik nach Kantischen Grundsätzen, Leipzig 4 1824 (4791) [Neudruck Brüssel 1973], S. 22 (ad § 8). 3 IMMANUEL KANT, Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie (1796), A 425 (a.a.O. Bd. III, S. 397). 4 GOTTFRIED IMMANUEL WENZEL, Vollständiger Lehrbegriff der gesammten Philosophie, dem Bedürfnisse der Zeit gemäß eingerichtet, Bd. I,

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wie eine allgemeine Kompetenz zugeschrieben wird, in die öffentliche Diskussion einzugreifen und zu den Fragen des Tages Stellung zu nehmen, liegt wohl in der Regel bewußt oder unbewußt eine solche Instrumentardefinition von Philosophie zugrunde. Schopenhauer hat diese Instrumentardefinition immer wieder aufs schärfste kritisiert: ,,Eine seltsame und unwürdige Definition der Philosophie, die aber sogar noch [!] Kant giebt, ist diese, daß sie eine Wissenschaft aus bloßen Begriffen wäre. Ist doch das ganze Eigenthum der Begriffe nichts Anderes, als was darin niedergelegt worden, nachdem man es der anschaulichen Erkenntniß abgeborgt und abgebettelt hatte". In Wahrheit müsse die Philosophie daher, „so gut wie Kunst und Poesie, ihre Quelle in der anschaulichen Auffassung der Welt haben"5. Aber Schopenhauers Kritik, so naheliegend und plausibel sie auf den ersten Blick auch sein mag, verkennt zweierlei. Sie verkennt erstens den spezifischen Instrumentarcharakter des Begriffs. Sie übersieht, daß Begriffe, wie immer man über ihr Zustandekommen denken mag, in eminentem Sinne Werkzeuge sind, Werkzeuge, mit denen der Mensch seine Welt errichtet, seine Eindrücke ordnet, seine Ängste begreift und seine Hoffnungen artikuliert. Und Schopenhauers Kritik verkennt zweitens, daß die Philosophie anders als die Einzelwissenschaften von Hause aus nur über dieses eine Werkzeug verfügt. Philosophie ist eine Sache des Begriffs par excellence. Eben deshalb kann diese Instrumentardefinition auch in der Tat eine wichtige Dienst- und Wächterfunktion der Philosophie sichtbar machen. Das Instrument des Begriffs nicht einfach nur zu gebrauchen* wie es in den Einzelwissenschaften oder im politischen Leben geschieht, sondern es ständig zu überprüfen, instandzuhalten und zu schärfen, zählt heute, im Zeitalter der Ideologien, vielleicht mehr denn je zu den elementaren Aufgaben der Philosophie. Dazu gehört nicht zuletzt Linz u. Leipzig 1803, S. 37. Vgl. ders., Elementa Philosophiae Methodo critica adornata, Bd. I, Linz 1806, S. 27: Philosophia est „systema cognitionum rationalium ex puris conceptibus, applicatum ad Ultimos humanae rationis fines". Ferner ders., Canonik des Verstandes und der Vernunft. Ein Commentar über Immanuel Kants Logik, Wien 1801, S. 79ff. Vgl. unten S. 323. 5 ARTHUR SCHOPENHAUER. Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften, Berlin 1851, Bd. II, S. 8 (§ 9) (Arthur Schopenhauers sämtliche Werke, hrsg. von FAUL DEUSSEN, Bd. V, München 1913, S. 13). Vgl. ders., Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. II, Leipzig 31859 (11844), S. 90 u. S. 199 (Arthur Schopenhauers sämtliche Werke, hrsg. von PAUL DEUSSEN, Bd. II, München 1924, S. 90 u. S. 199).

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auch die Warnung vor der Faszination, die vom Begriff wie von jedem Werkzeug ausgehen kann. Wer philosophiert, sollte wissen, wie gef hrlich das Werkzeug ist, das der Begriff dem Menschen in die Hand gibt, und wie leicht es zur Waffe umgeschmiedet werden kann. Da auch die Besch ftigung mit der Begriffsgeschichte, so gesehen, alles andere als eine blo akademische Angelegenheit ist, leuchtet an diesem Punkt der berlegung vielleicht ohne gro e Umschweife ein.

2. Typosdefinitionen Ein ganz andersgeartetes Verfahren, das Charakteristische und Unterscheidende der Philosophie herauszuarbeiten, besteht darin, zun chst einmal ganz allgemein im Ganzen der menschlichen Erkenntnis zwischen bestimmten Grundformen, Arten, Typen von Erkenntnis zu unterscheiden und dann in einem zweiten Schritt die Philosophie einer oder mehreren von ihnen zuzuordnen. Es soll hier der K rze halber als Typosdefinition oder genauer als Erkenntnistyposdefinition bezeichnet werden. Dieses Verfahren wird schon von Platon angewandt. So stellt er etwa im Gorgias, um das Unterscheidende (διαφέρων*) zwischen Philosophie und Rhetorik sichtbar zu machen, τέχνη, scientia, „Kunst"7, Fachwissen auf der einen und εμπειρία, peritia, Erfahrung, „Geschikklichkeit"8, Routine auf der anderen Seite einander gegen ber. W hrend die erstere auf Schritt und Tritt ber den Grund ihres Verhaltens Rechenschaft ablegen kann, erweist sich die letztere bei n herem Zusehen als ein „gedankenloses Verhalten" (άλογοι πράγμα), „derart da sie den Grund eines jeden Schrittes nicht anzugeben wei " (ώστε την αΐτίαν εκάστου μήέχαν eineiv9). Wichtiger und folgenreicher noch ist die sp tere Unterscheidung in Platons Symposion zwischen dem blo en Meinen oder „Vorstellen"10, der δόξα, einerseits, die, selbst wo sie die Sache richtig erfa t, ber ihre Auffassungen nicht „Rechenschaft abzulegen" (\oyov δούναι) 6

PLATON, Gorgias 500c (Platon, Oeuvres completes, Bd. HI/2: Gorgias Μέηοη, hrsg. und bersetzt von ALFRED CROISET, Paris 131972, S. 187). τ Platons Werke, bersetzt von FRIEDRICH SCHLEIERMACHER, Teil II, Bd.I, Berlin 3 ! 856, S. 85. 8 Ebd. 9 PLATON, Gorgias 465 a. Vgl. ebd. 500e ff. (a.a.O. S. 133 u. S. 188). 10 Vgl. Platons Werke, bersetzt von FRIEDRICH SCHLEIERMACHER, Teil II, Bd. II, Berlin 31857, S. 291 f.

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vermag - auch hier wieder spricht Platon von „gedankenlosem Verhalten" (άλογοι ... πράγμα) — und der „Einsicht", dem wirklichen Wissen, der επιστήμη (ein Wort, das man bei Platon brigens nicht unbesehen mit .Wissenschaft' bersetzen darf 11 ) andererseits.12 Diese zweite Unterscheidung zwischen δόξα und επιστήμη dient vor allem der Abgrenzung der Philosophie gegen das blo e Meinen des Alltags, gegen den .gemeinen Menschenverstand'. Philosophie wei nicht nur ber die Sache Bescheid, sie wei auch die richtige Begr ndung jenes Wissens zu geben (und sie wei um die Notwendigkeit solcher Begr ndungen). Aus diesem Blickwinkel betrachtet erscheint die Philosophie daher als επιστήμη, als wirkliches, als gesichertes Wissen, als .Wissenschaft', und die Suche nach einer „begrifflichen Unterscheidung von Philosophie und Wissenschaft"13 gliche in diesem Kontext in etwa der Frage nach dem Unterschied zwischen einem Bernhardiner und einem Hund. In ganz anderer Form tritt die Erkenntnistyposdefinition bei einem Autor der Neuzeit wie Christian Wolff auf. Gleich im ersten Kapitel seines „Discursus praeliminaris de philosophia in genere", das „De triplici cognitione humana, historica, philosophica et mathematica" berschrieben ist,14 grenzt er drei Grundformen der menschlichen Erkenntnis scharf gegeneinander ab: die historische Erkenntnis ist die „Cognitio eorum, quae sunt atque fiunt"15, die Tatsachenerkenntnis, die ιστορία, die philosophische die „Cognitio rationis eorum, quae sunt, vel fiunt"16, und die mathematische Erkenntnis schlie lich die 11

Vgl. z. B. PLATON, Gorgias 511 c: ή του ve > επιστήμη (a.a.O. S. 203). Laches 194e: τ-ην των δεινών και tfappoAetjf έπιστήμην (Platon, Oeuvres completes, Bd. II: Hippias ma/eur - Charmide - Laches - Lysis, hrsg. und bersetzt von ALFRED CROISET, Paris 41956, S. 113). 12 PLATON, Symposion 202aff. (Platon, Oeuvres completes, Bd. IV/2: Le Banquet, hrsg. und bersetzt von LEON ROBIN, Paris 91970, S. 52f.)13 J RGEN MITTELSTRASS, Das praktische Fundament der Wissenschaft und die Aufgabe der Philosophie (Konstanzer Universit tsreden, hrsg. von GERHARD HESS, 50), Konstanz 1972, S. 29. 14 CHRISTIAN WOLFF, Philosophia rationalis sive logica, methodo scientifica pertractata et ad usum scientiarum atque vitae aptata. Praemittitur discwsus praeliminaris de philosophia in genere, Frankfurt u. Leipzig 21732 (11728), S. 1. 15 Ebd. S. 2 (§ 3). 16 Ebd. S. 3 (§ 6). Zur historischen Herkunft dieses Sprachgebrauchs vgl. insbesondere JOHANNES ERICH HEYDE, Das Bedeutungsverh ltnis von φιλοσοφία und „Philosophie". In: Philosophia naturalis VII (1961), S. 144-155.

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„Cognitio quantitatis rerum" 17 . Die Philosophie selbst wird von Wolff nun aber keinesfalls, wie man zunächst vermuten möchte, nur einer dieser Erkenntnisformen, also nicht etwa allein der cognitio philosophica zugeordnet. Vielmehr fließen für ihn in der Philosophie alle drei Erkenntnisformen zusammen. So gibt ihr die historische Erkenntnis „sichere und unerschütterliche Grundsätze" an die Hand, „principia . . . firma atque immota"18, und bestätigt nachträglich die Ergebnisse ihrer Überlegungen, die mathematische Erkenntnis aber vervollständigt in wichtigen Bereichen ihre Evidenz. Was die Philosophie, aus diesem Blickwinkel betrachtet, anderen Disziplinen voraushat, ist nicht eine bestimmte Erkenntnisform, sondern die strenge Verbindung aller jener Erkenntnisschritte. Auch die Erkenn tnistyposdefmition, wie immer sie nun im einzelnen auch vorgehen mag, macht ein Charakteristikum der Philosophie sichtbar. Philosophie steht und fällt mit der Bereitschaft, auf Schritt und Tritt „Rechenschaft zu geben" und keine Annahme, keine Überzeugung, keine Aussage, so selbstverständlich sie auch aussehen mag, ungeprüft stehen zu lassen. Ihre Haltung ist, wie Wolffes formuliert hat, der „habitus asserta demonstrandi" 19 , der Wille, seine Aussagen auch zu beweisen. Daß ihr aufgrund jener Haltung im Ganzen der Wissenschaften, aber wohl auch im öffentlichen Leben so etwas wie eine Vorbildfunktion zuwachsen könnte, die Aufgabe, vor bloßen Meinungen und halben Begründungen zu warnen und selber „strenger" mit ihrem „Wortgebrauch" und ihren „Gründen" ins Gericht zu gehen, „als dies in den Einzelwissenschaften der Fall ist"20, ist wohl zumindest ein naheliegender Gedanke. Aber das Verhältnis der Philosophie zu den Wissenschaften ist an dieser Stelle bei genauerer Prüfung durchaus ambivalent. Schon in Platons Gorgias kehrt es sich ja geradezu um: nicht die Philosophie ist hier das Vorbild der anderen ,Wissenschaften' ( ), sondern diese, vor allem die Medizin, die ' , sind das Vorbild, an dem sich die Philosophie bei ihrer eigenen Arbeit orientiert (ein Gedanke, der bei Platon auch an anderer Stelle wieder-

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A.a.O. S. 6(§ 14). Ebd. S. 15 (§35). 19 Ebd. S. 14 (§30). 20 FRIEDRICH KAMBARTEL, Was ist und soll Philosophie? (Konstanzer Universitätsreden, hrsg. von GERHARD HESS, 5), Konstanz 21974 (^968), S. 17. 18

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kehrt 21 und in der Konzeption der Philosophie als ,medicina mentis' bis ins 18. Jahrhundert weiterlebt). Die Ausrichtung der neuzeitlichen Philosophie an der Strenge der Mathematik 22 macht die gleiche Problematik sichtbar. Schon ein Blick auf ihre historische Herkunft l t daher vermuten, da die Typosdefmition, so wichtig sie f r das Selbstverst ndnis der Philosophie auch sein mag, nicht sonderlich geeignet ist, gerade deren Verh ltnis zu den Wissenschaften hinreichend zu kl ren.

3. Themendefinitionen Die Typosdefinition l t dar ber hinaus aber auch die Frage offen, wor ber, oder wor ber vor allem, die Philosophie gesichertes Wissen sucht. In der Sprache der traditionellen Logik formuliert: Definitionsversuche dieser Art sind unvollst ndig. Sie nennen nur das genus — das die Philosophie prinzipiell mit allen Wissenschaften gemein hat -, nicht aber ihre differentia specifica. Ein klassischer Versuch nun, jene zweite Frage zu beantworten, ist die Themen- oder genauer Sachthemendefinition der Philosophie. Auch dieser Definitionsansatz l t sich bis zu Platon zur ckverfolgen. Wie jede τέχνη und επιστήμη, so hat auch die Philosophie ihr eigenes epyov, ihr spezifisches Arbeitsfeld. Eine der in den Horoi berlieferten Philosophiedefinitionen der Platonischen Akademie, in der sich Typos-, Themen- und Potentialdefinition aufs engste miteinander verbinden, bestimmt es als das Immerseiende: Φιλοσοφίατης των όντων dei επιστήμης φβξις.23 „Philosophie ist Suche nach gesichertem Wissen ber das Immerseiende." Die Zahl der Sachthemendefinitionen,die sich bei den verschiedenen philosophischen Autoren finden, ist nun freilich Legion. Die Problemund Interessenverschiebungen, die f r die Philosophiegeschichte kennzeichnend sind, spiegeln sich vielleicht nirgends deutlicher als in eben jener Gruppe von Defmitionsversuchen. Sie k nnen und sollen an dieser 21

Vgl. z. B. PLATON, Protagoras 313e (Platon, Oeuvres completes, Bd. HI/1: Protagoras, hrsg. und bersetzt von ALFRED CROISET, Paris 81967, S. 26). 22 Vgl. NORBERT HINSKE, Das Thema der Philosophie, Zur Lage der Philosophie in der Gegenwart (Trierer Universit tsreden, hrsg. von ARND MORKEL, Bd. I), Trier 1975, S. 28ff. 23 Horoi 414b (Platon, Oeuvres completes, Bd. XIII/3: Du juste - De la vertu - Demodocos - Sisyphe - Eryxias - Axiochos - Definitions, hrsg. und bersetzt von JOSEPH SOUILHE, Paris 21962, S. 168).

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Stelle nicht analysiert werden. Statt dessen seien hier nur einige charakteristische Definitionsversuche dieser Art genannt, nicht zuletzt auch in der Absicht, damit an Themenstellungen zu erinnern, die die Philosophie gegenwärtig vielleicht aus dem Blick zu verlieren droht. Die ganzen Schwierigkeiten, die mit der Frage nach einem genuinen Sachthema der Philosophie verknüpft sind, lassen sich an Wolffs Philosophiedefinition ablesen. Die Philosophie gerät offenbar in Verlegenheit, wenn sie ihr eigenes Thema angeben soll. Sie läßt sich nicht einfach auf ein bestimmtes Arbeitsfeld festlegen, sondern fragt, salopp formuliert, nach allem Möglichen. Präzis das bringt Wolffs Philosophiedefinition auf den Begriff. Sie lautet: „Philosophia est scientia possibilium, quatenus esse possunt"24. , Philosophie, Welt-Weisheit, ist eine Wissenschafft aller möglichen Dinge, wie und warum sie möglich sind."25 Die Gründe, die ihn zu dieser Definition veranlaßt haben, hat Wolff bereits zwanzig Jahre vor dem „Discursus" in seinen Aerometriae Elementa von 1709 kurz skizziert. Sie liegen in der Absicht, den „Inbegriff aller Wahrheiten zu bezeichnen . . ., die in einer Mehrzahl von Disziplinen vorgetragen werden", und so einen „allgemeinen Begriff der Wissenschaften, das ist eben der Philosophie, zu bilden": „Suppono enim, vocem Philosophiae ex omnium intentione complexum omnium veritatum designare debere, quae in pluribus disciplinis proponi sueverunt." „Mecum adeogeneralemscientiarum, hoc est Philosophiae, notionem formaturus, Philosophiam optime definies per rerum omnium possibilium, qua talium, scientiam."26 Das genuine Thema der Philosophie als solcher ist demgemäß, und zwar, wie Wolff meint, ,,nach allgemeiner Überzeugung", „ex intentione omnium", im Unterschied zu den einzelnen Wissenschaften nicht ein bestimmtes Arbeitsfeld, sondern das Ganze schlechthin. Das aber bedeutet zugleich: Was die Philosophie von den einzelnen Wissenschaften unter24

A.a.O. S. 13(§ 29). HEINRICH ADAM MEISSNER, Philosophisches Lexicon, Darinnen Die Erklärungen und Beschreibungen aus des salu.[o] f/7.|ulo] tot.|o) Hochberühmten Welt-Weisen, Herrn Christian Wolffens, sämmtlichen teutschen Schrifften seines Philosophischen Systematis sorgfältig zusammen getragen, Bayreuth u. Hof 1737 [neu hrsg. von LUTZ GELDSETZER, Düsseldorf 1970], S. 438. 26 CHRISTIAN WOLFF, Aerometriae elementa, in quibus aliquot Aeris vires ac proprietatesfuxta methodum Geometrarum demonstrantur, Leipzig 1709, Praefatio S. 4f. (unpag.).

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scheidet, ist zuerst und zunächst nicht etwa die charakteristische Form ihrer Erkenntnisarbeit, sondern die Universalität ihrer Fragestellung. Dennoch kann sich die Philosophie bei ihrer konkreten Arbeit einer inhaltlichen Festlegung oder zumindest Akzentsetzung kaum entziehen. Die Mehrzahl der Themendefinitionen, die die Philosophiegeschichte überliefert, ist daher auch durchaus inhaltlich bestimmt und spiegelt zu einem guten Teil die spezifischen Fragestellungen und Interessenrichtungen ihres eigenen Zeitalters. Eine für die deutsche Aufklärung typische Themendefinition z. B., die bereits im unmittelbaren Wirkungskreis der Wölfischen Philosophie formuliert wird, findet sich in der Vernunftlehre von Hermann Samuel Reimarus. Er definiert die „Weltweisheit im Ganzen . . . als eine Wissenschaft aller beträchtlichen und sittlichen Hauptwahrheiten, die in der Menschen Glückseligkeit einschlagen"27. Kants immer wieder zitierte Definition der Philosophie als „teleologia rationis humanae", als „Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft" 28 , liegt bei allen Unterschieden im einzelnen durchaus auf der gleichen Linie. 4. Programmdefinitionen Daß jede dieser Themendefinitionen ihre eigene Funktionsbestimmung der Philosophie nach sich zieht (oder von ihr geleitet wird), liegt auf der Hand. „Die philosophic ist die Gesetzgebung der Vernunft" 29 , „Die philosophie der Weg zur Weisheit"30, heißt es z. B. in Kants handschriftlichem Nachlaß in unmittelbarem Zusammenhang mit der zuletzt genannten Definition. Viele Abhandlungen über das Wesen der Philosophie sind daher in Wahrheit zu einem guten oder schlechten Teil auch so etwas wie Programmschriften. Diese Funktions- oder Aufgabenbestimmungen können nun aber auch umgekehrt dazu dienen, 27

HERMANN SAMUEL REIMARUS, Die Vernunftlehre, als eine Anweisung zum richtigen Gebrauche der Vernunft in dem Erkenntniß der Wahrheit, aus zwoen ganz natürlichen Regeln der Einstimmung und des Widerspruchs hergeleitet, hrsg. von JOHANN ALBERT HINRICH REIMARUS, Hamburg u. Kiel 41782 (1 56), S. 19 (§ XII). 28 IMMANUEL KANT, Kritik der reinen Vernunft, B 867 (a.a.O. Bd. II, S. 700). Vgl. Kant's gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. XVI: Logik, Berlin u. Leipzig 2 1924, S. 66ff., insbesondere die Reflexionen 1652,1656,1663 und 1668. 29 ReH. 1663 (a.a.O. Bd. XVI, S. 69). 30 Refl. 1667 (ebd. S. 70).

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die Philosophie selbst zu definieren. Definitionen der letzten Art sollen im folgenden als Programmdefinitionen bezeichnet werden. Sie beantworten die Frage: Was ist Philosophie? im Ausgang von dem Programm, das sie sich setzt, ja sie begreifen die Philosophie selbst weitgehend als eben dies Programm. Bei dem Verh ltnis von Selbst- und Funktionsverst ndnis der Philosophie handelt es sich also keinesfalls um ein einseitiges Grund-Folge-Verh ltnis, sondern vielmehr um einen h chst komplizierten wechselseitigen Zusammenhang. Auch an diesem Punkt der berlegung ist Platon vielleicht das aufschlu reichste Beispiel. Seine Dialoge enthalten eine ganze Reihe von klassischen Programmdefinitionen, deren bersetzung und Aneignung freilich nicht erst f r den heutigen Leser mit zahlreichen Schwierigkeiten verkn pft ist. So bestimmt z. B. das siebente Buch derPoliteia die Philosophie als τέχνη . . . της περίαγωγής31, als eine „Kunst der Umlenkung"32, oder freier formuliert: als das Wissen und Verm gen, den Blick des ganzen Menschen Schritt f r Schritt von T uschungen freizumachen, ihn aus dem Wechselspiel seiner Illusionen herauszuholen und f r das wirklich Wirkliche zu interessieren, oder, mit einer anderen Wendung Platons, als ψυχής περίαγωγή εκ νυκτερινής τίνος ημέρας εις άληϋινήν, του Οντάς ουσαν επάνοδο^33, als die „Umwendung der Seele aus einer Art n chtlichem Tag zum wahren Tageslicht, als Aufstieg zu dem wirklich Wirklichen". Im Phaidon gebraucht Platon f r diese „Kunst der Umlenkung" den noch befremdlicheren Begriff des μελετάν άποΰνήσκειν, des Sterben bens — oi όρ#ώς φιλοσοφοϋντες άποΰνήσκειν μελετώσιν3*, „wer wirklich philosophiert, bt das Sterben" —35, im Theaitet gewisserma en als die Kehrseite dazu den der όμοίωσις #ec 36 , der „Ver hnlichung mit Gott"37. Die dritte Philo31

PLATON, Politeia, Buch VII 518d (Platon, Oeuvres completes, Bd. VII/1: La republique, livres IV- VII, hrsg. und bersetzt von EMILE CHAMBRY, Paris 71967, S. 151). 32 Platons Werke, bersetzt von FRIEDRICH SCHLEIERMACHER, Te III, Bd. I.Berlin 2 ! 862, S. 235. 33 PLATON, Politeia, Buch VII 521 c (a.a.O. S. 155). 34 PLATON, Phaidon 67e (Platon. Oeuvres completes, Bd. IV/1: Phedon, hrsg. und bersetzt von LEON ROBIN, Paris U1970, S. 17). 35 Als sarkastische zeitgen ssische Kritik vgl. z. B. das dreiundzwanzigste Epigramm des KALLIMACHOS (Callimaque, hrsg. und bersetzt von EMILE CAHEN,Paris 4 1953, S. 123). 36 PLATON, Theaitet 176b (Platon, Oeuvres completes, Bd. VIII/2: Theetete, hrsg. und bersetzt von AUGUSTE DIES, Paris 61967, S. 208). 37 Platons Werke, bersetzt von FRIEDRICH SCHLEIERMACHER, Teil II, Bd. I, a.a.O. S. 174.

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sophiedefinition der Horoi, in der die Philosophie als επιμέλεια ψυχής39, als „Seelsorge", bestimmt wird, zielt, wenn auch etwas zur ckhaltender, in die gleiche Richtung. Hinter allen diesen Programmdefinitionen steht die Frage nach der richtigen Lebensf hrung, die bei Platon immer wieder aufbrechende Frage, οντινα χρή τρόπον ffj^ 39 , „wie soll man denn leben?" Sp testens seit Platon geh rt diese Frage, und zwar auch da, wo man seine Antworten nicht zu teilen vermag, zu den ernstesten Funktionsbestimmungen der Philosophie. Spitzt man die Grundfrage der Platonischen Philosophie auf solche Weise zu, so wird aber auch sichtbar, da diese Art von Programmdefinition der Philosophie, historisch wie sachlich gesehen, nur eine m gliche neben anderen ist. 5. Potentialdefinitionen Vor allem die Sachthemen- wie die Programm definition der Philosophie zieht nun aber unversehens auch noch eine ganz anders geartete Fragestellung nach sich, n mlich die selbstkritische Frage, wie weit denn die M glichkeiten der Philosophie reichen, den genannten Aufgaben auch tats chlich gerecht zu werden. Auch diese Fragestellung kann zum Ausgangspunkt einer eigenen Philosophiedefinition dienen. Definitionen dieser Art, die von der Leistungsf higkeit bzw. den Grenzen der Philosophie ausgehen, sollen im Rahmen der vorliegenden berlegungen als Potentialdefinitionen bezeichnet werden. Die sogenannte Nominaldefinition der Philosophie als Philosophie im w rtlichen Sinne, d. h. als Liebe zum Wissen, hat eben hier ihren Ursprung. „Von den G ttern philosophiert niemand bzw. strebt niemand danach, wissend zu wer den. Er ist es ja. Und auch wer sonst noch wissend w re, philosophiert nicht [strebt nicht nach Wissen]", hei t es in Platons Symposion: &€ών ούδ €ΐς φιλοσοφεί ούδ' επιθυμεί σοφός yeveodai (eon yap), ούδ' ei τις άλλος σοφός, ου φ