Wozu noch Universitäten?: Ein Essay 9783787321421, 378732142X

Das Ziel dieses streitbaren Essays ist hoch gesteckt: Es geht um die Verteidigung der Idee und der Institution Universit

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German Pages 248 [252] Year 2011

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Wozu noch Universitäten?: Ein Essay
 9783787321421, 378732142X

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Reinhard Brandt

Wozu noch Universitäten? Ein Essay

Meiner

Der Philipps-Universität Marburg gewidmet

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://dnb.d-nb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-2142-1

© Felix Meiner Verlag Hamburg 2011. Alle Rechte vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Umschlaggestaltung: Jens-Sören Mann. Satz: Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSINorm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100% chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. www.meiner.de

Inhalt

Einleitung ........................................................................................... I.

7

Erkenntnis ohne Universitäten in der Antike und im frühen Mittelalter ....................................................................

19

II. Die Vier-Fakultäten-Universität von ca. 1200 bis ca. 1800 ........................................................... 29 1. Entstehung und Form der Universität .................................... 2. Worauf beruht die Struktur der Universität? ........................ 3. Stagnierende und lebendige Scholastik; außeruniversitäre Erkenntnis ................................................................................... 4. Inhalt und Methode ................................................................... 5. Kants kritische Philosophie und der Streit der Fakultäten (1798) ........................................................................ 6. Die Öffentlichkeit .......................................................................

29 36 49 58

III. Die deutsche Universität von 1810 bis 1968 .....................

73

1. Das neue Selbstbewußtsein ...................................................... Wissen, Erkennen und Forschen ............................................. 3. Verstehen und Erkennen ........................................................... 4. Geistes- bzw. Kulturwissenschaften versus Natur- bzw. exakte Wissenschaften .............................................................. 5. Zur Entstehung der Natur- und Geisteswissenschaften ...... 6. Platon und Aristoteles: Geisteswissenschaften versus Mathematik ................................................................................. 7. Geisteswissenschaften mit Newton; Überbau und Unterbau ......................................................................................... 8. Wissenschaftsgeschichte ........................................................... 9. Protektion, Gehorsam, Freiheit ............................................... 10. Bildung ........................................................................................ 11. Lust und Freiheit ........................................................................ 12. Staatsexamen für Gymnasiallehrer ......................................... 13. Titel ..............................................................................................

73 81 87

63 69

90 94 99 103 108 110 113 117 118 120

| 5

IV. Die Produktion von Wissen und die Herrschaft der Verwaltung .................................................... 127 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11.

1968 .............................................................................................. Bologna: Wirklichkeit und Versagen ...................................... Zerstörung der Universitäten? ................................................. Lob und Kritik der Drittmittel ................................................ Die Vorgabe von Wissen ........................................................... »Step into future now!« Das Machen der Zukunft gegen die Macht der Vergangenheit ................................................... Exzellenz-Zentren ...................................................................... A propos Eliten ........................................................................... Und Bildung ............................................................................... Corporate Identity ..................................................................... Das größte Problem ...................................................................

V. 1. 2. 3.

Wozu noch Universitäten? Und welche? ........................... Die Rechtfertigung von Erkenntnis ........................................ Rücknahme der Bologna-Ausführungen? .............................. Die Ersetzbarkeit der Universität durch private Ausbildungsstätten .................................................................... 4. Die Ersetzbarkeit der Ortsuniversität durch Fernstudium ............................................................................... 5. Gründe für den Erhalt der Universitäten ............................... 6. Das Interesse und das Recht der Bürger an Universitäten mit freier Forschung und Lehre ...............................................

127 131 138 142 144 149 153 154 156 160 162 167 167 172 181 186 190 198

Anhang I Zum Arbeitsdienst im Studium ...................................................... 1933–1945 ............................................................................................ DDR ..................................................................................................... BRD (Hessen), ab 2006 .....................................................................

211 211 212 214

Anhang II Biochemie und Bologna ................................................................... 220 Anmerkungen .................................................................................... 223 Literatur .............................................................................................. 235 Personenregister ................................................................................ 245

6 | inhalt

Einleitung

Universitäten sind Institutionen, die in ihrem Kern der Erkenntnis und Lehre gewidmet sind. Sie dienen traditionell auch anderen Zwecken wie der Wissensvermittlung, der Ausbildung für praktische Berufszwecke, der Forschung mit externer Zwecksetzung; umgekehrt werden Erkenntnis und Lehre durch einzelne Individuen oder in organisierter Form seit der Antike auch ohne Universitäten praktiziert. Die Universitäten haben also kein Monopol; heute entwickeln sich wesentliche Teile der Erkenntnis in Bereichen, die den Universitäten aus finanziellen Gründen nicht mehr zugänglich sind, man denke an globale Zentren wie das CERN bei Genf und verwandte hochdotierte Spitzeninstitute und Raumstationen. Am 30. März 2010 simulierten Physiker aus aller Welt den Urknall im CERN beim größten zivilen Experiment aller Zeiten. Einer der anwesenden Wissenschaft ler erklärte: »Jetzt beginnt die Physik!« An diesem Beginn nahmen die Universitäten nur noch peripher und nicht mehr federführend teil. In der Antike wurde geforscht und gelehrt, ohne daß es Universitäten gab. Sie wurden in der Hochscholastik gegründet und fanden meistens die Form einer Institution mit vier Fakultäten: Theologie, Medizin, Jurisprudenz und Philosophie. Diese Struktur und Aufgabenteilung verlor sich de facto im 19. Jahrhundert zugunsten einer Zweiteilung von Geistes- oder Kulturwissenschaften einerseits und Naturwissenschaften und Medizin andererseits, die sich in seriell angeordneten Fächern gliederten. Die heutigen Universitäten folgen diesem Muster, wenn die Fächerstruktur auch auf keine exakten Trennungen zielt, sondern wechselnde Föderationen ermöglicht. Es gehört zu den Fortschritten der universitären Wissenschaften, dass sie sich neu verbünden und trennen, je nach Ursprung und anstehenden Aufgaben. Die Problemzone liegt damit in der wissenschaft lichen Grundausbildung, die in einzelnen stabilen Fächern von Beginn an erfolgen muß. | 7

Hochschulen sind entweder Fachhochschulen oder Universitäten, für beide Zweige ist zuständig die Hochschulrektorenkonferenz. Die Fachhochschulen verstanden und verstehen sich primär als Orte der praktischen, berufsbezogenen Ausbildung, die Universitäten waren dagegen stärker Orte der Erkenntnis oder Wissenschaft. Aber die Fachhochschulen sind auf Theorie angewiesen, und umgekehrt ist die Theorie mit der Praxis verflochten, so daß es zunehmend schwer fällt, eine harte Zäsur zwischen beiden Richtungen zu ziehen. Die Universitäten werden durch den sog. Bologna-Prozeß und dessen deutsche eigenwillige Formierung eines Bachelor- und Master-Studiengangs besonders im ersteren zu Fachhochschulen umgewandelt, ohne dass dies klar als Ziel deklariert wird. Damit verliert die Universität im Eingangsbereich ihr Kennzeichen, eine Institution der Erkenntnis und des freien Studiums bestimmter Wissenschaften als solcher zu sein. Zugleich gibt es einen inflationären Gebrauch des Titels der Universität innerhalb und außerhalb des Hochschulbereichs. Kein Papst und kein Kaiser erheben noch ihren Einspruch, wenn eine Ausbildungsstätte für Gärtner und Friseure sich »University« oder »Universität« nennen. Die Universität sollte ein Ort akademischer Erkenntnis sein. Sie war dies nie ausschließlich, sondern widmete sich seit Beginn auch der Ausbildung für die Praxis, besonders der Theologen, Mediziner und Juristen. Und umgekehrt wurde Erkenntnis, wie wir sahen, auch in der Antike ohne Universitäten kultiviert, und später gab und gibt es in vielen privaten und öffentlichen Institutionen mit vielfachen Interessen eine Kultur der Erkenntnis und eine ihr gewidmete Lehre und Forschung mit entsprechenden Publikationsorganen. Welche spezielle Funktionen haben in dieser unübersichtlichen Erzeugung und Vermittlung von Wissen und Erkenntnis die überkommenen Universitäten, auf deren Nennung die Städte auf ihren Ortsschildern und Bahnhöfen Wert legen und damit ihr Ansehen steigern möchten? Der vorliegende Essay will die Schnittfläche der existierenden Universitäten und der wissenschaft lichen Erkenntnis ausmachen und versuchen, beides in ihrer Funktion für die moderne Zivilgesellschaft heraus zu präparieren. Einige Andeutungen vorweg. Erkenntnis unterscheidet sich vom Wissen. Im Gegensatz zum 8 | einleitung

Wissen dringt Erkenntnis auf die Begründung einer Behauptung und wehrt sich mit einem »weil« oder »denn« gegen eine mögliche Widerlegung. Der Erkennende stellt sich unter eine sittliche Norm; er ist zur Rechenschaft verpflichtet gegenüber den anderen Personen, die eine Begründung der Behauptungen verlangen können. Erkenntnis entspringt der Auseinandersetzung und stellt sich der Kritik. Das Wissen dagegen wird im Alltag oder in besonderen Institutionen erworben und kann weitergegeben oder angewendet werden. Es bedarf keiner Begründung, sondern bewährt sich. Wissen kann akkumuliert und notfalls quantifi ziert und vermessen werden, Erkenntnis dagegen beruht auf einer eigenen Tätigkeit und ist gegen jede Vermessung immun. Wissensmanagement ja, Erkenntnis stemmt sich dagegen. »Ich denke, also bin ich« ist falsch formuliert, denn hier ist nichts zu erkennen, und damit ist das »also« falsch platziert; ich weiß ohne jeden möglichen Zweifel, daß ich bin, wenn ich denke. Aber das ist eine Ausnahme; im übrigen kann ich vieles wissen, was meine Erkenntnisfähigkeit überschreitet; wir sind umflutet von Wissen in unserer Wissensgesellschaft, und sogar für Tiere gilt: Um in ihrer Risikowelt überleben zu können, müssen sie Tausenderlei wissen; ohne ihr Wissen sind sie mit dem nächsten Atemzug tot. Erkenntnis ist den Tieren nicht zugänglich, weil sie über keine Sprache verfügen und nichts begründen können. Wagner im Faust weiß viel und möchte alles wissen; Faust selbst dringt dagegen nicht auf das bloße angehäufte, abrufbare Wissen, sondern auf Erkenntnis. Schon die Vorsokratiker wurden nervös, wenn beides nicht voneinander getrennt wurde. »Vielwisserei lehrt nicht Verstand haben.«1 »Viel Denken, nicht viel Wissen soll man pflegen.«2 Wissen kann passiv absorbiert werden, die Didaktik erleichtert den Wissenszufluß im Bachelorstudium. Erkenntnis ist dagegen eine eigene Tätigkeit. Daher kann man das Wissen quantitativ verwalten, es gibt ein raffi niertes Wissensmanagement, und Pädagogen lehren, wie man es geschickt dosiert und in die Ohren der Hörer im Hörsaal einträufelt und im bildgebenden Verfahren noch rascher in die Gehirne von allen eingibt. Das so vermittelte und für Prüfungen registrierte Wissen dringt auf Anwendung, um nicht nutzlos und kostspielig gelagert zu werden. Die Erkenntnis stellt dagegen Behauptungen über etwas auf und sucht sie zu beeinleitung | 9

gründen, sie ist damit eine Tätigkeit und dadurch immer schon ihre eigene Praxis, die sich nicht durch externe Praxis und Profit rechtfertigen muß. Die folgenden Ausführungen sind ein Plädoyer dafür, die Universität als ausgezeichneten Ort der Erkenntnis stark zu machen. Die Zivilgesellschaft hat, so versuchen wir am Schluß zu zeigen, ein vitales Interesse und ein Recht auf Universitäten als Orten einer durch keine andere Praxis gelenkten eigenständigen kritischen Erkenntnis, und ein Recht darauf, über die Ergebnisse der Erkenntnis informiert zu werden. Eine der vielen Klagen über den Abbau der Universitäten: »Die deutsche Universität hat […] ohne Not eine geschichtlich überragende und kulturell einmalige Position preisgegeben, als sie die Humboldtsche Idee der lebensverbindlichen und kunstgerechten Allgemeinbildung als Ballast über Bord warf, statt sie als einzigartige Triebkraft eines qualitativen Wachstums zu erkennen und zu fördern.«3 Hat die Universität die Position preisgegeben? Oder war es eine extern steuernde und gesteuerte Bürokratie? Gibt es Personen, die man noch inhaft ieren könnte wie bei den Vorständen von Banken? Unter dem Vorwand einer Europäisierung der deutschen Universitäten zerstörte die Bürokratie nach den Bologna-Beschlüssen in Wirklichkeit weitere Grundlagen der universitären Bildung. Europa soll der abgesteckte Hochschulraum sein – aber warum in aller Welt nur Europa? Warum nicht die norddeutsche Tiefebene? Wissenschaft liche Erkenntnis ist planetarisch, und die akademischen Migrationen ebenfalls, sie beschränken sich nicht auf den Platzwechsel innerhalb Europas, denn die Japanologen gehen vorwiegend nach Japan und die meisten Jugendlichen nach wie vor in die USA, viele nach Australien und Südamerika, nur gebürtige Bulgaren zieht es nach Bulgarien und Fennugrier nach Finnland. Europa ist also ein zu enger, nur politisch ausgedachter Rahmen; das Etikett, dem jedermann Reverenz erweist, sollte eine mediokre Unternehmung gegen Kritik immunisieren. Umgekehrt ist Europa zu weit, denn das Jurastudium ist nach wie vor an die nationale Rechtstradition gebunden und läßt sich nicht durch zentrale Beschlüsse europäisieren. Das Europarecht ist eine Spezialrichtung, die erst nach dem erfolgreichen Jurastudium in den Landesgrenzen eingeschlagen werden kann. Die Hydra der Bürokratie stellt 10 | einleitung

diese unleugbaren Gegebenheiten jedoch nicht in ihre politische Rechnung; statt der eigenen Logik der Universität zu folgen, unterwarf sie sich politisch-ökonomischen Zielsetzungen und suchte das universitäre Wissen in Euro-Einheiten zu verrechnen. Der einzig wirklich unleugbare Erfolg ist das Wachstum der Bürokratie, die über neue, sich ungehemmt klonende Pfründen verfügt. Zweitens: Die Bologna-Beschlüsse ordnen verbindlich das Studium. Aber mit welchem Recht wird die Fächerhoheit zerstört und die Organisation des Studiums einer externen Bürokratie übergeben? Die Fächer selbst bestimmen als autonome Wissenschaften den Aufbau ihres Studiums, dafür gibt es eine gut begründete und vielfach in andern Ländern imitierte deutsche Tradition. Welche interne Fachlogik soll jetzt noch in der Medizin und Jurisprudenz zur Zweiteilung des Studiums in einen Bachelor- und Masterteil führen? Es ist tausendfach darauf verwiesen worden: In beiden Bereichen qualifi ziert der Bachelor zu keiner medizinischen oder juristischen Praxis. Würde sich diese Alltagseinsicht durchsetzen, könnte die Bürokratie ihre Macht nicht erweitern; sie müßte den akademischen Traditionen weichen, statt sie mit Profit zu zerstören. Und: Welches Parlament hat diese Einengung auf das universitäre Phantom Europa und die Zurichtung des Studiums nach den Ansichten der Bürokratie je beschlossen? Gelten die Spielregeln der Demokratie nicht für die Universitäten? Einer der Effekte der Bolognamaßnahmen ist die Provinzialisierung. Niemand wird heute, 2010, noch Schülern aus den USA, Argentinien oder Australien, die ihr Studium der Physik, Archäologie oder Mathematik beginnen möchten, empfehlen, an eine deutsche Universität zu gehen, so wenig, wie jemandem vor 1990 einfiel, das Studium doch in der DDR und vor 1945 das Studium doch in Deutschland zu beginnen. Genau das ist der entscheidende Punkt. So verbirgt das ausgehängte Schild »Europa« die Unkenntnis der inneren Logik der Wissenschaft und ihrer unterschiedlichen Zweige. Die Manager des Wissens wissen nicht, was Erkenntnis ist. Die Universitäten sind wesentlich Institutionen der Erkenntnis und nicht des gehorteten und nach Planzahlen abrufbaren Wissens. Aber der Kosmopolitismus der Erkenntnis ist eine Sache der freien akademischen Welt und nicht der Verwaltung und ihrer einleitung | 11

MinisterInnen. Die ersten Kosmopoliten waren antike Philosophen, keine Leute lokaler deutscher oder auch europäischer Verwaltung mit Verfügungen und Meßlatten im Kopf. Die Vorstellung einer nicht instrumentalisierten, sondern freien selbstbestimmten Erkenntnis in der eigenen Regie der Wissenschaft ler ist die griechische Komponente der Universitätstradition, die wiederum zwei Brennpunkte enthält: die des einzelnen, auch einsamen Individuums, das die Tätigkeit der Erkenntnis zeitweilig oder auf Dauer wählt, und die der dialogischen Vermittlung der Erkenntnis in Lehre und Forschung. Die platonische Akademie ist eine Vorform der mittelalterlichen und neuzeitlichen Institution der Universität, die im Lauf ihrer Geschichte einen Freiraum für die Realisierung der dem Menschen generell möglichen und notwendigen Erkenntnistätigkeit schafft. Diesem Freiraum gilt unser zentrales Interesse; er ist ein Freiraum für die mühevolle Praxis der Erkenntnis, nicht für das Nichtstun in Mallorca, wie der Funktionär sich vorstellt. Die Erkenntnis findet ihre Vorgaben in der Geschichte und im internationalen Stand der Forschung. Sie ist modern, weil eine ihrer weiteren Grundlagen das kritische freie Individuum ist, das erst in der Aufk lärung als Rechtssubjekt konzipiert und als Leitfigur in die Forschung und Lehre und ihre Öffentlichkeit integriert wurde. War die Freiheit bis in das 18. Jahrhundert als »libertas philosophandi« ständisch defi niert, wird sie im 19. Jahrhundert zum Teilbereich der allgemeinen bürgerlichen Freiheit. Die moderne Universität als zwangsfreie Stätte des Lehrens und Lernens auf den verschiedenen Gebieten akademischer Erkenntnis ist keine Idee, zu der man aufblickt, sondern eine integrierte notwendige Funktion der bürgerlichen Gesellschaft. Diese bedarf der professionellen Reflexion, der Erzeugung und Weitergabe der kritischen Erkenntnis und Sichtung dessen, was als Wissen die Wissensgesellschaft durchströmt, gefährdet und formt. Der aufk lärerische Impuls besagt, dass die Gesellschaft das Interesse und das Recht hat, vor Manipulationen durch eine kritische Instanz geschützt zu werden. Die Universität ist das Forum dieser Erkenntnis auf allen Gebieten, die der wissenschaft lichen Durchdringung zugänglich sind. Wir orientieren uns an keiner zeitlosen Idee der Universität, an keinem Begriff ihres Wesens, sondern verfolgen als Nomina12 | einleitung

listen das historische Phänomen mit seinen wechselnden Eigenschaften. Es wird pauschal das Wort »Universität« benutzt für die Institution, deren Karriere um 1200 in Bologna und Paris begann.4 »Schola« und später »Hochschule« war einerseits ein Oberbegriff für Universitäten und Hochschulen, letztere sind oder waren im deutschen Sprachraum zugleich Fachhochschulen und nicht Universitäten. Die Bologna-Beschlüsse heben den Unterschied auf und sprechen in der Sache pauschal von Hochschulen. In anderen Ländern gibt es Hohe Schulen, z. B. Exzellenzuniversitäten aus Tradition wie die »Scuola normale superiore« von Pisa oder die Pariser »Grandes Écoles«. Ein kompliziertes Geflecht; wir reden im Folgenden allgemein von der Universität und den einzelnen Universitäten an bestimmten Orten. Das Interesse richtet sich also auf das historische Phänomen einer Institution mit dem Namen »Universität«. Es gibt, so sagten wir, keine Idee und kein Wesen der Universität und damit auch keinen einheitlichen Zweck, den man in einer platonischen Wesensschau erkennen und gegen andere Zwecke verteidigen könnte. Wir schließen damit aus, daß man den Zweck der Universität etwa in der Bildung fi nden könnte. Die Bildungsidee stammt aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und hat eine glorreiche, aber auch düstere Rolle in der Sonderstellung gespielt, die sich die Akademiker anmaßten. Bildung sollte allgemein zur Bestimmung des Menschen gehören, aber sie sollte dann wiederum nur einigen besonderen, mit Titeln dekorierten Menschen zuteil werden. Wir registrieren diese Arroganz als ein besonderes Merkmal in der vielschichtigen Geschichte dieser Institution. Warum soll eine Lehre in einem Handwerk nicht eine gleich gute Menschen-Bildung vermitteln wie das Mathematikoder Chemiestudium oder die Assyriologie und Gräzistik? War Dr. Dr. Mengele ein höher gebildeter Mensch als der Fabrikarbeiter oder Gärtner, die sich auf den vielen Wegen, die die moderne Gesellschaft zu Verfügung stellt, die Grunderkenntnisse aneignen, um gebildete Menschen zu sein? Die Universität geht auf keinen einheitlichen Gründungsakt zurück, sie hat keinen einheitlichen Zweck, und sie läßt sich nicht auf eine Idee verpflichten, die ihr Wesen ausmachen könnte. Wir können nur Erkenntnistätigkeiten ausmachen, die im Kern dieser tradierten Institution zu belassen und die zu fördern zweckmäßig ist. einleitung | 13

Mitglieder der Universitäten sind Akademiker, weil die einzelnen Universitäten auch als Akademien besonders im lateinischen Sprachgebrauch firmierten; daneben gab es später Akademien, die entschieden keine Universitäten waren und sein wollten; wir werden kurz auf sie eingehen. Thema des folgenden Essays oder vielleicht Pamphlets ist also die Selbstbehauptung der Universität als einer Institution der Erkenntnis. Sie zielt nicht auf einen Kampf der Universität gegen äußere oder innere Feinde. Es gab in der Geschichte streitbare Studenten und Professoren, es gab eine wehrhafte Kirche, aber die Universität ist offenbar keine Institution, die sich insgesamt gegen falsche Entwicklungen und destruierende Eingriffe zur Wehr setzen kann. Ihre Geschichte kennt Sezessionen, aber keine kriegerische Selbstverteidigung, es gab und gibt keine »universitas militans« wie die »ecclesia militans«, keine Schlacht bei Fortebraccio, in der Martin V. die römische Kirche 1424 siegreich gegen räuberische Banden verteidigte. Hätten die Universitäten sich im Kampf behaupten gelernt, dann hätten sie 1933 die Nazis kurzerhand vom Katheder gejagt. Sie würden heute ihre Studiengänge nicht in Demut von privaten Akkreditierungsfirmen begutachten lassen – kein Fenstersturz, keine schwarze Liste der Kollaborateure, keine öffentliche Aktenverbrennung, kein Pranger für die Funktionäre, die der Entmündigung das Wort reden – nichts. Die Professorinnen und Professoren klagen privat und füllen schweigend im Institut die vorgedruckten Formulare ihrer Entmachtung aus, obwohl sie amtlich zu etwas anderem, nämlich zur selbständigen Lehre und kritischen Forschung verpfl ichtet sind. Aber wie läßt sich das Institut ohne diese Unterwerfung erhalten? Die Bürokratie will Untertanen, wer sich dem nicht fügt, kann gehen. Die Universität hat keine eigenen Machtmittel wie die in Gewerkschaften organisierte Arbeiterschaft ; keine Gewerkschaft wird sich spezifisch akademische Ziele der Universitäten zu eigen machen und ihre Streikmacht etwa für die Erhaltung der Wissenschaft sgeschichte oder einer eigenständigen Gräzistik einsetzen. »Die Universität muß sich wehren«5: Als Korporation ist sie offenbar dazu nicht in der Lage. Einzelne Professoren können jedoch in Massen Widerstand leisten. Die oder der Professor/in vertritt das 14 | einleitung

mit der Berufung übernommene Fach in Forschung und Lehre und Publikationen und kann, um dieser Pfl icht zu genügen, nur eine sehr begrenzte Zeit für Prüfungen, Verwaltung, Gutachten, das haltlose Einwerben von Drittmitteln, etc. aufbringen. »Ultra posse nemo obligatur« – daran sollte die Unterwerfung der Professoren unter die Verwaltung scheitern, am Rechtseinspruch der Einzelnen in Massen. Aber vielleicht wehren sich demnächst Studenten, boykottieren Pädagogikveranstaltungen, zu denen sie gezwungen werden, und widmen sie um zur fachbezogenen Erkenntnis. »Wir wollen lernen« gab es kürzlich als Slogan gegen die sachfremde Gleichschaltung an Schulen. »Wir wollen studieren« wäre die Losung, mit der Studierende gegen die Fremdbestimmung der Universitäten aufstehen und eine Wende zur Universität als einer Institution der Erkenntnis erzwingen sollten. »New Public Management« ist eine der international agierenden Firmen, die die Universitäten zurzeit in Besitz nehmen und bezahlbar machen. Die Verwaltung ist subtil und operiert mit dem positiv besetzten Vokabular der Effi zienz, Transparenz, Mobilität, learning outcomes (auch »Transparency, Accountability, Compliance. Get onto our Cloud«) – Phantome, die sich bei näherer Prüfung als Fata Morgana einer gewinnträchtigen Spekulation erweisen?6 Die heute beste Form, die Universität administrativ zu durchdringen? Es bleibt ein Mangel, der von diesem Wissens-Management nicht behoben, sondern vertieft wird: Es werden Leistungen quantifiziert, die eben dies ausschließen, nicht nur in den Geistes- und Kultur-, sondern auch den Naturwissenschaften.7 Wer haftet für den schon entstandenen Schaden durch die Verwalter? Die Bürokratie zielt darauf, die Universität in ihrem Eingangsbereich zu einer Anstalt der kanalisierten Wissensvermittlung zu machen und dort die kritische Erkenntnis zu liquidieren: keine eigenständige Gestaltung des Studiums, keine Anleitung zur kritischen Neugier, keine Probleme, mahnen die MinisterInnen. Das nach strengen Regeln akkumulierte Wissen soll zum Übergang in einen Beruf qualifizieren; für die Berufsarbeit selbst übernehmen jedoch die Anstalt und ihre Funktionäre keine Haft ung. Keiner der verantwortlichen Verwalter kommt auf für den Schaden, den er oder sie in der Biographie der Studierenden mit der Wissensdressur zur Unmündigkeit angerichtet haben. einleitung | 15

Hier und im Folgenden wird pauschal von der Bürokratie und den Verwaltern gesprochen. Hiermit ist keine einfache Berufszuweisung gemeint, sondern eine mentale Disposition. Es gibt in der Verwaltung höchst verdienstvolle und unentbehrliche Tätigkeiten, und auf der anderen Seite unter den Lehrenden die betonierten Bürokraten, die ihre Zeit und Energie auf Machtkämpfe konzentrieren, kollegiale Verhältnisse ruinieren, abschreckend in den Veranstaltungen wirken, und dies alles in der macht- und titelgeschützten Kaste der Lehrenden. Sie gehören zu den hier als Gegenfront zusammen gestellten Bürokraten, eine nicht durch ihren Beruf, sondern die erkenntnisfeindliche Mentalität verbundenen Untertanen. »Sapere aude!« ist der Wahlspruch der Aufk lärung. »Nie gehört«, ist die Antwort der Bürokraten: dienstfertiger MinisterInnen, beflissener ProfessorInnen. Es ist hier einschränkend hinzuzufügen, daß die meisten dieser Funktionäre (immer noch auf freiem Fuße) inzwischen ihre Energie auf eine notwendige Revision der doch ursprünglich notwendigen Bologna-Reform verwenden. So pulsiert das Leben der Wiederholungstäter in der Verwaltung fort und fort und verlangt eine Vermehrung der Planstellen. Entscheidend ist, dass Forschung und Lehre im Kern der Universität frei sind und sich in diesem Eigenbereich nicht diktieren lassen, was sie zu tun haben und wozu das, was sie tun, gut sein muß. Den Takt geben die Geschichte und die internationale Forschung an. Es soll im letzten Abschnitt gezeigt werden, dass sich das Interesse und der Rechtsanspruch der Gesellschaft auf diese Erkenntnisenklaven beziehen. Der Essay ist der erweiterte Beitrag zu einer Vortragsreihe und Tagung in Lüneburg im Januar 2009 und eines Vortrags in der Wissenschaft lichen Gesellschaft der Johann Wolfgang von GoetheUniversität am 9. Mai 2009. Wichtige Hinweise zur Universitätsgeschichte vermittelten mir Notker Hammerstein (Bad Homburg) und Ulrich Sieg (Marburg), Jürgen Paul Schwindt (Heidelberg) und Arbogast Schmitt (Marburg). Zu Problemen der gegenwärtigen Universität halfen mir Beiträge von Ana Laura Edelhoff (Berlin), Christopher Moss (Marburg) und besonders Boris Dunsch (Marburg) und, optimistisch, Ulrike Santozki (Hameln). An der Korrektur des Manuskripts war Vanessa Kayling (Aachen) betei16 | einleitung

ligt; die Hilfe von Thomas Kloppenburg und Steffen Simon (Marburg) wurde durch die DFG ermöglicht, wiederum vielen Dank! Am Ende und Anfang die Hoff nung, daß mir bei der Abfassung des Essays oder Pamphlets nicht zu viele Fehler unterlaufen sind, verzeihliche und unverzeihliche.

einleitung | 17

I. Erkenntnis ohne Universitäten in der Antike und im frühen Mittelalter Die Ausführungen dieses ersten Kapitels sind begründet in der Beobachtung, daß die Universität bis in feine Verästelungen von den Schulen, den Lehrbüchern, den enzyklopädischen und curricularen Erkenntnisanordnungen und Begriffsbestimmungen der Antike geprägt ist. Zu den letzteren gehören u. a. die Unterscheidung von Wissen und Erkenntnis, von Theorie und Praxis, von mathematischen und sprachlichen Wissenschaften. Eine auch nur kurze Darstellung der Universität muß bei diesen Fundamenten einsetzen, um elementare Fragen beantworten zu können wie die nach der Ordnung der drei oberen Fakultäten – wie kommt es zu der Konstellation von Theologie, Medizin und Jurisprudenz? Worauf beruht ihre Konstanz bis hinein ins 19. Jahrhundert? »Demokrit sagte, er wolle lieber eine einzige ursächliche Erklärung finden, als dass ihm das Perserreich zu eigen werde.«8 Das konnte erst nach dem Triumph der Griechen über die Perserkönige (zuerst in Marathon 490 v. Chr.) gesagt werden, bei dem die Athener und Spartaner die Söldnermassen aus Asien vernichteten und den Beginn des europäischen Selbstbewusstseins ermöglichten, ein »clash of civilizations«, der bis heute nachhallt. Hier stellt sich, so können wir den Text Demokrits für uns verwenden, die freie Erkenntnis gegen die Despotie, die nach dem griechischen Verachtungsurteil im Perserreich herrscht. Wer auf Erkenntnissuche geht, folgt der Spur, die ihm seine Methode und die Sache vorgeben, und hört auf keine anderen Direktiven. Die Demokratie, die zum ersten Mal in Griechenland gegen die Fürstenherrschaft ausprobiert wurde, steht in einem inneren Zusammenhang mit der Erkenntnis und ihrer unveräußerlichen Würde, die kein Söldner kennt. Der despotische Mensch hält den Philosophen Demokrit dagegen für einen ausgemachten Narren – wie kann man, wenn man bei Sinnen ist, eine einzige ursächliche | 19

Erkenntnis aller Lust, allem Reichtum, aller Macht des Perserkönigs vorziehen? Hier stehen sich in dem einen Diktum zwei Welten gegenüber. Wichtig ist die eigene Erkenntnis, nicht das aufgetürmte Wissen. Demokrits Zeitgenosse Thukydides erforschte die wirklichen oder nur vorgegebenen Gründe und den Verlauf des Peloponnesischen Kriegs. Er berichtet über die Verfahren, die ihn zu sicheren Datierungen der Ereignisse kommen lassen und die Geschichte erst zu einer Wissenschaft machen.9 Sokrates richtete zur gleichen Zeit die Erkenntnissuche auf die Werturteile der Menschen, sie müssen wohl begründet und gegen Kritik resistent sein, sonst solle man sie vergessen. Erkenntnis und Moral gehen, wie schon angedeutet, eine Verbindung ein: Der Anspruch der Erkenntnis ist zu einer Begründung verpflichtet, sie wird dem Dialogpartner oder Leser geschuldet. Hierauf kommen wir gleich zurück. Von Platon kommt das Frage- und Antwortspiel, in dem eingeübt wird, wie man methodisch Erkenntnisse erwirbt und gegen Einwände sichert. Das gemeinsame Spiel von Forschung und Lehre, verbunden mit dem Ethos der Fairness und der (nicht platonischen) Einsicht, dass es kein Ende gibt, weil jede Erkenntnis provisorisch ist und revidiert werden kann, auch die der vermeintlichen Letztbegründung. Sokrates selbst war hierin Skeptiker und Kritiker, kein Platoniker. Fanden wir bei Demokrit die Opposition von Despotie in Persien und freier Erkenntnis der Griechen, profilieren Sokrates und Platon den Gegensatz von Wissen und Erkennen in einer scharfen Dauerpolemik gegen die Sophisten, die ihr oberflächliches Wissen für den Markt sammeln und gegen Zahlung verkaufen und nicht wissen, was Erkenntnis ist. Das Wissen hat auf dem Markt in Athen einen Preis, für Sokrates und Platon hat die Erkenntnis eine für den Kommerz unfaßbare Würde. Der Sophist bereitet seine Hörer für die Praxis vor, er liefert ihnen gegen Bezahlung die geeigneten Instrumente – wie gern hätte er im BachelorStudium in Deutschland unterrichtet! wie herzlich würden unsere MinisterInnen ihn hier empfangen! Aber die Geschichte stemmt sich, wie wir wissen, unerbittlich gegen sophistische Fremdarbeit. Wir erzeugen die Sophisten nach der antiken Vorarbeit selbst. Wir fi nden Exempel der Naturwissenschaft (Demokrit), Kulturwissenschaft (Thukydides), der Erkenntnis von Werten (So20 | kapitel I

krates) und der Verbindung von Gelehrten in der Akademie von Platon. Bevor wir auf weitere Erkenntnisbereiche der Antike und ihre Schulformen eingehen, muß ein Unterschied zwischen den angeführten Autoren angezeigt werden, der bis in die neuzeitliche Organisation des Wissens hineinreicht. Es ist die Beziehung der Exaktheit und Gewißheit der Erkenntnis zum Gegenstand. Dies fi ndet sich am stärksten bei Platon und wird weiter gereicht von allen Platonikern. Die Erkenntnis des Höchsten, der Ideen, besonders des Einen, des Guten, Schönen und Gerechten ist am gewissesten, weil die Gegenstände in der Seinshierarchie an der Spitze stehen. Entsprechend sind auch die Erkennenden, die Philosophen, zur Herrschaft in der Polis berufen. Einen fernen feinen Glanz spüren noch heute Universitätsleute an der Aura ihrer akademischen Titel und der Bildung, die sie ausstrahlen. Ganz anders Demokrit, der wie andere vorsokratische Philosophen in der materiellen Natur oder auch der Mathematik nach begründeter Erkenntnis sucht, ohne die Exaktheit oder Gewißheit von der ontologischen Dignität der Gegenstände abhängig zu machen. Die Begründung der Erkenntnis liegt hier nicht im Objekt, als vielmehr in der Methode des Erkenntniserwerbs. – Von der subjektiven Lust am Erkennen wird aus beiden Lagern berichtet. Eine dritte Form der Vergewisserung läßt sich anfügen: Die unmittelbare subjektive Gewißheit und die Bindung der Erkenntnis an diese unbezweifelbare Selbstgewißheit des Erkennenden. Dies wäre das cartesische Modell der Meditationen. Und ein weiterer, schon gestreifter Gesichtspunkt verdient Beachtung, weil er in die Erkenntnis- und Universitätstradition bis heute hineinwirkt. Die Vorgabe von Erkenntnis im Gegensatz zum Wissen ist mit der Pflicht der Begründung und der Verantwortung verbunden. Wer etwas zu erkennen behauptet, ist bereit zum »logon didonai«, seine Behauptung also zu rechtfertigen. Erkenntnis im emphatischen Sinn wird erst möglich in dieser sittlichen, quasi rechtlichen Idee. Hierin liegt der Zusammenhang von Erkenntnis und Demokratie, auf den Demokrit aufmerksam macht, wenn er um keinen Preis als Despot in Persien leben möchte. Die Erkenntnis als solche zielt auf Gleichberechtigung derjenigen, die etwas behaupten, und der anderen, die aufgefordert werden, sich der Einsicht anzuschließen. Diese Übereinstimmung ergibt sich nicht, erkenntnis ohne universitäten | 21

weil ein höheres menschliches oder göttliches Wesen dies befiehlt, sondern aus freier eigener Erkenntnisstift ung. Aus diesem Grund konnte die europäische Erkenntnistradition weder aus Persepolis noch aus Jerusalem kommen, sondern – nach Vorbereitungen in Ägypten und im Orient – aus der Demokratie in der griechischen Polis. Und dort entstand sie naturwüchsig auf unterschiedlichen Gebieten. Man kann gewissermaßen sympathetisch diese Linien verlängern und in der Vorstellung von Erkenntnis und freier Begründung eine Vorskizze von Freiheit und Gleichheit der Menschen erblicken. In der Kulturgeschichte wird die Erkenntnis und die Gleichstellung der Gesprächspartner ein wichtiges Ferment der Rechtsprinzipien von Gleichheit und Freiheit bilden. Die aus der griechischen Tradition stammende Republik der Gelehrten ist die Keimzelle der modernen republikanischen Ideen, denen öffentlich zu widersprechen sie immer schon voraussetzt. Von einem Raunen des Unverborgenen und einer Suche nach der urtümlichen Sein keine Spur; auch die Vorsokratiker sind neugierig, streitlustig und auf methodische Erkenntnis erpicht. Demokrit weist allen Reichtum und alle Macht zurück – die Erkenntnis als solche ist allem anderen an Wert überlegen. Dieses Pathos und Ethos wird die Erkenntnis auf ihren unterschiedlichen Pfaden über die Aufk lärung bis in die Gegenwart begleiten. Dort der Großkönig, hier Demokrit; wer sich auf die Seite des letzteren schlägt, sollte bedenken, daß die Erkenntnis ihre eigene Strenge hat und auch das thematisiert, was sich ihr entziehen möchte: Den Glauben, der sich höher glaubt als alle Erkenntnis, die Gestimmtheit und das Verstehen des Seins, die die Erkenntnis überspringen möchten. Demokrit – und Thukydides und Sokrates – beharren auf ihrer Weltteilung und machen alles zum Gegenstand ihrer Erkenntnis, so wie die Bühne alle Götter und Menschen in den Tragödien und Komödien darstellte, mimetisch und karikierend. Gab es in Persepolis und Jerusalem die Bühne und die Karikatur des Niederen und Sublimen? Die platonischen Dialoge greifen auf die Bühnenkunst zurück und holen sich von ihr die Kultur der Selbstdarstellung und der ernsten Scherze. Die griechische Polis und das antike Gemeinwesen überhaupt hatten kein Interesse daran, die freie Erkenntnissuche des Einzelnen oder von Gruppen sei es generell zu verhindern, sei es, bis 22 | kapitel I

auf Ausnahmen, selbst zu organisieren. Es bildeten sich vielfältige Lehrformen, wie sie einerseits allen Kulturen auch der Jäger und Fischer und Hüttenbauer angehören, andererseits in ausgezeichneter Weise in der griechisch-römischen Kultur entwickelt wurden. Diese letzteren gehen in die spätere Universitätstradition ein. Hier seien drei Gruppen besonders herausgestellt: 1. Private, aber auch staatliche Schulen einer höheren musischen, philosophischen, juristischen oder anderen Forschung, Lehre und Übung, begleitet von einer umfangreichen Fachliteratur. 2. Darstellungen und Erörterungen von teils curricularen, teils enzyklopädischen Erkenntnisordnungen. 3. Die Unterscheidung der Erkenntnis vom Wissen und Meinen, später auch Glauben und die unterschiedlichen Begründungen dieser Unterscheidung. Desgleichen die Unterscheidung zwischen Theorie und Praxis, zwischen mathematischen und sprachlichen Disziplinen, zwischen Rhetorik und Erkenntnis. Sodann die höchst wirksame Gliederung unserer Sorgebereiche in Seele, Leib und äußere Güter, die das Fundament einer über 600jährigen Universitätsgeschichte bilden wird. Genauer: 1. Zu den naturwüchsig entstehenden Höheren Schulen gehören die bekannten Philosophenschulen der Akademie, des Peripatos, der Stoa, auch des »Gartens« von Epikur. Es gibt zuvor schon Ärzteschulen, Einweisungen in den Priesterberuf in den Tempeln, und in der römischen Antike treten Juristenschulen hinzu. In diesen letzten drei Bereichen lassen sich Vorläufer der drei Oberen Fakultäten der Universitäten ausmachen, wie wir gleich sehen werden. Daneben ist die Bibliothek in Alexandria eine Stätte der Gelehrsamkeit und der weiteren Übermittlung gelehrter Erkenntnis. In der Spätantike und dem frühen Mittelalter werden christliche Dom- und Klosterschulen gegründet. Neben den vielen Orten des Erwerbs und der Tradierung von Können, Wissen und Erkenntnis gibt es seit den Vorsokratikern eine intensive Produktion von Fachliteratur. In der Medizin sind es besonders die Hippokratischen Schriften und später die Werke Galens; in der Architektur bündelt Vitruv die Kenntnisse in seinem Handbuch De architectura, Xenophons Lehrbuch der Reitkunst dient vor allem militärischen Zwecken; an ihm kann man erkenntnis ohne universitäten | 23

sehen, wie die Technik und die literarische Darstellung verbessert werden und die Disziplinen in einem Lernprozeß begriffen sind, in der Logik Aristoteles’ Analytika, in der Geometrie die Elemente von Euklid. Bienenzucht, Ackerbau, Strategie und Taktik, Musiktheorie und die Physiognomie, Sternkunde, Metrologie10, Meteorologie und Mechanik, Ethnologie und Geographie, Physik und Biologie, Grammatik und Tonkunst, natürlich die Ars amandi von Ovid, und es sollte nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn die findigen Autoren nicht über die Ars moriendi publiziert hätten, auch das Sterben ist eine Kunst und kann gelehrt, wiewohl nicht durch wiederholtes Üben gelernt werden.11 In Athen und Rom findet man zu allem die besten Sachbücher in allen Buchläden. Keine Spur einer Erkenntnisflucht in die Lichtung des Seins, sondern der helle Klang der methodisch geformten Neugier, die vom Nichtwissen befreit sein will. Es wird nicht mehr über die Bedeutung einer Sonnen- oder Mondfi nsternis sinniert, sondern sie wird erklärt und vorausberechnet. Im Hellenismus wird es Mode, daß Dichter eine Wissenschaft zum Gegenstand ihrer Poesie machen, eine Tradition, die in die Vorsokratik zurückreicht und zu der so bekannte Werke wie Arats Phaenomena, Lukrez’ De rerum natura und Vergils Georgica zählen. Jeder Bürger (civis) kann sich seines eigenen Verstandes bedienen und studieren, was er will, und publizieren, worüber und wie er will, ungestört durch die Tyrannis einer orientalischen Despotie oder Religion und Heilsbotschaft. 2. Die bekanntesten Versuche, Erkenntnisse enzyklopädisch und curricular zu erfassen, finden sich in der Platonischen Politeia, das Lehrcurriculum im 7. Buch ist die Grundlage der späteren »artes liberales« mit den 4 mathematischen und 3 sprachlichen Disziplinen (Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie und Rhetorik, Grammatik, Dialektik)12. Varro und Isidor schließen sich an. Ob es eine glückliche Idee war, diese höchst anspruchsvollen Disziplinen später insgesamt an den Anfang des Universitätsstudiums zu stellen? Was konnten die noch nicht Zwanzigjährigen wirklich begreifen? – Daneben wird im frühen Hellenismus der noch von Kant zitierte Kanon von Logik, Physik und Ethik entwickelt. Bilden sie ein vollständiges Wissenschaftssystem? In welcher Disziplin müßte dies bewiesen werden? Die konkurrierenden Philosophenschulen 24 | kapitel I

zwingen zu einer Metadiskussion der eigenen Wissenschaftstheorien. Die späteren Versuche der Systematisierung der Erkenntniszweige schließen hieran an, Descartes so gut wie Thomas Hobbes und Kant und Hegel. 3. Vertraut ist die Unterscheidung von bloßem Wissen und Erkennen. Auf eigene, begründete Erkenntnis komme es an, nicht das aufgestapelte Wissen, das man wie Waren sammeln, registrieren und veräußern kann. Das Wissen besagt, daß etwas der Fall ist, die Erkenntnis dagegen, warum etwas so sein muß. Das Wissen kann alphabetisch ohne inneren Zusammenhang addiert werden; Erkenntnisse führen dagegen nach einer internen Logik in eine Verbindung mit anderen, idealiter mit allen Erkenntnissen. Die Bereiche bloßer Meinung und exakter, gewisser Erkenntnis sind entweder bestimmten Stufen des Seienden und der auf sie gerichteten subjektiven Erkenntnisweisen zugeordnet, oder sie unterscheiden sich durch die Methode. Die Unterscheidung ist mit einer Metareflexion verbunden, die wir aus der Retrospektive Erkenntnistheorie nennen können. Wie Platon unterscheidet auch Aristoteles zwischen mathematisch und sprachlich orientierten Erkenntnissen, zu den letzteren gehört etwa die Ethik; dies korrespondiert der noch gegenwärtigen Trennung von Natur- und Geistes- oder Kulturwissenschaften ab dem 19. Jahrhundert, die zugleich auf die Zweiteilung der »artes liberales« verweist; dazu gleich Näheres. Hinzuzufügen ist der Unterschied zwischen Sophistik und Philosophie. Seine genaue Bestimmung, die wir in den Sophistikoi Elenchoi von Aristoteles fi nden, übertrifft an Erkenntniswert vermutlich alles, was später dazu geschrieben wurde. Sodann die Unterscheidung von Rhetorik und Philosophie beim frühen und mittleren Platon. Das Studium dieser Unterscheidung führt ein in den Umgang mit bildlicher Suggestion und diskursiver Erkenntnis, zwischen Überredung und Überzeugung. Hiermit sind Anknüpfungspunkte an die Didaktik und Pädagogik gegeben. Durch die intensive Beschäft igung mit der antiken klassischen Literatur waren diese Kulturelemente in der nachfolgenden Geschichte dauernd präsent, besonders in den Phasen der Renaissance und des Klassizismus. Sie bildeten Teile eines lebendigen kulturellen Gedächtnisses, das erst im 19. Jahrhundert allmählich erkenntnis ohne universitäten | 25

seine normative Kraft verlor und meist nur noch museal erinnert wird. Greifen wir eine der noch präsenten Geisteswissenschaften heraus. Die antike Philologie und Interpretationskunst ist nachgezeichnet worden von Rudolf Pfeiffer in seiner Geschichte der klassischen Philologie (deutsch 1970). Am Anfang steht ein reflexives Verhältnis, das die Dichter zu ihren eigenen Werken einnehmen. Die Dichtergelehrten treten auf als ihre eigenen Interpreten; die Sophistik stellt Sprachuntersuchungen an und verteidigt Homer gegen den Vorwurf der Darstellung unmoralischer Götter durch die allegorische Interpretation. Platon und Aristoteles liefern Teilbeobachtungen, die eigentlich wissenschaft liche Behandlung der Sprachwerke beginnt jedoch erst nach dem Tod des Aristoteles: »Die Entstehung der Philologie in Alexandria«13. Während die Naturwissenschaft aus einer langen ionischen und attischen Tradition weitergeführt wurde, ist die systematische Philologie eine Kreation des Hellenismus. Den Höhepunkt erreichte die alexandrinische Wissenschaft im Werk des Eratosthenes von Kyrene (275–195 v. Chr.). »Exakte Wissenschaft und Philologie: Eratosthenes«14, Eratosthenes leistete wichtige Innovationen auf beiden Gebieten. Während Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff noch die Meinung vertrat: »Die exakten Wissenschaften haben auf die alexandrinische Philologie den bedeutendsten Einfluß ausgeübt«15, kommt Rudolf Pfeiffer zu dem Ergebnis, dass sich die Philologie in völliger Autonomie entwickelte; sie nahm, so Pfeiffer, ihren mit Eratosthenes erreichten Stand der Wissenschaft erst wieder im 18. Jahrhundert auf: »Endlich aber, mit Bentleys Auft reten, trug die schöpferische Konzentration auf die Text- und Literaturkritik den Sieg davon, wie das der Fall gewesen war, als nach Eratosthenes um 200 v. Chr. Aristophanes von Byzanz auft rat.«16 Wissenschaft war Mode und wurde von den Dichtern aufgegriffen, wie schon erwähnt. Für die Blüte von Forschung und Lehre in Alexandrien ist vielleicht nicht unwichtig, daß es dort keine Philosophen gab, die schon vorher alles besser wissen und das Neue in ihre Begrifflichkeit zwingen. Der Anhänger des Aristoteles folgt den Anweisungen des Meisters und ist im Besitz des Schlüssels, wie Homer und wie die Tragödiendichter zu interpretieren sind: So wie es in der Poetik 26 | kapitel I

steht, ipse dixit, ipse, der Gründungsheros. Im Hellenismus wurden diese Schulen zu auslaufenden Modellen, für die sich die Mathematiker, Geographen und Grammatiker, die Astronomen und Philologen nicht mehr interessierten und so der Logik ihrer eigenen Forschung nachgehen konnten – die nötigen Begriffe stellten sich unschwer ein, bottom up, nicht top down. So gab es zwei Kulturkreise, der eine mit dem Zentrum Athens und den fortbestehenden alten und neuen Philosophenschulen, der andere mit dem Zentrum Alexandrien und einer aufregenden, am Neuen interessierten Wissenschaft. Nach derselben Schrittfolge vollzog sich später der Übergang aus der Scholastik, die für alles schon Antworten bereit hielt, zur neugierigen Neuzeit und ihrer Wende zur Zukunft. In Rom gab es, anders als im griechischen Kulturkreis, staatliche Juristenschulen. Ihre Theorie und Praxis wurde in den Digesten und Institutionen gesammelt, die ihrerseits die Grundlage des europäischen, heute weltweiten Rechts bilden. Kein akademisch gebildeter Jurist, der nicht in einer ideellen, vitalen Filiation mit den römischen Juristen stünde.

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II. Die Vier-Fakultäten-Universität von ca. 1200 bis ca. 1800 1. Entstehung und Form der Universität Die »scholae«, »universitates studii«, »studia generalia« entstehen im 11. und 12. Jahrhundert17 in einem schwer zu erforschenden Prozeß bottom up. Die eigentliche Gründungsphase der Universitäten wird meist in die Jahre um 1200 gelegt,18 die ersten Orte sind Bologna und Paris, Bologna mit dem Schwerpunkt in der Jurisprudenz, Paris in der Theologie. Ein Zwang, sich einheitlich zu organisieren, ging von den ausländischen Studenten aus, die aus ganz Europa an die berühmten Schulen zogen und des Schutzes und der Einhilfe z. B. bei der Unterkunft oder in Rechtsverwicklungen bedurften. »Die Natio, ursprünglich ein Zusammenschluß ausländischer Studenten zum Zweck gegenseitiger Unterstützung ihrer Mitglieder, bildet bekanntlich in der Gründungsphase des universitären Organisationsmodells des Mittelalters ›die Basis-Zelle der UniversitätsOrdnung, das tragende Strukturelement des größeren Zusammenschlusses [die universitas scholarium], die auf diese Weise nichts anderes war als eine Vereinigung, eine Summe der verschiedenen Nationes.«19 Daher das Phänomen, daß unter den Rektoren der Frühzeit neben Magistern, Doktoren und Professoren auch Studenten waren. Ein anderes Ferment der einheitlichen Organisation und Verstetigung war das Problem der europaweiten Anerkennung von Studien und der Lizenz der Dozenten, überall lehren zu können, »ubique legendi«. Die Initiativen der Gründung von »università degli studi« wurden von den Kommunen, der Kurie, später dem Kaiser und den übrigen Fürsten aufgenommen und institutionell verankert. Es folgte die Ansiedlung der neuen Institution in eigenen Universitätsgebäuden20 und die genauere Festlegung der Rechte und Pflichten von Lehrenden und Lernenden, die Regelung der Hörergelder oder Studiengebühren. Die Universitäten waren Korporationen mit einem eigenen Status, der die Angehörigen zu | 29

ihren Bürgern machte. Sie waren also nicht Bürger der jeweiligen Stadt, sondern der Universität mit ihrer eigenen niederen Gerichtsbarkeit. Wenn die Stadt brannte, brauchten sich die Universitätsbürger nicht an den Löscharbeiten zu beteiligen, sondern konnten zu Hause bleiben, falls noch möglich. Bis zum Ende der Aufk lärung sind die europäischen Universitäten städtische und zunehmend staatliche Institutionen unter der wechselnden Obhut von Papst, Kaiser oder Fürsten. Sie haben die sich allmählich verfestigende Aufgabe, künft ige Bürger in den drei oberen Fakultäten der Theologie, Medizin und Jurisprudenz zu unterweisen. Das staatliche Interesse zielte auf eine einheitliche Befassung durch Personen, die gleichförmig ausgebildet waren. Anderen Bürgern als den Akademikern ist die Praxis auf den drei Hoheitsgebieten untersagt; der Friseur darf seine Kunden nicht mehr nebenbei zur Ader lassen oder amputieren, das Familienoberhaupt darf nicht Recht sprechen und Rache im Hinterhof üben, und der Sektierer darf nicht öffentlich predigen, auf welchen bis dato unbekannten Wegen man einzig zum ewigen Seelenheil gelangt. Die akademische kanonisierte Ausbildung wurde ermöglicht durch das vorgeschaltete Studium der »artes liberales« in der unteren vierten Philosophischen Fakultät. Die freien Künste bestanden meist aus dem Trivium Grammatik, Rhetorik und Dialektik und dem Quadrivium Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie.21 Der erste ist der sprachliche, der zweite der mathematische Teil der Erkenntnis. Diese Schul-Fächer gerieten in die staatliche Obhut nur wegen der Vorbereitung auf das Studium der oberen Fakultäten und zunächst nicht, weil der Staat in dieser Fakultät seine Gymnasiallehrer ausbilden wollte. Was brauchten die Studenten wirklich? Einmal Lateinkenntnisse, um den Vorlesungen und Disputationen folgen zu können, zugleich, um die sich mit Cicero, Vergil und Seneca, Tacitus und Boethius die Grundkenntnisse der antiken Kultur anzueignen, die das nicht-christliche und z. T. auch christliche Fundament des Mittelalters und der Universität bis ins 19. und 20. Jahrhundert sein sollte.22 Sodann in den »artes« ein gewisses Maß an Grammatik, praktischer Logik und Rhetorik. Daß sie sich in der theoretischen Musik oder Astronomie auskannten, wird man kaum erwartet haben, eher schon in der allseits verbreiteten Astrologie, um zu wissen, wie es 30 | kapitel II

mit dem Studium, häufig im fremden Land, am Ende ausgehen würde. Setzt man die »artes liberales« mit einem 4- oder 5-jährigen Studium an und berücksichtigt, daß es keine normierten höheren Schulen gab und die Studenten früher zur Universität kamen als heute, dann wird man den Abschluß dieses Studiums an der unteren Fakultät mit dem späteren und heutigen Abitur vergleichen dürfen. Ähnlich die Gliederung in mathematisch und sprachlich betonte Zweige, auch die Ambition, für jedes Fachstudium vorzubereiten. In den Leistungen dürfte ein Vergleich schwierig sein; die heutigen Absolventen wissen weniger, sind kritischer und selbständiger im Urteil etc. Man gibt vor, aus empirischen Erhebungen zu wissen, daß wir intelligenter sind, so wie wir physisch größer sind. Gaudeamus igitur. Die Theologen beanspruchten, die Ersten unter Gleichen zu sein, und sie erhielten wegen ihrer übersinnlichen Bedeutung das meiste Geld 23, bei öffentlichen Prozessionen gingen sie an der Spitze der Professoren. Aber der Primat in Geld und Würde besagte nicht, dass die Theologische Fakultät der eigentliche Kopf der Universität war. Als Korporation bestimmte sie selbst aus den verschiedenen Fakultäten ihren Rektor, desgleichen die Dekane und damit den Senat als das höchste Gremium. Die eigene Universitätsverfassung stand natürlich nicht zu dessen Disposition, sondern konnte nur, so wird man vermuten dürfen, in Details pragmatisch geändert werden. Die korporative Konstellation konnte nach außen und innen als Einheit auft reten, sie war jedoch nicht monistisch konzipiert wie die Platonische Akademie mit einem alles dirigierenden Zentrum. Die Akademie beansprucht vor allem die eine höchste Erkenntnis, die aus sich eine untergeordnete Vielfalt exakt bestimmt. Genau diese Einheit kennt die Universität nicht; sie artikuliert sich in vier unterschiedlichen Zentren, ohne eines auszuzeichnen, das die Erkenntnis der anderen inhaltlich bestimmen könnte. Dieser Ansatz ist ganz unplatonisch; ein Konzert gleichgestellter Instrumente, die keinem Dirigenten, keiner höchsten Dialektik unterstellt sind. Auch die »artes liberales« zerfallen in zwei Klassen, die nicht aufeinander oder eine höhere Einheit reduzierbar sind, wenigstens nicht innerhalb der Universität (vielleicht in neuplatonischen Zirkeln). Es gibt die vier-fakultäten-universität | 31

keine höchste Wissenschaft und Einheit von mathematischen und sprachlichen Disziplinen, die darüber belehren könnte, daß es sieben und nur sieben »artes« gibt und geben muß, und selbst wenn es sie gibt, wie die Neuplatoniker zeigen möchten, ist sie sicher in den sieben Grunddisziplinen der Universität nicht zu lernen; die Universität schließt sie also aus ihrem Kompetenzbereich aus. Gäbe es diese Wissenschaft der Wissenschaft innerhalb der Universität, müßte sie als die schwierigste den Abschluß des Aufstiegs bilden, aber es gibt sie nicht, und wir erfahren in der Universität nicht, wie eigentlich die Einheit und Vollständigkeit ihrer Disziplinen begründet ist. Wenn ich richtig sehe, geben auch die heutigen Untersuchungen keine Antwort auf diese Frage. Hier muß festgehalten werden, dass die Gründung von Universitäten im 13. Jahrhundert mit drei oberen Fakultäten auch darin eine bis heute weltgeschichtlich wirksame Tat war, dass sie die Theologie von der Jurisprudenz trennte. Die Sonderstellung der Medizin legt sich sichtlich und fühlbar nahe, aber die Trennung und paritätische Nebenordnung von Theologie und Recht ist alles andere als selbstverständlich. Die meisten Kulturen sind theokratisch organisiert und ordnen das Recht der Religion unter, so im Judentum; im Mittelalter konnte man jedoch auf das in Bologna wiederbelebte Corpus Juris Justiniani zurückgreifen und auf eine von der Theologie, aber auch der Politik getrennte Expertenkultur von Juristen bauen. Die Abtrennung des Rechts von unmittelbarer Gewalt, besonders der Rache, durch die Einrichtung von Schiedsgerichten mit einem festen Verfahren der Urteilsfindung führt Aischylos schon in den Eumeniden (458 v. Chr.) vor; die Einrichtung des Areopags durch Athene gestaltet hier die Polis neu für alle Zukunft. Platon und Aristoteles führen die inzwischen zur Institution verfestigten Gerichtsverfahren fort, kennen aber keine eigenständige Jurisprudenz und keinen Beruf des Juristen wie z. B. den des Arztes und Priesters. Die Griechen untersuchen, worin wohl die Gerechtigkeit besteht – die Platonische Politeia ist diesem Thema gewidmet – aber das originäre Recht der Juristen bleibt unbekannt. Hier liegt die Innovation der Römer, die die Grundlage der heutigen Rechtsstruktur der Staaten und ihrer Beziehungen ist. Eine innere Spannung muß die Theologie von Anfang an ertragen; sie ist einerseits eine höchst spekulative griechische philoso32 | kapitel II

phische Disziplin und andererseits eine orientalisch-hellenistische Erlösungsreligion; Metaphysik und Volksglaube, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun, und trotzdem ist es gelungen, eine christliche, wissenschaft lich ambitionierte Theologische Fakultät durch die Jahrhunderte bis an die Grenze der Gegenwart zu führen. Die Spannung wird auch bestimmt als die zwischen den Ansprüchen der Theorie oder Spekulation hier und der Praxis dort. In einer Tischrede votiert Martin Luther drastisch für die praktische Seite: »Vera theologia est practica, et fundamentum eius est Christus […]. Speculativa igitur theologia, die gehort in die hell zum Teuffel.«24 Der Heilige Franziskus und die ihm folgende Heilige Elisabeth sind derselben Meinung wie Luther und vorher Diogenes der Kyniker, der mit der Gelehrsamkeit nichts zu tun haben wollte, wie Raffael festhielt.25 So ist das Verhältnis der Heiligen und der Universität in Marburg bis heute eher spröde als herzlich. Die Gründung der Universitäten in Paris und Bologna verliert sich in einzelne Akte der langsamen Umwandlung von Schulen in geordnete Zentren des freien Studiums. Es gibt keinen einzelnen Gründer, der die Universität erdacht und realisiert hätte, wenigstens kennen wir keinen. Aber was hier wie durch Zufall entsteht, ist eine Gründung von mythischem Glanz der Weltenordnung. Drei obere Fakultäten und eine untere in einer Einheit, die die Existenz einer jeden für sich, die kreative Auseinandersetzung und die getrennte Entwicklung ermöglichen. »Der Streit der Fakultäten« (Kant) – schon um 1300 publizierte Petrus von Abano (ca. 1280–1316) eine Schrift mit dem Titel Conciliator differentiarum philosophorum et praecipue medicorum.26 Einheit und Differenz, eine offene und zugleich geschlossene Hochkultur in den getrennten europäischen Staaten mit dem Austausch der Lehrenden und Lernenden. Eine Kreation des ordo-Denkens in der 1, 2, 3 / 4-Konstellation 27, die weltweit Nachbildungen fand und sich heute an den meisten Orten in eine polymorphe patch-work-Anlage mit wechselnden Fachverbünden verwandelt hat. Nachfrage und Angebot: In den mitteleuropäischen, aus dem römischen Imperium erwachsenen Ländern hatten sich die politischen und kirchlichen Verhältnisse so weit konsolidiert, dass ein Bedarf an einer normierten Verwaltung entstand. In Italien, Frankreich, aber auch Spanien und England gab es Schulen, die die vier-fakultäten-universität | 33

die antiken Wissenschaften aufgriffen und weiterzubilden versuchten. Besonders nach Paris und Bologna kamen Schulaspiranten aus ganz Europa, die, wie wir sahen, auf eine gesetzliche Bestimmung und Sicherung ihrer Stellung drängten und so die ersten Universitätsgründungen motivierten. Die drei oberen Fakultäten des Brot- und Berufsstudiums hatten einerseits klare Grenzsetzungen in den Anforderungen der beruflichen Praxis des Arztes, des Anwalts und Pastors oder Predigers, andererseits konnten die Universitäten auch in den oberen Fakultäten praxisferne Theorie in der Auseinandersetzung mit philosophischen Werken, besonders des Aristoteles, lehren. Die Zwecksetzung der Philosophischen Fakultät als inneruniversitärer Propädeutik ergab keine klar bestimmten, sondern nur ungefähre Anforderungen, denen die Studierenden genügen mußten. Zentral war natürlich die Beherrschung des Lateinischen als der obligaten Sprache aller europäischen Universitäten, außerdem ein methodischer, logisch geschulter Umgang mit dem Stoff in einer der drei oberen Fakultäten. Wenn man von einer Einheit der mittelalterlichen und neuzeitlichen Universität sprechen will, liegt diese einmal in der lateinischen Sprache, die die »peregrinatio academica« ermöglichte, zum anderen in der institutionellen Zugehörigkeit, die zur Identitätsbildung und Ausgrenzung von allen Nichtakademikern führte.28 Randalierende Studenten waren sicher vor dem Zugriff der städtischen Behörden, denn nur der Universitätsbüttel hatte die Befugnis, sie in den Karzer zu stecken. Ob er den Mut bei allen hatte, war eine andere Frage, bei dem Studenten Graf Wallenstein hatte er ihn, wie wir wissen, nicht. Die oberen Fakultäten enthielten Beschränkungen, die heute nicht mehr ohne weiteres plausibel sind. Die Theologische Fakultät bezog (und bezieht) sich in ihrer Dogmatik ausschließlich auf die christliche Konfession und ihren Schriftenkanon. Die Medizinische Fakultät setzte die antike medizinische Lehre fort, im Wesentlichen nach Galen (ca.129–199 n. Chr.), dessen Texte in den Vorlesungen vorgelesen und kommentiert wurden. Die praktizierenden Chirurgen und Anatomen hatten keine akademische Position. Die Jurisprudenz bereitete die Praxis im Landesrecht vor und dozierte über das Corpus Juris Civilis. Die Philosophische Fakultät konnte für die Ansiedlung vieler neuer Fächer ohne weitere systematische 34 | kapitel II

Ordnung benutzt werden. Hier wurden Orientalische Sprachen,29 Griechisch (zuerst Melanchthon) und Äthiopistik, Geographie, Geschichte und Politik, die Nationalphilologien, später Ethnologie, Soziologie, auch Pädagogik wurde als Fach anerkannt und integriert. Die adligen Studenten sorgten früh für exquisite körperliche Bewegungen: Fechten, Reiten, Tanzen.30 Und Philosophie? Wolff, Kant und Hegel hatten noch Lehrstühle für die mittelalterlichen Disziplinen der Logik und Metaphysik. Wer war der erste Universitätsphilosoph? Die Universität übernahm nicht mehr die generelle Einführung in das Studium, sondern verlangte dies von den Gymnasien, die damit zugleich eine klare Zielvorgabe hatten. Die untere Fakultät ließ also die vage, nicht erfüllbare Idee der Artistenfakultät fallen, addierte neue Fächer und ließ überholte fort und wurde damit zum Vorbild der heutigen Universitäten. Ein neueres Beispiel ist die Integration der Futurologie31 als eines Faches, das sich nicht bewährt hat, also eine Wissenschaft, die an sich alle Menschen am meisten interessiert, die akademische Futurerforschung; aber sie blieb ein kurzfristiger Einfall, wiewohl es bis heute laut Google ein Sekretariat für Zukunftsforschung gibt. Erreichbar scheint es jedoch nicht mehr zu sein. Dieses Ende hätte man voraussehen können. Statt der gescheiterten Astrologen und Futurologen gab es seit dem 18. Jahrhundert die speziellen Zukunftskenner in der Sterbestatistik (für die Versicherungen) und der Nationalökonomie, des Kreditwesens, der »physique sociale«32 und anderer Sozialtechnologien. Gewinnversprechend ist das »Institut für Transkulturelle Gesundheitswissenschaften« an der Viadrina im sonst bodenständigen Frankfurt an der Oder. Wer sich in den Masterstudiengang einschreibt, erfährt, »Warum die Menschheit vor einem Evolutionssprung steht« und wie der Glückscode lautet. Die ursprüngliche Idee einer Einführung in das Studium der höheren Fakultäten ging in diesem Prozeß der Anreicherung im 18. Jahrhundert verloren; damit bahnte sich eine parataktische Ordnung aller Disziplinen an. Die lateinische Sprache wurde zum Spezialgebiet der Altphilologie (wenn auch bis heute gerne akademische Ehrenurkunden auf Lateinisch abgefasst werden, die Benotung der akademischen (nicht der staatlichen!) Prüfungen, der Dissertationen und Disputationen, erfolgt noch zuweilen auf Lateinisch (»summa cum laude«, »eximium«, »rite« etc.). Hiermit die vier-fakultäten-universität | 35

löste sich die alte Universität im Prinzip gegen 1800 auf, etwa zur gleichen Zeit wie das Heilige Römische Reich Deutscher Nation. Es gab Anregungen, die überlebten Universitäten durch moderne Fachschulen zu ersetzen, die alte Vorstellung war jedoch mächtiger und erlebte im 19. Jahrhundert eine überraschende Erneuerung. Die mittelalterliche Institution verschwand nicht zusammen mit dem Heiligen Reich, sondern wurde überraschend modern und weltweit gepflegt. Selbstverständlich konnte ursprünglich kein Jude Professor an einer mitteleuropäischen Universität werden; er hätte per Amt im Senat über die Professuren der Theologie befinden müssen, die nur christlichen Konfessionen dienten, und diese konnten sich nicht gut dem Votum eines Juden unterwerfen, denn die Juden hatten vor mehr als tausend Jahren Christus ans Kreuz geliefert (so die christliche Doktrin, nachdem das Christentum zur Staatsreligion wurde und die Römer nicht mehr des Gottesmordes bezichtigt werden konnten, sie wurden ersetzt durch die Juden). Der erste jüdische Philosophieprofessor an einer europäischen Universität war vermutlich Hermann Cohen in Marburg (1876–1912); die Universität sträubte sich gegen seine Berufung, die Berliner Verwaltung setzte jedoch die Vernunft gegen die Kirche durch.33 Und selbstverständlich konnte generell keine Frau promoviert oder gar Professorin werden; Dorothea Christine Erxleben wurde als erste Frau 1754 in Halle in der Medizin promoviert, danach Dorothea Schlözer 1787 in Göttingen als Doktor der Philosophie (ohne feierlichen Promotionsakt).34 Die Universitäten folgten hierbei den allgemeinen Emanzipationsbestrebungen, ergriffen jedoch als Korporation keine eigene Initiative.

2. Worauf beruht die Struktur der Universität? Die klassische, ins Mittelalter gegen 1200 zurückgehende Universität besteht aus vier Fakultäten, den drei oberen: Theologie, Medizin, Jurisprudenz, und der unteren, Philosophischen, mit den sieben freien Künsten. Es scheint kein Dokument zu geben, das uns über die Gründe und Gesichtspunkte eines Dekrets mit dieser vierteiligen Universität oder einer Verfassunggebenden Versamm36 | kapitel II

lung informierte; die Struktur der Universität ist wohl nur als Faktum überliefert. Die Fächer der unteren Fakultät lassen sich vielfach in unterschiedlichen Besetzungen in antiken und spätantiken Quellen finden,35 wo aber gibt es in der Antike und dem vorhergehenden Mittelalter die Zusammenstellung von Theologie, Medizin und Jurisprudenz? Und dann deren Kombination mit den »artes liberales«? Versucht man, den Universitätsbau in seiner 1, 2, 3 / 4 – Konstellation als in der Sache plausibel und logisch oder natürlich herzuleiten, erleidet man Schiffbruch. Man vergleiche den gelehrten höheren Unterricht in anderen Kulturen, um zu sehen, ob sich etwas wenigstens Ähnliches von der Sache her aufdrängt. Die Suche scheitert – es gibt keine vergleichbare Struktur. Die fast unzähligen neueren Analysen des Ursprungs der Universität im Mittelalter nennen, wenn ich richtig sehe, keinen Grund der Konstellation, die sich kurz nach 1200 europaweit durchsetzt. Weder Herbert Grundmann (1964) noch Martina Roesner (2010)36, um nur zwei Autoren zu nennen, gehen auf die Frage nach der Herkunft der Fakultätenordnung ein. Roesner verfolgt detailliert den Übergang von empirischer Theologie und getrennter Rechtswissenschaft zu wissenschaft lichen Disziplinen im Sinn von Aristoteles, aber welche Käfte führen hier zu einem mittelalterlichen ordo? Wie kommt es genau zu diesen Fakultäten, warum verfestigen sie sich im Schema 1, 2, 3 / 4? Lassen wir den Zufall beiseite. In Europa gibt es keine Vorform dieser Verbindung, und doch folgt die Struktur der Universität eng den antiken Quellen. Um diese Paradoxie zu lösen, muß zuerst geklärt werden, daß »jus« (»right«) und »justitia« (»justice«) nicht dasselbe sind, die Jurisprudenz also keine Gerechtigkeitslehre ist. Platons Dialog Politeia hatte den später hinzugefügten Untertitel »Über die Gerechtigkeit«, aber er ist für unsere Suche nicht einschlägig. Kant wird eine Rechtslehre verfassen, aber keine Lehre von der Gerechtigkeit, also »right«, nicht »justice«. Die Jurisprudenz ist eine erst von den Römern systematisch angereicherte und gelehrte Disziplin,37 den Griechen ist sie unbekannt. Und die Theologie, die mit der ersten oberen Fakultät gemeint ist, lehrt keine heidnischen Kulte und bringt keine Analyse von Delphischen Orakeln oder Religionssitten die vier-fakultäten-universität | 37

in Persien, sondern ist beschränkt auf die eine, zuerst orientalische, dann offi zielle Reichsreligion des römischen Imperiums, ist also auch den Griechen der klassischen Zeit unbekannt. Und wie passen diese beiden Fächer der machthabenden Theologie und des geltenden Rechts zusammen, und was verbindet sie mit der Medizin als der Heilkunde vom menschlichen (nicht allgemein animalischen) Leib in der Mitte? Ist es ein mißratenes Monstrum ungebildeter Mönche oder eine brillante Idee der Hochscholastik?38 Die Lösung liegt in antiken Texten, die die Hochscholastik kannte und die für sie als griechische und römische Philosophie ein hohes Ansehen hatten. Es ist die wenigstens seit Platon immer wiederholte Trias von Seele, Leib und äußeren Gütern, die für ethische (griechische) oder moralische (lateinische) Wertfragen fundamental war.39 Diese Dreiheit wird nicht hergeleitet, sondern als evident vorausgesetzt. Der obligate Vierte der Dreiheit ist der einzelne Mensch, Menon oder Kephalos, jeder. Woran nimmt jeder Mensch ein Interesse? An seiner Habe, an seinem Leib und an seinem seelischen Wohlbefi nden. Diese drei Dinge bilden die Folie für die drei oberen Fakultäten, nur durch sie kommt eine systematische Einheit der drei von einander unabhängigen Disziplinen und damit die Universität zustande. Vorgegeben ist also die Konstellation, wie sie bei den antiken Philosophen als selbstverständlich tradiert wird, und auf sie bezieht sich die Theologie, die sich der Seele annimmt, dann die Medizin, die den menschlichen Leib umsorgt, und letztlich die Jurisprudenz, die sich um die Ordnung der äußeren Güter kümmert. An die Stelle des Vierten, des einen Menschen, treten bei der Universität die geistigen Kompetenzen der artes, die jeder zum Studium benötigt. Zu diesem Ursprung gibt es keine Alternative. Das Studium richtet sich somit nicht unmittelbar auf die angeführten Gegenstände, sondern auf die drei genannten Disziplinen, die sie zu ihrem ausschießlichen Thema haben und als das obligate Medium dienen. Bei der Seele gibt es ein Monopol der christlichen Theologie, beim Leib der arabischen und antiken Medizin, vornehmlich des Galen, und bei den äußeren Gütern des römischen Corpus juris civilis. Die Gegenstände selbst verbergen sich hinter dem Schleier der Wörter, die von ihnen handeln; daher kommt es, daß jeder die drei Schriftgattungen kennt und kaum einer die drei 38 | kapitel II

hinter ihnen versteckten Gegenstände, die deutlich eine systematische Ordnung mit dem Anspruch der Vollständigkeit zeigen. Der »linguistic turn« ist so unübertreffbar gelungen, daß niemand ihn bemerkt. Die Texte, über die in den drei höheren Fakultäten gelesen wurde, beschlagnahmten die Gegenstände, von denen sie handeln, sie unterliegen ihrer exklusiven Bestimmungshoheit. Was nicht als Seelenheil im Testament bestimmt wird, ist kein Seelenheil, auch wenn das subjektive Gefühl dies vorgaukelt; die Heilung der Schmerzen durch homöopathische Mittel oder Akapunktur ist böser Zauber, aber es gibt in Wirklichkeit weder die vorgegebenen Schmerzen noch gar die Heilung. Ich halte den Apfel in meiner Hand – ob er meiner ist, wird nicht durch diesen Besitz, sondern durch einen Gesetzestext entschieden; die Meinung, mein Leib sei mein Eigentum, klingt vernünft ig, ist aber wirkungslos, wenn es (glücklicherweise) nicht so im Gesetzbuch steht. Die Theologie, Medizin und Jurisprudenz müssen mit Eifersucht und Härte ihre Herrschaft gegen gelegentliche Verstöße von Bürgern und gegen andere Deutungen verteidigen, im letzten Fall gegen Häretiker, gegen Quacksalber und Umstürzler der bestehenden Rechtsordnung. Die christliche Theologie definiert, was ein Gebet ist; wer nur wie zum Gebet die Hände faltet und Wörter murmelt, betet nicht, sondern bildet sich dies ein, wie der Theologe unerbittlich lehrt und unterscheidet, bene docet, qui bene distinguit. Ohne Glauben sind die Tugenden ein glänzendes Nichts. Die Humoralpathologie lehrt den Aderlaß. Wer an ihm nicht gesundet, hat einen aufsässigen Körper. In der Rechtsordnung sind keine Steuern der beiden oberen Stände (Klerus und Adel) vorgesehen; die Rechtsordnung bestimmt jedoch ultimativ, was gerecht ist. Seele, Körper, äußere Güter: Die drei Positionen sind nicht auseinander analytisch herleitbar, wir gelangen also weder von den äußeren Gütern mit dem Satz vom Widerspruch bottom up zur Seele noch von der Seele zur äußeren Habe. Es gibt jedoch schon bei Platon eine eindeutige Werthierarchie. Am wichtigsten ist die Seele, dann folgt der Leib, und das Schlußlicht bilden die äußeren Güter, und zwar so, daß eine korrupte Seele top down den Wert des gesündesten und stärksten Leibes und die Reichtümer eines Krösus zunichte macht, und umgekehrt sich die gerechte Seele die vier-fakultäten-universität | 39

durch Krankheit und Armut nicht anfechten läßt. Wer krank ist, hat nichts von seinen Reichtümern, und umgekehrt läßt sich der Gesunde nicht von der Armut zerrütten. Diese Hierarchie der drei Fakultäten entdecken wir nur in den Bereichen, auf die sich ihre Disziplinen beziehen, sie liegt nicht offen zutage in der paritätischen Anordnung, in der etwa der Jurist sein Geschäft unabhängig von der Frage betreibt, ob der Besitzer der Güter Othello oder Jago ist. Wir können also den Theologen, die sich an Platz 1 setzten, nicht nur antiken Tiefsinn, sondern auch feinste Schläue testieren. Ohne daß es zutage trat, war ihre Macht gesichert. Niemand hatte Zugang zur Seele und damit zum höchsten Gut außer ihnen. Erinnert sei an die Abfolge von Glaube, Liebe und Hoff nung (1. Kor. 13, 13). Der Glaube reserviert sich die erste Stelle und kann dann billig fordern, daß er als Bedingung von Liebe und Hoff nung fungiert, wie auch Augustin zweifelsfrei gesehen hat – die Tugenden der Heiden sind pures Blendwerk, denn ihnen fehlt als Bedingung alles Guten der christliche Glaube. Bis hin zur Aufk lärung galt die Reihenfolge in den unterschiedlichen Konfessionen und Sekten unisono, weil alle an der Spitzenstellung des Glaubens im Wertgefüge hingen. Sobald die Aufk lärung den Menschen aus eigener Vernunft für moralisch mündig erklärte und den Glauben und die Religion abhängig machte von der Moral, war der Bann gebrochen.40 Zurück in die Hochscholastik und ihre subtile Architektur der Universität. Den folgenden Absatz sollte nur lesen, wer bei konstellativen Gedanken schwindelfrei bleibt. Seele, Leib und äußere Güter bestimmen die Ordnung der oberen Fakultäten. Aber folgt nicht die Platonische Polis demselben Aufriß? Die Tugend der Seele ist die phronesis, die Klugheit; die Tugend des Leibes ist der Mut, und die Tugend der äußeren Güter die Bescheidung. Und so auch der Aufriß der Ständelehre. An der Spitze stehen die dialektisch geschulten Philosophen, auf sie folgen die Wächter, die mutig ihr eigenes Leben im Kampf wagen, den unteren Stand bildet die Sphäre der Ökonomie mit den äußeren Gütern. Spielen wir diese Struktur in die Universität hinüber, so ersetzen problemlos die Theologen als der geistig-geistliche Stand die Philosophen, die Ökonomie befaßt sich mit den äußeren Gütern der Jurisprudenz, problematisch ist nur die Mittelpartie – was hat die Medizin der Universität mit dem 40 | kapitel II

Militär des Wächterstandes zu tun? Antwort: In beiden Fällen geht es um den Leib. Bei den Wächtern wird er der Gefahr ausgesetzt, dazu bedarf es der Tugend des tätigen körperlichen Muts, in der Medizin werden dagegen die Leiden des Leibes kuriert, die dritte Position ist wieder problemlos identisch. Es ist dieselbe Konstellation, die den Schluß zuläßt, daß die mittelalterliche Universität auf dem Grundriß der Platonischen Polis errichtet wurde. Aber damit ist die Isomorphie mit der feudalen Gesellschaft gefunden; sie teilt mit Platons Polis die Dreiteilung in Nährstand, Wehrstand und Lehrstand. Die ökonomische Grundlage wird durch die äußeren Güter und die laboratores sicher gestellt, der Wehrstand (der bellatores) ist mutig im kriegerischen Einsatz des eigenen Körpers, der als Patient Gegenstand der Medizin ist, und die Seele (im Namen der oratores) befaßt sich mit den Lehren der Weisheit. Es wird auf dasselbe Muster von äußeren Gütern, Leib und Seele zurück gegriffen, und in diesem einheitlichen ordo lebte das Mittelalter in seinem wahrhaft geschlossenen Weltbild. Die Universität lehrte drei Buchweisheiten, verba, nicht res; erst mit der Abwendung vom Mittelalter wird der »linguistic turn« der Scholastik außerhalb der Universitäten zurückgewendet mit der Losung »zu den Sachen selbst«, aber nicht mehr in der alten Ordnung. Die einzige Erklärung der Dreier-Konstellation finde ich im Philosophischen Lexicon (2. Auflage 1740) von Johann Georg Walch. Walch sagt unter dem Stichwort »Facultät« zur Frage des Dreierkanons, er wolle »von dem historischen Ursprung dieser Facultäten absehen und die Sache selbst einsehen«41. Bei dieser Einsicht in die Sache selbst gelangt er jedoch zur auch historisch korrekten Lösung, er kennt nur nicht die konstellative Güterordnung aus der antiken Literatur. »Die vier […] Theile, als die Theologie, Rechts-Gelehrsamkeit, Medicin und Philosophie, müssen nach der Beschaffenheit ihrer Objectorum, und der daher dependirenden Nutzen gesetzet werden, und weil die Philosophie allgemeine Wahrheiten fürträgt, so könte man die wahre Gelehrsamkeit, so directe unsere Glückseligkeit befördert, eintheilen in eine allgemeine, so die Philosophie, und in eine besondere, welche die Theologie, RechtsGelehrsamkeit und Medicin unter sich faste. Diese haben billig folgenden Rang unter sich. Oben steht die Theologie, weil sie den Weg zur ewigen Glückseligkeit zeiget […]. Hierauf folget die Medicin, die vier-fakultäten-universität | 41

welche sich um die Gesundheit des Leibes bekümmert, und weil unter den zeitlichen Gütern das Wohlseyn des Leibes billig das vornehmste, so solte sie gleich nach der Theologie folgen, und denn machte die Rechts-Gelehrsamkeit den Beschluß.«42 Also eine Zweiteilung in »allgemein« und »besonders«, und die drei auf besondere Güter gerichteten Fakultäten ordnen sich in die Dreiheit von Seele, Leib und äußeren Gütern. Walch will von den historischen Beziehungen absehen, aber seine systematische Zuordnung trifft genau die geschichtliche Lage. Die Dreierordnung der oberen Fakultäten leitet sich aus der antiken Ethik her. Anzufügen ist, daß die drei Interessenbereiche des Menschen nicht verwechselt werden dürfen mit den drei Gegenständen der »metaphysica specialis«, Gott, Welt, Mensch, mit denen sich die drei metaphysischen Disziplinen der rationalen Theologie, der Kosmologie und der Psychologie befassen; sie folgen auf die Ontologie, die »metaphysica generalis« (also auch wieder die Konstellation 1, 2, 3 / 4, in umgekehrter Reihenfolge). Sie sind später die Scheinobjekte der reinen Vernunft, deren Erkenntnis Kant in der Kritik der reinen Vernunft als dialektisch zermalmt. In der vorhergehenden Universitätstradition bilden sie den Lehrstoff der Metaphysik sei es der Theologie, sei es innerhalb der unteren Fakultät. Die untere Fakultät wurde den drei oberen zugefügt im Schema 1, 2, 3 / 4. Die sieben allgemeinen Erkenntnisformen der freien Künste werden auf die drei Disziplinen angewandt und machen aus ihnen allererst studierbare Wissenschaften. Ausgangspunkt sind also die Menschen, jeder ausgestattet mit Seele, Leib und äußeren Gütern, wie die antiken Philosophen versichern. In diesen Interessenbereichen gibt es also eine alte Disziplin (Medizin) und zwei »moderne« Disziplinen (christliche Theologie und römische Jurisprudenz). Für diese insgesamt gibt es wiederum allgemeine Erkenntnisformen, die für sich noch keine Beziehung zu den drei Fakultäten aufnehmen, sondern die Erkenntnis als solche in den »artes liberales« disziplinieren. Die anthropologische Gütertrias stammt ebenso wie die Tafel der sieben »artes« der Antike und dem frühen Mittelalter, wo sie jedoch unverbunden tradiert wurden. Die drei oberen Fakultäten sind wohl erst im Rahmen der Universitätspläne zusammen gefügt worden. So stellt sich heraus, daß selbst der Jurist etwas von der 42 | kapitel II

Astronomie und Gesangskunst verstehen muß, wenn er denn zum Studium befähigt sein will. Seele Theologie Leib Medizin Äußere Güter Jurisprudenz

Lehrstand Wehrstand Nährstand

oratores Klugheit bellatores Mut laboratores Bescheidung

Die unsichtbare Fundierung im Menschen oder der Universität als dem Vierten, dem einheitstiftenden Subjekt, gab der Universität einen Halt, der von ca. 1200 n. Chr. bis 1800 oder 1968 oder 1999 dauerte. Theologie und Jurisprudenz sicherten den machtvollen Bau durch Jahrhunderte bei den Mächten von Th ron und Altar ab, die Medizin bei jedem Bürger. Mit der Wirtschaft brauchte sich noch niemand zu arrangieren. Das Verhältnis der Disziplinen der freien Künste zu den drei oberen Fakultäten ist zunächst so, daß die ersteren die letzteren nicht antizipieren und in sie einführen. Sie kennen sie gewissermaßen nicht. Die »artes« sind Disziplinen sui generis. Einige von ihnen werden in allen Wissenschaften überhaupt gefordert, andere wie Astronomie und Musik sind Felder der Präsenz rationaler, geometrischer und arithmetischer Weltstrukturen. Der Student der Philosophischen Fakultät lernt exemplarisch die Durchdringung und Darstellung komplexer Strukturen, wie sie auch die drei oberen Fakultäten darbieten. Die »artes« sind nicht nur Formen der Erkenntnis, sondern selbst inhaltliche Erkenntnisse, sie sind später der Kritik und Überwindung ausgesetzt, was in der mittelalterlichen Universität nicht vorgesehen war. Ihr Verhältnis zu den oberen Fakultäten war ein dienendes, jedoch auch präjudizierendes. Mit den Mitteln der »artes« ließ sich die immanente Logik und Rationalität der Gegenstände der oberen Fakultäten darstellen, nicht deren Kritik und gar Überwindung. Die Philosophische Fakultät lieferte keine Logik der Forschung, sondern der Erhaltung. Es sollte nichts Neues entdeckt, sondern die Vernunft im Bestehenden expliziert werden. Das wird sogleich an der Theologie deutlich; man stelle sich eine Anweisung der Neuerung vor, mit der die Studenten in die obere Fakultät der Gottesgelehrsamkeit ziehen. Dasselbe galt für die Medizin, in der Galen als Autorität fungierte, und natürlich das Corpus juris, das sich alle Eingriffe verbat und nur grenzenlos kommentiert werden die vier-fakultäten-universität | 43

wollte. Die »artes« verstehen also die Erkenntnis als Freilegung der Vernunft in den autoritären Texten, nicht als Innovation in der zu erforschenden Sache. In dieser Vernunft lassen sich so gegensätzliche Lehren wie die des Aristoteles und der christlichen Offenbarung durch subtile Synthesen und Distinktionen zusammen denken. Das Studium der Scholaren und Gelehrten ist so zu einem harmonikalen Bau gefügt, der die Ordnung des Ganzen in sich darstellt und reproduziert, so wie die Jahresläufe die zeitliche Ordnung der wie ein Buch verfaßten Natur. In der Herrschaft des universitären ordo begegnet den Gelehrten und Studierenden nichts Fremdes, sondern der eigene Geist im Buchstaben der Vergangenheit. Man sieht, daß mit dem Beginn des emphatischen Selbstdenkens diese Herrschaft bezweifelt und dann beseitigt wird. Das Selbstdenken bezieht sich auf die Ursachen der Phänomene, nicht auf das Wesen der Dinge selbst. Es beginnt eine neue Ära erst des Erkennens außerhalb, dann auch innerhalb der Universität. Aus den »artes« wird eine bunte Vielfalt von Fächern, die heute unsere Patchwork-Universität ausmachen, und die Funktion einer Einführung übernimmt das seit Francis Bacons bekannte »novum organum«, eine Methode der Forschung in den unterschiedlichen Disziplinen. Jetzt lautet die Frage: Wie ist zur Gewinnung neuer Erkenntnisse zu verfahren? Die Universität nimmt allmählich teil an der großen Zeitenwende der Neuzeit, die sich nicht mehr an den Autoritäten und Texten orientiert, sondern sich mit ihrer Erkenntnis die Gestaltung der Zukunft vornimmt und sich damit vom linguistic turn ab- und den res ipsae zuwendet. Gab es in der alteuropäischen Universität eine Bildungsidee? Bildung ist sicher keine treibende Kraft und keine explizite Zielsetzung der Universitäten;43 es gibt keinen entsprechenden Begriff, denn »eruditio« bedeutet »Gelehrtheit«, und konkurrierende Wörter scheint es nicht zu geben. Weder der Mensch noch der Bürger soll in der Universität gebildet werden. Es ist allenfalls darauf hinzuweisen, daß die viergliedrige Struktur, wie wir sahen, auf den »ganzen Menschen« zielt. Die Studierenden konnten sich in der Universität wiederfinden, so wie der Bürger der Platonischen Polis sich in der Polis im Ganzen als seinem Makrokosmos selbst auffi nden konnte. Wie die Polis, so läßt sich auch die Struktur der 44 | kapitel II

Universität im Ganzen dechiff rieren als das Großbild seiner selbst, als ein Makros-Anthropos. Eine der Einbruchstellen sind die sieben freien Künste; sie konnten ihr Monopol als Disziplinen in der unteren, philosophischen Fakultät nicht bewahren und verloren damit das Privileg der Einführung in das wortbezogene Wissen. Die untere Fakultät wurde zum Sammelbecken vieler Disziplinen. Umgekehrt verloren die überlieferten »freien Künste« den Kontakt mit den Künsten und Wissenschaften, die die neue Welt der Neuzeit zimmerten, revolutionär und stürmisch und ohne Rücksicht auf die Universitäten, die sich ängstlich um Thron und Altar scharten. Die Theologie sollte sich jetzt nach der Glaubensüberzeugung des Regenten richten, »cuius regio eius religio«. Diese Lösung war politisch effizient, aber zynisch für den Glauben. Mit der republikanischen Staatsverfassung und einer von der Moral bestimmten deistischen Religion wurde die absolutistische Liäson liquidiert. Die individuelle Universität war identifizierbar durch den Namen der Stadt wie Bologna und Paris oder später des Gründungsfürsten; er nobilitierte die Institution und machte sie unverwechselbar.44 Die Mitglieder nahmen an dieser Würdeposition teil. Die Universität als europäische Korporation hatte durch ihr Gefüge eine Aura, die sie allen individuellen Eingriffen entziehen sollte; die Notwendigkeit ihrer Gliederung gab ihrem Körper einen ähnlich hieratischen Rang, wie er der Kirche eignete. Die feierlichen einzelnen Gründungen mussten der Papst und der Kaiser oder König vollziehen. Im Gesamtbau war die Theologie aus jüdisch-christlicher Tradition auf die Seele gerichtet, die Medizin aus griechischen (später auch arabischen) Quellen auf den Körper und das römische Recht der Juristen auf die äußeren Güter; die »artes liberales« der vierten bzw. ersten unteren Fakultät in griechisch-römischer Tradition erfassten die freie Geistestätigkeit in ihren beiden Feldern der mathematischen und der sprachlichen Disziplinen. In Arithmetik und Geometrie, Astronomie und Musik erfährt sich der Geist selbst, weil die jeweiligen Artikulationen und ihre harmonikale Ordnung ihm eigentümlich sind. In Grammatik, Rhetorik und Dialektik erfährt er seine logoshafte Form. Zu beidem ist er durch seine Natur veranlagt, zu beidem soll er sich in den sieben »artes liberales« ausdie vier-fakultäten-universität | 45

bilden und sich selbst verwirklichen (nicht sich selbst individuell bestimmen). Mit einigem guten Willen kann man der alteuropäischen Universität also testieren, dass sie den Menschen in seinem »Wesen« enzyklopädisch thematisiert und in einer konstellativen Ordnung erfaßt. Die Frage des Wozu der Fächer und ihres Zusammenhangs läßt sich auf diese Weise beantworten; die Institution hat eine zentripetale Struktur, sie läßt sich nicht von außen leiten, sondern entwickelt sich aus der Wesensbestimmung des Menschen und Bürgers selbst. Es ist das Ordo-Denken des Mittelalters, das die Universität wie die feudale Gesellschaft durchdringt und ihr eine geschlossene konstellative Gestalt gibt.45 Universum und Multiversum; Orient und Okzident, Griechenland und Rom: Die bekannte Kulturwelt wird in dem Gebilde insgesamt vereinigt, planlos, denn es ist niemand auszumachen, der als Architekt dieses Kunstbaus gelten könnte. Architekt: Seltsamerweise gibt es feste architektonische Konzepte der Kirche und der Paläste und Burgen, aber ist eine Universität vor dem 19. Jahrhundert als architektonische Einheit konzipiert worden? Es wurde offenbar auch nicht in Anlehnung an die »città ideale« eine »università ideale« entworfen (vielleicht kann man die »Scuola di Atene« so benennen). Die späteren Bauten übernahmen die Anlagen der Ordenssitze (Oxford, Cambridge, Marburg) oder imitierten klassizistische Paläste (Berlin, München, Bonn). Erst die Campus-Anlage versucht, der Universität eine eigene architektonische Gestalt zu geben. Die Universität ist die einzige Institution, die in allen europäischen Ländern ohne zentrale Direktiven wirkte und sich bis heute nicht in der Wirklichkeit, doch dem Namen nach erhalten hat; ein Grund dieser historischen Resistenz liegt in der Ordnung, die durch ihre Konstellation zugleich das Sein wie auch das Erkennen bestimmen sollte. Unsere Rekonstruktion ist ideell, in der historischen Wirklichkeit wird man diese Einheit der Universität nicht fi nden, im Gegenteil: Vielfachen Zwist, Hader und lächerliche neben imposanten Figuren wie Albertus Magnus. In der Polemik gegen die zerrissene und herabgekommene Gegenwart neigen Publizisten jedoch dazu, die Vergangenheit als einheitlich und gut zu beurteilen.46 Die Universität ist kein philosophischer Entwurf wie das Curriculum in der Platonischen Politeia, sondern hat reale Funktionen 46 | kapitel II

zu erfüllen. So setzt sie seit ihrem Beginn auf den Erwerb einer funktionalen Erkenntnis. Der Mensch im Ganzen gibt den Grundriß, aber nur in seinem repetierbaren geistigen Können. Die Theologische Fakultät vermittelt eine Kenntnis der Kirchendoktrin, sie ist jedoch kein Ort des flammenden Glaubens und der geistigen Erbauung oder gar der Visionen; der Heilige Franziskus sucht nicht die Theologische Fakultät auf, um dort seine Eingebungen zu erleben. Die Medizinische Fakultät liest Texte von Galen und doziert über Diagnose und Therapie, aber sie fordert von niemandem besondere Heilkräfte. Die Juristische Fakultät lehrt die Gesetze des Corpus Juris Civilis et Canonici (also die zweierlei »Jura«), sie lehrt nicht die Kunst der Gesetzgebung und zeigt nicht, wie man äußere Güter erwirbt und reich wird. Die Philosophische Fakultät doziert über geistige Produkte, sie lehrt nicht, wie man sie selbst erzeugt; die »artes liberales« werden nicht zur Kunsthochschule; selbst für das Studium der Musik an der Universität braucht der Student nicht musikalisch kreativ zu sein. Eine Ausnahme ist die Professur für Poetik; aber verlangt waren nur Gelegenheits-, besonders Huldigungsgedichte, und es kennzeichnet diese akademische Poesie, dass wohl kein Werk der unzähligen Poetikprofessoren in die europäische Literaturgeschichte eingegangen ist. Ein wahrhaft poetisches Vermögen wurde dagegen vom Professor für Astrologie verlangt, den die Universität von Bologna nach einem Bericht von 1371 gesondert durch die Stadt finanzieren ließ.47 Ob er dunkle Prognosen zum Jahr 1999 stellte und den Reformen ein böses Ende oder eine glimpfliche Wende prophezeite, ist nach der Aktenlage nicht erkennbar. Er wird auch seit längerem im Etat der Stadt nicht mehr geführt. Die heutige Antragslyrik aller Disziplinen harrt noch ihrer poetologischen Bearbeitung, der wir nicht vorgreifen möchten. Der Ursprung dieses Profi ls ist die Platonische Akademie. In ihr wurde die Erkenntnis in bestimmten Disziplinen verlangt, aber niemand brauchte und sollte über das »daimonion« des Sokrates verfügen. Die Universität ist eine nüchterne Institution der Lehre und des methodischen Erkennens, sie überlässt sich nicht der Inspiration und Ekstase, und Faust, der alle Fakultäten durchstudiert hat und dabei nicht sein Genügen findet, mag sich, akademisch gesehen, immer in seinem Enthusiasmus dem Höheren oder Helena die vier-fakultäten-universität | 47

ergeben – er wird nicht weit kommen. Die Universität erkennt in ihren Mauern nur an, was sich verstetigen und abprüfen läßt; sie folgt nicht Faust, sondern eher Wagner und doziert post festum über Fausts extravagante Ziele und Goethes außerakademische Dichtung. Nietzsche verließ konsequent die Universität, als er eigenständiger Philosoph werden wollte und Die Geburt der Tragödie ohne wissenschaft liche Nachweise und Fußnoten schrieb, voller Willkür; der größte deutsche Philologe, sein älterer Mitschüler von Schulpforta, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, forderte ihn deswegen zum Duell heraus.48 Die Universität hat etwas anderes zu bieten als geniale Eingebungen; sie sucht in ihrem Kern die Erkenntnis als solche auf den verschiedenen Gebieten der Kultur. Erkenntnis als Praxis systematischer Kritik und neuer Begründung, in einem eingeübten Metier, ohne Einrede von außen. Es liegt auf der Hand, dass es hier zu blamablen Blockaden kam49 – aber was wäre aus der Gräzistik geworden, wenn sie Nietzsche und nicht Wilamowitz zum methodischen Vorbild gewählt hätte? Was wäre aus den Geistes- und Kulturwissenschaften geworden, wenn sich später Adorno und Heidegger ungehemmt durchgesetzt hätten? »Università degli Studi«, die alle Erkenntnis vereinigt, passiv oder kreativ, produzierend und lehrend. Es bleiben ungelöste Fragen: Wer finanziert diese Institution? Sie produziert und vermittelt Wissen oder Erkenntnisse, aber sie tritt nicht auf dem Markt auf, um ihre Produkte zu verkaufen. Wer sie finanziert, sucht Einfluß auf sie zu gewinnen, und sei es in der Form von Loyalität. Wie verfährt die Universität mit den Erfi ndungen und Entdeckungen, die außerhalb ihrer Disziplinen naturwüchsig gemacht werden oder für die Methoden entwickelt werden, die sich um die universitären Schnittmuster nicht kümmern? Wie verhält sich die Universität, wenn außerhalb ihrer Disziplinen ein »novum organum« propagiert wird? Dabei waren es keine aristotelisch-arabischen Quellen in den integrierten Fächern, sondern systemsprengende Vorgehensweisen in der Auseinandersetzung mit der Natur und folglich auch der Gesellschaft. Wie kann das technische Können, bei dem die Zusammenarbeit von Kopf und Hand gefordert ist, in die universitäre Enzyklopädie einbezogen werden? Die Universität kann sich nicht wahllos öff nen, und sie kann sich den Neuerungen nicht verschließen. Eine prinzipielle Lösung ist ausgeschlossen, es 48 | kapitel II

kann immer nur ein ad-hoc-Arrangement geben. Über 800 Jahre waren die Universitäten dazu in einem erstaunlichen Ausmaß in der Lage.

3. Stagnierende und lebendige Scholastik; außeruniversitäre Erkenntnis Die Universitäten sind bis zum Ende der Aufk lärung ein höchst komplexes Phänomen mit konservativen, auf den dogmatischen Vortrag gerichteten Aufgaben und andererseits innovativen, zur freien Urteilsbildung führenden Kräften, auch in Aufnahme eigenständiger Theorie- und Erkenntnisinteressen aus der griechischen Philosophie, tradiert und inspiriert durch arabische Gelehrte. Die Opposition gegen die Scholastik zu Beginn der Neuzeit förderte das Bild der in Distinktionen und bloßen Wörtern kramenden Lehrund Lernanstalt. Die neuere historische Forschung stellt dagegen das lebendige, kreative Mittelalter in den Vordergrund. Es fehlt jedoch häufig der Hinweis darauf, daß die Universität kein Monopol im Bereich des Wissens oder gar der Erkenntnis besaß. Die Fürstenhöfe und die Städte traten ihnen unabhängig zur Seite und wurden Zentren der Erkenntniskultur. Für die gelehrten Fürsten sei nur auf den Staufer Friedrich II. (1194–1250 n. Chr.) in Palermo und auf Alfons X. von Kastilien (Alfonsinische Planetentafeln, 1252), sodann auf die Höfe von Urbino und Mantua, Mailand und später Prag verwiesen. Die Kaufmannschaften der Städte konkurrierten mit dem Adel, der Orient-Handel diente dem Wissenstransfer und stimulierte das Abendland, nicht nur durch den Import von Gewürzen, sondern auch der Null aus dem Osten, der Astronomie und der Aristotelischen Philosophie.50 Neben den Universitäten gab es weiterhin die Klosterschulen, im 15. Jahrhundert wurden die ersten getrennten Akademien gegründet. Das Wissen zirkulierte und wurde gespeichert und erneuert im Kapillarsystem der mittelalterlichen Vielkultur. Die Gründung der ersten Universitäten fällt in die Zeit der Blüte von Scholastik und Gotik in der Malerei und Architektur.51 Peter Burke skizziert eine stagnierende Universität: Im Mittelalter galt als selbstverständlich, »dass die Auffassungen und Interpredie vier-fakultäten-universität | 49

tationen der großen Gelehrten und Philosophen der Vergangenheit von der Nachwelt durch nichts Ebenbürtiges ersetzt noch widerlegt werden könnten. Das heißt, die Aufgabe des Lehrers beschränkte sich darauf, die Ansichten von Autoritäten wie Aristoteles, Hippokrates, Thomas von Aquin zu erläutern. Welche Disziplinen man studieren konnte, war – zumindest offiziell – festgelegt: die sieben Artes liberales und die Fächer der höheren Fakultäten, Theologie, Recht und Medizin.«52 »Der medizinische Scholastizismus gehört zur gleichen geistigen Welt wie die mittelalterliche Naturphilosophie, in der […] Analyse, Vergleich und Harmonisierung von Texten der übliche Gegenstand, syllogistische Argumentation die übliche Methode der Beweisführung waren.«53 Kein Zufall, dass die Astrologie durch ihre hohe Rationalität oder scholastische Raffinesse zur Blüte in allen Fakultäten gelangen konnte. Die Rezeption der Aristotelischen Analytica posteriora mit ihrer Wissenschaftstheorie und das Studium der naturwissenschaft lichen Schriften des Aristoteles haben zwar den Blick aus der Empirie der Offenbarung und des Römischen Rechts fortgelenkt zu den Prinzipien der Wissenschaft, speziell der Theologie und Jurisprudenz,54 aber das Monopol der Offenbarungsreligion und des Corpus Justiniani wurde dadurch nicht gebrochen. Im Vordergrund der mittelalterlichen Universität stand der eine Text und seine Kommentierung. Erst die Renaissance und die Aufk lärung führen zu einem Bruch mit den sanktionierten Dogmen. Die Erforschung der Voraussetzungen der neuzeitlichen Naturwissenschaft hat dagegen an die Stelle des von der Aufk lärung bevorzugten Bruches zwischen Mittelalter und Neuzeit die Kontinuität gestellt. In den Aristoteles-Kommentaren wurden z. B. die Theorien von Galilei und Newton vorbereitet, wie in einer Vielzahl wissenschaftsgeschichtlicher Untersuchungen dokumentiert ist.55 Der Glanz von Gottes Schöpfung fällt dadurch auch auf die sonst unbedeutende Cambridger Universität: »Nature and Nature’s laws lay hid in night: / God said, Let Newton be! and all was light.«56 In der älteren Beurteilung der mittelalterlichen Universität fehlen noch die Kenntnisse der Impulse, die von den Arabern ausgingen und besonders zu naturwissenschaft lichen Erweiterungen führten. In der Medizin wurde nicht nur Galen vorgelesen, sondern zuweilen auch von Nicht-Professoren Anatomie praktiziert. In Lé50 | kapitel II

rida und Montpellier durften ab ca. 1366 Leichen seziert werden; König Juan I. gewährte das Privileg, die Städte sollten den Anatomen »jährlich den Leichnam eines Hingerichteten für anatomische Zwecke« übergeben, es müsse »›pro dicta speriencia seu anathomia fienda‹ die Todesstrafe an dem Verbrecher durch Untertauchen ins Wasser vollzogen werden.«57 Eine innovative Anatomie ließ sich aus der einen, wiewohl intakten Leiche pro Jahr kaum entwickeln, aber es gab sie. Für die andere Universität des Mittelalters spricht die frühe Aufnahme der Kritik, ritualisiert in der Form von »Quaestiones« und »Sophismata«. Mit dieser Komponente macht sich die Universität partiell den Kern der europäischen Philosophie und Wissenschaft zu eigen. Beides entsteht aus der Kritik an Mythen und Meinungen zu Details oder zum Ganzen von Natur und Gesellschaft. Wenn Demokrit sich über die Erklärung von Naturphänomenen freut, so ist mit Sicherheit die Freude über die Widerlegung der bisherigen Meinungen ein Ferment seiner Lust. Das Widerlegen war das Salz im agonalen Denken der Griechen, aus der Widerlegung entsprangen die Platonischen Dialoge, Aristoteles formalisierte die eristischen Künste in seinen Widerlegungen, die professionellen Skeptiker widerlegten alles und besonders sich selbst, und in domestizierter Form wurde die Skepsis sogleich in die mittelalterlichen Schulen und Universitäten geholt. Auf die Vorlesung autorisierter Texte und ihre Kommentierung durch den Magister folgte das Ritual der Quaestiones auf der Seite des Auditoriums. Die Argumente in der Beantwortung folgten logischen Regeln. Die Öffnung der akademischen Unterweisung durch das Gegenüber des einen Magisters und der Mehrzahl von Opponenten und Respondenten führte zu einer Spannung, die sich im Titel des Sic et non von Peter Abälard (1122–1123) widerspiegelt. Es ist die Antithetik von Vortrag und Kritik, von Regierung und Opposition im Zweikammersystem des Studiums oder besser: der menschlichen Vernunft. So steht, optimistisch beurteilt, schon am Anfang der Universität das neue Zeitalter der Kritik, Kritik in wohl dosierter Form. Aber natürlich hat es die erkenntnisversessenen Feuerköpfe in Europa immer gegeben, auch im geschlossenen Mittelalter. Wie jedoch mit unpassenden Kritikern verfahren wurde, gehört zu den Begleitthemen der Geschichtsschreibung und bestätigt gegen alle die vier-fakultäten-universität | 51

Apologie die Rede vom finsteren Mittelalter.58 Bekannt ist der Konfl ikt zwischen Theologie und aristotelischer Philosophie in Paris und Oxford, in dem die Kirche nicht nur die Bücher unliebsamer Lehren verbrennen ließ, sondern auch ihre störrischen Autoren.59 Bis tief in die Neuzeit griffen Thron und Altar mit ihren großköniglichen Machtmitteln in die Auseinandersetzungen ein und erzwangen Gehorsam in der beglaubigten Lehre. Das allmähliche Erwachsenwerden der Kinder des Glaubens führte zum Selbstvertrauen der Bürger im Zeitalter der Kritik und zur Auflösung der Universität, an deren Spitze die Theologie stand. Dieser Aspekt der Universität erklärt vieles, vor allem die Blüte der außer- und häufig antiuniversitären Forschung. Die Kluft zwischen der Philosophie von Platon und Aristoteles einerseits und der sich im Anschluß an den Hellenismus neu entwickelnden Naturforschung lag besonders darin, dass die ersteren auf eine abgeschlossene Wesenserkenntnis zielten, während die neue Forschung ein offenes System von empirisch erkennbaren, in der Erkenntnis auch korrigierbaren Eigenschaften und Relationen annahm. Die einen waren Begriffsrealisten und konnten mit den Neuerungen nichts anfangen, die anderen waren Nominalisten60 und wollten den Fortschritt der Eigenschafts- und Relationserkenntnis vorantreiben.61 Dort die Vergangenheit, hier die Zukunft. Die Scholastik konzentrierte sich auf das Denken als Unterscheiden, »bene docet qui bene distinguit«, und bewahrte so ihr geordnetes Dogmengebäude.62 Da Platon und Aristoteles wohlverschnürte Definitionen suchen und liefern, sind sie ideal für das Lehren fertigen widerspruchsfreien Wissens in den Universitäten, während sich umgekehrt die Nominalisten als Abenteurer63 in der herrschaftsfreien neuen Forschung bewegen. »Fortschritt«; von ihm zu sprechen wird jetzt notwendig, während das Mittelalter die Wahrheit in den Autoritäten sah und der Fortschritt in den Irrtum statt in die möglichst große Nähe zu den Quellen aller Wahrheit führen musste. »Progress«, »advancement«, »hope«, »free judgments after due examination« werden zu Signalwörtern der neuen Wissenschaft. Forschung als Entdeckung des Neuen wird jetzt gegen die Wahrheitsbewahrer in den Universitäten möglich. Die Forschung konnte die substantiellen Entitäten als ein »I know not what« setzen und Eigenschaftsbündel zusam52 | kapitel II

men fügen, bei denen sogar mit Widersprüchen großzügig verfahren werden konnte. Das Licht erwies sich bald als Welle, bald als Korpuskel; es wurde aufgrund dieses Widerspruchs nicht wegdefiniert, sondern als interessanter Gegenstand künft iger Erforschung beibehalten – am widerspruchsfreien Wesen des Lichts sind die aufgeklärten Köpfe nicht mehr interessiert. Europa beginnt, neugierig zu werden und sich von der Vergangenheit ab- und der Zukunft zuzuwenden. Der Humanismus war eine erst italienische, dann europäische Formation, die sich ohne, meistens gegen die Universitäten vollzog. Die »renaissance« der Antike wurde von der Scholastik als Aff ront begriffen, so dass die Universitäten meist an der Genese der Neuzeit keinen Anteil hatten. An dem geistigen Wandel nahmen dagegen intensiv die neuen Akademien (seit 1454) teil, die mit unterschiedlichen, nicht aber scholastisch-universitären Themen gegründet wurden, zuerst in Italien, dann auch in anderen europäischen Ländern.64 Die »artes liberales« verloren ihre Funktion einer wissenschaftlichen Propädeutik und wichen einer ungeordneten Menge neuer Bildungsfächer. »Vorlesungen über Latein und Griechisch und antike Poesie […] und griechische Sprache wurden zum Lehrfach, und die griechisch-römische Götterwelt bewegte die Bildkraft von biblischen zu antiken Themen auch in der Kunst.«65 Francis Bacon lieferte mit dem provokativen Titel des Novum Organum (1620) die Seerouten für die neue Logik der Forschung, die an die Stelle des alten Aristotelischen sog. Organon66 treten sollte.67 Was real ist, bestimmt die Forschung und schafft sich die passende Nomenklatur. Es gibt keine definierbaren Substanzen in der Natur und der Seele, sondern Phänomene mit forschungsfunktionalen Bündeln von Eigenschaften und Relationen, ob es sich nun um die Elemente der Materie handelt oder die Erkenntnisvermögen des Menschen.68 Jede neue Bündelung von Phänomenen birgt das Risiko der Widerlegung und provoziert Kritik und Fortschritt, hier ist man nicht mehr daran interessiert, was etwas ist, sondern daran, wie man seine Eigenschaften bestimmen und vielleicht auch benutzen kann. Die Einheitsstiftung ist provisorisch, sie kann bei neuen Ergebnissen der Experimente geändert werden; wodurch das feste Wesen der Sache verrückt würde. die vier-fakultäten-universität | 53

Descartes scheint noch in der Scholastik befangen, wenn er die Wesenserkenntnis der Seele oder eines Stückes Wachs sucht und am Ende bei der puren »res cogitans« und »res extensa« landet.69 Die neuzeitliche Erkenntnis verfährt anders; sie nimmt das Wachs und sieht in ihm bestimmte Eigenschaften gebündelt; so lange diese Eigenschaften vorhanden sind, verdient das Ding den Namen »Wachs«; gehen sie durch Änderung der Temperatur gesetzmäßig verloren, verliert es das Recht, diesen Namen zu führen; in Energie verwandelt, ist es kein Wachs mehr. Ein Ding kann Lebewesen genannt werden, so lange die Lebenslinie in ihm präsent ist; wird diese durchschnitten, heißt der Baum nicht mehr Baum, sondern Holz. An die Stelle des im Prinzip auch singulären Ursachenwissens (z. B.: Gott ist die eine Ursache der Welt) trat die Erkenntnis von Weltgesetzen.70 Der homogene epikureische Weltraum ermöglichte die Anwendung von Mathematik auf Objekte der Erfahrung und die Gesetzesforschung durch Experimente.71 Platonismus und Aristotelismus erschwerten den Zugang zur neuen Forschung.72 Bestimmte Eigenschaften von Wachs werden durch andere verursacht; es ist sinnlos, hier nach dem Wesen oder dem einen »ergon« zu suchen. Die Forschung ist auf Neues gerichtet und zeigt, wie die bestimmten Eigenschaften gesetzmäßig erzeugt werden können. Gesucht wird die planmäßige Erweiterung der Wissenschaften, De augmentis scientiarum (1623). Mit dieser Vorstellung der planmäßigen Erweiterung ist die im Mittelalter unbekannte Figur des systematischen Fortschritts der Erkenntnis verbunden; jede zu registrierende Erkenntnis wird als Überbietung des bisher Gewussten angestrebt und bewertet und einer künft igen Kritik und Bestätigung überlassen. Erkenntnis ist damit etwas spezifisch anderes als eine Kunst; Künste können neben einander bestehen, die Erkenntnis lokalisiert sich dagegen auf einer Linie der Überwindung und Verbesserung. Bacon hatte die Vision einer planmäßigen Erforschung der Natur und der methodischen Produktion von Erfi ndungen wie Schießpulver, Kompaß und Buchdruck. Die Royal Society, die 1653 gegründet wurde, ging auf seine Anregungen zurück, selbstverständlich ohne institutionelle Beteiligung der Universitäten von Oxford und Cambridge. Die Royal Society und die vielen europäischen Gesellschaften, die nach ihrem Vorbild gegründet wurden, 54 | kapitel II

verstanden sich als Forschungskollektiv mit einem entsprechenden Publikationsorgan, in dem Ergebnisse mitgeteilt und kritisiert und so verbessert wurden. Keine europäische Universität konnte eine gemeinsame Universitätszeitschrift herausgeben, in der die neuen Erkenntnisse der einzelnen Fakuläten einer gemeinsamen Öffentlichkeit mitgeteilt wurden. Eine derartige Einheit der Universität gab es nicht; weder als Wissenschaft ler noch als Lehrer brauchten die Kollegen von einander Notiz zu nehmen. Die Erneuerer wirkten meistens nicht in den Universitäten. Machiavelli war Kanzleisekretär in Florenz, Hugo Grotius und Thomas Hobbes schrieben im Schutz der Krone oder von Adligen als Privatleute ihre großen Werke. William Harvey, Descartes, Gassendi, Malebranche hatten nichts mit der Universität zu tun, und John Locke und G. W. Leibniz sahen sich nicht als Universitätsprofessoren, sondern interessierten sich für die Royal Society und die neue Berliner Akademie. David Hume war kein Universitätsmann (die Bemühungen um eine Professur in Edinburgh scheiterten), so wenig wie Voltaire, Diderot, Rousseau, in Italien Abbé Galiani, Pietro Verri, Cesare Beccaria – »les lumières« war das Phänomen einer großen städtischen und auch noch höfischen Kultur, das von den Universitäten, besonders den Theologen, meist mit einem lebensgefährlichen Haß verfolgt wurde. Alles mit Ausnahmen. In Wittenberg, gegründet 1502, wurde Philipp Melanchthon zum Professor für Griechisch ernannt, einer neuen Disziplin der Philosophischen Fakultät, Alcalà und Leiden sprengten die dogmatischen Fesseln der Scholastik.73 Isaac Barrow und Isaac Newton lehrten in Cambridge. Baruch Spinoza und Moses Mendelssohn waren berühmte Philosophen; sie hatten als Juden keinen Zugang zu den immer christlichen Universitäten. Auch die große Debatte über den Vorrang der »anciens« oder »modernes«, die in Charles Perraults Werk Parallèle des Anciens et des Modernes von 1688–1697 kulminierte, fand außerhalb der Universitäten statt. Der Streit endete mit einem Patt: In den Künsten sollten die Antiken den Sieg verbuchen, in den Wissenschaften dagegen die Modernen. Damit war der Weg für den Klassizismus gegen die barocke Hofk ultur gebahnt, damit auch der Weg für das Bürgertum gegen die feudalen Herrscher. Die Idee der Bildung entwickelt sich unter dem Schutz der Antikenverehrung, die vier-fakultäten-universität | 55

also der »anciens«. Telemach, der Sohn des Odysseus, ist der erste Bildungsreisende in der literarischen Nacherzählung von Fénélon. Die literarische Gattung der Fürstenspiegel fi ndet ihre Nachfolge im bürgerlichen Bildungsroman. Die bahnbrechende Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (1751– 1780) wurde von Diderot und d’Alembert herausgegeben bzw. »par une société de gens de lettre«, die Sorbonne war nicht beteiligt, sondern beleidigt und leistete Widerstand. Die Universitätsstruktur spielte für die Systematik der Wissenschaften keine Rolle, so wenig wie für die Wissenschaftssystematik von Thomas Hobbes im Leviathan.74 Die Universität liegt im Koma; sie wird in der Encyclopédie im Bd. XVII 406–407 kurz erwähnt, statt eines Nachrufs. Ihr Verschwinden in Frankreich wäre wohl außerhalb des Klerus kaum bemerkt worden. Eine für die Folgezeit zentrale Innovation wurde schon gestreift. Es ist die universitäre, aber besonders außeruniversitäre Renaissance der hellenistischen Philosophenschulen der Stoiker, der Epikureer und der Skeptiker. Die mittelalterlichen Universitäten waren meist an Aristoteles, zuweilen auch an Platon orientiert, Texte wie Lukrez’ De rerum natura dienten zu sprachlichen Übungszwecken, aber nicht zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung. Erst im 15. und 16. Jahrhundert wurde der Hellenismus zu einer inspirierenden Alternative, und es wurde der philosophische Pluralismus aktuell; der Denker mußte selbst entscheiden, welche Philosophie für seine Belange die beste sei.75 Justus Lipsius votierte für die Stoa, Pierre Gassendi für Epikur, Montaigne wurde Skeptiker, alles außerhalb der alten Universität. Daneben aber auch die beiden großen Schneisen, die Leibniz aus der Gegenwart in die Antike schlug und die besagten, dass er, Leibniz, in der Nachfolge Platons, John Locke aber in der von Aristoteles stand.76 Es sind zwei Positionen, die so gut wie die drei hellenistischen Richtungen in der zeitgenössischen Republik der Gelehrten eingenommen werden. Sie etabliert ihre eigenen Verbindungen, ohne sich um die Belange der Universitäten zu kümmern. Die »Università degli studi« war ursprünglich zwar berufsorientiert, aber zugleich ein Ort des rein wissenschaft lichen Interesses, des Lehrens und Lernens, des Rituals des Disputierens, auch geordneten Reflektierens und der Disputation zur Vergabe von 56 | kapitel II

akademischen Graden, d. h. Hoff nungen auf die mögliche Ausübung bestimmter städtisch oder staatlich privilegierter Berufe in und außerhalb der Universitäten.77 Dies galt für alle drei, bald auch vier Fakultäten. Eine Dissertation sollte keine Neuigkeiten (»res novae«) enthalten, sondern das tradierte Wissen der Autoritäten neu darstellen und verteidigen. Selbst die medizinische Fakultät ist noch für Kant textgestützt, sehr künstlich wird dafür nicht mehr Galen, sondern die Medizinalordnung genannt.78 Die Lehre erfolgte in Vorlesungen durch den Magister, Doktor oder Professor vom Katheder herab, wie es mittelalterliche Darstellungen und noch die Zeichnungen der Professoren im 19. und 20. Jahrhundert zeigen.79 Gegenstand sind grundsätzlich tradierte Lehrbücher; die Kommentierung der Texte kann originelle Weiterentwicklungen in den verschiedenen, besonders durch das Aristotelische Werkcorpus vorgezeichneten Richtungen enthalten, die Lehre ist jedoch nicht mit der Idee gemeinsamer Forschung verknüpft , sondern verfährt durchweg doktrinal. Die Prüfung sah Disputationen im strengen Ritual von Angriff und Verteidigung der Dissertation und bestimmter Thesen vor. Bis ins 18. Jahrhundert war die offi zielle Universitätssprache in den »praelectiones« und »disputationes« das Lateinische. Studenten wurden angehalten, untereinander Lateinisch zu reden.80 Sie konnten in den Semesterferien in keinem standesfremden Beruf arbeiten. Das Hauslehrerelend, das wir z. B. aus der Biographie Friedrich Hölderlins kennen, hat hier seinen Ursprung. 1734 wurde ein philologisches Seminar in Göttingen gegründet, das als Vorläufer des ersten Seminars an einer deutschen Universität gilt,81 es folgt das Göttinger Geschichtsseminar unter Gottfried Achenwall und Johann Stephan Pütter. Hier begann ein Stück universitärer Kultur, mit dem wir noch heute im Ausland, besonders in katholischen Ländern, Aufmerksamkeit erregen. In gleicher Höhe sitzen Lehrende und Lernende an Tischen und diskutieren gleichberechtigt in der Nationalsprache über ein Problem der Forschung, die allmählich in die Universitäten eindringt. Hier also eine Wende aus der hierarchischen, an Autoritäten orientierten vertikalen Ordnung zur horizontalen, dialogischen Verfassung. Die heutigen Vorlesungen folgen dem älteren Modell, die Seminare und Übungen dem neueren. die vier-fakultäten-universität | 57

Es wurden in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auf Wunsch des Berliner Ministeriums platonische Dialoge übersetzt, nicht, weil man der Ideenlehre zugetan war, sondern wegen der Lehrform; sie zeigte an den preußischen Universitäten größte Defi zite, man wünschte eine stärkere Einbeziehung der Studierenden und wollte die sokratischen Dialoge als Muster vorstellen.

4. Inhalt und Methode Für die von der Scholastik beherrschte mittelalterliche Universität ist es konstitutiv, dass sie eine hierarchische Struktur des Seienden und damit auch der auf dieses Sein jeweils gerichteten Erkenntnis annahm. So partizipierten die Himmelskörper an der ideal-göttlichen Kreis- bzw. Sphärenbewegung, die sich im sublunaren Bereich dagegen nur in verzerrten und gestörten Bahnen durchsetzen konnte. Damit handelten Astronomie und Physik notwendig von zwei verschiedenen Erkenntnisbereichen. Desgleichen gelten für die empirische und die rationale Seele des Menschen unterschiedliche Erkenntnismodi. In der Astronomie läßt sich der Zwang zu einem Paradigmenwechsel, der die Genese der Neuzeit und der neuzeitlichen Wissenschaft kennzeichnet, leicht modellhaft darstellen. Kopernikus erneuerte die hellenistische Hypothese, dass die Erde um die eigene Achse rotiert und die Planeten insgesamt die Sonne umkreisen; daraufh in entdeckte Kepler, dass die Planetenbahnen keine Sphären, sondern Ellipsen sind. Damit aber war die Aufgabe gestellt, die Abweichung von der idealen, durch die Idee oder Gott gelenkten Umlaufbahn durch Kräfte im Sonnensystem zu erklären; genau dies ist das Problem, das Newton löste und dadurch die Gesetze der Physik und Astronomie vereinte – der Apfel, der vom Baum fällt, und die Planeten in ihren Ellipsen um die Sonne folgen denselben Gesetzen. Während die Aristotelische Scholastik von differenten Raumqualitäten ausging, die den Körpern ihren natürlichen Ort zuwiesen, erschloß Newton einen homogenen Weltraum, in dem die aristotelische Differenz von natürlicher und gewaltsamer Bewegung entfiel. 58 | kapitel II

Damit war eine der Prämissen der neuzeitlichen Wissenschaft gewonnen: Die Wissenschaften richten sich nicht nach der unterschiedlichen Dignität der Inhalte, sondern die Inhalte werden umgekehrt durch die Wissenschaften bestimmt. Im ersten Schritt der »Kopernikanischen Wende« der Kantischen Kritik vollzog die Philosophie die Wendung, die in der Naturwissenschaft vorgezeichnet war.82 Cassirer gab die pauschale neukantianische Losung aus: Vom Substanz- zum Funktionsbegriff. Es ist die irreversible Nivellierung und Homogenisierung der Gegenstandswelt, wie Blumenberg in der Legitimität der Neuzeit schreibt: »Es gibt keine bevorzugten und keine unwürdigen Gegenstände der Theorie. […] Was ein Gegenstand ›bedeutet‹, das zeigt sich erst, wenn er als ›Instanz‹ in der Methode fungiert, also an dem, was er ermöglicht, nicht an dem, was er ist. Hier bildet sich ein neuer Begriff von ›Reinheit‹ der Theorie aus, der nichts mehr mit dem antiken Ideal zu tun hat, sondern eher auf das verweist, was wir heute ›Grundlagenforschung‹ nennen, bei der wir nur den vordefinierten Zweck ausschließen, aber durchaus voraussetzen, daß theoretische Ergebnisse selbst mögliche Zwecke erzeugen, den Weg zu Anwendungen freilegen.«83 Blumenberg zeigt den Übergang vom ontologischen Realismus zum methodologischen Nominalismus in extenso bei Francis Bacon. Ein anderes Dokument der Wende von den essentiellen Inhalten zur Methode ist der Discours de la méthode (1636). Kant nannte die Kritik der reinen Vernunft in der 2. Auflage von 1787 in der Bacon-Nachfolge einen »Traktat von der Methode« (B XX), und für Dilthey stand bei der Begründung der Zweiteilung von Geistes- und Naturwissenschaften die Frage der jeweiligen Methode und Wissenschaftlichkeit im Vordergrund.84 Hierauf ist später zurück zu kommen.85 Unter dem Zugriff der Methode werden inhaltliche Differenzen der natürlichen und gewaltsamen Bewegung der Körper, des Oben und Unten, des Schönen und Hässlichen und Wichtigen und Ephemeren ausgelöscht; methodisch werden das bedeutende Gedicht und die Trivialliteratur gleichgestellt. Das Augenmerk gleitet von den objektiven Inhalten zum subjektiven Können, von dem Eigenwert des Gegenstands zur egalitären methodischen Bestimmung. Objektivität ist nur durch die methodische Anstrengung des Subjekts möglich. die vier-fakultäten-universität | 59

Welches im Einzelnen die Methoden der Erkenntnis sind, was als Meßverfahren und was als Bestimmung von Ursache und Wirkung gelten kann, wird von der Republik der Gelehrten intern selbst festgelegt. Da diese Republik zugleich ideell als kosmopolitische Gesellschaft zu denken ist, ist eine Limitierung auf bestimmte Menschen und Völker a priori ausgeschlossen. Können die bildenden Künste die »griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst« (Winckelmann) noch zum Vorbild nehmen, ist eine Rückkehr zur Antike in der Erkenntnis ausgeschlossen. Die Philosophie muß dieser Tatsache Rechnung tragen und kann nur mit der fortschreitenden Erkenntnis bestimmen, worin die Erkenntnis besteht. Eben dies ist die Wissenschaft, wie sie erst in der modernen Universität kultiviert wird. Schließen wir noch eine Frage an: Wenn die Untersuchung vom Inhalt geleitet ist, glaubt man zu verstehen, was der Begriff der Wahrheit besagen soll. Wahr ist eine (vielleicht wissenschaft liche) Aussage, die mit dem vorgegebenen Inhalt übereinstimmt. Wenn dagegen die Methode allererst den Inhalt konstituiert, wenn wir erst im Durchgang durch die Kategorien bzw. die Theorie erkennen, was als Inhalt der Erkenntnis überhaupt gelten kann, dann möchten wir uns von der Wahrheit zurückziehen auf die bloße richtige Anwendung der Methode. Dann aber hat die Universität keinen extrem bescheidenen Platz im fast unendlichen Universum, sondern sie bestimmt ihrerseits kühn, was denn überhaupt das Universum ist und wie nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft seine Größe und sein Alter festzulegen sind. Das Universum hängt dann von unserer Erkenntnis, und nicht umgekehrt das Erkennen vom Universum ab. Halten wir uns hier an das Ausweisbare, dann beginnt die Forschung und Erkenntnis nicht mit der schon immer vergeblichen Suche nach »der« Wahrheit, sondern sokratisch mit der Kritik und Korrektur der bisherigen Meinungen. Der kontrollierbare Fortschritt liegt in der zunehmenden Eliminierung des nachweisbar Falschen. Wissenschaft , Kritik, Aufk lärung. Halten wir hier noch eine Eigentümlichkeit der in der Universität bis heute kultivierten Erkenntnis fest. Sie zielt seit ihrem europäischen Beginn in der Vorsokratik grundsätzlich auf Innovation und Überbietung, nur in 60 | kapitel II

wenigen Phasen auf Konsolidierung und Verfestigung in Schulbildungen. Xenophanes kritisiert die Götterwelt von Homer und Hesiod und stellt ihnen sein »Es ist ein Gott!« entgegen, Parmenides kritisiert Heraklit, Platon überbietet die gesamte Vorsokratik und stellt ihr etwas gänzlich Neues mit seiner Ideenlehre entgegen, Aristoteles stellt sich wiederum plakativ gegen die Platonische Ideenund Staatslehre. Thukydides überbietet Herodot, die hellenistische Universalgeschichte stellt Thukydides in den Schatten. Der spätantike Platonismus will dagegen nicht Platon überbieten, kritisieren, korrigieren, sondern ikonisch ausmalen und erklären und kommentieren. So auch der mittelalterliche Aristotelismus, wenn auch der kritische Geist sich überall blicken läßt. Mit der Renaissance setzt die agonale Überwindung des Früheren erneut ein, das Neue wird emphatisch herausgestellt schon in den Buchtiteln. Immer wieder wird das eigene Werk als die ultimativ letzte Neuerung hingestellt; Thukydides sieht die eigene Historie als einen »Erwerb für immer«86, Platon, Kant, Hegel lassen für künft ige wirkliche Neuerungen keinen Platz. Wenn die heutige Geistesoder Kulturwissenschaft den Blick auf die europäische Erkenntnisgeschichte wendet, steht sie vor einem komplexen Gebilde der Innovationen und Endlösungen, aber zugleich auch der Rückbeziehung auf die überwundenen Erkenntnisse, gegen die sich das Neue konturiert. Es ist zugleich ein Übertrumpfen und Erinnern, und die Kulturgeschichte hat beides im Blick zu halten, daneben auch die vielfältigen externen Inspirationen und Zwänge, die den Erkenntnisagon in Atem halten und bei besonderen Katarakten zu neuen Paradigmen und Weichenstellungen drängen.87 Wenn die Kulturszene international gegenwärtig sein will, kann sie dies nur durch die Mitpräsenz ihrer komplizierten Vergangenheit. Es dauerte lange, bis die Lehr- und Lernuniversitäten in der Mehrzahl den Anschluß an die Moderne fanden. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ändert sich die Universitätsszene besonders in drei europäischen Regionen oder Städten: In Schottland in Edinburgh, im Königreich Hannover in Göttingen und in Preußen in Halle und Königsberg. Hier werden die Universitäten durch eine kluge Politik und die Wirksamkeit einiger weniger Gelehrter zu Zentren geistiger Impulse, die die gesamte europäische Universitätslandschaft verändern sollten. Bis dahin standen die Universidie vier-fakultäten-universität | 61

täten und ihre Mitglieder meist in geringem Ansehen; die kauzigen Professoren und weltfremden Doktoren waren seit dem Mittelalter eher Gegenstand des Spotts als der Achtung, man lese einschlägige Darstellungen etwa bei Cervantes oder die Beschreibung der Universität von Oxford durch Adam Smith88. Universitäten wie z. B. die Sorbonne versuchten mit allen kirchlichen und staatlichen Mitteln, die Neuzeit zu verhindern und persische Zustände zu bewahren oder herbeizuführen,89 für Intellektuelle waren sie eine permanente Gefahr für Leib und Leben, man denke an Bruno, an Descartes und an Rousseau. Wenn einzelne Universitäten zu Ansehen gelangten, dann auf Grund ihrer Organisation im Ganzen (wie Leiden und Göttingen) und besonders durch die Bedeutung einzelner Gelehrter wie z. B. Halle durch Christian Thomasius und Christian Wolff. Hier wuchs die Reputation der Gelehrten; niemand wagte, den weltberühmten Freiherrn Christian von Wolff in einer Komödie zu persiflieren. Kant stellt sein, erst in der Neuzeit nachweisbares, selbst-korrektives mobiles System gegen eine sich immunisierende politische Herrschaft , auch Philosophenherrschaft . Platon und Aristoteles, Cicero und Hobbes haben eine Polis oder einen Staat im Blick, die keine Kräfte der Selbstverbesserung entwickeln, schon der Gedanke an »res novae« erzeugt Abscheu und produziert Todesurteile. Autorität und Wahrheit sind in den Anfängen, der arché, verbürgt und müssen erinnernd erhalten bleiben. Dagegen wird jetzt gestellt: Kritik und Aufk lärung, der sich alle Institutionen beugen müssen. Die institutionalisierte Innovation ist vor der Aufk lärung unbekannt und gehört danach zu den Instrumenten einer wenn auch nicht aufgeklärten, so doch sich selbst aufk lärenden, lernfähigen Gesellschaft. Durch die geistige Energie an einigen europäischen Orten im 18. Jahrhundert änderten sich in der Folgezeit die Universitäten und die in ihnen tätigen Professoren in Mitteleuropa grundlegend. Es änderte sich, wie es jetzt hieß, das »climate of opinion«, der Zeitgeist.

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5. Kants kritische Philosophie und der Streit der Fakultäten (1798) Der Streit der Fakultäten, den Kant in seiner Spätschrift darstellt, läßt den mittelalterlichen Bau intakt; es soll weiterhin drei obere und die eine untere, philosophische Fakultät geben. Der Streit wird geführt um die Wahrheits- oder Geltungsansprüche von Theologen und Juristen, und hier tritt der Philosoph als Widersacher auf, als Kritiker der autoritären Doktrin. Damit wird die Schrift zu einem Derivat der Kritik der reinen Vernunft, in der das Streitprogramm entworfen wird: »Unser Zeitalter ist das Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muß Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.«90 Der Streit findet nicht statt im Naturzustand wie unter den vorkritischen Philosophen, sondern im Zivilzustand und seiner geordneten Gerichtsbarkeit, und er war nicht vorgesehen in der alten Universität mit ihrem Oben und Unten der Fakultäten, sondern in der gegenwärtigen mit dem Gegenüber von Rechts – den Regierungsfakultäten – und Links, der kritischen philosophischen Fakultät.91 Wir gehen zunächst auf die Rolle der kritischen Philosophie im Paradigmenwechsel von der mittelalterlichen zur modernen Universität ein und behandeln dann die relativ periphere Rolle des Streits der Fakultäten im Prozeß der Umwandlung. Weder diese Universitätsschrift noch Wilhelm von Humboldts feine Äußerungen zur Einsamkeit und Freiheit der Akademiker berühren die Sphäre, in der sich der wirkliche Wandel abspielt. Die ist – abgesehen vom tatsächlichen Wandel der Wissenschaften, der Ökonomie und der Politik – thematisiert in der Kantischen kritischen Philosophie, deren Neubestimmung der Reflexionskultur den deutschen Idealisten, aber auch Schiller und Humboldt zur Grundlage dient. Die kritische Philosophie ist der eigentliche Zermalmer der Ontologie, mit der der Vierfakultätenbau erhalten wurde. Äußerlich wird er aus verschiedenen politischen Gründen der Repräsentation und Verwaltung noch erhalten, innerlich jedoch vertritt die nachdie vier-fakultäten-universität | 63

kantische Universität ein subjektiv-kritisches Konzept und findet ihren adäquaten Ausdruck in den seriell angeordneten Natur- und Geisteswissenschaften. Eine der einschneidenden Zäsuren, die Kant in der kritischen Philosophie durchsetzen will, ist die Trennung einer Philosophie der apriorischen Erkenntnis von den empirischen Wissenschaften, die durch die erstere ermöglicht und legitimiert werden. Weder der Wolffsche Rationalismus noch der von Locke datierende Empirismus kennen eine derartige Zäsur und können entsprechend keine philosophische Begründung der Natur- und Moralwissenschaften liefern. Kant vollzieht seine Wende in der Überzeugung, aus den subjektiven apriorischen Erkenntnissen die Begründung der beiden Sphären der theoretischen und praktischen Erkenntnis ohne jeden Rückgriff auf etwas schon Gegebenes vollziehen zu können. Es gibt kein Sein oder Seiendes, auf das sich das transzendentale, die Erkenntnisbedingungen kreierende Subjekt stützen könnte. Es stiftet selbsttätig die Formen, in denen etwas zum Objekt möglicher Notwendigkeits-Erkenntnis wird. In der theoretischen Erkenntnis folgt diese Notwendigkeit daraus, daß Raum, Zeit und Kategorien dem transzendentalen Subjekt einverleibt werden, wir also über sie in unserer Selbstgewißheit verfügen. Wenn das Erkenntnissubjekt Raum und Zeit zu subjektiven Formen seiner Anschauung macht oder besser: sie endlich als solche durchschaut, dann können sie der Raum-Geometrie und der Zeit-Arithmetik keinen Widerstand entgegen setzen, sondern sind identisch mit unseren Konstruktionshandlungen, sie sind, was das Subjekt anschauungsgeleitet macht. Nimmt man dagegen an, daß Raum und Zeit objektive Realitäten (Substanzen, Eigenschaften oder Relationen) sind, dann besteht keine Gewähr, daß sie sich uns nicht ganz oder teilweise verbergen. In einem anderen Vokabular: Mit dem Nachweis der Subjektivität von Raum und Zeit bemächtigen wir uns dieser Formen und können sie irrtumsfrei erkennen. So wie unser Denken differenzlos unser Denken ist, so sind Raum und Zeit die Formen unserer Anschauung und nicht daneben noch etwas anderes. Dies ist keine Sache des einzelnen Menschen, sondern eines neu kreierten Subjekts, das Kant das transzendentale nennt. Das transzendentale Subjekt ist, so interpretieren wir, das entpsycho64 | kapitel II

logisierte Wissenschaftssubjekt; es ermöglicht Erkenntniskollektive wie die Universitäten, Akademien, Max-Planck-Gesellschaften etc. Mit der kopernikanischen Wende werden die alten Orientierungen abgelöst, die Menschheit gibt sich selbst ihren Kompaß vor. Wissenschaft wird zu einem transzendental begründeten und kontrollierten Prozeß, Recht und Tugend folgen dem Gesetz der subjektiven reinen Vernunft. In beiden Bereichen geben unser Verstand und unsere Vernunft die Gesetze. Des Näheren versucht Kant, die drei originären Gebiete der Philosophie des Wahren, Schönen und Guten aus den subjektiven Vermögen zu entwickeln. Beim Wahrheitsurteil führt diese Wende zu einer Reduktion auf das methodisch korrekt gesteuerte Erkenntnisurteil im Hinblick auf die Erscheinungen in Raum und Zeit, in der Ästhetik zu einer in der Vermögenslehre ermöglichten Begründung des ästhetischen Schönheits-Urteils im Spiel von Einbildungskraft und Verstand, in der Moral zur Neubegründung des Naturrechts durch ein im kategorischen Imperativ fundiertes Vernunft recht und eine neue Gesetzesethik. Die kritische Philosophie übernimmt die Rolle eines öffentlichen Gerichtshofes und fordert alle Anmaßungen von Thron und Altar und sonstigen Autoritäten vor ihre Schranken. Während die bisherigen Philosophen jedermann auffordern konnten, sich doch ihrer bewiesenen Lehre anzuschließen und die Ideen, die Materie, den Satz vom Widerspruch etc. zur ultima ratio zu erklären, macht Kant den Vorschlag, jede Erkenntnisprätention in einem öffentlichen Verfahren zu rechtfertigen oder auf sie zu verzichten. Damit sind noch einmal die Inhalte und ihre Evidenzen obsolet geworden und zudem die epistemischen Probleme einem juridisch-öffentlichen Forum zugewiesen. Dieses Konzept war außerordentlich attraktiv. Es erhielt das tradierte Wertesystem und zerstörte zugleich die ontologischen Lasten, mit denen es seit Platon und Aristoteles befrachtet war. Als Dokument einer notwendigen Wende genügte das Versagen der vorneuzeitlichen Astronomie: Wer meinte, die Sterne bewegten sich notwendig in Sphären mitsamt den Planeten um die Erde, hatte eine Weltanschauung, die in der Neuzeit mit großem Beifall (Renitenzen zugestanden) überwunden wurde. Ein anderer Vordie vier-fakultäten-universität | 65

teil der kritisch-subjektiven Philosophie lag in ihrer lückenlosen Sicherheit: Wenn wir selbst über die formalen Mittel verfügen, durch die Verstand, Urteilskraft und Vernunft ihre Gegenstände und Werte bestimmen, dann gibt es nichts Erfahrbares, das sich als immun gegen diese Bestimmungen erweisen könnte. Was möglich, wirklich oder notwendig ist, unterliegt immer schon den subjektiven Formen. Dieser Lückenlosigkeit der Naturbestimmung tritt die lückenlose Freiheitsbestimmung der Moral zur Seite; Recht und Ethik sind durch den kategorischen Imperativ gesetzlich geordnete Pflichtsysteme, die uns als moralische Wesen ermöglichen. Was ist der Raum? Der Raum ist dasjenige, das durch die euklidische Geometrie bestimmt wird. Was ist die Freiheit? Freiheit ist dasjenige, das durch das moralische Gesetz bestimmt wird. Auch die Kritik der praktischen Vernunft ist ein Traktat von der Methode: Der kategorische Imperativ, der an ihrem Anfang steht, ist das methodische Erzeugungsprinzip des Guten; das Gute steht nicht wie bei Platon als das Höchste uns gegenüber und kann erst post festum erkannt oder erschaut werden. Diese Philosophie der durch das Subjekt selbst vollziehbaren Bestimmung von Natur und Freiheit eignete sich vorzüglich für eine Neukonzeption der Universität in Preußen. Sie konnte den Standpunkt der kritischen Philosophie als unhinterschreitbar voraussetzen und auf dieser Grundlage den Bau im Inneren neu konzipieren. Die Universität konnte ohne Oben und Unten eine effiziente Parallelordnung der wissenschaft lichen Fächer in einer kombinierten Selbstverwaltung (Rektor, Senat, Dekane) und staatlichen Administration (Kanzler) durchführen. Zu den Schlüsselbegriffen konnten jetzt Forschung und Lehre werden. Die alte Universität kannte keine innovative Forschung, sondern richtete sich auf die Tradierung autoritärer Texte und, in den »artes liberales«, auf die Schulung in bestimmten sprachlichen und mathematischen Erkenntnissen. Sie konnten besser ausdifferenziert werden mit subtileren Distinktionen, aber sie waren insgesamt der Vergangenheit zugewandt und konnten mit dem mittelalterlichen »curiositas«-Verbot92 gut leben. Die Neuzeit leitete die universale Zeitenwende ein; die Orientierung ging nicht mehr von der geschlossenen Vergangenheit aus, sondern der offenen Zukunft. Mit dieser Opposition ist verbunden der Kontrast von statischen, 66 | kapitel II

zu erhaltenden Beständen im Alten hier und einer dynamischen Kritik dort: Die privilegierten Bestände lassen sich entweder legitimieren, oder sie weichen, zermalmt, den besseren Gründen. Dieses Pathos war selbst der Zukunft zugewandt und wurde zukunftsfähig; es bestimmte die innovative Forschungsuniversität im 19. Jahrhundert und setzt sich noch heute gegen die stationäre Betonierung von Teilen der Universität durch Unbefugte zur Wehr. Auch David Hume wollte die Wissenschaften neu begründen, wie Kant im Subjekt, jedoch in seinen empirischen psychischen Strukturen; er entwarf im Treatise of Human Nature (1739–1740) eine »science of man«, die synthetisch empirische Wissenschaften von Tatsachen und analytische Wissenschaften bloßer Relationen vorsah.93 Er beeinflußte damit die allgemeine, zwischen Empirismus und Skeptizismus oszillierende Stimmung, konnte jedoch keine institutionell verfaßten Wissenschaften auf dem Kontinent begründen. Am Ende des 18. Jahrhunderts widmete Kant, wie wir sahen, der alten Universität eine eigene Altersschrift, Der Streit der Fakultäten (1798). In ihr wird der Antagonismus von Lehre und Forschung, Vergangenheit und Zukunft, Erhalt und Erneuerung thematisiert, in dem die Universitäten seit dem Ende des Mittelalters auf der konservativen Seite standen und sich häufig mit allen Mitteln von Thron und Altar gegen die Neuerer wandten. In Kants Schrift wird der neue politische Antagonismus von Links und Rechts in die Universität selbst verlegt. Die drei oberen Fakultäten der Theologie, Jurisprudenz und Medizin werden von einer selbstbewussten Philosophie in die Schranken gefordert; die Dogmen sollen zeigen, wie es um ihren Wahrheitsnachweis steht.94 Im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts wird die Opposition von erhaltender Lehre hier und Innovation durch Forschung dort in die einzelnen Fächer hinein getragen und zu einem Etikett der mitteleuropäischen Universitäten gemacht. Sie vereinen beides, Erhalt der geschichtlichen Kultur und Innovation, Gedächtniskultur und Zukunftsgestaltung, rechts und links. In Kants Streit der Fakultäten revolutioniert die Philosophie nicht die Universität, sondern reformiert die oberen Fakultäten, insbesondere die Theologie und Jurisprudenz, dadurch aber die Statthalter von Thron und Altar. Kant schließt sich also nicht den die vier-fakultäten-universität | 67

zeitgenössischen Vorschlägen an, die antiquierten Universitäten durch Fachhochschulen zu ersetzen, sondern benutzt die alte Struktur und setzt sie in eine Bewegung, die von ihr selbst ausgeht; ein auto-mobile, bevor die Technik dasselbe als Gefährt auf dem Boden entwickelt hat. Die bewegende Kraft geht von der Philosophie aus, die zwar stabil in der unteren Fakultät verharrt, in Wirklichkeit jedoch die erste, dirigierende Funktion übernimmt. Die großen Herren mögen in der Prozession weiter an der Spitze gehen, die Magd hat längst die Führung übernommen. Das Schema ist dasselbe wie in Diderots Jacques le fataliste und danach irgendwie in Hegels Phänomenologie des Geistes im Kapitel über Herrschaft und Knechtschaft.95 Die Kantische Schrift modernisiert die Universität, indem sie die Bewegung in sie einführt und sie damit an der Zeitenwende teilnehmen läßt. Diese Zeitenwende besagt, daß die Menschen als Kollektiv ihre Orientierung nicht mehr in der Vergangenheit suchen, sondern in der Zukunft; sie wenden sich in der Produktion, Politik und Kultur von den Bestimmungen der Tradition, der Ahnen und des »mos maiorum« ab und blicken in die Zukunft. Es wird nicht nur für den künft igen Bedarf, sondern auch dieser Bedarf selbst produziert, es werden die Personen in die Legislative gewählt, die für die künft igen Probleme am geeignetsten scheinen (und nicht über Heldenahnen und einen Vatergott verfügen), es wird die Kunstproduktion dem Genie überantwortet, das sich nicht mehr an Vorbilder der Natur oder Geschichte zu halten braucht. Die Zeitenwende beginnt mit der Neuzeit und erlebt unterschiedliche Schübe; der für Kant wohl wichtigste liegt in der Rechtsstruktur der Gesellschaft, die sich nicht mehr unter die Fremdbestimmung der früheren Zeiten stellt, sondern zur Autonomie der Republik gelangt und ihre Legitimation aus der Annäherung an den Ewigen Frieden zieht. Die Vernunfterkenntnis konfrontiert die konfessionsgebundene Theologie mit einer Lektüre des Testaments gemäß den Maximen der eigenen Vernunft, sie ersetzt damit die Anleitung zur Praxis, die bisher von der wortwörtlichen Interpretation alter Texte geleistet wurde, durch die authentische Moral der Autonomie. Bei der moralgeleiteten Schriftauslegung gilt: »[…] der Gott in uns ist selbst der Ausleger, weil wir niemand verstehen als den, der durch 68 | kapitel II

unsern eigenen Verstand und unsere eigene Vernunft mit uns redet, die Göttlichkeit einer an uns ergangenen Lehre also durch nichts, als durch Begriffe unserer Vernunft, so fern sie rein-moralisch und hiemit untrüglich ist, erkannt werden kann.«96 Kein dreister Aufruf zur Authentizität einfach so, sondern zum moralisch Verantwortbaren. In der Jurisprudenz werden die Juristen konfrontiert mit dem Rechtsanspruch der republikanischen Verfassung. Er befreit sie aus ihrer Rolle, die rechtswidrigen Handlungen der herrschenden Königshäuser willfährig rechtfertigen zu müssen. Die Fakultäten stehen einander als freie und gleiche gegenüber. Die Universität bewegt sich, die Vernunft markiert den Weg und das Ziel des Fortschritts. Dieses Konzept stellt die Universität an die Spitze der moralischen und politischen Bewegung der Weltgeschichte; es räumt in einem Prozeß der geistigen Auseinandersetzung die düsteren Reste von Staat und Kirche in den beiden zentralen Bereichen menschlicher Sittlichkeit beiseite und führt die Menschen zur Autonomie. So ist die Universität keine Institution für Wesen mit nur instrumenteller Vernunft,97 sondern für Vernunftwesen, die moralisch verantwortlich sind und für die alles auf die Moral ankommt. Die mathematischen und technischen Vermögen interessieren Kant in seinen späten Überlegungen zur Universität nicht, obwohl sie selbstverständlich mitgeführt werden. Es ist kein Urteil der Parteilichkeit, in der kritischen Philosophie und nicht in den Humboldtschen Gedanken zur Institution der Universität die eigentlich wirksame Neuerung zu sehen, die zur Ablösung der obrigkeitlich- mittelalterlichen Universität führt und die Gotik der vier Fakultäten durch eine klassizistisch-moderne Bauweise ersetzt.

6. Die Öffentlichkeit 98 Die mittelalterliche Universität hat durch ihre anthropologische Fundierung eine gewisse Öffentlichkeit, denn ihre Anlage kann im Prinzip durch jedermann nachvollzogen werden. Die Veranstaltungen werden universitätsöffentlich bekannt gegeben, die Disputationen sind öffentliche Ereignisse; die Mitglieder der Univerdie vier-fakultäten-universität | 69

sitätskorporation nehmen an Feierlichkeiten in einem öffentlichen Ritual in vorgeschriebenen Gewändern teil. Die Plebs, die sowieso nichts versteht, besonders kein Latein, ist apriori ausgeschlossen. Noch im 18. Jahrhundert war es besser, daß die Bauern nicht lesen oder schreiben konnten; eine Warnung aus Holstein besagt, der Sohn des Bauern solle lieber nicht lesen und schreiben lernen: »Hei schrifft sich noch an Rad und Galgen!«99 Zu den fundamentalen Erneuerungen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehört der Rechtsanspruch der freien Meinungsäußerung, teils im gelehrten Gemeinwesen, wie Kant es nannte, teils in der jedermann zugänglichen Presse. David Hume spricht von der Pressefreiheit als einem »common right of mankind«, das sich politisch günstig auswirke.100 Kant begründet das »heilige Recht« der Menschheit, die eigenen gelehrten Urteile anderen mitzuteilen; der Grund ist die Anfälligkeit des isolierten Individuums für Irrtümer. »Man muß also die Bekanndtmachung der Urtheile, das ist der Aussetzung derselbigen, denen Einsichten aller keine Hinderniße entgegen setzen. Das ist ja das Recht eines jeden Menschen, und der einzige sichere Weg, zur Wahrheit zu gelangen.«101 Die Vernunft selbst fordere die Möglichkeit, von unseren privaten Idiosynkrasien durch den Einspruch anderer befreit zu werden; es ist dieselbe Vernunft, die dem Recht überhaupt zugrunde liegt. Der Staat widerspricht sich daher selbst, wenn er die öffentliche Meinungsäußerung einschränkt. Die Freiheit der Forschung und Lehre, die die Verfassung gewährleisten soll, läßt sich so als ein Menschenrecht begründen; es ist nicht die alte korporativ zugestandene »libertas philosophandi«, sondern das Recht, die eigenen und die kursierenden Meinungen einer kritischen Prüfung zu unterziehen. Universitäten sind Stätten dieser kritischen Revision gegen alle Vorbehalte und Interessen. Die Differenz von Kant und Hume ist weltwichtig: Kant will die ungehinderte Mitteilung in der Republik der Gelehrten, Hume die generelle Pressefreiheit. Zwei verschiedene Konzepte der Öffentlichkeit. Die erste ist die der Gelehrten, die miteinander kommunizieren und deren Erkenntnisse mit einer gewissen Verzögerung die öffentliche Meinung bestimmen bis hinauf zu den Höfen. Die zweite ist die des freien Marktes für die ungehinderte Zirkulation von Waren und Gedanken. Die erste ist indifferent gegenüber der 70 | kapitel II

polemischen Meinung, die Gelehrten säßen im Elfenbeinturm – tant mieux, da lebt es sich gut, wenn man sich nur von Turm zu Turm austauschen kann und so seine eigene fachspezifische Öffentlichkeit hat.102 Irgendwann wird die Welt davon erfahren und sich das Wahre zu eigen machen. Die zweite schleift die Bastionen und verpflichtet die Gelehrten als Wissenschaft ler, an der PresseÖffentlichkeit teilzunehmen oder zu verschwinden, subito. Die deutschen Professoren begannen nach dem Vorbild englischer und französischer gelehrter Schriftsteller, in Wochen- und Monatsblättern zu publizieren und sich auf diese Weise in eine Weltläufigkeit einzuüben, die der gesamten Universitätstradition fremd war. Professoren höre man lieber beim Schnarchen als Reden zu, war das Resümee eines Besuchs im Auditorium.103 Jetzt kam dagegen die Zeit der eleganten Magister, der attraktiven Redner und der bewunderten Autoren mit den ersten lesbaren Publikationen in deutscher Sprache. Wir werden später noch einmal auf die Rolle der Öffentlichkeit eingehen, die in der Universität neben Lehre und Forschung tritt und heute anders aussieht als im 18. und 19. Jahrhundert. Kann sie noch irgendeine Korrektivfunktion haben?

die vier-fakultäten-universität | 71

III. Die deutsche Universität von 1810 bis 1968

Bis zur Achsenzeit um 1800 waren Forschung und akademische Lehre im Großen und Ganzen getrennt, meist fiel nur die Lehre den staatlichen Universitäten zu. Im 19. Jahrhundert bildete sich mit der Gründung der Berliner Universität 1810 besonders in Preußen, dann jedoch weltweit, eine neue Konstellation heraus, die bis heute mit größten Schwankungen und Defi ziten nominell fortgeführt wird: Forschung und Lehre werden vereinigt in einer vom Staat geschützten Universität, anfangs verbunden mit dem Anspruch der exemplarischen Menschenbildung. Die dominierende Struktur der Vier-Fakultäten-Universität des Mittelalters und noch der Neuzeit wird allmählich abgelöst von der Dualität von Natur- und Geisteswissenschaften; diese differenzieren sich heute in die zwei Stämme erstens der Naturwissenschaft, Medizin und Technik und zweitens der Kultur-, Geistes- und Sozialwissenschaften.

1. Das neue Selbstbewußtsein Aus der Rückschau ist im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts etwas Unerwartetes gelungen. Die in der europäischen Geschichte eher trägen, häufig verwahrlosten, den Fürsten des Staats und den Kirchen dienenden Lehranstalten und Berufsschulen stellten plötzlich die Verhältnisse auf den Kopf und ließen die Minister in die Hörsäle kommen. Die Macht des Geistes war so ungeheuer, dass Johann Gottlieb Fichte, der Thron und Altar in den Abgrund demonstriert hatte,104 einen Lehrstuhl in Jena erhielt und dort einen für akademische Verhältnisse unerhörten Erfolg hatte. Desgleichen später in Berlin. Königsberg, Halle und Göttingen wirkten Wunder. Kein Minister folgte ernsthaft Fichtes Deduktionen, aber keiner konnte sich erlauben, einzugestehen, dass sie ihn nicht interessierten. Aus dieser wahrhaft inspirierten, gelehrten und verrückten Universität wurde die Institution, die im 19. Jahrhundert zu | 73

Höchstleistungen führte und in allen Fächern weltweit Vorbildliches leistete.‹105 Wir wählen diese Zäsur als Symbol einer Wende, die sich tatsächlich zögerlich in einem Zeitraum von mehr als hundert Jahren vollzog. Die Vier-Fakultäten-Konstellation verlor ihre Funktion, weil sich die einführenden »artes liberales« und damit die Philosophie aus der Rolle der »ancilla«, der Magd der oberen Fakultäten, endgültig emanzipierten und zu einer mächtigen, sich naturwüchsig differenzierenden Vielfalt von Disziplinen wurden. Die Innovation der Berliner Universität kam aus einer Vielfalt von gleichberechtigten Fächern, besonders der Philosophie. Auf die höheren Fakultäten mit ihren berufsqualifizierenden Abschlüssen konnte jetzt aus der Höhe der reinen Vernunft hinab geblickt werden, das sei bloßes Brotstudium, mit dem sich der Geist nicht begnügen wollte.106 »Man hat schon oft und viel gesagt, unsere vier Fakultäten, die theologische, juridische, medizinische und philosophische, und noch in dieser Ordnung obenein, gäben den Universitäten ein groteskes Ansehn.«107 An die Stelle der eckigen konstellativen Ordnung aus dem Mittelalter tritt der damals moderne Organismusgedanke. Die Universität wird gesehen als ein lebendiges Ganzes: »Wie genau hängt doch alles zusammen und greifet ineinander auf dem Gebiete des Wissens, so dass man sagen kann, je mehr etwas für sich allein dargestellt wird, um desto mehr erscheine es unverständlich und verworren, indem streng genommen jedes einzelne nur in Verbindung mit allem übrigen ganz kann durchschaut werden, und daher auch die Ausbildung jedes Teiles von der aller übrigen abhängig ist.«108 Nur Universitäten seien die geeigneten Institutionen organischer Wissenschaft, nicht aber die »Spezialschulen«109, durch die man die Universitäten ersetzen wollte. Mit der Emanzipation aus den Diensten der oberen Fakultäten mussten die einzelnen Fächer sich selbst um eine Begrenzung der zum Studium nötigen Kenntnisse bemühen. Erforderlich wird die Beherrschung der wissenschaft lichen Methode, der Überblick über das gesamte inhaltliche Fach und drittens eine der früheren Universität fremde Fähigkeit der kreativen Weiterentwicklung des Erkenntnisstandes. Diese letzte Forderung gilt für die Promotion und besonders die Habilitation, die ersten beiden für den Magister. Die Universitäten gewinnen erst (oder erneut) im späten 18. und dann 74 | kapitel III

im 19. Jahrhundert diesen dynamischen, wissenschaft lich kreativen Charakter, der bis heute andauert oder andauern sollte. Der Ausweis der Wissenschaft lichkeit besteht nicht in der pünktlichen Kommentierung, sondern im Überbieten des Bisherigen, die Erforschung von Neuem wird zum treibenden Element, der höchste Gipfel der Universitätsleistung ist der Nobelpreis in einer Wissenschaft, d. h. einer Natur- oder Sozialwissenschaft. In der Ökonomie vollzog sich der Umschwung von der Kameralistik zur modernen Nationalökonomie. Die Ökonomie selbst hatte eine Nische in der Philosophischen Fakultät einnehmen können, weil Aristoteles von ihr am Anfang der Politik handelte. Sie fungierte als Kameralistik unter dem Leitgesichtspunkt der Schatzanhäufung in der geschlossenen »camera« des Fürsten. Er konnte, wenn genügend Geld angehäuft war, neue Kriege zum ewigen Ruhme anzetteln, aber auch Fabriken etwa für Porzellan gründen und mit Monopolen ausstatten. Das Gründungswerk der neuen Ökonomie handelte dagegen nicht mehr vom Reichtum der Herrscher, sondern deklarativ vom produktiven Wealth of Nations 110. Eine Voraussetzung der neuen Lehre ist die Vorstellung der friedlichen Zirkulation der Produkte und des Geldes, wie sie im Anschluß an William Harveys Circulation of the Blood (1628) schon von Thomas Hobbes propagiert wurde.111 Christian Jacob Kraus, ein begabter Kantschüler, der den Lehrstuhl für praktische Philosophie und damit auch für die Kameralistik 112 innehatte, führte bis in die neunziger Jahre ein Schattendasein. Danach hatten seine an Smith orientierten Ökonomie-Vorlesungen endlich Erfolg. Die Universitäten setzten sich an die Spitze der neuen Erkenntnisse, und die Höfe bemerkten die Wichtigkeit der aktuellen akademischen Ausbildung für ihre politische Tätigkeit. Der Impuls kritischer Wissenschaften teilte sich den Institutionen mit, die lernfähig wurden und die begannen, ihre eigene Erneuerung zu organisieren. Die Bewegung erregte keinen Abscheu mehr wie die Änderer und Beweger, die zu Beginn der Neuzeit noch denunziert und, falls nötig, als mobiler Mob verbrannt wurden. Heute muß sich jede Institution ständig modernisieren; wer stillsteht, wird bestraft durch die Kürzung der Mittel. »Step into future now!« Der Aufbruch führte zur Idealisierung der Universität und zum Bewusstsein, den Weltgeist zu verkörpern, wie immer er nebendie deutsche universität von 1810 bis 1968 | 75

bei auch in der Gestalt von Napoleon auf einem Pferd durch Jena ritt. Wer da wie und wem erschien, bestimmte die Philosophie. Sie ist der geistige Mittelpunkt und durchpulst das Ganze und die einzelnen Zweige des Erkennens. In diesem Organismus, der sich selbst kreiert und fortzeugt, ist der Geist präsent; begeistet und begeistert drängen die besten Köpfe zur Wirksamkeit in diese neuen alten Schulen der Selbstbildung. Die Rätsel der Welt werden in einem Semester gelöst: »Der Unterschriebene erbietet sich zu einem fortgesetzten mündlichen Vortrage der Wissenschaftslehre, d. h. der vollständigen Lösung der Räthsel der Welt und des Bewußtseyns, mit mathematischer Evidenz.«113 So Fichte mit neustoischimperialem Gestus, die Argumente an den ausgestreckten Fingern abzählend.114 Die Klassik insgesamt inspirierte die Universität und ließ Platon und danach auch einen neu gelesenen Aristoteles einziehen. Gegen Fichtes Kontrollneurosen setzt sich ein plurales, an den einzelnen Wissenschaften orientiertes Konzept Wilhelm von Humboldts und Friedrich Schleiermachers durch. Die Nation wird ein wichtiger Bezugspunkt der europäischen Universitäten, bis sie von der Globalisierung am Ende des 20. Jahrhunderts abgelöst wird. Die Nation ermöglicht eine problemlose Kanonisierung der geisteswissenschaft lichen Werke, die das Studium jedem zu vermitteln hat. Da ist einmal der klassisch-klassizistische Hintergrund der Ausbildung durch das Lateinische und Griechische, notfalls muß der Stadtrat durch ein einfaches HorazZitat zu erkennen geben, daß er zur akademischen Elite gehört. Kein Kellner, kein Arbeiter oder Geschäftsmann kann mithalten, das gilt für ganz Europa. Zweitens gibt es das Nationalerbe, das die Gesinnungstreue fi xiert; in Deutschland kennt man das Nibelungenlied, in Italien Dante, in Spanien den Orlando und Cervantes. In dieser Zweispurigkeit bereitet die akademische Ausbildung die Loyalität der Bürger vor und vergewissert sich der größten Weltläufigkeit. Es ist etwas anderes, ob jemand Verse aus der Divina Commedia zu zitieren weiß oder auf das mittelamerikanische Popul Vuh verweist. Der globalisierten Universität von heute sind diese feinen Unterschiede nicht mehr nachvollziehbar. Die Universität erlebt eine machtvolle Inspiration in allen wesentlichen Fächern: Befreiung von alten, zu engen Mustern, An76 | kapitel III

schluß an die modernen Standards in der Forschung, neues Selbstbewusstsein der Gelehrten, die zu gesellschaft lich geachteten, häufig berühmten Wissenschaft lern werden.115 Studentische Fackelzüge für Gelehrte, die einen Ruf an eine andere Universität haben und bewegt werden sollen, zu bleiben. Als Bauarbeiter unter dem Fenster von Kuno Fischers Wohnung in Heidelberg Steine zerklopften, riß Fischer das Fenster auf und rief, wenn sie nicht sofort aufhörten, würde er den Ruf nach Berlin annehmen. Zu den Eigentümlichkeiten der neuen Universität gehört das Pathos, die besten Köpfe für die Wissenschaft zu gewinnen. Friedrich Albert Lange favorisierte Hermann Cohen als seinen Nachfolger, obwohl dieser sich gegen Langes Geschichte des Materialismus (1865) gewandt hatte. Das Berliner Ministerium folgte der Wahl des Außenseiters und setzte ihn gegen das Votum der christlichen Philipps-Universität durch. Emanzipierend wirkte dieselbe preußische Nüchternheit, die sich schon bei Friedrich II. ausgezahlt hatte; in Berlin wurde die Kapazität von Cohen erkannt, und nur dadurch erhielt er seine Professur. Besonders der deutschen Universität gelingt mit und nach Wilhelm von Humboldt die Entwicklung eines Konzepts, das drei vorher weitgehend getrennte Komplexe vereinigt: Die Lehre für künft ige Beamte, auch und besonders für Gymnasiallehrer, sodann die Forschung in den Natur- und Geisteswissenschaften, und drittens die Bildung der akademischen Jugend zu verantwortlichen Staatsbürgern. Die künft igen Gymnasiallehrer studieren bestimmte Fächer an der Universität; den Inhalt und Aufbau der Fächer festzulegen liegt in der Hand der Professoren und Kulturminister; sie gestalten die Disziplinen nach der Logik des Faches und nichts anderem. Der Eingriff einer nicht-akademischen und kenntnislosen Bürokratie in den Ablauf des Studiums hätte zu homerischem Gelächter oder zu persischem Entsetzen geführt. Die Zwangsmaßnahme des Pädagogikstudiums für künftige Gymnasiallehrer oder gar der Unterbrechung des Studiums für ein Betriebspraktikum war, außer im NS-Staat und in der DDR ,116 unbekannt. Man betrachtete die Studierenden nicht als Unterworfene, sondern als freie, urteilsfähige Bürger. Die Prüfungen nicht-akademischer Art, die also nicht dem Erwerb der Promotion oder Habilitation dienten, fanden außerhalb der Universität statt. die deutsche universität von 1810 bis 1968 | 77

Die Einheit von Lehre, Forschung und Bildung suchte man im Schutz des obrigkeitlichen Staats zu realisieren, der seinerseits von der neuen Universität profitierte. Es war die Ausbildung der eigenen Elite gewährleistet, und zwar an einer Universität, die auf alle sperrige Scholastik verzichtete und sich vorbehaltlos zur Aufk lärung und fachlichen Auseinandersetzung bekannte. Die beiden großen europäischen Orientierungen im 19. Jahrhundert, die Klassik und die Romantik, konnten sich neben- und miteinander entwickeln. August Wilhelm Schlegel schrieb 1815 in einer Rezension der Altdeutschen Wälder, einer Zeitschrift der Brüder Grimm, die Philologie befasse sich mit den den geringsten Kleinigkeiten. »Sie schämt sich dessen nicht bei den geringsten Überresten des klassischen Altertums: warum sollte sie es bei den altdeutschen Denkmalen?«117 Am Ende des Jahrhunderts ein Echo bei dem Kunsthistoriker Karl Woermann zu Arnold Böcklins »Die Lebensinsel« (1888): »Daß es möglich ist, sich antike Vorstellungen, ohne den leisesten Anflug des Klassizismus, im nationalen Sinne, d. h. der deutschen Märchenpoesie, anzueignen, […] würde man kaum glauben, wenn Böcklin es uns nicht handgreiflich bewiesen hätte.«118 Das Nibelungenlied und das Rolandslied wurden neben der Ilias und Odyssee erforscht, gelehrt und ediert. Universitätsgebäude konnten wahlweise klassizistisch (München, Kiel) oder gotisch (Marburg) gebaut werden. Die Romantik inspirierte die Biologie und Chemie, die Klassik verfestigte das Lehrgebäude Newtons. Einstein bedeutet das Ende der klassischen Physik und damit das Ende des gehaltvollen Gegensatzes von Klassisch und Romantisch. Der Gegensatz bestimmte in ganz Europa den Konfl ikt zweier Tendenzen, man denke an den Kontrast der Rivalen Dominique Ingres und Eugène Delacroix, Verdis Kompositionen und Wagners Unendlichkeiten. In der Bildungspolitik entwickelte sich das moderne Realgymnasium gegen das humanistische Gymnasium. Die klassizistisch weißen Statuen hatten einzuräumen, daß ihre ursprüngliche Schönheit nicht nur im geometrischen Kontur (Winckelmann, Adam Smith, Kant), sondern auch in fröhlich-fraulicher Farbigkeit bestand. Die »querelle des anciens et modernes« dauert unter den neuen Impulsen fort und wirkt sich als kreativ aus. In den katholischen Ländern, in denen der Konnex von Th ron und Altar bis in das 20. Jahrhundert hinein reichte, verhinderte 78 | kapitel III

die Bindung besonders an kirchliche Autoritäten die Neufassung der Universität unter dem Zeichen der Aufk lärung. Da häufig auch keine außeruniversitären Forschungseinrichtungen gegründet wurden, mußte die Moderne nachmachend importiert werden. Ein trauriges Dokument sind die Erinnerungen von Luis Buñuel an seine Schulzeit. Im Kolleg regierten die Jesuiten, die das staatlich gesicherte Privileg hatten, im Besitz der Wahrheit zu sein. Im Philosophieunterricht wurde auch »Manuel Kant« mit seiner abwegigen Kritik behandelt. In der nachfolgenden Stunde rief der Professor einen der Schüler auf und sagte: »Mantecón! Refúteme a Kant!« Mantecón hatte die Lektion gut gelernt, »la refutación duraba menos de dos minutos.«119 Eine späte Rache: Wer geht bis heute zum Philosophiestudium nach Spanien? Das neue Selbstbewusstsein der Universitäten in Preußen wurde flankiert durch den »Mythos Weimar«, in dem das deutsche Bildungsbürgertum sich konturierte als Kulturnation, die weder nach französischem Vorbild politisch tätig und zivilisiert sein wollte, noch den englischen Weg des Handels einschlug. Schon im 17. Jahrhundert gab es nicht nur die »querelle des anciens et modernes«, sondern auch den Streit der ersteren um den Vorrang der Griechen oder Römer, Homers oder Vergils.120 Seit Winckelmann wirkte ein ätherischer Griechenlandmythos bis hin zur falschen Unverborgenheit, a-letheia, des Seins, während sich Frankreich an Rom orientierte, zuerst die Französische Revolution an der römischen Republik, danach Napoleon am Kaiserreich.121 England hatte ein entspanntes Verhältnis zur griechischen und römischen Antike, weil es seine Institutionen in eigener Regie forterbte und ohne Ideen, aber klug reformierte. In der deutschen Altertumswissenschaft wurde der Vorrang der griechischen Literatur vor der lateinischen122 entdeckt und half, die Unterscheidung der deutschen Kultur von der romanischen Zivilisation bis in ihre nicht existenten Wurzeln voranzutreiben. Die innere Verbindung des Deutschtums mit den Griechen half seit Winckelmann, eine Identitätsbildung des deutschen Sonderwegs zu festigen, und bildet ein wichtiges Kapitel in der Anthologie »Die Deutschen und ihre Mythen«.123 Luciano Canfora hat die Flügelkämpfe bis in die feinsten Verzweigungen und Wortverschiebungen in den unterschiedlichen Auflagen der Historiker und Philologen verfolgt.124 Die Aufspaltung der die deutsche universität von 1810 bis 1968 | 79

Antike in einen griechischen und einen römischen Flügel hatte zur Folge, daß sich eine wichtige Bewegung der deutschen Philosophie nicht mit dem Recht und der Rechtsphilosophie befaßte, weil diese römischen und nicht griechischen Ursprungs war. Bei Nietzsche wird man kein Interesse für niedere Rechts-Philosophie-Fragen fi nden; Heidegger dokumentierte sein Desinteresse im gesamten Werk, man wird keinen Satz entdecken, der der ersten Rechtspfl icht bei Kant entsprechen könnte: »Sei ein rechtlicher Mensch«125, und noch Gadamer bekannte, er sei auf dem Auge der Rechtsphilosophie blind.126 Nun muß eine Folge nachgetragen werden, die mit dem offi ziellen Ende der Feudalzeit verbunden ist, also mit 1789, wenn auch nicht mit ihrer faktischen Nachwirkung bis ins 20. Jahrhundert. Die feudale Ordnung führt mit sich das Prinzip des »suum quisque«: Jeder Stand tue das Seine. Die Bürger und Bauern dürfen keine Waffen tragen, der Adlige keinen Handel treiben, und die Bürger der Universitäten sind in ihrer Tätigkeit restringiert auf das Studium, d. h. was sie tun, ist keine Arbeit (so wenig wie das »sacerdotium« des Priesters und die »militia« des Soldaten Arbeit ist und in Arbeitsstunden von einer Gewerkschaft berechnet wird). Dieses Prinzip des »Jeder das Seine« verliert mit dem Ende der Feudalgesellschaft seinen Rückhalt; Studenten können ihr Studium durch eine Arbeit außerhalb der Universität finanzieren, und umgekehrt kann das Studium nach Arbeitsstunden verrechnet werden. Daß die Studenten im Gegensatz zu den Bürgern und Bauern und den Priestern Waffen tragen durften, wissen wir aus dem Faust und bis heute von den verbliebenen Schlagenden Verbindungen. Es ist vielleicht kein Zufall, daß John Locke die Formel »labour of the thought« prägt oder benutzt, und Kant das Pathos der Arbeit gegen den Aristokraten-Anhänger Johann Georg Schlosser benutzt: »Die Philosophie des Aristoteles ist dagegen Arbeit.«127 Daß man durch diese besondere Arbeit ein Privileg der Bildung erwirbt, das den anderen Arbeitern verwehrt bleibt, sagen weder Locke noch Kant. Es soll im Folgenden zuerst die Unterscheidung von bloßem Wissen und Erkennen unter den neuen Bedingungen herausgestellt werden. Danach wenden wir uns ausführlich der Zweiteilung von Natur- und Geistes- bzw. Kulturwissenschaften zu. Sie wird zuerst 80 | kapitel III

im Allgemeinen erläutert; wir beschäftigen uns mit der faktischen Entstehung der zwei Wissenschaftsstränge in der Institution der Universität und der Vorwegnahme der Dichotomie durch Platon und Aristoteles. Sodann wenden wir uns drei Versuchen zu, die Geisteswissenschaften durch Realwissenschaften zu begründen.

2. Wissen, Erkennen und Forschen Was ist eine Wissenschaft? Gibt es eine Wissenschaft , die diese Frage zirkelfrei beantwortet? Platon fragt nach der »episteme epistemes« im Dialog Euthydem und beantwortet sie in der Politeia; Fichte gibt seiner Wissenschaftswissenschaft den Titel einer Wissenschaft slehre. Wir müssten die Frage beantworten, wenn wir eine Einteilung dieser vorausgesetzten Wissenschaft überhaupt oder im Allgemeinen in Natur- und Geistes- oder Kulturwissenschaften vornehmen, denn irgendetwas muß hier eingeteilt und als bekannt vorausgesetzt werden; irgendein Merkmal muß verhindern, dass es nicht 13 weitere Grundwissenschaften gibt. Wir nehmen z. B. an, dass Gravitationswellenastronomie eine Wissenschaft ist, ebenso die Bestimmung und Interpretation einer Sanskrit-Handschrift . Radfahren ist keine Wissenschaft , auch wenn dabei Regeln befolgt werden sollten, aber eine Dissertation über die Geschichte und Kunst des Radfahrens,128 des Jodelns, der Astrologie, des Schachspielens ist akademisch möglich. Gehören Peter Sloterdijks romantische Schaumgebilde zur Wissenschaft? Wie weit bestimmen Vorurteile unsere Annahme und Ablehnung? Gibt es eine Wissenschaftswissenschaft, die hier ein überzeugendes Fundament schaffen könnte? Wir bitten darum. Der Begriff der Wissenschaft bezieht sich nicht auf Wissen, sondern auf Erkenntnis, »scientia«. Wir leben in einer Wissensgesellschaft, aber nicht in einer Erkenntnisgesellschaft. Jedermann weiß sehr viel, und die Medien spülen immer größere Wissensund Wahrheitsfluten in unsere Küchen und Häuser, von den Nachrichten über unsymmetrische Kriege, von den Hungersnöten in anderen Ländern, Buntes und Beschämendes, im schnellen Wirbel. Es sind wahre oder fi ngierte Fakten, von deren Vorkommen wir etwas erfahren und sie dann zu unserem Wissensbestand fügen die deutsche universität von 1810 bis 1968 | 81

und wieder abstoßen. Es gibt Menschen mit einem erstaunlichen Gedächtnis und Scheunen voll von angehäuftem Wahrheitswissen, die jedoch keine Urteilskraft und keine Erkenntnis haben. Auch Tiere verfügen häufig über ein umfangreiches wahres Wissen, aber urteilen können sie nicht. Wissen ist Macht, von den Telefonnummern im Sowjetsystem (es gab vor 1990 kein Telefonbuch von Moskau) über eine Aff äre des Chefs bis zum Thema der nächsten Klausur und die richtige Platzierung eines Kreuzes im Fragebogen. »Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, ist also der Wahlspruch der Aufk lärung.«129 Daß man sich seines eigenen Gedächtnisses oder Computers zur Akkumulation von Wissen und lebenswichtigen Telefonnummern bedienen soll, steht nicht im Text. Wissen ist die Tugend des Bürokraten, nicht die kritische Erkenntnis. Zum Erkennen gehört der begründete Zweifel, die Skepsis, das Fragen, das Risiko des Nebenweges, der Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen – für den Untertanen ein lästiger Unfug, von dem er die Universität endlich reinigen will. Die Industrie lobt ihn: Weiter so! Es stehen noch aus die Medizin und die Rechtswissenschaft, die Bürokratie will, daß auch sie nur durch die von ihr organisierten Wissensverteiler erreichbar sind. Es sind die beiden letzten oberen Fakultäten, mächtig und selbstbewußt – hoffentlich widerstehen sie den Kadern des Marktes und organisieren ihr akademisches Studium autonom. Selbst kritische Publizisten wie Richard Münch ignorieren die Differenz von Wissen und Erkennen. Eine der Ursachen dafür ist vielleicht die mangelnde Unterscheidungskraft der Umgangssprache, die z. B. von Wissenschaft spricht, aber nicht weiß, was sie sagt. Die Akteure der Umrüstung der Universitäten zu Institutionen der Wissensproduktion und –vermittlung sind zudem interessiert, das neue Produzieren von Wissen als die alte Freisetzung von Erkenntnis auszugeben. Das Pathos der Universität, die im 19. Jahrhundert erneut Tritt fasst, liegt in der Idee, Erkenntnisse der Natur und Kultur in methodischer Forschung zu erzeugen und der Öffentlichkeit mitzuteilen. Wissen wird dagegen didaktisch eingetrichtert und auf Abruf abgelagert; Erkenntnis wird vom Erkennenden nach Anleitungen selbst erzeugt, daher die Einheit von Forschung und Lehre. Der 82 | kapitel III

Forscher zeigt, wie Erkenntnis selbst gemacht wird. Was gewusst wird, kann man häufig in Bildern darstellen, aber keine Erkenntnis kann als solche sichtbar gemacht werden, denn dass etwas für etwas anderes ein Grund ist, kann erkannt, aber nicht gesehen werden. In die Erkenntnis ist der Erkennende mit einer eigenen mentalen autonomen Handlung involviert. Wer sie nicht selbst vollzieht, kann das Ergebnis wissen, aber nicht erkennen. Schleiermacher stellt beim akademischen Vortrag zwei Elemente heraus: »Das eine möchte ich das populäre nennen; die Darlegung des mutmaßlichen Zustandes, in welchem sich die Zuhörer befi nden, die Kunst, sie auf das Dürft ige in demselben hinzuweisen und auf den letzten Grund alles Nichtigen im Nichtwissen. […] Das andere möchte ich das Produktive nennen. Der Lehrer muß alles, was er sagt, vor den Zuhörern entstehen lassen; er muß nicht erzählen, was er weiß, sondern sein eignes Erkennen, die Tat selbst, reproduzieren, damit sie beständig nicht etwa nur Kenntnisse sammeln, sondern die Tätigkeit der Vernunft im Hervorbringen der Erkenntnis unmittelbar anschauen und anschauend nachbilden.«130 Vorzüglich. Hier tritt unsere Opposition von Wissen und Erkennen der Sache nach wieder auf: Nicht erzählen, was man weiß, keine Kenntnisse sammeln, das war die schon von den Vorsokratikern getadelte Vielwisserei, und im Gegensatz dazu die Tätigkeit der Vernunft im je eigenen Hervorbringen der Erkenntnis. Google springt allen, die etwas nicht wissen, beiseite und macht den Bachelor und die Vielwisserei überflüssig. Ick bünn all da, bei allen Fragen: Benutze einen klug versteckten Computer, und du hast 6 Semester gewonnen. Ehrenrührig? Die Frage, nicht die klug geborgte Antwort. Die Erkenntnis ist sowohl den Natur- wie auch Geistes- oder Kulturwissenschaften eigen. Es werden grundsätzlich schon existierende Vorschläge der jeweiligen Gebiete als Ausgangspunkt genommen; diese Vorschläge werden im zweiten Schritt kritisiert und drittens durch einen vermeintlich besseren ersetzt, der nun seinerseits in dem Dreischritt von Vorlage, Kritik und neuem Vorschlag den Ausgangspunkt bildet. Auf beiden Gebieten bildet sich eine Technik oder Methode heraus, die von den jeweiligen Kennern gelernt und eventuell verbessert wird. Erkenntnis ist gebunden an eine Auseinandersetzung mit vorgeblich Erkanntem; auf sie folgt die deutsche universität von 1810 bis 1968 | 83

der Vorschlag einer Verbesserung. Dieses Verfahren braucht nicht schulmäßig befolgt zu werden und dann genau abrufbar zu sein, es muß jedoch tatsächlich vorliegen und in einer Röntgenaufnahme durch Kenner sichtbar sein. Erkenntnis beginnt also mit einer Problemstellung. Diese ist als solche schon riskant wie alle Erkenntnis, denn es gibt Scheinprobleme, die als solche durchschaut werden müssen. So kann ein mit Titeln dekorierter Forscher schon nach seinem ersten Schachzug von einem Anfänger im Seminar darauf hingewiesen werden, dass das exponierte Problem nicht existiert, denn […]. Weder ein Problem noch seine Nichtigkeit sind ohne das bilderlose Denken bildfähig; jeder Versuch, hier etwas für sich zu visualisieren, führt zu Darstellungen, die auch auf den Streckenverlauf der Bundesbahn oder von Maulwürfen passen. Sodann: Ist das Problem schon beantwortet? Wissenschaftliche Erkenntnisse der Kultur- und Geisteswissenschaften sind gebunden an die Offenlegung des »status quaestionis«: Welchen Stand hat die einschlägige Forschung erreicht? Erst nach diesen wesentlichen Präliminarien können Kritik und eigener Vorschlag entwickelt werden. Die Frage nach dem »status quaestionis« in einer wissenschaft lichen Untersuchung zu überspringen ist meist desaströs; schlimm auch die oberflächliche Geste, das Falsche dem »main stream« der Forschung zuzuweisen und dann ohne Weiteres zur eigenen Herrlichkeit zu kommen. Das Procedere, den Stand der Forschung genau anzugeben, ist wichtig, weil es die sachliche Kontinuität der Wissenschaft ermöglicht und diejenigen ausschließt, die ihr pochendes Ich zur Geltung bringen möchten und die nicht bemerken, dass die Universität eine Schule der Bescheidung ist, nicht der Propheten. Unabhängig von persönlichen Fragen kann das angesprochene Problem höchst kompliziert werden, wie folgendes Beispiel erläutern kann. Auf die Aristotelische Logik folgte im Hellenismus die Stoische Logik, die von einem anderen Grundmodell ausging. Während sich Aristoteles am Verhältnis von Begriffen orientierte (»Alle Menschen sind sterblich; die Athener sind Menschen, also sind die Athener sterblich«), gehen die Stoiker von der logischen Relation von Sätzen aus (»Wenn es regnet, wird die Straße naß; es regnet, also wird die Straße naß«). Nun entsteht im 19. Jahrhundert die Fregesche Logik, 84 | kapitel III

die eine frappante Ähnlichkeit mit der Stoischen aufweist – ist sie tatsächlich nur die Aufnahme einer unterirdischen Filiation? Wird sie neu erfunden?131 Worin liegt die systematische Einheit der beiden Logik-Typen? In Goethes Faust II redet der Kanzler den Kaiser an: »Die höchste Tugend, wie ein Heiligenschein, / Umgibt des Kaisers Haupt; nur er allein / Vermag sie gültig auszuüben: / Gerechtigkeit!« Gerechtigkeit ist die vierte Kardinaltugend – kommen auch die drei anderen zum Zug? Interpretation ist keine Horizontverschmelzung und kein mystisches Verstehen, sondern Erkennen. Also: Bringt Goethe die drei anderen Tugenden ins Spiel? Das Wissen zielt auf faktisch Vorhandenes, die Erkenntnis wird wachgerufen, wenn bemerkt wird, daß etwas nicht stimmt. Wissen kann sich unendlich aufhäufen ohne ein einziges »nein« oder »nicht« des Gewußten, das Erkennen bezieht sich dagegen innerlich notwendig immer auf das, was es ausschließt. Ohne eigenständige Verneinung kommt eine Erkenntnis-Bejahung nicht zustande. Die naiven Hörer folgen gebückt der Aufl istung, die kritischen merken, was nicht genannt wird und fragen: Warum? Diese Tätigkeit ist noch etwas anderes als das bloße Unterscheiden, weil sie etwas anspricht, was nicht da ist. Die Ja-Sager geraten in Panik. Zur Erkenntnis gehört die Beobachtung dessen, was in signifi kanter Weise nicht ist oder zu sein scheint. Haben bestimmte Teile eines Organismus vielleicht keine Funktion? Wenn diese Funktionslosigkeit tatsächlich vorliegt, kann die moderne genetische Betrachtung ein früheres Entwicklungsstadium ausfindig machen, in dem die Teile eine Funktion hatten, die in der jetzigen Phase nicht mehr gegeben ist. Eines von unzähligen Beispielen der Natur- und Kulturwissenschaft, bei dem die Erkenntnis dessen, was in signifi kanter Weise nicht der Fall ist, zur positiven Wissenschaft gehört. Die Komparatistik in allen Disziplinen vergleicht verwandte Phänomene im Hinblick auf signifi kante Identitäten und Differenzen; ohne die Erkenntnis dessen, was hier oder da nicht der Fall ist, ist diese Methode nicht möglich. Polyphem, dem vorsokratischen »Vielredner« (poly-phemos), Vielwisser, ist das Studium an der Universität zu verweigern, weil zur Erkenntnis zwei Augen gehören. Nun gibt es einen schon angesprochenen Unterschied zwischen der alten, bis zur Aufk lärung dominierenden Wahrheitssudie deutsche universität von 1810 bis 1968 | 85

che und der neuen, die seit dem 19. Jahrhundert den Ton angibt. Dieser Unterschied wird durch eine Zeitenwende erzwungen, die die grundsätzliche Orientierung der Kultur an der Vergangenheit durch die Ausrichtung auf die Zukunft ersetzt. Diese Zeitenwende läßt sich in der Ökonomie durch die Ersetzung der traditionsorientierten Produktion der Agrar- und Zunft wirtschaft durch eine marktorientierte, technisch angeleitete Produktion beobachten, in der Handels- und Finanzsphäre durch die Freisetzung von Zinsen und die Ausbildung des Kapitalismus, in der Politik durch die Ablösung feudaler durch republikanische Herrschaftsformen und in der Kultur durch die Auflösung der Bindungskräfte der Vergangenheit und die Freisetzung der Gestaltungskräfte der Individuen sehen. In diesem weit gespannten Feld ist die Erkenntnis vor der Zeitenwende auf eine Wahrheit gerichtet, die es immer schon gibt, etwa in der Bibel und anderen autoritativen Texten, nach der Zeitenwende ist die Wahrheit in eine offene Zukunft gerückt. Vorher war die »Recherche de la vérité« eine Erkenntnissuche, deren Ergebnis und Erfolg schon geschlossen vorlag, nach der Zeitenwende entrückt es in das Noch-Nicht-Erkannte; entscheidend werden die Teilergebnisse, die sich bei der gezielten methodischen Forschung herausstellen. Diese Wende ist ein langwieriger Prozeß der Neuzeit, der u. a. zur Liquidierung der Theologie als einer Leitdisziplin führt. Die Disziplinen folgen der Maxime der Freiheit und Gleichheit und stehen paritätisch neben einander, eine Vorzugstellung hat allenfalls die Seite der Naturwissenschaften gegenüber der der Geistes- oder Kulturwissenschaften. In diesem Panorama ist zu beachten, daß die Geistes- und Kulturwissenschaften ein unvorhersehbares Moratorium erhalten durch die Identitätssuche der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert; sie dekorieren sich und stabilisieren sich durch eine tief in die eigene Geschichte reichende Nationalgeschichte. Erst im 20. Jahrhundert wird diese Nationalwurzel zu einer nationalistischen Pathologie, die sich um 1945 selbst zerstört. Seitdem steht endgültig alle Geschichte zur Disposition der wechselnden je gegenwärtigen Kulturindustrie, sei es die der Schulbücher, der Filme, der beliebten Rätselshow. Kein Kind lernt die eigene Nationaldichtung noch auswendig. Aber zurück zur Differenz von Wissen und Erkennen. Sie ist 86 | kapitel III

den vorsokratischen Philosophen vertraut, wie wir sahen, und wird seitdem offen oder latent in der Literatur mitgeführt. Wagner gegen Faust; nur Wagner kann sagen: »Zwar weiß ich viel, doch möcht’ ich alles wissen!« Faust zielt nicht auf Wissen, sondern Erkenntnis: »zu erkennen, was die Welt im Innersten zusammen hält.« Wir erkennen den Unterschied, den Goethe meint, intuitiv, aber wie läßt er sich präzise angeben, also als Erkenntnis ausweisen? Wenn es sich lohnt, für die Fortexistenz der Universität zu werben, dann pro Faust und gegen Wagner, aber unter erschwerten Bedingungen; die Erkenntnis, die Faust meint, muß von der Magie befreit und verstetigt werden, ohne dem Wissen Wagners zu verfallen.

3. Verstehen und Erkennen Es ist nicht nur das Wissen, sondern auch das Verstehen vom Erkennen zu unterscheiden. Bei der eben analysierten Opposition konnten wir uns auf Vorsokratiker und die Folgereflexion berufen, bei der emphatischen Berufung auf das hermeneutische Verstehen gegenüber dem bloßen Erkennen wird man bis zu Herder und zur Romantik zurück gelangen und in den Epochen davor auf Unverständnis stoßen. Es soll hier keine historische Anamnese angestrengt werden, sondern ein Romantikerzitat genügen. Friedrich Schlegel: Würden erst die Prinzipien der ewigen Revolution verstanden, dann »würde das Geschwätz aufhören, und der Mensch inne werden, was er ist, und würde die Erde verstehn und die Sonne.«132 Dieses Innewerden und das Verstehen von Erde und Sonne gehören nicht in den Aufgabenbereich der Universität. Auch nicht Heideggers berühmtes Verstehen der wunderbaren Hände Hitlers, die Jaspers doch nur ansehen sollte. Heidegger schreibt ein Buch mit dem Titel Kant und das Problem der Metaphysik (1929). Welcher Leser argwöhnt, daß schon im Titel eine sei es listige, sei es kriminelle Schiefheit der Erkenntnis steckt, denn Heidegger berührt mit keinem Wort die Kantische Metaphysik der Sitten von 1797, die seit 1767 benannt und vorbereitet wurde? In der Metaphysik der Sitten geht es um Moral, um Recht und Tugend, nicht um das Sein. Heidegger streicht die praktische die deutsche universität von 1810 bis 1968 | 87

Philosophie eigenmächtig aus dem Programm, sie wird nicht erwähnt. Im »Vorwort zur zweiten Auflage« (1951) heißt es im selben Führergestus: »Unablässig stößt man sich an der Gewaltsamkeit meiner Auslegungen. Der Vorwurf des Gewaltsamen kann an dieser Schrift gut belegt werden. Die philosophiehistorische Forschung ist mit diesem Vorwurf sogar jedesmal im Recht, wenn er sich gegen Versuche richtet, die ein denkendes Gespräch zwischen Denkenden in Gang bringen möchten. Im Unterschied zu den Methoden der historischen Philologie, die ihre eigene Aufgabe hat, steht ein denkendes Zwiegespräch unter anderen Gesetzen. Diese sind verletzlicher. Das Verfehlende ist in der Zwiesprache drohender, das Fehlende häufiger.«133 Es gibt keine Möglichkeit, mit Werken der Kunst und Literatur in ein Zwiegespräch zu treten, weil diese keine Möglichkeit einer eigenständigen Antwort haben.134 Wohl aber ist möglich und seit der Antike üblich eine kritische Auseinandersetzung mit divergierenden Auffassungen über die Werke. Jede Interpretation stellt sich der Kritik und unterwirft sich damit gemeinsamen Regeln, unter denen die Werke zu betrachten sind. Wer sich diesen Regeln entzieht, wird zurecht der Gewaltsamkeit bezichtigt, die 1933 bis 1945 üblich war und der sich die Universitäten nach 1945 in einem langsamen Prozeß der Aufk lärung wieder zu entziehen versuchten. Es ist zum Verzweifeln. »Der Spruch des Anaximander« ist der Titel einer vom Text gelösten Heidegger-Exegese Anaximanders (6. Jahrhundert v. Chr.).135 Der Text lautet in der Übersetzung bei Diels-Kranz: »Anfang und Ursprung der seienden Dinge ist das Apeiron […]. Woraus aber das Werden ist den seienden Dingen, in das hinein geschieht auch ihr Vergehen nach der Schuldigkeit; denn sie zahlen einander gerechte Strafe und Buße für ihre Ungerechtigkeit nach der Zeit Anordnung.«136 Heidegger befreit sich auf Umwegen von der Philologie, durch sie werde »hier unsachlich Moralisches und Juristisches eingemischt.«137 Seltsam – wie bei Kant! Es soll in das Problem der Metaphysik nicht unsachlich die Moral eingemischt werden! Die Interpretation des Spruchs des Anaximander folgt genau dieser Devise. Es wird in skurrilen Willkürakten die moralisch-rechtliche Dimension gestrichen und durch eine Ontologie der Differenz von Sein und Seiendem ersetzt. Anaximander wird seiner nachweis88 | kapitel III

baren Äußerung beraubt und zum Statthalter der Heideggerschen Seinskunde gemacht.138 Die Bildungsbürger, denen die genaueren Kenntnisse des Griechischen und einer verpflichtenden Philologie abgehen, waren nach 1945 verzückt, weil das dringende Denken über das Seyn an die Stelle lästiger Rechtsfragen über das eigene Tun treten konnte. Wir sind an zwei Punkten interessiert. Der eine ist die Deklaration, sich keinem »Geschwätz« der Wissenschaft zu unterwerfen, sondern ein Verstehen sui generis vorzulegen. Der andere betrifft die spezielle Dimension der Moral. Schlegels Äußerung wird man als leichtfertige, inspirierte Äußerung hinnehmen, aber sie enthält implizit doch die Absage an ein regelgeleitetes Erkennen und paßt zu der herrlichen Ausfahrt der Romantiker aus allen Grenzen, die allerdings beizeiten zur schützenden Konversion führt. Bei Heidegger ist die Diffamierung der universitären Wissenschaft und ihres Ethos ein wahrhaftes Existential. Er ist der Künder einer Philosophie, die die Niederungen moralischer Gesichtspunkte hinter sich läßt – eine Marktlücke, wobei Heidegger über den moralisch eher uninteressierten Husserl hinausgeht und ein Terrain der Indifferenz absteckt. Eben dies war Balsam für alle kompromittierten Seelen nach 1945. Es kommt auf keine Metaphysik der Sitten an und keine Ungerechtigkeit der Dinge, sondern auf das Sein des Seienden und Fug und Un-Fug. Die Hermeneutik befreit das Zwiegespräch der großen Denker vom kleinlichen Einspruch des Wortkrämers und Philologen. Heidegger gelingt auf diese Weise nach 1945, daß das deutsche An-Denken sich nicht den eigenen Untaten zuwendet, sondern dem Sein des Seienden. Das bleierne Schweigen endet in dieser Öffentlichkeit erst 1968. Das Verstehen, das sich nicht der Kritik und Korrektur stellt, bildet keinen Teil der Universität. Kritik und Korrektur implizieren, daß sich die Auseinandersetzung auf einen identischen Gegenstand bezieht. Er muß philologisch respektiert und kann auch durch andere Methoden als die Philologie bestimmt werden. Bei Kunstwerken ist es z. B. die Radiographie, die Erkenntnisse über die Genese und ihre Schichten liefert. Diese Erkenntnis führt, das beklagten schon viele Generationen in der Vergangenheit, nicht zum Glauben und zum Innewerden, sondern zur nüchternen Analyse dessen, was damit gemeint sein kann. Über den akademischen die deutsche universität von 1810 bis 1968 | 89

Umgang mit Kunstwerken kann jedoch nicht dogmatisch entschieden werden, sondern er bleibt selbst ein Thema der Aufk lärung. Eduard Norden hatte in seiner Publikation über Tacitus’ Germania (1920 u. ö.) gezeigt, daß bestimmte Teile der Charakteristik der Germanen Zitate aus einem Werk des Poseidonius sind, also vermutlich nur als rhetorische Versatzstücke dienen. Ein Sturm der Entrüstung an der deutsch-nationalen Front. Norden knickte ein: Ja, man müsse »an einem der vaterländischen Geschichte entnommenen Forschungsgegenstande Studium und Leben zusammenschließen lassen«.139 Das Wichtigste sei, die schöpferische Eigentümlichkeit des Germanentums zu verstehen.140 Der Fachbereich »Gesellschaftswissenschaften und Philosophie« einer deutschen Universität stellt im Sommer 2010 fern von dieser Ideologie seine Projekte öffentlich vor unter dem Motto »hautnah erleben und verstehen«. Bei der Präsentation auf dem »Forschungstag« soll mit den Besuchern diskutiert werden, und es könnten dabei neue Forschungsideen etwa in der »Lehrforschung« entwickelt werden.141 Was die Lehrforschung ist, wird nicht gesagt. Ob zu den möglichen Tages-Themen auch der Unterschied von Erkennen und Verstehen gehört? Kann man ihn hautnah fühlen und ahnen? Kant und Hamann planten übrigens eine Kinderphysik, kamen aber nicht zur Ausführung. Eine Startrampe zur Erkenntnis?

4. Geistes- bzw. Kulturwissenschaften versus Naturbzw. exakte Wissenschaften Die Dichotomie von mathematischen und sprachlichen Wissenschaften fi ndet sich schon bei Platon und Aristoteles, sodann in der Zweiteilung der »artes liberales« in einen sprachlichen und einen mathematischen Zweig; sie wurde aber erst im 19. Jahrhundert für die Universitäten vorgeschlagen. Dabei ergeben sich trotz der scheinbaren Klarheit auch Mißlichkeiten. Auf der Seite der Naturwissenschaften mit ihren mathematischen Beweisverfahren erscheint meistens auch die Mathematik; aber Mathematik ist selbst keine Naturwissenschaft . Man kann dieser Eigentümlichkeit dadurch Rechnung tragen, dass die reine Mathematik am Anfang der dann ohne systematische Ordnung folgenden Naturwissenschaften 90 | kapitel III

steht. Aber die Mathematik ist auch für viele Disziplinen wichtig, die auf der Sprachseite stehen, etwa die Statistik in der Soziologie und die mathematischen Strukturen in den Bachschen Fugen. Hier wird schon deutlich, dass die Ordnungen keine harten Trennungen bedeuten, sondern eine föderative Gesamtstruktur. Es gehört zu den Fortschritten der universitären Wissenschaften, dass sie sich neu verbünden und trennen, je nach den anstehenden Aufgaben. Die Archäologie braucht Satellitenfotos und chemische Analysen von Stoff resten, der Verhaltensforscher sollte sich mit dem soziologischen Begriff der Risikogesellschaft vertraut machen, um zu ermessen, wie die Risikowelt der anderen Lebewesen aussieht, dasselbe gilt für die Analyse der Medien, in denen Tiere leben und ohne deren Rezeption sie auf der Stelle tot sind; die Täuschung ist im Tierreich konstitutiv – welche Disziplin kann helfen, dieses Phänomen zu erklären? Die Urbanistik ist ohne die Kenntnis der Ideologiekritik, aber auch der Gesteinsproben und der Dendrochronologie ein totes Unternehmen. Die Universitäten sind brodelnde Erkenntniskessel, wenn sie ihren eigenen Prinzipien folgen können. Wie sollte es heißen: Geist oder Kultur, Geistes- oder Kulturwissenschaft? Der Begriff des Geistes hat eine idealistische, isolationistische, vielleicht auch schlecht elitäre Tendenz, die dem Kulturbegriff nicht eignet. Die Geisteswissenschaft thematisiert nicht tatsächlich das, was sie im Namen ankündigt, sonst müsste sie sich zuerst und vor allem mit dem Geist schlechthin, mit Gott beschäft igen; danach mit dem Menschengeist und als Problemfeld die Tiere einbeziehen. Aber alle Geistesebenen können nur durch die Formen ihrer Äußerungen erfasst werden; also Geistesäußerungswissenschaften. Die Kulturwissenschaften nennen dagegen unverhüllt, womit sie sich beschäft igen, mit menschlichen und nur menschlichen Tätigkeiten und ihren guten und schlimmen Ergebnissen, von Moses über Dante bis zur Alltagskultur 2011. Kultur gibt es nur in der Pluralität von Kulturen; es war eine besondere Anstrengung unserer Kultur, die sog. Naturvölker als Kulturvölker eigener Art kennen zu lernen. Kultur ist immer das Ergebnis gesellschaft licher Zusammenarbeit, und zu ihr gehören die vielfältigen Sphären der Ethnologie, der Zukunftsgestaltung und Erinnerungsarbeit, der Einbettung der jeweiligen Kulturen in das Eigene die deutsche universität von 1810 bis 1968 | 91

und Fremde. Der Begriff der Kulturwissenschaft ist daher dem der Geisteswissenschaft entschieden überlegen; der letztere hat nur den Vorteil, im deutschen Sprachraum besser eingeführt zu sein. Beide Benennungen, Geistes- und Kulturwissenschaften, sind dadurch schief, dass sie einerseits alle Erkenntnistätigkeit umgreifen, andererseits in der Zweiteilung auf der Gegenseite der Naturwissenschaften stehen. Die Naturwissenschaften sind kein Reflex des Urknalls oder der Neuronen und Synapsen im Gehirn, sondern gehören zum Geist bzw. zur Kultur, so wie Cicero von einer »cultura agri« und »cultura animi« spricht und wir das erstere in der Wortprägung »Agrikultur« erhalten haben. Ohne Kultur gibt es keine bestellten Äcker und keinen Urknall. Also: Die Naturwissenschaften sind Teil der Kultur- oder Geisteswissenschaften. Könnte die Zweiteilung durch eine Dreierordnung überwunden werden, dann hätte man hier Klarheit geschaffen. Es ist also leicht zu sehen, dass mit dem Nebeneinander von sprachlich verfasster Geistes- bzw. Kulturwissenschaft und mathematisch formulierter Naturwissenschaft eine weitere Disziplin notwendig wird. Sie ist nicht institutionell verankert, wird jedoch faktisch ausgeübt. Als Angehörige dieser Position äußern sich idealiter die Autoren, die über die Universitäts- oder Wissenschaftsordnung und die bestehenden paritätischen Fachrichtungen reflektieren. Hier also liegt der strategische Ort, von dem aus Wilhelm Dilthey, Max Weber, Reinhart Koselleck, Jürgen Mittelstraß und die vielen Parallelautoren ihre übergreifenden Reflexionen darlegen. 1956 publizierte Charles Percy Snow seinen wenig originellen, aber sehr einflussreichen Aufsatz mit dem Titel »The Two Cultures«142; nur aus einer dritten Position läßt sich über die beiden Kulturen reflektieren. Sie kann sich weder in Bildern noch mathematischen Formeln artikulieren, sondern ist notwendig sprachlich verfasst. Die institutionelle Zweiteilung von Natur- und Geisteswissenschaften wird durch Wilhelm Dilthey auf Anregung von John Stuart Mill vollzogen; zu lesen ist hier die Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte (1883).143 Ein Alternativvorschlag, der bis heute nachwirkt, ist die Gegenüberstellung von Natur- und Kulturwissenschaft; unter den Namen von Wilhelm Windelband und Heinrich Rickert sind die entscheidenden Informationen ab92 | kapitel III

zurufen. Meist wird vergessen, dass die im 19. Jahrhundert kreierte Altertumswissenschaft in vorbildlicher Weise Philologie und Philosophie, Naturwissenschaft, Politik- und Theaterwissenschaft und Ökonomie, Ethnologie und Archäologie, Musikforschung und Geographie- und Mentalitätsgeschichte um das eine gemeinsame Thema vereinte und vernetzte. Die Komparatistik der verschiedenen Kulturen der Griechen und Römer, der Perser und Ägypter; Mythenforschung und vergleichende Rechtsgeschichte. Alle Disziplinen standen miteinander in Kontakt, der große Versammlungsort ist die Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (1837–1864 bzw. 1893–1978). Für die Universität bedeutet die Aufhebung der Vier-FakultätenKonstellation, dass die untere, Philosophische, Fakultät, die jetzt alles wird, in zwei Lager zerfällt und die drei Fächer der früheren oberen Fakultät schlecht und recht in ihre serielle und horizontale Ordnung aufnimmt. Theologie und Rechtswissenschaft werden zu Fachbereichen auf der Seite der Geisteswissenschaften, die Medizin wird auf der Gegenseite eingerückt. So lassen sich zwei Phasen der Universitätsstruktur beobachten; die erste ist die der Fakultätenordnung, die zweite die der Entgegenstellung von mathematischen und sprachlichen Disziplinen seit dem 19. Jahrhundert mit serieller Abfolge. Jetzt zeichnet sich eine dritte ab, in der in einem föderativen System je nach Erkenntnislage wechselnde Allianzen entstehen. Von Anfang an befi ndet sich die Geisteswissenschaft in einer Verteidigungsposition gegenüber den Naturwissenschaften, und zwar in der Neuzeit sowohl im öffentlichen Ansehen wie auch in der systematischen Begründung und Exaktheit. Das Ansehen der Naturwissenschaften beruht auf den Schwindel erregenden Erkenntnissen vom Blutkreislauf zur elliptischen Form der Planetenbahnen, den Fallgesetzen und der kosmischen Gravitationskraft. So spektakulär kann keine Homer- oder Bibeledition sein. Wer den Aussagen des Physikers und Astronomen nicht glaubt, ist eingeladen, sich das entsprechende prognostische Experiment anzusehen und alternative Interpretationen vorzuschlagen. Eine skeptische Position ist ernsthaft nicht möglich. In der Öffentlichkeit wird mit dem Begriff »Wissenschaft« zunehmend nur die Naturwissenschaft gemeint, aber auch z. B. in Kants Kritik der reinen Vernunft, und die deutsche universität von 1810 bis 1968 | 93

in der Wissenschaftskommune wird die Grundlage der »Geisteswissenschaften« in der Ich-Entäußerung: »Ich bin mein Gehirn!« ruiniert. Es kommt hinzu, dass sich die Geisteswissenschaften in einem System bewähren müssen, das auf messbare Ergebnisse zielt. Die Zähl- und Messtechnik der Verwaltung mit ihrem Punktesystem in der Leistungsmessung hat sich im Inneren der Universität festgesetzt und ändert Geist und Kultur. Es wird aus ökonomischen Gründen die numerische Messbarkeit jeder Leistung vorausgesetzt und die gesamte Universität gezwungen, dieses eklatant bornierte Verfahren anzuwenden. Eines Tages wird auch der stete Tropfen der Vernunft den Beton der Bürokraten durchdringen und in einer geeigneten Jahreszeit zum Bersten bringen. »Zu den Absurditäten des Bologna-Prozesses gehören das Ranking und Rating, also der Versuch, Forschung in einem Kennziffern- und Indikatorensystem zu erfassen. Das Centrum für Hochschulentwicklung (CHE) bewerte Bücher nach dem Umfang und bleibe die Antwort darauf schuldig, warum ein dünnes Buch wissenschaft lich weniger gewichtig sein soll. Darin drücke sich ein abgrundtiefes in die Selbstauskunftsfähigkeit der Wissenschaft aus, kritisierte der Vorsitzende des Historikerverbandes […].«144

5. Zur Entstehung der Natur- und Geisteswissenschaften Eingangs wurde Demokrits (ca. 460–ca. 370 v. Chr.) Ursachensuche zitiert; sie bezieht sich auf Naturphänomene, etwa die Entstehung der Wahrnehmung, oder auch die Sonnenfinsternis, die Thales fast 200 Jahre zuvor erklärt hatte. Die Sonnenfinsternis hat von sich aus keine Bedeutung, wie der landläufige Glaube meint, sondern eine Ursache, wie der Wissenschaft ler erkennt. Zu den Geisteswissenschaften kann man neben der Geschichtsschreibung die Philologie rechnen, die allmählich Kontur gewinnt. Eine Parallele in der Geisteswissenschaft ist die Begründung der Geschichtsschreibung durch Thukydides (ca. 460–ca. 400 v. Chr.); er sucht nach Ereignissen und den Gründen und Ursachen des größten Krieges der bisherigen Geschichte. Das Ziel ist die methodische Absicherung der Disziplin (gegen Herodot) und die in94 | kapitel III

haltliche Darstellung der Ereignisse; hierbei ist es notwendig, die Erklärungen, wie sie auch Demokrit sucht, zu spezifizieren, weil sie in den Selbstaussagen der Handelnden häufig Täuschungsmanöver sind, um die öffentliche Meinung in die gewünschte Richtung zu führen. Die Strategie der bloßen Vorgabe von Gründen ist der Natur Demokrits noch fremd; Atome, leerer Raum und Bewegung sinnen nicht auf Täuschung. Beiden Forschungsrichtungen gemeinsam ist die Präsenz des Unsichtbaren; bei Demokrit sind es die Atome und ihre Bewegungen, bei Thukydides die versteckten eigentlichen Absichten der Menschen. Nur wer die Phänomene nicht nur neben einander ordnet, sondern aus dem Unsichtbaren erklärt, erkennt die Natur oder die Geschichte. Die Stafette der wissenschaft lichen Geschichtsschreibung wird über den Hellenismus und die Versuche einer Universalgeschichte weitergereicht von Tacitus (ca. 55 – ca. 115). Wenn heute Karl Schlögel das Geschichtswerk Terror und Traum. Moskau 1937 (2008) verfaßt, steht er in der Tradition der Losung des »sine ira et studio« von Tacitus145, jenseits aller begrifflichen Aufspreizungen, die die geschichtswissenschaft lichen Werke häufig mit theorielastigen Einleitungen versehen und die im Werk selbst, wenn es gut ist, vergessen werden. Die Gegenstände der Naturwissenschaften sind gesetzlich allgemein, die der Geisteswissenschaften singulär. Selbst wenn die eine Sonnenfi nsternis des Jahres 585 v. Chr. von Thales erklärt wird, geschieht dies so, dass das Ereignis mit einer Kerze und zwei Körpern nachgestellt werden kann und die Erklärung für alle früheren und späteren Sonnenfi nsternisse ihre Gültigkeit beansprucht. Die geisteswissenschaft liche methodische Betrachtung führt nicht vom repetierbaren Einzelfall zum allgemeinen Gesetz, sondern präpariert im Gegenteil das Singuläre zunehmend präzise heraus. Statt einer gesetzlichen Allgemeinheit werden gewisse allgemeine Typen benutzt. Sie machen allererst das, wovon wir reden, identifizierbar; so etwa die »aitiai«, die Gründe des Thukydides. Die Geistes- bzw. Kulturwissenschaften benötigen die Kenntnis von geschichtlich gegebenen Zusammenhängen, die artgleicher oder auch spezifisch kontrastierender Natur sind. Philologen und Interpreten müssen Kenner des Milieus sein, in dem ein Werk entsteht und für das es gedacht ist. Für ein bestimmtes Milieu kann die deutsche universität von 1810 bis 1968 | 95

es typisch sein, dass bestimmte Feindbilder gebraucht und vorausgesetzt werden etc. Wer auf die Nennung von Franzosen in der bürgerlichen deutschen Literatur des 18. Jahrhunderts stößt, achte auf einen anti-französischen, damit auch anti-höfischen Affekt. Ergänzend zu einer typologischen Allgemeinheit läßt sich von charakteristischen Zügen sprechen. Das Einzelne wird methodisch als Schnittpunkt einer im Prinzip unendlichen Vielfalt wiederum einzelner Entstehungsfaktoren erkannt und in seiner charakteristischen Kultureigenschaft in einer singulären Situation bewertet. Die Geisteswissenschaften haben – mit Ausnahmen – diese singulären Kulturdokumente und -situationen zum Gegenstand. Sie erkennen ihren Inhalt in seiner Eigentümlichkeit durch die gelehrte Zuwendung auf das, was er typisch ist, wie er entstand und was er in einer ihn kennzeichnenden, ihn charakterisierenden Weise nicht ist. Das Erkennen ist somit substanziell, nicht funktional, bezogen auf die einmalige Sache selbst, nicht auf wiederholbare Relationen. Das Erkennen läuft auf eine Bewertung der Relevanz des untersuchten Komplexes innerhalb der zugehörigen Situation hinaus. Man kann die Differenz von Natur- und Geisteswissenschaften in zwei unterschiedlichen Zeitformen begründen und sichern. Die Zeit der reinen und angewandten Naturwissenschaften ist wesentlich relationaler Art, die Geisteswissenschaften operieren dagegen dominant mit der sog. modalen Zeit. Die relationale Zeit besteht aus den zwei Beziehungen früher – später und zugleich, die modale besteht dagegen aus den Zeitlokalisierungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft , wobei die Vergangenheit früher als die Gegenwart, die Zukunft später ist. Die relationale Beziehung des früher – später und zugleich ist also beliebig wiederholbar, während die Positionen in der modalen Zeit einmalig und irreversibel sind. Der Augenblick des Jetzt kommt, kam, auf uns zu und ist jetzt schon auf immer vergangen, während das An und Aus des Experiments und der Maschinen beliebig erneuert werden kann. Für den Geisteswissenschaft ler gilt von der Zeit wie vom Raum »In ihm leben, weben und sind wir« – »sind wir«, wenn auch nicht ohne eine freie Vernunft, die z. B. hierüber reflektiert und urteilt, die anamnetisch die Vergangenheit kultiviert und sich über die Zukunft Gedanken macht. 96 | kapitel III

Naturwissenschaften zielen auf die Erkenntnis von Gesetzen, Kulturwissenschaften auf typologisches, charakteristisches Erkennen, in das die Erkenntnis von Ursachen einbezogen ist, wie schon bei Demokrit und Thukydides. Ursachen also, die nicht gesetzlich fassbar sind. Wir benutzen diesen Ursachenbegriff permanent, wenn wir Personen oder geistige Formationen als die Ursache eines Ereignisses identifi zieren, aber keine Gesetzlichkeit unterstellen. Herfried Münkler zeigt in seinem Buch Die Deutschen und ihre Mythen (2009) wie Mythen bestimmte Verhaltensmuster durchsetzen und das entsprechende Handeln kausal erzeugen. Es wird nicht beansprucht, diese Erkenntnisse seien gesetzlich fundiert; von einer Gesetzlichkeit ist an keiner Stelle die Rede, jedoch auch nicht davon, dass hier nur additiv erzählt wird. Der Rheinmythos ist die Ursache von Handlungen, er steht nicht akausal neben ihnen. »Wegen des konservativen Einflusses, den der bundesdeutsche Gründungsmythos auf die durch ihn strukturierten Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte hat, […]«.146 »Einfluß«, »strukturieren« bezeichnen kausale Beziehungen. Die Überführung dieser singulären Ursachenerkenntnis in eine Gesetzeserkenntnis etwa derart, dass sich die Synapsen im Gehirn, das Unbewußte oder der gesellschaft liche Unterbau als die wahren Erzeuger herausstellen und damit eine Gesetzeserkenntnis ermöglicht wird, diese Überführung wird man jedoch zu den Wissenschaftsmythen zählen. Nun wird der Hiat zwischen Natur- und Geisteswissenschaft gewiß durch die Präsenz mathematischer Strukturen in den Sprach- und Kunstwerken gemildert; es gibt z. B. keine Literaturbetrachtung, die nicht das alte zweistufige Modell von Regel und Genie, von machbarem Teil des Werks und naturhafter Anlage des Schöpfers verwendet. Diese Dualität wurde auch im Schönen wahrgenommen; es gibt die zahlenmäßig oder durch Messen erfassbare Außendarstellung, und daneben den beseelten Ausdruck, den der Künstler unwiederholbar stiftet und der den Betrachter auf immer neue Weise ergreift.147 Die pure Determinierung aller geistiger Äußerungen durch die gesellschaft liche Basis, das Gehirn oder das Unbewußte ist immer nur eine totalisierende Behauptung geblieben. Daß jedoch unbewusste psychische Kräfte und gesellschaft liche Faktoren für die Erzeugung der Kultur, mit der sich die Geisteswissenschaften bedie deutsche universität von 1810 bis 1968 | 97

fassen, relevant sind, läßt sich schwer leugnen. Alle Äußerungen, besonders die Publikationen, sind kommunikative Handlungen, die von einer bestimmt strukturierten Person in ein bestimmtes soziales Umfeld hinein erfolgen.148 Auch die Flucht in den analytischen Formalismus schützt nicht davor, dass sie als Ausdruck und Wirkung einer bestimmten Kulturformation interpretiert werden kann, also als singuläres, gleichwohl typologisch verständliches geschichtliches Phänomen. Zu den üblen Noten der Geisteswissenschaften und den Pluspunkten der Naturwissenschaften trägt die Meinung bei, dass die Natur noch unendlich viele Überraschungen für uns bereit halte, während die vergangene Kultur eben doch begrenzt und das Wesentliche schon gesagt sei. Nur überschäumende und konturlose Diskurse hätten jeweils noch kurzfristige Chancen, aber über Platon und Hegel lasse sich ernsthaft nichts Neues mehr sagen. Die Zeit der Kommentare und am Wortlaut orientierten Interpretationen sei endgültig vergangen. Nichts Neues? Ein Gang durch die letzten Publikationen in allen Fächern der Geisteswissenschaften könnte diese Behauptung leicht widerlegen; es erscheinen in rascher Folge Schriften, in denen Entdeckungen präsentiert werden und die von derselben methodischen Strenge sind wie die entsprechenden Publikationen vor hundert Jahren; von Niveauverlust keine Spur. Sodann enthalten Interpretationen und Kommentare Auseinandersetzungen mit bisherigen, nachweisbar irrtümlichen Auffassungen. Der Stoff ist jetzt noch unendlich. Zum anderen ist es eine Überlegung wert, ob man die Neuigkeitsneurose der Neuzeit nicht für die Dauer eines Seminars zurückstellen kann und einfach eine »lectura Dantis« betreibt, Zeile um Zeile mit der Hilfe alter und neuer Kommentare und besinnlicher oder aufgeregter Aufsätze. Oder eine einfache Lektüre von wenigen Seiten von Thukydides. Es wären Beiträge des Erkennens des Erkannten, ohne Fanfarenklänge im Feuilleton oder die Einbeziehung von Drittmitteln. Oder die verquerte Meinung, die Geisteswissenschaften ließen sich als Kompensation der Naturwissenschaften begreifen; welcher geisteswissenschaft liche Autor war je der Meinung, er kompensiere mit seiner Tätigkeit den Erfolg der Naturwissenschaften? Wissen sie nicht, was sie tun?

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6. Platon und Aristoteles: Geisteswissenschaften versus Mathematik Ich möchte zeigen, dass der Konfl ikt von mathematischen und sprachlichen Disziplinen schon bei Platon und Aristoteles präsent war. Beide Philosophen verteidigen die Heterogeneität der beiden Erkenntnisformen und versuchen, gegen die Mathematisierer zu zeigen, dass die sprachlichen Disziplinen eigenständig und unentbehrlich sind. Die »two cultures« teilen sich die »artes liberales«, in denen es einen mathematischen und einen sprachlichen Zweig gibt. Der Dualismus wird im 19. Jahrhundert in der genannten Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften aufgenommen.149 Das Resümee lautet heute wie schon analog bei Platon und Aristoteles, dass die sprachlichen Disziplinen nicht auf die Naturwissenschaften reduzierbar sind, dass sie ihre eigentümliche wissenschaft liche Gestaltung fi nden können und dass sie für das Kulturleben und selbst für Mathematik und Naturwissenschaft unentbehrlich sind. Ohne den freien Geist wären die Naturwissenschaft ler tatsächlich nichts als ihre Gene, ihr Gehirn und ihre Triebe, reflexions- und redeunfähige Zellen und Synapsen. Sie sollten nicht mehr publizieren, sondern ihr eingescanntes Gehirn den Kollegen zusenden, zu deren Schrecken: »Was! K. ist mir zuvor gekommen! Hier, hier die Neuronen und Synapsen in seinem Gehirn sind ein unwiderlegbarer Beweis seines Vorsprungs, hier sieht man die Lösungen!« Platon und Aristoteles wenden sich gegen die Pythagoreer, die die Erkenntnis unter die drei mathematischen Titel des Zählens, Messens und – in erweiterter Form – des Wägens bringen wollen. Was sich also unter diese Verfahren nicht subsumieren läßt, gibt es nicht wirklich. In Platons spätem Dialog Politikós wird Folgendes überlegt: »Offenbar werden wir nun die Messkunst auf die Art, wie jetzt erklärt ist, teilen, indem wir sie in zwei Teile zerschneiden, als den einen Teil derselben Künste setzend, welche Zahlen, Längen, Breiten, Tiefen und Geschwindigkeiten gegen ihr Gegenteil abmessen; als den andern aber alle, die es tun gegen das Angemessene und Schickliche und Gebührliche und alles, was in der Mitte zwischen zwei äußersten Enden seinen Sitz hat.«150 Es gebe Philosophen, die die deutsche universität von 1810 bis 1968 | 99

diese Trennung nicht beachteten und alle Kulturerzeugungen unter die mathematische Messkunst brächten – »Nur dies laß uns in acht nehmen, dass wir zwei Arten der Messkunst dafür gefunden haben, und laß uns erinnern, worin wir sagten, dass beide beständen.«151 Einmal gibt es also die numerisch bestimmbare Messung, die, wie wir sagen könnten, quantitative Wissenschaft , zum anderen die Messung nicht quantifi zierbarer Gegebenheiten wie etwa einer Rede; die angemessene Länge, der Höhepunkt, das Ende, das alles muß sich bei einer gelungenen Rede an einer nicht quantifizierbaren Norm messen lassen. In späterer Klassifi kation könnte man sagen, dass die erste Messkunst eine Sache des Verstandes, die zweite der Urteilskraft ist. Und schon hier bei Platon stoßen wir auf das Phänomen, dass Übergriffe der ersteren auf die zweite Domäne abgewehrt werden müssen. Die Quantitäten-Partei möchte alle Bestimmungen überhaupt ihrem Prinzip unterwerfen, nicht umgekehrt, denn niemand wird bei einer Längen- oder Breitenbestimmung dafür plädieren, auf die numerisch exakte Messung zu verzichten und stattdessen mit ästhetischen oder rhetorischen Maßstäben zu operieren. Schon hier also eine Abwehr gegen die Reduktion der Erkenntnis auf Quantitäten. Platon stellt diesem Reduktionismus die eigentümliche Konstitution eines anderen Dingbereichs entgegen, der von sich aus ein nicht-mathematisches Messverfahren fordert. Wie hoch und breit ein gutes Argument ist, wird kein Pythagoreer beantworten können, es sei denn, er gehört einer Verwaltungskommission des CHE an. Der Politikós greift für seine Zweiteilung auf eine kanonisierte Trias von mathematisch bestimmten Verfahren zurück: Zählen, Messen und Wägen. Sie wird in dem frühen Dialog Euthyphron ins Spiel gebracht; es gebe, heißt es dort, Streit selbst unter den Göttern bei Wertbegriffen wie »gerecht« und »ungerecht«, »schön und hässlich«, »gut« und »schlecht«, nicht aber dann, wenn etwas gezählt, gemessen oder gewogen werden könne.152 Die beiden Bereiche sind unleugbar real, und beide haben unterschiedliche Formen der Erkenntnis. Für die Zweiteilung der »artes liberales« besagt dies, dass keine der beiden Seiten auf die jeweils andere reduzierbar ist oder beide in einer höheren Einheit in inhaltlich relevanter Weise aufgehoben werden könnten. In den Gegenständen selbst mag es immer eine 100 | kapitel III

Synthese beider Maßbildungen geben, die Synthese ist jedoch keine Verschmelzung zur Identität. Ein kurzer Blick auf eine derartige Synthese in einem ganz anderen Feld, das schon angesprochen wurde: Nach einem antiken, dann wieder in der Aufk lärung aktivierten Schema ist wirkliche Schönheit durch zwei Faktoren bestimmt; einmal ist es die äußerliche Form, die auch Tieren eignen kann (Myrons Kuh), zum anderen ist es die innere Beseeltheit, die schöne Seele, die nur dem Menschen zukommt. Die Form läßt sich mathematisch bestimmen, der Geist entzieht sich dieser Meßform.153 Über dem Tor der Akademie soll gestanden haben: »ageometretos medeis eisito« (»Niemand trete ohne Geometriekenntnisse herein«)154. Damit wird die mathematische Ausgangsposition der Philosophie für den Adepten benannt; sie ist die »conditio sine qua non«, aber nicht das Ganze der Philosophie. Die Anlage ist zweistufig wie bei der angeführten Lehre von der Schönheit. Die erste Stufe, der Eingang also, ist die der äußeren vollendeten geometrischen Form, die zweite die der inneren Beseelung. Das Motiv der unterschiedlichen Exaktheit und Methode in den mathematischen und sprachlichen Wissenschaften wird von Aristoteles in der Nikomachischen Ethik aufgenommen. »Die Darlegung wird dann befriedigen, wenn sie jenen Klarheitsgrad erreicht, den der gegebene Stoff gestattet. Der Exaktheitsanspruch darf nämlich nicht bei allen wissenschaft lichen Problemen in gleicher Weise erhoben werden, […]. Der logisch geschulte (gebildete) Hörer wird nur insoweit Genauigkeit auf dem einzelnen Gebiet verlangen, als es die Natur des Gegenstandes zulässt. Es ist nämlich genauso ungereimt, vom Mathematiker Wahrscheinlichkeiten entgegen zu nehmen wie vom Rhetor denknotwendige Beweise zu fordern.«155 Dieser Konzeption werden wir uns bei der Gegenüberstellung von Natur- und Geisteswissenschaften anschließen. In einem von der griechischen Tradition beeinflussten Text der Bibel, im Buch der Weisheit, heißt es von Gott: »Du hast alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet.«156 Hiermit erhält die mathematische Seite der beiden Erkenntnismöglichkeiten einen exklusiven Anspruch von höchster Autorität. Es ist kaum möglich, diesen Anspruch im Einzelnen zu verifi zieren; das Motiv ist jedoch omnipräsent. Es wird zu Beginn der Neuzeit daraus gefolgert, dass die gesamte Natur so geschaffen sei, dass sie gezählt, gemessen und die deutsche universität von 1810 bis 1968 | 101

gewogen werden könne; nur Gott selbst entzieht sich dieser dreifachen Erkenntnisweise.157 Gott also ist der Vierte; an seine Stelle kann man auch das menschliche Erkenntnissubjekt setzen, das seine Gegenstände durch Zählen, Messen und Wiegen selbstvergessen bestimmt. Das Erkenntnisideal der Philosophie, auch der Politik und Ethik, ist bei Thomas Hobbes und bei Spinoza gegen Aristoteles mathematisch, »more geometrico«, gefasst – »Die Kunst, Staaten zu schaffen und zu erhalten, besteht wie die Arithmetik und die Geometrie aus sicheren Regeln und nicht wie Tennisspielen aus bloßer Übung.«158 Christian Wolff versieht seine Werke mit dem Gütesiegel »more geometrico«. Fichte, der entfernte Wolffschüler, wird diese Anpreisung aufnehmen: Er will, so verkündet er 1804 seinen Hörern, die vollständige »Lösung der Rätsel der Welt und des Bewusstseins mit mathematischer Evidenz« vortragen.159 Um dagegen eine Autorität für die Zweiteilung von mathematischen und sprachlichen Disziplinen anzuführen, sei auf Kant verwiesen. Er wendet sich wie Platon und Aristoteles gegen die Übernahme der mathematischen Methode in die Geisteswissenschaften (Philosophie) und bestimmt Mathematik als die Konstruktion von Begriffen in der reinen Anschauung, während die übrigen Wissenschaften der Vernunft mit sprachlichen Beweisen vorgehen.160 Es gab und gibt in den Themenbereichen der Geistes- und Kulturwissenschaften mathematische Strukturen, die gezählt und gemessen werden müssen. Bachs Kunst der Fuge ist ohne Mathematik nicht denkbar. Ein hervorragendes anderes Beispiel hat Manfred Hardt in seinem Buch über Die Zahl in der Divina Commedia (1973) publiziert; Grundlage sind die Ausführungen von Augustinus in De musica. In der Malerei und Architektur, selbst in der griechischen Skulptur gibt es numerische und geometrische Proportionen. In der Literatur, den Epen, den Märchen, dem Alten und Neuen Testament, den philosophischen Werken der Antike und Neuzeit, ist vielfach die Konstellation 1, 2, 3 / 4 präsent. Die alte Universität war ein Beispiel. So gibt es in den Kulturprodukten, die zu den Geisteswissenschaften gehören, vielfache mathematische Kabinettstücke, die der Interpret nachweisen kann, ohne in eine ominöse hermeneutische Horizontverschmelzung zu geraten. Umgekehrt können numerische Geheimnisse in Pyramiden 102 | kapitel III

und Sandfiguren in Peru hinein geheimnißt werden. Eben dies ist eine Gefahr bei der vermeintlichen Aufdeckung von Zahlen und Maßen in Texten und Bildern. Offenbar ist dies eine Beschäftigung, die bei Interpreten zur Obsession ausarten kann. Michel Foucault entdeckt in den Meninas von Velázquez Linien, an die der Maler nicht gedacht haben kann.161 Ohne bewusste Konstruktion können sie jedoch im Bild nicht vorhanden sein. Die Lösung: Sie gehören in das Inventar der Einbildungskraft nicht des Malers, sondern des Interpreten.

7. Geisteswissenschaften mit Newton; Überbau und Unterbau Mit dem durchschlagenden Erfolg der Newtonschen Physik im 18. Jahrhundert verliert die Geometrie ihre Modellfunktion und macht der Orientierung an der Naturwissenschaft Platz. Auf dieser neuen Grundlage entsteht die Zweiteilung von Natur- und Geisteswissenschaft im 19. Jahrhundert. Die Assoziationskräfte der Humeschen »science of man«162 werden nach dem Vorbild der Newtonschen Gravitation konzipiert. Die Dichotomie von sprachlichen und mathematischen Disziplinen bleibt jedoch beim Wechsel von Euklid zu Newton bestehen. Dabei kann die Newtonnachfolge wie bei Hume in der Attraktionskraft von assoziativ verbundenen Vorstellungen gesucht werden oder wie bei Kant in der Suche nach den Gesetzen, die den »mundus sensibilis« oder den »mundus intelligibilis« beherrschen. Das Newton-Modell bestimmt auch die »Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht«; sie nimmt schon im Titel die Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels von 1755 auf und führt die Gegenkräfte von Attraktion und Repulsion im gesellschaft lichen Antagonismus von Ehrsucht, Herrschsucht und Habsucht fort. So ist die gesamte Geschichte bis zum Friedensende reine Newtonisch verfaßte Naturgeschichte. Andere Varianten sind erstens der Versuch einer Fundierung der Geistesphänomene in der individuellen Psyche und ihrem Unbewußten, zweitens in der physiologischen Substruktur des Gehirns oder aber drittens in den Produktivkräften der Gesellschaft. die deutsche universität von 1810 bis 1968 | 103

Es ist also einerseits die unbewußte Substruktur der individuellen Psyche, die das Kulturobjekt der Geisteswissenschaft erzeugt und z. B. in der Ursachenlehre der Psychoanalyse aufgedeckt werden kann. Eine der bekanntesten und umstrittensten psychoanalytischen Interpretationen ist Sigmund Freuds »Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci«: »Wir haben bei Leonardo die Ansicht vertreten müssen, daß die Zufälligkeit seiner illegitimen Geburt und die Überzärtlichkeit seiner Mutter den entscheidenden Einfluß auf seiner Charakterbildung und sein späteres Schicksal übten, indem sie die nach dieser Kindheitsphase eintretende Sexualverdrängung ihn zur Sublimierung der Libido in Wissensdrang veranlaßte […].«163 Vorzüglich sind die psychoanalytischen Interpretationen Jean Starobinskis, etwa die des Sophokleischen Aias.164 Der epistemische Vorteil Starobinskis gegenüber Freud liegt darin, daß seine Helden Pathologen sind und er kein Kunstwerk, sondern exzessive Charaktere untersucht. Die psychoanalytische Richtung ist neuerdings bzw. erneut durch einen rein materialistischen Ansatz ergänzt worden. Wir wissen, so lautet die These von Hirnforschern, dass alle geistige Tätigkeit durch das Gehirn realisiert wird. Unser Denken und Handeln ist also, diese Ansicht müssen wir vertreten, der subjektive Reflex, die bloße Binnenseite milliardenfacher Interaktionen von realen Nerven im Gehirn; durchschauen wir diese letzteren, sind die ersteren erklärt. Ein kleiner störender Überschwang: Es wird zugleich die Erklärung des Naturgeschehens wegerklärt, was aber wiederum geht, wenn ich mit Haut und Haar mein Gehirn bin, das hiermit aufatmen kann. Es braucht den Umweg über die Erkenntnis nicht zu gehen, weil sich allemal nichts Neues ergibt. Eine dritte Variante ist die gesellschaft liche Wirklichkeit, der Unterbau, der den ideologischen Überbau kreiert; die bestimmte Art der Klassengesellschaft ist hier die Ursache und Gestalterin der gedanklichen und künstlerischen Produktion. In allen Fällen wird die Geisteswissenschaft also erst dadurch zu einer eigentlichen Wissenschaft , dass sie das aus der Naturwissenschaft vertraute Modell der Suche nach den Ursachen der Phänomene übernimmt, also zur Naturwissenschaft wird. Die Geistesprodukte, heißt es, lassen sich nicht aus sich selbst und ihren nachweisbaren Implikationen erkennen, sondern nur durch den 104 | kapitel III

Rückgriff auf ihre psychische oder gesellschaft liche Basis. Auch Wilhelm Dilthey suchte nach einer Fundierung der Geisteswissenschaften in einer Gesellschaftswissenschaft, hat dieses Projekt aber nicht ausgeführt.165 Die drei neuzeitlichen Ansätze haben zu einer umfangreichen Diskussion der Frage geführt, was nun das Wissenschaft liche an den sog. Geistes- oder auch Kulturwissenschaften sein soll, für unser Thema: Was eigentlich den Verbleib der Geisteswissenschaft an der Universität rechtfertigt. Wenn eine der Schulen sich durchsetzt, wird sie darauf dringen, dass dem geisteswissenschaft lichen Studium ein Grundkurs entweder in der Psychoanalyse oder aber der Gesellschaftstheorie mit Überbau und Unterbau oder drittens der Hirnforschung vorangestellt wird. Um die geistigen Phänomene zu verstehen, müssen wir sie aus dem erklären, was sie verursacht oder ihre eigentliche Realität ist. Welche Wissenschaft soll zwischen den drei Prätendenten der Grundlegung des Geistes und der Kultur entscheiden? Wer also soll nach dem Urteil dieser Hyperwissenschaft das Grundstudium der Geisteswissenschaften gestalten, die Freudianer, die Marxisten oder die Hirnforscher? Aber für die Universität wäre die Situation noch vertrackter. Wenn es für die Geisteswissenschaften ein Grundstudium der Psychologie, der Ökonomie oder der Hirnforschung geben sollte, dann wäre die Einschränkung auf die Geisteswissenschaften nicht einsehbar, denn alle geistige Tätigkeit ist ihrer Basis verbunden. Und dann müssten sich die drei Richtungen jeweils selbst grundlegen, aber wie? Soll das Gehirn die Hirnforschung aus sich hervorblitzen lassen, und die ökonomische Basis den Überbau, in dem eben hierüber wiederspiegelnd reflektiert wird? Die jeweiligen Grundkurse hätten die Aufgabe, die anderen Wissenschaften in ihrer Sachhaltigkeit zu fundieren und diejenigen Disziplinen, die sich nicht auf dieser Grundlage absichern lassen, der Belletristik oder den Flammen zuzuweisen, »then commit it to the flames«. Können sich die Geisteswissenschaften als Wissenschaften ausweisen, ohne auf die oben skizzierte Mathematisierung und Ursachenforschung zurückzugreifen? Die Mathematisierung verkümmert zu einem wenig überzeugenden Formalismus ohne eine grenzsetzende Urteilskraft, die Ursachenforschung bringt interesdie deutsche universität von 1810 bis 1968 | 105

sante Einsprengsel, sie scheitert jedoch am Postulat der Selbstanwendung: Die propositionalen Inhalte einer Theorie müssen auf diese selbst angewendet werden können, wenn die letztere in den Objektbereich der Theorie fällt. Wenn es in dieser letzten heißt, dass alle geistigen Äußerungen durch psychische Formationen oder die gesellschaft liche Basis oder Neuronen und Synapsen im Gehirn verursacht werden, dann muß auch diese Aussage verursacht sein durch bestimmte, erkennbare Faktoren. Wenn jedoch eine Aussage als Produkt sozialer oder psychischer und physiologischer Wirkkräfte erkannt wird, dann verliert sie ihren allgemeinen Geltungsanspruch und regrediert zu einem partikularen Naturereignis, das anthropologisch interessant sein mag, aber theoretisch belanglos wird. Freud und Marx und Singer sind daher wichtige Autoren für psychische und soziale und physiologische Zusammenhänge, sie können jedoch keinen All-Satz für die geistigen Erzeugnisse formulieren. Damit verfällt auch ihr möglicher Anspruch, das geisteswissenschaft liche Studium in den Rang einer Wissenschaft zu heben. Sie verfallen alle dem Einspruch der unmöglichen Selbstanwendung oder auch, einfacher, dem gesunden Menschenverstand. Ein weiterer Einwand bezieht sich auf folgenden Umstand. Schon im 18. Jahrhundert nahm die Naturwissenschaft kein Interesse mehr am Ursachenbegriff, sondern ersetzte ihn außer in theologischen Randfragen durch den des Gesetzes. Diese Änderung können weder Freud noch Marx vollziehen, weil in beiden Theorietypen die Behauptung der strengen Gesetzmäßigkeit der untersuchten psychischen und sozialen Turbulenzen kaum Erfolg hätte. Aus der kollektiven und individuellen Geschichte mögen typische Reaktionsmuster genannt werden, aber es gibt weder eine mathematische noch experimentelle Bestätigungsmöglichkeit; eine Freudsche oder Marxsche Gesetzmäßigkeit läßt sich nicht verifi zieren, wohl aber kann man den schwächeren Begriff der Verursachung benutzen – Gott ist die Ursache der Welt, der Teufel verursacht vielfache Übel, der Ödipus-Komplex ist die Ursache eines sonst unerklärbaren Handelns des Helden, die Klassenkämpfe verursachen Shakespeares wundervolle Erkenntnis: »It was the nightingale and not the lark«. Die Nachfrage nach den psychischen oder sozialen Umständen eines Autors kann zur Freilegung wichtiger Komponenten eines 106 | kapitel III

Werks führen. Freuds Ödipus- oder Hamlet-Deutung gehören zum klassischen Bestand der Geisteswissenschaften. Marxistische und psychoanalytische Interpretationen konfrontieren den Leser mit der Frage, wie es steht um die Unterdrückung in diesen scheinbar ganz freien Kulturobjekten und involvieren den Leser wirkungsästhetisch in die Selbstaufk lärung.166 Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Geisteswissenschaft liche Gegenstände gehören evidentermaßen in eine bestimmte historische Kultur; Platons Werke sind nicht hellenistisch und nicht homerisch, und Hume hätte seinen Treatise of Human Nature nicht 1840 in Madrid schreiben können. Das ist jedermann unmittelbar evident, wenn es auch allen schwer fällt, den allgemeinen Anspruch der Werke mit dem partikularen Entstehungszusammenhang zu verbinden. So läßt sich die Wahl eines Bildmotivs auf einem Bild erhellen durch die Kenntnis, dass das Werk von einer Frau stammt; man wird den Charakter des großen Romans von Wassilji Grossmann besser beurteilen können, wenn man die Lebensumstände des Autors kennt. Aber die künstlerische Geltung ist ebenso wie die der Theorie auf den freien Schöpfungsakt angewiesen und entspringt nicht einer durchgängigen Verursachung. Auch die Theorie des Hirnforschers kann sich als solche nicht als das durchgängige Produkt des Gehirns ansehen. Die Theorie ist wahr oder falsch, nicht aber das ausmeßbare Gehirn und seine Neuronen. »Ich bin mein Gehirn«, kann der Geist fälschlich sagen, aber er wird vergeblich auf das Echo des vor sich hinbrütenden Gehirns warten: »Ich bin mein Geist«. Zur Fälschung seiner Identität ist das Gehirn auch in seinem dunklen Drange nicht imstande, auch nicht zu einer Geste der Bescheidung: »Ich bin meine Gene«. Naturgesetze, mathematische Sprache, metrische Genauigkeit. Aber was uns dabei verschlossen bleibt, »wäre die Möglichkeit, unsere Bewegungen als Handlungen zu verstehen, die aus Gründen geschehen und dadurch zu vernünft igen, sinnvollen Handlungen werden.«167 Zu den Handlungen gehört auch die irrtümliche Behauptung, ich sei mein Gehirn. Was macht die sog. Geisteswissenschaften zu Wissenschaften, was legitimiert sie dazu, als Universitätsdisziplinen aufzutreten, wenn es keine Basis gibt, auf die sie wissenschaft lich reduziert die deutsche universität von 1810 bis 1968 | 107

werden können und die ihre Gegenstände erklärt? An den mittelalterlichen Universitäten gab es die Institution der sieben »artes liberales«. Sie lieferten keine inhaltlichen, sondern methodische Vorgaben der Erkenntnis auf den verschiedenen Sachgebieten. Hiermit entgingen sie der Falle der Selbstanwendung, weil sie keine Wissenschaft materiell begründen wollten und dadurch in den unendlichen Regreß gerieten. Ihnen und damit der Universität überhaupt fehlte jedoch eine Wissenschaftswissenschaft oder Philosophie, die die Notwendigkeit dieses und nur dieses Systems hätte zeigen können. An die Stelle der Erkenntniserkenntnis mußte der Glaube treten - sollte Gott die Professoren an einem so essentiellen Punkt in die Irre führen und täuschen?

8. Wissenschaftsgeschichte Die Geschichte der Wissenschaft – eine bizarre Idee, das bereits Erkannte noch einmal und vielleicht dann ins Unendliche wiederholt zu erkennen? Newton ist Newton, Darwin Darwin. Wahr ist dagegen: Newton ist nicht Newton, Darwin ist nicht Darwin. Wir können ihre Personen und Werke meistens gut identifizieren, obwohl auch hier schon Probleme der Zuschreibung auft reten: Von wem stammt die Schrift Über die Welt? Verfaßte Schelling das Älteste Systemfragment? Diese Fragen können vielleicht durch neue Quellenfunde gelöst werden. Schwieriger ist die Rekonstruktion der Theorien selbst. Normalerweise führt die nachfolgende historische Forschung zu einem Urteil, das haltbarer ist als das der Zeitgenossen. Aber es gibt auch umgekehrte Beispiele, so daß man hier ungern zu einer einheitlichen Regel kommen möchte. Das Urteil auch hierüber fällt die Wissenschaftswissenschaft in historischer Brechung. Naiv und falsch ist die Meinung, daß spätere Generationen von Mathematikern einen unmittelbaren Zugang zur Geometrie von Euklid haben, daß der heutige Physiker aus Spaß Newton lesen und verstehen kann, daß Nietzsche im Spaziergang durch Platons Politeia oder Kants Kritik der reinen Vernunft gehen kann. Zu Euklid: Gibt es den Punkt, die Linie, die Fläche, die Euklid am Anfang seiner Elemente defi niert, im Raum? 108 | kapitel III

Die Notwendigkeit, das Erkannte im Erkennen zu spiegeln, gilt gleichermaßen für Geistes- oder Kultur- wie auch für Naturwissenschaften. Forschungszonen der Philologie haben eine historische Identität, die auf eine gesonderte Gedächtnisleistung angewiesen ist. Ohne Wissenschaft sgeschichte keine Wissenschaft , ohne die Erkenntnis des Erkannten kein Erkanntes. Die Wissenschaft nimmt diese paradoxen Tatbestände zur Kenntnis und verbindet das Wissenschaftsgeschehen mit seiner geschichtlichen Vergewisserung. Die einzelnen Disziplinen benötigen sie zur Absicherung ihrer Identität. Was neu ist und in welchem Sinn man von alt und neu sprechen kann, läßt sich nur geschichtlich ermessen. Wenn Forschung also innovativ sein soll, ist sie ohne die Beziehung auf das schon Erforschte nicht möglich. Hier trennen sich jedoch zwei Wege von einander. Der eine führt in die komplexe Fachgeschichte zurück, der andere thematisiert nur die für den Fortgang nötigen letzten Schritte der Forschung, etwa der letzten Monate. Die Publikationen aus diesem kurzen Zeitraum markieren genügend exakt den Stand der Erkenntnis, um die eigenen Ergebnisse als innovativ zu kennzeichnen und mit ihnen den neuen Ausgangspunkt zu markieren. Der zweite Weg kappt den expliziten Rückgriff auf weiter entlegene Vorstufen, weil ihre Kenntnis am Forschungsprozeß nichts ändern würde. Der erste Weg führt als gesonderte Wissenschaftsgeschichte in die Vergangenheit, der zweite dient nur der Richtungsangabe in die Zukunft und ist ohne den ersten möglich. Hier nur eine Andeutung. Den ersten Weg beschreiten nach der vorherrschenden Tendenz die Akademien, den zweiten die Universitäten. Die großen Exponenten der Wissenschaftsgeschichte sind die bewundernswerten Editionen der großen Heroen wie Kepler, Gassendi, Newton, Leibniz, um die sich eine Phalanx von höchst qualifi zierten Wissenschaft lern bemüht, im Schatten der öffentlichen Aufmerksamkeit. Je stärker die gedächtnislose Bürokratie und Geldnot in der akademischen Kultur die Entscheidungen verantwortet, desto stärker wächst der Druck auf die Eliminierung der Wissenschaftsgeschichte.

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9. Protektion, Gehorsam, Freiheit Im 19. Jahrhundert erlebte die Feudalherrschaft mit mittelalterlichen Titeln und mythopoetischen Helmen ihre späte, letale Blüte in Preußen; man betrachte die Bilder von Wilhelm I. und II. bei den beliebten Berliner Paraden. Zur gleichen Zeit schrieben Strindberg und Ibsen, Zola und Verga, es malten Paul Cézanne und Gustave Courbet. Aber die feudalen Lemuren sahen ihre Zukunft paradoxerweise in der Förderung einer modernen, vorurteilsfreien Lehre und Forschung an den Universitäten. Der Bildungsanspruch disziplinierte die Bürger im Inneren und sorgte für Achtung nach außen. In Preußen wurde die Universität neben Industrie und Militär zum dritten tragenden Pfeiler des Staats.168 Die gotischen Titel der Universitätslehrer und -forscher bedeuteten eine Nobilitierung, die die Loyalität mit geringsten Ausnahmen gewährleistete; der preußische, und nicht nur der preußische, Staat konnte bis 1945 bzw. 1968 auf die Universitäten zählen. Die Professoren der besonderen Klasse wurden mit dem Titel des Geheim- oder Staatsrats ausgezeichnet und damit implizit zur Extra-Ergebenheit verpfl ichtet. Der Archäologe Professor Dr. Adolf Furtwängler fuhr zwar der Kuriosität halber mit dem Fahrrad zu den Staatsratssitzungen, aber gegen die Bayerische Regierung hat er sich wohl nie öffentlich geäußert. Die Loyalität hat ältere Wurzeln; wenn Kant Beispiele exquisiter Bosheit der menschlichen Natur anführt, so sind es in alter Tradition die Völker an den Grenzen der Welt, die kein Leser je gesehen hat,169 es ist nicht das Spießrutenlaufen der gepressten Soldaten in der benachbarten Königsberger Garnison. Ein zwischenzeitliches politisches Engagement von Studenten und einzelnen Professoren wurde von den Universitäten insgesamt nicht übernommen. Studenten opponierten gegen die Restauration in der Ära Metternich, sie veranstalteten das Wartburgfest 1817 und das Hambacher Fest 1832, aber beides verstärkte nur die Repression und führte nicht zu einem politischen Reflexionsprozeß in den Universitäten. Keines der Feste fand in oder mit einer Universität statt. Göttingen 1837: Ernst August I., neuer König des Königsreichs Hannover, hob am 1. November 1837 die 1833 erlassene Verfassung auf. Der Historiker Friedrich Christoph Dahlmann versuchte, 110 | kapitel III

den Senat der Göttinger Universität zum Widerspruch gegen den Staats-Streich zu bewegen, aber nur sechs Professoren waren bereit, die »Protestation« zu unterschreiben. Die »Göttinger Sieben« wurden 1838 aus dem Staatsdienst entlassen; die Universitäten verständigten sich nicht intern zu solidarischen Maßnahmen oder Kundgebungen, sondern akzeptierten die Vertreibung. Eine kurze Erinnerung an ein Schreiben der Göttinger Societät der Wissenschaften April 1793 an die Regierung des Königtums, aufgesetzt vom damaligen Sekretär, dem Altertumswissenschaft ler Heyne. Die Königliche Regierung verlangte von der Gesellschaft, sie sollte in Hannover den Ausschluß zweier Mitglieder aus der Mitgliederliste der Gesellschaft beantragen. Es handelte sich um Philipp Friedrich von Dietrich und Georg Forster, die in die revolutionären Ereignisse in Straßburg und Mainz involviert gewesen waren. Heyne »ließ darauf hin den Entwurf eines ›Pro – Memoria‹Schreibens an die Regierung kursieren, in dem es hieß, dergleichen scheine ihm ›unter aller Würde der Societät zu seyn‹; man könne es ›Höflingen und Speichelleckern zumuthen, aber keinem Corpus von Gelehrten‹. Denn: ›Die Societät ist eine gelehrte Gesellschaft, kein politisches Corpus, noch kein Club. Was mit den Mitgliedern in politischen Verhältnissen und Verbindungen vorgehet, gehet die Societät nichts an; denn diese Verhältnisse haben keine Beziehung auf das wissenschaft liche. Auch die Ehre der Societät tasten sie nicht an; sowenig als das Sittliche der Mitglieder, solange es keine bürgerliche Infamie nach sich zieht. Man kann aber Democrat u. Aristocrat, Bürger u. Sclav sein: und bleibt doch ein bürgerlich ehrlicher Mann. Will die Königliche Regirung gedachte Männer ausgestrichen haben: so mag sie es anbefehlen: und will sie, daß es öffentlich bekannt gemacht werden soll: so muß es angekündigt werden als auf Befehl Königlicher Regirung geschehen.‹«170 Die Universitäten schwiegen zwischen 1933 und 1945 zur Vertreibung ihrer jüdischen, kommunistischen, sozialdemokratischen Mitglieder. Es wird von keiner Sitzung einer Fakultät oder eines Senats berichtet, in der gefragt wurde, wo die Kollegen geblieben sind, warum sie verschwanden, und wohin. Bis 1968 wählte die Institution weitgehend erst den Führerkult, danach vielfach den Weg in die Innerlichkeit des Seyns. Den Denkern wird dafür gedankt und gedankt. die deutsche universität von 1810 bis 1968 | 111

Bis hin in die Zeit um 1968 galt dem politisch engagierten Professor das Mißtrauen seiner Kollegen, die auf die reine Wissenschaft setzten und nicht merken wollten, dass die reine Wissenschaft mit den Umständen, unter denen sie getrieben wird, intim liiert sein kann. Der typische Universitäts-Mandarin bis 1968 verachtet die amerikanische Kultur und geht nicht ins Kino; er sieht es als seine Auszeichnung an, von soziologischen Untersuchungen keine Notiz zu nehmen, er verurteilt Thomas Mann wegen seiner Kampagne gegen das Dritte Reich, er steht hinter der Resistenz der deutschen Justiz, die NS-Verbrechen aufzurollen, und all dies, ohne Nazi zu sein, sondern einfach als loyaler deutscher Universitätsprofessor vor 1968. In diesem Biotop wuchsen vorzügliche Editionsvorhaben, philologische Erkenntnisse und stabile Institutsverhältnisse heran mit einem geordneten Oben und Unten. Es ist kein Zufall, dass das Fach »Politische Wissenschaft« erst auf Drängen der Alliierten nach 1945 eingeführt wurde. Die Geschichtswissenschaft konnte die jeweils neueste Geschichte ausklammern, bis ihr diese als »Zeitgeschichte« aufoktroyiert wurde. Der Akademiker im 19. und anfänglichen 20. Jahrhundert lebt häufig in einer Bildungswelt, die ihren Ehrenpunkt in der Unkenntnis der niederen Politik sieht. Er lebt mit größter Geistesenergie in den abgesteckten Routinen seines Faches, läßt außerhalb dieses festgelegten Territoriums dem Herrn Kollegen den Vortritt und sieht auf die Tagespolitik mit Verachtung und, was er nie eingestehen darf, völliger Unkenntnis herab. Aber es gab auch die Gegenströmung der politisch engagierten Professoren, wie Luciano Canfora in seiner Studie Politische Philologie (1995) gezeigt hat. Nur: Was wußte Nietzsche von den sozialen Problemen der zeitgenössischen Gesellschaft? Nichts. Aber er mußte zwanghaft über sie reden. Was wußte Heidegger von der mörderischen Politik? Nichts. Aber er mußte sich zwanghaft als kompetent äußern, über die wunderbaren Hände Hitlers und über das Völkische reden, geschützt von der Aura des Akademischen.171 Wer konnte Heidegger und Gadamer trauen und ihnen sagen, was wirklich geschah? Niemand. Die jetzt so festgeschriebene Bewegung von 1968 war vielfach moralisch motiviert; sie richtete sich einmal gegen den Angriffskrieg in Vietnam mit seiner erbärmlichen Begründung und Zielsetzung, zum anderen in Deutschland gegen das Schweigen von 112 | kapitel III

Führungsfiguren des Hitler-Kultes. Die Generation der 68er wollte diesen zynischen Kordon durchstoßen. Die Bewegung traf eine völlig überlastete Universität, sie konnte nicht die Tore zeitweilig schließen und die Erweiterung und Gründung von Fachhochschulen erzwingen.

10. Bildung Die Reflexion über die Bildung und die Bildungsanstalten als solche setzt in der Neuzeit ein mit dem Orientierungsverlust von Kirche und Adel; der Gebildete als ausdrückliches Ideal tritt an die Stelle von Heiligen und Helden und gehört der Oberschicht des dritten Standes an, der sich im 18. Jahrhundert seiner Funktion in der kommerziellen Gesellschaft bewusst wird und über die moralische Bestimmung des Menschen und seine Bildung im Sinn dieser Bestimmung öffentlich reflektiert. Es wird auf die antike Erziehung und Ausbildung besonders in der Platonischen Akademie, aber auch in den Schriften von Isokrates und Cicero, als ein Vorbild zurückgegriffen, natürlich auch Senecas Briefe an Lucilius. Der gebildete Bürger ist mit der gegenwärtigen und noch mehr mit der antiken Kultur vertraut und hält sich in den öffentlichen Deklarationen an die sittlichen Maßstäbe von Ethik und Recht; die Ethik wird gestärkt durch eine gezähmte »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«, das Vernunft- oder Naturrecht entstammt dem Corpus juris civilis oder den germanischen Quellen. Der Gebildete befürwortet die Ziele der Aufk lärung, also das »sapere aude«, das nicht zufällig klassisch-antik formuliert172 und dann in der eigenen, zur Bildungssprache avancierten Volkssprache erläutert wird: »Bediene dich deines eigenen Verstandes«. Die Idee der Bildung kann sich noch auf eine bestimmte Kulturphase beziehen und dort wohl fühlen, die Verbindung mit der Idee der Aufk lärung führt jedoch zum Weltbürgertum und zum Anspruch, mit der europäischen Bildung an der Speerspitze der Weltbildung und dem Telos der Welt überhaupt zu stehen. Der gebildete, also an der antiken und durch Vernunft eingegrenzten christlichen Kultur und der Aufk lärung teilnehmende sittliche Bürger kann in seiner Wertschätzung durch nichts und niemand auf dieser Welt die deutsche universität von 1810 bis 1968 | 113

übertrumpft werden. Zugleich wirkt im Glücksfall die Tradition humanistischer Selbstkritik und ziviler Bescheidung, die in jedem Lehrstoff präsent ist.173 Der Bildungsgedanke war nicht nur mit der Aufk lärungsidee verbunden, sondern mit der Reflexion über die moralische Bestimmung des Menschen. Das heißt aber: Der Bildungsgedanke involviert den Einzelnen in die Frage der Bestimmung jedes Menschen und der Menschheit insgesamt. Die Bildungsidee steht damit vor einer bis heute nachwirkenden Zerreißprobe. Sie privilegiert einmal diejenigen, die über eine akademische Ausbildung verfügen, denn diese verspricht eben dieses: Bildung, vermittelt durch die Privilegien einer bestimmten Schicht der besseren Gesellschaft oder hospitierende Gäste; sie enthält zum anderen eine allgemeine moralische Menschheitsidee. Zum Menschen aber kann und soll sich jeder, auch der Hausmeister, bilden. Bei der ersten Bedeutung überwiegt die theoretische Seite, bei der zweiten die praktisch-moralische. Die akademische Seite wünscht, dass mit der akademischen Ausbildung auch eine moralische Haltung gewährleistet ist, die praktische Seite pocht auf die Bestimmung des Menschen und die Möglichkeit eines jeden, auf seine Weise gebildet zu sein. Wir merken an: Die platonisch-aristotelische Tradition betont stärker die Einheit von Verstand und Willen, die stoische, besonders auch neostoische Richtung trennt beides und setzt eher auf den ungebildeten, aber guten Landbewohner als den akademisch-gebildeten Städter. Der Wunsch, der akademisch Gebildete solle eo ipso auch moralisch besonders qualifiziert sein, ist so fromm wie der Wunsch, der Kirchenglaube führe zu einer sittlichen Haltung. Bei beiden, Universität und Kirche (Moschee, etc), genügt ein Blick in die Geschichte oder die Tageszeitungen, um zu sehen, dass die Wirklichkeit dem Wunsch nicht entspricht. Hierauf soll gleich unter dem Titel »Titel« näher eingegangen werden. Überzeugend und immer wieder erfahrbar ist das alte Diktum, dass man das Gute sehr wohl kennt und auch gutheißt, aber leider doch nicht, noch nicht befolgt. Es kommt erschwerend hinzu, daß die Inhalte der verschiedenen Glaubensrichtungen mit der Moral partout nichts zu tun haben: Was man dort als etwas Gutes kennt, kann höchst diabolisch sein. 114 | kapitel III

Der Slogan »Bildung für alle« ist nach den beiden Seiten von Theorie und Praxis zu betrachten. Wenn die akademische Bildung gemeint ist, ist der Ruf schwer verständlich. Es gibt viele Menschen, die die Mühe eines ernsthaften Studiums dezidiert nicht wollen, weil sie wissen, dass ihre Begabung nicht in diese Richtung geht, dass andere Lebensformen attraktiver sind etc. Man müsste ein flächendeckendes Zwangsstudium einführen, bräuchte dafür jedoch eine eiserne Diktatur, wie sie vielleicht z. Z. nur in Nordkorea und Persien praktiziert wird. Wenn die praktische Seite gemeint ist, sollte der Slogan umformuliert werden in »Bildung von allen«; wir fordern von allen, dass sie sich zu sittlichen Menschen bilden, also sich nicht moralisch verwahrlosen lassen wie der Banker Madoff und viele andere. Diese Bildung ist kein Recht, sondern die Pfl icht eines jeden. Und Ralf Dahrendorfs »Bildung ist Bürgerrecht«174? Wer die mentalen Voraussetzungen eines akademischen Studiums mitbringt und ernsthaft studieren will, dem soll der Staat die formale Möglichkeit dazu bieten. Dahrendorfs Aufruf ist vor dem Hintergrund zu verstehen, dass die akademische Bildung ein Privileg war, verbunden mit einer Unkenntnis der gesellschaft lichen Bedingungen, die dieses Privileg ermöglichten. Man denke an Schulpforta bei Naumburg, wo Nietzsche seine Bildung erhielt – ohne jede Kenntnis der Gesellschaft, in die er nach der Schule entlassen wurde und die seine Bildungsprivilegien ermöglichte. Diese Unkenntnis wird durch die Beschwörung des Großen überhaupt kompensiert. Die Aufk lärung setzt dagegen: »Bildung ist Bürgerpflicht«! Jeder ist verpflichtet, ob Akademiker oder nicht, sich über die fundamentalen Gegebenheit seiner bürgerlichen Existenz zu informieren, teilzunehmen an den Prozessen der Zivilgesellschaft, die sein Leben ermöglichen und deren gute Zukunft auf seine Mithilfe angewiesen ist. Im Zentrum der Bildungsidee steht in der Universität die Verpflichtung, sich der Erkenntnis zu widmen und sich bei der Wahrheitsüberzeugung nicht nach den eigenen Idiosynkrasien und dem eigenen oder öffentlichen Nutzen, nicht nach dem Glauben oder einer Weltanschauung zu richten, sondern nach der methodisch begründeten Erkenntnis, »sine ira et studio«. Dieses Erkenntnispathos durchzieht ideell alle Fakultäten und macht den Kern die deutsche universität von 1810 bis 1968 | 115

der modernen Universität aus. Die in ihr realisierte Republik der Gelehrten bzw. Wissenschaft ler ist hierin vereint – insofern gibt es eine Einheit der Universität, nicht der lokalen, sondern der Universität generell. Die Universität hat mit diesem Konzept objektiver Erkenntnis zugleich eine Bildung des Gelehrten erstrebt. Ausgeschlossen werden Überzeugungszwänge, die auf Macht beruhen, auf Glauben und Aberglauben, auf Bequemlichkeit und bloßer Tradition. Mit dem Prinzip des »sola ratione« nimmt die Universität Motive der antiken und neuzeitlichen Philosophie (und Praxis) auf, wendet sie jedoch gegen das Autoritätsprinzip der früheren Universitäten, die besonders in den drei höheren Fakultäten keine nur eigenen Begründungen wünschte, sondern Nachweise in autoritativen Texten. Diese Macht der Vergangenheit ist seit 1789 gebrochen, es gilt im Prinzip nur noch das Hier und Jetzt der angeführten Gründe und autoritätsfreien Beweise. Zur Bildung gehört das Ethos der Aufk lärung, des kritischen Selbst- und Weltverhältnisses. «Aude«, »Habe Mut«; man möchte gern zur Bildung auch die Zivilcourage zählen, die das Erkenntnisvermögen nicht darauf richtet, Gründe für das eigene Niederducken zu suchen, sondern für die begründete öffentliche Kritik. Wie man es auch dreht und wendet, Bildung zielt auf ein Privileg: Daher das Kampf- und Kraft wort »Bildung für alle«: für alle und nicht für wenige mit Klavierunterricht und feinen Sitten und platonischer Seele. Was an die Stelle der höheren, für Fußballspieler allemal zu feinen Bildung treten sollte, ist jedoch das Vermögen, kritisch zu urteilen und dem Urteil zu folgen. Dieses Ziel ist sofort für jeden klar und erstrebenswert. Mit dieser demokratischen Version können wir problemlos an Sokrates anschließen, dem niemals einfiel, so etwas wie Bildung von den Menschen und Bürgern zu fordern, sondern: Sich nicht bequem in den vorfabrizierten Urteilen und Bildern treiben zu lassen, sondern sich um eine kritische Aufklärung besonders von moralischen und politischen Sachverhalten zu bemühen. Wenn die Zivilgesellschaft diese Haltung nicht einübt und beibehält, können wir zum Großkönig in Persien gehen und uns die Flötenkonzerte bei Hofe und der Familie Quant anhören. »Auch den Studierenden selbst sind der Bildungsglaube und ein emphatischer Bildungsbegriff abhanden gekommen.«175 Warum 116 | kapitel III

nicht? Wer nur Chemie kennt, kann ein vorzüglicher Chemiker sein und braucht keinen Bildungsglauben oder -begriff. Aber die Chemie wird nur unter bestimmten institutionellen Fächern neben anderen Fächern betrieben, und wer sich in diesen Randgebieten, der Geschichte und der Zukunft nicht auskennt, ist ein für die Zivilgesellschaft gefährlicher Polyphem. Eine Erneuerung des Bildungsbegriffs darf auf eine Komponente nicht verzichten, die heute mitgedacht, aber nicht mitgenannt wird: Der team-Geist. Wer als gebildet bezeichnet wird, sollte ausgewiesen sein in der kreativen Kooperation mit anderen. Auch hier: Der Polyphem hat keine Bildung, wieviel er auch weiß.

11. Lust und Freiheit Auf den bildlichen Darstellungen Demokrits kann man sehen, wie er sich über seine Ursachenentdeckung freut.176 Nach allen Bekundungen ist die wissenschaft liche Erkenntnis bei denjenigen, die zu ihr durch ihre Natur befähigt und die Erziehung ausgebildet sind, mit einer deutlich spürbaren Lust verbunden, sie ist dann ihr eigener Lohn. Der »labour of the thought«, wie John Locke sagt,177 ist nicht nur Mühe und Anstrengung, sondern ein faszinierendes Unternehmen. Wer die Universität reformiert, sollte diesen Produktionsfaktor am besten selber kennen und nicht die Welt aufteilen in Malochen (nach gezählten Stunden)178 und Mallorca. Ob es geschickt ist, die Öffentlichkeit darüber zu informieren, »Wie die Lust an der Wissenschaft ausgetrieben wird«179, ist eine andere Frage. Daß das mühevolle Studium von Formeln oder Texten etwas mit Lust zu tun haben kann, glaubt sowieso nur der Insider; und wenn die anderen von der Austreibung dieser angeblichen Lust hören, erregt das seinerseits ihre sublime Lust und Schadenfreude. Zu diesen anderen zählen unsere Bürokraten, die gerade das »Portfolio« für das Betriebspraktikum zu formulieren versuchen.180 Es gehört zur akademischen Freiheit, Veranstaltungen anderer Disziplinen zu besuchen und als Physiker zu den Kunsthistorikern, als Germanist zu den Juristen zu gehen. Diese selbst gewählten Querverbindungen müssen vom Aufbau jedes Studiums ermöglicht werden, nach Augenmaß, Interesse und Begabung. Wenn das die deutsche universität von 1810 bis 1968 | 117

Studium als akademische Ausbildung begriffen wird, läßt es Raum für die großen Vorlesungen, die zu Ereignissen in den Universitäten wurden – Bruno Snell in Hamburg, Walter Jens in Tübingen, Hugo Friedrich in Freiburg, Hans Sedlmayr in München.181 Das Auditorium Maximum spornte die Professoren zu fachlichen, auch rhetorischen Höchstleistungen an. Das Ansehen der Universität wuchs durch diese Glanzlichter. Die Funktionäre der Module haben hiervon nie gehört; sie sind fi xiert auf die Dressur zur Marktfähigkeit. Hier muß angesetzt werden, diese Freiheit muß aus den Verschulungen gegen alle Vorschriften mit List zurück erobert werden, damit die Studierenden aus dem Würgegriff der Kader wieder in die akademische Freiheit einer kritischen Mündigkeit zurückkehren können. Wenn die StudentInnen eben dies wollen; sonst sollen sie in Gottes Namen an eine der vielen Fachhochschulen gehen, die händeringend auf sie warten. Wenn die Universitäten an ihrem Konzept der Einheit von Forschung und Lehre festhalten und mit Beginn des Studiums einführen in das forschende Lernen, haben alle Beteiligten den größten Vorteil. Die Hochschullehrer sprechen nicht über die externe Praxis und damit über Dinge, von denen sie nichts verstehen (immer mit Ausnahmen in einzelnen Fächern), und die Studierenden erhalten »eine methodische Schulung, die sie in die Lage versetzt, offene Fragen selbständig zu erkennen und beantworten zu können. Zu lernen, sich immer aufs neue mit ungelösten Problemen auseinander setzen zu können, ist aber die beste Berufsvorbereitung in einer Zeit, die überliefertes Wissen schneller als je zuvor entwertet.«182 Daß häufig die Theorie untrennbar mit der äußeren Praxis verbunden ist, rechtfertigt nicht die Bestimmung aller Theorie nach den Bedürfnissen anderer.

12. Staatsexamen für Gymnasiallehrer Die ursprüngliche Idee des gymnasialen Staatsexamens war eine Übertragung des juristischen, theologischen und medizinischen Staatsexamens der oberen Fakultäten auf die untere Fakultät. Das Studium der Philosophischen Fakultät sollte nach den wissen118 | kapitel III

schaft lichen Gesichtspunkten erhalten bleiben, nach einer Einführung von ca. 10 Semestern sollten sich jedoch die Studierenden um den Staatsdienst im Gymnasium bewerben können. Ganz entscheidend: Ein Staatsexamen wird nicht in, sondern außerhalb der Universität vollzogen. Inneruniversitäre Examina sind das Diplom und der Magister, der Bachelor- und Masterabschluß, die Promotion des Doktors (auf Grund einer Dissertation und öffentlichen Disputation), der Dozent durch die Habilitation und der Professor durch Berufung oder Ernennung. Die Universität als solche hat mit den Staatsexamina nichts zu tun, die Professoren können jedoch für diese Prüfungen außerhalb der Universität auf Bitten des Ministeriums und mit dem Einverständnis des Professors freigestellt werden. Diese Idee der thematischen Trennung von Staat und Universität muß man sich vergegenwärtigen, um die Chuzpe der Regierungen zu begreifen, sich in die Gestaltung der universitären Studien einzumischen und in die Studiengänge der einzelnen Fächer schon pädagogische Zwangsveranstaltungen einzufügen. »Auf Lehramt studieren« lautet die Richtung; wer sie einschlägt, muß an der Universität außer seinen Fächern wie etwa Geschichte, Biologie, Germanistik zwangsweise pädagogische Veranstaltungen besuchen, obwohl sie oder er das Fach Pädagogik nicht studieren möchte. Die Berichte von den Qualen dieses Zwangsstudiums kennt jeder, der sich für die Nöte der Studierenden interessiert. Den Studierenden ist die Anmaßung der staatlichen Bürokratie häufig so wenig klar wie den meisten anderen Mitgliedern der Universität, weil sich im Wildwuchs der Gesetze und Verordnungen ihre Transparenz verloren hat. Wir werden hierauf bei der Kritik der Anmaßung privater Firmen, die Gestaltung des Studiums zu kontrollieren, zurückkommen. Hier noch eine Überlegung von Boris Dunsch: Ob man nicht das heutige Staatsexamen zugunsten eines reinen Universitätsexamens abschaffen sollte. Dem Staat bliebe es dann überlassen, sich um die Kandidaten mit bestandenem rein wissenschaft lichem Examen für die Tätigkeit an seinen Gymnasien zu bemühen und für die Qualifi kation in der Lehre eine eigene Broschüre zu drucken und ein eigenes Lehrexamen folgen zu lassen.

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13. Titel Es gibt Besitztitel und Buchtitel, Titel eines Abschnitts, Titelhelden. Das alles ist noch nicht der Titel, den wir meinen und den nur die Universitäten, nicht die Stadt und die Schulen und die Regierung, nicht der Präsident der Republik und die Deutsche Bank oder der Papst qua talis verleihen können. Alles hat seinen Preis, aber der Universitätstitel kann, wenn es ehrlich zugeht, nicht gekauft , sondern von der Universität und nur von ihr und ihren Organen feierlich verliehen werden, an Albert Einstein und Kurt von Fritz, und, als Veralberung oder Opfergabe, an seine Exzellenz, den Dalai Lama ehrenhalber. Diese Dignität teilt der Universitätstitel mit dem Adelstitel, der insofern niedrigerer Natur ist, als er zwar offiziell nicht gekauft, aber durch Heirat erworben werden kann, für die Kooptierte selbst und die Kinderschar. Keine Heirat führt dagegen zur Berechtigung des akademischen Titels außer in Österreich, im Leben und auf dem Grabstein. In den USA dagegen tragen weder der Akademiker noch seine Ehefrau den akademischen Titel auf dem Grabstein ein, noch wird ein Jurist oder Arzt auf seinem Praxisschild seine universitären Titel nennen. Während die alte Quaternio der Fakultäten abgeschafft wurde, haben sich die mittelalterlichen Titel erhalten. Ursprünglich waren »Magister«, »Doktor«, »Professor« ungefähr synonym.183 Die Feudalgesellschaft hat sie in neuen Stufungen mitgeführt, und im 19. Jahrhundert mied es die an der Antike orientierte Humboldt-Idee, die gotischen Titel mit einem Federstrich ersatzlos zu streichen. Trat jemand dafür ein? Protestierten Hegel und Fichte, Schleiermacher oder Schelling dagegen, Professor, Doktor und Spectabilis zu sein? Sind die einschlägigen Proteste verloren gegangen? Vielleicht werden die Titel bis heute sorgfältig erhalten, weil alle wissen: Wenn wir sie ersatzlos streichen, liquidieren wir die Universität in Europa. Ohne die wenigen Zauberwörter gibt es sie nicht, selbst die sozialistischen Gleichheitsfanatiker schreckten davor zurück, auf den Titel-Zauber zu verzichten und die Universitäten konsequent in den egalitären Plattenbau zurück zu betonieren. Im Gegenteil, wo gab es im Westen ein so gebücktes »Selbstverständlich, Herr Doktor!« und »Aber ja, Herr Professor!« wie in Leipzig und Rostock? Alles vertan und abgewickelt. 120 | kapitel III

Die Titel hatten in Preußen den Effekt, dass Adlige, die aus der städtischen ökonomischen Reproduktion ausgeschlossen waren und keine Wäscherei gründen durften,184 nicht nur als Gutsbesitzer und Offiziere, sondern auch als Professoren tätig sein konnten. Umgeben sind die mittelalterlich-lateinischen Titel-Tentakel häufig noch von den feierlichen Namen der Fakultäten und Seminare, der Katheder und Pedelle, des Senats und Rektors Magnifici. Die antiken Gelehrten hätten gestaunt über diese Geweihe ihrer fortgeschrittenen Nachfahren. Prof. Dr. Dr. h.c. Heraklit – welch ein Gelächter in einer Komödie des Aristophanes! »Der symbolische Wert eines Titels triumphiert über den sachlichen Wert der Bildung.«185 Die Titel beziehen sich auf den Stand der »docti«, der Gelehrten; sie wurden von deren Nachfolgern, den weltgewandten Wissenschaft lern, dankbar übernommen und so Gotik und Klassik vereint. Der Gelehrte war weltfremd, der moderne Wissenschaftler wohnt in einem eleganten Apartment, es sei denn, er ist auf Reisen. Der Wissenschaft ler forscht (und lehrt), wie es heißt, um der Wahrheit willen. Nun hat dieses Ziel eine doppelte Seite, eine objektive und eine subjektive. Die objektive verdient die selbstlose Hingabe unter bestimmten ontologischen Prämissen, man möchte annehmen, dass sie nicht materialistisch sein sollten, denn warum die bloße Materie selbst in ihren kompliziertesten Aufstockungen eine Dienstleistung so ideeller Natur verdient, ist unerfi ndlich. Subjektiv ist es das schon erwähnte Faktum, dass die Erforschung irgendwelcher Sachverhalte Lust bereitet, so beim Wissenschaft ler, so beim Polizisten und Kriminalbeamten. Nun läßt sich durch den bloßen Forschertrieb kein normales Leben auf Dauer einrichten, der Mensch, der 60 Stunden am Tag zwischen Manuskripten oder im Labor verbringt, strebt wie alle anderen nach Reichtum oder/und Ehre oder/und Macht, zumal die körperliche Schönheit meist nicht vorhanden ist oder wenigstens im Labor und Studierzimmer nicht zunimmt. Reichtum und Macht sind bei der Forschung um ihrer selbst willen in der Regel nicht zu erwarten, es bleibt also die Ehre, die vielleicht auch Demokrit nicht ausgeschlagen hätte. Sie wird ihm oder ihr auf zwei Weisen zuteil. Einmal im fluiden Element der Anerkennung durch Kollegen, man wird in Publikationen genannt und zitiert und zu Vorträgen und zu die deutsche universität von 1810 bis 1968 | 121

öffentlichen Diskussionen eingeladen, auch im Radio und Fernsehen. Zum anderen gehören zur persönlichen Ehre die festen Titel, erst Dr., dann Professor, beim weiteren Erklimmen der Ehrenleiter der Dekan mit der Anrede »Spectabilis« und der Rektor mit der Anredeform »Magnifizenz« (zu verwenden wie auch »Spectabilis« nur durch Mitglieder der Universität, nicht die Putzkolonnen; wie bei Adelstiteln ohne vorangestelltes »Herr«, »Frau«). Diese Ehrentitel, die keinen Pfennig kosten, entstammen, wie schon erwähnt, natürlich nicht der Antike, sondern wie die Roben und Talare dem feudal-klerikalen Mittelalter, sie blieben ein Trumpf in der Hand der Fürsten bis 1918 und erhielten sich bei der Renitenz der antidemokratischen Eitelkeit bis zum Jahr 2011.186 »Exzellenz« ist die Anrede von Botschaftern, wieder nicht durch den Chauffeur und Gepäckträger, sondern im diplomatischen Umgang etwa mit Ministern. Die Exzellenz-Initiative unserer BildungsministerInnen hat wenigstens in der Titelwahnwahl Geschick bewiesen – wer möchte nicht Exzellenz sein, besonders dann, wenn der Staat es noch mit einer Andeutung von Reichtum und Dienstwagen verbindet? Alle, alle kommen und stellen Bittgesuche unter dem neutralen Stichwort »Antrag«. Vielleicht kann man auch den höchst motivierenden, weil höchst beneideten Titel eines Staatsrats wieder aktivieren. Nach seinem 65. Lebensjahr kann ein Professor entweder pensioniert oder aber, etwas später, emeritiert werden. In den Zeitungen und bei öffentlichen Gelegenheiten werden die entlassenen Professoren samt und sonders als Emeriti geführt, weil dies natürlich besser klingt; soll sich der so Titulierte dagegen wehren? Nein. Er kann nur in privatem Kreis darauf verweisen, dass ein Emeritus das volle Gehalt weiter erhält, während die Pension ungefähr 75% erreicht. Der Titel ist nicht nur ein symbolischer Ornat zur Erhöhung der Person bei denen, die sich beeindrucken lassen (gegen Epikurs »nil admirari«), sondern hat auch eine entlastende Funktion. Wer durch die Benotung einer akademischen Arbeit in die Biographie einer anderen Person eingreift, tut dies nicht als Freund oder Feind, sondern in der Rolle eines Amtsträgers. Um dies kenntlich zu machen, hat der Titel eine sehr vernünft ige Funktion. Auch das Gerichtsurteil fällt leichter und klingt überzeugender in der Richterrobe als per Du im Straßenanzug. »Tja, wir müssen dich jetzt leider zum Tode verurteilen. Das Gift bitte.« 122 | kapitel III

»Machtgeschützte Innerlichkeit«: Die Universität wird besonders in Deutschland, dem Land der Titel187, eine höchst effektive, feudal dekorierte Institution, die sich gegen die Gesellschaft und die übrige Welt abschirmt. Im 19. Jahrhundert partizipierte die Wissenschaftselite durch die Titel am Glanz der Aristokratie. Man konnte sich vom nichtakademischen Bürger durch »Herr Professor« etc. und, in den schlagenden Verbindungen, auch durch elegante Blessuren im Gesicht auszeichnen. Man dankte dafür der Regierung durch ein standesbewußtes Auft reten in der Öffentlichkeit, durch Effizienz und Gehorsam und den Verzicht auf das Glücksspiel im Kasino. Über diesen Zusammenhang wurde möglichst nicht öffentlich, gar kritisch reflektiert. Vor Mark Twains Freiheitsblick ließen sich die deutschen Kuriositäten jedoch nicht verbergen. Aber auch der Freund Kants, Christian Jacob Kraus, war ein Dissident; sein Biograph Johannes Voigt notiert: »Bei dieser großen Höflichkeit waren ihm jedoch die angenommenen Formalitäten und Titulaturen, selbst wenn sie ihn betrafen, lächerlich und zuwider; oft dienten sie ihm wohl auch zum Gegenstand des Spottes. Dieß traf namentlich auch die bei dem academischen Rectorat und Decanat beigefügten Titel von Magnificenz und Spectabilität.«188 Vielleicht darf man den Spott von Kraus so kommentieren: Er war an Adam Smith geschulter Ökonom, der den Abbau der Monopolwirtschaft zugunsten der privaten Konkurrenzwirtschaft beobachtete. Die Titel der Universität waren ein zunächst auch päpstlich, dann nur noch staatlich geschütztes Monopol; würde man die Vorschläge realisieren, die Universitäten in moderne Fachhochschulen umzuwandeln, dann würden alle Universitäts-Titel zugleich mit dem Heiligen Römischen Reich vom Erdboden verschwinden, ohne jeden ökonomischen Verlust. Wenn die Regierung die Universität finanziert und sie im Übrigen sein läßt, dann wird sie sich ihrerseits nicht unbotmäßig in die Politik mischen. Nach 1918 tat sie es ungeübt und katastrophal, unterwarf sich 1933 in der Mehrheit dem Führer und sah ohne korporativen Protest zu, wie rassisch und politisch anstößige Professoren eliminiert wurden, aus dem Amt und aus dem Leben. Wen interessierte es? Die Gymnasien und Universitäten waren nicht zufällig Brutstätten autoritärer Männerköpfe und des Faschismus; Dr. Dr. Mengele die deutsche universität von 1810 bis 1968 | 123

zeigt mit seinen Titeln seine akademisch gebildete Herkunft ; er wird höfl iche Umgangsformen und ein beachtliches Allgemeinwissen gehabt haben; viriles, später in Argentinien (durch den Vatikan vermitteltes) distinguiertes Auft reten. Das Bekenntnis der Professoren an den deutschen Universitäten und Hochschulen zu Adolf Hitler und dem nationalsozialistischen Staat im Oktober 1933 enthielt die Sätze: »[…] Die nationalsozialistische Revolution ist nicht bloß die Übernahme einer vorhandenen Macht im Staat durch eine andere dazu hinreichend angewachsene Partei, sondern diese Revolution bringt die völlige Umwälzung unseres deutschen Daseins. […]. Nicht Lehrsätze und Ideen seien die Regeln eures Seins! Der Führer selbst und allein ist die heutige und künft ige deutsche Wirklichkeit und ihr Gesetz.«189 Carl Schmitt, der wieder viel gefeierte, bewies, daß die Röhm-Morde Adolf Hitlers eine legitime Tat sind: Der Führer schützt das Recht (1934). Diese Proskynesis bildet den pathologischen Höhepunkt der Unterwerfung unter den preußischen Obrigkeitsstaat, das Ganze 144 Jahre nach der Französischen Revolution, gebückte, arrogante Untertanen. Nehmen wir als »terribles simplificateurs« das Jahr 1968 als Einschnitt, es hat sich nun einmal so eingebürgert; es bezeichnet das Ende der Ordinarienuniversität, wenigstens qua unkritisierter Selbstverständlichkeit. Wenn jetzt noch an Jubeltagen die Professoren in Talaren durch die Stadt schreiten, dann vergisst niemand den 1000-Jahre-Muff, und jeder weiß, dass es um Folklore geht und um die dringend gesuchte Identität der Universität. Talare sind marginale Phänomene der Schaustellung geworden; mit dem Niedergang der Ordinarienuniversität hat sich das Mittelalter mit seinen Ergebenheit fordernden Titeln und Roben weitgehend verabschiedet; es spielt noch für Eitelkeiten und für den Neid eine unentbehrliche Rolle, steht aber nicht mehr im Zentrum des akademischen Wertgefüges. Der Kern von Hierarchien ist nicht mehr das umkämpfte rare Gut der hörbaren und sichtbaren Ehre, sondern eine neue Art von inneruniversitärer Macht. Sie äußert sich nicht in Titeln, sondern in einer herrschaft lichen Mitverfügung über Drittmittel. Für die Universität bleibt wesentlich, dass sie das Monopol bestimmter akademischer Prüfungen und damit des Zugangs zu bestimmten Berufen hat. Analog ist die Vergabe von Zertifi katen wie Geselle und Meister offenbar vernünft ig, so dass die Heizun124 | kapitel III

gen nicht von selbsternannten Fachleuten eingebaut werden, die über einen Schraubenschlüssel verfügen und das billigste Angebot machen. Und der Titel »Universität« selbst? Meinen Sie »Università degli studi« oder »Università dei pittori«? Der Name »Universität« wurde nicht beliebig für Fahr- und Tanzschulen verwendet, aber er war nicht rechtlich geschützt, wohl aber das Recht der Titelvergabe, das bislang besonders den Kinderuniversitäten außer im Karneval entzogen blieb. In Italien wird zwischen Schülern und Studenten nicht unterschieden, wer witzig ist, heißt »dottore«. Georgia Askew Betr. Terry. »Now you will get the degree you deserve, based on your current knowledge. Get rid of classrooms and traveling. Get your Bachelors, Masters, MBA, or Ph D in any field you wish to choose. Ring us now, and drop your Fullname with number to call you back. 1–813–283.2668.« Auch: »Diploma of famous university is possible now. […] We can help you get any university diploma much faster without doing anything. Just call us […].« Wer sagt ̛s denn?

die deutsche universität von 1810 bis 1968 | 125

IV. Die Produktion von Wissen und die Herrschaft der Verwaltung

1. 1968 1968 wurde der Pakt von Universität und Staat an den Pranger gestellt; der Universität wurde vorgeworfen, sich ohne jeden Widerstand dem Diktat erst der Nationalsozialisten, sodann des Kapitalismus zu beugen. Hinter diesem Vorwurf stand eine vage, häufig wahnhafte Idee einer selbstbestimmten Universität, die zugleich sozialistisch konzipiert wurde. Alles für alle, ob sie wollen oder nicht. Die Zäsur von 1968 wurde in Deutschland nur von Studenten getragen, es fehlte jede Beteiligung von Arbeitern (wie in Frankreich und kurzfristig auch in Italien), es fehlte eine allgemeine kulturelle Aufbruchstimmung wie in den USA. Die deutschen Studenten richteten sich besonders gegen den Überhang von nationalsozialistischen Professoren, die noch etliche Katheder besetzten, aber auch allgemeiner gegen die Loyalität im Obrigkeitsstaat: »Unter den Talaren / Muff von 1000 Jahren« (Hamburg 1967). Des Kaisers alte Kleider, die das Heilige Römische Reich symbolisierten; jetzt die Talare, in die sich eine überalterte Professorenschaft hüllt, den Muff verbirgt, die Hitler-Schande. Die Rebellion der Weißen Rose in der Eingangshalle der Münchener Universität war keine Tat von in ihre Talare gehüllten Professoren oder gar der Universität als Institution, im Gegenteil. Aber die Universität war trotzdem beteiligt; Kurt Huber war Professor in München, und die Flugblätter, die von der Weißen Rose verteilt wurden, enthielten Zitate der antiken Staatsphilosophie.190 Sie gaben die Sicherheit, bei dieser schwindelerregenden Tat nicht alleine zu handeln, sondern in einer alten Tradition europäischer Philosophie. Anders als 1818 drang der studentische Protest 1968 ins Innere der Universitäten und trug bei zu einer Destruktion und Reform, | 127

die bis heute nicht abgeschlossen sind. Unabhängig hiervon waren die globale Expansion und beschleunigte Änderung des Wissens, die rapide Steigerung der Studentenzahlen und die allgemeine Merkantilisierung der Lebensumstände wirksam. An die Stelle des Monopols der staatlichen Finanzierung treten die Drittmittel, die die Wissensproduktion ermöglichen oder beschleunigen sollen und lenken können. Die Explosion des Wissensquantums und die Beschleunigung der Erzeugung von anwendbarem Wissen sind Ergebnisse ökonomischer Konkurrenz und damit ein globales gesellschaft liches Phänomen, vor das sich alle Universitäten gestellt sehen. Die europäischen Universitäten antworteten hierauf mit einer zögerlichen Umwandlung nach dem Vorbild der amerikanischen Universitäten, die auf Grund ihrer rein bürgerlichen, nicht feudalen Struktur elastischer und kreativer antworten konnten. Die amerikanische Universität hatte nach Richard Münch fünf strukturelle Vorteile, »die ihr die weit größere Kraft zur Expansion in Forschung und Lehre und zur ständigen Erneuerung verliehen haben. Es war der völlige Verzicht auf hierarchische Strukturen, die Organisation der Lehre in großen Departments von selbständig lehrenden jüngeren und älteren Professoren ohne feste Mitarbeiter, die Integration von Forschung und Lehre im Graduiertenstudium, die Organisation der Forschung in flexibel zusammengesetzten Forschungsteams und in interdisziplinären Forschungszentren und schließlich die Garantie der Freiheit von Forschung und Lehre als Recht der einzelnen Professoren, aber nicht als Recht ihrer korporativen Selbstverwaltung […].«191 Die Massenuniversität erzeugt das Problem, wie mit den überbordenden Zahlen von Studenten in einer Korporation zu verfahren ist, die für eine sehr begrenzte Zahl von Studierenden der bürgerlichen Schichten ausgelegt war. Es war jetzt der Schein zu wahren, daß die Studierenden nach wie vor frei in ihrem Studium sind und alle Entscheidungen bei ihnen liegen. Sodann ist ein Teil der Studierenden überzuleiten in die eigentliche Universität der Erkenntnis, sie gehört der Exzellenz und den Eliten der erfolgreichen Anträge von Drittmitteln. Die Probleme der Administration von beidem lassen sich bis in die sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts zurück verfolgen, aber erst mit dem Bologna-Prozeß 128 | kapitel IV

gewinnen die Maßnahmen des bildungslosen Regimes ihre Kontur. Jetzt trennen sich deutlich die beiden Teile der Universität. Der erste untere wird mit dem Vorwand, die Bologna-Beschlüsse auszuführen, einer externen Verschulung für eine externe Praxis unterworfen, der zweite steht unter Exzellenz-Bedingungen und kann für die neue Erzeugung von Erkenntnissen sorgen. Hier die Aufgabe des Wissenstransfers, dort die der Stimulierung originärer Erkenntnis. Bei aller Rhetorik der Einheit von Forschung und Lehre fällt beides auseinander. Dem klangvollen, erinnerungsträchtigen Namen von Bologna fällt es zu, die Umwandlung der unteren Universität in wissenschaft lich anspruchslose, entmündigte Schulen zu bemänteln. Die Federführung bei dem Prozeß der Zerstörung liegt bei den Bürokraten, die keine Aufgabe bei Veranstaltungen haben, in denen eine kleine Zahl von Professoren und Studierenden sich über Probleme der Erkenntnisse austauscht, aber das Wort führen, wenn es um die Vermittlung fertigen Wissens geht; hier sind die Bilder gefragt, hier müssen fertige Bahnen des Transfers abzählbar befolgt werden. Hier genügt die Kurzfassung: Den Studierenden werden keine Werke im Ganzen zugemutet, sondern Ausschnitte kopiert, »anhand deren nicht etwa Romane verstanden, sondern lediglich Frage- und Diskussionstechniken eingeübt werden sollen.«192 Das Werk verlangt eine methodisch geübte sensible Erkenntnis, die Behandlung des Ausschnitts zielt auf ein Wissen für eine außengeleitete Praxis. Die Zusammenstellung von abprüfbarem Wissen ist auf Texte bezogen, die Erkenntnis auf Werke, die ihre Grenzen selbst setzen; am Anfang stehen seit ca. 2700 Jahren die 24 Gesänge der Ilias, die kopierten Texte variieren dagegen von Ort zu Ort; gemeinsam ist den Textstücken die Botschaft, daß man das Werk nicht zu studieren braucht, sondern nur wissen muß, was im Reader steht. Fragen, die die Kenntnis des Ganzen voraussetzen, sind durch eine Vorzensur ausgeschlossen. Die Pädagogik und Didaktik wurden notwendig zu MeisterDisziplinen der Transfer-Universität. Statt auf das Monopol der Titelvergabe zu verzichten, holten die Universitäten das Trojanische Pferd in ihre eigenen Mauern, und heute müssen sie ihren Niedergang beklagen. »Ardet urbs […]«, klingt es aus allen Instituten, die sich zur Wissenschaft zählen. Es geht nicht um die ursprüngdie produktion von wissen | 129

liche Aufgabe, Studierende in die Erkenntnispraxis der einzelnen Disziplinen einzuführen, sondern um die Schulaufgabe, möglichst vielen möglichst viel Wissen beizubringen. Hier sind Pädagogik und Didaktik gefragt. »Oliver Vornberger Informatiker in Osnabrück und bundesweit bester Professor«, hieß es in der Presse.193 Die Auszeichnung erhält Vornberger nicht für seine Forschungsleistungen, sondern für die Lehre, die denn auch einzig gewürdigt wird. Und da ist der Leser erstaunt: Wie kann ein Informatiker für seine Lehre so ausgezeichnet werden, wo es doch viele hundert, viele tausend Professoren der Pädagogik und Didaktik gibt, die Spezialisten der Lehre sind und regelmäßig die ersten 100 Plätze einnehmen müßten? In der Mathematik würden doch die Mathematiker immer an der Spitze liegen, in der Ägyptologie die Ägyptologen, warum in der Didaktik nicht Didaktiker und Pädagogen, die Fachleute auf diesem Gebiet? Und dann: Bei welchem Didaktiker hat Vornberger studiert? Wem verdankt er seine Kunst? In den näheren Angaben zur Auszeichnung war davon nicht die Rede. Sollten ein gewisses Talent, die Übung und die öffentliche Aufmerksamkeit ausreichen, um zu dieser Spitzenleistung zu kommen? Wenn dies richtig ist, könnte man auf die entsprechenden Lehrstühle verzichten, weil gute Lehre ohne sie entsteht. Es gibt heute ein gewisses Klima für eine sensible Lehre, das es in der Phase nach dem zweiten Weltkrieg nicht gab; die Lehrer und Professoren waren häufig gedemütigt und suchten, die Demütigung an die Schüler und Studenten im Feldwebelton oder in die sanfte Rede mit eingemischtem Hohn weiterzugeben. Das haben keine einsichtigen Pädagogen, sondern der gesellschaft liche Wohlstand und das bürgerliche Selbstbewußtsein geändert. Der Informatiker Vornberger hat diesen Klimawechsel begriffen und sich zu eigen gemacht, mehr nicht. Um dies darzustellen, genügt eine schmale Broschüre statt eines aufwendigen Zwangsstudium im Fach Pädagogik. Die Professoren der Universität sind häufig nicht erreichbar, weil die Anwesenheit am Universitätsort sich auf das Minimum der zwei Tage beschränkt, an denen die Veranstaltungen abgehalten und die anderen Verpflichtungen erledigt werden, beides bildet die Gehaltsgrundlage. Das persönliche Gespräch der Lehrenden mit den Studenten etwa über Probleme, die sich bei einer Seminararbeit 130 | kapitel IV

ergeben, liegt dann jenseits aller Denkbarkeiten. Damit erstirbt in Fächern mit größerer Studentenzahl jedes Interesse an einer sachlich (nicht rhetorisch) originellen Vorlesung und an spannenden Seminaren, und dies wiederum ist die Grundlage für weitere Didaktikprofessuren und -projekte.

2. Bologna: Wirklichkeit und Versagen Die europäischen Staaten nach 1968 hatten – angeblich oder wirklich – folgende Probleme ihrer neuen Massen-Universitäten: Eine hohe Zahl von Studienabbrechern, ein zu langes Studium, gemessen an früheren Studiendauern, keine europaweit vergleichbaren Hochschulabschlüsse und daraus folgend die Immobilität der Studierenden und Lehrenden. Die vernünft ige Idee war, eine Antwort zu fi nden, die unvernünft ige, damit zugleich die europäische Einigung zu befördern. Die Hoheitsrechte in der Gestaltung der je eigenen Universitäten und Hochschulen sollten damit beschnitten werden, bisher rein nationale Kompetenzen sollten an das zusammen wachsende Europa delegiert werden. Dies war das doppelte Problem, zu dessen Lösung sich europäische Regierungsdelegationen u. a. im Juni 1999 in Bologna trafen.194 Die Vereinbarungen wurden weder vom Parlament in Straßburg noch den Parlamenten der europäischen Staaten zur Abstimmung gestellt. Niemand kann sich daher auf einen parlamentarischen Beschluß bei der Umsetzung berufen, die unteren Chargen haben sich selbst ermächtigt. Zu einigen Details der ursprünglichen Proklamation. Im Bologna-Reader 2004 wird die Bologna-Erklärung vom 19. Juni 1999 abgedruckt. Auf den 4 Seiten wird an zwei Stellen auf die zu erhaltende »Autonomie der Universitäten« (S. 278 und 280) verwiesen. Dies ist somit eine konstante Größe, auf die sich alle näheren Ausführungen zu beziehen haben. Was jedoch mit der Autonomie genau gemeint ist, wird nicht gesagt; es fehlt besonders ein Bekenntnis zur Universität als Stätte der Lehre und Forschung und zur Autonomie, die sich genau hierauf bezieht. Universitäten sind keine Schulen, die Wissen vermitteln, sondern Institutionen eigenständiger Erkenntnis. Nimmt der Begriff der Autonomie zu dieser Alternative Stellung? Sie ist den Verwaltungskadern unbekannt. die produktion von wissen | 131

Das Ziel sei die »Einführung eines Systems leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse, auch durch die Einführung des Diplomzusatzes (Diploma Supplement) mit dem Ziel, die arbeitsmarktrelevanten Qualifi kationen […] zu fördern.« (S. 279) Die Autoren sind so klug, offen zu lassen, worin die Qualifi kationen wohl bestehen können. Ehrlich wäre es gewesen zu sagen: In der Erkenntnispraxis, die die Universitäten vermitteln können, und nichts anderem. Der gute Ägyptologe findet vielleicht eine Stelle in Neuseeland, der gute Chemiker bei BASF; das Studium selbst ist weder auf dieses Land noch auf diesen Konzern und Kontinent auszurichten, sondern hat der eigenen Logik zu folgen und sie aus sich selbst zu modernisieren. Welche Qualifi kationen für den Arbeitsmarkt von morgen relevant sind, weiß niemand, es sei denn, sie sind identisch mit den Qualifi kationen des eigenen Fachs. Für sie ist die Universität in Lehre und Forschung kompetent. »Bologna« wollte den Studierenden bei der Strukturierung ihres Studiums und den beiden externen Bezugsfeldern helfen, den anderen Universitäten beim Ortswechsel und den Arbeitsmöglichkeiten bei einem frühen Verlassen der Universität. Was heute unter dem Stichwort »Bologna« gesagt und geschrieben wird, zerfällt in zwei Teile, die die Autoren meist nicht trennen. Erstens gibt es die Bologna-Beschlüsse selbst, und zweitens die Ausführungsbestimmungen der einzelnen Länder. Im Hinblick auf die letzteren beziehen wir uns im Folgenden nur auf Deutschland. Gliedern wir die beabsichtigte Reform in drei Bezugsfelder: 1. Für den einzelnen Studierenden soll das Studium in seinem Ablauf und seiner Zusammensetzung besser strukturiert und dadurch übersichtlicher werden. 2. Gegenüber anderen europäischen Universitäten soll dadurch eine höhere Vergleichbarkeit erzeugt und damit die Mobilität erhöht werden. 3. Gegenüber dem Markt soll besonders durch einen berufsqualifizierenden dreijährigen Studienzyklus die Chance eines problemlosen Übergangs erhöht werden. Die Mittel, um diese drei Ziele zu erreichen, sind 1. die Gliederung des Studiums in zwei Zyklen, deren erster drei Jahre dauert und die Voraussetzung für den Abgang mit einem berufsqualifizierenden Zeugnis, aber auch für das weitere Studium bildet, 2. die Modularisierung und die Einführung der Maßeinheit von sog. ECTS -Punkten.195 132 | kapitel IV

Die beiden vorgesehenen Zyklen werden verbindlich Bachelor- und Masterstudium genannt. Diese landesspezifische Benennung enthält zwei Defekte. Sie ist erstens nicht austauschbar mit den gleichnamigen Abschlüssen in Nordamerika, denen man sich gleichstellen wollte, und sie ist nicht europaweit akzeptiert; denn viele Länder und Universitäten übernehmen in ihren Ausführungsbestimmungen nicht die amerikanischen Bezeichnungen. Die Modularisierung engt die Freiheit der Studierenden ein, die sich ihr Studium anders vorgestellt hatten und andere Kombinationen studieren möchten. Von dieser Freiheit ist aber schon in der Bologna-Resolution keine Rede, sie wird implizit nur als Hindernis eines einheitlichen Profi ls angesehen. So führt die Strukturierung zurück zur Schule, die eigentlich mit der Universitätsfreiheit beendet sein sollte. Die Vergabe von Punkten und Noten bei jeder Studienleistung treibt die Verschulung und Unterdrückung in die Höhe. Studierende und Lehrende werden drangsaliert von einer Verwaltung, die ihre eigenen Systeme der Verrechnung in die Universität presst. Die Freiheit im Rahmen der alten Prüfungsordnungen steht eindeutig auf der Verlustliste; die besseren Studierenden, die ihren Weg allein finden, müssen sich der Massenanleitung beugen, die die Verwaltung flächendeckend allen verordnet. Der Prüfungswahn, den die Kader den Universitäten aufzwingen, zermürbt beide Seiten, die Prüfer und die Opfer; Gewinner sind nur die Kader selbst, deren Macht mit jeder neuen Prüfungsordnung steigt. Die europäischen Ministerien wollen mit dem Notenzwang die Illusion erzeugen, dass der Gegenstand, von dem sie handeln, so berechenbar ist wie der Erdumfang und folglich das Metermaß der Leistungen auch allgemein verbindlich angelegt werden kann, von Oslo bis Cosenza ist eine Eins eine Eins. Aber natürlich besagen identische Benotungen nichts über die wirklichen Leistungen, und damit wird die wirkliche Vergleichbarkeit zum bloßen Zahlenphantom. Nun fräst sich die Notenlüge in die akademische Lehre hinein und deformiert das Denken und Verhalten der Lernenden und Lehrenden. Wie der raumsparende Verpackungszwang die Agrikultur verändert, so der modulare Benotungszwang die mentale Kultur. Sie wird korrekt dosiert und von den studentischen Konsumenten die produktion von wissen | 133

korrekt in Empfang genommen, Lehr- und Lerneinheiten, gleichförmig in ganz Europa, von supervisors überwacht, ob auch die Maßeinheiten korrekt eingehalten wurden. Die Kader kennen kein Risiko und keine Kritik oder Nachfrage. Das Einfachste im durchverwalteten System ist die Double-Choice-Vorlage, die man in einer bestimmten Zeit zu beantworten hat. Wer die Frage für sinnlos hält, ist fehl am Platz der DIN-Formate. »Dieser Wandlungsprozeß unterwirft die Wissenschaft zunehmend den Gesetzmäßigkeiten eines akademischen Kapitalismus, in dem die Verwertung des Wissens zur Kapitalakkumulation gegenüber dem offenen Prozeß der Erkenntnissuche die Oberhand gewinnt und auf die Schließung der Wissensevolution hinwirkt.«196 Die Universität spiegelt so im Inneren die marktkonforme Quantifizierung, die sich schnell und effizient anwenden läßt. Warum lange über die Bedeutung eines Buches streiten, wenn wir die Zahl der verkauften Exemplare und damit der Wirksamkeit (statt einer nebulösen Wahrheit oder eines noch schlimmeren Wertes) haben? Warum den Rang eines Universitätsprofessors in Frage stellen, wenn er in der Frequenz der Namensnennung Spitze ist? Das Sein ist regrediert zur Sichtbarkeit, und die Verwalter kennen den Unterschied nicht. »Dabei zeigt sich in besonderem Maße, dass das Managementwissen abstrakte Modelle zur Anwendung bringt, deren wissenschaft liche Gültigkeit auf der Ausklammerung einer Vielzahl von Faktoren und Handlungszielen beruht, die gleichwohl in der Realität nicht ausgeklammert werden können. Es bewegt sich in einem engen ökonomischen Denkhorizont, der die Vielzahl sozialer Formen auf Märkte, Hierarchien und notfalls Mixturen wie Netzwerke reduziert.«197 Die Bürokrake, die die Berechnung jedes Beitrags betreibt, deformiert nicht nur Lernen und Lehren, nicht nur die psychologische Einstellung zum Studium, sondern die physische Konstitution der Studierenden. Ein großer Teil nimmt vor den permanenten Prüfungen stimulierende Drogen.198 Die Verwaltung träumte in der DDR von der Kaserne, und sie erträumt sich heute den Gehorsam: Das kasernierte Lernen, wie es sich die Kader ersonnen haben und endlich den Akademikern befehlen können.199 Die Lehrenden werden in den unteren Seme134 | kapitel IV

stern zu uniformen Produzenten des identischen Wissens nach identischen Mustern. Wissen läßt sich berechnen und verwalten, Erkenntnis nicht. Die Universitätsreform ist in wichtigen Punkten missglückt. Es sollte der Wechsel zwischen den europäischen Universitäten erleichtert werden, genau das Gegenteil ist eingetreten: Der Wechsel selbst in einer Stadt wie Barcelona oder einem Land wie Hessen von einer Universität zur anderen ist praktisch unmöglich geworden. Zur europäischen Universitätstradition gehört die »peregrinatio academica«, die durch den Bürokratismus von Bologna zerstört wird. Die Vorbereitung der Studierenden zu einem Wechsel an andere europäische Universitäten wird nicht durch die Vervielfältigung der Sprachkenntnisse vorbereitet, sondern durch die Durchherrschung der europäischen Universitäten mit der Rudimentärsprache Englisch. Es sollte die Abbrecherquote durch ein berufsqualifi zierendes Bachelor-Master-Studium verringert werden, genau das Gegenteil ist eingetreten. »Das Ausmaß, in dem eine von ihren eigenen Aktivitäten benommene Funktionärsschicht, die Forscher zu Dauerinsassen von Bewertungskommissionen macht und von ihren eigentlichen Aufgaben abzieht, indem sie entweder gerade einer Evaluierung unterliegen oder selber eine durchführen, nimmt phantastische Züge an.«200 Eine Folge ist z. B. das Streichen von Lehrstühlen für Theoretische Physik zugunsten von Disziplinen der Anwendung. Göttingen und München eliminieren die Wissenschaftsgeschichte, ihre Existenz stört im Praxisprofi l der Verwaltung.201 Eine andere Folge ist die Zerstörung einer Quelle der Produktivität, von der jeder Unternehmer träumt: Es wird der passionierte Forscher und Lehrer verjagt, der aus einer Passion und Berufung Wissenschaft ler ist und noch in den Ferien seiner verrückten Leidenschaft frönt. Der Bürokrat, der nur die Lebensteilung einer 35Stunden-Woche hier und und Mallorcas weißen Stränden begreift, begreift die Welt nicht, die er zerstört. »Der Professor ist nicht mehr Forscher und Lehrer, dessen Denken und Handeln von einer professionellen Ethik nach bestem Wissen und Gewissen und durch die totale Hingabe an seinen Beruf geleitet wird, der seinen Beruf die produktion von wissen | 135

in direkter Verantwortung gegenüber Studierenden und Kollegen sowie gegenüber der Scientific Community als Ganzer ausübt, sondern eben nur noch ein Agent, über den ein Prinzipal (die Hochschulleitung) zu wachen hat.«202 Der Bologna-Prozeß wollte eine große Unbekannte reformieren: Die europäische Universität. Statt sie aus ihrem Inneren zu begreifen und den neuen Desideraten der Lehre und Forschung behutsam anzupassen, wurden nur äußere Faktoren registriert und zu sachfremden Änderungszwängen benutzt. Wenn man nur die Universitäten technisch durchherrscht und mit dem Undeutsch der Unternehmensberatung aufputscht, dann wird sich der Erfolg europaweit einstellen. Der Marktraum wird mit Erlassen vereinheitlicht, und schon sind die bislang faulen, vor sich hindämmernden Universitäten sprudelnde, weltweit erfolgreich agierende Betriebe. Dieser zielgeraden Ideologie ist die Universität teils töricht, teils wirklich schutzlos zum Opfer gefallen. Thomas Steinfeld hat am 8. Juli 2008 (Süddeutsche Zeitung) einen denkwürdigen Satz der Funktionäre des Wissenschaftsrats herausgefischt: »Das unter möglichst breiter Beteiligung aller Statusgruppen organisierte Qualitätsmanagement sollte als strategisches Steuerungsinstrument der Hochschulleitung die Stetigkeit eines definierten Leistungsniveaus sichern, Veränderungsprozesse fördern und mögliche Fehlentwicklungen frühzeitig identifizieren helfen.« So die Erklärung des Wissenschaftsrats, der sich an diesem Satzast selbst aufhängt. P. S. Nein, denn schon 1973 wurden folgende Wortlemuren des Wissenschaftsrats zitiert: »Im Vollzug der Aufgabe bei der Begehung der Hochschulen zu tragfähigen Lösungen und die Aufgabenstellung des Lehrkörpers die als übergeordnete Aufgabe ständig gestellt ist Maßnahmen den einzelnen zur Entfaltung seiner geistigen und sittlichen Kräfte zu bringen die Ursachen auszuräumen daß möglichst geringe Reibungsverluste entstehen eine wirksame Führung stoffl iche Ausuferung einschneidende Konsequenzen durchgreifende Maßnahmen die Sicherung des Grundwissens beschleunigen die auf den ärztlichen Nachwuchs zugeschnittene Ausbildung.«203 Non morirán. In Deutschland wurden die einzelnen Institute drangsaliert und gedemütigt mit der Ausarbeitung von Studiengängen, die von privaten Agenturen zu genehmigen sind. Wie kann das Philoso136 | kapitel IV

phische Institut in Jena wissen, was sich die Leipziger oder Osloer Kollegen ausdenken und von der zuständigen Agentur akkreditieren lassen? Natürlich gibt es im Ergebnis keine Kongruenz, so dass die einzige menschliche Reaktion des Philosophen in Jena bei der Klage einer Studentin, die nach Leipzig gehen wollte, die Frage war, welche Scheine sie denn brauche, und diese ohne Bedenken ausstellt, mit Unterschrift und Stempel. Gut so? Die inkompatiblen Studiengänge desselben Fachs in benachbarten Universitäten, sogar Universitäten derselben Stadt, haben erfolgreich die Prüfung von Agenturen der Akkreditierung bestanden. »Die Akkreditierung wird durch mehrere untereinander im Wettbewerb stehende Agenturen durchgeführt«204. Diese Agenturen sind Privatfirmen, die mit staatlichen Stellen zusammenarbeiten; pro Akkreditierung werden einer Agentur 10.000 bis 15.000 Euro gezahlt.205 Wann überreicht die Akkreditierungsfi rma den Professoren eines Instituts ihr Beglaubigungsschreiben? Wer prüft die Firma, ob sie akademisch kompetent ist? Die Universitäten hätten ihr hier zerstörtes Ansehen dadurch wiedergewinnen können, dass sie die Akkreditierungsfirmen, bevor ihnen der Auft rag erteilt wird, ins Auditorium maximum eingeladen hätten, um dort vor akademischem Publikum Rede und Antwort zu stehen. Dann hätte man die Mitglieder dieser Firmen nach dem Stand ihrer einschlägigen Kenntnisse, der Form ihrer Urteilsbildung, nach ihrer Vorstellung von der Funktion einer Universität befragen können; reale Demokratie, der Präsident hätte sich das Votum zu eigen machen und die Firma beauft ragen oder ablehnen können. Die Delegierung der Ausarbeitung von Studiengängen an die hilflosen einzelnen Institute und der Akkreditierung durch private Agenturen hebt die frühere Mobilität nicht nur in Europa, sondern in Deutschland auf. Wer heute von der Freien Universität zur Humboldt-Universität wechseln möchte, steht vor einer von den neuen Kadern errichteten Verwaltungsmauer. Nun sind diese Verordnungen so ungeheuerlich, dass man nach der inneren Logik sucht, die ihnen gesetzliche Geltung verschaffen konnte. Die einzige Lösung dieses Meisterrätsels scheint darin zu liegen, dass die Universitäten durch die aktive Verhinderung der Mobilität jeweils zu einer höheren eigenen Studentenzahl und damit zu mehr die produktion von wissen | 137

Geld aus der Landeskasse zu kommen hoffen. Diese Maßnahme auf dem Rücken der Studierenden wäre kein naives Verwaltungschaos, sondern ein Meisterplan, den die akademische soziologische und kriminologische Forschung möglichst bald freilegen sollte. Der Wechsel vom Bachelor-Studium zu einem Beruf außerhalb der Universität sollte erleichtert werden; er wurde tatsächlich erschwert. Für die Universität ist dieser Programmpunkt jedoch damit nicht gescheitert und abgeheftet. Die Studiengestaltung hat sich antizipierend der Praxis angedient und fingiert Kenntnisse auf einem ihr fremden Gebiet. Was die Universität leisten kann, ist die Vermittlung einer wettbewerbsfähigen Erkenntnispraxis in ihren eigenen Disziplinen; die Kontrolle wird ausgeübt durch innerakademische Kriterien, nicht durch den Arbeitsmarkt. Warum sind kulturelle Institutionen zu Seniorenverbänden geworden? Die überforderten Verwalter kennen offenbar keinen Gesangsverein, kein Haus der Romantik, keinen Sportclub, die junge, auch akademische Mitglieder brauchen, sondern nur die Effizienz im Turbo-Studium. Kein Student kann sich noch erlauben, in anderen Bereichen der Kultur tätig zu werden. Wie Polyphem einäugig nur nach vorne blickt, so die außen gelenkte Universitätsverwaltung. Die drei oberen Fakultäten waren die Theologie, Medizin und Jurisprudenz. Die Theologie ist an der Universität relativ bedeutungslos geworden; die Medizin jedoch und Rechtswissenschaft könnten zu wichtigen Kräften des Widerstands werden. Darüber wurde kompetent berichtet.206

3. Zerstörung der Universitäten? Unsere Titelfrage wiederholt die beliebte kritische Begleitpublizistik des unleugbaren Phänomens; da wird von der Ignoranz der Ministerin und der Frechheit ihrer Äußerungen gesprochen, und es wird intensiv dokumentiert, wie die Umsetzung der Bologna-Beschlüsse kläglich gescheitert ist. Eine sachfremde Bürokratie zeigt ihre Macht und gibt nun endlich den Professoren Anweisungen, statt ihnen wie früher folgen zu müssen. Die modernen Universitäten »waren einmal, nach den Hum138 | kapitel IV

boldtschen Reformen, für ein Jahrhundert lang frühe Beispiele für intelligente Organisationen. Denn sie verbanden in dieser Phase ihrer Geschichte die beiden Seiten personaler Intelligenz in den Personen der Forscher, Lehrer und Studierenden und organisationaler Intelligenz in den Formen ihrer Operationsweise als aufgeklärte, einigermaßen liberale und autonome Orte kollektiven Lehrens und Lernens.«207 Ich wähle aus den vielen Diagnosen des universitären, von der Verwaltung erzeugten Bankrotts hier einen Bericht von Robert Stockhammer (München, Germanistik) aus. »Man braucht vor allem dreierlei: Gut vorbereitete, kontinuierliche Seminardiskussionen, prägnante, zur Auseinandersetzung anregende Referate und Zeit zum Schreiben von Hausarbeiten. Genau diese drei Voraussetzungen werden von den Vorgaben der Ludwigs-MaximiliansUniversität unmöglich gemacht. Erstens nämlich sollen die Studierenden zwar zu allen möglichen punktuellen Prüfungen, aber genau dazu nicht verpflichtet werden dürfen, regelmäßig und gut vorbereitet an Seminaren teilzunehmen; man muß ihre Leistung vielmehr auch dann als bestanden werten, wenn sie nur einmal im Seminar erschienen sind, um ihr Thesenpapier einzureichen. Ja: ›ihr Thesenpapier einzureichen‹, denn zweitens darf schon die Tatsache, dass Thesenpapiere ein bloßes Begleitprodukt von Referaten sind, nicht in der Studienordnung stehen, weil überhaupt kein Ergebnis mehr bewertet werden darf, das nicht entweder auf dem Papier nachlesbar ist oder in der Gegenwart von zwei Prüfern geäußert wird. Drittens müssen Seminararbeiten, vor allem im Wintersemester, kurz nach Ablauf der Vorlesungszeit abgegeben werden, um die Fristen für die Eingabe der Noten einzuhalten. […].«208 Zuvor noch ein Hinweis auf die Unfähigkeit der Verwaltung, nicht nur keinen europäischen Hochschulraum zu stiften, sondern einen deutschen von Stadt zu Stadt: »Im Falle der BA- und MA-Studiengänge ist diese Macht [sc. der lokalen Verwaltung, RB] besonders groß, weil die einzelnen Universitäten die wenigen allgemeinen Vorgaben mit jeweils idiosynkratischen weiteren Vorgaben massiv einschränken. […] Ein Studiengang, der in Rostock, Dortmund oder Augsburg durchsetzbar ist, muß es in Greifswald, Hamburg oder München noch lange nicht sein. Die Verwaltungen der einen Universität halten beispielsweise zweisemestrige Module die produktion von wissen | 139

für einen sinnvollen Strukturierungsvorschlag, die der anderen sehen darin ein Hindernis für einen Studienortwechsel. Die einen wollen pro Seminar nur ECTS -(Leistungs-)Punkte vergeben, die durch 4 teilbar sind, die anderen huldigen der 3.«209 Ein Kurzbericht aus Berlin: »Hinsichtlich des traurigen Universitätsalltages möchte ich Sie noch einmal darauf hinweisen, dass auch die ehemaligen Magister-Studenten nun verpflichtet sind, berufsvorbereitende Seminare zu besuchen. In Berlin wurde hierfür extra ein eigenständiges Seminar eingerichtet: die Allgemeine Berufsvorbereitung (ABV). Der Unterschied zwischen den BachelorStudenten, welche auf Lehramt studieren und denjenigen, welche einfach nur studieren möchten (wie ich), besteht darin, dass die einen von ihren 180 ECTS -Punkten 30 ECTS -Punkte in der Pädagogik erwerben müssen, die anderen müssen die gleiche Anzahl an ECTS-Punkten im Bereich der Allgemeinen Berufsvorbereitung erwirtschaften, anstatt ihr Fachkenntnise zu vertiefen. Seminare der ABV haben die verschwörerischen Titel »Kreativitätstechniken« (wenn Ihnen einmal nichts einfällt, gehen Sie am besten aus einem blauen Raum in einen roten Raum), »Projektmanagement« und »Beruf und Karriere« etc. Die Dozenten haben oft nicht einmal einen Universitätsabschluß, geschweige denn eine Dissertation verfasst (http://www.fu-berlin.de/studium/abv/index.html).«210 Aus Nordrhein-Westfalen wird gemeldet, dass die Kader der Bürokratie es erreicht haben, dass die Lehramtsstudenten/innen jeweils am Wochenbeginn in der Semesterzeit in eine Schule zum Praktikum geschickt werden – kein Präsident oder Rektor, kein Dekan stellt sich schützend vor die Studierenden, sie werden zu Untertanen erniedrigt. Bis wohin treibt der Haß auf Geist und Kultur die Funktionäre? Lohndumping in der Universität: Es wird die Lehre von Dozenten übernommen, die kurzfristig für Niedriglöhne arbeiten. Promovierte und habilitierte oder analog qualifi zierte Lehrende mit einer Dauerstelle fi ndet der Studierende immer seltener. Wo ist die Gewerkschaft, die diesen Mißbrauch akademischer Tätigkeit dokumentieren und angemessen beantworten könnte? Die Universität hatte bis 1999 einheitliche Studiengänge; am Anfang stand die Einführung in die Wissenschaft, am Ende eine der staatlichen oder akademischen Prüfungen. Die einheitlichen 140 | kapitel IV

Studiengänge waren das Resultat einer längeren Tradition und standen unter der Regie von Wissenschaft lern, die für die Qualität und die Gleichheit mit den Fach-Studiengängen an anderen Universitäten sorgten, die Mobilität der Studierenden war, so weit es Sache der Universität ist, global gewährleistet, von Tokyo über Rom bis zurück nach Kyoto. Die Kader von Bologna spalteten die Universität in zwei Hälften; in Deutschland dienten sie sich in der Ausführung den USA an und nannten sie Bachelor- und Masterstudium. Unser Bachelorstudium ist jedoch keine allgemeinbildende Einführung mit football und Weltkenntnis oder gar mit den eurogenen »artes liberales«, ganz oder in Auswahl, sondern mit der Karikatur von Erkenntnis, die seit den Vorsokratikern und Goethes Faust mit Hohn und Spott versehen wurde: Dem fake der Erkenntnis, der Karikatur, dem »als ob«. Tu so, als ob du Proust studierst, aber nur mit 6 angestrichenen Seiten und einer Investition von 38 Minuten. Eine Novelle von Conrad Ferdinand Meyer. Lies, was in einer Textsammlung über sie steht; die Novelle selbst brauchst du nicht mehr, die kritische Urteilsbildung am ursprünglichen Werk ist Zeitverschwendung. Ja und? fragen die Bürokraten. Das Universitätsstudium, das dagegen von Beginn an auf Erkenntnis zielt, hat eine innere Logik des Aufbaus in einem Begründungsganzen; das fake-Studium addiert Wissensbestände und kanalisiert sie in externe, immer nur erhoffte Berufe. Ob das gut geht, brauchen die beamteten Pädagogen nicht mehr zu verantworten, im Gegensatz zu Lehrgängen in größeren Betrieben, wo sofort eine Rückmeldung kommt, wenn die praktischen Ziele nicht erreicht werden. Muß der Bachelor-Studiengang überhaupt so realitätsnah sein, daß es die Tätigkeit (noch, schon) gibt, für die er laut Titel ausbildet? Wie steht es mit der akkreditierten »Transkulturellen Gesundheitswissenschaft« (Frankfurt an der Oder)? Werden Menschen je so krank sein, daß sie sich diesen Wissenschaft lern anvertrauen?

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4. Lob und Kritik der Drittmittel211 Die sog. Drittmittel sind willkommen: Bedeutende Unternehmungen der Natur- und Geisteswissenschaften waren und sind nicht möglich ohne die großzügige Hilfe einer der vielen privaten Stiftungen. Es konnte und kann weitgehend auch jetzt nicht die Rede davon sein, dass hier das Kapital notwendig die Forschung in seinem Sinn beeinflusst hat und beeinflusst, keine Spur einer Einflussnahme bei Thyssen und Volkswagen oder der ZEIT-Stiftung. Negative Aspekte werden jedoch in neuerer Zeit deutlich. Waren die Drittmittel bis vor kurzem eine dankenswerte Hilfe für finanziell aufwendige Forschungen und Ausgaben, nehmen sie jetzt indirekt Einfluß auf die Fächer und stören ihre autonomen Entscheidungen und die Tätigkeit der Mitarbeiter. Die Universitätslehrer verschwenden ihre Kräfte auf das Einwerben von Drittmitteln, und sie orientieren ihre Forschung an Themen, die in der Öffentlichkeit, d. h. in den Medien als attraktiv und wichtig angesehen werden. »Einwerben« ist eine Wortprägung, die den demütigenden Akt der Bitte um unverdientes Geld, vulgo Betteln, beschönigen soll. Demütigend auch deswegen, weil der Bittgang verbunden ist mit einer unwürdigen Selbstanpreisung. Der Antrag muß mit einer leicht verschleierten, aber wirksamen Selbsterhöhung verbunden sein; es müssen die Laufbahn und das internationale (bloß dieses Wort nie vergessen!) Renommee in gehörigem Licht dargestellt werden. Michel Foucaults Einführung in Kants Anthropologie (2010) trägt auf dem Rücken den Satz »Im Tod des Menschen erfüllt sich der Tod Gottes«. Nun weiß man nicht, wie diese Erfüllung vor sich gehen soll, vielleicht hat der Setzer den Satz »Im Tod Gottes erfüllt sich der Tod des Menschen« einfach verdreht; aber fest steht, daß in der Kantischen Anthropologie der Tod partout keine Rolle spielt (wie Goethe: »Den Tod statuiere ich nicht«) und Kant einen »Tod Gottes« nie erwähnt. Aber beides, der Tod und Gott haben offenbar Konjunktur, so ist beides werbewirksam und sicher auch für Drittmittel-Kommissionen attraktiv. Wer sich endgültig in eine Universitätskarriere einfädeln möchte, dekoriere sich mit Drittmitteleinwerbungserfolgen. Die Ausschreibung einer Germanistikprofessur enthält die Formel: »Erfahrung in der Einwerbung von Drittmitteln ist erwünscht.« 142 | kapitel IV

Hiermit delegiert die Universität einen Teil der Urteils- und Finanzfi ndung an externe Gremien, die sich nicht haftbar machen und deren Mitglieder meist nicht auffindbar sind. Wer hat dafür, wer hat dagegen gestimmt? Die persönliche Verantwortung löst sich schon beim Abstimmen auf. »Erfahrung in der Einwerbung von Drittmitteln ist erwünscht.« Eine kleine feine Lüge, denn wenn der Kandidat / die Kandidatin ehrlich schreibt, ihre vielen Erfahrungen in der Einwerbung seien katastrophal, weil niemand die bahnbrechenden Projekte als solche erkannt habe, dann wird die Universität gestehen, dass ihr diese Erfahrung doch nicht erwünscht sei. »Wir danken Ihnen sehr […]. Mit den besten Grüßen und Wünschen für Ihre Zukunft […].« Also im Klartext: Die KandidatInnen haben nur Chancen, wenn sie eine gehörige Aussteuer mitbringen. Die reine Liebesheirat wird gelobt, aber wer kann sie sich noch erlauben? Unsere GermanistInnen nicht. Die Aussteuer vergeben die anonymen Mitglieder außeruniversitärer Kommissionen. Vorsicht, kleine Liebesdienste durch das Zitieren der hoffentlich richtigen Namen einstreuen. Nun gibt es Forschungsunternehmen, die ohne Drittmittel nicht möglich sind, vornehmlich in den Naturwissenschaften, aber auch in der Archäologie, bei Texteditionen, soziologischer Feldforschung, Ethnologie etc. Demokrit wäre heute kein einsamer Forscher, der die Ursache eines Naturphänomens untersucht, sondern Abteilungsleiter am CERN bei Genf, befasst mit einem minimalen Ausschnitt in einem Kollektiv von Kernphysikern mit durchgeplanter Arbeitsteilung. Wenn man ihm statt der Mitwirkung an dem Gemeinschaftsunternehmen den Besitz des heutigen Iran anböte, so würde er vermutlich aus politischen Gründen lieber verzichten, aber vielleicht auch aus der auch im Forschungsteam möglichen ideellen Faszination der Physik. Unter den Bedingungen der Moderne würde er seine Tätigkeit nicht naiv ausüben können, sondern kritisch-reflektierend: In welchem Zusammenhang steht die Forschung? An welchem Ort der Erkenntnisgeschichte sind wir angelangt, auch, nach der Belehrung in der letzten Vergangenheit: In welchem politischen Kontext steht diese Kernforschung? Marathon? Lohnt sich der Aufwand? Was tut die Menschheit hier? Es gibt Bereiche besonders der Geisteswissenschaften, in denen von der Sache kein Zwang zur Projektbildung und Drittmittelfidie produktion von wissen | 143

nanzierung besteht. In bestimmten Gebieten der Erkenntnis kann die Projekt- und Drittmittelforschung kontraproduktiv sein. Was geschieht? Es wird ein Territorium oder ein Problem im Hinblick auf eine gebündelte Forschung umschrieben, es wird ein Ziel formuliert, das als dringendes Desiderat der Wissenschaft auszuzeichnen ist. Dem Ziel ordnen sich im Konsens bestimmte Forscher unter. In der Projektskizze muß beschrieben werden, wie die Tätigkeiten aussehen werden; es werden Teilpläne entwickelt, ihre Kosten, die veranschlagte Zeit, die Koordination mit den anderen Forschungsarbeiten muß detailliert geplant werden. Der Vorteil: Die Teilnehmer lernen von den Kollegen aus den benachbarten Gebieten und lassen sich von ihnen in der Weiterarbeit inspirieren. Man plant gemeinsam Tagungen und kommt zur Erweiterung und Vertiefung von Teilgebieten. Der Nachteil: Es entwickelt sich ein Verhalten heraus, das auf eigenwillige Einfälle und deren Ausarbeitung in eigener Regie und Verantwortung nicht eingehen kann. Die Arbeit im Planvorhaben führt notwendig zu einer anderen Sprache als die Tätigkeit in der Humboldtschen Einsamkeit. Man vergleiche geisteswissenschaftliche Publikationen aus der DDR und der BRD mit einander. Die sozialistische Kontrolle wird vom Individuum internalisiert und fi ndet ihren Ausdruck in einem gruppenkonformen Rede- und Schreibduktus. Es muß die Konformität mit der Zielvorgabe betont werden, jeder hat sich als gutes Glied im Kollektiv zu erweisen und dies plakativ für den Großen Bruder, der in der Ferne in den Castelli di Yale, im Schloß der Verwalter, die Drittmittel vergibt oder versagt. Was wird ihm heute, nein morgen gefallen? Ein wenig die Sorge um das Sein ausspielen? Eine Prise Tod? Ein wenig Foucault? Oder: Terrorismus auf keinen Fall? Auch Derrida ist schon tot, aber wer weiß, auch Tote haben in den Büros ihre älteren Verehrer; also ein Hinweis auf den toten Jacques in der einen und anderen Fußnote.

5. Die Vorgabe von Wissen Wer sich zur akademischen Laufbahn entschließt, sollte einerseits auf wenigstens zwei Gebieten eine beachtliche Forschungsarbeit vorlegen und muß sodann über ein breites Fachwissen verfügen, 144 | kapitel IV

das nur in einem jahrelangen ungestörten Studium erworben wird. Beides ist dann die permanent zu erweiternde und zu vertiefende Grundlage der Lehrveranstaltungen. Wenn diese Grundlage fehlt, bleibt dennoch die Anforderung, ein weites Gebiet ungefähr auf der Höhe der Forschung darstellen zu können. In das Wissensvakuum werden dann schnell angeeignete und verfestigte Stereotypen gestellt, fertige Schablonen, die mit einem entsprechend fertigen Vokabular dargestellt und abrufbar gemacht werden. Der Hochschullehrer muß dann versiert sein in der Handhabung der pre-fabs, abgestützt durch Namen, auf die man sich als Garanten beruft, bei Nachfragen müssen die Wendungen bereit stehen.

Redensarten »Ich habe die Schriften von John Rawls im Augenblick nicht vollständig präsent«, »Den letzten Essay von Derrida habe ich sozusagen nur überflogen, aber er ist epistemisch außerordentlich wichtig«. »Natürlich, dem mittleren Habermas fehlt der eigentliche Zugang zu Freud«, usw. Der Hochschullehrer wird zum Adepten von Potemkin und weiß, dass die anderen Adepten seine Fassaden sozusagen durchblicken und schätzen. Die Didaktiker in den Kommissionen lächeln verständnisvoll, wenden jedoch ein, dass eigentlich schon der frühe Habermas deutliche Freud-Lücken aufweise, aber dies sei sozusagen auch bei Einstein der Fall. Nicken der Kollegen. Der nächste TOP. Ende Die akademische Überproduktion auf allen Gebieten führt zum Verweis auf Literatur mit gezinkten Karten; da wird auf neue amerikanische Bücher verwiesen, auf Oxford- und CambridgePublikationen des letzten Jahres, und die Fülle der Verweise läßt nur einen Schluß zu: Der Autor kennt ein, zwei Sätze, aber es ist schlicht unmöglich, dass er sich mit den Werken auseinander gesetzt hat. So kommt es zu überbordenden Literaturlisten, die nicht der Sachfrage dienen, sondern dem Eindruck, der erzeugt werden soll. Aber soll dem Leser die weiterführende Literatur vorenthalten werden? Wie reagiert um Himmels willen die Kommission, wenn ein Buch vom höchsten Platz im Ranking einfach fehlt? die produktion von wissen | 145

In den Geisteswissenschaften läßt sich eine Tendenz zur Spaltung in zwei Lager beobachten. Die Traditionalisten bedienen sich nach wie vor einer Wissenschaftssprache, die sich seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts wenig geändert hat. Sie folgt dem Prosa-Ideal, das sich in Europa nach dem Zerfall der barocken Metaphorik herausbildete, dies wiederum in Anlehnung an eine antike Spaltung der Rhetorik in einen sachzugewandten, nüchternen Stil und einen blumigen Stil der Prunkrede, hier die Attizisten, dort die Asianer. Die Attizisten: Die Wissenschaftssprache hat auf ablenkende Sprachmanöver zu verzichten, sie soll sich nicht in den Vordergrund drängen, sondern die Sache selbst sprechen lassen. »Sei er kein schellenlauter Tor […].« Die Gegenrichtung ist jedermann vertraut; sie prunkt mit einem technizistischen Vokabular, einem Schellengeläute des Medialen, das in den Kulturwissenschaften, zu denen viele Fächer mutierten, in allen Universitäten zu hören und zu lesen ist. Der »linguistic turn« wird in Wortpirouetten vollzogen, die jede Nachfrage nach der genaueren Bedeutung als bäuerisch erscheinen lassen. »Das Mediale« – bitte, was heißt das genau? »Die Inframedialität und die Genealogie des Unerwarteten«, »Eine inframediale Potenzierung des ästhetischen Zeitspielraums«, »Die Genealogie fi ktionaler Zeit-Räume«, die »Remediatisierung im Hypertext. Transtextualität als Herausforderung«, »Überlegungen zu einer transbiblionomen Poetik und Philologie«, »Von der Interkulturalität zum Multikulturalismus«. Diese Beispiele hat Joachim Dyck zusammengetragen.212 »Der Begriff des Verstehens«, kommentiert Dyck, »wird erschüttert, mit dem das Fach [sc. die Germanistik] bisher noch immer Widerstand gegen die Worthülsenakrobatik im Niemandsland der Unverbindlichkeit leistete. Das ist ja gerade das Schöne an der neuen Redeweise und Begriffl ichkeit, dass sie kein Verständnis fordert, weil es nicht mehr darauf ankommt, wissenschaft liche Erkenntnisse vorzutragen.« Wenn alle Sprache sowieso ein wanderndes Heer von Metaphern ist, wenn die wankende Sprache selber denkt, dann ist König, wer die schönsten Wörter vortanzt oder tiefsinnige Etymologien vor sich hin raunt, von Denken und Danken, und alle staunen in Ehrfurcht. Eine bloße Verneinung löst den interkulturellen Blasen-Zauber auf. 146 | kapitel IV

Der touch von Technizismus in den genannten Beispielen soll suggerieren, dass hier höchste exakte, überprüfbare Erkenntnis garantiert ist; wer so innovativ ist, dass er oder sie auf dem dichtbesetzten Gebiet der Germanistik noch originelle Prägungen wie »Infrakulturalität« zu lancieren vermag, sollte auf der Stelle berufen werden. Daß hier endlich etwas in Bewegung gebracht wird, daß sich etwas Bedeutendes, vor allem Denknotwendiges anbahnt, das viele Projekte verspricht, ist durch die Semantik garantiert. Auguri! Die Darstellungsfassade entfernt sich von irgendeiner Realität, die sich hinter ihr verbergen könnte, und gewinnt ihre eigene Erfolgskarriere; wenn sowieso alles Sprache ist, dann gewinnen die Poeten unter den Akademikern, unterstützt vielleicht noch von altbackenen Etymologen, die die Wahrheit unter den Wortwurzeln im Unverborgenen suchen. Nun kann man der Versuchung schwer widerstehen, die zitierten Redeweisen als Äußerungen von Pathologien unserer Weltund Selbstauffassungen zu diagnostizieren. Was ist in die Köpfe und Institute gefahren, dass ein derartiger Nonsens produziert und mit Geduld und geheucheltem Verstehen angehört und mit Professuren und neuen Zeitschriften honoriert wird? Es ist sicher so, dass die Produzenten keinen Halt am Gegenstand fi nden, weil sie ihn entweder nicht kennen oder weil dieser selbst völlig haltlos ist und keine sachliche Rede ermöglicht. Jedenfalls ist das Phänomen des technizistischen Asianismus, um es auf diese innovative Weise zu benennen, so verbreitet, dass es seinerseits Gegenstand einer seriösen Analyse werden sollte. Die Folgen wären unbedeutend, weil die Anhänger des technizistischen Asianismus als infrakulturelle Autisten die Analyse nicht zur Kenntnis nähmen. Wann wird der reflektierende Student zum Terroristen, der kopflos den Unfug ausrotten will? Soweit zu den zwei Stilformen, die in den beiden vorherrschenden Richtungen kultiviert werden. Im Inhalt sind die beiden Richtungen dadurch unterschieden, dass die eine, konservative, bei einer Publikation ideell oder wirklich einen Bericht über den »status quaestionis« verlangt, die zweite eben dies jedoch ausschließt. Die erste bezieht sich auf einen klar definierten Gegenstand, berichtet kritisch vom Stand der Forschung und leitet aus ihm das Problem ab, mit dem sich die dann folgende Erörterung befasst und das die produktion von wissen | 147

sie zu lösen sucht. Dieses Vorgehen gewährleistet den Erhalt des Gegenstandes, der als identischer in der Forschung vorausgesetzt wird und die Einheit der Forschung über diesen Gegenstand erstellt. Anders die Regenbogenpublikationen, die so wenig wie der Regenbogen ein Referenzobjekt haben, auf das sich die Publikationen einheitlich beziehen. Häufig wird in einer kurzen Feststellung gegen die herrschende Meinung polemisiert, aber dieser Zwischenakt ist ganz unverbindlich und dient nur der Selbstkonturierung. Bei dieser zweiten Richtung handelt es sich nicht um eine persönliche Hysterie, sondern zunächst um ein Notphänomen der Geisteswissenschaften. Ein erster Grund ist die Überproduktion, die zur Reaktion derjenigen zwingt, die auf die literarische Darstellung ihrer Tätigkeit angewiesen sind und so das Übel vermehren. Durch Überbietung müssen die Konkurrenten ausgestochen werden. Man muß fingieren, über alle Erkenntnis der ersten Richtung zu verfügen und diese nun qualitativ explosionsartig hinter sich zu lassen. Der Fiktion der Sachkenntnis dient das geschickte »namedropping« (»wie vom mittleren Goethe angedacht wird«). In Wirklichkeit geht es jedoch nicht um die Fortsetzung der Forschung, sondern um ihr Überspringen und damit ihr Aushebeln. Das Fach verliert seinen Gegenstand und wird zu einem rhetorischen Allerlei der Kulturwissenschaften mit wechselnden aufgeregten Titeln, die sich in ihrer eigenen Farbigkeit gefallen und das Publikum blenden sollen. Das Theorie-Gebirge, das im Vorraum den Leser imposant bedroht, ist gänzlich vergessen, wenn der Autor zur Sache kommt. Ein Beispiel ist Michael Stolleis’ Auffassung: »Kurzum: es gibt nur Texte, es gibt keine historische Realität jenseits von Sprache, alle menschliche Wirklichkeit ist nur, sofern sie Sprache ist.«213 Diese Auffassung wird vorgetragen in einer Schrift nicht über Wirklichkeit und Sprache, sondern über Staat und Staatsräson in der frühen Neuzeit, in der also dieser »linguistic turn« nicht das Hauptthema und auch kein Nebenthema ist. Denn sobald die historische Untersuchung beginnt, ist vom generellen Verhältnis der Sprache zur Wirklichkeit keine Rede mehr. Im Gegenteil, die These der Einleitung wird stillschweigend beiseite gestellt, denn in einer rechtsgeschichtlichen Abhandlung muß notwendig zwischen Sprache und »Wirklichkeit« unterschieden werden. Das Gebiet eines Staats ist 148 | kapitel IV

nicht nur sprachlich, sondern durch Grenzsteine und symbolfreie Selbstschußanlagen etc. begrenzt; Rechtsvereinbarungen werden durch körperliche Rituale besiegelt, die nicht in Sprachhandlungen bestehen, sondern z. B. im Handschlag. Fehlt er, ist der sprachlich formulierte Vertrag ungültig. Die Kaiserkrönung und der Reichstag sind keine Sprechblasen. Die handgreifliche Vollstreckung des Urteils wie etwa die Steinigung unterscheidet sich schmerzlich von seiner sprachlichen Verlesung. Niemand zählt Publikationen zu den »res gestae«. Damit ist der modische Satz, es gebe jenseits von Sprache keine Realität, widerlegt. Noch einmal Stolleis: »Die Lebenszusammenhänge wurden schrittweise anders begriffen, sie ›erschienen‹ den Menschen verändert, so dass man nach Bezeichnungen suchte, um das neu Erscheinende neu zu benennen.«214 Änderten sich die Lebenszusammenhänge, oder wurden sie nur anders begriffen, erschienen sie neu oder waren sie wirklich neu? Oder sollen wir jetzt glauben, dies sei nur eine sprachliche Differenz? Selbstverständlich wird in den Ausführungen selbst die jedem vertraute Unterscheidung von »res« und »verba«, auch von Schein und Wirklichkeit genau und problemlos vollzogen, im überflüssigen Theorieüberhang der Einleitung wird sie geleugnet. Das Gute an den Büchern von Stolleis ist, dass sie sich um die Metadiskurse der Einleitung nicht kümmern und fundierte Wissenschaft betreiben. Da gibt es keine Dissense, weil andere Autoren eine andere Auffassung von der Sprache haben, sondern weil bestimmte historische Aussagen bezweifelt werden, seien es des Kaisers alte Kleider oder neue Funde zu Gerichtsabläufen. Dies ist das Schicksal fast aller theoretisch hochgeschraubten Vorfassaden. Sind sie durchschritten, kommen die Ausführungen zur Sache.

6. »Step into future now!« Das Machen der Zukunft gegen die Macht der Vergangenheit Zu den vielen Facetten, die die heutige Metamorphose der Universität bestimmen, gehört die Zeitenwende, die sich in der Neuzeit vollzog und noch vollzieht. Es soll damit das gut dokumentierbare Faktum bezeichnet werden, daß sich ein dominantes Interesse in der Neuzeit von der Vergangenheit weg- und der Zukunft zuwendie produktion von wissen | 149

det.215 Eine Leitfunktion haben die Technisierung der Produktion, die Demokratisierung der Herrschaft und die Verselbständigung von Kunst und Kultur. Die Menschheitsgeschichte war erstens bis zur Industrialisierung in ihrer ökonomischen Produktion daran gebunden, bewährte Formen in der Agrarwirtschaft und im Handwerk zu imitieren und zu variieren, aber sich nicht von den Vorgaben zu lösen. Innovation konnte nicht zu einem positiven Stichwort werden wie in der neuesten Zeit, »res novae« waren verpönt. Um zweitens die kollektive Einheit eines Stammes oder Volkes zu gewährleisten, bedurfte es einer durch die gemeinsame Geschichte legitimierten Adels- oder Königsherrschaft, und drittens waren die Kunst und Kultur allgemein an die Fortführung überlieferter Mythen und nationaler Dichtungen gebunden. Stellvertretend können für die Zeitenwende das Novum Organum (1620) von Francis Bacon, die Französische Revolution (1789) und der Futurismus (um 1910) genannt werden. Bacons Werk kündigt schon im Titel die Emanzipation von der Vergangenheit an, es soll die Produktion, die dem Vorbild der bisherigen Geschichte folgte, durch eine eigene regelgeleitete Erzeugung ersetzt werden. Wir konstruieren und machen selbst, was uns bisher von der Tradition und Natur gegeben wurde. Damit gehört die Zeitenwende zum wissenschaft lich-technischen Programm; wir blicken nicht mehr nach früheren Vorbildern, um in ihnen die Direktiven unseres Handelns zu erkunden, sondern wenden den Blick in die Zukunft als das Feld der geplanten, berechenbaren Tätigkeiten. Seit Bacon und den Anfängen der industriellen Revolution in England läßt sich ein kontinuierlicher Fortschritt im produktiven Machen der Menschen verzeichnen. Die amerikanische Revolution von 1776 und, ihr folgend, die medienwirksamere Französische Revolution wenden sich abrupt von dem durch die Vergangenheit legitimierten Adelsregime ab und ersetzen es durch die (eingeschränkte) Demokratie. Die Herrschaft hat damit ihren Ursprung im präsenten Akt der Wahl der Repräsentanten, welche Heldentaten auch immer die Urahnen bestimmter Aspiranten vollbracht haben. Der Kandidat verspricht, die künft igen Aufgaben besser zu lösen als die anderen, er führt nicht an, daß seine Ahnen bedeutende Löwenjäger und Kriegshelden waren. Dieser politischen Zeitenwende von der Vergangenheit 150 | kapitel IV

in die Zukunft, vom Erben zum Können, mögen sich einige Winkel auf dem politischen Globus entziehen, im Großen Ganzen ist er verbindlich für alle, auch wenn nominell noch die christliche Zeitenwende zur Verrechnung der Jahre dient. In der Moral vollzieht sich die Zeitenwende durch den kategorischen Imperativ: »Handle nach einer Maxime, die als allgemeines Gesetz gelten kann!« Aus diesem moralischen Gesetz ergibt sich, was gut und böse ist. Bei Platon war die Idee des Guten der ranghöchste Wert, den freilich nur wenige zu erkennen vermochten, die professionellen Philosophen. Der kategorische Imperativ kippt dieses Erkenntnisprivileg der wenigen Experten und macht das Gute abhängig von dem Gesetz, das alle geben und das für alle gilt. Das immer bestehende Gute begründet keine Gesetze, sondern die Gesetze sind umgekehrt der methodische Bestimmungsgrund des Guten. Der Futurismus vollzog die Wende aus der Vergangenheit in die Zukunft klamourös mit vielen Manifesten.216 Kunst und Kultur sollten endlich den Vergangenheitsüberhang abstreifen und sich gerade hinein in die Zukunft bewegen. Dazu dienten einmal die Apotheose der Bewegung und zum anderen die Lösung von den tradierten Gegenständen. Die abstrakte Kunst kappt die Bindung nicht nur mit den geschichtlichen Würdeobjekten, sondern auch mit den Gegenständen der Natur und ihren Normen. Die Musik und die bildende Kunst, im Dadaismus auch die Dichtung, schaffen ihre Werke aus sich selbst, frei und geschichtslos. Die Zukunftsparty der Künste konnte beginnen. Marinetti integrierte die Reklame in seine Kunst- und Kulturbewegung, und die Reklame wird zum Symbol der zukunft sbestimmten Gegenwart: Es wird kunstvoll ein neues Produkt dargestellt, die Darstellung reizt zum Wunsch des Konsums, der Wunsch führt zur Produktion. Diese in die Zukunft hinein geworfene Zeitschleife, die ihre eigene Produktion erzeugt, ist in der Vergangenheit unbekannt, weder Adam Smith noch Karl Marx kennen das Futurgebilde der Werbung. Ohne Reklame würde heute jedoch die kapitalistische Weltwirtschaft in Schrott und Asche zerfallen. Man wird nicht erwarten, daß diese Zeitenwende in den Tiefenstrukturen der globalen Kultur keine Auswirkungen hat auf die prominenteste Institution der Bildung, die Universität. Wer die produktion von wissen | 151

sich an der Zubereitung der Zukunft nicht beteiligt, hat seine Gegenwart schon verscherzt. Die öffentliche Aufmerksamkeit und die besondere fi nanzielle Förderung richtet sich auf die Disziplinen, die die Zukunft zu bestimmen versprechen. Schon das Wort »Wissenschaft« wird mit diesen Disziplinen assoziiert, nicht das Studium Shakespeares oder der Romantik. Das Auswendigkönnen großer Dichtung oder langer Bibelstellen ist unter dem sortierenden Blick der head-hunters so irrelevant wie die Fähigkeit, kleine Kugeln durch kleine Löcher zu werfen (das Beispiel stammt von Alexander dem Großen, der einem so Befähigten eine Handvoll Erbsen schenkte). Die Drehung aus der Vergangenheit in die Zukunft läßt sich in den Geisteswissenschaften selbst beobachten, etwa in der Kunstgeschichte, die sich bislang den großen Werken zuwandte und jetzt zur Bildwissenschaft mutiert, oder auch der Geschichte, die sich mit der Gegenwart liiert, indem sie den Namen einer Kulturwissenschaft annimmt. In der Vergegenwärtigung der Geschichte selbst besteht die Möglichkeit, sie den heutigen Interessen und Rezeptionsformen unter zu ordnen: Die Ausstellungen von Kunstobjekten folgen nicht der Sachlogik der Exponate, sondern der Blickerregung der Zuschauer, indem sie einen Picasso neben ein Madonnenbild hängen. Wer nicht zurück geblieben ist, wird dies als höchst anregend nachempfinden und loben. Die Vergangenheit im ganzen ist ihrer Eigenmacht entkleidet und steht nach Belieben zur Verfügung, auch dem Kenner. Ein Instrument, sich mühelos in den richtigen Kanal der Zukunft einwinken zu lassen, ist der Test. Er erspart mühselige Erfahrungen und kostspielige Umwege, bis man zu der Tätigkeit gelangt, zu der man am geeignetsten ist; der Test sagt dem Jugendlichen gleich, was am Ende stehen wird. Der pränatale Test ist noch radikaler: Er informiert darüber, ob es überhaupt zum Lebenseintritt und damit zum Studium kommen wird. Die Universitäten geraten unter den Druck, sich in der Konkurrenz an der Zukunftsgestaltung zu beteiligen und die Zeitenwende zu vollziehen, aus dem beschaulichen Sinnieren im Elfenbeinturm hinauszutreten ins Leben, in die Praxis, also die Zeitenwende zu vollziehen oder an der Vergangenheit zu ersticken. Entkleidet man diese Vorstellung ihrer nicht wirklichen Übertreibung, liegt hier tatsächlich die Zukunft nicht nur der Natur- und Sozial-, sondern 152 | kapitel IV

auch der Geisteswissenschaften. Wir werden dieses Thema am Schluß wieder aufgreifen. Einer der fundamentalen weltweiten Impulse, die Universitäten aus Stätten der Erkenntnis in die Produktion von Wissen überzuleiten, dürfte in der Konkurrenz um die entscheidenden Innovationen für die Zukunft liegen. Die traditionalen drei Produktionsfaktoren Land, Kapital und Arbeit werden durch einen vierten überrundet: das Wissen. Mit dem Wissen tritt ein Faktor ein, »der für alle nicht-trivialen Güter rasch zur kritischen Ressource avanciert. Damit wird die Generierung und das Management von Wissen zur fundierenden Kernkompetenz solcher Organisationen, die für ihr Überleben darauf angewiesen sind, effi zient und kontinuierlich Innovationen zu erzeugen.«217 Des Rätsels Lösung liegt wieder einmal im Vierten, dem Wissen, das die drei vergangenen Vorformen (Land, Arbeit, Kapital) transzendiert und die Zukunft bestimmt. Die Regierungen folgen dem industriellen Imperativ und versuchen, die Institution der Universität für die Zukunft smacht des Wissens in Anspruch zu nehmen und sie zur Produktionsstätte der Innovationen zu machen. Wenn der Vorstand von Pierer 1996 verlauten läßt: »Bei Siemens stammen inzwischen über 50 Prozent der Wertschöpfung aus wissensintensiven Dienstleistungen«218, dann eilen die Regierungen, die Universität zur primären Wissensressource umzubauen. Der Schleier dafür sei der feine Titel »Bologna«. Die kritische Erkenntnis fordert die widerrechtlich besetzten Räume in der Universität zurück, vom Beginn des Studiums bis zu seinem Ende.

7. Exzellenz-Zentren Das Bündeln von Kräften ist unter bestimmten Umständen eine gute Sache; es steigert die Effi zienz an ausgewählten Stellen, die ihrerseits auf das Ganze positiv zurückwirken. Das Gegenteil ist die egalitäre Verteilung der Ressourcen mit dem Risiko, dass sie in viele einzelne Projekte ohne Zusammenhang und Aussicht investiert werden. Die Konzentration entspricht dem in der Verwaltung bevorzugten Präsidialmodell gegen den Parlamentarismus der viedie produktion von wissen | 153

len Stimmen. Die Idee, Exzellenz-Zentren zu bilden, gehört auf die Seite der Machtkonzentration gegen die egalitäre Verteilung. Die Heraushebung von Exzellenz-Universitäten bedroht eine besondere Qualität der bisherigen deutschen Universitätslandschaft: Die dezentrale Bildung von Qualitätszentren für bestimmte Zeiten. Die Mathematik in Köln und Bremen, die Kunstgeschichte zeitweilig in Marburg, Philosophie in Tübingen. Die exzellenten Köpfe, die sich da finden, sind frei, den Ort überraschend wieder zu verlassen, und dann kann die Mathematik aus Bremen und Köln nach Bayreuth und Rostock wandern. Es gibt kein Exzellenz-Zentrum auf Dauer, es sei denn, die Mittel werden in den übrigen Universitäten so verknappt, dass niemand sie freiwillig aufsucht. So wird die Verwaltung ihre Exzellenz-Maßnahme verstetigen; alle Mittel für die Forschung und Elitenlehre fi nden sich dann nur in zwei oder drei oder vier Universitäten, während man in den anderen vergeblich nach einem Stück Kreide oder gar einem Beamer sucht. Hiermit spiegelt die Universität die Tendenz zur Zweiklassen-Gesellschaft perfekt wieder, und die Differenz der Studiengebühren wird das Übrige tun und auch bei den Studierenden die Feinen von den Nichtfeinen trennen. Die MinisterInnen werden dies in ihrer Verblendung als einen Erfolg für die Wiederwahl verbuchen und Recht behalten.

8. A propos Eliten Zur Diskussion der Elite hat Adorno etwas Gutes gesagt: »Elite mag man in Gottes Namen sein; niemals darf man als solche sich fühlen.«219 Gehörte Adorno selbst zur Elite der Bundesrepublik? In Gottes Namen ja, und natürlich fühlte Adorno Gottes positives Urteil und fügte sich ihm in seiner notorischen Demut. Gehörte Diogenes der Kyniker in seinem Faß zur Elite von Athen oder Korinth? Er hätte sich totgelacht, wäre ihm diese meine Zumutung zu Ohren gekommen, Dr. Diogenes. Gehörte Jesus zur Elite von Jerusalem? Notwendig, aber schon die Frage ist ungehörig; anders bei Moses und Mohammed, die klarerweise zur Elite ihres Volks gehörten. Der Elitebegriff ist bei näherem Hinsehen untauglich für irgendeine eigene Wertbezeichnung, sondern kann nur als Begriff 154 | kapitel IV

untersucht werden, der faktisch in bestimmten Zusammenhängen benutzt wurde. Ohne lange zu recherchieren, können wir behaupten, dass der Völkische Beobachter Joseph Goebbels und Heinrich Himmler, auch Adolf Hitler, zur deutschen Elite zählte; nach 1945 waren viele Deutsche anderer Meinung: Nicht Elite, sondern Abschaum. Was nun? In beglückender Selbsterkenntnis kamen deutsche Philosophen bis 1945 zu dem Ergebnis, die Deutschen bildeten die Elite unter den europäischen und überhaupt allen Nationen. Nach 1945 wurde diese Erkenntnis als zeitbedingt aus dem Manuskript gestrichen. Vielleicht braucht jede Armee eine Eliteeinheit, die sich auszeichnet durch Skrupellosigkeit und militärisches Können. Gegen Adorno kommt es hier gerade darauf an, dass Gott nicht hinsieht, die Betroffenen sich aber als Elite fühlen und ihren Kampfgeist an diesem Selbstgefühl stählen und stärken. Brauchen Piraten- und Räuberbanden zur internen Sozialregulierung die Auszeichnung von Eliten? Wer gehört zur Elite der Camorra? Je nach Erfolg sind es die Häupter dieses oder jenes Clans, Cosimo und Paolo di Lauro oder Raffaele Amato. Der Wissenschaftsrat gehört angesichts seiner publizierten Prosa nachweislich nicht zur deutschen Elite, obwohl er sich selbst dazu zählen muß. Früher zählten sich Akademiker mit gelungenem Abschluß zur Elite der Nation, aber eben auch Dr. Dr. Joseph Mengele. Tierfreunde neigen dazu, bestimmte Renn- oder Springpferde als Elite ihrer Art anzuführen, und schon ist auch hier kein Halten mehr. Muß man trotz allem die Elite loben? Lieber nicht. Stattdessen sollten die Begabten gefördert werden, aber auch die Unbegabten aller Schichten, jedem das Seine und möglichst mehr. Zur Universität: »Durch eine gezielte Eliteförderung wird die soziale Ungleichheit zusätzlich verstärkt. Eine solche Strategie ist in einer offenen Gesellschaft, die den Wert der Chancengleichheit hochhält, grundsätzlich illegitim.«220 Also nicht den Namen, sondern die Sache: Gesucht sind Personen, die sich wirklich als Schüler, als Studierende, Hilfskräfte, Assistenten und Professoren/innen für Erkenntnis interessieren, die nicht hinhören und nicht hinsehen, wenn es attraktive Angebote von den Eliten der Discos, der Banken oder aus dem Perserreich die produktion von wissen | 155

gibt, die von dieser elitären Liebe des »Warum?« besessen sind, nicht im allgemeinen, sondern: Warum gibt es Schwarze Löcher? Warum ist am Anfang von allem vielleicht schon die Frage wichtig, ob sich etwas im Universum nach rechts oder links wendet? Gibt es Naturgesetze, bevor es Etwas gibt? Warum erlebte die Universität im 19. Jahrhundert einen überraschenden Aufstieg? Elitär? So elitär wie das Konservatorium, das sich ungern vom Stadtpfeifer (in Ehren) den Ton vorgeben läßt.

9. Und Bildung Die Reflexion über Bildung, die die Neuzeit seit der Aufk lärung begleitet, führt unweigerlich zurück zur griechischen und römischen Antike, in signifi kanter Weise nicht zum Alten und Neuen Testament. Die literarisch gebildeten Griechen grenzen die Sklaven und Handwerker und Bauern aus ihrer Bildungswelt aus, während die biblische Tradition eine derartige Grenzziehung nicht kennt. Es gibt Schriftgelehrte und Propheten, aber sie werden nicht als Gebildete den Ungebildeten und Halbgebildeten gegenüber gestellt. Dafür hätte Jahwe wenig Verständnis gezeigt.221 Platons Politeia ist ein Werk der Erziehung und Bildung; man wird bei ihm wie bei Aristoteles drei Gruppen im Hinblick auf ihre Bildung unterscheiden können. Einmal gibt es die verlorene Masse der Barbaren, die nach Aristoteles von Natur aus nur den Griechen gehorchen können, aber zu keiner Selbstreflexion in der Lage sind, zumal schon ihre »Sprache« ein bloßes Stottern ist, barbarar… (wie später Hottentotthott…). Sodann folgen die Halbgebildeten; zu ihnen gehören die Sophisten. Aristoteles spricht von ihnen als »apaideutoi« im Zusammenhang seiner Ethik.222 Die »apaideutoi« stellen an eine ethische Lehre gänzlich fehlplatzierte Forderungen einer mathematischen Exaktheit; der Gebildete weiß dagegen, so können wir schließen, um den Unterschied der »two cultures« und ihrer differenten methodischen Anforderungen. Während die Barbaren für die physische Reproduktion der Gesellschaft verwendet werden, mischen sich die halbgebildeten Sophisten in die kulturellen Dialoge und zerstören sie, wenn ihre Fehler nicht aufgedeckt werden. Daher bedarf es der Widerlegungen der sophistischen 156 | kapitel IV

Trugschlüsse in einer Logik des Scheins und andererseits der Logik der Wahrheit, der sich das später so genannte Organon widmet.223 Rousseaus Jahrhundertdiskurs über die durch keine feudalen Traditionen mehr legitimierte »inégalité parmi les hommes«224 dokumentiert einen Wandel in der Selbstwahrnehmung der europäischen Gesellschaft. Die Differenz von Gebildeten und Nichtgebildeten wird seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts mit einem Gefühl des Unbehagens und des schlechten sozialen Gewissens wahrgenommen, zuerst in England, danach auch auf dem Kontinent. Wie kommt es zu dieser Kluft , wie läßt sie sich begreifen und legitimieren? Es klingt hilflos, wenn der unfreiwilligen Unterschicht zugesichert wird, daß einige Kulturbrocken auch für sie vom Tisch herab fallen werden. Hegel gerät nach kurzer Reflexion auf die einfachste Lösung der Bildungsfrage: Er denkt an sich selbst und macht Latein- und Griechischkenntnisse zum Eintrittsbillett der Gebildeten. Das gilt mit einigen Bedenken fast bis 1968, wenn überhaupt über dieses humanistische Lieblingsthema geredet und geschrieben wurde. Man muß jedoch schon aus einer gegen soziale Probleme und die »inégalité parmi les hommes« gänzlich abgeschirmten Bildungsanstalt kommen, um gegen die Reflexion über den Ursprung der Ungleichheit und die Dialektik von Oben und Unten und Gebildet und Ungebildet ganz gefeit zu sein; das herausragendste Beispiel ist Friedrich Nietzsche, der für den nachfolgenden Bildungsdiskurs die wichtigsten Stichworte lieferte; die sozialen Zusammenhänge waren ihm bis zum Lebensende unbekannt. Der von ihm verachtete Ungebildete par excellence ist der Journalist; der Journalist (ephemeros) wagt es tatsächlich, für seine Tages-Lohn-Arbeit die deutsche Sprache zu benutzen und sie zu verunstalten. »Nehmt eure Sprache ernst! […] Erlangt ihr nicht so viel von euch, vor gewissen Worten und Wendungen unserer journalistischen Gewöhnungen einen Ekel zu empfinden, so gebt es nur auf, nach Bildung zu streben.«225 Konrad Liessmann, Wien, will sich am Ausmerzen der Journalisten beteiligen: »Der physische Ekel vor der journalistischen Sprache: Welcher Pädagoge wagte es noch, dies als das erste Bildungsziel des Deutschunterrichts, ja der höheren Bildungsanstalten überhaupt zu formulieren?«226 Welcher sensible Leser ist nicht schon in Ohnmacht gefallen bei der Lektüre von die produktion von wissen | 157

bombastischen, ewigkeits- und erhabenheitssüchtigen Phrasen der Gebildeten? Allen sei die Lektüre eines deutschen Journalisten namens Karl Marx empfohlen, der eine hinreißende, an antiken Autoren und Hegels Dialektik geschulte Prosa schreibt, punktgenau und witzig. Und Voltaire, der erste europäische Intellektuelle und Journalist. Bewundernswerte Texte blitzgescheiter Journalisten fi nden sich auch heute in den drei überregionalen Tages- (nicht Wochen-)zeitungen der Schweiz und der Bundesrepublik, nicht Österreichs, fast täglich. Man beachte besonders die Kunstprosa der Sportberichte nach artistischen Glanzspielen im Fußball. Besseres gibt es nicht. Hat Nietzsche überhaupt Zeitungen gelesen? Oder spürte er nur, daß Schmähreden über Journalisten gut ankommen?227 Peter Bieri entgeht nicht der Selbstbespiegelungsfalle, wenn er Bildung gegen Ausbildung stellt und die Bildung mit allen Orden umhängt, die uns sympathisch sind: ein Ausbund der Sittlichkeit, der Umgänglichkeit, auch der Liebe, der Humanität und Weltgewandtheit, der Kenntnis der Literatur und aller anderen Musen. Wir sind gerührt.228 So schwer ist es, heute über Bildung unter der Bedingung der verleugneten »inégalité parmi les hommes« zu reden. »Charakter. Worauf es bei der Bildung wirklich ankommt« – man wird auch Stalin einen stabilen Charakter nicht absprechen. Es bedarf also noch eines Zusatzes, der ihm den Zugang zu den Gebildeten versperrt. Die Universität als Anstalt der gezielten bestimmten Bildung? Diese Idee scheitert vermutlich an zwei Tatbeständen, an der Beliebigkeit der feinen Inhalte und der Bedingung »Wenn, dann prinzipiell für alle«. Sowohl die Demokratisierung der Inhalte wie auch die Sozialisierung der Studierenden sind kein Jux der Regierung, die man abwählen wird, sondern das konsequente Resultat der Geschichte, die der Gleichheitstendenz der demokratischen Gesellschaft nolens volens folgt. Die Inhalte der Bildung haben ihren verbindlichen inneren Wert verloren, wie die Neuzeit fast bis 1968 der Antike und einem vagen Christentum beimaß. Je nach gustus des Lehrers kann jetzt ein neueres Gedicht ausgedruckt und je nach gustus können bestimmte Zeilen mit Farbe markiert und interpretiert werden. Wie das dauerhafte Buch, so fehlt der verbindliche Kanon der Werke, denen ein besonderer, unersetzlicher Bildungs158 | kapitel IV

wert beigemessen wird. Die Werke nicht der Erkenntnis, aber des Wissens dürfen nur kurz sein, bitte weiter. Und zweitens: Wenn Bildung Menschenbildung ist, dann bitte Bildung für alle. Daß dies nicht möglich ist, weil es in diesem Sinn bildungsresistente Menschen gibt, die lieber Karten spielen als schon wieder etwas von Eratosthenos zu hören, weiß jeder, und keiner darf es öffentlich sagen. Die Egalisierung aller Inhalte und aller Opfer ergreift auch die Egalisierung aller Lehrenden: VolksschullehrerInnen, HauptschullehrerInnen, StudienrätInnen und ProfessorInnen, sie sind im Auge des Gesetzes und der Erlasse allesamt künft ige und gegenwärtige, von der Bürokratie und ihren gleichen Löhnen geduckte Lehrerinnen und Lehrer. Etwas pauschalisierend, aber in der Tendenz völlig richtig endet Günter Zöller seinen Beitrag zur »Menschenbildung und staatspolitischen Erziehung beim späten Fichte« folgendermaßen: »So mußte dann aus der politischen Bildung die Erziehung zum Staatsdienst, aus dem Lehrer der Staatsdiener und aus der Freiheit der einsichtige Gehorsam werden. In der jüngeren deutschen Geschichte hat nun zwar die antidemokratische politische Bildung ihr einstweiliges Ende gefunden, doch ist an ihre Stelle nicht eigentlich die Bildung des freien Menschen getreten, sondern die schulische und hochschulische Ausbildung des Individuums für den Beruf, der ihm die Teilhabe an der wirtschaft lichen Prosperitätsspirale von Erwerb und Verbrauch ermöglicht und der ihn in der sog. Freizeit den vorgefertigten Lebensentwürfen seines Milieus überantwortet. Mit der rezenten curricularen Verengung und zeitlichen Verkürzung des Studienverlaufs auf die berufliche Qualifizierung und der damit einhergehenden faktischen Erledigung der alten Philosophischen Fakultät und ihres Lehrprogramms der freien, eines Freien würdigen Künste (artes liberales) hat sich die deutsche Universität weitgehend selbst entmachtet zur willfährigen Berufsschule für die höheren Einkommensgruppen. […] ist die deutsche Universität dabei, in Serie den Bildungsbanausen zu fabrizieren, dem das erforderliche Fachwissen in prädigerierter Form durch ein standardisiertes Curriculum (»Module«) im Umfang eines leicht erweiterten Grundstudiums – unterstützt von eigens für ihn verfaßten Studientexten, Handbüchern, Examenshilfen und anderen Paukutensilien – schnell und schmerzlos ins Kurzzeitgedächtnis die produktion von wissen | 159

befördert wird, während freie Bildung wieder einmal und bis auf weiteres den happy few vorbehalten bleibt.«229 Die Bildung ist für die moderne Universität kein zentrales Problem. Die Vorlesungen und Seminare sind wöchentliche Schnittpunkte in den Biographien von Senioren und jugendlichen Motorradfahrern, die in ihre Wohn- und Arbeitsstätten zurückrasen, von neugierigen begabten Schülern, von jungen Großmüttern und erkenntnisversessenen Prostituierten, Dozenten und Türstehern aus fernen Orten230 – wer kann und will das alles wissen, aber es ist ein Fakt. Wer will und kann wen mit einer Bildungsidee nachhaltig beeinflussen? Die eigentliche Universität hat stattdessen eine invariante Orientierung, die wertvoller ist als das ganze persische Königreich: Sie ist der kritischen Erkenntnis und ihrer Vermittlung, der Forschung und Lehre verpflichtet und nichts anderem. Wer dadurch nicht nebenbei auch gebildet und vom Ethos der Erkenntnis angeweht wird, dem wird man auf dieser Erde nicht helfen können. Von den genannten Personen wird niemand ausgeschlossen.

10. Corporate Identity Die Identitätsstiftung ist für jede Universität ein Problem und eine nie endende Aufgabe – woher kommen wir, wohin gehen wir, wer sind wir? Keine beliebige Institution, sondern die ehrwürdige Universität in Greifswald, Bayreuth, Tübingen. Identität oder Selbstbewusstsein, auch die Universitäten müssen sich selbst thematisieren und sich ihrer selbst in identitätsstiftenden Szenen wie Festen, Schriften, Jahresfeiern vergewissern. Die Selbstdarstellung aller Universitäten wurde von ihren besten Mitgliedern unterstützt, es war die Alma mater, der jeder, der ihr zugehörte, unendlich viel verdankte. Die Vorstellung der Identitätsbildung leitet sich ab von John Locke, der 1694 zum ersten Mal in der Kulturgeschichte das Problem der »personal identity« artikulierte und für den Menschen zu lösen versuchte.231 Aber auch juristische Personen haben eine Identität, die zum Problem werden kann. Kant und Humboldt haben nicht an die Frage der Identität der einzelnen Universitäten gedacht, aber die Situation hat sich geändert, heute steht die Identität auf der Tagesordnung, nicht nur in Drittländern, sondern in 160 | kapitel IV

den Institutionen mit einer langen Geschichte. Die Mitglieder sind aufgerufen, sich an identitätsbildenden Maßnahmen zu beteiligen, wie dies bei den Alumni-Vereinen geschieht. Die Universität ist großzügig, sie ermöglicht auch die Existenz des maulenden Abseitsstehers und dessen, der arrogant und undankbar kommt und geht und nur profitiert. Die Identitätsstiftung der einzelnen Universitäten ist eingebettet in die Kultur des jeweiligen Landes, sie ist anders in Rom als in Sevilla oder Prag und Harvard – wieder ein unendliches Feld spannender Analysen, abzulesen an den Dokumenten der Centenarfeiern oder der neueren Prospekte, mit denen die Universitäten in die Welt der Werbung eintreten. Wie sieht sich die Universität, wer und was bestimmt das Bild, das sie von sich selbst entwirft und mit dem sie vor die Öffentlichkeit tritt? Es ist zu befürchten, dass die üblichen Maßnahmen kontraproduktiv sind, dass sie zu einem image der Universität führen, das mit ihrer eigentlichen Identität nichts zu tun hat. Man nehme die an vielen deutschen Universitäten in Hochglanz gedruckten »Unijournale«. Ihr Programm ist »corporate identity«, aber genau das geht an der Identität vorbei. Keine kontinentaleuropäische Universität hat eine englische oder amerikanische Identität, und keine Universität ist eine Firma, die ihre »corporate identity« aus marktstrategischen Gründen strahlend darstellen muß. Die üblichen Unijournale sind nicht unterschieden von Firmenblättern, die sich dem Kunden und Käufer anpreisen. Good job der Bürokraten in den Presseabteilungen. Es glänzt alles in Freude und Erfolg, so die Einrichtung vorzüglicher Kinderkrippen und der Zentren der Begegnung. Man prüfe: Gibt es einen Bericht über das Scheitern der Bologna-Administration? Über die Zerstörung von Existenzen von Studenten durch die Plan-Wahnvorstellungen der zahlenverhexten Bürokratie? Berichtet jemand über das Scheitern der Versuche, den Universitätsort zu wechseln? Wird die in den überregionalen Zeitungen geführte Debatte um das Pro und Contra von Bologna wahrgenommen und fortgeführt? »Neue Studiengänge machen krank«, ist das Resümee der Untersuchung der Max-Traeger-Stift ung, vorgelegt zum zehnten Jahrestag der Einführung von Bachelor und Master. Unsere teuren Hochglanz-Journale berichten darüber so wenig wie das Neue Deutschland über die Republikflucht. Die Idendie produktion von wissen | 161

titätsorgane, die Journale der Universitäten, sind auf dem Niveau ja-sagender Firmenwerbung angelangt, no problem, please. Dieser Befund paßt gut zum Weggang fi nanzkräft iger Studierender an private Universitäten mit frischer passender »corporate identity«.

11. Das größte Problem Im Gorgias versucht Platon, die Rhetorik zu demaskieren; er vergleicht sie niederschmetternd, so meint er, mit der Kochkunst: »Was ich nun meine, dass die Redekunst sei, hast du gehört, nämlich das Gegenstück zur Kochkunst, für die Seele, was diese für den Leib.«232 So wie die Köche nur empirisch vorgingen und die leiblichen Lüste der Menschen zu erregen suchten, so auch die Rhetorik, die die Menschen stimuliere, ohne auf ihr wirkliches geistiges Wohl zu achten. Die Rhetorik sei eine bloße Praxis oder Technik für beliebige Zwecke, die Philosophie dagegen eine Wissenschaft vom wahrhaft Guten. Der moderne Koch wird den Vorwurf nicht anerkennen, zu Recht; er sucht, so weit er kann, die Gesundheit seiner Kunden zu fördern und verfügt zunehmend über ein umfangreiches Wissen und auch Erkennen. Dasselbe gilt für einen großen Bereich des früheren Handwerks; das Wissen dringt in die Poren ihres Tuns, der Bauer und Friseur müssen über beachtliche Kenntnisse verfügen, um ihren Beruf in Europa zeitgemäß auszuführen, alles versehen mit dem Gütestempel »Wissenschaft«. Die Invasion der Wissenschaft wird manchmal im Sprachwechsel deutlich, aus dem Wandern wird ein wissenschaft lich überprüftes, genau dosiertes »walking« etc. Die pure Empirie verschwindet vor der subtilen Durchdringung aller Lebensbereiche mit theoretisch begründetem Wissen. Kochschule und Fahrschule, Tanzschule und Maniküre, jede Reklame; auch die Folterpraxis des CIA folgt einem wissenschaft lich entwickelten Verhörsystem, alles ist durchsetzt mit Theorieteilen und wissenschaft lichen Erkenntnissen. Wer sich für die theoretischen Aspekte näher interessiert, kann diese in den Medien finden. Bei Google steht alles, vermutlich auch nach längerer Recherche die wissenschaft lich korrekte Folter in ihren verschiedenen Graden. 162 | kapitel IV

Das Gütesiegel »wissenschaft lich erwiesen« wird den kuriosesten Kundgebungen verliehen. Es ist von international renommierten Instituten wissenschaft lich erwiesen, dass die Abholzung der Regenwälder das Weltklima nicht negativ beeinflusst, dass es ein religiöses Zentrum im Gehirn gibt, dass jeder Denkprozeß auf einen neuronalen Prozeß zurück geführt werden kann und dass Delphine und Rabenkrähen klüger sind als Menschen, speziell Studenten. Wenn es im § 2 des Hochschulrahmengesetzes heißt, die Universität diene »der Pflege und der Entwicklung der Wissenschaften«, so wird man kaum eine Tätigkeit nennen können, die keinen Anspruch erheben könnte, Universitätsdisziplin zu werden. Das exponentielle Wachstum der Fachpublikationen muß Folgen für die universitäre Forschung und Lehre haben. Die Zahl der Fachpublikationen wächst in einer so immensen Weise, dass schon die Titel der eigenen Fachzeitschriften nicht alle bekannt sind. Eine grundsätzliche Orientierung der Wissenschaft liefert die Wissenschaft sgeschichte; erst die historische Besinnung ermöglicht ein sachgemäßes Selbstbewusstsein der Wissenschaft und damit eine Kenntnis zentraler oder nur marginaler, aber als sensationell gefeierter Fortschritte. Wie beim Menschen zum Personsein das Gedächtnis gehört, so in den Disziplinen zur Fachkenntnis die Geschichte der Disziplin. Aber wie kann die Übersicht des Unübersichtlichen erzeugt werden? Einerseits hat die Universität ihre Erkenntnisse an außeruniversitäre Bereiche delegiert und diese epistemisch aufgewertet, andererseits ist sie überflutet von Disziplinen, die mit strenger Wissenschaft nichts zu tun haben, sondern empirisches Material ordnen und praktisches Können anleiten. David Hume endete seine Inquiry Concerning Human Understanding (1748) mit der lakonischen Aufforderung, Bücher, die keine mathematischen Untersuchungen und experimentelle Erörterungen von Gegenständen der Erfahrung enthielten, ins Feuer zu werfen: »Commit it then to the flames, for it can contain nothing but sophistry and illusion.«233 Alles läuft auf den Nutzen hinaus. Der Nutzen wofür? Die Antwort ist einfach: Für ein besseres Leben der Menschen. Aller Forschungsaufwand muß sich an dieser Zweckvorgabe bewähren: Führt die Forschung dazu, dass es den die produktion von wissen | 163

Menschen besser geht, dass sie besser mit sich und der Natur zu Recht kommen? Wenn nicht, sollte man die Forschung einstellen. Und wie steht es mit der Reflexion über die Richtigkeit dieser Meinung? Wenn sie vom Nutzkalkül geleitet wird, braucht man sie nicht; erklärt sie sich frei vom Nutzen, fliegt sie auf den Scheiterhaufen. Erkenntnis gegen bloßes Wissen – wie läßt sich hier eine praktikable Grenze ziehen? Auch Erkenntnis wird im Wissensmanagement dingfest gemacht. Wie kann man das aufgehäufte GoogleWissen, abrufbar für jede Hausarbeit in der Schule, von der originären Erkenntnis unterscheiden, die zu demselben Ergebnis kommt? Wie also läßt sich Erkenntnis gegen vorfabriziertes oder nur fabriziertes Wissen und Meinen auszeichnen, wenn sie eine Erkenntnisgeschichte fortschreibt, die nur als Aggregat von Wissen und Meinen angeeignet werden kann? Naturwissenschaft ist jetzt das Ergebnis einer gerätegestützten Forschung eines Teams; die Geräte, die als Mitarbeiter tätig sind, akkumulieren ein Wissen, das niemand mehr durchschauen, sondern nur benutzen kann. In den einzelnen Disziplinen ist die Grenzziehung ein wichtiges Problem. Ist das Studium einer romanischen Sprache möglich ohne gründliche Lateinkenntnisse? Was heißt »gründlich«? Auch PlautusLektüre? Wo liegt genau die Grenze zwischen Universitätsinstitut und Sprachschule oder privat betriebenem Chemielabor? Ist die Unterscheidung von Wissen und Erkennen in der Praxis ein bloßes Phantom? Die Parteien, die die Politik der europäischen Demokratien bestimmen, werden notwendig Lehrstühle der reinen Theorie streichen, um die Gunst der Wähler zu behalten und dadurch ihre guten menschennahen Ziele durchsetzen zu können. Die Schaff ung neuer Krippenplätze, subito, hier und heute, dies versteht jeder, die Förderung der Aristoteles-Forschung kaum. Die Demokratie hat unvermeidlich diese theoriefeindliche Tendenz, sie wägt die Fächer nach dem Kriterium des Nutzens und Nachteils für das Leben, für die Menschen wie du und ich. Dabei kann man auf eine lange Tradition des fundierten Abweises von Gelehrsamkeit und Theorie zurückgreifen. Sie beginnt mit Platons Zeitgenossen Diogenes dem Kyniker, der von den Platonischen Ideen und dem Studium generell nichts hielt,234 geht zu Seneca, zum Heiligen Franziskus, zur 164 | kapitel IV

Heiligen Elisabeth und auch zu allen Gegnern der Aufk lärung, die sich in der falschen Romantik fanden; Nietzsche voran, sodann die Bewegung von 1968 zehren von dieser Anti-Theorie-Richtung, wie Rüdiger Safranski schön gezeigt hat.235 Legitim und erhaltenswert ist die Forschung und Lehre nur, wenn sie sich als gesellschaft lich nützlich oder nützlich für das Leben ausweisen kann. Sanskrit? Assyrologie? Wozu? Geht es den Menschen, dem Leben besser, wenn man das Fach erhält? Nein? »Commit it then to the flames«. Wie wird mit den Fächern verfahren, die dem Kriterium des Nutzens nicht genügen? Das beste Argument ist die Bestandswahrung. Es gibt die Fachbibliothek, die Zeitschriften, die Stellen, die qualifizierten Personen. Dieser Bestand hat sein eigenes Gewicht, und Personen, die sonst auf der Lebens-Nutzen-Seite stehen, möchten dieses Stück Wissenschaftskultur ungern auf den Scheiterhaufen werfen. Bewahren aus Pietät? Wie immer, viele Disziplinen der akademischen Erkenntnis gehören zu den lebendigen europäischen Kulturleistungen und sollten deswegen ohne Wenn und Aber erhalten bleiben. Bei den sog. Klassikern hat sich mit guten Gründen das Prinzip der Vollständigkeit durchgesetzt. Es wird in der Fichteschen Gesamtausgabe alles publiziert, dessen die Herausgeber habhaft werden konnten. Dafür gibt es zwei Gründe: Einmal könnte die spätere Forschung eine heute als marginal angesehene Äußerung als das Zentrum der Fichteschen Philosophie erkennen, und zum anderen wird es in der absehbaren Menschheitsgeschichte keine weitere Edition geben. Es ist die letzte, so wissen wir, vor dem Jüngsten Gericht, und sie soll und wird dem finalen Urteil gerecht werden, weil sie nichts versäumt hat. Dasselbe gilt für andere KlassikerTexte. Das Komma, das unsere und die jetzt folgende Generation in der Edition nicht berücksichtigen, wird zur ewigen Verdammnis führen. Das Prinzip der historischen Treue ist janusköpfig: Auf der einen Seite muß es die historisch-kritische Edition leiten, auf der anderen Seite führt es zu der materialistischen Unterstellung, es gebe die 1 zu 1 – Edition des Originals ohne subjektiven Eingriff. Jede Edition setzt jedoch Kenntnisse und Entscheidungen voraus, sie ist daher gut oder schlecht, und letzteres sicher beim bloßen Abdruck des vorgefundenen Materials. Editionen besonders der klassischen Audie produktion von wissen | 165

toren sind ein kostspieliges Unternehmen, das Streichen einer Silbe kann zum größten Problem werden, und man schließe Türen und Fenster, damit das nicht eingeweihte Publikum und die Verwaltung nicht hören und sehen, worum hier mit großem Zeitaufwand gestritten wird. Die Bologna-Bürokratie hat den Brauch zerstört, daß auch frühe Semester an Sitzungen der Editions-Kommissionen hospitierten und so einen Eindruck von der philologischen Arbeit bekamen. Die Zeitverwaltung im Bachelor-Studium nötigt die Studierenden, auf einen derartigen Erkenntniserwerb zu verzichten – die Planwirtschaft reguliert das Studium nach ihrer mediokren Weltsicht. So zeichnet sich ab, daß die Universitäten sich im BachelorBereich zu einem Schulsystem unter der Ägide von Rechnungseinheiten der Bürokratie entwickeln und in den weiterführenden Semestern zu forschungsnahen, aber von Drittmitteln abhängigen und dirigierten Studienformen werden. Was also wird aus dieser, von den unvergorenen Kalkülen der Wirtschaft geleiteten Universität? Wozu noch Universitäten, und welche? Es bleiben vier Wege. Die herkömmliche Universität wird erstens aufgelöst, indem man die lebensfähigen Teile privatisiert; oder sie wird zweitens überführt in ein einheitliches Mediensystem; oder drittens: sie bleibt als Hochschule erhalten, wie sie ist; oder viertens: sie versucht, sich aus sich selbst zu bestimmen und allmählich zu sanieren. Die beiden ersten Möglichkeiten und die letzte werden im folgenden letzten Kapitel erörtert.

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V. Wozu noch Universitäten? Und welche?

1. Die Rechtfertigung von Erkenntnis Die Erkenntnis ist abzugrenzen gegen zwei Fronten. Das eine ist das Erzeugen und Weitergeben von Wissen, das andere ist paradoxerweise die Wahrheit. Am Wissen ohne Wenn und Aber sind alle Verwender interessiert, die nicht die kritische Erkenntnis, sondern das fertige »know how« verwerten möchten. An der gesicherten Wahrheit ist die mächtige, absolutistische Orthodoxie der Religionen interessiert, die gegen den kritischen Geist der Wissenschaft besonders seit der Aufk lärung ihre fundamentalen Bedenken geltend macht. Alle bestimmte Erkenntnis ist dagegen provisorisch; sie entspringt der Frage und der Kritik, und sie verfällt der Kritik. Demokrit beruft sich auf seine eigene Forscherneigung. Wie andere Menschen geborene Musiker oder Maler, Akrobaten oder Helden sind, so ist sein genetisches Programm gewissermaßen auf das Forschen festgelegt. Kant: »Ich bin selbst aus Neigung ein Forscher. Ich fühle den ganzen Durst nach Erkenntnis und die begierige Unruhe, darin weiter zu kommen oder auch die Zufriedenheit bei jedem Erwerb.«236 Der Forscher spürt die Wissenschaft als seine Berufung und möchte sie im Beruf verwirklichen. Er kann sich gut mit Sherlock Holmes und Miss Marple verstehen, die überglücklich sind, wenn jemand ermordet wird und sie den Fall aufs eleganteste lösen können. Ein Königreich für die Spur, die zu den Mördern führt. Aber man sieht nicht, warum die Gesellschaft und der Staat sich die Ursachensuche eines Demokrit oder Einstein oder Sherlock Holmes zu eigen machen sollen. In zwei anderen Varianten ist es nicht der subjektive Forschertrieb, der die Erkenntnistätigkeit auszeichnet, sondern die Werthaft igkeit der Gegenstände, mit denen sich die Wissenschaft ler befassen. Zwei Varianten: Die erste ist die Ideenerkenntnis von Platon, die zweite die christliche Gottes- und Naturerkenntnis. Platon: Nur die abschließende Idee des Guten als solchen kann der | 167

Erkenntnis ein letztes »Wozu?« liefern; wenn dieses letzte Gute dagegen fortfällt, bleibt alle interessefreie Erkenntnis Narretei und subjektive Idiosynkrasie. Die reine Theorie ist jedoch ontologisch ausgezeichnet, sie ist die höchste menschliche Tätigkeit, weil sie es mit dem höchsten Sein zu tun hat. Entsprechend ist die reine Theorie wertvoller als alle Praxis, der reine Philosoph muß sich zwingen, der erste Politiker seines Ideenstaats zu werden; Großkönig im Iran käme für ihn sowenig wie für Demokrit in Frage. Aristoteles folgt hierin Platon: Die reine Theorie ist von der höchsten Dignität überhaupt. Die reine Erkenntnis wird bei Platon zur Gipfeltätigkeit in der Polis, die von den Philosophen regiert wird. Es genügt dieser Hinweis, um zu sehen, dass Platons Grundlegung nicht neuzeitfähig ist; sie wurde durch die Rechtskonzeption des auf die Stoa gestützten römischen Rechts verdrängt, desgleichen auch die Aristotelische Konzeption, die auf einer vermeintlichen Erkenntnis der Natur des Menschen als eines zoon politikon beruht. Die zweite Variante, die die Erkenntnis auf einen werthaften Bereich bezieht und dadurch auszeichnet und freisetzt von allen niederen Diensten, wird in der stoisch-christlichen Tradition entwickelt; hier ist die Naturerkenntnis Gottesdienst, denn sie feiert, besonders in der Teleologie, den Schöpfer in seinen kunstvollen Geschöpfen. Damit wäre die unvergleichliche Dignität der Naturforschung gerettet, und die Forscher könnten in die Theologische Fakultät einziehen und bei Prozessionen und in der Gehaltsliste allen anderen voranschreiten. Nun ist besonders die Biologie durch Kant und andere Philosophen enttheologisiert worden, und wir stehen im Grunde wieder beim Materialisten Demokrit. Der Kampf um Darwin und die Hirnforschung zeigt, wie prekär dieser sonst praktikable Konsens ist. Die Vorstellung, die hier an die Stelle von Demokrit, des Platonismus und des Gottesdienstes gesetzt wird, wurde schon in verschiedenen Zusammenhängen angesprochen; es ist das fundamentale Interesse und das Recht des aufgeklärten, aufk lärungsbedürft igen Bürgers und damit der Gesellschaft, über akademische Freiräume einer zweckfreien Erkenntnis zu verfügen. Darauf wird später noch einmal eingegangen.237 Wir teilten die Universitätsentwicklung unter diesem uns interessierenden Gesichtspunkt in drei Phasen ein: 1. Die städtische 168 | kapitel V

und feudale Universität von 1200 (erste Universitätsgründungen in Bologna und Paris) bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts; 2. Die bürgerlich-nationale Universität bis zum Ende des 20. Jahrhunderts; 3. Die globale Universität der Gegenwart und Zukunft. Die erste Epoche endet idealiter zugleich mit dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation 1806; die zweite 1968 mit der Überführung zur Massenuniversität und den Reformen nach Bologna. In der ersten Epoche ist die Institution der Universität nach einer ersten Phase kommunaler Initiativen letztlich ein Rechtsakt der feudalen Herrscher; sie glaubten, es sei für das Wohl ihrer Staaten wichtig, das Heil der Seele, die Unversehrtheit und Gesundheit der Körper und die Grenzen und Sicherheit der äußeren Güter der Untertanen einheitlich zu gewährleisten. Daher drei obere Fakultäten zur Ausbildung der Seelsorger, der Ärzte und der Juristen. Die untere, Philosophische Fakultät hatte eine propädeutische Funktion. Diese obrigkeitsbestimmte Universität verwandelte sich im 19. Jahrhundert in eine national-bürgerliche, ohne dass der Name aufgehoben wurde. Eine Neubenennung hätte deutlich gemacht, dass die konstellativ-feudale Ordnung und die Zeit der Stände und der Untertanen beendet sind. Für die neuen Studienanstalten nach 1968 gibt es einen neuen Mandanten und damit zugleich eine neue Rechtsgrundlage. Der neue Mandant ist die Zivilgesellschaft; die eher ideelle als reale Rechtsgrundlage ist ihr Auft rag der freien Forschung und Lehre in Gebieten, die einer methodischen, wissenschaft lichen Bearbeitung zugänglich sind. Wenn die Universitäten der Ort freier Forschung und Lehre sind und einem Recht der modernen Gesellschaft entspringen, über den Stand der Erkenntnis in den wesentlichen Bereichen von Natur und Kultur informiert zu werden, dann hat die Universität nicht nur das alte Recht der Aufk lärung, die eigene Meinung publizieren zu können, sondern die Pflicht von Forschung, Lehre und Mitteilung. Das Interesse und das Recht der Zivilgesellschaft bestehen nicht in der Einrichtung von Wahrheitslabors, die ihre Ergebnisse kodiert an andere Labors weitergeben. Sie will einen Ort der Erkenntnis, die von keinen externen Direktiven abhängt, an dem die dazu nötige Forschung mit der Lehre und andern Formen der Mitteilung verbunden ist. Wenn etwas an der Polemik gegen den Elfenbeinturm der Gelehrten berechtigt ist, dann in der wozu noch universitäten? und welche? | 169

Abwehr einer Forschung und Lehre, die nur sich selbst verpfl ichtet ist. Die These der folgenden Ausführungen lautet: Die Universität kann nur sinnvoll gedacht werden als die Institution und der Ort, an dem Forschende und Lehrende die Erkenntnis in ihren einzelnen Disziplinen betreiben und die Ergebnisse für die Zivilgesellschaft zugänglich machen. Die Idee dieser Erkenntnis wird bei Demokrit und Platon formuliert. Demokrit dachte offenbar an die Erkenntnis als individuelle Lebensbestimmung, Platon dagegen zielte auf eine wenn nicht dialogische, so doch gemeinsame Erkenntnis, die er in der Akademie verwirklichen wollte. Wir folgen dieser doppelten Platonischen Bestimmung, ergänzen sie jedoch um eine weitere Forderung. Die Universität benötigt den Staat (oder ein Analogon) zu ihrer konstanten Erhaltung. Die einzelnen Disziplinen finden ihr Korrektiv und ihre Leitlinie in der internationalen Auseinandersetzung um die jeweiligen Sachfragen; sie sind also nicht steuerlos sich selbst überlassen, sondern finden überprüfbare Kriterien ihrer Fähigkeit in den Standards, die durch parallele Institutionen weltweit gesetzt werden und in Publikationen abrufbar sind. Geraten die Vertreter eines Faches an der Universität in niveaulose Abwegigkeiten und sind nicht öffentlichkeitsfähig, muß man den Kräften der Selbstheilung bei gleichzeitiger universitärer und ministerieller Einhilfe vertrauen. Es wurde oben eine Äußerung Richard Münchs zitiert, in der er den einzelnen Professor der Korporation entgegen stellt: »[…] die Garantie der Freiheit von Forschung und Lehre als Recht der einzelnen Professoren, aber nicht als Recht ihrer korporativen Selbstverwaltung […].«238 Das Letztere ist sicher vorzuziehen, wenn die Selbstverwaltung nicht die Initiative des kreativen Einzelgängers verschandelt. Nicht unwichtig ist das Problem der Identität eines Instituts oder einer Universität; wenn kontinentale Universitäten sich um eine »corporate identity« bemühen, ist mit diesem Titel schon alles verloren, denn die Identität läßt sich nicht durch Azubis auf Amerikanisch stiften, sondern nur durch den kenntnisreichen Rückgriff auf die eigene Geschichte stärken. So ungebildet sind die Akademiker nicht, um auf die falsche »corporate identity« hereinzufallen. Dasselbe gilt für die Institute, die ihre korporative Einheit und korporative Verpflichtung der Mitglieder kaum ohne 170 | kapitel V

Geschichte erstellen können. Die Geschichte entlastet von der Anstrengung, Gemeinsamkeit demonstrieren zu müssen, und kann vom Einzelnen mit Profit eingesetzt werden. Wenn die Universität als sinnvolle Korporation mit administrativen Einheiten an bestimmten Orten überleben will, dann ist sie angewiesen auf das Lebenszentrum des Erwerbs und Austausches von Erkenntnissen. Der isolierte, nicht vernetzte Gelehrte ist ein Relikt der Geschichte. Die Lehre ist die erste Stufe der Mitteilung, die Publikation die zweite. Bei dieser zweiten muß eine Differenzierung gegenüber dem Öffentlichkeitsbegriff der Aufk lärung vorgenommen werden. Der mündige Bürger fordert, dass er Einsicht erhalten kann in die Ergebnisse der wissenschaft lichen Forschung. In der Sphäre der Mitteilung sind darüber hinaus viele Formen denkbar, in denen die Universität sich vorstellt. Dies kann in der Form des nur in Deutschland erfolgreichen »Studium generale« geschehen, durch Tage der »Offenen Tür«, der Präsentierung von Wissenschaft in den Schulen. Es ist erstaunlich, welche Erfolge derartige Initiativen haben können. Man sollte sie in den Pfl ichtenkatalog der Hochschullehrer aufnehmen. Es kommt ein wichtiger Gesichtspunkt hinzu. Die Universität als Ort der Erkenntnis ist ein Desiderat der Zivilgesellschaft, die Aufk lärung über die vielfältige Wissensproduktion sucht und wissen will, »wie es eigentlich gewesen ist« und ist. »Bildung für alle« ist kein Slogan, alle mit Gewalt ins Studium zu zwingen, wohl aber, die für die Demokratie notwendige Bildung allen zukommen zu lassen. An diesem Projekt der Selbstrekrutierung demokratiefähiger Bürger ist die Universität zu beteiligen; sie hilft mit ihrem Erkenntnispotential die Institutionen zu kreieren oder zu erhalten, die die »Bildung für alle« befördern, nicht durch die aussichtslose Teilnahme am asketischen Studium, sondern die Lust an der Erkenntnis, die schon Aristoteles allen Menschen testiert. Ohne diese Durchbildung der Bevölkerung wird die Universität ihren Halt in der Demokratie verlieren und zum Instrument der Industrie und ihrer Kader degenerieren.

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2. Rücknahme der Bologna-Ausführungen? Das Studium beginnt mit einem Proseminar oder analogen Veranstaltungen. Deren Inhalt und Vorgehensweise wird ausschließlich durch die wissenschaft liche Funktion bestimmt: Die Elementarkenntnis der jeweiligen Disziplin, das technische Vokabular, die Literatur zum Fach und seiner Geschichte, exemplarische Gegenstände, Bilder, Musikstücke, Texte. Diese Seminare sind der Ort einer sachbezogenen Neugier, eines experimentierenden Umgangs mit der Erkenntnisgewinnung statt bloßer Information und anzuhäufendem Wissen. Die Einweisung in das Erkenntnishandwerk einer Disziplin ist elementar für jedes Studium überhaupt und wird bei allen späteren Studien vorausgesetzt. Richard Münch beklagt, »dass die interdisziplinäre Forschungsorganisation eine Vernachlässigung der Ausbildung in den disziplinären Grundlagen zur Folge hat.«239 Aber mit guten, auf das eine Fach konzentrierten Pro- und Mittelseminaren kann eine Universität sich nicht in Szene setzen; »interdisziplinär« hat schon einen helleren Klang und imponiert auch dem Feuilleton, während über gelungene Seminare nichts berichtet werden kann. Also unser Votum: Eine Universität der gelungenen Eingangsveranstaltungen, ganz auf das Fach konzentriert, suggestiv und begeisternd, abschreckend für alle, deren Gene abwinken. Es wird häufig von der Bildung auch in sittlicher Hinsicht gesprochen, die mit dem Studium verbunden sein soll. Ein Pluspunkt einer gut fundierten Erkenntnis liegt in der Tugend des Mutes, den sie benötigt. Es werden in den Seminaren Publikationen durchleuchtet im Hinblick auf ihre Sachhaltigkeit. Der Mut zeigt sich nicht im schweigenden Mitgehen, sondern im Einwand. Z. B.: Die Schrift zur Freiheit sei, so heißt es, Schellings bedeutendstes Werk – der Laie folgt dieser Behauptung ehrfürchtig; der in Erkenntnis und Kritik zum Mut Gebildete hält ein und fragt, ob sie begründbar ist. Natürlich nicht; die Behauptung ist die Besetzung einer Position zur Machtgewinnung, zur Einschüchterung des Lesers, denn sie kann weder nachgewiesen noch widerlegt werden. Ein zweiter, damit zusammen stimmender Grund wird sein, daß der Interpret Schellings Freiheitsvorstellung für seine eigene benutzen kann, auch hier also: eigene Macht statt neutraler Erkenntnis. Habe 172 | kapitel V

Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, ist die Losung und Stärke der Universität. Der jämmerliche Ruf, das alles tauge nicht für die Praxis und komme im späteren Leben nicht vor, zeigt nur an, dass jemand nicht begriffen hat, worum es geht. Der Praxis wird es lieber sein, dass jemand wenige Semester mit exemplarischem kritischem Erkenntniserwerb zu tun hatte, als dass er oder sie Informationen in sich hinein stopfen musste und auf einem Arbeitsmarkt steht, für den diese Informationen längst veraltet sind. Was das höhere Wissensmanagement schon nicht mehr zu interessieren braucht. Nach einem in Bologna festgelegten ersten Zyklus von 6 Semestern kann den Studierenden ein Zertifi kat ausgestellt werden, das die Universität verantworten kann: Kenntnisse eines bestimmten Niveaus, das das jeweilige Fach möglichst genau inhaltlich markiert, ob es sich um Chemie, Mathematik oder Anglistik handelt und, wenn die Bürokratie die Zügel in der Hand behält, auch Jura und Medizin. Diese Leistungen sind per se frei transferierbar und könnten durch die Aufnahmeuniversität problemlos kontrolliert werden. Der Arbeitsmarkt steht dem Absolventen mit einem Zertifi kat und den angeführten Leistungen genauso offen wie demjenigen, der die Universität mit Ziffern auf einem Bachelordiplom verlässt; die aufnehmende Firma wird auf jeden Fall wissen wollen, welche Kompetenzen er oder sie erworben hat. Auf der Universität sind diese Fähigkeiten fachbezogen und akademisch. Die Bestätigung eines bestimmten Erkenntnisstandes beim Abschluß des ersten Zyklus in der Angabe, worin diese Erkenntnis besteht, könnte auf Englisch beigefügt werden, so dass man in Lissabon (und Caracas, bitte) weiß, welche Leistungen in Warschau testiert werden, ohne dass die Zuflucht zu nichtssagenden Zahlen gesucht wird. Diese Regelung hätte eine heilsame Wirkung auf die Hochschulen, die nun durchgängig klipp und klar sagen müssen, welche nachprüfbaren Erkenntnisse, d. h. Erkenntnisfähigkeiten in drei Jahren erworben wurden. Fächer, in denen das nicht möglich ist, sollten sich vielleicht einer Volkshochschule zuwenden. Bologna hätte seiner Tradition Ehre gemacht, wenn es sich zum Hauptziel die Selbstbehauptung der Universität gesetzt hätte und damit die Absage an die Produktion von nuwozu noch universitäten? und welche? | 173

merisch kontrollierten Leistungen. Universitäten sind keine Fabriken. In der heutigen Universität wird jede Regung schamlos benotet und festgeschrieben, während umgekehrt Kindergärten und Schulen zu der Einsicht gelangen, auf die Benotungen lieber zu verzichten. Vielleicht ist der Markt schon bei dieser Entwicklung angekommen und will keine abstrakten Ziffern, sondern eine konkrete inhaltliche Charakteristik der erworbenen Fähigkeiten. Vielleicht sollten die Kader beginnen, umzudenken. Wenn das Studium auf die Einheit von Lehre und Forschung zielt, muß auf die Kenntnis der vorhergehenden Sitzungen zurückgegriffen werden können; wer sich an diesem Diskurs- und Erkenntnisaufbau nicht beteiligen kann oder will, kann sich nicht gut am Ende die Teilnahme bestätigen lassen. Die Erkenntnis ist die Idee, die den Kern der Universität und ihren nicht ersetzbaren Wert ausmacht. Verzichten wir auf sie, können wir die gesamte höhere Ausbildung an Interessenten veräußern und mit Husserl sagen: Der Traum ist ausgeträumt, privatisiert die verkaufbaren Reste. Es wird hier etwas Bescheidenes angemahnt: Akademische Veranstaltungen, wie sie traditionell in der Universität weltweit durchgeführt wurden und noch werden. Man wird folgende Eigentümlichkeiten verzeichnen können. Es muß ein Erkenntnisstand in den höheren Seminaren oder Vorlesungen erreicht werden, bei dem die neueste Forschung zur Kenntnis genommen und sachkundig beurteilt wird. Es gibt in jedem Fach klassische Publikationen. Die Studierenden sollen möglichst viele dieser Publikationen kennen und also auch methodisch als Muster übernehmen können. Beispiele dieser Erkenntnis sind leicht zu nennen: Theoretische Physik; Höhere Mathematik; Wissenschaftsgeschichte. Hier verbietet sich eine störende Einmischung von Praxis und Interesse durch das Thema. Geschichtswissenschaft: Es ist möglich und notwendig, die Geschichte der Menschheit in ihren vielfältigen Phasen parteilos zu erforschen und darzustellen. Die Geschichtsforschung hat sich seit Thukydides und Tacitus verfeinert, die kritische Erschließung der Quellen, das Bewusstsein der subjektiven Konstruktion von Reali174 | kapitel V

täten, die der objektiven Kontrolle vielleicht nicht standhalten, das Problem des Vokabulars in der Darstellung, das alles ist im Lauf der Geschichte erörtert und verbessert worden. Geschichte ist keine narrative Angelegenheit im Sinn einer Erzählung. Der Historiker muß sich durch sein methodisches Studium der Grenze zwischen der Geschichtsdarstellung und der Erzählung etwa in einem historischen Roman im Klaren sein und der Verlockung der narrativen oder journalistischen Kolorierung widerstehen. Geschichtswissenschaft ist amoralisch. Karl Schlögels Darstellung des Jahres 1937 in Moskau durch den Historiker enthält sich aller moralischen Urteile. Das heißt aber nur, dass er keine eigenen Emotionen kundgibt, um sich sympathetisch beim Leser einzuschmeicheln; der Stoff selbst erzwingt jedoch eine psychologische Beurteilung der Handelnden und damit auch der Kennzeichnung ihrer kognitiven, emotionalen und voluntativen Statur, ihres Temperaments und Naturells, ihrer Erziehung, Obsessionen, Mythen und Ideologien. Wenn unklar ist, wer einen bestimmten Plan erdacht und wer eine Tat ausgeführt hat, läßt sich die Vermutung der Zuschreibung nur noch durch die Einschätzung der psychischen Ressourcen und Pathologien vornehmen. Hierin unterscheidet sich die jetzige Geschichtsschreibung kaum von der des Thukydides, Sallust oder Tacitus. Sadisten gab es vor de Sade und Alkoholiker vor ihrer Einordnung als Kranke. Alles Stoff für akademische Seminare fernab vom bürokratischen fast food. Die moderne Urbanistik ist auf eine quellenkundliche Erschließung der Stadtgeschichte angewiesen; es soll die Tradition nicht mehr barbarisch zubetoniert, sondern erhalten und ergänzt werden. Der Umgang mit Archiven setzt ein Studium mit breitgefächertem Wissen und der Technik der Auswertung von Quellen zum Erwerb von Erkenntnissen voraus. Der Fortschritt der Technik ist meistens verbunden mit der Einflachung differenzierter Kulturen. Die historische Wissenschaft kann präsentieren, um welche Verluste das Können in den einzelnen Kulturen durch ihren Fortschritt gebracht wird, und dazu beitragen, dass die Selbstzerstörung in der Sparte der Folklore und Touristik sistiert wird. Die Ethnologie hat eine analoge Funktion. Wozu dient eine Publikation wie Andreas Lommels Fortschritt ins Nichts. Die Modernisierung der Primitiven wozu noch universitäten? und welche? | 175

Australiens, wenn sie nicht kompetent in einem allgemein zugänglichen Organ rezensiert wird? Dazu bedarf es des freien akademischen Studiums und einer fachgerechten Urteilsbildung. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland steht 60 Jahre nach seinem Inkraft treten in hohem Ansehen. Es wurden zur Feier die historischen Umstände seiner Entstehung gewürdigt und die Folgen skizziert, aber es wird verschwiegen, dass es praktisch nur Akademiker waren, die diesen Schriftsatz verfasst haben, keine Arbeiter und Bauern und Parteibürokraten, sondern Personen, die durch ein intensives Universitätsstudium mit den juristischen und politischen Traditionen von Verfassungen vertraut waren und dieses auch sprachlich gelungene Werk in einer disziplinierten Zusammenarbeit hervorbrachten.240 Die Inschrift des Münchener »Siegestors«: »Dem Sieg geweiht, im Krieg zerstört, zum Frieden mahnend« ist nicht von einem Arbeiter, sondern von einem Lateiner (Wilhelm Hausenstein) verfaßt. Die akademische Thematisierung des NS-Reiches schuf die Grundlage für neutrale Auskünfte und Dokumentationen, und seit kurzem formiert diese quellenkundliche Arbeit die Leitplanken der öffentlichen Urteilsbildung. Auch hier: Der Arbeiter- und Bauernstaat war nicht dazu in der Lage, eine fundierte Geschichtsschreibung zu entwickeln, sondern presste die Urteilsbildung seiner Untertanen in Schablonen, die dem Überleben der verfehlten Idee des kommunistischen Staats bequem waren. An diesem Beispiel sieht man, wie wichtig eine freie akademische Geschichtsforschung ist. Ohne sie wird die Geschichte zur Verfügungsmasse der Parteien und interessierten Firmen. Das Erlernen der juridischen Verwaltung der Staaten und ihrer Vernetzungen ist eine Sache; eine andere ist die kritische Erkenntnis: Was ist das Recht im Gegensatz zur Gerechtigkeit? Sind die Normen des Rechts moralischer oder technischer Natur? Wonach bemißt sich der Wert unterschiedlicher Rechtssysteme? Keine private »School of Law« hat Geld und Geduld, diesen Fragen nachzugehen, die Universität dagegen muß sie notwendig auf dem Niveau, das durch die Erkenntnisgeschichte vorgegeben ist, mitführen und mit heutigen Problemen verknüpfen. Die Gesellschaft möchte heute von akademisch geschulten Soziologen erfahren, wie die Tätigkeit privater Agenturen bei der 176 | kapitel V

Neugestaltung der Universitäten genau aussieht, wie es möglich ist, dass Professoren ihren Anweisungen unterworfen sind. Sie misstraut der Berichterstattung der Agenturen zu Recht, vor allem bei der Angabe der Honorare, die die Steuerzahler zu entrichten haben. Wer ist verantwortlich für Fehlspekulationen, die in die Normen der Agenturen eingehen? Wer kommt auf für die schon entstandenen Schäden? Wer zahlt den Studierenden das verlorene Geld zurück, subito? Der einzige Ort, an dem diese Manipulationen aufgearbeitet werden können, ist die Universität. Über welche sittliche Bildung (Aristoteles, Kant) verfügten die Firmenleiter, die die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko zu verantworten haben? Technik & Gewinn. Man möchte gerne wissen, wie ihre monströse Gesinnung biographisch zustande kam, welche Ausbildung zu ihrer regressiven Sittlichkeit führte. »Ein französischer Minister berief einige der angesehensten Kaufleute zu sich und verlangte von ihnen Vorschläge, wie dem Handel aufzuhelfen sei: gleich als ob er darunter die beste zu wählen verstände. Nachdem Einer dies, der Andere das in Vorschlag gebracht hatte, sagte ein alter Kaufmann, der so lange geschwiegen hatte: Schafft gute Wege, schlagt gut Geld, gebt ein promptes Wechselrecht u. dgl., übrigens aber ›laßt uns machen‹! Dies wäre ungefähr die Antwort, welche die Philosophische Facultät zu geben hätte, wenn die Regierung sie um die Lehren befrüge, die sie den Gelehrten überhaupt vorzuschreiben habe: den Fortschritt der Einsichten und Wissenschaften nur nicht zu hindern.«241 Kant erinnert an den Streit zwischen der staatlichen Monopol- und Planwirtschaft auf der einen Seite und der neuen liberalen Wirtschaft andererseits. Die Produktions- und Handelsfreiheit wird u. a. schon von Shaftesbury mit der Zensurfreiheit der geistigen Produkte verglichen. Die Freiheit von der Bevormundung durch den Staat erzeugt auf beiden Gebieten eine Blüte, zu der das Staatsregime alleine nie gelangen kann.242 »Libertas philosophandi« lautete das ältere Schlagwort, bei Kant wird es neu formuliert als Forderung des Liberalismus. Die Philosophische Fakultät benötigte vom Staat die Infrastruktur, aber der so gegebene und geschützte Freiraum soll ihr ohne jede Einrede und fremde Zwecksetzung überlassen bleiben. Was hier geschieht, bestimmt die Philosophische Fakultät allein. Faktisch bedeutet wozu noch universitäten? und welche? | 177

dies, dass einzelne Disziplinen, die im Konsens als Wissenschaften anerkannt werden, an bestehende Problemstellungen anknüpfen und die Fachforschung vertiefen. Der Universität kommt die Entscheidung über den Aufbau des Studiums zu; die Fächer selbst legen fest, womit die Studierenden beginnen und mit welchen Kenntnissen der Abschluß erfolgen kann. Dieses Freiheitsrecht ist durch Bologna massiv eingeschränkt worden. Hier sind wir mitten im Kampf, denn wer will schon in unseren endgültig nüchternen Zeiten von einer so abgehobenen Idee hören, wie es diese Erkenntnis sein soll? Sie ist, so scheint es, ein Gespenst aus den Zeiten vor Marx und vor Freud, die die Bindung der Erkenntnis an die gesellschaft lichen Interessen jedes Sozialwesens und die im Unbewußten dirigierenden Interessen jedes Menschen an den Tag gebracht haben. Zunächst ist zu klären, wie das Verhältnis von Erkenntnis und Interesse hier nicht gemeint ist. Gefordert ist die thematische Einschränkung dessen, worauf sich die Erkenntnis bezieht. An diesem postulierten Freiraum und der Tätigkeit in ihm kann und soll der Wissenschaft ler ein intensives Interesse nehmen, und wenn er die Tätigkeit aus Eitelkeit oder sonstigen persönlichen Interessen betreibt, spielt dies für das Postulat der Interessefreiheit so lange keine Rolle, wie Erkenntnishandlungen nicht gestört werden. Wer die Möglichkeit eines derartigen Freiraumes leugnet und annimmt, dass jede Erkenntnis unter der Einwirkung der Gravitationskraft von außersachlichen Interessen steht, muß für die Bestreitung unserer These eben diese in Anspruch nehmen, denn jede vermeintliche, notwendig interessengesteuerte Erkenntnis, die sich gegen uns richtet, muß den Sachverhalt durchleuchten und dafür interesselos die Gründe nennen, und so einigen wir uns am Schluß auf eben diese These. Ist sie kausal verursacht, verschwindet der Geltungsanspruch. Wenn auch in der Theorie auf die Formel einer zweckfreien Erkenntnis verzichtet wird, so ist sie in der Praxis dauernd präsent. In Seminaren wird in die Materie eingeführt, es wird der Stand der Forschung bezeichnet und es wird dieser kritisch beurteilt, alles ohne Seitenblicke auf irgendeinen Nutzen und Zweck. Daß dies 178 | kapitel V

im Rahmen der Möglichkeiten geschieht, die die Urteilskraft abschätzt, versteht sich von selbst. Diese Erkenntnis setzt ein, wenn in einem Freiraum Warumund Wozu-Fragen gestellt werden können, es ist ein Spiel, bei dem das nachweislich Falsche vom Platz gewiesen wird und das vermeintlich Wahre oder Richtige provisorisch der Sieger sein soll. Die Spielregeln müssen durch Lehre und Übung erlernt werden, sie sind nicht in jedem Fach dieselben. Das entscheidende Stichwort ist das der Kritik, kein beliebiges Kritisieren von allem und jedem, sondern die am spezifischen Erkenntnisgewinn orientierte Kritik im Dialog, sei dieser nun mündlich oder schrift lich im Hin und Her von Publikationen. Es wird als Erfahrung verzeichnet, dass es diese gemeinsame Bemühung um Erkenntnis wirklich gibt, dass das »Wozu?« hier keine Rolle spielt und die Tätigkeit keinen Preis hat – er läßt sich nicht berechnen und als Auszahlung erwarten. Das Ethos, das hiermit verbunden ist, hat die üblichen drei Bedingungen der Begabung, des Lernens und des Übens. Jedes Proseminar sollte sich unter diese Idee stellen und dem Anfänger zeigen, in welche Institution innerhalb der Republik der Gelehrten er geraten ist. Wer die Realität dieser Erkenntnis für eine Illusion hält, streite darüber mit einem Musiker und demonstriere ihm an, dass seine künstlerische Tätigkeit interessenbedingt ist. Viel Glück dabei. Desgleichen beim Nachweis, dass jemand, der eine andere fremde Person unter Lebensgefahr gerettet hat, dies nur aus einem ihm selbst verborgenen Selbstinteresse tat, kleiner Übermensch. Die Erkenntnis selbst stellt dabei eine Bedingung: Ihre Dauer bemisst sich nicht am Termin des gewünschten Ergebnisses, sondern an den Komplikationen des Weges. Die Praxis hat intern eine am äußeren Handeln vorgegebene »dead line«, die Theorie dagegen kennt keine äußere Terminierung und kann sich im Prinzip beliebig vertagen, bis alle Fragen geklärt sind – idealiter natürlich, denn auch der Theoretiker hat nur endlich viel Zeit, auch Sokrates muß irgendwann den Dialog beenden und nach Hause gehen. Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob es Institutionen geben darf oder gar soll, in denen diese Erkenntnis den Kern ausmacht. Die einzige Institution, die den Freiraum für diese Erkenntnis zur Verfügung stellen kann und muß, wäre die Universität. Die wozu noch universitäten? und welche? | 179

Erkenntnis braucht, soll sie garantiert werden, diese Institution, und umgekehrt ist die Universität ihrerseits auf diese Erkenntnisform angewiesen. Gäbe es sie nicht, sollten wir auf Universitäten verzichten und Fachhochschulen für beliebige praktische und theoretische Zwecke einrichten. Moritz Epple hat in einem wichtigen Beitrag zur Funktion des Wissens in der modernen Gesellschaft folgende Zweiteilung geltend gemacht. Er nimmt eine allgemeine Wissenskultur unserer Gesellschaft an, die eine Subkultur erzeugt, die Forschungskultur, »nämlich jenes Feld sozialer Praktiken, in dem zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten historischen Raum wissenschaft liche Forschung einer bestimmten Art geschieht, das Feld, das durch die Beziehung auf diese wissenschaft liche Forschung seine Bedeutung und seinen sozialen Sinn erhält. Nicht jede Wissenskultur umfaßt auch eine oder mehrere Subkulturen der Forschung, das heißt der gezielten und durch ein Bündel spezifischer Normen geregelten und durch soziale Institutionen abgesicherten, zumindestens in Episoden kumulativen Produktion neuen Wissens.«243 »Subkulturen der Forschung«, deren Ziel die Produktion neuen Wissens ist – zu ihnen gehört sicher auch die Universität, wenigstens in einem Teilbereich. Aber auch Forschungszentren der Industrie fallen unter Epples Bestimmung; auch sie sind durch ein Bündel spezifischer Normen geregelt und durch soziale Institutionen, etwa die Krankenkasse, abgesichert. Daß sich die Universität nach dem Zeitalter der Aufk lärung und in der Moderne nicht begreifen läßt als Subkultur der Produktion neuen Wissens, war unsere durchgängige Begleitthese. Nicht Wissen, sondern Erkenntnis muß das Ziel sein; wenn dagegen die Forschung bestimmt wird als Produktion neuen Wissens, braucht sie das Wort »weil« nicht zu kennen, sondern kann sich mit dem Akkumulieren eines immer weiteren »daß« begnügen. Daß erforscht wird, daß etwas der Fall ist und etwas anderes auch noch, reicht zur Erkenntnis nicht aus. Bevor wir das Desiderat einer Erkenntnis-Universität abschließend erörtern, soll im Gedankenexperiment auf zwei Alternativen der tradierten Institution verwiesen werden;244 die erste greift zurück auf Formationen, wie sie z. B. in der Antike kultiviert wurden, die keine Universitäten kannte, sondern getrennte Stätten der Lehre und Forschung wie etwa Juristenschulen in Rom und 180 | kapitel V

Philosophen- und Ärzteschulen in Griechenland und Rom. Es gab Orte, an denen man das Deklamieren am besten lernte, an anderen wurden gute Architekten oder Mathematiker ausgebildet, je nach Können und Bedarf. Niemand bemühte sich, zwischen diesen Stätten einen institutionellen, d. h. aber: staatlichen Zusammenhang herzustellen. Die zweite Möglichkeit weist voraus in eine fortgeschrittene Medienkultur; die Universitäten könnten ersetzt werden durch Wissensanbieter und Wissensproduzenten im Netz; es können dort auch Lernkurse die Seminare und Vorlesungen ersetzen und Prüfungen kontrolliert abgenommen werden. Technisch bietet die Fern- oder Medienuniversität bekanntlich kein Problem, so wenig wie die Aufhebung der Universitäten und die Privatisierung der einzelnen Bereiche nach dem Vorbild der Antike. Wer die Universität verteidigt, muß Argumente gegen diese beiden alten und neuen Formen des Wissens- oder Erkenntnistransfers anführen. Die im Grundgesetz Artikel 5 (3) niedergelegte Zusicherung: »Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei« ist implizit mit dem Zusatz zu versehen: wenn es sie denn gibt und in welcher Form immer es sie gibt. Es ist nicht die Rede davon, dass die Bundesrepublik sich zum Erhalt von ortsansässigen Universitäten mit freier Forschung und Lehre verpflichtet.

3. Die Ersetzbarkeit der Universität durch private Ausbildungsstätten 1806 wurde mit der Niederlegung der Krone durch Kaiser Franz II. das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation« aufgelöst. Die mittelalterliche Institution hatte es versäumt, sich den neuen Existenzbedingungen anzupassen und sich durch Nutzen Verdienste um Europa zu erwerben. Das Reich, schon vorher als »Monstrum« von Pufendorf gebrandmarkt, war endgültig tot und musste nur noch juristisch abgewickelt werden, etwa das Reichskammergericht in Wetzlar und ein Schuldenbuch in Wien. Warum beschließen die Regierungen nicht die Auflösung der Universitäten und die Entlassung ihrer Fächer in die Gesellschaftsbereiche, zu denen sie gehören und die sie finanzieren sollten, falls wozu noch universitäten? und welche? | 181

sie ihnen erhaltenswert scheinen? Es gibt bereits alle möglichen privatisierten Bereiche, man denke an die »Bucerius Law School« in Hamburg und die neue Stiftungsuniversität »European Business School« in Wiesbaden. Warum sollen nicht bestimmte Agenturen einzelne geisteswissenschaft liche Institute übernehmen? In allen Bereichen läßt sich ein effi zienter Wissenstransfer und eine Erkenntniserweiterung mit einer Einheit von Forschung und Lehre verwirklichen, sei es in den Ausbildungsstätten der Banken, der Chemiewerke oder der Meereskunde für industrielle Zwecke. Die in die antike Freiheit entlassenen höheren Ausbildungsstätten können ohne Wenn und Aber eine bestimmte berufl iche Tätigkeit als das gemeinsame Lernziel angeben. Dadurch kommt es bei den meisten Stätten zu wenigstens zwei internen Änderungen. Die staatliche Drangsalierung fällt fort, und die individualistische Lernform der Universitäten kann durch eine effizientere Kollektivform ersetzt werden. Die Teilnehmer werden eingeübt in einen Teamprozeß. »Immer noch fällt es […] vielen schwer, sich überhaupt organisationales Wissen vorzustellen, also Wissen, das nicht in den Köpfen von Menschen gespeichert ist, sondern in den Operationsformen eines sozialen Systems. Organisationales oder institutionelles Wissen steckt in den personen-unabhängigen, anonymisierten Regelsystemen, welche die Operationsweise eines Sozialsystems definieren. Vor allem sind dies Standardverfahren (»standing operating procedures«), Leitlinien, […] kodiertes Produktions- und Projektwissen und die Merkmale der spezifischen Kultur einer Organisation. Niklas Luhmann beginnt seine Wissenstheorie auf der ersten Seite mit der Zumutung, die Zurechnung von Wissen auf das individuelle Bewusstsein zu lösen.«245 Keine Erkenntnis, sondern Wissen. Die Lerneinheiten fungieren als Kollektiv, das Vorbild in der Natur ist nicht die neukaledonische Einzelkrähe, die ihre Beute mit einem Stab aus einem Loch hervor angelt oder harte Nüsse unter die Autos wirft, um an den Kern zu gelangen, sondern der Superorganismus von Insekten, die den Krähen und Menschen um Jahrmillionen voraus und überlegen sind, eine glanzvolle Firmengeschichte, secundum naturam. Über die Einzelkrähe und ihren Kampf um die plattgefahrenen Nüsse können die Termiten und Ameisen nur lachen; ihr Wissen in Clustern unter Verzicht auf individuelle Erkenntnis ist Altbesitz der Natur 182 | kapitel V

und wird im modernen Wissensmanagement endlich reformuliert. Kritik und Erkenntnis sind nur Störungen, die die Natur an ihrem Weitergang nicht hindern. Etwa die Chemie. Die Institute der Universitäten werden von einem Konsortium der Chemischen Industrie übernommen, so weit sie den neuesten praktischen Anforderungen gewachsen sind. Wie in anderen naturwissenschaft lichen Disziplinen, wird in einführenden Kursen die Gebrauchsmathematik vermittelt. Falls sich für die theoretische Mathematik selbst keine finanzkräft igen Interessenten fi nden, muß sie in die städtischen Volkshochschulen abwandern und von Liebhabern und Emeriti gelehrt werden. Etwa die Medienwissenschaften. Warum sollen die Stätten ihrer Ausbildung nicht in die Obhut eines zuständigen Verbandes gestellt werden? Warum die akademischen Zwänge, wenn eine elastische Kombination von Theorie und Praxis dem Berufsziel entspricht und permanent optimiert werden kann, auch nach den internationalen Entwicklungen, denen sich die Universitäten nur mit langen bürokratischen Verzögerungen anschließen? Laßt die Konzerne ihren eigenen Nachwuchs organisieren und finanzieren, aber pfercht ihn nicht zusammen mit dem Sprachfach des Fennougrischen und der Zahnmedizin in dem alten Wissenschaftskoloß der Universität. In ihm sind die Medienwissenschaften deplaziert, ihre Entfaltung ist nur möglich in der synchronen Auseinandersetzung mit den Entwicklungen in den Zentren der Medien selbst. Etwa die Romanistik. Sie ist eine Kreation des aufblühenden Nationalismus; die ersten Romanistischen Institute und Lehrstühle gibt es seit Beginn des 19. Jahrhunderts; will das Fach in unserem Gedankenexperiment überleben, sollen sich die interessierten romanischen Länder zusammen tun und feststellen, welchen Bedarf die Exportindustrie, die Touristik, die Berichterstattung in den verschiedenen Medien etc. haben. Wenn es keine wirtschaft lich relevante Gruppe gibt, die sich für die Fortführung der Romanistik interessiert, dann muß sie leider begraben werden. Es gibt unermeßliche Schätze in den Bibliotheken, allein die Bände der Dante-Forschung sind ein Glanzstück unseres Planeten, um den uns andere bevölkerte Sterne beneiden sollten. Aber wenn es keine Interessenten gibt, schlägt die Stunde der städtischen Abfuhr wie bei anderen Bibliotheken. wozu noch universitäten? und welche? | 183

In wenigen Zentren, finanziert durch ein staatenübergreifendes Projekt, werden dann den Aspiranten die für die verschiedenen Felder der späteren Berufe nötigen Kenntnisse abverlangt und bei Erfolg mit eigenem Siegel zertifiziert. Kein Lernstoff, der nicht für die Praxis wichtig wäre. Ein Ausblick, den die Futuristen schon um 1908 herbeiwünschten. Und die Philosophie? Sie wird delegiert an private Interessentenkreise, die die verschiedenen Systeme und geschichtlichen Formationen in den Volkshochschulen und den Nachmitternachtsendungen der Fernseh- und Rundfunkanstalten lehren können. Philosophie wird damit wie in der Antike entsprechend den Bedürfnissen der Bürger gepflegt. Sendungen über die Frage, was eigentlich das Glück ist, können das ganze Spektrum der alten und neuen Philosophie finanzieren und dazu noch Stipendien für philosophische Aspiranten. Good luck allen, die sich an den Glückssendungen beteiligen! Sie können die Logik und die Ich-Probleme finanzieren, und wenn sich niemand findet, muß das Seyn auf sein Andenken am Ende vielleicht verzichten; sonst müssen die Anhänger einen Seyns-Verein gründen und für die Kosten allein aufkommen. Die Jurisprudenz. Die Einrichtungen werden von den Ländern übernommen. Das Vorbild sind die römischen Juristenschulen. Hier würde der sog. Staat in Erscheinung treten, der eine homogene Rechtsprechung erhalten möchte. Auf Wunsch der fi nanzkräft igen Senioren könnte man Lehrstunden zur Rechtsgeschichte angliedern. Die mittelalterliche Ärzteschule von Salerno war den antiken Ärzteschulen nachgebildet und stand ohne die Einbindung in eine Universität in höchstem Ansehen. Wenn heute die Universitätskliniken in Konzernen privatisiert werden, dann kann die Ausbildung der Mediziner problemlos folgen, so dass die Medizinische Fakultät an ein meistbietendes Konsortium veräußert werden könnte, im Inland und im Ausland. Die Lehrerausbildung für Schulen wird an einige Didaktikzentren der Länder verlegt; so weit nötig, können wechselnde Fachkräfte für die verschiedenen Inhalte eingestellt werden. Die Inhalte sollen dann jedoch im Wesentlichen von den Lehrern im Selbststudium angeeignet werden, die Landesanstalten konzentrieren sich 184 | kapitel V

auf das »Wie« des künft igen Unterrichts, nicht das »Was«. Diese Tendenz zeichnet sich allenthalben ab, entscheidend in der schulischen Ausbildung ist die Erweckung und Lenkung der Kreativität von Kindern und Jugendlichen. Dafür gibt eine einheitliche, von Pädagogikfunktionären geleitete Landeslehranstalt. Die mittelalterlichen Titel der Professores und Doctores entfallen ersatzlos. Auch in der Antike gab es keinen dieser bizarren Titel, man hätte sie nach Persien zum Großkönig geschickt. Falls dieser Verzicht allzu hart erscheint, könnte man eine Titelbörse einrichten, ein Doktortitel der Frankfurter Börse soll bitte teurer sein als der von Mailand, Dtt. Mil. also nicht sonderlich angesehen. Diese rationale Neukonzeption wäre zunächst gewöhnungsbedürft ig, aber das war die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches auch, besonders für Wetzlar, Wien und Frankfurt. Die Fiktion einer ideellen Einheit der Universitas ist längst in den privaten und öffentlichen Universitäten einer fachlichen Pluralität gewichen, die nur einheitlich verwaltet wird. Die Einheit der Universität ist ihre Verwaltung. Wie wenig die Fächer von einander wissen, läßt sich leicht feststellen. Das Ergebnis: – gar nichts. Lädt die Molekularbiologie einen international renommierten Kollegen zum Vortrag ein, erscheinen die Studierenden und auch die Lehrenden der Pflanzenkunde nicht, denn sie kennen weder den Vortragenden noch sein Fachgebiet und könnten den Ausführungen nicht folgen. Die Anglisten kommen nicht zu den romanistischen Vorträgen, weltweit. Wozu also die Fiktion irgendeines Zusammenhanges der Fächer? Forget it. Die Privatisierung von Universitätsteilen ist längst Realität; sie gliedert sich ein in einen Trend, der auch andere Stücke der Öffentlichkeit in die private Sphäre herunter bricht und den Privilegierten, die sich daran beteiligen können, höchst nützlich ist. »Unter dem Titel ›The politics of secession‹ verhandelt Robert Reich dieses Merkmal der Wissenschaftsgesellschaft als einen Prozess, in dem die Wissensarbeiter sich aus dem Solidaritätsgefüge der alten Gesellschaft ausklinken, weil sie mit deren öffentlichen Leistungen nicht zufrieden sind. Nicht nur in den USA und Großbritannien schickt die Oberschicht ihre Kinder auf private Schulen und private Universitäten, läßt sich von privaten Wachdiensten sichern, als Privatpatienten in privaten Kliniken behandeln, treibt in privawozu noch universitäten? und welche? | 185

ten Clubs Sport und igelt sich in privaten Wohnparks mit privaten Straßen und privaten Freizeitparks ein.«246 Was geht wirklich verloren, wenn wir zur antiken Vielfalt der unverbundenen Vereinigungen zurückkehren? Keine antike Rhetorenschule hätte je daran gedacht, mit einer Philosophen- oder Ärzteschule in einer Hochschule zu wirken. Machen wir das Experiment und geben die gotische Skurrilität dieser Verbindung und Verstaatlichung wieder auf und entlassen die Disziplinen in die Freiheit, jede für sich, die Nachfrage für alle. Ein vitales Gegeninteresse hat nur die gemeinsame Verwaltung, die alles zusammen hält und alle spüren läßt, worin die Einheit, die Uni der sog. Wissenschaften besteht. In ihrer realen Mitte sitzt heute die eine Bürokratie, die alles dirigiert und die von der Wissenschaft, den Inhalten, denen sie dient und die sie sich unterwirft, nichts zu verstehen braucht. Das Akademische ist ihr notwendig fremd, außer daß sie die Form der Titelvergabe kontrolliert. Aus dem einen Pedell der früheren Universität ist das alles beherrschende vielköpfige Zentrum geworden – lösen wir es wieder auf?

4. Die Ersetzbarkeit der Ortsuniversität durch Fernstudium Was kann und soll eine Universität, die das Ergebnis der oben skizzierten Geschichte ist, in dem Wirbel der Änderungen und der kulturellen, medialen Angebote als ihr eigentümliches Können anbieten? Warum soll man nicht die international qualifiziertesten Lehrveranstaltungen in einem Universitäts-Fernseh-Sender ausstrahlen, didaktisch und fachlich jeweils das Beste, und am Schluß des gebündelten, für jeden verfügbaren Studienangebots Zertifikate für bestimmte Leistungen ausstellen? Welchen Vorteil hat die überkommene Institution eines räumlichen Beieinander von Lehrenden und Lernenden, wenn die moderne Alternative Kosten spart und die häufig qualitätsarmen Veranstaltungen in überfüllten Räumen durch das ubiquitäre Fern-Seh-Projekt ersetzt? Also: Die Vorlesungen und simulierten Seminare und vorgeführten Experimente sind global jederzeit zugänglich, es werden Kurse angeboten vom einfachsten Rechnen bis zur Chaostheorie, von den 186 | kapitel V

griechischen Buchstaben bis zur Detailanalyse einer Stelle im Moby Dick, alle möglichen Studiengänge in ökonomischen, astronomischen, gastronomischen, theologischen etc. Disziplinen. Anfängerbis Spezialistenkenntnisse, für Senioren und Kinder: Alles Wissen und Lernen ist dann weltweit und in allen Sprachen mit einem permanenten Wartungsdienst verbunden, so dass in der Europa- oder auch Weltuniversität nichts ausgebreitet wird, das schon als falsch widerlegt wurde. Man könnte auf eine Trennung von bloßen Wissensangeboten und dem Erwerb von Erkenntnissen dringen. Das von Menschen Erkannte und Gekonnte und die Operationen, die optimal zur Erkenntnis führen, stehen in international abgestimmten Unterrichtseinheiten des Fernstudiums zur Verfügung. Die Medien lehren, wie man lernt und was man lernen kann. Eine mediale Wissensproduktion und Erkenntnisübung bis an die Sterne, denn auch eine gelangweilte Satellitenmannschaft ist aufgefordert, ihr Wissen und ihre Erkenntnisse zu verbessern und an den Kursen teilzunehmen, in urbe et orbe. Die Trennung der Astronauten, die eine Prüfung ablegen, von der übrigen Crew ließe sich problemlos vollziehen und gegen Mogelversuche überwachen. Die Universität auch unter Tage: Den eingeschlossenen Bergleuten in Chile könnten kostenlos (wegen der Schwierigkeit des Geldtransfers) Kurse in vielen Disziplinen angeboten werden, und bevor sie noch ans Tageslicht treten, hätten sie promoviert. »Professor im Bildformat« – die Vision ist längst zum All-Tag geworden. In Video-Vorlesungen amerikanischer Universitäten »ist das Wissen von Experten unterschiedlicher Gebiete aus allen Teilen der Welt enthalten.«247 Die neuen Medien sind disziplin-übergreifend und kennen keinen Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, zwischen Theologie, Jurisprudenz und Medizin; in bildgebenden Verfahren, mit mathematischen Formeln und der englischen oder auch allen anderen Sprachen läßt sich alles Lehren auf den Bildschirm übertragen und mimetisch aneignen. Die Forschung läßt sich weitgehend ebenso wie die Lehre medial vermitteln und aktivieren. Physiker in Sydney können mit Physikern in Lüneburg in Konferenzschaltungen zusammen arbeiten, und Sanskritforscher in Indien mit dem Kollegen in Europa. Der aufwendige und umweltschädigende Transport menschlicher Körwozu noch universitäten? und welche? | 187

per ist überflüssig, es genügt für die Wissenschaft und Forschung die mediale Begegnung zu einer vereinbarten Zeit an beliebigen Orten. Die neu entdeckte Handschrift ist in der medialen Aufbereitung wesentlich besser zu dechiff rieren als in der Ansicht mit den eigenen natürlichen Augen, der sog. Autopsie. Das einzige Original, früher hochgeschätztes Objekt der Forschung, steht für Erkenntniszwecke der optimal aufbereiteten, überall und jederzeit verfügbaren Reproduktion weit nach. Autopsie ist – mit Ausnahmen – eine atavistische Form der Erkenntnis.248 Dasselbe gilt für die Erforschung der ersten und letzten Teilchen der Physik; kein ernster Forscher fährt dafür zum Großereignis nach Genf, wo er zwar einige Kollegen sieht, aber keine Teilchen, die ihn interessieren. Sie sind längst unter Formeln verpackt im Netz. Für kommunikatives Lernen und Forschen gibt es globale Konferenzschaltungen, bei denen keine Gemeinsamkeit simuliert, sondern wirklich praktiziert wird, aber ohne die lästigen Körper. »Soma sema« zitiert schon Platon einen älteren Weisen, der Körper ist ein Grab; in den medialen Konferenzen befreit sich der Geist von dieser finsteren Last und umkreist global ein Problem der höheren Mathematik, der Gehirnforschung oder der Archäologie, man lacht gemeinsam und ist betroffen über Tötungsrituale der alten Azteken und heutigen Amerikaner. Lehre und Forschung haben in diesem Sinn den menschlichen Körper hinter sich gelassen und finden global in einem medial zubereiteten Hören und Sehen statt, wo immer sich der schwerfällige eigene Leib gerade aufhält. Überlegungen zur Universität in Gegenwart und Zukunft müssen dieses translunare, transplanetarische Lern- und Forschungsangebot der Audiovision in ihre Überlegungen einbeziehen. Die Verortung des Universitätszentrums selbst muß nicht einheitlich sein; ein bestimmter Teil der Verwaltung wird seinen Sitz in Grönland haben, weil dort die Steuern noch minimal sind, ein anderer Teil hat seinen Sitz in New York zur Besprechung von Tarnstrategien etwa mit Nordkorea. Die alte Ortsuniversität ist zu einem liquiden System mit globaler und hyperglobaler Vernetzung geworden. Lernen ist die Aneignung von Wissen. Die medial organisierte mundiale »Universität« liefert das Wissen, das die Menschheit genau jetzt anzubieten hat. Die Lernenden klinken sich ein in dieses 188 | kapitel V

Weltwissen und eignen es sich in bestimmten Segmenten kontrollierbar an. Es ist dies die Spitze der epistemischen Entwicklung der Menschheit, die sich nicht mehr in idividuellen Akten der Erkenntnis, sondern in Clustern des verpackten Wissens vollzieht. Lohnt es sich, die steinernen Universitätsgebäude zu erhalten? Lohnt es sich, im Winter die Räume zu heizen, die nur vom Montagmorgen bis Freitagmittag benutzt werden? Ist dies mit einer modernen Energiepolitik vereinbar? Können die Gebäude nicht gewinnbringend vermietet oder verkauft werden? Genügt nicht ein Zentrum in Brüssel oder New York bzw. Peking für die zeitgemäße europäische, tatsächlich grenzenlose Universität?249 So würde sie endlich zur Einen und Einzigen, zur Welt-Uni, sich durch Sendung rund um die Uhr und den Globus selbst behauptend, urbi et orbi; terra marique. Die Humboldt-Brüder wären begeistert; beide könnten ihre Einsamkeit und Freiheit auf dem Schiff, in jeder Kutsche von Berlin nach Göttingen und in der Mongolfiere lernend und lehrend verwirklichen, sie könnten bei mathematischen Problemen mit Gauß vom Orinoko aus konferieren und vor der Pariser Akademie aus der Luft einen Vortrag über den Anden halten. Zustimmung auch aus Christenkreisen, denn wer mit einem durch Unfälle zerstückelten Körper an das Bett gefesselt ist, kann frei studieren und forschen, soviel und was immer sein Geist noch will. Die Universität kommt ans Krankenbett und bewährt ihre mittelalterliche Demut. Eine sonst wohl unbekannte Strategie der räumlichen Entzerrung wird in den immer vorbildhaften USA praktiziert. »Der jüngste Trend bei der Auslagerung akademischer Pfl ichten heißt offshore grading. Dies bedeutet, dass Professoren und Dozenten die schrift lichen Arbeiten ihrer Studenten nicht mehr selbst korrigieren und benoten, sondern Firmen damit beauft ragen, die diese Arbeiten von Billigkräften in Übersee erledigen lassen. Darüber berichtet der Chronicle of Higher Education. Die billigen, aber schnellen Hilfskräfte aus Indien, Singapur und Malaysia werden von der Firma EduMetry vermietet.«250 Wie so häufig, sind die amerikanischen Universitäten auch hier wegweisend. Der kleine Schönheitsfehler, daß jemand, der in Arizona sein Examen macht, zugleich als Unterhilfskraft für eine EduMetry-Firma in Birma tätig ist und, wie es der Zufall so will, seine eigene Arbeit zur Bewozu noch universitäten? und welche? | 189

gutachtung erhält, ist im globalen offshore grading irrelevant und bedarf keiner Erwähnung, zumal er mit sich selbst weder verwandt noch verschwägert ist. Die »Subkulturen der Produktion neuen Wissens« (Epple) können unter der juristischen Obhut der UNO mundial agieren und das neu produzierte Wissen patentrechtlich absichern. Die Kohorte der Forschung (zuweilen inklusive Lehre) kennt keine überkommenen, für das Wissen irrelevanten staatlichen Grenzen; sie erarbeitet neue forschungsrelevante Ergebnisse mit der Stafette des Wachseins rund um den Globus und rund um die Uhr. Lohn und Gewinn wird in Dollar berechnet und auf Wunsch in der Landeswährung ausgezahlt. Höchstdauer der Verträge sind 5 Jahre. Epples Vorstellungen scheinen sich noch in nationalen Grenzen zu bewegen und müssen und können entsprechend modernisiert werden.

5. Gründe für den Erhalt der Universitäten Die Universitäten, von denen im Folgenden die Rede ist, sollen eine Einheit vieler wissenschaft licher Richtungen bilden, und sie sollen räumlich identifi zierbar sein. Die Universitäten haben ihren Sitz also an bestimmten Orten in bestimmten Gebäuden, sie lösen sich nicht nach antikem Vorbild in verschiedene Lehr- und Forschungszentren auf, und ihnen kommt nicht nur eine Medienexistenz in Form einer europäischen oder globalen Fernuniversität zu, bei der Lehrende und Forschende räumlich dissoziiert sind. Zur Nahuniversität kommen Studierende zu einem kombinierten Lernen und Forschen. Lehrende und Forscher sind an der jeweiligen Universität physisch auf eine bestimmte Dauer tätig; sie übernehmen auch in Leibespräsenz die jeweiligen Prüfungen. Die Institution, die dies ermöglicht, führt exklusiv den Namen »Universität«. Die Notwendigkeit der persönlichen Gegenwart an einem Studienort für eine gewisse Zeit ist anthropologisch gut fundiert. So wie wir beim Denken permanent in der Einbildungskraft nach begleitenden Bildern suchen und an Bildern haften, auch wenn wir wissen, dass sie falsch und irreführend sind (etwa das Atommodell), so wird der geistige Lernprozeß erleichtert durch die physische 190 | kapitel V

Präsenz des Lehrenden im selben Vorlesungs- oder Seminarraum. Der konzentrierte Vortrag auch und gerade ohne Bildprojektionen übt eine eigentümlich mimetische Suggestion aus. Oben wurden Fichtes Vorlesungen in Jena und Berlin erwähnt, bedeutende Predigten wirkten psychologisch stimulierend nur kraft des jetzt und hier gesagten Wortes. Die antiken Rhetoren konnten mit ihrer Stimmkraft und äußeren Erscheinung, ihrer Redetechnik und Begabung zu dieser oder auch der umgekehrten Meinung verführen. Die traditionelle Universität verfügt über diese basale Potenz der physischen Gegenwart und des gesprochenen Worts und sollte sie aktivieren, statt sie von Funktionären zerstören zu lassen. Daß daneben die neuen Medien gekannt und vernünft ig benutzt werden müssen, versteht sich von selbst, schon, um über die Bilder zu lachen. Die ortsgebundene Universität ermöglicht die Bildung von Arbeitsgruppen, die sich nach dem Stand des Wissens und der Erkenntnis der Beteiligten richtet und den Impuls des »gemeinsam« erfährt. Es ist die »Synergie der Begegnungen […]. Da reicht schon ein durchschnittlicher Dozent, um einen synergetischen Effekt zu erzeugen, bei dem die Studierenden von einander profitieren.«251 Diese Arbeitsgruppen können zu Initiativen der Föderationen von Fächern werden, die sich in Forschung und Lehre als aussichtsreich herausstellen; statt des juristischen Begriffs der Föderation sollte vielleicht der chemische einer neuen Synthese gewählt werden. Die einzelnen Disziplinen können auf die dauerhafte Einbindung von Erkenntnissen aus anderen Fächern angewiesen sein. Hier gibt es zwei Gründe, die zur Verschmelzung mit anderen Disziplinen einladen. Der eine liegt in der Fachentwicklung, die zur Kooperation mit anderen Fächern zwingt, an die vor kurzem noch niemand gedacht hätte. Der andere ist die Vermutung einer Marktlücke, die zu einer Explosion der extravagantesten Fächer auf der Reklameseite der Universitäten geführt hat. Alle Stimmen der Ministerien, des Wissenschaftsrats und der Medien wollen etwas Neues und Exquisites, was alle angeht, nur kein Elfenbeinturm, bewegt euch, voran, und jeder muß folgen können. In dieser gemeinsamen Schnittlinie aller demokratischen Parteien liegt eine der Gefahren der Erosion der Universität als einer wissenschaft lichen Anstalt. Am besten hilft dagegen ein wozu noch universitäten? und welche? | 191

marktwirksamer Eklat durch wirkliche Leistung und attraktive Veranstaltungen auf höchstem Niveau. Die Universität oder Hochschule richtet sich immer noch primär an die Altersgruppe zwischen 18 und 25 Jahren. Sie bildet den organischen Anschluß an die höhere Schule und sollte verbunden sein mit einem Ortswechsel der Studierenden. Für dies letztere sprechen viele Gründe, u. a. folgender: Der Ortswechsel führt zu neuen Gruppenbildungen, die erfordern, dass die Jugendlichen eine flexible Identität ausbilden. Biographien, die nur eine monolithische Identität in einer Gruppe haben, bestehen u. U. nicht die Anforderungen der Zivilgesellschaft. Sie tun sich schwer, sich in die Mentalität und die Bedürfnisse anderer zu versetzen. Auch der Vortrag selbst überlebt seine Mumifizierung im Video. Um die Lebendigkeit zu erhalten, »benötigen die Professoren auch in Zukunft ein präsentes Publikum, sie sind angewiesen auf das Mienenspiel im Saal und auf die spontanen Reaktionen und Fragen der Studenten.«252 Informationen zum Umgang der Studierenden und Lehrenden vermitteln keine teuren Pädagogen und Didaktiker, sondern sind abrufbar beim Alltagsverstand, im Knigge und in bequem an einem Wochenende lesbaren Einführungen. Die bisher genannten Gründe für die Beibehaltung der Universitäten sind nicht falsch, auch nicht unerheblich, aber vielleicht nur folkloristisch. Gesucht ist ein Grund, der zur Beibehaltung der Universität in der modernen Gesellschaft zwingt. Was ist der unverzichtbare Kern dieser Universität? Er findet sich nicht in der Antike, und er läßt sich durch Medien nicht ersetzen. Die Antwort ist ganz einfach und folgenreich: Es ist der kritische, selbstbestimmte Umgang mit den verschiedenen Themen der Forschung und Lehre. Forschung und Lehre werden hier nicht als etwas Fertiges, Abrufbares verstanden, sondern als gemeinsame selbstbestimmte, dialogische Tätigkeit der Forschenden und Lehrenden und Lernenden, nicht als Produktion von Wissen, sondern als Tätigkeit des ergebnisoffenen Erkennens. Sie konturiert sich durch die Abwehr der Fremdbestimmung. Über diese Selbstbestimmung in Forschung und Lehre soll weiter unten ausführlicher gehandelt werden. Zunächst jedoch noch einmal zu unseren beiden Gegen192 | kapitel V

modellen, den antiken Schulen und der zentralen Medienuniversität. Die antiken Lehranstalten vermittelten bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten; so wurden in einer Rhetorenschule einschlägige Lehrbücher studiert und Übungsreden gehalten und bewertet; die übrigen Lehrstätten bedienten sich des gleichen Modells, das in einer Dreierstufung im Platonischen Menon vorgestellt wird: Entscheidend seien die naturgegebene Eignung (in heutiger Mystifikation: die Gene), das Lernen und das Üben. Epikur ließ seine Anhänger bestimmte Leittexte auswendig lernen, die Kyriai doxai, die noch erhalten sind.253 So wurde die Weltanschauung verinnerlicht und konnte jederzeit in bedrängenden Situationen als Hilfe dienen. Die Schüler mussten sich für eine bestimmte Richtung entscheiden, denn natürlich war es unmöglich, ernsthaft zugleich Epikureer und Platoniker zu sein (nicht: bei beiden zuhören und das Beste auszuwählen). Bei dieser grundsätzlichen Einstellung fehlte notwendig eine Haltung, die in der Skepsis und dann wieder in der Neuzeit kultiviert wurde und für uns als selbstverständlich gilt: Der Geist der Kritik, die Einübung in den Mut, sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Am nächsten kamen dieser geistigen Haltung die Skeptiker, so weit sie sich zum Eklektizismus bekannten. Aber sie bildeten keine Schule mit Breitenwirkung wie die vier großen Schulen der Akademie, des Peripatos, der Stoa und der Epikureer mit ihrer jeweils dogmatischen Lehre. Es ist kein Zufall, dass diese Schulen an der Weiterentwicklung der Naturwissenschaften nicht beteiligt waren; diese wanderte nach Alexandria in Ägypten ab; allenfalls die Stoa interessierte sich für weltbürgerliche Themen wie die Geographie. Die Haltung, von der die heutige Universitätsidee zehrt, ist das kritische und neugierige Weltverhältnis der europäischen Aufk lärung, verknüpft mit der Selbstkritik und Selbstbegrenzung, Aufklärung auch über Aufk lärung, ihre Notwendigkeit und ihre Grenzen. Wissenschaft wird hier zu einer Auseinandersetzung zwischen Forschenden und Lernenden über einen bestimmten interessenneutralen Gegenstand. Dies ist das einigende Band der Universität als Ort der Wissenschaft. Die Selbstbehauptung besagt, dass die Fächer ihre Forschung und Lehre selbst bestimmen und auch festlegen, welche anderen Wissenschaften für diese Selbstorganisation wozu noch universitäten? und welche? | 193

notwendig sind. Daher genügt es nicht, das Hören zu rühmen und als eigentümliche Tugend der Universität heraus zu stellen.254 Gehört werden wollen auch die Propheten; in der Universität kommt jedoch zum Hören die Kritik, die die wahrheitsversessenen Propheten nur selten überleben; die Bitte, dasselbe noch einmal genauer zu sagen, damit der Gedanke klar wird, die Ergänzung, das experimentierende Weiterdenken mit Kontrasten, also der kreative Erkenntnisprozeß. In diesem Sinn ist die Universität in profi lierter Form eine Geistesinstitution, auch in den Naturwissenschaften. Erkenntnis ist Grenzgang im Schon und Noch-nicht; Herkunft und Ziel der Thesen und ihrer Begründung. Die Medienuniversität ist durch ihre Fern-Struktur nicht dazu in der Lage, die Individuen zu kritischen, selbstkritischen Bürgern zu erziehen. Sie bietet Lehrinhalte und Übungen, auch Leistungskontrolle an, ist aber völlig indifferent gegenüber der Frage, ob dabei Menschen oder Roboter ausgebildet werden. Ein Zertifi kat wird erworben durch die richtige Beantwortung von Fragen im multiple-choice-Modell. Eine selbstkritische Ausbildung muß dagegen ihre Forschung und Lehre und die Prüfungen so gestalten, dass auch die Fragen kritisch befragt werden können. Fragen können durch Irrtum oder Unkenntnis logische oder inhaltliche Fehler enthalten; falls dem Befragten der Mut oder überhaupt die Möglichkeit entzogen wird, die Fragen auf Grund eigener Reflexion in Frage zu stellen, ist der Boden der Universität verlassen. Es tritt an die Stelle der Universität mit ihrer Bildung und Ausbildung mündiger Bürger ein Prozeß der Eingewöhnung in die Mentalität von Untertanen. Die kommerzielle Gesellschaft liebt und will die Sache, aber nicht das Wort; »Untertan« mag keiner gern hören. Es wird in der Gegenwart zu Recht von einer Wissensgesellschaft gesprochen, die gegenwärtige Zivilisation durchflutet ihre Mitglieder mit immer neuen Informationen, die wir absorbieren, um orientiert zu sein. Nun zeigt die geringste Erfahrung, dass nicht alle Informationen richtig sind, wie sie vorgeben, sie halten dann einer kritischen Überprüfung nicht stand. Die Wissensgesellschaft bedarf deswegen einer komplementären Institution, die nicht auf Wissen und Information zielt, sondern auf Erkenntnis, nicht nur in diesem und jenem Fall, sondern in wesentlichen Gebieten unserer Orientierung. Der Übergang vom Wissen und von der Wahrheit, 194 | kapitel V

die tausendfach in jeder Bild-Zeitung steht, zur Erkenntnis und ihrer methodischen Sicherung wird in der Universität paradigmatisch eingeübt. Man geht aus von den Meinungen, die wir zu bestimmten Sachverhalten haben, und legt sie unter die kritische Sonde der Erkenntnis – was hält stand, was scheidet aus, was bleibt im Schwebezustand des Zweifels? Immer mit guten Gründen. Die Universität ist keine Subkultur der Produktion neuen Wissens, sondern der Einübung und Ausübung kritischer Erkenntnis. John Locke hatte es drastisch so ausgedrückt: »So much as we our selves consider and comprehend of Truth and Reason, so much we possess of real and true Knowledge. The floating of other Mens Opinions in our brains makes us not one jot the more knowing, though they happen to be true. […] In the Sciences, every one has so much, as he really knows and comprehends: What he believes only, and takes upon trust, are but the shreds […]. Such borrowed Wealth, like Fairy-money, though it were Gold in the hand from which he received it, will be but Leaves and Dust when it comes to use.«255 Locke formuliert, was schon Sokrates und Platon sagen: Erkenntnis kann man nur selbst erwerben; was man als wahr behauptet, muß man begründen und vor den anderen rechtfertigen können. Auch hier kein Platonismus, sondern das Ethos der einfachsten Aufk lärung und Fairneß. In der Neuzeit tritt zum Selbsterwerb der Erkenntnis die kritische Begrenzung ihrer Möglichkeiten. Wissen wird extensiv akkumuliert, Erkenntnis exemplarisch eingeübt. Universitäten haben eine Lebensberechtigung nur als Stätten dieses exemplarischen Erkennens im Austausch von kritischen Argumenten, dem Absichern gegen Widerlegung, der Orientierung in der Forschungslandschaft . Die exemplarische Untersuchung ist immun gegen das Ansinnen des »NPM«, »New Public Management«256 und eine Verrechnung in irgendwelchen Einheiten. Zur Präsenzuniversität gehören gesicherte Rechtsstrukturen, in die die lokale Sektion der globalen Republik der Gelehrten eingelassen ist. Die Anforderungen und Leistungen sind einigermaßen juridisch gesichert und einklagbar. Die Gremien, die über die Bewertung akademischer Leistungen und die Regeneration zu befinden haben, sind überschaubar. Es spielt häufig die Scham, bei allzu wozu noch universitäten? und welche? | 195

eklatanter Korruption vor dem Blick anerkannter Kollegen nicht bestehen zu können, eine positive Rolle. In einer planetarischen Medienuniversität brennen diese Sicherungen durch, und das System kollabiert am ersten Tag seiner ausgedachten Existenz. Zu den Verbindlichkeiten einer Ortsuniversität gehört die Verpflichtung zu den Prinzipien der Aufk lärung und der methodisch fundierten und fortschreitenden Erkenntnis. Wenn diese Grundlage fehlt, werden die planetarischen Lektionen rasch durchsetzt von Verkündigungen der Scientology, der Astrologie und ungezähmter Offenbarungen – und alles ist verloren. Zur Universität gehört das Seminar als Erkenntnislabor, das mit neuen Verbindungen experimentiert. In den neueren Varianten der Kulturwissenschaft(en) wird stärker als beim früheren Studium die Selbstreflexion betont: Was geschieht im Erkenntnisprozeß selbst? In welchem Kräftefeld der Kulturproduktion wird agiert? Ist der »linguistic turn« als der erste der neueren Wenden überzeugend? Wenn als dessen Einsicht gilt, »dass Realität von Menschen gemacht wird«, dass Wirklichkeit eine kulturelle Konstruktion ist,257 dann wird der Seminarteilnehmer naiv fragen, wie mit der sprachlichen Unterscheidung von Sprache und nicht-sprachlicher Sache umzugehen ist, und das Seminar muß sich kompetent zu einem derart naiven Einwand äußern. Die Universität kann sich den Auseinandersetzungen um die »cultural turns« nicht entziehen; und sie muß kompetent den Ort aufweisen, an dem sachkundig über sie verhandelt werden kann. Sicher nicht in beliebigen Einzeldisziplinen. Es gibt keine Magna Charta der Universitäten, keinen Heros oder mythischen Romulus, der mit einem Handstreich die erste Universität auf einem geeigneten Hügel gründete; auch keine orientalischen Offenbarungen, die zu studieren man Abweichler nötigen könnte. Der bis heute andauernde Erfolg der Universität muß, so läßt sich unschwer resümieren, in der Natur des Menschen liegen, die unter bestimmten kulturellen Voraussetzungen das Bedürfnis und die Fähigkeit einer öffentlich geordneten, ergebnisoffenen Erkenntnis entwickelt. Diese Erkenntnis grenzt sich kritisch ab vom Glauben, den sie nicht praktiziert, sondern zum Gegenstand ihrer Neugier macht, sie grenzt sich als Theorie ab von der instrumentellen Klugheit, die an die unmittelbare Lebenspraxis gebunden ist, sie perfektioniert kein künstlerisches Können und 196 | kapitel V

akkumuliert kein Wissen zum Eintrichtern, sondern thematisiert die verschiedenen Gegenstands- und Tätigkeitsbereiche in methodisch strukturierten Untersuchungen. Diese Erkenntnis, die sich als eigenständige Praxis schon im vorsokratischen Griechenland findet, stiftet die Identität der Universitäten, so weit sie diesen tradierten Namen zu Recht führen. Wissen kann in getrennten Aggregaten aufgehäuft, thesauriert und abgerufen werden; dort die Mathematik, hier die theoretische Meereskunde. Die Wissenssammler sitzen in getrennten Höhlen ihrer Ausbildung und lernen vor den platonischen Kinowänden auswendig, was der Prof oder der billigere Lohnassistent wohl fragen wird, und schon ist das berufsqualifizierende Zertifi kat nach 6 Semestern unterschrieben. Die Erkenntnis ist dagegen jeweils eigene Tätigkeit und kann dadurch keine Illusion sein, weil sie die Blendmanöver thematisiert und die Wände des Abrufwissens mit ihrer Kritik durchstößt. Die Erkenntnis bezieht sich auf eine einheitliche Welt und bestimmt sie insgesamt nach ihren vorläufigen Befunden. Was tun? Partisan der Erkenntnis werden. Das Regime der Bürokratie demaskieren und schwächen, wo und wie immer es möglich ist. Im Positiven jedes Thema, jede Aufgabe zur Wende aus dem Ansammeln von Wissen hin zur Erkenntnis benutzen; die Frage nach den Gründen stellen und umständlich beantworten – das ist alles. Spiritus coquit omnia. Der Geist schwebt nicht metaphysisch über den Wassern, sondern steckt in jedem Satz der Vorlesung oder des Seminars, er muß nur aus der Betonierung befreit werden. Wenn die Module zum Tanzen genötigt werden, stürzen sie von selbst ein. Dafür bedarf es keiner besonderen Disziplin, der Philosophie oder Sozialwissenschaften, sondern nur der Beachtung des »warum« und »weil« und »nicht«, das in allen Disziplinen steckt und nur zu aktivieren ist. Die konkrete Organisationsform, zu der die Universitäten vorsichtig zu führen sind, ist sehr einfach. Studium konsolidierter Fächer, die weltweit zu finden sind: Mathematik, Chemie, Physik, Geographie, Musik, Archäologie…etc. Einrichtung einer Zwischenund einer Abschlußprüfung. Übergang in die Fachverbindungen, durch die sich bestimmte Universitäten besonders auszeichnen, ein bunter Teppich von neuen Erkenntnisregionen auf Grund neuer wozu noch universitäten? und welche? | 197

Verbindungen. Unter diesen uralten Bedingungen kann jeder in Berlin oder Kyoto sein beliebiges Studium beginnen und in einem beliebigen Semester nach Bologna reisen und dort, wie vor Bologna, weiter studieren.

6. Das Interesse und das Recht der Bürger an Universitäten mit freier Forschung und Lehre Die europäischen Universitäten waren ursprünglich Institutionen, an denen Kommunen, Fürsten, Kaiser, Päpste interessiert waren und die entsprechend ihre Rechtsgrundlage stifteten. Was legitimiert heute den Fortbestand der Universitäten, wenn man absieht vom positiven Recht der europäischen oder anderer Staaten? Welche Rechtsbastion kann benannt werden, wenn illegitime Eingriffe in die Universitäten durch die Administration vorgenommen werden? Gibt es ein ideelles Abwehrrecht? Wer wäre das interessierte Subjekt, das sich gegen die Gewalt zu behaupten versucht? »Alle Gewalt geht vom Volke aus.« Gibt es ein Recht auf Universitäten, das vom Volk ausgeht und den Staatsgewalten als Aufgabe übermittelt wird? Wir wollen uns im Folgenden auf dieses juridisch ganz ungenaue Recht des Volks oder der Bürger auf freie Universitäten als eine Hypothese stützen. Wir können auch von einem ideellen, interessegestützten Rechtsanspruch der Zivilgesellschaft sprechen. In der Sache geht es um den Erhalt oder die Ermöglichung der Universität als einer Institution, an der in einer Vielzahl von thematisch getrennten Bereichen eine kritische Erkenntnis ermöglicht wird. »Not for profit«.258 Die Zivilgesellschaft partizipiert an der Universitätserkenntnis dadurch, dass Universitätsleute die ihnen durch die Gesellschaft und ihren Staat ermöglichte Freiheit von sachfremden Interessen dazu benutzen, die Gesellschaft vor Irrtümern zu bewahren und ihnen neue Erkenntnisse mitzuteilen, sei es durch Lehre in der Universität, sei es durch Publikation in den unterschiedlichen Medien. In dieser Auffassung nimmt die Universität das Recht der Zivilgesellschaft an der Vierten Gewalt wahr. Die Vierte Gewalt setzt die moderne dreigliedrige Gewaltenteilung voraus und ergänzt diese durch eine unabhängige Öffentlichkeit. 198 | kapitel V

Es ist ein eminentes Interesse jeder Zivilgesellschaft, aktiv am globalen Wissens- und Erkenntnisaustausch teilzunehmen. Man kann dieses Bedürfnis vergleichen mit dem Interesse jeder Nation, an den globalen Wettkämpfen sei es der Olympischen Spiele oder anderer Weltspiele teilzunehmen. Es sind wichtige Ereignisse des körperlichen Kräfte- und Geschicklichkeitsmessens, die sich nun einmal herausgebildet haben und in die integriert zu sein für jede Nation oder Zivilgesellschaft essentiell ist; daraus leitet sich ein Recht gegenüber den staatlichen Institutionen ab, die Teilnahme zu ermöglichen. Die Integration des Landes in den Informationstransfer und Erkenntnisprozeß greift tiefer, weil diese Olympiade 365 Tage im Jahr stattfindet. Die verantwortliche Institution ist die Universität, ersatzlos. Das globale Bezugsfeld der Erkenntnis-Teilnahme besagt, daß die Universität sich permanent in ihrer Disziplinenordnung dem aktuellen Stand angleichen und ihn möglichst mitbestimmen muß. Aus dem Zwang zur Innovation und der Logik der Erhaltung ergibt sich ein Antagonismus zwischen »anciens« und »modernes«, der nur mit Sachkenntnis und Urteilskraft im jeweiligen Fall zu entscheiden ist. In allen Beispielen, die im Folgenden angeführt werden, übernehmen die Universitäten den Schutz derjenigen, die eine interessefreie Lehre und Forschung und entsprechende Publikationen betreiben. Der Status von Universitätslehrern befreit sie von dem Zwang, sich durch Bücher vom Markt abhängig zu machen und marktkonform zu schreiben und am Ende marktkonform zu denken. Alle Erkenntnisse sind irrtumsgefährdet; wenn ein gesellschaftliches oder politisches Interesse ins Spiel kommt, können Publikationen mit vorgeblichen Erkenntnissen manipuliert werden. Ein Beispiel für das letztere ist die Verfälschung der Geschichte, die sich insgesamt durch die Menschheit zieht. Wie haben sich die griechischen Kommunen den Sieg von Marathon zurecht gelegt und angeeignet?259 Wie steht es um die Konstantinsche Schenkung? Besonders krass war die Täuschung der eigenen Bürger in den Enzyklopädien der Sowjetunion. Da die publizierte Geschichte eine Gestaltungskraft für die Gegenwart hat, haben die Bürger ein Interesse und einen Rechtsanspruch auf Darstellungen, die dem Stand wozu noch universitäten? und welche? | 199

der kritischen Forschung und ihrer Möglichkeiten entsprechen. Bekannt sind die Versuche, den NS-Staat zu rechtfertigen und die inzwischen einigermaßen konsolidierte Geschichte zu ändern. Das Material wird wie ein Steinbruch ausgebeutet, »um mit aus dem Zusammenhang gerissenen Einzelfakten, oft unter Missachtung des chronologischen Ablaufs, ein dem Propagandaziel entsprechendes Geschichtsbild zu montieren. […] Das Produkt dieser Manipulationen sind Geschichtsklitterungen, Zerrbilder der historischen Wahrheit. Eine verfeinerte Methode besteht darin, den Interpretationen der wissenschaft lichen Geschichtsschreibung in weiten Passagen zu folgen, um dann bei den entscheidenden Fragen die apologetisch-revisionistische Version einzubauen.«260 Stand nicht Trotzki auf den Bildern neben Lenin auf der Rednertribüne? Hat die Partei ihn zum Wohl des Volkes wegradiert? Waren die Iraker, die den Umsturz der Saddam-Statue bejubelten, nicht von George W. Bush zum Eigenruhm des Guten angemietet? Ohne eine akademische Geschichtsforschung zerfällt die einheitliche Geschichte in viele Interessendomänen, zwischen denen eine Einigung nicht möglich ist. Dies wäre der Triumph des »apaideutos«, des Ungebildeten, der nur den mathematischen Disziplinen eine Verbindlichkeit zusprechen will. Der skeptische Zweifel, ob nicht alle Geschichtsdarstellung ein bloß subjektives, am Horizont der Gegenwart gemaltes Gebilde ist, verringert sich, wenn literarische Quellen mit modernen archäologischen Funden verglichen werden – der Skeptiker möge seine generellen Zweifel hier in concreto schulgerecht vorführen, gegen die dendrochronologischen Bestimmungen und die mit ihnen übereinstimmenden Akten des Stadtarchivs. Wenn die akademische Geschichtswissenschaft verschwindet, ist jede Publikation in ihrer Beurteilung den konkurrierenden Medien ausgeliefert. Man wird es deren Redaktionen nicht übel nehmen, wenn sie für die Rezension jemanden aussuchen, der streitbar ist, sich gerne empört und Reiz- und Stichworte liefert für die weitere Debatte. Also werden sie verständlicherweise leicht Personen bevorzugen, die kein ausgeprägtes wissenschaft liches Ethos haben und sich ohne weiteres sei es an der Exekution, sei es an der raschlebigen Ewigkeitssprechung beteiligen. Das ist alles im Grunde gut und nützlich; es ist nur daneben ein rein akademisches Forum 200 | kapitel V

nötig, das sich durch internationale Fachzeitschriften verständigt und sich wenig um die Tagesinteressen und ihr Erinnerungschaos kümmert. Die akademisch betriebene kritische Geschichtswissenschaft dient besonders der Ausbildung von Geschichtslehrern an Gymnasien. Dem Verwalter, der kein akademisches Studium kennt, leuchtet nicht ein, warum es dazu eines mindestens zehnsemestrigen kontinuierlichen Studiums bedarf. Beherrscht werden muß die kritische Methode, das Quellenstudium, die Technik und die Fairness der Auseinandersetzung, ein großes Feld der faktischen Geschichte für Zusammenhänge und Vergleiche – alles Dinge, bei denen der Verwalter nicht mehr zuhört, dies lasse sich im Kurzverfahren erlernen, wichtig sei nur die Didaktik mit power-point und Einfühlung. Die Fächer brauchen dieses rein akademische Forum, sie brauchen eine akademische Gemeinschaft , die dieses Forum ernst nimmt, sie brauchen die geschulte akademische Urteilsbildung. Die guten Zeitungen stammen direkt aus den guten Seminaren. Die technische Kultur ermöglicht neue Formen des Eingriffs in die Natur bis zur Änderung der früher unbekannten Gene, die Verlängerung des individuellen Lebens durch eine technikgestützte Medizin. Die Eingriffsmöglichkeiten tangieren ethische und rechtliche Probleme, daher die Gründung von Ethikkommissionen. Sie haben eigene Publikationsorgane und andere Foren des Austausches. Dabei wird bislang an die akademischen Formen des Austausches von Argumenten angeknüpft; die Mitglieder müssen sich in den Diskussionsformen auskennen und über den Erkenntnisstand verfügen, der hierbei international vorausgesetzt wird. Es wird angeknüpft an die Aristotelische oder Kantische Ethik, es wird vorausgesetzt, daß man die wesentlichen utilitaristischen Positionen kennt und die wichtigsten zeitgenössischen Überzeugungen. Die Voraussetzungen der Ethikkommissionen werden in den Philosophischen Seminaren geliefert. Der Bürokrat kennt sie nicht. Mit dem Verweis auf die akademische Ausbildung in Fragen der angewandten Ethik verbindet sich der weitere Komplex der Kenntnis der Philosophie als einer präsenten akademischen Disziplin. Sie gehört zum Selbstverständnis einer modernen Zivilgesellschaft als wozu noch universitäten? und welche? | 201

Ort, an dem professionell der Umgang mit Begriffen geübt wird, und die gesamte europäische Kultur zehrt in ihrem Selbstverständnis von der begriffl ichen Artikulation. Wenn nur dieses Vermögen stärker ausgebildet würde! Es geht nicht um die Ergebnisse, sondern nur um die Fertigkeit des Umgangs mit Begriffen der Politik, des Rechts, der Würde, Freiheit. Die Gegenposition ist die Diffamierung schon der Nachfrage als bloßer Nichtigkeit, bloßer Gespinste und Spekulationen. Hätten deutsche Politiker gute philosophische Seminare besucht, so hätten sie 1990 einen Begriff von dem ideologischen, rechtlichen, politischen Geschehen vermitteln können – nichts von alledem, sondern begriffloser Pragmatismus, der glücklicherweise gut endete. Die Universität ist verpfl ichtet, eine Reflexionskultur zu erhalten und ihr Ansehen zu verschaffen, so daß die Barbaren, die das Recht in die Hände des Führers legen möchten, möglichst keine Chance haben. Die Philosophie an der Universität ist für die historische und die systematische philosophische Bildung zuständig. Die erste liefert Orientierungen, die für jede Konsensbildung – auch über die Formen, wie Dissense ausgetragen werden – wichtig sind, die zweite, um einzuführen in die epistemischen und praktischen Üsancen, die die Welt bestimmen und einer begrifflichen Klärung zugänglich sind. Die Reflexionskultur, für deren Ausübung und Verbreitung die Universität verantwortlich ist, bildet nur den Kern dessen, was mit der Aufk lärung der Zivilgesellschaft gemeint ist. Die Grundtönung unserer Gesinnung ist materialistisch: Die eigentliche Wirklichkeit ist seit Marx und Nietzsche das, was sich konkret in der Ökonomie und Biologie abspielt. Aber sind der Materialismus und Empirismus haltbar? Sollte man nicht doch an Gott glauben? Die philosophische Ausbildung der Universität stellt die Mittel zur Verfügung, sich in einem öffentlichen oder privaten Reflexionsprozeß über diese Fragen klar zu werden. Die Philosophie ist professionelle Aufk lärung, auf sie hat die Zivilgesellschaft ein Recht.261 Zur Unterscheidung von Biologie und Biologismus bedarf es einer präzisen Begriffskultur. Weltanschauliche Verbockungen beruhen meist auf der Unfähigkeit oder dem Unwillen, die genauen Grenzen zu erkennen. Was wissen Biologen, Hirnforscher und Genforscher und Bankvorstände über die menschliche Natur, so weit sie Gegenstand methodischer Untersuchungen ist? Wo 202 | kapitel V

beginnt die ungedeckte Überhöhung zur rassistischen Weltanschauung? Das Recht auf eine interessenfreie akademische Klärung bezieht sich auf alle Gebiete der Natur- und Geisteswissenschaften, so weit dies den einzelnen Staaten möglich ist, etwa die Genforschung der Pflanzen, Tiere und Menschen. Oder die Erforschung des Ursprungs des Universums gegen mythisch-biblische Erzählungen, soweit sie sich nicht neben, sondern gegen die Ergebnisse der Aufk lärung stellen. Der Typ dieses Interesses und Rechts an kritischem Einspruch und eigener Forschung ist vorgeprägt in den neuzeitlichen Kämpfen um Toleranz und Religionsfreiheit; es ist ein individuelles Recht und zugleich ein Rechtsanspruch der Zivilgesellschaft , in beiden Varianten ist es jedoch kaum einklagbar. Man kann hier von einem allgemeinen modernen Menschenrecht sprechen, denn in der Antike und im Mittelalter gab es sicher weder ein Interesse noch ein Recht der Bewohner, die historische Wahrheit über die Marathonschlacht oder die Kreuzzüge zu erfahren und die Grenzen der Naturwissenschaft zu bestimmen. Der Sieg von Marathon wurde sogleich von interessierten Parteien zu einem Staatsmythos stilisiert, den die moderne Geschichtsforschung erst langsam durchdrang,262 und zur Klärung der Kreuzzüge und ihrer Motive fehlten im Mittelalter alle Grundlagen in der analphabetischen Bevölkerung. Erst die Aufk lärung schuf die Institution einer kritischen, quellengeleiteten Forschung und damit auch das Interesse und das Recht an den Ergebnissen einer derartigen Geschichtsklärung, nicht europa-, sondern weltweit. Um es noch einmal an der Geschichtswissenschaft zu erläutern. Es ist dem Staat und dem Bürger im Prinzip gleichgültig, welche Geschichte in Parteilehrgängen oder in konfessionellen Seminaren gelehrt wird; jedem soll unbenommen sein, sich die Geschichte gemäß bestimmter Dogmen zurechtzulegen. Gegenüber dem Staat gibt es jedoch einen Rechtsanspruch, dass an seinen Bildungsanstalten Geschichte als Ergebnis der kritischen Forschung und der akademischen Auseinandersetzung gelehrt wird und publiziert werden kann. Der europäische Staat hat ein Monopol bei der Bildung seiner Bürger erworben, das am besten in der Schulpflicht zum Ausdruck wozu noch universitäten? und welche? | 203

kommt. Jeder neugeborene Bürger wird nach der neunmonatigen biologischen Verwahrung im Mutterleib möglichst rasch in eine staatliche Krippe überführt und der Familie nur für eine Restzeit überlassen. Der Staat eliminiert den Naturzustand der Kindheit und schiebt das »exeundum est e statu naturali« möglichst weit an die Geburt heran. Mit dieser Verstaatlichung von Kindheit und Jugend übernimmt der Staat die Pfl icht, die physische und geistige Instruktion und Formung so zu gestalten, dass am Ende ein mündiger und kritischer Bürger der Zivilgesellschaft vor ihm steht. Eben hierzu bedarf er der Zentren, die diese Idee zu ihrem Thema machen und die Lehrer entsprechend in allen relevanten Themen ausbilden können. Der Staat selbst muß verhindern, dass die Universitäten ihre Bildung und Forschung und Lehre durch Instruktion für die Praxis ersetzen, Erkenntnis durch Wissen ersetzen und folgerichtig in private Ausbildungsstätten zerfallen können. Ein heute wichtiges Gebiet, das des universitären Schutzes bedarf, sind die sog. »gender studies«. Die Frage der Stellung der Frau in der Geschichte und der Gegenwart, auch in der Universität selbst, kann nicht den Zeitschriften und freien Schriftstellern allein überlassen werden, sondern gehört in die Domäne von Historikern und Historikerinnen, die das Metier der Quellenkritik, der Komparatistik, der kritischen Erörterungen ihrer Ansichten gelernt haben und ohne ökonomische und ideologische Pressionen weiter ausüben können. Im Privat- und Marktgebrauch kann man Schriften verwenden, deren Sprache man nicht kennt und die nur in einer nicht kontrollierbaren Übersetzung zugänglich sind, im akademischen Bereich verbietet sich dies von selbst. In formaler Hinsicht soll die akademische Ausbildung gewähren, dass jemand eingeführt ist in die Kultur des Argumentierens. Man nehme ein Beispiel: Die Erlaubnis der Folter oder der Androhung von Folter in Extremfällen. Wie geht man sachlich mit diesem Komplex um? Wo lernt man das sorgfältige Aufstellen und Kritisieren der Begründung bestimmter Thesen? Es gibt in der Marktgesellschaft das Angebot der Rhetoriklehre, aber nicht der Kultur des fairen, am Problem und seiner Lösung orientierten Erkennens und Argumentierens. Die Zivilgesellschaft braucht jedoch eben dieses methodische Können, um ihre Bürger vor den 204 | kapitel V

Insinuationen von Parteifunktionären und Pius-Brüdern oder völkischen Stimmungen zu stärken. Und sie braucht Stätten, in denen nicht formal leer argumentiert wird, sondern in einer Bindung an Sachkenntnis. Warum soll die Zivilgesellschaft hinnehmen, dass die Stätten bürokratisch zerstört werden, die traditionell der geistigen Ausbildung gewidmet sind? Die Gesellschaft dokumentiert ihren Willen, ihre Kulturgüter zu erhalten, in der Rettungsaktion der Dresdner Frauenkirche und der Anna-Amalia-Bibliothek. Wer stünde nicht hinter dem vernichtenden Urteil von Adolf Muschg, das eingangs zitiert wurde? Es wird die politische Erfolgsgeschichte erst Westeuropas, dann Europas nach dem 2. Weltkrieg gelobt. Zuvor wurde die Politik von feudalen Regimes gelenkt, und die politischen Phänomene nach 1918 bis 1945 bzw. 1968 lassen sich als Kataklysmen der überkommenen Feudalstrukturen interpretieren. Wenn 1945 eine Erfolgsgeschichte beginnt, dann beruht sie auf der politischen Mündigkeit der Bevölkerung, aber eine wichtige Keimzelle der Demokratie ist die europäische Universität. Die politische Leitung fällt weitgehend den Akademikern zu, die in und durch diese Institution gebildet wurden. Warum sollten die europäischen Bürger diese Universitäten aufs Spiel setzen? Von den Faschisten wurden die Akademiker verachtet, von den Kommunisten wurden sie unter die Arbeiter und Bauern subsumiert. Lebensfördernd war die Verfemung des kritischen Akademikers in keinem der beiden Fälle. – Die Selbstreflexion der Demokratie 1968 geschah durch den Protest von Angehörigen der Universitäten, wobei zugleich die Schwächen des Akademikers sichtbar wurden; wie 1933 die Selbstbehauptung der Universität zur größten Selbsterniedrigung geriet, so wurde 68 die akademische Freiheit in Randgruppen in ihr Gegenteilverkehrt. Anspruchsvolle Kultursendungen und –artikel können in der Regel nur von akademisch gebildeten Redakteuren geleistet werden; es müssen Anspielungen erkannt werden, Wiederholungen, Parallelen; nur ein breit gefächertes Studium liefert dazu die sichere Bildung. Warum soll sich die Zivilgesellschaft einen flächendeckenden »Wir-sind-Papst«-Journalismus gefallen lassen? Wie viele Zeitungen sind noch dazu in der geistigen Lage, ein anspruchsvolles Feuilleton zu liefern, durch das auch Jugendliche wozu noch universitäten? und welche? | 205

in die Kulturszene eingeführt werden können? Warum sollen die Provinzkohorten sich bis in die Städte wagen? Die Zivilgesellschaft hat einen Anspruch auf eine sachkundige Diagnose ihrer eigenen wirklichen oder vermeintlichen Pathologien, ob diese sich nun in einer Finanzkrise zeigen oder in Migrationsbewegungen, im Leistungsniveau der Schulen oder in der Marginalisierung von Bevölkerungsteilen, die in der eigenen Gesellschaft keine Zukunft fi nden, die nichts mehr für sich tun können. Es muß Institute geben, die sich diesen Problemen der Selbstdiagnose professionell widmen und sich global mit gleichen Einrichtungen austauschen. Der akademische Status soll gewährleisten, dass keine Interessen die Fragen und Antworten lenken. Woher kommen wir? Wohin gehen wir? Um das Letztere zu beantworten, muß man sich beim Ersten auskennen, weil jedes Wort und jeder Satz bis zum Hals in einer wabernden Vergangenheit steckt. Die Universitäten betreiben diese Nachfrage professionell, und die Zivilgesellschaft hat ein Interesse an und ein Recht auf diese Institution, die die Herkunft wissenschaft lich erkundet, um dem Wohin? sachkundige Orientierungen zu liefern und Fehlentwicklungen zu verhindern. Der Einfluß der Offenbarungs-Religionen wächst weltweit. An den europäischen Universitäten hat sich besonders in der Neuzeit eine Kultur der kritischen Quellensichtung wie auch der systematischen Analyse der Argumente entwickelt. Niemand ist gezwungen, die Ergebnisse zu akzeptieren, aber alle sollten dafür plädieren, dass die historische und systematische Analyse der jeweiligen separaten Offenbarungen kultiviert und weiter gereicht wird. Nicht nur die Textkritik, sondern auch die begriffliche Klärung war und ist der Gegenstand der akademischen Beschäft igung. Auch die Kenntnis des Verses des Lucrez: »Zu wie vielen Übeln hat die Religion die Menschen überredet« (»Quantum religio potuit suadere malorum«). Die allgemeine Theologie ist einmal Gegenstand eines Erkenntnisinteresses in der Tradition der griechischen Philosophie; zum andern kann in diesem Fach jede Religion thematisiert werden, die christliche so gut wie die islamische oder jüdische. Dies ist eine Frage der Kapazitäten und der örtlichen Möglichkeiten und Interessen. »Islamwissenschaft, Judaistik, Katholizismus, Protestantis206 | kapitel V

mus an den Universitäten«? Wenn es die Gelehrten, die fi nanziellen Möglichkeiten und vielleicht Zuwendungen gibt und sich alle Beteiligten der Aufk lärung und kritischen Erkenntnis, alles sine ira et studio, alles ohne das Einweisen in den jeweiligen Glauben und gar Mitgestaltung durch die Gläubigen. Aut – aut: Entweder akademische Erkenntnis ohne jeden Einspruch der Gläubigen, oder aber eine akademische Dekoration von Glaubenswerten, die nicht mehr zur Disposition stehen. Entweder vorbehaltlose kritische Erkenntnis, oder die Universität gestattet deren Verhüllung. Die Zivilgesellschaft hat ein Interesse und ein Recht, daß hier professionell eine neutrale Religionswissenschaft betrieben wird. Die Erkenntniskultur hat ihre eigentümlichen Regeln, die zwischen Erkenntnis und Glauben eine harte Zäsur setzen. »Credo quia absurdum« – nun gut, tu es, aber verlaß die Universität. Wir können über dich reden, aber nicht einverständlich mit dir. Das Insistieren auf freier, durch keine Religion korrumpierbaren Erkenntnis ist ein dringendes Postulat der demokratischen Zivilgesellschaft. Ein relativ neues Feld einer akademischen Erkenntnis tut sich durch die ökologischen Zerstörungen auf, die bis an den Anfang der nachvollziehbaren Geschichte zurückreichen und die Menschen heute vor eine Schreckensszene stellen: Die Eingriffe in die Natur bis hin zur Änderung des Klimas. In der Antike wurden die Berge um das Mittelmeer nachhaltig abgeholzt bis zur Verkarstung, die wir heute noch sehen. Kein Wort darüber bei Parmenides, Platon oder Aristoteles. Der Mangel an Aufk lärung führte zu einer Vertiefung der Verwüstung bis ins Mittelalter und in die Neuzeit; erst allmählich wuchsen die forstwirtschaft lichen Erkenntnisse, die das naive Idyll in ein erkanntes Todesszenario verwandelten. Die dramatische Beschleunigung der Eingriffsfolgen führt zur Notwendigkeit einer Erkenntnis dieser Tatbestände und der Mittel, ihnen mit reflektiert-technischen Mitteln zu begegnen. Die Schaltstellen zwischen genauer Erkenntnis und technischer Hilfe können nur die Universitäten bieten. Um sich in der Kultur der Museen bewegen zu können, bedarf es einer genauen Kenntnis der einschlägigen Sprachen und Kulturgebiete, die nur in einem freien Studium erworben werden kann; allein die europäische Kunst erwächst aus einem Netz der Verbinwozu noch universitäten? und welche? | 207

dungen, die bekannt sein müssen, schon um den Inhalten, den Symbolen und der bisherigen Forschung gewachsen zu sein. Ein anderer Interessenbereich tut sich auf, wenn man den Blick auf andere Kontinente richtet und die europäischen Universitäten im Vergleich mit anderen betrachtet. Die Gesellschaft hat einen Anspruch darauf, dass die europäische Erkenntnis-Kultur mit der anderer Kontinente auf gleichem Niveau kommunizieren kann und ein problemloser akademischer Austausch möglich ist. Oder die antike Kultur, die Gegenstand in allen Bildungsanstalten der Welt ist und schon aus diesem Grund besonders in Europa präsent zu halten ist. Das ist nicht in Forschungssilos von Exzellenzzentren möglich, sondern bedarf der entsprechenden Fächer an allen Universitäten und der Einübung an den höheren Schulen. Nach dem 2. Weltkrieg versuchte Europa, die Selbstidentität wieder zu gewinnen durch die Rückbesinnung auf die Tradition des Abendlandes. Diese Identitätssuche ist kaum noch attraktiv, der Inhalt selbst jedoch hat eine die Gegenwart und Zukunft verpflichtende Norm. Die europäische Geschichte ist für die Zivilgesellschaft ein Erbe, das genauso wie die Bau- und Kunstsubstanz nicht einer bestimmten Zeit zur Verfügung und Verwüstung bereitgestellt wird. Die Kulturstafette ist aus der Vergangenheit in die Zukunft weiter zu reichen. Ein weiteres Gebiet des Interesses der Gesellschaft an einer akademischen Ausbildung ist der Problembereich der Ethik. Der Ethikrat setzt Teilnehmer voraus, die sich im Medium sachlicher Argumente zu begegnen wissen, die den Unterschied von Recht und Ethik kennen und artikulieren können, die eine Bezugnahme auf Aristoteles oder Kant erkennen und beurteilen können, die die Diskussion in anderen Ländern verfolgen. Wie ist umzugehen mit Vertretern, die auf der Grundlage einer der drei unterschiedlichen Offenbarungsreligionen votieren? Das Training für eine derartige Funktion wird in der Universität erworben. Es ist leicht zu sehen, wie sich hier eine große Zahl von Tätigkeiten anschließt, die eine staatlich geordnete Zivilgesellschaft benötigt und die ein hohes Maß an kultureller Kompetenz verlangen, man denke an die Parlamentarier, Regierungsbeamte, Diplomaten. Verlangt wird nicht nur ein Expertenwissen wie in der Entwicklung neuer Soft ware und Bürofluchten, sondern ein Umgang 208 | kapitel V

mit Kultur, wie ihn die traditionelle Universität zu vermitteln suchte. Die Selbstbehauptung der Universität geschieht nicht durch den Rekurs auf Mythen und Legenden oder Offenbarungen, sondern nüchterner durch ein Identitätsprofi l, in das an erster Stelle die kritische Erkenntnispraxis in den neuen oder älteren Disziplinen gehört. Es ist nicht sehr erhebend, wenn europäische Universitäten sich gegenüber Studierenden und Wissenschaft lern anderer Kontinente nicht mit ihrer spezifischen Geschichte und gegenwärtigen Eigentümlichkeit vorstellen können. Europa ist ein bevorzugtes Thema europäischer Universitäten, der Zuschnitt dieser Universitäten kann jedoch nicht provinziell verwaltet werden, sondern ist notwendig global. Die Verwalter ruinieren die Universitäten mit ihrer Planwirtschaft und dem Wahn des Punktesammelns. »Wir wollen lernen«, sagen die Schüler, und jetzt ist es an den Studierenden und dem ASTA, ihr »Wir wollen studieren« gegen die planwirtschaft liche Entmündigung zu stellen. In den Universitäten und der Verwaltung zeichnen sich, so scheint es, keine Gegenkräfte ab, so müssen die nächsten Studentengenerationen selbst die Freiheit des ganzen Studiums zurück erobern. Es muß wieder möglich werden, den Abiturienten aus Israel, Chile oder Australien zu empfehlen, ihr Studium in Deutschland zu beginnen.

wozu noch universitäten? und welche? | 209

Anhang I Martin Luther: »Vera theologia est practica, et fundamentum eius est Christus […]. Speculativa igitur theologia, die gehort in die hell zum Teuffel.«

Anhang zu den Betriebspraktika während des Studiums in Hessen ab 2006. Die Öffentlichkeit hat die Ungeheuerlichkeit des Zwangs zum Betriebspraktikum während des Lehramtsstudiums nicht zur Kenntnis genommen. Um zu verdeutlichen, in welcher historischen Folge die Betriebspraktika zu sehen und zu beurteilen sind, beginnen wir mit dem Reichsarbeitsdienst gemäß dem Gesetz von 1935, schließen dann den analogen Erlaß der DDR an und bringen drittens den Text zu den Betriebspraktika in der Bundesrepublik Deutschland.

I. Deutsches Reich 1935 Reichsarbeitsdienstgesetz vom 26. Juni 1935 Das Gesetz schreibt einen sechsmonatigen Arbeitsdienst nach Vollendung des 18. Lebensjahres für Männer und Frauen vor; ausgenommen sind Nichtarier. Männer und Frauen tragen Uniformen. Die Regelungen im Einzelnen.263 »Der Reichsarbeitsdienst ist Ehrendienst am deutschen Volke. Alle jungen Deutschen beiderlei Geschlechts sind verpflichtet, ihrem Volke im Reichsarbeitsdienst zu dienen. Der Reichsarbeitsdienst soll die deutsche Jugend im Geiste des Nationalsozialismus zur Volksgemeinschaft und zur wahren Arbeitsauffassung, vor allem zur gebührenden Achtung der Handarbeit erziehen. Der Reichsarbeitsdienst ist zur Durchführung gemeinnütziger Arbeiten bestimmt.« | 211

II. DDR Der folgende Text ist entnommen dem DDR-Handbuch / hrsg. vom Bundesministerium für Innerdt. Beziehungen. Wissenschaft l. Leitung: Christian Ludz, Kön 1975, S. 1105.

Universitäten und Hochschulen Grundstudium Das 2jährige Grundstudium knüpft an die Lehrpläne der Erweiterten Oberschule an. Im G. werden Gesellschaftswissenschaft liche, naturwissenschaft liche und fachspezifische Grundkenntnisse vermittelt. Die Studierenden sollen lernen, sich wissenschaft licher Arbeitsmethoden zu bedienen und zu eigenständiger wissenschaftlicher Arbeit befähigt werden. Weitere Schwerpunkte des G. ist das sog. Marxistisch-leninistische Grundlagenstudium. Um eine laufende Beratung und Anleitung der Studierenden zu erreichen, werden ›wissenschaft liche‹ Betreuer – zumeist wissenschaft liche Mitarbeiter UuH – für Gruppen von etwa 20 Studenten eingesetzt. Ihre Arbeit soll dazu beitragen, die Anfangsschwierigkeiten zu überwinden und die Bildung von Studentenkollektiven zu fördern. Neben der fachlichen Betreuung sollen sie auch die gesellschaft liche Arbeit und das charakterliche Verhalten der Studenten beurteilen. Die Betreuer sind zu einer engen Zusammenarbeit mit der FDJ verpfl ichtet. Am Ende des 1. Studienjahres steht in den meisten Fächern ein erstes etwa 4wöchentliches Praktikum in der Ausbildungsrichtung entsprechenden Praxisbereichen. Im 2. Studienjahr sind alle Studenten verpflichtet, eine rd. 5wöchige militärische Ausbildung bzw. Ausbildung im Bereich der Zivilverteidigung (dies vor allem für Studentinnen) zu absolvieren. Einmal während seines Studiums ist jeder Student gehalten, im Rahmen des ›Studentensommers‹ an einem 3- bis 4wöchigen bezahlten Arbeitseinsatz in der Industrie, der Landwirtschaft, im Bauwesen oder als Betreuer in Pionierferienlagern teilzunehmen. Das Grundstudium schließt nach 2 Jahren mit einer Vorprüfung ab.

212 | anhang I

Fachstudium Im 2jährigen Fachstudium wird die Ausbildung differenziert nach einzelnen Fachstudienrichtungen weitergeführt. Sie soll vorrangig an den künft igen Anforderungen im Beruf orientieren und zugleich die neuesten wissenschaft lichen Erkenntnisse des jeweiligen Faches in die Lehre einbeziehen. Bereits während des Studiums sollen Studenten mit der Lösung praktischer Aufgaben betraut werden, um ihre theoretisch erworbenen Kenntnisse praktisch anwenden zu lernen. Diese bedeutet in erster Linie ihre Beteiligung an der Forschung. Zugleich wurde mit verschiedenen Methoden und wechselndem Erfolg versucht, die Ergebnisse studentischer Forschungsarbeit für die Volkswirtschaft nutzbar zu machen. Im Rahmen des Fachstudiums wird – je nach Studienrichtung – ein zweites mehrmonatiges Praktikum (in den technischen Disziplinen ‹Ingenieurpraktikum‹) in der Industrie, der Landwirtschaft oder in gesellschaft lichen Institutionen absolviert. Es wird angestrebt, das Praktikum am Ende des 3. Studienjahres bereits in den Betrieben oder Einrichtungen durchzuführen, in denen der Student nach Abschluß des Studiums seine Tätigkeit aufnimmt. Im Rahmen des Praktikums werden die Studenten mit der Bearbeitung kleinerer Problembereiche betraut, die zumeist in größere Forschungsvorhaben eingebettet sind und die zwischen den UuH. Und den jeweiligen Tätigkeitsbereichen vertraglich vereinbart werden. Das Fachstudium schließt nach anderthalb Jahren mit einer Hauptprüfung ab, die zur Führung einer Berufsbezeichnung berechtigt. Durch die Anfertigung einer eigenständigen wissenschaft lichen Arbeit und ihre öffentliche Verteidigung kann in einem weiteren halben Jahr ein Diplom erworben werden. Das Thema der Diplomarbeit ergibt sich in den meisten Fällen aus der am Ende des Praktikums anzufertigenden Abschlußarbeit. Ihre Ergebnisse sollen, soweit möglich, praktisch verwertet werden. Nur ein geringer Prozentsatz der Studenten macht von der Möglichkeit Gebrauch, die Universität oder Hochschule nach der Hauptprüfung zu verlassen und das Diplom extern zu erwerben. Mehr als 90 v. H. der DDR-Studenten erhalten ein Stipendium entsprechend ihrer sozialen Lage.

anhang I | 213

III. BRD (Hessen) »Hinweise zum Orientierungs- und Betriebspraktikum Neben den schulpraktischen Studien, die von den Universitäten organisiert und in der Regel ab dem zweiten Semester durchgeführt werden, müssen alle Studierenden, die ab dem Wintersemester 2005/2006 ein Lehramtsstudium neu begonnen haben ein Orientierungspraktikum und ein Betriebspraktikum absolvieren. Das Orientierungspraktikum dient zum Sammeln von Erfahrungen in pädagogischen Berufsfeldern der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen (insbesondere außerhalb der Schule). Das Betriebspraktikum soll Einblicke in ein Berufsfeld außerhalb des pädagogischen Bereiches vermitteln. Rechtsgrundlagen Die Gestaltung des Orientierungspraktikums (OP) und des Betriebspraktikums (BP) wird aus folgenden Rechtsgrundlagen abgeleitet: – Drittes Gesetz zur Qualitätssicherung in hessischen Schulen vom 29. November 2004, § 15 (HLbG) – Verordnung zur Umsetzung des Hessischen Lehrerbildungsgesetzes (HLbG-UVO) vom 16. März 2005, § 7: Orientierungs- und Betriebspraktikum – Der Unfallversicherungsschutz ist für die Praktikantinnen und Praktikanten gewährleistet nach § 2 Sozialgesetzbuch VII. Orientierungspraktikum Bestimmungen zum Orientierungspraktikum(OP) (gemäß HLbG, § 15 und HlbG-UVO, § 7) 1. Das OP dauert mindestens vier Wochen. Die Arbeit umfasst in der Regel 30 Zeitstunden pro Woche. Die werktägliche Anwesenheit in der besuchten Einrichtung soll fünf Zeitstunden nicht unterschreiten. 2. Der Zeitpunkt liegt in der Regel vor dem Studium (weitere Hinweise s. unter 6.!).

214 | anhang I

3. Praktikumsorte und Inhalte sind die Arbeit an staatlichen, kirchlichen oder freien Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe einschließlich der Einrichtungen für den Kinderund Jugendsport sowie der unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Praxis von Schulen. Zum schulischen Bereich gehören Hospitationen in verschiedenen Schulformen und Schulstufen sowie die Beteiligung an Festen, Schulfahrten und anderen Veranstaltungen außerhalb des Unterrichts. Eine Liste von Jugendämtern und Trägerverbünden, die bei der Suche nach einer Praktikumsstelle für das Orientierungspraktikum behilfl ich sein können, fi nden Sie auf den Internetseiten des AfL. 4. Anleitung erfolgt durch eine Betreuerin oder einen Betreuer der Einrichtung. 5. Zur Dokumentation dient ein Studienportfolio264. Vorgaben dafür sind auf der Homepage des AfL zu finden: 6. Der Nachweis über das abgeleistete Orientierungspraktikum wird von der entsprechenden Einrichtung ausgestellt. Zur Vorlage von Nachweis und Portfolio entnehmen Sie bitte die entsprechenden Hinweise auf der Homepage der für Sie zuständigen Prüfungsstelle des AfL. Weitere Hinweise zum Orientierungspraktikum (OP): Zeitliche Eckdaten: Abzuleisten: i. d. R. vor dem Studium; mind. 4 Wochen; i. d. R. 5 Zeitstunden pro Tag, insgesamt mind. 120 Zeitstunden. Das OP kann in mehreren Abschnitten und bei mehreren Einrichtungen abgeleistet werden. – Es kann auch außerhalb Hessens oder im Ausland abgeleistet werden. – Ein Bericht zum Praktikum ist verpfl ichtend, wenn dieses nach dem 01.01.2005 begonnen wurde. Er ist gemäß den Vorgaben auf dieser Homepage (Stichwort Portfolio) anzufertigen. – Der Bericht entfällt, wenn das Praktikum vor dem 01. 01. 2005 begonnen wurde. – Auf Antrag können Tätigkeiten in Bereichen pädagogischer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen als OP anerkannt werden, die während des Zivildienstes, eines Sozialen Jahres, anhang I | 215

im Rahmen eines freiwilligen Ehrenamtes oder einer entsprechenden Berufsausübung abgeleistet wurden. Entsprechende – Anerkennungswünsche sind bei der zuständigen Prüfungsstelle schrift lich vorzulegen. Auch in diesem Fall entfällt ein Bericht. – Praktika, die während der Schul- oder Ferienzeit abgeleistet wurden, können nicht als Orientierungspraktikum angerechnet werden. – Bei weiteren Fragen wenden Sie sich bitte an die für Sie zuständige Prüfungsstelle. Betriebspraktikum Bestimmungen zum Betriebspraktikum (BP) (gemäß HLbG, § 15 und HLbG-UVO, § 7) 1. Es dauert mindestens acht Wochen. 2. Praktikumsort ist ein Produktions-, Weiterverarbeitungs-, Handels- oder Dienstleistungsbetrieb – auch im Ausland. 3. Die Dokumentation erfolgt in einem Studienportfolio. Vorgaben dafür sind auf der Homepage des AfL zu finden. 4. Der Nachweis über das abgeleistete Betriebspraktikum muss vom Betrieb ausgestellt werden. Bescheinigung und Portfolio sind dem Amt für Lehrerbildung bei der Meldung zum Ersten Staatsprüfung vorzulegen. 5. Das Betriebspraktikum entfällt bei einer nachgewiesenen beruflichen Ausbildung oder einer vergleichbaren Tätigkeit oder wenn berufliche Praktika im Rahmen der Vorschriften für das Lehramt an beruflichen Schulen abzuleisten sind. Ein entsprechender Nachweis ist dem Amt für Lehrerbildung spätestens bei der Meldung zur Ersten Staatsprüfung vorzulegen. Weitere Hinweise zum Betriebspraktikum (BP) 1. Zeitliche Eckdaten – Termin: bis spätestens zur Meldung zur Ersten Staats prüfung – Dauer: mindestens 8 Wochen bei branchenüblicher Wochenarbeitszeit 216 | anhang I

– Das BP kann in max. 2 Teilen auch bei verschiedenen Arbeitgebern abgeleistet werden. – Ort: Das BP kann auch im Ausland abgeleistet werden. Das BP sollte nicht im pädagogischen / sozialen Bereich abgeleistet werden. Bei der Suche nach Praktikumsstellen kann z. B. die Praktikumsbörse der Arbeitsgemeinschaft des hessischen IHKs behilflich sein: www.praktikant24.de 2. Portfolio – Die Dokumentation und die Reflexion des BP in einem Portfolio ist verpfl ichtend, sofern dieses nach dem 1.1.2005 begonnen wurde. Eine Vorlage hierzu ist auf der Website des AfL zu finden. – Das Portfolio und die Bescheinigung über das Betriebspraktikum (letzte Seite der Vorlage des Portfolios) sind mit einem adressierten und ausreichend frankierten Rückumschlag der zuständigen Prüfungsstelle des AfL zuzusenden oder vorzulegen. – Wenn das Praktikum vor dem 1. 1. 2005 begonnen wurde, entfällt die Pflicht ein Portfolio zu führen. Sie sind aber verpfl ichtet, die Bescheinigung über das Betriebspraktikum (letzte Seite der Vorlage des Portfolios) mit einem adressierten und ausreichend frankierten Rückumschlag der zuständigen Prüfungsstelle des AfL zuzusenden oder vorzulegen. 3. Anerkennung Anstelle des Nachweises über ein abgeleistetes Betriebspraktikum wird anerkannt (in diesen Fällen entfällt die Pflicht ein Portfolio zu führen): – Der Nachweis über eine abgeschlossene berufl iche Ausbildung. – Der Nachweis über berufliche Praktika im Rahmen der Vorschriften für das Lehramt an beruflichen Schulen. – Der Nachweis über eine in Dauer und Art dem BP vergleichbare zusammenhängende berufliche Tätigkeit außerhalb des pädagogisch / sozialen Bereichs. – Der Nachweis über ein Jahrespraktikum an der FOS. anhang I | 217

– Es empfiehlt sich, die Nachweise frühzeitig – also nicht erst unmittelbar vor der – Ersten Staatsprüfung – dem AfL zur Anerkennung mit einem adressierten und ausreichend frankiertem Rückumschlag vorzulegen. Nicht als Betriebspraktikum können u. a. anerkannt werden: – Praktika, die während des Besuchs einer allgemein bildenden Schule absolviert wurden. – Zivildienst oder ähnliche Tätigkeiten.« Es ist zu ergänzen, daß im Gegensatz zu den analogen Arbeitsdiensten gemäß dem Reichsarbeitsdienstgesetz vom 26. Juni 1935 der Arbeitsdienst in Hessen keine Uniformen vorsieht. Sprachlich wird man bemerken, daß man sich mit einem Begriff wie des studentischen »Portfolio« in einer feineren Welt als beim Reichsarbeitsdienst und in der DDR befindet. Abschließend ist doch auf einen gravierenden Unterschied zu verweisen. Die Zwangsarbeit unter Hitler und in der DDR paßt exakt zum System des einheitlichen Volks, in dem Intellektuelle oder gar Akademiker keinen eigentlichen Platz hatten, sondern Männer der Faust, also die Arbeiter und Bauern. In der Bundesrepublik gibt es dagegen nur die ausgedünnte Variante, daß es allen gut tut, einmal im Leben wirklich zu arbeiten, einmal kurz den Elfenbeinturm des abstrakten Denkens zu verlassen und sich ins wirkliche Leben zu stellen. Die Gesetzgeber von 2006 berücksichtigen nicht, daß alle Studierenden die Zwangsarbeit aus den Semesterferien kennen, sie können also nichts lernen, was sie nicht schon wissen. So zeichnet sich die jetzige Zwangsarbeit aus als pure Ideologie: Den Ikonen – Einstein z. B. – wird größte Achtung bezeugt, aber sobald sie vorbei getragen sind, schnellt der Materialismus unwiderstehlich in die Köpfe zurück. Von 1935 wird übernommen die Idee: »[…] zur wahren Arbeitsauffassung, vor allem zur gebührenden Achtung der Handarbeit zu erziehen.« Es bleibt ein Gegenstand künft iger Forschung, die Kräfte freizulegen, die im System der jetzigen sog. freien Marktwirtschaft auf die strenge Regulierung des Studiums dringen, statt einer Deregulierung zu trauen und auf ihre höhere Effizienz zu setzen. 218 | anhang I

Warum verfügt die Hessische Bürokratie nicht, daß Einführungsveranstaltungen in die Philosophie obligatorisch sind? Sie würden andeutungsweise zeigen können, von welchen Strukturen die gemeinsame Welt des Erkennens (im Gegensatz zu den Betrieben) bestimmt ist.

anhang I | 219

Anhang II

a) Stellungnahme von Prof. Dr. Bernd Ludwig, Biochemie in der Universität Frankfurt am Main vom 3. Juli 2010.

Lieber Herr Brandt, wie am Samstag kurz angesprochen, fasse ich Ihnen unsere Argumente gegen die Einführung der gestuften Studiengänge im Fach Biochemie zusammen. […] Vorbemerkung: Unser Diplomstudiengang läuft seit 15 Jahren, wurde zuletzt 2003 revidiert und erfreut sich hoher Nachfrage: in den letzten Jahren überschritt die Zahl der Bewerbungen die Studienplatzzahlen im ersten Semester (ca. 50) um den Faktor 8–9 . Zwangsweise Einführung des BSc-Studiums zum WS 2010/11. »Bologna« zur Studienverlängerung: 50 % unserer Studenten schaffen den Diplomabschluss innerhalb der Regelstudienzeit von (8 Sem. + 1 Sem. für die Dipl-Arbeit) in 9 Semestern, gestuft führt die Ausbildung zum Master zu 6 + 4 Semestern als Regelstudienzeit. Unser anfänglicher Versuch, den später geplanten Master zur zeitl. Kompensation nur 3 Semester laufen zu lassen, erscheint ein aussichtsloses Unterfangen. weniger statt mehr Flexibilität: die erwünschte Mobilität (hier z. B. Praktikum in ausländischem Labor) war im bisherigen Diplom-SG im Hauptstudium gewährleistet und von vielen Studenten auch genutzt. Der BSc-SG wird diese Flexibilität nicht mehr erlauben (auch aus Erfahrungen mit dem seit 4 Jahren laufenden Chemie-BSc); Auslandsaufenthalte dürften sich somit unmittelbar studienverlängernd auswirken. Prüfungen als Scheine-Sammeln: mündliche Zwischen-/Abschluss-Prüfungen im Diplomstudiengang (Vordiplom und Di220 | anhang II

plom) erlauben die übergreifende Abfrage gemeinsamer Inhalte aus verschiedenen Teil-Fachgebieten, deren Überblick den Studierenden möglicherweise erst im Verlauf des Studienabschnitts klargeworden sind. Scheine-Sammeln führt zum geistigen Ablegen des Fachgebiets nach Erfüllung der jeweiligen CP-Anforderung. zwanghafte Einhaltung formaler Zahlenvorgaben ohne fachliche Sinnhaftigkeit: eine Erfahrung, die wir in der Endphase der Erstellung der Studienordnung gemacht haben; Details kann ich Ihnen hier sicher ersparen. BSc-Abschluss in der Berufswelt?? Stimmen dazu in dem »Nachrichten«-Artikel, liegt bei; besonders auch zum Stichwort »BSc in Konkurrenz zum Laboranten«

b) Entwurf zum Memorandum des Arbeitskreises »Studium Molekulare Biowissenschaften« Aktuelle Diskussionen zwischen Studierenden, Lehrenden, Rektoren und Politiker zeigen, dass die neuen Bachelor- und Masterstudiengänge einen hohen Verschulungsgrad aufweisen, der häufig durch eine hohe Anzahl von Prüfungsleistungen und durch Überfrachtung einzelner Fächern mit einer Fülle von Einzelfakten erzeugt wird. Da wenig Zeit dafür aufgewendet wird, Brücken zwischen den Einzelfächern zu schlagen, ist eine dauerhafte Verankerung des gelernten Stoffes nicht ausreichend vorhanden. Den Studierenden wird derzeit in diesen neuen Studiengängen nicht vermittelt, dass die erfolgreiche Beantwortung einer Fragestellung in der beruflichen Praxis die Fähigkeit des synergistischen Einsatzes erworbener Kenntnisse voraussetzt. In der Hochschule muss mehr Freiraum geschaffen werden, der es erlaubt, Problemstellungen aus unterschiedlichen fachlichen Blickwinkeln paradigmatisch zu bearbeiteten. Zur Schaff ung eines solchen Freiraums müssen inhaltliche Prioritäten gesetzt werden, die eine Beschränkung des Lernkatalogs ermöglichen. Wir schlagen vor, dass pro Studiengang Vertreter von Studierenden, Assistenten und Professoren darüber beraten, auf welche anhang II | 221

Spezialveranstaltungen verzichtet werden kann. Die freigewordenen credit points sollen dazu genutzt werden, eine zusammenfassende, möglichst fachübergreifende Prüfung zusammenzustellen, in der insbesondere Lernstoff aus früheren Lehrveranstaltungen problemorientiert abgefragt wird. Mit dieser Regelung soll fachübergreifendes integratives Denken zu Lasten von zu hoher Spezialisierung gefördert werden. Bochum, Dezember 2009

222 | anhang II

Rolf Heumann und Bernd Hamprecht

Anmerkungen Diels-Kranz 1956, I 160 – Heraklit B 40. Diels-Kranz 1956, II 158 – Demokrit B 65. 3 Muschg 2005, 33. Im gleichen Sinn s. die von Morkel 2000, XI–XII angeführten Autoren. Arnd Morkel bietet eine gute Problemanalyse der neueren Universität. 4 Dazu Miethke 2004, 13–38: »Universitas und Studium. Zu den Verfassungsstrukturen mittelalterlicher Universitäten«. Die Datierungen des Beginns der Universitäten schwanken; 1088 n. Chr. wird in Bologna eine Rechtsschule vermeldet, 1155 n. Chr. erläßt Friedrich I. dort das Scholarenprivileg »Authentica habita«. 1150–1170 n. Chr. wird als Gründungsphase der Pariser Universität geführt, 1231 n. Chr. erläßt Papst Gregor IX. die Gründungs-Bulle »Parens scientiarum«. 5 Morkel 2000. 6 Münch 2009. 7 Vgl. umsichtig Alt 2010. 8 Diels-Kranz 1956, II 166 – Demokrit B 118. 9 Vgl. Schwinge 2008, 13–33. 10 Friedrich Hultsch, Reliquiae Scriptorum Metrologicorum (1882). 11 Zu dieser Idee s. Roodenburg 2009, 25. 12 Zu den wechselnden Fächern und dem Geschick der »artes« vgl. Hadot 1984, zur verwickelten Tradition der Texte Schindel 2006. 13 Pfeiffer 1970, 114. 14 Pfeiffer 1970, 191. 15 Pfeiffer 1970, 209. 16 Pfeiffer 1970, 212. 17 Rashdall 1987, I 17: »[…] during the last thirty years of the twelfth century.« Der Begriff der Universität wurde am Ende des 15. Jahrhunderts in Salamanca auf Griechisch mit «enkyklopaideia” wiedergegeben, s. Cardini und Fumagalli 1991, 95. 18 Vgl. auch Rexroth 2009. 19 Penuti 2009, 76. 20 Rüegg (Hrsg.) 1993, 51. 21 Vgl. oben S. 24. 22 Vgl. die große Studie von Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, 1948 u. ö. Zu den »artes liberales« s. S. 46 ff. 23 Im 18. Jahrhundert konnten Juristen das höhere Gehalt beziehen, dazu Hammerstein 2000, 222–223. 1 2

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Zitiert nach Saranyana 2008, 143. Vgl. Brandt 2001, 46–81. 26 Petrus von Abano 1985. 27 Zum Ordodenken allgemein Krings 1941; zur 1, 2, 3 / 4- Konstellation Brandt 1998. 28 Denifle 1885, 760–761. 29 Denifle 1885, 27 u. ö., Le Goff 1964, 54 ff. 30 Krug-Richter und Mohrmann (Hrsg.) (2009). 31 Dazu Hölscher 1999, 220–221. 32 Quételet 1835. 33 Der von jüdischen Eltern abstammende Eduard Gans konvertierte vor seiner Ernennung zum ordentlichen Professor der Rechte 1828 in Berlin zum Christentum. 34 Dorothea Schlözer, Tochter des Göttinger Staatsrechtlers August Ludwig von Schlözer, wurde 1787 vom Göttinger Orientalisten Johannes Michaelis promoviert. 35 S. schon Anm. 22. 36 Roesner zeigt sorgfältig, wie die Theologie und das römische Recht um 1200 eine Verwissenschaftlichung in zwei Schüben erfahren. Der erste Schub entspringt der Wissenschaftsmethode der Analytica posteriora, der zweite den Aristotelischen Sachforschungen. Mit dieser doppelten Verankerung der Theologie und Jurisprudenz im Aristotelischen Corpus ist die Frage nach der Herkunft der Universitätsstruktur nicht beantwortet. 37 Vgl. noch Dilthey 1966, I 58 ff. – Einleitung in die Geisteswissenschaften. 38 So das Ergebnis der eigenen Nachforschung. Derselben Meinung ist Matthias Lutz-Bachmann (Frankfurt am Main), mündlich. Auch Rexroth 2009 nimmt die Konstellation als irgendwie natürlich an. 39 Vgl. dazu Brandt 1998, 42 ff. Zu den Passagen, in denen Platon die Gütertrias von Seele, Leib und äußeren Gütern benutzt, ist der Anfang der Politeia I 328d–330a hinzuzufügen. Kephalos wird als begüterter und als älterer Mann vorgestellt, der an einer sokratischen Erörterung der seelischen Tugend nicht mehr teilnehmen kann. 40 Dazu ausführlich Brandt 1998. 41 Walch 1740, 889. Es wird sicher möglich sein, die Quelle von Walch aufzufinden. 42 Walch 1740, Spalte 889. 43 Zum Bildungsbegriff vgl. bes. Koselleck (Hrsg.) 1990, dort bes. die Einleitung von Koselleck. 44 In Italien ist nur die Federico II in Neapel nach einem – deutschen – Fürsten benannt. 45 Dazu Krings 1941. 46 Als ein Beispiel nenne ich Morkel 2000, 9; 47: »Ihrem Namen nach verkörpert sie die Universitas litterarum, die Einheit der Wissenschaften. Von 24 25

224 | Anmerkungen

dieser Einheit ist gegenwärtig wenig zu spüren.« Wann und wo gab es sie? 47 Denifle 1885, 208–209. 48 Vgl. auch Hörisch 2006, 98–101. 49 Wilamowitz war nach der rigiden Erziehung in Schulpforta so überfordert wie Nietzsche, sich in der politischen Gegenwart zurecht zu finden. Zur niveaulosen Ideologie von Wilamowitz (im Gegensatz zu seinem Schwiegervater Theodor Mommsen) vgl. Canfora 1995, 61–125. 50 Dazu Fried 2009. 51 Hierzu die gedrängten Notizen von Panofsky 1989. 52 Burke 2001, 47. Zu den Autoritäten ist zu ergänzen: auch Platon zählte – mit oder gegen Aristoteles – zu ihnen, entschieden nicht Epikur und Lukrez, nicht die stoischen Philosophen, nicht die Skeptiker. S. auch Brandt 2001, 46–81: »Raffael: Die Schule von Athen«. 53 Rüegg (Hrsg.) 1993, 338. 54 Jetzt Roesner 2010. 55 U. a. Clagett 1959 mit ausführlichem Forschungsbericht. 56 Pope 1961, 122. 57 Denifle 1885, 507. Zu beachten ist, dass die Medizin häufig den Titel »physica« trägt. Über die Anatomie und Medizin in Bologna s. a. Cardini und Fumagalli 1991, 50–51. 58 Vgl. u. a. die Kapitel 11, 12, 13 in Miethke 2004, 275–407. 59 S. Rüegg (Hrsg.) 1993, 368–379. 60 Nominalisten sind schon Johannes Buridan (gegen 1300 bis nach 1358) und seine Schüler in Paris. 61 S. bes. Zilsel 1976, 53–63. Eine universitätsgeschichtliche Einordnung bei Rüegg (Hrsg.) 1993, 35; 383–385 (»Via antiqua und via moderna«). 62 Dazu Zilsel 1976, 53–54. 63 Das Wort läßt sich nicht ins Griechische oder Lateinische übersetzen. Er betritt die europäische Bühne zugleich mit Faust und etwas früher als Don Giovanni, die ebenfalls ohne antike Ahnen auftreten. Odysseus ist natürlich Abenteurer und Verführer, aber diese Rollen wurden in der Antike nicht ausbuchstabiert. 64 Vgl. u. a. Guthmüller 1997, zu den erstarrten Universitäten S. 13 mit weiterführender Literatur. Burke 2001, 52. 65 Seibt 2005, 35–36. 66 Die Zusammenfassung der logischen Schriften des Aristoteles unter dem Titel des Organon ist hellenistisch. 67 Bacons vielschichtiger Titel besagt auch, dass es ein Instrument der Erkenntnis des Neuen sei, während die Aristotelische Logik, besonders der Syllogismus, demnach nur der Darstellung des schon Erkannten diente. 68 Bei genauerer Analyse müsste hier die Formenlehre von Bacon berücksichtigt werden. Anmerkungen | 225

Descartes 1964, VII 30–34 – Meditationes II. Zilsel 1976, 66–97: »Die Entstehung des Begriffs des physikalischen Gesetzes«. 71 S. 72 Zu einem kreativen Aristotelismus in der frühen Neuzeit s. C. B. Schmitt 1983. 73 Burke 2001, 51–52. 74 Hobbes 1966, 63–65 – Leviathan I 1, 9. 75 Albrecht 1994. S. auch die Beiträge in: Schmitt und Radke-Uhlmann (Hrsg) 2009. 76 Leibniz 1965, V 41–42 – Nouveaux Essais, Préface. 77 Zum Ursprung Rashdall 1987, I 4–20. 78 Vgl. Kant 1900 ff., VII 26–27 – Streit der Fakultäten, 1. Abschnitt. 79 S. Brandt 2010, 19. 80 Voss 1995, 210: »[…] in den ›Collèges‹ war es Anfang des 18. Jahrhunderts noch verboten, französisch zu sprechen.« 81 Ellwein 1985, 90. Die Göttinger Universität wurde 1732–1734 von Georg II. gegründet und 1737 eröffnet. 82 Blumenberg 1975, 691. Brandt 2009, 223 ff. 83 Blumenberg 1988, 455. Der Hinweis auf das antike Ideal ist auf die platonische Tradition einzuschränken, Demokrit und die gesamte nicht-platonische hellenistische Forschung kennen diese Ideenlehre nicht. 84 Dilthey 1966, I 3 ff. 85 S. unten S. 90 ff. 86 Thukydides 1955 – Historiae I 22. 87 Assmann 2004. 88 Ballestrem 2001, 34. Weitere Dokumente zur Verwahrlosung von Universitäten im 18. Jahrhundert bei Hammerstein 1995, 197; 199. 89 Renaut 1995, 70–79. 90 Kant 1900 ff., IV 9 – Kritik der reinen Vernunft A XI. 91 Kant 1900 ff., VII 35 – Der Streit der Facultäten I. Abschnitt. 92 Zur Negativbewertung der Neugier im Mittelalter vgl. Krüger (Hrsg.) 2002. Vgl. dort bes. die differenzierte Untersuchung von Lorraine Daston zum Zusammenspiel von Neugierde und Aufmerksamkeit in der Psychologie der beginnenden Neuzeit (147–176). 93 Vgl. Hume 2007, 69–73 – Treatise of Human Nature I, 3, 1. Hume 1955, 40 – An Inquiry Concerning Human Understanding IV 1. 94 Vgl. Brandt 2003. 95 Hegel 1949, 141–157 – Phänomenologie des Geistes B IV A: »Selbständigkeit und Unselbständigkeit des Selbstbewußtseins; Herrschaft und Knechtschaft«. 96 Kant 1900 ff., VII 48,5–9 – Streit der Facultäten I, III. 97 Kant unterscheidet bloß vernünftige Wesen von Vernunftwesen, die ersten 69 70

226 | Anmerkungen

haben eine nur technische Vernunft, die letzteren sind moralisch verantwortlich; Kant 1900 ff. VI 26 – Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft; s. auch S. 418, 434. 98 Dazu universitätsgeschichtlich Schwinges (Hrsg.) 2008. 99 In protestantischen Ländern konnte auch umgekehrt die Kampagne der Alphabetisierung auch zu rigorosen Maßnahmen führen; in Schweden wurde niemand getraut, ohne lesen und schreiben zu können. 100 Hume 1971, 11 – Of the Liberty of the Press, Anm. 1. In der Antike spielt diese Form der Öffentlichkeit keine Rolle. 101 Kant 1900 ff., XXIV 93,13–16. 102 Dazu Rüegg 2008. 103 Otto 1984, 93. 104 S. seine frühen Schriften Versuch einer Kritik aller Offenbarung (1792) und Beitrag zur Berichtigung der Urteile des Publikums über die französische Revolution (1793). 105 Übernommen von Brandt 2009, 7. 106 Gegen die »Brodkunst« wendet sich schon Kant II 308,8. Schelling 1958, 264 »Brodtwissenschaften«. 107 Schleiermacher 1910 ff. IV 578 – Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn (1808). 108 Schleiermacher 1910 ff. IV 537 – Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn (1808). Vgl. auch neben vielen anderen Beispielen Fichte im Deducirten Plan einer zu Berlin zu errichtenden höhern Lehranstalt: »[…] der gesammte wissenschaftliche Stoff, in seiner organischen Einheit.« (Fichte 1962 ff,. II 11, 105) Die Einheit wird auch als »enzyklopädisch« gefasst, nicht mehr als das Ganze der vier Fakultäten und noch nicht als das Ganze von Natur- und Geisteswissenschaften. 109 Schleiermacher 1910 ff. IV 570 – Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn (1808). 110 Smith 1776. 111 Hobbes 2003, 170–176 – Leviathan XXIV: »Of the Nutrition, and Procreation of a Common-wealth«, bes. Abs. 11. 112 Euler 1999, 223–224. 113 Fichte 1962 ff, I 8, 17 – Anzeige vom 3. (und 10.) Januar 1804. 114 Brandt 2009, 19. 115 Zur Bewunderung in Frankreich s. Renaut 1995, 93–152: »La référence allemande«. 116 Dazu unten S. 211–213. 117 Nach Steinfeld 2010. 118 Woermann 1894. 119 Buñuel 1983, 34. 120 Dazu Brandt 2001, 218–221. 121 Vgl. Münkler 2009, 329–361. Anmerkungen | 227

Hier wurde die alte Rangfrage von Homer und Vergil neu erörtert und Homer natürlich vor Vergil gestellt; dazu Brandt 2001, 217–225. 123 Es wird von Münkler nur gestreift unter dem Titel »Der Mythos des deutschen Bildungsbürgertums«, Münkler 2009, 338. 124 Canfora 1995. 125 Kant 1900 ff., VI 226 – »Einleitung in die Rechtslehre«. In Sein und Zeit kommt zwar die Sorge als Sein des Daseins in den Blick, auch die Entschlossenheit, aber die Frage, wie sich Sorge und Entschlossenheit zu Sittlichkeit und Recht verhalten, wird aus dem Sein von Sinn ferngehalten. 126 Mündlich gegenüber Julius Ebbinghaus. 127 Kant 1900 ff., VIII 393,30; Locke wurde schon von Leibniz als der nichtinspirierte Nachfolger von Aristoteles gesehen. 128 Dazu unentbehrlich Roodenburg 2009, 22 mit Beziehung auf den Cortegiano. 129 Kant 1900 ff., VIII 35. 130 Schleiermacher 1910 ff, IV 573 – Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn (1808). 131 Arbogast Schmitt (Marburg), mündlich. 132 Nach Timm 1978, 171. 133 Heidegger beansprucht Sondergesetze, durch die er der wissenschaftlichen Beurteilung enthoben ist. Auch unter diesen Spezialgesetzen und ihren Lizenzen gibt es »Verfehlungen«, die jedoch von einer höheren Gerichtsbarkeit festgestellt werden als der universitären. Die Universität erkennt sie nicht an. 134 Dazu Platon, Phaidros 275d–e. 135 In Heidegger 1957, 296–343. 136 Diels-Kranz 1956, I 89. 137 Heidegger 1957, 306. 138 Zu den Unkenntnissen der griechischen Sprache vgl. Beierwaltes 1995. Untergründig wirkt, daß die Moral, vor allem das Recht, zur römischen Zivilisation gehört, während das Seinsdenken bei den Griechen und Deutschen beheimatet ist. 139 Zitiert nach Canfora 1995, 27. 140 Zum fraglichen Text vgl. Brandt 141 Zur Animation s. unter http://www.uni-marburg.de/fb03/forschung 142 Dazu Frühwald et alii 1996, 23–26; 57–67. 143 Zur neuzeitlichen Entwicklung vgl. Frühwald et alii 1996, 26–31. 144 Heike Schmoll 2010. 145 Bei dem Anspruch und Ausführung auseinander fallen, Mehl 2001, 129– 131. 146 Münkler 2009, 470. 147 Dazu Brandt 2006. 148 Skinner 2009. 122

228 | Anmerkungen

149

Allerdings, wenn ich richtig sehe, ohne bewußten Rückgriff auf die antike

Folie. Platon 1957, V 42 – Politikos 284e. Platon 1957, V 43 – Politikos 285b–c. Die »preiswürdigen Männer«, gegen die sich Platon wendet, sind vermutlich Pythagoreer. 152 Platon 1957, I 184–185 – Euthyphron 7b–d. 153 Brandt 2006. 154 Nach Liddell & Scott s. v. ageometretos. 155 Aristoteles 1969, 6–7 – Nikomachische Ethik I 1. 156 Bibel, Sapientia 11, 11. 157 S. dazu Folkerts (Hrsg.) 1989. 158 Hobbes 1966, 162 – Leviathan II 20. 159 Vgl. oben S. §§§ 160 Vgl. Kant 1900 ff. III 468 ff. – Kritik der reinen Vernunft A 712 ff., B 740 ff. Dies ist nur eine flüchtige Andeutung der Kantischen Position; s. weiter XX 355–423. 161 Dazu Brandt 2001, 300–307. 162 Hume 2007, I 4 – A Treatise of Human Nature, Introduction. 163 Freud 1969, X 157; von Matt 2001, 51–52. 164 Starobinski 1976, 9–80. 165 Dilthey spricht von einer »Psychophysik der Gesellschaft«, Dilthey 1966, I 114 – Einleitung in die Geisteswissenschaften. 166 Von Matt 2001. 167 Bieri 2010, 220. 168 Es ist unschwer zu sehen, dass diese Trias von einem humanistisch gebildeten Kommentator formuliert wurde, denn sie entspricht den drei Ständen in der Platonischen Polis: Nährstand (Industrie), Wehrstand (Militär), Lehrstand (Universitäten); der Vierte ist vor und nach 1789 der König bzw. der Kaiser oder die Regierung. Dazu Brandt 1998. 169 Kant 1900 ff. VI 33 – Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft I 3: »Der Mensch ist von Natur böse«. Genannt werden die Bewohner von Tofoa, Neuseeland, den Navigatorsinseln und den weiten Wüsten des nordwestlichen Amerika. 170 Schöne 2010. 171 S. oben §§§ Offenbar zustimmend Müller-Schöll 2009, 138. Wer sich positiv auf Heideggers Rede von 1933 bezieht, sollte den »Willen zur Selbstbehauptung« zurückverfolgen zu den nationalistischen Reden, die 1924 zur 125. Jahresfeier der Technischen Universität in Berlin gehalten wurden. Vgl. Rürup 1979, I 4. 172 Horaz 1959, 245 – Episteln I 2, 40: »Dimidium facti qui coepit habet: sapere aude«. Das »sapere« ist situativ gemeint und steht dem ursprünglichen »schmecken« nahe: Wag es, die Sache zu schmecken; an »sapientia« und Verstand ist nicht primär gedacht. 150 151

Anmerkungen | 229

Dazu ausführlich Fuhrmann 2004. Dahrendorf 1965. 175 Vec 2010. 176 Vgl. u. a. Salvator Rosas Stich »Democrito in meditazione« (1662), s. Brandt 2001. 130–133. 177 Adam Smith wieder »labour of his body, and the activity of his mind« (Smith 1976, 55). 178 Dazu Liessmann 2006, bes. 109 ff. 179 So der Titel eines Beitrags von Jürgen Mittelstraß in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 20. 8. 2009. 180 Vgl. dazu Anhang I. 181 Natürlich ohne die Anleitung von Didaktikern und Pädagogen. 182 Langewiesche 2004, 47. 183 Rashdall 1987, 19. 184 Dazu Stollberg-Rilinger 1986, bes. 116–123: »Die Ständegesellschaft als Staatsmaschine«. 185 Münch 2009, 161. 186 Zum Kampf der Technischen Hochschule Berlin um die Titel vgl. Rürup 1979, 19–20. 187 Kant 1900 ff., VII 319 – Anthropologie in pragmatischer Hinsicht II C. 188 Voigt 1819, 422. 189 Nach Prahl und Schmidt-Harzbach 1981, 154 und 156. Die Zustände an den Universitäten 1933–1945 sind nach der Schweigephase bis ungefähr 1968 vielfach dokumentiert worden. Eine der vielen Quellen ist Karl Reinhardts Bericht in seinem Band Die Krise des Helden (1962), 153–166. Zu der zitierten eidesstattlichen Erklärung S. 158, Anm. 6: »So blieb ganz unbekannt in Deutschland leider auch der Widerspruch des Rostocker Altphilologen (seitdem Columbia University New York, seit kurzem Freie Universität Berlin) Kurt von Fritz, der seiner Eideserklärung hinzufügte: ›Soweit nicht wider die Wahrheit‹, worauf er Deutschland verlassen mußte.« 190 Vgl. das dritte Flugblatt unter http://www.dhm.de/lemo/html/dokumente/weisserose3/index.html Für den Hinweis auf diese Quelle danke ich Boris Dunsch, Marburg. Die Flugblätter, in denen verzweifelt gegen die Bestialität der Parteischergen Aristoteles zitiert wird, lassen die Antigone von Sophokles lebendig werden; aber das Todesdrama der Geschwister Scholl paßte von 1945 bis 1968 nicht in die Kultur des Nichtwahrhabenwollens. 191 Richard Münch in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 24. Juli 2008, S. 8. 192 Hettche 2010. 193 Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 21. April 2009. 194 Zur Symbolpolitik der Treffen 1998 in Paris, 1999 in Bologna, 2001 in Prag, 2003 in Berlin s. Hörisch 2006, 49. 195 Kurz und prägnant neben vielen anderen Publikationen: Link-Heer 2009. 196 Münch 2009, 104. 173 174

230 | Anmerkungen

Münch 2009, 116–117. Zur Angstproduktion des verwalteten Studiums s. Taffertshofer 2008. 199 Von einer Meisterleistung der Verwaltung berichtet Herfried Münkler in der Frankfurter Rundschau vom 30. 7. 2009. 200 Kaube 2008. 201 Voss 2008. 202 Münch 2009, 119. 203 Nach Szondi 1973, 25. 204 Bologna-Reader 2004, 160. Dazu präzise die Süddeutsche Zeitung 2009, Nr. 294, S. 36 »Schluß mit den Akkreditierungen«. 205 Allgemein zum Verfahren Pirmin-Stekeler 2009. 206 Pfeilschifter und Wicht 2009. 207 Willke 2001, 23. 208 Stockhammer 2009. 209 Stockhammer 2009. 210 Ana Laura Edelhoff, Berlin. 211 Erstmittel sind die regulären staatlichen Zuwendungen, Zweit- und Viertmittel gibt es nicht. 212 Dyck 2009. 213 Stolleis 1990, 10. 214 Stolleis 1990, 9. 215 Eine gute Studie des Phänomens bietet Hölscher 2002. 216 Dazu Baumgarth 1966 und Chiellino 1978. 217 Willke 2001, 19; 22 u. ö. 218 Nach Willke 2001, 27. 219 Schmoll 2008. 220 Münch 2009, 137. 221 Auerbach 1994, 5–27 – »Die Narbe des Odysseus«. 222 Aristoteles 1957, 3 – Nikomachische Ethik 1004b26. 223 Adorno hat diesen Zusammenhang offenbar gesehen; er behandelt in seinem Essay über die Halbbildung die einzelnen Probleme der Halbbildung in der Form der vier Kantischen Antinomien, also der Logik des Scheins, vgl. Hutter 2009, 209–225. 224 Rousseau 1959 ff., III 109–237 – Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, 1755. 225 Nietzsche 1954, .I 676. 226 Liessmann 2009, 152. 227 Immer noch lesenswert Paulsen 1903. 228 Abzurufen unter http:www.phbern.ch/fileadmin/Bilder_und_ Dokumente/01_PHBern/PDF/051104_Festrede_P._Bieri.pdf 229 Zöller 2009, 61–62. 230 »Ich verdiene mein Geld während des Studiums als Türsteher in einem Nachtclub, aber nicht hier.« 197 198

Anmerkungen | 231

Locke 1975, 328–348, bes. 335 ff. – An Essay Concerning Human Understanding II 27. 232 Platon 1957 ff., I 219 – Gorgias 465d. 233 Hume 1955, 173 – An Inquiry Concerning Human Understanding XII 3. 234 Brandt 2001, 59–68. 235 Safranski 2007. 236 Kant 1900 ff., XX 44. 237 S. unten S. 198–209. 238 Frankfurter Allgemeine Zeitung 24. Juli 2008, S. 8 239 Münch 2009, 181. 240 Vgl. http://www.bpb.de/themen/P6E5V6,0,Die_M%FCtter_und_ V%E4ter_des_Grundgesetzes.html> 241 Kant 1900 ff., VII 19–20 – Streit der Facultäten, I. Abschnitt. 242 Dazu Myers 1972. 243 Epple 2009, 128. 244 Vgl. vorweggreifend oben S. 245 Willke 2001, 16. 246 Willke 2001, 326–327. 247 Boie 2010. 248 Es gibt auch Handschriften, bei denen eine Autopsie durch kein technisches Verfahren ersetzbar ist. 249 Einige Hinweise zum Stand des Hochschulfernsehens bei Jungen 2009. 250 Schloeman 2010. 251 Kreye 2009. 252 Schultz 2009. S. auch Schelling 1958, 255. 253 A propos auswendig lernen. Dazu ist natürlich vorausgesetzt, daß der Text selbst wortwörtlich identisch bleibt. Will man verhindern, daß eine Lehre durch das Auswendiglernen verinnerlicht wird und immer präsent bleibt, genügt die Änderung des wortwörtlichen Textes, wie es mit den dreisten neuen Bibelübersetzungen geschieht. »Teufel« kommt von »diabolos«, »diaballein«, zerstreuen. Zur Verhinderung dieses teuflischen Treibens hätte es genügt, sich den Protest von Kleinkindern bei der Änderung von Märchentexten anzuhören. Aber die Eitelkeit der Änderer läßt sich dadurch, zur Freude von Old Nick ,nicht abhalten. 254 Hörisch 2006, 112–114. 255 Locke 1975, 101 – An Essay Concerning Human Understanding I 4, 23. S. auch Schelling 1958, 250: »Der Eintritt in das akademische Leben ist in Ansehung des studirenden Jünglings zugleich die erste Befreiung vom blinden Glauben, er soll hier zuerst lernen und sich üben selbst zu urtheilen.« 256 Vgl. Link-Heer 2009, 58 ff. 257 Bachmann-Medick 2009, 36. 258 Nussbaum 2010. 259 Dazu Hölkeskamp 2005. 231

232 | Anmerkungen

Benz (Hrsg.) 1992, 171–172. Wie die Freiheit durch die Bürokratie hintertrieben werden kann, schildert Martha Nussbaum an einem Beispiel: »One cynical young philosopher, in one of these recently merged departments of philosophy and political science, told me that his last grant proposal was six words under the word limit – so he added the word ›empirical‹ six times, as if to reassure the bureaucrats that he was not dealing in mere philosophy – and his application proved successful.« (Nussbaum 2010, 129) 262 Noch einmal Hölkeskamp 2005. 263 S. Google unter dem Stichwort »Reichsarbeitsdienst«. 264 Statt »portefeuille«; wohl aus dem Amerikanischen, das den Betriebskadern vertrauter ist. 260 261

Anmerkungen | 233

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244 | literatur

Personenregister

Abälard, Peter 51 Abano, Petrus von 33, 224 Achenwall, Gottfried 57 Adorno, Theodor 48, 154, 155, 231 Aias 104 Aischylos 32, Albertus Magnus 46 Albrecht, Michael 226 Alexander der Große 152 Alfons X. 49 Alt, Peter André 223 Amato, Raffaele 155 Anaximander 88 Antigone 230 Aratos von Soloi 24 Aristophanes von Byzanz 26, 121 Aristoteles 24, 25, 26, 32, 34, 37, 44, 50, 51, 52, 56, 61, 62, 65, 75, 76, 80, 81, 84, 90, 99, 101, 102, 156, 164, 168, 177, 207, 208, 225, 228, 229, 230, 231 Assmann, Aleida 226 Athene 32 Auerbach, Erich 231 Augustin 40, 102 Bach, Johann Sebastian 102 Bachmann-Medick, Doris 232 Bacon, Francis 53, 54, 59, 150, 225 Ballestrem, Karl Graf 226 Barrow, Isaac 55 Baumgarth, Christa 231 Beccaria, Cesare 55 Beierwaltes, Werner 228 Bentley, Richard 26 Benz, Wolfgang 232

Bieri, Peter 158, 229 Blumenberg, Hans 59, 226 Böcklin, Arnold 78 Boethius 30 Boie, Johannes 232 Bruno 62 Buñuel, Luis 79, 227 Buridan, Johannes 225 Burke, Peter 49, 225, 226 Bush, George W. 200 Canfora, Luciano 79, 112, 225, 228 Cardini, Franco 223, 225 Cassirer, Ernst 59 Cervantes 62, 76 Cézanne, Paul 110 Chiellino, Carmine 231 Cicero 30, 62, 92, 113 Clagett, Marshall 225 Cohen, Hermann 36, 77 Courbet, Gustave 110 Curtius, Ernst Robert 223 d’Alembert, Jean Le Rond 56 Dahlmann, Friedrich Christoph 110 Dahrendorf, Ralf 115, 230 Dalai Lama 120 Dante 76, 91, 98, 183 Darwin, Charles 108, 168 Daston, Lorraine 226 de Sade, Marquis 175 Delacroix, Eugène 78 Demokrit 19, 20, 21, 22, 51, 94, 95, 97, 117, 143, 167, 168, 170, 223, 226 Denifle, Heinrich 224, 225 | 245

Derrida, Jacques 144, 145 Descartes, René 25, 54, 55, 62, 226 Diderot, Denis 55, 56, 68 Diels, Hermann 88, 223, 228 Dietrich, Philipp Friedrich von 111 Dilthey, Wilhelm 59, 92, 105, 224, 226, 229 Diogenes 33, 154, 164 Don Giovanni 225 Dunsch, Boris 16, 119, 230 Dyck, Joachim 146, 231 Ebbinghaus, Julius 228 Edelhoff, Ana Laura 16, 231 Einstein, Albert 78, 120, 145, 167, 218 Elisabeth von Thüringen 33, 165 Ellwein, Thomas 226 Epikur 23, 56, 122, 193, 225 Epple, Moritz 180, 190, 232 Eratosthenes 26, 159 Ernst August I. 110 Erxleben, Dorothea Christine 36 Euklid 24, 103, 108 Euler, Werner 227 Fénélon 56 Fichte, Johann Gottlieb 73, 76, 81, 102, 120, 159, 191, 227 Fischer, Kuno 77 Folkerts, Menso 229 Forster, Georg 111 Foucault, Michel 103, 142, 144 Franz II. 181 Franziskus von Assisi 33, 47, 164 Freud, Sigmund 104, 106, 145, 178, 229 Fried, Johannes 225 Friedrich I. 223 Friedrich II. 49, 77 Friedrich, Hugo 118 Fritz, Kurt von 120, 230 Frühwald, Wolfgang 228 246 | personenregister

Fuhrmann, Manfred 230 Fumagalli, Maria Teresa 223, 225 Furtwängler, Adolf 110 Gadamer, Hans-Georg 80, 112 Galen 34, 38, 47, 50, 57 Galiani, Abbé 55 Galilei, Galileo 50 Gans, Eduard 224 Gassendi, Pierre 55, 56, 109 Gauß, Carl Friedrich 189 Georg II. 226 Goebbels, Joseph 155 Goethe, Johann Wolfgang von 48, 85, 87, 141, 142, 148 Gregor IX. 223 Grimm 78 Grossmann, Wassilji 107 Grotius, Hugo 55 Grundmann, Herbert 37 Guthmüller, Bodo 225 Habermas, Jürgen 145 Hadot, Ilsetraut 223 Hamann, Johann Georg 90 Hamlet 107 Hammerstein, Notker 16, 223, 226 Hamprecht, Bernd 222 Hardt, Manfred 102 Harvey, William 55, 75 Hausenstein, Wilhelm 176 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 25, 35, 61, 68, 98, 120, 157, 158, 226 Heidegger, Martin 48, 80, 87, 88, 89, 112, 228, 229 Heraklit 61, 121, 223 Herder, Johann Gottfried 87 Herodot 94 Hesiod 61 Hettche, Thomas 230 Heumann, Rolf 222 Heyne, Christian Gottlob 111 Himmler, Heinrich 155

Hippokrates 50 Hitler, Adolf 87, 112, 113, 124, 127, 155, 218 Hobbes, Thomas 25, 55, 56, 62, 75, 102, 226, 227, 229 Hölderlin, Friedrich 57 Hölkeskamp, Karl-Joachim 232, 233 Holmes, Sherlock 167 Hölscher, Lucian 224, 231 Homer 26, 61, 79, 228 Horaz 76, 229 Hörisch, Jochen 225, 230, 232 Huber, Kurt 127 Hultsch, Friedrich 223 Humboldt, Alexander von 189 Humboldt, Wilhelm von 63, 76, 77, 120, 137, 160, 189 Hume, David 55, 67, 70, 107, 163, 226, 227, 229, 232 Hussein, Saddam 200 Husserl, Edmund 89, 174 Hutter, Axel 231 Ibsen, Henrik 110 Ingres, Dominique 78 Isidor 24 Isokrates 113 Jago 40 Jaspers, Karl 87 Jens, Walter 118 Jesus 154 Juan I. 51 Jungen, Oliver 232 Kant, Immanuel 24, 25, 33, 35, 37, 42, 59, 61, 62, 63, 64, 65, 67, 68, 69, 70, 78, 79, 80, 87, 88, 90, 93, 102, 103, 108, 110, 123, 142, 160, 167, 168, 177, 208, 226, 227, 228, 229, 230, 232 Kaube, Jürgen 231

Kephalos 38, 224 Kepler, Johannes 58, 109 Kopernikus, Nikolaus 58 Koselleck, Reinhart 92, 224 Kranz, Walter 88, 223, 228 Kraus, Christian Jakob 75, 123 Kreye, Andrian 232 Krings, Hermann 224 Krösus 39 Krüger, Klaus 226 Krug-Richter, Barbara 224 Lange, Friedrich Albert 77 Langewische, Dieter 230 Lauro, Cosimo di 155 Lauro, Paolo di 155 Leibniz, Gottfried Wilhelm 55, 56, 109, 226, 228 Leiden, Jan van 55 Lenin, Wladimir Iljitsch 200 Leonardo da Vinci 104 Liddell, Henry Georg 229 Liessmann, Konrad 157, 230, 231 Link-Heer, Ursula 230, 232 Lipsius, Justus 56 Locke, John 55, 56, 64, 80, 117, 160, 195, 228, 232 Lommel, Andreas 175 Ludwig, Bernd 220 Ludz, Christian 212 Luhmann, Niklas 182 Lukrez 24, 56, 206, 225 Luther, Martin 33, 211 Lutz-Bachmann, Matthias 224 Machiavelli, Niccoló 55 Malebranche, Nicolas 55 Mann, Thomas 112 Marinetti, Filippo Tommaso 151 Marx, Karl 106, 151, 158, 178, 202 Matt, Peter von 229 Mehl, Andreas 228 Melanchthon, Philipp 55 personenregister | 247

Mendelssohn, Moses 55 Mengele, Josef 13, 123, 155 Menon 38 Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 110 Meyer, Conrad Ferdinand 141 Michaelis, Johannes 224 Miethke, Jürgen 223, 225 Mill, John Stuart 92 Miss Marple 167 Mittelstraß, Jürgen 92, 230 Mohammed 154 Mohrmann, Ruth E. 224 Mommsen, Theodor 225 Montaigne, Michel de 56 Morkel, Arnd 223, 224 Moses 91, 154 Moss, Christopher 16 Müller-Schöll, Nikolaus 229 Münch, Richard 82, 128, 170, 172, 223, 230, 231, 232 Münkler, Herfried 97, 227, 228, 231 Muschg, Adolf 205, 223 Myers, M. L. 232

Parmenides 61, 207 Paulsen, Friedrich 231 Penuti, Carla 223 Peripatos 23, 193 Perrault, Charles 55 Pfeiffer, Rudolf 26, 223 Pfeilschifter, Josef 231 Picasso, Pablo 152 Planck, Max 65 Platon 20, 21, 25, 26, 32, 37, 38, 39, 41, 52, 56, 61, 62, 65, 66, 76, 81, 90, 98, 99, 100, 102, 107, 108, 151, 156, 162, 164, 167, 168, 170, 188, 195, 207, 224, 225, 228, 229, 232 Plautus 164 Polyphem 138 Pope, Alexander 225 Poseidonius 90 Potemkin 145 Prahl, Hans-Werner 230 Pufendorf, Samuel von 181 Pütter, Johann Stephan 57

Napoleon Bonaparte 76, 79 Newton, Isaac 50, 55, 58, 78, 103, 108, 109 Nietzsche, Friedrich 48, 80, 108, 112, 115, 157, 158, 165, 200, 225, 231 Norden, Eduard 90 Nussbaum, Martha C. 232, 233

Radke-Uhlmann, Gyburg 226 Raffael 33, 225 Rashdall, Hastings 223, 226, 230 Rawls, John 145 Reich, Robert 185 Reinhardt, Karl 230 Renaut, Alain 226, 227 Rexroth, Frank 223, 224 Rickert, Heinrich 92 Roesner, Martina 37, 224, 225 Romulus 196 Roodenburg, Herman 223, 228 Rosa, Salvator 230 Rousseau, Jean-Jacques 55, 62, 157, 231 Rüegg, Walter 223, 225, 227 Rürup, Reinhard 229, 230

Ödipus 106, 107 Odysseus 56, 225 Orlando 76 Othello 40 Otto, Stephan 227 Ovid 24 Panofsky, Erwin 225 248 | personenregister

Quételet, Adolph 224

Safranski, Rüdiger 165, 232 Sallust 175 Saranyana, Josep Ignasi 224 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 108, 120, 172, 227, 232 Schiller, Friedrich 63 Schlegel, August Wilhelm 78 Schlegel, Friedrich 87 Schleiermacher, Friedrich 76, 83, 120, 227, 228 Schloemann, Johannes 232 Schlögel, Karl 95, 175 Schlosser, Johann Georg 80 Schlözer, August Ludwig von 224 Schlözer, Dorothea 36, 224 Schmidt-Harzbach, Ingrid 230 Schmitt, Arbogast 16, 226, 228 Schmitt, Carl 124 Schmitt, Charles B. 226 Schmoll, Heike 228, 231 Scholl, Hans und Sophie 230 Schöne, Albrecht 229 Schultz, Tanjev 232 Schwindt, Jürgen Paul 16 Schwinge, Ernst-Richard 223 Schwinges, Rainer Christoph 227 Scott, Robert 229 Sedlmayr, Hans 118 Seneca 30, 113, 164 Shaftesbury 177 Shakespeare, William 106, 152 Sieg, Ulrich 16, Singer, Peter 106 Skinner, Quentin 228 Sloterdijk, Peter 81 Smith, Adam 62, 75, 78, 123, 151, 227, 230 Snell, Bruno 118 Snow, Charles Percy 92 Sokrates 20, 21, 22, 47, 116, 179, 195 Sophokles 230 Spinoza, Baruch 55, 102

Stalin, Josef 158 Starobinski, Jean 104, 229 Steinfeld, Thomas 136, 227 Stekeler-Weithofer, Pirmin 231 Stockhammer, Robert 139, 231 Stollberg-Rilinger, Barbara 230 Stolleis, Michael 148, 149, 231 Strindberg, August 110 Szondi, Peter 231 Tacitus 30, 90, 95, 174, 175 Taffertshofer, Birgit 231 Telemachos 56 Thales von Milet 94, 95 Thomas von Aquin 50 Thomasius, Christian 62 Thukydides 20, 22, 61, 94, 95, 97, 98, 174, 175, 226 Timm, Hermann 228 Trotzki, Leo 200 Twain, Mark 123 Varro 24 Vec, Miló 230 Velázquez, Diego 103 Verdi, Giuseppe 78 Verga, Giovanni 110 Vergil 24, 30, 79, 228 Verri, Pietro 55 Vitruv 23 Voigt, Johannes 123, 230 Voltaire 55, 158 Vornberger, Oliver 130 Voss, Julia 226, 231 Wagner, Richard 78 Walch, Johann Georg 41, 42, 224 Wallenstein 34 Weber, Max 92 Wicht, Helmut 231 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von 26, 48, 225 Wilhelm I. 110 personenregister | 249

Wilhelm II. 110 Willke, Helmut 231, 232 Winckelmann 60, 78, 79 Windelband, Wilhelm 92 Woermann, Karl 78, 227 Wolff, Christian 35, 62, 102

250 | personenregister

Xenophanes 61 Xenophon 23 Zilsel, Edgar 225, 226 Zola, Émile 110 Zöller, Günter 159, 231