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German Pages 188 [190] Year 2016
Jacques Le Goff
Geschichte ohne Epochen? Ein Essay
Aus dem Französischen von Klaus Jöken
Für die französische Originalausgabe: Die Originalausgabe erschien unter dem Titel „Faut-il vraiment découper l’histoire en tranches ?“ bei Éditions du Seuil. © Editions du Seuil, 2014 et 2016. Collection La Librairie du XXIe siècle, dirigee par Maurice Olender.
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Für die deutschsprachige Ausgabe: Der Zabern Verlag ist ein Imprint der WBG. © 2016 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Wir verweisen außerdem auf die sorgfältige englische Edition des Buches, „Must We Divide History Into Periods?“ bei Columbia University Press. Übersetzung: Klaus Jöken Lektorat: Dr. Tamara Al Oudat, München Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M. Satz: SatzWeise GmbH, Trier Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8053-5036-5 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8053-5055-6 eBook (epub): 978-3-8053-5056-3
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Alte Periodisierungen . . . . . . . . . . . . . . .
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Das späte Aufkommen des Mittelalters . . . . .
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Geschichte, Unterricht, Perioden . . . . . . . .
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Geburt der Renaissance
. . . . . . . . . . . . .
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Die Renaissance heute . . . . . . . . . . . . . .
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Das Mittelalter wird zur „Dunklen Zeit“
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. . . .
Ein langes Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . 115 Periodisierung und Globalisierung . . . . . . . . 157
Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Literaturauswahl
. . . . . . . . . . . . . . . . . 163
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
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Vorwort
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ieser Essay ist weder These noch Synthese, sondern das Ergebnis langjähriger Forschung: Eine Reflexion über Geschichte, über die Perioden der westlichen Geschichte, von denen das Mittelalter seit 1950 mein ständiger Begleiter ist. Genauer gesagt, seit meinem Staatsexamen, bei dem Fernand Braudel den Vorsitz des Prüfungskomitees geführt hat und die mittelalterliche Geschichte von Maurice Lombard vertreten wurde. Es handelt sich also um eine Arbeit, die ich seit Langem mit mir herumtrage, gespeist von Ideen, die mir am Herzen liegen und die ich schon hier und da auf unterschiedliche Weise erörtert habe. 1 So wie die Zeit, aus der sie besteht, scheint die Geschichte zunächst kontinuierlich zu verlaufen. Doch sie setzt sich auch aus Veränderungen zusammen. Um
1
Siehe insbesondere einen Band mit Interviews und verschiedenen Artikeln, die ursprünglich zwischen 1980 und 2004 in der Zeitschrift L’Histoire erschienen sind und unter dem Titel Un long Moyen Âge gebündelt wurden (Paris 2004, Nachdruck Paris 2010). – Ein Hinweis für den Leser: Sämtliche Zitate fremdsprachiger Autoren wurden im Folgenden von Klaus Jöken übersetzt; sofern vorhanden, wird zusätzlich auf eine deutsche Buchausgabe verwiesen.
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Vorwort
diese Veränderungen zu entdecken und zu definieren, haben die Spezialisten schon seit Langem aus dieser Kontinuität Abschnitte herausgetrennt, die man zunächst „Zeitalter“, später „Epochen“ der Geschichte genannt hat. Dieses Buch ist zugleich Werdegang und wurde 2013 verfasst, in einer Zeit, in der die täglichen Auswirkungen der „Globalisierung“ immer deutlicher zu spüren sind. Darum greift es die verschiedenen Möglichkeiten auf, Periodisierungen vorzunehmen: die Kontinuitäten, die Brüche und die verschiedenen Vorstellungen vom Gedächtnis der Geschichte. Untersucht man diese unterschiedliche Periodisierungsarten, scheint sich meiner Ansicht nach etwas herauszukristallisieren, was man ein „langes Mittelalter“ nennen kann. Insbesondere wenn man sowohl die Bedeutung, die man der „Renaissance“ seit dem 19. Jahrhundert zugeschrieben hat, als auch die zentrale Stellung dieser „Renaissance“ neu bewertet. Anders gesagt, behandele ich das allgemeine Problem des Übergangs von einer Periode zur anderen und untersuche hierzu einen besonderen Fall näher: die vorgebliche Neuheit der „Renaissance“ und ihre Beziehung zum Mittelalter. Dabei arbeitet dieses Buch die wichtigsten Charakteristiken eines langen westlichen Mittelalters heraus, das von der Spätantike (3. bis 7. Jahrhundert) bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts reichen könnte. Dieser Entwurf berücksichtigt unser heutiges Bewusstsein von einer Globalisierung der Geschichte. 8
Vorwort
Gegenwart und Zukunft verpflichten jeden Bereich der Geschichtsschreibung, die Periodisierungssysteme anzupassen. Geschichte ohne Epochen möchte zu dieser dringenden Aufgabe seinen – wenn auch bescheidenen – Beitrag leisten. 2 Dieser Essay soll dazu anregen, unsere viel zu beschränkte historische Sicht von jenem Mittelalter, dem ich mein Forscherleben verschrieben habe, zu erneuern. Den Kern bildet hierbei die „zentrale Stellung“ der „Renaissance“, während die angesprochenen Fragen im Grunde das gesamte Konzept der Geschichte in „Perioden“ betreffen. Zu klären wäre, ob die Geschichte ein fortlaufendes Ganzes oder in Abschnitte unterteilt ist. Anders gesagt: Soll man die Geschichte wirklich in Scheiben schneiden?
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Die Literaturauswahl am Ende dieses Bandes soll dazu anregen, die hier nur knapp angeschnittenen Fragen durch weiterführende Lektüre näher zu untersuchen.
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Einleitung
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ines der wichtigsten Probleme der Menschheit, das zugleich mit ihrer Entstehung aufgetaucht ist, besteht darin, die irdische Zeit zu beherrschen. Kalender haben es ermöglicht, das Alltagsleben zu organisieren, darum sind sie fast immer mit dem Lauf der Natur verknüpft, mit zwei wichtigen Bezugspunkten, nämlich Sonne und Mond. Doch Kalender definieren eine in Zyklen und Jahren bemessene Zeit und sind völlig ungeeignet, längere Zeiträume zu erfassen. Nun ist die Menschheit bislang zwar außerstande, die Zukunft präzise vorauszusagen, doch immerhin ist sie imstande, ihre lange Vergangenheit zu beherrschen. Um sie zu organisieren, hat man verschiedene Ausdrücke benutzt: Man hat von „Zeitaltern“, „Epochen“ und „Zyklen“ gesprochen. Doch der Begriff „Periode“ scheint mir am besten geeignet zu sein. „Periode“ kommt vom griechischen periodos 1 und bezeichnet 1
Siehe Olivier Dumoulin und Raphaël Valéry (Hrsg.), Périodes. La construction du temps historique. Actes du V e colloque d’Histoire au présent, Paris 1991; Jean Leduc, „Période, périodisation“, in: Christian Delacroix, François Dosse, Patrick Garcia und Nicolas Offenstadt (Hrsg.), Historiographies. Concepts et débats, Bd. 2, Paris 2010, S. 830–838; für „Zeitalter“ (âge) siehe Auguste Luneau, L’Histoire du salut
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Einleitung
einen kreisförmigen Weg. Zwischen dem 14. und 18. Jahrhundert nahm dieser Ausdruck die Bedeutung „Zeitraum“ oder „Zeitalter“ an. Im 20. Jahrhundert entstand aus ihm die abgeleitete Form „Periodisierung“. Der Begriff „Periodisierung“ ist der Leitfaden dieses Essays. Er bezeichnet einen menschlichen Eingriff in die Zeit und unterstreicht, dass ihre Einteilung nicht wertfrei ist. Hier sollen die mehr oder weniger erklärten, mehr oder weniger eingestandenen Gründe aufgezeigt werden, warum die Menschen die Zeit in Perioden eingeteilt haben, oft mit Definitionen versehen, die den ihnen beigemessenen Sinn und Wert hervorheben. Die Einteilung der Zeit in Perioden ist für die Geschichte unentbehrlich, ganz gleich ob man Letztere allgemein als Studium gesellschaftlicher Entwicklungen betrachtet, als eine besondere Form des Wissens und der Lehre, oder einfach als verstreichende Zeit. Aber diese Unterteilung ist nicht nur ein chronologischer Vorgang, er vermittelt auch die Vorstellung von einem Übergang, einem Wendepunkt, gar einer Abkehr von der Gesellschaft und den Werten der vorangegangenen Epoche. Demzufolge besitzen die Peri-
chez les Pères de l’Église, la doctrine des âges du monde, Paris 1964; „Epoche“ (époque) ist der Ausdruck, den Krzysztof Pomian wählt in seinem bedeutenden Buch L’Ordre du temps, Paris 1984, Kap. III: „Époques“, S. 101–163.
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Einleitung
oden eine besondere Bedeutung: Allein durch ihre Abfolge, ihre zeitliche Kontinuität oder im Gegenteil durch alle Brüche, die diese Abfolge impliziert, sind sie für den Historiker ein wichtiger Gegenstand der Betrachtung. Dieser Essay untersucht die historischen Beziehungen zwischen dem, was man gewöhnlich „Mittelalter“ nennt, und der „Renaissance“. Und weil es sich um Begriffe handelt, die selbst im Laufe der Geschichte entstanden sind, richte ich mein besonderes Augenmerk auf die Zeit, in der sie aufkamen, und auf die Bedeutung, die sie damals vermittelten. Oft wird versucht, „Perioden“ und „Jahrhunderte“ miteinander zu assoziieren. Der französische Ausdruck „siècle“ (Jahrhundert) im Sinn einer „hundertjährigen Periode“, die theoretisch mit einem auf „00“ endenden Jahr beginnt, kam erst im 16. Jahrhundert auf. Davor bezeichnete das lateinische Wort saeculum entweder die alltägliche Welt („im Jahrhundert leben“) oder eine relativ kurze, ungenau umrissene Periode, die den Namen einer großen, ihr Glanz verleihenden Persönlichkeit trug: zum Beispiel das „Jahrhundert des Perikles“, das „Jahrhundert Cäsars“ usw. Der Begriff des Jahrhunderts hat seine Mängel, weil ein mit „00“ endendes Jahr selten ein Jahr ist, das im Leben der Gesellschaft auch einen Bruch bedeutet. Darum hat man suggeriert beziehungsweise fest behauptet, dass dieses oder jenes Jahrhundert eigentlich vor oder nach dem Stichjahr anfing und länger als einhundert Jahre ge13
Einleitung
dauert oder umgekehrt früher aufgehört hat: So begann das 18. Jahrhundert für die Historiker erst 1715 und das 20. Jahrhundert erst 1914. Trotz solcher Unzulänglichkeiten wurde das Jahrhundert zu einem unentbehrlichen chronologischen Werkzeug, nicht nur für Historiker, sondern auch für alle anderen, die sich für die Vergangenheit interessieren. Allerdings erfüllen Periode und Jahrhundert nicht dieselben Anforderungen. Selbst wenn sie manchmal zusammenfallen, geschieht dies nur aus Bequemlichkeit. Nachdem zum Beispiel das – im 19. Jahrhundert eingeführte – Wort „Renaissance“ zum Markenzeichen einer Periode geworden war, hat man sich bemüht, es mit einem oder mehreren Jahrhunderten in Übereinstimmung zu bringen. Doch wann hat die Renaissance eigentlich angefangen? Im 15. oder im 16. Jahrhundert? Am häufigsten verweist man auf die Schwierigkeit, den Anfang einer Periode zu bestimmen und zu rechtfertigen. Die Art, wie diese Frage gelöst wird, ist keineswegs belanglos, wie wir weiter unten sehen werden. Auch wenn die Periodisierung hilft, die Zeit oder vielmehr den Umgang mit ihr zu beherrschen, ist sie für die Einschätzung der Vergangenheit manchmal problematisch. Die Geschichte zu periodisieren ist ein komplexer Vorgang, sowohl behaftet mit Subjektivität als auch mit dem Bestreben, ein mehrheitsfähiges Ergebnis zu erzielen. Meines Dafürhaltens ist das ein sehr spannender Gegenstand der Geschichte. Um diese Einleitung abzuschließen, möchte ich – 14
Einleitung
wie es speziell Bernard Guenée 2 getan hat – unterstreichen, dass alles, was wir „Geschichte oder Sozialwissenschaften“ nennen, sehr lange gebraucht hat, um zum Gegenstand einer „wissenschaftlichen“ oder zumindest rationalen Bildung zu werden. Dieses, die gesamte Menschheit betreffende Wissen entstand eigentlich erst im 18. Jahrhundert, als es in Universitäten und Schulen Einzug hielt. Der Unterricht bildete nämlich den Prüfstein für die Kenntnis der Geschichte. Diese Tatsache darf man nicht vergessen, wenn man die Geschichte der Periodisierung verstehen will.
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Siehe Bernard Guenée, Artikel „Histoire“, in: Jacques Le Goff und Jean-Claude Schmitt (Hrsg.), Dictionnaire raisonné de l’Occident médiéval, Paris 1999, S. 483–496.
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Alte Periodisierungen
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chon lange bevor der Begriff „Periode“ in der Geschichtsschreibung und der historischen Forschung anerkannt war, wurde er zur Organisation der Vergangenheit benutzt. Diese Zeiteinteilung war vor allem das Werk von Geistlichen, die sie entweder nach religiösen Kriterien oder in Bezug auf Personen aus den heiligen Schriften vornahmen. Weil ich hier aufzeigen möchte, welchen Beitrag die Periodisierung sowohl zur Bildung als auch für das soziale und intellektuelle Leben im Westen geleistet hat, begnüge ich mich damit, auf die in Europa gängigen Epocheneinteilungen einzugehen. Andere Zivilisationen, wie zum Beispiel die Maya, haben nämlich ganz andere Systeme benutzt. Ein bemerkenswertes, von der Globalisierungswelle angeregtes Gemeinschaftswerk, das vor kurzem unter der Leitung von Patrick Boucheron 1 erschienen ist, vergleicht die Situation der einzelnen Länder in der Welt des 15. Jahrhunderts, jedoch ohne sie in eine Epocheneinteilung der Geschichte zu integrieren. Unter den vielen aktuellen Versuchen, die vom Westen 1
Patrick Boucheron (Hrsg.), Histoire du monde au XV e siècle, Paris 2009.
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Alte Periodisierungen
geschaffene und generell durchgesetzte historische Periodisierung zu revidieren, um entweder zu einer einheitlichen Zeiteinteilung für die gesamte Welt oder zu unterschiedlichen Perioden zu gelangen, verweisen wir auf die Schlussfolgerungen im Werk von Philippe Norel, L’Histoire économique globale, 2 und hier besonders im Anhang auf die synchronoptische Tabelle der wichtigsten Zivilisationen, vom Jahr 1000 vor unserer Zeitrechnung bis heute. In der jüdisch-christlichen Tradition gibt es hauptsächlich zwei Periodisierungsmodelle, die beide symbolische Zahlen verwenden: die Ziffer 4 nach der Anzahl der Jahreszeiten und die Zahl 6 nach den sechs Lebensaltern. Zwischen der individuellen Chronologie der Lebensalter und der universellen Chronologie der Weltalter erkannte man nicht nur gewisse Parallelen, sondern auch eine wechselseitige Beeinflussung. 3 Das erste Periodisierungsmodell finden wir im Alten Testament bei Daniel. In einer Vision erblickt der Prophet vier Tiere, die vier aufeinanderfolgende Reiche verkörpern. Gemeinsam stellen sie die gesamte Zeit der Welt dar, von ihrer Erschaffung bis zu ihrem
2
Siehe Philippe Norel, L’Histoire économique globale, Paris 2009, S. 243–246.
3
Siehe Agostino Paravicini Bagliani, „Âges de la vie“, in: Jacques Le Goff und Jean-Claude Schmitt (Hrsg.), Dictionnaire raisonné de l’Occident médiéval, Paris 1999, S. 7–19.
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Alte Periodisierungen
Ende. Die Tiere, Könige dieser vier Reiche, verschlingen einander. Der vierte König hat vor, die Zeiten zu ändern, doch er lästert gegen den Höchsten und stellt dessen Pläne auf die Probe. Darauf erscheint mit den Heerscharen des Himmels ein Menschensohn, dem der Älteste der Tage Macht, Ehre und Reich anvertraut, sodass ihm alle Völker, Nationen und Sprachen huldigen. Sein ewiges Reich ist unvergänglich und wird nie zerstört. 4 Wie Krzysztof Pomian hingewiesen hat, übernahmen die Chronisten und Theologen vor allem ab dem 12. Jahrhundert diese von Daniel aufgezeigte Periodisierung. 5 Sie verbreiteten die Idee einer translatio imperii, die das Heilige Römische Reich Deutscher Nation zum Nachfolger von Daniels letztem Heiligen Reich macht. Im 16. Jahrhundert teilte Melanchthon (1497–1560) die universelle Geschichte in vier Monarchien ein. Und noch 1557 begegnete man einer von Daniel abgeleiteten Periodisierung in den Trois livres des quatre empires souverains, à savoir de Babylone, de Perse, de Grèce et de Rome (Drei Bücher über die vier unabhängigen Reiche, nämlich Babylon, Persien, Griechenland und Rom) von Johannes Sleidanus (1506?–1556).
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Siehe Daniel 7,13–28.
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Siehe Krzysztof Pomian, L’Ordre du temps, Paris 1984, S. 107.
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Alte Periodisierungen
Das andere jüdisch-christliche Periodisierungsmodell, das gleichzeitig neben dem Modell Daniels gültig war, stammte vom heiligen Augustinus, der großen Quelle des mittelalterlichen Christentums. Im 9. Buch seines Werkes Vom Gottesstaat (413–427) unterschied Augustinus sechs Perioden: die erste von Adam bis Noah, die zweite von Noah bis Abraham, die dritte von Abraham bis David, die vierte von David bis zur Babylonischen Gefangenschaft, die fünfte von der Babylonischen Gefangenschaft bis zur Geburt Christi, während die sechste bis ans Ende aller Zeiten währen sollte. Sowohl Daniel als auch Augustinus ließen sich bei ihren Epocheneinteilungen von den Zyklen der Natur inspirieren. Daniels vier Reiche entsprachen demnach den vier Jahreszeiten, während die sechs Perioden des Augustinus einerseits auf die sechs Tage der Schöpfung verwiesen, andererseits aber auch auf die sechs Lebensalter: Kindheit (infantia), Schülerzeit (pueritia), Jugend (juventus), Adoleszenz (adolescentia), reifes Alter (gravitas) und Greisenalter (senectus). Sowohl Daniel als auch Augustinus haben ihren Periodisierungen zugleich eine symbolische Bedeutung beigemessen. In der Zeitauffassung von einer weit zurückliegenden Vergangenheit können die Perioden keine neutralen Sequenzen sein. Sie waren Ausdruck verschiedener Gefühle, die man der Zeit entgegenbrachte, aber auch von dem, was man nach einer jahrhun-
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Alte Periodisierungen
dertelangen Entwicklung einmal „Geschichte“ nennen sollte. 6 Als Daniel dem persischen König Nebukadnezar die Abfolge der vier Zeitalter erläutert, erklärt er, dass jedes Reich gegenüber dem vorhergehenden einen gewissen Niedergang darstellt, bis zu dem Reich, das Gott erschaffen wird, indem er einen „Menschensohn“ 7 (in dem die Kirchenväter Jesus erkennen wollten) auf die Erde schickt, der die Welt und die Menschheit bis in alle Ewigkeit lenkt. Diese Periodisierung verband also die Vorstellung von einer aus der Erbsünde geborenen Dekadenz mit dem Zukunftsglauben an eine Ewigkeit, die, wie Daniel zwar nicht ausdrücklich sagt, jedoch andeutet, für die Erwählten ein Glück, für die Verdammten aber eine Qual sein wird. Augustinus betonte dagegen eher einen allmählichen Verfall, analog dem Menschenleben, das mit dem Greisenalter endet. Seine Periodisierung trug dazu bei, den in vielen Klöstern des Frühmittelalters vorherrschenden chronologischen Pessimismus zu ver6
Ich erinnere daran, dass es neben den Schöpfern oder Benutzern der Perioden einerseits sowie den Kalendern andererseits auch Urheber einer Zeiteinteilung gab, die man Chronographen nannte und die der Geschichtsschreiber François Hartog vorzüglich definiert und vorgestellt hat: siehe „Orde des temps: chronographie, chronologie, histoire“, in: Pierre Gibert und Christoph Théobald (Hrsg.), Théologies et vérité au défi de l’histoire, Löwen, Paris 2010, S. 279–289.
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Daniel 7,13.
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Alte Periodisierungen
stärken. Hinzu kam, dass sowohl die griechische als auch die lateinische Sprache und Literatur zunehmend aus dem Unterricht verschwanden, sodass sich ein Gefühl von Niedergang breitmachte, bis in den ersten Jahrhunderten des Mittelalters der Ausdruck mundus senescit, „die Welt altert“, gang und gäbe wurde. Diese Theorie vom Altern der Welt hat bis ins 18. Jahrhundert hinein verhindert, dass die Idee des Fortschritts entstehen konnte. Trotzdem hat Augustinus in seinem Text auch eine mögliche Verbesserung der kommenden Zeiten angedeutet. Im sechsten Zeitalter, zwischen der Fleischwerdung Christi und dem Jüngsten Gericht – die Erlösung aus der Knechtschaft der Vergangenheit und Hoffnung für die Zukunft versprechen –, bleibt der Mensch, der zwar früh von der Erbsünde besudelt wurde und damit auch die menschliche Zeit besudelt hat, dennoch „nach Gottes Ebenbild“ geschaffen. So fand das Mittelalter in sich selbst immer wieder die nötigen Anlagen zur Erneuerung der Welt und der Menschheit, die man später als Renaissancen bezeichnen sollte. In dieser Studie über die Bemühungen der Menschheit, die Zeit zu beherrschen, muss man ein Ereignis von weitreichender Bedeutung erwähnen: Im 6. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung schlug der in Rom lebende skythische Schriftsteller Dionysius Exiguus vor, einen grundsätzlichen Schnitt zu machen zwischen der Zeit vor und nach der Fleischwerdung des Heilands. Nach späteren Berechnungen anerkannter 22
Alte Periodisierungen
Spezialisten in der Erforschung des Neuen Testaments hat sich Dionysius Exiguus zwar mit großer Wahrscheinlichkeit geirrt, weil Jesus sicherlich vier oder fünf Jahre vor dem von Dionysius empfohlenen Datum geboren wurde. Doch das ist hier unwichtig. Wichtig bleibt, dass seitdem im Westen und sogar auf internationaler, von der UNO anerkannter Ebene, die Zeit der Welt und der Menschheit hauptsächlich „vor“ oder „nach Christus“ berechnet wird. Heute, Anfang des 21. Jahrhunderts, wird im Zuge der sogenannten Globalisierung an mehreren Punkten der Erde dahingehend geforscht, auch die Zeit zu globalisieren, was in vielen Institutionen und bei Kontakten zwischen verschiedenen Kulturen und Religionen oft dazu führt, dass die westliche Zeitrechnung anderen Zivilisationen aufgezwungen wird. Diese Situation, einschließlich aller legitimen Bemühungen, ist zum größten Teil verantwortlich für die auf der Geschichtsperiodisierung lastende Ungewissheit, obwohl diese Forschung von höchster Bedeutung für die Menschheit ist. Unter den großen Denkern, die im Mittelalter die augustinische Theorie von den sechs Zeitaltern weiterentwickelt haben, gab es so einflussreiche Männer wie Isidor von Sevilla (um 570–636) mit seiner Chronica majora (Chronik), der übrigens auch die berühmten Ethymologien verfasst hat. Ferner wäre noch der Angelsachse Beda Venerabilis (673–735) zu nennen, seinerzeit ein großer Theologe, dessen Schrift De temporum ratione mit einer Weltchronik bis zum Jahre 725 23
Alte Periodisierungen
schließt. Der in Royaumont tätige Dominikaner Vinzenz von Beauvais (um 1190–1264) hat dem französischen König Ludwig IX. (genannt Ludwig der Heilige) eine dreiteilige Enzyklopädie gewidmet, in deren dritten Band, Speculum historiale, die augustinische Zeitrechnung angewandt wird. In der Kontinuität religiöser Periodisierungen gab es im Mittelalter noch andere Zeitkonzepte. Hier erwähne ich nur das – gemessen an der Ausstrahlung des Werks beziehungsweise ihres Autors – zweifellos wichtigste, schließlich hat der genuesische Dominikaner Jacobus de Voragine (um 1228–1298) es in der Legenda aurea vorgestellt. Schon in einer früheren Abhandlung habe ich versucht zu belegen, dass die Legenda aurea keine Heiligengeschichte war, wie man lange behauptet hat. 8 Vielmehr ist sie eine Beschreibung und Darstellung aller aufeinanderfolgenden Zeitepochen, die von Gott geschaffen und dem Menschen geschenkt wurden, mit der Geburt des Heilands als Mittelpunkt. Nach Jacobus de Voragines Ansicht definieren zwei Prinzipien diese Zeit: das „Sanktorale“ und das „Temporale“. Während sich das Sanktorale auf die Lebensgeschichten von 153 Heiligen stützt – was der Anzahl der Fische beim wundersamen Fischzug im Neuen Testament entspricht –, wird das Temporale durch die Liturgie und die sich in ihr widerspiegelnden Bezie8
Siehe Jacques Le Goff, À la recherche du temps sacré. Jacques de Voragine et la Légende dorée, Paris 2011.
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Alte Periodisierungen
hungen zwischen Gott und dem Menschen strukturiert. Die Zeit der Menschheit war für Jacobus de Voragine die Zeit, die Gott Adam und Eva geschenkt hat, von diesen jedoch durch die Erbsünde besudelt wurde. Diese Zeit wurde durch die Fleischwerdung und den Opfertod des menschgewordenen Heilands teilweise abgebüßt und führt die Menschheit nach seinem Tod bis ans Ende aller Tage und zum Jüngsten Gericht. Aus dieser Zeiteinteilung ergab sich eine Gliederung in vier Perioden. Die erste, die Zeit der „Verirrung“, erstreckt sich von Adam bis Moses. Die folgende Zeit, von Moses bis zur Geburt Christi, ist die der „Erneuerung“ oder der „Ermahnung“. Durch die Fleischwerdung Christi kommt es zur kurzen, obwohl wichtigen, dritten Periode der „Versöhnung“ zwischen Ostern und Pfingsten. Die „aktuelle Periode“ schließlich ist die der „Wanderung“, eine Zeit der irdischen Pilgerfahrt des Menschen, den seine Taten und seine Frömmigkeit beim Jüngsten Gericht entweder ins Paradies oder in die Hölle führen. Die erstaunlichste Periodisierung der Weltgeschichte in vier Zeitalter hat zweifellos Voltaire vorgeschlagen. In Das Zeitalter Ludwigs XIV. (1751) schrieb er Folgendes: Alle Zeiten haben Helden und Politiker hervorgebracht; alle Völker haben Revolutionen erlebt; für jemanden, der sich nur Fakten einprägen möchte, ist praktisch jede Geschichte gleich. Doch für jeden der denkt oder, was noch
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seltener vorkommt, für jeden der Geschmack besitzt, zählen in der Weltgeschichte nur vier Jahrhunderte. Diese vier glücklichen Zeitalter sind diejenigen, in denen die Künste vervollkommnet wurden und die, so der Größe des menschlichen Geistes als Epochen dienend, ein Vorbild für die Nachwelt sind. 9
Dabei bediente sich Voltaire des Ausdrucks siècle (Jahrhundert) nicht in der für seine Zeit relativ neuen Bedeutung als einer „hundertjährigen Periode“, die zwar schon Ende des 16. Jahrhunderts aufgekommen war, jedoch erst im 17. Jahrhundert Verbreitung gefunden hatte. Für ihn war ein siècle eine Epoche, die einen besonderen Höhepunkt bildet. Zu diesen vier Jahrhunderten zählte Voltaire als erstes die griechische Antike mit Philipp, Alexander, Perikles, Demosthenes, Aristoteles, Platon usw. Das zweite war das von Cäsar und Augustus, wie es von den großen römischen Autoren ihrer Zeit beschrieben wurde. Das dritte war das, „welches auf die Eroberung Konstantinopels durch Mehmed II. folgt“, und das sich hauptsächlich in Italien offenbart hat. Das vierte war dagegen das Jahrhundert von Ludwig XIV., das nach Voltaires Meinung „von den vieren vielleicht dasjenige ist, welches sich am meisten der Perfektion annähert“: Damals sei es zu wichtigen Fortschritten auf den Gebieten der Ver-
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Auf diesen Text verwies bereits Pomian, L’Orde du temps, S. 123–125.
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nunft, der Philosophie, der Künste, des Geistes, der Sitten und der Regierungsführung gekommen. Diese Periodisierung hebt zwar vier bemerkenswerte Perioden hervor, hat jedoch mit Blick auf unsere Überlegungen den Nachteil, dass andere Epochen im Schatten bleiben. Und gerade in diesem Schatten liegt das Mittelalter. Auch Voltaire hielt es also für ein dunkles Zeitalter – jedoch ohne es mit der Renaissance oder der Neuzeit zu vergleichen. Immerhin ist dieser Ansatz für unsere Untersuchung insofern interessant, als er die Bedeutung der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts in Italien eingesteht. Im Großen und Ganzen hat man die Periodisierungen der vier Reiche Daniels und der sechs Zeitalter des heiligen Augustinus bis ins 18. Jahrhundert hinein parallel nebeneinander verwendet. Allerdings keimte im Mittelalter noch eine neuartige Anschauung von der Zeit auf, die im 14. Jahrhundert Gestalt annahm.
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Das späte Aufkommen des Mittelalters
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eit Dionysius Exiguus 1 wussten zwar alle Männer und Frauen der Christenheit, zumindest die der geistlichen und weltlichen Oberschicht, dass mit dem Erscheinen des Heilands und vor allem mit der Bekehrung Kaiser Konstantins Anfang des 4. Jahrhunderts für die ganze Menschheit eine neue Ära angebrochen war. Dennoch gab es keine offizielle Periodisierung der Vergangenheit und die Geburt Christi blieb der einzige chronologische Schnitt. Der Wille zu einer Periodisierung kam erst im 14. und 15. Jahrhundert auf, am Ende gerade jener Periode, die als erste definiert wurde: dem Mittelalter. Anzumerken ist, dass die Konzeptionen für alt und modern, die mehr oder weniger denen von heidnisch und christlich entsprachen, im Mittelalter zwar längst im Umlauf waren, man die vorangegangene Periode, die Antike, seltsamerweise jedoch noch nicht definiert hatte. Das vom lateinischen antiquitas abgeleitete Wort „Antike“ bedeutete damals „Alterung“ und bestätigte damit lange vor der christlichen Ära die Existenz der
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Siehe Kapitel 1, S. 22.
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Das späte Aufkommen des Mittelalters
augustinischen Konzeption, nach der die Menschheit das Greisenalter erreicht hatte. Seit dem 14. Jahrhundert, erst recht im 15. Jahrhundert, hatten vor allem in Italien einige Dichter und Schriftsteller das Gefühl, sich in einer völlig neuen Atmosphäre zu bewegen und höchstpersönlich zugleich Produkte und Initiatoren dieser neuartigen Kultur zu sein. Darum wollten sie die Periode, die sie der eigenen Überzeugung nach glücklich hinter sich gelassen hatten, in negativer Weise definieren. Diese war einerseits mit ihnen selbst zu Ende gegangen, hatte aber andererseits mehr oder weniger mit dem Untergang des Römischen Reiches begonnen, also jener Epoche, die in ihren Augen Kunst und Kultur verkörperte und in der große Autoren in Erscheinung getreten waren, die sie selbst übrigens kaum kannten: Homer, Platon (im Mittelalter hatte man nur Aristoteles gelesen), Cicero, Virgil, Ovid usw. Diese Periode, die sie nun zu definieren versuchten, zeichnete sich also allein dadurch aus, dass sie zwischen einer imaginären Antike und einer erdachten Modernität lag: Darum gaben sie ihr die Bezeichnung „Mittelalter“ (Media Ætas). Der große italienische Dichter Petrarca (1304– 1374) war der erste, der im 14. Jahrhundert diesen Ausdruck benutzt hat. Ihm folgten im 15. Jahrhundert insbesondere in Florenz andere Dichter, vor allem aber Philosophen und Moralisten. Sie alle hatten das Gefühl, eine neue Moral und neue Werte zu verkörpern, wodurch sich der Mensch dank seiner Tugenden, 30
Das späte Aufkommen des Mittelalters
Kräfte und Eigenschaften noch über den Vorrang Gottes, der Apostel, aller Heiligen usw. erhob: Daher gaben sie sich selbst den Namen „Humanisten“. So begegnen wir 1469 im Werk des päpstlichen Bibliothekars Giovanni Andrea Bussi (1417–1475), der als bedeutender Humanist galt, zum ersten Mal dem Ausdruck „Mittelalter“ in der Bedeutung einer chronologischen Periodisierung. Er unterschied „die Alten des Mittelalters [media tempestas] von den Modernen unserer Zeit“. Dennoch wurde der Ausdruck „Mittelalter“ offenbar erst ab dem späten 17. Jahrhundert allgemein üblich. In Frankreich, Italien und England sprach man im 16. und vor allem im 17. Jahrhundert eher von „Feudalität“. Außerdem benutzten die englischen Gelehrten immer häufiger den Ausdruck „Dunkle Jahrhunderte“, dark ages, um diese Periode zu bezeichnen. Und 1688 definierte der deutsche Historiker Christophorus Cellarius (Christoph Martin Keller), ein Lutheraner, im zweiten Band seiner Historia Universalis zum ersten Mal das Mittelalter als jene Periode, die von Kaiser Konstantin bis zur Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453 reicht. 2 Dieser Ausdruck beziehungsweise entspre-
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Allerdings begegnet man dem Ausdruck Media Ætas schon 1518 bei dem Schweizer Gelehrten Joachim von Watt (Vadian) und 1604 bei dem deutschen Juristen Goldast unter der Form Medium Ætum. Siehe George L. Burr, „How the Middle Ages got their name?“, in: The American Historical Review, 20, 4 (1915), S. 813–814. Ich
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Das späte Aufkommen des Mittelalters
chende oder verwandte Bezeichnungen triumphierten schließlich bei den Philosophen des 18. Jahrhunderts von Leibniz bis Rousseau. Allerdings musste man noch bis zum 19. Jahrhundert und der Romantik warten, bis das Mittelalter seinen negativen Beigeschmack verlor und einen gewissen Glanz erhielt: So zum Beispiel im Roman NotreDame von Victor Hugo oder 1821 mit der Gründung der École nationale des chartes in Frankreich, beziehungsweise mit den Monumenta Germaniae Historica in Deutschland, die 1819 bis 1824 ins Leben gerufen wurden, um Quellen mit Bezug zum alten, vor allem mittelalterlichen Deutschland herauszugeben. 1840 konnte Victor Cousin schreiben: „Nachdem man das Mittelalter ganz zu Beginn seiner Emanzipation geschmäht, verketzert und verachtet hat, beginnt man nun, es eifrig, sogar begeistert zu studieren.“ 3 Sobald die mittelalterliche Geschichte Einzug in Wissenschaft und Soziologie gehalten hatte, neigte sie sogar zu einer gewissen Globalisierung. Mit dem Amerikaner Charles Haskins (1870–1937) und seinem Werk über die „Renaissance des 12. Jahrhunderts“, 4 vor allem
danke Jean-Claude Schmitt, der mich auf diesen Artikel aufmerksam gemacht hat. 3
Victor Cousin, œuvres, Bd. I: Cours de l’histoire de la philosophie, Brüssel 1840, S. 17.
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Charles H. Haskins, The Renaissance of the Twelfth Century, Cambridge, Mass. 1927.
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Das späte Aufkommen des Mittelalters
aber mit dem Franzosen Marc Bloch (1886–1944) und der Schule der Annales, wurde das Mittelalter zu einer schöpferischen Epoche mit Höhepunkten (insbesondere die „Zeit der Kathedralen“) und Schattenseiten. Obwohl der Begriff mittlerweile unter Historikern seine negative Bedeutung verloren hat, beweist der Ausdruck „Wir sind nicht mehr im Mittelalter“, dass immer noch ein finsteres Bild von dieser Epoche tradiert wird. Die Geschichte dieser negativen Konzeption des Mittelalters zwischen dem 15. und dem späten 18. Jahrhundert hat Eugenio Garin 5 nachgezeichnet. Seine Studie beleuchtet einerseits die Begriffe Erneuerung und Wiedergeburt (renaissance), andererseits den Begriff der Finsternis, den die europäischen Denker mit dem Mittelalter assoziiert haben, um es zu einer dunklen Periode voller Ignoranz zu machen. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts entbrannte ein Streit zwischen den Befürwortern eines neuen, positiven Mittelalterbildes – insbesondere Costantino Battini (1757– 1832) mit seiner Apologia dei Secoli Barbari (1824) – und den Verfechtern einer düsteren Darstellung dieser Epoche, die Saverio Bettinelli (1718–1808) Ende des 18. Jahrhunderts so treffend resümiert hat.
5
Siehe Eugenio Garin, „Medio Evo e tempi bui: concetto e polemiche nella storia del pensiero dal XV al XVIII secolo“, in: Vittore Branca (Hrsg.), Concetto, storia, miti e immagini del Medio Evo, Florenz 1973, S. 199–224.
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Das späte Aufkommen des Mittelalters
Wie die Entwicklung des Mittelalterbildes in der Neuzeit und der Gegenwart beweist, ist die Periodisierung der Geschichte nie ein neutraler Vorgang ohne Hintergedanken. Aus ihr spricht eine Wertung der so definierten Sequenzen, ein – wenn auch kollektives – Werturteil. Übrigens kann sich das Bild von einer historischen Periode mit der Zeit durchaus ändern. Die Periodisierung ist Menschenwerk und damit sowohl künstlich als auch vergänglich. Sie entwickelt sich mit der Geschichte selbst. In dieser Hinsicht erfüllt sie einen doppelten Zweck: Durch sie kann man die vergangene Zeit besser beherrschen, zugleich unterstreicht sie aber auch die Vergänglichkeit der Geschichte als Instrument menschlichen Wissens. Der Ausdruck „Mittelalter“, der die Vorstellung vermittelt, dass die Menschheit eine brillante Epoche hinter sich gelassen hat, um irgendwann wieder eine ebenso glorreiche Periode zu erleben, hat sich, wie bereits erwähnt, vor allem im 15. Jahrhundert in Florenz verbreitet. Deshalb hat man diese Stadt zum Zentrum des Humanismus erklärt. Der Ausdruck „Humanismus“ selbst kam erst im 19. Jahrhundert in Umlauf: Um 1840 bezeichnete er eine Doktrin, die den Menschen in den Mittelpunkt allen Denkens und der Gesellschaft stellt. Anscheinend tauchte er zuerst in Deutschland auf, dann 1846 bei dem Franzosen Pierre Joseph Proudhon und 1877 erschien schließlich der Ausdruck „Humanisten der Renaissance“. Wie man sieht, hat der Begriff „Renaissance“ lange gebraucht, um sich 34
Das späte Aufkommen des Mittelalters
gegenüber dem „Mittelalter“ durchzusetzen. Der Gegensatz zwischen beiden Begriffen tauchte hingegen schon 1840 in Jules Michelets Vorlesungen im Collège de France auf. Wir werden noch darauf zurückkommen. Wenn man nun zurückschaut, wird die Chronologie weder klarer noch frühzeitiger. Im Mittelalter haben die Gelehrten den Begriff „Antike“ nur auf Griechenland und Rom angewandt. Die Vorstellung von einer Antike, aus der in gewisser Weise das Mittelalter hervorgegangen sein soll – schließlich war diese sogenannte antike Periode für die meisten mittelalterlichen Gelehrten anscheinend Vorbild und Sehnsucht zugleich –, tauchte erst im 16. Jahrhundert auf, und auch dann nur sehr verschwommen. Im Bericht von seiner Italienreise (1580–1581) benutzte Montaigne den Ausdruck „Antike“ zwar schon in dem Sinne, in dem wir ihn heute kennen, also als vor dem Mittelalter liegende Periode. Doch Du Bellay hat ihn in seinen Antiquités de Rome (1558) nur im Plural verwendet. Hier muss man zwei Anmerkungen machen. Zunächst wäre da die Bedeutung Italiens für diese lange Periodisierungsgeschichte der Zeit. Im Westen hat nämlich Rom von der heidnischen Epoche bis zum Christentum die Zeit gemessen, angefangen mit der legendären Stadtgründung durch Romulus und Remus im Jahre 753 v. Chr. (eine Referenz, die es damals noch nicht gab, wie ich erinnere, weil der triumphale Eintritt von 35
Das späte Aufkommen des Mittelalters
Christi Geburt in die christliche Periodisierung erst auf Dionysius Exiguus im 6. Jahrhundert zurückging). Auch durch andere Charakteristika hat sich Italien einen besonderen Platz in der mittelalterlichen Geschichte verdient: die Eroberung durch die Lombarden, später durch Karl den Großen; die Anwesenheit des Papstes als Oberhaupt der christlichen Kirche sowie des Kirchenstaates in Rom; die Herrschaft der „Bürgerschaft“ in einem von Monarchien dominierten Europa; die Bedeutung des Handels (insbesondere mit dem Orient) und der Kunst. Diese italienischen Besonderheiten fanden sich später im Aufkommen des Begriffs „Renaissance“ wieder. Meine zweite Anmerkung bezieht sich auf den Übergang von der sogenannten Antike zum „Mittelalter“. Lange hat man das Ende der Antike entweder mit der Bekehrung Kaiser Konstantins zum Christentum (Edikt von Mailand, 313) oder mit der Rücksendung der westlichen Kaiserinsignien an den byzantinischen Kaiser (476) gleichgesetzt. Zahlreiche Historiker haben jedoch darauf verwiesen, dass der Wechsel von einer Epoche zur anderen langwierig, allmählich und voller Überschneidungen war. Darum wurde die Ansicht geäußert, man könne keinen klaren Zeitpunkt für den Bruch zwischen beiden Epochen bestimmen. Der heute vorherrschende Ansatz besagt, dass dieser Wandel vom 3. bis zum 7. Jahrhundert gedauert hat. Nach dem Vorbild der deutschen Historiker, die diese Periode als Erste mit dem Begriff „Spätantike“ definiert haben, gab man 36
Das späte Aufkommen des Mittelalters
ihr auch in Frankreich den Namen „Antiquité tardive“. 6 Einem periodischen Bruch ganz anderer Art, der sich auf den Wandel der Produktionskräfte bezieht, begegnen wir bei den Marxisten. Aus methodologischen Gründen soll hier das am häufigsten besprochene Beispiel erwähnt werden. Sein Ursprung geht zurück auf einen Artikel des Mittelalterhistorikers Ernst Werner, der während der Teilung Deutschlands in der DDR lebte und dort zwar kein Parteimitglied war, sich jedoch die marxistische Geschichtsauffassung zu eigen gemacht hatte. 7 Für ihn entsprach der Übergang von der Antike zum Mittelalter dem von einer Sklavenhaltergesellschaft zu einer Feudalherrschaft. Auf diese Frage gehe ich nicht näher ein, weil ich den Ausdruck „Feudalherrschaft“ unpassend finde. Bisweilen hat er sogar den des „Mittelalters“ verdrängt, weil die Juristen des 18. Jahrhunderts das Lehen für die typische Form des Landbesitzes im mittelalterlichen System hielten. Dabei drückt er weder den Reichtum noch die Veränderungen oder den sozialen bzw. kulturellen Charakter dieser Periode aus. Wie mir scheint, hat der Begriff „Mittelalter“ im Laufe der Geschichte seine
6
Siehe die erhellende Studie von Bertrand Lançon, L’Antiquité tardive, Paris 1997.
7
Siehe Ernst Werner „De l’esclavage à la féodalité: la périodisation de l’histoire mondiale“, in: Annales ESC, 17, 5 (1962), S. 930–939.
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Das späte Aufkommen des Mittelalters
negative Bedeutung abgeschüttelt. Am besten behalten wir ihn bei, weil es bequem ist, ihn weiter zu verwenden. Am Ende meines Essays, der die Existenz eines langen Mittelalters und die Unzulässigkeit der Renaissance als eigenständige Periode belegen soll, werden wir sehen, dass sich für die Geschichtsforschung ganz neue Horizonte auftun, so zum Beispiel die Perspektiven, die Georges Duby in Eine andere Geschichte 8 eröffnet hat, vor allem aber die von Fernand Braudel bezüglich der langen Dauer des Mittelalters. Hier muss man noch einen wichtigen Moment in der Periodisierung der Geschichte zur Sprache bringen: Die Verwandlung der historischen Disziplin von einem erzählerisch-moralischen in ein wissenschaftliches Genre, in ein eigenständiges Fachgebiet und vor allem in ein Lehrfach.
8
Siehe Georges Duby, L’Histoire continue, Paris 1991; dt. Ausg.: ders., Eine andere Geschichte, Stuttgart 1992.
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Geschichte, Unterricht, Perioden
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it der Periodisierung verleiht der Historiker bestimmten Konzeptionen der Zeit Form und entwickelt zugleich ein kontinuierliches, globales Bild von der Vergangenheit, das man irgendwann „Geschichte“ genannt hat. In allen christlichen Ländern, insbesondere in Europa, schlossen zwei Zeitkonzeptionen anscheinend von vornherein jede Periodisierung aus und setzten sich schließlich trotzdem durch. Die erste Konzeption ist die einer Zeitkette, wie sie Jean-Claude Schmitt am Beispiel der Ikonographie des berühmten Psalters der französischen Königin Blanca von Kastilien (frühes 13. Jahrhundert) aufgezeigt hat. 1 Allerdings kann eine Kette aus einer seriellen Fragmentierung mit mehr oder weniger langen Gliedern bestehen und widerspricht darum keineswegs einem Periodisierungsprozess. Den zweiten, ebenfalls von Jean-Claude Schmitt ins Auge gefassten Ansatz bot die heilige Geschichte. Die kann man, wie es im ältesten Teil des Alten Testaments ja auch geschehen ist, durchaus in aufeinander-
1
Siehe Jean-Claude Schmitt, „L’imaginaire du temps dans l’histoire chrétienne“, in: PRIS-MA, 25, 49–50 (2009), S. 135–159.
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Geschichte, Unterricht, Perioden
folgende Zeitperioden unterteilen: So folgen auf den Pentateuch die Bücher der Propheten beziehungsweise rein historische Bücher wie das Buch der Könige oder das Buch der Chroniken. Mit Ausnahme der zyklischen Zeit, die nie zu einer „objektiven“ Geschichtstheorie geführt hat, ist es möglich, praktisch alle Zeitkonzeptionen zu rationalisieren und zu erklären. Dadurch werden sie zu „Geschichte“ und erlauben sowohl in der Erinnerung menschlicher Gesellschaften als auch bei der Arbeit des Historikers die Entwicklung einer oder mehrerer Periodisierungen. Allgemein wird davon ausgegangen, dass die westliche Geschichte zwei Ursprünge hat: einerseits die griechische Weltanschauung, insbesondere seit Herodot (5. Jh. v. Chr.), 2 andererseits die Bibel mit dem hebräischen und christlichen Gedankengut. 3 Daraus ist langsam entstanden, was für uns heute die „Geschichte“ ist, zunächst als individuelles Wissen, später als Teil des Unterrichts. Dabei waren beide Entwick2
Siehe insbesondere François Hartog, Le Miroir d’Hérodote. Essai sur la représentation de l’autre, Paris 1980. Der häufige Übergang vom Mythos und Epos zur Geschichte vollzog sich in diesem Fall in der Entwicklung des griechischen Denkens über die Zeit, von Homer bis Herodot. Siehe ebenfalls François Hartog (Hrsg.), L’Histoire d’Homère à Augustin, Paris 1999.
3
Hier stütze ich mich auf die These von Pierre Gibert, die vom Buch Josua ausging, in La Bible à la naissance de l’histoire, Paris 1979.
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Geschichte, Unterricht, Perioden
lungen erforderlich, um das Bedürfnis, die Geschichte in Perioden zu unterteilen, entstehen zu lassen. Die Entstehung der Geschichte als individuelles Wissen war Gegenstand vieler Untersuchungen; hier wäre an erster Stelle die von Bernard Guenée zu nennen. 4 Als Vorläufer der Geschichte als Wissen gelten eine Reihe sehr unterschiedlicher Schriften völlig verschiedenartiger Autoren. Neben Mönchen, die sich in die Geschichte der Kirche allgemein oder die ihres Klosters vertieft haben, fanden sich auch Hofchronisten wie Jean Froissart (1337–1410?) oder Enzyklopädisten wie Vinzenz von Beauvais. Zum Teil wurden die historischen Aufzeichnungen auf Schriftrollen festgehalten, weil dieses Material an die Kontinuität der Zeit erinnert. In dieser Welt war es der Chronist, der einem Historiker im modernen Sinne noch am nächsten kam. Doch als um das Jahr 1200 die ersten bedeutenden Universitäten gegründet wurden und bis Ende des 15. Jahrhunderts in ganz Europa weitere folgten, erwies sich diese Chronikengeschichte als gänzlich ungeeignet für den Unterricht. Erst zwischen dem 16. und dem späten 18. Jahrhundert änderten sich die Dinge langsam. 4
Siehe Bernard Guenée, Étude sur l’historiographie médiévale, Paris 1977; ders., Histoire et culture historique dans l’Occident médiéval, Paris 1980, Nachdruck 1991; ders., Artikel „Histoire“, in: Jacques Le Goff und Jean-Claude Schmitt (Hrsg.), Dictionnaire raisonné de l’Occident médiéval, Paris 1999, S. 483–496.
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Geschichte, Unterricht, Perioden
Die fortschreitende Gelehrsamkeit im 17. Jahrhundert (sowohl in der Forschung als auch beim Zusammenstellen oder Bearbeiten historischer Quellen) spielte in dieser Entwicklung eine zentrale Rolle. Mehrere große Gelehrte taten sich damals hervor, darunter zwei Franzosen: einmal der Byzantinist und Lexikograf Charles du Fresne, sieur du Cange (1610–1688), der insbesondere ein wichtiges mittellateinisches Wörterbuch, Glossarium mediae et infimae latinitatis (1678), verfasst hat, und zweitens der Benediktiner Dom Jean Mabillon (1632–1707), der vor allem in der bei Paris liegenden Abtei Saint-Germain-des-Prés tätig war. Unter anderem schrieb er De re diplomatica (1681), ein Traktat über die Wissenschaft der Diplome und Karten sowie über die zu ihrem Verständnis und Studium wichtige Paläografie. Eine gelehrte Arbeit auf demselben Gebiet wie die Dom Mabillons hat der Italiener Lodovico Antonio Muratori mit dem lateinischen Rerum Italicarum Scriptores (1723–1751) in 28 Bänden herausgegeben. Als dieses ganze Wissen, das vor allem das Mittelalter betraf, im 17. und 18. Jahrhundert verbreitet wurde, bewirkte dies eine „Revolution“ der Methode, wie Arnaldo Momigliano es formuliert hat: 5 Die Liebe zur Wahrheit, die der Historiker verspürt, verlangt hinfort die Beibringung von Beweisen. Die verschiedenen
5
Siehe Arnaldo Momigliano, Problèmes d’historiographie ancienne et moderne, übers. von A. Tachet, Paris 1983.
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Periodisierungen stützen sich seitdem auf Systeme zur Ermittlung der historischen Wahrheit. Doch um die Geschichte in Wissen zu verwandeln, das in Perioden unterteilt werden konnte, musste sie erst in den Unterricht aufgenommen werden. Sobald die Geschichte unterrichtet wurde, war sie nicht mehr nur eine Literaturgattung, sondern erweiterte ihre Basis. Obwohl die seit dem späten 12. Jahrhundert in Europa entstandenen Universitäten nicht sofort Geschichte als Lehrfach anboten, spielten sie in dieser Entwicklung eine wichtige Rolle. Wie mir scheint, wurden in Frankreich vor dem 17. Jahrhundert keine Versuche unternommen, Geschichte zu unterrichten. Trotz aller Bemühungen gelang es François de Dainville nicht, die Existenz eines Geschichtsunterrichts in den Jesuitenschulen nachzuweisen. 6 Annie Bruter erläutert sehr schön, wie im Laufe des 17. Jahrhunderts durch Änderungen im Erziehungssystem einerseits und in der historischen Arbeitsweise andererseits der Geschichtsunterricht in den Schulen, Kollegien und Universitäten Einzug gehalten hat. 7 Zu erwähnen wäre hier, dass die Geschichte in die Ausbildung des Thronfolgers aufgenommen wurde. Zum Beispiel beschrieb Bossuet in
6
Siehe François de Dainville, L’Éducation des jésuites. XVI e– XVIII e siècle, Paris 1978.
7
Siehe Annie Bruter, L’Histoire enseignée au grand siècle. Naissance d’une pédagogie, Paris 1998.
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Geschichte, Unterricht, Perioden
einem Brief an den Papst die Erziehung, die er dem Kronprinzen, also dem Sohn Ludwigs XIV., erteilte oder erteilen ließ. Verschiedenen Verlegern und Autoren gelang es mehr oder weniger heimlich, sich nähere Informationen über diesen kronprinzlichen Unterricht zu beschaffen. Später veröffentlichten sie Bücher, in denen dieser Stoff kopiert oder weiterentwickelt wurde. Zudem dehnte sich der Geschichtsunterricht nun auch auf jüngere Kinder aus. Die Pädagogen integrierten in ihren Unterricht Spiele, Fabeln und Erzählungen, mit denen die Grundlagen der Geschichte spielerisch erlernt werden konnten. Zum Beispiel erzählt L’Abrégé méthodique de l’histoire de France (Methodische Kurzfassung der Geschichte Frankreichs) von ClaudeOronce Finé de Brianville (1608–1674) anhand von Anekdoten die Regierungszeiten der einzelnen französischen Könige. Im Jeu de cartes (Kartenspiel) von Desmarets de Saint-Sorlin (1595–1676) dreht sich alles um die Mitglieder des Königshauses. Auch die Religion räumte der historischen Referenz allmählich einen Platz ein, zum Beispiel mit dem Catéchisme historique, veröffentlicht 1683 vom zukünftigen Kardinal de Fleury. Dennoch darf man sich hier keinen Illusionen hingeben. Noch war die Geschichte kein Unterrichtsfach im eigentlichen Sinne. 8 Das wurde sie erst um 1800. 8
Siehe zum Beispiel Jean-Claude Dhotel, Les Origines du catéchisme moderne d’après les premiers manuels imprimés en
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Das Beispiel Frankreichs kann hier als exemplarisch gelten. Der Geschichtsunterricht wurde in Frankreich durch regelmäßige Quellenausgaben gefördert, publiziert von Spezialisten, die man als die ältesten Historiker beziehungsweise ihre Vorläufer bezeichnen kann. Die ersten von ihnen waren die Bollandisten, so benannt nach ihrem Gründer, dem belgischen Jesuiten Jean Bolland (1596–1665). Ab 1643 betreuten sie die Veröffentlichung der Acta sanctorum: Anhand dieser Texte zum Leben der christlichen Heiligen wurden Regeln für eine „wissenschaftliche“ Kritik entwickelt und angewandt. Insbesondere erschienen zum Leben jedes einzelnen Heiligen die wichtigsten Quellen. Diese maßgebliche Veröffentlichung wurde noch durch verschiedene gelehrte Schriften ergänzt, darunter ab 1882 die Zeitschrift Analecta Bollandiana. Selbst in diesen gelehrten Kreisen verbreitete sich die Geschichte bis zum 19. Jahrhundert nur langsam. Was im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in verschiedenen Lehranstalten unter der Bezeichnung „Geschichte“ unterrichtet wurde, besaß eher eine moralische Vorbildfunktion, zum Beispiel in den 1776 gegründeten Militärakademien. Das eigentliche Ziel
France, Paris 1967, S. 431: „Fleurys Werk stieß zwar auf wärmste Zustimmung, darf aber nicht zu falschen Annahmen verleiten. Selbst in der Vorstellung das Autors war der historische Katechismus nur eine Vorstufe zum dogmatischen Katechismus.“
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dieses Unterrichts hat man bisweilen in der Formel Historia magistra vitae (Geschichte als Lehrerin des Lebens) zusammengefasst: Kurz vor der Französischen Revolution zielte er anscheinend vor allem darauf ab, die Menschen zu guten Bürgern zu erziehen – eine Absicht, die so mancher Historiker und Lehrer auch heute nicht verwerfen würde. Mit der Gründung der Gymnasien (lycée) 1802 unter Napoleon Bonaparte wurde der Geschichtsunterricht an höheren Schulen verpflichtend, auch wenn er dort nur wenig Raum einnahm. Erst mit der Restauration kann man in Frankreich wirklich von den Anfängen eines Geschichtsunterrichts an höheren Schulen sprechen, wie der Philosoph und Anthropologe Marcel Gauchet überzeugend analysiert hat. Für den Concours général 9 wurde 1819 auch ein Preis in Geschichte gestiftet. 1820 wurde das Fach Teil der mündlichen Abiturprüfung und seit 1830 gab es ein Staatsexamen für Geschichte und Geographie. Ein wichtiges Datum war zudem die Gründung der bereits erwähnten École nationale des chartes (Nationale Hochschule für Urkundenforschung) 1821. In den damaligen Lehrbüchern übernahm man als gängige Periodisierung im Großen und Ganzen dieselbe, die schon vor der Revolution in den Schulen mit Geschichtsunterricht gelehrt wurde: heilige Geschich-
9
Allgemeiner Wettbewerb, um jährlich die besten Schüler der Abschlussklassen zu ermitteln. (Anm. d. Übers.)
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te und Mythologie, Geschichte der Antike und nationale Geschichte. Sie spiegelt zwei Anliegen der damaligen Regierungskreise wider: Einmal die Sorge, die Religion, sei es in ihrer christlichen oder in ihrer heidnischen Form, in der Geschichte zu erhalten, zum anderen sollte ein von der Revolution initiiertes Bewusstsein von der Bedeutung der nun Nationen genannten Staaten entstehen. Bemerkenswert war in Frankreich auch, dass echte Historiker im 19. Jahrhundert in die höchsten politischen Ämter aufstiegen. So wurde François Guizot unter Louis-Philippe zwischen 1830 und 1848 erst Innen-, später Bildungs- und schließlich Außenminister. Victor Duruy war unter Napoleon III. von 1863 bis 1869 Bildungsminister. Gegen Ende des Jahrhunderts waren unter anderen Ernest Lavisse, Gabriel Monod und Charles Seignobos weitaus mehr als nur Historiker, und die Histoire de France (Französische Geschichte) von Lavisse, deren Erstausgabe als Schulbuch diente, stieg sozusagen zu einem nationalen Handbuch der Geschichte auf. 10
10 Für diesen Teil stütze ich mich besonders auf den ausgezeichneten Artikel von Patrick Garcia und Jean Leduc, „Enseignement de l’Histoire en France“, in: Christian Delacroix, François Dosse, Patrick Garcia und Nicolas Offenstadt (Hrsg.), Historiographies. Concepts et débats, Bd. I, Paris 2010, S. 104–111.
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Die Aufnahme der Geschichte ins Lehrangebot der Universitäten lässt sich quer durch Europa daran ablesen, wann eigene Lehrstühle für dieses Studienfach geschaffen wurden. 11 In Deutschland erfolgten die Anerkennung der Geschichte als unabhängige Wissenschaft und die Verbreitung ihrer Lehre besonders früh und haben sowohl das universitäre Gedankengut als auch den Geist der Nation am stärksten durchdrungen – obwohl das Land selbst politisch gespalten blieb. Im 16. Jahrhundert beschleunigte die Reformation diesen Aufstieg noch. Weltgeschichte wurde in Wittenberg schon Anfang des 16. Jahrhunderts gelehrt. An der 1527 gegründeten protestantischen Universität Marburg und 1535/36 an der protestantischen Universität Tübingen nahm sie breiten Raum ein. Außerdem wurde Geschichte auch im Verbund mit anderen Fächern unterrichtet, zum Beispiel im Rahmen eines 1544 geschaffenen Lehrstuhls für Geschichte und Rhetorik an der Universität Königsberg und einer im selben Jahr in Greifswald eingerichteten Professur für Geschichte und Poetik. Dazu kamen ein Lehrstuhl für Geschichte und Ethik in Jena (1548) sowie Lehrstühle für Geschichte und Poetik in Heidelberg (1558) und Rostock (1564). Schließlich wurde 1568 in Freiburg eine eigenständige Professur für Geschichte geschaffen und
11 Für diesen Abriss verwende ich hauptsächlich die bemerkenswerte Schrift von Arnaldo Momigliano, Tra Storia e Storicismo, Pisa 1985.
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1728 eine weitere in Wien. Man kann davon ausgehen, dass die Geschichte im germanischen Sprachgebiet zwischen 1550 und 1650 auf ganz unabhängige Weise verbreitet wurde. Als Vorbild für das Universitätsstudium der Geschichte galt ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts das der Universität Göttingen. Ähnlich wie Guizot und Michelet in Frankreich, gab es in Deutschland zwei große Historiker, die die Geschichte in Mode gebracht haben, nämlich Barthold Georg Niebuhr (1776–1831), der eine leider unvollendete römische Geschichte hinterlassen hat, und vor allem Theodor Mommsen (1817–1903), der maßgeblicher Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica war. Mommsens eigene Darstellung der Römischen Geschichte erlangte Berühmtheit. Auch in England setzte die Entwicklung früh ein. Oxford besaß seit 1622 eine Professur für alte Geschichte und Cambridge seit 1627 eine für allgemeine Geschichte. Lehrstühle für moderne Geschichte wurden 1724 gleichzeitig in Oxford und Cambridge gegründet. In der Schweiz wurde 1659 eine Geschichtsprofessur an der Universität Basel eingerichtet. In Italien schuf die Universität Pisa 1673 einen Lehrstuhl für Kirchengeschichte und die Universität Pavia 1771 einen für Geschichte und Beredsamkeit. Tatsächlich brauchte die Geschichte lange, um sich von dem jeweiligen Lehrstoff zu lösen, mit dem sie verschmolzen war, meistens handelte es sich dabei um Rhetorik oder Moral. Anzumerken ist, dass es in der 49
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ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts in Turin, Padua und Bologna immer noch keine Lehrstühle für Geschichte gab. Die erste Professur für moderne Geschichte wurde in Turin 1847 gestiftet. Frankreich blieb dagegen weit hinter der Zeit zurück. Erst 1775 schuf man am Collège de France einen Lehrstuhl für Geschichte und Moral; ein eigenständiger Lehrstuhl für Geschichte wurde sogar erst Ende des 19. Jahrhunderts gegründet. An der Sorbonne gab es 1808 die erste Professur für alte Geschichte und 1812 die erste für moderne Geschichte. In Spanien musste man bis 1776 warten, bis endlich ein Lehrstuhl für Geschichte an der Universität Oviedo gegründet wurde. In Irland erschien am Trinity College in Dublin erst 1762 der erste Professor für moderne Geschichte. Die Geburt der Geschichte als Lehrfach belegte damals noch die intellektuelle Vorherrschaft Europas. Die anderen Kontinente und Zivilisationen haben das Wissen um ihre eigene Geschichte sowie die der Welt auf anderen Wegen – hauptsächlich religiösen – weitergegeben, wie dies auch lange in Europa der Fall gewesen ist. Die Vereinigten Staaten mussten hingegen erst ihre eigene Geschichte erleben, um später in der Geschichtswissenschaft auf abendländischer und allgemein globaler Ebene einen verhältnismäßig wichtigen Platz einzunehmen. Hier kommen wir nun zu jenem Moment im 19. Jahrhundert, als die Geschichte, zumindest in der west50
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lichen Welt, 12 seine besondere Stellung erwarb und zum Lehrfach wurde. Um sie besser verstehen, alle Abläufe besser begreifen und sie somit unterrichten zu können, waren die Historiker und Professoren jetzt gezwungen, ihre Unterteilung in Perioden zu systematisieren. Die Unterteilung, die man bislang seit dem Mittelalter am häufigsten benutzt hatte, war der Gegensatz zwischen Alt und Modern, der zwei große Phasen der Geschichte definierte. Doch während sich die „Antike“ genannte Periode im Westen nach und nach durchgesetzt hatte, wurde die Neuzeit zum Gegenstand endloser Diskussionen. Übrigens lebte im Laufe eben dieses 19. Jahrhunderts auch der Gegensatz zwischen einer aufgeklärten Renaissance und einem finsteren Mittelalter wieder auf. Damit ist nun der Moment gekommen, auf den eigentlichen Gegenstand dieses Essays einzugehen: die Beziehung zwischen Mittelalter und Renaissance.
12 Aus der umfangreichen Bibliographie sind hervorzuheben: Guenée, „Histoire“, S. 483–496; Jacques Le Goff, Histoire et mémoire, Paris 1988; François Hartog, Croire en l’histoire, Paris 2013, und Évidence de l’histoire. Hagiographie ancienne et moderne, Paris 2001; Reinhart Koselleck, L’Expérience de l’histoire, Paris 1997; Paul Ricœur, Mémoire, Histoire, Oubli, Paris 2000.
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ie wir bereits gesehen haben, äußerte der italienische Dichter Petrarca im 14. Jahrhundert zum ersten Mal die Vorstellung von einer neuen Periode im Gegensatz zu einer vorangegangenen, wobei letztere als eine vor dem Licht weichende Phase der Finsternis galt. Seiner Meinung nach wurde die glorreiche, im 4. Jahrhundert abgebrochene griechisch-römische Periode abgelöst von einer Zeit der „Barbarei“ und „Dunkelheit“, einer „Verfinsterung“ der Zivilisation. Er dachte, man müsse beim Denken und Schreiben zurückkehren zur Art der „Alten“. Doch der Ausdruck „Renaissance“ und die Definition einer sogenannten großen Periode der Geschichte, die auf das Mittelalter folgt und im Gegensatz dazu steht, stammen erst aus dem 19. Jahrhundert. Wir verdanken sie Jules Michelet (1798–1874). Anfangs hat Michelet in seiner Histoire de France (Geschichte Frankreichs), die ab 1833 erschien, das Mittelalter noch gerühmt: Eine lichtvolle, schöpferische Periode, die seiner Vorstellung von einer fruchtbaren, glanzvollen Geschichte bis zum Anbruch des 16. Jahrhunderts und der Reformation entsprach. In seinem Vorwort aus dem Jahre 1869 weist Michelet darauf hin, dass er bei seiner Beschreibung des 53
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mittelalterlichen Frankreichs als erster Historiker auf unveröffentlichte Quellen zurückgegriffen hat: Bis 1830 (sogar bis 1836) hat kein anerkannter Historiker dieser Epoche das Bedürfnis verspürt, die Fakten nicht nur in gedruckten Büchern zu suchen, sondern in ursprünglichen, bislang meist unveröffentlichten Quellen, in den Handschriften unserer Bibliotheken und den Dokumenten unserer Archive. 1
Doch Dokumente waren für Michelet schon zu Beginn seines Werks nur ein Sprungbrett für die Phantasie, Auslöser für Visionen. Anschließend kommt die berühmte Passage, in der Michelet die Stimme dieser Archive in der zurückgezogenen Studierstube des Historikers erklingen lässt. Die Gelehrtheit ist wie ein Gerüst, das der Künstler oder Historiker wieder entfernen sollte, sobald das Werk fertiggestellt ist. Also ist Michelets Mittelalter in den 1830er-Jahren ebenso sehr seiner Phantasie entsprungen wie allen Dokumenten aus den Archiven. Es ist jedoch auch ein Widerhall seines Lebens und seiner Persönlichkeit. Zunächst war Michelets Mittelalter eine Epoche voller Feste, Licht, Leben und Überschwenglichkeit, doch als seine erste Frau 1839 starb,
1
Jules Michelet, Histoire de France, in: ders., Œuvres complètes, Bd. IV, hrsg. von Paul Viallaneix, Bücher 1–4, Paris 1974, S. 11.
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wurde es auf einmal traurig, abergläubisch, erstarrt und steril. Vorher hatte der Historiker im Mittelalter seine Kindheit, seine mütterliche Matrix entdeckt, doch nun empfand er es als eine ferne, fremde, sogar feindliche Zeit. Er sehnte sich nach einem neuen Licht: Und das sollte die Renaissance sein. 2 In seinem berühmten Artikel darüber, wie die Renaissance von Michelet erfunden wurde, erinnert Lucien Febvre (1878–1956) daran, dass sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Einstellung der großen Schriftsteller zur Epoche des 15. und 16. Jahrhunderts geändert hat. 3 Das war der Fall bei Stendhal, SainteBeuve, Hugo und Musset. Doch weder einer dieser Autoren noch irgend jemand sonst in dieser Zeit hat ein bestimmtes Wort verwendet, um diese Epoche zu bezeichnen. Die Historiker und Gebildeten waren es damals nämlich noch nicht gewöhnt, die Geschichte in Perioden zu unterteilen, sie unterschieden höchstens ganz banal zwischen „antik“, „mittelalterlich“ und „modern“.
2
Siehe Jacques Le Goff, „Le Moyen Âge de Michelet“, in: ders., Un autre Moyen Âge, Paris 1999, S. 23–47.
3
Lucien Febvre, „Comment Jules Michelet inventa la Renaissance“, in: Studi in onore di Gino Luzzatto, Bd. 3, Mailand 1950, S. 1–11; Nachdruck in: ders., Pour une histoire à part entière, Paris 1962 und in: Le Genre humain, Nr. 27, Themenheft „L’Ancien et le Nouveau“, Paris 1993, S. 77–87.
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In Bezug auf den Ausdruck „Renaissance“ (Wiedergeburt) weist Lucien Febvre darauf hin, dass er damals häufig mit kleinem „r“ benutzt wurde, um zum Beispiel von einer „renaissance des arts“ (Wiedergeburt der Künste) oder einer „renaissance des lettres“ (Wiedergeburt der Literatur) zu sprechen. Doch es war Michelet, den ganz persönlich ein Gefühl der Wiederauferstehung im Ablauf der Geschichte überkam, sodass er anschließend jener Periode, die in Europa, besonders aber in Italien, mit dem 15. Jahrhundert einsetzte, den Namen „Renaissance“ mit einem großen „R“ gab. Als der an das Collège de France berufene Michelet am 23. April 1838 seine Antrittsvorlesung hielt, fand er dort das richtige Forum, durch das dieser Ausdruck zwischen 1840 und 1860 weite Verbreitung finden und sich als Periode durchsetzen konnte. Michelet war fasziniert von zwei Persönlichkeiten, die er in seiner Histoire de France beschreibt: Herzog Karl der Kühne von Burgund und Kaiser Karl V. Er selbst musste in einer banalen, von Geldgier zerfressenen, großkotzig bürgerlichen Welt leben – dem Frankreich von François Guizot und Augustin Thierry. Darum sollte ein Wort voller Hoffnung, Klarheit und Poesie aufleuchten, um die Literatur und den Zeitgeist zu durchdringen. Dieses Wort lautete schließlich: „Renaissance“. Allerdings war Michelets Renaissance im Jahre 1840 nicht die Wiedergeburt oder das Aufleben eines schönen Mittelalters, sie bedeutete vielmehr das Ende „jenes bizarren, abscheulichen, wunderbar 56
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künstlichen Stadiums“: 4 des christlichen Mittelalters. Michelets Pessimismus hatte sein Mittelalter verschlungen. Die Bombe platzte 1840 während seiner Vorlesungsreihe im Collège de France. Das Mittelalter versank in Finsternis. Dafür wurde ein Stern geboren, nämlich die Renaissance. Michelet wollte sie etablieren, weil „ich sie in mir gefunden habe und sie so zu meiner selbst geworden ist“. 5 In seinen Vorlesungen geht Michelet die Geschichte Frankreichs durch, angefangen mit dem römischen Gallien. Als er zum späten 15. Jahrhundert kommt, erklärt er: „Wir sind durch das Wort ‚Rückkehr zum Leben‘ zur Renaissance gelangt […] und gelangen so zur Klarheit.“ 6 Zugleich erkennt er hier nach dem Chinareisenden Marco Polo und nach dem Amerikaentdecker Christoph Kolumbus den Beginn der Globalisierung. Außerdem bedeutete das den Sieg des Volkes über alle Monarchien und Nationen. Michelet sieht aus dem beengten Mittelalter die moderne Welt hervorgehen. […] Die wichtigste Person war jedermann, und der Urheber dieses großen Wandels ist der Mensch. […] Der von Gott abstammende Mensch ist ebenfalls Schöpfer. Die moderne Welt war seine Schöpfung, eine
4
Ebd., S. 85.
5
Ebd., S. 87.
6
Jules Michelet, Cours au Collège de France, hrsg. von Paul Viallaneix, Bd. I, Paris 1995, S. 339.
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neue Welt, die das Mittelalter nicht in seinen negativen Polemiken gefangenhalten konnte. 7
Daher lautete der Titel seiner zweiten Vorlesung am 9. Januar 1840: „Der Sieg des Menschen über Gott“. 8 Von Michelet als „Übergang zur modernen Welt“ definiert, kennzeichnet die Renaissance eine Rückkehr zum Heidentum, zum Genuss, zur Sinnlichkeit und zur Freiheit. Das alles lernten die anderen europäischen Nationen von Italien, allen voran Frankreich in den italienischen Kriegen, später dann Deutschland und England. Die Renaissance ordnet die Geschichte auch in eine Bewegung ein, die der Historiker interpretiert. Ihr Studium widmet sich der Erforschung aller Fortschritte des Volkes nach seiner großen Einsamkeit während des Mittelalters. 1841 standen Michelets Vorlesungen unter dem Zeichen der „Ewigen Renaissance“. 9 Sie behandeln hauptsächlich Italien und alles, was Frankreich diesem Land schuldet. Michelet sieht eine „gegenseitige Abhängigkeit“ zwischen den beiden Ländern seit den Tagen Julius Cäsars herrschen und umschreibt dies mit der Idee einer „fruchtbaren Ehe“, einer „langen, durch Religion, Kunst und Rechtswesen aufrechterhaltenen Verbindung“. Er versichert: 7
Ebd., S. 352 f.
8
Ebd., S. 354 f.
9
Ebd., S. 463.
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Beim italienischen Prinzip, das Frankreich befruchtet hat, handelt es sich vor allem um das geometrische Genie, das Prinzip der Ordnung, angewandt auf die bürgerliche Gesellschaft und den Ausbau der großen Verbindungswege: Die römischen Straßen verliefen in alle Richtungen. 10
So bemüht sich Michelet zu belegen, dass der französische König Karl VIII. durch die Eröffnung der italienischen Kriege „mit der Überschreitung der Alpen die Zivilisation suchte“. 11 Anschließend beschreibt der französische Historiker Italien als ein Land mit herrlichen Städten: zunächst Florenz, dann Pisa, Genua, Venedig, Mailand und schließlich Rom. Er erläutert, wie seine Schönheit und Reichtümer zahlreiche Eroberer angelockt haben, die reiche Beute davontrugen, zu der durchaus auch die Freiheit gehörte. 12 Für Michelet verkörperte Savonarola die Größe von Florenz. Während er den gefürchteten Dominikaner zu einem genialen Reformator macht, rühmt er zugleich die Schönheit der Stadt und ihrer Kathedrale, außerdem die Kirche Santa Croce, in der Michelangelo begraben liegt. Das Papst-
10 Ebd., S. 421 f. 11 Ebd., S. 424. 12 Siehe Girolamo Arnaldi, L’Italia e i suoi invasori, Rom, Bari 2002; dt. Ausg.: ders., Italien und seine Invasoren. Vom Ende des Römischen Reiches bis heute, übers. von Friederike Hausmann, Berlin 2005.
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tum blieb für ihn eine starke Macht mit fruchtbarem Mäzenatentum. Von den Borgia befreit, fand es unter Julius II., der Machiavelli und Michelangelo protegiert hat, wieder zu altem Glanz. Nach der „dramatischen Schönheit von Florenz sowie der Lombardei“ 13 und nach Rom verweilt er beim Ruhme Neapels. Anschließend ruft Michelet verschiedene Kunstschätze in Erinnerung, die Frankreich Italien verdankt. Er behandelt die Stadt Venedig mit ihrer „Freiheit der Leidenschaft, des körperlichen Genusses, des Wohlbefindens, der Freiheit im Dienste der Kunst“. 14 Dann beschreibt er die kulturelle Blüte von Florenz, die Entwicklung des Buchdrucks, Aldus Manutius (1449–1515) in Venedig, die Kupferstecherei allenthalben, das Studium der Anatomie und des menschlichen Körpers, die herrliche Kuppel des Petersdomes in Rom sowie den Einfluss der Frauen. Die Beschreibung dieser modernen Zeit, dieser „Renaissance“, beendet Michelet mit einem mystischen Aufruf an die Verschmelzung seines Lebens mit seiner Lehre. Er betont die Notwendigkeit für den Historiker, die einmütige Stimme zu übersetzen, denn „die modernen Zeiten sind das Aufstreben dieser Massen, sie sind der wirklich gesegnete Moment, in dem der stummen Welt eine Stimme geschenkt wurde“. 15 Und diese Feststellung führt ihn zu seiner eigenen Per13 Michelet, Cours au Collège de France, S. 434. 14 Ebd., S. 436. 15 Ebd., S. 463.
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son zurück: „Diese Hoffnung setze ich in mich selbst.“ Die Geschichte, sagt er, ist die Auferstehung der Toten: „Ich brauche sie, weil ich den Tod nahen spüre“ (1841). Oder, wie er früher einmal geäußert hatte: „Die Toten zu lieben ist meine Unsterblichkeit“ (1838). 16 Obwohl Michelet einen gewaltigen Einfluss ausgeübt hat, schrieb man in französischen Bildungskreisen die Erfindung der Renaissance als Periode lange dem Kunsthistoriker Jacob Burckhardt (1818–1897) zu. Sein Werk Die Cultur der Renaissance in Italien erschien zuerst 1860 in einer deutschsprachigen Auflage, 1869 kam dann eine zweite und schließlich 1878 eine stark entstellte dritte hinzu. Erst 1922 ließ Walter Goetz, ein renommierter Spezialist der italienischen Renaissance, dieses Werk wieder auferstehen. 17 Der Kunsthistoriker Jacob Burckhardt war Deutschschweizer. Nach seiner Ausbildung in Berlin bei Leopold von Ranke (1795–1886), dem Begründer der deutschen Historikerschule, unterrichtete er ab 1844 Kunstgeschichte an der Universität Basel, bis er 16 Ebd., S. 464. 17 Die Publikationsgeschichte von Die Cultur der Renaissance in Italien hat Robert Kopp in seinem langen Vorwort beschrieben. Nachzulesen in der französischen Übersetzung von H. Schmitt von der guten Ausgabe: Jacob Burckhardt, La Civilisation de la Renaissance en Italie, 1860–1919, durchges. und korr. von Robert Klein, Paris 2012, S. 7– 35.
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1886 seine Professur aufgab. Er unternahm kurze Reisen nach Deutschland, vor allem aber nach Italien. Zunächst hatte er vor, eine Kunstgeschichte der italienischen Renaissance zu schreiben, doch noch bei den Vorarbeiten dazu verwarf er seltsamerweise das Thema der Kunst zugunsten der Kultur. Der Umfang des untersuchten Bereichs machte dieses Buch zu einem Standardwerk und einer Quelle für die europäische Kulturgeschichte, und zwar weit über das eigentliche Thema hinaus. Darum möchte ich es hier in einem kurzen Überblick zusammenfassen. Im ersten Abschnitt mit dem Titel „Der Staat als Kunstwerk“ 18 beschreibt Burckhardt die Geschichte der italienischen Tyrannen und Fürsten vom 13. bis zum 16. Jahrhundert. Besonders interessiert er sich für Venedig, wo er nur eine „Verspätung der Renaissance“ 19 ausmacht, und für Florenz, das er „den ersten modernen Staat der Welt“ 20 nennt. Wie er feststellt, kamen dort verschiedene Machtinstrumente schon sehr früh auf (zum Beispiel die Statistik), während gleichzeitig, verglichen mit anderen italienischen Großstädten, eine gewisse Rückständigkeit in der künstlerischen Renaissance herrschte. Die Außenpolitik der italienischen Staaten wurde, nach Burckhardts Ansicht, vom Streben nach Gleich18 Jacob Burckhardt, Die Cultur der Renaissance in Italien, Basel 1860, S. 1–130. 19 Ebd., S. 72. 20 Ebd., S. 74.
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gewicht beherrscht, ein „objektives politisches Bewußtsein“ und „allgemeines Raisonnement“. 21 Anschließend widmet er ein Kapitel dem „Krieg als Kunstwerk“. 22 Schließlich sieht er im Papsttum eine Bedrohung für Italien. Er unterstreicht die Unruhen in Rom, die Vetternwirtschaft und Ämterkäuflichkeit der Päpste. Clemens VII. (reg. 1523–1534) stammte nämlich aus der Familie der Medici, die das Papsttum korrumpiert hat, wie es davor schon die Familie der Borgia getan hatte. Als sich dieser Papst heftig mit Kaiser Karl V. anlegte, schickte dieser Truppen nach Italien, die 1527 Rom plünderten. Dagegen verherrlichte Burckhardt Papst Leo X. (reg. 1513–1521), der ebenfalls ein Medici war: „Wo irgend von der Sonnenhöhe der Renaissance die Rede sein wird“, betont er, stand dieser Pontifex dahinter. 23 Der zweite Abschnitt von Burckhardts Buch ist der Entwicklung des Individuums gewidmet. Da der Mensch der Renaissance seine Kultur in sich trug, fühlte er sich überall zu Hause. Burckhardt zitiert einen ins Ausland geflüchteten Humanisten der Renaissance, der versicherte: „Wo irgend ein gelehrter Mann seinen Sitz aufschlägt, da ist gute Heimath.“ 24 Während im Mittelalter Religion, soziales Umfeld und Gemeinschaftsregeln dem Individuum Schranken 21 Ebd., S. 75 f. 22 Ebd., S. 99–101. 23 Ebd., S. 122. 24 Ebd., S. 136.
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setzten, konnte im Gegensatz dazu der Mensch der Renaissance seine Persönlichkeit frei entfalten. Es war die Zeit der Universalgenies: So war der Architekt, Mathematiker und Schriftsteller Leon Battista Alberti (1404–1472) einer der ersten unter den Großen, der in der Volkssprache schrieb. Burckhardt interessiert sich auch für den Ruhm, der die Gesellschaften der Renaissance auszeichnet. Während Dante den Ruhm noch scharf kritisiert hatte, wurde dieser, nach Petrarcas Meinung, zum Ziel des Individuums wie der Familien. Man begegnete ihm überall: an den Grabmählern hochstehender Familien, im Kult großer Männer der Antike und im Aufkommen lokaler Berühmtheiten. Er eroberte die Literatur und die Schriftsteller verteilten Lorbeeren. Der dritte Abschnitt von Burckhardts Werk ist der „Wiedererweckung“ der Menschheit gewidmet, das heißt der „Renaissance“ im Sinne einer Rückkehr zu einer glorreichen Vergangenheit. „Nicht sie [die Antike] allein, sondern ihr enges Bündniß mit dem neben ihr vorhandenen italienischen Volksgeist [hat] die abendländische Welt bezwungen“, 25 betont er; und auch diesmal wieder befand sich Italien im Zentrum einer Periodisierung der Geschichte. Rom war Gegenstand eines echten Kultes um die antiken Ruinen. Man entdeckte die alten Autoren neu und machte sie allgemein bekannt. Die Poesie erhielt in der humanistischen Literatur wieder den Platz, den sie in der grie25 Ebd., S. 171.
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chischen und römischen Antike eingenommen hatte. Der Humanismus entwickelte sich sowohl unter den Bürgern als auch an den Fürstenhöfen oder der römischen Kurie. Eine rituelle Literatur wurde wieder fester Bestandteil des sozialen Lebens: literarischer Briefwechsel, Festansprachen, Trauerreden, akademische Vorträge, politische Ansprachen und lateinische Predigten waren mit Zitaten durchsetzt. Während das Latein zugunsten der Volkssprachen praktisch aus dem Alltag verschwand, nahm es in humanistischen Kreisen und in der Kurie einen absoluten Wert an. Burckhardt spricht sogar von einer „allgemeinen Latinisierung der Bildung“ 26. Dennoch kommt der Kunsthistoriker zum Schluss, dass die Humanisten im 16. Jahrhundert gescheitert sind: Man hielt sie für eitel, oberflächlich, und seit der Gegenreformation zweifelte man an der Aufrichtigkeit ihres christlichen Glaubens. In den drei letzten Abschnitten seines Buches kommt Burckhardt wieder auf das zu sprechen, was für ihn offenbar das Herz der Renaissance darstellt. Der Entdeckung des Menschen, als Grundlage des Humanismus, fügt er noch die Entdeckung der Welt hinzu. Man interessierte sich für Astronomie, Botanik und Gärten, Zoologie und die Sammlungen exotischer Tiere. Mit der Entdeckung der Welt enthüllte die Renaissance zugleich die Schönheit der Natur. Petrarca war zweifellos der Erste, der eine Bergbesteigung be26 Ebd., S. 243–250.
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sang, und mit Hilfe der Ölmalerei machte die flämische Schule die Landschaft populär. Im Porträtgemälde kam die Schönheit zu ihrem Recht. In Italien, und dort besonders in der Toskana, waren Biographien sehr erfolgreich. Doch im Zusammenhang mit dem Aufstieg des Individuums entwickelte sich auch die Autobiographie, wie die des berühmten Goldschmiedes Benvenuto Cellini (1500–1571). Eine weitere große Besonderheit des sozialen Lebens in der Renaissance war das Fest. Zwar standen religiöse Feiern – insbesondere Prozessionen, Fronleichnam und Mysterienspiele (religiöse Theateraufführungen vor Kirchen) – weiter in Ansehen und wurden sogar immer zahlreicher, doch die höfischen, profanen und ländlichen Feste entwickelten eine ganz besondere Pracht. 27 Auf dem Gebiet der Bekleidung war dies die Geburtsstunde der Mode, die ihre ersten 27 Siehe die bemerkenswerte Studie von Teofilo F. Ruiz, A King Travels. Festive Traditions in Late Medieval and Early Modern Spain, Princeton, NJ 2012, die zudem das Verdienst hat, die Aufmerksamkeit vom allgegenwärtigen Italien weg auf Spanien zu lenken, das kurz zuvor die islamische Herrschaft abgeworfen hatte. Andere interessante Studien über Feste zur Zeit der Renaissance sind: Jean Jacquot, Les Fêtes de la Renaissance, Paris 1973–1975; Michel Plaisance und Françoise Decroisette, Fêtes urbaines en Italie à l’époque de la Renaissance: Vérone, Florence, Sienne, Naples, Paris 1993; Roy C. Strong, Les Fêtes de la Renaissance, 1450–1650. Art et pouvoir, übers. von Bruno Cocquio, Arles 1991, dt. Ausg.: ders., Feste der Renaissance, 1450–1650. Kunst als Instrument der Macht, übers.
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Exzesse feierte. Purismus und Geziertheit waren aus der Konversation nicht mehr wegzudenken, große Damen hielten Salon, adlige Politiker wie die Medici unterhielten gebildete Zirkel. Das Profil des perfekten Mannes von Welt zeichnete sich ab: Seine Statur war sportlich trainiert, Musik gab seinem Leben Rhythmus und er wollte nicht nur sein, sondern auch scheinen. Auch die Frau wurde von dieser Entwicklung mitgerissen. Sie erhielt dieselbe Bildung wie ein Mann und schrieb oft Novellen oder Gedichte. Selbst Kurtisanen besaßen eine intellektuelle Kultur. Das Familienleben wurde zu einer künstlerischen Veranstaltung, deren Dirigent der Vater war, wobei die Freizeitvergnügungen zum Teil auf einem Landsitz stattfanden. Das Land war nämlich enger mit der Stadt verknüpft, als es noch im Mittelalter der Fall gewesem war, und die Malerei verewigte dieses neue Stadt-Land-Paar. Burckhardts Werk endet recht seltsam mit einigen Kapiteln, die keine besonders verlockende Vorstellung von der Renaissance vermitteln. Was die Moral anging, sah er überall einen „allgemeinen Frevelsinn“ 28. Selbst Italien entging nicht dieser Verderbtheit: Endlich erscheinen in diesem Lande [Italien], wo das Individuelle in jeder Weise culminiert, einige Menschen
von Susanne Höbel und Maja Ueberle-Pfaff, Freiburg, Würzburg 1991. 28 Burckhardt, Die Cultur der Renaissance in Italien, S. 446– 455.
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von absoluter Ruchlosigkeit, bei welchen das Verbrechen auftritt um seiner selber willen, nicht mehr als Mittel zu einem Zweck, oder wenigstens als Mittel zu Zwecken, welche sich aller psychologischen Norm entziehen. 29
Dennoch stand für Burckhardt das Italien der Renaissance weiterhin an der Spitze dessen, was er eine „Revolution“ in der Weltgeschichte nennt. Der Italiener ist für alle Höhen und alle Tiefen dieses Weltalters der kenntlichste, bezeichnendste Repräsentant geworden; neben tiefer Verworfenheit entwickelt sich die edelste Harmonie des Persönlichen und eine glorreiche Kunst, welche das individuelle Leben verherrlichte, wie weder Alterthum noch Mittelalter dies wollten oder konnten. 30
Auf dem Gebiet der Religion beklagt Burckhardt das Scheitern der reformatorischen Predigt Savonarolas sowie den mäßigen Erfolg der protestantischen Reformation, und konstatiert eine nachlassende Frömmigkeit, sich leerende Kirchen und die zweifelhafte Glaubensstärke der Humanisten. Was die Religion angeht, verdienen die christlichen Gesellschaften der Renaissance jedoch durchaus Lob. Der Kunsthistoriker entdeckt hier Toleranz gegenüber dem Islam und eine Wertschätzung aller Religionen, einschließlich aller philosophischen Richtungen der 29 Ebd., S. 453. 30 Ebd., S. 456.
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Antike wie zum Beispiel des Epikurismus. Er lobt die Anwendung der Theorie des freien Willens und stuft die Menschen dieser Zeit als Theoretiker und Praktiker der vernünftigen Mitte ein. Burckhardt interessiert sich auch für Aberglauben, insbesondere pseudowissenschaftlichen. Er erwähnt die Verbreitung der Astrologie, den Glauben an Gespenster, Dämonen oder Hexen, den Liebeszauber der Kurtisanen und untersucht die Riten bei der Grundsteinlegung eines Hauses oder einer Kirche. Dennoch beschäftigt er sich zum Schluss seines Werkes mit der Schwächung des Glaubens. Atheismus gab es zwar noch nicht, doch auf den Theismus folgte Glaubenslosigkeit. Die Renaissance führte zu einer langsam um sich greifenden Säkularisierung.
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benso wie im 20. Jahrhundert regt die Renaissance auch heute noch, Anfang des 21. Jahrhunderts, unsere Historiker ständig zu neuen Publikationen an, von denen die meisten, wenn auch manchmal nur mit Vorbehalt, eher lobend sind. Um ihre Interpretationen und Schlussfolgerungen zu erläutern, erwähne ich hauptsächlich die Ansätze von Paul Oskar Kristeller, Eugenio Garin, Erwin Panofsky, Jean Delumeau sowie aus dem Jahre 2011 Robert C. Davis und Elizabeth Lindsmith. 1 Paul Oskar Kristellers Hauptwerk lautet Studies in Renaissance Thought and Letters, erschienen 1956 in Rom. Diese bemerkenswerte Studie behandelt hauptsächlich den Humanismus, erweitert ihren Blickwinkel
1
Unter den interessantesten Werken, die ich außer Acht gelassen habe, nenne ich Peter Burke, La Renaissance en Italie: art, culture, societé, übers. von Patrick Wotling, Paris 1991; dt. Ausg.: ders., Die Renaissance in Italien. Sozialgeschichte einer Kultur zwischen Tradition und Erfindung, übers. von Reinhard Kaiser, Berlin 1992; John R. Hale, La Civilisation de l’Europe à la Renaissance, übers. von René Guyonnet, Paris 1998; dt. Ausg.: ders., Die Kultur der Renaissance in Europa, übers. von Michael Schmidt, München 1994.
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jedoch auf die gesamte literarische und künstlerische Produktion der „Renaissance“, wie Kristeller diese Epoche in der Folge von Michelet und Burckhardt nennt. Vor allem interessiert er sich für die Beziehungen zwischen Mittelalter und Renaissance. Den Großteil des ersten Bandes widmet Kristeller einem großen Humanisten des 15. Jahrhunderts: Marsilio Ficino (1433–1499), latinisiert auch Marsilius Ficinus genannt. Dabei schildert er eine Organisation der künstlerischen und literarischen Produktion, die in der Renaissance anscheinend völlig neuartig ist: den „Kreis“ (circle), der auf regelmäßige Beziehungen zwischen einem Meister und seinen Schülern oder Freunden beruht. Hier wäre daran zu erinnern, dass dieser Begriff in der zeitgenössischen Historiographie zwar selten benutzt wird, die großen Autoren des Mittelalters aber ebenfalls Schüler und häufig auch Gehilfen um sich geschart haben, die stark den Kreisen der Renaissance ähneln. Durch die Ölmalerei auf Staffelei entwickelte sich damals im Bereich der Kunst außerdem die Arbeit im Atelier; und auch auf den mittelalterlichen Baustellen kamen hervorragende Architekten, Maurer, Bildhauer und Maler zusammen. Allerdings wurden diese kreativ Tätigen scharf von der Kirche überwacht und gelenkt, was wohl den größten Unterschied zu den Werkstätten der Renaissance ausmachte. Jeden überzeugten Befürworter einer unabhängigen, überlegenen Renaissance mag überraschen, dass Kristeller das erste Kapitel seiner Abhandlung über 72
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Marsilio Ficino dem scholastischen Hintergrund des Humanisten widmet. Er erläutert darin, dass Ficinos Aristotelismus unmittelbar aus dem mittelalterlichen Aristotelismus hervorgegangen ist, den er während seines Philosophiestudiums an der Universität Florenz kennengelernt hatte. Nebenbei bemerkt – wir werden noch darauf zurückkommen –, bildeten speziell die Universitäten eine Verbindung zwischen dem Mittelalter und der Renaissance. Kristeller betont ebenfalls, dass oft enge Beziehungen zwischen Regierungskreisen und Humanisten bestanden, und dass sich letztere oft in die Politik eingemischt haben. Allerdings beruft er sich dabei hauptsächlich auf die Situation in Florenz. Die Medici, die im 15. Jahrhundert vom Bankwesen in die Politik übergewechselt waren, bis sie es im 16. Jahrhundert zu fürstlichen Würden brachten, versicherten sich bei ihrer Regierungsarbeit der Mitwirkung verschiedener Humanisten und stellten sich selbst zugleich als politische und humanistische Herrscher dar. Kristeller untersucht dies insbesondere am Beispiel von Giovanni Corsi, der 1472 als Spross einer adligen Familie in Florenz geboren wurde: Seine 1506 verfasste Lebensbeschreibung Ficinos enthält glühende Lobeshymnen auf die Medici, und als diese 1512 in Florenz wieder die Macht an sich rissen, übernahm er für sie wichtige Regierungsaufgaben. In seinem Werk illustriert Kristeller die heikle Frage der Beziehungen zwischen den Humanisten der Renaissance und der Religion durch einen Brief Marsilio 73
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Ficinos aus dem Jahre 1474, in dem dieser seine Hinwendung zum christlichen Glauben nach einer langen, durch Krankheit hervorgerufenen Depression beschreibt. Diese Episode ist schwer zu interpretieren. Ich habe bereits den Aristotelismus erwähnt, den das Mittelalter angeblich der Renaissance hinterlassen hat. Doch die italienischen Humanisten des 14. und 15. Jahrhunderts sahen sich vor allem als Platoniker. Die platonische Akademie, die im 15. Jahrhundert in Florenz eröffnet wurde, spielte bei der Verbreitung von Marsilio Ficinos Ideen eine entscheidende Rolle. Diese Wiederentdeckung des antiken Gedankengutes der Griechen und Römer, das von Italien aus über einen großen Teil Europas verbreitet wurde, gilt als eines der charakteristischsten Elemente der sogenannten Renaissance. So widmet Kristeller ein ganzes Kapitel der Beschreibung von Lorenzo de’Medici, genannt il Magnifico (der Prächtige), als Platoniker. Über ihn sagt er Folgendes: Einer der Ersten, an dem sich diese [platonische] Tendenz deutlich offenbarte, war eben Lorenzo de’Medici, der nicht nur Ficinos Gönner, sondern auch sein Studienkamerad und persönlicher Freund war. Man muss in den Schriften des Prächtigen also das platonische Element definieren. 2
2
Paul Oskar Kristeller, „Lorenzo de’Medici Platonico“ [1938], in: ders., Studies in Renaissance Thought and Letters, Bd. 1, Rom 1956, S. 213.
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Von Platon hat Lorenzo in seinen Gedichten und Schriften anscheinend die Definition der Liebe als Verlangen nach Schönheit übernommen, außerdem die Unterscheidung zwischen himmlischer und irdischer Liebe, das Schema der dreifachen Schönheit (der Seele, des Körpers und der Stimme) und das Konzept der göttlichen Schönheit als Quelle jeder konkreten Schönheit. Vor allem hat sich Lorenzo der Prächtige aber für die platonische Theorie der Ewigkeit und die Suche nach dem wahren Glück interessiert. Insbesondere durch dieses Interesse am Körper hat sich die Renaissance anscheinend vom Mittelalter entfernt. Unter den Aspekten der Renaissance, die Kristeller im zweiten Teil des ersten Bandes erwähnt, und um die sich die Liste der Konfrontationspunkte zwischen Mittelalter und Renaissance verlängern dürfte, greife ich vier Themen heraus. Das erste und wichtigste betrifft die Stellung des Menschen in der Gesellschaft und im Universum. Zu Recht betont Kristeller die Notwendigkeit, den Ausdruck „Humanismus“, der mit den Gebildeten der Renaissance assoziiert wird, zu definieren. Dabei ist nicht die Rede vom Menschen selbst, seiner Natur, seiner Existenz und seinem Schicksal, sondern von der Tatsache, dass die Gelehrten der Renaissance von den sogenannten „Humanitäten“ durchdrungen waren, das heißt von der Kultur aller großen Denker und Schriftsteller der griechischen und römischen Antike. Der Initiator dieses Humanismus war angeblich Petrarca im 14. Jahrhundert. Beruflich betätigte er sich in verschiedenen wich75
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tigen Sparten. Die meisten Humanisten waren nämlich nicht einfach nur Schriftsteller und Künstler, sondern übten auch andere Berufe aus, zum Beispiel waren sie Universitätsdozenten oder Gymnasiallehrer, Sekretäre von Fürsten oder Stadtverwaltungen, reiche Bürger und Gebildete, die im Handel oder in der Politik tätig waren. Was man den „Humanismus der Renaissance“ nennt, übte nach Kristellers Meinung nur einen begrenzten Einfluss aus. Der war hauptsächlich im Lehrstoff zu spüren, in dem die Werke der griechischen und römischen Antike breiten Raum einnahmen. Manche Humanisten neigten jedoch mit übertriebener Selbstsicherheit dazu, die intellektuelle Kraft des Menschen zu beschwören. So zum Beispiel der Florentiner Giannozzo Manetti (1396–1459), der Mitte des 15. Jahrhunderts ein langes Traktat über die Würde und Vortrefflichkeit des Menschen schrieb. Dabei handelte es sich um eine Antwort auf das Traktat, das Papst Innozenz III. Ende des 12. Jahrhunderts dem Elend des menschlichen Daseins gewidmet hatte. Allerdings darf man so einen Fall nicht verallgemeinern, auch wenn Marsilio Ficino Nachfolger wie Giovanni Pico della Mirandola (1463–1494) hatte. Ein zweites, von Kristeller angeschnittenes Thema, das die Liste der Konfrontationen zwischen Mittelalter und Renaissance verlängern könnte, ist der Einfluss des heiligen Augustinus. Bekanntlich besaß sein umfangreiches und sehr unterschiedlich zu deutendes Werk einen gewaltigen Einfluss auf die mittelalterliche 76
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Gedankenwelt in praktisch allen Epochen und in jeder theologischen und philosophischen Tendenz. Nun hatte Augustinus zwar das Traktat Contra academicos geschrieben, trotzdem empfand er Hochachtung vor Platon und den Neoplatonismus. Übrigens setzte sich die aristotelische Renaissance, die im 14. und 15. Jahrhundert das mittelalterliche Gedankengut durchdrungen hatte, bis Ende des 16. Jahrhunderts fort. Nachdem die Humanisten alle antiken Autoren aufgearbeitet hatten, machten sie sich daran, die Kirchenväter zu lesen. Diejenigen, die Griechisch konnten, übersetzten die griechisch-orthodoxen Kirchenväter Basilius, Johannes Chrysostomos, Gregor von Nyssa und Kyrill ins Lateinische, soweit dies noch nicht geschehen war. Kristeller untersucht ebenfalls die Beziehungen zwischen dem Denken respektive ganz allgemein der Kultur der Renaissance und der Musik. Die europäische Musik hat zwei unbestreitbare Höhepunkte erlebt: im Hochmittelalter mit der französischen Notre-Dame-Schule in Paris und der Erfindung der Polyphonie; später, nach einer Unterbrechung, ließ die Musik der Renaissance im 15., vor allem aber im 16. Jahrhundert von Italien aus die europäische Kultur vibrieren. Schließen wir nun den kurzen Abriss dieses schönen Buches von Paul Oskar Kristeller mit dem Zitat einer Passage, in der er beschreibt, was in der Renaissance ein Fest war: ein Ausdruck kollektiver Vergnügungen, den es im Mittelalter zwar auch gegeben hat, der jedoch nun, insbesondere an den Höfen und 77
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bei fürstlichen Zerstreuungen, eine außerordentliche Dynamik und Prachtentfaltung entwickelte. Es handelt sich um einen von Kristeller entdeckten, bislang unveröffentlichten Brief mit der Beschreibung eines Turniers (giostra), das Giuliano de’Medici 1475 für die Florentiner ausgerichtet hat: Unter den öffentlichen Festen der Renaissance nahmen die Turniere [giostro] eine besondere Stellung ein. In verschiedenen italienischen Städten, insbesondere in Florenz, wurden besonders viele und besonders prachtvolle abgehalten. Es war ein aus der feudalen Periode übernommener Brauch (vielleicht ist dieses Element unumgänglich, wenn man die späte Blüte der poetisch ritterlichen Atmosphäre in Italien erklären will), der jedoch in der neuen Umgebung eine völlig andere Form annahm und allmählich seinen ernsthaften, kriegerischen Charakter verlor, um sich in eine Art sportliches Schauspiel zu verwandeln, bei dem sich die Aufmerksamkeit der Zuschauer zwar durchaus auf das Verhalten der Kämpfenden konzentrierte, vor allem aber dem feierlichen Einzug der reich herausgeputzten Turnierteilnehmer galt. Die bildeten mit ihrem Gefolge einen langen, bunten Zug, ganz nach dem Vorbild der anderen, damals bei jeder öffentlichen Feier typischen Korsos. 3
3
Paul Oskar Kristeller, „Un documento sconosciuto sulla giostra di Giuliano de’Medici“ [1939], in: ebd., Bd. 1, S. 437.
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Der nächste Zeuge, und zugleich Beispiel für einen modernen Renaissancehistoriker, ist der Italiener Eugenio Garin mit seinen beiden wichtigsten Werken L’umanesimo italiano (1947) und Medioevo e Rinascimento (1954). 4 Das erste dieser beiden Bücher beginnt Garin seltsamerweise mit der Feststellung, dass – ganz im Gegensatz zu Michelet und Burckhardt im 19. Jahrhundert – die meisten Historiker des 20. Jahrhunderts das Mittelalter aufgewertet, den Ruf der Renaissance aber abgewertet haben. Dagegen empfindet Garin das Bedürfnis – übrigens folgt er hierin Kristeller –, die „großen Ideenkathedralen“ und die „großen logischen und theologischen Systeme“, 5 die das Mittelalter beherrscht haben, einzureißen. Die Renaissance hat nämlich die studia humanitatis gefördert: Verglichen mit der erdrückenden Bedeutung Gottes im Gedankengut der mittelalterlichen Gesellschaft nahm der Mensch von nun an den ersten Platz ein. Besonders der Platonismus wurde zum Vorbild, zur Inspirationsquelle und galt als eine Philosophie, die sich allem öffnete und allem annäherte, moralische Meditation eines von Hoffnung
4
Hier zitiert nach den franz. Ausgaben: L’Humanisme italien. Philosophie et vie civile à la Renaissance, übers. von Sabina Crippa und Mario Andrea Limoni, Paris 2005 (dt. Ausg.: Der italienische Humanismus, Bern 1947) und Moyen Âge et Renaissance, übers. von Claude Carme, Paris 1969.
5
Garin, L’Humanisme italien, S. 11.
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durchzogenen Lebens. Er war auch eine Denkweise, die half, der Welt zu entfliehen und Kontemplation zu suchen. 6
In der Tradition Petrarcas, der die Erneuerung der Weltanschauung mit einer Entwicklung der florentinischen Regierung und Gesellschaft verknüpft hat, sah die platonische Bewegung in Cosimo de’Medici (1389–1464), dem Oberhaupt der neuen tonangebenden Familie in Florenz, einen neuen Platon. Und der große Denker der florentinischen Renaissance, Marsilio Ficino, hob immer Licht, Schönheit, Liebe und Seele hervor. Mit seinen Schülern stellte er den Menschen in den Mittelpunkt, was dazu geführt hat, diese Denkweise als Humanismus zu bezeichnen. Garin geht sogar so weit, zu dieser Bewegung den „reaktionären“ Savonarola zu rechnen, der seiner Meinung nach das Ziel verfolgte, „auf dieser Welt eine menschliche Stadt, die des Menschen würdig ist, zu schaffen“. 7 Das bildet einen seltsamen Kontrast zum üblichen historischen Bild von dieser Quintessenz der mittelalterlichen Ketzerei. In seinem Nachwort betont Eugenio Garin noch einmal, wie sehr der Humanismus der Renaissance ein „wiedererstarkendes Vertrauen in den Menschen und in seine Fähigkeiten [war], sowie ein Verständnis
6
Ebd., S. 20.
7
Ebd., S. 167.
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für seine Tätigkeiten in jeder Beziehung“. 8 Ebenso erläutert er zwei Ideen, die auf die zeitgenössische Einschätzung der Beziehungen zwischen Mittelalter und Renaissance einen starken Einfluss ausüben sollten. Einerseits versichert er, dass Italien Zentrum und Heimat der Renaissance war, andererseits, dass der neue Mensch, den sie gebildet hat, „auf diesem Territorium alle Konflikte bündelt“. 9 In Moyen Âge et Renaissance (Mittelalter und Renaissance), einer Erkundung des kulturellen Aspekts der Renaissance, beginnt Garin damit, „die Krise der mittelalterlichen Gedankenwelt“ 10 zu beschreiben. Besonders nennt er hier den Verfall der Scholastik seit dem beginnenden 14. Jahrhundert. Doch zugleich sucht er im Mittelalter sowohl moderne Züge (zum Beispiel die Beziehung zwischen Abaelard und Heloise) als auch die Wiedergeburt von Elementen des antiken Gedankengutes. 11 In diesem Werk legt Garin den Akzent mehr auf das besondere Interesse der Renaissance an der Schöpfungskraft des Menschen. Sie neigte dazu, dem Humanismus eine praktisch universelle Bedeutung zu ver-
8 Ebd., S. 323. 9 Ebd., S. 324. 10 Garin, Moyen Âge et Renaissance, S. 18 f. 11 Siehe Jean Seznec, La survivance des dieux antiques. Essai sur le rôle de la tradition mythologique dans l’humanisme et dans l’art de la Renaissance, London 1940, Nachdruck Paris 2011.
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leihen, die sowohl Poesie und Philologie einschloss, als auch das moralische und politische Leben, bis er zu einer neuen Philosophie wurde. Während sich die beiden soeben vorgestellten Historiker aus dem 20. Jahrhundert vor allem für die Literatur und das Gedankengut – also für den Humanismus – interessieren, ist der, von dem ich jetzt spreche, vor allem einer der wichtigsten Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts: der Amerikaner Erwin Panofsky. Schon der Titel seines Buches lässt ahnen, dass wir es hier mit einer Konzeption der Renaissance zu tun haben, die sich von der Paul Oskar Kristellers und Eugenio Garins unterscheidet: Renaissance and Renascences in Western Art (1960). 12. Die Kunst wird darin als grundlegender Gegenstand der Forschung und Reflexion dargestellt. Die Renaissance wird vom Singular zum Plural, es gibt nicht „eine“ sondern „mehrere“ Renaissancen, wobei die anderen Renaissancen vor der eigentlichen Renaissance stattgefunden haben, sie waren „Vorläufer“. Um sie ausschließen zu können, betrachtet der Kunsthistoriker zunächst zwei Konzeptionen, die im 20. Jahrhundert in Umlauf waren und im weiteren Sinne die Periodisierung der Geschichte betrafen, wes-
12 Dt. Ausg.: Erwin Panofsky, Die Renaissancen der europäischen Kunst, übers. von Horst Günther, Frankfurt a. M. 1979.
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halb sie zu unserem Thema gehören: Einerseits die Konzeption, derzufolge es keine verschiedenen historischen Perioden gibt, wobei Panofsky hier The Oxford Dictionary zitiert, 13 andererseits die des großen zeitgenössischen Historikers Lynn Thorndike, nach dessen Meinung „die menschliche Natur dazu neigt, zu allen Zeiten praktisch dieselbe zu bleiben“. 14 Es ist Panofsky hoch anzurechnen, dass er es abgelehnt hat, diese beiden Ansätze zu akzeptieren, von denen der eine teilweise, der andere vollständig jede Möglichkeit leugnet, Geschichte zu schreiben. Ebenso wie alle Denker und Schriftsteller, die sich für das Aufkommen der Renaissance als Periode interessiert haben, geht Panofsky bis auf Petrarca zurück, der sie ja als geläuterte Erneuerung der griechischen und römischen Literatur ersonnen hat, und untersucht, wie diese eng gefasste Definition um 1500 erweitert wurde zur „Konzeption einer großen Erneuerung, die fast alle Gebiete kultureller Tätigkeiten umfasst“. 15 Erwin Panofsky zitiert die Bemerkung des amerikanischen Philosophen George Boas, demzufolge „was wir Perioden nennen, einfach wichtigen Neuerungen entspricht, die in der Geschichte ständig vorkom13 Siehe Erwin Panofsky, La Renaissance et ses avant-courriers dans l’art d’Occident, übers. von L. Meyer, Paris 1976, S. 13. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 19.
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men“. 16 Die Perioden der Geschichte sollten die Namen großer Persönlichkeiten tragen: Dann gäbe es das Zeitalter Beethovens, wie es in der Antike das Zeitalter des Perikles gegeben hat, oder in der Neuzeit die Epoche Ludwigs XIV. 17 Panofsky erläutert anschließend die Schwächen des Malers und Kunsthistorikers Giorgio Vasari, der im Florenz des 16. Jahrhunderts großen Einfluss ausgeübt hat mit seinem Werk Lebensbeschreibungen der berühmtesten Maler, Bildhauer und Architekten (1550), das Cosimo de’Medici gewidmet war. Vasari vertrat die Ansicht, dass seit Giotto (um 1266–1337) und vor allem seit dem 14. Jahrhundert eine neue Periode der Menschheit begonnen hatte, die er „Renaissance“ (Rinascita) nannte und deren wichtigste Antriebskraft eine Rückkehr zur klassischen Antike war. Nach Panofskys Meinung besitzen wir heutzutage eine differenziertere Vorstellung von jener „Renaissance“ genannten Periode als die damalige künstlerische, literarische und politische Elite – zumindest in Italien. Die wurde geradezu mitgerissen von dieser Welle der Rückkehr zur Antike, jener idealen Periode, nach der 16 Ebd., S. 13. 17 Siehe George Boas, „Historical Periods“, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism, 12 (1953), S. 253 f. Die vollständigste und erstaunlichste Übersicht, was die Anzahl der im Laufe der Jahrhunderte vorgeschlagenen Periodisierungssysteme betrifft, findet sich im Buch von Johan Hendrik Jacob van der Pot, De Periodisering der geschiedenis. Een overzicht der theoriën, Den Haag 1951.
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das „Mittelalter“, wie man es immer häufiger nannte, nur einem Niedergang der Werte entsprechen konnte. Den letzten allgemeinen Überblick über die Renaissance liefert uns der große französische Historiker Jean Delumeau in zwei seiner wichtigsten Werke. Das erste schrieb er 1996 gemeinsam mit Ronald Lightbown, 18 das zweite hat er 1999 allein verfasst. 19 Jean Delumeau unterstreicht das doppelte Aufkommen des Wortes „Renaissance“. Dem Ausdruck und der darin enthaltenen Vorstellung von einer Erneuerung durch eine Rückkehr zur Antike begegnet man zuerst in Italien, insbesondere in Florenz. Der „Initiator“, wenn man so sagen darf, war Petrarca im 14. Jahrhundert, während Giorgio Vasari Mitte des 16. Jahrhunderts der „Analytiker“ war. Doch wie wir bereits gesehen haben, setzten sich das Wort und die mit ihm assoziierte Periode erst im 19. Jahrhundert mit der Romantik und Michelet durch. Damals erweiterte sich seine Bedeutung über das Gebiet der Kunstgeschichte hinaus und wurde nun auch auf die wichtigsten Aspekte jener Periode angewandt, die vom finsteren Mittelalter bis zur Neuzeit reichte, deren Auftakt sie ist. In seinem Buch Une histoire de la Renaissance (Eine Geschichte der Renaissance) beschreibt Jean Delu-
18 Jean Delumeau und Ronald Lightbown, La Renaissance, Paris 1996. 19 Jean Delumeau, Une histoire de la Renaissance, Paris 1999.
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meau, wie sich die neue Kunst von Florenz aus über Italien und später von Italien aus über den Rest Europas verbreitet hat. Seinen Überblick über die europäische Renaissance schließt er mit einer einzigartigen Ausnahme: Der große niederländische Maler Pieter Bruegel der Ältere (um 1527–1569) ignorierte sowohl die Antike als auch Italien. Jean Delumeau beschreibt die Entwicklungen und Brüche auf den Gebieten der Lehre und Bildung: die Rolle des Buchdrucks, die zunehmende Schulbildung, den Niedergang der Universitäten und die Bedeutung der Fürstenhöfe, es gab gelehrte Frauen und eine zunehmende Anzahl von Autoren, das Aufkommen einer neuen Organisation in der Malerei mit dem Atelier, das vor allem auf die im 15. Jahrhundert in den Niederlanden erfundene Ölmalerei und die Arbeit an der Staffelei zurückging, gelehrte Gesellschaften, die sich auf originelle Art den altgriechischen Ausdruck „Akademien“ aneigneten. Unter den technischen Fortschritten, die Jean Delumeau der Renaissance zuschreibt, hebt er besonders die mechanische Uhr und die Artillerie hervor – ich persönlich halte sie ja für mittelalterliche Erfindungen. Jean Delumeau charakterisiert die Renaissance anschließend anhand ihrer wirtschaftlichen Dynamik. Dieses Urteil halte ich für übertrieben, doch ich vermerke – und darauf komme ich später noch zurück – zwei neue, wichtige Phänomene: erstens die Zufuhr von Edelmetallen (Gold und Silber) aus Amerika, das um 1500 entdeckt wurde; zweitens die Fortschritte in der Hochseenavigation 86
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seit Christoph Kolumbus und bei den spätmittelalterlichen Karavellen. Anschließend widmet Jean Delumeau ein Kapitel dem durch Feiern strukturierten Alltagsleben. Tatsächlich verbreitete sich eine neue Stimmung, verbunden mit dem neu entstehenden Luxus und den Festen an den Fürstenhöfen, bisweilen sogar beim gehobenen Bürgertum. 20 Schließlich behandelt Jean Delumeau die mutmaßliche Krönung des Phänomens, nämlich die Modernität auf religiösem Gebiet, unter dem Titel „Große religiöse Veränderungen“. Natürlich denkt er hier vor allem an die Reformation, als ein gesonderter Zweig des Christentums geboren wurde: der Protestantismus mit seinen beiden wichtigsten Formen, dem Luthertum und dem Calvinismus. Das war ganz offensichtlich eine einschneidende Entwicklung für alle Männer und Frauen dieser Epoche, in der Atheismus eine Ausnahme blieb. Im „Überblick über die Renaissance“, den Jean Delumeau am Ende seines Werks präsentiert, umreißt er „die Grenzen der Renaissance“, definiert sie jedoch vor allem als einen „großen Schritt nach vorn“. Diesen großen Schritt rechtfertigt Jean Delumeau mit der Entwicklung von Meisterwerken der Kunst und Literatur, die man als „Höhepunkte“ bezeichnen kann.
20 Zum königlichen und fürstlichen Umfeld siehe die Studie von Teofilo F. Ruiz, A King Travels. Festive Traditions in Late Medieval and Early Modern Spain, Princeton, NJ 2012.
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Doch was die Renaissance zu einer ganz eigenen Periode macht, sind seiner Meinung nach „zwei große Neuerungen, die den Lauf der Geschichte geändert haben“: einmal die Entdeckung Amerikas und die erste Weltumsegelung; zweitens die Spaltung der lateinischen Christenheit in Protestantismus und Katholizismus. Jetzt muss ich darangehen, zwei Thesen zu belegen. Einerseits stellt die Renaissance, ganz gleich, wie wichtig sie war und wie sehr sie eine Individualisierung im historischen Ablauf verdient hätte, meiner Meinung nach keine eigene Periode dar: Sie ist lediglich die letzte Renaissance eines langen Mittelalters. Andererseits möchte ich aufzeigen, dass das Prinzip der Periodisierung in der Geschichte heutzutage durch die Globalisierung der Kulturen und die Dezentrierung des Westens zwar infrage gestellt wird, für den Historiker aber trotzdem ein unentbehrliches Instrument bleibt. Allerdings müsste man die Periodisierung flexibler anwenden als es bislang geschehen ist, seit man begonnen hat, „die Geschichte zu periodisieren“.
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I
n der heute Renaissance genannten Epoche, also ab dem 14. Jahrhundert, zunehmend im 15. und vor allem im 16. Jahrhundert, hat die kulturelle Elite für das Mittelalter Feindseligkeit oder gar Verachtung empfunden und oft auch geäußert. Dieses Gefühl wurde weitergegeben und verschärfte sich noch, vor allem bei den Gelehrten der sogenannten Aufklärung im 18. Jahrhundert. Die gingen sogar so weit, das Mittelalter als Epoche der Finsternis, auf Englisch Dark Ages, zu bezeichnen. Die Verdammung des Mittelalters basierte vor allem darauf, dass die Menschen der Renaissance die Notwendigkeit verspürten, zurückzukehren zur klassischen Antike mit ihren großen Meistern (Aristoteles und Platon in Griechenland, Cicero und Seneca in Rom), die von der mittelalterlichen Gedankenwelt angeblich ignoriert worden waren, um sich von ihnen abzuheben. Tatsächlich war die griechisch-römische Kultur der Antike für das mittelalterliche Denken in religiöser Hinsicht problematisch – schließlich waren die Alten ja „heidnisch“ –, dennoch hat das Mittelalter ihre Existenz und ihre Werte keineswegs verschmäht, es hat sie sogar oft benutzt und weiterentwickelt. Diese doppelte 89
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beziehungsweise zwiespältige Einstellung ergab sich zwangsläufig, als die mittelalterlichen Schreibkundigen den heiligen Augustinus, einen gebildeten, zum Christentum bekehrten Römer, zu ihrem großen Lehrmeister machten. Das rationelle, wissenschaftliche und pädagogische Denken des Mittelalters hat vieles aus dem antiken System der „Freien Künste“ (artes liberales) übernommen. Bis ins 13. Jahrhundert hinein war es allgemein in Gebrauch und ging dann erst nach und nach im Universitätsunterricht auf. Eine Reihe bedeutender Intellektueller hat diesen Sockel der Freien Künste von der Antike bis ins Mittelalter überliefert. Am Ursprung dieser Tradition stand Varro (116–27 vor unserer Zeitrechnung), den Cäsar damit beauftragt hatte, in Rom die ersten öffentlichen Bibliotheken zu organisieren: Er unterschied zwischen den Freien Künsten und den praktischen, das heißt den handwerklichen Künsten (artes mechanicae). Im Mittelalter sollte diese Unterscheidung in religiösen und intellektuellen Kreisen eine Diskussion über den Begriff und den Wert der Arbeit entfachen. In der Spätantike brachte Martinus Capella (5. Jahrhundert) in seinem Gedicht De nuptiis Philologiae et Mercurii wieder die Freien Künste in Mode; dieser Text war für das Mittelalter besonders wichtig. Zwei große Denker, Cassiodor (6. Jahrhundert) und Alkuin (Ende 8. bis Anfang 9. Jahrhundert) – letzterer ein wichtiger Berater Karls des Großen –, haben die sieben Freien Künste später überliefert und in zwei Bereiche unterteilt. Davon war das Trivium (Dreiweg) das Stu90
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dium der Worte, also Grammatik, Rhetorik und Dialektik, während das Quadrivium (Vierweg) Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie umfasste. Ebenfalls in einer Linie mit dem antiken Rom erzielte das Mittelalter auch in linguistischer Hinsicht einen großen Fortschritt: Die Ausweitung des Lateinischen als gemeinsame Sprache aller Schreiber sowie der weltlichen Oberschicht in den zum Christentum bekehrten Regionen. Zwar hatte es sich im Verhältnis zum klassischen Latein weiterentwickelt, dennoch begründete es eine sprachliche Einheit Europas, die sogar weit über das 12. und 13. Jahrhundert hinaus erhalten blieb, obwohl das veraltete Latein in den unteren Schichten der Gesellschaft und im Alltagsleben durch die Volkssprachen (wie Französisch) ersetzt wurde. Die Zeit des Mittelalters war weitaus „lateinischer“ als die Renaissance. Lesen und Schreiben waren im Mittelalter weiter verbreitet als in der Antike. Nicht nur eine Schulbildung wurde üblicher – nun auch für Mädchen –, sondern das Lesen fand weitere Verbreitung, begünstigt durch das Pergament, das viel handlicher war als Papyrus, und vor allem durch den aus senkrechten Heften gebundenen Kodex (codex), der etwa im 4. bis 5. Jahrhundert die Schriftrolle (volumen) ersetzt hat. Was das Schreiben anging, gelang es den mittelalterlichen scriptores nicht, die verschiedenen Schreibweisen zu vereinheitlichen, sodass es der Renaissance als Erfolg anzurechnen ist, dass sich die humanistische Schrift durchsetzen konnte, von Petrarca in Mode gebracht und bald auch die römische Schrift genannt. 91
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Ein weiterer Erfolg der Renaissance gegenüber dem Mittelalter war die Wiederentdeckung des Altgriechischen in der lateinischen Christenheit. Begünstigt wurde sie durch gebildete Byzantiner, die nach der Einnahme Konstantinopels 1453 durch die Türken im Westen Exil suchten. Zwischen dem 15. und dem späten 18. Jahrhundert hatten alle Denker das Gefühl, der Sturz in die Finsternis, für den sie die mittelalterliche Periode hielten, sei von einem starken Rückzug des rationellen Denkens begleitet gewesen, sodass stattdessen das Wundersame, Übernatürliche und Leidenschaftliche Raum bekam. Dabei beriefen sich die meisten Schreibkundigen des Mittelalters, ebenso wie das gültige Bildungssystem an Universitäten und Schulen, eigentlich ständig auf die Vernunft, genauer gesagt auf die ratio, und zwar in beiden Bedeutungen: als organisiertes Denken und im Sinne von Rechnen. Im Mittelalter charakterisierte die Rationalität die menschliche Natur im Gegensatz zum Tierischen. Der Überlegenheit der Vernunft begegnet man bei Augustinus und Boethius. Im 13. Jahrhundert entnahmen große Scholastiker wie Albertus Magnus oder Thomas von Aquin dem Buch der Definitionen von Isaak Israeli (9. bis 10. Jahrhundert) den Gedanken, dass „die Vernunft im Schatten der Intelligenz geboren wird“. 1 In der Theologie steht
1
Artikel „Raison“, in: Claude Gauvard, Alain de Libera und Michel Zink (Hrsg.), Dictionnaire du Moyen Âge, Paris 2002, S. 1172.
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die Vernunft im Widerspruch zur Autorität, allerdings muss man zugeben, dass die sehr formalistische Konzeption der Vernunft im Mittelalter der Entwicklung einer wissenschaftlichen Vernunft im Weg gestanden hat. Diese Hindernisse sollte die Renaissance beseitigen. Der Dominikanerpater Marie-Dominique Chenu hat erläutert, wie die Rationalität mehr und mehr in die Theologie eingesickert ist, bis sich Letztere im 13. Jahrhundert in eine Wissenschaft verwandelt hat. 2 In Bezug auf die Scholastik findet man zum Beispiel im Werk von Nicolas Weill-Parot eine Darstellung der „tiefen Rationalität des wissenschaftlichen scholastischen Denkens im Mittelalter“. 3 Betrachten wir nun den geographischen Bereich. Wie bereits erwähnt, begann die Bewegung, die man schließlich Renaissance nennen sollte, in Italien. Ge-
2
Siehe Marie-Dominique Chenu, La théologie au XII e siècle (1957), 3. Aufl., Paris 1976, und La théologie comme science au XIII e siècle (1957), 3. erw. Aufl., Paris 1969. Das wichtigste moderne Buch über die Bedeutung und die verschiedenen Aspekte der Vernunft im Mittelalter, insbesondere im 13. Jahrhundert, ist das von Alexander Murray, Reason and Society in the Middle Ages, Oxford, New York 1978.
3
Siehe Nicolas Weill-Parot, Points aveugles de la nature. La rationalité scientifique médiévale face à l’occulte, l’attraction magnétique et l’horreur du vide (XIII e-milieu du XV e siècle), Paris 2013.
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nauere Studien müssten die Rolle dieser oder jener Stadt aufdecken, insbesondere die von Genua, Florenz, Pisa und Venedig. Trotzdem hat Italien in der historischen Periodisierung sozusagen nur Unruhe gestiftet. In der Antike zeichnete sich das Land nämlich durch die Macht der Etrusker und die des Römischen Reiches aus. Im Mittelalter war Italien politisch gespalten und musste im 14. Jahrhundert hinnehmen, dass der Papst in Avignon im Exil residierte. Diese Schwächen kompensierte das Land durch eine außerordentliche kulturelle Blüte, vor allem in Florenz und Venedig. Wie Girolamo Arnaldi aufgezeigt hat, wurde Italien seit dem Frühmittelalter zwar durchgehend ganz oder teilweise von Fremden beherrscht, trotzdem blieb es für Europa und in erster Linie für seine Besatzer immer ein leuchtendes Vorbild. 4 Obwohl Italien in der Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts die Speerspitze der künstlerischen und kulturellen Dynamik bildete, folgte Deutschland, und hier besonders Süddeutschland, diesem Beispiel schon bald auf sehr individuelle Weise. 5
4
Siehe Girolamo Arnaldi, L’Italia e i suoi invasori, Rom, Bari 2002; dt. Ausg.: ders., Italien und seine Invasoren. Vom Ende des Römischen Reiches bis heute, übers. von Friederike Hausmann, Berlin 2005.
5
Siehe „Allemagne, 1500. L’autre Renaissance“, in: L’Histoire, Nr. 387, Mai (2013), S. 38–65.
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Der Vorgang der Periodisierung zwingt den Historiker, die vorherrschende Denkweise der in der untersuchten Epoche lebenden Männer und Frauen in einem möglichst weit gefassten Raum zu berücksichtigen. Das Mittelalter hat mit einer pessimistischen Note begonnen. Die christliche Kirche bevorzugte die Periodisierung des Augustinus mit den sechs Zeitaltern der Welt. Dabei war das sechste, also das letzte, eben jenes, in dem die Menschen derzeit lebten, in Erwartung der Ewigkeit nach dem Jüngsten Gericht. Doch die allgemein anerkannte Formel lautete: mundus senescit, „die Welt altert“. Wie Chroniken und Predigten bezeugen, ergab sich daraus die Vorstellung, dass die Welt im Verfall begriffen sei und nicht ihrem Heil, sondern ihrem Verderben entgegenstrebt. Allerdings gab es in manchen Klöstern bald Kleriker, die sich gegen diese Vorstellung auflehnten. Sie versicherten, ihre Zeitgenossen sollten sich eher als Moderne (moderni), im Gegensatz zu den Alten, sehen. Ohne die absolute Überlegenheit des Mittelalters zu postulieren, bekräftigten sie gern die Vorzüge und Aussichten der Welt, in der sie lebten. Für manche wurde das Mittelalter schließlich sogar zu einer Zeit der Modernität, wobei dieser Ausdruck im Kampf zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einen wichtigen Einsatz darstellt. Der auf mittelalterliche Philosophie spezialisierte Historiker Étienne Gilson hat einen seiner Aufsätze
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„Le Moyen Âge comme saeculum modernum“ 6 (Das Mittelalter als saeculum modernum) betitelt. Natürlich konnten die im Mittelalter lebenden Menschen noch nicht wissen, dass man ihre Epoche einmal so nennen würde. Darum fragt sich Gilson, wie sie selbst diese lange Zeit wohl sahen, das heißt die Chronisten in der Geschichte, und die große Mehrheit aller Männer und Frauen in ihrer Erinnerung. Sie dachten nun aber, die Zeit der Alten habe bis zu Karl dem Großen fortgedauert; für die Zeit danach erfanden sie die Vorstellung von einer Übertragung des Wissens der antiken Griechen und Römer nach Westen, und zwar besonders nach Gallien, die sogenannte translatio studii. Im 11. Jahrhundert war deutlich eine Loslösung von der Antike zu erkennen, und die Dialektiker setzten die Logik an die Stelle der Grammatik als wichtigste Kunst; ein bescheidener Vorbote des Triumphes der Wissenschaft über die Literatur. Ende des 11. Jahrhunderts machte mit Anselm von Canterbury die eloquentia Platz für die dialectica als Ideal des Wissens. Man begann, die Logik des Aristoteles zu benutzen, und die Scholastik nannte sich „modern“. Das Konzept der Modernität konnte von einigen konservativ eingestellten Menschen gewiss sehr negativ interpretiert werden, wie Gilson erläutert. So sprach Guibert von Nogent Anfang des 12. Jahrhun-
6
Étienne Gilson, „Le Moyen Âge comme saeculum modernum“, in: Vittore Branca (Hrsg.), Concetto, storia, miti e immagini del Medio Evo, Florenz 1973, S. 1–10.
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derts in seiner Autobiographie von der Verderbtheit, mit der das moderne Jahrhundert die Gedanken und Sitten durchsetzt habe. Doch die Wende zu einer völlig neuen Modernität zeigte sich mit dem Metalogicon des Johannes von Salisbury (1159): Und nun wurde alles neu, man erneuerte die Grammatik, die Dialektik wurde verändert, die Rhetorik verachtet. Beim Quadrivium gab man alle früher befolgten Regeln auf und stellte neue auf, die aus den Tiefen der Philosophie selbst geschöpft wurden. 7
Im 14. Jahrhundert hielt der niederländische Kleriker Geert Grote (oder Gerardus Magnus, 1340–1384) leidenschaftliche Bußpredigten über die Notwendigkeit von Kirchenreformen. Die christliche Spiritualität sollte der Nachahmung Christi angenähert werden. Diese Bewegung – von der der Gründer des Jesuitenordens Ignatius von Loyola im 16. Jahrhundert viele Tendenzen übernahm – wurde Devotio moderna genannt. Deshalb begannen die Initiatoren jener Bewegung und Periode, die man später „Renaissance“ nennen sollte, gleich zu Anfang damit, die Modernität des „Mittelalters“ zu geißeln. So schrieb im 15. Jahrhundert der florentinische Architekt Filarete in seinem Architekturtraktat (1460–1464): „Ich fordere also alle auf, die modernen Methoden aufzugeben und die Rat7
Johannes von Salisbury, Metalogicon, Bd. I, 3, zitiert nach ebd., S. 5.
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schläge aller Lehrmeister, die dieses plumpe System verwenden, zu missachten.“ 8 Als wichtigste Schöpfung der Devotio moderna gilt bei allen Historikern die Nachfolge Christi, das große Meisterwerk der religiösen Vorrenaissance, das einem gewissen Thomas a Kempis (1379 oder 1380–1471) zugeschrieben wird. Die Nachfolge handelt zum größten Teil vom Lesen der Bibel, vom Streben nach einer Kirchenreform und von einer individuellen Spiritualität, die Handeln und Meditation vereint, was Ignatius von Loyola später die discretio nennen sollte. Wie man sieht, ist es sehr heikel, den Begriff „modern“ zu verwenden, weil seine Bedeutung ebenso positiv wie negativ ist. Er kann nicht als Kriterium dienen, um den Wandel zu definieren, beziehungsweise den Fortschritt, wie man ihn später nannte. Im 12. Jahrhundert verbreiteten die Erneuerer des philosophischen und theologischen Denkens das Schlagwort des großen Lehrmeisters Bernhard von Chartres (gest. nach 1124): Wir sind Zwerge, die auf den Schultern von Riesen stehen. So sehen wir mehr und weiter als sie, nicht weil unsere Augen schärfer sind und wir größer wären, sondern weil sie uns in die Luft heben und uns um ihre ganze gigantische Größe erhöhen. 9
8
Zitiert nach ebd., S. 9.
9
Zitiert nach Johannes von Salisbury, Metalogicon, Bd. III,
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Gegen die dunklen Seiten der Scholastik propagierten die Gebildeten der Renaissance das intellektuelle und kulturelle System der studia humanitatis, aus dem wir den Humanismus gemacht haben. Doch diese um den Menschen kreisende Organisation des Denkens war bereits alt: Sie war genauso kennzeichnend für das später so genannte Mittelalter wie für die Zeit, die man Renaissance taufen sollte. Vor allem über den Humanismus der Schule von Chartres wurde viel Scharfsinniges gesagt. Ich erlaube mir, hier eine meiner eigenen Publikationen zu zitieren, die sich auf die fruchtbaren Studien von MarieDominique Chenu stützt, für den dieser Humanismus die Theologie des 12. Jahrhunderts beherrscht hat. „Der Mensch ist Gegenstand und Mittelpunkt der Schöpfung. Genau dies ist das Thema des Glaubensstreits Cur Deus homo?, ‚Warum wurde Gott Mensch?‘“ 10 Nach der traditionellen These, der sich auch der heilige Gregor anschloss, ist der Mensch nur ein Unfall der Schöpfung, ein Ersatz, ein Lückenbüßer, zufällig von Gott geschaffen, um die nach ihrem Aufstand gefallenen Engel zu ersetzen. Dagegen vertrat Bernhard von Chartres, in der Nachfolge des heiligen Anselm von Canterbury, die Vorstellung, der Schöpfer habe
4, Patrologia Latina CXCIX, col. 90, hrsg. von Daniel D. McGarry, Berkeley 1962, S. 167. 10 Jacques Le Goff, Les Intellectuels au Moyen Âge, Paris 1957, S. 57.
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den Menschen immer in seinem Plan vorgesehen und die Welt sogar für ihn geschaffen. Einer der größten Theologen des 12. Jahrhunderts, der an der Schule des heiligen Anselm in England ausgebildete Honorius von Autun, hat ebenfalls darauf beharrt, dass „diese Welt für den Menschen geschaffen wurde“. 11 Der Mensch ist in erster Linie ein vernunftbegabtes Wesen. Dabei handelt es sich um einen humanistischen Rationalismus, doch letztendlich absorbiert der Mensch die Welt, um zu ihrer handelnden und wesentlichen Quintessenz zu werden. Dies ist das Bild des Homo microcosmos (der Mensch als Welt im Kleinen), dem man bei Bernardus Silvestris (12. Jahrhundert) bis hin zu Alanus ab Insulis (1128–1203) begegnet und der in zahlreichen Miniaturen wie zum Beispiel im berühmten Lucca-Kodex des Liber divinorum operum der Hildegard von Bingen dargestellt ist. Am besten wird die intellektuelle Renaissance des 12. Jahrhunderts zweifellos durch die Schule der Viktoriner charakterisiert. Die bestand aus einer Gruppe von Theologen, zu denen Hugo von Sankt Victor gehörte, dessen Kanonikerstift am Stadtrand von Paris lag (noch heute gibt es eine Rue Saint-Victor). Der 1141 gestorbene Hugo von Sankt Victor verfasste unter anderem eine Anleitung zur philosophischen und theologischen Lektüre (das Didascalicon de studio legendi), ein Traktat über die Sakramente (De sacramentis christianae fidei), eine der ersten theologischen Sum11 Ebd., S. 59.
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men des Mittelalters und schließlich einen Kommentar zum Pseudo-Dionysius. Letzterer wurde im 13. Jahrhundert in den Unterrichtsstoff der Pariser Universität aufgenommen und damit zu einem Element, das die Renaissance des 12. Jahrhunderts verlängerte. Als Erneuerer der Freien Künste, ganz der Meditation und allgemein dem antiken Gedankengut zugewandt, verdiente Hugo von Sankt Victor zu Recht den Beinamen der „neue Augustinus“. Nebenbei bemerkt hat das 17. Jahrhundert, ohne Kritik oder Verachtung üben zu wollen, die Vorstellung von einer Renaissance des Mittelalters zwar stillschweigend als graue Periode eingestuft, aber trotzdem einige Persönlichkeiten aus ihrer zeitlichen Umgebung herausgehoben, um einen bestimmten Staat, eine bestimmte Familie oder einen bestimmten Ort usw. zu würdigen. So geschah dies in Frankreich mit Ludwig IX., genannt der Heilige (Saint Louis). Als Schutzpatron der königlichen Familie und damit Schutzheiliger der Könige Ludwig XIII. und vor allem Ludwig XIV. wurde sein Ruhm überall dorthin getragen, wo sich die Franzosen niederließen, selbst nach Übersee. So zum Beispiel um 1638 unter Ludwig XIII. nach Saint-Louis im Senegal, der ersten französischen Niederlassung in diesem Teil der Welt, oder nach SaintLouis in Nordamerika, das 1764 am Zusammenfluss von Missouri und Mississippi gegründet wurde. Der französische Verdienstorden Ordre royal et militaire de Saint-Louis wurde 1693 von Ludwig XIV. gestiftet, 1792 während der Revolution abgeschafft, 1814 von 101
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den Bourbonen wieder eingeführt, um 1830 mit Karl X. endgültig zu verschwinden. Und die Île SaintLouis in Paris erhielt ihren Namen 1627 nach der Zusammenlegung zweier Inselchen in der Seine. Die scholastische Philosophie verdankt ihren Namen dem Umstand, dass sie meistens an Schulen, das heißt an den Universitäten, gelehrt wurde. Sie war der Hauptgrund dafür, dass die Gebildeten, und zwar besonders die Philosophen des 16. und mehr noch des 18. Jahrhunderts, das Mittelalter kritisiert und sogar verachtet haben. Zuerst im 13. Jahrhundert als Adjektiv benutzt, bezeichnet „scholastisch“ seit dem 16. Jahrhundert eine stark von der Theologie durchdrungene Denkweise. Volaire schrieb sogar: „Die scholastische Theologie, Bastardtochter der Philosophie des Aristoteles, schlecht übersetzt und falsch verstanden, hat der Vernunft und der Bildung größeren Schaden zugefügt als es alle Hunnen und Vandalen getan haben.“ 12 Trotz einer gewissen Rehabilitierung des Mittelalters und seiner Gedankenwelt im 19. Jahrhundert findet man noch bei Ernest Renan in La Vie de Jésus (Das Leben Jesu, 1863) folgendes Urteil: „Das Wesen
12 Dieser Auszug aus dem Essai sur les mœurs (Essay über die Sitten) wird zitiert im Artikel „Scolastique“, in: Alain Rey (Hrsg.), Dictionnaire culturel en langue française, Bd. 4, Paris 2005, S. 632, der hinzufügt: „Dieses Urteil aus dem Zeitalter des Klassizismus wird heute rundheraus abgelehnt.“
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der scholastischen Kultur besteht darin, den Geist vor allem, was feinsinnig ist, zu verschließen.“ 13 Obwohl etwas nuancierter formuliert, bleibt das Urteil über das Mittelalter damit im Grunde unverändert: Die Männer und Frauen dieser Epoche waren Barbaren. Bekanntlich war das Mittelalter eine zutiefst religiöse Epoche, geprägt von der Macht der Kirche und der Stärke einer fast allgegenwärtigen Frömmigkeit. Dagegen brachte das 16. Jahrhundert das Schisma der Reformation und erlebte erbitterte Religionskriege. Der christliche Glaube existierte von nun an in zumindest zwei Formen, der traditionell katholischen und der neuen reformierten, auch protestantisch genannt, mit gleich mehreren Konfessionen: Anglikanismus in Großbritannien, Luthertum und Calvinismus auf dem Kontinent, wobei sich die Lutheraner eher in den deutschsprachigen und nordischen Regionen festigten, die Calvinisten in den romanischen Ländern. Trotzdem gehörten sie immer noch zur Christenheit. Erst im 17. Jahrhundert bildete sich eine Gruppe glaubensloser Intellektueller: die Freidenker. Einer ihrer berühmtesten Vertreter war Pierre Gassendi (1592– 1655), Mathematikprofessor am Collège de France und Philosoph. Freidenker erscheinen zum Beispiel schon bei Molière im Tartuffe und im Don Juan, doch die Académie française nahm das Wort erst 1762 in der vierten Auflage ihres Dictionnaire auf. 13 Zitiert nach ebd.
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Wenn es ein Gebiet gibt, auf dem offenbar niemand die Neuartigkeit der „Renaissance“ abstreiten kann, dann ist es die Kunst. Dabei war die wichtigste Entwicklung zweifellos die Geburt dessen, was man als die moderne Schönheit bezeichnen kann. Doch die fand bereits im Mittelalter statt. Diesen Wandel hat Umberto Eco in seinem Buch Kunst und Schönheit im Mittelalter auf hervorragende Weise untersucht. Wie er betont, warfen die Männer der Renaissance dem Mittelalter unter anderem vor, dass es in dieser Epoche keine „ästhetische Sensibilität“ 14 gegeben habe. Doch Umberto Eco bestreitet energisch die Vorstellung, die Scholastik habe jeden Sinn für Schönheit erstickt, und belegt sehr überzeugend, dass es in der mittelalterlichen Philosophie und Theologie von ästhetischen Fragen nur so wimmelt. Damit meint er keine bestimmten Werke, sondern ganz allgemein den Sinn für Ästhetik. Und jeder Leser, der anhand anderer Bücher – zum Beispiel L’Art des sculpteurs romans (Die Kunst der romanischen Bildhauer, 1931) und vor allem Art d’Occident (Kunst des Abendlandes, 1938) von Henri Focillon – über mittelalterliche Kunst meditiert oder nachgedacht hat, wird beim Anblick einer 14 Umberto Eco, Arte e bellezza nell’estetica medievale, Mailand 1987, Nachdruck in: Scritti sul pensiero medievale, Mailand 2012; dt. Ausg.: ders., Kunst und Schönheit im Mittelalter, übers. von Günter Memmert, München 1991; hier zitiert nach der französischen Ausgabe: ders., Art et beauté dans l’esthétique médiévale, übers. von M. Javion, Paris 1997, S. 26.
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romanischen Kirche oder einer gotischen Kathedrale sofort zugeben, dass diese Epoche nicht nur Meisterwerke der Kunst hervorgebracht hat, sondern sogar getrieben war von der Empfindung des Schönen und dem Verlangen, es auszudrücken und zu erschaffen, um es Gott und der Menschheit zu schenken. Das Mittelalter hat zahlreiche Meisterwerke hervorgebracht, insbesondere auf einem Gebiet, das die meisten Menschen leider nur selten zu Gesicht bekommen: der Buchmalerei. Es hat auch den Künstler geschaffen, der nicht länger einfach nur ein geschickter Handwerker war. Er war vielmehr jemand, der beseelt war vom Willen, Schönes hervorzubringen, und der dieser Aufgabe sein Leben widmete. Er sah das nicht nur als einen Beruf, sondern als Berufung an und gewann in der mittelalterlichen Gesellschaft einen Status, den die übrigens oft anonymen Architekten, Maler und Bildhauer des Hochmittelalters (Mitte des 11. bis Mitte des 13. Jahrhunderts) noch nicht genossen hatten. Außerdem konnten die Erfolgreichen, die berühmt wurden, sehr gut von ihren Werken leben. Manche schafften es sogar, in eine Kategorie aufzusteigen, die sich mit der zunehmenden Geldwirtschaft im 13. und 14. Jahrhundert an der Spitze der Gesellschaft etablierte: die Reichen. Der Erste, dem schon zu Lebzeiten der Titel eines Künstlers zuerkannt wurde, war Giotto, und er war in jener Stadt verwurzelt, die um 1400 zweifellos die wohlhabendste und schönste in diesem fortschrittlichen Italien war: Florenz. Seine Fresken in der Kirche 105
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Santa Croce in Florenz und in der Basilika San Francesco in Assisi verhalfen ihm zum Durchbruch, doch seinen Ruf als Künstler etablierte er zweifellos mit der Ausschmückung der Scrovegni-Kapelle in Padua. Auf dem Gebiet der religiösen Architektur kann man im Mittelalter keine größere Veränderung feststellen, abgesehen vom Übergang von der romanischen Kunst zur „gotischen Revolution des 12. Jahrhunderts“, 15 wie sie von Alain Erlande-Brandenburg genannt wurde. Doch durch Finanzkrisen, die wirtschaftlichen Folgen der Pest und die ständigen Kriege versiegten schließlich die Finanzierungsquellen für die Kathedralen, sodass manche unvollendet blieben, insbesondere die von Siena. Auf dem Gebiet der weltlichen Architektur vollzog sich dagegen ein tiefgreifender Wandel, der Burgen und Schlösser betraf. Bis ins 14. Jahrhundert hinein war die Adelsburg nämlich vor allem ein Ort der Zuflucht und Verteidigung. Doch gegen Kanonen, die im Kampf immer häufiger zum Einsatz kamen, bot eine Burg nur mäßigen Schutz, darum wurden die militärischen Anlagen in Lustschlösser umgewandelt. Auf Treppen, Möblierung, Spazierwege usw. verwandte man nun besondere Sorgfalt. Was die Malerei angeht, kann man das Aufkommen der Ölmalerei auf der Staffelei in Flandern Mitte des 15. Jahrhunderts zwar nicht eindeutig dem Mittel15 Siehe Alain Erlande-Brandenburg, La révolution gothique au XII e siècle, Paris 2012.
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alter oder der Renaissance zuordnen, doch eine wichtige Neuerung ist zweifelsohne mittelalterlich: die des Porträts, für das die abgebildete Person, um Ähnlichkeit zu erzielen, oft Modell sitzen musste. Auf diese Weise sind uns zahlreiche wirklichkeitsgetreue Bilder von Männern und Frauen der Vergangenheit zuteilgeworden. Vor allem wurde hier bei der individuellen Darstellung ein entscheidender Fortschritt erzielt. Zwar handelt es sich dabei nur um das Gesicht, doch auch das Gesicht ist Teil des Körpers, der auf diese Weise in das historische Gedächtnis eingegangen ist. Ein großer Kunsthistoriker der Renaissance, Gerhart B. Ladner, hat behauptet, ein Hauptmerkmal der damaligen Kunst, das sie vom Mittelalter unterschied und abhob, bestünde darin, dass sie der Vegetation breiten Raum gewährt hat. 16 Die hatte hier zwar vor allem symbolische Bedeutung; doch in Ladners Augen illustrierte allein ihre Fülle die Konzeption der Renaissance, die so gewissermaßen zum Frühling der Welt wurde nach dem Winter des Mittelalters. Doch auch das Mittelalter war von Blumen, Blättern und Bäumen erfüllt. Damals hatte fast jeder das Gefühl, mit Adam und Eva im Garten Eden geboren zu sein und ihn irgendwie nie verlassen zu haben. Gewiss, die Erbsünde hatte den Menschen um den unbe-
16 Siehe Gerhart B. Ladner, „Vegetation Symbolism and the Concept of Renaissance“, in: Millard Meiss (Hrsg.), De artibus opuscula XL: Essays in honor of Erwin Panofsky, Bd. 1, New York 1961, S. 303–322.
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schwerten Genuss dieser Vegetation gebracht, doch sie hatte ihm auch die Arbeit geschenkt, dank der er sich sowohl ernähren konnte als auch Schönheit erschaffen, die ihm einen Blick ins Paradies gewährte. In ihrem Buch Le Monde roman. Par-delà le bien et le mal (Die Welt der Romanik. Jenseits von Gut und Böse) widmen Jérôme Baschet, Jean-Claude Bonne und Pierre-Olivier Dittmar ein ganzes Kapitel der „Pflanzlichkeit“ (végétalité). 17 Auch hier handelt es sich um eine symbolische Welt, weil das Pflanzliche zur Transmutation der Kirche in einen spirituellen Ort beitrug. Allerdings gab es auch eine schlichte irdische Vegetation. Auf diesem Gebiet, wie auf vielen anderen, hat die Renaissance das Mittelalter nur verlängert, als sie den geschlossenen Garten, das Symbol für die Jungfräulichkeit Marias, der Menschheit geöffnet hat: Ein verschlossener Garten ist meine Schwester Braut, ein verschlossener Garten, ein versiegelter Quell. – Ein Lustgarten sprosst aus dir, Granatbäume mit köstlichen Früchten, Hennadolden, Nardenblüten. 18
17 Siehe Jérôme Baschet, Jean-Claude Bonne und PierreOlivier Dittmar, Le Monde roman. Par-delà le bien et le mal, Paris 2012. 18 Hohelied 4,12–13, in: Die Bibel. Altes und Neues Testament, Einheitsübersetzung, Freiburg, Basel, Wien 2013, S. 731.
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Im größten Meisterwerk der mittelalterlichen Literatur, Dantes Göttliche Komödie, sprießt und blüht es, sobald Beatrice vom Fegefeuer (purgatorio) ins Paradies gelangt. Und einer der erfolgreichsten Romane des 13. Jahrhunderts, Le Roman de la rose (Rosenroman), wird durch eine Blume definiert und spielt sich in einer symbolisch aufblühenden Vegetation ab. Betrachten wir nun die Musik. Der Soziologe Norbert Elias hat Wolfgang Amadeus Mozart (1756– 1791) mitsamt seiner Karriere einen bemerkenswerten Essay gewidmet, Mozart: Zur Soziologie eines Genies. 19 Darin zeigt er, dass der Komponist in den Jahren 1781/82 den Übergang vom Kunsthandwerk zur unabhängigen Kunst vollzogen hat, als er den Druck des Vaters und die einengenden Beziehungen mit seinen ersten Auftraggebern, dem Bischof von Salzburg und dem Kaiser von Österreich, abschütteln konnte. So hat sich durch Mozart das Individuum auf brillante Weise durchgesetzt. Ein Schlüsselereignis, das den Übergang zwischen einem langen Mittelalter und der Neuzeit kennzeichnet. Zwischen Mittelalter und Renaissance entwickelten sich Praktiken, die in der Kirche und der christlichen Gesellschaft für Unruhe und Zwietracht sorgten: die Hexerei. Hierzu vorab zwei Dinge. Erstens siedelt Michelet die Verbreitung der Hexerei im 14. Jahrhundert 19 Siehe Norbert Elias, Mozart: Zur Soziologie eines Genies, Frankfurt a. M. 1991.
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an, stützt sich dabei jedoch auf ein schlecht datiertes Werk. Tatsächlich begann sie nämlich erst im 15. Jahrhundert. Zweitens war die Hexerei ein hauptsächlich weibliches Phänomen und beeinflusste infolgedessen den Blick der Gesellschaft auf die Frau. Und zwar so sehr, dass sie in der Renaissance nicht mehr, wie die Tradition es eigentlich verlangte, Gegenstand von Respekt und Bewunderung war, sondern ein zwiespältiges Wesen zwischen Gott und Teufel. Der Ausdruck „Hexer“ (sorcier) tauchte anscheinend im 12. Jahrhundert auf, erhielt seine eigentliche Bedeutung aber erst, als Thomas von Aquin ihn in seiner Summa theologica (zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts) als einen Mann definierte, der einen Pakt mit dem Teufel geschlossen hat. So verwandelte sich die Hexe im 15. Jahrhundert in eine teuflische Person, während sich gleichzeitig ihre mythische Ikonographie etablierte: eine Frau, die rittlings auf einem Besen oder Stock durch die Luft fliegt. Die Hexe war also weitaus eher eine Figur der sogenannten Renaissance, beziehungsweise des 17. Jahrhunderts, als des Mittelalters. Wenn das Mittelalter auf diesem Gebiet eine Rolle gespielt hat, dann in Bezug auf die gesellschaftliche Furcht vor Hexerei. Insbesondere als Papst Alexander IV. um 1260 den Inquisitoren die Aufgabe erteilte, alle Hexen zu verfolgen und eventuell zu verbrennen, sobald ihre Tätigkeiten den Anschein von Ketzerei erweckten. Im Rahmen dieser neuen Geisteshaltung und dieser neuen Einstellung der Kirche hat Thomas von 110
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Aquin die Vorstellung vom Pakt mit dem Teufel hinzugefügt. Und das 15. Jahrhundert vervollständigte dieses furchterregende Bild noch um das Motiv des Hexensabbats. Die bekannteste Begebenheit dieser Verfolgung ereignete sich 1632, als nach den Unruhen unter den Ursulinen von Loudun der Priester Urbain Grandier (1590–1634) zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilt wurde. Vor allem veröffentlichten zwei deutsche Dominikaner, Heinrich Institoris (alias Kramer) und Jakob Sprenger, erst in einer Zeit, in der die Renaissance nach Ansicht ihrer Verfechter bereits voll etabliert war, nämlich 1486, den berühmten Hexenhammer (Malleus maleficarum), eine Anleitung zur gewaltsamen Hexenverfolgung. Mit dem Hinweis darauf, dass man die Hexen im 15. Jahrhundert oft auch „Waldenser“ genannt hat (eine waldensische Epidemie grassierte 1459–1460 in Arras), vertritt Jean-Patrice Boudet die Ansicht, dass die Debatten auf den Konzilen von Konstanz (1414–1418) und vor allem von Basel (1431– 1449) den Einfluss dieses Buches begünstigt haben. 20 Er unterstreicht außerdem, dass die französische Monarchie damals das Verbrechen der Majestätsbeleidigung ausgeweitet und auf die Hexerei angewandt hat. Demnach wäre das Phänomen der Hexerei mit einer gewissen politischen Periodisierung verbunden, doch darauf komme ich noch zurück. 20 Siehe Jean-Patrice Boudet, Le Mal et le Diable. Leurs figures à la fin du Moyen Âge, Paris 1996.
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Schließlich zitiere ich noch das Buch der britischen Historiker Robert C. Davis und Elizabeth Lindsmith, Menschen der Renaissance, das den Untertitel trägt: 100 Persönlichkeiten, die Geschichte schrieben. Schon eingangs wird darin klipp und klar ein Gegensatz zwischen Mittelalter und Renaissance postuliert und der neuartige Charakter der Renaissance bekräftigt: Noch fünf Jahrhunderte nachdem die Renaissance die Kulturlandschaft Europas erleuchtet hat, erscheint sie uns immer noch wie ein Frühling der Moderne, der Moment, in dem alle Ängste und der ganze Irrsinn des Mittelalters vor der Hoffnung wichen. 21
Die Autoren betonen, dass die Bewegung von Italien ausging, um sich ab etwa 1500 über ganz Europa zu verbreiten – hier finden wir Italiens Bedeutung als besonderer geographischer und kultureller Bereich auch in der Periodisierungsgeschichte wieder. Allerdings scheinen sie ihre ursprüngliche Behauptung widerlegen zu wollen, als sie fortfahren: „Tatsächlich hatte diese Periode, ebenso wie die Menschen, die 21 Robert C. Davis und Elizabeth Lindsmith, Renaissance People. Lives that Shaped the Modern Age, London, New York 2011; dt. Ausg.: dies., Menschen der Renaissance. 100 Persönlichkeiten, die Geschichte schrieben, Köln 2011; hier zitiert nach der französischen Ausgabe: dies., Hommes et femmes de la Renaissance. Les inventeurs du monde moderne, übers. von Jean-Pierre Ricard und Catherine Sobecki, Paris 2011, S. 9.
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in ihr agierten, auch eine dunkle Seite.“ 22 Dann erinnern sie an die Veröffentlichung des Hexenhammers 1486 und fügen hinzu: Pogrome, Inquisition und millenaristische religiöse Bewegungen hatten in der Renaissance größeren Erfolg als zuvor im Mittelalter. 23
Wie man sieht, gibt es ein Nebeneinander, manchmal auch ein Gegeneinander zwischen einem langen Mittelalter, das bis ins 16. Jahrhundert hineinreicht, und einer frühen Renaissance, die sich sich ab dem frühen 15. Jahrhundert zeigt. Später komme ich noch auf die Frage der Übergangsperioden, der Wendepunkte zurück. Doch betrachten wir zunächst eine Epoche, in der sich Mittelalter und Renaissance zu ergänzen, zu überlappen scheinen: das 15. Jahrhundert. In seiner Einleitung zur Histoire du monde au XV e siècle (Geschichte der Welt im 15. Jahrhundert) zeigt Patrick Boucheron, dass es damals keine vereinte Welt gab, sondern „Schleifen der Welt“. Und das Buch präsentiert „die Territorien der Welt“, wie er sie nennt. Hier lassen wir die Randgebiete unserer europäischen Welt, also das Mittelmeer und die Iberische Halbinsel, jedoch außer Betracht. Dann bleiben zwei Bereiche übrig, die in zwei Kapiteln behandelt werden: „Un empire des couronnes: royautés électives et unions per22 Ebd., S. 9. 23 Ebd.
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sonnelles au cœur de l’Europe“ (Ein Reich der Kronen: Wahlmonarchien und Personalunionen im Herzen Europas) von Pierre Monnet und vor allem „France, Angleterre, Pays-Bas: l’État moderne“ (Frankreich, England, Niederlande: der moderne Staat) von JeanPhilippe Genet. 24 Genet erkennt in dem von ihm untersuchten Raum eine entscheidende Neuerung: die sprachliche Entwicklung. Im 15. Jahrhundert wurde das Latein nur noch als Gelehrtensprache benutzt und ansonsten durch die Nationalsprachen abgelöst. Nach Genets Ansicht erstarkten in diesem europäischen Raum nämlich Nation und Staat, der sich insbesondere durch die Steuererhebung bemerkbar machte. In Bezug auf die Periodisierung der Geschichte kristallisiert sich somit eine Schlussfolgerung heraus: Brüche sind selten. Das übliche Modell besteht in einem mehr oder weniger langen, mehr oder weniger tiefgreifenden Wandel, in einem Wendepunkt, einer inneren Renaissance.
24 In: Patrick Boucheron (Hrsg.), Histoire du monde au XV e siècle, Paris 2009, S. 155–174 respektive S. 135–154.
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etzt gilt es aufzuzeigen, dass es sowohl auf wirtschaftlichem, politischem und sozialem als auch auf kulturellem Gebiet im 16. Jahrhundert, eigentlich sogar bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, keine grundlegende Veränderung gegeben hat, die eine Trennung zwischen dem Mittelalter und einer neuen, anderen Periode, die dann die Renaissance wäre, rechtfertigen würde. Ende des 15. Jahrhunderts sollte ein Ereignis von großer Tragweite für Europa eintreten: Christoph Kolumbus entdeckte etwas, was er selbst für Ostindien hielt, in Wirklichkeit jedoch ein neuer Kontinent war, der bald „Amerika“ genannt wurde. Diese Erschließung neuer Verbindungswege in der Welt wurde Anfang des 16. Jahrhunderts durch Magellans Weltumsegelung ergänzt und vervollständigt. Doch erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts konnte man in Europa die wichtigsten Auswirkungen dieser Entdeckungen wirklich spüren. Tatsächlich wurde Amerika erst 1778 mit der Gründung der Vereinigten Staaten zu einem Partner des Alten Kontinents, für Südamerika war das sogar erst ab 1810 der Fall, als Simón Bolívar einen Großteil der spanischen Kolonialstaaten befreite. Vielleicht noch wichtiger als die europäische Kolo115
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nisierung, die sich eigentlich erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts und vor allem im 19. Jahrhundert voll entfaltet hat, war die Entwicklung der Hochseeschifffahrt, die man schon im Mittelalter zu organisieren begann. Durch die Einführung von Kompass, Scharnierruder und Rahsegel im 13. Jahrhundert stand den Europäern die Navigation auf hoher See offen. Seitdem verbanden große Galeeren, die mit Waren aber auch mit Menschen beladen waren, regelmäßig beide Teile Europas, den Norden und die Mittelmeerregion. Die erste reguläre Fahrt von Genua nach Brügge fand 1297 statt. Wie Fernand Braudel erläutert, stieg Lissabon im 13. Jahrhundert auf „von einer Zwischenstation, die nach und nach die Lektionen einer aktiven, maritimen, peripheren und kapitalistischen Wirtschaft verinnerlichte“. 1 Später komme ich noch auf den Ausdruck „kapitalistisch“ zurück, um ihn zu hinterfragen. Allerdings wäre gleich hier festzuhalten, dass eine wichtige, hauptsächlich maritime Tätigkeit, die der traditionellen Geschichtsschreibung zufolge eigentlich erst im 15. bis 16. Jahrhundert einsetzte, in Wirklichkeit schon im Mittelalter entstanden ist. Doch wie Fernand Braudel bemerkt, blieb der Transport zu Wasser oder zu Lande, mit Ausnahme
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Fernand Braudel, Civilisation matérielle et capitalisme, XV e–XVIII e siècles, Paris 1967, S. 308; dt. Ausg.: ders., Die Geschichte der Zivilisation. 15. bis 18. Jahrhundert, übers. von Renate Nickel und Thurid Piehler, München 1971; Nachdruck München 1979.
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spezialisierter berittener Boten, sehr langsam. In Frankreich wurden die großen Straßen erst im 18. Jahrhundert besser und dadurch schneller passierbar. Die Pacht der französischen Post stieg zwischen 1676 und 1776 von 1.220.000 auf 8.800.000 Livre (Pfund); der Etat für den Brücken- und Straßenbau von 700.000 auf 7.000.000 Livre. Die École des ponts et chaussées (Schule für Brücken und Straßen) wurde 1747 gegründet. In seiner Synthese über L’Europe de la Renaissance (Das Europa der Renaissance) betont Alain Tallon: Die europäische Wirtschaft der Renaissance behielt global gesehen die inhärente Schwäche aller traditionellen Produktionssysteme. Da es in der übergroßen Mehrheit aller Territorien zu keiner wirklichen Veränderung im Anbausystem und damit zu keiner nennenswerten Steigerung der landwirtschaftlichen Erträge kam, war sie nicht in der Lage zu wachsen. 2
Im Mittelalter erlebte die europäische Landwirtschaft eine gewisse Entwicklung: Dank der Erfindung der eisernen Pflugschar konnten tiefere Ackerfurchen gezogen werden; mit der Verbreitung der Dreifelderwirtschaft ließ man jedes Jahr nur noch ein Drittel der Anbaufläche ruhen statt der Hälfte; dazu verdrängte das Pferd den Ochsen als Zugtier. Gleichwohl war 2
Alain Tallon, L’Europe de la Renaissance, Paris 2006, S. 52.
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Europa bis ins 16. Jahrhundert hinein, und sogar noch weit darüber hinaus, langfristig eine Agrarökonomie. Diese Ausrichtung auf die Landwirtschaft verstärkte sich sogar noch, als diejenigen, die sich durch den Handel und die aufkommenden Banken bereichert hatten, einen Großteil ihres Gewinns in Grundbesitz anlegten. So taten es die genuesischen und florentinischen Bankiers in Italien und die großen Finanzbeamten unter König Franz I. in Frankreich. 3 Ein weiteres Element, das für eine Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance spricht, war die Entwicklung einer ökonomischen Theorie. Ihre Geburtsurkunde war zweifellos die Übersetzung der Nikomachischen Ethik des Aristoteles, die der große Scholastiker Albertus Magnus um 1250 anfertigte. Darin kam der Begriff „Wert“ zum ersten Mal in seiner theoretischen Bedeutung vor. Nach der überzeugenden Analyse von Sylvain Piron brachte der Tractatus de contractibus (Traktat über Verträge, um 1292) des häretischen Franziskaners Petrus Johannis Olivi (frz.: Pierre de Jean Olivi) einen gewaltigen Fortschritt im ökonomischen Denken. Die Begriffe „Knappheit“, „Kapital“ und „Wucher“ wurden eingeführt, was heftige theoretische und praktische Kontroversen auslöste. 4 Das Verbot des Wuchers, das heißt des Geldver-
3
Ebd., S. 60.
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Pierre de Jean Olivi, Traité des contrats; kritische, kommentierte Neuausgabe und Übersetzung von Sylvain Piron, Paris 2012.
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leihens gegen Zinsen, erreichte um 1187 mit dem Erlass Papst Urbans III. seinen Höhepunkt und verschwand dann allmählich: In Napoleons Code civil (Zivilgesetzbuch) existierte es 1804 überhaupt nicht mehr. 1615 benutzte Antoine de Montchrestien (1575–1621) in einem Traktat den Begriff „politische Ökonomie“ – wobei man „Ökonomie“ bis dahin wie im Altgriechischen und bei Aristoteles immer nur in der Bedeutung von „Verwaltung des Hauses“ verwendet hatte. Der kapitalistische Westen erlebte also eine lange Entwicklung, die in ihren wirtschaftlichen und sozialen Grundlagen nicht vom Bruch der Renaissance berührt wurde. Will man die Kontinuität zwischen Mittelalter und Renaissance hinterfragen, ist Fernand Braudels großes Buch Civilisation matérielle et capitalisme (1967) 5 wertvoll. Er erinnert daran, dass im ländlichen Europa des Ancien Régime, also vom Aufschwung des 11. und 12. Jahrhunderts bis zur Französischen Revolution, zwischen vielen guten Ernten auch regelmäßig Hungersnöte auftraten. Für Braudel war Frankreich zwar 5
Fernand Braudel hat sein Buch später in einer erweiterten, dreibändigen Ausgabe mit dem Titel Civilisation matérielle, économie et capitalisme. XV e–XVIII e siècle, Paris 1979, herausgegeben; dt. Ausg.: ders., Sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts, übers. von Siglinde Summerer, Gerda Kurz, Günter Seib, 3 Bde., München 1985–1986. Im Folgenden beziehen wir uns auf die Erstausgabe von 1967. (Anm. d. Übers.)
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ein Land mit besonders günstigen Verhältnissen, trotzdem kam es hier im 10. Jahrhundert zu zehn allgemeinen Hungersnöten, sechsundzwanzig im 11. Jahrhundert, zwei im 12., vier im 14., sieben im 15., dreizehn im 16., elf im 17. und sechzehn im 18. Jahrhundert. 6 Die furchtbarste aller Seuchen, die Pest, dezimierte die Bevölkerung Europas zwischen 1348 und 1720 wiederholt, ohne dass mit dem 15. und 16. Jahrhundert hier ein Schnitt zu erkennen wäre. Fernand Braudel verweist zudem darauf, dass die Ernährung der Europäer bis zum 18. Jahrhundert hauptsächlich aus pflanzlicher Kost bestand. 7 Doch im 16. Jahrhundert, das die Verfechter der Renaissance als Wachstumsphase bezeichnen, stieg in einem Land mit so außerordentlichem Fleischkonsum wie Frankreich der Anteil an Fleisch in der Ernährung keineswegs an, sondern sank ab 1550 sogar beträchtlich. Alle seit dem 16. Jahrhundert aus außereuropäischen Regionen importierten Nahrungsmittel erlebten nur eine sehr begrenzte Verbreitung: Kakao, Tee (nur auf Großbritannien, die Niederlande und Russland beschränkt), selbst Kaffee gelangten zwar schon Mitte des 17. Jahrhunderts nach Europa, doch ihr Verbrauch stieg erst ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts so weit, dass sie in Süd- und Mitteleuropa zu einem wichtigen Teil der Ernährung wurden. Bis ins 18. Jahrhun6
Fernand Braudel, Civilisation matérielle et capitalisme, XV e–XVIII e siècles, ebd., S. 55
7
Ebd., S. 78.
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dert hinein blieben die Erträge bei Weizen beziehungsweise bei den verschiedenen Getreidesorten (Mengkorn, Roggen usw.) sehr niedrig. Gedüngt wurde weiter mit menschlichen und tierischen Exkrementen. Ohne Zweifel war die Hungersnot des Sommers 1789 ein wichtiger Auslöser für die Unruhen, die zur Revolution führten. Durch eine zunehmende Anzahl von Mühlen konnte ab dem 11. Jahrhundert die Brotproduktion gesteigert werden, sodass Brot nun zur Grundlage der Ernährung in Europa wurde. Je nach Qualität variierte sein Verkaufspreis und es gab gewaltige Unterschiede zwischen dem Schwarzbrot der Bauern und dem Weißbrot der Bürger und Adligen. Doch wie Braudel schreibt: Erst zwischen 1750 und 1850 fand die echte Weißbrotrevolution statt. Damals ersetzte Weizen fast alle anderen Getreidesorten (außerdem wurde das Brot in England zunehmend aus Mehl hergestellt, aus dem ein Großteil der Kleie herausgesiebt war). 8
Allmählich verlangte die Oberschicht gute, zugleich schmackhafte und gesunde Nahrungsmittel. Mit Hefe gegärtes Brot fand Verbreitung und Getreidebrei, der lange die Grundlage der Ernährung gebildet hatte, wurde von jemandem wie Diderot für ungenießbar erklärt. 1780 wurde eine nationale Bäckereischule gegründet und bald darauf machte die napoleonische Ar8
Ebd., S. 106.
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mee dieses „kostbare Gut, das Weißbrot“ in ganz Europa bekannt. 9 Ebenfalls im Mittelalter entwickelte sich der Hering durch die nordische Fischerei und neue Konservierungstechniken zu einem europäischen Nahrungsmittel. Durch den Heringsfang im großen Stil erwarben die hanseatischen, holländischen und seeländischen Fischer ab dem 11. Jahrhundert beträchtlichen Wohlstand. Um 1350 entwickelte ein Holländer eine Methode, Heringe noch an Bord rasch auszunehmen, zu salzen und in Fässern „einzupökeln“ (also zu konservieren): Seitdem konnte man den Fisch nach ganz Europa, insbesondere Venedig, exportieren. Auch Pfeffer, dieses aus dem Orient importierte und für die mittelalterliche Küche unentbehrliche Gewürz, wurde stark konsumiert. Erst ab Mitte des 17. Jahrhunderts nahm der Verbrauch ab. In dieser Kontinuität muss man ein neues Produkt herausheben, dem noch eine große Zukunft beschieden sein sollte: den Alkohol. Sein Erfolg trat erst spät ein. Das 16. Jahrhundert hatte ihn zwar „sozusagen geschaffen“, 10 wie Braudel bemerkt, doch erst im 18. Jahrhundert kam er allgemein in Gebrauch. Lange wurde Branntwein vor allem in Mönchsklöstern hergestellt und blieb ein Medikament, das Ärzte und Apotheker verschrieben. Angewandt hat man ihn gegen Pest, Gicht und Heiserkeit. Erst im 16. Jahrhundert 9 Ebd. 10 Ebd., S. 180.
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wurde daraus ein Getränk für gesellige Anlässe. Anschließend stieg der Konsum langsam an und erreichte im 18. Jahrhundert seinen Höhepunkt. Doch Kirschschnaps aus dem Elsass, aus Lothringen und dem Franche-Comté wurde in Paris noch um 1760 nur als Heilmittel verwendet. Kommen wir nun zur Metallherstellung und -verarbeitung, eine Sparte, in der die ersten Fabriken im 18. Jahrhundert mit der beginnenden Industrialisierung in England entstanden. Hier muss man eine kontinuierliche Verwendung vom Mittelalter bis zur Renaissance und darüber hinaus festhalten. So konnte Mathieu Arnoux schreiben: „Die materielle mittelalterliche Kultur war mindestens ebenso sehr eine Zivilisation des Eisens wie eine des Holzes.“ 11 Eisen wurde in beträchtlichen Mengen verwendet, sowohl beim Bau der Kathedralen als auch bei der Herstellung verbesserter landwirtschaftlicher Geräte (z. B. eiserne Pflugschar und Streichbrett). Durch den zunehmenden Einsatz des Pferdes, nicht nur als Schlachtross, sondern auch als Zugtier, trat auf dem Lande immer häufiger ein Typus auf, der durch seinen sozialen Status in den Mittelpunkt gerückt wurde: der Schmied. Es gab unterschiedliche Werkstätten: Harnischmacher (fèvres) stellten Rüstungen her und waren nach Robert
11 Artikel „Fer“, in: Claude Gauvard, Alain de Libera und Michel Zink (Hrsg.), Dictionnaire du Moyen Âge, Paris 2002, S. 523.
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Fossier 12 echte „Mechaniker“, Eisenschmiede läuterten Roherz und verkauften das Metall. Es gab auch Nagelschmiede, Kunstschmiede, Kesselflicker, Wanderarbeiter, die Gegenstände aus Eisen reparierten, usw. Die Namenkunde belegt diese Verbreitung des Eisens. Als im 13. Jahrhundert in einem großen Teil Europas, besonders im Westen, die Familiennamen entstanden, wurden zahlreiche Eigennamen gebildet, die sich auf den Beruf des Schmiedes beziehen: In Frankreich lauteten sie Fèvre, Lefèvre usw., in Großbritannien Smith und in deutschsprachigen Ländern Schmitt in den verschiedenen Schreibweisen. Und ich erlaube mir, hier darauf hinzuweisen, dass „le goff“ in den keltischen Sprachen, speziell auf Bretonisch, Schmied heißt. Auf dem Gebiet der Bekleidung hat man die Entstehung und Entwicklung der Mode oft ins 15. und 16. Jahrhundert datiert, in Wirklichkeit geht sie aber auf das Hochmittelalter zurück. Bereits Ende des 13. Jahrhunderts haben Fürsten und Städte die ersten Luxusgesetze erlassen. Der Analyse des großen deutschen Soziologen Norbert Elias zufolge, dessen Schriften nach dem Zweiten Weltkrieg die Sozialwissenschaften bereichert haben, stammen alle Vorbilder für die guten Sitten, die unsere Zivilisation ausmachen, 12 Robert Fossier, La terre et les hommes en Picardie jusqu’a la fin du XIII e siècle, Paris, Löwen 1968.
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zum großen Teil aus dem Mittelalter. In einem seiner wichtigsten Werke, Wandlungen der Gesellschaft (Über den Prozess der Zivilisation, Bd. 2, 1939), definiert er eine Bewegung, die quer durch die Gesellschaft verlief und seit dem 11. Jahrhundert zu Europas Entwicklung beigetragen hat, bis im 18. Jahrhundert das Wort „Fortschritt“ triumphierte. Dieser Fortschritt hatte sich bis dahin nur in Schüben geäußert, die Veränderungen und Neuerungen brachten und die man gewöhnlich „Renaissancen“ nannte. Man hielt nämlich die griechisch-römische Antike für den Gipfel der Zivilisation, zu dem diese Renaissancen die Gesellschaft einschließlich ihrer materiellen Ausstattung und der Kultur zurückführen wollten. Besonders interessiert sich Norbert Elias für zivilisatorische Fortschritte, die den Alltag und das menschliche Verhalten betreffen. So untersucht er die Verbreitung der „Tischsitten“ im Hochmittelalter, insbesondere im 13. Jahrhundert. 13 Bevor im Westen allmählich die Gabel eingeführt wurde, setzte sich bei den Mahlzeiten der Gebrauch von individuellem Geschirr durch. Es gehörte sich nicht mehr, dass mehrere Tischgäste einen einzigen Teller oder eine Suppenschüssel benutzten, das Händewaschen vor und nach den Mahlzeiten wurde zur Pflicht usw. Ein spektakulä-
13 Siehe Kapitel 2.4, „Über das Verhalten beim Essen“, in: Norbert Elias, Über den Prozess der Zivilisation, Bd. 1: Wandlungen des Verhaltens in den weltlichen Oberschichten des Abendlandes, Basel 1939.
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res Verbot, das allerdings nie ganz durchgesetzt wurde, betraf das Ausspucken. Ein wichtiges Element dieser Entwicklung war für Elias das Aufstellen und Durchsetzen von Benimmregeln. Die kamen im Rahmen der mittelalterlichen Höflichkeit auf und verbreiteten sich durch die im 11. und 12. Jahrhundert entstehenden Königs- und Fürstenhöfe zuerst im Adel, bis sie im 17. bis 18. Jahrhundert vom Bürgertum und sogar von den volkstümlichen Gesellschaftsschichten übernommen wurden. In der mittelalterlichen Literatur wurde der Hof einerseits scharf kritisiert, so hat zum Beispiel Walter Map in seinem Pamphlet De nugis curialium die Ritter des englischen Königs Heinrich II. (reg. 1154–1189) als verweichlicht beschimpft. Andererseits wurde der Hof vor allem in Frankreich, zumindest bis zur Revolution, zu einem Ort, der durch sein Prestige dazu beitrug, die guten Manieren zu verbreiten. Nathalie Heinich stützt sich auf die Arbeiten von Norbert Elias, wenn sie behauptet, dass der Westen eine Periode der Zivilisierung erlebt hat, angefangen mit der „feudalen Lehensherrschaft im 11. Jahrhundert […] bis zu ihrem Höhepunkt im Zeitalter der Aufklärung“. 14 Ähnlich wirkten die Bemühungen um Waffenruhe innerhalb der Friedensbewegung, der es gelang, bis Mitte des 18. Jahrhunderts, das zugleich das Zeitalter der Etikette war, jede zügellose Gewalt 14 Nathalie Heinich, La Sociologie de Norbert Elias, Paris 1997, S. 10.
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zurückzudrängen. Hierzu erörtert Nathalie Heinich die These von Norbert Elias und betont: Die Dynamik dieser Bewegung ergab sich aus der Entstehung des Staates, dank der progressiven Durchsetzung zweier königlicher Monopole: einmal des Steuermonopols, das die Beziehungen zwischen Herrscher und Adel in klingende Münze umsetzt, und zweitens des Monopols auf legitime Gewalt, durch das jede militärische Macht und jede Möglichkeit zur Pazifierung allein in die Hand des Königs gelegt wird. 15
So blieb die Ökonomie vor allem eine Agrarwirtschaft und der Adel beherrschte weiterhin die Bauern. Während im Mittelalter das ganze Abendland mit Kathedralen überzogen wurde, führte, wie bereits erwähnt, die Entwicklung der Artillerie dazu, dass man die Burgen durch Lustschlösser ersetzte, von denen in Frankreich Chambord das prächtigste und Versailles das berühmteste werden sollten. Die Malerei entwickelte sich mit der Erfindung der Staffeleimalerei in den Niederlanden. Das Anfang des 14. Jahrhunderts aufkommende Porträt wurde zum Kleinod des Adels. Die Reformation brachte dem Christentum Spaltung und Gewalt, sodass das 16. Jahrhundert zur Ära der Religionskriege wurde. Trotzdem dominierte das Christentum, in seinen katholischen und protestantischen Konfessionen, bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. 15 Ebd.
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Zwar wurde 1579 die Republik der Vereinigten Provinzen der Niederlande gegründet, und die Unruhen in England bewirkten 1649 den Sturz und Tod eines Königs, nämlich Karls I., trotzdem blieb die Monarchie im Westen bis zur Französischen Revolution praktisch die einzige Herrschaftsform. Die Entwicklung des Wissens vollzog sich hingegen so langsam, dass es eine Gruppe von Intellektuellen Mitte des 18. Jahrhunderts für dringend geboten hielt, alle Ergebnisse dieser langwierigen Akkumulation zusammenzutragen. Das Ergebnis war die Encyclopédie, die auf dem Gebiet der Bildung das Ende einer Epoche und den Anbruch neuer Zeiten verhieß. Das traditionelle politische Europa endete anscheinend mit dem Frieden von Utrecht (1713–1715), der dem Spanischen Erbfolgekrieg und dem Blutvergießen im größten Teil Europas ein Ende setzte. Die letzte große traditionelle Auseinandersetzung war zweifellos der Österreichische Erbfolgekrieg (1740–1748), ein europäischer Konflikt, der bei Fontenoy durch den Sieg der Franzosen über die Engländer und Holländer entschieden wurde. 1492 – ein Jahr der Wunder und Neuerungen? Ich habe bereits ein Ereignis erwähnt, das hypothetisch gesehen entscheidend war, dessen Einfluss auf die Entwicklung der Geschichte man jedoch auch ganz anders interpretieren kann. Darum ist es spannend, einmal an diesem Beispiel über die Periodisierung der Geschichte nachzudenken: 1492 entdeckte Chris128
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toph Kolumbus einen Erdteil, den man bald Amerika nennen sollte. Um zu verdeutlichen, welche Probleme dieses Datum stellt, verweise ich unter den zahlreichen Publikationen, die zu Mittelalter und Renaissance erschienen sind, auf zwei wichtige Bücher. Das erste kommt aus Italien und ist von Franco Cardini, Europa 1492. Ritratto di un continente cinquecento anni fa (Europa 1492. Porträt eines Kontinents vor fünfhundert Jahren), das zweite stammt von Bernard Vincent, 1492: „L’année admirable“ („Das Jahr der Wunder“). Als geographischen Bereich hat Franco Cardini Europa gewählt: Diese Bezeichnung war seiner Meinung nach Ende des 15. Jahrhunderts durchaus gängig und eine politische Realität. Wie er meint, ergänzten sich einerseits die flächen- und bevölkerungsmäßig dominierenden ländlichen Gebiete und andererseits die Städte, die viele Arbeits- und Profitmöglichkeiten boten. Der Adel lebte luxuriös in zunehmend entmilitarisierten Schlössern, sowohl in den Städten als auch auf dem Lande. Die Vermischung sozialer Kategorien war in den mittel- und südeuropäischen Städten die Regel, im Norden auf öffentlichen Plätzen und Straßen, in großen Kirchen und Zunfthallen. Zu Festen und Feiern gehörten Tänze: distinguierte im Schloss, volkstümliche auf der Straße. In der Stadt wetteiferten Badehäuser, in denen man auch sexuellen Vergnügungen nachging, mit Kirchen, in denen gebetet wurde. Auf technischem Gebiet war Europa im 15. Jahrhundert eine sehr innovative Gesellschaft, zum Bei129
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spiel mit der Entwicklung der Perspektive in der Malerei. Cardini unterstreicht die außerordentliche Rolle, die Italien bei all diesen Neuerungen gespielt hat, was sich auch auf politischem Gebiet mit der Organisation eines Systems von „Regionalstaaten“ erwies. Dabei besaß das 15. Jahrhundert durchaus auch ein anderes Gesicht, voller Leid und Elend. Drei Übel trafen damals die Menschheit: Pest, Hunger und Krieg. Es war die Zeit der Totentänze und der „Kunst des Sterbens“ (Ars moriendi). Doch Franco Cardini lässt in dieser Welt auch das Meer aufschimmern: Durch den Handel, bei dem es seit dem Frühmittelalter vor allem um Gewürze ging, sowie durch die Erforschung der afrikanischen Küsten und den Traum von Ostindien, der Christoph Kolumbus 1492 zu seiner Fahrt veranlasste. Doch während selbst auf den Karavellen des Seemanns aus Genua – wie überall sonst in der Christenheit – viele nur hofften, Gold zu finden, war es sein großes Anliegen, alle Heiden dem wahren Gott, nämlich dem der Christen, zuzuführen. Insofern war Christoph Kolumbus noch ein echter Spross des Mittelalters. In seinem Buch Europa 1492 würdigt ihn Franco Cardini in einer „Hommage an den Admiral“. 16 Gegen Ende des Jahres 1492 sieht er endgültig „das Mittelalter sterben, während sich das
16 Franco Cardini, Europa 1492. Ritratto di un continente cinquecento anni fa, Mailand 1989, S. 208; dt. Ausg.: ders., Europa 1492. Ein Kontinent im Aufbruch, übers. von Marcus Würmli, München 1989; frz. Ausg.: ders., 1492,
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Morgengrauen der modernen Epoche ankündigt, und die Welt jetzt breiter aufgestellt ist“. 17 Obwohl Franco Cardini das Mittelalter damit sterben lässt, betont er die Kontinuität, die Erweiterung einer Welt, die immer dieselbe blieb. Aus dem Mittelalter, das einen Christoph Kolumbus hervorgebracht hat, entsprang etwas, was Cardini nicht „Renaissance“ nennt, sondern ganz einfach die „Welt“. Die Frage, die sich dem Historiker nun stellt, lautet: Was war an dieser Erweiterung des Jahres 1492 wichtiger – was gestorben ist oder was fortlebt? Auch nach Bernard Vincents Meinung ist 1492 ein Jahr, das für die Christenheit alle vergangenen Jahrhunderte zusammenfasst und alle kommenden ankündigt. Für ihn handelt es sich um „das Jahr der Wunder“. Es nur auf die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus zu reduzieren, prangert er in seinem Vorwort als großen Irrtum an. Die Vielfalt des Jahres 1492 untersucht er am Beispiel der Iberischen Halbinsel, und zwar anhand von vier außerordentlichen Ereignissen, die die historische Kontinuität gestört haben. Zunächst handelt es sich um die Kapitulation des muslimischen Herrschers von Grenada, der letzten Stadt, die der Islam noch in diesem christlichen Land gehalten hatte, und ihre Übergabe an die Kathol’Europe au temps de la découverte de l’Amérique, übers. und überarb. von Michel Beauvais, Paris 1990. 17 Ebd., S. 229.
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lischen Könige (Isabella I. von Kastilien und Ferdinand II. von Aragonien). Das zweite Ereignis war die Vertreibung der Juden. Zwar hatten vor den Spaniern auch schon die Engländer und Franzosen zur selben Maßnahme gegriffen, doch anscheinend haben die Katholischen Könige lange zwischen intensiveren Bekehrungsbemühungen und der endgültigen Ausweisung geschwankt. In diesem Sinne war 1492 nur für die damaligen Christen wunderbar, weil sie miterleben durften, wie die Christenheit auf eigenem Boden von ihren beiden größten Feinden, dem Islam und dem Judentum, befreit wurde. Das dritte Ereignis war, dass in der Christenheit nun definitiv der Aufbau der Nationen einsetzte. 1492 erfolgte der Startschuss für die Verwendung des Kastilischen in ganz Spanien: Der berühmte spanische Grammatiker Antonio de Nebrija (1444–1522) – der entsprechend seiner Epoche als Humanist bezeichnet wird und eigentlich ein Andalusier war, der in Salamanca und Bologna studiert hatte und im Dienste des Erzbischofs von Sevilla stand – widmete nämlich Isabella I., genannt die Katholische, eine gedruckte kastilische Grammatik, die am 18. August 1492 erschien. Zur Feier des Ereignisses gab es eine bescheidene Zeremonie, die jedoch von großer Tragweite werden sollte. Zur selben Zeit übersetzte ein Kollege aus Aragonien das Leben der Wüstenväter auf Kastilisch und beschrieb darin großartig die Verbindung zwischen Sprache und Politik, eine Aussage, die genauso von Antonio de Nebrija hätte stammen können: 132
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Da die königliche Macht heute kastilisch ist, und da sich die ausgezeichneten Könige und Königinnen, die uns regieren, entschieden haben, das Königreich Kastilien zum Fundament und zum Sitz ihrer Staaten zu machen, habe ich beschlossen, dieses Buch auf Kastilisch zu schreiben, weil die Sprache mehr als alles andere die Macht begleitet. 18
Zu Recht hat Bernard Vincent, unter den Faktoren, die die Geschichte in Perioden strukturieren, den linguistischen vorgeschlagen: 19 Nach 1492 sollte Europa zu einem Kontinent der Nationen und Sprachen werden. Wenn dieses Jahr „wunderbar“ war, dann übertraf dies also bei Weitem die Entdeckung der Insel Guanahani im Archipel der Bahamas, die Kolumbus in San Salvador umgetauft hat – zugleich das vierte Ereignis, das Bernard Vincent aufzählt. Doch kann man 1492 deswegen gleich zum „Jahr eins“ einer neuen Periode der Geschichte machen? Die britische Historikerin Helen Cooper hat kürzlich erklärt, Shakespeare (1564–1616) habe die angebliche Renaissance übersprungen und sei ein Mann und
18 Bernard Vincent, 1492: „L’année admirable“, Paris 1991, S. 78; dt. Ausg.: ders., „Das Jahr der Wunder“. Spanien 1492: Die Vertreibung der Juden und Mauren und die Einführung der Grammatik, übers. von Una Pfau, Berlin 1992. 19 Ebd., S. 72 f.
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Schriftsteller des Mittelalters gewesen. 20 Zu Beginn erinnert sie daran, dass „die Welt, in der Shakespeare lebte, mittelalterlich war“. Stratford und alle umliegenden Städte wurden im Mittelalter gegründet; Coventry verdankte seinen Status als Stadt der normannischen Kathedrale; Warwick ist um eine Burg herum gewachsen; das im frühen Mittelalter mit Burg und Mauer befestigte Oxford gründete seinen Ruf seit dem späten 12. Jahrhundert auf seiner Universität. Als Shakespeare zwischen 1585 und 1590 nach London zog, wurden die Türme und Kirchen dort nicht mehr von der 1561 durch Brand zerstörten gothischen St.-Pauls-Kathedrale überragt. Der Tower of London mit dem massiven Weißen Turm Wilhelms des Eroberers, der auch Julius Cäsar zugeschrieben wurde, beherrschte die Stadt, die man durch befestigte Tore betrat. Aus der Beschreibung, die der Schriftsteller John Stow 1598 unter dem Titel A Survey of London veröffentlichte, geht hervor, dass es in der ganzen Stadt von Mönchen wimmelte, die sich der Kontemplation befleißigten. Selbst innerhalb der Mauern hielten sich ländlich anmutende Winkel und auf den Straßen sah man dieselben Spiele wie im 12. und 13. Jahrhundert. Die meisten Schulen und Märkte waren Gründungen aus dem Mittelalter. Stows London war eine Stadt, die sich nach dieser Epoche sehnte, und dieser Sehnsucht 20 Helen Cooper, Shakespeare and the Medieval World, London 2010.
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musste sich Shakespeare einfach anschließen. Der kürzlich eingeführte Buchdruck verbreitete unter Nichtgeistlichen vor allem Werke des Mittelalters, insbesondere Geoffrey Chaucer (um 1340–1400), Balladen, wie die von Robin Hood, oder Epen über mittelalterliche Helden. Das erste 1485 in englischer Sprache gedruckte Buch war Le Morte Darthur von Sir Thomas Malory. Anscheinend wollte Shakespeare zu Beginn seiner Karriere ein erfolgreicher Dichter werden und ließ sich dabei von der antiken Kultur inspirieren, doch schon bald widmete er sich ganz dem Theater. Mehr noch, im Gegensatz zum antiken Theater erblickte Shakespeare in der ganzen Welt ein totales oder globales Theater. Und in dieser Miniaturwelt wollte er in erster Linie das englische Mittelalter erzählen. Als Dramaturg ließ er sich von mittelalterlichen Autoren inspirieren. Oft griff er auf Allegorien zurück und drei Figuren spielten in seinen Stücken eine zentrale Rolle: der König, der Hirte und der Narr. Er ließ Phantasiewesen auftreten, wie die Feen in Ein Sommernachtstraum, oder Geister wie Ariel in Der Sturm. Das Thema des Totentanzes, der letztendliche soziale Ausdruck des mittelalterlichen Todesgefühls, wird in Cymbeline entwickelt. Schließlich sieht Helen Cooper in Shakespeare einen neuen Chaucer, der das Mittelalter dieses großen englischen Dichters aus dem 15. Jahrhundert auf die Bühne gebracht und sogar ein ganz ähnliches poetisches Versmaß benutzt hat.
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2011 veröffentlichte der amerikanische Schriftsteller Charles C. Mann ein in den Vereinigten Staaten sehr erfolgreiches Werk, bei dessen Untertitel man vermuten könnte, man habe es mit einem historischen Buch zu tun: Wie die Entdeckung Amerikas die Welt verändert hat. 21 Dabei handelt es sich aber keineswegs um ein Geschichtsbuch, sondern um die Schilderung eines Traums, einer Phantasie. Zunächst schlägt Mann einen Neologismus vor, um zu beschreiben, wie sich die Welt verändert, als Christoph Kolumbus im März 1493 heimkehrt von jenem Ort, der für ihn gar kein neuer Kontinent war, und von dort „Goldschmuck, bunte Papageien und zehn gefangene Indianer“ 22 mitbringt. Für Charles C. Mann hat „Kolumbus ein neues biologisches Zeitalter eröffnet: das Homogenozän“, wobei dieser Ausdruck vom Begriff Homogenisierung abgeleitet ist, „eine Kombination sich nicht mischender Substanzen, um ein gleichmäßiges Gemisch zu erhalten“. 23 Letztendlich ist dies das Ergebnis der so21 So der Untertitel der französischen Ausgabe: Charles C. Mann, 1493. Comment la découverte de l’Amérique a transformé le monde, übers. von M. Boraso, Paris 2013; engl. Originalausg.: ders., 1493: Uncovering the World Columbus Created, New York 2011; dt. Ausg.: ders., Kolumbus’ Erbe. Wie Menschen, Tiere, Pflanzen die Ozeane überquerten und die Welt von heute schufen, übers. von Hainer Kober, Reinbek bei Hamburg 2013. (Anm. d. Übers.) 22 Charles C. Mann, 1493. Comment la découverte de l’Amérique, S. 23. 23 Ebd., S. 37.
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genannten Globalisierung, ein Ausdruck, der zweifelsohne auf den allgemeinen Austausch menschlicher Kommunikation zutrifft, der jedoch keiner Realität in der spezifischen Entwicklung der Erde oder der Menschheit entspricht. Mir scheint, die zeitgenössischen Geographen legen ganz im Gegenteil den Nachdruck auf die Diversifikation der einzelnen Regionen und Völker. Oft erzählt Charles C. Mann in poetischer Sprache von transatlantischen Fahrten, mit Tabak auf der einen und schlechter Luft auf der anderen Seite, beziehungsweise von transpazifischen, mit Geld auf der einen und Reis auf der anderen Seite. Europa befand sich als agrarisch-industrieller Komplex auf der Seite des Produzenten, was Erdöl anging jedoch auf der Verbraucherseite; allerdings sind wir hier weit entfernt sowohl vom Mittelalter als auch von der Renaissance. Dagegen entsprach die Entdeckung Amerikas aus der Sicht Afrikas der Geburt einer neuen Welt, weil dieser Erdteil danach mehrere Jahrhunderte lang dazu verurteilt war, alle Sklaven zu liefern, die für die Entwicklung des neuen Kontinents gebraucht wurden. Schließlich glaubt Charles C. Mann ausmachen zu können, dass sich die eigentliche Globalisierung auf den Philippinen vollzieht. Damit ist der Traum vorläufig zu Ende. Bevor ich zu dem komme, was ich für das Ende des langen Mittelalters halte, nämlich die Mitte des 18. Jahrhunderts, und dann kurz zusammenfasse, wie 137
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sich für mich das Problem einer Periodisierung der Geschichte stellt, möchte ich an einem Beispiel die Kontinuität verdeutlichen, die man zwischen dem Mittelalter und der Renaissance wahrscheinlich erkennen kann: Dabei handelt es sich um die Entstehung des modernen Staates. Wenn der Westen vom 7. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts eine lange Entwicklung ohne grundsätzlichen Bruch erlebt hat, dann war sie auf politischem Gebiet zweifellos besonders spektakulär. Zwar gab es bereits vor der Französischen Revolution Versuche, einen Bruch herbeizuführen, doch die scheiterten allesamt. So in England, wo das politische Leben im 17. Jahrhundert besonders unruhig war mit der Enthauptung Karls I. und der Abdankung Jakobs II. Dennoch überlebte die Monarchie dort. Die einzige bedeutende Umwälzung bestand in der Unabhängigkeit der Vereinigten Provinzen der Niederlande, die 1579 mit der Utrechter Union – welche 1609 bestätigt wurde – die erste westliche Republik gründeten. Während die Entdeckung Amerikas durch einen schier unerschöpflichen Zustrom an Edelmetallen, wie Gold und Silber, nach Europa der Geldwirtschaft einen gewaltigen Anstoß versetzt hat – jedoch ohne gleich den Kapitalismus hervorzubringen –, vollzog sich die Konstruktion des modernen Staates extrem langsam, weil sich die Monarchie nur allmählich neue Macht aneignen und deshalb auch erst nach und nach die dafür charakteristischen Institutionen schaf-
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fen konnte. 24 Jean-Philippe Genet erklärt das sehr schön: Im 17. Jahrhundert schälte sich ein neuer selbständiger Bereich heraus, der des Rechts; allmählich verselbständigten sich auch noch andere Bereiche: die Literatur, die ein relativ breites, lesekundiges Publikum voraussetzt, oder die Medizin, später auch Wissenschaft und Politik. Anders gesagt, ging das Aufkommen des Staates einher mit einer fortschreitenden Aufspaltung des alles umfassenden Bereichs der Theologie, verbunden mit einer Laizisierung der Gesellschaft, der in immer breiterem Maße fortschrittliche kulturelle Werkzeuge zur Verfügung standen. Analysiert man nun den Aufbau und die Entwicklung dieser Bereiche, findet man auf allen Ebenen den Staat. 25
24 Hier lasse ich mich speziell von der im Oktober 1984 in Rom an der École française de Rome organisierten Konferenz „Culture et idéologie dans la genèse de l’État moderne“ (Kultur und Ideologie im Aufkommen des modernen Staates) inspirieren, insbesondere von den Beiträgen von Jean-Philippe Genet, Jacques Krynen, Roger Chartier, Michel Pastoureau, Jean-Louis Biget, Jean-Claude Hervé und Yvon Thébert. Siehe Culture et idéologie dans la genèse de l’État moderne. Actes de la table ronde de Rome (15–17 octobre 1984), Rom 1985 (Publications de l’École française de Rome, 82). 25 Jean-Philippe Genet, „Introduction“, in: ebd., S. 3.
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Michael Clanchy geht außerdem ausführlich auf die schleppende Vermittlung des Lesens und Schreibens ein, die an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert auch auf die Frauen ausgedehnt wurde. 26 Hinsichtlich der politischen Traktate unterstreicht Jacques Krynen die Bedeutung der um 1300 verfassten Schriften sowie die Tatsache, dass das Vokabular des mittelalterlichen Kirchenrechts bereits Ausdrücke des modernen Verwaltungsrechts vorwegnahm: so zum Beispiel die Begriffe auctoritas, utilitas publica und privilegium. 27 Michel Pastoureau verweist auf einen wichtigen Gegenstand, der sowohl im Mittelalter als auch in der frühen Neuzeit den Staat symbolisiert und repräsentiert hat: das Siegel. 28 Und was die Ausübung der Macht betrifft, begegnen wir ihrer schönsten bild-
26 Michael T. Clanchy, From Memory to Written Record: England, 1066–1307, Cambridge 1979. 27 Siehe Jacques Krynen, „Genèse de l’État et histoire des idées politiques en France à la fin du Moyen Âge“, in: Culture et idéologie dans la genèse de l’État moderne, S. 395– 412, hier S. 407. – Roger Chartier erinnert daran, dass Norbert Elias bereits 1939 in seinem Buch über die Entwicklung der Zivilisation als Periode für den Aufbau des modernen, westlichen Staates die Zeitspanne vom 13. bis zum 18. Jahrhundert vorgeschlagen hat. Siehe Roger Chartier, „Construction de l’État moderne et formes culturelles: Perspectives et questions“, in: ebd., S. 492–503, hier S. 492. 28 Siehe Michel Pastoureau, „L’État et son image emblématique“, in: ebd., S. 145–153.
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lichen Allegorie im Hochmittelalter: die beiden großen Gemälde Ambrogio Lorenzettis, Die gute Regierung und Die Auswirkungen des guten Regierens (um 1337– 1338) im Rathaus von Siena, dem Palazzo Pubblico. 29 Nach einer kurzen Periode im 9. Jahrhundert wurde die Lilie im 12. Jahrhundert auf Vorschlag des Kirchenfürsten Suger zum Symbol der französischen Monarchie, zu sehen an der Grablege der Kapetinger in der Kathedrale von Saint-Denis. Doch wie Jean-Louis Biget, Jean-Claude Hervé und Yvon Thébert erläutert haben, wurde der „Lilienroman“ eigentlich im 14. Jahrhundert entwickelt, bis um 1400 endgültig die Legende von ihrem himmlischen Ursprung entstand, die bis zur Französischen Revolution Gültigkeit besaß. 30 Bekannt ist auch die Stärke der Marienverehrung ab dem 11. und 12. Jahrhundert. Im 12. Jahrhundert entstand das ikonographische Thema der Marienkrönung, das gepflegt wurde, solange die Monarchien existierten.
29 Siehe jüngst Paul Boucheron, Conjurer la peur. Sienne, 1338. Essai sur la force politique des images, Paris 2013. 30 Siehe Jean-Louis Biget, Jean-Claude Hervé und Yvon Thébert, „Expressions iconographiques et monumentales du pouvoir d’État en France et en Espagne à la fin du Moyen Âge: l’exemple d’Albi et de Grenade“, in: Culture et idéologie dans la genèse de l’État moderne, S. 245–279.
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Die Urheber der Idee von einer selbstständigen Epoche namens „Renaissance“ haben sich also ganz besonders von den großen Entdeckungen inspirieren lassen. Zweifellos haben diese Entdeckungen den Handel beflügelt. Die Folgen dieses Warenaustauschs mit den Inseln des Indischen Ozeans, den Küsten Afrikas und vor allem mit Amerika, der einen nie gekannten Umfang erreichte, kennen wir bereits. Allerdings müssen wir daran erinnern, dass die Einführung bislang unbekannter Nahrungsmittel (zum Beispiel Tomate, Tee, später und allmählich Kaffee usw.) die auf Getreide, Brot, Brei und Fleisch basierende westliche Ernährung nicht tiefgreifend verändert hat. Ein wichtiges Ereignis, obwohl meiner Meinung nach längst nicht so bedeutend wie die regelmäßigen Handelsfahrten zwischen den Häfen Italiens und Nordeuropas Ende des 13. Jahrhunderts, war die Gründung der holländischen (1602) und französischen (1664 durch Colbert, 1719 von Law neu organisiert) Kompanien, die den Handel mit internationalen Produkten organisiert und gebündelt haben. Neben der Kultur gilt oft das Finanzwesen als wichtiges Kennzeichen für das Ende des Mittelalters im Westen. Dabei hat Carlo M. Cipolla in seinem Standardwerk präzise und brillant analysiert, dass man vor der industriellen Revolution des 18. Jahrhunderts nur von ein und derselben Wirtschaft sprechen kann. Ende des 16. Jahrhunderts war das Produktionsniveau in Europa zwar deutlich höher als 600 Jahre zu-
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vor, blieb jedoch insgesamt „abgrundtief“ (abismally) niedrig. 31 Allgemein gesehen betraf die wichtigste Entwicklung infolge der Entdeckung Amerikas, bis man im 17. Jahrhundert sogar von Fortschritt sprechen konnte, die Geldwirtschaft. Die Verfügbarkeit von Edelmetallen zusammen mit der Verbreitung der im Mittelalter entstandenen, immer komplexer gewordenen Banktechniken, führten zur allmählichen Entwicklung des Kapitalismus, der sich ab 1609 auf die Amsterdamer Wechselbank stützte, die sogar den Namen und die Funktion der ersten Börse erhielt. Dennoch kann man hier noch nicht von „Kapitalismus“ sprechen. Erst mit der Veröffentlichung des großen Buches Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker (1776) des schottischen Wirtschaftswissenschaftlers Adam Smith darf man davon ausgehen, dass die Wirtschaft wirklich alle Dimensionen und Methoden des Mittelalters abgeschüttelt hatte. Die Verfechter der Renaissance als Periode machen zudem die Geburt der Reformation zu einem wichtigen Wendepunkt: zum Anfang vom Ende für das Monopol des Christentums, das bis dahin lediglich von Ketzern bekämpft worden war. Trotz der erbitterten Religionskriege im 16. Jahrhundert konnte das Christentum jedoch den Glauben der Menschen im ganzen
31 Carlo M. Cipolla, Before the Industrial Revolution. European Society and Economy, 1000–1700, New York 1976, S. 126.
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Westen bis ins 18. Jahrhundert hinein fast vollständig kontrollieren. Allerdings waren alle religiösen Praktiken sowie die Glaubensfestigkeit rückläufig, mit tiefgreifenden Folgen auf den Gebieten der Philosophie und Literatur. Dieser mehr oder weniger religionslose Rationalismus gewann überall an Einfluss: mit Thomas Hobbes (1588–1679) und John Locke (1632–1704) in England, vor allem aber in Frankreich mit Pierre Bayle (1647–1706), dem Autor eines Dictionnaire historique et critique (Historisches und kritisches Wörterbuch), das von 1695 bis 1697 in vier Bänden erschien. Bayle nahm eine Professorenstelle in Rotterdam an, weil die neue Republik der Vereinigten Provinzen allen Ansässigen Gewissens- und Publikationsfreiheit sowie Schutz gegen die Zensur garantierte: Hier schlug das Mittelalter in eine andere Epoche um. Meiner Meinung nach muss man das lange Mittelalter über die Renaissance hinaus bis in diese Zeit verlängern. Ein besonderes Zeichen für den Anbruch einer neuen Periode, die das Mittelalter ablöste, war das Erscheinen der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (Enzyklopädie, oder ein durchdachtes Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Handwerke) ab 1751, die auf Anregung von Diderot, D’Alembert, Voltaire, Montesquieu, Rousseau und anderen den Vorrang von Vernunft und Wissenschaft über das christliche Dogma erklärte. Wie ein Siegel für die Geisteshaltung einer Gesellschaft, die mit dem Mittelalter brach, um wirklich mo144
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dern zu werden, benutzte Mirabeau 1757 offenbar zum ersten Mal das Wort „Fortschritt“ (progrès), um ein „Voranschreiten der Zivilisation zu einem blühenderen Zustand“ zu bezeichnen. Die aufstrebende westliche Gesellschaft, die sich in der Französischen Revolution konzentrieren sollte, war nicht nur ein Sieg des Fortschritts, sondern auch des Individuums. Um dieses Essay zu schließen, will ich mich bemühen, eine stichhaltige Periodisierung der Geschichte zu definieren, und zwar am Beispiel des langen Mittelalters, das ich hier vorgestellt habe. Fassen wir zusammen. Ohne Gegenstand offener Studien zu sein, haben die ersten Jahrhunderte der christlichen Zeitrechnung den Abschluss einer Periode gekennzeichnet, die Montaigne 1580 zum ersten Mal offiziell „Antike“ genannt hat, wobei dieser Ausdruck übrigens ausschließlich das antike Griechenland und Rom bezeichnet. Die in der Antike entwickelte Periodisierung, die vom heiligen Augustinus aufgegriffen und an das Mittelalter weitergereicht wurde, ist die der sechs Weltalter, die den sechs Lebensaltern nachempfunden waren. Sie hat die Vorstellung vom Altern der Welt eingeführt, die in ihre sechste und letzte Phase eingetreten ist. Diese fixe Idee von einem bevorstehenden Ende wurde im klassischen Mittelalter dennoch nahezu ständig bekämpft durch die Vorstellung von einer „Erneuerung“ (renovatio), die in manchen Epochen sogar solche Ausmaße annahm, dass die modernen Historiker sie zu „Renaissancen“ erklärten: Vor 145
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allem die sogenannte karolingische Renaissance zur Zeit Karls des Großen und die des 12. Jahrhunderts, die auf den Gebieten der Wirtschaft (technischer Fortschritt in der Landwirtschaft) und Bildung (Schule von Sankt Viktor, die Lehren des Abaelardus, die Sentenzen des Petrus Lombardus, 1100–1160, die an den Universitäten als Lehrstoff dienten) Epochen voller Wachstum und Innovationen waren. Im sogenannten alternden Mittelalter traten hier und da immer wieder neue Phänomene und Ereignisse auf, während die Idee des Fortschritts erst Mitte des 18. Jahrhunderts aufkam. Hier verweise ich auf die Häufigkeit des Ausdrucks „neu“ auf der ersten Seite der Lebensgeschichte des heiligen Franz von Assisi (Vita prima S. Francisci), die sein ältester Biograph Thomas von Celano im 13. Jahrhundert verfasst hat. Eine langsame, jedoch deutliche Entwicklung kennzeichnete die ganze Periode vom 12. bis zum 15. Jahrhundert. Im Agrarbereich war es der technologische Fortschritt, den die eiserne Pflugschar und das Streichbrett brachten, dazu die Verdrängung des Ochsen durch das Pferd als Zugtier und eine Erhöhung der Erträge dank der Dreifelderwirtschaft. Auf dem Gebiet, das wir als „industriell“ bezeichnen würden, vervielfachte sich die Anzahl der Mühlen mit solchen Anwendungen wie der hydraulischen Säge und ab dem späten 12. Jahrhundert die der Windmühlen. Auf religiösem und intellektuellem Gebiet vermerken wir die Festlegung der Sakramente und den Aufschwung der Universitäten sowie der Scholastik. 146
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Diese Neuerungen standen im Allgemeinen unter dem Zeichen einer Rückkehr zu den Tugenden einer bewunderten Periode, insbesondere auf literarischem und philosophischem Gebiet, wie zum Beispiel ein Bezug auf die griechisch-römische Antike. Moderne Historiker tauften sie darum auf den Namen „Renaissance“. Das traditionelle Mittelalter hatte das Gefühl, voranzuschreiten und zugleich zurückzublicken, was lange die Möglichkeit einer neuen Periodisierung verwischt hat. Diese Sicht änderte sich, als Petrarca im 14. Jahrhundert die verflossenen Jahrhunderte in die Finsternis verwies und sie auf eine neutrale, uninteressante Übergangsperiode zwischen der schönen Antike und der von ihm verkündeten Erneuerung reduzierte. Diesen Jahrhunderten gab er den Namen Media Ætas, und das Mittelalter war geboren. Dennoch erhielt die Periode, die zahlreiche Gelehrte und Künstler im 15. und 16. Jahrhundert zu erschaffen glaubten, erst 1840 von Michelet in seiner ersten Lesung am Collège de France ihren Namen. Bereits vor Michelet hatte sich jedoch schon eine neue Periodisierung der Geschichte durchgesetzt (die wohlgemerkt nur für den Westen gilt). Sie wurde durch die Entwicklung der Geschichte selbst ermöglicht, vom Literaturgenre zum Unterrichtsfach, vom Zeitvertreib zur Wissenschaft. Dieser Wandel war das Werk der Universitäten und Gymnasien. Wie erwähnt, wurde Geschichte, lässt man Deutschland einmal außer Acht, im Großen und Ganzen erst seit dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert an Univer147
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sitäten und Gymnasien gelehrt, eine Metamorphose, die um 1820 abgeschlossen war. Die Verfechter der Renaissance als spezifische Periode haben verschiedene Ereignisse des 15. und 16. Jahrhunderts als einschneidend eingestuft. Die spektakulärsten waren: die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus 1492; die Spaltung der geeinten christlichen Religion durch eine Teilung der Europäer in zwei Glaubensbekenntnisse, die reformierte Kirche und die traditionelle katholische Kirche; in der Politik das Erstarken der absoluten Monarchie, um die entstehenden Nationen zu beherrschen, mit einer wichtigen Ausnahme, nämlich der 1579 gegründeten Republik der Vereinigten Provinzen; auf philosophischem und literarischem Gebiet die Entwicklung einiger Intellektueller zu Freidenkertum und Glaubenslosigkeit; im Bereich der Wirtschaft und Finanzen der Zustrom gewaltiger Mengen an münzfähigen Edelmetallen und die Entwicklung des kapitalistischen Systems, beschleunigt durch die Gründung der Amsterdamer Wechselbank 1609. Ich persönlich denke, dass der Periodenwechsel, also das Ende des langen Mittelalters, um die Mitte des 18. Jahrhunderts anzusiedeln ist. Er entspricht den Fortschritten der Landwirtschaft, thematisiert und theoretisiert von den Physiokraten; der Erfindung der Dampfmaschine, 1687 erdacht von dem Franzosen Denis Papin und 1769 konstruiert von dem Engländer James Watt; und der Geburt der modernen Industrie, 148
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die sich von England aus über den Kontinent ausbreitete. Auf dem Gebiet der Philosophie und Religion endete das lange Mittelalter mit jenem Werk, das eine rationelle, freisinnige Denkweise, Wissenschaft und moderne Technologie einführte, nämlich der Encyclopédie, deren brillianteste Initiatoren Voltaire und Diderot waren. Auf politischem Gebiet schließlich entsprach das Ende des 18. Jahrhunderts der antimonarchistischen Bewegung, die entscheidend zur Französischen Revolution führte. Der Australier David Garrioch hat erläutert, wie sich diese Bewegung das ganze 18. Jahrhundert hindurch entwickelt hat, 32 in dessen Verlauf sich für die gesamte Pariser Gesellschaft die Welt änderte: das Aufkommen neuer sozialer, wirtschaftlicher und demographischer Praktiken berührte jeden, löste alte Gemeinschaften auf, unterhöhlte die Bande zu den traditionellen Stützen, also den Bruderschaften, Ständen, Körperschaften, Gebräuchen und Zünften, um andere Formen der Solidarität sowie tiefgreifende religiöse, politische und institutionelle Veränderungen hervorzubringen. 33
32 David Garrioch, The Making of Revolutionary Paris, Berkeley 2002; frz. Ausg.: ders., La Fabrique du Paris révolutionnaire, übers. von Christophe Jaquet, Paris 2013. 33 Antoine de Baecque, „Ah! Paris ira, Paris ira! ‚La Fabrique du Paris révolutionnaire‘, de David Garrioch“, in: Le Monde des livres, 9. Mai 2013, S. 2.
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Fügt man die weiter aufklaffende Schere zwischen Reich und Arm hinzu – Anzeichen für eine wirtschaftliche und finanzielle Entwicklung –, dazu die Begeisterung für Lektüre, Theater, Spiel, Vergnügungen und individuellen Erfolg, kann man ruhig behaupten, dass der Westen um die Mitte des 18. Jahrhunderts in eine neue Periode eingetreten ist. Bevor ich zum wichtigsten Phänomen auf dem historiographischen Gebiet – einer Periodisierung der Geschichte – einige Schlussfolgerungen äußere, möchte ich die obigen Ausführungen mit einem Resümee der Beziehungen zwischen Mittelalter und Renaissance zusammenfassen, um exakt definieren zu können, was eine echte historische Periode ist. Für diesen knappen Überblick stütze ich mich auf eine Sonderausgabe der Zeitschrift Les Cahiers de science et vie vom April 2012 mit dem Titel „Le génie de la Renaissance. Quand l’Europe se réinvente“ (Das Genie der Renaissance. Als sich Europa neu erfand). Die Einleitung ist „Dem Geist der Renaissance“ (L’esprit de la Renaissance) gewidmet. Dieses Sonderheft beschäftigt sich ausführlich mit verschiedenen Interpretationen einer Rückkehr zu den Ursprüngen, auf die das Wort „Renaissance“ ja verweist, stellt Florenz ins Zentrum der neuen Periode und beschreibt „das Erwachen der Vernunft“, das damals angeblich stattfand. Auf diesem Gebiet hat die Renaissance das Mittelalter aber nur verlängert, weil Letzteres auch an der Antike anknüpfte. Ab dem 12. Jahrhundert griff zwar 150
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nicht die gesamte mittelalterliche Theologie, zumindest aber die Scholastik ständig auf die Vernunft zurück. Und Florenz in den Mittelpunkt der Erneuerung einer Periode zu stellen, hieße meiner Ansicht nach, die Bewegung der Geschichte auf abwegige Weise zu reduzieren und die gesamte Renaissance auf eine kleine Gruppe von Politikern und Künstlern zu beschränken. Die Zeitschrift assoziiert die Renaissance auch mit einer bestimmten Art, den Menschen „neu zu denken“. Dabei hat sich dieser entscheidende Wandel im Denken, der sich keine Theologie ohne Humanismus vorstellen kann, bereits im Mittelalter vollzogen. Sowohl die Renaissance des 12. Jahrhunderts, die auf der Vorstellung beharrt, dass der Mensch „nach Gottes Ebenbilde“ geschaffen wurde, als auch die ganze große Scholastik des 13. Jahrhunderts (insbesondere der heilige Thomas), vertreten die Behauptung, dass ihr wahres Thema, das hinter Gott steht, eben der Mensch ist. Der Humanismus ging aus einer langen Entwicklung hervor, die man auf die Antike zurückführen kann. Die Zeitschrift assoziiert die Renaissance mit der „Geburt der wissenschaftlichen Methode“. Hiermit ist hauptsächlich Rationalität gemeint, der Vorrang der Mathematik und der Rückgriff auf methodische Experimente. Von der Rationalität habe ich schon weiter oben gesprochen. Wie erwähnt, tauchte die Mathematik als Methode bereits im Mittelalter auf: durch präzisere, kommentierte Neuausgaben des Euklid; 151
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durch die Einführung der Null Anfang des 13. Jahrhunderts; mit dem entscheidenden Handbuch des Leonardo da Pisa (genannt Fibonacci), dem Liber Abaci, verfasst 1201, überarbeitet 1228; dazu aber auch durch technische Fortschritte im Zusammenhang mit Handel und Bankwesen (unter anderem der Wechsel im frühen 14. Jahrhundert). Tatsächlich neu, jedoch eingebettet in eine mittelalterliche Renaissance des 15. und 16. Jahrhunderts, war der methodische Rückgriff auf Experimente, insbesondere seit dem 16. Jahrhundert auf Autopsien. Besonders bedaure ich, dass in diesem Heft der Cahiers de science et vie behauptet wird, im 16. Jahrhundert sei „in Europa der Pluralismus aufgekommen“. Seit dem Frühmittelalter war die Christenheit ständig in Diskussionen und Prozesse verwickelt, die um das kreisten, was die Kirche „Ketzerei“ nannte. Doch das war die Sichtweise der mittelalterlichen Kirche. Warum betrachten wir diese Ketzereien heute nicht eher als Theorien, Ideen oder Denkweisen, die sich vom offiziellen Dogmatismus unterschieden? Im Mittelalter hat eine bunte, brodelnde Vielfalt geherrscht. Man findet sie zum Beispiel in der Ernährung, obwohl der dänische Autor des ältesten Kochbuches Anfang des 13. Jahrhunderts in Paris studiert hatte und von der bereits damals hochgeschätzten französischen Küche beeinflusst worden war. Der Zeitschrift zufolge bestand ein weiteres Merkmal der Renaissance in „einem großen Elan, der aus Italien kam“. Dieser Behauptung kann man eher zu152
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stimmen als der, die das Herz der neuen Periode auf Florenz reduziert hat. Doch seit dem Frühmittelalter war die Originalität beziehungsweise die Vorreiterrolle Italiens – sowohl durch das Papsttum also auch durch Stadtverwaltungen oder Fürstenhöfe – eine Konstante im christlichen Europa. Übrigens muss man ebenfalls auf die sogenannte deutsche Renaissance verweisen sowie auf die französische Renaissance, die sich im Allgemeinen auf die Schlösser der Loire beschränkt hat. In Wirklichkeit gab es im Laufe des Mittelalters verschiedene Renaissancen, die mehr oder weniger umfassend, mehr oder weniger provokant waren. Und was das Interesse an den Schlössern betrifft, so ging diese Renaissance auf das Mittelalter selbst zurück, da die Umwandlung der Burgen in offene, sich nach außen entfaltende Räume, wie erwähnt, auf das frühe 14. Jahrhundert zurückging. Man kann sogar eine kontinuierliche Entwicklung der Kleidung zurückverfolgen, von der Robe des Frühmittelalters bis zum Rock des Ancien Régime, der erst mit dem Anzug der Bürger oder Arbeiter im 19. Jahrhundert wirklich verschwand. Die Industrie ist der Bereich, in dem sich die Kontinuität „Mittelalter–Renaissance“ und der Bruch „langes Mittelalter–Neuzeit“ am deutlichsten zeigt. In der Renaissance wurden die Hochöfen zwar größer, doch erst musste im 18. Jahrhundert die Dampfmaschine erfunden werden, bis in England die Industrie geboren wurde und sich über den Kontinent ausbreitete. Zu Recht schreibt man dem Buchdruck, der 153
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bekanntlich Mitte des 15. Jahrhunderts erfunden wurde, eine gewaltige Bedeutung zu, doch die eigentlichen Umwälzungen, die das Lesen betrafen, fanden bereits im Mittelalter statt. So wurde die Schriftrolle im frühen Mittelalter durch den Kodex ersetzt, und die Buchproduktion erfolgte nicht mehr in den Scriptoria der Klöster, sondern in unabhängigen Buchhandlungen beziehungsweise in den Scriptoria der Universitäten, die ab dem 13. Jahrhundert die einfach zu vervielfältigende Pecia herstellten. Schließlich verwendete man statt Pergament in zunehmendem Maße Papier, das im 12. Jahrhundert von Spanien aus, Anfang des 13. Jahrhunderts aber vor allem von Italien aus verbreitet wurde. Schließlich sei daran erinnert, dass der Kapitalismus erst mit dem maßgeblichen Buch von Adam Smith, Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker, theoretisiert und den Menschen bewusst wurde. Die Entdeckungen ferner Länder führten seit Christoph Kolumbus und Vasco da Gama zwar zu regelmäßigen Kontakten, die jedoch erst mit der Eroberung Indiens durch Großbritannien 1756 den europäischen Kolonialismus einläuteten. Auf dem Gebiet der Seefahrt waren der Kompass und das Scharnierruder die wichtigsten Neuerungen. Die Zeitschrift Les Cahiers de science et vie assoziiert die Renaissance mit dem Ausdruck „Fabrik des Fortschritts“ – eine unglückliche Formulierung. Tatsächlich konnte nachgewiesen werden, dass das Mittelalter, ganz im Gegensatz zur älteren Kritik, durchaus ein Bewusstsein für Neuerungen und Verbesserungen be154
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saß, 34 obwohl der Ausdruck „Fortschritt“ erst im 18. Jahrhundert aufkam. Charakteristisch für diese letzte mittelalterliche Renaissance, um die es sich bei der Renaissance des 15. bis 16. Jahrhunderts in meinen Augen tatsächlich handelt, war unter anderem, dass sie die echte Neuzeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vorbereitet und angekündigt hat. Das Manifest dieser Modernität war, nach der langen Vorherrschaft der christlichen, sowohl katholischen als auch reformierten Religion, das Erscheinen der Encyclopédie. Übrigens müssen die Autoren des Sonderheftes der Zeitschrift diesen Werdegang sehr wohl gespürt haben. Davon zeugen die Titel der beiden letzten Kapitel: „Cosmos: La révolution couve“ (Kosmos: Die Revolution schwelt) und „Les expéditions du XVIe siècle annoncent la mondialisation d’aujourd’hui“ (Die Forschungsreisen des 16. Jahrhunderts kündigen die heutige Globalisierung an). Vielleicht muss man noch betonen, dass eine „echte“ historische Periode gewöhnlich sehr lang ist: Sie entwickelt sich weiter, weil die Geschichte nie erstarrt. Im Laufe dieser Entwicklung wird sie mehr oder weniger brillante Renaissancen erleben, die sich oft auf die Vergangenheit berufen, weil die Menschheit in die-
34 Siehe Beryl Smalley, „Ecclesiastical Attitudes to Novelty, c. 1100–c. 1250“, in: Derek Baker (Hrsg.), Church Society and Politics, Studies in Church History, Bd. 12, Oxford 1975, S. 113–131.
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ser Zeit eine gewisse Faszination für die verstrichene Epoche empfindet. Doch diese Vergangenheit dient immer nur als Erbe, das den Sprung in eine neue Periode ermöglicht.
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ie mittlerweile verständlich geworden sein dürfte, ist die Renaissance, die in der traditionellen zeitgenössischen Geschichtsschreibung als spezifische Epoche gilt, meiner Ansicht nach im Grunde nur die letzte Unterperiode eines langen Mittelalters. Die Periodisierung der Geschichte, die in der westlichen Tradition sowohl auf die Ursprünge des griechischen Denkens (Herodot, 5. Jh. v. Chr.) als auch auf das Alte Testament (Daniel, 6. Jh. v. Chr.) zurückreicht, wurde, wie wir gesehen haben, erst sehr spät Teil des Alltagslebens. Sie hat sich durchgesetzt, als die historische Literatur im 18. und 19. Jahrhundert zu einem Unterrichtsfach wurde. Sie erfüllt den Wunsch, ja das Bedürfnis der Menschheit, Kontrolle über die Zeit, in der sie agiert, zu erhalten. Mit Kalendern konnte sie die Zeit des Alltags beherrschen. Die Periodisierung erfüllt denselben Zweck in Bezug auf die lange Dauer. Dazu muss diese Erfindung des Menschen allerdings auch einer objektiven Realität entsprechen. Meiner Meinung nach ist das der Fall. Dabei spreche ich nicht von der Welt in ihrer Materialität, ich meine ausschließlich die in ihrem Leben stehende Menschheit, und zwar ganz speziell die westliche: Die157
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se bildet, nach unserem derzeitigen Wissensstand, eine selbstständige Einheit mit ihren eigenen Charakteristiken, von denen die Periodisierung eine ist. Die Periodisierung rechtfertigt sich dadurch, weil sie die Geschichte zur Wissenschaft macht, zwar zu keiner exakten Naturwissenschaft, aber immerhin zu einer Sozialwissenschaft, die sich auf objektive Grundlagen stützt, welche man Quellen nennt. Doch was uns diese Quellen zeigen, bewegt und entwickelt sich: Die Geschichte von Gesellschaften, die in der Zeit voranschreiten, wie Marc Bloch es nannte. Ein Historiker sollte die Zeit beherrschen, während er sich gleichzeitig in ihrer Macht befindet. Insofern als sich die Zeit ändert, wird die Periodisierung für den Historiker zu einem unentbehrlichen Werkzeug. Es heißt, dass die von Fernand Braudel eingeführte „lange Dauer“, die sich inzwischen bei den Historikern durchgesetzt hat, die Perioden verwischt oder sogar auslöscht. Dieser Antagonismus ist in meinen Augen keiner. In der „langen Dauer“ besteht Raum für Perioden. Die Beherrschung einer so wichtigen, intellektuellen und zugleich sinnlichen Sache, wie es die Geschichte sein kann, erfordert meiner Ansicht nach eine Kombination von Kontinuität und Diskontinuität. Genau das bietet die „lange Dauer“, verbunden mit der Periodisierung. Die Frage nach der Dauer der Perioden und der Entwicklungsgeschwindigkeit der Geschichte habe ich hier beiseite gelassen, weil sie sich zweifellos erst seit der Neuzeit stellt. Spezifischer für Mittelalter und Re158
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naissance, mehr als für alles Zeitgenössische und die Gegenwart, ist hingegen, wie langsam sich der Übergang von einer Periode zur anderen vollzog. Es gab kaum Revolutionen, wenn es überhaupt je welche gegeben hat. François Furet rief immer gern in Erinnerung, dass die Französische Revolution fast das ganze 19. Jahrhundert über gedauert hat. Das erklärt, warum viele Historiker, einschließlich derjenigen, die von der Idee einer spezifischen Renaissance überzeugt sind, den Ausdruck „Mittelalter und Renaissance“ verwendet haben. Und wenn es ein Jahrhundert gibt, das dieser Definition entspricht – was übrigens zweifellos seinen Reichtum ausmacht –, dann ist es das 15. Jahrhundert. Ich für meinen Teil glaube, dass wir der Wirklichkeit und einer Periodisierung, die einen zugleich bequemen als auch ergiebigen Gebrauch der Geschichte zulässt, näher kommen, wenn wir in Betracht ziehen, dass lange Perioden von zwar wichtigen, allerdings nicht entscheidenden Phasen der Veränderung geprägt waren: Unterperioden, die man im Falle des Mittelalters „Renaissancen“ nennt, um das Neue (naissance = Geburt) mit der Vorstellung von einer Rückkehr zu einem goldenen Zeitalter (die Vorsilbe re = „wieder“ verweist in die Vergangenheit, impliziert Ähnlichkeiten) zu kombinieren. Man kann also – ich denke, man muss es sogar – die Periodisierung der Geschichte beibehalten. Keine der beiden wichtigsten Strömungen, die derzeit das historische Denken beschäftigen, die Geschichte in 159
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der langen Dauer und die Globalisierung (hauptsächlich der amerikanischen world history entsprungen 1), ist mit ihrer Benutzung unvereinbar. Ich wiederhole, dass die nicht gemessene Dauer und die gemessene Zeit nebeneinander existieren und die Periodisierung nur auf begrenzte Bereiche der Zivilisation angewandt werden kann, während die Globalisierung darin besteht, zwischen diesen Einheiten anschließend die Beziehungen zu finden. Die Historiker dürfen nämlich auf gar keinen Fall, wie das bislang zu oft geschehen ist, die Idee der Globalisierung mit Gleichmacherei verwechseln. Bei der Globalisierung gibt es zwei Etappen. Die erste besteht in der Kommunikation: Zwischen Regionen und Zivilisationen, die vorher nichts miteinander zu tun hatten, werden Kontakte geknüpft. Die zweite ist ein Phänomen der Absorption, der Verschmelzung. Bis heute hat die Menschheit lediglich die erste Etappe erlebt. Somit ist die Periodisierung für zeitgenössische Historiker ein wichtiges Feld der Forschung und Reflexion. Mit ihrer Hilfe verstehen wir, auf welche Weise sich die Menschheit in der Dauer, in der Zeit organisiert und entwickelt.
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Siehe beispielsweise Patrick Manning, Navigating World History. Historians Create a Global Past, New York 2003; Romain Bertrand, „Histoire globale, histoire connectée“, in: Christian Delacroix, François Dosse, Patrick Garcia und Nicolas Offenstadt, Historiographies. Concepts et débats, Bd. 1, Paris 2010, S. 366–377.
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Dank
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ieser Essay hat Maurice Olender viel zu verdanken. Nicht nur als Leiter dieser ausgezeichneten Buchreihe hat er wunderbare Arbeit geleistet, auch als Historiker hat er sich mit der für ihn typischen Leidenschaft, Intelligenz und Bildung an der Reflexion, Ausarbeitung und Durchsetzung der hier vorgetragenen Ideen beteiligt. Erhebliche Unterstützung erhielt ich ebenfalls durch die kompetenten und einsatzfreudigen Mitarbeiterinnen des Verlages Éditions du Seuil, die Maurice Olender ausgewählt hatte. Hauptsächlich handelt es sich hierbei um Séverine Nikel, Koordinatorin der Abteilung Humanwissenschaften, Cécile Rey, MarieCaroline Saussier und Sophie Tarneaud. Hilfreich waren auch verschiedene Ratschläge, die ich bei Gesprächen mit eng befreundeten Historikern erhielt. Hierbei denke ich vor allem an den bedeutenden Historiografen François Hartog, an Jean-Claude Schmitt und Jean-Claude Bonne, sowie an ihre Mitarbeiter der GAHOM an der École des hautes études en sciences sociales. Viel verdanke ich auch Krzysztof Pomian und Christiane Klapisch-Zuber. Schließlich darf ich auf gar keinen Fall meine treue 161
Dank
und werte Freundin Christine Bonnefoy vergessen, die viele Jahre lang mein Sekretariat an der École des hautes études en sciences sociales geführt hat und ihren Dienst noch einmal antrat, um die Entstehung dieses Buches zu ermöglichen. Ihnen allen sei von Herzen gedankt.
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Simoncini, Giorgio, „La persistenza del gotico dopo il medioevo. Periodizzazione ed orientamenti figurativi“, in: Giorgio Simoncini (Hrsg.), La tradizione medievale nell’architettura italiana, Florenz 1992, S. 1–24. Singer, Samuel, „Karolingische Renaissance“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, 13 (1925), S. 187–201, 243–258. Tallon, Alain, L’Europe de la Renaissance, Paris 2006. Taviani, Paolo Emilio, Cristoforo Colombo. La genesi della granda scoperta, 2 Bde., Navara 1974. Toubert, Pierre und Michel Zink (Hrsg.), Moyen Âge et Renaissance au Collège de France, Paris 2009. Ullmann, Walter, Medieval Foundations of Renaissance Humanism, Ithaca, NY 1977. Ullmann, Walter, „The Medieval Origins of the Renaissance“, in: André Chastel (Hrsg.), The Renaissance. Essays in Interpretation, London, New York 1982, S. 33–82. Valéry, Raphaël und Olivier Dumoulin (Hrsg.), Périodes. La construction du temps historique. Actes du V e colloque d’Histoire au présent, Paris 1991. Vincent, Bernard, 1492: „L’année admirable“, Paris 1991; dt. Ausg.: ders., „Das Jahr der Wunder“. Spanien 1492: Die Vertreibung der Juden und Mauren und die Einführung der Grammatik, übers. von Una Pfau, Berlin 1992. Voss, Jürgen, Das Mittelalter im historischen Denken Frankreichs. Untersuchungen zur Geschichte des Mittelalterbegriffes und der Mittelalterbewertung von der zweiten Hälfte des 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, München 1972. Ward, Patricia A., The Medievalism of Victor Hugo, University Park, PA 1975.
174
Literaturauswahl
Waschek, Matthias (Hrsg.), Relire Burckhardt, Cycle de conférences organisé au Musée du Louvre par le Service culturel du 25 novembre au 16 décembre 1996, Paris 1997. Wittkower, Rudolf und Margot Wittkower, Born Under Saturn: The Character and Conduct of Artists. A Documented History from Antiquity to the French Revolution, New York 1963; dt. Ausg.: dies., Künstler, Außenseiter der Gesellschaft, übers. von Georg Kauffmann, Stuttgart 1965. Zorzi, Andrea, „La politique criminelle en Italie, XIII e– XVII e siècles“, in: Crime, histoire et sociétés, 2, 2 (1988), S. 91–110. Zumthor, Paul, „Le Moyen Âge de Victor Hugo“, Vorwort für Victor Hugo, Notre-Dame de Paris, Paris 1967. Zumthor, Paul, Parler du Moyen Âge, Paris 1980.
175
Register Alanus ab Insulis 100 Alberti, Leon Battista 64 Albertus Magnus 92, 118 Alexander IV., Papst 110 Alkohol 122 Alkuin 90 Amerika 86, 88, 101, 115, 129, 136–138, 142 f., 148 Amsterdamer Wechselbank 143, 148 Ancien Régime 119, 153 Anglikanismus 103 Annales, Schule der 33 Anselm von Canterbury, hl. 96, 100 Antike 26, 29 f., 35–37, 47, 51, 64 f., 69, 74–77, 81, 84–86, 89–91, 94, 96, 101, 125, 135, 145, 147, 150 f. Aristoteles 26, 30, 89, 96, 102, 119; Kristeller über 73; Nikomachische Ethik 118 Aristotelismus 73 f., 77 Arnaldi, Girolamo 94 Arnoux, Mathieu 123
Augustinus, hl. 20–22, 27, 76 f., 90, 92, 95, 101, 145 Bäckereischule, nationale 121 Baschet, Jérôme 108 Basel 49, 61, 111 Battini, Costantino, Apologia dei Secoli Barbari 33 Bayle, Pierre, Dictionnaire historique et critique 144 Beda Venerabilis, hl. 23 f. Bernhard von Chartres 98 f. Bettinelli, Saverio 33 Biget, Jean-Louis 141 Bildung 15, 17, 43, 47, 61, 65, 67, 86, 91 f., 102, 128, 146 Blanca von Kastilien 39 Bloch, Marc 33, 158 Boas, George 83 f. Bolívar, Simón 115 Bolland, Jean 45 Bollandisten 45 Bologna 50, 132 Bonne, Jean-Claude 108 Boucheron, Patrick 17, 113 Boudet, Jean-Patrice 111 Branntwein 122
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Register
Braudel, Fernand 7; über Alkohol 122; Civilisation matérielle et capitalisme, XV e–XVIII e siècles 116 f., 119–122; über die „lange Dauer“ 38, 158; über Weißbrot 121; über Wirtschaft 116 f. Brotproduktion 121 f. Bruch, langes Mittelalter – Neuzeit 153; der Renaissance 119; siehe auch Diskontinuität Bruegel d. Ä., Pieter 86 Bruter, Annie 43 Buchdruck 60, 86, 135 Burckhardt, Jacob 61 f., 72, 79; Die Cultur der Renaissance in Italien 61–65, 67–69; Zuschreibung der Erfindung der Renaissance-Periode 61 Bussi, Giovanni Andrea 31 Caesar, Gajus Julius 58, 134 Les Cahiers de Science et Vie (Zeitschrift) 150, 152, 154 Calvinismus 87, 103 Cambridge 49 Capella, Martinus, De nuptiis Philologiae et Mercurii 90 Cardini, Franco, Europa 1492 129–131; über Leid
und Elend im 15. Jahrhundert 130; über den Namen Europa 129 Cassiodor 90 Cellini, Benvenuto 66 Chartier, Roger 140 27 Chaucer, Geoffrey 135 Chenu, Marie-Dominique 93, 99 Christentum 20, 35 f., 87, 90 f., 127, 143 f. Chronik 23, 40 f., 95 Chronograph 21 6 Cicero 30, 89 Cipolla, Carlo M. 142 f. Clanchy, Michael 140 Clemens VII., Papst 63 Collège de France 35, 50, 56 f., 103, 147 Cooper, Helen 133–135 Corsi, Giovanni 73 Cousin, Victor 32 D’Alembert, Jean-Baptiste le Rond 144 Dampfmaschine 148, 153 Daniel 18–21, 27, 157 Dante, Die Göttliche Komödie 109 dark ages 31, 89 Dauer 14, 160; siehe auch lange Dauer Davis, Robert C. 71, 112 de Dainville, François 43
178
Register
Delumeau, Jean, Une histoire de la Renaissance 85–88 Desmarets de Saint-Sorlin, Jean, Les jeux de cartes des roys de France 44 Deutschland 62; Humanismus in 34; Lehrstühle für Geschichte in 48 f., 147; mittelalterliches 32; Monumenta Germaniae Historica 32, 49; Renaissance in 58, 94 Devotio moderna 97 f. Dhotel, Jean-Claude 44 8 dialectica 96 Diderot, Denis 121; Encyclopédie 144, 149 Dionysius Exiguus 22 f., 29, 36 Diskontinuität (Bruch) in der Periodisierung der Geschichte 8, 13, 36 f., 114, 119, 138, 158 Dittmar, Pierre-Olivier 108 Dreifelderwirtschaft 117 du Bellay, Joachim 35 Duby, Georges 38 du Fresne, Charles, sieur du Cange 42 Duruy, Victor 47 Eco, Umberto, Arte e bellezza nell’estetica medievale 104
École nationale des chartes 32, 46 Edelmetalle 86, 138, 143, 148 Eisen 123 f. Elias, Norbert 127; über Fortschritt 125; über Höflichkeit 126; über Mozart 109; Über den Prozess der Zivilisation 125 f., 140 27; Wandlungen der Gesellschaft 125; über den Zivilisationsprozess 124–126 eloquentia 96 England, Universitätslehrstühle in 49 Entdeckung Amerikas 88, 115, 131, 133, 136–138, 143, 148, 154 Epoche 8, 11 f., 17, 20, 24, 26 f., 36 Epos, Übergang zur Geschichte 40 2 Erlande-Brandenburg, Alain 106 Ernährung 120 f., 142, 152 Erneuerung (renovatio) 145 Europa 17, 36, 39, 41, 43, 48, 50, 56, 58, 91, 94, 112–115, 128–130, 133, 148; Denker in 33, 50, 74; Ernährung in 120– 122; Kolonisierung
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Register
115 f., 154; Kulturgeschichte 62, 74, 77, 86, 112; Landwirtschaft im Mittelalter 117–121; Seuchen in 120; Technologie im 15. Jahrhundert 129 f. Febvre, Lucien 55 f. Feste in der Renaissance 66, 77 f., 87, 129 Feudalherrschaft 31, 37, 78, 126 Ficino, Marsilio 72–74, 76, 80 Filarete (d. i. Antonio di Pietro Averlino), Trattato di architettura 97 f. Finanzwesen 106, 118, 142, 148, 150 Finé de Brianville, ClaudeOronce, L’abrégé méthodique de l’histoire de France 44 Fischerei 122 Fleischkonsum 120, 142 Fleischwerdung Christi (Inkarnation) 22, 25 Fleury, André-Hercule de, Catéchisme historique 44, 45 8 Florenz 30, 34, 59 f., 62, 73 f., 76, 78, 80, 84–86, 94, 97, 105 f., 118, 150 f., 153
Focillon, Henri, Art d’Occident 104; L’art des sculpteurs romans 104 Fortschritt 22, 27, 98, 125, 145 f., 154 f.; linguistischer 91; technischer 86 f., 139, 146, 148, 152 Fossier, Robert 123 f. Frankreich 37, 47, 56, 114, 124, 126, 144; École nationale des chartes 32; Geschichte als Unterrichtsfach in 43–46; Hunger in 120; Lehrstühle für Geschichte in 50; Michelet über 49, 53, 56–60; mittelalterliches 31, 54, 101, 119, 132; Wirtschaft in 117 f. Franz von Assisi, hl. 146 Französische Revolution 46, 119, 128, 138, 141, 145, 149, 159 Frauen 29, 60, 87, 95 f., 103, 107; gelehrte 86, 140 Freiburg 48 Freie Künste (artes liberales) 90, 101 Froissart, Jean 41 Furet, François 159 Garin, Eugenio 33, 71; L’umanesimo italiano 79–81; Medioevo e Rinascimento 79, 81 f.
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Register
Garrioch, David 149 Gassendi, Pierre 103 Gauchet, Marcel 46 Gegenreformation 65 Genet, Jean-Philippe 114, 139 Genua 59, 94, 116, 130 Geschichte 7, 13–15, 21, 25, 34, 39; Entwicklung der 40 f., 128, 147, 158; Gedächtnis der 8; Guenée über 15, 41, 51 12; Kontinuität der 7 f., 9, 155; europäische Lehrstühle für 48–50; als Unterrichtsfach 43–47; als Wissenschaft 32, 38, 48, 50 f., 158; Zeitkonzepte von 7 f., 12, 19, 40; siehe auch Periodisierung Geschichtsschreibung 9, 17, 116, 157 Gibert, Pierre, La Bible à la naissance de l’histoire 40 3 Gilson, Étienne, „Le Moyen Âge comme saeculum modernum“ 95 f. Giotto 84, 105 f. Globalisierung 8, 17, 23, 32, 57, 88, 137, 155, 157, 159 f. Goetz, Walter 61 Goldast, Melchior 31 2 Grandier, Urbain 111 Gregor, hl. 99
Gregor von Nyssa 77 Greifswald 48 Griechenland 19, 35, 89, 145 Grote, Geert (Gerardus Magnus) 97 Guanahani 133 Guenée, Bernard 15, 41 Guizot, François 47, 49, 56 Gymnasien 46, 147 f. Haskins, Charles Homer 32 Heidelberg 48 Heiden 58, 130 Heinich, Nathalie 126 f. Heinrich II., König von England 126 Hering 122 Herodot 40, 157 Hervé, Jean-Claude 141 Hexerei 109–111 Hildegard von Bingen, hl. 100 Hobbes, Thomas 144 Hochseenavigation 86 f., 116 Höflichkeit 126 Homogenisierung 136 Homogenozän 136 Honorius von Autun 100 Hugo, Victor 55; NotreDame de Paris 32 Hugo von Sankt Victor 100 f.
181
Register
Humanismus 31, 34, 63– 65, 68, 71–77, 80–82, 91, 99 f., 132, 151 humanistische Erziehung 43 f. Hungersnot 119–121, 130 Ignatius von Loyola 97 f. Île Saint-Louis 102 Indien, Eroberung von 154 Individuum 109, 145; Entwicklung des (Burckhardt) 63 f., 66 Industrie, Geburt der modernen 146, 148 f., 153; industrielle Revolution 142 Innozenz III., Papst 76 Institoris, Heinrich (alias Kramer), Hexenhammer (Malleus maleficarum) 111, 113 Irland, Lehrstuhl für Geschichte 50 Isabella I. von Kastilien, Königin 132 Isidor von Sevilla, hl., Chronica major; Etymologien 23 Islam 68, 131 f. Israeli, Isaak, Buch der Definitionen und Beschreibungen 92
Jena 48 Johannes von Salisbury, Metalogicon 97 Josua, Buch 40 3 Juden, Vertreibung aus Spanien 132 jüdisch-christliche Tradition, Periodisierungsmodelle 18 Julius II., Papst 60 Jungfräulichkeit Marias 108 Kapitalismus 116, 138, 143, 148, 154 Karl I., König von England 128, 138 Karl V., König von Spanien 56, 63 Karl VIII., König von Frankreich 59 Karl X., König von Frankreich 102 Karl der Große, König der Franken, Römischer Kaiser 36, 90, 96, 146 Karl der Kühne, Herzog von Burgund 56 Kastilisch 132 f. Kathedralen 33, 105 f., 123, 127, 134 Katholische Könige (Isabella I. von Kastilien, Ferdinand II. von Aragonien) 131 f.
182
Register
Katholizismus 88, 103, 127, 148, 155 Keller, Christoph Martin (Christophorus Cellarius), Historia universalis 31 Ketzerei 80, 110, 152 Kirschschnaps 123 Kodex 91 Kolumbus, Christoph 57, 87, 115, 128–131, 133, 136, 148, 154 Konstantin I., Römischer Kaiser 29, 31, 36 Konstantinopel 26, 31, 92 Kontinuität 8, 13; in religiöser Periodisierung 24; zwischen Mittelalter und Renaissance 118 f., 122, 131, 138, 153 Krieg 58 f., 63, 106, 130; Österreichischer Erbfolgekrieg 128; Religionskriege 103, 127, 143; Spanischer Erbfolgekrieg 128; Zweiter Weltkrieg 124 Kristeller, Paul Oskar 71; Studies in Renaissance Thought and Letters 71–79, 82 Krynen, Jacques 140 Kunst der Renaissance 56, 58, 60, 62, 68, 72, 82, 84–87, 94, 104–107
Ladner, Gerhart B. 107 Landwirtschaft 117 f., 123, 146, 148 lange Dauer 38, 157–159 lateinische Sprache 22, 42, 65, 91, 114 Lavisse, Ernest, Histoire de France 47 Lebensalter, Periodisierung in 18, 20, 145 Lehrstühle und Professuren für Geschichte 48; Basel 49; Cambridge 49; Dublin 50; Freiburg 48; Göttingen 49; Greifswald 48; Heidelberg 48; Jena 48; Königsberg 48; Marburg 48; Orviedo 50; Oxford 49; Paris 50; Pavia 49; Pisa 49; Rostock 48; Tübingen 48; Turin 50; Wien 49; Wittenberg 48 Leibniz, Gottfried Wilhelm 32 Leo X., Papst 63 Leonardo da Pisa (gen. Fibonacci), Liber abaci 152 Lilie 141 Lindsmith, Elizabeth 71 Locke, John 144 Lorenzetti, Ambrogio 141 Louis-Philippe I., König der Franzosen 47
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Register
Ludwig, Grand Dauphin 43 f. Ludwig IX., der Heilige, König von Frankreich 24, 101 Ludwig XIII., König von Frankreich 101 Ludwig XIV., König von Frankreich 26, 101 Luthertum 87, 103 Mabillon, Jean, De re diplomatica 42 Magellan, Ferdinand 115 Mailand 36, 59 Malory, Thomas, Le Morte Darthur 135 Manetti, Giannozzo 76 Mann, Charles C., 1493: Uncovering the New World Columbus Created 136 f. Manutius, Aldus 60 Map, Walter, De nugis curialium 126 Media Ætas 30, 31 2, 147 Medici, Cosimo de’ 80, 84 Medici, Familie de’ 63, 67, 73 Medici, Giuliano de’ 78 Medici, Lorenzo de’, il Magnifico 74 Mehmed II., Sultan 26 Melanchthon, Philipp 19 Metallherstellung 123 f.
Michelet, Jules 35, 49; über Frankreich 57 f., 60; über Hexerei 109 f.; Histoire de France 53 f., 56 f.; über Italien 58–60; über das Mittelalter 53–55, 57; Erfindung der Renaissance 53, 55–58, 60; über die moderne Welt 57 f., 60 Mittelalter 13, 27, 29, 32; Beziehung der Renaissance zum 8, 9, 34 f., 51, 53, 92, 107 f., 112, 159; Christentum im 20, 57, 103; als „Dunkle Zeit“ 89–114; Frühmittelalter 21 f.; Hochmittelalter 77, 105, 124 f., 141; Kunst im 104 f.; langes 8, 109, 113, 115–156; Literatur im 109; Media Ætas 30; negative Konnotation des 32 f., 38, 51, 53; Übergang von der Antike zum 35–37; Zeitkonzepte im 23 f. Moderne 60, 97, 112, 131; Gegensatz zum Alten 31, 51, 95; moderner Staat 62, 114, 138–140; moderne Welt 57 f., 148 f. Molière, Don Juan, Tartuffe 103 Momigliano, Arnaldo 42, 48 11
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Register
Mommsen, Theodor, Monumenta Germaniae Historica 49 Monarchie 19, 36, 57, 111, 114, 128, 138, 141, 148 Monnet, Pierre 114 Monod, Gabriel 47 Montaigne, Michel de 35, 145 Montchrestien, Antoine de 119 Montesquieu, CharlesLouis de Secondat, Baron de La Brède et de 144 Mozart, Wolfgang Amadeus 109 mundus senescit 22, 95 Muratori, Lodovico Antonio, Rerum Italicarum Scriptores 42 Murray, Alexander, Reason and Society in the Middle Ages 93 2 Musik 67, 77, 91, 109 Mythos, Übergang zur Geschichte 40 2 Napoleon I., Kaiser der Franzosen 46, 119, 121 Napoleon III., Kaiser der Franzosen 47 Neapel 60 Nebrija, Antonio de 132 Nebukadnezar, persischer König 21
Niebuhr, Barthold Georg 49 Nogent, Guibert de 96 f. Norel, Philippe 18 Ochsen 117, 146 Ökonomische Theorie 118 f.; siehe auch Wirtschaft Olivi, Petrus Johannis, Tractatus de contractibus 118 Ordre royal et militaire de Saint-Louis 101 f. Ovid 30 Oxford 49, 134 Padua 50, 106 Palazzo Pubblico 141 Panofsky, Erwin 71; Renaissance and Renascences in Western Art 82–84 Papin, Denis 148 Papsttum 63, 153 Pastoureau, Michel 140 Pavia 49 Periode 11–14, 17, 51, 158 f. Periodisierung 8 f., 12, 14 f., 17–21, 24 f., 27, 29, 31, 34, 38–40, 43, 46, 82, 84 17, 88, 95, 114, 138, 145, 147, 150, 157, 160 Pest 106, 120, 122, 130 Petrarca, Francesco 30, 53, 64–66, 75 f., 80, 83, 85, 91, 147
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Register
Petrus Lombardus 146 Pfeffer 122 Pferd 123; Verdrängung des Ochsen 117, 123, 146 Pico della Mirandola, Giovanni 76 Pilgerfahrt 25 Piron, Sylvain 118 Pisa 49, 59, 94 Platon 26, 30, 75, 77, 80, 89 Platonische Akademie 74, 80 Politische Ökonomie, Konzept 119 Pomian, Krzysztof 12 1, 19 Protestantismus 87 f., 103, 127 protestantische Universitäten 48 Proudhon, Pierre Joseph 34 Ranke, Leopold von 61 Rationalität 15, 90, 92 f., 100, 144, 151 Reformation 48, 53, 68, 87, 103, 127, 143 Regierung 27, 47, 73, 80, 141 Religion 23, 44, 47, 58, 63, 68, 73, 148 f., 155 Religionskriege 103, 127, 143 religiöse Architektur 106 Renaissance 13, 34; Beziehung zum Mittelalter 8,
9, 34 f., 51, 53, 92, 107 f., 112, 159; Burckhardt über die 61–69; Delumeau über die 85–88; Erneuerung der Welt in der 22; Febvre über die 55; Garin über die 79– 82; Geburt der 53, 55; Kristeller über die 71– 78; Kunst der 56, 60, 68, 72, 76, 82, 84, 86 f., 104, 107; Literatur der 56, 64 f., 72, 76, 87; Michelet über die 55–60; Panofsky über die 82–85 Renan, Ernest 102 f. Restauration der Bourbonen 46 Rom 19, 22, 35 f., 59 f., 63 f., 89–91, 149 romanische Kunst 106 Romantik 32, 85 Rostock 48 Rousseau, Jean-Jacques 32, 144 Ruiz, Teofilo F., A King Travels 66 27 Saint-Louis, Senegal 101 Salamanca 132 Sankt Viktor, Schule von 146 Santa Croce, Florenz 59, 106 Savonarola, Girolamo 59, 68, 80
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Schmitt, Jean-Claude 39 Scholastik 102, 151 Schulen 15, 43, 46, 72, 92, 100, 102, 134 Schweiz, Lehrstuhl für Geschichte 49 Seignobos, Charles 47 Shakespeare, William 133–135 Silvestris, Bernardus 100 Sklaverei 37, 137 Sleidanus, Johannes 19 Smith, Adam Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker 143, 154 Sorbonne 50 Sozialwissenschaft 15, 124, 158 Spanien 66 27, 115, 128, 132 f., 154; Lehrstuhl für Geschichte in 50 Spanischer Erbfolgekrieg 128 Spätantike 8, 37, 90 Sprenger, Jakob, Hexenhammer (Malleus maleficarum) 111, 113 Stow, John, Survey of London 134 f. studia humanitatis 79, 99 Suger, Abbot 141 Tallon, Alain 117 Territorien, Boucheron über 113
Thébert, Yvon 141 Thierry, Augustin 56 Thomas a Kempis, De imitatione Christi 98 Thomas von Aquin 92, 151; Summa theologica 110 f. Thomas von Celano 146 translatio imperii 19 Transportwesen 116 f. Trinity College, Dublin 50 Trivium 90 f. Tübingen 48 Turin 50 Universitäten 15, 41, 43, 48, 73, 86, 92, 102, 146 f., 154; Basel 49, 61; Cambridge 49; Dublin 50; Göttingen 49; Königsberg 48; Marburg 48; Oviedo 50; Pavia 49; Pisa 49; Tübingen 48 Urban III., Papst 118 Ursulinen von Loudun 111 Utrecht, Frieden von 128; Utrechter Union 138 Varro, Marcus Terentius 90 Vasari, Giorgio, Le vite de’ più eccellenti architetti, pittori e scultori italiani 84 f. Venedig 59 f., 62, 94, 122 Vereinigte Provinzen der Niederlande 144;
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Register
Begründung als Republik 128, 144, 148; Unabhängigkeit 138, 144 Vereinigte Staaten von Amerika 50, 115, 136 Verkehrswege 117; Brücken 117; Straßen 59, 117, 129, 134 Vernunft 92 f., 100, 102, 144, 151; im Mittelalter 93; in der Renaissance 150 Vielfalt im Mittelalter 152 Viktoriner, Schule der 100 Vincent, Bernard, 1492: L’année admirable 129; über die Insel Guanahani 133; über das Jahr 1492 131; über Judenvertreibung aus Spanien 132; über Kolumbus’ Entdeckung 131; über christliche Nationenbildung 132 Vinzenz von Beauvais 41; Speculum historiale 24 Virgil 30 Voltaire 144, 149; Essai sur les mœurs 102 12; Le siècle
de Louis XIV. 25–27; über Zeitalter 25–27 Voragine, Jacobus de, Legenda aurea 24 f. Watt, James 148 Watt, Joachim von 31 2 Weill-Parot, Nicolas 93 Werner, Ernst 37 Wirtschaft 86, 106, 115– 117, 119, 142 f., 146, 148–150; Geldwirtschaft 105, 138, 143; Landwirtschaft 117 f., 123, 127, 146, 148 Wissenschaft 32, 96, 139, 144, 147, 149; Geschichte als 32, 38, 48, 50, 158 Wissenschaftliches Denken 15, 45, 90, 93, 151 Zeitalter 8, 11 f., 21–23, 25–27, 84, 95, 126, 136, 159 Zeitkette, Konzeption der 39 Zentralität der Renaissance 8 f. Zugtier 117, 123, 146 Zyklen 11, 20
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Über den Inhalt Jacques Le Goff kehrt in seinem letzten Buch zu den grundlegenden Fragen seiner Zunft zurück: Warum teilen wir Geschichte überhaupt in Epochen ein? Ist die Renaissance für uns moderne Menschen tatsächlich die Geburtsstunde für das helle, leuchtende Denken? Oder haben die Errungenschaften der Renaissance nicht ihre Wurzeln im Mittelalter, und tritt der nächste, epochale Wandel nicht viel später, zur Zeit der Französischen Revolution ein? Le Goff erklärt die grundlegenden Instrumente der Epocheneinteilung und überprüft damit die geistigen, technischen und wirtschaftlichen Errungenschaften bis weit nach der Französischen Revolution — eine meisterliche Verbindung von Ereignis- und Wissenschaftsgeschichte. Das Buch stellt zugleich die brennende Frage, was unsere eigenen Maßstäbe für historischen Fortschritt und Veränderung sind. Jacques Le Goff hinterlässt uns damit einen ebenso provokativen wie wegweisenden Beitrag zur Geschichte und zur Geschichtsdarstellung.
Über den Autor Jacques Le Goff (1924–2014) Der Autor zählt zu den weltweit berühmtesten Mittelalter-Experten. Le Goff war Professor für mittelalterliche Geschichte und Direktor der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris. Er wurde unter anderem mit der »Goldmedaille des CNRS« (1991), dem »Historikerpreis der Stadt Münster« (1993) und dem »Hegel- Preis der Stadt Stuttgart« (1994) ausgezeichnet.