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German Pages 238 [245] Year 2023
Antonia Rumpf Wozu fasten?
rerum religionum. Arbeiten zur Religionskultur Band 13
Editorial Religion ist ein Kulturphänomen. Sie zeigt sich in Kunst und Gesellschaft, in Ethos und Recht, in Sprache, Konsumkultur, Musik und Architektur. Eine Deutung spätmoderner Religion wird sich darum immer auch auf weitere Segmente der Gegenwartskultur einlassen müssen. Dies gilt auch und gerade aus der Perspektive der Religionsforschung innerhalb und außerhalb von Theologie. Jenseits der überkommenen polarisierenden Orientierungen am isolierten Subjekt oder am dogmatischen Normenkanon rückt Religion als dynamische Ausdrucksform performativer Praxis ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Religionswissenschaft, Praktische Theologie und Kulturwissenschaft stellen sich dieser Aufgabe in je spezifischen Theoriezugriffen. Dabei werden Differenzen und Deutungskonflikte, Geltungsansprüche und Übergänge kenntlich gemacht und aufgeklärt. Denn die Frage nach religionskulturellen Formaten korreliert mit der nach religiösen Traditionen, theologischen Normierungen und sozialen Zuschreibungen. Diskurse zu Religion werden so in Bezugnahme auf religionstheoretische Fragehorizonte zum Gegenstand interdisziplinären Austauschs – empirisch, philologisch und historisch vergleichend. Die Bände dieser neuen Reihe widmen sich in unterschiedlicher Weise kulturellen Phänomenen und deuten sie semiotisch und ästhetisch in ihrer geschichtlich gewordenen Gestalt. Im Horizont fachlich gebundener Herangehensweisen wissen sich die Herausgeberin und die Herausgeber in besonderer Weise der Frage nach der Relevanz ihres Gegenstands verpflichtet. Die Reihe wird herausgegeben von Klaus Hock, Anne Koch und Thomas Klie.
Antonia Rumpf, geb. 1992, arbeitet als Gleichstellungsbeauftragte bei der Bremischen Evangelischen Kirche. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Religion und Gesellschaft der Ruhr-Universität Bochum und studierte evangelische Theologie und Literaturwissenschaft in Bochum und Durham (UK).
Antonia Rumpf
Wozu fasten? Eine empirische Theologie moderner Fastenpraktiken in Deutschland
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© 2024 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Diet Meal Grey Background with Calendar (Fastenzeit). Von Petermeir / Adobe Stock Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar https://doi.org/10.14361/9783839469804 Print-ISBN: 978-3-8376-6980-0 PDF-ISBN: 978-3-8394-6980-4 Buchreihen-ISSN: 2627-9428 Buchreihen-eISSN: 2703-1446 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff.
Inhalt
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Einleitung............................................................................. 9 Ausgangslage: Fasten in Deutschland ................................................... 9 Forschungsanliegen und Forschungsfrage .............................................. 16 Methodik und Aufbau der Studie ........................................................18
II Theoretischer Hintergrund: christliches Fasten und die vorösterliche Fastenzeit ... 21 1 Grundlegende und historische Aspekte ................................................ 22 a) Allgemeine Definitionen des Phänomens Fasten ..................................... 22 b) Biblische Grundlagen ............................................................... 23 c) Historische Schlaglichter ........................................................... 27 d) Reformatorische Kritik ............................................................. 30 e) Anzeichen einer neuen Offenheit ................................................... 40 2 Die Wiederentdeckung des Fastens: zeitgenössische Fastenaktionen ................... 44 a) Fasten als Solidarität: die Misereor-Fastenaktion .................................... 44 b) Fasten als anderer Alltag: »7 Wochen Ohne« ........................................ 48 c) Fasten als religiöses Neuwerden: »7 Wochen anders leben« ......................... 53 d) Fasten als Verzicht: die Aktion Klimafasten ......................................... 58 e) Merkmale zeitgenössischer Fastenaktionen aus (religions-)soziologischer Perspektive ........................................... 61 3 Modernes Fasten aus praktisch-theologischer Perspektive: Chancen und Kritikpunkte ... 68 a) Fasten als spirituelle Übung ........................................................ 69 b) Fasten als Körpertechnik: zwischen »Körperkult« und »Ganzheitlichkeit« ........... 72 c) Fasten als Konsumkritik: zwischen Zweckfreiheit und Orthopraxie ................... 79 d) Fasten in der Kritik: Wie religiös sind moderne Fastenaktionen? ..................... 82 e) Kritische Würdigung und Implikationen für die empirische Studie.................... 84 III Fasten in der Gegenwart: die empirische Studie ..................................... 91 1 Metatheorie und Methodologie .......................................................... 91 a) Metatheoretische Verortung: eine funktionale Perspektive auf das Fasten............. 91 b) Datenauswertung: die Dokumentarische Methode ................................... 94 c) Datenerhebung: teilnarrative Leitfadeninterviews ................................... 99
2 Orientierungen und Bezugsprobleme im Fasten.........................................108 a) Orientierung an Prinzipien ..........................................................109 b) Orientierung an Selbsterfahrung ................................................... 130 c) Orientierung an Relationen .........................................................156 d) Fasten als konstruktive Auseinandersetzung mit nicht lösbaren Problemen .......... 177 IV Im Gespräch mit der Empirie: praktisch-theologische Perspektiven................ 181 1 Die Differenz zwischen Überzeugung und Handeln: Sünde als Bezugsproblem? ..........182 a) »Bewusst auf etwas verzichten, weil es nicht in Ordnung ist« – Ethik und Lebensführung ...........................................................182 b) »Da bin ich gescheitert« – die theologische Rede von der Sünde als Bearbeitungsstrategie für das Bezugsproblem der Befragten .....................186 2 Herausforderungen moderner Individualität: zwischen »tiefer Adressierung« und Gesundheitsstress.................................................................194 a) »Eine wirklich gute Körpererfahrung« – Pilgern und Salbungsgottesdienste als funktionale Äquivalente des körperlich praktizierten Fastens ....................194 b) »Ich bin auch eigentlich so gut wie nie krank« – Diät und Gesundheit als Konfliktfelder ...................................................................198 3 Resonanz durch communitas: Fasten als liminale Praxis ............................... 207 a) »Ich bin einfach hellhöriger« – Resonanzerfahrungen im Fasten.................... 208 b) »Außerdem ist das unglaublich, wie schnell man eine Gruppe wird« – Liminalität und communitas beim Fasten ........................................... 211 V Schluss ..............................................................................219 VI Literatur ............................................................................ 225 1 Printmedien .......................................................................... 225 2 Digitale Medien ....................................................................... 235 a) Texte auf Websites mit Autor*innenangabe ........................................ 235 b) Websites und Texte ohne Autor*innenangabe ...................................... 236
Vorwort und Danksagung
Diese Monographie beruht auf meiner Dissertation, die im Sommersemester 2022 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum angenommen wurde. Das Rigorosum fand am 13. Juli 2022 statt, für die Publikation wurde das Manuskript anschließend leicht überarbeitet. Sehr herzlich danke ich Prof. Dr. Isolde Karle, die mich zu diesem Forschungsprojekt anregte, seine Entwicklung stets kritisch und konstruktiv begleitete und das Erstgutachten übernahm. Ebenso herzlich danke ich Prof. Dr. Hanna Roose für ihre Hinweise, Ratschläge und das Zweitgutachten. Andere Zeiten e. V. danke ich sehr für die großzügige finanzielle Förderung dieses Forschungsprojekts. Eine Interviewstudie ist fundamental auf Teilnehmende angewiesen. Meine Interviewpartner*innen verbergen sich hinter den Pseudonymen Angelika, Anke, Christian, Claudia, Günther, Hans, Ida, Ingrid, Jonas, Katrin, Lisa, Lydia, Marion, Martina, Michael, Monika, Sabine und Svenja. Sie schenkten mir ihre Zeit und gewährten mir Einblick in ihre Erfahrungen, Gedanken und Gefühle. Ohne euch und Sie wäre diese Arbeit nicht so, wie sie ist – tausend Dank! Für die rege und konstruktive Diskussion des erhobenen Interviewmaterials und meiner Interpretationsvorschläge danke ich vielen Menschen herzlich: Zum einen meinen Kolleginnen aus der »Empirie-Gruppe« am Lehrstuhl für Praktische Theologie an der Ruhr-Universität – Laura Brand, Antonia Köpf, Verena Kroll, Dr. Christine Siegl, Lisa Stiller und Lynn Kristin Schroeter. Zum anderen Prof. Dr. Werner Vogd, der es mir ermöglichte, an seiner Forschungswerkstatt an der Universität Witten/Herdecke teilzunehmen, und allen Werkstattsmitgliedern, insbesondere Martin Feißt, Dr. Jonathan Harth und Dr. Till Jansen. Dr. Elis Eichener und Dr. Niklas Peuckmann danke ich sehr für das Korrekturlesen des Manuskripts und dem gesamten Team am Lehrstuhl für Praktische Theologie bzw. dem Institut für Religion und Gesellschaft für alle Gespräche, kollegiale Beratung und Unterstützung: Neben vielen bereits Genannten sind das Dr. Katja Dubiski, Nicole Kirschbaum, Inga Kreusch, Franziska Schade, Dr. Jonas vom Stein und Dr. Jula Well – und großer Dank geht an Heike Falkenroth für Ihre Übersicht, stete Hilfsbereitschaft und große Geduld in allen administrativen Fragen.
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Antonia Rumpf: Wozu fasten?
Dem transcript-Verlag, insbesondere Dr. Dagmar Buchwald, Johanna Mittelgöker und Julia Wieczorek, danke ich sehr für die ausgezeichnete Betreuung bei der Publikation der Studie und Prof. Dr. Klaus Hock, Prof. Dr. Thomas Klie und Prof. Dr. Anne Koch für die Aufnahme in die Reihe rerum religionum. Nicht zuletzt danke ich meinen Eltern, meinen Brüdern, Tom, Hanna und Alexander: Eure Unterstützung und Liebe haben mich während des gesamten Projekts und weit darüber hinaus begleitet, und ich danke euch von Herzen.
I Einleitung
1 Ausgangslage: Fasten in Deutschland Fasten ist eine Praxis, die in unterschiedlichen Formen seit tausenden von Jahren kultur- und religionsübergreifend beobachtet werden kann.1 Auch in den Texten des Alten und Neuen Testaments begegnet Fasten in einer Vielfalt von Kontexten: als Vorbereitung auf eine Gottesbegegnung (z.B. Elia in 1Kön 19), als Verstärkung des Gebets (z.B. Jer 14,12), als Zeichen von Sühne (z.B. Jona 3), als Ausdruck der Trauer (z.B. 2Sam 12,15b-23) oder als eine in den Alltag eingebundene religiöse Praxis (z.B. Mk 2,18-22). Im antiken Judentum hatte Fasten einen festen Platz, ebenso im frühen Christentum. In der Alten Kirche war es einerseits als Reinigungsritus vor der Taufe verbreitet,2 andererseits entwickelte sich mit der vorösterlichen Fastenzeit auch eine kasuelle Verortung im Kirchenjahr.3 Ab der Reformation, in der Fasten als mögliches Einfallstor für Werkgerechtigkeit kritisiert wurde, spielte es im evangelischen Raum über Jahrhunderte nur noch eine marginale Rolle. Erst in den 1980er Jahren wurde Fasten wieder populärer, wenn auch in veränderter Form. An »7 Wochen Ohne«, der Fastenaktion der Evangelischen Kirche in Deutschland, beteiligen sich nach eigenen Angaben jedes Jahr mehrere Millionen Menschen.4 Sie beschäftigen sich in der Passionszeit mit einem jährlich wechselnden Motto, 2020 lautete es beispielsweise »Zuversicht! Sieben Wochen ohne Pessimismus«.5 An der Aktion »7 1
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Vgl. Freiberger, Oliver: [Art.] Fasten I: Religionsgeschichtlich, in: Hans Dieter Betz u.a. (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart, Band 3 (Tübingen: Mohr Siebeck 4 2000), S. 40, S. 40; Bieritz, Karl-Heinrich: Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart (München: C.H. Beck 7 2005), S. 102. Vgl. Gerlitz, Peter: [Art.] Fasten/Fasttage I. Religionsgeschichtlich, in: Gerhard Krause u.a. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Band XI (Berlin/New York: Walter de Gruyter 1983), S. 42–45, S. 42. Vgl. Spinks, Brian D.: The Growth of Liturgy and the Church Year, in: Augustine Casiday/ Frederick W. Norris (Hg.): The Cambridge History of Christianity. Vol. 2: Constantine to c. 600 (Cambridge: Cambridge University Press 2007), S. 601–617, S. 614. Vgl. https://7wochenohne.evangelisch.de/die-evangelische-fastenaktion-7-wochen-ohne, zuletzt abgerufen am 13.01.22. Vgl. https://7wochenohne.evangelisch.de/aktionsarchiv, zuletzt abgerufen am 13.01.22.
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Antonia Rumpf: Wozu fasten?
Wochen anders leben« des Vereins Andere Zeiten nehmen ca. 20000 Menschen pro Jahr teil. Das Motto dieser Fastenaktion ist ein Zitat von Ödön von Horváth: »Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur so selten dazu.«6 Das katholische bischöfliche Hilfswerk Misereor ruft bereits seit 1958 jährlich zu einer Fastenaktion auf, in deren Zentrum das Sammeln einer Fastenkollekte steht, die an ausgewählte Hilfsorganisationen in jährlich wechselnden Partnerländern fließt.7 Seit 2013 existiert zudem die ökumenische »Aktion Klimafasten«. Unter dem Motto »Soviel du brauchst« möchte sie die Teilnehmer*innen zu nachhaltigerem Handeln anregen.8 Bereits im kirchlichen und religiösen Kontext lässt sich damit ein breites Spektrum von Fasteninitiativen beobachten: Vom Fokus auf die Frage, wie man »eigentlich« sein und leben möchte (»7 Wochen anders leben«, »7 Wochen Ohne«) über die solidarische Verbundenheit mit Menschen in anderen Ländern (Misereor-Fastenaktion) bis hin zur Sorge um Klima und Nachhaltigkeit (Klimafasten). Doch Fasten ist in der Moderne auch außerhalb von Christentum und Kirche verbreitet. So ergab eine statistische Erhebung von Forsa im Auftrag der DAK-Gesundheit im Jahr 2021, dass 47 % der Befragten schon mehrfach für einige Wochen auf ein bestimmtes Genussmittel oder Konsumgut verzichtet hatten, weitere 17 % hatten dies bisher einmal getan (2020: 44 % bzw. 17 %; 2019: 45 % bzw. 19 %).9 Weitere 12 % hatten es zwar noch nie getan, würden es aber gerne einmal ausprobieren.10 ›Fasten‹ wird in den seit 2012 jährlich durchgeführten Forsa-Erhebungen als der »über mehrere Wochen andauernde[] gezielte[] Verzicht auf ein bestimmtes Genussmittel oder Konsumgut«11 definiert. Die Bereitschaft zum Fasten in diesem Sinne ist, das zeigen die erhobenen Daten, in Deutschland insgesamt hoch. Fasten wird überwiegend als sinnvolle Praxis angesehen: 2021 fanden 20 % der Befragten Fasten »sehr sinnvoll« und 45 % »sinnvoll« (2020: 21 %/44 %; 2019: 23 %/40 %).12 In den Forsa-Studien zeichnet sich zudem klar ab, dass die beiden am häufigsten gewählten Verzichtsgegenstände mit deutlichem Abstand Alkohol (2021: 73 %; 2020: 65 %; 2019: 73 %) und Süßigkeiten sind (2021: 68 %; 2020: 67 %; 2019: 67 %). Es folgen Fleisch (54 %; 47 %; 46 %), Rauchen (45 %; 38 %; 38 %), Fernsehen (39 %; 37 %; 39 %), die private Nutzung von Computer oder Internet (24 %; 29 %; 29 %) und das
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Vgl. https://www.anderezeiten.de/aktionen/initiativen-zum-kirchenjahr/fastenzeit/geschic hte-der-fastenaktion, zuletzt abgerufen am 13. 01.22. Vgl. https://www.misereor.de/ueber-uns/geschichte#c1144, zuletzt abgerufen am 13.01.22. Vgl. https://www.ekd.de/kirchen-rufen-zur-aktion-klimafasten-2019-auf-43428.htm, zuletzt abgerufen am 13.01.22. Vgl. a.a.O., S. 4. Vgl. forsa Fastenumfrage 2021, abrufbar unter https://www.dak.de/dak/download/forsa-um frage-2426954.pdf (zuletzt abgerufen am 13.01.2022), S. 3. Forsa 2021, S. 2. Vgl. ebd.
I Einleitung
Auto (24 %, 19 %; 20 %).13 2021 gaben 7 % an, aufgrund der Corona-Pandemie eine höhere Fastenbereitschaft zu verspüren, während 8 % eine geringere Bereitschaft angaben. Die überwiegende Mehrheit von 84 % antwortete, die Pandemie habe keinerlei Einfluss auf ihre Fastenbereitschaft.14 Die weite Verbreitung von Fastenvorhaben, die auch einen gesundheitlichen Aspekt aufweisen, könnte damit in Zusammenhang stehen, dass sich im Laufe des 19. Jahrhunderts im Kontext der Naturheilkundebewegung das Heilfasten entwickelte: Fasten trat damit auch als gesundheitliche Maßnahme ins Bewusstsein der Menschen und ist auch bis heute als solche präsent – z.B. durch von Heilfastenkliniken angebotene Kuren, aber ebenso in Form einer kaum überschaubaren Fülle an Ratgeber- und Anleitungsliteratur zu Heilfasten, Intervallfasten und weiteren gesundheitsbezogenen Fastenformen. Zugleich begegnen jedoch auch Fastenvorhaben, die eher einen Bezug zum Lebensstil aufweisen, z.B. der Verzicht auf Fernsehen, Computer und Internet oder auf das Autofahren. Bei letzterem lässt sich auch eine Motivation aus Nachhaltigkeitsüberlegungen heraus vermuten – allerdings sind die Forsa-Umfragen insgesamt knapp gehalten und fragen nicht nach den Motivationen der Teilnehmer*innen. Eine ausführlichere quantitative Erhebung zum Fasten wurde 2020 vom Religionssoziologen Patrick Heiser durchgeführt. Heiser nennt »drei Konstanten des spätmodernen Fastens, die in allen untersuchten Gruppen vergleichbar häufig zu finden sind: ein temporärer Verzicht auf Genussmittel wie Alkohol und Süßigkeiten, eine subjektbezogene Fastenmotivation und eine fastenbedingte Steigerung des körperlichen Wohlbefindens.«15 Diese Aspekte ziehen sich unabhängig von Religiosität und Alter durch sein gesamtes Sample. Von den Teilnehmer*innen an Heisers Studie hatten 72,4 % bereits mindestens einmal gefastet, 58,7 % mehrfach. 16,7 % hatten noch nie gefastet, aber vages (12,7 %) oder sogar starkes (4 %) Interesse, es einmal auszuprobieren.16 Heiser hält fest: »Gefastet wird […] in allen Altersgruppen, Schichten und Milieus. Lediglich das Geschlecht scheint die Fastenerfahrung zumindest tendenziell zu beeinflussen: So haben 75,2 Prozent der Frauen bereits mindestens einmal gefastet, aber nur 67,1 Prozent der Männer; vice versa geben lediglich 8,8 der Frauen an, noch nie gefastet und dies auch zukünftig nicht vorzuhaben, aber 15,4 Prozent der Männer […]. Zusammen mit der Beobachtung, dass an der Befragung deutlich mehr Frauen teilgenommen haben als Männer, lässt dieser Befund vermuten, dass Frauen nicht nur ein größeres Interesse am Fasten zeigen, sondern es auch häufiger praktizie-
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Vgl. a.a.O., S. 6. Vgl. a.a.O., S. 8. Heiser, Patrick: Fasten in Deutschland. Ein Forschungsbericht, 2020, abrufbar unter https:// www.researchgate.net/publication/346036103 (zuletzt abgerufen am 05.08.2021), S. 1. Vgl. a.a.O., S. 5.
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Antonia Rumpf: Wozu fasten?
ren als Männer. Empirisch evident ist diese Vermutung jedoch lediglich in ihrer Tendenz.«17 In Heisers Sample sind 28,3 % der Befragten katholisch, 25,4 % evangelisch, 2 % muslimisch und 1,8 % Angehörige einer anderen Religionsgemeinschaft, die übrigen Befragten sind konfessionslos.18 Ein starker Zusammenhang bestand zwischen Religionszugehörigkeit und Fastenerfahrung: So hatten 94,7 % der befragten Muslim*innen eigene Fastenerfahrungen, bei den Katholik*innen waren es 80,4 % und bei den Protestant*innen 70,7 %. Von den Konfessionslosen verfügten jedoch auch 66,2 % über Fastenerfahrung. Eine ähnlich klare Korrelation lässt sich in Bezug auf Religiosität beobachten: So hatten 87,2 % der stark religiösen Befragten Fastenerfahrung, 79,2 % der moderat religiösen, 64,4 % der moderat nicht religiösen und 61,8 % der nicht religiösen.19 Bezüglich der Wahl der Verzichtsgegenstände kommt Heisers Studie zu recht ähnlichen Ergebnissen wie die Forsa-Umfragen: Das größte Interesse besteht am Verzicht auf einzelne Genussmittel, hauptsächlich Süßigkeiten (62,4 %) und Alkohol (54,5 %).20 Weiterhin wird der Verzicht auf Fleisch (32,9 %), Rauchen (15,2 %), Drogen (11,4 %) und Kaffee (2,7 %) oder auch auf den Konsum von Medien (13,8 %) angegeben. Bemerkenswert ist zudem das sehr breite Spektrum von selteneren Verzichtsgegenständen, das in einem Freitextfeld erhoben wurde: »Jeweils mehrfach, aber von weniger als einem Prozent der Befragten genannt wurden in Bezug auf die Ernährung der Verzicht auf Gluten, Fett, Salz, Fastfood, Softdrinks, verarbeitete Lebensmittel, reichhaltiges Essen, Frühstück und Abendbrot. In Bezug auf das Konsumverhalten wurde mehrfach der Verzicht auf Shoppen, Veranstaltungsbesuche, Restaurantbesuche, Fliegen, Plastik, Produkte von Nestlé, Fernsehkrimis und Hörbücher genannt. In Bezug auf spezifische Praktiken Grübeln, Hektik, Lästern, Meckern, Lügen, Streiten, Faulheit, Telefonieren, Benutzung von Aufzügen und Rolltreppen, Musik, Sex und Masturbation. Ein Befragter möchte zudem auf seine Wohnung verzichten und während der Fastenzeit in einem Zelt leben.«21
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Ebd. Vgl. a.a.O., S. 2. Vgl. a.a.O, S. 5. Die Religiosität wurde anhand von vier Aspekten erfragt: Die kognitive Zustimmung zu standardisierten Glaubensaussagen, die religiöse Selbsteinschätzung, die Häufigkeit des Gottesdienstbesuchs und die Häufigkeit des persönlichen Gebets. Durch Kombination dieser Faktoren ergibt sich ein Index von ›nicht religiös‹ über ›moderat nicht religiös‹ und ›moderat religiös‹ bis hin zu ›stark religiös‹, vgl. a.a.O., S. 2f. Vgl. a.a.O., S. 6. A.a.O., S. 8.
I Einleitung
Welcher Religion die Befragten angehören und wie stark religiös sie sind, hat keine Auswirkungen auf die Wahl der Verzichtsgegenstände; auch die anderen erhobenen soziodemographischen Angaben (z.B. formale Bildung, monatliches Einkommen, Familienstand) stehen in keinem Zusammenhang damit. Eine Korrelation gibt es lediglich mit dem Alter der Befragten: Unter den älteren Befragten ist der Verzicht auf Genussmittel verbreiteter als unter den jüngeren, die stattdessen eine größere Affinität zum Verzicht auf Nahrungsmittel, umweltschädigendes Verhalten und Medienkonsum zeigen.22 Heiser versteht dies als »Hinweis auf eine nachwachsende Generation von Fastenden […], die neue Verzichtsoptionen in die tradierte Praxis des Fastens einbringt.«23 Weiterhin fragte Heiser danach, welche Faktoren die Befragten zum Fasten motivieren. Seine Studie ermöglicht so erste Antworten auf die Frage, warum Fasten wieder an Beliebtheit gewinnt. Die klaren Spitzenreiter unter den Beweggründen zum Fasten sind laut Heisers Studie subjektbezogene Motivationen, die 88,9 % der Fastenden nennen. Darunter fällt die bereits erwähnte Verbesserung des körperlichen (81 %) sowie des seelischen Wohlbefindens (68 %). Ein zweites Motivationsbündel ist Gesellschaftskritik, die Konsumkritik (26,5 %) sowie Umwelt- und Naturschutz (23,5 %) umfasst. Die Motivation aus einer (säkularen) Tradition heraus spielt mit 8,3 % die geringste Rolle beim Entschluss zu fasten. Religiöse Motivationen werden von 17 % der Befragten angegeben, zu ihnen gehört das Verständnis vom Fasten als religiöser Pflicht (12,9 %) oder als Möglichkeit, den eigenen Glauben zu stärken (11,7 %).24 Religiöse Motivationen spielen für die befragten Muslim*innen die größte Rolle: Von ihnen fasten 86,5 % aus religiösen Gründen. Von den befragten Katholik*innen geben 27,2 % eine religiöse Fastenmotivation an, von den Protestant*innen 16,8 %, von den Konfessionslosen 3,8 %.25 In allen drei Konfessionen sind es zudem am häufigsten die stark Religiösen, die eine religiöse Fastenmotivation angeben (52,6 %), von den moderat Religiösen sind es 15,9 %.26 Zuletzt hat auch das Lebensalter Einfluss auf die Korrelation zwischen Fasten und Religiosität: Eine religiöse Motivation findet sich bei den Befragten unter 30 häufiger (23,1 %) als bei den Befragten zwischen 30 und 49 (15,1 %) und den Befragten über 50 (15,7 %). Zuletzt befragte Heiser die Teilnehmenden auch nach den von ihnen beobachteten Effekten des Fastens. Bei 64,9 % der Befragten trat die erhoffte Steigerung des Wohlbefindens tatsächlich ein, bei 57,9 % eine Steigerung des seelischen Wohlbe-
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Vgl. a.a.O., S. 7. Ebd. Vgl. a.a.O., S. 8. Vgl. a.a.O., S. 9. Vgl. ebd.
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Antonia Rumpf: Wozu fasten?
findens.27 In Bezug auf religiöse Aspekte des Fastens gaben 25,4 % der Befragten an, sich »Gott (teils) näher gefühlt« zu haben, sodass »von einer Religiositätssteigerung in der affektiven Dimension von Religion gesprochen werden [kann]. Seltener findet sich eine Religiositätssteigerung in der praktischen Dimension: Nur jede/r Fünfzehnte hat während der Fastenzeit häufiger Gottesdienste besucht als normalerweise (6,6 %), jede/r Zehnte hat häufiger gebetet (10,4 %). Das spätmoderne Fasten weist mithin eine nur geringe Anbindung an religiöse Kernpraktiken auf.«28 Die fastenbedingte Steigerung der Religiosität begegnet am häufigsten bei den stark Religiösen (69,9 %), bei den moderat Religiösen deutlich seltener (10,7 %). »Während des Fastens werden mithin insbesondere diejenigen religiöser, die ohnehin schon religiös waren.«29 Insgesamt beobachtet Heiser »eine bemerkenswerte Gestaltungs- und Deutungshoheit des fastenden Individuums.«30 Zugleich zeigt sich, dass überwiegend während institutionalisierter Fastenzeiten gefastet wird: Für jeweils gut drei Fünftel der Befragten ist das Fasten leichter zu beginnen, wenn es innerhalb eines traditionellen Zeitraums stattfindet (60,8 %) oder innerhalb einer Gruppe praktiziert wird (63,2 %). Ebenso macht beides es leichter, den Verzicht bis zum Ende durchzuhalten (Fastenzeit: 60,4 %; Fastengruppe: 62,9 %). Insgesamt 67,2 % der Befragten fasten während eines traditionellen Zeitraums – dieser Zeitraum ist mit 60,8 % am häufigsten die Passionszeit, deutlich seltener mit je 2,4 % Ramadan und Advent. Während kaum überraschend ist, dass stark Religiöse zu 84,5 % und moderat Religiöse zu 72 % während eines traditionellen Zeitraums fasten, ist bemerkenswert, dass dies auch eine Mehrheit der moderat Nicht-Religiösen (61 %) und die Hälfte der Nicht-Religiösen (50,6 %) tun. Auffällig ist dagegen, dass nur 36,3 % der Befragten in einer Fastengruppe fasten – obwohl die Ansicht, dass Fastengruppen das Fasten leichter macht, weit verbreitet ist.31 »Pointiert lässt sich daher sagen: In der späten Moderne wird synchron gefastet, aber alleine – zwar fasten die Menschen mehrheitlich während traditioneller Zeiträume, aber sie tun es je für sich.«32 Heiser resümiert: »Im historischen Vergleich zeigt sich eine bemerkenswerte Bedeutungsoffenheit des spätmodernen Fastens, in deren Rahmen wesentliche Aspekte vom fasten27 28 29 30 31 32
Vgl. a.a.O., S. 12. Ebd. A.a.O., S. 13. A.a.O., S. 1. Vgl. a.a.O., S. 11. Ebd.
I Einleitung
den Individuum selbstbestimmt gestaltet werden. […] Die Analyse von Fastenmotivationen zeigt, dass spätmodernes Fasten mit stark divergierenden Bedeutungen versehen wird: Es kann zweckrational als gesundheitsfördernd, wertrational als glaubensstärkend, affektuell als wohltuend für die Seele und/oder traditional verstanden werden. Trotz seiner individuellen Gestaltung und Deutung wird auch spätmodernes Fasten jedoch nicht jenseits eines tradierten institutionellen Rahmens praktiziert. Vielmehr proklamieren Organisationen des religiösen Feldes Fastenzeiträume, die auch heute noch einen verbindlichen Charakter aufweisen: Nicht irgendwann fasten die Menschen, sondern im Wesentlichen vor Ostern oder im Ramadan.«33 Auch in der evangelischen Theologie wird die neue Beliebtheit des Fastens wahrgenommen und durchaus unterschiedlich eingeordnet. Manche Theologen betonen vor allem die Potenziale des Fastens. So sieht Peter Zimmerling die Möglichkeit, im Fasten neue Freiräume zu erschließen: »Indem es in Distanz zum Sichtbaren bringt, verschafft es dem Fastenden den nötigen Freiraum, um sich mit den Dingen der unsichtbaren Welt Gottes zu beschäftigen.«34 Kristian Fechtner deutet moderne Fastenaktionen hingegen als Beispiel für neue kirchenjahresorientierte Praktiken und als »Beleg dafür, dass die Leiblichkeit des Glaubens nicht nur ein theologischer Topos ist, sondern nach heutigen Ausdrucksformen drängt«.35 Manfred Josuttis sieht Fasten als Bewegung »weg von den irdischen Lebensmitteln, hin zu himmlischer Lebenskraft«.36 Er steht der Aktion »7 Wochen Ohne« jedoch eher kritisch gegenüber, da er sie »nicht als eine religiöse Methode«, sondern eher als »Methode der Selbststabilisierung«37 einordnet. Ähnlich urteilt Corinna Dahlgrün: »Die Askese scheint […] vielfach ihre Härten ebenso wie ihre Richtung verloren zu haben. Statt eine Methode zu sein, die geistlichen Fortschritt ermöglichen soll, wird sie häufig zum Ziel der Selbstfindung oder der Verbesserung der Lebensqualität eingesetzt.«38 Auch Günter Bader lehnt in Bezug auf das Fasten jede »vermeintlich höhere Evidenz aus der Überflußgesellschaft« und eine daraus abgeleitete »Reihe aufgeblähter Fastenmetaphern«39 ab. Aus seiner Sicht ist Fasten nur sinnvoll als »eine nichtme33 34 35 36 37 38 39
A.a.O., S. 14. Zimmerling, Peter: Evangelische Spiritualität. Wurzeln und Zugänge (Göttingen: Vandenhoeck&Ruprecht 2003), S. 272. Fechtner, Kristian: Im Rhythmus des Kirchenjahres. Vom Sinn der Feste und Zeiten (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2007), S. 108. Josuttis, Manfred: Religion als Handwerk. Zur Handlungslogik spiritueller Methoden (Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2002), S. 99. A.a.O., S. 92. Dahlgrün, Corinna: Christliche Spiritualität. Formen und Traditionen der Suche nach Gott (Berlin/Boston: Walter de Gruyter 2 2018), S. 78. Bader, Günter: [Art.] Fasten IV. Ethisch, in: Hans Dieter Betz u. A. (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart, Band 3 (Tübingen: Mohr Siebeck 4 2000), S. 44f., S. 45.
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Antonia Rumpf: Wozu fasten?
taphorische, nichtfunktionale Handlung, die […] ihren Sinn in sich selbst trägt«40 – doch in diesem Sinne begegne es heute nur noch höchst selten. Einen in erster Linie empirisch-analytischen Blick auf das Fasten entwickelt Julia Koll, die Zuschriften von »7 Wochen Ohne«-Teilnehmer*innen an das Büro der Aktion analysiert und dabei verschiedene Motive herausarbeitet: Erstens die Überwindung innerer Widerstände, zweitens die Freude über die eigene Disziplin und das Erreichen eines gesetzten Ziels, drittens ein Empfinden gesteigerter Freiheit von Gewohnheiten oder Zwängen, viertens das Gefühl gesteigerter Lebensqualität und fünftens ein intensiviertes religiöses Erleben der Fastenzeit.41 Jedoch hält sie auch fest, dass das Osterfest in den Briefen der Fastenden quasi keine Rolle spiele: »Wenn überhaupt auf das Kirchenjahr Bezug genommen wird, dann wird die Fastenzeit als die ›Zeit vor Ostern‹ beschrieben. Und dies hängt wohl weniger an einer Unverträglichkeit der Themen als vielmehr daran, dass das Fasten als spätmoderne geistliche Übung sich nicht auf das Osterereignis hin entwickelt.«42 Andrea Bieler deutet Fasten als »Körpertechnik coram Deo«43 und plädiert für einen multiperspektivischen Blick, der die empirisch beobachtbaren Praktiken und ihre subjektiven Deutungen, die Analyse normativer Vorstellungen sowie die politischen und gesellschaftlichen Kontexte der Praxis einschließt, um schließlich zu einer theologischen Deutung zu gelangen.44 Sie hält zudem fest, dass empirische theologische Studien zum Fasten bisher nicht vorliegen, jedoch nötig und wünschenswert wären, um die Erfahrungen von Fastenden zu erforschen.45
2 Forschungsanliegen und Forschungsfrage Die vorliegende Studie stellt diese empirische Erforschung des Phänomens ›Fasten‹ in den Mittelpunkt. Leitende Forschungsfrage ist: Wie und warum fasten christliche Menschen heute vor Ostern und welche Rolle spielt ihr Glaube dabei? Die Formulierung ist bewusst sehr weit gewählt, da es sich um die erste empirisch-theologische Erhebung zum Fasten handelt, die insofern auch felderschließenden Charakter hat. Aus der allgemeinen Frage resultieren folgende Forschungsinteressen:
40 41 42 43
44 45
Ebd. Vgl. Koll, Julia: »Ich tue mir nichts an, ich gönne mir etwas«. Fastenzeit als spätmoderne geistliche Übung, in: Praktische Theologie 49 Jg. (2014), Heft 1, S. 18–21, S. 19f. A.a.O., S. 21. Bieler, Andrea: Askese Postmodern. Körpertechniken coram Deo, in: Dies. u.a. (Hg.): Weniger ist mehr. Askese und Religion von der Antike bis zur Gegenwart (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015), S. 205–222. Vgl. a.a.O., S. 213f. Vgl. a.a.O., S. 221.
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Antonia Rumpf: Wozu fasten?
taphorische, nichtfunktionale Handlung, die […] ihren Sinn in sich selbst trägt«40 – doch in diesem Sinne begegne es heute nur noch höchst selten. Einen in erster Linie empirisch-analytischen Blick auf das Fasten entwickelt Julia Koll, die Zuschriften von »7 Wochen Ohne«-Teilnehmer*innen an das Büro der Aktion analysiert und dabei verschiedene Motive herausarbeitet: Erstens die Überwindung innerer Widerstände, zweitens die Freude über die eigene Disziplin und das Erreichen eines gesetzten Ziels, drittens ein Empfinden gesteigerter Freiheit von Gewohnheiten oder Zwängen, viertens das Gefühl gesteigerter Lebensqualität und fünftens ein intensiviertes religiöses Erleben der Fastenzeit.41 Jedoch hält sie auch fest, dass das Osterfest in den Briefen der Fastenden quasi keine Rolle spiele: »Wenn überhaupt auf das Kirchenjahr Bezug genommen wird, dann wird die Fastenzeit als die ›Zeit vor Ostern‹ beschrieben. Und dies hängt wohl weniger an einer Unverträglichkeit der Themen als vielmehr daran, dass das Fasten als spätmoderne geistliche Übung sich nicht auf das Osterereignis hin entwickelt.«42 Andrea Bieler deutet Fasten als »Körpertechnik coram Deo«43 und plädiert für einen multiperspektivischen Blick, der die empirisch beobachtbaren Praktiken und ihre subjektiven Deutungen, die Analyse normativer Vorstellungen sowie die politischen und gesellschaftlichen Kontexte der Praxis einschließt, um schließlich zu einer theologischen Deutung zu gelangen.44 Sie hält zudem fest, dass empirische theologische Studien zum Fasten bisher nicht vorliegen, jedoch nötig und wünschenswert wären, um die Erfahrungen von Fastenden zu erforschen.45
2 Forschungsanliegen und Forschungsfrage Die vorliegende Studie stellt diese empirische Erforschung des Phänomens ›Fasten‹ in den Mittelpunkt. Leitende Forschungsfrage ist: Wie und warum fasten christliche Menschen heute vor Ostern und welche Rolle spielt ihr Glaube dabei? Die Formulierung ist bewusst sehr weit gewählt, da es sich um die erste empirisch-theologische Erhebung zum Fasten handelt, die insofern auch felderschließenden Charakter hat. Aus der allgemeinen Frage resultieren folgende Forschungsinteressen:
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Ebd. Vgl. Koll, Julia: »Ich tue mir nichts an, ich gönne mir etwas«. Fastenzeit als spätmoderne geistliche Übung, in: Praktische Theologie 49 Jg. (2014), Heft 1, S. 18–21, S. 19f. A.a.O., S. 21. Bieler, Andrea: Askese Postmodern. Körpertechniken coram Deo, in: Dies. u.a. (Hg.): Weniger ist mehr. Askese und Religion von der Antike bis zur Gegenwart (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015), S. 205–222. Vgl. a.a.O., S. 213f. Vgl. a.a.O., S. 221.
I Einleitung
Erstens möchte ich erforschen, wie Christ*innen in der Gegenwart fasten: Verzichten sie auf etwas und wenn ja, auf was – und warum genau darauf? Fasten sie allein, mit Hilfe von Material, mit Unterstützung einer analogen oder digitalen Gruppe? Wie wirkt das Fasten sich auf ihr Leben aus, sowohl während der Passionszeit als auch über sie hinaus, und wie erleben sie diese Zeit im Kirchenjahr? Zweitens geht es mir darum, die tiefer liegenden Gründe herauszuarbeiten, aus denen Menschen fasten. Warum wird genau diese Praxis als sinnvoll, hilfreich oder bereichernd erlebt? Wie kamen die Befragten zum Fasten, und warum sind sie dabeigeblieben? Welche subjektive Bedeutung hat Fasten für sie? Drittens soll ein besonderer Fokus auf die Rolle des Glaubens im Fasten gelegt werden. Die quantitativen Erhebungen weisen darauf hin, dass die Motivation zum Fasten nicht unbedingt eine religiöse sein muss. Die Wahl der Fastengegenstände kann zum Beispiel einer Nachhaltigkeitslogik folgen wie der in den letzten Jahren beliebt gewordene Verzicht auf Plastik. Das Bemühen um Nachhaltigkeit wiederum kann einen religiösen Aspekt im Sinne der ›Bewahrung der Schöpfung‹ haben, es kann aber auch ein säkulares Unterfangen sein – selbst für eine gläubige Person. Die Motivationslage kann also, wie auch Julia Koll in ihrer Analyse von Zuschriften an »7 Wochen Ohne« herausarbeitet, durchaus komplex sein und in dieser Komplexität gilt es, die Rolle des Glaubens präzise und sensibel zu erfassen. Dazu kommt, dass gerade die kirchlichen bzw. kirchennahen Fasteninitiativen »7 Wochen Ohne« und »7 Wochen anders leben« sich darum bemühen, auch Menschen anzusprechen, die sich ansonsten eher in (Halb-)Distanz zur Kirche verorten.46 Heiser dagegen beobachtet, dass das Fasten in erster Linie für diejenigen Befragten religiöse Aspekte hat, die ohnehin bereits stark religiös sind, während die weniger Religiösen sich kaum dazu äußern. Wie stellt sich dies in Interviews mit Fastenden dar? Um das weite Forschungsfeld bearbeiten zu können, werden zudem zwei Einschränkungen vorgenommen: Zum einen liegt der Fokus auf Menschen, die sich selbst als Christ*innen identifizieren. Ein interreligiöser Vergleich kann im Rahmen dieser Studie nicht geleistet werden. Zum anderen werden hier nur solche Fastenpraktiken untersucht, die in der vierzigtägigen Passionszeit vor Ostern stattfinden, da es gerade diese Praktiken sind, die im kirchlichen und religiösen Bereich an Bedeutung gewinnen. Durch diesen Fokus können zudem zeitgenössische Fastenaktionen mit in die Analyse einbezogen werden.
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Vgl. Ullrich, Karin: Von einer Stammtischidee… In: Björn U. Rahlwes/Thomas Hammerschmidt (Hg.): Das Fastenlesebuch. Weniger kann mehr sein ‒ Vom Reichtum des Verzichts im Angesicht des Überflusses (Frankfurt a.M.: Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik 2003), S. 247–254, S. 251; Interview mit Frank Hofmann, Chefredakteur von Andere Zeiten e. V., vom 07.02.2019, 18:40-20:56.
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3 Methodik und Aufbau der Studie Da das Hauptanliegen dieser Studie nicht die Überprüfung bereits vorhandener Theorien oder Hypothesen, sondern die Erforschung individueller Fastenerfahrungen ist, empfiehlt sich zunächst eine qualitative Herangehensweise. Als Methode zur Erhebung der Daten wurden teilnarrative leitfadengestützte Interviews gewählt: Der narrative Charakter der Interviews lässt den Befragten möglichst viel Raum, das Thema Fasten anhand ihrer ganz persönlichen Relevanzstrukturen zu entfalten. Dies macht es leichter, einen Einblick in ihre Erfahrungen zu erhalten.47 Zugleich wird durch den flexibel handhabbaren Leitfaden sichergestellt, dass die Interviews untereinander vergleichbar sind und die für die Forschungsinteressen zentralen Themen in allen Interviews angesprochen werden. Ebenso macht der Leitfaden auch meine eigenen Forschungsinteressen sichtbar und damit transparent.48 Als Auswertungsmethode wurde die Dokumentarische Methode gewählt, die als Verfahren der rekonstruktiven Sozialforschung darauf ausgelegt ist, subjektive Orientierungsmuster der Befragten herauszuarbeiten und zu interpretieren.49 Die Dokumentarische Methode ermöglicht durch den Fokus auf Orientierungen zudem, bei der Erforschung der individuellen Erfahrungen zugleich eine überindividuelle Perspektive einzunehmen: Sie ist nicht auf die möglichst detailreiche Darstellung von Einzelfällen spezialisiert, sondern auf die Herausarbeitung von Typiken.50 Die Erfahrungen der Fastenden sollen nicht nur auf der individuellen Ebene jedes Interviews erforscht werden, sondern es soll auch eine methodisch kontrollierte Abstraktion vom Einzelfall erfolgen. Darauf basierend kann dann das jeweilige gesellschaftliche Bezugsproblem einer Typik herausgearbeitet werden. Dazu wird eine systemtheoretische operativ-funktionale Perspektive im Anschluss an Armin Nassehi eingenommen: »Die Grundfrage ist dann, für welches Problem diese Praxis ei-
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Vgl. Przyborski, Aglaja/Wohlrab-Sahr, Monika: Qualitative Sozialforschung. Ein Arbeitsbuch (München: Oldenbourg 4 2014), S. 80, Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung. Einführung in qualitative Methoden (Opladen/Toronto: Verlag Barbara Budrich 10 2021), S. 94, Nohl, Arnd-Michael: Interview und Dokumentarische Methode. Anleitungen für die Forschungspraxis (Wiesbaden: Springer VS 5 2017), S. 25. Vgl. Fontana, Andrea/Frey, James H.: The Interview. From Structured Questions to Negotiated Text, in: Norman K. Denzin/Yvonna S. Lincoln (Hg.): Collecting and Interpreting Qualitative Materials (Thousand Oaks/London/New Delhi: Sage 2 2003), S. 61–106, S. 91. Im Sinne einer solchen reflexiven Forschungspraxis formuliere ich in dieser Studie auch in der 1. Person Singular, wenn es darum geht, meine eigenen Positionen und Interessen sichtbar zu machen. Vgl. z.B. Nohl: Interview und Dokumentarische Methode, S. 4. Vgl. Vogd, Werner: Systemtheorie und rekonstruktive Sozialforschung – eine Brücke (Opladen/Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich 2011), S. 40.
I Einleitung
ne Lösung sein kann.«51 Für welche latenten Bezugsprobleme ist Fasten im Erleben der Befragten eine Lösung? In welchen Kontexten wird es als sinnstiftend, hilfreich oder interessant empfunden und warum? Dies herauszuarbeiten, ist nach Nassehi die eigentliche Leistung empirischer Forschung.52 Auf dieser Basis können die empirischen Befunde theoretisiert und im Anschluss daran ins Gespräch mit soziologischen und theologischen Theorien gebracht werden. Um die empirische Untersuchung des Fastens auf sichere Füße zu stellen, beginnt die Studie mit einem einführenden Kapitel (II), das den theoretischen Hintergrund für die empirische Untersuchung des Fastens erläutert. Es wird in grundlegende Definitionen des Fastens eingeführt, auch werden zentrale biblische und kirchenhistorische Aspekte dargestellt. Dann werden vier zeitgenössische religiöse Fastenaktionen anhand ihrer Materialien vorgestellt und charakterisiert: Die EKDgetragene Initiative »7 Wochen Ohne«, das Programm »7 Wochen anders leben« des Vereins Andere Zeiten, die katholische Misereor-Fastenaktion sowie die ökumenische »Aktion Klimafasten«. Im Anschluss werden praktisch-theologische Überlegungen zum Fasten und zu den Fastenaktionen im Sinne eines Forschungsüberblicks skizziert. Auf dieser Basis wird schließlich das Erkenntnisinteresse für die empirische Untersuchung detaillierter formuliert. Kapitel III bildet mit der Empirie den Schwerpunkt der Studie. Im methodologischen Abschnitt wird die Studie zunächst metatheoretisch reflektiert und die Perspektive des bereits erwähnten operativen Funktionalismus erläutert. Danach werden die gewählten Methoden zur Erhebung der Daten (teilnarrative leitfadengestützte Einzelinterviews) sowie zu ihrer Interpretation (Dokumentarische Methode) begründet und vorgestellt. Daran schließt sich die Darstellung der Ergebnisse der empirischen Studie an. Für diese Studie wurden insgesamt 17 Interviews geführt. Aus ihrer Interpretation anhand der Dokumentarischen Methode ergaben sich drei Typiken, in denen das Fasten jeweils von einer bestimmten Orientierung geprägt wird: der Orientierung an Prinzipien, an Selbsterfahrung oder an Relationen. Für jede Typik konnte zudem ein latentes Bezugsproblem herausgearbeitet werden. So wird in der Gruppe der Prinzipienorientierten die Differenz zwischen Überzeugung und Handeln bearbeitet: Die Befragten dieser Gruppe haben klare ethische Prinzipien, machen aber häufig die Erfahrung, diese Prinzipien nicht einfach in ihrem Leben umsetzen zu können. Im Fasten können sie ihr Verhältnis zu ihren Grundsätzen und zu ihrem Scheitern daran reflektieren und neu sondieren. Die Orientierung an Selbsterfahrung nimmt dagegen Bezug auf Herausforderungen, vor denen Individuen in der Moderne stehen, insbesondere die Tatsache, dass Individuen in
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Nassehi, Armin: Rethinking Functionalism. Zur Empiriefähigkeit systemtheoretischer Soziologie, in: Herbert Kalthoff u.a. (Hg.): Theoretische Empirie. Zur Relevanz qualitativer Forschung (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008), S. 79–106, S. 99. Ebd.
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Antonia Rumpf: Wozu fasten?
der funktional differenzierten Gesellschaft in der Regel nicht »als Ganze« adressiert werden. Fasten ermöglicht ihnen im Gegensatz dazu eine positive Selbsterfahrung. In der Gruppe der Relationsorientierten stellt das Bezugsproblem die Sehnsucht nach Resonanz dar. Fasten – insbesondere das Fasten in Gruppen, das bei dieser Typik eine zentrale Rolle spielt – macht in ihrem Erleben die Erfahrung von Resonanz wahrscheinlich. In Kapitel IV werden die Ergebnisse der Studie praktisch-theologisch reflektiert und auf der Basis der analysierten Bezugsprobleme des Fastens mit theologischen Überlegungen ins Gespräch gebracht, um eine Rückbindung des erforschten Praxisfeldes an die Theologie zu gewährleisten.53 Für die Orientierung an Prinzipien stellen die Diskussion um Lebensführung und Ethik, aber auch die theologische Rede von der Sünde wichtige Bezugspunkte dar. Im Kontext der Selbsterfahrungsorientierten fällt auf, dass die positive Selbsterfahrung der Fastenden beinahe immer an eine körperliche Form des Fastens gebunden ist, weshalb hier auf Literatur zu Körperlichkeit Bezug genommen wird. Auch das Thema Gesundheit und Krankheitsprävention findet hier Erwähnung, da es gerade in dieser Gruppe eine häufige Motivation zum Fasten darstellt. Basierend auf dem Bezugsproblem der Relationsorientierten wird Fasten sodann resonanztheoretisch interpretiert und die These aufgestellt, dass Fasten im Anschluss an Victor Turner als liminale Praxis verstanden werden kann, die gerade in Fastengruppen das Entstehen von communitas wahrscheinlich macht. Dies wiederum begünstigt die Entstehung von Resonanzerfahrungen. Kapitel V schließt die Arbeit mit einem Überblick über ihren Ertrag ab.
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Vgl. Schulz, Claudia: Empirische Forschung als Praktische Theologie. Theoretische Grundlagen und sachgerechte Anwendung (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2013), S. 58.
II Theoretischer Hintergrund: christliches Fasten und die vorösterliche Fastenzeit
Bevor die empirische Untersuchung des Phänomens »Fasten in der Gegenwart« beginnen kann, stellt sich die Frage, welche Gesichtspunkte berücksichtigt werden müssen, um sie sinnvoll zu gestalten. Dieser theoretischen Sensibilisierung dient dieses Kapitel. So ist es wichtig, ein Gespür dafür zu entwickeln, was die Fastenlandschaft heute prägt und dementsprechend für die Befragten relevant sein könnte: Nur nach einer ersten Erschließung des Forschungsfelds kann ein angemessener Leitfaden für die Interviews formuliert werden.1 Doch das Kapitel erfüllt auch zwei weitere Funktionen: Zum einen ist es Teil reflexiver Forschungspraxis, eigene Assoziationen und erste Ideen für mögliche Interpretationen oder Aspekte, die vertieft werden könnten, festzuhalten. Auf diese Weise wird meine eigene Perspektive transparent und fließt nicht später unreflektiert in die Analyse des empirischen Materials ein.2 Da diese Arbeit einen ersten empirischen Blick auf zeitgenössische christliche Fastenpraktiken wirft und deshalb eine bewusst offene Forschungsfrage stellt, ist dies ein wichtiger Schritt. Zum anderen bilden die Inhalte dieses Kapitels nicht nur die Grundlage für die Erstellung des Interviewleitfadens, sondern auch für die spätere praktisch-theologische Reflexion der erhobenen Daten. Auch dafür ist ein Überblick über theoretische Kernaspekte nötig, mit denen die empirischen Befunde ins Gespräch gebracht werden können. Diese Kernaspekte lassen sich in drei Bereiche einteilen: erstens grundlegende und historische Dimensionen, die bis heute den (theologischen) Diskurs um das Fasten prägen, zweitens eine Darstellung der Fastenaktionen, die v.a. seit den 1980er Jahren zu einer Wiederentdeckung des Fastens beigetragen haben, und drittens evangelisch-theologische Reaktionen auf diese Wiederentdeckung. Zudem sollen einige (religions-)soziologische Aspekte benannt werden, von denen vermutet werden kann, dass sie die Art und Weise der Wiederentdeckung des Fastens mitprägen und die daher den Hintergrund der theologischen Stellungnahmen zur Wiederentdeckung bilden.
1 2
Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S. 39f. Vgl. Knoblauch, Hubert: Qualitative Religionsforschung (Paderborn: Schöningh 2003), S. 31.
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Antonia Rumpf: Wozu fasten?
1 Grundlegende und historische Aspekte a) Allgemeine Definitionen des Phänomens Fasten Fasten ist eine »universal zu belegende Kulturtechnik«3 und wird religionsgeschichtlich im Allgemeinen als »völlige Enthaltung von Speise und (in der Regel) Trank aus kultischen Gründen«4 verstanden. Etymologisch weisen die Termini aus dem Griechischen, Lateinischen und Sanskrit auf Nüchternheit und Leere hin, die aus dem Hebräischen und Arabischen zusätzlich auf einen allgemeinen Stillstand körperlicher Funktionen – neben der Nahrungsaufnahme v.a. der Sexualität.5 Religions- und kulturübergreifend lassen sich unterschiedliche Formen des Fastens beobachten. Dabei gingen viele Formen vermutlich ursprünglich auf ein kathartisches Motiv zurück: In der Antike galten Nahrungsmittel als potenzielle Träger schädlicher Kräfte, weshalb man sich der Nahrung vor besonderen oder kritischen Momenten des Lebens (wie Geburten, Initiationsriten, Hochzeiten oder Opferrituale) enthielt, um sich nicht zu gefährden. Im frühen Christentum ist das Fasten vor der (Erwachsenen-)Taufe das prominenteste Beispiel für dieses kathartisch ausgerichtete Fasten.6 Eine zweite Fastenform ist die des ekstatischen Fastens, ein meist länger anhaltendes Fasten mit dem Ziel, sich in einen veränderten Bewusstseinszustand zu versetzen und durch eine Vision in Kontakt zur Transzendenz zu treten. Diese begegnet z.B. bei Indigenen Menschen in Nordamerika, Opferpriestern im antiken China oder im Hinduismus, aber auch bei wichtigen Propheten monotheistischer Religionen, z.B. Mose, Mohammed oder Buddha, weshalb es auch als prophetisches Fasten bezeichnet wird. Im Christentum ist das in den synoptischen Evangelien überlieferte Fasten Jesu vor dem Beginn seines öffentlichen Wirkens das wichtigste Beispiel.7 Eine ethische Dimension erhält das Fasten, wenn es inhaltlich auf die Sühne von Schuld bezogen wird. Dies begegnet v.a. im Judentum und Christentum, aber auch im islamischen Ramadan und im Buddhismus. Schließlich ist die letzte überreligiös beobachtbare Form des Fastens das Trauerfasten.8 Zieht man die diversen kulturellen Prägungen dieser verschiedenen Fastenarten in Betracht, ergibt sich insgesamt ein äußerst vielfältiges Bild.9
3 4 5 6 7 8 9
Freiberger: [Art.] Fasten, S. 40. Gerlitz: [Art.] Fasten, S. 42. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., S. 42f. Vgl. a.a.O., S. 43. Vgl. a.a.O., S. 40 sowie Tamney, Joseph B.: Fasting and Dieting. A Research Note, in: Review of Religious Research, Vol. 27, No. 3 (1986), S. 255–262, S. 255.
II Theoretischer Hintergrund: christliches Fasten und die vorösterliche Fastenzeit
Zudem sollte ein Aspekt erwähnt werden, der das Fasten nicht nur innerhalb des religiösen Systems betrachtet, sondern im Kontext von Ernährung allgemein: Während Fasten gerade in der soziologischen, z.T. aber auch (modernen) theologischen Forschung häufig als Methode gedeutet wurde, aus der Not des in präindustriellen Gesellschaften allgegenwärtigen Nahrungsmangels eine Tugend zu machen,10 wird aus der Geschichtswissenschaft vermehrt darauf hingewiesen, dass bei der Askese und damit auch beim Fasten gerade das Moment der freien Wahl des Verzichts ausschlaggebend ist – und dass entsprechend über den Lauf der Zeit hinweg hauptsächlich Menschen aus gut situierten Milieus als Asket*innen hervortraten, die nicht hätten fasten müssen.11 Der Historiker Rodney Stark formuliert pointiert: »Hungry peasants are starving, not fasting.«12 Für die Betrachtung zeitgenössischer Fastenaktionen kann es hilfreich sein, die Frage, ob Fasten auf Mangel oder Überfluss reagiert, zu reflektieren, denn sie verweist darauf, dass Fasten wie jede religiöse Praxis in einem wechselseitigen Verhältnis mit kulturellen, politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen steht, die in die Untersuchung der Praxis einbezogen werden müssen.
b) Biblische Grundlagen Im Alten Testament begegnet Fasten ( )צוםsowohl als Teil der öffentlichen als auch der privaten Religionsausübung.13 Es wird als völliger Verzicht auf Speise verstanden und ist zumeist auf einen Tag begrenzt.14 Gefastet wird in mehreren Kontexten: Klage über die eigene Schuld und Hoffnung auf Gottes Vergebung, Buße des sich in Bedrängung befindenden Volkes15 oder Trauer.16 Häufig geht das Fasten mit Beten einher (z.B. Jer 14,12; Neh 1,4; Esr 8,21.23)17 ; es kann zudem auch zugunsten ande10 11 12 13
14
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So z.B. Bader: [Art.] Fasten IV. Ethisch, S. 45. Vgl. Stark, Rodney: Upper Class Asceticism: Social Origins of Ascetic Movements and Medieval Saints, in: Review of Religious Research, Vol. 45, No. 1 (2003), S. 5–19, S. 7. A.a.O., S. 16. Vgl. Stolz, Fritz: [Art.] צוםFasten, in: Ernst Jenni/Claus Westermann (Hg.) Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament, Bd. II (München/Zürich: Christian Kaiser Verlag/ Theologischer Verlag 1976), S. 536–538, S. 536 und Preuß, Horst Dietrich: [Art.] צום, in: HeinzJosef Fabry/Helmer Ringgren (Hg.): Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament, Band VI (Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer 1989), S. 959–963, S. 960. Vgl. Stolz: [Art.] צום, S. 536, Preuß: [Art.] צום, S. 959, Behm, Johannes: [Art.] νῆστις, νηστεύω, νηστεία, in: Gerhard Kittel (Hg.): Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Band 4 (Stuttgart: Kohlhammer 1942), S. 925–935, S. 929. Vgl. Stolz: [Art.] צום, S. 537. Vgl. Preuß: [Art.] צום, S. 969 und Behm: [Art.] νῆστις, νηστεύω, νηστεία, S. 928. Behm: [Art.] νῆστις, νηστεύω, νηστεία, S. 929 und Rothenberg, Friedrich Samuel/Coenen, Lothar: [Art.] Fasten, in: Lothar Coenen (Hg.): Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament (Wuppertal: Theologischer Verlag Rolf Brockhaus 1967), S. 306–308, S. 306.
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rer stattfinden (vgl. Ps 35,13; Est 4,16).18 All diese Motive lassen sich als »Form der Selbstminderung und Selbstdemütigung«19 vor Gott ansehen und entsprechen damit dem ethisch ausgerichteten Fasten. Einen anderen Akzent setzt das ekstatische bzw. prophetische Fasten vor einer Gotteserfahrung, das z.B. Mose und Elia durchführen.20 Bei beiden Fastenarten soll das Verhältnis der Fastenden zu Gott durch das Fasten beeinflusst werden. Fasten kann somit als Beziehungsgeschehen verstanden werden. In exilischer und vor allem nachexilischer Zeit war das Fasten ein fester Bestandteil der Rituale zu allen großen Festtagen.21 Zugleich setzt in nachexilischer Zeit ein Großteil der prophetischen Kritik am Fasten ein: Die Autoren der Texte wie Sach 7,414, Joel 2,12-14 oder Jes 58,1-12 vertreten die »Meinung, daß das Verhalten zu Gott (= ›Fasten‹) und zum Mitmenschen sich entsprechen solle, daß soziales Handeln ein Ausdruck rechten Fastens sei.«22 Fasten berührt in diesem Verständnis nicht nur die Beziehung zu Gott, sondern auch die Beziehung zu den Nächsten. Ebenso betonen die Texte, dass durch Fasten keine positive Reaktion Gottes erzwungen werden kann.23 Insgesamt erscheint Fasten im Alten Testament als eine selbstverständlich in der Frömmigkeit verwurzelte Praxis, die sichtbarer Ausdruck einer inneren Haltung der Demut gegenüber Gott ist und in seltenen Fällen und seiner extremen Form einer Gottesbegegnung vorausgeht. Dabei liegt es in Gottes Hand, ob den Fastenden ihr Anliegen gewährt wird oder ob Gott sich tatsächlich offenbart. Die Geschichte von David, der nach dem Ehebruch mit Bathseba fastet, um Buße zu tun und für die Heilung des erkrankten gemeinsamen Kinds zu bitten, illustriert dies: Obwohl David fastet, verstirbt das Kind, was David trotz seiner Trauer über diesen Tod ohne weiteres Aufbegehren akzeptiert (vgl. 2Sam 12,15b-23). Auch im Neuen Testament wird Fasten (νηστεία) als »der zeitweilige, religiös begründete Verzicht auf jegliche Nahrung«24 verstanden, ein »bildlich-übertr[agenes] Verständnis von ›Fasten‹ läßt sich nirgends eindeutig nachweisen«.25 In der Briefliteratur findet das Fasten keine explizite Erwähnung,26 auch wenn die Aufforderung
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26
Vgl. Preuß: [Art.] צום, S. 962. Preuß: [Art.] צום, S. 960. Vgl. Behm: [Art.] νῆστις, νηστεύω, νηστεία, S. 928. Vgl. Stolz: [Art.] צום, S. 538 und Preuß: [Art.] צום, S. 960–61. Preuß: [Art.] צום, S. 962. Vgl. ebd. Behm: [Art.] νῆστις, νηστεύω, νηστεία, S. 926. Zmijewski, Josef: [Art.] Fasten, in: Horst Balz/Gerhard Schneider (Hg.): Exegetisches Wörterbuch zum Neuen Testament, Band II (Stuttgart/Berlin/Köln: Verlag W. Kohlhammer 1992), Sp. 1144–1147, Sp. 1144. Vgl. Behm: [Art.] νῆστις, νηστεύω, νηστεία, S. 934.
II Theoretischer Hintergrund: christliches Fasten und die vorösterliche Fastenzeit
zu bzw. die Erwähnung von asketischem Leben in Röm 13,13 und 1Kor 9,24-27 auf eine implizit mitgedachte Fastenpraxis hinweisen könnte.27 In den Evangelien wird das Fasten vor allem an zwei Stellen thematisiert: Im Streitgespräch Mk 2,18-22 par und in der Bergpredigt in Mt 6,16-18. In Mk 2 wird Jesus gefragt, warum seine Jünger nicht regelmäßig fasten (gemeint ist hier wohl inoffizielles, privates Fasten, das z.B. in der pharisäischen Ausprägung des damaligen Judentums montags und donnerstags praktiziert wurde). Zmijewski versteht Jesu metaphorische Antwort, die Hochzeitsgäste würden nicht fasten, während der Bräutigam bei ihnen ist, so, dass Jesus das Fasten nicht generell ablehnt, Fasten als Ausdruck von Buße und Reue aber als nicht notwendig ansieht, da die Heilszeit schon angebrochen ist.28 In diesem Sinne stellt es keinen Widerspruch dar, dass dem Fasten in der zweiten wichtigen Stelle in Mt 6 eine durchaus hohe Bedeutung zugesprochen wird, indem es eine Trias mit Beten und Almosengeben bildet. Nichtsdestoweniger wendet Jesus sich gegen ein Fasten, das nur auf Aufmerksamkeitsgewinn abzielt, und stellt ihm daher das im Verborgenen geschehende, auf Gott ausgerichtete Fasten gegenüber.29 Diese Ausrichtung auf Gott deckt sich nicht zuletzt mit der Fastenpraxis Jesu, wie sie ausführlich in Mt 4,1-11 und Lk 4,1-13 überliefert ist: Jesus verbringt, »geführt vom Geist«, vierzig Tage allein fastend in der Wüste. Am Ende dieser Fastenzeit ist er im Stande, der Versuchung durch den »Widersacher« zu widerstehen und beginnt sein öffentliches Wirken. Dem aktuellen Stand der neutestamentlichen Wissenschaft nach sind die Geschehnisse in dieser Perikope nicht als historisch anzusehen. Es wird vielmehr die These vertreten, dass Jesus »kein Asket im Sinne des frühchristlichen Askesediskurses war«.30 Einzelne Praktiken Jesu wie der Verzicht auf einen festen Wohnsitz, Besitzlosigkeit und der Bruch mit seiner Herkunftsfamilie – die er teilweise auch von Jünger*innen forderte – werden weniger als asketische Praktiken verstanden denn als Einübung in die Realität der basileia Gottes, »einer Wirklichkeit, die jede menschliche Rechts- und Sozialordnung transformiert und als großes Fest imaginiert wird.«31 Doch auch wenn man die Passagen über Jesu Fasten nicht als biographische Notiz liest,32 ist die Bezugnahme auf das vierzigtägige Fasten Moses und Elias eindeutig. Ebenso lässt sich die Notiz in Apg 9,9, Pau27 28 29 30
31 32
Vgl. Böcher, Otto: [Art.] Fasten III.1 Ältestes Christentum, in: Hans Dieter Betz u.a. (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart, Band 3 (Tübingen: Mohr Siebeck 4 2000), S. 41f., S. 42. Vgl. Zmijewski: [Art.] Fasten, Sp. 1147. Vgl. ebd. Strotmann, Angelika: Jesus als Asket? In: Andrea Bieler u.a. (Hg.): Weniger ist mehr. Askese und Religion von der Antike bis zur Gegenwart (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015), S. 25–44, S. 42. Vgl. a.a.O., S. 43. Vgl. Dietzfelbinger, Christian: [Art.] Fasten, in: Otto Betz u.a. [Hg.]: Calwer Bibellexikon. Band 1 (Stuttgart: Calwer Verlag 2003), S. 349.
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lus habe nach seiner Vision bei Damaskus drei Tage lang nicht gegessen und getrunken, im Anschluss an alttestamentliche Fastenpraktiken als Reaktion auf seine Begegnung mit Christus, als Ausdruck der Buße für seine frühere Opposition zum jüngsten Christentum oder als Zeichen der Umkehr interpretieren.33 Somit lässt sich eine deutliche Kontinuität zwischen alttestamentlichen und neutestamentlichen Texten beobachten:34 Fasten soll auf die Beziehung zu Gott und zu den Nächsten ausgerichtet sein und auf einer aufrichtigen inneren Einstellung fußen. Fasten, das ohne innere Beteiligung und Hinwendung zu den Nächsten oder um bewundert zu werden durchgeführt wird, wird im Alten Testament in prophetischen Aussprüchen und im Neuen Testament in Jesusworten kritisiert. Diese Kontinuität ist explizit zu betonen, denn sie wurde in der Forschungsgeschichte keinesfalls immer gesehen. Ein Beispiel dafür ist der Neutestamentler Johannes Behm, der 1942 behauptete, Fasten im Neuen Testament habe einen völlig anderen Sinn als denjenigen, »den das Judentum in verhängnisvoller Selbsttäuschung mit dem Brauche verbindet«.35 Das Fasten sei im Judentum mehr und mehr zu einem Selbstzweck geworden, der »nur aus der Überzeugung begriffen werden kann, daß Gott die Leistung als solche hoch anerkennt«.36 Jedoch wird Fasten in keinem einzigen alttestamentlichen Text mit den Begriffen »Leistung«, »Selbstzweck« oder vergleichbaren Vorstellungen in Verbindung gebracht. Kritisiert wird dagegen das Fasten ohne innere Beteiligung oder ohne Einsatz für soziale Gerechtigkeit. Allein die Tatsache, dass diese Kritikpunkte in den kanonischen Texten vorkommen, zeigt, dass sie innerhalb des Judentums ernst genommen wurden. Es liegt nahe, dass Behm den Aspekt der »Fokussierung auf Leistung« aufgrund seiner eigenen Prägung durch eine spezifische lutherische Interpretationslinie in die Texte hineinliest. In ihr wird das Judentum zu Jesu Zeiten mit der römischen Kirche zu Luthers Zeiten parallelisiert und ihm wird entsprechend ein äußerlich-funktionalisierter Religionsvollzug und damit Werkgerechtigkeit unterstellt.37 Diese Unterstellungen sind, wie die Bibelwissenschaft seit mehreren Jahrzehnten betont, unzutreffend. Sie beruhen auf einer Sicht des Judentums, die es auf eine Vorstufe des Christentums reduziert und zugleich als dessen (negative) Kontrastfolie konzipiert – beides sind klassische antijudaistische bzw. antisemitische Topoi.38 Diese verbanden sich im Lauf der Jahrhunderte nicht selten mit antisemitischen Ansichten – so 33 34 35 36 37 38
Vgl. ebd. Vgl. Zmijewski: [Art.] Fasten, Sp. 1145 und Grumett, David/Muers, Rachel: Theology on the Menu. Asceticism, Meat and Christian Diet (London/New York: Routledge 2010), S. 4. Behm: [Art.] νῆστις, νηστεύω, νηστεία, S. 932–33. A.a.O., S. 931. Vgl. Barclay, John M.G.: Paul and the Gift (Grand Rapids/Cambridge: William B. Eerdmans Publishing Company 2015), S. 104. Vgl. z.B. von Kellenbach, Katharina: Anti-Judaism in Feminist Religious Writings (Atlanta: Scholars Press 1994), S. 41 und Klein, Charlotte: Theologie und Anti-Judaismus. Eine Studie
II Theoretischer Hintergrund: christliches Fasten und die vorösterliche Fastenzeit
vermutlich auch bei Behm, der Mitglied der Deutschen Christen und der NSDAP war.39 Doch negative Ansichten über jüdisches Fasten sind auch nach dem Nationalsozialismus zu beobachten: So betonen Friedrich Rothenberg und Lothar Coenen noch 1967 die vermeintlich grundlegend neue Sicht des Neuen Testaments auf das Fasten: »Im Lauf der Zeit geht in Israel der tiefere Sinn des F[asten]s, nämlich als Ausdruck für die Demütigung des Menschen vor Gott, verloren; es wird immer mehr eine fromme Leistung.«40 Diese Darstellung wird dem Textbefund nicht gerecht. Zum einen unterstellt sie alttestamentlichen Texten und damit den Menschen, in deren Umfeld diese Texte geschrieben wurden, eine Orientierung an Äußerlichkeiten und ein Verständnis von Religion als »Leistung«, das sich nicht belegen lässt. Zum anderen ignoriert sie, dass Jesu kritische Haltungen zu manchen Arten des Fastens in einem bereits existierenden jüdischen Diskurs verortet sind. Fasten wurde vor und zu der Zeit Jesu verschiedentlich praktiziert und diskutiert. Von einem radikalen Umbruch der Fastenpraxis mit dem Auftreten Jesu kann auf der Basis biblischer Texte keine Rede sein.
c) Historische Schlaglichter Im frühen Christentum galten laut der Didache anknüpfend an die jüdische Tradition zweier wöchentlicher Fastentage der Mittwoch und Freitag als wöchentliche Fastentage.41 Zudem waren vor der Taufe oder vor dem Antritt eines geistlichen Amts ein bis zwei Fastentage vorgeschrieben.42 Für die vierzigtägige Fastenzeit vor Ostern finden sich hauptsächlich ab dem Konzil von Nicäa (325) gebietsübergreifende und umfassende Belege. Während früher die Annahme vorherrschte, diese habe sich durch eine allmähliche Ausdehnung eines dreitägigen Reinigungsfastens vor Ostern auf vierzig Tage entwickelt,43 geht die kirchengeschichtliche Forschung heute davon aus, dass die vierzigtägige vorösterliche Fastenzeit in einem vielschichtigen Prozess entstand. In ihrer endgültigen Form verknüpft sie mehrere ursprünglich voneinander unabhängige Motive: Fas-
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zur deutschen theologischen Literatur der Gegenwart (München: Chr. Kaiser Verlag 1975), S. 15. Vgl. Klee, Ernst: Das Personenlexikon zum Dritten Reich (Frankfurt a.M.: Fischer 2007), S. 37. Rothenberg/Coenen: [Art.] Fasten, S. 306. Vgl. Böcher: [Art.] Fasten III, S. 42 und Grün, Anselm: [Art.] Fasten IV: Historisch-theologisch, in: Walter Kasper u.a. [Hg.]: Lexikon für Theologie und Kirche. Dritter Band (Freiburg i.Br. u.a.: Herder 1995), S. 1189f., S. 1189. Vgl. Grün: [Art.] Fasten IV: Historisch-theologisch, S. 1189. Vgl. Johnson, Maxwell E.: The Rites of Christian Initiation. Their Evolution and Interpretation (Collegeville: Liturgical Press 2 2007), S. 201.
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ten als Teil der Vorbereitung und Unterweisung von Taufanwärter*innen,44 die Entwicklung des Triduums und eine zunächst nicht auf Ostern bezogene vierzigtägige Fastenperiode, die an Jesu Aufenthalt in der Wüste erinnerte.45 Die Frage, wie und warum genau sich der Zeitraum der vierzig Tage auf dem Konzil von Nicäa durchsetzte und dann rasch flächendeckend umgesetzt wurde, kann beim derzeitigen Forschungsstand nicht endgültig beantwortet werden. Denkbar ist, dass die Vorliebe mancher Gemeinden für Taufen an Ostern mit den vierzigtägigen Taufvorbereitungsphasen anderer Gemeinden verbunden wurde.46 So hätte die vierzigtägige Fastenzeit vor Ostern zum einen eine Harmonisierung verschieden langer Fastenperioden dargestellt und zum anderen dazu beigetragen, dass das Fasten inhaltlich mehr auf Ostern bezogen wurde.47 Die endgültige Loslösung der vorösterlichen Fastenzeit von ihrer Funktion als Initiationsritus vor der Taufe fand allerdings erst ab dem späten 5. Jahrhundert statt, da sich zu dieser Zeit die Säuglingstaufe vermehrt durchsetzte und damit die Vorbereitung erwachsener Taufanwärter*innen eine immer geringere Rolle spielte.48 Vermutlich im 6. Jahrhundert entstand in Rom die Vorfastenzeit mit den Sonntagen Septuagesimae, Sexagesimae und Estomihi.49 In der alten Kirche war das Fasten zudem durch die oft als radikal überlieferte asketische Praxis der Wüstenväter und -mütter sowie einzelner Asket*innen präsent: So sollen einige der Wüstenmütter und -väter, die v.a. im 3./4. Jahrhundert relativ zurückgezogen in der Wüste lebten, sich nur von Gemüse ernährt haben, manche nur jeden zweiten Tag und manche nur samstags und sonntags gegessen haben.50 Auch in den entstehenden Mönchsorden gab es Fastenvorschriften, wenngleich in zumeist deutlich weniger radikaler Form als bei der Wüstenaskese.51 Im Mittelalter wurden die Fastenvorschriften der Alten Kirche im Wesentlichen beibehalten, zudem etablierte sich die Trennung zwischen ›Fasten‹ als vollständiger Nahrungsenthaltung und ›Abstinenz‹ als Fleischverzicht. Einerseits war das Fasten
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Vgl. dazu ausführlich Bieritz: Kirchenjahr, S. 102. Vgl. Spinks: The Growth of Liturgy and the Church Year, S. 614. Vgl. Johnson: Rites, S. 214. Vgl. ebd., S. 217. Vgl. ebd., S. 216. Vgl. Bieritz: Kirchenjahr, S. 106. Vgl. Grün: [Art.] Fasten IV, S. 1190. Vgl. zum Fasten der Wüstenasket*innen ausführlich: Brown, Peter: The Body and Society. Men, Women, and Sexual Renunciation in Early Christianity (London/Boston: faber&faber 1989), S. 213–240, insbesondere 218–225 und 235–240; Grumett/Muers: Theology on the Menu, S. 1–16 und Herse, Stefan: Der Körper als Mittel zur Erlösung. Eine religionswissenschaftliche Untersuchung der Bedeutung des Körpers für religiöse Erfahrung, dargestellt am antiken monastischen Christentum (Baden-Baden: Tectum 2018), S. 93–97 und 156–159. Vgl. Grün: [Art.] Fasten IV, S. 1190.
II Theoretischer Hintergrund: christliches Fasten und die vorösterliche Fastenzeit
damit ein selbstverständlicher Teil des religiösen Alltags, andererseits wurde es zu dieser Zeit möglich, sich Dispens vom Fasten erteilen zu lassen.52 Zudem wurde die Relevanz des Fastens relativiert: Die Armenfürsorge geriet stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit und war häufig höher angesehen als striktes Fasten, umgekehrt war es bisweilen verpönter zu tratschen als ein Fastengebot zu übertreten. Ebenso lässt sich anhand von Quellentexten v.a. ab dem 13. Jahrhundert beobachten, dass zunehmend auf Gefahren des Fastens hingewiesen wurde, und zwar sowohl auf körperliche Risiken als auch auf die Möglichkeit, mit dem Fasten Heuchelei zu betreiben, indem man sich zwar der Nahrung enthielt, aber zugleich als lasterhaft angesehene Taten beging.53 Einige Christ*innen dieser Zeit reagierten auf diese weniger strikten Vorschriften mit radikaler Askese. Dabei sind zahlreichere und drastischere Beispiele von Frauen überliefert als von Männern, eines der bekanntesten Beispiele ist Katharina von Siena.54 Ihre asketischen Praktiken knüpften vielfach an die der Wüstenväter und -mütter an. Ein neu hinzutretender Aspekt war die Interpretation von Askese als imitatio Christi, als Annäherung an und Nachahmung von Jesu Passion.55 Diese radikalen Fastenformen bedeuteten für Frauen oft einen Freiheits- und Autoritätsgewinn. Mehrere Frauen entzogen sich durch ihre Askese ungewollten Eheschließungen oder zögerten diese zumindest heraus, und einige Asketinnen gewannen ein so hohes öffentliches Ansehen, dass sie sogar mehr oder weniger subtile Kritik am Klerus üben konnten: So gab es z.B. Frauen, die angaben, ausschließlich geweihte Hostien bei der Eucharistie zu sich nehmen zu können. Wenn diese Frauen eine Hostie nicht herunterschlucken konnten, fiel dies entsprechend negativ auf den entsprechenden Priester zurück. Daher waren fastende Frauen teilweise auch der Kritik kirchlicher Autoritäten ausgesetzt, und auch in manchen Familien wurde strenge Askese als Rebellion gegen die familiäre Ordnung abgelehnt.56 Basierend auf diesen ambigen Vorstellungen über Askese im Mittelalter war die Frage nach der Bedeutung des Fastens auch in der Reformationszeit ein strittiger Punkt.57
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Vgl. ebd. Vgl. Bynum, Caroline Walker: Holy Feast and Holy Fast. The Religious Significance of Food to Medieval Women (Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1987), S. 46. Der letzte Punkt nimmt die Kritik der prophetischen Texte des AT auf. S. dazu sowie für weitere Beispiele auch Jeremy Finnegan, Mary: Catherine of Siena: The Two Hungers, in: Mystics Quarterly, Vol. 17, No. 4 (1991), S. 173–180; Thompson, Mark A.: Fasting and Fulfillment: A Language of Moderation in the Mysticism of St. Teresa, in: Mystics Quarterly, Vol. 23, No. 1 (1997), S. 33–40; Corrington, Gail: Anorexia, Asceticism, and Autonomy: Self-Control as Liberation and Transcendence, in: Journal of Feminist Studies in Religion, Vol. 2, No. 2 (1986), S. 51–61. Vgl. Bynum: Holy Feast, S. 47; S. 78f. Vgl. a.a.O., S. 220–237. Vgl. Grün: [Art.] Fasten IV, S. 1190.
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d) Reformatorische Kritik Die Stellungnahmen der Reformatoren zum Fasten beinhalten verschiedene Aspekte der Kritik an damaligen Fastenpraktiken, würdigen aber auch manche Funktionen des Fastens. Am häufigsten wird kritisiert, dass die Verpflichtung der Gläubigen zum Fasten ein Ausdruck der Werkgerechtigkeit sei: Fasten wurde als Werk verstanden, mit dem man meinte, sich die Vergebung von Sünden erwerben zu können. Dies wird als offensichtlicher Widerspruch zu der reformatorischen Grundüberzeugung, dass Rechtfertigung nur aus Glaube geschehen kann, entschieden abgelehnt.58 Zusätzlich zu dieser fundamentaltheologischen Kritik werden, insbesondere von Martin Luther und Philipp Melanchthon, mehrere Aspekte der zeitgenössischen Praxis als problematisch wahrgenommen. Sie kritisieren, dass durch das Verständnis von Fasten als besonderer Leistung das alltägliche Leben seinen Gottesdienstcharakter verliert und auf eine rein weltliche Funktion reduziert wird, wohingegen sie das Regieren, Kindergebären oder Arbeiten im Beruf viel eher als von Gott geboten sehen als das Fasten.59 Weiterhin nehmen sie wahr, dass die zahlreichen, nur schwierig einzuhaltenden Vorschriften das Gewissen der Gläubigen beschweren und sie in große Sorge um ihr Seelenheil treiben.60 Luther und Melanchthon wollen ihre Kritik deshalb nicht als Geringschätzung der Tradition, sondern vielmehr als seelsorgliche Fürsorge verstanden wissen.61 In seinen Predigten zu Mt 5–7 und im Sermon von den guten Werken kritisiert Luther ausführlich, dass manche Menschen während der Fastenzeit viel opulentere Mahlzeiten (wie aufwändig zubereiteten Fisch) zu sich nähmen als sonst.62 Dies
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Vgl. Luther, Martin: Von den guten werckenn, in: D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Band 6 (Weimar: Hermann Böhlau, 1888), S. 202–217 = WA 6, 245, 32f.; Luther, Martin: Wochenpredigten über Matth. 5–7, in: Dr. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Band 32 (Weimar: Hermann Böhlau 1906), S. 299–544 = WA 32, 430, 26–431, 5; Confessio Augustana 26, 4–6, in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998), S. 31–137 = BSLK 101, 8–23; Zwingli, Huldrych: Von Erkiesen und Freiheit der Speisen, in: Emil Egli/Georg Finsler (Hg.): Huldreich Zwinglis sämtliche Werke, Band 1 (Berlin: Verlag C. A. Schwetschke und Sohn 1905), S. 74–136 = CR 88, 95,19-98,2; Bullinger, Heinrich: Confessio Helvetica Posterior, in: Andreas Mühling/Peter Opitz (Hg.): Reformierte Bekenntnisschriften, Band 2/2 (Neukirche: Neukirchener Verlag 2009), S. 268–345 = BSRK, 337, 26–28; Calvin, Jean: Institutiones Christianae Religionis, in: Gullielmus Baum u.a. (Hg.): Johanni Calvinis Opera quae supersunt omnia (Braunschweig: Schwetschke und Sohn 1846), Bd. 1–2 = CR 30, 917. Vgl. CA 26, 8–11, BSLK 102, 1–21. Vgl. CA 26,12–17, BSLK 102, 23–103,24. Vgl. CA 26,18–19, BSLK 103, 24–28. Vgl. WA 32, 429, 29–430, 7.
II Theoretischer Hintergrund: christliches Fasten und die vorösterliche Fastenzeit
bedeutet nach Luther, sowohl das Fasten als auch Gott selbst zu verhöhnen.63 Als positives Gegenbeispiel nennt Luther die Juden und Pharisäer, »welche doch recht und warhafftig gefastet haben, on das sie damit iren rhum gesucht«64 hätten.65 Er sieht im Anschluss an Jes 58 die Gefahr, dass das Fasten den Nächsten vernachlässigt und damit zu einer Heuchelei wird.66 Ebenso nimmt er Menschen wahr, die das Fasten – weil sie es für ein notwendiges gutes Werk halten – übertreiben und sich damit schaden.67 Damit mache man sich der Verwahrlosung seines eigenen Leibes oder sogar des Suizids schuldig, denn der Leib sei den Menschen nicht gegeben, um ihn beim Fasten zugrunde zu richten, sondern nur, um dadurch die Leidenschaften abzutöten.68 Luther spricht sich für ein gesundes Maß beim Fasten aus und rät deshalb auch davon ab, Schwangere und Kranke fasten zu lassen.69 Ein Kritikpunkt, den viele Reformatoren hervorheben, ist die Verpflichtung zum Fasten, die sie als unbiblisch ablehnen. Luther führt mehrere Bibelstellen als Beleg dafür an, dass Fasten generell keine notwendige Pflicht für Christenmenschen ist (Mt 15,11; Röm 14,17; Kol 2,16; Apg 15,10f. und 1. Tim 4,1.3).70 Heinrich Bullinger hebt hervor, dass die vorösterliche Fastenzeit nicht als Pflicht für die Gläubigen gelten kann, da sie nicht biblisch begründbar ist.71 Auch Huldrych Zwingli argumentiert vom Neuen Testament her, dass es keinerlei feste Speisegebote gibt (nach Mt 15; Mk 7; Apg 10; 1Kor 6; 8; 10; Kol 2; 1 Tim 4).72 Angesichts dessen findet Zwingli es problematisch, dass Menschen dem Fasten so große Bedeutung beimessen.73 Analog zur Geschichte vom Ährensammeln am Sabbat (Mk 2) argumentiert er: Das Fasten existiert wie der Sabbat um der Menschen willen, nicht umgekehrt.74 Deshalb kann es keine allgemeinen Gesetze über das Fasten geben.75 Zwingli spitzt dies auch politisch zu: Die Obrigkeit hat kein Recht, den Einzelnen Vorschriften zu machen.76 Er
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Vgl. WA 6, 246, 2. WA 32, 430, 11–13. Angesichts der bereits geschilderten Abwertung jüdischer Fastenpraxis durch christliche Theologen und Luthers Tendenz in anderen Schriften, das Judentum als Beispiel für Werkgerechtigkeit anzuführen, ist es durchaus bemerkenswert, dass die Pharisäer hier als Vorbild genannt werden. Vgl. WA 32, 432, 23–25. Vgl. WA 6, 245. 26. Vgl. WA 6, 246, 23–36. Vgl. WA 6, 247, 1–11. Vgl. CA 26,22-29, BSLK 104, 12–105,11. Vgl. BSRK, 337, 30f. Vgl. CR 88, 91,32–96,18. Vgl. CR 88, 95,19–98,2. Vgl. CR 88, 99,18–102,25. Vgl. CR 88, 134,2–4. Vgl. CR 88, 136,1–5.
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fügt dem Aspekt der Freiheit des Individuums vor Gott damit den politischen Aspekt der Freiheit vor der Obrigkeit hinzu.77 Bei aller Kritik sehen die Reformatoren jedoch auch nützliche Effekte des Fastens und wollen es deshalb nicht grundsätzlich abschaffen.78 Besonders Luther schätzt das Fasten als eine »ubung des fleysches«79 , die dazu beitragen kann, »seine grobe, bosse lust zu todtenn«.80 Dies kann jedoch – so formuliert Luther in Von der Freiheit eines Christenmenschen – nur den äußeren Menschen beeinflussen, nicht den inneren, durch den Glauben gerechtfertigten Menschen.81 Luther sieht alle in der Pflicht, den eigenen Leib so zu mäßigen, dass sie sich nicht mutwillig Anlass zum Sündigen geben – allerdings nicht nur zu speziellen Fastentagen oder -zeiten, sondern im alltäglichen Leben. Als Schriftbelege führt er Lk 21,34; Mk 9,29 und 1 Kor 9,27 an.82 Luther möchte für diese persönliche Züchtigungspraxis aber keine allgemeine Regel aufstellen, da alle Menschen unterschiedlich sind und deshalb für sich selbst herausfinden sollen, was das richtige Maß des Fastens ist, um die Leidenschaften zu bekämpfen, den Körper aber nicht zu schädigen.83 Wer beispielsweise gar keine fleischliche Lust verspürt, muss nicht fasten,84 und wer Lust und Mutwillen durch Fisch stärker befördert als durch Fleisch, soll während des Fastens besser Fleisch essen, um den gewünschten Effekt der Mäßigung zu erzielen.85 Und wer spürt, dass das Fasten seiner Gesundheit schadet, soll es abbrechen und so viel essen, wie es für seine Gesundheit nötig ist – auch wenn es gegen kirchliche oder klösterliche Richtlinien verstößt.86 Entscheidend ist also nicht die formale Gestaltung des Fastens, sondern die Frage, ob es seinen Zweck erfüllt. Die Gewissen der Gläubigen sollen durch »äußerliche Zeremonien«87 nicht beschwert werden, denn heilsrelevant ist Fasten nicht. Entsprechend antwortet Luther im Kleinen Katechismus (1529) auf die Frage, wer das Abendmahl würdig empfangen kann: »Fasten und leiblich sich bereiten ist wohl eine feine äußerliche Zucht; aber
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Vgl. auch Egli, Emil: Einführung zu Vom Erkiesen und Freiheit der Speisen, in: CR 88, 74–80, S. 79. Vgl. WA 6, 247, 12–18; CA 26,39, BSLK 106,16–20. WA 6, 245, 19. WA 6, 245, 20; ähnlich Calvin, vgl. CR 30, 914, und Bullinger, vgl. BSRK 337, 9–11. Vgl. Luther, Martin: Von der Freyheyt einiß Christen menschen, in: Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Band 7 (Weimar: Hermann Böhlau 1897), S. 20–38 = WA 7, 30,11–31,16. Vgl. CA 26,34–38, BSLK 106,6–16. Vgl. WA 32, 433, 10–30. Vgl. WA 6, 246, 8–13. Vgl. WA 6, 246, 14–16. Vgl. WA 6, 246, 16–23. CA 26,28, BSLK 105,3f.
II Theoretischer Hintergrund: christliches Fasten und die vorösterliche Fastenzeit
der ist recht wirdig und wohl geschickt, wer den Glauben hat an diese Wort: ›Fur Euch gegeben‹ und ›vergossen zur Vergebung der Sunden‹.«88 Eine weitere, aber weniger ausführlich diskutierte positive Funktion des Fastens ist für Luther, dass es dabei helfen kann, sich den Fortgang des Kirchenjahres zu vergegenwärtigen. So könne man die vorösterliche Fastenzeit, Fastenperioden vor Pfingsten und Weihnachten sowie das Freitagsfasten durchaus als gutes geistliches Fasten einhalten. Verbindlich festlegen möchte Luther aber auch das nicht.89 Die Schweizer Reformation weist darauf hin, dass das Fasten eine positiv verstandene Demütigung vor Gott darstellen kann. Für Bullinger ist dies das eigentliche Ziel des Fastens.90 Calvin sieht die Demut ebenfalls als eine der drei Hauptfunktionen des Fastens an, das in diesem Sinne sowohl privat als auch öffentlich durchgeführt werden soll. Zudem sollen Pfarrer in Notzeiten die Gemeinde zum Fasten als Ausdruck der Demut aufrufen. Für die zweite Hauptfunktion, die Vorbereitung zum Gebet, gilt dasselbe. Die dritte – die bereits bekannte körperliche Züchtigung – sei dagegen rein privat durchzuführen, hier argumentiert Calvin wie Luther mit der Individualität der körperlichen Beschaffenheit.91 Zuletzt hält Luther fest, dass durch die neuen Fastenregelungen niemand verwirrt oder verprellt werden soll. So soll man sich gegenüber denjenigen, die die neue Fastenordnung nicht verstehen, nicht herablassend verhalten oder sie durch demonstratives Fastenbrechen provozieren. Stattdessen sei es wichtig, ihnen zu erklären, warum die alte Tradition falsch ist.92 Auch Zwingli regt dazu an, in Konfliktsituationen Rücksicht zu nehmen und andere nicht durch Fastenbrechen zu verärgern oder zu verletzen. Denn denjenigen, die verstanden haben, dass Fasten nicht heilsnotwendig ist, kann ein aus Rücksicht auf die anderen eingehaltenes Fasten auch nicht schaden.93 Diese Haltung praktizierte Zwingli auch selbst: Im sogenannten Fastenstreit, der 1522 maßgeblich dazu beitrug, dass die Zürcher Reformation ins Rollen kam,94 war Zwingli zwar anwesend, als einige Bürger*innen
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Luther, Martin: Der kleine Katechismus, in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1998), S. 499–534 = BSLK 521,3–7. Vgl. WA 32, 431, 20–38. Vgl. BSRK 337, 9–11. Vgl. CR 30, 914f. Vgl. WA 6, 247, 19–25. Vgl. CR 88, 112,15–18. Vgl. Bieritz, Karl-Heinrich: [Art.] Fasten III. 4. Evangelisch, in: Hans Dieter Betz u.a. (Hg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart, Band 3 (Tübingen: Mohr Siebeck, 4 2000), S. 44, S. 44 und Hall, Stuart George/Crehan, Joseph H.: [Art.] Fasten/Fasttage III. Biblisch und kirchenhistorisch, in: Gerhard Krause u.a. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Band XI (Berlin/New York: Walter de Gruyter 1983), S. 48–59, S. 56.
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demonstrativ während der Fastenzeit Fleisch aßen, nahm jedoch selbst kein Fleisch zu sich und regte auch andere nicht explizit dazu an.95 Für die Reformation ergibt sich folgendes Gesamtbild: Fasten hat keinerlei Heilsrelevanz und da es keine biblisch begründbare allgemeine Fastenpflicht gibt, können Christenmenschen frei entscheiden, ob und wie sie fasten. Fasten kann dabei helfen, den Körper durch Bezähmung der Leidenschaften dem Glauben gemäß zu formen und in das religiöse Leben einzubeziehen. Als »Hilfsmittel gegen Disziplinlosigkeit«96 oder als zusätzliche Vorbereitung auf den Empfang des Abendmahls kann Fasten damit eine sinnvolle Funktion haben. Ebenso kann es helfen, sich auf das Gebet vorzubereiten, ein Ausdruck der Demut sein oder dazu führen, dass man das Kirchenjahr intensiver erlebt. Die große Betonung der Freiheit des Individuums, die jeweils richtige Fastenpraxis herauszufinden oder auch gar nicht zu fasten, ist bei Luther und Zwingli mit einer strikten Ablehnung jeglicher kirchlich vorgeschriebenen Zucht oder Vorschrift verbunden. Zwingli formuliert pointiert: »Wiltu gern vasten, thu es; wiltu gern das fleisch nit essen, iß es nüt; laß aber mir daby den Christenmenschen fry.«97 Calvin behält sich dagegen vor, dass Pfarrer in Notzeiten zum Fasten aufrufen können – aber auch dies nur als Ausdruck der kollektiven Selbstdemütigung, nicht als verdienstliches Werk. Fasten entwickelt sich somit tendenziell von einer Pflicht, die in jedem Fall ausgeübt werden sollte, zu einer persönlichen Entscheidung.98 Angesichts dieser starken Betonung der Freiwilligkeit des Fastens ist es nicht erstaunlich, dass mit der Reformation im evangelischen Bereich ein gewisser Traditionsabbruch der Fastenpraxis einsetzte.99 So formuliert Corinna Dahlgrün: »Alle Reformatoren modifizieren das im Ausgang des Mittelalters dominierende monastische Ideal der Askese vor allem aus theologischen Erwägungen heraus, in der Abwehr einer möglichen Werkgerechtigkeit: Keine noch so strenge Enthaltsamkeit, kein noch so intensives Bemühen um Reinigung, keine noch so akribische imitatio Christi und entsprechend praktizierte vita apostolica können dem Menschen das Heil erwerben. […] Anstelle einer gegen die Dinge der Welt gerichteten Abstinenz und einer Askese, die das geistliche Leben schroff von dem weltlichen unterschied, sollte das ganze christliche Leben mindestens im Raum der lutherischen Reformation in einem Geist der Achtsamkeit für Gottes Willen ge-
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Vgl. Egli: Einführung, CR 88, 74–80, 75. Sander, Augustinus: [Art.] Fasten, in: Volker Leppin/Gury Schneider-Ludorff (Hg.): Das LutherLexikon (Regensburg: Bückle & Böhm 2014), S. 217–218, S. 217. CR 88, 106,15-17. Vgl. Grumett/Muers: Theology on the Menu, S. 53. Vgl. Zimmerling: Evangelische Spiritualität, S. 269.
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führt werden, der gleichzeitig Freiheit im Umgang mit den Dingen dieser Welt und Freiheit zu deren Genuß schenkte.«100 Die Auswirkungen dieses Mentalitätswandels sind bis heute beobachtbar. So werden die vierzig Tage vor Ostern offiziell seit der Leseordnung von 1978 und dem Evangelischen Gesangbuch von 1999 als Passionszeit statt als Fastenzeit bezeichnet, die Sonntage Septuagesimae, Sexagesimae und Estomihi entsprechend als Sonntage vor der Passionszeit – ein Zeichen dafür, dass die Passion Jesu und das Gedenken daran diese liturgische Zeit bestimmen sollen.101 Während in katholischen Gemeinden am Aschermittwoch für gewöhnlich ein Gottesdienst stattfindet, ist in evangelischen Gemeinden kein Hauptgottesdienst vorgesehen.102 In der römischkatholischen Kirche sind Kirchenmitglieder nach wie vor zu Abstinenz (ab dem 14. Lebensjahr) und zum Fasten (vom 18. bis 60. Lebensjahr) als Ausdruck tätiger Buße verpflichtet. Abstinenz ist dabei gemäß dem kirchlichen Gesetzbuch von 1983 für alle Freitage (außer an Hochfesten), Fasten an Aschermittwoch und Karfreitag vorgesehen. Zugleich wird Bischöfen weitgehende Freiheit bei der Gestaltung regionaler Regelungen gelassen. Die Deutsche Bischofskonferenz verpflichtete 1986 alle Gläubigen zu einem spürbaren finanziellen Fastenopfer, das zumeist dem Hilfswerk Misereor zugutekommen soll.103
Exkurs: Die Etablierung des Heilfastens als Naturheilkundeverfahren Während das Fasten – insbesondere im Sinne eines vollständigen Nahrungsverzichts – im kirchlichen Kontext eine marginale Rolle spielte, gewann es im 19. Jahrhundert als Heilfasten an Bedeutung. Heilfasten entwickelte sich im Kontext der Naturheilkundebewegung,104 deren vorherrschende Weltanschauung der Medizinhistoriker Karl Rothschuh als »Naturismus« beschreibt und wie folgt definiert: »Das Verbindende unter den ansonsten recht inhomogenen Richtungen liegt in einem Grundgefühl der Ehrfurcht vor der Natur und dem Leben. Die unberührte 100 Dahlgrün: Christliche Spiritualität, S. 72. 101 Vgl. ebd., S. 105f. Bemerkenswert ist daran auch, dass diese Umbenennungen gerade zu einer Zeit erfolgten, in der Fasten allmählich begann, wieder an Beliebtheit zu gewinnen. 102 Vgl. Bieritz: Kirchenjahr, S. 107f. 103 Vgl. Bieritz, Karl-Heinrich: [Art.] Fasten II: Katholisch, in: Hans Dieter Betz u.a. (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart, Band 3 (Tübingen: Mohr Siebeck 4 2000), S. 42f., S. 42f. und Beykirch, Ursula: [Art.] Fasten VI: Kirchenrechtlich, in: Walter Kasper u.a. [Hg.]: Lexikon für Theologie und Kirche. Dritter Band (Freiburg i.Br. u.a.: Herder 1995), S. 1191f., S. 1191f. 104 Der Begriff »Naturheilkunde« wurde zuerst 1850 von Lorenz Gleich geprägt, vgl. Krabbe, Wolfgang R.: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode (Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1974), S. 78.
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Natur ist das Höchste, weil Ursprüngliche. Ihr begegnet man mit uneingeschränktem Urvertrauen und fast religiöser Verehrung. Zu dieser Einstellung einer Verehrung des Natürlichen gesellt sich in der Regel eine Wissenschaftsfeindlichkeit, ein Kulturüberdruß und eine Ablehnung der ›Medizinheilkunde‹.«105 Die geistesgeschichtliche Referenzgröße für den »Naturismus« war in der Regel Jean-Jacques Rousseau mit seinen fortschritts- und zivilisationsskeptischen Schriften, v.a. »Emile« (1762), die bereits seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert von mehreren Medizinern positiv rezipiert worden waren.106 Im Lauf des 19. Jahrhunderts gewann die Hinwendung zur Natur vor dem Hintergrund kultureller und demographischer Entwicklungen weiter an Plausibilität: Die zunehmende Industrialisierung und die mit ihr einhergehende Entstehung eines städtischen Proletariats sowie die steigende Luftverschmutzung in den Städten machten das Leben auf dem Land zu einer attraktiven Alternative für den bürgerlichen Mittelstand, der die entstehende Bewegung im Wesentlichen trug.107 Zusätzlich zur Naturheilkunde entwickelte sich ab den 1890er Jahren die Lebensreformbewegung,108 die nicht nur die Medizin, sondern auch zahlreiche andere Aspekte des gesellschaftlichen Lebens mit Hilfe des Credos »zurück zur Natur« erneuern und verbessern wollte: In der Nacktkultur ging es um einen schambefreiten Zugang zu Körperlichkeit, in der beginnenden vegetarischen Bewegung um Tierrechte, in der Künstlerkolonie Worpswede um die künstlerische Darstellung des einfachen, ländlichen Lebens.109 Weitere prominente Themen waren Gymnastik, Kleidungsreform und Körperpflege, auch bis heute kontroverse Haltungen wie Antialkoholismus, der Einsatz für Boden- und Wohnreformen sowie gegen Tierversuche oder eine Skepsis gegenüber Impfungen.110 Einen eindeutig problematischen Niederschlag fand die Berufung auf die Natur in der sich damals gerade entwickelnden und heute wissenschaftlich widerlegten Vorstellung, es gebe naturgegeben verschiedene menschliche »Rassen«, die es in ihrer angeblichen »Reinheit« zu schützen gelte.111 Ebenso sind mancherorts – unter Berufung auf Darwins Evolutionslehre –
105 Rothschuh, Karl Eduard: Naturheilbewegung, Reformbewegung, Alternativbewegung (Stuttgart: Hippokrates-Verlag 1983), S. 10. »Medizinheilkunde« meint das biomedizinische Modell, welches heute gemeinhin als »Schulmedizin« bezeichnet wird. 106 Vgl. a.a.O., S. 12–15; Heyll, Uwe: Wasser, Fasten, Luft und Licht. Die Geschichte der Naturheilkunde in Deutschland (Frankfurt/New York: Campus Verlag 2006), S. 43f. 107 Vgl. Krabbe: Lebensreform, S. 13f.; S. 171. 108 Der Begriff ist 1896 zum ersten Mal belegt und breitete sich dann rasch aus, vgl. a.a.O., S. 12. 109 Vgl. a.a.O., S. 106–109. 110 Vgl. Krabbe: Lebensreform, S. 13. 111 Vgl. Rothschuh: Naturheilbewegung, S. 12.
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eugenische Tendenzen zu erkennen.112 Insgesamt waren die Naturheilkunde- und Lebensreformbewegung in sich heterogen und von internen Konflikten, Rivalitäten und Konkurrenzen geprägt, sodass es »nie einen großen, allseits anerkannten, übergreifenden Verband gegeben [hat], der alle oder doch wenigstens den größeren Teil der verschieden gerichteten lebensreformerischen Gruppierungen über längere Zeit hinweg zu integrieren vermochte.«113 Mehrere Stränge und Entwicklungen der Naturheilkunde gingen auf Personen ohne medizinische Ausbildung zurück, z.B. auf den Lehrer Eucharius Oertel, den Bauern Vinzenz Prießnitz oder den katholischen Priester Sebastian Kneipp.114 Laut Rothschuh lag dies wesentlich daran, dass in der damaligen Medizin mehrere Modelle miteinander konkurrierten. Dies wurde von zahlreichen Ärzten als frustrierend wahrgenommen, doch für Laien konnte es in besonderem Maße zu Verwirrung führen. Zudem waren damals noch manche Behandlungen üblich, die dem heutigen Wissensstand nach bestenfalls wirkungslos und schlimmstenfalls schädlich waren. So wurden beispielsweise Quecksilberpräparate oder Arsen verabreicht und manche Ärzte wandten den Aderlass teilweise bis zum Kreislaufkollaps der Behandelten an. Es ist zu vermuten, dass der Gesundheitszustand vieler Kranker durch solche Behandlungen nicht verbessert, sondern eher verschlimmert wurde. Auch dies wurde sowohl von Teilen der Ärzteschaft als auch von (insbesondere gebildeten) Patient*innen kritisch wahrgenommen und war ein wichtiger Grund, warum weniger invasive Behandlungsmethoden so große Bedeutung erlangen konnten.115 In diesem Sinne war die fehlende medizinische Ausbildung oft kein Nachteil für die Naturheilkundler, sondern ließ sie im Gegenteil zugänglicher und glaubwürdiger erscheinen.116 Im Gegensatz zu Medikamenten beriefen sich die »Naturärzte« auf die »therapeutische Nutzung solcher Heilfaktoren, die in unveränderter Form jeden Menschen tagtäglich umgaben: Wasser, Luft, Sonne, Wärme, Kälte, Bewegung, Druck, Erschütterung und Nahrung.«117 Das Fasten als Heilmethode wurde dabei zuerst von Johannes Schroth (1798–1856) populär gemacht,118 später wurde es besonders von Emanuel Felke (1856–1926) empfohlen – einem evangelischen Pfarrer, der neben dem Fasten auch kalte Sitzbäder, Licht-Luftbäder, Gymnastik und Lehmanwendungen verabreichte.119 In der Naturheilanstalt »Jungborn«, gegründet von 112
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Vgl. Heyll: Wasser, Fasten, Luft und Licht, S. 219. Aufgrund des rassistischen und eugenischen Gedankenguts gab es Berührungspunkte zwischen einzelnen Lebensreformern und der aufkommenden nationalsozialistischen Ideologie, s. dazu ausführlich a.a.O., S. 229–269. Krabbe: Lebensreform, S. 131. Vgl. Rothschuh: Naturheilbewegung, S. 16; S. 80. Vgl. a.a.O., S. 63–65. Vgl. Heyll: Wasser, Fasten, Luft und Licht, S. 20. A.a.O., S. 12. Vgl. Rothschuh: Naturheilbewegung, S. 73. Vgl. a.a.O., S. 98.
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Adolf und Rudolf Just, wurden ebenfalls Fastentherapien durchgeführt: Rudolf Just sah Hunger als den besten Arzt und Fasten als das beste Heil- und Reinigungsmittel an.120 Eine weite Verbreitung innerhalb Deutschlands setzte schließlich 1935 mit Otto Buchingers Monographie ein, in der er beschrieb, wie er durch das Fasten seine eigenen arthritischen Beschwerden gelindert hatte.121 In der Gegenwart wird Heilfasten weiterhin im Rahmen naturheilkundlicher Verfahren angewendet, sowohl selbstständig von Einzelpersonen als auch im Rahmen ambulanter oder klinischer Behandlungen.122 Definiert wird es zumeist durch den »freiwilligen und zeitlich begrenzten Verzicht auf Nahrung und Genussmittel mit überwiegender Deckung des Energie- und Substratbedarfs aus körpereigenen Depots«.123 2002 wurden von einer medizinischen Expert*innengruppe Richtlinien für die Durchführung einer Fastenkur erstellt.124 Die physiologischen Grundlagen des Heilfastens bestehen darin, dass der Stoffwechsel sich umstellt, wenn dem menschlichen Körper über mehrere Tage weniger als 500–600 Kilokalorien pro Tag zugeführt werden. Die für den Tagesablauf benötigte Energie wird dann statt aus Nahrung aus den körpereigenen Reserven gewonnen, zunächst aus Protein-, später aus Fettreserven.125 Dabei werden – nach Aussage von Fastenärzt*innen – sogenannte Schlacken abgebaut und dann ausgeschieden. In der Schulmedizin ist dies allerdings umstritten, was v.a. mit dem Fehlen wissenschaftlicher Belege für diese »Entschlackung« des Gewebes begründet wird. Zum Fasten gibt es bisher nur wenige groß angelegte Studien.126 Für rheumatische Erkrankungen und beim metabolischen Syndrom konnten erste Studien eine positive Auswirkung des Heilfastens bestätigen.127 Neben der Therapie für diese und weitere Erkrankungen kann das Heilfasten auch von gesunden Menschen praktiziert werden, z.B. zur Prävention von Adipositas oder als »Impuls für die Neuordnung eines gesünderen Lebensstils«.128 Dies kann auch ohne engmaschige ärztliche Betreuung geschehen, wobei dazu geraten
120 Vgl. Heyll: Wasser, Fasten, Luft und Licht, S. 73. 121 Schmiedel, Volker: [Art.] Heilfasten, in: Matthias Augustin/Ders.: Leitfaden Naturheilkunde. Methoden, Konzepte und praktische Anwendung (München: Elsevier 5 2007), S. 272–279, S. 272. 122 Vgl. ebd. 123 Ebd. 124 Wilhelmi de Toledo, Françoise u.a.: Fasting Therapy – an Expert Panel Update of the 2002 Consensus Guidelines, in: Forsch Komplementmed 2013/20, S. 434–443. 125 Vgl. Schmiedel: Heilfasten, S. 273. 126 Vgl. a.a.O., S. 273f. 127 Vgl. a.a.O., S. 274. 128 Ebd.
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wird, zumindest die erste Fastenkur in einer Gruppe durchzuführen, die von einer ausgebildeten Fastenbegleitung geleitet wird.129 Die besonders verbreitete Buchinger-Fastenkur beginnt mit einem Entlastungstag mit reduzierter Kost, an den eigentlichen Fastentagen konsumieren die Fastenden Wasser, Tee, Säfte und Gemüsebrühe. Am ersten und danach an jedem zweiten Tag wird mithilfe von Glaubersalz oder Einläufen abgeführt. Die Länge der Fastenkur ergibt sich aus der Konstitution der Fastenden und den Zielen der Kur. Auf die Fastentage folgen in jedem Fall einige Aufbautage, an denen reduziert, ballaststoffreich, fettarm und fleischlos gegessen wird.130 Als Auswirkungen einer Fastenkur werden auf psychischer Ebene sowohl »eine gehobene Stimmung und eine innere Harmonisierung der Patienten«131 als auch »ein erhöhtes Ruhebedürfnis, ein[] leichtere[r] Schlaf, eine verstärkte Traumtätigkeit, ein verlangsamtes Innentempo und eine zeitweilige Beeinträchtigung der Merk- und Reaktionsfähigkeit«132 beobachtet. Es kann auch zu sogenannten Fastenkrisen kommen, bei denen die Fastenden sich in erster Linie psychisch nicht gut fühlen.133 Einige wichtige Kontraindikationen sind Krebs, Leberzirrhose, Depressionen, Essstörungen und Psychosen. Ebenso sollten noch nicht ausgewachsene Kinder, Schwangere und Stillende sowie Menschen, die nicht in der Lage sind, die Vorgänge und Maßnahmen während des Fastens zu verstehen, nicht fasten.134 Auf religiöse bzw. spirituelle Aspekte des Fastens wird in medizinischer Literatur ebenfalls hingewiesen, wenn es als »Möglichkeit zur Selbsterfahrung« und »Impuls zur Veränderung des Lebensstils u. zur Neuorientierung gegenüber der Welt u. Transzendenz«135 bezeichnet wird. Otto Buchinger formulierte sogar: »Ich bilde mir zwar nicht ein, daß ich der einzige Fastenpionier im deutschen Sprachraum bin, wohl aber darf ich annehmen, daß ich wie kein zweiter den engen Zusammenhang zwischen Fasten und Religion klar erkannt und folgerichtig im Auge behalten habe.«136 Fasten könne zu einem »Erlebnis höherer seelisch-geistiger Integrations-
129 Vgl. Wilhelmi de Toledo et al.: Fasting Therapy, S. 442. 130 Vgl. a.a.O., S. 275. 131 Weidner, Beate: [Art.] Heilfasten, in: André-Michael Beer/Martin Adler (Hg.): Leitfaden Naturheilverfahren für die ärztliche Praxis (München: Elsevier Urban & Fischer 2012), S. 128–133, S. 129. 132 Ebd. 133 Vgl. Schmiedel: Heilfasten, S. 276. 134 Vgl. a.a.O., S. 278. 135 Pschyrembel: Naturheilkunde und alternative Heilverfahren (Berlin/Boston: Walter de Gruyter 4 2001), S. 185; Schmiedel: Heilfasten, S. 272. 136 Buchinger, Otto: Zur Wiedereinführung des Fastens. Bemerkungen eines Fastenarztes, in: Pie-Raymond Régamey O.P. (Hg.): Wiederentdeckung des Fastens (Wien/München: Verlag Herold 1963), S. 7–13, S. 7.
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stufen«137 führen. Hier klingen sowohl die kathartische als auch die ekstatische Dimension des Fastens an. Buchinger forderte die Kirchen ausdrücklich dazu auf, das Fasten ebenfalls wieder aufzunehmen, nachdem es nun zuerst in heilkundlichen, medizinischen und sportlichen Kreisen wiederentdeckt worden war: »Der Schatz in diesem alten Acker gehört […] der Kirche. Sie muß nunmehr Anspruch auf ihn erheben.«138
e) Anzeichen einer neuen Offenheit Erste Anzeichen einer neuen Offenheit der evangelischen Theologie für das Fasten lassen sich ab den späten 1960er Jahren beobachten. Das früheste Beispiel ist Friedrich Rothenberg und Lothar Coenens neutestamentlicher Lexikonartikel von 1967, dem sie einige Sätze über das Fasten zu ihrer Zeit hinzufügen. Dabei beobachten sie sowohl gegnerische als auch befürwortende Stimmen: Einerseits werde betont, Fasten gehöre zu Werken des Gesetzes, die von aus dem Evangelium lebenden Christ*innen nicht mehr erfüllt werden müssten und zur Werkgerechtigkeit verführten. Andererseits machten die gebetsunterstützende Funktion des Fastens sowie seine Wirkung, die Menschen für Gott zu öffnen, es zu einer unverzichtbaren Praxis.139 Rothenberg und Coenen selbst plädieren erstens dafür, das Fasten als »Zeichen und Sinnbild für das ›noch nicht‹«140 zu praktizieren. Zweitens regen sie an, Fasten nicht mehr nur auf Nahrungsverzicht zu reduzieren, da dies für viele einen frischen und positiven Zugang erleichtern könne und zudem die Gefahr der Vergesetzlichung nicht bestehe. Da Fasten ohnehin eine strikt funktionale Rolle habe und keinen Wert an sich darstelle, sei die konkrete Form nicht ausschlaggebend.141 Fasse man Nahrung zudem als Symbol für die diesseitige Welt auf, lasse sich Fasten ebenfalls als »Distanzierung des Jüngers von Rhythmus und Lebensstil seiner Zeit und Umwelt, die er zur Freiheit seines Dienstes vor und für Gott braucht«142 , verstehen. Diese wenigen Sätze sind insofern wichtig, als dass hier zum ersten Mal ein metaphorisches Verständnis vom Fasten begegnet. Meinte ›Fasten‹ zuvor stets den Verzicht auf Nahrung, kann es nun in allem bestehen, wodurch ein Christenmensch kritische Distanz zu seiner Umwelt einnimmt, um sich stärker auf Gott zu fokussieren. Diese These wird hier zum ersten Mal ausformuliert und in den folgenden Entwürfen bereits vorausgesetzt. So zieht sie sich durch ein zweites frühes Beispiel
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A.a.O., S. 10. A.a.O., S. 12. Vgl. Rothenberg/Coenen: [Art.] Fasten, S. 308. Ebd. Vgl. ebd. Ebd.
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der praktisch-theologischen Wiederentdeckung des Fastens: Rudolf Bohrens Monographie »Fasten und Feiern«. Bohren plädiert darin für christliches Leben in einer stetigen Spannung zwischen Feiern und Askese, die als »Teilnahme des Glaubens am Schmerz und an der Freude Gottes zu begreifen«143 ist. Bohren formuliert dieses Plädoyer für einen neuen christlichen Lebensstil im Rahmen seiner Perspektive auf die Gegenwart. So beobachtet er, dass in der »jüngsten Zeit«144 die »Diskrepanz zwischen theologischer Theorie und der Praxis des Christenlebens in Kirche und Alltag […] in zunehmender Schärfe empfunden [wird]. Gegenüber einer Tradition des Neuprotestantismus, die das Glaubensleben zur Herzenssache des frommen Individuums einengte, wurde erkannt, daß man seinen Glauben nicht allein leben könne. Man fand sich je länger, je deutlicher in einer Welt vor, in der ein isoliertes Dasein kaum oder gar nicht mehr möglich war. Der Hunger in der Welt wurde zur Anfrage an die reichen Christen. Das Evangelium kam in seiner revolutionären gesellschaftlichen Relevanz zu Wort und zeigte hie und da auch entsprechende Taten.«145 Entsprechend steht in Bohrens Ausführungen der sozialpolitische Aspekt der Askese im Vordergrund. Zwar spielen für Bohren auch die Transformationen im Inneren der einzelnen Menschen eine Rolle, vor allem aber wird durch das Fasten – und auch das Feiern – ein sozialer Prozess angestoßen, der Christ*innen als solche kenntlich macht und ihnen hilft, auf die Gesellschaft einzuwirken: »Fasten und Feiern werden zu Elementen, die stilbildend wirken. Sie festigen im Christen die Treue zur Erde und die Hoffnung auf die zukünftige. In diesen Elementen kommt Neuheit zum Vorschein: Inneres und Gesellschaftliches werden in einen Prozeß der Veränderung hineingezogen.«146 Aufgrund seiner kritischen Haltung zur Überflussgesellschaft spricht Bohren dem Begriff Askese eine neue Relevanz zu, obgleich er ihn als durch die kirchliche Tradition belastet ansieht.147 Er definiert Askese wie folgt: »Ich verzichte, bestimmte Möglichkeiten, die das Leben bietet, zu verwirklichen. Askese als Verzicht aber ist nur sinnvoll als Verzicht um einer Wahl willen.«148 Die innerliche Bejahung einer solchen Praxis ist dabei zentral,149 um Gesetzlichkeit zu vermeiden. Askese soll im ursprünglichen Wortsinn als Übung verstanden werden, vergleichbar mit einem
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Bohren, Rudolf: Fasten und Feiern. Meditationen über Kunst und Askese (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1973), S. 11. A.a.O., S. 20. Ebd. A.a.O., S. 23. Vgl. a.a.O., S. 66. A.a.O., S. 67. Vgl. a.a.O., S. 68–69.
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Athleten im Training, dessen Verzicht auf Dinge, die sein Training negativ beeinflussen, nur Teil der Gesamtübung und kein Selbstzweck ist. Vor allem aber ist diese Übung selbst gewählt und geschieht in Freiheit und Freiwilligkeit.150 Analog dazu soll auch christliche Askese stets »vom Evangelium her und auf das Evangelium hin«151 geschehen. Dass Askese statt dieser Ausrichtung auf das Evangelium und die darin verkündete Freiheit zur Selbstdarstellung oder gar zu einer »sublimen Form der Selbstsucht«152 und damit zum Selbstzweck wird, ist Bohren zufolge die größte Gefahr dieser Praxis, vor der bereits Jesus mit seinem Hinweis, Fasten solle im Verborgenen geschehen, gewarnt habe.153 Anstatt einzelne Praktiken zum Prinzip zu erklären, soll Askese immer neue Spielarten erproben, experimentell bleiben und »neue Möglichkeiten auf die neue Erde hin«154 suchen. Auf diese Weise kann sie »die menschliche Kehrseite der Verwandlung durch den Geist«155 darstellen. Bohren beendet seine Ausführungen mit zwei konkreten Vorschlägen für die Praxis christlicher Askese. Der erste besteht darin, die Sonntagsstille zu feiern und dazu Wort-Fasten zu praktizieren: »In einer sprachlosen Welt, die sich immer wieder nur durch die Rhetoren überreden läßt, und die Worte nur verbraucht, muß es Menschen geben, die Schweigen lernen, um das rechte Wort für ihre Zeit zu finden. Im Wort-Fasten allein ist das Wort zu finden, das notwendige, das wir verloren haben.«156 Bohren will dies nicht als Aufruf zum Rückzug aus der gesellschaftlichen Sphäre verstanden wissen, für ihn ist das Wort-Fasten im Gegenteil ein subversiver Akt, der als Zeichen des Widerstands und der Freiheit zu verstehen ist.157 Der zweite Vorschlag ist die »Einübung in die Armut«.158 Hierzu sollen die Kirchen und ihre Mitglieder nach Möglichkeit Geld oder materiale Spenden an Arme abgeben. Als dritter früher Befürworter einer Wiederentdeckung des Fastens ist Manfred Seitz zu nennen. Er nimmt in einem Enzyklopädie-Artikel zum Stichwort »Askese« eine wachstums- und konsumkritische Strömung in der Bevölkerung wahr, für die er beispielhaft den ersten Bericht des Club of Rome und die Ölkrise von 1974 nennt.159 Vor diesem Hintergrund räumt er der Askese neue Chancen ein: Askese sei zwar ein »schwerbeladenes Wort, das eine düstere Ausstrahlung hat« und rufe
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Vgl. a.a.O., S. 70–71. A.a.O., S. 71. A.a.O., S. 73. Vgl. a.a.O., S. 73–74. A a.O., S. 78. Ebd. A.a.O., S. 84. Vgl. a.a.O., S. 85. A.a.O., S. 88. Vgl. Seitz, Manfred: [Art.] Askese IX. Praktisch-Theologisch, in: Gerhard Krause u.a. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Band IV (Berlin/New York: 1979), S. 250–259, S. 254.
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dementsprechend Skepsis oder Ablehnung hervor, doch es gebe zugleich »ein neues Gespür dafür […], daß eine Einübung in Selbstbeschränkungen verschiedenster Art von lebenserhaltender Bedeutung in der Überflußgesellschaft sein kann. Deshalb geht vom Stichwort ›Askese‹ auch etwas Anziehendes aus.«160 Zugleich kritisiert Seitz scharf, dass Askese über lange Zeit keine Rolle im evangelischen Raum gespielt habe: »Die Preisgabe des asketischen Gedankens [hat] unabsehbaren Schaden in der evangelischen Kirche angerichtet und sie als vorausblickend und vorbildhaft in einer ihre Grenzen ignorierenden und ihre eigenen Lebensvoraussetzungen zerstörenden Gesellschaft aufs empfindlichste geschwächt. Die Konturen des von ihr verantworteten Glaubens sind ins Anspruchlose und Billige verwischt. Sie muß nun Anstößen, die von ›außen‹, von den ›Grenzen des Wachstums‹ kommen, folgen und ihre eigene Einstellung zu dem, was die Reformatoren immerhin als ›schuldige leibliche Übung‹ angesehen haben, neu überdenken.«161 Seitz spricht sich dafür aus, diesen Anstößen Folge zu leisten und Askese aus ethischen Gründen der Nachhaltigkeit und der globalen Verteilung von Nahrungsmitteln wieder theologisch zu reflektieren – »ohne die Geringschätzung der dinglichen Welt und des menschlichen Körpers und ohne den Verdienstgedanken«.162 Askese solle eine frei gegebene Gabe sein, kein Ausdruck eines religiösen oder psychischen Zwangs. Im Zentrum solle zudem der Glaube an Gott stehen, um christliche Askese von den wissenschaftsbasierten Aufrufen zum Konsumverzicht zu unterscheiden. Christliche Askese habe damit die Dimensionen der Bewahrung der Schöpfung, der Teilnahme am Leiden Jesu und eines Zeichens der Gemeinschaft.163 Als konkrete Anwendungsbereiche von Askese nennt Seitz erstens die weltpolitische Lage: »Christen werden ansprechbar und dadurch als Christen kenntlich sein, daß sie durch Einschränkungen im Persönlichen einen Beitrag zur Überwindung eines überpersönlichen Problems leisten. […] Ohne bejahten Verzicht im Materiellen scheint unsere Welt jedenfalls weniger und weniger bestehen zu können. Sie erträgt das vom Menschen produzierte Material nicht mehr und geht unter seiner Last zugrunde. Askese beginnt als weltweites christlich-soziales Problem heraufzuziehen.«164
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A.a.O., S. 251. A.a.O., S. 253. A.a.O., S. 254. Vgl. a.a.O, S. 255f. A.a.O., S. 256.
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Zweitens sieht Seitz eine Chance zur persönlichen Entwicklung darin, sich mit Einschränkungen auseinanderzusetzen: »Jedem Menschen wird irgendwann einmal Leiden auferlegt […] dadurch, daß einem etwas Lebenswichtiges weggenommen oder nicht gegeben wird und zwar ohne die Mitteilung von Sinn. Dann stehen wir strenggenommen nicht mehr vor einer Freiheit der Wahl, sondern nur noch vor der Möglichkeit, einen auferlegten Verzicht zu bejahen oder zu verneinen. Er gehört zu den größten Bedrängnissen des Lebens.«165 In solchen Fällen könne eine asketische Grundhaltung dabei helfen, nicht angesichts des Unveränderlichen zu verzweifeln oder zu resignieren, sondern ein sinnerfülltes oder zumindest konstruktives Verhältnis dazu aufzubauen – gerade auch in seelsorglicher Gemeinschaft.166 Drittens schätzt Seitz die Gelegenheit, praktische Glaubensvollzüge wieder stärker in den Blick zu nehmen und Askese im wörtlichen Sinn als Übung oder Einübung zu verstehen: »Glaube ist mehr als bloße Gesinnung. Er ist auch gelebter Vollzug. Deshalb können die Elemente, die ihm Gestalt geben, gelernt und geübt werden. […] Gerade die evangelische Theologie mit ihrem Hang zur Gelehrtenreligion wird sich diesen ›asketischen‹ Zug wieder aneignen müssen.«167 Entsprechend plädiert Seitz abschließend dafür, das Thema Askese deutlich stärker wissenschaftlich zu reflektieren und die »verlorengegangene Disziplin der Asketik oder Geistlichen Theologie wiederzugewinnen«.168 Insgesamt beinhalten die ersten Ansätze einer theologischen Wiederentdeckung des Fastens zwei Hauptaspekte: Einerseits ein neues, metaphorisches Verständnis von Fasten als Distanzierung vom Diesseits und Fokussierung auf Gott, und andererseits ein sozialpolitisch informiertes und motiviertes Fastenverständnis, nach welchem Fasten ein Ausdruck des Glaubensvollzugs im Alltag ist.
2 Die Wiederentdeckung des Fastens: zeitgenössische Fastenaktionen a) Fasten als Solidarität: die Misereor-Fastenaktion Die Fastenaktion des katholischen Hilfswerks Misereor ist die älteste der zeitgenössischen Fastenaktionen. Es gibt sie seit der Gründung des Hilfswerks im Jahr 1958, als auf der Arbeitstagung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken die 165 166 167 168
Ebd. Vgl. a.a.O., S. 257. Ebd. A.a.O., S. 258.
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Zweitens sieht Seitz eine Chance zur persönlichen Entwicklung darin, sich mit Einschränkungen auseinanderzusetzen: »Jedem Menschen wird irgendwann einmal Leiden auferlegt […] dadurch, daß einem etwas Lebenswichtiges weggenommen oder nicht gegeben wird und zwar ohne die Mitteilung von Sinn. Dann stehen wir strenggenommen nicht mehr vor einer Freiheit der Wahl, sondern nur noch vor der Möglichkeit, einen auferlegten Verzicht zu bejahen oder zu verneinen. Er gehört zu den größten Bedrängnissen des Lebens.«165 In solchen Fällen könne eine asketische Grundhaltung dabei helfen, nicht angesichts des Unveränderlichen zu verzweifeln oder zu resignieren, sondern ein sinnerfülltes oder zumindest konstruktives Verhältnis dazu aufzubauen – gerade auch in seelsorglicher Gemeinschaft.166 Drittens schätzt Seitz die Gelegenheit, praktische Glaubensvollzüge wieder stärker in den Blick zu nehmen und Askese im wörtlichen Sinn als Übung oder Einübung zu verstehen: »Glaube ist mehr als bloße Gesinnung. Er ist auch gelebter Vollzug. Deshalb können die Elemente, die ihm Gestalt geben, gelernt und geübt werden. […] Gerade die evangelische Theologie mit ihrem Hang zur Gelehrtenreligion wird sich diesen ›asketischen‹ Zug wieder aneignen müssen.«167 Entsprechend plädiert Seitz abschließend dafür, das Thema Askese deutlich stärker wissenschaftlich zu reflektieren und die »verlorengegangene Disziplin der Asketik oder Geistlichen Theologie wiederzugewinnen«.168 Insgesamt beinhalten die ersten Ansätze einer theologischen Wiederentdeckung des Fastens zwei Hauptaspekte: Einerseits ein neues, metaphorisches Verständnis von Fasten als Distanzierung vom Diesseits und Fokussierung auf Gott, und andererseits ein sozialpolitisch informiertes und motiviertes Fastenverständnis, nach welchem Fasten ein Ausdruck des Glaubensvollzugs im Alltag ist.
2 Die Wiederentdeckung des Fastens: zeitgenössische Fastenaktionen a) Fasten als Solidarität: die Misereor-Fastenaktion Die Fastenaktion des katholischen Hilfswerks Misereor ist die älteste der zeitgenössischen Fastenaktionen. Es gibt sie seit der Gründung des Hilfswerks im Jahr 1958, als auf der Arbeitstagung des Zentralkomitees der deutschen Katholiken die 165 166 167 168
Ebd. Vgl. a.a.O., S. 257. Ebd. A.a.O., S. 258.
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Idee aufkam, dass Bischöfe während der Fastenzeit zu einem Fastenopfer aufrufen könnten.169 Die Fastenaktion wird seitdem jedes Jahr wiederholt. Sie wird auf der Misereor-Website zusammengefasst mit den Worten: »In Deutschland engagiert – in Solidarität verbunden mit den Menschen in Afrika, Lateinamerika und Asien: Das ist die MISEREOR-Fastenaktion. Sie beginnt stets am Aschermittwoch und endet an Ostern. Im Mittelpunkt steht jedes Jahr ein Land mit einem bestimmten Schwerpunkt.«170 Im Jahr 2019 war dieses Land El Salvador (Motto: Mach was draus – Sei Zukunft!), 2020 waren es Libanon und Syrien (Motto: Gib Frieden). In den jeweiligen Ländern werden von Misereor in Zusammenarbeit mit lokalen Organisationen Hilfsprojekte unterstützt, für die während der Fastenzeit Spenden eingesammelt werden – neben individuellen Spenden ist hierfür v.a. die Kollekte, die deutschlandweit in katholischen Gottesdiensten am Sonntag Judica eingesammelt wird, wichtig. Zugleich bemüht sich Misereor um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den jeweiligen Ländern und Aktionen. So gibt es jedes Jahr eine Sammlung von Material: Neben Informationen über die Länder und die Projektpartner werden Unterrichtsentwürfe und Impulse für die Arbeit in Schule und Kindertagesstätte, liturgische Bausteine für die Verwendung in Gottesdiensten und Ideen für Aktionen, die zum Spendensammeln und als Solidaritätszeichen durchgeführt werden können, bereitgestellt. Des Weiteren finden sich Veranstaltungshinweise sowie das Angebot, aus dem jeweiligen Partnerland angereiste Gäste in die eigene Gemeinde einzuladen. Zum Hungertuch, das alle zwei Jahre künstlerisch gestaltet wird, sowie für Kinder und Jugendliche finden sich jeweils spezifische Materialien. Zuletzt gibt es das Misereor-Fastenbier, von dessen Erlös ein Teil ebenfalls an die unterstützten Projekte geht.171 An Material und Durchführung der Aktion fällt zum einen auf, dass sie explizit in die Institution der katholischen Kirche eingebunden sind. Dies wird beispielsweise daran deutlich, dass das Thema von 2020 (»Gib Frieden«) auf das Jahresthema aller katholischen Hilfswerke in Deutschland Bezug nimmt (»Frieden leben«).172 Auch die Tatsache, dass Material für Unterrichtseinheiten, Gemeindeabende und Gottesdienste zur Verfügung gestellt wird und von Lehrkräften und Gemeinden in ganz Deutschland genutzt werden kann, unterstreicht dies. Nicht zuletzt lässt die Einladung, Fotos von der eigenen Solidaritätsaktion zu machen und an Misereor zu senden, damit sie dann in einer Online-Galerie zusammengestellt werden können, sich
169 Vgl. https://www.misereor.de/ueber-uns/geschichte#c1144, zuletzt abgerufen am 13.01. 2022. 170 https://www.misereor.de/mitmachen/fastenaktion, zuletzt abgerufen am 08.01.2020. 171 Alle erwähnten Materialien lassen sich einsehen und z.T. auch herunterladen unter https://f astenaktion.misereor.de, zuletzt abgerufen am 08.01.2020. 172 Spiegel, Pirmin: Vorwort, in: Bischöfliches Hilfswerk Misereor e. V. (Hg.): Grundlagen und Praxistipps Fastenaktion 2020 (Aachen: MVG Medienproduktion Aachen 2019), S. 3, S. 3.
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als Versuch verstehen, die Einheit und Verbundenheit der katholischen Gemeinden in Deutschland abzubilden. Zum anderen reflektiert die Aktion über den nationalen Zusammenhalt hinaus auch das Selbstverständnis der katholischen Kirche als Weltkirche. Internationaler Zusammenhalt, Solidarität und soziale Verantwortung werden mehrfach erwähnt, finden jedoch auch in der global angelegten Struktur des Hilfswerks und der Aktion ihren Ausdruck. Christsein und gesellschaftliches Engagement werden als eng zusammengehörig beschrieben.173 Auch politisch wird die Aktion klar verortet: »Wenn wir Ressourcen brauchen, die häufig unter Missachtung von Umwelt- und Menschenrechten abgebaut werden, heizen wir indirekt Konflikte mit an. Unsere Waffenexporte in konfliktbeteiligte Länder (Saudi-Arabien und der Jemen-Konflikt, Indien und der Kaschmir-Konflikt usw.) widersprechen unseren Wertvorstellungen von Achtung der Menschenwürde und Friedenserhalt. Unser übermäßiger CO2-Austoß ist mitverantwortlich für die weltweiten Klimaveränderungen, die insbesondere die Ärmsten der Armgemachten treffen.«174 Es wird auf den Einfluss des Konsums und der Politik in Deutschland auf die Lage in anderen Teilen der Welt hingewiesen wird und darauf, dass dieser Einfluss den Wertvorstellungen der katholischen Kirche entgegensteht. Vor diesem Hintergrund wird Fasten wie folgt definiert: »Fasten heißt für mich fragen: Warum lernen wir Menschen nicht aus der Geschichte? Welche Rolle spielen Gier, Machtstreben, offene Wunden, Intoleranz oder Kampf um Ressourcen bei der Entstehung von Kriegen? Und welche Rolle spielen Religionen mit ihren Gewalt-, aber auch Friedenspotenzialen? […] Wenn wir in der Fastenzeit mit diesen Fragen in uns gehen, geraten wir außer uns. Dann kann aus Wut der Wandel werden. […] Mit Ihnen gemeinsam möchte MISEREOR in der Fastenaktion 2020 unbequeme Fragen stellen. Fragen nach Verantwortlichkeiten und Fragen nach den eigenen persönlichen Möglichkeiten, selbst zu einer Botschafterin oder zu einem Botschafter des Friedens zu werden. Umkehr kann eine Antwort sein. Lassen Sie uns Perspektiven für ein Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Identität entwickeln. Stärken Sie mit
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Vgl. ebd. Hippler, Michael: Frieden ist TATsache! Misereor und die Friedensarbeit in Nord und Süd, in: Bischöfliches Hilfswerk Misereor e. V. (Hg.): Grundlagen und Praxistipps Fastenaktion 2020 (Aachen: MVG Medienproduktion Aachen 2019), S. 4f.
II Theoretischer Hintergrund: christliches Fasten und die vorösterliche Fastenzeit
uns das Engagement der Menschen in Syrien, im Libanon und in Deutschland für eine freie, offene und gerechte Gesellschaft, damit Frieden wachsen kann!«175 Fasten und die Fastenzeit werden hier als Prozess und Zeit des Hinterfragens und In-Sich-Gehens verstanden. Dies knüpft theologisch durchaus an die Tradition der Buße in der Fastenzeit an176 – im Sinne des Einnehmens einer Haltung, die die eigenen Irrtümer eingesteht und versucht, Wiedergutmachung zu leisten. Im Zentrum steht dabei weniger die persönliche Frömmigkeit oder das Verhalten den Mitmenschen gegenüber im Alltag, sondern eher die politische Dimension des Handelns. Entsprechend wird der Blick nicht in erster Linie auf die individuelle Lebensführung und das Konsumverhalten gerichtet, sondern auf gesellschaftliche Muster und politische Strukturen. Die Fasteninteressierten werden zudem nicht als Menschen adressiert, die in diese negativen Prozesse verstrickt sind oder zu ihnen beitragen, sondern positiv als Menschen, die zur Verbesserung der Verhältnisse beitragen können. Auch wenn einige Texte klare moralische Positionierungen enthalten, richtet sich die Kritik weniger an die Einzelperson denn an die jeweils beteiligten Systeme und ist darauf fokussiert, zu Veränderung und Einsatz zu motivieren. So werden die Fastenden eingeladen, »[p]olitische Forderungen zur Misereor-Fastenaktion«177 an das Auswärtige Amt zu richten und somit selbst politisch aktiv zu werden. Der politische Impetus der Fastenaktion passt zum Selbstverständnis von Misereor insgesamt.178 Die Misereor-Fastenaktion verbindet auf diese Weise das Engagement als Hilfswerk mit dem Fasten und bindet dadurch zugleich die Arbeit des Hilfswerks an eine christliche Tradition zurück. Dies geschieht auf zwei Ebenen: Zum einen wird die althergebrachte Verbindung von Fasten und (Mangel an) Ernährung aufgegriffen. In der Fastenzeit sollen die Menschen in Deutschland, deren Bedürfnisse in der 175
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Nottebaum, Jörg: Fasten heißt fragen, in: Bischöfliches Hilfswerk Misereor e. V. (Hg.): Grundlagen und Praxistipps Fastenaktion 2020 (Aachen: MVG Medienproduktion Aachen 2019), S. 8f. Vgl. dazu auch die Erklärungen zum Fasten auf katholisch.de, in denen die Fastenzeit explizit als Zeit der Buße bezeichnet und auf die Misereor-Fastenaktion als Möglichkeit, sich gegen Ungerechtigkeit einzusetzen, verwiesen wird: Stienen, Sascha: Die Fastenzeit: 40 Tage ohne, abrufbar unter https://www.katholisch.de/artikel/148-40-tage-ohne, zuletzt abgerufen am 29.04.2020. Vgl. Bischöfliches Hilfswerk Misereor e. V. (Hg.): Grundlagen und Praxistipps Fastenaktion 2020 (Aachen: MVG Medienproduktion Aachen 2019), S. 13. Vgl. die Selbstdarstellung in der Broschüre »Von Mensch zu Mensch«: »1958 als Hilfswerk auf der Fuldaer Bischofskonferenz gegründet, hat sich MISEREOR nicht nur der Nächstenliebe verschrieben, sondern auch einem politischen Ansatz, der sagt: Es darf nicht so bleiben, wie es ist – es müssen sich grundsätzliche Dinge ändern.« S. 9, online abrufbar unter https://ww w.misereor.de/fileadmin/publikationen/misereor-selbstdarstellung-2015.pdf, zuletzt abgerufen am 29.04.2020.
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Regel so weit gesichert sind, dass freiwilliger Verzicht möglich ist, sich solidarisch an die Seite derjenigen stellen, die aus Not Hunger leiden. Dies knüpft an das Verständnis des Fastens als Bewältigungsmechanismus für einen Mangel an Nahrungsmitteln an, auch wenn in der Misereor-Fastenaktion nicht auf die eigene Erfahrung des Mangels, sondern auf die von Menschen in anderen Ländern reagiert wird. Die Aufmerksamkeit richtet sich jedoch zunehmend nicht nur auf Hunger und seine Bekämpfung, sondern auch auf den Einsatz für soziale Gerechtigkeit und Frieden, wie an den Aktionen der Jahre 2019 und 2020 deutlich wird. Es ist zum anderen beobachtbar, dass, wenn auch in modifizierter Weise, an das Fasten als Ritus zur Buße angeknüpft wird. Der Blick wird auf Probleme gerichtet, die benannt und beklagt werden und zu deren Lösung die Fastenaktion ein Stück weit beitragen möchte. Zugleich betreffen diese Probleme nicht Einzelpersonen, sondern die Gesamtgesellschaft und machen deshalb auch kollektives Handeln erforderlich: Spenden werden (zuerst in Gemeinden, dann deutschlandweit) eingesammelt, es wird zu Aktionen in Gemeinden und Schulen aufgerufen, das Hungertuch wird als Gemeinschaftsaktion durch Deutschland getragen. Die Aktion hebt insgesamt stark auf ein Miteinander ab, sowohl innerhalb der deutschen Gemeinden als auch durch die Unterstützung der jeweiligen Partnerländer. Vermittelt wird ein Bild von einem tätigen Glauben, der sich in gemeinschaftlichen Aktionen und in der Bereitschaft zu Solidarität niederschlägt.
b) Fasten als anderer Alltag: »7 Wochen Ohne« Die Aktion »7 Wochen Ohne« wurde 1983 als gemeinsame Initiative von Theologen und Journalist*innen begründet: Sie wollten als Selbstversuch während der vorösterlichen Fastenzeit auf Alkohol verzichten. Im ersten Jahr nahmen 300 Personen teil, im Folgejahr stieg die Zahl der Teilnehmenden auf 3000 und es kam die Idee der Fastenbriefe auf, die die Fastenden beim Durchhalten bestärken sollten.179 Seit 1985 gibt es zusätzlich einen Fastenkalender. Dabei war den Initiator*innen »die Betonung der absoluten Freiwilligkeit des Fastens ›auf evangelisch‹ und das strikte Vermeiden des kleinsten Anscheins eines moralischen Zeigefingers«180 ein wesentliches Anliegen. Als Zielgruppe waren in besonderer Weise Menschen im Blick, »die mit Kirche nicht mehr viel am Hut haben, die vielleicht zum Konfirmandenunterricht gegangen sind, aber das meiste vergessen haben, mit einfacher Bildung, altersmäßig möglichst breit gestreut«.181 Den Teilnehmenden sollte in fünf Schritten Fasten als Umkehr vermittelt werden: Umkehr zu sich selbst, zu den Nächsten, zu Frieden und Gerechtigkeit, zur Bewahrung der Schöpfung und zu Gott. Durch 179 Vgl. Ullrich: Von einer Stammtischidee…, S. 249. 180 Ebd., S. 251. 181 Ebd., S. 251.
II Theoretischer Hintergrund: christliches Fasten und die vorösterliche Fastenzeit
Zuschriften der Teilnehmenden bestätigte sich, dass diese Botschaft auf Resonanz stieß, obwohl – wie angestrebt – die meisten Fastenden eher kirchenfern waren.182 Als wesentliche Erfolgsmerkmale wurden von den Initiator*innen dabei die Gestaltungsfreiheit der Teilnehmenden, die den Gegenstand des Verzichts individuell bestimmen, die frei wählbare Intensität des Kontakts, die Niedrigschwelligkeit und der Verzicht auf moralische Ansprüche identifiziert.183 Die Zuschriften der Teilnehmenden machten laut den Initiator*innen zudem deutlich, dass sie den Nutzen des Fastens unterschiedlich bestimmten: von mehr Selbstfürsorge über die Überprüfung eigener Abhängigkeiten bis hin zu mehr Selbstbewusstsein und neuen Sozialkontakten. Die Aktion eröffnete die Möglichkeit, »kleine Veränderungen im Alltag auszuprobieren, innezuhalten, sich neu zu orientieren, den Lebensalltag mit den Idealen und Lebenskonzepten stärker in Einklang zu bringen. Zudem bietet die Fastenaktion Unterstützung, Kontakte und Gemeinschaft«.184 Seit den 1990er Jahren stehen die Fastenaktionen unter einem jährlich wechselnden Motto, das »den Blick auf einen speziellen Aspekt des alltäglichen Zusammenlebens richten, Anstöße zum Nachdenken geben, Ideen zur Veränderung anbieten«185 soll. Die Fastenbriefe – mittlerweile sind es Emails – und den Fastenkalender gibt es bis heute. Zudem wird in jährlich wechselnden Kirchen ein Eröffnungsgottesdienst gefeiert sowie ein Begleitbuch mit Materialien bereitgestellt, das von einzelnen Fastenden oder Fastengruppen genutzt werden kann. Das Onlineangebot umfasst die Website mit Texten und Informationen zu »7 Wochen Ohne« sowie die Möglichkeit, analog existierende Fastengruppen (z.B. in Gemeinden) einzutragen und zu finden, eine Facebookpräsenz und ein Instagram-Konto.186 Die Fastenzeit 2019 beispielsweise stand unter dem Motto »Mal ehrlich – Sieben Wochen ohne Lügen«. Sowohl das Begleitbuch, herausgegeben von Regionalbischöfin Susanne Breit-Keßler (der Schirmherrin der Aktion187 ), als auch der Kalender188 folgten diesem Thema und teilten es in sieben Unterthemen für die Wochen der Fastenzeit auf: »Die Wahrheit suchen«, »Die Wahrheit erkennen«, »Ehrlich zueinander sein«, »Sich selbst nicht belügen«, »Wahrhaftig leben«, »Für die Wahrheit streiten«
182 183
Ebd., S. 252. Vgl. Ohmann, Marianne: … zum Millionenprojekt, in: Rahlwes/Hammerschmidt (Hg.): Das Fastenlesebuch, S. 255–263, S. 255f. 184 Ebd., S. 257. 185 Ebd., S. 261. 186 https://www.instagram.com/7wochenohne/, zuletzt abgerufen am 29.04.2020. 187 Breit-Keßler, Susanne (Hg.): Mal ehrlich! Sieben Wochen ohne Lügen. Der Begleiter durch die Fastenzeit (Leipzig: edition chrismon in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig 2018). 188 Hansisches Druck- und Verlagshaus GmbH (Hg.): Mal ehrlich! Sieben Wochen ohne Lügen. Kalender 6. März bis 22. April (Leipzig: edition chrismon in der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig 2018).
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und »Die Wahrheit erwarten«.189 Jedem Unterthema waren eine Fotografie und eine Perikope zugeordnet. Das Buch zur Aktion enthält für jede Woche eine von Breit-Keßler verfasste biblische Miniatur zum jeweiligen Wochentext sowie zwei oder drei weitere theologische Texte oder auch Gebete, die auf diesen Bezug nehmen und ihn ins Gespräch mit dem gegenwärtigen Alltag bringen. Ergänzt wird dies durch einen poetischen Beitrag, der meist eher lose auf das Thema der Woche Bezug nimmt, sowie einen Text, der sich dem Thema »konkret« widmet und den Fastenden »coaching-to-goTipps« mitgibt.190 Der Kalender orientiert sich an derselben Struktur, jedoch nimmt den Großteil jeden Kalenderblatts eine Fotografie ein. Dazu findet sich zu Wochenbeginn der jeweilige Bibeltext, am Folgetag ein Auslegungsimpuls von Frank Muchlinsky, der auch die Fastenmails verfasst, und an den restlichen Tagen Zitate von Schriftsteller*innen und Lyriker*innen, Kurztexte, Gedichte oder Aphorismen. Auch in den Fastenemails wird auf die wöchentlichen Bibeltexte eingegangen und sie werden mit Handlungsanregungen für die Woche verbunden. Insgesamt knüpft die Aktion »7 Wochen Ohne« zwar bewusst an eine alte Tradition, aber nicht an traditionelle Ausdrucksformen und Interpretationen des Fastens an. Im Erklärungstext »Warum fasten wir eigentlich?«191 wird Fasten eingangs mit den Worten »Einkehr, Umkehr, Besinnung«192 charakterisiert. Nach einigen Worten zu biblischen Ursprüngen und historischer Kritik wird Martin Luthers Haltung zum Fasten als Basis für eine evangelische Form des Fastens genannt. Die Praxis der Einkehr, Umkehr und Besinnung wird zudem auf Jesu Fasten in der Wüste bezogen. Schließlich wird das Fastenverständnis von »7 Wochen Ohne« genauer erläutert: »In diesem Sinne bedeutet Fasten, Gott gegenüber eine fragende Haltung einzunehmen und zu hören, was er zu sagen hat. Im Verzicht der Fastenzeit lebt die Erinnerung daran, dass wir es nicht immer allein und selber am besten wissen, was gut für uns ist. Probehalber etwas anders zu machen – auch wenn es schwer fällt – kann die Entdeckung mit sich bringen, dass es anders besser sein könnte. Eine Weile das zu vermeiden, womit wir sonst viel Zeit verbringen und uns besonders im Wege stehen, das setzt Kräfte frei. So kann das Fasten ein jährlicher kleiner Entwurf sein: Was wäre wenn? Was wäre, wenn ich nicht jeden Abend auf dem
189 Vgl. z.B. Breit-Keßler (Hg.): Mal ehrlich!, S. 5. 190 Vgl. z.B. zum Unterthema »Sich selbst nicht belügen« die drei Tipps »Visions- und Wahrheitsfindung«, »Selbst-Annahme üben« und »Ein Vertrauens-Netz weben«, die jeweils noch ausformuliert werden. Vgl. Hofmann, Beate: Sich selbst nicht belügen – konkret, in: Breit-Keßler (Hg.): Mal ehrlich!, S. 83–88. 191 Althans, Kathrin: Warum fasten wir eigentlich?, abrufbar unter https://7wochenohne.evang elisch.de/warum-fasten-wir-eigentlich, zuletzt abgerufen am 29.04.2020. 192 Ebd.
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Sofa zu bewegten Bildern einschlafen würde? Wenn ich jeden Tag eine neue Begegnung wagen würde, wenn ich vorwärts schauen würde, statt zurück? Die Skizze eines anderen Alltags, der Blick in eine andere Richtung, eine Perspektivverschiebung.«193 Bei diesem Verständnis sind zwei Punkte ausschlaggebend: Fasten hat zuerst etwas mit dem Gottesverhältnis zu tun, man versucht, »zu hören, was er zu sagen hat«. Dies lässt sich als Anknüpfung an die biblische (und generell religiöse) Funktion des Fastens als Vorbereitung oder Reaktion auf eine Begegnung mit Gott deuten. Der Anschluss bleibt aber ähnlich implizit und locker wie der der Misereor-Fastenaktion an das Fasten als Bußpraxis. Wie man konkret »auf Gott hört«, wird nicht näher bestimmt. Dieses »Hören« wird zweitens mit der Offenheit für eine – zunächst probeweise – Veränderung im alltäglichen Leben verbunden, mit der »Skizze eines anderen Alltags«. Vor diesem Hintergrund lassen sich die jährlichen Mottos als solche Skizzen verstehen: Wie sähe z.B. eine Gesellschaft ohne Lügen aus? Oder ein Leben mit mehr Zuversicht? Der Perspektivwechsel scheint sich im Lauf der Entwicklung von »7 Wochen Ohne« als Paradigma des Fastens durchgesetzt zu haben, denn inhaltlich sind die aktuellen Materialien ganz auf das jeweilige Motto fokussiert. Die Anregung, auf etwas zu verzichten, wird zwar nach wie vor gegeben, aber die Materialien nehmen keinen Bezug auf diesen individuellen Verzicht, sondern setzen sich ausschließlich mit dem gewählten Thema auseinander. Angesprochen wird Verzicht, wenn überhaupt, nicht im Sinne eines Mangels, sondern ebenfalls als Perspektivwechsel: »Wir laden Sie ein, sieben Wochen auf etwas zu verzichten und damit in dieser Zeit etwas freizulegen und in Bewegung zu bringen. Dafür soll Raum sein. Gestalten Sie Ihr Leben ›7 Wochen Ohne‹ und entdecken Sie die Fülle. Der Verzicht macht Appetit – auf das Leben.«194 Statt Leere steht »Fülle« im Vordergrund. Fasten wird somit nicht unbedingt mit Verzicht verbunden, sondern mit Veränderung. Weiterhin ist diese Veränderung nicht zwingend auf Ernährung oder Konsumgewohnheiten bezogen, sondern es geht um einen »Blick in eine andere Richtung, eine Perspektivverschiebung« – um ein anderes Denken. Dies ist angesichts der Tatsache, dass »7 Wochen Ohne« mit dem Verzicht auf Alkohol begann und zu Beginn einen starken Fokus auf das Konsumverhalten legte, bemerkenswert195 und – obwohl es in den theologischen Texten der 1960er und 1970er Jahre bereits anklang – eine Neuerung in der Fastenpraxis. Natürlich war der Aspekt des Umdenkens auch dem Fasten im biblischen und historischen Kontext nicht fremd. Umdenken ist für Buße konstitutiv und auch das Fasten als Vorbereitung auf eine
193 Ebd. 194 Ebd. 195 Diesen Wandel beobachtet auch Andrea Bieler, vgl. Dies.: Askese Postmodern, S. 221.
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Begegnung mit Gott lässt sich in gewissem Sinne als Perspektivänderung weg von der Immanenz und hin zur Transzendenz verstehen. Nichtsdestoweniger war diese Blickwinkeländerung damals immer auch mit dem konkreten Verzicht auf Nahrung verbunden. Das Umdenken der Buße ging Hand in Hand mit der physischen Selbstminderung durch Nahrungsverzicht, ebenso war die geistliche Vorbereitung auf eine Gottesbegegnung von einer körperlichen Vorbereitung flankiert. Auch Bohren und Seitz forderten noch konkreten Verzicht von den Fastenden. Fasten in erster Linie als Umdenken zu verstehen, das nicht von einer »handfesten« physischen Verzichtshandlung begleitet werden muss, ist insofern ein signifikanter Wandel im Verständnis des Fastens. Diese Beobachtung legt die Frage nahe, wie dieser Wandel zustande kam und was ihn beeinflusste. Eine historische bzw. zeitgeschichtliche Untersuchung liegt nicht im Fokus dieser Studie, aber einige Gedanken dazu sollen am Ende dieses Kapitels entfaltet werden. Eine explorative empirische Untersuchung zu »7 Wochen Ohne« gibt es von Julia Koll, die im Jahr 2014 Briefe von Fastenden an das Büro der Aktion »7 Wochen Ohne« auswertete.196 Koll arbeitet aus den Zuschriften fünf wesentliche Fastenmotive heraus: Erstens Kampf und Überwindung innerer Widerstände, zweitens Freude über die eigene Disziplin und das Erreichen eines gesetzten Ziels, drittens ein Empfinden gesteigerter Freiheit von Gewohnheiten oder Zwängen, viertens das Gefühl gesteigerter Lebensqualität und fünftens ein intensiviertes religiöses Erleben der Fastenzeit.197 Sie hält fest, dass Religion in den meisten Briefen nicht als Motivation zum Fasten angegeben wird, konstatiert jedoch zugleich: »Im Blick auf die gegenwärtige Praxis greifen […] sowohl der theologische Verdacht der Selbsterlösung als auch die kulturkritische Vermutung, Fasten sei eine weitere, systemkonforme Praxis der Selbstoptimierung, zu kurz. Im Sinne einer ersten theologischen Annäherung an das Phänomen ist vielmehr festzuhalten: Hier geht es nicht um Erlösung, sondern um Heiligung, mithin um die Frage nach dem guten Leben, der Orthopraxie. Dies berührt sich nicht unbedingt mit der Gottes-, in jedem Fall aber mit Sinnfragen. Daher lässt sich das selbstbestimmte Etwas-Fasten in der vorösterlichen Zeit sehr wohl als geistliche Übung bezeichnen.«198 Diese geistliche Übung sieht Koll einerseits durch einen Fokus auf das individuelle Erleben, andererseits durch eine Zuwendung zur Welt anstatt der Abkehr von ihr
196 Koll: »Ich tue mir nichts an, ich gönne mir etwas«, S. 18–21. 197 Vgl. a.a.O., S. 19f. 198 A.a.O., S. 20.
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gekennzeichnet.199 So sei das Fasten mittlerweile »offensichtlich in der Mitte der Gesellschaft angekommen«.200 Zuletzt richtet Koll ihren Blick auf die Frage nach dem Verhältnis von Fastenzeit und Ostern und kommt dabei zu dem etwas ernüchterten Schluss, dass das Osterfest in den Briefen der Fastenden quasi keine Rolle spielt: »Wenn überhaupt auf das Kirchenjahr Bezug genommen wird, dann wird die Fastenzeit als die »Zeit vor Ostern« beschrieben. Und dies hängt wohl weniger an einer Unverträglichkeit der Themen als vielmehr daran, dass das Fasten als spätmoderne geistliche Übung sich nicht auf das Osterereignis hin entwickelt. Es lebt nicht aus dem Gegensatz von Fasten und Feiern, sondern von normalem Alltag und außergewöhnlicher Fastenzeit. Noch wichtiger: Es handelt sich dabei offenbar nicht mehr um eine zeichenhafte Praxis; das, worum es geht, geschieht im Fasten selbst. Daher verwundert es auch nicht, dass die evangelische Wiederentdeckung und -belebung der Fastenzeit auf die gottesdienstliche Feierpraxis der Passionszeit oder des Osterfestes bisher kaum zurückgewirkt hat (einmal abgesehen von einer gewissen liturgischen Aufwertung des Aschermittwochs).«201 Damit wird ein zentraler Unterschied des modernen, metaphorischen Fastenverständnisse zum herkömmlichen Fasten angesprochen: Während zum körperlichen Fasten immer auch das (österliche) Fastenbrechen gehört, wird im Rahmen von »7 Wochen Ohne« selbstverständlich nicht dazu aufgerufen, ab Ostern wieder mit dem Lügen zu beginnen oder jegliche Zuversicht fahren zu lassen. Stattdessen wird der Perspektivwechsel als im Idealfall dauerhaft und über Ostern hinaus bestehend imaginiert. Dies ist in sich schlüssig, wirft aber die Frage auf, inwieweit die Fastenzeit dann noch mit Ostern verbunden werden kann – einerseits in der theologischen Konzeption der Fastenaktionen, andererseits im Empfinden der Fastenden.
c) Fasten als religiöses Neuwerden: »7 Wochen anders leben« Die Aktion »7 Wochen anders leben« wird vom Verein Andere Zeiten angeboten und wurde 2003 vom Vereinsgründer Hinrich C. G. Westphal initiiert, der zuvor bereits an der Konzeption und Entwicklung von »7 Wochen Ohne« beteiligt gewesen war. Das Angebot zur Fastenzeit umfasst Fastenbriefe, einen Gottesdienst, Online-Angebote sowie den Wegweiser »wandeln«.202 Grundsätzlich versteht Andere Zeiten
199 200 201 202
Vgl. ebd. A.a.O., S. 18. A.a.O., S. 21. Vgl. https://www.anderezeiten.de/initiativen-publikationen/fastenzeit, zuletzt abgerufen am 21.08.2023.
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Fasten als »religiöse Praxis des Neuwerdens«.203 Dem korrespondierend steht die Aktion seit ihrem Beginn unter dem Zitat »Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur so selten dazu« (Ödön von Horváth). Die Fastenaktion möchte nach eigenem Bekunden »dazu einladen, Freiräume zu entdecken und dem Anderssein einen Platz im Hier und Jetzt zu verschaffen«.204 Das Angebot, sich während der vorösterlichen Fastenzeit einen wöchentlichen Fastenbrief zusenden zu lassen, stellt den Kern der Fastenaktion »7 Wochen anders leben« dar. Der Verein legt Wert darauf, dass es sich um analoge Briefe handelt, die ansprechend gestaltet und auf hochwertiges Papier gedruckt sind.205 Dem ersten Brief liegt zusätzlich eine Fastenbroschüre bei, die grundlegende Informationen über die biblischen Grundlagen christlichen Fastens sowie über das Fastenverständnis des Vereins enthält. Der vierte Brief zum »Bergfest« am Sonntag Laetare enthält jeweils ein kleines Geschenk. »7 Wochen anders leben« baut darauf auf, dass die Teilnehmenden alle ein individuelles Fastenvorhaben wählen. Die Briefe sollen bei diesem zeitlich begrenzten Ausprobieren von Veränderungen im Lebensalltag unterstützen sowie zu einer Vernetzung der Fastenden – die in der Regel nicht analog, z.B. über eine Gemeinde, verbunden sind – beitragen. Das Aufgreifen von Zuschriften von Fastenden sowie die direkte Erinnerung daran, »gemeinsam unterwegs« zu sein, zieht sich durch alle Jahre der Fastenbriefe. Ebenso gehören die Erinnerung daran, dass Fasten ein strikt freiwilliges Vorhaben ist sowie die Ermunterung, nicht zu streng mit sich selbst zu sein, zu den prominentesten Themen der Fastenbriefe. Sie sind jedes Jahr mindestens einmal präsent. Häufig werden auch gemischte Gefühle der Fastenden in den Briefen thematisiert, wie das folgende Zitat beispielhaft verdeutlicht: »Wer auf Betäubung verzichtet, sei es durch Alkohol, Lautstärke, Gummibärchen oder Geschäftigkeit, wird durchlässiger. Sensibler. Dünnhäutiger. Vielleicht unterscheidet das die Fastenzeit von einem Wellnessurlaub: Es geht nicht nur ums SichWohlfühlen. Sondern um Ganzheit. Die inneren Stimmen dürfen reden. Auch solche, die man eigentlich lieber zum Schweigen bringt. Die hilflos sind. Die schreien möchten. Die man lieber verbannen möchte in irgendeine ferne Herzenskammer. Weil sie Angst machen.«206
203 Vgl. https://www.anderezeiten.de/initiativen-publikationen/fastenzeit/wandeln#c280, zuletzt abgerufen am 21.08.2023 204 https://www.anderezeiten.de/aktionen/initiativen-zum-kirchenjahr/fastenzeit/geschichteder-fastenaktion/, zuletzt abgerufen am 13.01.2022. 205 https://www.anderezeiten.de/aktionen/initiativen-zum-kirchenjahr/fastenzeit/7-wochen-a nders-leben/, zuletzt abgerufen am 29.04.2020. 206 Andere Zeiten: Fastenbrief 2/2007, S. 1f.
II Theoretischer Hintergrund: christliches Fasten und die vorösterliche Fastenzeit
Auf diese Sensibilität und »Dünnhäutigkeit« sowie auf Versagensängste oder Frustrationen bezüglich persönlicher Fastenvorhaben wird ausgesprochen oft Bezug genommen, häufig auch in konkreter Antwort auf Zuschriften von Fastenden. So gibt ein Brief die folgende Antwort an einen Fastenden, der gegen Ende der Passionszeit enttäuscht ist, sich nicht wie erwartet frisch und befreit zu fühlen: »Lieber Klaus, für die Fastenzeit gibt es keine Bilanzierungspflicht. Erfolge gegen Verluste verrechnen – dieses Denken hat seinen Platz in der Wirtschaft. Dem Leben und seinen vielen Facetten wird es nicht gerecht, auch nicht dem Fasten. »Erfolg«, schrieb der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber, ›ist keiner der Namen Gottes.‹ […] Gerade darin liegt die unübertroffene Weisheit der jüdisch-christlichen Tradition: Das Scheitern gehört zum Leben – nicht etwa, weil es sich gar nicht konsequent vermeiden lässt, sondern weil nur durch die Bruchstellen unseres Lebens das ganz Andere, das Göttliche durchscheinen kann.«207 Den Schwierigkeiten und Herausforderungen, die Fasten mit sich bringen kann, wird so explizit Raum gegeben. Doch auch eher positive, leichtere Themen prägen die Fastenbriefe, z.B. die Möglichkeit, sich im Fasten etwas Gutes zu tun, die bewusste Gestaltung des eigenen Lebens, Konzentration auf und Dankbarkeit für positive Dinge im Leben sowie mehr Offenheit für Andere. Generell begegnen häufig Begriffe aus dem Wortfeld »Neuanfang, Aufbruch, Veränderung« in den Briefen, oft kombiniert mit dem Wunsch nach mehr Tiefgang oder Authentizität im Leben – sie spiegeln das Motto »anders leben« deutlich wider und stellen Fasten als eine Möglichkeit dar, sich an diesem »anderen Leben« zu versuchen. Das Thema Verzicht spielt auch hier nur eine untergeordnete Rolle – es begegnet in 112 Briefen lediglich elfmal, in vielen Jahren überhaupt nicht. Eine deutlich hervorgehobene Stellung erhält dagegen das Thema Gott und Jesus, das sich durch beinahe alle Jahre konsequent hindurchzieht. So wird jedes Jahr über die sieben Briefe hinweg eine biblische Geschichte (nach-)erzählt, jedoch meist verfremdet oder aus einer anderen Perspektive als im Originaltext. Bisweilen werden auch eher kurze Geschichten durch eingefügte innere Monologe der Beteiligten ausgeschmückt – auch hier wird den Emotionen der Charaktere, die in den Originaltexten häufig Leerstellen darstellen, Raum gegeben. Die Briefe enthalten zudem jede Woche eine Karikatur sowie ein Gedicht. Auf all diese Elemente wird zumeist im Verlauf eines jeden Briefs eingegangen und sie werden in Verbindung zur aktuellen Situation der Fastenden gebracht (z.B. Motivation am Anfang, Hürden in der Mitte, »Endspurt« gegen Ende der Fastenzeit). Eine Neuerung im Jahr 2005 war das Fastenforum auf der Website des Vereins. Hier können sich Fastende während der Passionszeit (ggf. unter Pseudonym) über
207 Andere Zeiten: Fastenbrief 7/2015, S. 2f.
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ihre Erfahrungen austauschen. Das Forum ist immer nur während der Fastenzeit freigeschaltet. Seit 2015 gibt es zum selben Zweck auch eine Gruppe auf Facebook, die allerdings das ganze Jahr über aktiv ist. Sie ist dementsprechend auch thematisch nicht strikt auf das Fasten beschränkt – Spiritualität und Glaube werden generell diskutiert, es werden Gebetsanliegen oder Bitten um Ratschläge gepostet oder auch Urlaubsbilder geteilt. In diese offene Gruppe können alle Interessierten eintreten und sich (in der Regel) unter ihrem Klarnamen kennenlernen. Die Facebookgruppe ermöglicht es zudem, einzelne Mitglieder per Privatnachricht zu kontaktieren, was im Fastenforum technisch nicht möglich ist. Ebenfalls seit 2015 gibt es als zusätzliches Printangebot den Fasten-Wegweiser »wandeln«, der jedem Tag eine Doppelseite widmet und somit eine kalenderähnliche Funktion übernimmt. Zudem steht jede der sieben Fastenwochen unter einer Überschrift: »neugieren«, »selbstversuchen«, »verbinden«, »seinlassen«, »aufrichten«, »verschmerzen« und »wunderglauben«.208 Der Wegweiser wird mit künstlerischen Illustrationen versehen, die die Inhalte aufgreifen und interpretieren. Im ersten »wandeln« findet sich folgende Selbstbeschreibung: »Für jeden Tag bietet wandeln eine Anregung, wie Sie im Alltag Tiefe finden können. Jede Woche steht unter einem anderen Motto. Aktive und meditative Elemente, bodenständige und spirituelle Übungen, Tipps zum Rückzug und zum Austausch wechseln sich ab.«209 Konkret finden sich in »wandeln« Gedichte und Kurzgeschichten, Meditationsvorschläge, Gebete, Anregungen zur Gestaltung einer persönlichen Andacht, aber auch eher praktische Vorschläge wie Kochrezepte oder die Anleitung zum Basteln einer »Sorgenbox«. Insgesamt lässt sich in »wandeln« eine große Bandbreite an Themen beobachten. Spirituelle bzw. religiöse Themen begegnen zwar regelmäßig, ziehen sich aber nicht mit derselben Konstanz durch jede Seite des Wegweisers wie es bei den Fastenbriefen der Fall ist. Laut Frank Hofmann, dem Chefredakteur des Vereins, war dies eine bewusste Entscheidung der Redaktion. Das Ziel war es, auch Menschen anzusprechen, die dem Themenfeld Religion und Spiritualität gegenüber skeptisch oder zögerlich gegenüberstehen. Wenn ihnen ein eher religiöser Inhalt nicht zusagt, können sie diesen Impuls ignorieren und werden am nächsten Tag vermutlich einen eher säkularen erhalten.210 Das Fastenangebot von Andere Zeiten umfasst auch einen jährlichen Gottesdienst zur Eröffnung der Aktion. Er findet jeweils am Aschermittwoch in einer Kirche in Hamburg statt. Die Gottesdienste bemühen sich nach Angaben des Vereins, liturgisch neue Wege zu gehen (z.B. mit Dialogpredigten, performativen Elementen und modernen Liedern) und so auch Menschen anzusprechen, die sonst eher nicht
208 Hofmann, Frank (Red.): wandeln (Hamburg: Andere Zeiten e. V. 2015), S. 4f. 209 wandeln 2015, S. 3. 210 Vgl. Interview mit Frank Hofmann vom 07.02.2019, 18:40-20:56.
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in die Kirche gehen. Sie werden von 400 bis 500 Menschen besucht.211 Im Anschluss gibt es einen kleinen Imbiss und Getränke – auch hier können Fastende miteinander ins Gespräch kommen. Resümierend lassen sich einige wesentliche Merkmale der Fastenangebote von Andere Zeiten identifizieren. Das Fastenverständnis an sich scheint dem von »7 Wochen Ohne« zunächst sehr ähnlich zu sein: Fasten ist Veränderung und Umdenken – oder eben »Neuwerden«, der Versuch, probeweise »anders zu leben«. Die Betonung der Freiwilligkeit und der freien Auswahl des Fastenziels ist eine weitere Gemeinsamkeit mit »7 Wochen Ohne«, ebenso die Tatsache, dass Verzicht in den Hintergrund tritt und Veränderungen, die grundsätzlich als positiv empfunden werden (auch wenn ihre Umsetzung mit Unannehmlichkeiten verbunden sein kann), im Vordergrund stehen. Einen Verzicht zum Zweck der Selbstminderung oder der Einfühlung in das Leid Jesu empfiehlt »7 Wochen anders leben« hingegen nicht, da er als theologisch wenig plausibel und gesellschaftlich kaum anschlussfähig betrachtet wird.212 Was die konkreten Inhalte des Materials angeht, lassen sich jedoch auch einige klare Unterschiede zwischen »7 Wochen Ohne« und »7 Wochen anders leben« beobachten. So fokussieren sich die Fastenbriefe von Andere Zeiten stark auf die emotionalen Erfahrungen, die die Fastenden während der Passionszeit machen, während die Fastenemails von »7 Wochen Ohne« eher kognitive Denkanstöße bieten. Während bei »7 Wochen Ohne« das Thema durch das Motto vorgegeben ist, orientiert sich »7 Wochen anders leben« thematisch eher am Bibeltext, der jeweils durch die Fastenzeit begleitet und der daraufhin befragt und ausgelegt wird, wie er Inspirationen zum »anders leben« bieten kann. Auch das Einbeziehen der Zuschriften von Fastenden weist darauf hin, dass das persönliche, individuelle Erleben der Fastenzeit im Vordergrund steht. Das Material will nicht in erster Linie Anregungen und Impulse zur kognitiven Auseinandersetzung mit einem gesellschaftlichen Problem geben, sondern die Fastenden eher darin bestärken, sich individuell empfundenen Problemen emotional zu stellen. Der Fokus liegt auf »mehr Tiefe« im eigenen Leben und in der eigenen Spiritualität. Dabei legt der Verein Andere Zeiten Wert darauf, eine möglichst breite Zielgruppe anzusprechen, inklusive Menschen, deren primäre Beweggründe zu fasten säkular sind.213 Während die Fastenbriefe durch das Aufgreifen einer Bibelgeschichte recht eng an die christliche Tradition gekoppelt sind, soll insbesondere »wandeln« Menschen unterschiedlicher Weltanschauungen ansprechen.214 In der Wahrnehmung des Vereins ist dieser Versuch erfolgreich, da »wandeln« sich etwa doppelt
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Vgl. ebd., 05:33-05:35. Vgl. ebd., 02:22-02:50. Vgl. ebd., 00:57. Vgl. ebd., 12:52-14:05.
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so häufig verkauft wie die Fastenbriefe und somit tatsächlich ein breiteres Zielpublikum anzusprechen scheint.215 Insgesamt zielt der Verein in seiner Fastenaktion darauf ab, Menschen zu einer vertieften Auseinandersetzung mit sich selbst, ihrem Leben und ihrer Spiritualität anzuregen. Während dieser Zeit »anders« zu leben, dient als Anstoß für diese vertiefte Auseinandersetzung und ruft zugleich ein Gemeinschaftsgefühl unter den Fastenden hervor, das für die manchmal auch unangenehme Konfrontation mit sich selbst eine hilfreiche Basis bilden kann. Fasten erscheint als Praxis, die mit diversen spirituellen, religiösen oder auch säkularen Motiven gelebt werden kann. So ist es ein geeignetes »Vehikel« für das Streben nach mehr Tiefe und bietet Menschen in der zögerlichen Halbdistanz zu Kirche oder Christentum einen vertrauten Anknüpfungspunkt.
d) Fasten als Verzicht: die Aktion Klimafasten Die »Fastenaktion für Klimaschutz und Klimagerechtigkeit« steht unter dem Motto »Soviel du brauchst« (vgl. Ex 16). Sie existiert seit 2013216 und ist eine gemeinsame Initiative mehrerer evangelischer Landeskirchen und katholischer Bistümer.217 Die Aktion wird auf ihrer Website wie folgt beschrieben: »Mit dieser Fastenaktion stellen wir uns in die christliche Tradition, die in der Zeit vor Ostern des Leidens gedenkt und bewusst Verzicht übt, um frei zu werden für neue Gedanken und andere Verhaltensweisen. Der Klimawandel verursacht Leiden, denn er gefährdet das Leben von Menschen, Tieren und Pflanzen. Klimaschutz macht Verzicht erforderlich. Aber immer wieder ist er ein Gewinn, wenn es gelingt, alleine oder in der Gemeinschaft das Leben klimafreundlicher zu gestalten. Eine › Ethik des Genug‹ , die die beiden Kirchen schon lange fordern, wird immer plausibler und ist dringend geboten. Die Klimafastenaktion bietet vielfältige Anregungen zur Einübung in eine solche › Ethik des Genug‹ . Bei ihr geht es
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Vgl. ebd., 15:08-15:14 und 15:25-15:51. Während die Briefe jährlich rund 20 000 mal verkauft wurden, wurde »wandeln« rund 40 000 mal verkauft (Stand 2019). Vgl. https://www.ekd.de/kirchen-rufen-zur-aktion-klimafasten-2019-auf-43428.htm, zuletzt abgerufen am 13.01.2022. 2020 beteiligten sich am Aufruf das Bistum Eichstätt, die Bremische Evangelische Kirche, der Diözesanrat der Katholiken im Bistum Hildesheim, die Diözese Rottenburg-Stuttgart, das Erzbistum Berlin, die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz, die Evangelische Kirche im Rheinland, die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck, die Evangelische Kirche von Westfalen, die Evangelische Landeskirche in Baden, die Evangelische Landeskirche in Württemberg, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Oldenburg, die Evangelisch-Lutherische Landeskirche Hannovers und die Lippische Landeskirche, s. https://www.klimafasten.de, zuletzt abgerufen am 29.04.2020.
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darum, dass alle – die gegenwärtige Generation wie auch künftige Generationen – genug zum Leben haben. Aber es geht auch darum, dass die, die zu viel haben, es genug sein lassen können. Über das rechte Maß nachzudenken und es immer wieder einzuüben, dazu wünschen wir auch in der Fastenzeit 2020 gutes Gelingen und Gottes Segen.«218 Die Aktion wird explizit in die »christliche Tradition« des Verzichts und der erhöhten Aufmerksamkeit für Leid während der vorösterlichen Fastenzeit gestellt. Zugleich wird Bezug auf eine konkrete Herausforderung der Gegenwart – die Klimakrise – genommen. Da der Klimawandel als Leid verursachend und Verzicht erfordernd beschrieben wird, entspricht die Aktion »Klimafasten« laut den Intitiator*innen der christlichen Tradition, dem Leiden Aufmerksamkeit zu schenken und Verzicht einzuüben. Dieses Handeln in einer konkreten Situation aus einer grundsätzlichen Haltung und Tradition heraus wird mit dem Begriff der »Ethik des Genug« verbunden, die ebenfalls schon lange von den Kirchen gefordert wird und nun akut praktiziert werden müsse. Der Begriff der »Einübung« in diese Ethik knüpft an die Grundbedeutung des Wortes »Askese« und damit an die christliche Fastentradition an. Das »Genug« wird dabei in zwei Richtungen ausgedeutet: Zum einen sollen alle gegenwärtigen und künftigen Generationen genug haben – die Forderung impliziert, dass dies momentan nicht der Fall ist. Zum anderen wird darauf hingewiesen, dass es auch Menschen gibt, »die zu viel haben«, es findet aber keine kausale Verknüpfung (im Sinne von ›Reichtum auf Kosten der Armen‹) statt. Doch sollen diejenigen im Überfluss es »genug sein lassen können«. Die Tatsache, dass diese Worte sich an die Lesenden und damit Verzichtswilligen richten, impliziert, dass diese eher zur Gruppe derjenigen gehören, die »zu viel« haben – ethisch bewertet wird diese Verortung jedoch nicht. Nicht zuletzt knüpft das Motto »So viel du brauchst« an die Erzählung vom Manna, das Gott für die Israeliten auf ihrer Wanderung durch die Wüste bereitstellt, an.219 Auf diese Grundlage wird zwar nur einmal hingewiesen und sie wird nicht konkret ausgedeutet, aber dennoch steht damit im Hintergrund eine Erzählung, in der Gott für alle sorgt und es zudem so einrichtet, dass niemand zu viel oder zu wenig hat.220 Vor diesem Hintergrund erscheint die Forderung der Aktion – alle sollen
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https://www.klimafasten.de, zuletzt abgerufen am 29.04.2020. Vgl. Haus kirchlicher Dienste der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers (Hg.): Soviel du brauchst… Fastenaktion für Klimaschutz & Klimagerechtigkeit – von Aschermittwoch 26.02.-Ostersonntag 12.04.2020 (Hannover: 2019), unpag. 220 Vgl. Ex 16,15b-18: »Mose aber sprach zu ihnen: Es ist das Brot, das euch der HERR zu essen gegeben hat. 16 Das ist’s aber, was der HERR geboten hat: Ein jeder sammle, soviel er zum Essen braucht, einen Krug voll für jeden nach der Zahl der Leute in seinem Zelte. 17 Und die Israeliten taten’s und sammelten, einer viel, der andere wenig. 18 Aber als man’s nachmaß, hatte
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»genug« haben und allen soll »genug« auch reichen – als konsistent nicht nur mit der christlichen Tradition, sondern auch mit Gottes Plan für Gottes Volk. Die Verweise auf Tradition und Schrift sind damit zwar deutlich, aber knapp. So wird Ex 16 nicht ausführlich interpretiert und es werden keine konkreten Parallelen zu historischen Fastentraditionen gezogen. Es entsteht der Eindruck, dass die Aktion ihre eigene Verortung in der biblischen und kirchlichen Tradition zwar als wichtig, aber auch als unstrittig und daher nicht weiter erklärungsbedürftig einschätzt. Dies deckt sich damit, dass auch das weitere Material keine Argumente pro Klimaschutz oder Begründungen, warum dieses Thema von Interesse für die Kirchen bzw. die Fastenden ist, enthält. Ganz offenbar richtet sich das Material an Menschen, die nicht mehr überzeugt werden müssen, sondern die Grundhaltung der Initiative teilen und nun nach konkreten Handlungsanregungen suchen. Es geht der Initiative damit weniger um Argumentation und Überzeugung denn um Unterstützung und Motivation bei der Umsetzung. Das weitere Material besteht hauptsächlich aus einer Broschüre, die sowohl gedruckt bestellt221 als auch online heruntergeladen werden kann. Die Website verfügt zusätzlich über Links zu weiterführenden Informationen zum Thema Klimaschutz und einer Sammlung theologischer Impulse, die z.B. Links zu schöpfungstheologischer Literatur und Anregungen für Predigten und Gottesdienste zum Thema Nachhaltigkeit beinhaltet.222 Die Broschüre – und der Großteil der Website – ist in sieben Wochenthemen aufgeteilt. Zu jedem der Themen gibt es zuerst einige grundlegende Informationen und dann konkrete Anregungen, die im Lauf der Woche umgesetzt werden können. So gibt es z.B. in der ersten Woche zum Thema CO2 -Fußabdruck einen Test, um das eigene Verhalten einzuschätzen und Verbesserungsmöglichkeiten zu identifizieren, in der Woche »Energie« wird angeregt, ein Strommessgerät auszuleihen und Einsparpotenziale zu finden, beim »Lebensmittelretten« wird vorgeschlagen, die eigene Lagerung von Nahrungsmitteln zu optimieren und Freund*innen zum gemeinsamen Restekochen einzuladen. Die weiteren Wochenthemen sind Elektronikkonsum (z.B. ein überflüssiges Gerät abschaffen, Geräte immer ganz ausmachen), Mobilität (z.B. freiwilliges Tempolimit von 130 km/h einhalten, den nächsten Urlaub mit dem Zug planen), plastikfreies Leben (z.B. möglichst plastikarm einkaufen, unnötiges Plastik ersetzen) und gemeinsame Veränderungen (z.B. Resümee über die Fastenzeit ziehen, lokale Klimaschutzinitiativen kontaktieren).223 der nicht darüber, der viel gesammelt hatte, und der nicht darunter, der wenig gesammelt hatte. Jeder hatte gesammelt, soviel er zum Essen brauchte.« 221 Haus kirchlicher Dienste der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers (Hg.): Soviel du brauchst…, unpag. 222 Vgl. https://www.klimafasten.de, zuletzt abgerufen am 29.04.2020. 223 Vgl. jeweils https://www.klimafasten.de/wochenthemen/1_footprint, https://www.klimafas ten.de/wochenthemen/2_energie, https://www.klimafasten.de/wochenthemen/3_lebensm
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Ergänzt wird dieses Angebot durch eine Facebookgruppe und seit 2020 auch durch ein Profil auf Instagram. Auf beide Angebote wird auf der Website explizit hingewiesen sowie auf die Möglichkeit, sich offline, z.B. in der Gemeinde, zu vernetzen. In der Facebookgruppe finden sich z.B. Hinweise auf Fahrraddemonstrationen, geteilte Videos und Artikel zum Thema Klimaschutz und Karikaturen. Auf dem Instagram-Profil werden während der Fastenzeit erneut die Wochenthemen mit ihren Anregungen sowie Erfahrungsberichte von Menschen, die sich um ein möglichst klimafreundliches Leben bemühen, geteilt. Einige der Vorschläge wurden während der Covid-19-Pandemie abgeändert (z.B. wurde die Einladung zum gemeinsamen Essen zu einer Einladung zum gemeinsamen Kochen und Essen via Videochat).224 Zudem stellt die Aktion Klimafasten einen deutlichen und direkten Bezug zur Klimaschutzbewegung her. So wird auf der Website auf »Fridays for Future« bzw. »Churches for Future« hingewiesen,225 während Instagram-Posts an den globalen Klimastreik am 29.11.2019 erinnern226 oder Greta Thunberg zitieren.227 Einer der »theologischen Impulse« ist ein Unterrichtsentwurf (Konfirmationsunterricht oder Sekundarstufe I) vom religionspädagogischen Institut der hessischen Kirchen, der sich ebenfalls Greta Thunberg widmet und ihr Auftreten mit dem biblischer Propheten vergleicht.228 Somit verbindet die Aktion die christliche Tradition des Fastens und eine »Ethik des Genug« explizit mit politischer Haltung und Handlung.
e) Merkmale zeitgenössischer Fastenaktionen aus (religions-)soziologischer Perspektive In der vergleichenden Betrachtung der vier zeitgenössischen Fastenaktionen lassen sich drei verschiedene Grundverständnisse von Fasten beobachten: Erstens gibt es das Verständnis von Fasten als Handlung. Es begegnet vor allem in der Misereor-Fastenaktion und beim Klimafasten. In der Fastenzeit wird zu bestimmten Schritten motiviert, wie z.B. Geld für karitative Projekte zu spenden, sich
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ittelretten (Link nicht mehr aktiv) , https://www.klimafasten.de/wochenthemen/4_elektronik, https://www.klimafasten.de/wochenthemen/5_mobilitaet, https://www.klimafasten.de/ wochenthemen/6_plastikfrei, https://www.klimafasten.de/wochenthemen/7_gemeinsam, alle zuletzt abgerufen am 29.04.2020. https://www.instagram.com/p/B-1mZSdAfB5/, zuletzt abgerufen am 29.04.2020. https://www.klimafasten.de/wochenthemen, zuletzt abgerufen am 29.04.2020. (Link nicht mehr aktiv.) https://www.instagram.com/p/B5cfnDEpgHM/, zuletzt abgerufen am 29.04.2020. https://www.instagram.com/p/B7I6AUIAxJR/, zuletzt abgerufen am 29.04.2020. Abrufbar unter https://www.rpi-ekkw-ekhn.de/fileadmin/templates/rpi/normal/bilder/ort e/fulda/UE_Klimafasten_Sek1_KonfiArbeit_RPI_EKKW_EKHN.pdf, zuletzt abgerufen am 29.04.2020.
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sozialpolitisch zu engagieren oder klimafreundlicher zu leben. Im frühen Material von »7 Wochen Ohne« legt sich dieses Verständnis ebenfalls nahe, wenngleich das Handeln dort eher auf ein individuelles Fastenvorhaben wie z.B. Alkoholverzicht bezogen war. Die Handlungen werden als eine Ausdrucksform tätigen Glaubens gezeichnet (v.a. bei Misereor, weniger explizit auch beim Klimafasten) oder als eine Handlung, die den Glauben intensivieren kann (v.a. beim frühen Material von »7 Wochen Ohne«). Zweitens findet sich das Verständnis von Fasten als Perspektivwechsel, das in erster Linie im jüngeren Material von »7 Wochen Ohne« der EKD beobachtet werden kann. Hier wird Fasten als bewusstes Reflektieren eines jährlichen Themas konzipiert, das sich in den letzten Jahren immer auf einen gesellschaftlichen Kontext bezogen hat. Fastende werden dazu angeregt, ihr Verhalten bezüglich des ausgewählten Themas zu hinterfragen und sich Alternativen zu überlegen. Drittens gibt es das Verständnis von Fasten als innerer Wandlung, das sich bei der Aktion »7 Wochen anders leben« und dem Wegweiser »wandeln« von Andere Zeiten beobachten lässt. Anders als in den anderen Fastenaktionen, die ein individuelles Fastenvorhaben zwar keineswegs ausschließen, in ihrem Material aber kaum darauf eingehen, stehen hier die Begleitung der individuellen Fastenvorhaben sowie das innere Erleben und die Gefühle der Fastenden während der Passionszeit im Vordergrund. Alle drei Verständnisse beantworten die Frage, ob Fasten auf Mangel oder Überfluss reagiert, mit einem »sowohl als auch«: Man reagiert tätig auf den Mangel anderswo, der durch den hiesigen Überfluss bedingt ist, oder wendet sich einem Mangel an Perspektiven oder Spiritualität zu, während man auf als überflüssig Empfundenes verzichtet. Historisch betrachtet sind alle drei Aspekte junge Entwicklungen. Es liegt auf der Hand, dass diese Veränderungen im Fastenverständnis – ob beabsichtigt oder nicht – in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen stehen. Auf zwei dieser Entwicklungen, die in den letzten Jahrzehnten von Seiten der Praktischen Theologie, Soziologie, und Religionswissenschaft beobachtet und analysiert wurden, wird von den Initiator*innen der Fastenaktionen explizit Bezug genommen. Sie sollen daher knapp skizziert werden.
α) Ernährung und Nachhaltigkeit in der »Konsumgesellschaft« Ein für mehrere Fasteninitiativen signifikanter Kontext sind die gesellschaftlichen und politischen Aspekte des Konsums von Nahrungsmitteln: Fasten, das zumindest traditionell als radikale Konsumverweigerung verstanden werden kann, wirft die Frage auf, wie man sich auch im Alltag zu Fragen des Konsums positioniert – sowohl im engen Sinne des Konsums von Lebensmitteln als auch im weiteren Sinne des Kaufverhaltens und Lebensstils insgesamt. In diesem Kontext ist zunächst ganz basal festzustellen, dass heute in Deutschland im Gegensatz zu präindustriellen Zeiten die meisten Menschen jeden Tag satt
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werden und grundsätzlich eine hohe Versorgungssicherheit besteht. So weist der Historiker Wolfgang König darauf hin, dass Ernährung immer eine fundamentale Bedeutung für Menschen hat – ohne Nahrung kein Leben –, dass sich aber in der heutigen Gesellschaft, die er als Konsumgesellschaft bezeichnet, diese Bedeutung »von einem existenziellen Grundbedürfnis zu einem Kulturbedürfnis gewandelt«229 hat. Während Nahrungsmittel in der Neuzeit umfassender verfügbar wurden und Haushalte infolgedessen immer geringere Anteile ihres Budgets für Nahrung ausgaben,230 verschob sich auch die Perspektive auf Ernährung: »Ging es in der Mangelgesellschaft noch in erster Linie um Sättigung durch Kalorienaufnahme, so treten in der Wohlstandsgesellschaft die symbolisch-kommunikativen Funktionen des Essens in den Vordergrund.«231 Innerhalb des westlich geprägten Kulturkreises wurde das Angebot an Nahrungsmitteln erheblich erweitert und die Versorgungssicherheit erhöht, so finden sich Produkte wie Gewürze oder Kakao, die früher als Luxusgüter galten, mittlerweile in quasi jedem Haushalt.232 Es ist nicht verwunderlich, dass sich im Zuge dieser Wandlungsprozesse auch die Wahrnehmung des Fastens veränderte. Fasten als Bewältigungsstrategie für Nahrungsknappheit einzusetzen, erübrigt sich im Deutschland der Gegenwart weitestgehend. Es liegt nahe, dieses Deutungsvakuum mit neuen Inhalten zu füllen – beispielsweise mit der von »7 Wochen Ohne« vertretenen Ansicht, dass temporärer Verzicht gerade wieder Lust auf die Fülle des Lebens machen kann. Neben der an sich erfreulichen Zunahme von Versorgungssicherheit ist jedoch ebenfalls zu beobachten, dass das Themenfeld Ernährung in der Gegenwart durchaus konfliktreich besetzt ist. So wurde in den letzten Jahrzehnten eine unüberschaubare Vielzahl von Diäten entwickelt, zudem erhöhte sich das Bewusstsein für Lebensmittelunverträglichkeiten und ethisch motivierte Ernährungsweisen wie Vegetarismus und Veganismus. So gut wie all diese Entwicklungen wurden und werden bis heute kontrovers diskutiert. Der Eindruck, dass es »wahrscheinlich kein anderes
229 König, Wolfgang: Kleine Geschichte der Konsumgesellschaft. Konsum als Lebensform der Moderne (Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008), S. 96. Laut König ist die Konsumgesellschaft dadurch definiert, dass neue Konsumformen für die Mehrheit der Bevölkerung zugänglich sind, dass Konsum sozial, kulturell und ökonomisch von zentraler Bedeutung ist und dass das Konsumverhalten als Teil der Selbstentfaltung und des Selbstausdrucks angesehen wird (vgl. ebd., S. 9f.). 230 Vgl. a.a.O., S. 97. 231 Ebd. 232 Vgl. a.a.O., S. 103 sowie Montanari, Massimo: Der Hunger und der Überfluß. Kulturgeschichte der Ernährung in Europa, übersetzt aus dem Italienischen von Matthias Rawert (München: Verlag C. H. Beck 1993), S. 189.
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Lebensgebiet gibt, auf dem die Frage nach richtiger oder falscher Gestaltungsweise so schnell und eindringlich gestellt wird«,233 ist durchaus nachvollziehbar. Auch dies könnte ein Grund sein, warum der Verzicht auf Nahrung als Fastenvorhaben im Material der zeitgenössischen Fastenaktionen an Bedeutung verloren hat: Die Initiator*innen wollen vermutlich vermeiden, durch eine explizite Empfehlung des Verzichts auf (spezifische) Nahrungsmittel in die Arena der wetteifernden Ernährungsideale einzutreten. Gerade angesichts der Tatsache, dass Fasten (sowohl Heilfasten als auch modifizierte Formen wie Saft-oder Intervallfasten) mittlerweile auch häufig als Diät Anwendung findet, soll hier vermutlich eine Vermischung dieser Dimensionen vermieden werden. Dennoch werfen insbesondere die MisereorFastenaktion und die Aktion Klimafasten einen kritischen Blick auf die Gegenwartsgesellschaft, die mit der soziologischen Kritik an der Konsumgesellschaft in gewisser Weise Hand in Hand geht. So sind, wie Wolfgang König konstatiert, die Kehrseiten der neuen Versorgungssicherheit und der Vielfalt des Angebots an Nahrungsmitteln einerseits Umweltbelastungen durch das für das breite Angebot nötige Verkehrsaufkommen234 und andererseits ein wachsender Abstand der so reichhaltig konsumierenden Minderheit zur Mehrheit der Weltbevölkerung. Die Mehrheit leidet sowohl unter deutlich geringeren Konsummöglichkeiten als auch überproportional unter den durch die Konsumgesellschaft hervorgerufenen Umweltbelastungen.235 Von wissenschaftlicher Seite besteht Einigkeit darüber, dass das hohe Konsumniveau der westlichen Welt aufgrund der Begrenztheit natürlicher Ressourcen nicht universalisierbar ist, doch »[d]ie Bereitschaft, das Konsumniveau zu reduzieren, ist […] wenig ausgeprägt; Lebensqualität wird weiter mit Güterbesitz und Konsumhandlungen gleich gesetzt. Bereits stagnative Tendenzen rufen Verteilungskämpfe, politische Proteste und soziale Verwerfungen hervor.«236 Diese kritische Perspektive auf die Konsumgesellschaft wurde sowohl von Theologen wie Bohren und Seitz als auch in den Anfängen der Initiative »7 Wochen Ohne« geteilt. Jörg Bollmann analysiert: »[D]as Thema ›Fasten und Verzichten‹ gewinnt offensichtlich für viele Menschen in der heutigen Zeit in dem Maße an Bedeutung, wie die einseitige Ausrichtung auf Konsum und materielle Werte als gesellschaftliche Leitmotive wachsenden Einfluss auf ihre individuelle Lebensgestaltung nehmen. Im Blick auf die tatsächlichen und vermeintlichen Zwänge, denen sich jeder von uns als einzelner Mensch
233 Barlösius, Eva: Anthropologische Perspektiven einer Kultursoziologie des Essens und Trinkens, in: Alois Wierlacher/Gerhard Neumann/Hans Jürgen Teuteberg (Hg.): Kulturthema Essen. Ansichten und Problemfelder, Band 1 (Berlin: Akademie Verlag 1993), S. 85–101, S. 86. 234 Vgl. König: Konsumgesellschaft., S. 103f. 235 Vgl. a.a.O., S. 264, S. 276. 236 A.a.O., S. 277.
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in der modernen Kultur ausgesetzt sieht, wächst das Interesse an tragfähigen Antworten auf die grundlegende Frage, was ich wirklich für mein Leben benötige.«237 Hier wird wahrgenommen, dass »viele Menschen« ein Bedürfnis nach Distanznahme von der Konsumgesellschaft haben und dass das Fasten deshalb für sie ein attraktives Angebot darstellt. Die Verweigerung oder Modifikation eines bestimmten Konsumverhaltens für sieben Wochen sorgt für eine Distanz zum alltäglichen Leben und versetzt die Fastenden damit in eine Position, in der sie leichter hinterfragen können, ob die empfundenen Zwänge »tatsächliche« oder »vermeintliche« sind und ob Konsum in ihrem Leben tatsächlich die Rolle einnehmen sollte, die ihm im gesellschaftlichen Mainstream oft zugeschrieben wird. Auch die Fastenaktion von Misereor weist auf soziale Ungleichheit hin. Sie führt diese (unter anderem) auf das Konsumverhalten des globalen Westens zurück und verwendet ihre Fastenkollekte dafür, zu einem Ausgleich dieser Schieflage beizutragen. Ebenso lassen sich das umfangreiche Material und die Einladung von Gästen aus dem jeweiligen Partnerland als Versuch verstehen, nicht nur monetäre Mittel einzuwerben, sondern auch zu einer zwischenmenschlichen Basis für Solidarität zwischen den verschiedenen Völkern beizutragen. Die Aktion Klimafasten konzentriert sich ganz auf den Bereich der Umweltbelastungen, die ebenfalls maßgeblich auf das Konsumverhalten der westlich geprägten Welt zurückzuführen sind. Die Veränderungen, zu denen sie anregt, liegen u.a. tatsächlich im Bereich der Ernährung. So wird z.B. aus Klimaschutzgründen zu einer vegetarischen/veganen oder zumindest fleischarmen Kost geraten.
β) Entkirchlichung, Spiritualität und Ganzheitlichkeit: religionssoziologische Dimensionen Sowohl »7 Wochen Ohne« als auch »7 Wochen anders leben« richten sich explizit an Menschen, die sich keine dauerhafte Bindung an die Institution Kirche, sondern lediglich bestimmte Anknüpfungspunkte wünschen. Deshalb ist der Fastenwegweiser »wandeln« bewusst religiös zurückhaltend gestaltet.238 Ebenso verweist auch das Material der Aktion Klimafasten kaum auf Gott oder die Kirche, sondern fokussiert sich darauf, was die Fastenden zur Bearbeitung eines gesellschaftlichen Problemfelds tun können. Diese religiöse Vorsicht kann in Zusammenhang mit der Individualisierung des religiösen Felds gesehen werden, die ungefähr zeitgleich mit dem Beginn der Initiative »7 Wochen Ohne« verstärkt in das Interesse der akademi-
237 Bollmann, Jörg: Vorwort, in: Rahlwes/Hammerschmidt (Hg.): Das Fastenlesebuch, S. 9–12, S. 9. 238 Vgl. Ohmann, Marianne: … zum Millionenprojekt, S. 256 sowie Interview mit Frank Hofmann, 16:16-16:46.
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schen Aufmerksamkeit rückte239 und als deren prominente Vertreter z.B. Thomas Luckmann240 und Hubert Knoblauch241 genannt werden können. Die Fastenaktionen scheinen auf diese Individualisierung auf mehrere Weisen zu reagieren. Zunächst bieten sie punktuelle Anknüpfungsmöglichkeiten, die ohne institutionelle Bindung oder irgendeine Form der Verpflichtung seitens der Fastenden genutzt werden können – religiös und spirituell interessierte, aber auch individualisierte Menschen sollen gezielt angesprochen werden, ohne dass sie den Weg zur Organisation Kirche auf sich nehmen müssen. Auch dass die Freiwilligkeit des Fastens betont wird und dass die große Vielfalt der Motivationen und Zielsetzungen der Fastenden als integraler Bestandteil der Aktionen wahrgenommen wird, weist in diese Richtung.242 Ebenso steht das Vermeiden moralischer Urteile in Zusammenhang mit diesem Aspekt: Den Fastenden soll offensichtlich nicht der Eindruck vermittelt werden, hier mache eine Institution ihnen Vorschriften. Stattdessen sollen ihre individuellen Gedanken und Gefühle im Mittelpunkt stehen. In die gleiche Richtung weist, v.a. bei den Angeboten von Andere Zeiten, die Bevorzugung des Begriffs »spirituell« vor »religiös«, die die seit circa 1985 stark zunehmende Bedeutung243 dieses Terminus in Theologie, Religionswissenschaft, Religionssoziologie und -psychologie widerspiegelt. Dabei herrscht – gerade im deutschsprachigen Raum – vor allem darüber Einigkeit, dass es keine genaue Definition von »Spiritualität« gibt.244 Es lassen sich eine weite und eine enge Begriffstradition ausmachen: Der weite Spiritualitätsbegriff, der v.a. im anglophonen Diskurs begegnet, meint die »Verbundenheit mit etwas Heilige[m], die allgemeine Bezogenheit auf ein größeres Ganzes, ein umgreifendes Sein«,245 die enge Begriffstradition stammt dagegen aus der
239 Vgl. Utsch, Michael/Klein, Constantin: Religion, Religiosität, Spiritualität. Bestimmungsversuche für komplexe Begriffe, in: Constantin Klein u.a. (Hg.): Gesundheit – Religion – Spiritualität. Konzepte, Befunde und Erklärungsansätze (Weinheim/München: Juventa 2011), S. 25–45, S. 25 und Hütter, Marcus: »Spirituell – aber nicht religiös!« Untersuchungen zum Spiritualitätsbegriff als Modewort unserer Zeit, in: Uta Heil/Annette Schellenberg (Hg.): Frömmigkeit. Historische, systematische und praktische Perspektiven (Wien: Vienna University Press 2016), S. 165–185, S. 165–166. 240 Vgl. Luckmann, Thomas: Die unsichtbare Religion (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991). 241 Vgl. Knoblauch, Hubert: Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft (Frankfurt a.M./New York: Campus Verlag 2009). 242 Vgl. Ohmann, Marianne: …zum Millionenprojekt, S. 257 sowie https://www.anderezeiten.de /aktionen/initiativen-zum-kirchenjahr/fastenzeit/7-wochen-anders-leben/, zuletzt abgerufen am 29.04.2020. 243 Vgl. Utsch/Klein: Religion, Religiosität, Spiritualität, S. 25 und Hütter: »Spirituell – aber nicht religiös!«, S. 165f. 244 Vgl. ebd., S. 167 und Schneider, Jörg: Moderne Frömmigkeit zwischen Zeitgeist und Zeitlosigkeit. Auf dem Weg zu einer evangelischen Theologie der Spiritualität, in: International Journal of Practical Theology, vol. 15 (2011), S. 293–329, S. 295. 245 Utsch/Klein: Religion, Religiosität, Spiritualität, S. 33.
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französischen Ordenstheologie und meint am ehesten »[r]eligiöse Aufmerksamkeit oder Achtsamkeit«.246 Damit verbunden stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis »Spiritualität« und »Religion« zueinander stehen und welcher Begriff der übergeordnete ist.247 Auf diese theoretischen Fragen geht das Fastenmaterial nicht explizit ein, aber aus dem Gesamtbild der Lektüre ergibt sich der Eindruck, dass insgesamt ein weites Verständnis von Spiritualität vorliegt, welches Spiritualität als den vager gefassten und daher übergeordneten Begriff sieht. Dieses Verständnis ist, so legen empirische Studien nahe, auch umgangssprachlich verbreitet.248 Das Bestreben von Andere Zeiten, niedrigschwellige Angebote zu machen, legt nahe, dass sie aus genau diesem pragmatischen Grund »spirituell« als Begriff den Vorzug geben, nicht etwa aus inhaltlichen Gründen wie einer Skepsis gegenüber kirchlich organisierter Religion. Auch das Selbstverständnis als modernes, unaufdringliches Missionsprojekt, das sich ausdrücklich bei Andere Zeiten findet, lässt sich im Licht dieser Entwicklung betrachten: Christliche Ideen und Praktiken sollen in einer anschlussfähigen und bewusst undogmatischen Form an Interessierte herangetragen werden, wofür das Fasten – eine an sich weltanschaulich neutrale und in vielen Kontexten verortbare Praxis – als Träger fungiert. In den Anfängen von »7 Wochen Ohne« war dies ähnlich. Angesichts des maßgeblichen Engagements von Hinrich C. G. Westphal bei der Initiierung von beiden Aktionen sind diese Gemeinsamkeiten nicht überraschend. Im Lauf der Jahrzehnte hat »7 Wochen Ohne« sich jedoch ein Stück weit gewandelt: Mit einer Regionalbischöfin als Schirmherrin, vielen Pfarrpersonen und Theolog*innen, die das Begleitmaterial mitgestalten, und etablierten Fastengruppen in zahlreichen Gemeinden scheint die Aktion mittlerweile von den »Rändern« des kirchlichen Lebens in die »Mitte« gerückt zu sein. Ob damit auch eine Veränderung der Zielgruppe (z.B. hin zu stark verbundenen Kirchenmitgliedern) einhergeht, geht aus dem Material jedoch nicht hervor. Ein letzter Aspekt, der religionssoziologische Beachtung verdient, ist die Abkehr von einem in irgendeiner Form negativ gearteten Fastenverständnis, die allen Aktionen gemein ist. Fasten wird als etwas Positives verstanden, das zu neuen Einsichten, einer Verbesserung des Lebens oder einer tieferen Spiritualität beitragen kann. Sofern Verzicht ein Teil des Fastens ist, wird auch dieser als etwas Positives verstanden – etwa als vernünftiger Beitrag zum Klimaschutz, als gesunde Durchbrechung von als schädlich empfundenen Angewohnheiten oder als Schritt auf dem
246 Ebd. 247 Vgl. a.a.O., S. 31. 248 So gewinnen z.B. Paul Heelas und Linda Woodhead ihren weit gefassten Spiritualitätsbegriff aus der Empirie. Vgl. dies.: The Spiritual Revolution. Why Religion is Giving Way to Spirituality (Malden et al.: Blackwell 2005).
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Weg dahin, das Leben wieder in seiner ganzen Fülle wahrzunehmen und zu genießen. Hier legen sich erneut Assoziationen zu Formen von Religiosität und Spiritualität nahe, in denen die Verbindung von geistlichen und körperlichen Praktiken unter dem Schlagwort »Ganzheitlichkeit« eine große Rolle spielt.249 Während Fasten in der frühen Kirche als probates Mittel angesehen wurde, um sich von allem Irdischen und Materiellen und damit auch von seinem Körper zu lösen, wird es heute als Methode zur Integration von Körper und Geist – oder Leib und Seele – dargestellt. Diese Integration wiederum ist einer der Aspekte zeitgenössischer Spiritualität: Hier kann dem körperlichen Empfinden durchaus »eine fraglose Evidenz religiösen Erlebens zu[kommen]«250 . Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass theologische Deutungen des Fastens als Selbstminderung oder gar selbst gewählte Kasteiung zur imitatio Christi als nicht mehr anschlussfähig eingeschätzt werden. Dafür wird zu einem ganzheitlichen Verständnis von Spiritualität explizit angeregt, wenn z.B. vorgeschlagen wird, die Yogaübung »Sonnengruß« mit dem Sprechen des Vaterunsers zu verbinden. Das Material der anderen Fastenaktionen nimmt keinen expliziten Bezug auf Kasteiung oder auf ganzheitliche spirituelle Praktiken, doch auch in ihnen ist Fasten durchweg positiv konnotiert: Keine Fastenaktion regt dazu an, sich beim Fasten körperlich (oder geistig) so viel abzuverlangen, dass man in irgendeiner Form darunter leidet. Der weit verbreitete Konsens, dass es sinnvoll und wichtig sei, auf seinen Körper zu achten, macht harte körperliche Askese im Sinne einer Selbstkasteiung offensichtlich unplausibel.
3 Modernes Fasten aus praktisch-theologischer Perspektive: Chancen und Kritikpunkte Die Wiederentdeckung des Fastens wurde selbstverständlich auch von der (Praktischen) Theologie wahrgenommen und kommentiert. Im Folgenden sollen die wesentlichen Aspekte der theologischen Reaktionen auf die Wiederentdeckung des Fastens sowie auf insbesondere die Aktion »7 Wochen Ohne« dargestellt werden.251
249 Vgl. dazu z.B. Gugutzer, Robert/Böttcher, Moritz: Zur Einführung, in: Dies. (Hg.): Körper, Sport und Religion. Zur Soziologie religiöser Verkörperungen (Wiesbaden: Springer Fachmedien 2012), S. 9–23, S. 11. 250 Benthaus-Apel, Friederike: »Spiritualität« ‒ eine moderne Form religiösen Bekennens? In: Thomas K. Kuhn (Hg.): Bekennen ‒ Bekenntnis ‒ Bekenntnisse. Interdisziplinäre Zugänge (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2014), S. 265–287, S. 285. 251 »7 Wochen Ohne« erfährt von praktisch-theologischer Seite am meisten Aufmerksamkeit unter den Fastenaktionen – vermutlich, weil es die älteste und bekannteste evangelische Initiative in diesem Bereich ist.
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Weg dahin, das Leben wieder in seiner ganzen Fülle wahrzunehmen und zu genießen. Hier legen sich erneut Assoziationen zu Formen von Religiosität und Spiritualität nahe, in denen die Verbindung von geistlichen und körperlichen Praktiken unter dem Schlagwort »Ganzheitlichkeit« eine große Rolle spielt.249 Während Fasten in der frühen Kirche als probates Mittel angesehen wurde, um sich von allem Irdischen und Materiellen und damit auch von seinem Körper zu lösen, wird es heute als Methode zur Integration von Körper und Geist – oder Leib und Seele – dargestellt. Diese Integration wiederum ist einer der Aspekte zeitgenössischer Spiritualität: Hier kann dem körperlichen Empfinden durchaus »eine fraglose Evidenz religiösen Erlebens zu[kommen]«250 . Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass theologische Deutungen des Fastens als Selbstminderung oder gar selbst gewählte Kasteiung zur imitatio Christi als nicht mehr anschlussfähig eingeschätzt werden. Dafür wird zu einem ganzheitlichen Verständnis von Spiritualität explizit angeregt, wenn z.B. vorgeschlagen wird, die Yogaübung »Sonnengruß« mit dem Sprechen des Vaterunsers zu verbinden. Das Material der anderen Fastenaktionen nimmt keinen expliziten Bezug auf Kasteiung oder auf ganzheitliche spirituelle Praktiken, doch auch in ihnen ist Fasten durchweg positiv konnotiert: Keine Fastenaktion regt dazu an, sich beim Fasten körperlich (oder geistig) so viel abzuverlangen, dass man in irgendeiner Form darunter leidet. Der weit verbreitete Konsens, dass es sinnvoll und wichtig sei, auf seinen Körper zu achten, macht harte körperliche Askese im Sinne einer Selbstkasteiung offensichtlich unplausibel.
3 Modernes Fasten aus praktisch-theologischer Perspektive: Chancen und Kritikpunkte Die Wiederentdeckung des Fastens wurde selbstverständlich auch von der (Praktischen) Theologie wahrgenommen und kommentiert. Im Folgenden sollen die wesentlichen Aspekte der theologischen Reaktionen auf die Wiederentdeckung des Fastens sowie auf insbesondere die Aktion »7 Wochen Ohne« dargestellt werden.251
249 Vgl. dazu z.B. Gugutzer, Robert/Böttcher, Moritz: Zur Einführung, in: Dies. (Hg.): Körper, Sport und Religion. Zur Soziologie religiöser Verkörperungen (Wiesbaden: Springer Fachmedien 2012), S. 9–23, S. 11. 250 Benthaus-Apel, Friederike: »Spiritualität« ‒ eine moderne Form religiösen Bekennens? In: Thomas K. Kuhn (Hg.): Bekennen ‒ Bekenntnis ‒ Bekenntnisse. Interdisziplinäre Zugänge (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt, 2014), S. 265–287, S. 285. 251 »7 Wochen Ohne« erfährt von praktisch-theologischer Seite am meisten Aufmerksamkeit unter den Fastenaktionen – vermutlich, weil es die älteste und bekannteste evangelische Initiative in diesem Bereich ist.
II Theoretischer Hintergrund: christliches Fasten und die vorösterliche Fastenzeit
a) Fasten als spirituelle Übung Der am ausführlichsten behandelte Aspekt des Fastens in der Praktischen Theologie betrifft sein Potenzial als spirituelle Übung. Manfred Josuttis widmet sich dem Fasten in seiner Monographie zur Handlungslogik spiritueller Methoden. Er vertritt dabei die Position, dass Kultur und eine zivilisierte Gesellschaft unvermeidlich auf Triebverzicht aufbauen. Dafür greift er auf Sigmund Freud und seine Schrift Das Unbehagen in der Kultur zurück, in der folgender Mechanismus beschrieben wird: Da Kultur (innerpsychisch das Über-Ich) das ungezügelte Ausleben der aggressiven oder sexuellen menschlichen Triebe (innerpsychisch das Es) ächte, komme es in der Psyche des einzelnen Menschen zu einem Konflikt. Dessen Lösung bestehe in der Sublimierung der Triebe, z.B. durch künstlerische Betätigung oder religiöse Praxis. Dies wiederum sorge für kulturellen Fortschritt.252 Weiterhin rekurriert Josuttis auf Max Webers Schrift Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus und Webers Hauptthese, dass der Kapitalismus sein Entstehen maßgeblich einer protestantischen, asketisch geprägten Lebensführung verdanke. Dabei seien sowohl die innerweltliche Askese (Verzicht auf Luxus und überschwänglichen Genuss bei gleichzeitig harter Arbeit) als auch der sogenannte syllogismus practicus der reformierten Erwählungslehre (erwirtschaftete Güter werden als Indikator für die Erwählung interpretiert) maßgeblich für die Anhäufung von Kapital.253 Der gegenwärtigen Gesellschaft attestiert Josuttis eine »Konsumdiktatur«, die auf der »permanenten Verheißung von Aufstiegschancen«254 beruhe und zugleich mit einer politischen und weltanschaulichen Orientierungslosigkeit, v.a. bei Jugendlichen, sowie der Preisgabe von lokaler Verwurzelung und sozialer Vernetzung zugunsten erhöhter Mobilität einhergehe.255 Josuttis versteht Askese somit als Grundmuster menschlichen Handelns und notwendiges Fundament für eine zivilisierte Gemeinschaft verstanden, das aber gegenwärtig verleugnet bzw. verlernt wird, da es der Logik der modernen Konsumgesellschaft entgegensteht. In ihr gilt nach Josuttis Verzicht als etwas zu Überwindendes, weshalb die gesellschaftlichen Strukturen für Verzichtshandlungen verschwinden. Somit hat das Individuum die alleinige Verantwortung dafür, den immer noch notwendigen Vollzug des Verzichts zu gestalten.256 Dafür kann Fasten eine Möglichkeit sein und darüber hinaus spirituelle Wege eröffnen. Eine genuin religiöse Methode ist Fasten für Josuttis allerdings nur, wenn es an die in biblischer und christentumsgeschichtlicher Tradition auffindbaren Aspekte
252 253 254 255 256
Vgl. Josuttis: Religion als Handwerk, S. 86f. Vgl. a.a.O., S. 88. A.a.O., S. 89. Vgl. a.a.O., S. 89f. Vgl. a.a.O., S. 90.
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der Reinigung, der Umkehr und des Kraftgewinns anknüpft.257 Dabei versteht Josuttis den Aspekt der Reinigung nicht als leibfeindlich, sondern als »Spezialfall der allgemeinen Stoffwechselproblematik«:258 Wie man vor dem Einatmen ausatmen müsse, so erfordere das Einnehmen neuer Nahrung, v.a. heiliger Nahrung wie der Eucharistie, das vorherige Entleeren des Körpers von alter Nahrung: »Die Realpräsenz des Heiligen im Sakrament kann heilvoll nur wirken, wenn man sich für den Empfang von irdischen Belastungen möglichst gereinigt hat.«259 Körperlich empfundener Hunger versinnbildliche zudem den »Hunger nach der Gegenwart des Göttlichen«.260 Für Buße bzw. Umkehr findet Josuttis die Formulierung der »Hingabe des eigenen Körpers«261 bis hin an die Grenze der Sterblichkeit bei extremem Fasten. »Ein Moment der Selbsttötung wird darin unvermeidlich enthalten sein. Aber im Machtbereich des Heiligen ist das Sterben immer der Weg in das Leben.«262 Zuletzt, so Josuttis, sei das Ziel des Fastens letztlich nicht die Schwächung, sondern Stärkung von Lebenskraft. Während es in vielen Weltanschauungen die Vorstellung des Haushaltens mit der eigenen Energie gebe, reiche im religiösen Kontext »die energetische Kalkulation bei der Anwendung asketischer Methoden freilich weiter«, da »die Reinigung von irdischen Lebensmitteln die Zufuhr göttlicher Vitalkraft« ermögliche.263 Durch die Unterbrechung des gewöhnlichen Lebens bewege der Mensch sich in einen »Kraftraum hinein, in dem die Fülle der Gottheit in mehr oder weniger hoher Konzentration begegnet«.264 Josuttis charakterisiert das Fasten abschließend als »eine Methode, in der die Möglichkeiten geschöpflichen Daseins zur Arbeit im Machtbereich des Heiligen voll ausgeschöpft werden. Was in der Gesellschaft meistens unbemerkt abläuft und was in der Moderne zur Stabilisierung einer konsumunabhängigen Identität verwendet wird, die Variabilität im Verhältnis zwischen dem Leib und der Welt, das radikalisiert die Religion, um durch den Verzicht auf ›Fleischeslust‹ Anteil an der ewigen Seligkeit zu gewinnen.«265 Auch Kristian Fechtner, der auf das Thema Fasten in seiner Monographie zum Kirchenjahr kurz Bezug nimmt, hält spirituelle Aspekte des Fastens als einen von mehreren Faktoren fest, die es in der Moderne wieder attraktiv machen. Fasten könne
257 258 259 260 261 262 263 264 265
Vgl. a.a.O., S. 94. A.a.O., S. 96. A.a.O., S. 96f. Ebd. A.a.O., S. 98. A.a.O., S. 99. A.a.O., S. 99f. A.a.O. A.a.O., S. 101.
II Theoretischer Hintergrund: christliches Fasten und die vorösterliche Fastenzeit
zu einem »Medium intensivierten Selbst- und Welterlebens«266 werden – und zwar sowohl für Individuen als auch für Fastengemeinschaften. Man könne Fasten daher als »Communitas auf Zeit«267 verstehen. Peter Zimmerling widmet dem Fasten einen Abschnitt in seiner Monographie zu evangelischer Spiritualität und plädiert grundsätzlich dafür, seine Wiederentdeckung als etwas Positives zu verstehen und die alte Fastenpraxis für die Gegenwart fruchtbar zu machen.268 Zimmerling betont, dass das Fasten – obgleich es in Bibel und frühem Christentum einen festen Platz hatte – für mehrere Jahrhunderte aus der evangelischen Tradition verschwunden und erst über die Naturheilkunde wiederentdeckt worden sei. Die Hauptgründe für den Abbruch dieser Tradition sieht er zum einen in der reformatorischen Kritik, zum anderen im seit der Aufklärung verbreiteten Leib-Seele-Dualismus, der dem Körper in der Regel weniger Bedeutung als der Seele zuschrieb und körperliche Praktiken wie das Fasten entsprechend an Relevanz verlieren ließ.269 In den neuen Fastenpraktiken seit den 1970er Jahren lässt sich aus seiner Sicht auch eine Schwerpunktverschiebung in Glaubensfragen beobachten: »Viele Zeitgenossen erwarten vom christlichen Glauben weniger die Lösung weltanschaulicher Probleme, als vielmehr Hilfe im Diesseits, in ihrer konkreten Existenz«.270 Vor diesem Hintergrund kann Fasten als eine Form der spirituellen Lebenshilfe verstanden werden.271 Zimmerling legt Wert darauf, dass Fasten immer »eine ganzheitliche Übung darstellt, die eine gesundheitliche Dimension, eine spirituelle Dimension und eine sozial-politische Dimension umfasst. Fasten gibt es nur im Dreierpack!«272 Er selbst befasst sich mit der spirituellen Dimension am ausführlichsten und schreibt dem Fasten mehrere spirituelle Wirkungsweisen zu wie die Unterstützung des Gebets, eine erneuerte Selbstsicht der Fastenden als Geschöpfe Gottes und eine Hilfestellung bei der Abkehr von »Ersatzbefriedigungen«.273 Zudem betont Zimmerling eine allgemeine erneuernde Kraft des Fastens: »Indem der Fastende das Selbstverständliche durchbricht, wird er vor drohender Monotonie und damit verbundenem Lebensüberdruss bewahrt. Im Fasten gewinnt er Raum für Neues. Er wird frei für Buße, für Umdenken und Umkehr als Grundakte des Evangeliums.«274 Zuletzt habe das Fasten auch das Potenzial, den Blick weg von Materiellem, Diesseitigen auf die Transzendenz zu richten: »Indem es in Distanz zum Sichtbaren 266 267 268 269 270 271 272 273 274
Fechtner: Im Rhythmus des Kirchenjahres, S. 107. Ebd. Vgl. Zimmerling: Evangelische Spiritualität, S. 269. Vgl. ebd. Ebd., S. 270. Vgl. ebd. Ebd. A.a.O, S. 271. Ebd.
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bringt, verschafft es dem Fastenden den nötigen Freiraum, um sich mit den Dingen der unsichtbaren Welt Gottes zu beschäftigen.«275 Zimmerling hebt die neue Bedeutung der vorösterlichen Fastenzeit durch die Aktion »7 Wochen Ohne« hervor und verweist dabei besonders auf die Öffnung des Horizonts des Fastens vom (teilweisen) Verzicht auf Nahrung hin auf den Verzicht auf Gewohnheiten. Für eine Einschränkung der Nahrungsaufnahme hält er die Karwoche für besonders geeignet. Er findet es sinnvoll, sich beim Fasten einer Gruppe anzuschließen. Zimmerling plädiert zusätzlich für eine Wiederbelebung des Fastens vor Festen und Feiertagen, im Zusammenhang mit Suche nach Problemlösungen in der Gemeinde oder auch privat für Einzelpersonen, die sich z.B. vor dem Beginn eines neuen Lebensabschnitts befinden.276 Insgesamt sieht er hier viel Potenzial: Fasten kann dabei helfen, Selbstverständlichkeiten zu hinterfragen, das eigene Leben neu auszurichten und so zu mehr spiritueller Tiefe zu gelangen. Hier zeigt sich eine Ähnlichkeit zu »7 Wochen Ohne« und »7 Wochen anders leben«, die diese Aspekte ebenfalls ins Zentrum ihrer Fasteninitiativen stellen.
b) Fasten als Körpertechnik: zwischen »Körperkult« und »Ganzheitlichkeit« Dass zeitgenössische Formen von Spiritualität generell oft körperliche Aspekte aufweisen, wurde bereits festgehalten und wird auch in der Praktischen Theologie reflektiert: So hält Josuttis Heilfasten für eine sinnvolle Praxis, da es hier einerseits um die Linderung von Krankheiten, andererseits aber auch um die Vermittlung seelischen Heils und um Selbstfindung gehe277 und es somit in der Praxis zu einer Verschmelzung von spirituellen und körperlichen Aspekten komme. Auch Zimmerling weist auf diese Verbindung körperlicher und spiritueller Aspekte hin278 und hält ein rein medizinisches Verständnis des Fastens, das die spirituellen Aspekte ausblendet, nicht für zielführend. Hier sieht er auch psychologische Risiken: So könne Fasten im Zusammenhang mit der Angst stehen, etwas Giftiges zu sich zu nehmen oder es könne auf leibfeindliche Weise praktiziert werden, wobei die Grenze zu Essstörungen fließend sein könne.279 Kristian Fechtner benennt die körperliche Dimension des Fastens ebenfalls als einen weiteren Grund für seine neue Popularität: So gewinne »7 Wochen Ohne« »seine Plausibilität innerhalb einer spätmodernen Kultur, die in unterschiedlichen Ausprägungen ein neues Körperbewusstsein hervorgebracht hat«.280 Dies erkläre
275 276 277 278 279 280
A.a.O., S. 272. Vgl. ebd. Vgl. Josuttis: Religion als Handwerk, S. 90f. Vgl. Zimmerling: Evangelische Spiritualität, S. 270. Vgl. a.a.O., S. 272f. Fechtner: Im Rhythmus des Kirchenjahres, S. 107.
II Theoretischer Hintergrund: christliches Fasten und die vorösterliche Fastenzeit
den (angesichts der traditionell geringen Bedeutung des Fastens im evangelischen Raum durchaus überraschenden) Erfolg von »7 Wochen Ohne«.281 Den Kontext einer in der Gesamtgesellschaft beobachtbaren »Wellness-Bewegung, in welcher der Körper als leiblicher Ort seelischen Befindens besondere Aufmerksamkeit erfährt«,282 hält Fechtner für einen wichtigen Bezugspunkt zeitgenössischen Fastens. Diese neue Aufmerksamkeit für den Körper begegne beim Fasten einerseits in Bezug auf Fragen der gesunden Ernährung, andererseits in Bezug auf ein generell erhöhtes Körperbewusstsein, da in der Passionszeit »körperliche Erfahrungen intensiviert«283 werden können. Fechtner hält sich mit Bewertungen zeitgenössischer Fastenaktionen zurück, sieht sie aber insgesamt als »Beleg dafür, dass die Leiblichkeit des Glaubens nicht nur ein theologischer Topos ist, sondern nach heutigen Ausdrucksformen drängt«.284 Eine zentrale Rolle spielt der körperliche Aspekt auch bei Andrea Bieler, denn sie charakterisiert Askese, und somit auch Fasten, im Anschluss an Marcell Mauss als Körpertechnik. Körpertechniken sind »sozial wirksame Handlungen, die traditionsbildend sind, also als der Überlieferung und Weitergabe würdig betrachtet werden«.285 Da in der Askese »eine bestimmte auf den Leib zentrierte Praxis zum Medium der Gestaltung der Gott-Mensch-Beziehung«286 wird, spricht Bieler von einer »Körpertechnik coram Deo« – wobei sie darauf aufmerksam macht, dass der Gottesbezug nicht immer ausdrücklich formuliert wird und vielmehr ein »fluide[s] Changieren zwischen Dimensionen impliziter und expliziter Religion«287 zu beobachten ist. Mit der Körpergebundenheit ist zudem eine Ritualisierung verbunden, die die asketische Praxis zugleich an eine Tradition zurückbindet: »Asketische Körpertechniken wie das Fasten ritualisieren den Leib im Raum der Zeit, sie strukturieren zeitliche Abläufe auf der Ebene des Tages, der Woche oder längerer Zeitabschnitte. Zugleich wird ein Begründungszusammenhang hergestellt, der den symbolischen Horizont bestimmter Praktiken beschreibt.«288 Das hohe Interesse der Praktischen Theologie an den körperlichen Dimensionen des Fastens könnte vermuten lassen, dass diese auch in zeitgenössischen Fastenaktionen eine Rolle spielen. Der Blick auf die Materialien der zeitgenössischen Fastenaktionen zeigt allerdings, dass das Gegenteil der Fall ist: Die Thematisierung von körperlichen Fastenformen und auch generell die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper stellen vielmehr eine auffällige Leerstelle dar. Ein möglicher Grund 281 282 283 284 285 286 287 288
Vgl. a.a.O., S. 106f. Ebd. A.a.O., S. 94. A.a.O, S. 108. Bieler: Askese Postmodern, S. 206. Ebd. A.a.O., S. 205 (Hervorhebung original). A.a.O., S. 209.
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dafür könnte sein, dass der in der modernen Gesellschaft verbreitete Fokus auf Körperlichkeit von Theologie und Kirche durchaus kritisch gesehen wird. Dass die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und insbesondere das Ideal eines schlanken, gesunden und fitten Körpers in der Moderne allgegenwärtig sind und zugleich eine hohe Bedeutung für Individuen haben, ist unbestritten. So stellt die Soziologin Waltraut Posch die These auf, »dass Schönheit als Spiegel der Selbstoptimierung und des Zurschaustellens eines gelungenen, mitunter auch eines am Aufstieg orientierten Lebens gilt. Wer sich im Griff hat, hat auch seinen Körper im Griff, so die Implikation. Schönheit wird demnach zum Ausdruck einer Fitness für das Leben und die Visitenkarte einer sich wohl fühlenden, mit sich selbst im Reinen befindlichen Persönlichkeit.«289 Dabei ist der »Kult um die Schönheit […] in Wirklichkeit kein Kult um die Schönheit, sondern ein Ringen um die persönliche und soziale Positionierung in einer unsicher erscheinenden Welt, die sich in einem Kult um die Schönheit äußert. Schönheitshandeln ist nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck.«290 Auch Paula-Irene Villa Braslavsky und Nina Degele verweisen darauf, dass Schönheitshandeln oft aus dem Wunsch nach sozialer Anerkennung resultiert.291 Deutlich wird die Verknüpfung des Wahrgenommenwerdens als »schön« und sozialer Anerkennung beispielhaft am statistisch belegbaren Zusammenhang von Adipositas und sozio-ökonomischem Status. Analog lässt sich auf sprachlicher Ebene beobachten, dass in Wirtschaft, Publizistik und Rhetorik »schlank« und (sinn-)verwandte Worte in der Regel als positiv belegte Begriffe genutzt werden.292 Die starke gesellschaftliche Fokussierung auf Schönheit und Schlankheit wird im soziologischen Diskurs kritisch diskutiert. Auch wenn Villa Braslavsky insgesamt für eine differenzierte Sichtweise plädiert und in Bezug auf gegenwärtiges Schönheitshandeln neben dem »Imperativ der Optimierung« ebenso sehr eine »kreative Widerspenstigkeit« gegen Normierungstendenzen beobachtet,293 hält sie
289 Posch, Waltraud: Projekt Körper. Wie der Kult um die Schönheit unser Leben prägt (Frankfurt/ New York: Campus Verlag 2009), S. 12. 290 A.a.O., S. 33. 291 Vgl. Villa, Paula-Irene: Einleitung – Wider die Rede vom Äußerlichen, in: Dies. (Hg.): schön normal. Manipulationen am Körper als Technologien des Selbst (Bielefeld: transcript 2008), S. 7–19, S. 11 und Degele, Nina: Normale Exklusivitäten – Schönheitshandeln, Schmerznormalisieren, Körper inszenieren, in: Villa (Hg.): schön normal, S. 67–84, S. 71. 292 Vgl. Posch: Projekt Körper, S. 70–74. 293 Villa, Paula-Irene: Habe den Mut, Dich Deines Körpers zu bedienen! Thesen zur Körperarbeit in der Gegenwart zwischen Selbstermächtigung und Selbstunterwerfung, in: Dies. (Hg.): schön normal, S. 254–272, S. 269.
II Theoretischer Hintergrund: christliches Fasten und die vorösterliche Fastenzeit
fest, dass auch ein selbst gewähltes, als selbstermächtigend empfundenes Schönheitshandeln in den meisten Fällen zugleich die bestehenden Schönheitsnormen reproduziert und damit einen Aspekt der Selbstunterwerfung beinhaltet.294 Sabine Maasen kommt zu demselben Schluss und sieht Schönheitshandeln als einen Aspekt einer zunehmenden Gouvernementalität in der Gesellschaft.295 Waltraut Posch bemerkt, dass das Schlankheitsideal deutlich unterhalb der Grenze von gesundheitlich unbedenklichem Gewicht liegt296 und Sabine Merta verweist darauf, dass sich zeitgleich mit dem ersten historischen Auftreten eines sehr schlanken Schönheitsideals auch die Fälle von Magersucht und Bulimie zum ersten Mal häuften297 – mit anderen Worten, dass die Orientierung an gesellschaftlichen Schönheits- und Schlankheitsidealen nicht nur einen Freiheitsverlust, sondern auch eine Gefahr für die körperliche und psychische Gesundheit darstellen kann. Paula-Irene Villa Braslavsky nimmt eine »Medikalisierung, Biologisierung, Entnaturalisierung, Normierung und Kommerzialisierung des Körpers«298 wahr, Henning SchmidtSemisch und Friedrich Schorb beobachten einen »Kreuzzug gegen Fette«.299 Robert Gugutzer sieht im »Kult um den Körper« den »Ausdruck einer verkörperten Diesseitsreligion«.300 Johann S. Ach und Arnd Pollmann warnen: »Das menschliche Streben nach Selbstperfektion schlägt mehr und mehr in Selbstzerstörung um.«301 Auch wenn sich im Material der gegenwärtigen Fastenaktionen keine Äußerungen zu einem Schönheits-oder Schlankheitskult finden lassen, ist es aus meiner Sicht wahrscheinlich, dass der Bedeutungsverlust von Nahrungsverzicht oder -einschränkung in modernen Fastenaktionen nicht rein zufällig zeitgleich mit der Bedeutungszunahme von Schlankheit erfolgt. Es wäre nicht verwunderlich, wenn die Initiator*innen der modernen Aktionen damit eine klare Distanz zum wahrgenommenen Schönheits- und Schlankheitskult bewahren und nicht den 294 Vgl. a.a.O., S. 250. 295 Vgl. Maasen, Sabine: Bio-ästhetische Gouvernementalität – Schönheitschirurgie als Biopolitik, in: Villa (Hg.): schön normal, S. 99–115, S. 113. 296 Vgl. a.a.O., S. 86f. 297 Vgl. Merta, Sabine: Schlank! Ein Körperkult der Moderne (Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2008), S. 207. 298 Villa, Paula-Irene: Sexy Bodies. Eine soziologische Reise durch den Geschlechtskörper (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 42011), S. 24. 299 Schmidt-Semisch, Henning/Schorb, Friedrich: Kreuzzug gegen Fette. Sozialwissenschaftliche Aspekte des gesellschaftlichen Umgangs mit Übergewicht und Adipositas (Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008). 300 Gugutzer, Robert: Die Sakralisierung des Profanen. Der Körperkult als individualisierte Sozialform des Religiösen, in: Ders./Böttcher (Hg.): Körper, Sport und Religion, S. 285–309, S. 286 (Hervorhebung original). 301 Ach, Johann S./Pollmann, Arnd: Einleitung, in: Dies. (Hg.): no body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper – Bioethische und ästhetische Aufrisse (Bielefeld: transcript Verlag 2006), S. 9–17, S. 11.
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Eindruck aufkommen lassen wollen, Fasten sei eine religiös verbrämte Diät oder eine weitere Form der körperlichen Selbstoptimierung – gerade angesichts dessen, dass verschiedene Fastenarten im säkularen Kontext als Diäten verbreitet sind.302 Vor diesem Hintergrund ist die Abkehr von körperlichen Fastenformen in modernen religiösen bzw. kirchlichen Fastenaktionen nicht überraschend. Eventuell ist die ambivalente Besetzung von Körperlichkeit auch ein Grund dafür, dass sich neben dem Material von »7 Wochen anders leben« keine weitere Fastenaktion in das Gebiet der ganzheitlichen Selbstwahrnehmung vorwagt oder warum »7 Wochen Ohne« in seinem Material nur auf die jährlichen Mottos eingeht, nicht aber die individuellen Fastenvorhaben der Teilnehmenden, die ja durchaus eine körperliche Komponente haben können. Vor dem Hintergrund, dass Fasten ursprünglich einen vollständigen Verzicht auf Nahrung bedeutete und ein solcher Verzicht heute in einem völlig neuen Kontext (nämlich dem von Diät und Schlankheit) steht, wird jeglicher Verweis auf Körperlichkeit vermieden und Fasten stattdessen radikal zu einem Perspektivwechsel bzw. zu einem Ausdruck des Glaubens und damit zu einer in erster Linie kognitiven bzw. handlungsorientierten Praxis umgedeutet.
Exkurs: Zum Verhältnis von Fasten und Essstörungen Im Kontext der körperlichen Dimensionen des Fastens wird sowohl bei Manfred Josuttis als auch in einigen historischen Studien eine Verbindung zwischen Fasten (im Sinne des völligen Nahrungsverzichts) und Essstörungen, insbesondere der Anorexie, hergestellt. Gerade vor dem Hintergrund der Präsenz von Körperlichkeit, Schlankheit und Diät in der modernen Gesellschaft lohnt es sich, dieser Assoziation nachzugehen. Josuttis parallelisiert das von ihm beschriebene Reinigungselement des Heilfastens mit Essstörungen, in denen die intendierte Reinigung von Körper und Seele im Gegensatz zum Heilfasten unbewusst ablaufe.303 Er beschreibt Anorexie wie folgt: »Jugendliche, meist junge Mädchen, verweigern aus unerklärlichen Gründen die Nahrungsaufnahme. Das Behandlungsmodell ist heute oft familiendynamisch orientiert. […] Der in der Familie ungestillte Hunger nach Liebe wird derart radikal agiert, dass die daraus resultierende Modellierung des Körpers sogar die außerfamiliale Liebe unmöglich macht.«304 Im Mittelalter sei diese Dynamik noch in die Religion integriert und somit bearbeitbar gewesen: Die asketische Praxis junger Frauen sei damals öffentlich aner-
302 Vgl. Koll: »Ich tue mir nichts an, ich gönne mir etwas«, S. 18. 303 Vgl. Josuttis: Religion als Handwerk, S. 91. 304 Ebd.
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kannt gewesen, durch den Eintritt in ein Kloster hätten sie dem schwierigen Familienraum entfliehen und zugleich ihre »Auseinandersetzung mit der Vater-Autorität«305 über die Beziehung zu ihrem Beichtvater fortsetzen können, der sie zugleich dazu ermahnen konnte, ausreichend Nahrung zu sich zu nehmen.306 Dies sei bei der modernen Magersucht unmöglich. Somit zeigt sich laut Josuttis am Beispiel der Anorexie, »dass auch und gerade Unersättlichkeit in eine lebensgefährliche asketische Praxis münden kann«.307 Magersucht, so scheint Josuttis zu folgern, ist eine mögliche Folge des Konflikts, der sich aus der Leugnung der Notwendigkeit von Verzicht in der Konsumgesellschaft und dem gleichzeitigen innerpsychischen Bedürfnis nach Verzicht ergibt: Da es keine gesellschaftlichen Strukturen mehr gibt, in denen Menschen Verzicht geregelt ausüben, treten stattdessen psychische Krankheiten auf, in denen dieselben Prozesse unbewusst und ungesteuert ablaufen. An diesen Ausführungen sind mehrere Aspekte problematisch: Zunächst sind die Gründe für die Verweigerung der Nahrungsaufnahme nicht »unerklärlich« – vielmehr haben essgestörte Personen in aller Regel Gründe für ihr Verhalten, die sich im Rahmen einer Therapie analysieren und bearbeiten lassen. Weiterhin sind Essstörungen in aller Regel multikausal und nicht immer ausschließlich in der jeweiligen Familiendynamik begründet.308 Zuletzt irritiert der Hinweis, Anorexie mache außerfamiliale Liebe unmöglich. Vielleicht zielt Josuttis darauf ab, dass eines der Diagnosekriterien von Magersucht bei Frauen das Ausbleiben der Menstruation ist, was über lange Dauer zur Unfruchtbarkeit führen kann, vielleicht auch darauf, dass anorektische Körper mehrheitlich nicht als sexuell attraktiv wahrgenommen werden. Es ist möglich, dass manche an Essstörungen Erkrankte diese Folgen zumindest in Kauf nehmen oder sie sogar unbewusst anstreben – aber Fertilität und sexuelle Attraktivität mit Liebesfähigkeit (und Liebenswürdigkeit) gleichzusetzen, erscheint problematisch. Josuttis scheint einen Blick auf Anorexie zu vertreten, der sich ganz an der Psychoanalyse orientiert. Auch wenn dieses Erklärungsmodell seine Berechtigung hat, kann es nicht als allgemeingültig angesehen werden. So kann die rein psychoanalytische Perspektive nicht erklären, warum Anorexie beinahe ausschließlich im westlich geprägten Kulturkreis auftritt, da sie kulturelle Aspekte gänzlich außer Acht lässt.309 Auch der Einfluss der Medien und des extrem schlanken Schönheitsideals auf das Körperbild junger Menschen bleibt im psychoanalytischen Modell unbeachtet. Auf diese Einschränkungen des von ihm 305 306 307 308
A.a.O., S. 92. Vgl. a.a.O., S. 91f. A.a.O., S. 91. Vgl. Brumberg, Joan Jacobs: Fasting Girls. The Emergence of Anorexia Nervosa as a Modern Disease (Cambridge, Massachusetts/London: Harvard University Press 1988), S. 24, vgl. auch https://www.bzga-essstoerungen.de/was-sind-essstoerungen/arten/magersucht/?L=0, zuletzt abgerufen am 13.01.2022. 309 Vgl. a.a.O., S. 27–31.
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gewählten Erklärungsmodells (oder auch nur die Existenz anderer Modelle) weist Josuttis nicht hin. Weiterhin ist Josuttis’ Ansicht, im Mittelalter seien Essstörungen durch Integration in das System Religion »heilvoll bearbeitbar« gewesen, bei näherer Betrachtung des historischen Materials fraglich. Josuttis spielt vermutlich auf Fälle an, die bereits in Rudolf Bells Monographie »Holy Anorexia«310 behandelt werden. Bell stellt die These auf, Asketinnen wie z.B. Katharina von Siena oder Colomba von Rieti seien magersüchtig gewesen – allerdings unter religiösen Vorzeichen, ein Phänomen, das als anorexia mirabilis (in Abgrenzung zur anorexia nervosa) bezeichnet wird. Auch Gail Corrington bemüht sich, Kontinuitäten zwischen fastenden Frauen im Mittelalter und modernen Fällen von Anorexie aufzuzeigen, die sich hauptsächlich in der Kontrolle des eigenen Körpers niederschlagen. Sie weist ebenfalls auf zahlreiche Frauen in Antike und Mittelalter hin und nennt als modernes Beispiel Simone Weil.311 Angesichts einiger historischer Überlieferungen ist die Assoziation mancher Praktiken mit Essstörungen zwar verständlich: So soll z.B. Katharina von Siena jegliche Form von Nahrung außer des Abendmahls verweigert312 oder Teresa von Avila regelmäßiges Erbrechen herbeigeführt haben.313 Die Historikerin Joan Brumberg zeigt in ihrer Studie zu Anorexie jedoch das Problem dieser Sichtweise auf: »Advocates of this view naively adopt and apply the biomedical and psychological models of anorexia nervosa as if there was absolute certainty about the etiology of the disease and as if there were complete, verifiable case histories available on historic subjects. In actuality, the documentary evidence for the congruence of anorexia mirabilis and anorexia nervosa is exceedingly weak and usually rests either on interpretative acts of faith or on inconclusive medical ›evidence‹ such as the fact that the individual lost her appetite, did not eat, or stopped menstruating. (This sequelae of symptoms need not necessarily mean anorexia nervosa.)«314 Angesichts von mehreren hundert Jahren Abstand und mit Hagiographien als Hauptquelle ist es unmöglich, eine korrekte psychologische Diagnose zu stellen. Auch wenn manche Praktiken tatsächlich gewisse Ähnlichkeiten zu Symptomen von Essstörungen aufweisen, sollten sie deshalb nicht in eins gesetzt werden.315 Zudem ist darauf hinzuweisen, dass das Ausleben von Askese auch im Mittelalter keineswegs durchweg so viel Anerkennung fand, wie Josuttis suggeriert –
310 311 312 313 314 315
Bell, Rudolph: Holy Anorexia (Chicago u.a.: The University of Chicago Press 1987). Vgl. Corrington: Anorexia, Asceticism, and Autonomy, passim. Vgl. a.a.O., S. 58 sowie Jeremy Finnegan: Catherine of Siena, S. 178. Vgl. Thompson: Fasting and Fulfillment, S. 33. Brumberg: Fasting Girls, S. 42. Auch Bynum verweist darauf, dass Hagiographien nicht als objektive Tatsachenberichte gelesen werden dürfen, vgl. Bynum: Holy Feast, S. 166. Vgl. Brumberg: Fasting Girls., S. 3f.
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zahlreiche Asketinnen wurden für ihre Praktiken (die bisweilen subversive Elemente beinhalten konnten) kritisiert, gerade von kirchlichen Autoritäten.316 Ebenso wurde extremes körperliches Fasten im Mittelalter nicht in erster Linie als Selbstquälerei gedeutet, sondern im Sinne einer imitatio Christi als Verbindung zu Christus in seinem Leiden. Die positive Konnotation dieser Leidensverbindung mag in unserer gegenwärtigen Kultur, die Leiden und Schmerz in der Regel negativ assoziiert, schwer nachvollziehbar sein. Im Mittelalter wurden Schmerz und Lustempfinden allerdings nicht als strikter Gegensatz gedacht, sondern als vereinbar – allein schon vor dem Hintergrund, dass die Medizin damals erheblich weniger Möglichkeiten hatte, Schmerzen zu beheben und körperliches Leid deshalb für deutlich mehr Menschen als heute eine Empfindung war, die das Leben kontinuierlich begleitete.317 Diese kulturellen Unterschiede zwischen dem Mittelalter und der Moderne erschweren eine Parallelisierung oder gar Gleichsetzung ähnlicher Verhaltensweisen. Es zeigt sich somit, dass zwischen Fasten und Anorexie sowohl mit Blick auf die Kirchengeschichte als auch die Gegenwart klar unterschieden werden muss. Anorexie ist eine psychische Erkrankung, bei der der Verzicht auf Nahrung von der erkrankten Person nicht mehr bewusst gesteuert werden kann (der deutsche Begriff Magersucht verweist auf diesen Aspekt des Kontrollverlustes). Fasten ist dagegen – auch in einer radikalen Form als Totalverzicht auf feste Nahrung – die Folge einer bewussten Entscheidung. Die beiden Phänomene miteinander zu vermischen, ist deshalb nicht zielführend.
c) Fasten als Konsumkritik: zwischen Zweckfreiheit und Orthopraxie Neben dem neuen Interesse an als ganzheitlich empfundenen spirituellen Praktiken und einem gestiegenen Bewusstsein für den eigenen Körper und die eigene Gesundheit nennt Bieler die zunehmende Kritik am Wachstumsparadigma und an Konsumgewohnheiten des globalen Westens als dritten Faktor für die Wiederentdeckung des Fastens.318 Sie betont, dass auch dieser konsum- und wachstumskritische Aspekt des Fastens Auswirkungen auf die persönliche Spiritualität haben kann: »Die Reflexion des globalen Krisenhorizontes findet eine Entsprechung in der individuellen Sinnsuche nach dem guten Leben, nach dem, was Erfüllung und Glück im eigenen Leben bedeuten.«319
316 317 318 319
Vgl. dazu ausführlich: Bynum: Holy Feast, S. 168f. Vgl. ebd., S. 245. Vgl.Bieler: Askese Postmodern , S. 215. A.a.O., S. 216.
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Auch Peter Zimmerling sieht Sozialkritik als einen wesentlichen Aspekt des Fastens,320 weist aber zugleich darauf hin, dass »das spirituell verstandene Fasten aus einer positiven Grundmotivation gespeist sein [sollte]: wieder freier zu werden für Gott und den Nächsten.«321 Ausschließlich aufgrund eines schlechten Gewissens gegenüber Hungernden zu fasten, hält er daher für problematisch.322 Deutlich schärfer äußert sich Günter Bader: Er konstatiert, dass Fasten »als nennenswertes ethisches Thema mit den letzten Abendmahls- und Karfreitagsbräuchen vollends verschwunden ist und nur noch auf Schwundstufen fortlebt«.323 Er beobachtet, dass Fasten zwar als Begriff weiterhin begegne, aktuelle Formen allerdings an der ursprünglichen Intention des Fastens vorbeigingen. So lehnt Bader jede »vermeintlich höhere Evidenz aus der Überflußgesellschaft« ab: »Sie liefe nur darauf hinaus, sich zu allem hin auch noch mit F[asten] wichtig machen zu wollen. Entschließt man sich hierzu, so geht einer ganzen Reihe aufgeblähter Fastenmetaphern […] die Luft aus.«324 Auch auf Funktionalisierungen des Fastens ist aus Baders Sicht zu verzichten, sodass er Heilfasten, Fasten zu karitativen Zwecken oder auch »asketisches F[asten] zur Erlangung eines höheren individuellen oder gemeindlichen Status«325 als verfehlt ansieht. Insgesamt ist Bader mit dieser Position allerdings recht isoliert, denn neben Bieler und Zimmerling nennt auch Fechtner die zunehmende Wachstumskritik als wesentlichen Bezugsrahmen modernen Fastens, ohne dies aus theologischer Perspektive zu kritisieren.326 Der Aufruf, Fasten nicht zu funktionalisieren, sondern als Selbstzweck anzusehen, steht zudem in auffälligem Gegensatz zur biblischen und religionsgeschichtlichen Tradition, den reformatorischen Stellungnahmen zum Fasten sowie den anderen zeitgenössischen theologischen Positionen. Schließlich nimmt Claudia Gärtner, die im Kontext der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung auf das Fasten Bezug nimmt, hauptsächlich Chancen wahr: Aus religionspädagogischer Perspektive sieht sie Fasten als potenziellen Lerngegenstand, »der sowohl eine zentrale christliche Tradition erschließt als auch für ein suffizientes Leben sensibilisiert«.327 Dieses Lernen könne z.B. im Religionsunterricht stattfinden, indem die Schüler*innen dazu eingeladen werden, auf freiwilliger Basis während der Fastenzeit auf etwas zu verzichten und ihre Erfahrungen währenddessen zu reflektieren.328 Basierend auf der alttestamentlichen prophetischen 320 321 322 323 324 325 326 327
Vgl. Zimmerling: Evangelische Spiritualität, S. 270. A.a.O., S. 273. Vgl. ebd. Bader, Günter: [Art.] Fasten IV. Ethisch, S. 44f. A.a.O., S. 45. Ebd. Vgl. Fechtner: Im Rhythmus des Kirchenjahres, S. 107f. Gärtner, Claudia: Klima, Corona und das Christentum. Religiöse Bildung für nachhaltige Entwicklung in einer verwundeten Welt (Bielefeld: transcript 2020), S. 142. 328 Vgl. a.a.O., S. 148.
II Theoretischer Hintergrund: christliches Fasten und die vorösterliche Fastenzeit
Kritik am Fasten hält sie fest, dass es im Fasten immer sowohl um die Beziehung der Fastenden zu Gott als auch um die Gerechtigkeit gegenüber den Mitmenschen gehe.329 Fasten ziele so auf eine »Verflechtung von individuellen, sozialen, politischen und spirituellen Dimensionen«.330 Gärtner sieht hier eine religionspädagogische Chance, Inhalte der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung lebensnah zu thematisieren und verweist dabei insbesondere auf die Aktion Klimafasten.331 Zugleich nimmt sie jedoch auf der Basis von Julia Kolls empirischer Erhebung wahr, dass Fasten längst nicht immer aus einer religiösen oder nachhaltigen Motivation heraus praktiziert wird, sondern oft in erster Linie dem eigenen Wohlbefinden dient.332 Ebenso sei Konsumkritik in vielen Milieus nur schwer vermittelbar: »Konsum und eine nicht suffiziente Lebensweise [sind] für viele Milieus ein zentraler Aspekt von Identität und Lebensentwurf. Je größer der Konsum, desto stärker das Selbstwertgefühl und oftmals auch die Anerkennung. Fasten im Sinne von Konsumverzicht und einem suffizienten Leben steigert jedoch weder das Wohlergehen, noch dient es der Selbstoptimierung, es kann gar zu einem Verlust an Ansehen und Reputation führen. Dann ist ökologisch fokussiertes Fasten weder motivierend noch plausibilisierbar.«333 Um Fasten dennoch als interessante Praxis zu vermitteln, regt Gärtner dazu an, den Aspekt des Freiheitsgewinns durch das Fasten zu betonen, auf den auch Josuttis, Zimmerling und die Initiative »7 Wochen Ohne« hinweisen. Selbst wenn die Schüler*innen keinen religiösen Zugang zum Fasten finden können, sei ihnen »auf sozialer Ebene […] durchaus zu plausibilisieren, dass Besitz und Konsum unfrei machen können, indem sie stets in Konkurrenz und Vergleich zum Konsum anderer stehen.«334 Nichtsdestoweniger sei ernstzunehmen, wie eng Konsumstil und Identität miteinander verbunden sein können. Dementsprechend könne sich die Thematisierung von Fasten im Religionsunterricht nicht darauf beschränken, kritische Diskussionen über Konsum zu führen, sondern müsse stets auch sensibel für die damit verwobenen Identitätskonstruktionen und damit auch für die Vulnerabilität der Schüler*innen in diesem Kontext sein. Wenn Schüler*innen sich dazu entschieden, freiwillige Fastenprojekte durchzuführen, müsse dies entsprechend sorgfältig begleitet werden.335
329 330 331 332 333 334 335
Vgl. a.a.O., S. 143. Ebd. Vgl. a.a.O., S. 142f., S. 144. Vgl. a.a.O., S. 144. A.a.O., S. 144f. A.a.O., S. 145. Vgl. a.a.O., S. 147f.
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Gärtner kommt zuletzt auf eine grundlegende Frage bezüglich des Verhältnisses zwischen Fasten und Konsumkritik zu sprechen: Wie geeignet ist Fasten als zeitlich begrenzte Maßnahme, um zu einer dauerhaften Einstellungs- und Verhaltensänderung zu führen?336 Aus Gärtners Sicht ist die kurze Dauer der Fastenzeit kein Grund, es nicht als Anknüpfungspunkt für Bildung zur Nachhaltigkeit zu nutzen, da Fasten aus theologischer Perspektive trotz seiner begrenzten Dauer immer auf bleibende Effekte abziele: »Fasten will das Leben neu auf Gott und Welt ausrichten, es zielt auf eine veränderte Sicht von Gott, Welt und Selbst. Auf Fasten und Verzicht folgt somit nicht Maßlosigkeit, sondern die österliche Fastenzeit strebt auf Ostern, auf Auferstehung und Verwandlung von Tod in Leben zu. […] Die zeitliche Begrenzung des Fastens und die entsprechende Rhythmisierung des Kirchenjahres zielen somit auf neues, erfülltes und erlöstes Leben, das sich jedoch Kategorien von Verzicht und Maßlosigkeit entzieht.«337
d) Fasten in der Kritik: Wie religiös sind moderne Fastenaktionen? Die Wiederentdeckung des Fastens und moderne Fastenformen werden in der Praktischen Theologie nicht nur positiv beurteilt. So erinnert Peter Zimmerling an die reformatorische Kritik am Fasten und betont, dass eine Wiederentdeckung des Fastens nicht zu einer Rückkehr zu Gesetzlichkeit und Werkgerechtigkeit führen dürfe.338 Auch Claudia Gärtner warnt vor den »bei einigen Fastenprojekten durchaus [erkennbaren] Tendenzen zur Selbstoptimierung […], wenn z.B. aus gesundheitlichen oder ästhetischen Gründen gefastet wird, um fitter und erfolgreicher zu sein, wenn der Verzicht der Erprobung von Selbstdisziplin und innerer Härte gilt, um gegen die Herausforderungen des Lebens besser gewappnet zu sein, oder wenn es um die Erschließung spiritueller Ressourcen geht, die zur Steigerung der Leistungsfähigkeit hilfreich sind.«339 Oft entzündet sich die Kritik aber auch konkret an Fasteninitiativen: So sieht z.B. Manfred Josuttis die Aktion »7 Wochen Ohne« nicht als »eine religiöse Methode«.340 Da die Aktion als Herausforderung der eigenen Selbstbeherrschung konzipiert sei, stellt sie in seinen Augen eher eine »Methode der Selbststabilisierung«341 denn ein
336 337 338 339 340 341
Vgl. a.a.O., S. 147. Ebd. Vgl. Zimmerling: Evangelische Spiritualität, S. 272. Gärtner: Klima, Corona und das Christentum, S. 144. Josuttis: Religion als Handwerk, S. 92. Ebd.
II Theoretischer Hintergrund: christliches Fasten und die vorösterliche Fastenzeit
genuin spirituelles Unterfangen dar. Zwar gebe es auch zahlreiche Einladungen zu Meditationen, Andachten oder spirituellen Seminaren, doch konstitutiv für die Aktion seien diese religiösen Elemente nicht. Josuttis räumt zwar ein, dass auch mit »7 Wochen Ohne« religiöse Erfahrungen gemacht werden könnten und dass ein Fasten im Sinne der Hinterfragung von Gewohnheiten auch jenseits der religiösen Dimension einen Sinn habe, stellt aber klar, »dass Methoden, die aus der religiösen Überlieferung stammen, ihren religiösen Charakter verlieren, wenn man sie aus ihrem Kontext herauslöst und aus welchen respektablen Gründen auch immer säkular praktiziert«.342 Corinna Dahlgrün folgt Josuttis in der Ansicht, dass »Verzicht oder Übung als Methode der Heiligung […] mindestens der Intention nach bei ›7 Wochen Ohne‹ nicht vor[liegt]«.343 Zugleich räumt auch sie ein, dass Askese dazu beitragen könne, solche säkularen Praktiken für religiöse Erfahrungen zu öffnen.344 Dahlgrün untersucht ebenfalls den Adventskalender vom Verein Andere Zeiten, den »Anderen Advent«. Ihre Analyse führt zu einem ähnlichen Urteil wie bei »7 Wochen Ohne«: Die Vorbereitung auf ein wichtiges christliches Fest spiele im Material kaum eine Rolle – auch wenn die Lesenden den Kalender dafür nutzen könnten. Es gehe noch weniger um Verzicht und noch mehr um individuelles Wohlbefinden als bei »7 Wochen Ohne«.345 Dahlgrün beobachtet: »Die Askese scheint, mindestens legt dies ein Blick auf die Praxisbeispiele aus dem evangelischen Raum nahe, vielfach ihre Härten ebenso wie ihre Richtung verloren zu haben. Statt eine Methode zu sein, die geistlichen Fortschritt ermöglichen soll, wird sie häufig zum Ziel der Selbstfindung oder der Verbesserung der Lebensqualität eingesetzt. Im gegenüber [sic] zur Tradition ist dies ohne Zweifel problematisch, dennoch kann auch eine solche Askese zu einer Annäherung an geistliche Inhalte führen und ist darum geistlich sorgsam zu begleiten.«346 Evangelische Askese ist für Dahlgrün dabei nicht als Berufsethik für Geistliche zu verstehen, sondern als Teil der Nachfolge, in die alle Gläubigen zu jeder Zeit und an jedem Ort gerufen seien.347 Dabei sei sie aber »kein wellness-Programm. Sie bedeutet Arbeit an sich selbst, die Bereitschaft, die eigenen Abgründe zu entdecken.«348 So verstanden hat Askese für Dahlgrün eine sinnvolle Funktion und sollte dementsprechend einen festen Platz in Kirche und Gesellschaft haben. Diese Funktion von As-
342 343 344 345 346 347 348
A.a.O., S. 93. Dahlgrün:C hristliche Spiritualität, S. 77. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O., S. 78. Ebd. Vgl. ebd. A.a.O., S. 78f.
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kese sieht sie aber weder bei »7 Wochen Ohne« noch beim »Anderen Advent« verwirklicht. Auch Andrea Bieler äußert bezüglich der Mottos und Inhalte der Aktion »7 Wochen Ohne« Bedenken: »Die Projekte der Selbst-Formung, die hier angestoßen werden sollen, beziehen sich auf das individuelle Leben und den näheren Sozialraum intimer Beziehungspflege. Dies ist an sich nicht problematisch – jedoch bleiben diese Leitthemen hinter dem selbst formulierten Anspruch zurück. Würde in weitergreifenden sozialen Räumen politisch oder ökologisch gedacht, müssten die Imperative sofort wieder in ihrer Ambivalenz gedacht werden: Beispielsweise müsste im Hinblick auf das Motto aus dem Jahr 2013 Riskier was! die Frage nach der Risiko-Folge-Abschätzung beim Einsatz bestimmter Technologien gestellt werden. […] Auch die individuellen Lebenshaltungen, wie sich anderen Menschen anzunähern oder die Scheu zu verlieren, sind in der vorgetragenen Ambivalenzfreiheit m.E. problematisch.«349 Bieler findet, dass die nicht normative Herangehensweise an das Fasten »inhaltlich unterbestimmt« bleibt und zudem dazu einlädt, Ambivalenzen vorschnell aufzulösen: »Entsprechend wird die Chance verspielt, mit der Fastenpraxis die Kultivierung von Ambiguitätstoleranz zu verknüpfen, was m.E. einen genuin religiösen Zugang zu dieser Praxis gerade in unserer gegenwärtigen Situation bedeuten könnte.«350 Sie resümiert: »Die Aktion [› Wochen Ohne‹] artikulierte in den Anfangsjahren einen stärkeren politischen Begründungszusammenhang; in den Kampagnen der vergangenen Jahre treten verstärkt Projekte individueller Selbstoptimierung in den Vordergrund. Diese Fokussierung auf das Individuum lässt den Bezug auf die Gottesbeziehung und die ethische Ausrichtung einer Fastenpraxis verblassen. Auch wird das Ambiguitätspotenzial, das den verschiedenen Kampagnenthemen sowie der Praxis des Verzichts innewohnt, nicht genügend ausgelotet. Es bedarf weiterer empirischer Forschungen, in denen die Motivationen und die Erfahrungen der Teilnehmenden untersucht werden.«351
e) Kritische Würdigung und Implikationen für die empirische Studie In der praktisch-theologischen Literatur zum Fasten werden insgesamt drei gesellschaftliche und religiöse Dimensionen ausgemacht, die für die Wiederentdeckung
349 Bieler: Askese Postmodern, S. 218. 350 Ebd. 351 Ebd.
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des Fastens relevant sind und zeitgenössische Fastenaktionen prägen: Die Chance, tiefgreifende religiöse Erfahrungen zu machen, die Möglichkeit, für den eigenen Glauben eine körperliche Ausdrucksform zu finden, und die Auseinandersetzung mit Konsumkritik. Dabei fokussieren Josuttis und Dahlgrün sich in erster Linie auf die spirituelle Dimension, während Fechtner, Zimmerling, Bieler und Gärtner gerade die Verflochtenheit der Dimensionen betonen und darauf hinweisen, dass die Motivationslagen zeitgenössischer Fastender komplex sind. Vergleicht man dies mit den Konzeptionen der Fastenaktionen, fällt auf, dass diese sich zumeist auf einen Aspekt konzentrieren: Misereor und die »Aktion Klimafasten« stellen die konsumkritische und sozialpolitische Dimension in den Vordergrund, »7 Wochen Ohne« und »7 Wochen anders leben« die spirituelle – wobei hier zwischen der eher kognitiv geprägten Ausrichtung von »7 Wochen Ohne« und der eher emotional geprägten von »7 Wochen anders leben« unterschieden werden muss. Die Dimension des körperlichen Ausdrucks des Glaubens steht dagegen in keiner der Fastenaktionen im Zentrum. Auch das Verständnis vom Fasten als Reinigung und als Methode zur Heiligung, die Josuttis und Dahlgrün in den Vordergrund rücken, begegnet in keiner der zeitgenössischen Fastenaktionen prominent. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass diese beiden Theolog*innen die Aktion am stärksten kritisieren und die Frage in den Raum stellen, inwieweit zeitgenössisches Fasten überhaupt religiös geprägt ist. Allerdings wird aus dem Material von »7 Wochen Ohne« recht deutlich, dass die Aktion bewusst zurückhaltend im Hinblick auf eindeutig religiöse Topoi ist, da sie sich explizit auch an Menschen in Distanz zum kirchlichen Leben richtet und gerade für diejenigen zugänglich sein will, die sich in religiöser Sprache nicht beheimatet fühlen. Dies legt weniger eine »Säkularisierung des Fastens« nahe, wie Josuttis sie beobachtet, sondern eher die Intention einer vorsichtigen Heranführung (weitgehend) säkular lebender Menschen an Spiritualität. Ob dies auch gelingt oder ob Intention und Resultat der Aktion auseinanderklaffen, ist durchaus diskussionswürdig, gerade anhand der ersten vorliegenden empirischen Daten. Jedoch erstaunt es, dass Josuttis auf das Selbstverständnis der Aktion und ihr Ziel, kirchendistanzierte Menschen anzusprechen, gar nicht eingeht. Während Dahlgrün zwischen der Intention der Initiator*innen der Fastenaktionen und dem, was die Teilnehmenden daraus machen, unterscheidet und zugesteht, dass letzteres durchaus im religiösen Bereich liegen kann, teilt sie insgesamt Josuttis’ Urteil, dass die Intention selbst nicht religiös sei, da es eher um Selbstfindung denn um geistlichen Fortschritt gehe. Allerdings begründen weder Josuttis noch Dahlgrün, warum genau sie Selbstfindung als Widerspruch zu geistlichem Fortschritt sehen. In ihren Augen scheinen Fastende nur eine Motivation zu haben. Sowohl die bereits ausführlich zitierte quantitative Studie von Patrick Heiser als auch Julia Kolls Untersuchung von Fastenbriefen zeigen dagegen, dass in der Praxis eine Vielzahl von Motivationen zu beobachten ist. Eine deutlich ältere empirische Studie von Joseph B. Tamney kommt
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ebenfalls zu dem Schluss, dass einzelne Fastende häufig mehrere Fastenmotivationen in sich vereinen.352 Nicht zuletzt ist zu beachten, dass Fasten in aller Regel in Bereichen stattfindet, die immer auch säkulare Dimensionen aufweisen, ob es sich dabei um den Verzicht auf (bestimmte) Nahrungsmittel oder den Boykott von Konsumgütern handelt. Allein die Tatsache, dass sich in häufig gewählten Fastenvorhaben gesellschaftliche Kontexte spiegeln, erschwert es, Fasten als eine »rein religiöse« Angelegenheit zu verstehen. Dies macht Fasten aber nicht uninteressant für die theologische Forschung.353 Es ist durchaus denkbar, dass viele Fastende sich vom Fasten sowohl ein gewisses Maß an Selbstreflexion als auch ein vertieftes spirituelles Leben erhoffen – oder dass beides für sie miteinander in Verbindung steht. Davon geht auch Andrea Bieler aus und weist darauf hin, dass zeitgenössische Fastende z.B. Heilfasten praktizieren, weil es sowohl aus gesundheitlichen als auch aus spirituellen Gründen attraktiv für sie ist.354 Bei Josuttis und Dahlgrün scheint es dagegen so, als würden sie sich ein »puristisches« Fasten wünschen, das ein klares protestantisches Profil aufweist und sich von vage gehaltener Spiritualität abgrenzt. Dahlgrün scheint zudem zu bedauern, dass evangelische Askese ihre »Härte« verloren zu haben scheine und nun eher ein »wellness-Programm« sei. Auch Josuttis’ Skizze eines aus seiner Sicht genuin spirituellen Fastens wirkt mit Ausdrücken wie »Hingabe bis an die Lebensgrenze« oder »Selbsttötung« radikal. Bei beiden entsteht der Eindruck, dass sinnvolle protestantische Askese eher eine konstante Geisteshaltung darstellen sollte als eine zeitlich begrenzte Umstellung im Alltag. Es liegt auf der Hand, dass dieses Ideal der Ausrichtung der zeitgenössischen Fastenaktionen »7 Wochen Ohne« und »7 Wochen anders leben« deutlich widerspricht. Es bleibt jedoch bei beiden letztlich vage, was genau die von ihnen imaginierte asketische Geisteshaltung auszeichnet. Wie sieht, in Josuttis’ Worten, eine »energetische Kalkulation«, die zur Heiligung führt, in der Praxis aus? Fände er es richtig, wenn Kirchengemeinden ihre Mitglieder dazu ermutigen würden, ein Fasten im Sinne des Nahrungsverzichts bis an die Schmerzensgrenze durchzuführen? Und in welchen konkreten Handlungen würden der »geistliche Fortschritt« und die »Arbeit an sich selbst«, die Dahlgrün sich wünscht, sich niederschlagen? Bei Dahlgrüns Kritik überrascht zudem, dass ihr zweites Anwendungsbeispiel für Askese nicht die Fastenaktion von »Andere Zeiten« ist, sondern der »Andere Advent«. Es ist richtig, dass auch der Advent ursprünglich eine Fastenzeit war, aber diese Bedeutung hat er für den Großteil der Christ*innen in Deutschland schon lange verloren – dem »Anderen Advent« kann dies nicht angelastet werden. Warum also analysiert Dahlgrün nicht ein Angebot des Vereins »Andere Zeiten« zur Fastenzeit, 352 Vgl. Tamney: Fasting and Dieting, S. 255–262. 353 Vgl. Grumett/Muers: Theology on the Menu, S. 143f. 354 Vgl. Bieler: Askese Postmodern, S. 209f.
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sondern das zum Advent, den kaum jemand intuitiv mit Askese in Verbindung bringen würde? »7 Wochen anders leben« und »wandeln« regen explizit dazu an, den Blick auch auf schwierige und problembehaftete Aspekte des eigenen Lebens und der eigenen Person zu richten. Dies könnte durchaus als Ausdruck einer gewissen »Härte«, die Dahlgrün sich zu wünschen scheint, verstanden werden. Generell stellt sich die Frage, ob es zwischen den Intentionen von Aktionen wie »7 Wochen Ohne« und »7 Wochen anders leben« auf der einen und den Askesekonzeptionen von Dahlgrün und Josuttis auf der anderen Seite bei näherer Betrachtung nicht mehr Gemeinsamkeiten gibt, als es auf den ersten Blick erscheint. Beide theologischen Entwürfe verwenden eine sehr spezifische Ausdrucksweise. So bewegt sich Josuttis’ Sprachstil, den Dahlgrün weitgehend übernimmt, mit Ausdrücken wie »Hunger nach der Präsenz des Göttlichen«, »Selbsttötung« oder »göttliche Vitalkraft« teilweise am Übergang von wissenschaftlicher zu mystischer Sprache. Dies erklärt, warum seine spezifischen Formulierungen von den Fastenaktionen, die stark religiös aufgeladene Sprache gerade zu vermeiden suchen, nicht verwendet werden. Versucht man jedoch, die dahinter liegenden Gedanken in eine schlichtere Sprache zu fassen, führt dies letztlich zu Aspekten wie »Sehnsucht nach einem transzendenten ›Mehr‹ im Alltag«, »sich selbst herausfordern« oder »Wandlung und Neuerung« – und damit zu Vorstellungen, die sich im Material der zeitgenössischen Aktionen durchaus finden lassen. Welche Gesichtspunkte lassen sich aus der Betrachtung der aktuellen praktischtheologischen Perspektiven auf Fasten und Askese für den weiteren Verlauf dieser Studie gewinnen? Aus meiner Sicht legen sich drei Punkte nahe. Erstens: Es gibt keine eindeutige praktisch-theologische Konzeption des Fastens. Das einende Moment aller Ansätze ist die Beobachtung, dass Fasten kaum auf eine konkrete Praxis festgelegt werden kann, doch hier enden die Gemeinsamkeiten bereits. Peter Zimmerling scheint zu konzedieren, dass man mit der Konzeption von »7 Wochen Ohne« arbeiten bzw. darauf aufbauen kann, auch wenn er selbst dem körperlichen Fasten aufgrund des gesundheitlichen Aspekts einen gewissen Vorteil gegenüber metaphorischen Fastenarten einräumt. Manfred Josuttis und Corinna Dahlgrün dagegen scheinen den Ansatz von »7 Wochen Ohne« und Andere Zeiten als zu milde und zu sehr auf das Individuum konzentriert zu empfinden. Auch Andrea Bieler kritisiert die inhaltliche Ausrichtung von »7 Wochen Ohne« als zu undifferenziert, stellt jedoch zugleich klar, dass eine Analyse moderner Fastenpraktiken nicht bei der Untersuchung des Materials stehenbleiben kann, sondern auch empirisch erfolgen müsste. Die Pluralität der theologischen Ansichten darüber, was das Fasten ausmacht, ist angesichts der Vielseitigkeit von Fastenanlässen und -gestaltungen, wie sie bereits in der Bibel und in der Geschichte deutlich wurde und sich auch in zeitgenössischen Fastenaktionen widerspiegelt, kaum überraschend. Zweitens: Dass eine allgemein anerkannte evangelische »Theologie des Fastens« nicht existiert, ist für diese Studie ein Vorteil. Denn in der empirischen Untersu-
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chung soll es nicht um eine Überprüfung von Hypothesen gehen, sondern darum, die eigenen Sinnhorizonte und Orientierungsrahmen der Fastenden herauszuarbeiten. Dazu ist es notwendig, die Vorverständnisse, Assoziationen und akademischen Diskurse, in deren Kontext die Studie entsteht, offenzulegen und zu reflektieren, damit sie während der Befragung und der Analyse der Interviews bewusst ausgeklammert werden können. Dies ist einfacher, wenn im Diskurs unterschiedliche Meinungen sichtbar werden als wenn ein unausgesprochener Konsens vorherrscht. Drittens: Die von den Theolog*innen formulierten und von Dogmatik und Tradition geprägten Sichtweisen auf Askese sind das eine – wie Menschen konkret handeln und ihre eigene Praxis deuten, ist das andere. Die konkreten Handlungen, Beweggründe und persönlichen Erfahrungen von Fastenden sind bisher nicht untersucht worden. Die Erforschung dieser Leerstelle ist das Hauptanliegen dieser Studie. Andrea Bielers Ansatz, zeitgenössisches Fasten multiperspektivisch zu erfassen und auch empirisch zu untersuchen, ist dabei höchst anschlussfähig. Basierend auf ihrer Auseinandersetzung mit Soziologie und Philosophie plädiert Bieler dafür, zeitgenössische asketische Praktiken multiperspektivisch zu untersuchen. Zuerst sollen die Inhalte und Handlungslogiken asketischer Praktiken untersucht werden: »Was wird konkret getan? Wie wird gefastet? […] Wie können die eingesetzten Körpertechniken beschrieben werden?«355 Zweitens sollen normative Aspekte wie Empfehlungen oder Verbote analysiert werden, denn die »Aufstellung von Normen hat immer auch eine praxisgenerierende Bedeutung.«356 Drittens geht es darum, sich »der subjektiven Deutung der Praxis […], in der die Selbstdeutungen, die Erfahrungen, die Motivation und die persönlichen Begründungen herausgearbeitet werden«357 zu widmen. Viertens soll der politische und gesellschaftliche Kontext der Praxis untersucht werden: »Ob asketische Praktiken mimetisch oder gegenkulturell auf den jeweiligen gesellschaftlichen Kontext bezogen sind, kann nicht im Vorhinein entschieden werden, sondern muss im Hinblick auf konkrete Phänomene erforscht werden. Mimesis und Weltabstand per se als Alternativen zu begreifen, verschließt vermutlich den Wahrnehmungshorizont.«358 Fünftens soll die Betrachtung asketischer Praktiken »auch auf eine theologisch-konstruktive Deutungsleistung zielen, die nach dem Beitrag asketischer Praktiken für das christliche Glaubensleben im Kontext der Postmoderne fragt«359 . Bielers differenzierte und von Offenheit für die Empirie geprägten Überlegungen ermöglichen vielfache Anknüpfungspunkte für diese Studie. Einzig der von ihr verwendete Begriff der Körpertechnik, der viele traditionelle asketische Praktiken präzise zu erfassen vermag, ist auf die modernen
355 356 357 358 359
Bieler: Askese Postmodern, S. 213. A.a.O., S. 214. Ebd. Ebd. Ebd.
II Theoretischer Hintergrund: christliches Fasten und die vorösterliche Fastenzeit
metaphorischen Fastenarten, die ohne konkreten Bezug auf den Körper auskommen, nicht anwendbar. Der Begriff der Körpertechnik ist deshalb nicht auf das Fasten insgesamt zu beziehen. Abgesehen davon lehnt sich der Aufbau dieser Studie an Bielers Herangehensweise an: In der Einleitung wurde anhand der quantitativen empirischen Untersuchungen zum Fasten ein erster inhaltlicher Blick auf Praktiken des zeitgenössischen Fastens geworfen. In diesem Kapitel wurden anhand von Bibeltexten, zeitgenössischen Fastenaktionen und theologischen Überlegungen normative Aspekte und gesellschaftliche Kontexte des Fastens herausgearbeitet. Im folgenden Kapitel soll nun die subjektive Wahrnehmung des Fastens durch die Fastenden im Zentrum stehen. Dabei dient die bisher adressierte theologische und soziologische Literatur als Hilfe, konkretere Forschungsinteressen zu bestimmen: Lässt sich im empirischen Material eine Überschneidung verschiedener Fastendimensionen beobachten oder konzentrieren Fastende sich in der Praxis eher auf einen Aspekt? Wie stehen Fastende zum Begriff des Verzichts? Wie präsent ist der Bezug auf den eigenen Körper in ihrem Fasten? Welchen Raum nimmt die Vorbereitung auf das Osterfest ein? Spielen die Themenbereiche Nachhaltigkeit und Ökologie oder die Frage der gerechten Verteilung von Nahrung und Ressourcen eine Rolle? Diese und weitere Fragen sind hilfreiche Anregungen dafür, die sehr grundsätzliche Forschungsfrage zu konkretisieren und bilden somit die Grundlage für die Konzeption des Leitfadens für die Interviews.
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III Fasten in der Gegenwart: die empirische Studie
1 Metatheorie und Methodologie a) Metatheoretische Verortung: eine funktionale Perspektive auf das Fasten Jedes empirische Projekt beginnt mit der Formulierung eines Erkenntnisinteresses und der Entscheidung für eine Erhebungs- und Auswertungsmethode, die diesem Erkenntnisinteresse angemessen ist.1 Diese vordergründig banale Feststellung ist hier besonders relevant, weil zeitgenössische Fastenpraktiken bisher noch nicht aus theologischer Perspektive empirisch untersucht wurden und eine entsprechend große Vielzahl möglicher Erkenntnisinteressen und korrespondierender Forschungsdesigns denkbar ist. Das Interesse dieser Arbeit liegt nicht in erster Linie darin, möglichst umfassend und detailliert zu beschreiben, wie Menschen fasten, also worauf sie verzichten oder wie sie anderweitig ihren Alltag umgestalten. Vielmehr interessiert mich, was beim Fasten »eigentlich dahintersteckt«:2 Worauf reagiert Fasten, welche Probleme werden darin bearbeitet, im Kontext welcher anthropologischen oder gesellschaftlichen Konfliktlagen wird es als sinnstiftend empfunden? Dies soll nicht nur auf der individuellen Ebene jedes Interviews erforscht werden, sondern es sollen auch Muster herausgearbeitet werden, die sich vom Einzelfall abstrahieren lassen und so eine empirisch fundierte theoretische Perspektive auf das Phänomen »Fasten« möglich machen. Damit nehme ich eine grundsätzlich funktionale Perspektive ein, die sich am von Armin Nassehi vorgeschlagenen operativ verstandenen Funktionalismus orientiert. Diese Perspektive zielt darauf ab, »Problem- und Problemlösungskontexte beschreibbar zu machen«3 und somit letztlich empirische Forschung und Gesellschaftstheorie zu verbinden.4 Mit der funktionalen Perspektive wird »nach
1 2 3 4
Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S. 1. Nassehi: Rethinking Functionalism, S. 79–106, S. 89 (Hervorhebung original). Ebd. Vgl. a.a.O., S. 92f.
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Antonia Rumpf: Wozu fasten?
dem Bezugsproblem gefragt, auf das die in einem konkreten Fall gefundenen Verhältnisse eine Antwort geben«.5 Dabei geht es nicht um explizit formulierte Absichten oder Pläne (z.B. »Ich verzichte in der Fastenzeit auf Süßigkeiten, um Gewicht zu verlieren«), sondern um latente Strukturen des Umgangs mit »Problemstellungen und Seinslagerungen«.6 Das Verhalten der Befragten wird somit als Lösung bzw. Bearbeitung eines Problems gesehen. Herauszuarbeiten, was genau das Bezugsproblem – oder die Bezugsprobleme – einer bestimmten Praxis ist, ist die Aufgabe der empirischen Forschung: »Funktionalismus sieht sich Lösungen an […]. Die Grundfrage ist dann, für welches Problem diese Praxis eine Lösung sein kann. Das theoretische oder theorietechnische Bezugsproblem ist dabei möglichst allgemein zu halten: die Bewältigung von Kontingenz […]. Das jeweilige empirische Bezugsproblem zu bestimmen ist dagegen die eigentliche wissenschaftliche Forschungsleistung. Sie ist nicht dem Material selbst zu entnehmen, sondern entstammt einer wissenschaftlichen/soziologischen Beobachtung, die im Hinblick auf praktische Lösungen äquivalente, auch anders mögliche Problemkonstellationen sucht.«7 Nassehi setzt sich konstruktiv mit der gängigen Funktionalismuskritik auseinander. Diese beläuft sich im Wesentlichen darauf, dass frühe Vertreter des Funktionalismus wie Bronisław Malinowski oder Claude Lévi-Strauss jeweils ein bestimmtes Problem schon vor der empirischen Forschungsarbeit als gesetzt annahmen. Dadurch wurden die Wahrnehmungen der jeweils untersuchten Phänomene erheblich gelenkt und in ein Korsett gezwängt, das der Komplexität der Forschungssubjekte nicht immer gerecht wurde.8 Nassehi schließt sich dieser Kritik an und plädiert genau deshalb für eine neue funktionalistische Zugangsweise, bei der sowohl das Problem als auch dessen Lösung zunächst unbekannt sind: »Wenn y eine Funktion von x ist: y = f(x), dann sind sowohl y als auch x kontingent gesetzt – und das verbietet es, eine der beiden Seiten absolut zu setzen. Exakt dieses Problem wird in der Funktionalismuskritik bearbeitet. Weniger formal gesprochen geht es um die Kritik an der Präsupposition einer Ganzheit oder eines unwandelbaren Funktionensets.«9
5
6 7 8 9
Vogd, Werner: Funktionale Methode und Typenbildung, in: Ralf Bohnsack/Nora Friederike Hoffmann/Iris Nentwig-Gesemann (Hg.): Typenbildung und Dokumentarische Methode. Forschungspraxis und methodologische Grundlagen (Opladen/Berlin/Toronto: Verlag Barbara Budrich 2018), S. 359–373, S. 359. A.a.O., S. 360. Nassehi: Rethinking Functionalism, S. 99. Vgl. ausführlich dazu a.a.O., S. 93–96. A.a.O., S. 94.
III Fasten in der Gegenwart: die empirische Studie
Weiterhin ist zu beachten, dass Praktiken nicht auf eine Logik festgelegt werden können. Vielmehr sind »Handlungen Lösungen für mehrere, unterschiedliche, bisweilen völlig unvermittelte Bezugsprobleme.«10 Bezogen auf diese Studie heißt dies: Sowohl die Bezugsprobleme des Fastens (x) als auch die Bearbeitungsstrategien dieser Bezugsprobleme (f(x)) werden zu Beginn der empirischen Forschung nicht festgelegt. Beides muss aus dem empirischen Material gewonnen werden. Dazu bedarf es einer konkreten sozialwissenschaftlichen Methode, die sicherstellt, dass der Übergang von uninterpretierten Daten zur Theoretisierung nicht voreilig, sondern methodisch kontrolliert erfolgt: »Erst der Überschuss an Strukturmöglichkeiten einer hinreichend detaillierten Analyse liefert das Material für eine begriffliche Abstraktion, die dann in eine qualifizierte Theoriegenese einmünden kann.«11 Etabliert ist dafür die Kombination von funktionaler Perspektive und Dokumentarischer Methode.12 Die Dokumentarische Methode ist einerseits metatheoretisch kompatibel mit der Systemtheorie,13 aus deren Kontext Nassehis operativ-funktionale Perspektive stammt, und andererseits methodisch so aufgestellt, »dass die Latenzen systemischer Zusammenhänge aufgeschlossen werden können«14 . Die Dokumentarische Methode ist auf die Herausarbeitung von Typiken fokussiert. Damit zielt die Methode selbst bereits auf einen höheren Abstraktionsgrad ab als z.B. die Ethnomethodologie, die eher an einer möglichst detailreichen Darstellung des Feldes in all seiner Komplexität interessiert ist. So stellt die dokumentarische Methode für eine noch stärker abstrahierte funktionale Perspektive eine solide Basis dar.15 Bevor in die Auswertungsmethode eingeführt und die Erhebungsmethode vorgestellt und begründet wird, muss noch ein weiterer zentraler Punkt genannt werden: Die Entscheidung für eine Untersuchung des Fastens anhand sozialwissenschaftlicher Methoden und aus einer grundsätzlich funktionalen Perspektive bedeutet zugleich, dass vor dem »Gang ins Feld« der Geltungscharakter sämtlicher theologischer Traditionen und Texte eingeklammert wird. Selbstverständlich beeinflusst das bisher erareitete Vorwissen mein Erkenntnisinteresse und meine Forschungsarbeit, in dieser Hinsicht wird es auch weiterhin an relevanten Stellen reflektiert. Das Ziel der empirischen Erhebung ist es aber nicht herauszufinden, ob die Daten eines der vorgestellten christlichen Fastenverständnisse stützen oder welche Fastenaktion am beliebtesten ist. Ebenso wenig geht es darum zu überprüfen,
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A.a.O., S. 98. Vogd: Systemtheorie und rekonstruktive Sozialforschung, S. 26. Vgl. weiterführend dazu a.a.O., S. 21–26. Vgl. dazu im Detail Vogd: Funktionale Methode und Typenbildung. Vgl. Vogd: Systemtheorie und rekonstruktive Sozialforschung, S. 39. Ebd. Vgl. a.a.O., S. 40.
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Antonia Rumpf: Wozu fasten?
welche Aspekte des Fastens, die in biblischen Texten vorkommen oder von den Reformatoren empfohlen wurden, für die Befragten relevant sind. Stattdessen wird all dies für die Dauer der Erhebung und Interpretation der Daten eingeklammert. Nachdem die Daten interpretiert wurden, werden sie dann allerdings in ihrer aufbereiteten Form ins Gespräch mit der relevanten theologischen Literatur gebracht.
b) Datenauswertung: die Dokumentarische Methode Die Dokumentarische Methode wurde von Ralf Bohnsack entwickelt und basiert auf der Wissenssoziologie von Karl Mannheim. Ursprünglich wurde sie als Auswertungsverfahren für Gruppendiskussionsverfahren konzipiert,16 bald jedoch auch auf Material angewandt, das mittels Einzelinterviews und teilnehmender Beobachtung erhoben worden war. Die Methode »dient der Rekonstruktion der praktischen Erfahrungen von Einzelpersonen und Gruppen, in Milieus und Organisationen, gibt Aufschluss über die Handlungsorientierungen, die sich in der jeweiligen Praxis dokumentieren, und eröffnet somit einen Zugang zur Handlungspraxis«.17 Aufgrund dieser Ausrichtung ist die Dokumentarische Methode für mein Forschungsvorhaben – die Untersuchung der Erfahrungen, die Menschen mit der Praxis des Fastens machen – sehr gut geeignet: Es geht nicht darum, das Sachwissen der Befragten über das Fasten herauszuarbeiten, sondern um Einblicke in ihr Erfahrungswissen sowie in die grundlegenden Orientierungsmuster, die ihr Fasten strukturieren. Im Folgenden werden die relevanten Grundbestimmungen und -begriffe der Dokumentarischen Methode umrissen.
α) Grundbestimmungen und zentrale Begriffe Die Dokumentarische Methode erhielt ihren Namen von der für sie kennzeichnenden Unterscheidung zweier Sinnebenen, die auf Mannheim zurückgeht. So verfügen Erzählungen von Erfahrungen zum einen über den immanenten Sinngehalt. Dieser umfasst Bestandteile des sogenannten »kommunikativen Wissens«.18 Kommunikatives Wissen wird von den Befragten explizit formuliert und beinhaltet normative Erwartungen und Rollen sowie »Um-zu-Motive« oder »Erwartungsfahrpläne«, die auch als »Orientierungsschemata«19 bezeichnet werden. Orientierungsschemata folgen einer propositionalen Logik und haben insgesamt einen »Charakter der Exteriorität«.20 Zum anderen verfügen Texte über einen Dokumentsinn, dessen Ana16 17 18
19 20
Vgl. Bohnsack, Ralf: Rekonstruktive Sozialforschung, S. 33. Nohl: Interview und Dokumentarische Methode, S. 4. Bohnsack, Ralf: Orientierungsmuster, in: Ders./Alexander Geimer/Michael Meuser (Hg.): Hauptbegriffe Qualitativer Sozialforschung (Opladen/Toronto: Verlag Barbara Budrich 4 2018), S. 183f., S. 183. Ebd. Ein Beispiel wäre die Aussage: »Ich faste, um ein paar Kilo abzunehmen.« Ebd (Hervorherbung original).
III Fasten in der Gegenwart: die empirische Studie
lyse im Zentrum der Methode steht. Dabei wird darauf abgezielt, die sogenannten »Orientierungsrahmen«21 herauszuarbeiten, die im Gegensatz zu den konkret formulierbaren Orientierungsschemata den »habitualisierten und inkorporierten Charakter des Modus Operandi«22 aufweisen. »Grundlegende, inkorporierte und atheoretische Orientierungsrahmen bestimmen, wie das kommunikative Wissen verstanden und wie soziale Praxis strukturiert wird.«23 Dieses Erfahrungswissen, dessen Erforschung im Zentrum der Methode steht, wird auch als atheoretisches Wissen bezeichnet: »›Atheoretisch‹ ist dieses Wissen, weil wir in unserer Handlungspraxis darüber verfügen, ohne dass wir es alltagstheoretisch auf den Punkt bringen und explizieren müssten. […] Erst wo wir gezwungen sind, Außenstehenden etwas zu erklären (wie etwa dem Kind das Schuhbinden), versuchen wir, den Gegenstand des habituellen Handelns und damit unser atheoretisches Wissen in alltagstheoretische und allgemeinverständliche Begrifflichkeiten zu überführen.«24 Hier setzt die Dokumentarische Methode an und bemüht sich, genau dieses atheoretische Wissen, das nicht explizit kommuniziert wird, freizulegen. Dies bedeutet nicht, dass die Forschenden mehr wissen als die Befragten oder sie »besser« verstehen als sie sich selbst verstehen. Sie nehmen lediglich einen anderen Blickwinkel ein. Die Befragten können sich ihr atheoretisches Wissen durchaus auch selbst bewusst machen – nur tun sie es in aller Regel nicht, weil es sie im Alltagshandeln aufhalten würde.25 Deshalb wird Material, das mit der Dokumentarischen Methode interpretiert werden soll, häufig durch narrative Interviews erhoben: In Argumentationen wird tendenziell kommunikatives Wissen reproduziert, während sich in der Struktur einer Erzählung eher die Struktur einer Erfahrung und damit atheoretisches Wissen abbildet.26 »Die Erzählungen und Beschreibungen in narrativ angelegten Interviews dienen also dazu, das ›atheoretische‹ und ›konjunktive Wissen‹, das in die Handlungspraxis zugleich eingelassene und diese orientierende Wissen der Interviewten, zu erheben.«27 Dabei wird zur Rekonstruktion der Orientierungs-
21 22 23
24 25 26 27
Ebd. Ebd. Jansen, Till/von Schlippe, Arist/Vogd, Werner: Kontexturanalyse – ein Vorschlag für rekonstruktive Sozialforschung, in: organisationalen Zusammenhängen FQS Forum: Qualitative Sozialforschung, 16(2015), Art. 4 (68 Absätze), S. 5. Nohl: Interview und Dokumentarische Methode, S. 6. Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S. 281f. Vgl. Nohl: Interview und Dokumentarische Methode, S. 32–34. S. dazu auch Kapitel III.1 c). A.a.O., S. 33.
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rahmen ein besonderes Augenmerk darauf gelegt, wie erzählt wird, anstatt sich auf das Was zu fokussieren.28 In den letzten Jahren ist zudem das Verhältnis zwischen kommunikativem und atheoretischem Wissen bzw. zwischen Orientierungsschemata und Orientierungsrahmen in den Fokus der rekonstruktiven Sozialforschung gerückt. Mit Bohnsack lässt sich beobachten, dass die Logik der Orientierungsrahmen in der Regel »in einer unaufhebbaren Spannung resp. notorischen Diskrepanz zur Logik der Orientierungsschemata stehen.«29 Um dieses Spannungsverhältnis genauer zu analysieren, hat Bohnsack in den letzten Jahren den Begriff des »Orientierungsrahmen[s …] im weiteren Sinne«30 geprägt. Der Orientierungsrahmen im weiteren Sinne schließt sowohl die Orientierungsschemata als auch den Orientierungsrahmen im engeren Sinne ein. Dadurch kann in der Analyse auch und gerade untersucht werden, welche Bestandteile des kommunikativen Wissens in das atheoretische Wissen übergegangen sind bzw. welche Aspekte der Orientierungsschemata Teil des Habitus der Befragten geworden sind und welche dagegen mit dem Habitus konfligieren. Ebenso wird es so möglich, auch kommunikatives Wissen in die Darstellung der empirischen Untersuchungsergebnisse einzubinden. In der vorliegenden Studie fokussiere ich mich hauptsächlich auf die Orientierungsrahmen im engeren Sinne.31 Dies korrespondiert mit dem Forschungsinteresse an den Erfahrungen der Befragten – anstatt etwa erfragen zu wollen, wie viel (laien-)theologisches Wissen die Befragten zum Thema »Fasten« haben und wie orthodox ihre Praktiken aus der Perspektive akademischer Theologie sind. Hinzukommt, dass es zum zeitgenössischen Fasten nicht besonders viele weit bekannte gesellschaftliche Normen und Erwartungen gibt. Die Materialien der Fasteninitiativen halten sich in diesem Bereich explizit zurück und lehnen es gerade ab, Normen aufzustellen. An relevanten Stellen wird jedoch auch das kommunikative Wissen der Befragten mit dargestellt bzw. die Diskrepanz zwischen Orientierungsschemata und Orientierungsrahmen fokussiert. Hierbei wird die Einklammerung des Geltungscharakters relevant, denn »es interessiert nicht, ob die Darstellungen (faktisch) wahr oder richtig sind, sondern es interessiert, was sich in ihnen über die Darstellenden und deren Orientierungen dokumentiert.«32 Natürlich mag mich die eine oder andere Praxis oder Aussage irri28 29 30 31
32
Vgl. a.a.O., S. 4f.; Przyborski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S. 283f. Bohnsack: Orientierungsmuster, S. 184. Ebd. (Hervorhebung original). Wenn im Folgenden von »Orientierungsrahmen« die Rede ist, meine ich deshalb immer den Orientierungsrahmen im engeren Sinne, schreibe dies aber aus textökonomischen Gründen nicht aus. Wenn es mir um den Orientierungsrahmen im weiteren Sinne geht, wird dieser Begriff ausgeschrieben. Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung, S. 65. Vgl. dazu auch Przyborski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S. 284.
III Fasten in der Gegenwart: die empirische Studie
tieren – aufgrund meiner theologischen Vorbildung, aufgrund meiner politischen Ansichten, meiner persönlichen Erfahrungen oder einer anderen Positionalität. Die Interviewanalyse ist jedoch nicht der richtige Ort, um zu diesen Aussagen Stellung zu nehmen oder sie zu bewerten.33 Stattdessen ist das Prinzip der Reflexivität wichtig: »Ein soziales Phänomen wird immer auf der Grundlage der Erfahrungen, des Standorts des Wissenschaftlers erfasst, d.h. in Relation zu dessen Erfahrung, sozialhistorischer Einbindung und wissenschaftlicher Sozialisation und – noch zugespitzter formuliert – seiner Handlungspraxis. Die dokumentarische Methode fasst dies aber nicht in erster Linie als eine Voraussetzung auf, die durch Methoden ›geheilt‹ oder behoben werden muss, vielmehr bezieht sie es offensiv und systematisch in ihre Methodologie ein.«34 Die Standortgebundenheit wird zum einen dadurch relativiert, dass die Orientierungsrahmen eines Interviews nicht nur mit den eigenen, sondern auch mit denjenigen anderer Interviews verglichen werden. Das Vorwissen und der eigene Standpunkt werden so »zwar nicht suspendiert, aber methodisch relativiert.«35 Zum anderen ist die Diskussion von Interviewmaterial und Interpretationsvorschlägen in Forschungswerkstätten zentral – die Perspektiven anderer Forscher*innen tragen ebenfalls dazu bei, den eigenen Standort klarer wahrzunehmen und als solchen einzuordnen.36 So können die Orientierungsrahmen der Befragten möglichst bewertungsfrei rekonstruiert werden. Stellt sich dabei heraus, dass manche der Orientierungsrahmen tatsächlich merkliche Differenzen zur christlichen Tradition und Theologie aufweisen, kann darauf im Rahmen der theologischen Reflexion der empirischen Befunde (Kapitel IV) eingegangen werden.
β) Methodisches Vorgehen in der Interviewinterpretation Die Interviewanalyse beginnt in der Dokumentarischen Methode mit dem Anfertigen von tabellarischen thematischen Interviewverläufen. Dabei werden Passagen identifiziert, die sich durch eine hohe metaphorische Dichte, einen Wechsel von Narration zu Argumentation, die besonders ausführliche Behandlung eines Themas
33 34 35 36
Vgl. dazu auch Schulz: Empirische Forschung als Praktische Theologie, S. 74f. Przyborski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S. 282. Nohl: Interview und Dokumentarische Methode, S. 7; vgl. auch Przyborski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S. 282. Vgl. Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung, S. 13. Das für dieses Projekt erhobene Material und meine Interpretationsvorlagen wurden in der Sozietät des Lehrstuhls für Praktische Theologie von Isolde Karle (Ruhr-Universität Bochum), in der Forschungswerkstatt am Lehrstuhl für Soziologie von Werner Vogd (Universität Witten-Herdecke) sowie in kleineren Kolleg*innengruppen diskutiert.
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und/oder durch hohe Relevanz für die Forschungsfrage und/oder für die Befragten selbst auszeichnen. Diese werden transkribiert.37 Der nächste Schritt ist die formulierende Interpretation. Sie »verbleibt vollständig in der Perspektive des Interpretierten, dessen thematischen Gehalt sie mit neuen Worten formulierend zusammenfasst.«38 Es geht dabei darum, den immanenten Sinngehalt und die nicht immer auf den ersten Blick erkennbare thematische Struktur des Textes durch die Identifikation und Reformulierung von Ober- und Unterthemen systematisch und verständlich darzustellen. Dies macht den ersten Schritt des Verstehens intersubjektiv überprüf- und verhandelbar. Gerade diesen Schritt lohnt es, in Gruppen zu diskutieren, um zu vermeiden, dass die eigene Standortgebundenheit schon die reine Reformulierung des Inhalts verzerrt.39 Es folgt die reflektierende Interpretation, die sich dem Dokumentsinn des Textes widmet und »rekonstruiert, wie ein Thema oder eine Problemstellung verarbeitet, d.h. in welchem Orientierungsrahmen ein Thema oder eine Problemstellung abgehandelt wird«.40 Dieser Wechsel vom »Was« zum »Wie« macht die Dokumentarische Methode anschlussfähig für eine funktionale Perspektive, da hier die »Prozesse der Sinngenese […] und ihre funktionalen Konsequenzen«41 herausgearbeitet werden können. Dazu werden zunächst die Textsorten – narrativ, argumentativ etc. – identifiziert und so sauber wie möglich getrennt.42 Wird ein Orientierungsrahmen vermutet, so beginnt die Sequenzanalyse, bei der man weitere Passagen zunächst desselben Interviews analysiert und dabei erforscht, ob die beobachteten Strukturen erneut begegnen. »Die Bestimmung des dokumentarischen Sinngehalts, der Bearbeitungsweise bzw. des Orientierungsrahmens wird dann möglich, wenn man die implizite Regelhaftigkeit, die den ersten mit dem zweiten und weiteren Abschnitten verbindet, rekonstruiert«.43 Eine weitere wichtige Rolle spielen fallübergreifende Vergleiche, anhand derer untersucht wird, wie unterschiedliche Befragten über dasselbe Thema sprechen. Als Tertia Comparationis bieten sich die verhandelten Themen und der jeweilige Umgang der Befragten mit ihnen an.44 Begegnen dabei in anderen Interviews Passagen mit großer Ähnlichkeit, ermöglicht dies, den Orientierungsrahmen umfänglicher
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Vgl. Nohl: Interview und Dokumentarische Methode, S. 30; Przyborski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung S. 292f. Nohl: Interview und Dokumentarische Methode S. 5. Vgl. a.a.O, S. 31; Przyborski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung S. 292f. Nohl: Interview und Dokumentarische Methode, S. 5. Vogd: Systemtheorie und rekonstruktive Sozialforschung, S. 47 (Hervorhebung original). Vgl. Nohl: Interview und Dokumentarische Methode, S. 34. A.a.O., S. 37. Vgl. a.a.O., S. 46.
III Fasten in der Gegenwart: die empirische Studie
darzustellen, während kontrastierende Passagen die Abgrenzung von anderen Orientierungsrahmen erleichtern.45 Aufbauend auf diesen zunächst punktuellen fallübergreifenden Vergleichen werden, nachdem alle Interviews einmal interpretiert wurden, die identifizierten Orientierungsrahmen im nächsten Schritt systematisch abstrahiert und vom Einzelfall abgelöst.46 Auf diese Weise lassen sich unterschiedliche Typiken herausarbeiten. Dabei können die Orientierungsrahmen durch ihren Orientierungsgehalt (was sagt die Orientierung aus?), ihren Orientierungshorizont (wie weit reicht die Orientierung/wo kommt sie an ihre Grenzen?) und ihr Enaktierungspotenzial (wie kann sich die Orientierung im Handeln niederschlagen?) bestimmt werden.47 In diesem Projekt konnten mit Hilfe dieser Schritte drei Orientierungsrahmen herausgearbeitet werden, die – in ihrer abstrahierten Form – jeweils in mehreren Interviews begegnen. Somit lassen sich die Befragten in drei Gruppen aufteilen, die jeweils eine bestimmte Typik aufweisen: Eine Orientierung an Prinzipien, an Selbsterfahrung oder an Relationen. Diese drei Gruppen werden in Kapitel III.2 anhand der für sie relevanten Interviewpassagen vorgestellt.
c) Datenerhebung: teilnarrative Leitfadeninterviews Aufgrund des Erkenntnisinteresses, Einblicke in die persönlichen Erfahrungen Fastender zu erhalten, eignen sich grundsätzlich Interviews zur Datenerhebung.48 Da die Forschungsmethodik sich an funktionaler Perspektive und Dokumentarischer Methode orientiert und damit auf Daten angewiesen ist, aus denen Rückschlüsse auf persönliche Erfahrungen gezogen werden können, wurden aus der Vielfalt unterschiedlicher Interviewformen teilnarrative Leitfadeninterviews gewählt. Ein narrativer Ansatz wurde gewählt, weil die Strukturen persönlicher Erfahrung – so die der Methode zugrunde liegende These – sich im sprachlichen Modus der Erzählung am besten abbilden. Dies gilt insbesondere für die in Interviewsituationen typischen Stegreiferzählungen: Da die Befragten sie spontan formulieren, drücken sie sich meist eher ungefiltert und intuitiv aus und gestalten ihre Erzählung weniger bewusst. Daher erlangt man durch den Einsatz dieser Interviewform in der Regel leichter Zugang zum Erfahrungswissen der Befragten als z.B. in Interviews, die im Sprachmodus des Argumentierens und Diskutierens operieren und so schon rein
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Vgl. a.a.O., S. 37, S. 40. Vgl. a.a.O., S. 42. Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S. 296. Vgl. Arksey, Hilary/Knight, Peter: Interviewing for Social Scientists. An Introductory Resource with Examples (London/Thousand Oakes/New Delhi: Sage 1999), S. 34; King, Nigel/Horrocks, Christine: Interviews in Qualitative Research (Los Angeles u.a.: Sage 2010), S. 37.
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sprachlich ein höheres Maß an Abstraktion und damit Distanzierung von der eigenen Erfahrung erfordern.49 Ralf Bohnsack folgend wird durch Narration gesichert, »dass der Erzähler seine Lebensgeschichte so reproduziert, wie er sie erfahren hat, also die lebensgeschichtliche Erfahrung in jeder Aufschichtung, in jenen Relevanzen und Fokussierungen reproduziert, wie sie für seine Identität konstitutiv und somit auch handlungsrelevant für ihn ist.«50 Arnd-Michael Nohl ergänzt: »Gerade weil er seine Erzählung komplettieren (in ihrer Gestalt schließen), kondensieren und detaillieren muss, verstrickt sich der Erzähler in den Rahmen seiner eigenen Erfahrungen und lässt damit in den Erzählungen einen tiefen Einblick in seine Erfahrungsaufschichtung zu.«51 Narrative Interviews eignen sich zudem insbesondere für die Erfassung von Erfahrungen mit Prozesscharakter52 (wie mehrwöchiges Fasten) und zeichnen sich durch eine große Offenheit aus: Die Befragten entscheiden auf einen möglichst offenen Erzählstimulus hin selbst, welche Aspekte für sie erzählenswert sind und legen dadurch sowohl ihre Erfahrungen als auch ihre Perspektive auf diese offen.53 Sie orientieren sich also an ihren eigenen Relevanzstrukturen und nicht an denen der Forschenden, was dem Forschungsinteresse, die Perspektive der Befragten kennenzulernen, entgegenkommt.54 Zudem ist die inhaltliche Offenheit narrativer Interviews dem Untersuchungsgegenstand angemessen: So zeigte die theoretische Annäherung, dass Fasten heute aus diversen Praktiken besteht, die in unterschiedlicher Weise an Spiritualität/Religiosität gekoppelt und Anknüpfungspunkt für verschiedene gesellschaftliche oder politische Anschauungen sein können. Es schien daher ratsam, zu Beginn des Interviews keinerlei nähere Vorgaben oder Einschränkungen zu machen.55 Deshalb begannen alle Interviews mit dem bewusst offen formulierten Erzählstimulus:56 »Können Sie mir erzählen, was für Erfahrungen Sie bisher mit Fasten in Ihrem Leben gemacht haben?« Die folgenden Eingangserzählungen – manche nur wenige Sätze, manche zehn Minuten lang – wurden aufmerksam verfolgt und möglichst nicht unterbrochen, um den Befragten zu ermöglichen, ihre eigenen Perspektiven »authentisch zu entfalten«.57 Dies ist unentbehrliche Grundlage für die spätere Rekonstruktion der Relevanzstrukturen der Befragten:
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Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S. 80. Vgl. zur Methode des narrativen Interviews ausführlich a.a.O., S. 79–88. Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung, S. 94. Nohl: Interview und Dokumentarische Methode, S. 25. Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S. 81. Vgl. a.a.O., S. 85. Vgl. Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung, S. 22. Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S. 128. Vgl. a.a.O., S. 68f., S. 128. A.a.O., S. 85.
III Fasten in der Gegenwart: die empirische Studie
»Die Befragten sollen selbst offen legen, wie sie die Fragestellung interpretieren, damit die Art und Weise, wie sie die Fragen übersetzen, erkennbar wird; und zugleich wird ihnen die Gelegenheit gegeben, das Thema in ihrer eigenen Sprache zu entfalten. Je umfassender dies geschieht, desto geringer ist die Gefahr, dass die Interviewenden oder auch diejenigen, die das Interview auswerten, die Befragten missverstehen.«58 Zugleich habe ich aus theologischer Perspektive an bestimmten Themen ein besonderes Interesse, z.B. an der Rolle des Glaubens im Fasten oder an Erfahrungen mit zeitgenössischen Fastenaktionen. Da nicht davon auszugehen ist, dass all diese Aspekte von allen Befragten selbst ins Interview eingebracht werden, ist es sinnvoll, einen Leitfaden auszuarbeiten, der die Kerninteressen dieser Studie und ihrer Fragestellung abdeckt. So kann auch klargestellt werden, ob die Befragten Aspekte, die sie nicht von sich aus erwähnt haben, tatsächlich irrelevant finden oder ob sie schlicht vergessen haben, sie zu nennen. Dies erhöht die Vergleichbarkeit der Interviews untereinander und erleichtert damit eine potenzielle Typenbildung am Ende der Auswertung. Nicht zuletzt ist ein Leitfaden auch angesichts des Anliegens, die Forschungsarbeit so reflexiv wie möglich zu gestalten, ratsam: Die festgehaltenen Fragen machen meinen Einfluss auf den Verlauf des Interviews transparent und damit analysierbar.59 Die Interviews begannen also mit dem Erzählstimulus, der darauffolgenden Eingangserzählung und an sie anschließende sogenannte immanente Nachfragen. Auch diese wurden möglichst erzählgenerierend formuliert. Im Anschluss wurden auf Basis des Leitfadens in Form von exmanenten Fragen diejenigen Themen angeboten, die die Befragten von sich aus nicht erwähnt hatten. Diese wurden ebenfalls möglichst offen und erzählgenerierend statt argumentativ formuliert, um die Befragten nicht unter Rechtfertigungsdruck zu setzen.60 In der Praxis verliefen viele Interviews so, dass die Befragten die meisten Themen des Leitfadens von selbst ansprachen und ich sie nicht exmanent ins Gespräch bringen musste. Die meisten auf dem Leitfaden vermerkten Fragen nahmen insofern faktisch die Funktion von immanenten Fragen ein. Aus methodischer Sicht ist dies erfreulich, da immanente Fragen mit höherer Wahrscheinlichkeit zu relevanten und reichhaltigen Infor-
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Bohnsack: Rekonstruktive Sozialforschung, S. 22. Vgl. Fontana/Frey: The Interview, S. 91. Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S. 130. So lautet z.B. die Frage, die auf die Relevanz von Verzicht abzielt, nicht »Halten Sie es für geboten, sich beim Fasten mit dem Thema Verzicht zu beschäftigen?«, was eine argumentative Antwort herausfordern würde, sondern: »Manchmal wird Fasten mit dem Ausdruck Verzicht in Verbindung gebracht. Ist das ein Begriff, den Sie benutzen?«
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mationen führen.61 In manchen Interviews stellte ich gegen Ende62 eine Frage, die stärker auf Meinung bzw. Begründung abzielte, z.B. indem ich die Befragten mit einem Zitat konfrontierte und fragte, was sie dazu meinen. Auch wenn die Dokumentarische Methode in erster Linie mit narrativem Material arbeitet, kann die Interpretation eher argumentativer Passagen aufschlussreich sein. Zentral ist dabei aber, auch diese Passagen strikt dokumentarisch zu interpretieren, sie also nicht auf die Ebene des immanenten Sinngehaltes zu reduzieren und damit nur als »Erläuterungen von Handlungsmotiven und -gründen«63 zu sehen. Vielmehr kann man auf der Ebene des dokumentarischen Sinngehalts »die Herstellungs-bzw. Konstruktionsweise der Argumentationen rekonstruieren und auf diese Weise herausarbeiten, wie jemand seine Handlungsweisen rechtfertigt bzw. bewertet. Auch dieser modus operandi des Theoretisierens kann Aufschluss über die Orientierungsrahmen geben, innerhalb derer eine Person ihre Themen und Problemstellungen bearbeitet.«64 Dies war für diese Studie insofern relevant, als dass es sich beim Fasten in den allermeisten Fällen um eine frei wähl- und gestaltbare Praxis handelt, die ohne Verluste unterlassen werden könnte. Deshalb zeigten sich viele Befragte nicht nur erzähl-, sondern auch argumentierfreudig. Dabei können in ein und demselben Interview durchaus Widersprüche zwischen den Orientierungsrahmen, die aus argumentativen Passagen herausgearbeitet werden können, und denen, die sich in narrativen Passagen identifizieren lassen, auftreten.65 Dies ist ein wertvoller Hinweis darauf, entsprechende Passagen einer genaueren Analyse zu unterziehen. Insgesamt war die Interviewgestaltung von dem Bestreben bestimmt, die Vorteile narrativer Interviews (Orientierungsrahmen und Relevanzstrukturen der Befragten stehen im Vordergrund, absolute thematische Offenheit, erzählgenerierende Fragen) mit denen leitfadengestützter Interviews (gut vergleichbare Interviews, Sicherstellung der [Nicht-]Relevanz von Themen, Abdeckung des Forschungsinteresses) zu verbinden. Dies ist gut möglich, da die beiden Methoden bei allen Unterschieden keine Gegensätze darstellen. Vielmehr kann man beide als »prinzipiell narrativ fundiert«66 ansehen.
61 62 63 64 65 66
Vgl. a.a.O., S. 71 und S. 130. Dies ist wünschenswert, da der Schritt von Narration hin zu Argumentation leichter zu gehen ist als umgekehrt, vgl. a.a.O., S. 72. Nohl: Interview und Dokumentarische Methode, S. 34. A.a.O., S. 35. Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S. 298; Nohl: Interview und Dokumentarische Methode, S. 37. Nohl: Interview und Dokumentarische Methode, S. 16 (Hervorhebung original).
III Fasten in der Gegenwart: die empirische Studie
α) Der Leitfaden Der Leitfaden67 war wie folgt strukturiert: • •
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•
•
•
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Klären offener Fragen, Unterzeichnen der Einverständniserklärung Demographische Fragen: Konfession, Alter, Lebenssituation Je nach Situation – manche Befragten wirkten sehr eifrig, direkt ins Thema einzusteigen – wurden diese Fragen auch am Ende gestellt. Erzählstimulus: Können Sie mir erzählen, was für Erfahrungen mit Fasten Sie bisher in Ihrem Leben gemacht haben? Potenzielle Nachfragen, falls folgende Aspekte aus der Erzählung noch nicht klar wurden: ◦ Wie fasten Sie? Was lassen Sie weg/fügen Sie hinzu? ◦ Zu welchen Zeiten im Jahr fasten Sie? Warum? Block I: Wie erfährt der*die Befragte das Fasten? Diese eher allgemeinen Fragen dienen neben dem Informationsgewinn auch dazu, eine angenehme und vertrauensvolle Gesprächsatmosphäre zu etablieren, bevor auf den Glauben bezogene (und damit für viele deutlich intimere) Fragen gestellt werden. ◦ Wie geht es Ihnen bis jetzt in diesem Jahr mit Ihrem Fastenvorhaben? ◦ Ist es auch manchmal schwierig (konkrete Situationen?) Wie gehen Sie damit um? ◦ Wie reagiert Ihr Umfeld darauf, dass Sie fasten? ◦ Hatten Sie schon einmal ein besonders schönes/denkwürdiges/herausforderndes Fastenerlebnis? Was hat es so besonders gemacht? ◦ Es gibt ja heute sehr viele verschiedene Arten zu fasten. Z. B. gibt es Leute, die [etwas mit den Erfahrungen der Person Kontrastierendes einfügen]. Wäre das auch etwas für Sie? Warum (nicht)? Block II: Motivationen für das Fasten und Einbettung in allgemeine Religiosität/ Spiritualität/Glaubenspraxis ◦ Wie sind Sie dazu gekommen zu fasten? ◦ Hat Fasten für Sie etwas mit Ihrem Glauben/Ihrer Spiritualität zu tun? ◦ Was macht es mit Ihnen, wenn Sie fasten, was verändert sich? ◦ Was erhoffen Sie sich davon? ◦ Verzichten können – was bedeutet das für Sie? ◦ Haben Sie auch andere religiöse/spirituelle Rituale/Gewohnheiten? Block III: Erfahrungen mit Fastenaktionen Nach dem mittleren Block werden zum Abschluss noch einige Fragen gestellt, die weniger intim sind und damit einen im Ideal-
Der Leitfaden wurde vor den ersten Interviews im Forschungskolloquium des Lehrstuhls für Praktische Theologie besprochen, vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S. 130.
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fall entspannten Gesprächsabschluss ermöglichen, anstatt die Befragten mit einer für sie offenen Frage oder unmittelbar nach einer emotionalen Erzählung zurückzulassen.68 ◦ Es gibt heute einige Fastenaktionen, z.B. »7 Wochen Ohne« oder »7 Wochen anders leben«. Haben Sie schon einmal die Materialien so einer Aktion benutzt? Wie sind Sie damit umgegangen? ◦ Was gefällt Ihnen am Material? Was nicht so? ◦ Hatten Sie in dieser Fastenzeit schon eine Lieblingsseite/einen Lieblingsbrief? ◦ Wie geht es nach dem Fasten für Sie weiter, hat das Fasten Nachwirkungen? ◦ Gibt es noch etwas, was Sie mir erzählen wollen? Basierend auf dem Prinzip des offenen leitfadengestützten Interviews war die Reihenfolge der Fragen innerhalb der Blöcke sowie die Reihenfolge der Blöcke grundsätzlich variabel und wurde jeweils auf den Gesprächsverlauf bzw. auf das, was die Befragten in der Eingangserzählung formulierten, abgestimmt.69 Ebenso wurde die konkrete Formulierung der Fragen dem bisherigen Interviewverlauf angepasst.70
β) Sampling und Durchführung der Interviews Die Daten wurden in der Fastenzeit erhoben, damit die Befragten direkt aus dem Vollzug des Fastens sprechen konnten. Leitfäden sollten im Lauf der Erhebung verbessert werden – z.B. durch das Einfügen von Aspekten, die von bisher Befragten neu eingebracht wurden oder das Streichen von Fragen, die in keinem Interview zu fruchtbaren Antworten führten.71 Solche Entscheidungen sollten allerdings erst getroffen werden, wenn die Interviews auch interpretiert wurden. Da eine einzige Fastenzeit nicht genug Zeit bot, um erste Interviews zu führen und zu analysieren, den Leitfaden entsprechend anzupassen und dann weitere Interviews zu führen, wurde die Erhebung auf zwei Jahre aufgeteilt.
68 69
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Vgl. Greener, Ian: Designing Social Research. A Guide for the Bewildered (Los Angeles u.a.: Sage 2011), S. 56. Bei eher zurückhaltenden Befragten wurden die auf Religion zielenden und damit intimeren Fragen aus Block 2 wirklich erst nach Block 1 gestellt. Dagegen wurde bei Befragten, die in der Eingangserzählung direkt über ihren Glauben sprachen, diese Reihenfolge nicht immer eingehalten. Vgl. Davies, Charlotte Aull: Reflexive Ethnography. A Guide to Researching Selves and Others (London u.a.: Routledge 2 2008), S. 105.f. und Przyborski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S. 130. Z. B. »Sie haben ja schon erzählt, dass es manchmal nicht ganz einfach ist mit dem Fasten. Was macht es für Sie schwierig?« Vgl. Maxwell, Joseph A.: Designing a Qualitative Study, in: Leonard Bickman/Debra J. Rog (Hg.): The Sage Handbook of Applied Social Research Methods (Los Angeles u.a.: Sage 2 2009), S. 214–253, S. 232 und Przyborski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S. 128, S. 130.
III Fasten in der Gegenwart: die empirische Studie
Als qualitativ angelegte Studie erhebt dieses Projekt keinerlei Anspruch, alle gegenwärtig vorhandenen Fastenpraktiken repräsentativ abzubilden.72 Zugleich ist auch in qualitativer Forschung zu beachten, dass ein Einzelfall nicht nur für sich steht: »Fragen des Samplings sind in qualitativen Untersuchungen entscheidend. Fälle stehen nicht für sich, sondern repräsentieren etwas – z.B. eine Generation, ein Milieu, ein Strukturproblem u.Ä.m. Daher entscheidet das Sampling mit darüber, ob die Befunde qualitativer Studien verallgemeinert werden können.«73 Mit Verallgemeinerung und Repräsentativität ist hier nicht gemeint, dass Aussagen über die statistische Verteilung bestimmter Positionen oder Praktiken gemacht werden können. Stattdessen geht es um die »Strukturiertheit des Phänomens und das Spektrum seiner Ausprägungen«.74 Dementsprechend ist die Auswahl der Interviewkontakte von Relevanz. Grundsätzlich folgte ich dem Prinzip des Theoretical Sampling, das ursprünglich im Zusammenhang mit der Grounded Theory Methodology entwickelt wurde. Das Grundprinzip besteht darin, mit einem kleinen Sample zu beginnen und dieses auszuwerten, sodass erste Interpretationsansätze entstehen. Auf dieser Basis werden anschließend weitere Fälle ausgewählt. Dabei wird v.a. mit Kontrasten gearbeitet: durch die Auswahl von Fällen, die minimal mit den bisher untersuchten kontrastieren, können die daran entwickelten Gedanken überprüft und weiterentwickelt werden. Die Auswahl von maximal kontrastierenden Fällen führt zu einem umfänglicheren Bild des untersuchten Phänomens. Im Idealfall wird das Sampling betrieben, bis keine neuen Informationen mehr erscheinen – hier spricht man von der theoretischen Sättigung.75 Basierend auf diesem Prinzip wurde das Sample so divers wie möglich gestaltet. Dabei wurden in diesem Fall v.a. die Aspekte der Anbindung an verschiedene Fastenaktionen, Alter, Konfession, Wohnort und Geschlecht beachtet. Das Sampling begann mit einem Post in der Facebookfastengruppe von Andere Zeiten,76 der zu zwei Interviews führte. Ebenso besuchte ich den Eröffnungsgot72 73 74 75 76
Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S. 177. A.a.O., S. 178. A.a.O., S. 180. Vgl. zum Sampling ausführlich ebd., S. 181f. Der Post lautete – angepasst an den Umgangston in der Gruppe – wie folgt: »Ein herzliches Hallo in die Runde! Zu Beginn der Fastenzeit ein Beitrag der etwas anderen Art: Gibt es unter uns Leute, die Lust hätten, sich mal zu treffen, um sich über Fastenerfahrungen auszutauschen? Ich interessiere mich schon lange für das Thema Fasten, faste selbst jedes Jahr und darf jetzt, mit Unterstützung von Andere Zeiten, ein Forschungsprojekt dazu durchführen. Mich interessiert, warum und wie Menschen heute fasten und was sie dabei bewegt. Um Antworten auf diese Fragen zu bekommen, möchte ich Fastende gerne besuchen und von ihren Erfahrungen hören. Wenn jemand sich das vorstellen könnte oder auch erstmal weitere Fra-
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tesdienst zur Fastenaktion von Andere Zeiten und den anschließenden Imbiss und knüpfte dort Kontakte für zwei weitere Interviews. Zudem recherchierte ich Fastengruppen in Kirchengemeinden in meiner Umgebung und fragte die jeweiligen Leiter*innen, ob sie die Einladung zur Teilnahme und meine Kontaktdaten in ihrer Gruppe zirkulieren lassen könnten. Daraus resultierten zwei weitere Interviews. Ein letztes Interview ergab sich durch private Kontakte. In der zweiten Erhebungsphase versuchte ich gemäß dem Prinzip der Kontrastierung, mehr Menschen jenseits der Fastenaktion von Andere Zeiten anzusprechen und knüpfte über Facebookgruppen, die auf den Aktionen »7 Wochen Ohne« oder »Klimafasten« basierten, drei Interviewkontakte. Weiterhin suchte ich auf der Onlinekarte mit Fastengruppen von »7 Wochen Ohne« gezielt nach Gruppen, die unterschiedliche Fastenangebote machten und auch geographisch möglichst breit gestreut waren. Auf diesem Weg wurde der Kontakt zu sechs Befragten hergestellt. Zuletzt ergab sich über private Kontakte ein Doppelinterview mit einem Ehepaar. Somit wurden in der ersten Erhebungsphase (2019) sieben, in der zweiten (2020) zehn Interviews geführt. Von den insgesamt 18 Befragten sind 13 Frauen und fünf Männer. Drei Befragte nutzten in erster Linie das Material von »7 Wochen Ohne«, fünf das von »7 Wochen anders leben«. Zwei Befragte waren Mitglied in einer Gruppe, deren Leiterin aus Material beider Aktionen jede Woche ein eigenes Faltblatt zusammenstellte. Sieben fasteten in Gruppen, die ein eigenes Profil aufwiesen. Zwei Befragte fasteten für sich ohne Anbindung an Gruppen oder ein bestimmtes Material. Die Altersspanne umfasst Anfang 30 bis Ende 70, die meisten Befragten sind zwischen 45 und 65 Jahre alt. Neun Befragte sind landeskirchlich-evangelisch, drei römisch-katholisch und vier in verschiedenen Freien Kirchen Mitglied. Zwei Befragte sind aus der evangelischen Kirche ausgetreten, identifizieren sich aber weiterhin als Christ*in. Sechs Befragte leben im Ruhrgebiet, fünf in Westfalen, zwei im Großraum Hamburg, jeweils eine Person im Rheinland, im Rhein-Main-Gebiet, in Baden-Württemberg, in SachsenAnhalt und im Nordosten der Schweiz.77 Allen Befragten wurde ein Informationsblatt zur Studie geschickt, um ihnen die Möglichkeit zu Rückfragen zu geben. Dabei wurden jedoch keine theoretischen Annahmen offengelegt und die Formulierung des Forschungsinteresses verblieb im Allgemeinen, um zu verhindern, dass sich die Befragten an meinen Relevanzstruk-
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gen hat, bin ich hier auf Facebook per PN oder unter der Mailadresse [email protected] erreichbar. Natürlich ist das völlig unverbindlich – ich freue mich sehr über jede Rückmeldung! Und: Natürlich darf diese Nachricht sehr gerne geteilt werden :) Ich wünsche allen eine intensive und schöne Fastenzeit!« In Bezug auf die geographische Verteilung wäre eine größere Diversität wünschenswert gewesen; leider war dies aufgrund der Covid-19-Pandemie nicht möglich.
III Fasten in der Gegenwart: die empirische Studie
turen statt ihren eigenen orientierten.78 Zudem wurde der vertrauliche Umgang mit persönlichen Daten sowie die Anonymisierung des Materials zugesichert.79 Die Interviews fanden jeweils auf Wunsch der Befragten80 entweder bei ihnen zuhause, an einem öffentlichen Ort und in je einem Fall in meinem Büro an der Universität resp. dem Büro des Befragten statt. Die Interviews begannen jeweils mit Smalltalk bzw. Joining, um eine erste Vertrautheit zu etablieren. In diese Phase fiel auch das Beantworten etwaiger Fragen und anschließend das Unterschreiben der Einverständniserklärung.81 Danach begann das eigentliche Interview und die Aufzeichnung mit einem Aufnahmegerät. Nach Abschluss der Fragen beendete ich die Aufnahme und bedankte mich bei den Befragten für ihre Teilnahme am Projekt.82 Die Audiomitschnitte wurden im Anschluss an die Interviews von mir transkribiert. Für die Darstellung der Interviewpassagen wurde hier eine möglichst intuitiv lesbare Transkription gewählt: Kursivsatz kennzeichnet die Betonung eines Wortes, […] eine Auslassung von Material,/einen Wort-oder Satzabbruch, … eine kurze (< 3 Sekunden) und … … eine lange Pause. Worte in eckigen Klammern sind Anonymisierungen oder Erklärungen bzw. Kontextualisierungen, die von mir eingefügt wurden. Faktoren wie Sprechgeschwindigkeit, Lautstärke und Sprachmelodie wurden in der Interpretation der Interviews auch berücksichtigt, werden hier aber nicht eigens abgebildet.
γ) Auswirkungen der Covid-19- Pandemie Die meisten Interviews der zweiten Erhebungsphase konnten nicht wie geplant durchgeführt werden, da kurz nach Beginn der Fastenzeit 2020 die Covid-19Pandemie Deutschland erreichte und sowohl die Kontaktbeschränkungen als auch das oberste Prinzip empirischer Arbeit – Forschungssubjekte nicht in Gefahr zu bringen – persönliche Gespräche mit den Befragten unmöglich machten. Als absehbar wurde, dass diese auch vor dem Ende der Fastenzeit nicht wieder möglich werden würden, beschloss ich, auf Interviews über das Telefon, WhatsApp oder Videochat (Facebook-Messenger/Skype) umzusteigen. Die Wahl des jeweiligen Mediums überließ ich den Befragten, auf die Datenschutzrisiken wurde jeweils hingewiesen und die Befragten erklärten sich bereit, diese in Kauf zu nehmen. Acht
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Vgl. Przybroski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S. 60–62. Die Beschreibung des Projekts auf dem Informationsblatt lautete: »In meinem Projekt erforsche ich durch Interviews, warum und wie Menschen heute vor Ostern fasten. Dabei interessieren mich alle Fastenarten, es gibt aus meiner Perspektive keine richtigen und falschen oder besseren und schlechteren.« Vgl. a.a.O., S. 62f. Vgl. a.a.O., S. 63. Vgl. a.a.O., S. 67. Vgl. a.a.O., S. 73.
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der zehn Interviews der zweiten Erhebungsphase wurden auf eine dieser Arten durchgeführt. Durch die Änderung des Mediums ergaben sich einige Schwierigkeiten. So fiel es mir durch den Wegfall sämtlicher visueller Kommunikation bei Telefonaten – gerade mit vorher Unbekannten – teilweise schwerer, geschickt und intuitiv zu kommunizieren. Teilweise wurden die Gespräche zudem durch eine schlechte Handyverbindung gestört. Da all diese Probleme abzusehen waren, war die Entscheidung, die Interviews medial durchzuführen, keine einfache. Im Rückblick lässt sich jedoch sagen, dass sie sich bewährt hat, da erst mehrere Monate nach Ostern wieder persönlichen Interviews möglich gewesen wären – dies hätte einerseits bedeutet, dass die Befragten aus großem zeitlichen Abstand zu ihrer Erfahrung erzählt hätten, andererseits hätte es auch die Arbeit am Projekt verzögert.
2 Orientierungen und Bezugsprobleme im Fasten Im Zuge der Interpretation der Interviews mittels der Dokumentarischen Methode konnten drei klar voneinander unterscheidbare Orientierungsrahmen rekonstruiert werden, innerhalb derer das Fasten jeweils in mehreren Interviews verhandelt wurde. Daher kann vermutet werden, dass diese drei Orientierungen in ihrer Typik repräsentativ für verschiedene Arten sind, Fasten heute zu erleben und zu erfahren. Die meisten Befragten lassen sich einer dieser Orientierungen zuordnen.83 Somit ist es möglich, die Interviews zunächst in drei Gruppen zu ordnen, in denen jeweils eine Orientierung an Prinzipien, an Selbsterfahrung oder an Relationen dominiert. Anhand dieser Gruppen wird im Folgenden das erhobene Material dargestellt. Dabei beginne ich jeweils mit einer bereits vom Einzelfall abstrahierten Gesamtdarstellung der jeweiligen Orientierung, bevor ich anhand des Interviewmaterials die Details und auch die feinen Unterschiede innerhalb der Gruppen verdeutliche. Um intersubjektiv nachvollziehbar zu machen, wie die Orientierungen rekonstruiert wurden, werden die dafür relevanten Interviewpassagen zitiert und interpretiert, kürzere Zitate dienen der weiterführenden Illustration einer bereits ausführlich hergeleiteten Interpretation.84 In einem zweiten Schritt wird in jedem 83
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Es ist zu vermuten, dass es weitere Typiken gibt, die aufgrund der Größe des Samples in dieser Studie nicht begegneten. Es ist zudem zu beachten, dass die drei Orientierungsrahmen nicht als strikt voneinander getrennte Gruppen gedacht werden dürfen: In mehreren Interviews begegnen Elemente aus zwei oder sogar allen drei Orientierungen. Mit einer Ausnahme (Marion) dominiert jedoch eine Orientierung eindeutig. Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S. 409. Die formulierende Interpretation wird dabei nur knapp oder gar nicht wiedergegeben, um die inhaltliche Wiederholung der Zitate weitgehend zu vermeiden. Der Interpretationsschritt wurde natürlich dennoch bei allen Interviews durchgeführt und in Forschungswerkstätten diskutiert.
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der zehn Interviews der zweiten Erhebungsphase wurden auf eine dieser Arten durchgeführt. Durch die Änderung des Mediums ergaben sich einige Schwierigkeiten. So fiel es mir durch den Wegfall sämtlicher visueller Kommunikation bei Telefonaten – gerade mit vorher Unbekannten – teilweise schwerer, geschickt und intuitiv zu kommunizieren. Teilweise wurden die Gespräche zudem durch eine schlechte Handyverbindung gestört. Da all diese Probleme abzusehen waren, war die Entscheidung, die Interviews medial durchzuführen, keine einfache. Im Rückblick lässt sich jedoch sagen, dass sie sich bewährt hat, da erst mehrere Monate nach Ostern wieder persönlichen Interviews möglich gewesen wären – dies hätte einerseits bedeutet, dass die Befragten aus großem zeitlichen Abstand zu ihrer Erfahrung erzählt hätten, andererseits hätte es auch die Arbeit am Projekt verzögert.
2 Orientierungen und Bezugsprobleme im Fasten Im Zuge der Interpretation der Interviews mittels der Dokumentarischen Methode konnten drei klar voneinander unterscheidbare Orientierungsrahmen rekonstruiert werden, innerhalb derer das Fasten jeweils in mehreren Interviews verhandelt wurde. Daher kann vermutet werden, dass diese drei Orientierungen in ihrer Typik repräsentativ für verschiedene Arten sind, Fasten heute zu erleben und zu erfahren. Die meisten Befragten lassen sich einer dieser Orientierungen zuordnen.83 Somit ist es möglich, die Interviews zunächst in drei Gruppen zu ordnen, in denen jeweils eine Orientierung an Prinzipien, an Selbsterfahrung oder an Relationen dominiert. Anhand dieser Gruppen wird im Folgenden das erhobene Material dargestellt. Dabei beginne ich jeweils mit einer bereits vom Einzelfall abstrahierten Gesamtdarstellung der jeweiligen Orientierung, bevor ich anhand des Interviewmaterials die Details und auch die feinen Unterschiede innerhalb der Gruppen verdeutliche. Um intersubjektiv nachvollziehbar zu machen, wie die Orientierungen rekonstruiert wurden, werden die dafür relevanten Interviewpassagen zitiert und interpretiert, kürzere Zitate dienen der weiterführenden Illustration einer bereits ausführlich hergeleiteten Interpretation.84 In einem zweiten Schritt wird in jedem 83
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Es ist zu vermuten, dass es weitere Typiken gibt, die aufgrund der Größe des Samples in dieser Studie nicht begegneten. Es ist zudem zu beachten, dass die drei Orientierungsrahmen nicht als strikt voneinander getrennte Gruppen gedacht werden dürfen: In mehreren Interviews begegnen Elemente aus zwei oder sogar allen drei Orientierungen. Mit einer Ausnahme (Marion) dominiert jedoch eine Orientierung eindeutig. Vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr: Qualitative Sozialforschung, S. 409. Die formulierende Interpretation wird dabei nur knapp oder gar nicht wiedergegeben, um die inhaltliche Wiederholung der Zitate weitgehend zu vermeiden. Der Interpretationsschritt wurde natürlich dennoch bei allen Interviews durchgeführt und in Forschungswerkstätten diskutiert.
III Fasten in der Gegenwart: die empirische Studie
Unterkapitel die funktionale Perspektive auf das Material entfaltet: Welche latenten Bezugsprobleme werden im jeweiligen Orientierungsrahmen bearbeitet? Abgeschlossen wird das Kapitel mit einer Zusammenschau und Theoretisierung der Ergebnisse.
a) Orientierung an Prinzipien Die Befragten dieser Gruppe sprechen häufig Probleme an, die sie in ihrem Umfeld oder in der Gesellschaft allgemein wahrnehmen. Sie äußern klare Vorstellungen davon, wie diese Probleme behoben werden könnten und sollten und fühlen sich verantwortlich dafür, einen Beitrag dazu zu leisten. Ihre eigenen Fastenvorhaben sehen sie als Teil dieses Beitrags. Dabei wird eine von Prinzipien geprägte Orientierung erkennbar: Die Befragten machen nicht nur an ihrem eigenen Empfinden fest, was sie problematisch finden, sondern führen es auf überindividuelle Normen zurück. Allerdings werden diese Normen in der Regel nicht explizit benannt, sondern müssen aus der Narration rekonstruiert werden. Es ist deshalb davon auszugehen, dass es sich um Aspekte von gesellschaftlichen, teilweise auch religiösen Normerwartungen handelt, die in den Habitus der Befragten eingegangen und nun Teil ihres atheoretischen Wissens sind: Sie strukturieren deren Handlungsmuster und Erfahrungen, ohne dass die Befragten sich in einem permanenten Reflexionsprozess darüber befänden. Es lässt sich in dieser Gruppe im Vergleich zu den anderen eine engere Verzahnung von Orientierungsschemata und Orientierungsrahmen beobachten: Gesellschaftliche und religiöse Normen werden größtenteils positiv rezipiert und – ggf. modifiziert – in den eigenen Habitus übernommen, in dem sie dann als persönliche Prinzipien begegnen. Die von Prinzipien geprägte Orientierung beinhaltet zudem einen Fokus auf Handlungen in den Erzählungen der Befragten, denn die Prinzipien sollen nicht nur kognitiv bejaht, sondern auch praktisch enaktiert werden. »Was sollte gesamtgesellschaftlich getan werden und was davon kann ich tun?« kann als implizite Leitfrage dieser Gruppe betrachtet werden. Die Fastenzeit erscheint somit als ein »idealer Alltag«, indem man konsequenter als sonst so handelt, wie es den eigenen Überzeugungen entspricht, und hofft, dass dies zumindest in Teilen auf den normalen Alltag übergeht und so langfristig dabei hilft, die Lebensführung den eigenen Prinzipien entsprechend zu gestalten. Inhaltlich sind die Prinzipien oft auf den Bereich Konsumverhalten, Verzicht und Nachhaltigkeit sowie auf das Glaubensleben bezogen. Dementsprechend sind manche Prinzipien auch religiös begründet und begegnen in Form von Dogmen oder einer von den Befragten empfundenen »Erwartung von Gott an mich«, es wird aber nicht bei allen Prinzipien ein religiöser Bezug erkennbar. Neben dem Enaktierungspotenzial, das durch die Fastenzeit geboten wird, finden sich in den Interviews auch Hinweise auf weitere Enaktierungspotenziale dieser Orientierung, z.B. wenn Befragte davon berichten, im Alltag generell auf Nachhaltigkeit zu
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achten. Formal weisen die Prinzipien einen pflichtethischen oder auch verantwortungsethischen Charakter auf, der einen Verallgemeinerungsanspruch beinhaltet: Die Befragten gehen davon aus, dass es gut wäre, wenn möglichst viele Menschen ihre Überzeugungen teilen und enaktieren würden und betrachten ihr Fasten teilweise als Handeln, das andere zur Nachahmung anregen soll. Die Grenzen der Orientierung liegen dort, wo die Befragten selbst merken, dass eine vollständige Implementierung ihrer Prinzipien außerhalb ihrer Handlungsmöglichkeiten liegt. Dies kann einerseits daran liegen, dass bestimmte Praktiken für sie im Alltag nicht dauerhaft umsetzbar sind oder auch daran, dass die von ihnen beobachteten Probleme zu groß und zu komplex sind, um auf individueller Ebene umfassend bearbeitet zu werden. Dies führt nicht selten zu Frustration im Erleben der Befragten. Einen negativen Horizont stellen Praktiken oder Haltungen dar, die im Gegensatz zu den von den Befragten befürworteten Prinzipien stehen.
α) Das Interviewmaterial: Fasten als Einübung in den »idealen Alltag« An der Eingangserzählung von Martina werden gleich mehrere Aspekte dieser Typik anschaulich. Martina ist Mitte 50, evangelisch und Lehrerin an einer Förderschule. Sie lebt mit ihrem Mann im Ruhrgebiet, das Paar hat zwei erwachsene Töchter. Der Kontakt mit ihr entstand über die Facebook-Fastengruppe vom Verein Andere Zeiten, dessen Material sie regelmäßig bezieht und für ihr ansonsten weitgehend allein praktiziertes Fasten nutzt. Auf den Erzählstimulus zum Interviewbeginn antwortet Martina: »Ich komme aus einer ganz protestantischen Familie, da war natürlich ursprünglich Fasten überhaupt kein Thema. In meiner Kindheit wurde da einfach nicht drüber gesprochen – das gab’s einfach nicht. […] [I]ch hatte dann im Studium einmal so ein Erlebnis, da hab ich ein Schaufenster gesehen, kurz vor Ostern. Dekoriert mit einem Kranz, Weidenkranz mit vier Eierkerzen, daneben war ein Osterkalender, so mit 24 Törchen mit Schokolade dahinter, und es gab so eine Pyramide wie halt zu Weihnachten, hier war so ein Häschen in der Mitte und die Eier drehten sich drumrum. Und ich hab gedacht ›Irgendwas läuft hier falsch, das kann nicht stimmen, wir können nicht auf Ostern genauso zugehen wie auf Weihnachten‹. Wir können nicht das, was da so kommerzialisiert ist, 1:1 da draufpacken. Eigentlich, in der Umgebung damals… ja, das ist heute auch noch so, war Weihnachten das Fest, was immer gehypt wurde, was überall war, was drei Monate vorher anfängt, und Ostern… ja, so nebenbei. Irgendwann kamen dann auch/nach Karneval kamen die Schokohäschen, aber das war’s dann auch. Und da dachte ich, das kann’s eigentlich nicht sein, das passt nicht zu meinem Glauben. Ostern ist total wichtig, Ostern ist das Fest eigentlich im Christentum, und da muss irgendwas passieren, was das besonders macht. Dann habe ich halt diese ›7 Wochen Ohne‹-Geschichte gehört und gedacht ›Oh, das wäre mal was für dich‹.«
III Fasten in der Gegenwart: die empirische Studie
Martina kann sich (im Gegensatz zu vielen anderen Befragten) genau daran erinnern, wie sie zum Fasten kam. Der Auslöser war ein Konflikt zwischen einer religiösen Norm und ihrem Handeln: Obwohl für Martina auf normativer Ebene klar war, dass Ostern das höchste christliche Fest ist, wurde ihr beim Anblick des von ihr beschriebenen Schaufensters die Diskrepanz zwischen dieser Ansicht auf der einen Seite und dem gesellschaftlichen Mainstream sowie ihrer eigenen Glaubenspraxis auf der anderen Seite bewusst. Sie entschied sich dazu, diese Diskrepanz für sich selbst zu schließen und die Fastenzeit von nun an bewusster zu begehen – eine Praxis, die sie seitdem konsequent aufrechterhalten hat. Charakteristisch ist dabei Martinas Begründungsmuster. So beschreibt sie den von ihr empfundenen Konflikt hauptsächlich in argumentativer Sprache: Es stört sie (neben der Kommerzialisierung des Osterfestes) vor allem die mangelnde Aufmerksamkeit für Ostern, das weniger Beachtung findet als Weihnachten, obwohl es doch theologisch gesehen das wichtigere Fest ist. Damit appelliert Martina an normative Gründe anstatt z.B. zu beschreiben, warum das Osterfest für sie persönlich wichtig ist: Methodisch gesprochen wird hier kommunikatives Wissen reproduziert, nicht performatives bzw. atheoretisches Wissen. Auf Nachfrage wird Martina sich im weiteren Verlauf des Interviews auch zur Bedeutung des Osterfestes für sie persönlich äußern – doch ihre erste intuitive Begründung der Wichtigkeit des Osterfestes ist seine traditionelle Stellung als höchstes christliches Fest. Hier zeigt sich beispielhaft die Nähe zwischen überindividuellen, gesellschaftlich vermittelten Orientierungsschemata und individuellen Orientierungsrahmen, die sich in dieser Gruppe beobachten lässt: Martina hat die religiöse Norm »Ostern ist das höchste christliche Fest« nicht nur wahrgenommen, sondern auch für sich übernommen und bemüht sich, ihren Habitus an diese Norm anzupassen. Zugleich wird deutlich, dass Martina die Norm auch innerlich bejaht: Die Osterzeit weitgehend zu ignorieren, »passt nicht zu meinem Glauben«. Sie empfindet es nicht als Zwang, ihren Habitus der Norm anzugleichen, sondern als etwas Angenehmes. Diese positive Aufnahme von Normen spielt für Befragte mit anderen Orientierungsrahmen in der Regel eine untergeordnete Rolle. Fasten ist für Martina somit von Anfang an strukturell auf Ostern und die Passionszeit bezogen, es ist eine Methode, um diese Zeit aus dem Alltag herauszuheben und sich daran zu erinnern, dass sie eine besondere Bedeutung hat: »Ostern, das alles zusammen von Gründonnerstag bis Ostermontag, das ist das wichtigste Fest in unserer Kirche und in meinem Glauben und da möchte ich mich drauf vorbereiten, da möchte ich hingehen und das möchte ich reflektieren«, formuliert sie später im Interview. Auch hier ist die Reihenfolge zu beachten: erst die Kirche, dann ihr Glaube. Diese Struktur ist der erste Hinweis auf ihre Orientierung an Prinzipien. Sie begegnet erneut in der Auswahl ihrer Fastenvorhaben. Martina suchte sich in ihrer ersten bewusst begangenen Fastenzeit drei Dinge zum Verzicht aus, die sie eigentlich gern konsumiert: Fleisch, Süßigkeiten und al-
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koholische Getränke. Anschließend evaluierte sie ihre Erfahrungen in der Fastenzeit und passte ihr Vorhaben an: »Mit dem Alkohol ist mir das eigentlich ganz gut gegangen, mit den Süßigkeiten hab ich gemerkt, dass ich ausweiche. Dass ich gesagt hab, okay, dann gibt es eben mehr Kekse, die sind ja keine Süßigkeiten, oder eben mehr Chips [lacht]. Und beim Fleisch war das ganz extrem, eigentlich ess ich schon immer sehr wenig Fleisch, aber in dieser Fastenzeit wollte ich das unbedingt. Und ich hab’s dann durchgezogen bis zum Schluss, hatte einmal, da war auf der Pizza was drauf, was ich nicht gesehen hatte, da hatte ich ein furchtbar schlechtes Gewissen, und es ging mir ganz schlecht damit. Und dann, nach der Fastenzeit, habe ich dreimal so viel Fleisch gegessen wie vorher. Und da hab ich gedacht, das ist Blödsinn. Das macht keinen Sinn, da hörst du mit auf, und… das muss irgendwie anders sein. […] Und dann hat sich das halt so eingependelt, dass ich eben… ja, bei Alkohol und Süßigkeiten und Chips, Flips, das ist immer noch meine Devise, bei den Keksen hab ich dann irgendwann gesagt ›okay, ab und zu mal einen Keks, aber keiner mit Schokolade‹, um so einen Kompromiss zu finden.« Martina beschreibt hier, wie sie ihre Fastenvorhaben im Lauf der Jahre modifizierte. Dabei wird implizit deutlich: Das Fasten soll langfristig dazu beitragen, dass Martina die Gestaltung ihrer Ernährung besser kontrollieren kann. Sie hat offensichtlich eine Vorstellung davon, wie sie sich idealerweise ernähren möchte – mit wenig Alkohol, Fleisch und Süßigkeiten/Knabbereien. Wenn das Fasten diese langfristige Strategie ins Wanken bringt, indem der Süßigkeitenverzicht zu mehr salzigen Snacks oder der Fleischverzicht zum Überkompensieren nach Ostern führt, muss es verändert werden. Martina macht die Zeit vor Ostern, die sie überindividuell »wichtig« findet, für sich individuell bedeutsam, indem sie sich mit einem für sie wichtigen Thema intensiver auseinandersetzt als den Rest des Jahres über. Die Fastenzeit stellt für sie in diesem Sinne einen »idealen Alltag« dar. Auch hieran wird die Prinzipienorientierung deutlich. Dass ihre Prinzipien eine hohe emotionale Bedeutung für Martina haben, zeigt sich an ihren starken Gewissensbissen, als sie einmal versehentlich Fleisch aß. Zugleich sind ihre Prinzipien ein Stück weit flexibel, denn Martina zeigt sich kompromisswillig: So gestattet sie sich in der Fastenzeit trotz des Verzichts auf Süßigkeiten ab und zu Kekse und hat über die Jahre offensichtlich eine Fastenform gefunden, die ihr zwar durchaus etwas abverlangt, sie aber nicht quält. Ebenso setzte Martina auch in einem Jahr den Alkoholverzicht aus, als sie gerade ihr erstes Kind abgestillt hatte und hoffte, bald wieder schwanger zu werden: »[ich] dachte, ich hab jetzt 18 Monate auf alles Mögliche verzichtet und es steht mir wieder bevor, das muss jetzt in der Fastenzeit nicht sein.« Abgesehen von dieser Ausnahme ist Martina in ihrem Alkoholverzicht konsequent, was auch durchaus zu Konflikten führte:
III Fasten in der Gegenwart: die empirische Studie
»Meine Tante hat Anfang Februar Geburtstag, und das war in dem Jahr Fastenzeit, das ist es nicht immer, und wollte mir natürlich sofort ein Glas Sekt in die Hand geben, und ich hab gesagt: ›Nee du, diesmal nicht, ich faste. Ich hab beschlossen, dass ich faste ab jetzt.‹ – ›Willst du nie mehr meinen Geburtstag mit mir feiern?‹ Also… erstens hast du nicht immer in der Fastenzeit Geburtstag und zweitens kann ich auch feiern, ohne Alkohol zu trinken. Das fand ich unglaublich, und das ist eine Reaktion, die ich an ganz vielen Stellen gesehen habe. […] mein Mann hat sich angeschlossen, der trinkt auch keinen/also er beschränkt es auf keinen Alkohol, aber das macht er eben auch, und dann sagte sein Vater, ›hier, wollt ihr was trinken‹, und dann sagte er ›nee, ich/wir fasten‹. Und da hat er sich hingestellt und hat einfach gelacht. Und da hab ich gedacht, irgendwie ist das komisch. Und die Schwiegermutter kam dann, ›ja aber das weißt du doch, das ist doch ›7 Wochen Ohne‹, das ist doch von der evangelischen Kirche‹. Hab ich gedacht, ja gut, aber ich brauch doch eigentlich nicht so einen Rahmen, ich brauch doch nicht das als Legitimation. Ich kann das doch für mich entscheiden und sagen, mir ist das wichtig, und das hat für mich eine Bedeutung.« An dieser Passage werden mehrere Aspekte des Orientierungsrahmens von Martina anschaulich. Die Geschichte von den ablehnenden bzw. belustigten Reaktionen ihrer Tante und ihres Schwiegervaters auf den Alkoholverzicht legen nahe, dass Martinas Verzicht auf Alkohol mit dessen gesellschaftlicher Rolle konfligiert: So ist für Martina klar, dass sie auch ohne Sekt zu trinken mit der Tante feiern kann. Dass sie das überhaupt ausführen musste, fand sie »unglaublich«. Ihre Betonung, ähnliche Reaktionen oft erhalten zu haben, macht deutlich, dass sie hier keine individuellen Probleme ihrer Tante bzw. ihres Schwiegervaters vermutet. Vielmehr wird der gesellschaftliche Umgang mit Alkohol von Martina als Problem wahrgenommen, das sie in der Fastenzeit bearbeitet. Zu einem späteren Zeitpunkt des Interviews kommt sie darauf noch einmal zurück: »Ehm… Alkohol ist halt immer ein Thema. Das ist etwas, was ich aus meiner Kindheit sehr stark kenne, da war es ja auch noch gang und gäbe. Also nicht jetzt, dass irgendein Elternteil alkoholkrank gewesen sei, aber das war so eine Selbstverständlichkeit, wie man ja an dieser Tantenreaktion sehr gut merkt, ne: Es gehört einfach dazu. Und es gehörte auch ab einem Alter von zwölf oder dreizehn dazu. Und diese Selbstverständlichkeiten, mit denen Alkohol getrunken wird, die fand ich schwierig. Einerseits eben… ja so ganz global schwierig – warum muss das sein, gesellschaftlich schwierig. Andererseits aber eben auch körperlich gefährlich. Ich trink total gerne einen Wein, und das ist für mich auch eine Zeit, um mich rückzuvergewissern: Ja, es ist nicht nötig. Es ist schön, es ist toll, aber ich kann es ändern.« Hier wird noch einmal deutlich, dass für Martina die Grundfunktion des Fastens die eines Katalysators für die Bearbeitung von Konflikten zwischen ihren Prinzi-
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pien und ihrem Handeln ist. Der Wunsch, Dinge zu ändern, die ihren Prinzipien nicht entsprechen, scheint dabei tief zu sitzen. So kann Martina sich 31 Jahre nach der für sie anstößigen Osterdekoration und der ablehnenden Reaktion ihrer Tante noch sehr genau an diese Begebenheiten erinnern und sie lebhaft erzählen. Seitdem fastet sie kontinuierlich. Daran wird deutlich, dass es sich hier um einen Orientierungsrahmen handelt, der ihr Handeln und Denken langfristig strukturiert. Zugleich zeigt diese Passage, dass trotz der normativen Prägung dieser Orientierung und der relativ großen Nähe des Orientierungsrahmens zu Orientierungsschemata die innere Bejahung des jeweiligen Prinzips zentral ist. So formuliert Martina sehr deutlich, dass ihr Fasten keiner Legitimation durch »7 Wochen Ohne« oder die Kirche bedarf: »Ich kann das doch für mich entscheiden«. Es geht nicht um eine bloße Befolgung von Regeln, sondern um das bewusste Einhalten von Prinzipien, die man selbst als für sich richtig erkannt hat. Wie eine solch reflektierte Auseinandersetzung mit Prinzipien aussehen kann, zeigt ebenso folgende Passage aus dem Interview mit Michael. Er ist katholisch, Ende 50, verheiratet und hat Kinder. Er arbeitet als Filialleiter einer Bank in einer norddeutschen Großstadt. Michael verzichtet in der Fastenzeit auf Chips und Nutella, gestattet sich am Wochenende jedoch durchaus manchmal Ausnahmen: »Ess ich dann am Wochenende Berge von Chips, um alles das nachzuholen, was ich die Woche über nicht gegessen habe? Nein, mitnichten. Aber mach ich es, wenn ich es denn mache, mache ich es dann bewusst? Ja, mach ich. Also es geht mir darum, um zu sagen, um den bewussten Umgang. Um den Sinn nochmal zu schärfen, um zu sagen, so, ich mache es, wenn, dann mache ich es mit voller Absicht, bewusst, und wenn ich dann gegen eine mir selbst auferlegte Regel oder was auch immer dann verstoße, habe ich dann ein schlechtes Gewissen, ja oder nein? Also, hab ich, eher ja, aber bisher hab ich es auch so gehabt, dass ich eben jetzt ein Nutellaglas also auch noch nicht angepackt hab.« In dieser Passage dokumentieren sich zum einen das generelle Prinzip des »bewussten Umgangs« mit Ernährung, zum anderen das konkrete Vorhaben, in der Fastenzeit keine Chips und Nutella zu essen. Diese beiden Aspekte geraten in Konflikt, wenn Michael sich am Wochenende eine Fastenpause erlaubt. Michael argumentiert dabei einerseits, dass das generelle Prinzip »bewusster Konsum« das konkrete Vorhaben überwiegt: Solange er es bewusst tut, darf er sein Fasten brechen. Auf der emotionalen Ebene stellt die Lage sich hingegen komplexer dar, denn Michael verspürt auch dann »eher« ein schlechtes Gewissen, wenn er bewusst gegen sein selbst gewähltes Prinzip verstößt. Dies schlägt sich auch auf der Handlungsebene nieder: Michael hat in der Fastenzeit bisher auch am Wochenende sein Fastenvorhaben aufrechterhalten. Dies unterstreicht die für diese Gruppe typische hohe Bedeutung der Regeln und legt zudem nahe, dass Michael das Argument »ich breche
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das Fasten aber gerade bewusst« nicht etwa als »Ausrede« benutzen will. Vielmehr ist er sich der Tatsache bewusst, dass Prinzipien auch in Konflikte führen und das Leben dadurch komplexer machen können. Es ist zu vermuten, dass genau dieser Komplexitätsgewinn Michael reizt. So formuliert er, »dass man das dann bewusst macht, also dieses bewusste Machen, dass das einfach das Interessante an der ganzen Sache ist. Und dass das auch etwas ist, was dann Fastenzeit ausmacht.« Das Schlagwort »bewusst« spielt auch für Sabine und ihr Fasten eine Rolle. Sabine ist Anfang 60, verwitwet und hat zwei erwachsene Töchter und zwei Enkelkinder. Sie ist nicht mehr voll berufstätig und engagiert sich ehrenamtlich im Kirchencafé ihrer Gemeinde sowie als Grüne Dame in der Onkologie. Zudem arbeitet sie gelegentlich in einem Ferienhaus, das von ihrer Gemeinde unterhalten wird. Ich habe Sabine in einer Fastengruppe im Ruhrgebiet kennengelernt, deren Leiterin Impulse von »7 Wochen Ohne« und »Sieben Wochen anders leben« aufnimmt und verbindet. Sabine beschreibt in ihrer Eingangserzählung: »Generell ist Fasten… mir selber beweisen, ich kann verzichten. Das ist auch ein großer Punkt, das muss ich schon ehrlich zugeben – kann ich nein sagen, mir gegenüber, auch wenn ich alleine bin? Fällt mir natürlich oft schwer. ›Ist doch egal, weiß doch keiner…‹ Nee, geht nicht! Ne, so diesen inneren Schweinehund. Fasten bedeutet für mich aber auch, ehm, mich nach außen, meinen Mitbürgern, den Menschen, denen ich begegne, zu outen. Das ist eine Möglichkeit, ganz klar Position zu beziehen: ›Ich bin Christ und ich stehe zu Gott.‹ Ehm, das ist sonst im Alltag sehr, sehr schwer. ›Ah, du und deine Kirche.‹ Das wird dann immer so abgetan. […] Und… ich bin achtsam im Umgang mit meinen Menschen, ich bin achtsam beim Einkauf in Bezug eben auf die Umwelt, was tue ich unserer Welt an? Auf Kommerz im Allgemeinen… was nicht klappt: Achtsam mit mir umgehen. Also, ich schimpf nach wie vor über mich. Wenn ich’s getan hab oder gerade dabei bin, dann denk ich ›Das wolltest du doch nicht mehr machen‹, und mach’s wieder. Das ist so, ich denke mal, das ist auch Gewohnheit. Weiß ich nicht. Ja, aber in erster Linie ganz klar Position beziehen. Das ist für mich Fasten.« Auf die Frage nach ihren Erfahrungen antwortet Sabine mit einer Beschreibung dessen, was Fasten für sie bedeutet und was sie dazu motiviert. Dabei nennt sie zuerst das Motiv der Selbstherausforderung zum Verzicht, das bereits aus den Interviews mit Martina und Michael bekannt ist (Sabine verzichtete in dieser Fastenzeit auf den Kauf von Plastik einschließlich in Plastik verpackter Konsumgüter). Der Aspekt des achtsamen Umgangs mit der Welt meint auf der einen Seite dasselbe wie Michaels Schlagwort »bewusst«: Konsumgewohnheiten kritisch zu hinterfragen. Auf der anderen Seite weitet Sabine dies jedoch darauf aus, auch ihren Umgang mit sich selbst zu überdenken und nicht länger »über sich zu schimpfen«. Ein neuer Aspekt dieses Orientierungsrahmens ist Sabines zweiter Punkt: die öffentliche Performanz ihres Glaubens. Diese scheint ihr im Alltag ansonsten
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schwer zu fallen, da ihre Religiosität von vielen Mitmenschen (darunter ihren eigenen Kindern, was im Verlauf des Interviews mehrfach zur Sprache kommt und für Sabine offensichtlich ein wunder Punkt ist) »abgetan« wird. Ihren Glauben dennoch öffentlich zu leben, so stellt sie es selbst dar, ist für sie die Hauptfunktion des Fastens. An allen genannten Aspekten lässt sich die grundlegende Orientierung dieser Gruppe beobachten: Sabine nimmt etwas wahr, das nicht ihren Überzeugungen entspricht, und bemüht sich, ihr Handeln entsprechend zu ändern. Während Martina und Michael ihre ethischen Ansichten nicht explizit mit Religion in Verbindung bringen, äußert sich Sabine diesbezüglich wie folgt: Sabine: »Ehm, ich glaube, Gott hat uns eine Welt gegeben, ehm, in der wir gut leben können, wenn wir denn gut miteinander umgehen würden […] Ich denke einfach, es liegt an uns, an den Menschen generell, die Welt zum Guten zu bringen. Wenn wir das gemeinsam nicht auf die Reihe kriegen, weiß ich nicht, ich denke einfach, es gehört ganz, ganz viel… eh, Kraft eines jeden einzelnen Menschen, weil, nur gemeinsam können wir etwas bewirken. Und je mehr Menschen sich bekennen, ich bin Christ, ich lebe mein Christsein, auch nach außen, und steh für den Anderen ein, kommen wir eben einem gesunden Miteinander wieder näher. Und auch Gott wieder näher.« Antonia: »Und würdest du sagen, wenn du jetzt zum Beispiel beim Fasten versuchst, umweltfreundlich zu leben, ist das dann einer der Schritte auch, die du machst auf diesem Weg?« Sabine: »Ja. Für mich ja. Also einmal eben halt schauen, wie geht es unserer Erde damit, … ehm, beim Fasten auf Plastik zu verzichten, ehm, ja einmal, ne, dass es ins Meer kommt, dass das Plastik, das ich mir über meine Nahrungskette, über meine Seife, was ich/oder wo ich mir früher nie einen Kopf zu gemacht hab, das war günstig, das gefiel mir, das vertrag ich, das nehm ich, Punkt. Ich bin keiner, der sagen kann, ›ist egal, was es kostet‹. Ich kann mir das nicht erlauben, das ist einfach so. Dann halt mit kleinem, mit wenig Geld […], es ist ganz schön schwer, aber irgendwie geht’s. Ich mein, auf Dauer so zu leben ist ganz schön anstrengend, und dann denk ich immer, es muss Alternativen geben, was kann ich noch machen? Hab versucht, mich mit anderen auszutauschen, wo ich leider wenig befriedigende Antworten kriege, was ich machen kann. ›Ja, musst du mal gucken, wir backen unser Brot auch selber.‹ ›Ja, was nimmst du denn für Mehl?‹ Und wenn ich dann höre, ja dies und das, und weiß, wie das eingepackt ist, und denke mir nur, bringt ja nicht so wirklich viel, ne.« Antonia: »Ja, oft ist das ja so, je mehr Gedanken man sich macht, und je mehr man versucht, desto mehr merkt man auch, wo man an Grenzen stößt.«
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Sabine: »Ganz, ganz genau, ja. Und ich denk mir immer, da ist unsere Regierung gefragt, da ist die ganze Wirtschaft gefordert, aber denen geht es um Profit. Die erzählen, was sie alles an guten Dingen auf die Beine stellen wollen, und bis zu welchem Jahr sie dann dies und jenes… aber wenn man hinschaut: Die holen sich das an anderer Stelle wieder rein…« Hier wird deutlich, dass für Sabine ihre Orientierung an Normen eine klare religiöse Konnotation hat bzw. die Normen selbst religiös begründet sind: Sie möchte an Dingen arbeiten, die sie aus ihrer Position als Christin heraus als problematisch wahrnimmt. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlicher, warum für sie die Sichtbarkeit ihres Glaubens ein Fastenziel ist: Sie ist der Überzeugung, dass die Gesellschaft eine gerechtere wäre, wenn mehr Menschen Christ*innen wären und dies auf eine ähnliche Weise ausleben würden wie sie. Dies zeigt sich auch in einer an Kants Kategorischen Imperativ erinnernden Verallgemeinerungsformel: »[W]enn jetzt noch zehn Leute so denken würden!« Während Sabine bewusst ist, dass sie allein mit ihrem Verzicht auf Plastik wenig ausrichtet, hätte es einen großen Effekt, wenn alle so handeln würden. Michael äußert einen ähnlichen Gedanken, wenn er formuliert: »ich will meinen Beitrag dazu leisten, dass uns diese Erde noch länger erhalten bleibt […], aber gut, das kriegen wir […] auch nur hin, indem wir es mitmachen und vorleben«. Auch hier spielt der Aspekt der öffentlichen Performanz, die im Idealfall andere inspiriert sich anzuschließen, eine Rolle. Diese prinzipienethische Formulierung offenbart einen hohen Anspruch an sich selbst. Der Aspekt, an seine eigenen Grenzen zu stoßen oder darüber hinaus zu gehen, ist für diese Gruppe typisch und kann durchaus zu den bei Martina und Michael beschriebenen Gewissenskonflikten oder zu Sabines Frustration (»es ist ganz schön schwer/anstrengend«) führen. Zugleich wird auch eine Begrenzung des Orientierungsrahmens deutlich, denn Sabine spricht an, dass viele Probleme nur auf systemischem Weg bearbeitet werden können. Obwohl sie wenig optimistisch ist, dass Politik und Wirtschaft einen systemischen Wandel in Sachen Umweltschutz herbeiführen werden, ist das Wissen, dass genau dieser systemische Wandel eigentlich nötig wäre, eine Entlastung für sie selbst und eine heilsame Begrenzung ihres eigenen Verantwortungsbereiches. Sabine weiß, dass ihr Handeln Teil eines größeren Zusammenhangs ist. Dieses Wissen macht es ihr dann auch möglich, auf eine gewisse Barmherzigkeit sich selbst gegenüber hinzuarbeiten anstatt »über sich zu schimpfen«. Wie hoch die an sich selbst gestellten Ansprüche sind, ist innerhalb der Gruppe allerdings unterschiedlich. Bei Sabine wurde deutlich, dass sie die »Messlatte« hoch anlegt, was gerade bei ihrem Vorhaben, kein Plastik (und entsprechend auch nichts in Plastik Verpacktes) zu kaufen, weitreichende Folgen für ihren Alltag hatte. Auch bei Michael scheint eine ähnliche Einstellung durch, wenn er berichtet, selbst beim »bewussten« Brechen des Fastens ein schlechtes Gewissen zu verspüren. Mar-
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tina verspürt dagegen ein schlechtes Gewissen nur, wenn sie versehentlich ihr Fastenvorhaben bricht – was den Konsum von Süßigkeiten betrifft, hat sie mit Keksen ohne Schokolade einen Kompromiss gefunden, der ihr Gewissen nicht zu belasten scheint. Noch entspannter zeigt sich Jonas, der in der Fastenzeit immer auf Schokolade verzichtet. Er ist Anfang 30, evangelisch, arbeitet in einer Pflegeschule in katholischer Trägerschaft und studiert Berufspädagogik. Er lebt allein in einer mittelgroßen Stadt in Nordrhein-Westfalen. Der Kontakt mit ihm kam über eine lokale Fastengruppe zustande, die ich über die »7 Wochen Ohne«-Website gefunden habe. Das Interview wurde via Skype durchgeführt. Jonas berichtet: »Einmal, das weiß ich, da sind wir mit der Jugendarbeit weggefahren, um eine Kinderbibelwoche vorzubereiten, ehm, da standen dann verschiedene Kuchen auf dem Tisch, und ich war mitten im Redefluss und hab mir ein Stück Kuchen genommen, und hab das gegessen, und wurde dann plötzlich von allen angeguckt und es war still… und dann realisierte ich erst, ›oh, ich hab ja gerade ein Stück Schokoladenkuchen gegessen‹. Das war dann auch sehr unbewusst, aber es ist jetzt nicht so, dass ich dann irgendwie sage, ›oh Gott, jetzt hat das ganze Fasten gar keinen Sinn gemacht‹, weil letztlich geht es jetzt ja eher um das Prinzip, und auch die Bedeutung dahinter, dass man eben auch zeigen kann, dass der Verzicht halt auch da ist, dass man es auch durchhält. Und wenn da mal, sag ich jetzt mal, ein kleiner Ausrutscher ist, dann ist die ganze Fastenzeit ja nicht im Eimer deswegen.« Jonas – der diese Begebenheit humorvoll erzählt – hat in dieser Situation offensichtlich schlicht vergessen, dass er eigentlich fastete. Dies weist darauf hin, dass das Thema für ihn selbst in der Fastenzeit nicht unbedingt ständig mental präsent ist und er sich nicht kontinuierlich damit auseinandersetzt, wie das Fasten sich auf ihn auswirkt. Stattdessen steht für ihn das »Prinzip« im Vordergrund. Dieses »Prinzip« scheint für Jonas mehrere Aspekte zu beinhalten: Zunächst die Entscheidung zum Verzicht auf etwas – »hauptsächlich aus dem Grund, um zu zeigen, Dinge, auf die man im Alltag bisher sonst nicht verzichten will, dass man aber dadrauf verzichten kann«. Zweitens die Bewährung dieser Entscheidung in der Praxis, im »Können« – Jonas findet offensichtlich vereinzelte »Ausrutscher« nicht tragisch, es zählt vielmehr das allgemeine Durchhaltevermögen. Ein dritter nennenswerter Aspekt liegt im »Zeigen«. Im Interview mit Jonas wird an mehreren Stellen deutlich, dass es ihm wichtig ist, die Praxis des Fastens – bzw. sein »Prinzip« – weiterzugeben. So war er langjähriger Mitarbeiter im Konfirmationsunterricht seiner Gemeinde und wirkte dort daran mit, das Thema zu diskutieren und die Jugendlichen zum Verzicht anzuregen. Als er selbst noch ein Teenager war, verzichtete Jonas zudem auf Facebook (das er damals noch viel nutzte) und erwähnt, dass sich über die Jahre manche seiner Bekannten anschlossen, bis es »so ein kleiner Trend« in seinem Bekanntenkreis geworden sei. Sowohl diesen Trend ausgelöst zu haben als auch die Bereit-
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schaft von Konfirmand*innen, sich auf den Verzicht einzulassen, sind Jonas in positiver Erinnerung geblieben, er erwähnt beides, als er nach besonders denkwürdigen Fastenereignissen gefragt wird. Dies deutet darauf hin, dass er sich – ganz ähnlich wie die anderen Befragten der Gruppe – darüber im Klaren ist, dass Prinzipien nicht nur individuelle Vorhaben, sondern auch in soziale Strukturen eingebettet sind. Dass es genau um diesen praktischen Vollzug von Prinzipien geht, verdeutlicht die folgende Passage aus Jonas’ Antwort auf die Frage, wie es ihm beim Fasten geht: »[A]lso die ersten Tage, vielleicht auch die erste Woche, maximal die ersten zwei Wochen, ist es vielleicht so, dass man da bewusst dran denkt, ›ach ja, du darfst ja momentan nicht‹, aber irgendwann wird das dann auch zur Routine oder gehört dann auch zum Alltag, dass man sich dann auch keine Gedanken mehr darüber macht. […] Ich würde jetzt aber nicht sagen, dass das irgendwas besonders mit mir macht, ich denke jetzt nicht die ganzen sieben Wochen darüber nach, ›so, du fastest jetzt Schokolade, was macht das eigentlich mit dir?‹, weil also für mich ist das halt mit Aschermittwoch ein klarer Anfang, und mit Karfreitag ein klar gesetztes Ende, klar, zwischendurch muss man immer mal sagen, ›ne, tut mir Leid, Schokolade ess ich gerad nicht‹, aber das war’s dann auch. […] Das ist halt auch so etwas, das für mich auch so ein bisschen nebenbei halt läuft.« Die Konzeption von Fasten als idealem Alltag tritt hier klar hervor: Das Ziel ist, dass der Verzicht selbst zum Alltag wird und nicht mehr ständig überdacht werden muss. Es geht im Fasten also nicht um eine permanente Selbstreflexion, sondern um die Einübung in eine Praxis. Dieses Thema spielt für Jonas eine wichtige Rolle. Als ich am Ende des Interviews abschließend frage, ob es noch etwas gibt, was er mir gerne erzählen möchte, kommt er erneut darauf zu sprechen: Jonas: »[E]s ist halt immer spannend, gerade wenn man das jetzt aus der Perspektive der Jugendarbeit noch sieht, wie Jugendliche mit dem Thema Verzicht insgesamt heute umgehen. Das wird zunehmend schwieriger, hab ich in den letzten Jahren beobachtet, Jugendliche dazu zu bringen, dass sie auch nur auf die Idee kommen, mal auf etwas zu verzichten, worauf sie in ihrem Alltag so nicht verzichten können. […] Ne, also im Konfiunterricht damals gab es ein paar, die das testweise gemacht haben […], das finde ich dann schön, wenn sie es erstmal auf jeden Fall probieren, ich finde es schade, wenn sie es nicht probieren, aber ich zwinge natürlich auch niemanden dazu, aber das lässt mich auch ein bisschen… ja, mir Sorgen machen, welchen Effekt das letztlich auch auf deren Leben insgesamt hat. Also… nicht die Bereitschaft zu haben, Dinge auch mal/naja, bewusst drauf zu verzichten […]« Antonia: »Was meinen Sie, woran das liegt, so eine mangelnde Bereitschaft zum Verzicht bei manchen Leuten?«
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Jonas: »[lacht] Tja, das, eh, ist eine schwierige Frage, ich glaube, das kommt ganz häufig auch auf das soziale Umfeld an, sicherlich auch ein bisschen auf/auf die Erziehung, also wenn das vorgelebt wird, der ständige Konsum, ist das natürlich nochmal etwas anderes, bewusst auf etwas zu verzichten, wenn man gar nicht sich damit auseinandersetzt, was das für langfristige Folgen auch hat, oder was es auch für wirtschaftliche Folgen hat, was es für Folgen für die Umwelt hat, für andere Menschen in anderen Regionen, da kann man letztlich auch keinem einen Vorwurf machen, wenn es denen anders vorgelebt wird. Und daran müssen wir als Gesellschaft letztlich auch in die Verantwortung gehen […] Also das hat sicherlich ganz viele Aspekte, aber ich glaube, die Erziehung und das soziale Umfeld und eben das gesellschaftliche Vorleben hat auch ganz viel damit zu tun.« Aufschlussreich ist hier Jonas’ Beobachtung, dass die Verzichtsbereitschaft der Jugendlichen in seiner Gemeinde sinkt und die Tatsache, dass ihm dies Sorge bereitet. Jonas präsentiert sich in dieser Passage als Mensch, der es wichtig findet, die Konsequenzen der eigenen Handlungen im Blick zu haben und gerade auch problematische Tendenzen zu erkennen. Dies ist für ihn zugleich nicht nur ein individuelles Bewährungsfeld, sondern eine gesellschaftliche Aufgabe. Den Mangel an Verzichtsbereitschaft lastet er deshalb auch nicht den Jugendlichen selbst an, sondern ihrem sozialen Umfeld bzw. der Gesellschaft, die dies nicht überzeugend genug vorlebt. Hier wird dieselbe Begrenzung des Orientierungsrahmens sichtbar, die schon bei Sabine begegnete – systemische Probleme können nur systemisch bearbeitet werden. Dennoch identifiziert sich Jonas eindeutig als Teil dieses Systems und möchte deshalb auch an der Veränderung mitarbeiten, indem er z.B. Jugendliche zum Verzicht ermuntert. In der folgenden Passage wird deutlich, inwiefern dies mit Jonas’ Glauben zusammenhängt: »Ich mach’s jetzt nicht primär aus religiöser Überzeugung. Natürlich ist es durch die Jugendarbeit gekommen, und durch das Kennenlernen der Passionszeit, aber ich würde jetzt nicht sagen, dass das Schokoladefasten da unbedingt eher in die Richtung Religiosität geht. Weil… wenn man das aus der religiösen Perspektive sieht, geht es ja auf Jesus zurück, […] 40 Tage und Nächte wirklich hungern, ehm… ja… ich weiß nicht, ob ich mir das antun wollen würde, oder ob mich das Gott näherbringen würde, wenn ich jetzt wirklich 40 Tage und Nächte […] auf Essen verzichten würde. Ich glaube, Verzicht hat aber auch ein bisschen so den religiösen Touch, dass man eben auch zeigt, okay, ich hab mich selbst unter Kontrolle und kann mich auch, ehm, entsprechend so verhalten wie man sich verhalten sollte. Sodass man jetzt nicht irgendwie im Übermaß irgendwas konsumiert, dass man eben auch so ein bisschen die Schöpfung wahrt, wenn ich jetzt an Klimafasten denke oder an Plastikfasten, dass man sich da eben auch ein bisschen/dass man seine eigenen Bedürfnisse ein bisschen zurücknimmt und eher das Große und Ganze im Blick hat. Das wäre so ein bisschen Glaubensanteil dadran.«
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Wenn Jonas sagt, dass er »nicht primär aus religiöser Überzeugung« fastet, scheint er damit zu meinen, dass der Verzicht auf Schokolade ihn nicht spirituell ergreift – und dass auch ein extremeres körperliches Vorhaben wie Totalfasten dies nicht tun würde (»ich glaube nicht, dass mich das Gott näherbringen würde«). Der praktizierte Verzicht hat für ihn aber durchaus »einen religiösen Touch«, denn er zeigt, dass Jonas sich so verhalten kann, wie man es »sollte«, dass er bestimmte Normen befolgen kann. Diese Normen scheinen für Jonas an den christlichen Glauben gebunden zu sein, auch wenn die Verbindung nicht so dominant ist wie bei Sabine: es ist nur »so ein bisschen Glaubensanteil«. Dennoch erhält das Fasten so auch eine religiöse Komponente. Bei Michael und Martina wird eine Verbindung zwischen ethischen Prinzipien und ihrem Glauben nicht explizit formuliert. Insgesamt haben die Befragten dieser Gruppe allerdings alle ein positives Verhältnis zur Institution Kirche. Alle sind in eine Ortsgemeinde eingebunden, Sabine und Jonas engagieren sich zudem ehrenamtlich in ihren Gemeinden. Alle nehmen die Fastenzeit als kirchlich und religiös geprägte Zeit wahr, viele schätzen die Gottesdienste in der Karwoche sehr und verbinden mit ihnen auch ein intensives emotionales Empfinden. So beschreibt Sabine ihre Ostererfahrung: »Ostersamstag geh ich dann in die Spätmesse mit dem Osterfeuer anschließend, seit zwei Jahren ist das in der Gemeinde schon/in meiner Gemeinde jetzt, schon um 10 Uhr, nicht erst um 12 Uhr, und das heißt, man ist dann um 12 zuhause und, was ich auch sehr schön finde, weil ich am nächsten Morgen um 6 wieder in dem allerersten Ostergottesdienst bin. Und dann, wenn ich dann da rauskomm [sie atmet tief ein und aus] – jetzt wird wieder alles gut.« Und Michael formuliert ähnlich mit Blick auf den Osternachtsgottesdienst: »[M]orgens um 6, da geht man hin, im… im Morgengrauen, und dann das Osterfeuer, dann wird die Osterkerze entzündet, das ist also etwas enorm Feierliches. Weihrauch bis zum Abwinken, und dann wird noch gesungen ohne Orgel, und dann, viertel nach 6 – ach ne, halb 7/7, also wenn dann die ganzen Lesungen durch sind, wenn dann das Gloria kommt, die Orgel wieder einsetzt, dann denkst du: ja. Jetzt ist es geschafft, jetzt ist er auferstanden, und das ist was unheimlich Feierliches. Was ich eben auch so… immer so mitverfolgen konnte.« Der Aspekt des intensiven Mitempfindens bzw. »Mitverfolgens« des Ostergeschehens ist vor allem vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass emotionales Empfinden in dieser Gruppe ansonsten eher eine untergeordnete Rolle spielt. So gehen die Befragten in der Regel nicht viel auf ihre Emotionen ein. Jonas stellt die Erkundung der eigenen Gefühle sogar als tendenziell irrelevant dar, wenn er formuliert: »ich denke jetzt nicht die ganzen sieben Wochen darüber nach, ›so, du fastest jetzt Scho-
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kolade, was macht das eigentlich mit dir?‹«. Auch bei Sabine dokumentiert sich im folgenden Abschnitt eine Scheu in Bezug auf ihre Emotionen: Antonia: »Und du hattest ja zum Beispiel gesagt, dass für dich auch dieses Verzichtmoment ganz stark ist beim Fasten. Kannst du das vielleicht beschreiben: Was bedeutet dir das, wenn du das kannst? Wenn du das schaffst, zu verzichten?« Sabine: »Es hört sich so blöde an [lacht], das ist/ja da geht so/als wenn so ein Sonnenstrahl, so eine Wärme durch mich geht, oder in mir ist, und ich weiß, dass ich oft denke, gut, dass mich keiner sieht, und dann grinse ich vor mich hin, und dann hab ich oft so, so Lieder wie ›Gottes Liebe ist so wunderbar‹ oder ›Vom Aufgang der Sonne‹, und dann bin ich am Singen, weil ich krieg/das ist wie so einen Ohrwurm, und der begleitet mich durch, durch den Tag, durch den Abend. Das ist einfach… ja, ein, ein unheimlich schönes Gefühl in mir.« Antonia: »Schön.« Sabine: »Ich hab keine anderen Worte, hört sich blöde an.« Antonia: »Nein, überhaupt nicht! Überhaupt nicht, ich finde, das hört sich total schön an.« Sabine: »Ja, das ist auch ein unglaublich schöner Moment.« Sabine ist es einerseits peinlich, über ihre Emotionen zu sprechen: Zweimal formuliert sie, was sie sagt, höre sich »blöde an«. Andererseits ist es ihr auch unangenehm, wenn andere Menschen ihre starken Emotionen direkt beobachten könnten (»gut, dass mich keiner sieht«). Vor diesem Hintergrund ist es umso bemerkenswerter, wenn sie mit Bezug auf die Fastenzeit erzählt: »[A]ls ich heute Morgen die Losungen gelesen habe und dann auch in der Bibel nachgeschlagen hab, im Matthäusevangelium… ehm, da war natürlich noch mal ganz klar, so die Kreuzigung, dieser viele Schmerz, der da gerade ist… den kann ich natürlich nicht nachvollziehen, das will ich mir gar nicht anme/anmaßen, das wär viel zu hoch gegriffen. Aber, eh, dieses Leid, das herrschte, das kann ich mir schon vorstellen. Nicht selber spüren, aber vorstellen. Und, ehm, von daher, die Zeit bis zur Auferstehung, also bis Ostern, dann nochmal ganz bewusst zu leben, das heißt für mich, zum Morgengebet in die Kirche zu gehen […] Aber jetzt so die nächsten zwei Wochen, noch zwei Wochen bis [Ostern], die finde ich eigentlich… … in der Fastenzeit als wichtige Zeit. Wichtiger in der/die Anfangswochen, man bereitet sich da darauf vor, aber jetzt kommt ja bald wirklich das Ende, Jesu Ende, und ehm, diese Schritte mit ihm da so zu gehen.«
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Auch hier formuliert Sabine sehr zurückhaltend: Die Passage ist von zahlreichen Satzabbrüchen, »ehms« und längeren Pausen gekennzeichnet, was z.B. in ihren Ausführungen über ethische Prinzipien nicht der Fall ist. Gleichzeitig offenbart dieser Abschnitt, dass die Fastenzeit auch emotional eine hohe Bedeutung für Sabine hat. Ein anderer Aspekt, der in Bezug auf das Thema des Glaubens in dieser Gruppe häufiger relevant wird, ist die Auseinandersetzung mit Glaubenszweifeln als Normenkonflikten. Hierzu äußert Martina, als ich sie frage, was Ostern ihr bedeutet: »Hoffnung. … Trost. … Ja, Hoffnung auf… darauf, dass es irgendwie weitergeht, auf ein Weiterleben, ein Wiederleben, ein… ja, Besiegen des Tods klingt so groß, aber es ist halt… ich meine, es ist im Moment auch mein Thema mit all den alten Herrschaften, es ist relativ klar, dass das innerhalb der nächsten Jahre mich treffen wird. […] Genau so selbstverständlich, wie Alkohol getrunken wird, wird nicht über den Tod gesprochen. Das ist sowas, was mir da eben auch wirklich gefehlt hat, und die Auseinandersetzung damit und Hoffnung, dass da noch was kommt, finde ich ganz toll und ganz wichtig und ganz tröstlich. Eine Sache ist mir da sehr in Erinnerung aus der Zeit um meine Konfirmation rum. Da war ich Ostern in der Kirche und der Pfarrer machte die Abkündigungen und bat dann eben für die Verstorbenen… also der begann natürlich mit ›Er ist auferstanden, Er ist wahrhaftig auferstanden‹, und dann kam: ›Wir bitten für die Verstorbenen, und meinen Vater, der letzte Woche gestorben und noch nicht begraben ist.‹ Und da hab ich gedacht, ui, da zu stehen, als Sohn und Kind selbst so betroffen zu sein, das so persönlich zu haben, und trotzdem mit Inbrunst da die Auferstehung zu verkünden… das ist… das ist toll. Das ist das, was es eigentlich sein soll. So stark ist es bei mir nicht immer, ich zweifel da durchaus. Aber das ist so, was Ostern für mich heißt, die Hoffnung darauf.« Auch Martina fällt es schwer, ihre Gefühle bezüglich des Osterfestes in Worte zu fassen: Zuerst weicht sie meiner Frage, was Ostern ihr bedeutet, aus, indem sie erneut darauf verweist, welch geringe Rolle Ostern in der Gesellschaft spielt, obwohl es doch eigentlich das wichtigste Fest sei. Erst als ich nachhake (»Und was bedeutet Ostern dir so? Kann man das irgendwie in Worte fassen?«), folgt die soeben zitierte Passage. Martinas Schwierigkeit, hier spontan zu erzählen, könnte an zwei Dingen liegen: Zum einen illustriert sie die gesellschaftliche Sprachlosigkeit anhand von Tod und Trauer, die sie selbst beklagt. Zum anderen könnte die Erinnerung an den Pfarrer ihrer Konfirmandinnenzeit ein Hinweis darauf sein, dass Martina sich mit ihren Zweifeln an der Osterbotschaft unwohl fühlt – vielleicht mir als Theologin gegenüber, vielleicht aber auch sich selbst gegenüber: So wie der Pfarrer damals gesprochen hat, »soll es eigentlich sein«. Ostern – und darüber hinaus auch die Fastenzeit, die sie ja explizit auf Ostern bezieht – bedeutet damit auch eine Konfrontation mit ihren eigenen Glaubenszweifeln. Interessanterweise parallelisiert Martina
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das gesellschaftliche Schweigen über den Tod mit der fraglosen Akzeptanz von Alkohol. Beides findet sie schade bzw. irritierend und daher greift ihr Orientierungsrahmen, Normenkonflikte zu sehen und zu bearbeiten, bei beiden Themen: Sie stellt ihren Alkoholkonsum auf den Prüfstand und setzt sich inhaltlich mit der für sie herausfordernden Osterbotschaft auseinander. Während Martina in Bezug auf Alkohol und Süßigkeiten erzählen konnte, dass der Verzicht ihr guttut und auch nicht allzu schwerfällt, fehlen solche eindeutigen »Erfolgserlebnisse« in Bezug auf die Auseinandersetzung mit Ostern. Es scheint hier schwieriger zu sein, das, was sie als normativ ansieht (»so soll es sein«), auch immer zu empfinden – die Glaubenszweifel und die Unsicherheit im Umgang mit dem Tod können nicht so einfach rekonfiguriert werden wie der Konsum von Alkohol oder Süßigkeiten. Auch Sabine schildert in Bezug auf ihren Glauben Zweifel: Antonia: »Kannst du vielleicht beschreiben was du dir davon erhoffst, wenn du selber fastest? Oder hast du irgendein Ziel dabei?« Sabine: »Ja. Ich hab oft das Gefühl, so im Alltag, ich bin Christ, ich erzähle, ›ich bin Christ, ich lebe Gemeinde‹ – aber tu ich das wirklich? Bin ich Gott so nah, mit meinen vielen Zweifeln, die ich immer wieder habe? In der Fastenzeit stelle ich mich diesen Fragen und Zweifeln dann auch intensiver. Hab mittlerweile auch so zwei Menschen in meinem Kreis, die ich dann ehrlich drauf ansprechen kann, und… wo hinterher meistens die Antwort ist, ›ja, ist doch klar, dass du da Zweifel hast, die hab ich doch auch‹. ›Du?? Oh.‹ Und, ehm… Aber ich hab dann die Kraft – wirklich, mittlerweile kann ich das so sagen, oder den Mut… Mut? Ne, die Kraft – Kraft, eh, zu meinen Fragen zu stehen und die dann auch zu stellen.« Sabine war im Verlauf des Interviews vorher schon mehrfach auf ihre Motivationen zum Fasten zu sprechen gekommen. Hier wurde sie nun direkt nach einem Ziel oder einer Hoffnung gefragt und antwortet darauf damit, sich in gewisser Weise selbst zu überprüfen: Ist sie »so christlich«, wie sie denkt oder gern sein möchte? Die Orientierung an Prinzipien strukturiert offensichtlich nicht nur ihr Fasten, sondern auch ihren Glauben: Sie scheint eine klare Vorstellung davon zu haben, wie man »richtig« glaubt und »Gemeinde lebt«, zu der Zweifel nicht gehören. Dementsprechend ist sie erstaunt darüber, dass auch Menschen Glaubenszweifel haben, von denen sie das nicht erwartet hätte. Zugleich stellt Sabine sich diesen Schwierigkeiten und Zweifeln aktiv und setzt sich mit ihren Prinzipien auseinander. Dass andere Gläubige sie damit überraschen, auch Zweifel zu haben (und vermutlich offener darüber sprechen als Sabine selbst), gibt ihr Kraft. Dadurch, dass sie in der Fastenzeit in einer Gruppe aktiv ist, ist ein hilfreicher sozialer Rahmen dafür gegeben, sich diesen Problemen zu stellen. Wurde als Begrenzung des Orientierungsrahmens bereits die Grenze dessen, was eine Einzelperson erreichen kann, genannt, gibt es auch einen klaren Gegen-
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horizont dieser Orientierung, also etwas, wovon die Mitglieder der Gruppe sich selbst abgrenzen. Diese Abgrenzung findet sich gegenüber Menschen, die die von den Befragten benannten Probleme entweder gar nicht wahrnehmen oder sie bewusst ignorieren, wobei letzteres deutlich negativer beurteilt wird. Dies formuliert Michael besonders prägnant, als er über das Thema »bewusst leben« spricht und im Zuge dessen die unterschiedlichen Reaktionen auf Greta Thunbergs Schulstreik erwähnt: »[D]ie einen sagen, das ist eine super Geschichte, die anderen machen sich darüber lustig, aber im Prinzip sagt man ja ›hm, okay, das ist zwar in Ordnung, aber ich nicht, ich mache es nicht‹. So. ›Lass es mal die anderen machen.‹ Das heißt also, ich stelle mich hin und lasse es die anderen machen. Das heißt also, wo mache ich meinen Urlaub hin, mache ich eine Flugreise, und all diese Geschichten, das ist genau das, wo man mit anfangen muss, muss ich alle zwei Jahre ein neues Telefon haben, mir den neuesten elektronischen Kram anschaffen, oder sagen, nein, ich mache es eben nicht, weil ich will meinen Beitrag dazu leisten, dass uns diese Erde noch länger erhalten bleibt? So, aber solange das nicht der Fall ist/aber gut, das kriegen wir Erwachsenen auch nur hin, indem wir es mitmachen und vorleben, um das dann an der Stelle dann irgendwo besser hinzubekommen.« Es ist zu beachten, dass die entscheidende Trennlinie für Michael, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits als klarer Befürworter von Klimaschutzmaßnahmen zu erkennen gegeben hat, hier nicht zwischen Unterstützer*innen und Gegner*innen von Greta Thunberg verläuft. Er beschreibt diese Gruppen zwar als voneinander distinkt, doch diese Unterscheidung ist im weiteren Verlauf der Passage nicht mehr relevant. Entscheidend ist in Michaels Augen nicht, wie man sich ideologisch positioniert, sondern wie man handelt: Der negative Horizont in dieser Passage sind die Menschen, die selbst nicht aktiv werden – selbst wenn sie das Engagement anderer »in Ordnung« finden. Hiervon grenzt Michael sich klar ab: Er möchte selbst aktiv werden, »seinen Beitrag leisten«, und nennt im weiteren Verlauf mehrere Beispiele aus seinem Alltag dafür. Hier kommt erneut die eindeutige Orientierung an Handlungen dieser Gruppe zum Ausdruck: Es genügt nicht, etwas zu denken oder zu wissen, man sollte auch entsprechend handeln. Es genügt Martina nicht zu wissen, dass Ostern ein wichtiges Fest ist oder dass ausgiebiger Alkoholkonsum schädlich sein kann – sie will dies auch umsetzen, indem sie sich durch Fasten auf Ostern vorbereitet bzw. indem sie jährlich einmal bewusst überprüft, ob sie auf Alkohol noch problemlos verzichten kann. Sabine möchte ihren christlichen Glauben nicht nur innerlich spüren, sondern auch öffentlich leben und zeigen. Jonas möchte nicht nur über die Wichtigkeit von Verzichtsbereitschaft philosophieren, sondern auch regelmäßig selbst Verzicht üben.
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β) Das Bezugsproblem der Prinzipienorientierten: die Differenz zwischen Überzeugung und Handeln Richten wir nun eine funktionale Perspektive auf diesen Orientierungsrahmen. Welches Bezugsproblem wird hier bearbeitet? Was ›nützt‹ es den Befragten, sich sieben Wochen lang durch eine erhebliche Umgestaltung ihres Konsumverhaltens herauszufordern? Was macht das Fasten ›lohnend‹ für sie, obwohl es zu Gewissenskonflikten führen kann? In der Zusammenschau der Einzelfälle ist auffällig, dass allen Befragten die Umsetzung ihres Fastenvorhabens gelingt: Sie schaffen es im Großen und Ganzen, für sieben Wochen ihr Handeln ihren Überzeugungen gemäß zu gestalten. Hierin liegt offensichtlich eine Besonderheit, da alle Befragten sich in erster Linie mit Problemen auf der überindividuellen Ebene auseinandersetzen: die Klimakrise, die Umweltbedrohung durch Plastik oder die mangelnde Verzichtsbereitschaft in der Bevölkerung. Ihnen ist einerseits bewusst, dass sie diese Probleme nicht selbst lösen können, und dass andererseits ein Lebensstil, der zu ihrer Lösung so viel wie möglich beiträgt, nicht immer einfach zu praktizieren ist: Während Prinzipien im Abstrakten leicht formuliert werden können, wird ihre Anwendung in der Realität als komplex empfunden. So kommt Michael, ein langjähriger Vegetarier, im Laufe seiner Eingangserzählung auf folgende Begebenheit zu sprechen: »Ich esse kein Fleisch und ich esse keinen Fisch, ich versuche mich schon seit Jahren, mich bewusst zu ernähren, ich tue das nicht, weil ich ein militanter Verfechter des Vegetarismus bin, sondern, weil, ehm, ich das nicht möchte, dass wegen mir irgendwelche Tiere oder so getötet werden. Gelingt mir das? Es gelingt mir sehr gut, ich kann da auch in meinem Umfeld drauf verzichten, sehr gut sogar, das hab ich auch jahrelang durchgehalten, und ehm/aber dann gibt es bestimmte Situationen, wo sich das einfach nicht vermeiden lässt, Fleisch zu essen. Ich hatte so eine Situation letzten Freitag, da war ich auf Filialbesuch in [Stadt]. Zum ersten Mal dort, und ich sag, ›Hallo, Kollegen, was liegt an?‹ ›Heute Mittag Erbsensuppe. Chef hat gesagt, wenn Sie kommen, Sie müssen hier gut verpflegt werden – Erbsensuppe.‹ Und dann sind die da/sind die Mitarbeiter da schon morgens, bevor ich überhaupt da war, auf den Markt gegangen und haben Erbsensuppe geholt, aus der Kanone, und dann hatten die so einen großen Eimer Erbsensuppe da. Und dann war für mich jetzt die Entscheidung, was mach ich jetzt? Sage ich jetzt, ich esse jetzt bewusst kein Fleisch und ich stoße euch damit vor den Kopf oder sage ich jetzt ›Augen zu und durch, und lieber Gott, das wird schon nicht so schlimm sein‹? Also… so.« Die Tatsache, dass Michael nach einem biographischen Rückblick auf seine Fastenerfahrungen recht bald auf seine alltäglichen ethischen Praktiken zu sprechen kommt, ist bemerkenswert und ein Hinweis darauf, dass sich in beiden Bereichen der gleiche Orientierungsrahmen dokumentiert, mit anderen Worten: Dass
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in beiden dasselbe Bezugsproblem bearbeitet wird. Im Alltag gerät Michaels Vegetarismus an eine Grenze, wenn er eine potenzielle Bedrohung des sozialen Miteinanders darstellt: Michael möchte die ihm unterstellten Mitarbeiter*innen, die er gerade erst kennengelernt hat und die sich offensichtlich Gedanken und Mühe um seine bestmögliche Verpflegung gemacht haben, nicht »vor den Kopf stoßen« – er entscheidet sich letztlich dafür, die Suppe zu essen und macht in seinen Worten »quasi gute Miene zum bösen Spiel«. Seine Überzeugung wird dem alltagspraktischen Handeln untergeordnet. Nun gerät Michael auch in der Fastenzeit durchaus in soziale Konflikte: »Dann werde ich zuhause natürlich damit aufgezogen. ›Papa fastet.‹ Und das wird dann so ins Lächerliche gezogen. Also in meiner Familie bin ich da der Alleinige. So, und wenn ich denn dann damit ins Lächerliche gezogen werde und man sich eben lustig macht dadrüber, dann weiß ich, beim nächsten Mal, wenn ich es denn dann mache, dann werde ich gar nichts erzählen, denn das ist meine Sache, das mach ich.« Im Gegensatz zu seinem Alltag ordnet Michael seine ethischen Grundsätze hier nicht dem »Familienfrieden« unter. Dies mag sicherlich auch daran liegen, dass er zu seiner Familie eine andere Beziehung hat als zu den weitgehend unbekannten Kolleg*innen – und daran, dass im Gegensatz zum Erbsensuppen-Dilemma hier Michael selbst der Beschämte ist. Dennoch nimmt er diese Beschämung – die er seinen Mitarbeiter*innen explizit nicht zumuten wollte – in Kauf bzw. entscheidet sich, das Thema künftig nicht mehr ausführlich mit seiner Familie zu besprechen. Das Fasten aufzugeben, wird von ihm nicht in Betracht gezogen. Dasselbe Muster begegnet bei Martina bezogen auf Alkohol: Sie findet dessen gesellschaftliche Rolle und seine negativen Auswirkungen auf ihre Gesundheit grundsätzlich problematisch, stellt sich diesem Problem jedoch nicht permanent im Alltag, weil dies für sie nicht praktikabel ist: »Ich habe einen Job, der sehr stressig ist, ich habe alte Eltern, mit denen es sehr stressig ist, die sind halt/Vater ist schwer pflegebedürftig, Mutter geht auch bergab, die sind 92 und 90, ich hab noch meine Patentante […] – sie ist in den letzten Jahren mehr im Krankenhaus gewesen als zuhause und… hat keine eigenen Kinder […], Schwiegervater geht’s jetzt auch nicht so ganz blendend, und da hast du dann eben vier alte Leute, um die du dich kümmern musst […]. Ne, und das ist dann eben so, wenn du dann am Wochenende mal wieder mal die Tour gemacht hast, und mit allen vier Alten unterwegs warst, und hier was repariert hast, da irgendwas hingebracht hast oder gemacht hast, dann setzt du dich hin und dann sagst du nicht mehr, oh, jetzt möchte ich aber gerne einen Kräutertee trinken [lacht], dann nimmst du dir dein Glas Wein.«
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In der Fastenzeit jedoch, einem begrenzten Zeitraum, setzt sie sich mit dem »Problem Alkohol« gezielt auseinander und nimmt dafür – wie oben beschrieben – durchaus auch Konflikte mit ihrer Familie in Kauf. Auch in Bezug auf andere Prinzipien beschreibt Martina, dass diese oft in Konflikte führen, z.B. wenn sie Biogemüse kaufen möchte, das es aber nur in Plastik verpackt gibt. Einen ähnlichen Konflikt verspürt Michael, der kein eingeflogenes Gemüse kaufen möchte und zugleich weiß, dass nicht verkauftes Gemüse weggeworfen und damit verschwendet wird. Und Sabine spricht dieselbe Problematik an, wenn sie darauf hinweist, dass das Problem in Plastik verpackter Waren oft nicht gelöst, sondern nur verschoben wird: Wenn man sein Brot selbst backt, um verpacktes zu vermeiden, sind in der Regel die Zutaten für das Brot nur verpackt erhältlich. Normen können von den Befragten mithin auch als überfordernd bzw. überwältigend empfunden werden und in ein Gefühl der Rat- und Machtlosigkeit münden: »Wenn es Gott gäbe, warum lässt er das zu? So viel Elend in der Welt, wofür soll ich da fasten?«, fragt Sabine. Die Lösung besteht darin, das allgemein wahrgenommene Problem gewissermaßen zu verkleinern oder zu verdichten und es damit letztlich bearbeitbar zu machen. Dafür ist die Fastenzeit erstens gut geeignet, weil sie per se zeitlich begrenzt ist: Für sieben Wochen kann man sich leichter darauf einlassen, Plastik zu boykottieren oder sich das abendliche Glas Wein bzw. die Schokolade zu versagen als auf unbestimmte Zeit (wie etwa bei einem Neujahrsvorsatz). Die Umsetzung wird damit überschaubarer, ein Ziel ist von Anfang an in Sicht. Zweitens ist die Tradition moderner Fastenaktionen, sich einen Verzichtsgegenstand auszusuchen, eine weitere Begrenzung: Jonas übt Verzicht bezogen auf Schokolade, nicht generell auf alles, was in seinem Leben vielleicht verzichtbar wäre. Ebenso reduziert Michael die Selbstbeschränkung auf Chips und Nutella und Sabine versucht nicht, ein aus ökologischer Perspektive »perfektes« Leben zu führen, sondern konzentriert sich auf den Aspekt des Plastikkonsums. Drittens wird als hilfreich empfunden, dass die Fastenzeit institutionell und oft auch konkret sozial (etwa in Fastengruppen) eingebunden ist. Dies ist insbesondere in Bezug auf den Aspekt ganz persönlicher Konflikte relevant, etwa wenn Sabine den Austausch über Glaubenszweifel als hilfreich empfindet. Auch folgende Passage, in der Martina ein besonderes Fastenerlebnis schildert, ist diesbezüglich aufschlussreich: »Einmal in einer Fastenandacht, die hatte unsere Pfarrerin zum Thema Scheitern gemacht. Wir haben dann immer im Altarraum einen Stuhlkreis gemacht und haben dann eine gestaltete Mitte gehabt […]. Und dann in diesem Fall waren in der Mitte ganz viele Holzscheite. Eben der Scheiter-Haufen. Und sie hat eben ganz viel erzählt über das Scheitern an sich, über die Wortbedeutung, und dann hat sie gesagt, es solle sich jeder ein Scheiterholz rausnehmen, das genau angucken, und irgendwann dann eben sagen/wir sollten dem Scheiterholz einen Namen geben.
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Etwas, wo wir für uns sagen, da bin ich gescheitert. Und… das für sich eingestehen. Und das fand ich super eindrücklich. Mein Scheiterholz hat den Namen eines ehemaligen Schülers bekommen, wo ich das Gefühl hatte, ja, da ist/da bin ich gescheitert, dem hätte ich vielleicht irgendwie helfen können, aber es ging nicht. Das war ein Schüler, der sehr engen Kontakt zu mir hatte, sehr große Probleme hatte, ehm… das war zu der Zeit, wo ich geheiratet hab, und bis dahin war das auch alles super, er hat seinen Eltern noch erzählt, ›schenkt der da unbedingt/macht ein Hochzeitsgeschenk‹, und es war ganz irre, nur als ich dann schwanger wurde, durfte ich den überhaupt nicht mehr berühren. […] Und das fand ich echt super schwierig, und als ich dann aus dem Erziehungsurlaub wiederkam, hab ich halt gehört, dass sexueller Missbrauch in der Familie war, und da hab ich gedacht, ja, da bist du gescheitert. Das hast du nicht mitgekriegt, und da hättest du vielleicht was tun können, aber andererseits ist das auch so… ich hab auch mein persönliches Leben. Und ich bin nicht nur Lehrerin. Und ich bin erstmal auch ich, und an der Stelle Ehefrau und Mutter und da konnte ich nicht helfen, da bin ich gescheitert. Und das/sie schlug vor, das könnte man doch im Osterfeuer verbrennen. Hab ich in dem Jahr nicht geschafft, aber im nächsten Jahr habe ich es dann bewusst mit zur Andacht genommen zum Osterfeuer und hab es ins Osterfeuer geschmissen und gesagt, ja, das hilft mir jetzt.« Auch wenn in dieser Erzählung kein konkretes Fastenvorhaben zur Sprache kommt, ist es diese Begebenheit, die Martina als besonderes Fastenerlebnis in Erinnerung geblieben ist. Aus funktionaler Perspektive ist dies verständlich: Auch hier ist das Bezugsproblem, den eigenen Überzeugungen im Handeln nicht gerecht geworden zu sein, und zwar in diesem Fall bezogen auf einen konkreten Kontext, der für Martina deutlich schmerzbehafteter ist als der Konsum von Keksen oder Alkohol, nämlich die Gewalt an einem Schüler, deren Anzeichen sie nicht erkannte. Es ist daher verständlich, dass Martina länger als eine Fastenzeit brauchte, um sich mit dieser Situation, die methodisch gesprochen einen ›Verstoß‹ gegen ihre Orientierung darstellt, auseinanderzusetzen und ein Stück weit mit ihr abzuschließen. Auch hier war das Prinzip der sozialen Einbindung hilfreich: Alle in der Fastengruppe machten sich Gedanken über eine individuelle Geschichte des Scheiterns, Martina war mit ihren Gefühlen also nicht allein. Darüber hinaus war der soziale Kontext zudem institutionell verankert: Das Verbrennen des »Scheiterholzes« im Osterfeuer hat eine hohe Symbolkraft und bindet die Auseinandersetzung mit dem eigenen Scheitern an das Ostergeschehen zurück: Versagen und Scheitern sind, theologisch gesprochen, unabänderlicher Teil der conditio humana und tun dennoch der Liebe Gottes zu den Menschen keinen Abbruch. Funktional gesehen bearbeiten die Fastenden in dieser Gruppe letztlich genau dieses Problem: Das Zurückbleiben des eigenen Handelns hinter den eigenen Überzeugungen und Ansprüchen an sich selbst, die Unmöglichkeit, konsequent immer das zu tun, was man als richtig und wünschenswert erkannt hat: »Die Erkenntnis
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des Richtigen und der Wunsch, es zu tun, befähigen noch nicht zu diesem Tun. Tugenden müssen also entwickelt werden. Soll diese Entwicklung nicht dem Zufall überlassen werden, ist Selbstformung notwendig.«85 Allerdings führt diese Erkenntnis die Befragten nicht in kontinuierliche Praktiken der Selbstoptimierung. Vielmehr werden ihre Prinzipien auf ein konkretes Vorhaben verdichtet, welches dann in einem begrenzten Zeitraum und ggf. mit der Unterstützung Mitfastender umgesetzt wird. So erfahren sich die Befragten angesichts unlösbarer Probleme als handlungsfähig, womit das Fasten eine Dimension der Selbstermächtigung aufweist. Sie erkennen die Unmöglichkeit eines normativ einwandfreien Lebens und weigern sich dennoch, angesichts dessen aufzugeben und sich über das Enaktieren ihrer Normen keine Gedanken mehr zu machen. Fasten lässt sich hier als eine Praxis verstehen, die sowohl mit dem realen »ich« der Fastenden als auch mit ihrem »idealen Ich« in Verbindung steht und so die Auseinandersetzung mit diesem »idealen Ich« ermöglicht.
b) Orientierung an Selbsterfahrung Die Befragten in dieser Gruppe zeigen ein ausgeprägtes Interesse daran, sich im Rahmen einer besonderen Erfahrung mit sich selbst auseinanderzusetzen. Fasten ist für sie eine Möglichkeit, neue Dinge auszuprobieren und etwas über sich zu lernen. Sie haben grundsätzlich eine recht offene Haltung und oft schon viele unterschiedliche Fastenarten ausprobiert – in scharfem Gegensatz zur Orientierung an Prinzipien durchaus auch Dinge, die ihrem alltäglichen Lebensstil komplett widersprechen, weil gerade das für sie eine Möglichkeit darstellt, etwas ganz Neues zu erleben. Entsprechend wird die Fastenzeit hier auch nicht als idealer Alltag konzipiert, sondern eher als (mehr oder weniger) radikale Unterbrechung des Alltags: Für einige Wochen soll es einmal anders sein als sonst. Dabei kann das neu Erlebte, sofern es als praktikabel und angenehm empfunden wurde, durchaus hinterher beibehalten werden und die Fastenzeit somit als Anstoß für eine Veränderung fungieren. Dies ist aber kein Kriterium bei der Auswahl der Fastenvorhaben, bisweilen werden auch Vorhaben gewählt, bei denen die Befragten sich von vornherein darüber im Klaren sind, dass sie sie nicht hinterher in den Alltag übernehmen werden. Häufig wird auch Heilfasten praktiziert, das per se zeitlich begrenzt und kein alltagstaugliches Ernährungsmodell ist. Inhaltlich lässt sich oft ein Fokus auf das emotionale Erleben des Fastens beobachten. Auf die Frage »wie geht es Ihnen, wenn Sie fasten?« antworten die Befragten in der Regel lebhaft und eloquent. Oft werden zudem Narrative der persönlichen 85
Kipke, Roland: Die Bedeutung der Selbstformung für die Ethik, in: Ruth Conrad/Ders. (Hg.): Selbstformung. Beiträge zur Aufklärung einer menschlichen Praxis (Münster: mentis 2015), S. 289–304, S. 291.
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Entwicklung und Selbstfindung erkennbar. Die Befragten zeigen fast keine negativen Horizonte auf und grenzen sich von wenig explizit ab. Ebenso wenig werden klare Grenzen des Orientierungsrahmens deutlich; am ehesten noch, wenn manche Befragte formulieren, dass sie nichts machen würden, bei dem sie schon wissen, wie sie darauf reagieren werden.
α) Das Interviewmaterial: Fasten als Weg zum »authentischen Ich« Als einführendes Beispiel für diese Orientierung eignet sich eine Passage aus Angelikas Eingangserzählung. Angelika ist Ende 60 und katholisch. Sie ist Rentnerin, arbeitet aber einen Tag pro Woche weiterhin in ihrem Beruf als Friseurin. Sie ist verheiratet, hat einen erwachsenen Sohn und lebt in einer mittelgroßen Stadt in Nordrhein-Westfalen. Der Kontakt zu ihr kam über die lokale Fastengruppe zustande, das Interview wurde telefonisch durchgeführt. Als ich ganz zu Beginn des Interviews nach ihren Erfahrungen mit Fasten frage, antwortet sie wie folgt: »Ja, ich mach ja nun dieses/speziell immer nur dieses Heilfasten, und das mach ich jetzt ungefähr… 20 Jahre, […] und wenn ich das im Frühjahr mache, dann fällt das oft so in diese Zeit, in diese Osterfastenzeit, und, eh, also, aber, mir geht es eigentlich immer unheimlich gut. Als ich das das erste Mal gemacht habe, da hab ich/da bin ich zur VHS gegangen, habe da so einen Kurs belegt, und ehm, da kriegte man dann ja als Einführung erstmal so einen Film gezeigt, damals, und zwar über dieses Heilfasten von dem Dr. Buchinger, […] und das fand ich schon ganz toll, und dann hab ich gedacht ›das kann doch gar nicht sein, dass man so lange ohne Essen kann‹, ja, also ich mach das jetzt immer nur eine Woche, aber ich hab das dann also wirklich auch festgestellt, also wie toll das eigentlich ist, und wie gut man das kann, diese Erfahrung hab ich da gemacht, das hätte ich nie erwartet, dass man wirklich eine Woche, oder auch zehn/oder noch länger wirklich komplett ohne Essen kann. Ne? Wenn man das… wenn man passend trinkt und diese Anweisungen befolgt [sie beschreibt mehrere Heilfastenregeln]. Und, eh, diese Erfahrung, dass man das wirklich kann, also das war auch echt faszinierend, ne, und das hätte ich nie geglaubt, ne, dass einem das so, so überhaupt nichts ausmacht dann, ne, so dass man so ohne Essen kann, sonst denkt man ja immer ›einen Tag nicht gegessen, um Gottes Willen, das geht doch gar nicht‹, ne, kann man sich so nicht vorstellen. Aber es geht. Und man fühlt sich gut dabei. Ich meine, die ersten zwei Tage sind meistens immer so die schwersten bis man sich dann so dran gewöhnt hat, und dann hinterher geht’s einem wirklich blendend, man ist aktiv, also ich jedenfalls immer, ich kann also alles machen, ich geh zum Sport, man sollte ja auch ein bisschen Sport machen, also nicht übertrieben, aber viel rausgehen, viel an die frische Luft, und meine häuslichen Tätigkeiten, das fluppt immer super gut, und oft sogar noch besser, und ich bin ja auch immer arbeiten gegangen dabei, und das hat mir auch überhaupt nichts ausgemacht, […] also diese Erfahrung ist schon enorm, dass man das so schafft.«
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In dieser Passage dokumentiert sich mehrfach die für diese Gruppe charakteristische Orientierung an Selbsterfahrung. Zuerst erkennbar wird sie an Angelikas Konzentration auf ihr persönliche Erleben und ihre Begeisterung anhand der ersten Fastenkur. Angelika schätzt diese positive Selbsterfahrung offensichtlich so sehr, dass sie sie seither jedes Jahr wiederholt. Auch als sie nach einem besonderen Erlebnis gefragt wird, kommt sie erneut auf ihr Gefühl beim Heilfasten zu sprechen: »[M]an ist schon sehr euphorisch, und eh… also es fällt mir alles, eh, sehr leicht, ne. Also es ist nicht… es ist nicht schwer. Ich fühle mich eigentlich immer sehr, sehr gut dabei und sehr euphorisch dann auch so beim Fasten.« Die Orientierung an Selbsterfahrung zeigt sich auch an einem weiteren Aspekt. Inhaltlich setzt sich Angelika – auch dies begegnet in dieser Gruppe häufig – in ihrem Fasten mit dem Thema Gesundheit auseinander. Sie verzichtet in der Passionszeit zwar auch auf Süßigkeiten, kommt darauf jedoch erst ganz am Ende des Interviews zu sprechen. In ihrer Erzählung dokumentiert sich somit, dass dies für sie eine deutlich geringere Relevanz hat als das Heilfasten, von dem sie sofort ausführlich zu berichten beginnt. Mit der Passionszeit ist das Fasten dagegen »nicht unbedingt« verbunden. In Bezug auf die oben zitierte Passage ist festzuhalten, dass Angelika ausführlich auf die institutionellen Kontexte ihres Fastens eingeht: So erwähnt sie explizit ihre Kurse an der Volkshochschule und rekurriert auf ihr Wissen über Otto Buchinger und seine Fastenkliniken. In einer späteren Passage berichtet sie von weiteren Fastenkursen bei einer lokalen Heilpraktikerin. Damit präsentiert sie sich einerseits als Person, die Faktenwissen über das Fasten gesammelt hat, und zwar aus Quellen, die für sie verlässliche Autoritäten darstellen. Andererseits präsentiert sie ihr Erfahrungswissen, das für sie ebenfalls eine hohe Autorität hat: Nach dem Ansehen der Dokumentation über Fastenkliniken war sie zwar beeindruckt von den Effekten, hielt es aber weiterhin für unvorstellbar, so lange keine Nahrung zu sich zu nehmen. Erst durch das eigene Ausprobieren lernte sie, dass dies für sie sehr wohl möglich ist und es ihr dabei sogar gut geht. Ihre Selbsterfahrung hat damit letztlich das höhere Gewicht. Dies wird auch in folgender Passage deutlich: »[D]as [Heilfasten] soll ja auch so ein bisschen anregen, man will ja auch eben den Darm reinigen, weil ja aus/in dem Darm viele Krankheiten, die wir haben, die entstehen ja alle im Darm. Und, ehm, und das ist eben halt, und dafür ist das eben auch gut, dieses Heilfasten, also ich hab jedenfalls die Erfahrung gemacht, und manche glauben da ja nicht dran, aber ich glaube da schon dran, und ehm/dass es gut ist, wenn man den Darm halt reinigt und so eben auch ein bisschen mehr das Immunsystem aufbaut, um gegen Krankheiten eben halt so ein bisschen immun zu sein. Und ich bin auch eigentlich so gut wie nie krank. Und kenn das eigentlich gar nicht. Und, ehm, darum denk ich mal, dass das da schon so ein bisschen dazu beiträgt, dass es mir immer so gut geht, dadurch, dass ich das Fasten mache.«
III Fasten in der Gegenwart: die empirische Studie
Auch hier rekurriert Angelika zuerst auf medizinisches bzw. naturheilkundliches Fachwissen: Heilfasten ist eine Methode, um den Darm gesund zu erhalten und damit Krankheiten vorzubeugen. Zugleich weiß Angelika offensichtlich, dass Heilfasten im medizinischen Diskurs mitunter ambivalent beurteilt wird. Für sie ausschlaggebend ist daher die Erfahrung, die sie persönlich mit dem Heilfasten gemacht hat: Da sie selten erkrankt, geht sie davon aus, dass das Heilfasten einer der Gründe dafür ist, wenn auch nicht der einzige (»darum denk ich mal, dass das da schon so ein bisschen dazu beiträgt«). Angelika enthält sich eines definitiven fachlichen Urteils über die Wirksamkeit des Heilfastens – für sie handelt es sich vielmehr um eine Glaubensfrage: »manche glauben da ja nicht dran, aber ich glaube da schon dran«. Auch hier wird klar, dass ihr Erfahrungswissen im Konfliktfall die höhere Evidenz als Fachwissen hat. Das zeigt sich auch darin, dass Angelika durch das Fasten einiges über Ernährung gelernt und ihr persönliches Essverhalten ein Stück weit umgestellt hat. Für eine insgesamt gesündere Ernährung geben ihr die Heilfastenkuren wichtige Impulse: »so nach dem Fasten ist es/mach ich es eigentlich auch immer erst noch ein bisschen extremer. So manche Sachen, muss ich dann also selber auch zugeben, da verfällt man schon mal wieder rein, und ehm, so zwischen diesen Fasten, dass man irgendwann dann doch so manche Sachen, die man gerne isst, vielleicht aber auch nicht ganz so gesund sind, dann doch mal wieder isst, da verfällt man dann wieder rein, weil/weil ich dann auch wieder immer denke, wenn ich jetzt so ganz extrem dann so über die Zeit… man muss ja auch zufrieden dabei sein, und wenn ich mir alles verkneife, dann ist man auch unzufrieden, ne, und es bringt mir auch nichts, wenn ich da abends auf dem Sofa sitze und knabber immer nur an einer Möhre rum und bin aber brummig dabei. Darauf hab ich dann auch keine Lust [lacht], also ich gönne mir dann auch schon mal gerne mal was Gutes.« Auch hier zeigt sich ihre persönliche Erfahrung und ihr persönliches Wohlgefühl als ausschlaggebend, nicht ein bestimmtes Prinzip »gesunder Ernährung«. Als ich Angelika nach den Reaktionen ihrer Mitmenschen auf ihr Fasten frage, bringt sie eigenständig ein weiteres Thema in das Interview ein, nämlich die Gewichtskontrolle. Sie grenzt sich davon allerdings ab, die Diät stellt für sie geradezu einen Gegenhorizont zum Fasten dar: »[M]anche sagen, ›du bist doch schlank genug‹, oder so. Und ›warum fastest du denn?‹. Ich sag, ›ja ich mach das ja nicht, um abzunehmen‹. Ich meine, man nimmt automatisch ab, das ist normal, ne, und, ehm, und so im/wenn ich das einmal oder zweimal im Jahr mache, wenn ich da so drei Kilo, manchmal auch vier Kilo abnehme in so einer Woche, das geht ja auch schnell, das ist ja auch viel Flüssigkeit, was da weggeht, das geht ja nicht immer so ganz direkt an die Fettreserven, sondern ist ja viel Flüssigkeit aus dem Körper, das holt man auch wieder auf, ne. Und, ehm,
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aber, ich sag, das ist ja auch nicht der Grund, warum ich das mache, ne. Ich will ja einfach meinem Körper was Gutes tun, weil ich mich einfach dann wohlfühle«. Offensichtlich vermuten einige von Angelikas Bekannten, dass mindestens eins ihrer Ziele beim Fasten das Abnehmen ist, was jedoch nicht stimmt. Auch hier reagiert Angelika darauf als Person, die gut über Gesundheit informiert ist: Sie erklärt, dass Fasten (zumindest im von ihr gewählten Zeitrahmen) zum Abnehmen nicht die richtige Methode ist, da der Gewichtsverlust währenddessen nicht durch den Abbau von Fettreserven zustande kommt, sondern durch Flüssigkeitsverlust, also nicht dauerhaft ist. Danach gibt sie an, dass Gewichtsverlust auch gar nicht ihre Motivation ist: Stattdessen möchte sie ihrem Körper etwas Gutes tun, um sich selbst wohlzufühlen. Am Rekurs auf ihr eigenes Wohlgefühl wird erneut ihre Orientierung an Selbsterfahrung sichtbar: Alternative Motivationen, dem Körper etwas Gutes zu tun, wären z.B. die Überzeugung, dass dies eine ethische Verpflichtung ist, die Angst vor einer Krankheit oder auch eine spirituelle Dimension der Sorge für den eigenen Körper. Zugleich fällt auf, dass Angelika Diäten hier nicht allgemein ablehnt – sie hält lediglich fest, dass Fasten etwas anderes ist. Eine weitere positive Selbsterfahrung, die Angelika neben dem guten Körpergefühl beim Fasten macht, ist es, nach dem Ende der Fastenzeit mit sich zufrieden zu sein: »[D]as ist für einen selber so ein Highlight auch. Dass man sagt, ich hab das jetzt geschafft, ne? Dass man so seinen eigenen Schweinehund überwindet, ne, und ich hab das jetzt geschafft. Erstmal schon alleine mit diesem anderen, dem Heilfasten schon sowieso ja auch, das ist ja schon toll, dass man das schafft, ne, und dann kann man sich ja doch schon selbst, ne, eh… aufs Herz klopfen und sagen ›oh super, das hast du jetzt geschafft‹, und mit den Süßigkeiten genauso, ne, weil man eben halt weiß/oder ich weiß ja, wie gerne ich auch gerne mal was Süßes esse […]. Und das finde ich dann schon, schon toll, dass man das kann, ne. Aber es ist nicht immer so einfach, ne, aber ich finde, es tut dann doch sehr gut, ne. Man hat dann doch/man kann dann stolz auf sich sein, dass man es geschafft hat, und das bin ich dann eigentlich auch immer. Finde ich.« Ganz ähnlich verhält es sich bei Anke. Sie ist Anfang 50, evangelisch, verheiratet, hat zwei erwachsene Kinder und lebt im selben Ort wie Angelika. Sie verzichtet in der Passionszeit auf Süßigkeiten und Alkohol. Auch in ihrer Erzählung dokumentiert sich eine Orientierung an Selbsterfahrung, z.B. in folgender Passage, in der sie auf die Frage nach einem besonderen Fastenerlebnis antwortet: »Hm… hm. Also ich war schon in diesem ersten Jahr, als ich das in dieser Fa/also in der Passionszeit quasi gemacht hab, also im Jahr davor hatte das mein Kollege gemacht, oder einer meiner Kollegen macht das immer, und dann hab ich den schon,
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also, ich sag mal, ich hab den schon bewundert, ne. Und hab gedacht, ›das schaffst du nie, was der da macht‹ […] und, also, das hat mich schon mit Stolz erfüllt, dieses, eh, zu sagen, an Ostern, ›Mann, du hast jetzt hier 40 Tage durchgehalten‹, ne.« Hier beschreibt Anke, dass sie einen Kollegen für sein Fasten bewunderte und zugleich überzeugt war, dies selbst nicht zu können. Dennoch probierte sie es aus und empfand Stolz, als es ihr wider Erwarten gelang. Dieser Effekt schwächte sich in den Folgejahren zwar ab, da es zur »Gewohnheit« wurde, das Fasten durchzuhalten. Dennoch fastet Anke weiterhin und modifiziert auch nicht ihr Vorhaben, indem sie nun z.B. auf mehr Dinge verzichtet. Ganz im Gegenteil berichtet sie, in einem Jahr den Alkoholverzicht ausgesetzt zu haben, als während der Fastenzeit mehrere Familienfeiern geplant waren: »Ich möchte das dann auch schaffen können, ne. Und wenn ich von vorneherein weiß, es sind da ein paar Gelegenheiten, ehm… das möchte ich dann nicht, und dann muss man sich dann auch nicht die Messlatte so hoch legen, ne.« Ihre positive Selbsterfahrung ist demnach nicht daran geknüpft, immer größere und schwierigere Ziele zu erreichen. Stattdessen freut sie sich daran, jedes Jahr ihren ersten Fastenerfolg erneut zu enaktieren. Hier zeigt sich ein klarer Unterschied zur Orientierung an Prinzipien, denn die Prinzipienorientierten äußern Gefühle der Freude oder gar des Stolzes über ihren Fastenerfolg kaum. Im Interview mit Michael stellt sich die Lage diesbezüglich als komplex dar. Aufschlussreich ist dafür zunächst folgender Austausch: Antonia: »Und wenn Sie sagen, zum Beispiel, Sie haben das ja so geschildert mit Ihrem Nutellaverzicht zum Beispiel, was bedeutet Ihnen das, dass Sie das auch schaffen, darauf zu verzichten?« Michael: »Was bedeutet mir das, das gibt mir ein gutes Gefühl, dass wenn ich mir etwas vornehme, und etwas durchhalte, und ich es schaffe, dass ich mich dann gut fühle. Dass ich also eine Leistung vollbracht habe. Für mich ist das eine Leistung.« Antonia: »Ja, auf jeden Fall.« Michael: »So, und dadurch fühle ich mich dann gut. Glaub ich. Um zu sagen, so, ich beweise es mir. […] Also, wenn ich mir etwas vornehme, und ich kriege es hin, dann ist das ein Beweis dafür, wenn ich mir was vornehme, und es durchziehe, dass ich es auch schaffen kann. Und das ist nicht, dass mir jetzt oben irgendwie jemand hilft dabei, sondern es kommt auf mich an. Dass ich alleine das schaffe, dass ich es erstens will, dass ich es mache, dass ich es durchziehe, und dann nachher mich vielleicht auch belohne, weil es gut war.« Der erste Teil dieser Passage ist vielschichtig. Michael antwortet zuerst, dass es ihm »ein gutes Gefühl« gibt, verzichten zu können. Im nächsten Schritt folgt die Benen-
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nung des »durchgehalten Habens« als »Leistung«. Dadurch, etwas geleistet zu haben, fühlt er sich gut – »glaub ich«, schiebt er dann bemerkenswerterweise hinterher. Interessant ist auch im letzten Satz, dass das »Wollen«, »Machen« und »Durchziehen« eindeutig festzustehen scheinen, vor dem »sich Belohnen« dagegen ein »vielleicht« steht. Über den Erfolg lang nachzudenken oder sich an ihm zu freuen, steht für Michael anscheinend nicht im Vordergrund – im Vordergrund steht die Bearbeitung der Differenz zwischen Überzeugung und Handeln (»ein Beweis dafür […], dass ich es auch schaffen kann«, i.e. »dass ich meinen Überzeugungen gerecht werden kann«). Noch klarer wird dies, als ich ihn gegen Ende des Interviews frage, ob das Fasten für ihn Nachwirkungen hat: »[N]e, Nachwirkungen nicht, aber nochmal: Dieses Gefühl, ich belohne mich jetzt, ich feier mich, ich klopf mir auf die Schulter und sage ›Das hast du gut gemacht ‹ … weiß ich nicht, wenn Sie mich jetzt fragen würden, ob ich das mal so gemacht habe, ne, wüsste ich nicht. Also so von der Idee her müsste ich eigentlich sagen, ›ja, ich bin, bin, bin stolz auf mich, dass ich das gepackt habe und dass ich das sieben Wochen mal konnte‹.« Es wird deutlich, dass Stolz über Fastenerfolg für Michael eine erwartbare und legitime Reaktion ist, es handelt sich um ein gesellschaftlich verbreitetes Orientierungsschema, das er hier wiedergibt, ohne dass es Teil seines eigenen Orientierungsrahmens ist: Er selbst empfindet diesen Stolz nicht und nimmt auch keine Selbstbelohnung vor. Für ihn – und auch für die anderen Befragten dieser Orientierung – leitet sich die Relevanz des Fastenvorhabens aus einer Einbindung in allgemeine Prinzipien ab, nicht daraus, dass er sich beim Fasten auf eine bestimmte Weise selbst erfährt. Erinnern wir uns: Michael fastet, obwohl seine Familie ihn dafür belächelt und bemüht sich konsequent um einen ethisch sensiblen Lebensstil, obwohl es ihn wiederholt in Dilemmata führt. Aus der Perspektive von Anke oder Angelika wäre eine solche Fastenerfahrung unattraktiv, denn sie wollen etwas Positives erleben. Auch im Interview mit Ingrid dokumentiert sich diese Sehnsucht nach einer positiven Art der Selbsterfahrung. Sie ist 60 Jahre alt, verheiratet, hat erwachsene Kinder und lebt in einer Stadt in Sachsen-Anhalt. Der Kontakt zu ihr kam zustande, weil sie eine WhatsApp-Fastengruppe zur »7 Wochen Ohne«-Aktion eingerichtet hatte, die auf der Website der Fastenaktion aufgeführt war. Ingrid führt seit 30 Jahren mehrmals im Jahr Heilfastenkuren durch, u.a. in der Passionszeit. Sie orientiert sich dabei zumeist an der Methode nach Buchinger, berichtet aber, auch mit anderen Methoden wie Ayurvedafasten oder Saftfasten zu »experimentieren«. Auch Ingrid schreibt dem Fasten positive Effekte auf ihre Gesundheit zu, die sich auch im Bereich langfristiger gesunder Ernährung zeigen:
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»[D]as ist wesentlich also einfacher hinterher, sich einfach und ganz bodenständig zu ernähren, das find ich auch unwahrscheinlich wertvoll. Bis dann irgendwann mal/ja dann kommt wieder so eine Zeit, dann frühstückt man, dann hat man Urlaub, dann sagt mein Mann ›komm, ich geh zum Bäcker und ich hol uns frische Brötchen‹ und ja, dann ist man wieder in so einer Spirale drin, wo man denkt ›hm, wollte ich aber eigentlich nicht‹, aber egal, das gehört dann eben auch dazu, das ist klar, aber ich versuche, das so lange wie möglich auf einem sehr einfachen Level zu halten.« Hier zeigt sich dasselbe Muster wie bei Angelika: Nach dem Fasten isst man eine Weile gesünder, irgendwann kommt dann aber die weniger gesunde Alltagsernährung wieder. Das ist allerdings kein Problem und »gehört dann eben auch dazu«. Zudem hat das Fasten nicht nur positive Auswirkungen auf Ingrids körperliches Wohlbefinden: »[M]anche machen das ja jetzt nur, um abzunehmen oder was weiß ich, um die Homöostase im Körper wieder anzuregen, so, aber ich möchte es auch wirklich als me time haben sozusagen, also als Zeit für mich. Das ist für mich auch wichtig, ne. Dass ich so bisschen die innere Einkehr dabei auch habe, ja. Weil es ist nicht nur Verzicht auf Nahrung, sondern es ist dann für mich auch so eine Zeit, so Verzicht auf ganz vieles, was ich sonst vielleicht/wenn’s geht, weniger arbeiten, ja, also Verzicht auf Stress, Verzicht auf alles, was mich nervt, vielleicht, und der Körper kommt mir da ja dann entgegen, also beim Fasten fährt man ja sowieso ein bisschen runter…« Fasten erscheint hier – im Gegensatz zum »idealen« Alltag der Orientierung an Normen – als mehr oder weniger radikale Unterbrechung des Alltags. Ingrid verzichtet nicht auf Dinge, die gegen ihre Prinzipien verstoßen, sondern auf »alles, was mich nervt«. Entsprechend hat sie auch den Wunsch nach »me time« und »innerer Einkehr«. Dies ist stark damit verbunden, auf ihren Körper zu hören und ihn differenziert wahrzunehmen: »Ich hatte auch schon Fastenwochen jetzt, wo ich die ersten zwei Tage wirklich nur im Bett gelegen habe, weil es mir einfach so schlecht ging und ich mir dann denke: Wenn mein Körper so darauf reagiert, dann will ich jetzt auch nicht sagen ›ja, du musst jetzt mal eine Stunde spazieren gehen‹ oder so, dann bleib ich auch wirklich im Bett liegen […], dann denke ich mir ›okay, der Körper braucht jetzt halt Ruhe‹, dann mach ich mir halt mehr heiße Zitrone oder sowas, was halt noch ein bisschen mehr Vitamine hat, und hab dann aber trotzdem weitergemacht, also das… ja, da lass ich mich dann nicht aus dem Konzept bringen. Weil ich mir denke, wenn/wenn der Körper so reagiert, also ich meine, dann hätte ich es vielleicht mit Essen nicht gemerkt, aber der Körper hätte vielleicht trotzdem irgendetwas signalisiert, ich hätte es nur mit dem Essen vielleicht übertüncht oder so, ja, ich
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denk mir wenn/also der Körper reagiert ja sehr, sehr sensibel auf/auf bestimmte Sachen, und wenn’s mich so umhaut, dass ich zwei Tage überhaupt nicht aus dem Bett komme, dann war was, das hätte ich auch mit Essen nicht verhindern können wahrscheinlich, ne, da wär vielleicht noch später eine Erkältung draus geworden oder irgendwas, ne, und das hab ich so ganz gut abgefedert.« Ingrid gibt an, durchaus manchmal körperliche Beschwerden beim Fasten zu haben – etwas, was andere Heilfastende in dieser Direktheit kaum schildern. Sie verbindet dies mit dem Aspekt einer erhöhten Sensibilität während des Fastens. Ingrid schreibt ihre Beschwerden der Tatsache zu, dass sie beim Fasten Signale ihres Körpers registriert, die sie sonst mit Essen »übertünchen« würde, wie den Beginn einer Erkältung. Damit ist die konkrete Art der Selbsterfahrung, die sie macht, deutlich stärker von körperlichen Aspekten geprägt als z.B. die emotional geprägte Erfahrung von Anke. Ingrid erlebt sich selbst als auf eine Weise sensibel, die sie im Alltag nicht erlebt – und zwar nicht nur bezogen auf ihren eigenen Körper, sondern auch auf äußere Sinnesreize: »Zum/also was besonders ist bei mir beim Fasten ist, dass ich Gerüche sehr viel stärker wahrnehme und das ist anders als normal wenn ich nicht faste, ne, da krieg ich das nicht so mit, aber wenn ich wirklich auf Essen verzichte, dann riech ich ganz extrem viel. […] also das ist ein sehr, sehr intensives Geruchserlebnis, ich hab manchmal so das Gefühl, die anderen Sinne schärfen sich dadurch ein Stück weit, ja. Also auch so, dass mir/dass ich manchmal das Gefühl habe, dadurch, dass es alles etwas entschleunigt ist, nehm ich auch mehr wahr. Also zum Beispiel Schneeglöckchen oder sowas. Ich hab das Gefühl ich sehe das/ich sehe mehr oder nehme mehr wahr, wenn ich auf diese ganze/auf diese ganze, eh, Zufuhr von Essen und von außen verzichte. Es kommt mir so vor als wenn sich das schärft, ne. Kann auch mit der Ruhe zusammenhängen, die ich mir dann einräume, auch möglich, aber das ist so/das sind so die Erfahrungen, ja.« Diese intensivierte Wahrnehmung ist wiederum ein Aspekt, den beinahe alle Heilfastenden nennen. Ingrid wertet dies hier nicht, findet es aber offensichtlich erwähnenswert. In der folgenden Passage begegnet ein weiterer Vergleichspunkt, an dem der Kontrast zwischen der Orientierung an Prinzipien und der an Selbsterfahrung klar hervortritt, nämlich der Umgang mit Konsum und Verzicht. Für die Prinzipienorientierten ist Konsumverzicht oft ein wichtiger Bezugspunkt, der im selben Orientierungsrahmen wie das Fasten verhandelt wird und es teilweise auch inhaltlich berührt, z.B. bei Sabines Plastikverzicht. Als ich Ingrid frage, ob sie sich auch Fastenarten wie Plastik-oder Autoverzicht vorstellen könnt, antwortet sie wie folgt:
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»Ja, also ich meine, ich versuche schon, achtsam durch mein Leben zu gehen, und das was möglich ist, also mit Plastik zum Beispiel, darauf zu verzichten, oder ich hab auch solche Netze jetzt, mit denen ich einkaufe und nehme nicht mehr diese Verpackungsbeutel […]. Das würde aber für mich nicht… also nicht/das würde für mich nicht unbedingt fasten bedeuten, das ist für mich einfach eine achtsamere Lebensführung sozusagen, ne. Also wenn ich jetzt sage, ›ich verzichte in der Fastenzeit auf Schokolade‹ und manche sagen ›ich mach jetzt Schokoladefasten‹ oder so, dann denk ich mich immer… das wär jetzt nicht meine Art. Das zu machen. Nicht, dass ich das ablehne, ich find es gut, wenn Leute damit anfangen, aber ich würde das nie als Fasten bezeichnen, das ist für mich so ein Verzicht, um mal zu schauen, es geht, oder weil ich weiß, es ist eh ungesund und ich such mir dafür einen Begriff, damit ich/damit ich gut dastehe. […] Für mich ist das [Fasten] einfach eine Sache zu schauen, wie geht’s mir mit weniger Nahrung – es ist alles da, ja, also – es ist ja alles vorhanden. Und ich/und zwar in so einem wahnsinnigen Überfluss, dass ich mir im Grunde genommen keine Sekunde Sorgen machen muss, dass ich an irgendwas nicht rankommen könnte, wenn ich es denn sofort brauchte, ne. Und allein diese Tatsache, dass alles im Überfluss vorhanden ist, lässt mich da ganz klein werden, sozusagen, und dann sag ich mir ›okay, ich möchte/ich möchte diesen Überfluss gar nicht haben‹ und nehm mich da zurück, und deswegen ist/das ist für mich dann eher fasten, sozusagen, und nicht unbedingt ›ich verzichte jetzt mal auf Plastik‹ oder… das ist für mich wirklich eine achtsame Lebensführung, so würd ich das bezeichnen. Ja. Ja.« Ingrid unterscheidet in dieser Passage zunächst zwischen »Fasten« und dem, was sie eine »achtsame Lebensführung« nennt. Auf Plastik zu verzichten, gehört für sie in den Bereich »achtsame Lebensführung«. Hier ist erkennbar, dass Ingrid (wie viele andere Befragte dieser Gruppe) für ihren Alltag durchaus ethische Richtlinien und Prinzipien hat. Diese strukturieren allerdings nicht ihr Fasten. In einem zweiten Schritt unterscheidet Ingrid dann zwischen dem Heilfasten, das sie praktiziert, und dem Verzicht auf einzelne Lebensmittel wie z.B. Schokolade. Davon, solche Verzichtspraktiken ebenfalls als »fasten« zu bezeichnen, grenzt Ingrid sich explizit ab. Ingrid mutmaßt, dass andere diese Bezeichnung wählen, um »gut dazustehen«, vermutlich meint sie damit eine gewisse Aufwertung des jeweils gewählten Verzichts. Ingrid findet es zwar gut, wenn Menschen auf diese Weise verzichten, scheint aber einen klaren qualitativen Unterschied zum Heilfasten zu sehen. Worin dieser Unterschied besteht, wird deutlicher, als Ingrid einen starken Gegenhorizont zu ihrer eigenen Orientierung einbringt: Der Horizont des Überflusses, den sie offensichtlich als allgegenwärtig empfindet. Ingrid beschreibt, wie sie selbst sich angesichts des Überflusses »ganz klein« fühlt. Hier dokumentiert sich erneut die hohe Relevanz von Emotionen in dieser Orientierung, ebenso darin, dass sie ausführlich und eloquent ihre Gefühlszustände und ihr Körpererleben während des Fastens beschreiben kann und mehrfach bestätigt, sich beim bzw. nach dem Fas-
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ten »wunderbar« zu fühlen. Eine derartige Selbsterfahrung würde ihr der Verzicht nur auf Schokolade nicht ermöglichen. Da diese Erfahrung aber für Ingrid eine notwendiger Aspekt des Fastens ist, kann Schokoladenverzicht für sie kein Fasten sein. Hier zeigt sich der Unterschied zur prinzipienorientierten Gruppe: Während Befragte wie Michael oder Sabine das Thema »Überfluss« unter ethischen Vorzeichen abhandeln, über Ungerechtigkeit und Klimaschäden sprechen und die Notwendigkeit allgemeinen Verzichts betonen, hat Ingrid einen völlig anderen Zugang zu demselben Phänomen, wie sich auch in folgender Passage zeigt: »Ich stehe manchmal vor dem Regal irgendwo im Supermarkt und denke mir, ich wollte jetzt gerne Erdbeermarmelade, so, weil wir haben keine Erdbeermarmelade […]. Dann steh ich davor, dann gibt’s da zehn verschiedene Sorten, da denk ich mir so ›was, erwarten die jetzt ernsthaft von mir, dass ich die rumdrehe und nach dem Zuckergehalt gucke und Salzgehalt und nach dem Fruchtanteil?‹, da hab ich keine Lust drauf, das finde ich so schizophren, wer braucht sowas? Wer braucht zehn verschiedene Sorten? Oder/ja, das ist doch irre, allein das Marmeladenregal ist ja in jedem Supermarkt das, was hier dazwischen passt [sie gestikuliert zwischen zwei Säulen im Raum, der Abstand beträgt mehrere Meter], ne, wo… für wen? Also ja und von daher, das/also sowas lehne ich grundsätzlich ab, aber das fällt mir dann auch leicht, zu sagen, okay, dann lass ich das halt, dann hole ich mir halt ein paar Erdbeeren, püriere die und mach mir die aufs Brot und fertig. Dann, ja/da hab ich dann so viel Widerstand in mir, dass ich überhaupt nichts mitnehme [lacht]. Das ist doch irre, was wir da machen, manchmal. Und das stoppt auch keiner. Da ist also niemand da, der aufsteht und sagt, ›sagt mal, geht’s noch?‹ Frühere Generationen brauchten es auch nicht und haben wunderbar überlebt.« Ingrid verhandelt das von ihr wahrgenommene Problem des Überflusses auch hier in einem Orientierungsrahmen, der von ihrem (Selbst-)Empfinden bestimmt ist: Sie empfindet den Überfluss als überfordernd (»erwarten die jetzt ernsthaft von mir, dass ich die umdrehe?«), als unnötig für eine ausreichende Versorgung von Menschen (»Frühere Generationen brauchten es auch nicht«) und »irre« bzw. »schizophren«. Damit nutzt sie Ausdrücke für psychische Krankheiten statt der ethischen Urteile, die man bei Michael, Sabine oder Jonas findet. Sie empfindet »Widerstand in mir« – dies scheint kein Widerstand im politischen Sinne zu sein, sondern ein innerlich empfundenes Widerstreben. Dementsprechend besteht die Lösung für Ingrid dann darin, sich von diesem Problem so weit wie möglich zu entfernen: Statt Marmelade kauft sie frische Erdbeeren. Etwas Ähnliches dokumentiert sich im Interview mit Marion, die im Rahmen ihrer Fastenzeiten seit vielen Jahren eine einwöchige Saftfastenkur (eine Form des Heilfastens) durchführt, seit einiger Zeit jedoch auch zusätzliche Vorhaben für die gesamte vierzigtägige Passionszeit hat. Marion ist Anfang 50, von Beruf Pflegefachfrau und lebt mit ihrem Mann in der Schweiz. Das Paar hat zwei erwachsene Kinder.
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Marion gehört zu einer Täufergemeinde, ist aber seit mehreren Jahren in der reformierten Gemeinde engagiert, in der ihr Mann Pfarrer ist. Kennengelernt habe ich sie über die Facebookfastengruppe von Andere Zeiten, in der sie sehr aktiv ist. Im Interview mit Marion lassen sich zwei Orientierungsrahmen rekonstruieren: Neben der Orientierung an Selbsterfahrung zeigt sie eine Orientierung an Relationen. Sie wird dementsprechend in der Vorstellung dieser Gruppe erneut begegnen. Hier sollen jedoch die Aspekte der Orientierung an Selbsterfahrung im Vordergrund stehen. In einem Jahr kombinierte Marion ihr Fasten mit einem Selbstversuch, den ihr Sohn für ein Schulprojekt durchführen sollte. Er hatte sich vorgenommen, in der Fastenzeit gemäß der Paleo-Diät zu essen, die sehr viel Fleisch enthält, obwohl Marion eigentlich fleischarm kocht, gerade während der Fastenzeit. Sie beschreibt die Situation wie folgt: »Und ich hab dann überlegt, ja, was mach ich jetzt? Und hab dann gefunden, okay, dann mach ich das jetzt. Und dann haben wir alle paleo gegessen«. Diese Bereitschaft, während der Fastenzeit auch etwas auszuprobieren, das im Gegensatz zu den alltäglichen Grundsätzen steht – und dies auch nicht ethisch zu bewerten – ist ein markanter Unterschied zur Prinzipienorientierung, bei der moralische Grundsätze konsequenter als im Alltag enaktiert werden. Dasselbe Muster dokumentiert sich auch an Marions Vorhaben im Jahr des Interviews, auf Zucker zu verzichten. »Also auf die Idee, wirklich ganz auf Zucker zu verzichten, kam ich eigentlich, weil ich wirklich einen erheblichen Zucker-, vor allem Schokoladenkonsum gehabt habe, es ging mir vor einem Jahr psychisch sehr schlecht, Probleme bei meiner alten Arbeitsstelle, und das habe ich mit Schokolade kompensiert. Ich habe auch immer schon/schon lange, immer wenn ich sehr müde bin, esse ich Kaffee oder Schokolade oder beides, und das/wenn ich dann so merke, dass ich nicht konsumiere, weil ich will, oder es nicht mehr genieße, sondern es mit mir das macht, das nervt mich. Und weil das wirklich so bisschen radikal war, mein Konsum, also ich ging nie einkaufen, ohne nicht einen Schokoriegel zu kaufen, ehm, da hab ich gefunden, jetzt muss ich irgendwas wirklich Radikales machen, und jetzt lass ich mal den Zucker ganz weg.« Erwähnenswert an dieser Passage ist, dass Marion hier den Topos des bewussten Konsums einbringt, der bereits von Michael und Martina erwähnt wurde. Im Gegensatz zu Michael und Martina, die ihren »unbewussten« Konsum in erster Linie aus der Perspektive »das ist nicht so, wie es sein sollte« betrachten, spielt dieser normative Aspekt für Marion keine Rolle. Stattdessen legt sie den Fokus auf ihr emotionales Empfinden: Erstens führt sie ihren erhöhten Schokoladenkonsum auf ihr psychisches Unwohlsein zurück (nicht etwa, normativ gedacht, auf einen ›Mangel an Selbstbeherrschung‹). Zweitens fußt ihr Beschluss zu einer »radika-
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len« (wenn auch zeitlich begrenzten) Gegenmaßnahme nicht darauf, dass sie die Kontrolle über ihren Konsum verliert (»dass ich nicht konsumiere, weil ich will, […] sondern es mit mir das macht«), sondern vielmehr darauf, dass dieser Kontrollverlust zu einer Genussminderung führt und sie dies »nervt«. Ihre Hoffnung ist dementsprechend auch nicht ein Rückgewinn der Kontrolle um der Kontrolle willen, sondern um Schokolade wieder genießen zu können: »Also für mich ist auch klar, ich werde nicht ohne Zucker leben nachher […]. [W]as ich gedacht hab, was ich mal ausprobiere, ist, Schokolade zu machen, also nur mit Kakaobutter und Kakaopulver, mal schauen, wie das schmeckt. […] Aber grundsätzlich werde ich nachher, eine Woche nach Ostern, mich wieder so ziemlich normal ernähren, bis auf dass ich hoffentlich meinen Schokokonsum in so einen normalen Genussrahmen reinbringen werde, ähnlich wie ich vorher vom Kaffee gesagt habe, dass ich das, was ich konsumiere, eben auch genieße, und bewusst konsumiere.« Auch Michael spricht in seinem Interview von »bewusstem Konsum«, er verbindet diesen aber nicht mit Genuss. Wenn Martina in der Fastenzeit überprüft, ob sie erste Anzeichen eines Alkoholproblems an sich beobachten kann, dann äußert sie dabei nicht das Ziel, Alkohol nach Ostern umso sorgloser genießen zu können. Für Marion ist der erneuerte Genuss von Schokolade hingegen ein explizites Ziel. Zugleich dokumentiert sich in manchen Vorhaben von Marion eine größere Ergebnisoffenheit. So beschreibt sie in ihrer Eingangserzählung: »Also ich faste seit vielleicht etwa 16/17 Jahren, anfangs war es immer nur eine Woche, und seit ein paar Jahren mache ich das sieben Wochen, ehm, ich… bin da relativ locker, ich habe auch nicht große spirituelle Erwartungen, dass mir jetzt da jetzt irgendwas Großes passiert, sondern ich lass mich auf etwas ein, und gehe da durch, und ziehe meine Schlüsse daraus. Das sind eigentlich…/ich hab gerade heute so ein bisschen überlegt, gerad so was meine Ernährungsweise anbelangt, hab ich durch das Fasten auch sehr viel gelernt. Also meine Ernährung ein Stück weit so Jahr um Jahr ein bisschen umgestellt, ehm… ja. Und hab auch wieder/immer wieder interessante Sachen bemerkt. […] Und das ist so/also so/also für mich ist Fasten auch immer was mit Gewohnheiten durchbrechen. Etwas, das ich immer mache, ohne zu überlegen, und manchmal macht es mehr mit mir als dass ich es gewollt mache. Das finde ich das, was mir gefällt am Fasten, dass ich mal da Stopp sage, und das einfach wie ein bisschen reflektiere.« Marion nennt als ersten inhaltlichen Punkt zum Fasten ihre innere Einstellung, die sie als »relativ locker« charakterisiert. Sie hat dabei keine konkreten Erwartungen, sondern geht mit Experimentierfreude in die Fastenzeit, um anschließend zu reflektieren, was ihr an ihrem Experiment gefiel und was nicht. Marion formuliert
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insgesamt vorsichtig und zurückhaltend, als sei sie selbst nicht ganz sicher, was ihre Intentionen und Erwartungen sind. Das wird auch durch ihr Abschlussstatement in der Eingangserzählung bestärkt: Ihr gefällt, dass sie durch das Fasten ihre Gewohnheiten »einfach wie ein bisschen reflektier[t]«. Die vorsichtige Formulierung könnte einerseits eine gewisse Bescheidenheit ausdrücken. Eine weitere und m.E. wahrscheinlichere Lesart ist aber, dass die kognitive Auseinandersetzung mit ihrem jeweiligen Fastenvorhaben noch nicht alles ist. Es ist zwar wichtig für Marion, sich habitualisierte Vorgänge reflexiv zugänglich zu machen, indem sie sie für die Dauer der Fastenzeit unterbricht. Aber zugleich scheint das Fasten eine weniger kognitive Dimension zu haben, auf die Formulierungen wie »sich darauf einlassen« oder »durch etwas hindurchgehen« hindeuten. Hier dokumentiert sich einerseits ihre Orientierung an Relationen (s. dazu Kapitel III.2 c), andererseits aber auch ein Interesse daran, jedes Jahr eine neue Selbsterfahrung zu machen. Sie zeigt ein großes Interesse daran, aus dem Fasten etwas Neues über sich selbst und ihren Körper zu lernen und entsprechend eine große Offenheit für verschiedene Fastenvorhaben. Dies unterscheidet sie von Angelika, Anke und Ingrid. Geteilt wird die Offenheit für verschiedene Vorhaben von Lisa, die formuliert: »[I]ch sehe es [das Fasten] mehr so als eine Zeit des Ausprobierens, ob das nicht etwas für, eh, für längerfristig ist. Als Sprungbrett nehm ich das. Zieh das dann auch durch, und wenn es mir gefallen hat, führ ich das fort, und wenn nicht, dann kommt der Alltag wieder.« Als besonderes Fastenerlebnis nennt sie: »Das erste Mal, wo ich Heilfasten gemacht hab. Also auf Nahrung verzichtet. Das war wirklich… wirklich schön. Ich hab trotzdem Arbeitsalltag gemacht, obwohl man das nicht machen sollte, und… ehm… aber ich hatte trotzdem so viel Energie… und festzustellen, was der Körper dann so alles aushalten kann… das fand ich schon beeindruckend. Ich hab dazu auch, leider ist es nicht mehr online, von Arte über Heilfasten in der Medizin eine Dokumentation gesehen. Und die fand ich sehr interessant und daraufhin wollte ich das ausprobieren […] Das fand ich sehr spannend und deswegen mach ich das jetzt jedes Jahr…« Begriffe wie »interessant« und »spannend« begegnen auch in den anderen Interviews dieser Gruppe sehr häufig. Diese Wortwahl ist einerseits ein Hinweis darauf, dass das Fasten nicht nur unmittelbar erlebt, sondern auch reflektierend gedeutet wird. Andererseits legt es aber auch den Schluss nahe, dass für diese Gruppe eine gewisse Freude am Entdecken beim Fasten eine wichtige Rolle spielt. Dies lässt sich auch bei Ingrid beobachten, die sich zwar auf Heilfasten als Fastenform konzentriert, dies jedoch unterschiedlich ausgestaltet, indem sie z.B. Ayurveda-oder Saft-
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fastenkuren ausprobiert. Ingrids Interesse an neuen Erfahrungen führen sie zugleich bisweilen an ihre körperlichen Grenzen: »[D]ie längste Zeit, die ich mal gefastet habe, waren wirklich 42 Tage, weil ich einfach wissen wollte, wie das ist… da hab ich dann schon/also da hab ich dann gemerkt, dass das Gehirn dann sehr, sehr, sehr langsam arbeitet [lacht], das ist tatsächlich so, also ich wollte nach Hause fahren und hab mich dann/also stand vor einem anderen Haus, ne. Und hab das auch erst gemerkt, als ich davor angehalten hab, und hab dann so gedacht ›was mach ich eigentlich jetzt hier, ich bin hier nicht zuhause‹, musste einfach die Straße noch weiter runterfahren, aber da… da lässt es dann wirklich… lässt es nach. Und da dann hab ich gedacht ›jetzt höre ich auf‹, da hab ich mich erschreckt [lacht].« Ingrid nennt als Ausgangpunkt für ihre extrem lange Fastenkur Neugier: »weil ich einfach wissen wollte, wie das ist«. Sie beobachtete ihren Körper auch hier aufmerksam und beendete die Fastenkur, als sie merkte, dass ihre kognitive Leistung abnahm. Sie gibt an, dass sie dies damals »erschreckt« hat, und erzählt zugleich humorvoll von diesem Erlebnis – es scheint, dass es keinen nachhaltigen negativen Eindruck auf sie hinterlassen hat, sondern sie es in erster Linie als interessante neue Information über ihren Körper versteht (›Das passiert also, wenn ich 42 Tage lang faste‹). Angesichts des Interesses an neuen Erfahrungen und Lernmöglichkeiten in dieser Gruppe ist es nicht erstaunlich, dass Lisa ihre Fastenerfahrungen als kontinuierliche Entwicklung darstellt. Lisa ist Anfang 30, Erzieherin in einem Kindergarten und lebt mit ihrem Mann in einer Kleinstadt in Nordrhein-Westfalen. Der Kontakt mit ihr kam durch die Facebookfastengruppe von Andere Zeiten zustande. Sie erzählt biographisch ausführlich und detailreich von ihren Erfahrungen – ihre Eingangserzählung ist mit gut zehn Minuten Dauer die längste aller Interviews und kann deshalb nicht in Gänze zitiert werden. In ihrer Erzählung verwebt sie zudem ihre Fastenerfahrungen mit ihrer Glaubensgeschichte bzw. ihrer persönlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen Religion, ohne dass ich danach gefragt hätte. Dabei wird deutlich, dass beide Aspekte in einem Zusammenhang stehen, aber zugleich ist klar, dass das Verhältnis zwischen Fasten und Religion auch einem starken Wechsel unterworfen war. So beginnen Lisas persönliche Erfahrungen damit, dass sie im Kommunionsunterricht dazu aufgefordert wurde, als »Opfer für Jesus« und Teil der katholischen Tradition zu fasten. Ihre ersten Verzichtsgegenstände waren Süßigkeiten, Nintendo und Fernsehen. Im Alter von 14 Jahren begann Lisa, sich mit anderen Religionen auseinanderzusetzen und lernte, dass Fasten eine religionsübergreifende und diverse Praxis ist. Zugleich trat sie in Distanz zum Katholizismus. Mit 18 Jahren hatte sie sich von ihrem christlichen Glauben losgesagt, identifizierte sich als Atheistin
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und hatte auch am Fasten kein Interesse mehr. Während ihres diakonischen Jahrs nach dem Abitur entdeckte sie die Fastenzeit wieder: »Jetzt nicht auf spirituellem Weg, sondern eher so zum Abnehmen, als Frühjahrskur, weil, ehm, in jeder Kultur gibt es Fastenzeiten, […] und dann hab ich einfach gedacht, ja, ich mach das mal. So’n paar Kilos bis zum Sommer runter… joa. Hab dann festgestellt, ich hab dafür viel Anerkennung und Bewunderung bekommen, und ehm auch mein Körper hat sich verändert, das hab ich auch wahrgenommen, das fand ich ganz gut… joa.« Während ihrer Ausbildung zur Erzieherin und in den ersten Berufsjahren fastete Lisa nicht, sondern lebte »eigentlich nur auf Genuss« und belohnte sich mit Essen gern für bestandene Klausuren und abgeleistete Praktika. Auch Religion spielte in dieser Zeit keine Rolle für sie. Nach einem Wechsel ihrer Arbeitsstelle kehrte sie zum Fasten im Sinne einer Diät zurück und praktizierte dies für einige Jahre immer in der Fastenzeit. Ein Jahr später trat die Auseinandersetzung mit Religiosität wieder in den Vordergrund, was sich auch auf ihre Fastenpraxis auswirkte: »[D]a hab ich gesagt, 2017, ›komm, besuch mal ein Osterfest wieder‹. In der katholischen Kirche. Zwischenzeitlich wurde ich nämlich/hab ich meine Konfession gewechselt. Da war ich/bin ich jetzt evangelisch, aber ich besuch trotzdem noch gerne katholische Kirchen und Feste. Ich lass mir das einfach offen. 2018 hab ich das [Fasten im Sinne einer Diät] wieder mit einer Kollegin zusammen gemacht, […] und da hab ich dann auch, eh, von Andere Zeiten diesen Fastenwegweiser kennengelernt. Zum ersten Mal bestellt, und auch die Briefe mir zukommen lassen, und da war es irgendwie auch schon so, dass es nicht mehr nur ums Abnehmen geht, sondern auch um, eh, ja, einfach nur was für sich selber, ohne dass man Bewunderung haben möchte. Mal eine Zeit, die nur für mich ist, und, ehm… ja, weiß ich nicht, wie man das formulieren soll… […] Hab dann auch ein Fastentagebuch geführt, und bin auf der Facebookseite von Andere Zeiten dazu getreten… joa. Was noch… und ich hab mal ein Plusfasten durch diese Facebookgruppe kennengelernt und dann auch ausprobiert. Ich hab, glaub ich… ich hab’s aufgeschrieben. Gelassenheit hab ich als Plusfasten genommen. Genau. Das hat ganz gut funktioniert. War aber auch sehr schwer. Würd ich sagen. Also am Anfang ist es immer sehr schwer. […] Letztes Jahr hab ich anders gefastet, ich war krank, ich hatte Depression, und, ehm… ich wollte aber trotzdem fasten. Der Arbeit/der Alltag war sehr, sehr anstrengend und ich hab mir dann gesagt okay, ich … … ich mach wieder sowas wie ein … ja, ich hab/ich hab aufgeschrieben, ich faste sowas wie meckern. Ich höre auf zu meckern und versuch, positive Gedanken in meinen Kopf reinzulassen oder zuzulassen und mich ein bisschen in Gelassenheit zu üben, auch durch die… durch die Therapie von der Depression hab ich auch ganz viele Meditationsübungen kennengelernt und Achtsamkeitsübungen, die hab ich dann nochmal verstärkt ehm, ausgelebt… das war halt ganz anders. Da war das wirklich nur für
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mich und ich hab das auch glaub ich nur einmal auf Facebook erwähnt, also ansonsten auch niemandem mitgeteilt, also das war ohne Publikum, sagen wir’s mal so.« Im Jahr 2018 bedeutet Fasten für Lisa zum ersten Mal, etwas »für sich« zu tun: Sie nimmt sich vor, mehr Gelassenheit zu üben und nicht darauf zu achten, ob sie Anerkennung oder Bewunderung erhält. Zugleich probiert sie zum ersten Mal eine Heilfastenkur aus. Als Lisa ein Jahr später an einer Depression erkrankt, rückt das Diätfasten ganz in den Hintergrund und stattdessen der Aspekt der Selbstfürsorge in den Vordergrund: Sie wendet die Techniken aus ihrer Therapie verstärkt an und entscheidet sich für ein »Mecker-Fasten«, das ihr dabei helfen soll, sich auf positive Gedanken zu fokussieren. 2020, im Jahr des Interviews, kombiniert Lisa sämtliche Arten des Fastens, die sie bisher ausprobiert hat: Ein Diät-Fasten (im Sinne einer Ernährungsumstellung und regelmäßigem Sport) praktiziert sie bereits seit Januar, in der Fastenzeit kam der Verzicht auf Süßigkeiten, Alkohol und Kaffee dazu und zudem hat sie sich vorgenommen, im Alltag mehr auf ihre Umgangsformen zu achten: »Dass ich mein eigenes Handeln überdenke und vielleicht ein bisschen umändere. Ein bisschen freundlicher, nicht direkt rummeckern… [lacht]. Ja, sowas halt. Das zieht sich eigentlich durch die ganzen Jahre. Und doch kann man den Charakter nicht ändern. Man kann’s versuchen, aber es klappt nicht.« Diese Äußerung macht deutlich, dass Vorhaben in diese Richtung für sie die größte Herausforderung darstellen, an einer anderen Stelle im Interview bezeichnet sie es als »Kampf gegen sich selber«. Dennoch ist dieser »Kampf« für sie offensichtlich lohnend: »Ansonsten gehört es mit dazu, für mich jetzt, die ersten zwei Wochen oder eine Woche, dass man da gerade die Krise kriegt. Mit sich selber. Ich finde, das gehört dazu […], ohne das würde etwas fehlen, dann würde es mir ja nicht schwerfallen.« Lisa beschließt ihre Eingangserzählung mit der Bemerkung, dass sie in ihrem Arbeitsumfeld bezüglich des Fastens auf Unverständnis trifft. Dies ist ihr jedoch egal: »Ich mach es für mich, nicht für ein Publikum, ich denke mal, vor zehn Jahren hätte mich das getroffen und ich hätte es vielleicht überdacht, aber mittlerweile… ich bin erwachsen. [lacht] Joa. So viel dazu.« In Lisas Eingangserzählung lassen sich insgesamt drei Erzählstränge rekonstruieren. Erstens wird Fasten von einer von der katholischen Religion vorgeschriebenen Praxis zu etwas, das Lisa – nach einigen Jahren Unterbrechung – freiwillig wählt. Das selbstgewählte Fasten gestaltet sie dabei zunächst als Diät ohne jeglichen spirituellen Aspekt. In der Gegenwart scheint das Fasten wieder eine spirituelle Dimension zu haben, allerdings fällt es Lisa schwer, diese in Worte zu fassen. Zweitens probiert Lisa in ihren selbst gewählten Fastenzeiten unterschiedliche Dinge aus: Diät-Fasten, Plusfasten, Heilfasten, Verzicht auf einzelne Lebensmittel. Der mentale oder emotionale Aspekt (Gelassenheit, Freundlichkeit, positive Gedanken) tritt
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im Lauf der Zeit stärker in den Vordergrund. Drittens orientiert Lisa sich inzwischen weniger an den (positiven oder negativen) Reaktionen anderer Menschen. Dies begründet sie selbst mit dem Satz »ich bin erwachsen«. In allen drei Erzählsträngen dokumentiert sich eine Orientierung an Selbsterfahrung: Lisa wählt ihre Fastenvorhaben danach aus, was sich für sie gut und angemessen anfühlt, ebenso ihre Religionszugehörigkeit. Zugleich zeichnet sich ab, dass Lisa ihre Erfahrungen als Entwicklung ihres Selbst schildert. Dabei ist diese Entwicklung in ihren Augen offensichtlich noch nicht zu einem Ende gekommen, da sie beschreibt, gerade an den mentalen Fastenvorhaben wieder und wieder zu arbeiten. Auch wenn es ihr schwerzufallen scheint, möchte sie es weiter versuchen. Die Orientierung an Selbsterfahrung hat für sie die klare Konnotation der Selbstfindung und der Lossagung von äußerlichen Einflüssen wie religiösen Vorschriften oder dem Wohlwollen ihres sozialen Umfelds. Die Imagination potenzieller zukünftiger Entwicklungen und der Rückblick auf schon vollzogene Schritte spielen ebenfalls eine Rolle. So antwortet Lisa auf die Frage, ob es im aktuellen Fastenwegweiser eine Seite gab, die ihr besonders gefiel: »Also generell find ich das toll, das machen sie nämlich auch jedes Jahr, einzelne Tage, wo man selber etwas reinkritzeln darf oder reinschreiben darf. Und diese Seiten find ich besonders schön. Zu eigenen Gedanken, wo man dann auch dazu angehalten ist, intensiv mal drüber nachzudenken oder auch spontan was aufzuschreiben, und dass man dann hinterher liest und denkt: ›Woah, okay, da stehe ich gerade. Auf meinem Lebensweg.‹ Die hatten dieses Jahr schon eine Gedankenkette. ›Wenn ich das hätte, dann wäre ich so.‹ Und dann ›dann wäre ich so‹ nochmal umändern in ›wenn ich so wäre, dann…‹ und immer so weiter. Das fand ich interessant.« Dass Lisas Verhältnis zur Religion komplex ist, wurde bereits deutlich. Sie erzählt: »Ich wurd’ katholisch aufgezogen, hab damit gebrochen in der Teenagerzeit und hab für die Arbeit meine Konfession gewechselt. Weil mit dem Katholischen konnte ich nicht mehr leben, bin dann zum Evangelischen gewechselt, damit ich mehr Arbeitsplatzmöglichkeiten hab.« Lisas Konversion erfolgte aus pragmatischen Gründen, nicht aufgrund eines ausgeprägten Selbstverständnisses als Protestantin oder eines Zugehörigkeitsgefühls zur Institution EKD oder einer Ortsgemeinde. Entsprechend empfindet sie sich als »nicht der Kirche zugehörig« und betrachtet die Kirche »von außerhalb, losgelöst«, obwohl sie seit Jahren als Betreuerin auf kirchliche Freizeiten mitfährt und auch durchaus gerne Gottesdienste besucht – je nach Feiertag entweder einen katholischen oder einen evangelischen: »Ich find zum Beispiel das Osterfest in der katholischen Kirche viel schöner, aber Weihnachten geh ich in die evangelische Kirche«. Sie empfindet dies nicht als Widerspruch oder Inkonsequenz. Weiterhin vertritt Lisa eine universalistische Einstellung. Sie ist der Auffas-
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sung, dass alle Religionen mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede haben und findet sich auch in anderen Religionen wieder, was sie als »Weltenbürger«-Dasein bezeichnet. Nachdem Lisa ihre Glaubensbiographie geschildert hat, frage ich: Antonia: »Und würdest du sagen, da in deinem persönlichen… ich weiß nicht, spirituellen oder Glaubensleben verändert sich durch das Fasten irgendwie auch was? Hat das da nochmal einen Einfluss drauf oder…?« Lisa: »Ne, gar nicht. M-m. … Vielleicht nur, dass ich achtsamer werde in der Zeit.« Antonia: »Kannst du das bisschen beschreiben, was du damit meinst?« Lisa: »Ja, es ist ja auch Frühlingsanfang, man geht auch raus in die Natur, ich wander viel und man wird halt, wenn man fastet, kommt man ja zu sich selber. Man guckt auf sich selbst. Das ist/also für mich ist es eigentlich egozentrisch, weil ich es ja nicht für Gott oder für Jesus mache. Und dadurch weitet sich aber der Blick für meine Umgebung. Ich bemerke ›oh, sieh mal, diese Blumen blühen schon, obwohl wir gerade erst Anfang März haben, die sind eigentlich erst in zwei Monaten dran…‹ und auch zwischenmenschlich kann ich aus dieser Stille, die dann in mir selber entsteht, dadurch mehr nach außen hin beobachten.« Lisa antwortet auf die Frage, ob ihr Fasten gegenwärtig etwas mit Spiritualität zu tun hat, spontan »gar nicht«, korrigiert sich dann aber und nennt zwei Aspekte von Achtsamkeit. Einerseits wird sie aufmerksamer gegenüber der Natur und andererseits gegenüber sich selbst. Diese Achtsamkeit hat für sie eine spirituelle Dimension. Sie hält zugleich fest, dass ihr Fasten »eigentlich egozentrisch [ist]«. Die erhöhte Achtsamkeit während des Fastens ist für sie nicht durch und durch religiös codiert, sondern hat lediglich »schon was Spirituelles, glaub ich«. Der eigentliche Fokus liegt auf dem persönlichen Erleben. Lisas und Marions Orientierung ist stark vom Paradigma der Selbsterfahrung geprägt. Beide wählen Fastengegenstände, die für sie herausfordernd und teilweise gegen ihr Naturell oder gegen ihre gewöhnlichen Wertvorstellungen gerichtet sind. Dabei zeigen sie eine große Offenheit für neue, ungewohnte Modi der Selbsterfahrung und schildern ihre Fastenerfahrungen als Teil einer allgemeinen Entwicklung, die nicht besonders zielgerichtet verläuft und in der man auch aus den Experimenten, die man hinterher nicht in den Alltag übernimmt, viel lernen kann. Lisas komplexes und teilweise problembehaftetes Verhältnis zur Religion, gerade institutionalisierter Religion, ist (mit Ausnahme von Marion) ein charakteristischer Punkt für diese Orientierung. So erzählt Ingrid: »wir sind evangelisch, aber/das heißt, ich bin vor Jahren aus der Kirche ausgetreten, mein Mann ist Kirchenmitglied nach wie vor, und ich bin um diese ganzen
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Missbrauchsgeschichten, als das war/hab ich mich da getrennt und gesagt, das kann ich alles so nicht mittragen, was aber nicht heißt, dass wir uns nicht nach wie vor in der Gemeinde engagieren/es ist also, ja.« Ähnlich wie bei Lisa fällt hier eine Distanz zur Organisation Kirche auf, die bei Ingrid interessanterweise ein ähnliches Muster aufweist wie ihre Ausführungen zum Thema Überfluss: So wie Ingrid angesichts des überfüllten Marmeladenregals so viel inneren Widerstand verspürt, dass sie am Ende gar keine Marmelade kauft, will sie auch die Fälle sexuellen Missbrauchs in der Kirche »nicht mittragen« und distanziert sich deshalb durch ihren Austritt rechtlich (und vermutlich auch symbolisch) von der Institution Kirche. Dies ging aber nicht mit einer emotionalen Abkehr von Glaubensinhalten oder einer sozialen Abkehr von der lokalen Gemeinde einher: Ingrid ist weiterhin in ihrer Ortsgemeinde aktiv. Auch beim Fasten empfindet sie sich als Teil der christlichen Glaubensgemeinschaft: »Ja, es ist in der christlichen Tradition, es ist eine Verbundenheit mit anderen, die auch fasten, das spielt mit rein, […] also ich fühl mich da in der Linie dieser Tradition, so als wenn da Millionen Menschen schon hinter mir stünden, also von vorderen Generationen sag ich jetzt mal so, eh, und die Freude auf Ostern dann, also Auferstehung und jetzt gibt’s wieder was zu essen und so, ja, also dann dieses/das zu feiern, dieses Zelebrieren, das ist sicherlich schon was Wunderschönes, also auch dann, wenn die Kerzen angezündet werden in dieser Osternacht also und dann weiß man, am nächsten Tag kann man jetzt wieder was essen und dann geht das wieder/baut man so langsam wieder auf, das find ich schon auch immer sehr, sehr unterstützend, aber ich brauchte es jetzt/diese anderen Male im Jahr vermisse ich es nicht unbedingt.« Sich in einer Tradition zu wissen, stärkt für Ingrid die empfundene Verbindung zu anderen Fastenden: Ihr Verbundenheitsgefühl transzendiert dabei räumliche und zeitliche Abstände. Insgesamt scheinen die Passionszeit und das Osterfest ihr eine hilfreiche und willkommene Unterstützung zu sein, wenn sie in dieser Zeit fastet, sie macht aber auch deutlich, dass sie nicht darauf angewiesen ist. Die Selbsterfahrung im Fasten an sich ist für sie nicht spirituell aufgeladen. Bezogen auf das Osterfest stehen – ähnlich wie in Bezug auf die Wahrnehmung von Überfluss – emotionale Aspekte im Vordergrund: »Also wenn dann die Glocken wieder anfangen zu läuten oder sowas, also ich finde das sehr, sehr berührend. Ja. Deswegen wir gehen dann auch zum Ostergottesdienst und wenn dann das Licht von vorne durch die ganze Kirche läuft, von der Dunkelheit zu hell, bei uns wird das sehr schön zelebriert auch, das ist schon immer ganz/also ganz toll. Also auch wirklich, also, ehm, diese Gemeinschaft, diese Verbundenheit, das ist schon eigentlich nicht zu toppen. Also einfach vom Gefühl
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her. Ich brauch/braucht man gar keinen Verstand dazu, einfach so von der/vom Gefühl und von der Intuition her ist das/find ich das großartig.« Das Osterfest ist für Ingrid wie das Fasten stark emotional und weniger kognitiv besetzt. Das Glockengeläut, die allmähliche Illumination der Kirche und das Gefühl der Gemeinschaft und Verbundenheit mit anderen berühren sie stark. Das Paradigma des emotionalen Erlebens scheint sich also sowohl in ihrem Fasten als auch in ihrem religiösen Erleben des Ostergottesdienstes niederzuschlagen. Eine Auseinandersetzung mit theologischen Inhalten wird dagegen nicht erwähnt; Ingrid appelliert auch nicht – wie es in der Orientierung an Normen häufig der Fall ist – an die theologische Bedeutung des Osterfestes. Die bleibende Bedeutung der Osternacht trotz eines ambivalenten Verhältnisses zur Kirche verbindet Ingrid mit Angelika, die erzählt: »Ich meine, ich bin zwar sehr katholisch erzogen worden, weil ich/ich komme gebürtig aus [Ort] und das ist ja wirklich eine rein katholische Gegend, und ich bin auch die Volksschuljahre, die ich in der Schule war, da war ich auch in einer Konfessionsschule, das war eine rein katholische Schule […]. Und da ist man dann wirklich, also… da wurde man dann schon von der Schule her… dann auch so erzogen. Ne, man hatte eben halt so bestimmte Sachen, wir gingen/wir mussten zweimal in der Woche morgens schon vor der Schule um zehn nach sieben in der Kirche sein und haben da so eine Pflichtmesse, nannte man das damals, und da mussten wir Kinder rein, ob wir da morgens im Dunkeln alleine hinlaufen mussten oder nicht im Winter, das war völlig egal, das wurde von der Schule diktiert. Und auch sonntags dann nochmal wieder in die Kindermesse und solche Sachen alle, also da bin ich eigentlich so ein bisschen, naja, geschädigt eigentlich, würde ich mal sagen [lacht], ich meine, es ist jetzt nicht so, dass ich jetzt so gar nicht mehr gläubig bin, aber so dieses Intensive, was dann so in der Kinderzeit war und was man ja wirklich oft auch als Last empfunden hat, weil das wirklich also so diktiert wurde, das hat einen leider sehr verleitet, ne. Und ja das hätte ein bisschen lockerer sein müssen, dann hätte man da vielleicht noch ein bisschen mehr hintergestanden, dann würde man jetzt auch vielleicht nicht sagen, ›ne ich will das jetzt gar nicht mehr so‹, aber man musste einfach immer. Und dann hat man irgendwann gesagt, ›so jetzt bist du schon genug in der Kirche gewesen, und jetzt reicht’s eigentlich‹, ne. Obwohl ich schon, also, auch was mache, in, hier in [Ort], ich mach also mittlerweile hier [im Stadtteil] in der [evangelischen] Gemeinde mehr als wie [im Stadtzentrum] in der katholischen Gemeinde, weil ja, gut, man ist hier so vor Ort und man hat mit denen hier in der Gemeinde mehr zu tun als wie [im Stadtzentrum]. Weil man hier mehr vor Ort ist, man kennt die Leute mehr und man hat sie um die Ecke und jeder, der da ist, den kennt man. So ist das eben halt hier so in der Gemeinde. Aber das ist ja auch völlig egal, ob das nun evangelisch oder katholisch ist, das spielt ja eigentlich auch heutzutage/ist das ja lockerer und spielt
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das auch eigentlich keine Rolle mehr, finde ich. Aber so, dass ich das speziell so davon abhängig mache dann so von der Kirche, das mache ich eigentlich nicht.« Angelika beschreibt sich als »ein bisschen geschädigt« durch ihre streng katholische Erziehung. Sie lacht dabei zwar ein wenig, aber an ihrer Erzählung wird deutlich, dass sie die religiös geprägte Erziehung in ihrer Kindheit teilweise als unangenehm empfunden hat. Angelika ist trotz ihrer negativen Erfahrungen nicht aus der katholischen Kirche ausgetreten oder konvertiert, nimmt allerdings mittlerweile häufiger an Angeboten der örtlichen evangelischen Gemeinde teil als an denen der katholischen. Dies scheint in erster Linie einen pragmatischen Grund zu haben: Der Stadtteil, in dem sie lebt, liegt abseits vom Stadtzentrum und damit von der (einzigen) katholischen Kirche der Stadt. Die evangelische Kirche befindet sich dagegen in ihrem Stadtteil, in dem die Leute leben, die sie kennt. Zugleich schreibt sie der Konfessionszugehörigkeit – so wie Lisa – keine besondere Bedeutung zu: »heutzutage ist das ja lockerer und spielt das auch eigentlich keine Rolle mehr«, ob man evangelisch oder katholisch ist. So wie Ingrid und Lisa beschreibt auch Angelika eine emotionale Empfänglichkeit für bestimmte Feiertage wie Ostern: »Hmm ja, was mir also auch eigentlich immer noch so anhängt von früher, so dieser Karfreitag oder so wie jetzt gestern dieser Palmsonntag, das wurde ja immer sehr gefeiert […], wir hatten in [Heimatort] ja auch immer so eine Karfreitagsprozession, das wurde da von dem Kloster organisiert, dieses Jahr fällt das das erste Mal aus [aufgrund der Corona-Pandemie], da geht ja immer so eine Prozession durch die Stadt, wo einer so das Kreuz trägt, und da wird dann dieser ganze Leidensweg so nachgespielt, also da bin ich auch nach wie vor immer noch oft hingefahren, weil mich das doch auch sehr immer mitgenommen hat auch und Ostern… […] da bin ich zwar immer auch noch mit hingegangen, so in die Kirche, und manche sagen auch, ›gut wenn du nicht jede Woche gehst, brauchst du an solchen Feiertagen auch immer nicht gehen‹ so wie Weihnachten und Ostern, aber ich habe das dann trotzdem immer noch gemacht, weil so ein bisschen hängt einem das dann doch immer noch so nach und wenn ich dann in der Kirche bin, dann finde ich da auch so diese Feierlichkeiten dann doch auch immer sehr schön und es geht einem doch auch immer noch zu Herzen, finde ich. Also für mich sehe ich das dann jedenfalls so.« Angelika verspürt nach wie vor eine emotionale Bindung an Rituale, die sich mit dem Osterfest verbinden: Karfreitagsprozession oder Ostergottesdienste »gehen noch zu Herzen«. Zugleich erscheint ihre religiöse Identität als unabhängig von Institutionen, wie es auch bei Lisa und Ingrid der Fall ist, und es dokumentiert sich ein klarer Fokus auf Subjektivität (im Gegensatz dazu, was ihr als Kind »diktiert« wurde): »für mich sehe ich das dann jedenfalls so«.
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Auch Anke berichtet von negativen Erfahrungen mit der Kirche in ihrer Vergangenheit, die zu ihrem Kirchenaustritt führten, jedoch nicht zu einem Bruch mit dem Glauben. Als vor einigen Jahren eine neue Pfarrperson in ihre Gemeinde kam, fand sie einen neuen Zugang zum kirchlichen Leben und trat wieder in die evangelische Kirche ein.
β) Das Bezugsproblem der Selbsterfahrungsorientierten: Herausforderungen moderner Individualität Welches Problem wird hier bearbeitet? Die Orientierung an Selbsterfahrung, gerade in Kombination mit dem Motiv der Unterbrechung des Alltags, legt nahe, dass für die Befragten dieser Gruppe eine Selbsterfahrung dieser Art im Alltag nicht möglich ist. Beobachtungen aus der Soziologie zu den Besonderheiten moderner Individualität sollen helfen, dies präziser zu fassen und verständlicher zu machen. Es ist dabei zu bedenken, dass die moderne Gesellschaft funktional differenziert ist.86 Dies bedeutet, dass jedes Funktionssystem nur für sich selbst zuständig ist und anderen Funktionssystemen keine Vorgaben machen kann. Individuen sind täglich in mehrere gesellschaftliche Funktionssysteme involviert: »Ein Individuum muss in der Gegenwart an vielen verschiedenen Sozialsystemen gleichzeitig partizipieren und kann gerade deshalb in kein System vollständig aufgenommen werden.«87 Der »ganze Mensch« wird in Funktionssystemen nicht adressiert, sondern das Individuum als (nicht) zahlungsfähiges, als (nicht) krankes, als (nicht) Rechtsbeistand bedürftiges Selbst: »Man kann nicht Menschen den Funktionssystemen derart zuordnen, daß jeder von ihnen nur einem System angehört, also nur am Recht, aber nicht an der Wirtschaft, nur an der Politik, aber nicht am Erziehungssystem teilnimmt. Das führt letztlich zu der Konsequenz, daß man nicht mehr behaupten kann, die Gesellschaft bestehe aus Menschen; denn die Menschen lassen sich offensichtlich in keinem Teilsystem der Gesellschaft, also nirgendwo in der Gesellschaft mehr unterbringen.«88 Kein Funktionssystem kann eine Rahmenperspektive auf die Gesamtgesellschaft bieten oder das Individuum in all seinen Facetten adressieren. So kommt es »insgesamt zu einer Fragmentierung und Pluralisierung der individuellen Lebensführung, die ›ganzheitliche Bezüge‹ immer unwahrscheinlicher machen. Das Individuum erlebt sich zerteilt in höchst unterschiedliche und nicht selten auch
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Vgl. Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Zweiter Teilband (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997). Karle, Isolde: Praktische Theologie (=LETh 7, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020), S. 39. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 744.
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sich widersprechende Erwartungs- und Anspruchszusammenhänge.«89 Damit geht eine hohe Komplexität einher, die noch vervielfacht wird, wenn man neben den Funktionssystemen auch die sozialen Bezüge bedenkt, in denen Individuen sich bewegen: »Wie Personen handeln werden, wird nicht zuletzt davon abhängen, wie andere Personen handeln werden. Soziale Interdependenzen multiplizieren somit Zukunftsungewißheit.«90 Das Fasten in der »Selbsterfahrungsgruppe« erscheint als latente Bearbeitungsstrategie für genau diese Problematik gewählt zu werden. Es handelt sich beim Fasten um etwas, das die Befragten für sich selbst tun, nicht für »das große Ganze« wie bei der Gruppe der Prinzipienorientierten und auch nicht für eine vertiefte Verbindung in der Gruppe der Beziehungsorientierten. Das Fasten erfüllt die Funktion, ihnen zu zeigen, dass sie trotz der bisweilen überfordernden Optionenvielfalt der Moderne nicht die Fähigkeit verloren haben, für sich selbst richtige Entscheidungen zu treffen. Aus funktionaler Perspektive ist der Stolz, den sie über das Gelingen ihrer Fastenvorhaben empfinden, deshalb logisch: In der modernen Gesellschaft ist es alles andere als selbstverständlich, sich mit einer Entscheidung einfach nur »gut« zu fühlen. Es ist auffällig, dass in dieser Gruppe körperliche Formen des Fastens eine größere Rolle zu spielen scheinen als in der »Prinzipiengruppe« bzw. dass die Befragten der Selbsterfahrungsgruppe ihr Körperempfinden selbst bei ähnlichen Vorhaben stärker in den Vordergrund rücken. So verzichten z.B. sowohl Angelika als auch Martina in der Fastenzeit oft auf Süßigkeiten und bringen dies auch beide in Verbindung mit der Sorge um die eigene Gesundheit. Während für Angelika im Vordergrund steht, wie es ihr selbst damit geht (»man fühlt sich einfach besser« bzw. »ich bin auch so gut wie nie krank«), geht Martinas Verzicht auf ein normatives Prinzip zurück, das in diesem Fall sogar religiös codiert ist: »Mein Körper ist mein Körper, und was ich mit dem mache, ist auch meine Entscheidung. […] Mein Körper, mein Leben ist ein Geschenk, und da denke ich schon, dass dahintersteht, ›geh da bitte schön sorgfältig mit um‹. Natürlich hab ich auch das Recht, ein Geschenk wegzuschmeißen, wenn es mir nicht gefällt, aber an der Stelle… ich glaube, dass Gott etwas anderes von mir erwartet.« Martina nimmt das theologische Orientierungsschema »Gott schenkt Menschen das Leben und einen Körper« in ihren Orientierungsrahmen auf. Unter diesem Gesichtspunkt verhandelt sie ihren Süßigkeitenverzicht und das Thema Gesundheit. Auf ihr eigenes Körperempfinden kommt sie dagegen gar nicht zu sprechen,
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Karle, Isolde: Tiefe Adressierung. Körperlichkeit zwischen Verdrängung und Aufwertung, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik 58 (2014), S. 179–189, S. 181. Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1019.
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während es bei vielen Selbsterfahrungsorientierten im Fokus steht. Karl-Heinrich Bette beobachtet, »daß Menschen auf gesellschaftlich erzeugte Überforderungssyndrome oftmals durch Rückgriff auf ihre körperliche Nahwelt reagieren. Diese repräsentiert einen Fluchtpunkt, der Konkretheit, Gegenwärtigkeit und Authentizität als erreichbare und herstellbare Erfahrungskategorien erscheinen läßt. Wenn Individuen immer weniger in der Lage sind, eine sinnvolle Einheitsformel für ihr Dasein zu finden, leuchtet es ein, wenn mit dem Körper eine Instanz verstärkt in den Blickwinkel gerät, die nicht erst symbolisch als Einheit hergestellt und stabilisiert werden muß, wie die Identität, sondern als eine kompakte, in sich abgeschlossene biologische Ganzheit bereits vorhanden ist.«91 Dies erklärt, warum körperliches Handeln in dieser Orientierungsgruppe eine tendenziell größere Rolle spielt als in den anderen und vom Verzicht auf Süßigkeiten über gravierendere Ernährungsumstellungen wie Marions Zuckerverzicht bis hin zum Heilfasten bei allen Befragten begegnet (wobei die Intensität des körperlichen Erlebens vermutlich unterschiedlich hoch ist). In Bezug auf den Körper ist aus soziologischer Perspektive zunächst festzuhalten, dass er von der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft genauso betroffen ist wie das Individuum. Der Körper »versteht sich in der funktionsdifferenzierten Gesellschaft nicht mehr von selbst. Er zerfällt entsprechend der unterschiedlichen Kommunikations- und Funktionsbereiche in viele plurale Perspektiven«.92 Dies führt auf der einen Seite zu einer weitgehenden Exklusion des Körpers aus diversen Funktionssystemen, z.B. großen Teilen der Arbeitswelt, des Wirtschaftssystems oder des Bildungssystems: »Wo hochelaborierte Spezialsprachen Kommunikationen engführen und selbstreferentielle Funktionssysteme freigesetzt werden, die in ihren Operationsmodi relativ unabhängig von personalen Gesichtspunkten arbeiten, verliert der Körper seine gesellschaftliche Bedeutung.«93 Auch die Entwicklung moderner Technik sowie die Digitalisierung tragen dazu bei.94 Mit Karl-Heinrich Bette lässt sich jedoch auch beobachten, dass es zu Prozessen kommt, die als »Rache des Körpers an der Gesellschaft«95 verstanden werden können: »Durch Temposteigerung, Zeitknappheit, Intransparenz und Anonymität kommen Effekte und Nebenwirkungen zustande, die nicht einfach verhallen oder verpuffen, sondern auf der humanen Ebene in Form von Entfremdungserscheinungen, Streßerfahrungen oder psychischen Krankheiten viru-
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Bette, Karl-Heinrich: Körperspuren. Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit (Bielefeld: transcript 2 2005), S. 37. Karle: Tiefe Adressierung, S. 179. Bette: Körperspuren, S. 25. Vgl. a.a.O., S. 27f. A.a.O., S. 32 (Hervorhebung original).
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lent werden.«96 Hierfür scheinen die an Selbsterfahrung Orientierten ein Gespür zu haben, wenn z.B. Ingrid sagt, das Fasten als »me time« und »innere Einkehr« erleben zu wollen, bei der sie intensiv auf die Signale ihres Körpers zu hören versucht: »[D]er Körper kommt mir dann ja entgegen«. Entsprechend gibt es auch Bereiche, in denen der Körper eine umso größere Rolle spielt und aufgewertet wird, z.B. im Gesundheitssystem, beim Sport oder im Hinblick auf Sexualität.97 Hierzu gehört auch das bereits erwähnte Feld der Schönheit und Schlankheit. Dabei handelt es sich nicht nur um eine Gegenreaktion auf die Verdrängung des Körpers aus anderen Bereichen, sondern der Fokus auf den Körper enthält vielmehr ein besonderes Potenzial: Er ermöglicht eine intensive Erfahrung des Hier und Jetzt, die ansonsten in der Gegenwart eher selten geworden ist: »Das Individuum wird absorbiert von Imperativen aus ganz unterschiedlichen Funktionszusammenhängen, die nur zeitlich nacheinander abgearbeitet werden können. Es kommt dabei nicht nur zu Stresserfahrungen, sondern auch zu einer Erwartungsüberlastung der Zukunft: Das Gegenwärtige und Wirkliche erscheint permanent als Defizit, die Zukunft wird zum imaginären Ort, an dem alle Ansprüche abgearbeitet werden können bzw. müssen. Es kommt zu einer Schrumpfung der Gegenwart.«98 Hier bietet der Körper quasi einen Ausweg an, er fungiert als »Fluchtpunkt«99 für gegenwärtiges Erleben: »Indem Menschen bewußt auf ihre Körper einwirken, binden sie sich in eine permanent mitlaufende Erlebnisgegenwart ein«.100 Als besonders attraktiv gelten vielen Menschen dabei Körperpraktiken, die als »natürlich« wahrgenommen werden, da gerade sie eine maximale Distanz und eine vermeintliche Schlichtheit als Gegenbild zur komplexen Moderne zu versprechen scheinen – auch wenn es sich hierbei nur um die Suggestion von Natürlichkeit handelt, da auch diese Praktiken kulturell bedingt und geformt sind.101 Zu ihnen gehören auch die »Einbeziehung vormoderner Körpertechniken«102 , zu denen Fasten gezählt werden kann. Auch bei körperaufwertenden Praktiken wie Sport, Wellness oder eben bestimmten Arten des Fastens wird der Körper nicht wirklich ganzheitlich adres96 97
Ebd. Vgl. Karle: Tiefe Adressierung, S. 180f. S. zum Sport Bette: Körperspuren oder zur Sexualität Lewandowski, Sven: Sexualität in Zeiten der funktionalen Differenzierung. Eine systemtheoretische Analyse (Bielefeld: transcript 2004). Im religiösen Bereich s. Ernsting, Heike: Salbungsgottesdienste in der Volkskirche. Krankheit und Heilung als Thema der Liturgie (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2012). 98 Karle: Tiefe Adressierung, S. 181. 99 Ebd. und Bette: Körperspuren, S. 37. 100 Bette: Körperspuren, S. 37. 101 Vgl. a.a.O., S. 39. 102 Ebd.
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siert – aus systemtheoretischer Perspektive ist dies auch gar nicht möglich.103 Doch verbindet sich mit der Körpererfahrung die Suggestion von Ganzheit: Die »Sehnsucht, sich als Ganzheit zu erleben, [scheint] der Motor für die Körperorientierung vieler spätmoderner Individuen zu sein. Denn das Erleben des eigenen berührbaren und spürbaren Körpers vermag eine nicht-virtuelle, unhinterfragbare Identitätsversicherung zu geben oder doch jedenfalls zu suggerieren.«104 Somit eröffnet die Arbeit am eigenen Körper Individuen einen relativ unkomplizierten Zugang zu einem Gefühl der Selbstermächtigung: »Der Körper stellt eine generell verfügbare und auch noch beeinflußbare Größe dar, bei der Wirkungen noch bewirkt, beobachtet und auch gefühlt werden können. Der Körper ist deshalb zu einem wichtigen Symbol für eine noch kontrollierbare Wirklichkeit geworden.«105 Daran, wie stark Angelika, Anke und Ingrid ihre freudige Überraschung und ihren Stolz betonen, »es schaffen zu können«, zeigt sich, wie besonders diese Erfahrung für sie ist. Sie erleben sich in einer positiven Art und Weise als die Person, die sie gerne sein wollen. Stand in der ersten Gruppe eine Auseinandersetzung mit dem »idealen Ich« im Vordergrund, ist es damit in dieser Gruppe eher ein »authentisches Ich«, mit dem das Fasten die Auseinandersetzung ermöglicht.
c) Orientierung an Relationen In dieser Gruppe ist das Fasten von besonderen Beziehungserfahrungen gekennzeichnet. Entscheidend ist ein Moment der Verbindung, das auf unterschiedlichen Ebenen erfolgen kann: auf der individuellen Ebene, indem über eine veränderte Selbstwahrnehmung die Beziehung zu sich selbst bearbeitet wird, auf der sozialen Ebene, indem mit Fastengruppen eine besondere Form der Gemeinschaft gesucht wird, und auf der religiösen Ebene, indem eine erhöhte spirituelle Sensibilität erfahren wird, die zu einer Belebung der Gottesbeziehung führt. In dieser Gruppe lässt sich eine ausgesprochene Affinität zum Heilfasten beobachten: Alle Befragten in dieser Gruppe haben es mindestens zweimal ausprobiert, die meisten führen es jedes Jahr durch. Im Unterschied zur Orientierung an Selbsterfahrung wird Heilfasten hier explizit nicht nur als körperliche Reinigung verstanden, sondern als ganzheitliche Übung mit ausgeprägt geistlicher Dimension erlebt. Die geistige Dimension bedeutet eine Veränderung der Selbst- und Weltwahrnehmung der Fastenden, die diese sehr schätzen. Dieses Erleben der Fastenzeit scheint einen mystischen Kern zu haben, der sich kaum verbalisieren lässt und am ehesten durch die Momente der Überschreitung und Verbundenheit sowie durch die dadurch empfundene Intensivierung des Lebens umschrieben werden kann. 103 A.a.O., S. 45. 104 Karle: Tiefe Adressierung, S. 182 (Hervorhebung original). 105 Bette: Körperspuren, S. 38.
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Dies hat Auswirkungen auf die Spiritualität der Befragten, ihr Gemeinschaftsleben und die Gestaltung ihres Alltags: Sie wünschen sich »mehr Konzentration auf Gott« und setzen sich mit existenziellen Fragen auseinander, räumen tiefgründigen, persönlichen Gesprächen hohe Priorität ein und nehmen sich mehr Zeit, über den Tag nachzudenken oder Tagebuch zu schreiben. Diese intensiven Erfahrungen von Beziehungen und von Hingabe an ein unkontrollierbares Geschehen werden von den Fastenden in der Regel als besondere Qualität der Fastenzeit aufgefasst, die ihr Alltag ihnen nicht bietet.
α) Das Interviewmaterial: Fasten als Beziehungsgeschehen Die Darstellung dieser Orientierung beginnt mit einem Ausschnitt aus der Eingangserzählung von Lydia. Lydia ist Ende 50, verheiratet und hat erwachsene Kinder. Sie gehört zur Herrnhuter Brüdergemeinde, engagiert sich jedoch auch in einer landeskirchlichen evangelischen Gemeinde, in der sie gemeinsam mit ihrem Mann, der Allgemeinmediziner ist, und dem Pfarrer jedes Jahr in der Passionszeit und im Advent eine Heilfastengruppe anbietet. Ich kenne sie, da ich in dieser Gemeinde 2015 mein Gemeindepraktikum gemacht und damals auch an der Fastengruppe teilgenommen habe. Das Interview mit ihr musste wegen der Pandemie übers Telefon durchgeführt werden. Lydia beschreibt in ihrer Eingangserzählung zunächst ihre veränderte Selbstwahrnehmung beim Heilfasten: »[B]ei dem ersten Fasten […] war ich wirklich euphorisiert, ne. Also ich, ich hab, ehm, also die Endorphine sind nur so geströmt, und ich hatte eben das Gefühl, auf einer Insel zu sein. Also man bleibt eigentlich in dem Umfeld, wo man ist, aber man ist trotzdem in einem besonderen Raum. […] [D]as Erleben, dass man nicht hinter der Zeit herrennt, sondern dass die Zeit hinter einem ist, […] auch zu begreifen, ein Drittel der Arbeit, also der/ist eben die Darmarbeit. Also ein Drittel der Energie, die wir/die geht da rein und die ist dann auf einmal da. […] [E]s hat innerlich was gemacht, es hat/es ist ja auch wirklich eine Reinigung, das muss man sagen, man hat ja so das Gefühl, es ist so ein Hausputz für den Körper und dann eben zu merken, was ist/wie verschieden Fasten laufen, dass man Fastenzeiten hat, wo die Gedanken strömen, dass man Bücher schreiben könnte, dass Ideen kommen und dass es Fastenzeiten gibt, wo man sehr, sehr viel aktiv sein kann, also das ganze Haus auf den Kopf stellen kann, aber dass es eben auch Fasten gibt, wo man/ja, sich einfach runterfährt total. Aber wie gesagt, es ist/die erste Erfahrung hat es bewirkt, dass wir das weitergemacht haben, weil wir einfach gemerkt haben, was das mit uns macht.« Einige Aspekte des von Lydia als »euphorisierend« charakterisierten Gefühls sind körperlich: Der Energiezugewinn durch die Einstellung der Verdauungstätigkeit und der klassische Heilfasten-Topos der Reinigung (»Hausputz für den Körper«). Diese Aspekte sind bereits in der vorigen Gruppe (z.B. Ingrid, Angelika) begegnet.
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Für Lydia hat das Fasten jedoch auch eine affektive Dimension, für die sie mehrere sprachliche Bilder findet: »auf einer Insel sein«, »in einem besonderen Raum sein«, »die Zeit ist hinter einem«. An anderer Stelle formuliert sie pointiert: »[W]enn du fastest, bist du eigentlich sehr fühlig und sehr offen, etwas mitzunehmen, also dein Herz halt zu füllen, weil der Bauch ist leer und dadurch hat der andere mehr Raum, was aufzunehmen. Also das Herz und einfach die Seele und das ist einfach eine größere Offenheit in dem Moment auch… ja, anderes aufzunehmen und zu denken, wenn man nicht den Bauch voll hat.« Sprachlich kondensiert sich dieses Erleben in ihrer Formulierung »es hat innerlich was gemacht« bzw. »wir haben gemerkt, was das mit uns macht«. Hier zeigt sich ein wichtiger Unterschied zur Orientierung an Selbsterfahrung: Während dort das aktive Ausprobieren und Gestalten eine wichtige Rolle spielt, geht es Lydia und anderen Befragten dieser Gruppe eher darum, eine Erfahrung zu machen, die man zwar selbst initiiert, deren Verlauf man aber nicht vollständig kontrollieren kann (und auch nicht will). Die Befragten der Selbsterfahrungsgruppe, die Heilfasten praktizieren, erwähnen zwar auch diese affektive Dimension, gehen allerdings nicht genauer auf sie ein. Für die Befragten dieser Gruppe steht sie dagegen im Vordergrund, während die körperlichen Aspekte des Fastens nur knapp behandelt werden. So betont Lydia, dass für sie und ihren Ehemann nicht in erster Linie die gesundheitlichen Vorteile der Grund sind, warum sie seit Jahrzehnten immer wieder heilfasten, sondern die Tatsache, dass Fasten etwas »mit uns macht«. Der Reiz liegt gerade darin, Kontrolle ein Stück weit abzugeben und zu erleben, dass sich etwas an einem ereignet. Dieses Motiv der Hingabe bzw. Kontrollabgabe ist ein wichtiger Inhalt dieser Orientierung: »[E]s ist eben ganz verschieden. Es kann auch sein, dass man/dass man auf gewisse Sachen wartet und es kommt dann eben nicht, sondern es geht auf einmal in eine andere Richtung. Also ich würde sagen, es hat keinen Automatismus […], jeder erlebt es anders, und jedes [Fasten] ist anders.« Der zweite wichtige Inhalt ist der Aspekt der Relationalität, der sich in einer Vielzahl von Passagen dokumentiert. So schätzt Lydia es sehr, mit ihrem Mann Christian gemeinsam fasten zu können: »[D]as ist natürlich eine total schöne Sache, dass wir das gemeinsam tun. Also das genieße ich erstmal, dass ich wirklich weiß, ich kümmer mich eben auch gar nicht drum, ich halt die Brühe bereit, ne, und sonst sind wir eben in der gleichen Situation. Das ist mal so, mal so, es ist ja nicht immer, dass es ganz, ganz viel voranbringt, aber es ist eben doch eine Gemeinschaft, die wir haben dadurch. Dass wir gemeinsam so diesen Weg gehen. Es ist ja/man bewegt sich ja auf anderen Feldern, man
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ist aus der Zeit. Man ist ein bisschen raus, man ist in einem anderen Bereich drin. Ichs sag immer/ich hab ja gesagt, am Anfang kam es mir vor wie eine Insel. Du bist irgendwo in einem bestimmten Feld drin mit den anderen zusammen und das genießen wir auch sehr.« Am Fasten mit ihrem Mann hebt Lydia nicht in erster Linie den inhaltlichen Austausch hervor, sondern ein Gefühl der Gemeinschaft, das sich dadurch einstellt, dass man die besondere Erfahrung des Fastens gemeinsam macht. Dieser Aspekt der gemeinsamen Erfahrung zeigt sich ebenfalls an einer Passage, in der Lydia von der Fastengruppe erzählt, die sie mit ihrem Mann und einem Pfarrer anbietet. Die Gruppe führt immer gemeinsam eine siebentägige Heilfastenkur durch und trifft sich währenddessen jeden Abend. Dabei beginnen die Treffen jeweils im Gemeindehaus mit einem Austausch über den Tag, in dessen Rahmen Lydias Mann auch medizinischen Rat erteilt. Anschließend werden Übungen zur Entspannung und Körperwahrnehmung durchgeführt, zum Abschluss findet eine Kurzandacht in der Kirche statt. Lydia schätzt das gemeinsame Fasten in der Gruppe sehr, weil es den Austausch über Probleme und Erfahrungen ermöglicht und zudem zu einer besonderen Form der Gemeinschaft führt: Sie findet es »unglaublich, wie schnell man eine Gruppe wird. Also das ist wirklich eine Einheit, die sich ja dann auch wieder auflöst. Aber es ist eine Gruppe, wo eine Offenheit ist, das ist unglaublich. Also das ist für mich ein Phänomen.« Diese Gemeinschaft ist in Lydias Erleben so stark, dass Menschen sich in ihrem Rahmen auch auf Dinge einlassen, die ihnen sonst fremd sind: »[Zum geistlichen Teil hat mir mal] ein Mitfaster gesagt: ›Frau Roth, ich würde doch nie sieben Tage hintereinander eine Andacht mir antun. Und in die Kirche gehen.‹ Aber der hat das getan. Und das ist für mich eben eine wunderbare Art, also indem ich, was ja in unserer Gesellschaft sehr wichtig ist, der Körper und Gesundheit, indem ich den Körper ernst nehme und etwas für den Körper tue, wo die Leute merken, das tut mir gut, eben den Leuten Brücken baue in die geistliche Welt.« Das »Brückenbauen« ist ein charakteristischer Aspekt dieser Orientierung: Die Befragten bemühen sich oft darum, auch andere Menschen zu erreichen; mehrere von ihnen gestalten selbst eine Fastengruppe oder haben dies in der Vergangenheit getan. Aus methodischer Perspektive fällt dabei auf, dass Lydia das gesellschaftliche Orientierungsschema ›Gesundheit ist wichtig‹ sensibel aufnimmt und es gezielt einsetzt, um anderen Menschen »Brücken zu bauen«. Für ihr eigenes Erleben des Fastens hat das Thema Gesundheit kaum Wichtigkeit – sie findet Heilfasten zwar gesund, spricht aber nicht über ihr Körperempfinden oder darüber, wie das Fasten sich auf ihre Gesundheit auswirkt. Teil ihres persönlichen Orientierungsrahmens
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ist das Schema ›Gesundheit ist wichtig‹ nicht, doch sie setzt es pragmatisch ein, um Beziehungen herzustellen. Es ist in dieser Gruppe insgesamt ein tiefes Bedürfnis nach dem Erleben von Gemeinschaft, intensiver Verbindung zu anderen und dem Teilen von Erfahrungen beobachtbar. Umgekehrt wird es von den Befragten sehr geschätzt, von anderen Fastenden angeregt zu werden. Hier verbindet sich die Relationalität mit dem Aspekt der eingeschränkten Kontrollierbarkeit: Wie bereichernd jede spezielle Fastenzeit ist, haben die Befragten nicht selbst in der Hand, sondern wird auch in hohem Maß von ihren Mitfastenden geprägt. Dabei ist die Gruppe der Mitfastenden nicht auf konkrete Fastengruppen beschränkt. So berichtet Lydia davon, dass einige Menschen, die in früheren Jahren die Fastengruppe besucht haben, aus der Distanz mitfasten, wenn sie in einem Jahr keine Zeit haben, zu den abendlichen Treffen zu kommen. Ebenso hilft ihr auch das Gefühl, dass in der Passionszeit »ja ein gewisser Schwung überhaupt in der Gesellschaft ist, einen anderen Weg zu gehen«, an den die Fastengruppe anknüpfen kann. Als letzter Aspekt von Relationalität dokumentiert sich in Lydias Erzählung, dass in der Gruppe am Ende der Heilfastenkur eine Geldspende eingesammelt und an einen gemeinnützigen Verein übergeben wird, den die Gruppe gemeinsam ausgesucht hat: »[D]as sind für mich dann so Freudigkeiten auch, dann mit den Leuten zu reden von der Küche [für wohnungslose Menschen, an die in diesem Jahr die Spende ging], die Übergabe zu machen und in Kontakt zu treten, und einfach sich zu verbinden.« Hier scheint durch, dass das Fasten für Lydia durchaus auch eine ethische Dimension hat – sie formuliert dies mit der Frage »Wo kann unser Verzicht anderen helfen?« Dies weist eine gewisse Ähnlichkeit zur Orientierung an Prinzipien auf, da viele Befragte dieser Orientierung ebenfalls ein ausgesprochenes Bewusstsein für ethische Fragen zeigen. Dennoch verläuft die Logik hier in entgegengesetzter Richtung: Während bei der Orientierung an Prinzipien zuerst ein Problem wahrgenommen wird, das die Fastenden dann durch gezielten Verzicht zu beheben suchen, wird hier zunächst verzichtet – und im Nachgang überlegt, ob und wie dieser Verzicht anderen zugutekommen kann. Im Vordergrund steht hier der relationale Aspekt des »Helfens«: Der Fokus liegt darauf, konkreten Menschen vor Ort zu helfen, nicht darauf, ein abstraktes bzw. gesellschaftliches Problem wie die Klimakrise oder den Umgang der Gesellschaft mit Alkohol zu bearbeiten. Wurde bereits festgehalten, dass die starke Gewichtung der Relationalität die Hingabedimension stärken kann, gilt dies auch umgekehrt: Das Moment der Hingabe eröffnet neue Möglichkeiten für spirituelle Dimensionen. So formuliert Lydia, dass es bei aller Unterschiedlichkeit der individuellen Fastenzeiten »auf jeden Fall so [ist], dass es eine große Sensibilität ist, dass Gott da doch anders reden kann mit einem, weil man ganz anders da ist.« Insofern erscheinen die beiden Dimensionen miteinander verwoben. Marion ist bereits in der vorigen Gruppe (Orientierung an Selbsterfahrung) begegnet, da sich in ihrem Interview zwei Orientierungsrahmen rekonstruieren las-
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sen. Von ihr ist schon bekannt, dass sie in jeder Fastenzeit eine einwöchige Saftfastenkur durchführt und zusätzlich in der Passionszeit immer neue Vorhaben ausprobiert. Dass das Fasten bei ihr nicht nur an Selbsterfahrung orientiert ist, wird an folgender Passage deutlich: »[F]ür mich ist aber auch klar, dass wie ich mit meinem Körper umgehe, ehm, oder wie ich mit Verzicht oder auch der Konfusion, die entstehen kann […], dass das irgendwo doch auch eine geistige Komponente hat. […] [I]nsofern, dass ich davon überzeugt bin, dass der Mensch eine Einheit ist. Also ich kann nicht/wie ich mit meinem Körper umgehe, hat immer eine spirituelle Komponente. Also, das hat sehr viel mit Selbstachtung zu tun, wer bin ich, ehm, so ein bisschen, ehm, ›Liebe Gott, den Herrn der Welt, mit ganzer Kraft, und deinen Nächsten wie dich selbst‹, also das geht gar nicht, das eine ohne das Andere. Und auch, dass ich im Fasten, denke ich, ich hab vorher gesagt, ich mag dann sehr phantasievoll kochen, ich denke, ich bin auch sonst hellhöriger auf Dinge um mich herum. Also ich denke, ich erlebe den Frühling intensiver, weil ich offener bin, ich erlebe Geschmack intensiver, ich erlebe vieles intensiver, ich komme auch mal an meine Grenzen, weil ich vielleicht irgendwann doch mal ein bisschen hungrig bin oder so, und das hat eine/also hat eine Komponente für auch mein spirituelles Leben, denke ich.« Marions Überzeugung, »dass der Mensch eine Einheit ist«, erinnert stark an Lydias ganzheitliche Konzeption des Fastens, die sowohl dem Körper als auch dem Geist guttut. Marion verknüpft dies nun explizit mit dem biblischen Gebot der Liebe zu Gott und dem Nächsten: Beides ist unmöglich, ohne sich selbst mit Liebe zu begegnen. Dadurch erhalten allein schon die körperlichen Aspekte des Fastens eine spirituelle Dimension – es geht hier nicht nur um Gesundheitshandeln, sondern ebenso um spirituell bedeutsame Selbstfürsorge. Diese scheint durch Marions Ernährungsexperimente, die zu intensiven Selbsterfahrungen führen, begünstigt zu werden: Ein genaues Gespür für sich selbst macht es für sie einfacher, für sich zu sorgen. Diese Selbstsorge ist jedoch untrennbar verwoben mit der Aufmerksamkeit für andere, denn Marion beobachtet an sich auch den Effekt, »hellhöriger« und »offener« zu sein. Dies führt sie im Folgenden weiter aus: »Also ich denke, es ist eine Zeit, wo ich, ehm, durch das Durchbrechen von Gewohnheiten, ganz egal, was es für Gewohnheiten sind, ehm, ich sensibler bin. Auf mich, auf meine Mitmenschen, auf Gott. Weil ich die Fühler stärker ausgestreckt habe und weil ich auch stärker merke, was macht das jetzt mit mir, wenn ich jetzt eben nicht esse oder wenn ich jetzt eigentlich Lust hätte auf das, was ich da koche, aber ich koche es nicht für mich, also dass ich so ein bisschen den Altruismus auslebe in einer extremen Form, ehm, das macht schon sehr viel mit meiner Person und mit meinem Verhältnis mit meiner Umwelt und somit eben gegen oben, zu Gott, halt auch.«
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Mehrere Aspekte erinnern stark an das Interview mit Lydia: Marion beschreibt hier den Zustand, den Lydia als »fühlig« bezeichnet hatte. Und so wie für Lydia hat diese Selbsterfahrung für Marion einen relationalen Aspekt: Sie ist offener für andere und für Gott. Dass Marion, während sie fastet, für ihre Familie weiterhin normal kocht, bezeichnet sie als extreme Form des Altruismus. Dieser Begriff bindet die Passage inhaltlich an das Doppelgebot der Liebe zurück: Marion sorgt im Fasten nicht nur für sich, sondern auch für andere, ähnlich wie Lydia es in ihrer Fastengruppe mittels der Geldspende tut. Auch für Marion ist die spirituelle Dimension des Fastens entscheidend: »[E]infach nur nichts essen, das hätte ich vermutlich schon lange aufgehört. Dass ich mich immer wieder freue jedes Jahr und mich auch immer wieder motivieren kann und suchen kann, ja, was möchte ich dann und was macht Sinn, das hat schon damit zu tun, dass das was Ganzheitliches ist.« Nicht zuletzt fällt auch hier die charakteristische Formulierung »das macht etwas mit mir« auf: Dieser Effekt des Fastens scheint sich eher zu ereignen, als dass sie ihn durch ihr Handeln aktiv herbeiführen kann. Ihr verändertes Selbstgefühl, ihre »Offenheit« und »Hellhörigkeit« ist keine automatische Folge aus ihrem Handeln, zwischen ihrer Handlung und dem Ereignis liegt vielmehr etwas Unverfügbares. Nicht zuletzt fällt in Bezug auf die spirituelle Dimension Marions zurückhaltende Sprache und ihr im Vergleich zu anderen Passagen häufigeres Stocken auf. Auch dies ist (mit Ausnahme von Lydia) typisch für diese Gruppe. Die Schwierigkeit, das Erlebte zu verbalisieren, dokumentiert sich auch deutlich in einer Passage aus dem Interview mit Günther. Günther ist Mitte 70 und Pfarrer im Ruhestand. Er praktizierte über Jahrzehnte in der Passionszeit Heilfasten, musste dies aber mittlerweile aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Günther berichtet: »[D]ie Leute in [meiner Gemeinde…], die haben immer gewusst, jetzt kommt die Passionszeit, der Bertz, der fastet wieder. ›Fasten Sie nicht?‹ ›Doch, ja.‹ ›Bekommt Ihnen das?‹ ›Ja, es bekommt mir.‹ ›Ja, was haben Sie denn davon?‹ Ich sag, ›ja, einen ganz anderen Kopf, ein ganz anderes Bild. Fasten macht frei.‹ ›Wieso macht das frei?‹, das können die Leute ja gar nicht nachvollziehen. Ja, dann müssen sie das mal ausprobieren, sonst können sie das auch nicht nachvollziehen. Ja, das ist ja so. Ja, und ausprobieren heißt ja doch im Grunde genommen, sich darauf einzulassen.« Die Passage ist aufschlussreich: Günther spricht in der Form eines Dialogs mit einem imaginierten Gemeindemitglied, den er vermutlich in ähnlicher Form oft geführt hat. Sowohl die Fragen des fiktiven Gemeindemitglieds als auch Günthers Antworten sind dabei prägnant und klar, doch auf die entscheidende Frage »Wieso
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macht Fasten frei?« folgt keine Antwort mehr. Der fiktive Dialog bricht ab und Günther wechselt in den Sprachmodus der Erklärung: »die Leute« müssen diese Frage stellen, weil sie es nicht von sich aus verstehen können. Dies legt nahe, dass es sich für ihn um eine Erfahrung handelt, die schwierig zu verbalisieren oder vielleicht auch so individualisiert ist, dass jede Person sie auf ihre eigene spezifische Art und Weise wahrnimmt. In jedem Fall ist für Günther das Erleben entscheidend, um das Gefühl des Fastens verstehen zu können (»dann müssen sie das mal ausprobieren, sonst können sie das auch nicht nachvollziehen«). Auch er selbst beschreibt das Gefühl nur knapp, er charakterisiert es an anderer Stelle mit der bereits bekannten Wahrnehmung, »während der Fastenzeit ganz anders aufnahmefähig« zu sein, hier mit dem Aspekt der Freiheit. Obgleich Günther bezogen auf die Selbstwahrnehmung beim Fasten nicht so eloquent ist wie Marion oder Lydia, wird klar, dass auch für ihn dem körperlichen Fasten eine besondere Qualität zu eigen ist, die sich ohne den totalen Nahrungsverzicht nicht evozieren ließe. Dies sorgt seiner Erfahrung nach einerseits für Bewunderung, andererseits aber auch für eine gewisse Distanz: Obwohl Günther berichtet, jedes Jahr von seinem Fastenvorhaben erzählt und andere zur Teilnahme eingeladen zu haben, kamen in seiner Gemeinde, wenn überhaupt, nur kleine Fastengruppen zustande. Wenn er die Erzählungen über Jesu 40-tägiges Fasten thematisierte, sorgten diese bei den anderen für »Erschauern« und auch ein Pfarrkollege von ihm war angesichts von Günthers Fastenpraxis sichtlich befremdet: »›Was, Sie fasten?‹, hat der mal zu mir gesagt, vor sieben Jahren, ja, ich sag, ›Bruder […], das ist eine persönliche Entscheidung, die hab ich mal getroffen und habe sie ausprobiert und finde sie gut und praktiziere sie immer in der Passionszeit‹, und und und… ja. Und ja, meint er, aber/wie ein Wunder beguckt. Zumindest wie eine Ausnahmeerscheinung.« Dieser Unterschied zu den Erfahrungen von Lydia und Marion zeigt, dass die andere Selbst- und Weltwahrnehmung auch eine isolierende Wirkung haben kann, wenn man allein fastet. Dies war für Günther teilweise auch belastend: Günther: »[W]as ich nur immer lästig fand, dass die Leute das belächelt haben.« Antonia: »War das extrem?« Günther: »Das war oft.« Antonia: »Okay. Leute in der Gemeinde, Leute in der Familie…?« Günther: »Leute in der Gemeinde, Leute auch im persönlichen Umfeld und meine Mutter ist schon tot, aber meine Mutter hat auch immer gelästert, fand das gar
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nicht gut, ›Junge, du fällst vom Fleisch‹… Das ist Quatsch, es fällt niemand, der fastet, vom Fleisch. Man nimmt zwar was ab, aber wenn man nicht aufpasst oder seine alten Gewohnheiten wieder praktiziert, hat man das sowieso wieder drauf. Ja.« An dieser Passage lässt sich ein aufschlussreicher Vergleich zu Martina und Michael aus der Gruppe »Orientierung an Prinzipien« anstellen: Auch diese beiden Befragten schildern Konflikte mit ihrer Familie und Bekannten anlässlich ihres Fastens. Allerdings liegen diese Konflikte auf der normativen Ebene: Martina ist irritiert darüber, dass ihre Verwandten nicht so ansprechbar auf die Risiken von Alkoholkonsum sind wie sie selbst und Michael grenzt sich von Menschen ab, die sich nicht selbst mit der Klimakrise auseinandersetzen, sondern »es die anderen machen lassen«. Für Günther dagegen liegt das Problem auf der emotionalen bzw. relationalen Ebene: Er fand es »lästig« (nicht: »unvertretbar« oder »problematisch«), dass er von Menschen belächelt wurde. Belastend war für Günther, dass auch Menschen, zu denen er eine enge persönliche Beziehung hatte, sein Fasten nicht verstehen konnten – nicht, weil ihr Verständnis normativ falsch war, sondern weil es die Beziehung belastete. Dies wird auch im folgenden kurzen Austausch deutlich: Antonia: »Und wenn Sie jetzt fasten, können Sie das nochmal beschreiben, was macht das mit Ihnen so? Was verändert das in Ihnen?« Günther: »Es macht eh, insofern was mit mir, als dass ich mich in, äh, einer Ausnahmesituation bewege, von der ich weiß, dass meine Umgebung nicht mitmacht. Nur einzelne. Jetzt, jetzt ohne Pfarramt sowieso. Ganz wenige.« Die eigentliche Frage, wie es ihm beim Fasten geht, beantwortet Günther ganz fokussiert darauf, wie es ihm im Verhältnis zu anderen geht. Das ist auffällig – die meisten Befragten antworten hier mit einer Beschreibung ihrer Gefühls- und/oder Gedankenwelt während des Fastens oder sie gehen auf Probleme ein, die ihnen manchmal in die Quere kommen. Für Günther ist dagegen die Relationalität die wichtigste Relevanzstruktur, auf die er sofort zu sprechen kommt. Dies zeigt deutlich, dass Beziehungen im Fasten für ihn eine hohe Wichtigkeit haben, auch wenn er diese nicht immer in Fastengruppen ausleben konnte. Fasten tangiert jedoch nicht nur seine Beziehung zu Mitmenschen, sondern auch zu Gott: »Man schläft lockerer. Und wird öfter wach in der Nacht. Und fängt dann an zu beten. Ich jedenfalls. […] Also es hat, es hat solche Nebenwirkungen. Dass man also tatsächlich, ehm… mit einem anderen Bewusstsein an seinen Lebensvollzug geht und auch da aneckt und auch selber sagt, jaja, das ist aber gut so, das nutz ich jetzt sozusagen dafür, dass ich also sozusagen mein Bet-Defizit, das ich immer habe, aufhole.«
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Hier dokumentiert sich dasselbe Muster der Verschränkung von körperlichen Effekten des Heilfastens (hier: leichter Schlaf) mit einer Intensivierung der Glaubenspraxis (hier: Beten) wie in den Interviews mit Lydia (»fühlig« sein steht in Verbindung damit, Gott besser hören zu können) und Marion (»extremer Altruismus« als gelebte Nächstenliebe). Auch der Aspekt der Kontrollreduktion und des Geschehenscharakters dokumentiert sich bei Günther, v.a. im folgenden Austausch: Antonia: »Was bedeutet Ihnen das, dass Sie das können, das Verzichten?« Günther: »Ja, ach, Sie wissen ja, ›ohn mein Verdienst und Würdigkeit‹, hat Luther so schön gesagt, also… Fasten als… Leistung des Glaubens, da bin ich eigentlich, eh, nicht der Richtige zu.« Antonia: »Also Sie würden sagen, das ist nicht so…« Günther: »[überlappend] als Frucht des Glaubens. Aber das ist ein Unterschied, ne.« Antonia: »Ja, auf jeden Fall. Wie würden Sie das beschreiben, als Frucht des Glaubens? Wie hängt das sozusagen zusammen?« Günther: »Ich nehme mir das vor, bekomme Mut, es zu tun und erlebe die Früchte hinterher als Geschenk, dass ich es kann. Das ist ein echtes Geschenk. […] das ist für mich eine Frucht des Glaubens. Die hat mich geprägt, die prägt mich immer noch und das empfind ich auch als besonderes Geschenk.« Günther ist es wichtig klarzustellen, dass er Verzichten-Können nicht als Leistung ansieht. Dies wäre für ihn theologisch nicht vertretbar. Stattdessen sieht er das Verzichten-Können als »Frucht des Glaubens«. Diese Stelle ist aus mehreren Gründen bedenkenswert. Zuerst scheint es, als ereigne sich hier etwas Mystisches: Günther entschließt sich zum Fasten, »bekommt dann den Mut, es zu tun«, und erlebt dies als »Geschenk«. Wie genau sich dies anfühlt, bleibt ungesagt – eventuell auch unsagbar, wie es bereits in seiner Formulierung »dann müssen sie das mal ausprobieren, sonst können sie das auch nicht nachvollziehen« angedeutet wird. Zum zweiten ist im Vergleich zu Lydia und Marion auffällig, dass Günther hier in einem dogmatischeren Duktus spricht, indem er Luther zitiert und auf den theologischen Unterschied zwischen Leistung und Glaubensfrüchten bzw. zwischen Werken und Gnade hinweist. Dies mag daran liegen, dass Günther selbst Pfarrer war, eventuell ist es auch eine Generationenfrage, denn Günther ist mit deutlichem Abstand der älteste Befragte. Ebenso ist denkbar, dass er mir als Theologin gegenüber theologisch »korrekt« sprechen oder auf seinen und meinen gemeinsamen
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Erfahrungshorizont des Theologiestudiums Bezug nehmen möchte. In der Essenz dokumentiert sich hier aber wieder der bereits bekannte Aspekt des Unverfügbaren: Was im Fasten passiert, kann nicht von ihm kontrolliert werden. Dies fasst er in den traditionellen Ausdruck »Frucht des Glaubens« im Gegensatz zu einer »Leistung«, die er zielgerichtet und selbstbestimmt anstreben kann. Dieser Aspekt der Hingabe an das Fastengeschehen, das »etwas mit einem macht«, wird zwar vor allem in Bezug auf das Heilfasten genannt, ist aber nicht darauf beschränkt, wie es im Interview mit Ida deutlich wird. Ida ist 60 Jahre alt, evangelisch und in der Öffentlichkeitsarbeit für zwei Kirchenkreise beschäftigt. Sie lebt allein in einer mittelgroßen Stadt in Nordrhein-Westfalen. Der Kontakt mit ihr kam über die lokale Fastengruppe zustande. Das Interview wurde aufgrund der Covid-19-Pandemie via Skype durchgeführt. Ida, die in der Fastenzeit immer auf Süßigkeiten und Alkohol verzichtet, berichtet: »[W]enn dann die sieben Wochen vorbei sind, ehm, dann kehre ich nicht sofort zu den Mengen Schokolade zurück, die ich vorher hatte. Also es hat dann schon auch ein Bedürfnis in mir verändert«. Das Fasten hat Idas Bedürfnis verändert, nicht etwa ihr Durchhaltevermögen oder ihr fester Entschluss, sich gesünder zu ernähren. Ida begibt sich ins Fasten und geht verändert daraus hervor. Ida hat zusätzlich zu ihrem Verzicht auf Alkohol und Süßigkeiten auch zweimal eine Heilfastenkur durchgeführt. In Bezug auf das veränderte Körpergefühl beim Heilfasten ist ihre Erfahrung allerdings untypisch für das Sample dieser Studie. Während alle anderen Befragten das Gefühl als überwiegend positiv beschrieben, ist Ida vor allem eine sehr herausfordernde Episode im Gedächtnis geblieben: »Ehm, also ich hab vor vielen, vielen Jahren Krebs gehabt, und während der Krebstherapie bin ich eine Zeit lang sehr, sehr schwach gewesen, ehm, hab Schwierigkeiten gehabt, ehm/also hab keinen Appetit gehabt und konnte nicht gut essen in der Zeit und, eh, in einer meiner beiden Fastenwochen gab’s einen Tag, wo ich morgens aufgewacht bin und mich so schwach gefühlt habe, wie ich mich damals während meiner Krebserkrankung gefühlt habe. Das war… schon ein sehr heftiges Erlebnis, wo also/ein heftiger Flashback, so 20 Jahre zurück, ehm, und da war es total gut, dass ich in einer Fastengruppe war. Dass ich abends in diese Fastengruppe gehen konnte und sagen konnte ›boah, mir geht’s heute ganz schlecht, aus den und den Gründen‹, und eine Pastorin hat diese Gruppe geleitet, die hat dann anschließend auch nochmal, eh, so eine halbe Stunde mit mir gesprochen, da war es schon gut, dass ich/dass ich ein Umfeld hatte, das mich dann auffangen konnte. Und das dann mich unterstützen konnte, sagen konnte, ›Mensch, was bist du heute für einen weiten Weg gegangen, das war ja sicher auch emotional sehr anstrengend heute für dich‹, das war schon… war für mich nicht ohne/mit diesem Flashback hatte ich überhaupt nicht gerechnet, das hatte ich überhaupt nicht auf dem Schirm, dass sowas passieren könnte, und es war schon/war schon sehr, sehr anstrengend.«
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Dass das fastenspezifische Körpergefühl nicht immer nur als beflügelnd und euphorisierend, sondern auch als äußerst belastend empfunden werden kann, ist ein wichtiger Befund dieses Interviews. Ebenso ist festzuhalten, dass Ida in ihrer Fastengruppe anscheinend nicht ausreichend darüber aufgeklärt worden war, dass beim Heilfasten starke Schwächegefühle auftreten können. Das Erlebnis hatte nachhaltige Auswirkungen auf sie: So vergewisserte sie sich vorher noch einmal, dass die Daten anonymisiert werden würden, da die folgende Erfahrung »doch sehr persönlich« sei. Offensichtlich – und verständlicherweise – fühlt sie sich nach wie vor verletzlich in diesem Kontext. Zugleich läuft ihre Erzählung auf die Beziehungen mit den anderen Mitgliedern ihrer Fastengruppe und die Pfarrerin zu, die sie emotional aufgefangen und in dieser Situation unterstützt haben. Darin zeigt sich ein Unterschied zur Orientierung an Selbsterfahrung: So beschreiben Angelika und Ingrid zwar auch bisweilen Schwierigkeiten beim Fasten (wenn auch nicht in diesem Ausmaß), erwähnen aber keinerlei soziale Ressourcen, auf die sie zur Überwindung zurückgreifen. Für Ida dagegen sind diese sozialen Ressourcen entscheidend und nehmen mehr als die Hälfte dieser Erzählpassage ein. Auch über diese spezifische Situation hinaus hebt Ida die gegenseitige Wertschätzung und Unterstützung in Fastengruppen (inklusive online-Fastengruppen) explizit hervor, ebenso nimmt sie ausgesprochen differenziert die Reaktionen ihrer Bekannten auf ihr Fasten wahr und berichtet, über Fragen zum Fasten oft und gern ins Gespräch zu kommen. Beides deutet darauf hin, dass die sozialen Dimensionen des Fastens für sie von hoher Bedeutung sind. Auch Marion beschreibt die Unterstützung über Fastengruppen (in ihrem Fall das Facebook-Fastenforum von Andere Zeiten) als wichtigen Rückhalt: »[D]as wirklich Schöne, wenn ich jetzt wieder aufs Forum zurückkomme, ist wirklich das Miteinander, das einander helfen, wenn es mal nicht so gut geht. Das ist auch jedes Jahr anders. Das find ich schon speziell, also jedes Jahr ist die Fastenzeit, kommen ja neue Leute dazu, ist anders. Eine andere Dynamik und meist ist dann das Jahr über, in der Adventszeit kommen auch wieder neue Leute dazu, die dann bleiben und die anderen gehen wieder. Find ich immer wieder spannend. Und sehr, sehr hilfreich. […] Ja, und ich find vor allem, der Support ist wirklich groß. Also, hat jetzt niemand gesagt, als ich gefragt hab, was soll ich denn machen, so, ›du bist ja blöd‹, oder so, sondern eigentlich sehr, ›Ja, wie machst du [das] denn?‹ also wirklich sehr unterstützend und nicht einfach irgendwie ›du bist halt blöd‹. Was ja sonst im Internet wirklich schnell mal passiert, dass man nicht sehr nett miteinander umgeht.« Auch Ingrid und Angelika aus der Gruppe »Orientierung an Selbsterfahrung« erwähnen Fastengruppen positiv, es geht bei ihnen eher um interessanten Input oder um Hilfe bei konkreten Fragen. Dementsprechend sind sie in diesen Gruppen auch
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nur punktuell aktiv. Marion hebt dagegen das dauerhafte Miteinander hervor, das für sie einen Wert an sich darstellt, sowie den freundlichen und unterstützenden Umgangston in der Gruppe. Sie orientiert sich damit auch hier an der relationalen Dimension des Austauschs in der Gruppe, weniger an der inhaltlichen. Claudia, die mit ihrem Mann und den gemeinsamen Kindern im Rhein-MainGebiet lebt und Teil einer freien Hauskreisgemeinde ist, betreibt selbst eine OnlineFastengruppe auf Facebook, die sich thematisch mit dem jeweiligen jährlichen Fastenmotto von »7 Wochen Ohne« auseinandersetzt. Hier verfasst sie täglich einen kleinen inhaltlichen Impuls für die anderen Gruppenmitglieder. Eine Passage, in der es um die Bedeutung von Verzicht geht, macht noch einmal die Abgrenzung zu den beiden anderen vorgestellten Orientierungen an Normen und an Selbsterfahrung deutlich. Hier erzählt Claudia: »[Verzicht] bedeutet mir vor allem, eeehm… dankbar sein zu können. Also so sehen zu können, was nicht selbstverständlich ist. Und was ich vielleicht gar nicht wirklich brauche, sondern was so… ehm, so als Sahnehäubchen so on top kommt, was ich sonst für selbstverständlich nehme.« Für Claudia ist Verzicht weder normativ konnotiert (»ich sollte verzichten, weil…«) noch auf eine Selbsterkundung bezogen (»was macht es mit mir, wenn ich verzichte?«). Stattdessen führt Verzicht zur Dankbarkeit dafür, dass es in ihrem Leben viele Dinge gibt, auf die sie überhaupt verzichten kann – ganz ähnlich wie Ida es formuliert hatte. Hier wird erneut die Fokussierung auf Relationen sichtbar, die bei Befragten anderer Orientierungen nicht in diesem Maß beobachtet werden konnte: Dankbar ist man jemandem, in Claudias Fall ist die Bezugsperson Gott. An anderer Stelle definiert sie Fasten als »Versuch, sich, ehm, sich zu konzentrieren. Also sich im Idealfall mehr auf Gott zu konzentrieren, indem man Dinge, die einen ablenken, ehm, ausblendet.« Dabei hilft ihr der Verzicht, der in ihren Augen »vieles intensiver macht«. Auch dies ist ein typisches Merkmal dieser Orientierung: Der Fokus liegt weniger auf einer Verbesserung oder Unterbrechung des Alltags denn auf seiner Verdichtung und seiner intensiveren Wahrnehmung. Ähnlich wie Günther und teilweise auch Marion scheint es Claudia schwerzufallen, dies konkret in Worte zu fassen, wie ihr mehrfaches Stocken verdeutlicht. Auch Svenja ist Initiatorin einer Fastengruppe, in ihrem Fall handelt es sich um eine Gruppe, die in einer Gemeinde angesiedelt ist und sich während der Fastenzeit einmal wöchentlich abends trifft und jede Woche etwas Neues ausprobiert, z.B. eine Yogastunde, einen Chorworkshop oder veganes Kochen. Svenja ist Mitte 30, evangelisch, arbeitet in einem Wohlfahrtsverband und lebt in einer mittelgroßen Stadt in Nordrhein-Westfalen. Der Kontakt mit ihr kam über die von ihr verantwortete Fastengruppe zustande, das Interview wurde telefonisch durchgeführt. Svenjas ers-
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ter Kontakt zum Fasten entstand nicht im religiösen, sondern im gesundheitlichen Kontext, ihr Fastenverständnis wandelte sich aber: »[I]ch hab tatsächlich mit dem Fasten angefangen, mit dem richtigen Fasten, ehm, also nur mit Tee und Brühe, immer im Herbst, rein körperlich, also wirklich aus dem Grund eben, den Körper zu reinigen, das ist mir allerdings nach vier Jahren nicht mehr gut bekommen, ehm, und habe dann irgendwann angefangen, das im Frühjahr zu machen, bin über diese Aktion ›7 Wochen Ohne‹ da mehr oder weniger drauf gestoßen, und dass wir geguckt haben in unserer Gemeinde eben auch, wer hat Lust, da mitzumachen und wer verzichtet auf irgendetwas. Das waren natürlich meist Sachen wie Handynutzung, Alkohol, Süßigkeiten. Das war so ein bisschen, muss ich fairerweise dazu sagen, auch, um was für die breite Masse zu finden. Also dieses, ich nenn es mal vorsichtig, richtige Fasten, also nach Buchinger zum Beispiel ist schon sehr speziell, und da kann nicht jeder mitmachen. Wir wollten der Gemeinde eben aber auch was bieten, wo jeder mitmachen kann. … So kam dann dieser Umbruch vom Fasten im Herbst mit ganzem Verzicht auf Lebensmittel auf diesen/diese Aktion eben ›7 Wochen Ohne‹.« Svenja vermischt hier in ihrer Eingangserzählung schnell ihre privaten Erfahrungen mit denen, die sie in der Fastengruppe gemacht hat. Dies zieht sich auch weiterhin durch das Interview. Als ich sie z.B. frage, was sie beim Fasten schon ausprobiert hat, antwortet sie nicht damit, worauf sie persönlich schon verzichtet hat, sondern wie die Gruppe das Fasten ausgestaltet hat. Auch in der Beschreibung, warum »7 Wochen Ohne« gewählt wurde, dokumentiert sich klar eine Orientierung an Relationen: Svenja wollte ein Fastenangebot entwickeln, das einerseits viele Menschen anspricht, andererseits aber auch möglichst inklusiv ist, was beim Heilfasten z.B. nicht der Fall ist. Ihre Orientierung an Gemeinschaft zeigt sich auch daran, dass sie ihr persönliches Fastenvorhaben (Verzicht auf Süßigkeiten, Alkohol und salzige Snacks) 2020 während der Corona-Pandemie nach wenigen Wochen abbrach: »Die wenige Gemeinschaft, die man in diesem Jahr erlebt, und dann bekommt man da Kuchen angeboten, finde ich, dann sollte man das auch nutzen. Was an Gemeinschaft geht, in Zeiten zu Corona, sollte man dann auch sinnvoll nutzen.« Auch bei ihr dokumentiert sich zudem die Verschränkung von Relationen und Hingabe an das Fastengeschehen: Antonia: »Also wenn Sie sich so überlegen könnten/wenn Sie sich so eine [Fastenzeit] nach Ihren Wünschen malen könnten sozusagen, wo man hinterher denkt, ›da ist alles gut gelaufen‹.« Svenja: »Ich glaub das gibt es nicht. Dafür hat man zu viele Begegnungen im Leben… ich wüsste auch, wenn ich ehrlich bin, gar nicht, wie ich sie/also wie ich es mir ideal vorstellen würde, ich finde es halt einfach schön, wenn man an Ostern
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sagt, morgens vorm Gottesdienst, man frühstückt, in der Gemeinde ist das bei uns immer, man kann alles wieder essen und man weiß, man freut sich nachher auf Kuchen, also das ist so… das ist schon ideal.« Hier spricht Svenja einerseits den »Begegnungen im Leben« ein hohes Maß an Einfluss auf ihre Erfahrung zu: Weil sie Begegnungen nicht kontrollieren kann, kann und möchte sie sich auch keine »ideale« Fastenzeit vorstellen. Zugleich entsteht der Eindruck, dass der Einfluss, den Begegnungen faktisch auf sie haben, überwiegend positiv ist: Es ist das gemeinsame Frühstück in der Gemeinde, auf das sie sich freut. Auch auf die Frage nach einer spirituellen Dimension des Fastens nennt sie das Gefühl der »Verbundenheit zu den anderen Menschen, die es dann tun in diesen sieben Wochen, ob man die jetzt sieht oder nicht, aber man weiß, man ist eben auch nicht alleine in dieser Zeit.« Interessant ist auch, dass die Orientierung an Relationen nicht nur Svenjas Fasten strukturiert, sondern ihre gesamte Glaubenspraxis. So antwortet sie auf meine Bitte, mir etwas davon zu erzählen, wie sie ihren Glauben abgesehen von der Fastenzeit lebt: »[W]ir sind eine unheimlich kleine Gemeinde… und in diesem Rahmen versuche ich eben, diese Gemeinschaftsdinge eben auch zu erleben, und, eh, im Privaten, ich würde behaupten, ich bin niemand, dem man das sofort anmerkt, oder/also man sagt ja, das steht bei mir nicht auf die Stirn geschrieben oder so ungefähr. Aber ich glaube schon, dass ich das gut nahebringen kann den Menschen, im persönlichen Kontext, und das nicht unbedingt, dass ich dann irgendwelche Bibelzitate oder irgendwelche weisen Sprüche habe, sondern wie ich einfach mein Leben lebe. Dass ich… also jetzt zum Beispiel in der Coronazeit für die Alten einkaufen gehe… solche Dinge einfach, das menschliche Miteinander, was Jesus eben auch gemacht hat. Er ist ja nicht nur rumgezogen und hat gepredigt, sondern der hat ja mit den Menschen gelebt. Und ich glaube, ich würde/das soll jetzt nicht überheblich klingen oder so, aber ich würde sagen, ich lebe das halt, ich lebe das Christsein im ganz normalen Alltag.« Für Svenja ist der konkrete Vollzug des Christseins entscheidend. Hier scheint eine gewisse Nähe zur Orientierung an Prinzipien auf: Auch einige dieser Befragten äußern, dass ihr Glaube sich im Handeln niederschlagen soll und nicht nur in kognitiver Auseinandersetzung mit theologischen Fragen oder emotionaler Affizierung durch eine Beziehung zu Gott. Im Unterschied zu dieser Gruppe ist hier jedoch die Beziehungsebene des Handelns ausschlaggebend: Es geht weniger darum, sein Handeln den aus dem Glauben abgeleiteten ethischen Prinzipien anzugleichen, sondern um das Kultivieren von Beziehungen und das aktive Gestalten von Gemeinschaft. Dies ist strukturell ähnlich zu Lydias Frage danach, »wie unser Verzicht anderen helfen kann«, denn auch hier ist die Beziehungsebene, das Helfen, das hand-
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lungsleitende Element, nicht der Wunsch zu verzichten. Dennoch tritt hier eine Verschränkung beider Dimensionen auf, die ähnlich auch bei Ida begegnet: »[W]as mir beim Fasten immer nochmal sehr deutlich bewusst wird, dass ich in einer Zeit und in einer Gesellschaft lebe, in der sich/in der ich mir zumindest keine Sorgen machen muss, ob ich satt werde heute. […] das ist eine Verantwortung, die ich da spüre. Die ich spüre, weil…/die ich auch konkret aus meinem Glauben heraus spüre. Ich hab Verantwortung für diese Welt. Wir sind auch für diese Schöpfung verantwortlich und deswegen bin ich auch für diese Menschen verant/also mit verantwortlich, oder auch mal zuständig, denen es schlechter geht als mir.« Hier zeichnet sich dasselbe Muster ab: Ida fastet zuerst und daran wird ihr ihre Verantwortung für andere noch einmal bewusst. Bei den an Prinzipien Orientierten ist die Logik umgekehrt: Sie nehmen zuerst das Problem wahr, dass es manchen Menschen schlechter geht als ihnen, um dann ein korrespondierendes Fastenvorhaben zu wählen. Darin zeigt sich eine pflichtethische Orientierung, während die ethischen Dimensionen, die bei Ida und Lydia erkennbar sind, eher als verantwortungsethisch und damit per se als relational bestimmt werden können. Dass die relationale Orientierung nicht nur das Fasten, sondern auch den Glauben generell prägt, zeigt sich nicht nur bei Svenja, sondern auch bei Ida, insbesondere in ihren Gedanken über Ostern. Sie beschreibt, dass für sie die Idee der Verbundenheit zu Verstorbenen in Gott eine große Rolle spielt: »[A]n Karfreitag wird mir immer wieder neu bewusst, dass auch mein Leben endlich ist, wird mir bewusst auch […], dass mir die Menschen fehlen, die aus meiner Familie oder aus meinem Freundeskreis schon gestorben sind, und gleichzeitig verbunden dann an Ostern mit der großen Hoffnung, ehm, dass das Leben da nicht aufhört für uns. […] Es gibt Menschen, die bereits gestorben sind, die mir im Alltag immer wieder fehlen und wo es für mich ein Trost ist zu wissen, ja, wir sind immer noch auch über Gott miteinander verbunden und Gott sorgt dafür, dass wir diese Verbindung haben. Also ich bin jetzt nicht so diejenige, die, eh, an der Stelle, Karfreitag, so diese/dieses Thema Sündenvergebung und so sieht, Christus für uns gestorben, sondern für mich ist Christus diesen Weg gegangen und konsequent gegangen, um die Verbindung zwischen uns und Gott herzustellen. Und wenn es die Verbindung zwischen uns und Gott gibt, dann gibt es auch immer die Verbindung zwischen uns und untereinander. Und dann sind wir irgendwann alle… in diesem Reich Gottes miteinander geborgen. Und das ist für mich etwas, das ich sowohl heute spüren kann, wenn ich mit anderen Christinnen und Christen zusammen bin, dass wir eine große Gemeinschaft sind und dass wir jetzt schon das Reich Gottes leben, aber dass wir das in Zukunft/also das Reich Gottes ist für mich etwas, das hat irgendwann angefangen und es hört nie auf. Und wir sind mittendrin. Und weil wir eben alle mittendrin sind, sind auch die aus meiner Familie oder meinem Freundeskreis, die schon gestorben sind, immer mit drin und auch immer
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ein Teil von mir und von meiner/von meinem Leben. So. Und das ist für mich auch mit dieser Osterfreude verbunden, das ist etwas, das ich Ostern sehr konkret spüren kann, auch wenn ich dann an die Gräber gehe, also ich gehe eher Ostern an die Gräber als am Ewigkeitssonntag. Da… da ist für mich Auferstehung und da ist für mich Verbindung zu den Menschen, die ich liebe und die ich verloren habe.« In der Passage zu ihrem Verständnis von Ostern – der längsten durchgängigen Redepassage im Interview mit Ida – scheint erneut die Orientierung an Verbindungen und Beziehungen auf. Was Idas Auffassung nach das Passions- und Ostergeschehen ausmacht, ist das Herstellen einer Verbindung zwischen Gott und Menschheit durch Jesus und damit auch das Herstellen von Verbindungen zwischen Menschen, die Raum und Zeit transzendieren. Für Ida wird das besonders greifbar daran, dass sie Gräber besucht und an Verstorbene denkt. Dieses Herstellen und Pflegen von Verbindungen spiegelt sich in Idas Fastenpraxis: Sie knüpft Kontakte in Gruppen, kommt über Fragen in Gespräche, pflegt Beziehungen und sucht Unterstützung bei Problemen. Sie selbst bezeichnet die stetige Verbindung als »Reich Gottes«. Das Fasten ist für Ida damit eine Möglichkeit, die unterstützende Verbindung in einem konkreten, relativ kleinen Rahmen zu leben und zu erfahren und gleichzeitig den Blick auf einen wesentlich größeren Rahmen der unterstützenden Verbindung zu lenken – den religiösen Kontext der Passionszeit. Gleichzeitig sind sowohl der konkrete kleine als auch der größere Rahmen direkt an ihren Glauben gebunden. Das Fasten erhöht damit für Ida – genau wie für Svenja – das Enaktierungspotenzial ihres Glaubens. Eine ähnlich relational geprägte Vorstellung von Ostern äußert auch Lydia: »[Da] ist eben diese Verbindung mit Maria [Magdalena]. Und dass sie ja einfach zweifelnd ist und dass sie eben denkt, das ist der Gärtner, nicht. Und erst, indem er sie anspricht mit dem Namen, erkennt sie ihn. Das sind die beiden Momente, dieses/die Masse nicht, sondern dieses ganz konkret, jeder einzelne ist angesprochen, ist gemeint. Und dieser Anspruch, ›fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein‹. Und ich hab/das ist das Lebenswort meiner Mutter, die i/im letzten Jahr heimgegangen ist, und ich habe das verinnerlicht […], das wichtigste für sie war dieses ›du bist mein‹, also ich bin gemeint, nicht, wenn wir jetzt sehen, wie manche Menschen mit Menschenleben umgehen, sondern jedes Leben ist wichtig, und er spricht zu jedem. Jeder ist bei seinem Namen gerufen.« Hier dokumentiert sich die Orientierung an Beziehungen gleich auf zwei Ebenen: Zum einen geht Lydia auf das konkrete Angesprochen-Sein jeder einzelnen Person durch Gott ein, auf die individuelle Beziehung. Zum anderen ist der zitierte Bibelvers für sie gerade deshalb so relevant, weil er auch ihrer Mutter sehr wichtig war. Lydia kommt kurze Zeit später darauf zu sprechen, dass für sie das Geschehen um
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Karfreitag und Ostern nicht immer leicht zu greifen und zu glauben ist: »Manchmal fragt man sich das, es ist eben immer wieder auch ein Ringen damit. Und damit ist ja auch der Zweifel die Schwester des Glaubens, ne.« Ähnliche Zweifel bzw. Schwierigkeiten wurden auch von Martina und Sabine geäußert, für beide führte dies im Rahmen ihrer normativ geprägten Orientierung zu einem Konflikt, den sie mittels theologischer Diskussion zu bearbeiten suchen. Für Lydia legt sich dagegen eine andere Bearbeitungsstrategie nahe: »Ich hab mal ein schönes Bild erfahren von einer Frau, die eben sagte, die/in der Mitte [des Kreuzes] ist eben das Herz Jesu und die Horizontale und die Vertikale verbinden sich und seine Liebe ist dort und, ehm, so weit geht die Liebe. So weit geht die Liebe. Die geht eben wirklich, kein Mensch hat das getan. So weit geht die Liebe, dass er sein Leben gibt, und ich denke mir, manchmal ist es so, dass man/wir haben in diesem Jahr die Jahreslosung, finde ich spannend, ›Ich glaube, hilf meinem Unglauben‹, ne? Es ist einfach, dass man sich daran hält, auch wenn man manchmal das nicht greifen kann.« Anstatt die Schwierigkeiten mit dem Erfassen des Ostergeschehens auf kognitiver Ebene zu bearbeiten (z.B. durch die Lektüre theologischer Literatur oder das Gespräch mit einer Pfarrperson oder anderen Gläubigen), ist für Lydia eine Lösung auf Beziehungsebene ausschlaggebend. Das Kreuz wird als Symbol der Verbindung von Immanenz und Transzendenz gedeutet, in dem sich die Liebe Gottes zu den Menschen kristallisiert. Das Vertrauen auf diese Beziehung ermöglicht es Lydia, sich an etwas »zu halten«, das sie kognitiv nicht immer erfassen kann – und aus ihrer Sicht vermutlich auch gar nicht unbedingt erfassen muss, um zu glauben.
β) Das Bezugsproblem der Relationsorientierten: die Sehnsucht nach Resonanz Auf welches gesellschaftliche Bezugsproblem reagiert eine Orientierung, die durch eine Reduktion von Kontrolle und eine Hingabe an Relationen geprägt ist? Hartmut Rosa beobachtet: »Die Weltbeziehung der Moderne ist geprägt durch das Streben nach Emanzipation, Selbstbestimmung, Befreiung, Autonomie, Souveränität gegenüber allem, was uns gegenübertritt: Durch den Versuch, sich dieses Andere verfügbar zu machen; es unter Kontrolle zu bringen, zu beherrschen, zu nutzen.«106 Dies schlägt sich auf der individuellen Ebene in einem Streben nach Autonomie nieder, auf der kollektiven Ebene als Streben nach Souveränität. Auf beiden Ebenen begibt man sich dadurch in ein »Aggressionsverhältnis« sowohl zu sich selbst als auch 106 Rosa, Hartmut: »Spirituelle Abhängigkeitserklärung«. Die Idee des Mediopassiv als Ausgangspunkt einer radikalen Transformation, in: Klaus Dörre u.a. (Hg.): Große Transformation? Zur Zukunft moderner Gesellschaften. Sonderausgabe des Berliner Journals für Soziologie (Wiesbaden: Springer VS 2019), S. 35–55, S. 41.
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zur Welt.107 Rosa greift auf die Formulierung der spirituellen Unabhängigkeitserklärung der Moderne nach Charles Taylor zurück. Dabei behauptet das moderne Souveränitätsprinzip »1) räumlich-materielle, 2) zeitliche, 3) politische, 4) soziale und 5) existenzielle Unabhängigkeit zugleich«108 . Relevant für diese Studie ist insbesondere die Behauptung einer existenziellen Unabhängigkeit, die »letztlich keine Form einer existenziellen Bezogenheit«109 integrieren kann. Obwohl das Souveränitätsprinzip weitreichenden Fortschritt befördert hat, hat es doch auch zu erheblichen Krisenzuständen geführt.110 Rosa plädiert vor diesem Hintergrund für ein »Verhältnis zu Natur und Geschichte, zu den politischen Institutionen und zu den Mitmenschen und am Ende auch ein Selbstverhältnis, das jene gegebenen, begegnenden oder gegenüberstehenden Entitäten weder als blind zu akzeptierende Größen oder Vorgaben noch als einfach autonom und souverän zu gestalten begreift, sondern von einer jeweils wechselseitig konstitutiven Beziehung ausgeht. In einer solchen Beziehung ist nicht die eine Seite ›Täter/Souverän/Aktiv‹ und die andere ›Opfer/Abhängig/Passiv‹, sondern alles, was geschieht, vollzieht sich gleichsam als Antwortgeschehen zwischen beiden Seiten.«111 Rosa bezeichnet diese Beziehung zu Welt, zu anderen und zu sich selbst als Resonanz. Da dieser Begriff im Folgenden zentral sein wird, soll Rosas eigene Definition hier vollständig zitiert werden. Resonanz ist demnach: »1) Affizierung im Sinne der Fähigkeit und Erfahrung eines ›Berührtwerdens‹ durch ein Anderes, ohne durch dieses Andere dominiert oder fremdbestimmt zu werden. 2) Selbstwirksamkeit im Sinne der Fähigkeit und Erfahrung, dieses Andere zu berühren oder zu erreichen, ohne über es zu verfügen oder es zu beherrschen. 3) Transformation im Sinne einer wechselseitigen Anverwandlung, die sich von einer einseitigen, vereinnahmenden Aneignung kategorial unterscheidet; sie beinhaltet eine fortwährende Selbst- und Weltmodifikation in der, so möchte ich hinzufügen, just un-entfremdete Lebendigkeit erfahren wird. 4) Unverfügbarkeit in einem doppelten Sinne: Zum einen lässt sich Resonanz nicht und niemals erzwingen (und ebenso wenig absolut ausschließen), weshalb sie in ihrem Auftreten, ihrer Intensität und ihrer Dauer nicht kontrollierbar ist, und zum anderen – was vielleicht noch wichtiger ist – lässt sich niemals vorhersagen, was das Ergebnis der Transformation sein wird. Eine Resonanzbeziehung ist grundsätzlich ergebnisoffen.«112
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Ebd. Ebd., vgl. auch a.a.O., S. 41–43. A.a.O., S. 43 (Hervorhebung original). Vgl. a.a.O., S. 43–45. Ebd. A.a.O., S. 45f.
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Rosa plädiert entsprechend für eine »spirituelle Abhängigkeitserklärung«113 als Antwort auf die spirituelle Unabhängigkeit der Moderne im Sinne einer »Anerkennung eines konstitutiven, aber selbstwirksamen Bezogenseins«114 . Das Fasten der Befragten dieser Gruppe lässt sich als der Versuch verstehen, solche resonanten Beziehungen wahrscheinlich zu machen: Das Affiziert-Werden durch das körperliche Fastengeschehen, aber auch durch die Beziehungen in Fastengruppen, auch die Erfahrung, andere zu berühren, sodass es zu einer gegenseitigen »Anverwandlung« kommt, sind zentrale Erfahrungen der Fastenden. Auch der Ergebnisoffenheit und Unvorhersehbarkeit wird eine hohe Relevanz zugesprochen. Besonders deutlich wird dies im Interview mit Monika. Sie ist Mitte 50 und hat erwachsene Kinder. Der Kontakt mit ihr kam über eine kirchliche Fastengruppe im Ruhrgebiet zustande, an der wir beide teilnahmen. Die Pfarrerin, die die Gruppe leitet, verbindet jede Woche Impulse von »7 Wochen Ohne« und »Sieben Wochen anders leben« in einem kleinen Faltblatt, das ausgeteilt wird und als Gesprächsgrundlage gilt. In der Fastenzeit 2019 verzichtete Monika auf die meisten Funktionen ihres Smartphones: Sie nutzte es nur noch zum Telefonieren und in besonders wichtigen Fällen für Textnachrichten, löschte aber alle anderen Apps (z.B. Spiele) und meldete sich auch aus zahlreichen WhatsApp-Gruppenchats ab. Von Anfang an war es ihr erklärtes Ziel, dadurch Zeit zu gewinnen, die sie dann für andere Aktivitäten nutzen wollte, insbesondere für die Meditation. Bereits ganz zu Beginn des Interviews äußert sie jedoch, dass dies »nicht so klappt«. Monika scheint also mit einer recht klaren Zielsetzung an ihr Fasten heranzugehen: Tätigkeiten reduzieren, die sie sich zwar angewöhnt hat, eigentlich aber für Zeitverschwendung hält, um Zeit für andere Tätigkeiten zu haben. Dieser Effekt soll im Idealfall über die Fastenzeit hinaus anhalten. Während dies zunächst an die Normenorientierung erinnert, wird im weiteren Verlauf des Interviews klar, dass Monikas Fasten vor allem von der Orientierung an Relationen geprägt wird, wie die folgende Passage zeigt: »[I]m Grunde mache ich das ja, deswegen verzichte ich wahrscheinlich auch eher auf solche Sachen, weil ich denke, dann hab ich/dann hab ich Zeit zum/zum Beten. Wenn ich kein Fernsehen gucke, wenn ich nicht so viel am Handy rumhänge. Dann hab ich mir Freiraum geschaffen, um zu beten oder zu meditieren. Mich ärgert das jetzt schwer, dass ich das nicht mache [lacht].« Monika bringt hier eine klare Proposition ein: Sie fastet, um mehr Zeit zum Beten zu haben; eine Wiederaufnahme und zugleich eine Konkretion der Zielvorstellung, die sie bereits zu Beginn des Interviews geäußert hat. Ebenso erwähnt sie wieder, dass es ihr in diesem Jahr nicht gelingt, ihre Vorstellung umzusetzen. Dies wird nun aber
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A.a.O., S. 46. Ebd. (Hervorhebung original).
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nicht ethisch bewertet, wie es in der an Normen orientierten Gruppe zu erwarten wäre, sondern emotional (»mich ärgert das«). Mit dem Gebet ist zudem zum ersten Mal ein Beziehungsgeschehen angesprochen, das Monika sich wünscht. Vollends deutlich wird dies im folgenden Austausch. Monika hatte gesagt, dass sie in einer für sie optimalen Fastenzeit jeden Tag eine halbe Stunde beten oder meditieren würde. Ich frage zurück: Antonia: »Und was würdest du dir davon erhoffen? Wenn du z.B. jetzt jeden Tag eine halbe Stunde meditieren würdest, was glaubst du, würde dann passieren?« Monika: »… … Ja, ich würde mir wieder bewusster werden, dass ich von Gott getragen bin in meinem Leben … … ja, und vielleicht auch mehr wieder in Beziehung treten zu Gott. Ich hab neulich gedacht nämlich, ich bin jetzt schon so lange, sag ich mal, Christ und in Beziehung zu Gott, das ist vielleicht jetzt auch so, ja, was soll jetzt noch sein, es gibt nicht mehr so viel zu sagen, so bisschen wie in einer langen Beziehung, wo man irgendwann denkt, ja, ist es ist langsam ein bisschen… Das ist ja bei der Gottesbeziehung auch so, das ist dann irgendwie so… ja, keine Lust mehr.« Monika hat anscheinend das Gefühl, dass ihre Beziehung zu Gott momentan in einem Tief ist, sie würde das gerne ändern und hält Fasten für einen guten Weg, das zu erreichen, weil sie dann mehr Zeit zum Gebet hat. Das Ziel ist also die Intensivierung der Gottesbeziehung. Dies macht verständlich, warum es sie ärgert, dass es mit regelmäßiger Meditation oder regelmäßigem Gebet nicht funktioniert – ihre Gottesbeziehung stagniert. Aus funktionaler Perspektive ist es verständlich, warum Monikas Ziel kaum erreicht werden kann: Sie versucht, eine resonante Beziehung bzw. eine Resonanzerfahrung kontrolliert herbeizuführen, und das ist per definitionem nicht möglich: »Weil [Resonanzerfahrungen] Erfahrungen der Antwort sind und ein Antwortverhältnis konstituieren, […] sind [sie] konstitutiv auch dadurch charakterisiert, dass die Antwort auch ausbleiben, dass die Stimme nicht ertönen kann«.115 Rosa beobachtet weiterhin: »Tatsächlich scheint die Überfrachtung mit Resonanzerwartungen ein zuverlässiger Hemmfaktor für deren Erfüllung zu sein. Der Versuch, alle Bedingungen zu kontrollieren und möglichst sicherzustellen, dass nichts stört, verhindert paradoxerweise den Zustand dispositionaler Resonanz, weil er selbst einem Modus stummer Weltbeziehung entspricht, der Resonanz verfügbarmachen will«.116 Genau dies scheint bei Monika eingetreten zu sein. Sie unterscheidet sich damit von den anderen Befragten der an Relationen Orientierten: In den anderen Interviews dokumentiert sich stärker ein Gefühl für das 115 116
Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung (Berlin: Suhrkamp 2016), S. 295. A.a.O., S. 635.
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Moment der Unkontrollierbarkeit. Die Befragten machen durch ihre Hingabe an das Fastengeschehen und die Fastengruppe eine Resonanzerfahrung wahrscheinlich, erwarten aber kein konkretes Resultat: Es geht ihnen um eine positiv verstandene »spirituelle Abhängigkeit«, ein Erleben (in Anlehnung an Rosa) im Mediopassiv oder auch Medioaktiv.117 (An dieser Stelle ist noch einmal zu betonen, dass diese Prozesse latent ablaufen und dass es hier nicht um eine Bewertung geht: Monikas Erwartungshaltung ist nicht »falsch« und die offenere Haltung der anderen Befragten »richtig«. Es geht lediglich um den Versuch, aus funktionaler Perspektive zu verstehen, warum Monika ihr Fasten im Gegensatz zu den anderen Befragten als so unbefriedigend empfindet.) Alle Befragten dieser Gruppe suchen »eine Form der Weltbeziehung, die […] auf das jeweils Eigene wie auf das Andere sensibel zu hören und selbstwirksam zu antworten vermag und sich dabei stetig transformiert.«118 Hier geht es also um eine Relation nicht zu sich selbst, sondern vorrangig zu einem »Gegenüber«.
d) Fasten als konstruktive Auseinandersetzung mit nicht lösbaren Problemen Treten wir abschließend einen Schritt zurück und betrachten die drei Orientierungsgruppen und Bezugsprobleme auf einen Blick, zeigt sich als auffällige Gemeinsamkeit, dass alle Bezugsprobleme auf der individuellen Ebene nicht lösbar sind. Niemand kann sein gesamtes Leben stets konsequent in Übereinstimmung mit seinen persönlichen Normen gestalten – das Gefühl, hinter solchen Ansprüchen zurückzubleiben, ist eine grundlegende menschliche Erfahrung. Die Befragten können diesem Gefühl im Rahmen der Passionszeit entkommen, aber nicht dauerhaft. Ebenso wenig können Befragte durch eine siebenwöchige Intensivierung ihrer Selbsterfahrung etwas daran ändern, dass sie in einer funktional differenzierten Gesellschaft leben und dementsprechend im Alltag weitestgehend »flach« adressiert werden. Das Fasten im Modus des Ausprobierens wird als Unterbrechung des Alltags, in dem Entscheidungen oft mit hohem Risiko verbunden sind, zwar hoch geschätzt, es ist aber eben auch nicht mehr als eine Unterbrechung. Zuletzt kann auch das typische moderne Weltverhältnis nicht einfach durch eine Fastenzeit von Entfremdung in Resonanz überführt werden, resonante Beziehungen werden hier lediglich für einen begrenzten Zeitrahmen wahrscheinlicher gemacht. Aus der funktionalen Perspektive wird jedoch deutlich, warum Fasten solch eine hohe Attraktivität hat: Es ermöglicht den Befragten, sich zu diesen unlösbaren Problemen konstruktiv zu verhalten anstatt zu resignieren. Sie können ihr Verhältnis zu
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Vgl. Rosa, »Spirituelle Abhängigkeitserklärung«, S. 46. A.a.O., S. 53.
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ihrem »idealen Ich«, zu einer »anderen Version ihrer selbst« und zu diversen »Anderen« austarieren und rekonfigurieren. Dabei ist die bereits erwähnte Reduktion des Problems ausschlaggebend. Diese findet einerseits auf der inhaltlichen Ebene statt: Verzichtet wird nur auf Schokolade und nicht auf alle Lebensmittel, die man streng genommen nicht unbedingt bräuchte, eine intensive Selbsterfahrung wird nur durch das Fasten, nicht in allen Lebensbereichen gesucht und erwartet, die Hingabe an intensive Beziehungen findet zwar in Fastengruppen statt, aber nicht gegenüber allen Menschen, die man kennt. Andererseits ist auch die begrenzte Dauer der Fastenzeit von Bedeutung, da hier von Anfang an ein klarer Endpunkt bestimmt ist – und das Osterfest ist ein Endpunkt, auf den sich die meisten Befragten in erster Linie freuen, wenn sie auch teilweise durchaus religiöse Schwierigkeiten mit dem Ostergeschehen haben. Nicht zuletzt ist auch die Tatsache hilfreich, dass die Fastenzeit jedes Jahr zyklisch wiederkehrt und damit nicht etwa den Charakter einer einmaligen Chance hat, sondern per se wiederholbar ist und so auch selbst zu einer gewissen Routine werden kann – und dies bei mehreren Befragten, die bereits seit mehreren Jahrzehnten immer wieder fasten, auch geworden ist. Fasten kann so verstanden werden als eine Auseinandersetzung mit Problemkontexten, die einerseits in ihrer Unlösbarkeit anerkannt werden, andererseits aber immer noch von den Befragten sinnhaft bearbeitet werden können. Hier zeigt sich auf der funktionalen Ebene eine religiöse Dimension des Fastens: Systemtheoretisch kann Religion als das System begriffen werden, das »Sinn für unlösbare Fragen«119 pflegt. Religion ermöglicht Sinnvertrauen auch dann, »wenn die Welt und die laufend vorausgesetzte Angepaßtheit der Systeme sich der Beobachtung und erst recht der kognitiven Verarbeitung entziehen«.120 Luhmann versteht Sinn dabei als »eine besondere Form der Reduktion von Komplexität, die zugleich komplexitätserhaltend oder auch komplexitätssteigernd wirkt.«121 Analog dazu werden im Fasten die Bezugsprobleme einerseits als unlösbar anerkannt und bleiben damit in ihrer Komplexität erhalten, doch andererseits werden sie durch den begrenzten Zeitrahmen und durch die Leistung der Befragten, ein konkretes Fastenvorhaben zu wählen, in ihrer Komplexität so weit reduziert, dass sie für die Dauer des Fastens bearbeitet werden können. Hier zeigt sich ebenfalls, dass Sinn »eine Form für Erleben und Handeln [oktroyiert], die Selektivität erzwingt«:122 Die Befragten wissen, dass sie im Fasten nur einen Bruchteil ihrer ethischen Prinzipien ausagieren. In Sabines Augen wäre der Verzicht auf das Autofahren genauso sinnvoll wie der
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Karle, Isolde: Sinn für unlösbare Fragen, in: Patrick Becker/Ursula Diewald (Hg.): Die Zukunft von Religion und Kirche in Deutschland. Perspektiven und Prognosen (Freiburg i.Br.: Herder 2014), S. 111–119. 120 Luhmann, Niklas: Die Religion der Gesellschaft (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000), S. 47. 121 Luhmann, Niklas: Funktion der Religion (Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2 1990), S. 20. 122 A.a.O., S. 21.
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auf Plastik. Ebenso könnte Ingrid eine intensiv-körperliche Selbsterfahrung im Yoga statt im Heilfasten machen und könnte Ida versuchen, ihre Beziehung zu Gott über Bibellektüre und Gebet zu intensivieren anstatt über das Fasten. Um aber tatsächlich sinnhaft erleben und handeln zu können, müssen die Befragten sich für ein Vorhaben entscheiden. Sie reduzieren die Komplexität der Bezugsprobleme so weit, dass sie den Umgang mit ihnen als sinnhaft erfahren können. Dies ist aus systemtheoretischer Perspektive eine Funktion religiöser Kommunikation.
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IV Im Gespräch mit der Empirie: praktisch-theologische Perspektiven
Das Fasten der Befragten kann – so hat das vorausgehende Kapitel gezeigt – als konstruktive Bearbeitung der Differenz zwischen Überzeugung und Handeln, als gelingender Umgang mit Herausforderungen der funktional differenzierten Gesellschaft und als Wahrscheinlichmachung bzw. Intensivierung resonanter Beziehungen verstanden werden. In diesem Kapitel sollen zentrale Aspekte der empirischen Befunde ins Gespräch mit praktisch-theologischen Diskursen gebracht werden. Ausgangspunkt dafür sind die drei herausgearbeiteten Bezugsprobleme: Wie wurden und werden das Problem der Differenz zwischen Überzeugung und Verhalten, die Herausforderungen moderner Individualität und die Sehnsucht nach Resonanz (praktisch-)theologisch bearbeitet? Das Ziel ist dabei nicht, die jeweiligen Diskurse vollumfänglich darzustellen, sondern punktuell aufzuzeigen, an welchen Stellen sie ein tieferes Verständnis des zeitgenössischen Fastens ermöglichen und an welchen Stellen das erhobene Material neue Erkenntnisse für die Wissenschaft bzw. die Reflexion kirchlicher Praxis bereithält. Weiterhin wird in diesem Kapitel auch stärker als zuvor auf explizites, kommunikatives Wissen der Befragten eingegangen. Drei Themen begegnen dabei orientierungsübergreifend im gesamten Sample immer wieder: Fragen der Lebensführung, die Auseinandersetzung mit Gesundheit sowie das starke Gemeinschaftsgefühl in Fastengruppen. Im letzten Kapitel wurde herausgearbeitet, wie diese Themen je nach Orientierungsrahmen verhandelt werden. Hier soll auch das Was stärker in den Blick genommen und praktisch-theologisch reflektiert werden.
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1 Die Differenz zwischen Überzeugung und Handeln: Sünde als Bezugsproblem? a) »Bewusst auf etwas verzichten, weil es nicht in Ordnung ist« – Ethik und Lebensführung In der ersten Gruppe der Befragten dominiert die Orientierung an Prinzipien, das Bezugsproblem ist die Differenz zwischen Überzeugung und Handeln. Die Prinzipienorientierung der Befragten stellt auf der Ebene des kommunikativen Wissens bzw. der inhaltlichen Sachebene einen klaren Zusammenhang mit Fragen der persönlichen Ethik und Lebensführung her: Die Befragten sondieren im Fasten, welche prinzipiellen Überzeugungen (z.B. dass es nicht gut ist, viel Fleisch zu essen, Plastik zu kaufen oder eingeflogenes Obst zu konsumieren) für sie realistisch umsetzbar sind. Diese kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Lebensführung war von Beginn an Teil der jüdischen und damit auch der christlichen Tradition. Normen für das alltägliche Leben begegnen bereits in den biblischen Texten, auch wenn sich aus ihnen keine kohärente Ethik ergibt, sondern sie in sich vielstimmig sind und bisweilen miteinander konfligieren.1 Bis heute hat die Ethik einen festen Platz in den theologischen Disziplinen. Sie lässt sich verstehen als »Reflexion auf das gute Leben und richtige Handeln«2 . Im Unterschied zu ›Ethos‹ und ›Moral‹ ist Ethik als wissenschaftliche Disziplin von einer methodischen Distanznahme zu eingeübten Sitten und etablierten Vorschriften und von ihrer kritischen Prüfung gekennzeichnet.3 Hans-Richard Reuter beobachtet eine besondere Relevanz der Ethik in der Moderne: »Die nicht beherrschbaren Folgen und Nebenfolgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts, die funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft, die Lasten der Individualisierung, die Säkularisierung, das heißt die Schwächung der Religion als gesellschaftlicher Integrationsfaktor, und die mit der Globalisierung verbundenen Deregulierungsprozesse lösen allerorts eine hohe Nachfrage nach ›Ethik‹ aus.«4
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Vgl. Smend, Rudolf: [Art.] Ethik III. Altes Testament, in: Gerhard Krause u.a. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. X (Berlin: Walter de Gruyter 1982), S. 423–435, S. 423 und Schrage, Wolfgang: [Art.] Ethik IV. Neues Testament, in: Gerhard Krause u.a. (Hg.): Theologische Realenzyklopädie, Bd. X (Berlin: Walter de Gruyter 1982), S. 435–462, S. 435. Reuter, Hans-Richard: Grundlagen und Methoden der Ethik, in: Ders./Wolfgang Huber/ Torsten Meireis (Hg.): Handbuch der Evangelischen Ethik (München: Verlag C. H. Beck 2015), S. 9–123, S. 14. Vgl. a.a.O., S. 14–16. Reuter: Grundlagen und Methoden der Ethik, S. 14.
IV Im Gespräch mit der Empirie: praktisch-theologische Perspektiven
Auch in der bereits diskutierten praktisch-theologischen Literatur zum Fasten wird seine ethische Dimension hervorgehoben. Hier ist zum einen an Bohren und Seitz zu erinnern, die auf die sozialethischen (und sozialpolitischen) Implikationen von Askese hinweisen. Zum anderen sieht insbesondere Claudia Gärtner das neue Interesse am Fasten als religionspädagogische Chance, über ethische Fragen der Nachhaltigkeit ins Gespräch zu kommen.5 Das erhobene empirische Material zeigt, dass auch für mehrere Befragte die ethische Dimension des Fastens ausschlaggebend ist. Thematisch sind es in der Tat Fragen der Nachhaltigkeit, die diese Fastenden beschäftigen. Diese Themen stehen in der »Aktion Klimafasten« ebenfalls im Mittelpunkt und auch die Fastenmottos von »7 Wochen Ohne« zeigen in manchen Jahren eine große Nähe zu ethischen Fragen (so z.B. 2019 »Mal ehrlich – 7 Wochen ohne lügen«). Jedoch ist auch an Gärtners Aufruf zur Vorsicht angesichts der Verwobenheit von Konsumverhalten und Identitätskonstruktion zu erinnern:6 Für manche der prinzipienorientiert Fastenden, insbesondere für Martina, Michael und Sabine, hat ihr konsumkritisch orientiertes Fasten tatsächlich eine existenzielle Dimension, die sich beim (versehentlichen) Fastenbrechen als »schlechtes Gewissen« auswirkt. Auch wenn Jonas in dieser Hinsicht deutlich entspannter wirkt und gelegentliches Fastenbrechen als eher unproblematischen »Ausrutscher« beschreibt, können mit der Orientierung an ethischen Prinzipien auch schmerzhafte Erfahrungen einhergehen. In der evangelischen Theologie gilt die Kommunikation über Themen der Ethik und der Lebensführung als komplex und herausfordernd, wie sich beispielhaft am Diskurs um die ethische und politische Predigt beobachten lässt.7 So stellt sich z.B. die Frage, »ob, wie viel und was die Predigt den Hörern an Erwartungen
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Vgl. Gärtner, Claudia: Klima, Corona und das Christentum, S. 142–148. (Siehe zu Gärtners Ansatz im Detail Kapitel II.3 c). Vgl. a.a.O., S. 147f. Die genaue Definition einer ›ethischen Predigt‹ ist umstritten. Da in diesem Fall der Kontext die explizite Auseinandersetzung mit ethischen Normen ist, folge ich hier Regina Fritz und Manuel Stetter in ihrem Verständnis einer ›ethischen Predigt‹ als einer solchen, »die das sittliche Handeln sowohl in seinen individual-als auch in seinen sozialethischen Bezügen zum Thema hat« (Fritz, Regina: Ethische Predigt. Zur Kommunikation des Ethos auf der Kanzel, in: International Journal of Practical Theology 2012, 16 (2), S. 197–220, S. 200) bzw. als eine Predigt, die »auf Fragen der Lebensgestaltung Bezug nimmt« (Stetter, Manuel: Wie sagen, was gut ist? Überlegungen zu drei Verfahrensweisen ethischer Predigt, in: Helmut Schwier (Hg.): Ethische und politische Predigt. Beiträge zu einer homiletischen Herausforderung. Eine Veröffentlichung des Ateliers Sprache e. V., Braunschweig (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015), S. 159–183, S. 161). Für ein weiter gefasstes Verständnis von ethischer Predigt vgl. z.B. Deeg, Alexander: Ethisch predigen und die Bibel inszenieren. Dramaturgisch-homiletische Reflexionen zur ethischen Predigt, in: Schwier (Hg.): Ethische und politische Predigt, S. 117–142, S. 117.
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Antonia Rumpf: Wozu fasten?
oder Anforderungen an ihr ethisches Verhalten zumuten darf.«8 Auch die Risiken, die Hörer*innen zu bevormunden, komplexe ethische Dilemmata verzerrend zu verkürzen, bei der Urteilsbildung intransparente Maßstäbe anzulegen oder schlicht die Verkündigung des Evangeliums auf unangemessene Weise zu verzwecken, werden als Herausforderungen benannt.9 Nichtsdestoweniger sprechen sich Praktische Theolog*innen für die Thematisierung ethischer Fragen aus, denn die »realen Umstände und konkreten Herausforderungen des Lebens dürfen in der Predigt des Evangeliums nicht übergangen werden, weder im Hinblick auf Fragen, die in den Medien diskutiert werden, noch im Hinblick auf konkrete Lebens- und Gestaltungsfragen, die sich vor Ort ergeben.«10 Der christliche Glaube ist keine rein innerliche Angelegenheit, sondern schlägt sich in sozialen Praktiken nieder und ist damit auch Teil des gesellschaftlichen Lebens.11 Dabei soll die Komplexität ethischer Fragen in der Moderne ernst genommen werden, indem z.B. auch die Predigenden selbst als Fragende und Suchende auftreten12 und indem sie Angebote machen, statt Anweisungen zu geben und die Hörenden somit als mündige, zum ethischen Denken und Urteilen befähigte Subjekte auf Augenhöhe ansprechen.13 Vor dem Hintergrund der Interviews legt sich die explizite Thematisierung ethischer sowie umwelt- und sozialpolitischer Fragen im Raum der Kirche nahe. Obgleich die empirische Studie nicht im statistischen Sinne repräsentativ ist, kann davon ausgegangen werden, dass die herausgearbeitete Typik einer Orientierung an Prinzipien durchaus verallgemeinerbar und der Diskurs über Fragen der Lebensführung von vielen Kirchenmitgliedern erwünscht ist. Dies zeigt sich z.B. daran, dass mehrere Befragte in den Interviews ihre ethischen Grundsätze explizit thematisieren und insbesondere auf Dilemmasituationen und Gewissenskonflikte ausführlich eingehen. In der Gruppe der Prinzipienorientierten ist dies 8 9
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Hoffmann, Martin: Ethisch und politisch predigen. Grundlagen und Modelle (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011), S. 11. Vgl. a.a.O., S. 12; vgl. zudem Karle, Isolde: Politische Predigt in Deutschland, in: Theologische Literaturzeitung 142 (2017), S. 995–1006, S. 1000; Schwier, Helmut: Ethisch predigen heute? Thematische Einführung, in: Ders. (Hg.): Ethische und politische Predigt, S. 11–26, S. 12; Stetter, Manuel: Wie sagen, was gut ist?, S. 160. Karle: Politische Predigt in Deutschland, S. 998. Vgl. Anselm, Reiner: Verantwortung für das Allgemeine. Zwecke und Adressaten einer politischen Predigtkultur, in: Sonja Keller (Hg.): Parteiische Predigt. Politik, Gesellschaft und Öffentlichkeit als Horizonte der Predigt (Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017), S. 15–20, S. 15. Vgl. Deeg: Ethisch predigen und die Bibel inszenieren, S. 140. Vgl. Stetter: Wie sagen, was gut ist?, S. 160; Hermelink, Jan: Öffentliche Inszenierung des Individuellen. Praktisch-theologische Beobachtungen zu den politischen Implikationen der Praxis evangelischer Predigt in der Gegenwart, in: Keller (Hg.): Parteiische Predigt, S. 105–124, S. 123; Merle, Kristin: Pluralität gestalten. Das Politische als Dimension der Homiletik, in: Keller (Hg.) Parteiische Predigt, S. 37–51, S. 48.
IV Im Gespräch mit der Empirie: praktisch-theologische Perspektiven
am auffälligsten, jedoch kommen durchaus auch Befragte aus den Gruppen der Selbsterfahrungsorientierung (v.a. Ingrid) und der Relationsorientierung (Günther, Lydia und Ida) auf ethische Prinzipien zu sprechen. Es handelt sich mithin um ein Themengebiet, das in der Fastenzeit für viele Menschen hohe Relevanz gewinnt und mit dem sie sich eine Auseinandersetzung wünschen. Diesem Wunsch ausgerechnet in der Fastenzeit vertieft nachzugehen, ist nicht verwunderlich, denn die Verbindung von Ethik und asketischen Praktiken ist nicht neu: Seit der alten Kirche bis hinein ins 15. Jahrhundert wurde Askese immer wieder als Bestandteil der ethischen Bildung bzw. der Einübung in Tugenden angesehen – eine Sichtweise, die in der Reformationszeit in den Verdacht geriet, Werkgerechtigkeit zu befördern und daher zunehmend an Überzeugungskraft verlor,14 mittlerweile aber wieder an Plausibilität gewinnt. Dies greift Claudia Gärtners Ansatz konkret auf – nicht im Sinne einer stetigen Selbstoptimierung, sondern im Sinne einer Einübung in bestimmte Praktiken oder, in Anlehnung an Rudolf Bohren, als »stilbildendes Element«.15 Dies basiert auf einer der ursprünglichsten Bedeutungen von Askese. Die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen kann zum einen in den Predigten an den Sonntagen der Passionszeit geschehen (hier bietet der Diskurs um die ethische und politische Predigt zahlreiche Anregungen, wie dies in angemessener und konstruktiver Weise erfolgen kann), zum anderen auch in gemeindlichen Fastengruppen und anderen Angeboten. Das Material der Fastenaktionen kann dafür eine Grundlage darstellen. Allerdings ist in diesem Zusammenhang an Andrea Bielers Kritik an der »Ambivalenzfreiheit«16 mancher »7 Wochen Ohne«-Mottos zu erinnern (z.B. 2008: »Verschwendung! – 7 Wochen ohne Geiz«, 2010: »Näher! – 7 Wochen ohne Scheu« oder 2013: »Riskier was, Mensch! – 7 Wochen ohne Vorsicht«): Hier wird »die Chance verspielt, mit der Fastenpraxis die Kultivierung von Ambiguitätstoleranz zu verknüpfen«.17 Vor dem Hintergrund, dass die Befragten gerade auch ethische Konfliktsituationen und Dilemmata thematisieren (und auch der Diskurs um die ethische Predigt zu Komplexität und Dialog mahnt), wäre es in der Tat wünschenswert, wenn die jährlichen Appelle von »7 Wochen Ohne« in Fastengruppen auch kritisch hinterfragt und diskutiert würden. Dasselbe gilt für die im Interviewmaterial dominierenden Fragen nach Konsumkritik und Nachhaltigkeit, die auch von der Misereor-Fastenaktion und der »Aktion Klimafasten« aufgegriffen werden: Die Auseinandersetzung mit sozial verträglichem und nachhaltigem Konsum sollte den Teilnehmenden nicht nur Problematiken aufzeigen, sondern ihnen
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Vgl. dazu im Detail Hagman, Patrik: The End of Asceticism. Luther, Modernity and how Asceticism Stopped Making Sense, in: Political Theology, 14.2 (2013), 174–187, insbesondere S. 177–181. Vgl. Bohren: Fasten und Feiern, S. 23. Bieler: Askese Postmodern, S. 218. A.a.O., S. 220.
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auch die Möglichkeit geben, sich als zum Handeln Befähigte zu erfahren – ohne sie dabei mit unerfüllbaren Ansprüchen zu belasten und das »schlechte Gewissen«, von dem Martina, Sabine und Michael berichten, noch zu verstärken.
b) »Da bin ich gescheitert« – die theologische Rede von der Sünde als Bearbeitungsstrategie für das Bezugsproblem der Befragten Ein sensibler, ambiguitätstoleranter Umgang mit ethischen Themen ist von besonderer Bedeutung, wenn man sich der funktionalen Betrachtung der impliziten Wissensbestände der Prinzipienorientierten zuwendet. Denn das Bezugsproblem der Prinzipienorientierten besteht nicht in ihren ethischen Maßstäbe an sich, sondern vielmehr in der Tatsache, dass sie an diesen Maßstäben immer wieder scheitern und ihre Prinzipien nicht oder nur unzureichend in die Realität umsetzen können. Dieser Aspekt wird in den Materialen zeitgenössischer Fastenaktionen, insbesondere »7 Wochen Ohne« und »7 Wochen anders leben«, regelmäßig aufgegriffen. In einem Fastenbrief der Aktion »7 Wochen anders leben« wird die Erfahrung, an einem Fastenvorhaben zu scheitern, zudem mit einer Passage aus Röm 7 parallelisiert: »Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.« (Röm 7,19).18 Paulus beschreibt in Röm 5–7 das Dasein unter der Macht der Sünde. Bei diesen Kapiteln handelt es sich um eine der »schwierigsten und umstrittensten Passagen des Neuen Testaments«19 , deren Aussagen »auch im Zusammenhang der hamartiologischen Äußerungen des Paulus selbst analogielose Spitzensätze darstellen«.20 Michael Wolter legt die Passage wie folgt aus: »Paulus versteht die Sünde als eine im Menschen befindliche Macht, die den Menschen zum Sündigen zwingt. Sie ist vor dem Gesetz da, und der Mensch kann immer nur als Sünder mit dem Gesetz umgehen. Das ist wie in der Mathematik: Wenn man etwas mit Null multipliziert, ist das Ergebnis immer Null. Das heißt: Weil der Mensch immer nur als Sünder mit dem Gesetz umgeht, kann er nichts anderes tun als immer neue Sünde zu produzieren. Diesen anthropologischen Zwang zum Sündigen, dieses Immer-nur-Sünde-produzieren-können, kleidet Paulus in Röm 7,7-25 in die Metapher vom ›Fleisch‹. Gemeint sind damit natürlich nicht die sog. ›Sünden des Fleisches‹, sondern Paulus verwendet diese Kategorie als Bild für die Unausweichlichkeit des Sündigens: Wie keine menschliche Existenz ohne ›Fleisch‹ denkbar ist, so ist auch keine menschliche Existenz ohne Sünde denkbar. Die Sünde gehört darum so notwendig zum menschlichen Leben
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Vgl. Andere Zeiten e. V.: Fastenbrief 2/2013, S. 2. Oberdorfer, Bernd: Der suggestive Trug der Sünde. Römer 7 bei Paulus und Luther, in: Sigrid Brandt/Marjorie H. Suchocki/Michael Welker (Hg.): Sünde. Ein unverständlich gewordenes Thema (Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 1997), S. 125–152, S. 126. Ebd.
IV Im Gespräch mit der Empirie: praktisch-theologische Perspektiven
dazu wie das Fleisch. […] In den folgenden Versen beschreibt Paulus dann auch die Gespaltenheit des Menschen: Mit dem Kopf findet er das Gesetz richtig und gut, trotzdem macht er aber immer wieder die Erfahrung, dass er trotz dieser Einsicht dem Gesetz zuwiderhandelt«21 . Es ist unbestreitbar, dass diese Sicht auf die Sünde als Teil der conditio humana zu einem anthropologischen Pessimismus führen kann. Nichtsdestoweniger ist die hier beschriebene Erfahrung aus funktionaler Perspektive dem Bezugsproblem der Prinzipienorientierten sehr ähnlich, da auch sie die Erfahrung machen, eben nicht all das tun zu können, was sie für ethisch gut befinden. Insofern erscheint die Entscheidung von »7 Wochen anders leben«, eine Parallele zwischen dieser Passage und dem Erleben der Fastenden herzustellen, schlüssig und dieses spezifische Verständnis von Sünde22 als ein relevanter theologischer Topos im Kontext zeitgenössischen Fastens. Damit bietet sich die Möglichkeit, an eine lange theologische Tradition anzuknüpfen, denn ›Sünde‹ war bis in die Neuzeit hinein das theologische Bezugsthema von Karfreitag und Ostern schlechthin. Mittlerweile wird das Verständnis von Jesu Tod als Sühneopfer für die menschliche Sünde allerdings deutlich seltener vertreten. Entsprechend ist die Rede von ›Sünde‹ in Osterpredigten zurückgegangen. Tilman Walther-Sollich beobachtete in seiner Untersuchung von 200 Karfreitags- und Osterpredigten aus dem 20. Jahrhundert sogar einen »grundlegende[n] Paradigmenwechsel der Festdeutung«23 . Während in Karfreitagspredigten aus den Jahren 1900–1930 eine »Ausrichtung auf das Problem von Schuld, Sünde und deren Überwindung«24 klar erkennbar ist, traten (nach einer Übergangsphase) 1961–1980 »Verunsicherungen des individuellen Selbstwertes«25 in den Fokus der meisten Predigten. Karfreitag wird nicht mehr als »Sieg Christi über die Sünde«26 gedeutet, sondern »Karfreitag bedeutet Geborgenheit in der Liebe Gottes und Stärkung für die Aufgaben des Lebensalltags.«27 Die Themen Schuld und Sünde spielen dabei nur
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Wolter, Michael: Die Rhetorik der Sünde im Neuen Testament, in: Brandt u.a. (Hg.): Sünde, S. 108–124, S. 120. Es ist zu beachten, dass es sich hier nur um ein neutestamentliches Sündenverständnis neben anderen handelt. Vgl. für einen Überblick über verschiedene Verständnisse von ›Sünde‹ im NT a.a.O. Walther-Sollich, Tilman: Festpraxis und Alltagserfahrung. Sozialpsychologische Predigtanalysen zum Bedeutungswandel des Osterfestes im 20. Jahrhundert (Stuttgart/Berlin/Köln: Kohlhammer 1997), S. 170. A.a.O., S. 120. A.a.O., S. 155. A.a.O., S. 133. A.a.O., S. 165.
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noch eine untergeordnete Rolle, im Fokus stehen eher (ungerechtes) Leiden und dessen Überwindung.28 Auch in den untersuchten Materialien der Fastenaktionen begegnet der Begriff ›Sünde‹ selten, was auch der Tatsache geschuldet sein mag, dass das Fasten in ihnen insgesamt weniger auf Ostern bezogen ist als auf die persönlichen Fastenvorhaben der Teilnehmenden. Von Seiten der Praktischen Theologie wird der schwindende Fokus auf Karfreitag und Ostern bisweilen kritisiert:29 Ostern ist zwar theologisch betrachtet eines der wichtigsten (wenn nicht das wichtigste) Fest des Christentums, ist aber im gesellschaftlichen Mainstream längst nicht so verankert wie Weihnachten. Dass das Fasten in den letzten Jahrzehnten gerade auch unter Menschen an Beliebtheit gewonnen hat, die nicht zu den stark verbundenen Kirchenmitglieder zählen, könnte als Chance genutzt werden, Karfreitag und Ostern wieder stärker im öffentlichen Bewusstsein zu verankern. Dafür müsste es aber vermutlich stärker in Verbindung mit der individuellen Gestaltung und Deutung der Passionszeit durch Fastende gebracht werden. Meine These ist, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema ›Sünde‹, insbesondere im Anschluss an das Sündenverständnis in Röm 5–7, dafür eine Möglichkeit darstellen könnte. Eine wesentliche Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass der Begriff ›Sünde‹ sehr belastet ist. Sigrid Brandt konstatiert, der Begriff befinde sich »in desolatem Zustand. […] Nicht nur, daß er in seinem säkularen umgangssprachlichen Gebrauch überwiegend der Verschlüsselung von Sünde dient, statt ihrer Erkenntnis und dem verantwortlichen Umgang mit ihr; auch hat die Pluralisierung des Sündenverständnisses in den letzten Jahrzehnten zum theologischen wie allgemeinen Bedeutungsschwund des Sündenbegriffs beigetragen.«30 Es kommt hinzu, dass der Begriff ›Sünde‹ eine wechselvolle Geschichte hinter sich hat und ihm daher sowohl theologisch als auch gesamtgesellschaftlich oft mit Misstrauen begegnet wird: So steht das Christentum seit der Aufklärung »in dem Verdacht, dass es nicht eine tatsächliche Schuld zu bewältigen hilft, sondern dem Menschen ein Schuldgefühl allererst einredet. Die christliche Sündenlehre (Hamartiologie) steht somit unter Ideologieverdacht. Der religionskritische Einwand lautet, das Christentum betreibe ein zweifelhaftes Geschäft
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Walther-Sollich führt diesen Paradigmenwechsel in psychoanalytischer Tradition auf psychologische Veränderungen in der Gesellschaft zurück. Dies wäre es wert, (kritisch) diskutiert zu werden, was hier nicht erfolgen kann – seine grundlegenden Beobachtungen zu Themen in den Karfreitagspredigten sind allerdings auch ohne seine psychoanalytischen Folgerungen wertvoll. Vgl. Koll, Julia: »Ich tue mir nichts an, ich gönne mir etwas«, S. 21. Brandt, Sigrid: Sünde. Ein Definitionsversuch, in: Dies.u.a. (Hg.): Sünde, S. 13–34, S. 13.
IV Im Gespräch mit der Empirie: praktisch-theologische Perspektiven
mit der Angst und einem künstlich erzeugten schlechten Gewissen. Sünde sei demnach keine reale Schuld, sondern ein ideologisches Schuldgefühl, das einen anthropologischen Pessimismus rechtfertige, von dem wir nicht durch Vergebung, sondern durch Aufklärung und Religionskritik befreit würden.«31 Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass es vielen zeitgenössischen Prediger*innen nicht leichtfällt, über Sünde zu predigen.32 Michael Meyer-Blanck, Ursula Roth, Jörg Seip und Bernhard Spielberg beobachten, bei Sünde handele es sich »um ein hochsensibles Themenfeld, das mit einer moralistisch enggeführten Deutungstradition und einer entsprechenden Geschichte des apodiktisch-einschüchternden und herablassend-bevormundenden Redens über die Sünde beladen und belastet ist. Groß ist da die Befürchtung, man geriete in das Fahrwasser kirchlich-autoritärer Besserwisserei. Und so erstaunt es nicht, dass das Reizwort ›Sünde‹ in der gegenwärtigen Predigtpraxis kaum begegnet – obwohl es in den zu predigenden biblischen Texten immer wieder vorkommt.«33 Zugleich konstatieren sie: »Die Predigtpraxis hat […] darunter gelitten, dass mit dem Schweigen von der Sünde zugleich eine fundamentale Perspektive menschlicher Existenz ausgeblendet wurde. Die homiletische Rehabilitation der Sündenpredigt ist längst überfällig.«34 Auch Isolde Karle plädiert für eine Aufnahme des Themas, benennt jedoch drei problematische Tendenzen. Eine liegt darin, Sünde vor dem Hintergrund einer falsch verstandenen Rechtfertigungslehre zu banalisieren: »Unsere Taten und Untaten spielen letztlich keine Rolle mehr, weil uns quasi schon vergeben ist, bevor wir sie überhaupt begangen haben. Nach dem Motto ›Schwamm drüber‹ wird die Rechtfertigungslehre in schwer erträglicher Weise trivialisiert.«35 Dabei wird unterschlagen, dass in der biblischen und theologischen Tradition die Annahme sündiger Menschen immer mit einer Kritik der Sünde einhergeht und die Umkehr bzw. Buße der Menschen voraussetzt.36 Eine zweite Problematik ist ein ausschließlich negativer Blick auf die Menschen und auf die Welt, der impliziert, dass Menschen der Sünde hilflos ausgeliefert sind und keinerlei Möglichkeit haben, 31 32 33
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Körtner, Ulrich H. J.: Dogmatik (=LETh 5, Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2018), S. 337. Vgl. Karle, Isolde: Der sündige Mensch in der Predigt – Probleme und Perspektiven, in: DtPfrBl 117 (2017), 136–140, S. 136. Meyer-Blanck, Michael/Roth, Ursula/Seip, Jörg/Spielberg, Bernhard: Vorwort, in: Dies. (Hg.): Sündenpredigt (München: Don Bosco 2012), S. 9f., S. 9. Vgl. auch Gräb, Wilhelm: Der menschliche Makel. Von der sprachlosen Wiederkehr der Sünde, in: Pastoraltheologie, 97 (2008), 7, Seite 238–253, S. 250. Ebd. Karle: Der sündige Mensch in der Predigt, S. 137. Vgl. ebd.
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ihr zu entfliehen. Dies ist nicht nur aufgrund der negativen Anthropologie problematisch, sondern führt auch in der Predigt in eine kommunikative Sackgasse, da den Hörenden nur mehr empfohlen werden kann, die Gnade Gottes an sich wirken zu lassen. Wie dies konkret geschehen kann und was die Hörenden dafür tun können, bleibt dabei unklar und führt nicht selten zu Frustration bei den Hörenden.37 Zuletzt besteht die Problematik der Moralisierung von Sünde, die ›Sünde‹ mit moralischem Fehlverhalten gleichsetzt – und zwar auf eine triviale Art und Weise, die die existenzielle Dimension der Sünde unterschlägt, die Opfer der Sünde nicht in den Blick nimmt und nicht zuletzt zu einer gesetzlichen Predigt führt.38 Auch Wilhelm Gräb beobachtet, dass der Begriff ›Sünde‹ in Predigten vermieden wird, obwohl Topoi, die sich theologisch als ›Sünde‹ bezeichnen ließen, durchaus relevant sind. Als Beispiele für diese »sprachlose Wiederkehr der Sünde«39 nennt er die Romane »Der menschliche Makel« (»The Human Stain«, Philip Roth), »Beim Häuten der Zwiebel« (Günter Grass) und »Am Beispiel meines Bruders« (Uwe Timm). Er beobachtet sowohl in diesen Romanen als auch gesamtgesellschaftlich eine Moralisierung des Begriffs Sünde (Verständnis als moralischer Verstoß bzw. Fehlverhalten)40 und eine grundsätzliche Anthropologisierung der Sünde: »War die Sünde in ihrem theologischen Verständnis einst die Verletzung von Gottes Gebot, so ist der menschliche Makel nun das menschliche Eingeständnis, dass wir nicht vollkommen sind, bzw. strenger, dass wir unsere menschliche Freiheit im letztlich unerklärlichen bösen Tun doch verfehlen.«41 Gräb räumt ein, dass dieses Verständnis von Sünde als »menschlicher Unvollkommenheit« aus systematisch-theologischer Perspektive durchaus angreifbar sei. Dennoch plädiert er dafür, »der Anthropologisierung der Sünde als menschlicher Unvollkommenheit und Bosheit sowie ihrer Moralisierung als menschlicher Fehlerhaftigkeit und Schuld Rechnung [zu] tragen. D.h. wir sollten aufhören, dieses verbreitete Verständnis von Sünde als theologisches Missverständnis zu erklären, um sie stattdessen erneut zum Abfall von Gott machen zu wollen. Das wird nicht funktionieren. Denn solcher Rede ist der hörwillige Adressat abhanden gekommen [sic]. Dies seinerseits als Ausdruck der Sünde zu verstehen, mag zwar dogmatisch-theologisch begründbar sein, entbehrt aber ebenfalls jeder Chance kommunikativer Vermittlung.«42
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Vgl. ebd. Wilfried Engemann kritisiert diesen Predigtstil als »homiletischen Lassiv«, s. Ders.: Einführung in die Homiletik (Tübingen: Francke, 2 2011), S. 215. Vgl. Karle: Der sündige Mensch in der Predigt, S. 137f. S. den Untertitel seines Aufsatzes a.a.O., S. 238. A.a.O., S. 238–240. A.a.O., S. 243. A.a.O., S. 250.
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Zudem sei auch das anthropologisch-moralische Verständnis von Sünde durchaus theologisch begründbar. Z. B. könne man die theologische Lehre von der Erbsünde so verstehen, dass Menschen, die in der ihnen gegebenen Freiheit auch das Böse wählen können, immer in gesellschaftliche und geschichtliche negative Zusammenhänge verstrickt seien: »[W]eil wir als freie Menschen zugleich geschichtliche Wesen sind, ist auch die Wahl des Guten immer schon vom Verhängnis kontaminiert, tragen wir mit an der Schuld, die Generationen vor uns auf sich geladen haben.«43 Nimmt man ein solches Sündenverständnis ernst, heißt dies, in Predigten klar zwischen Gesetz und Evangelium zu unterscheiden: »Ja sagen zum moralischen Sündenverständnis und zum Gesetz als dem Gesetz des Lebens. Gott aber ganz auf die Seite des Evangeliums rücken und den Glauben an ihn als eine menschliche Möglichkeit des lebensdienlichen Umgangs mit menschlicher Schulderfahrung begreifen.«44 Darin sieht Gräb auch eine Chance, Rechtfertigung neu zu verstehen. Denn mit der theologischen Abkehr von der Vorstellung von Gott als Richter, vor dem man sich fürchten müsse, habe auch die Botschaft von Gottes Gnade gegenüber den sündigen Menschen an Schlagkraft verloren: »Wo keine Furcht ist vor einem zornigen Richtergott, dort ist auch kein Aufatmen angesichts der Botschaft, dass Gott den Gläubigen vergibt«.45 Gräb plädiert dafür, in Predigten über Sünde nicht in die Rede von einem Richtergott zurückzufallen, sondern stattdessen den Fokus darauf zu legen, dass Gott die Möglichkeit eröffnet, nicht für immer im Zusammenhang der Sünde verhaftet zu bleiben: »Mit Gott im Herzen kommen wir vielmehr so über die Sünde hinaus, dass wir uns und alle Welt trotz des menschlichen Makels und der schuldhaften Verstrickungen unendlich geliebt, anerkannt, gerechtfertigt wissen.«46 Auch Michael Meyer-Blanck beobachtet, dass die theologischen Bemühungen, den Begriff ›Sünde‹ von moralischem Fehlverhalten abzugrenzen, angesichts empirischer Studien ins Leere gehen: gesellschaftlich werde Sünde sehr wohl damit assoziiert, etwas Falsches zu tun, insbesondere damit, andere Menschen zu verletzen.47 Er beobachtet dieselben Schwierigkeiten in der Kommunikation über ›Sünde‹ wie Gräb: »Das Gottesverhältnis als ein gestört wahrgenommenes liegt offensichtlich jenseits des Leidensdruckes von vielen Predigthörenden. ›Sünde‹ und ›Gottesferne‹
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A.a.O., S. 249. A.a.O., S. 251. A.a.O., S. 252. Ebd. Vgl. Meyer-Blanck, Michael: Reden von der Güte und ihrer Störung im Wandel der Zeiten. Problemaufriss und Umschau zur Sündenpredigt, in: Ders.u.a.: Sündenpredigt, S. 236–249, S. 238f.
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haben keine sich spontan einstellende semantische Nähe. Wenn man an dem eigenen Gottesverhältnis (bzw. am eigenen Nicht-Verhältnis zu Gott) leidet, dann bringt man dieses nicht mit der Kategorie der Sünde in Verbindung, sondern eher mit der grundsätzlichen Frage von Leiden, Theodizee und Glaubenszweifel. Dagegen erlebt man trotz aller guten theologischen Argumente eben doch die eigene Unzulänglichkeit, das Verletzen anderer und böses Handeln als Sünde und weniger das Getrenntsein von Gott. Darum scheint die Versicherung, dass Gott den Graben zwischen sich selbst und den Sündern überwunden habe und diesen stets neu überwinde, ungehört zu verhallen.«48 Dagegen spiele die Auseinandersetzung mit Schuld und Scham gegenwärtig eine signifikante Rolle, auch wenn sie nicht unbedingt immer religiös konnotiert sei.49 Meyer-Blanck hält es in der Predigt für zentral, sauber zwischen Schuld und Schuldgefühl zu unterscheiden: Schuldgefühle sollen nicht grundlos eingeredet werden, zugleich soll die Realität tatsächlich bestehender Schuld und des Leidens daran nicht banalisiert werden.50 Gräb, Karle und Meyer-Blanck plädieren damit alle drei für eine Wiederaufnahme des Sündenbegriffs in der Predigt bzw. der religiösen Kommunikation. Diese soll jedoch »nicht abstrakt, nicht hochdogmatisch, sondern im differenzierten Nachdenken über die Komplexität des Lebens, seiner Bedrückungen, Irrtümer, Beschämungen und Schattenseiten erfolgen.«51 Meyer-Blanck und insbesondere Gräb beschreiben hier dasselbe Bezugsproblem, das auch von vielen prinzipienorientierten Fastenden bearbeitet wird. Es ist deshalb wichtig, realistisch über Sünde zu kommunizieren. Dies kann selbstverständlich nicht nur im Modus der Predigt geschehen. Für die Thematisierung von ›Sünde‹ können ebenso Gespräche in Fastengruppen ein geeigneter Ort sein. Eine weitere Fundgrube für Anregung zur Auseinandersetzung mit Sünde bieten (oft gerade ältere) Kirchenlieder, insbesondere Passionslieder, die in ihren Formulierungen für moderne Hörer*innen durchaus herausfordernd sein können.52 Auch sie können nicht nur im Gottesdienst, sondern z.B. auch in einer Fastengruppe gemeinsam gesungen und diskutiert werden, gerade auch im Hinblick auf ihre 48 49 50 51 52
A.a.O., S. 239. Vgl. a.a.O., S. 242. Vgl. a.a.O., S. 245. Karle: Der sündige Mensch in der Predigt, S. 139. Vgl. z.B. Johann Crügers »Herzliebster Jesu, was hast du verbrochen«, Strophe 3: »Was ist doch wohl die Ursach solcher Plagen? Ach, meine Sünden haben dich geschlagen; ich, mein Herr Jesu habe dies verschuldet, was du erduldet.« (EG 81) oder Paul Gerhardts »O Haupt voll Blut und Wunden«, Strophe 4: »Nun, was du, Herr, erduldet, ist alles meine Last; ich hab es selbst verschuldet, was du getragen hast. Schau her, hier steh ich Armer, der Zorn verdienet hat. Gib mir, o mein Erbarmer, den Anblick deiner Gnad.« (EG 85). Vgl. zum Thema Sünde in Kirchenliedern ausführlich: Klek, Konrad: Sünde im Kirchenlied, in: Meyer-Blanck u.a. (Hg.): Sündenpredigt, S. 13–29.
IV Im Gespräch mit der Empirie: praktisch-theologische Perspektiven
problematischen Aspekte. Eine weitere Möglichkeit, das Thema aufzunehmen, bieten die Materialien zu Fastenaktionen. Eine differenzierte und nuancierte Auseinandersetzung mit dem Sündenverständnis, das in Röm 7 formuliert wird, kann nicht nur Fastenden helfen, sondern auch anderen Menschen, die die Erfahrung machen, hinter ihren Ansprüchen zurückzubleiben. Es bietet ihnen die Möglichkeit, die Differenz zwischen Überzeugung und Handeln nicht nur als persönliches Versagen zu erleben, sondern als zutiefst menschliche Gegebenheit: »Indem die Predigt die conditio humana vor Augen führt, leistet sie einen Beitrag zur Realitätstauglichkeit des Menschen.«53 So über Sünde zu kommunizieren stellt damit einerseits eine psychologische Entlastung der Individuen dar – sie sind nicht allein für ihr Scheitern verantwortlich – und eröffnet zugleich im Rahmen der christlichen Perspektive den Blick auf Gott, da Gott sich auch und gerade den Menschen, die sich in Sünde gefangen erleben, zuwendet. Dabei ist deutlich zu machen: Nicht das Brechen des Fastenvorhabens, indem z.B. ein Stück Schokolade gegessen oder doch etwas aus Plastik gekauft wird, ist Sünde im Sinne einer »Tatsünde«, sondern die Unfähigkeit, das umsetzen zu können, was man für gut und richtig hält. Zu bedenken wäre zudem der überindividuelle Aspekt: In mehreren Interviews klingt ein Bewusstsein dafür an, die wahrgenommenen Probleme nicht allein lösen zu können, da sie systemischer und struktureller Natur sind. Auch dies kann in die Rede von Sünde eingebunden werden, indem deutlich gemacht wird, dass viele Menschen »das Gute, das sie wollen« nicht tun können, weil ihre Handlungen innerhalb sozialer Systeme erfolgen, die es teilweise unmöglich machen, die eigenen Überzeugungen auszuleben. Die Unausweichlichkeit des Sündigens ist entsprechend nicht nur auf der individuell-anthropologischen Ebene gegeben, sondern genauso auf der gesellschaftlichen. Die Auseinandersetzung mit ethischen Fragen in Kirche und Gemeinde kann »das Ausmaß struktureller Sünde [thematisieren], die sich einerseits jenseits von uns, andererseits aber auch nicht ohne unsere Beteiligung vollzieht«.54 Dabei geht es »nicht nur um eine moralische Haftung des Einzelnen, sondern um eine Sensibilität für die überindividuellen Dynamiken, die sich in den Kontexten von Sünde entfalten.«55 Diese Sensibilität kann die Befragten ebenfalls davon entlasten, sich in Gewissensbissen und Schuldgefühlen zu verlieren. Sie bildet somit auch einen wichtigen Beitrag dazu, dass zeitgenössisches Fasten nicht in eine ethische Selbstoptimierung oder Werkgerechtigkeit abgleitet. Damit bietet sich die Chance, eine zweifache Verbindung zwischen dem Erleben (mancher) Fastender und dem theologischen Topos ›Sünde‹ herzustellen: Auf der inhaltlichen Ebene schafft das moralische Sündenverständnis eine Nähe zu dem gro53 54 55
Merle: Pluralität gestalten, S. 48. Karle: Politische Predigt in Deutschland, S. 998 (Hervorhebung original). A.a.O., S. 999.
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ßen Interesse an Fragen der Ethik und Lebensführung, die viele Menschen beschäftigen. Zugleich ist auf der funktionalen Ebene eine analoge Struktur des Sündenverständnisses in Röm 5–7 und des Bezugsproblems der prinzipienorientierten Fastenden zu beobachten, sodass davon ausgegangen werden kann, dass die Auseinandersetzung mit ›Sünde‹ nicht nur rein inhaltlich interessant ist, sondern auch einen Beitrag zur Bearbeitung dieses Bezugsproblems leisten kann. Dieses Potenzial wird dadurch noch gesteigert, dass auch zahlreiche Situationen aus den Passionsgeschichten der Evangelien aus dieser Perspektive gelesen werden können: Wenn die Jünger in Gethsemane wiederholt einschlafen oder Petrus entgegen seiner Beteuerungen Jesus verleugnet, kommt dasselbe Bezugsproblem zur Sprache. Dies könnte für die Bearbeitung der Differenz zwischen Überzeugung und Handeln eine wertvolle Ressource darstellen.
2 Herausforderungen moderner Individualität: zwischen »tiefer Adressierung« und Gesundheitsstress a) »Eine wirklich gute Körpererfahrung« – Pilgern und Salbungsgottesdienste als funktionale Äquivalente des körperlich praktizierten Fastens In der zweiten Gruppe der Fastenden, in der eine Orientierung an Selbsterfahrung dominiert, besteht das Bezugsproblem darin, wie Individuen in der funktional differenzierten Gesellschaft adressiert werden: in aller Regel nicht als »ganzer Mensch«, sondern jeweils nur innerhalb der Logik des Teilsystems, in dem sie sich gerade bewegen. Dies kann als »flache Adressierung« verstanden werden. Das Fasten funktioniert für diese Befragten, weil es ihnen in Abgrenzung zu den alltäglichen flachen Adressierungen eine tiefe (Selbst-)Adressierung ermöglicht, die zu der für diese Gruppe prägenden intensiven Form der Selbsterfahrung führt. Dabei spielt der Körper zwar nicht bei allen, aber vielen Befragten als »Fluchtpunkt«56 eine wesentliche Rolle. Sport und Sexualität sind zwei funktionale Äquivalente für die Ermöglichung eines solchen Erlebens. Im explizit religiösen Bereich fallen zwei Praktiken auf, die funktional betrachtet ein ähnliches Profil wie das Fasten aufweisen: Pilgern und Salbungsgottesdienste. Pilgern ist wie Fasten eine ausgesprochen alte und in vielen Religionen beobachtbare Praxis und spielte ebenso für mehrere Jahrhunderte im Protestantismus nur eine marginale Rolle, bevor es vor wenigen Jahrzehnten zu einer Wiederentde-
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Karle: Tiefe Adressierung, S. 181 (im Original kursiv).
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ßen Interesse an Fragen der Ethik und Lebensführung, die viele Menschen beschäftigen. Zugleich ist auf der funktionalen Ebene eine analoge Struktur des Sündenverständnisses in Röm 5–7 und des Bezugsproblems der prinzipienorientierten Fastenden zu beobachten, sodass davon ausgegangen werden kann, dass die Auseinandersetzung mit ›Sünde‹ nicht nur rein inhaltlich interessant ist, sondern auch einen Beitrag zur Bearbeitung dieses Bezugsproblems leisten kann. Dieses Potenzial wird dadurch noch gesteigert, dass auch zahlreiche Situationen aus den Passionsgeschichten der Evangelien aus dieser Perspektive gelesen werden können: Wenn die Jünger in Gethsemane wiederholt einschlafen oder Petrus entgegen seiner Beteuerungen Jesus verleugnet, kommt dasselbe Bezugsproblem zur Sprache. Dies könnte für die Bearbeitung der Differenz zwischen Überzeugung und Handeln eine wertvolle Ressource darstellen.
2 Herausforderungen moderner Individualität: zwischen »tiefer Adressierung« und Gesundheitsstress a) »Eine wirklich gute Körpererfahrung« – Pilgern und Salbungsgottesdienste als funktionale Äquivalente des körperlich praktizierten Fastens In der zweiten Gruppe der Fastenden, in der eine Orientierung an Selbsterfahrung dominiert, besteht das Bezugsproblem darin, wie Individuen in der funktional differenzierten Gesellschaft adressiert werden: in aller Regel nicht als »ganzer Mensch«, sondern jeweils nur innerhalb der Logik des Teilsystems, in dem sie sich gerade bewegen. Dies kann als »flache Adressierung« verstanden werden. Das Fasten funktioniert für diese Befragten, weil es ihnen in Abgrenzung zu den alltäglichen flachen Adressierungen eine tiefe (Selbst-)Adressierung ermöglicht, die zu der für diese Gruppe prägenden intensiven Form der Selbsterfahrung führt. Dabei spielt der Körper zwar nicht bei allen, aber vielen Befragten als »Fluchtpunkt«56 eine wesentliche Rolle. Sport und Sexualität sind zwei funktionale Äquivalente für die Ermöglichung eines solchen Erlebens. Im explizit religiösen Bereich fallen zwei Praktiken auf, die funktional betrachtet ein ähnliches Profil wie das Fasten aufweisen: Pilgern und Salbungsgottesdienste. Pilgern ist wie Fasten eine ausgesprochen alte und in vielen Religionen beobachtbare Praxis und spielte ebenso für mehrere Jahrhunderte im Protestantismus nur eine marginale Rolle, bevor es vor wenigen Jahrzehnten zu einer Wiederentde-
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Karle: Tiefe Adressierung, S. 181 (im Original kursiv).
IV Im Gespräch mit der Empirie: praktisch-theologische Perspektiven
ckung kam.57 Zudem zeichnet sich Pilgern wie manche Formen des Fastens durch eine »starke leiblich-körperliche Prägung«58 aus. Detlef Lienau, der die Erfahrungen von Pilgernden mit Hilfe von narrativen Interviews erforscht hat, beobachtet: »In seinem spezifischen Erfahrungsmodus nimmt das Pilgern teil an einem umfassenden Wandel des Religiösen. Dieser beschreibt eine Subjektivierung von Religion als selbst gemachte Erfahrung, die im leiblichen Vollzug zugleich selbst- und welterschließend ist, Gewissheit stiftet und Sinnbildungen ermöglicht.«59 Dass auch Fasten an diesem Wandel der Subjektivierung von Religion teilhaben kann, wurde bereits anhand des Materials der Fastenaktionen »7 Wochen Ohne« und »7 Wochen anders leben« gezeigt, die explizit auf die persönlichen Erfahrungen der Fastenden Bezug nehmen. Die hier vorliegenden empirischen Befunde bestätigen dies ebenfalls, insbesondere in der Gruppe der an Selbsterfahrung Orientierten: Hier haben fast alle ein kompliziertes Verhältnis zur Kirche und legen den Schwerpunkt auf individuell gestaltbare, subjektorientierte Praktiken. Lienau konnte in seinem Sample zwei Gruppen von passivisch und aktivisch orientierten Pilger*innen ausmachen.60 Zu seinem aktivischen Pilgertypus weisen die an Selbsterfahrung orientierten Fastenden teilweise deutliche Parallelen auf, die sich insbesondere im körperlichen Erleben niederschlagen. So beschreibt Lienau die Art und Weise, wie die von ihm befragte Sina mit ihrem Körper umgeht, wie folgt: »Sinas Selbst- und auch Körperbezug ist geprägt von Aktivität – sie arbeitet mit sich und an sich und ist entsprechend intentional-rational bestimmt. So spricht sie von zu bewältigenden Herausforderungen und zu überwindenden Widerständen. Sie reißt ihren Willen zusammen, um die Lustlosigkeit des Körpers zu überwinden, um sich durch aktive Selbstüberwindung zu befreien. […] Ihr herausforderndes Pilgern kulminiert im Erlebnis eines mühsam überquerten Passes. Sina zeigt ein zweifach instrumentelles Körperverhältnis, indem sie ihren Körper bezwingt und sie mit diesem einen Pass überwinden kann.«61
57
58
59 60 61
Vgl. Heiser, Patrick/Kurrat, Christian: Pilgern gestern und heute. Eine Einleitung, in: Dies. (Hg.): Pilgern gestern und heute. Soziologische Beiträge zur religiösen Praxis auf dem Jakobsweg (Berlin: Lit Verlag 2012), S. 7–17, S. 7. Lienau, Detlef: »Mein Körper vibriert vor Dankbarkeit«. Leibliche Erfahrung beim Pilgern, in: Patrick Heiser/Christian Kurrat (Hg.): Pilgern gestern und heute. Soziologische Beiträge zur religiösen Praxis auf dem Jakobsweg (Berlin: Lit Verlag, 2012), S. 193–220, S. 193, vgl. ausführlich Lienaus Monographie: Religion auf Reisen. Eine empirische Studie zur Religiösen Erfahrung von Pilgern (= PThK 24, Freiburg i.Br.: Kreuz Verlag, 2015). Lienau: »Mein Körper vibriert vor Dankbarkeit«, S. 193. Vgl. a.a.O., S. 195. A.a.O., S. 205.
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Eine stark aktivische Prägung der Praxis hat sich auch in der Selbsterfahrungsgruppe gezeigt, ebenso Elemente der Selbstherausforderung bis hin zur Selbstüberwindung mitsamt dem Stolz am Ende der Fastenzeit – auch wenn die Herausforderung nicht immer so extrem ist wie beim Pilgern. Ebenso wie Fasten ist Pilgern zudem mit einem positiven Gefühl der Selbstermächtigung verbunden: »Es ist jetzt ein Gefühl von Kraft da, dass ich das auch wirklich schaffen kann«62 , sagt Sina analog zu Fastenden wie Anke, Lisa und Angelika. Dabei wird der Körper »willentlich gesteuert, also instrumentell zum Erreichen bestimmter Ziele eingesetzt.«63 Lienau stellt die These auf, dass Pilgern als eine der Körpertechniken angesehen werden kann, die sich »als Gegenreaktion auf einen Alltag erklären [lassen], der durch seinen kaum noch unmittelbaren Weltzugang entleiblicht ist«.64 Dabei beobachtet er drei wesentliche Typen von Körpertechniken: Die Body-Consciousness, in welcher der Körper als Medium der Selbsterfahrung genutzt wird, die Fitness, in der es um die Steigerung der eigenen Vitalität geht, und die Wellness, in der es um das Hervorrufen eines Wohlgefühls geht, das Körper, Geist und Seele integriert.65 Lienau verortet die aktivisch Pilgernden hauptsächlich im Bereich der Fitness. Hier zeichnet sich ein Unterschied zu den Fastenden ab: Fasten entbehrt den Aspekt des körperlichen Trainings und lässt sich eher als Praxis von Body-Consciousness verstehen: Die Befragten wollen über ihren und von ihrem Körper etwas lernen und sich darin üben, auf seine Signale zu hören. Eine weitere Parallele zum Fasten insbesondere der Selbsterfahrungsgruppe zeigt sich darin, dass im Pilgern oft eine sogenannte implizite Religiosität zu beobachten ist: »Pilger wie Nicht-Pilger wissen um die traditionell religiöse Dimension des Pilgerns. Zugleich hat sich die explizit religiöse Praxis beim Pilgern heute weitgehend verflüchtigt – Reliquienfrömmigkeit spielt keine Rolle mehr, gemeinschaftliche und individuelle Gebetspraxis etc. finden sich selten. Oft wird als Motivation zum Pilgern nicht Religion genannt, sondern die Suche nach sich selbst – eine vor der Hand diesseitige Motivation, die zugleich offen für Religion im weitesten Sinn ist. Der Befund lässt sich so verstehen: Pilger meiden ein traditionelles ›frommes Selbstverständnis‹ und eindeutig religiöse Handlungen. Sie wollen sich nicht darauf festlegen, einem religiösen Vorhaben zu folgen. Zugleich nutzen sie die besondere – religiös aufgeladene – Atmosphäre des Jakobsweges und bestimmte religiöse Techniken wie das Unterwegssein, die sie in neuer Form in Gebrauch nehmen. Elemente expliziter Religion werden implizit recycelt.«66
62 63 64 65 66
A.a.O., S. 206. Ebd. A.a.O., S. 209. Vgl. a.a.O., S. 210. Lienau: Religion auf Reisen, S. 413.
IV Im Gespräch mit der Empirie: praktisch-theologische Perspektiven
Auch Salbungsgottesdienste haben in den letzten Jahrzehnten in der evangelischen Kirche an Beliebtheit gewonnen und bieten sowohl die Chance für eine theologische Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Krankheit und Heilung als auch eine Möglichkeit, den traditionell eher kognitiv ausgerichteten protestantischen Gottesdienst um eine sinnlich-körperliche Dimension zu erweitern.67 Zu diesem Phänomen gibt es zwar keine Interviewstudien, die erforschen, wie Gemeindemitglieder die Salbung empfinden, aber eine auf teilnehmender Beobachtung und Expert*inneninterviews beruhende Analyse von Heike Ernsting. Auch Ernsting weist auf den Kontext der funktional differenzierten Gesellschaft hin, der das »Bedürfnis nach körpernahen, ganzheitlichen Kommunikationsformen«68 verständlich und die Salbung als Ritual so attraktiv und bedeutsam macht: »Das körperliche Medium der Salbung, dies wird aus den Interviews deutlich, hat den Effekt, dass Menschen sich als ganze Menschen angesprochen fühlen. Die ausgewählten Körperteile, Stirn und Hände, werden sozusagen exemplarisch für den ganzen Körper gesalbt. So lässt sich erklären, dass Menschen die Salbung als eine tiefe Adressierung erleben, das [sic] ihnen das Gefühl verschafft: Ich bin gemeint. Vollpersonale Identität kann auf diese Weise suggeriert und erlebbar gemacht werden.«69 Salbungsgottesdienste »reagieren auf die Körperverdrängung der späten Moderne, sie […] würdigen Leiblichkeit in einem umfassenden Sinn«.70 Dies verbindet sie mit körperbezogenen Formen des Fastens und erklärt die Attraktivität beider Phänomene. Im Vergleich mit Pilgern und Salbungsgottesdiensten fällt am Fasten insbesondere auf, dass es sich durch eine (noch) höhere individuelle Gestaltbarkeit und Unabhängigkeit auszeichnet: die Befragten können selbst aussuchen, ob sie allein oder mit anderen, wann und wie lange und in welcher Intensität sie fasten wollen. Sie integrieren das Fasten passgenau in ihren Alltag, wobei sie auf Familienfeste oder beruflich anstrengende Phasen Rücksicht nehmen, müssen aber nicht wie für eine größere Pilgerreise Urlaub nehmen. Ebenso sind sie nicht zwingend mit der Institution Kirche verbunden, was sich bei von Kirchengemeinden angebotenen Salbungsgottesdiensten anders darstellt. Beim Fasten können die Befragten ihren Kontakt zur Kirche individuell gestalten: Ob sie an einer Fastengruppe ihrer Gemeinde teilnehmen, Andachten und Gottesdienste besuchen oder ganz für sich bleiben, ist ihnen überlassen. Angesichts der Tatsache, dass viele von ihnen negative Erfahrungen
67 68 69 70
Vgl. Ernsting: Salbungsgottesdienste, S. 12. Ebd., S. 207. A.a.O., S. 208, vgl. zudem Karle: Tiefe Adressierung, S. 183. Karle: Tiefe Adressierung, S. 184.
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mit der Kirche gemacht haben, insbesondere mit »zu vielen Vorschriften« (Lisa und Angelika), ist diese individuelle Gestaltbarkeit für sie höchst attraktiv.
b) »Ich bin auch eigentlich so gut wie nie krank« – Diät und Gesundheit als Konfliktfelder Die starke körperliche Prägung des Fastens, des Pilgerns und der Salbung in Salbungsgottesdiensten wird von den Interviewten positiv wahrgenommen und ist einer der Gründe, warum sie diese Praktiken wählen. Es wurde jedoch bereits darauf hingewiesen, dass im soziologischen Diskurs um Körperlichkeit auch vermehrt auf ambivalente oder problematische Seiten von Körperlichkeit und Körperkommunikation hingewiesen wird. Relevant für das Phänomen Fasten sind dabei in erster Linie die Themenfelder »Schlankheit und Diät« sowie »Gesundheit und Prävention«. Bezogen auf den vielfach wahrgenommenen »Schlankheitswahn« wurde bereits die Vermutung angestellt, dass zeitgenössische Fastenaktionen u.a. deshalb so stark auf gesellschaftliche Themen und das persönliche Erleben der Fastenzeit ausgerichtet sind, weil sie ›Fasten‹ und ›Diät‹ klar unterscheiden wollen. Dieses Abgrenzungsbedürfnis ist verständlich, da die beiden Phänomene zugleich einige Berührungspunkte aufweisen: Fasten bedeutete traditionell einen mehr oder weniger radikalen Nahrungsverzicht. Heute gehört der Verzicht auf Alkohol und Süßigkeiten – Genussmittel, die im Ruf stehen, zu einer Gewichtssteigerung zu führen – zu den häufigsten Fastenvorhaben. Auch das Heilfasten kann u.a. zur Gewichtsreduktion eingesetzt werden, wenngleich meist betont wird, dass andere Effekte wie die »Entschlackung« wichtiger seien und der Gewichtsverlust nur einen positiven Nebeneffekt darstelle. Nicht zuletzt können Programme wie z.B. das »Intervallfasten«, die nichts anderes als eine Diät sind, schon auf der semantischen Ebene zur Verwirrung führen. Daher wäre es verständlich, wenn die zeitgenössischen Fastenaktionen eine maximale Distanz zum »Problemfeld Schlankheitswahn« aufrechterhalten möchten. Doch wie stellt sich das Verhältnis von Fasten und Diät im Erleben der Befragten dar? Es ist auffällig, dass fast alle Befragten des gesamten Samples klar zwischen Fasten und Diät unterscheiden. In der Orientierung an Prinzipien wird das Thema Diät entweder gar nicht erwähnt oder eine Verbindung zwischen Diät und Fasten explizit zurückgewiesen. So formuliert Martina sehr deutlich: »Mein Vater kam dann irgendwann an und meinte ›Oh, jetzt ist ja schon drei Wochen Fastenzeit, hat es denn schon was gebracht?‹ Vati, ich mach keine Diät! Ich find das zwar ganz schön, wenn ich mal ein Kilo abnehme davon oder zwei, aber das ist nicht der Sinn der Sache.« Das Fasten zeichnet sich gegenüber der Diät durch seine kirchenjahreszeitliche Verortung sowie seine religiösen Aspekte aus. Dasselbe gilt für die meisten Befragten der anderen Gruppen. Es gibt allerdings Ausnahmen: Lisa, Anke (beide Orientierung an Selbsterfahrung) und Svenja (Orientierung an Relationen) beschreiben eine
IV Im Gespräch mit der Empirie: praktisch-theologische Perspektiven
Diät als ersten Berührungspunkt mit dem Phänomen Fasten oder auch speziell mit der vorösterlichen Fastenzeit, die sie als Zeitraum für ihre Diät nutzten. Jedoch werden in allen drei Interviews im weiteren Verlauf auch klare Unterschiede zwischen Diät und Fasten deutlich: Anke verzichtet in der Fastenzeit zwar weiter auf Süßigkeiten und Alkohol, die Orientierung an dem Gefühl, es »schaffen« zu können, ist aber eindeutig dominant – ob sie jedes Jahr Gewicht verliert, erwähnt sie nicht einmal. Auch Svenja verzichtet in der Fastenzeit weiterhin auf Süßigkeiten und andere »Dickmacher«, erwähnt dies aber erst auf Nachfrage: Ihre Orientierung an Relationen ist so ausgeprägt, dass sie zum Thema Fasten von sich aus nur über die von ihr geleitete Fastengruppe in ihrer Ortsgemeinde berichtet, die nichts mit Nahrungsmittelverzicht zu tun hat. Auch in Lisas Erzählung wird die »Diät« vom »Fasten« getrennt: Zunächst tritt das Diäthalten gegenüber den emotionalen Aspekten des Fastens nur in den Hintergrund, im Jahr der Befragung ist das Diäthalten auch zeitlich nicht mehr ans Fasten gebunden und die beiden Bereiche erscheinen als voneinander getrennt. Im gesamten Sample dokumentiert sich ein klares Bewusstsein dafür, dass manche Fastenarten zwar zu einem Gewichtsverlust führen können, das Fasten jedoch nicht darauf reduziert werden kann, sondern immer in weitere Sinnzusammenhänge eingebunden ist. Gewichtsverlust ist für die Befragten mithin nicht das Ziel des Fastens, sondern allenfalls ein nicht unwillkommener Nebeneffekt. Sie sind sich des gesellschaftlichen Orientierungsschemas »Schlankheit ist wünschenswert« bewusst und kommunizieren darüber auf der Ebene des Sachwissens. Auf der dokumentarischen Ebene des atheoretischen Wissens lässt sich jedoch keine Prägung ihres persönlichen Orientierungsrahmens von diesem Schema rekonstruieren. Eine ähnliche Problemstellung zeigt sich mit Blick auf den Themenbereich Gesundheit. Dieser ist im Gegensatz zur Körperlichkeit zwar nicht von Beginn an mit religiösem Fasten verbunden (im Gegenteil konnten Fasten und andere asketische Praktiken sogar gesundheitsschädigende Wirkungen haben), aber seit der Etablierung des Heilfastens als naturheilkundliches Verfahren Teil des Diskurses. Insbesondere in einigen der Interviews der an Selbsterfahrung orientierten Gruppe (v.a. Ingrid und Angelika), aber punktuell auch in anderen Gruppen (Lydia, Martina) kommt das Thema Gesundheit auf der Ebene des Sachwissens häufig zur Sprache und die Auswahl ihrer Fastenvorhaben ist entweder wesentlich oder zumindest auch von diesem Kontext geprägt. Auch in den quantitativen Erhebungen zum Fasten schlägt sich nieder, dass Befragte sowohl die Erwartung haben, dass sich Fasten positiv auf ihre Gesundheit auswirkt, als auch tatsächlich die Erfahrung machen, dass sich ihr Wohlbefinden durch das Fasten steigert.71 Vor dem Hintergrund, dass das Thema Gesundheit seit einigen Jahrzehnten eine prominente 71
Vgl. Heiser: Fasten in Deutschland, S. 13f., forsa Fastenumfrage 2020, abrufbar unter https ://www.dak.de/dak/download/ergebnisbericht-2241322.pdf, S. 1, forsa Fastenumfrage 2021, S. 1.
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Stellung im öffentlichen Leben einnimmt und eine entsprechend große Rolle im Leben vieler Menschen spielt,72 ist dies kaum verwunderlich. Der Gesundheitspsychologe Toni Faltermaier beobachtet, Gesundheit sei heute »zu einem zentralen Wert geworden, für viele Menschen zu dem ›höchsten Gut‹, zu einem Inbegriff von Leben.«73 Daher integrieren zahlreiche Menschen Handlungen in ihren Alltag, die der Erhaltung und Förderung ihrer Gesundheit dienen sollen: »Denn jeder Mensch geht tagtäglich mit seinem Körper um, bemerkt möglicherweise Veränderungen, Beschwerden oder Beeinträchtigungen, deutet sie und reagiert darauf, bezieht eventuell nahestehende Personen mit ein und sucht Rat und Hilfe in seinem sozialen Netzwerk.«74 Diese Praktiken – zu denen auch das Fasten dieser Befragten gezählt werden kann – lassen sich mit Faltermaier als Gesundheitshandeln begreifen, denn sie sind »Handlungseinheiten, die für das Subjekt sinnvolle Schritte zum Erhalt seiner Gesundheit sind«.75 Gesundheitshandeln hat nach Faltermaier folgende Komponenten: Bewusstes Handeln für die eigene Gesundheit (im Sinne des Gesundheitserhalts), Umgang mit Körper und Beschwerden, Umgang mit Krankheiten, Umgang mit Risiken und Belastungen aus der Lebensumwelt, Herstellung und Aktivierung gesundheitlicher Ressourcen, soziales Handeln für Gesundheit und soziale Gesundheitsselbsthilfe sowie Veränderungen der gesundheitlichen Lebensweise, die nach großen, lebens-
72 73 74 75
Vgl. Faltermeier, Toni: Gesundheitsbewußtsein und Gesundheitshandeln (Weinheim: Beltz 1994), S. 2; Ernsting: Salbungsgottesdienste, S. 19. Faltermaier: Gesundheitsbewußtsein und Gesundheitshandeln, S. 11. A.a.O., S. 62. Faltermaier: Gesundheitsbewußtsein und Gesundheitshandeln, S. 174. Es muss angemerkt werden, dass der Begriff »Gesundheit« wissenschaftlich schwierig zu fassen ist: Wie Faltermaier beobachtet, sind Versuche, »Gesundheit« zu definieren, »zahlreich und reichen historisch weit zurück; sie sind aber insgesamt nicht sehr befriedigend ausgefallen.« (S. 56) Während im Medizinsystem lange Zeit Gesundheit nur negativ als Abwesenheit von Krankheit konzipiert wurde, stellte die Weltgesundheitsorganisation 1948 eine positive Definition vor, die Gesundheit als »Zustand eines vollkommenen körperlichen, seelischen und sozialen Wohlbefindens« charakterisiert – ein teilweise heftig kritisiertes Verständnis, das aber von medizinischen Lehrbüchern dennoch oft übernommen wird (vgl. ebd.) Im Rahmen dieser Studie ist es nicht notwendig, sich auf eine bestimmte Definition von Gesundheit festzulegen, da hier kein Beitrag zu diesem Diskurs geleistet werden soll. Vielmehr wird unter »Gesundheit« im Folgenden jeweils das verstanden, was die Befragten selbst damit meinen, der Begriff wird also explizit alltags-bzw. laiensprachlich verwendet. Dies entspricht auch Faltermaiers Vorgehen in seiner eigenen empirischen Erhebung zum Gesundheitshandeln. Faltermaier verwendet bewusst nicht den Begriff des Gesundheitsverhaltens, weil dieser aus der behavioristischen Tradition stammt und somit die individuellen Motivationslagen und Intentionen der handelnden Subjekte nicht einbezieht. Der Begriff »Handeln« schließt dagegen das bewusste, absichtsvolle und mit einem subjektiven Sinn erfüllte Ausführen einer Sache ein, vgl. a.a.O., S. 172f.
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verändernden Ereignissen vorgenommen werden.76 In den Interviews begegnen insbesondere die Komponenten »bewusstes Handeln für die eigene Gesundheit« sowie »soziales Handeln für Gesundheit und soziale Gesundheitsselbsthilfe«. Präventive Aspekte des Gesundheitshandelns spielen ebenfalls eine wichtige Rolle, da die Befragten in diesem präventiven Sinn fasten. Sie verzichten auf bestimmte – als ungesund empfundene – Nahrungsmittel oder praktizieren verschiedene Formen des Heilfastens. Auch Faltermeier beobachtet, dass Körper und Körperhandeln seit dem body turn in den 1980er Jahren vermehrt als Sinninstanz begriffen werden. So treiben viele Menschen nicht nur als Krankheitsprävention oder zum Abnehmen Sport, sondern auch, um sich selbst in Einklang mit ihrem Körper zu erleben.77 Faltermaier warnt jedoch: »Auf der anderen Seite sind die Gefahren einer Individualisierung der Verantwortung für Gesundheit nicht zu übersehen. Der verstärkte Wunsch der Bevölkerung, etwas für die eigene Gesundheit zu tun, hat in den Medien, der Werbung und auch in der Gesundheitspolitik Tendenzen losgetreten, die allein auf die Verantwortung des Individuums setzen: Gesundheit erscheint als vollkommen abhängig vom persönlichen Verhalten; wer sich nicht gesundheitsbewußt verhält, das heißt wer nichts für seine körperliche Fitness, gesunde Ernährung tut, eine der fast zum Stigma erhobenen Risikoverhaltensweisen zeigt und nicht regelmäßig zum medizinischen Check-up geht, der ist selbst schuld, wenn er krank wird. Die Ideologie eines ›blaming the victim‹ […] ist die Folge einer Moralisierung des Gesundheitsdiskurses, in dem suggeriert wird, daß es ein eindeutig ›richtiges‹ und ›falsches‹ Verhalten gibt, in dem das Bild eines ›perfekten‹ Körpers propagiert wird und absolute Lösungen zur Erreichung dieser Gesundheitsideale angeboten werden […]. Gesundheit erscheint so als öffentliche Pflicht, die Ausweitung der sozialen Kontrolle selbst in den Alltag hinein wird zur Schreckensvision.«78 Diese »Schreckensvision« wird auch von Seiten der Theologie wahrgenommen und diskutiert. Hinzu kommt, dass Religion und Gesundheit durch eine wechselvolle Geschichte verbunden sind: Heilungswunder gehören zu den Kerntexten der Evangelien, die Kirche engagierte sich zudem seit ihrer frühesten Zeit in der Sorge um Kranke.79 In der Moderne differenzierten sich dagegen Religion und Gesundheit als jeweils eigenständige Systeme aus, zugleich gewann das Gesundheitssystem an Bedeutung.80
76 77 78 79 80
Vgl. a.a.O., S. 174. Vgl. a.a.O., S. 72. A.a.O., S. 72f. Vgl. Ernsting: Salbungsgottesdienste, S. 32. Vgl. a.a.O., S. 100.
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Gerade der Bereich der Prävention stößt auf teilweise harsche Kritik. So formuliert Ernsting: »Das Risikofaktorenmodell der Medizin denunziert Verhaltensweisen und Körperzustände als pathogen, die vom Betreffenden nicht als Leiden oder Einschränkung erfahren werden und nicht mit Krankheit konnotiert werden.«81 Aber auch die zentrale Stellung von Gesundheit im öffentlichen Bewusstsein generell wird kritisch gesehen. Gunda Schneider-Flume konstatiert: »Die Hochschätzung der Gesundheit führt häufig zu ihrer Verabsolutierung als höchstem Gut. Gesundheit erhält die Bedeutung von allumfassendem Heil. Deshalb wird das Urteil ›Ohne Gesundheit ist alles nichts‹ für Kranke vernichtend, denn Krankheit wird als Heillosigkeit gebrandmarkt.«82 Sie beobachtet einen »Trend zum Machsal«, mit dem »der Sinn für das Gegebensein der Gesundheit, für das Gegebensein des Lebens und auch für das Geschenktsein des Heils verloren«83 gehe. Dies habe weitreichende Folgen: »Der zeitgenössische Machbarkeitswahn […] provoziert im Zusammenspiel von Lebensplanung und Medizin Allmachtsphantasien und Allmachtswünsche, die suggerieren, dass Gesundheit als umfassender Heilszustand erreichbar oder zumindest grenzenlos perfektionierbar sei. Die perfektionierte Gesundheit wird zum Heil. Das gilt für den Hochleistungssport durch Doping ebenso wie für den ästhetisch durch Chirurgie perfektionierten Körper oder für den durch Konzentration steigernde Mittel erhöhten IQ bei Intellektuellen. Kranke, Schwache und Behinderte haben das Nachsehen.«84 Schneider-Flume bemerkt, dass Gesundheit begrifflich schwierig zu fassen sei. Sie kritisiert das biomedizische Modell, in dem Gesundheit als Abwesenheit von Krankheit und Krankheit als Störung des körperlichen Systems verstanden wird, als nicht befriedigend und sieht eine bedenkliche Nähe zu einem Leistungsdenken, das suggeriert, Menschen müssten und könnten solche Störungen eigenständig überwinden.85 Zugleich kritisiert sie die Gesundheitsdefinition der WHO – ein »Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen«86 – als so allumfassend, dass niemand diesen Zustand erreichen könne: »Vom Blickpunkt des Kranken aus kann eine so
81 82 83 84 85 86
A.a.O., S. 103. Schneider-Flume, Gunda: Perfektionierte Gesundheit als Heil? Theologische Überlegungen zu Ganzheit, Heil, und Heilung, in: Wege zum Menschen 61 (2009), S. 133–150, S. 133. A.a.O., S. 134. Ebd. Vgl. a.a.O., S. 135. A.a.O., S. 136.
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utopische Bestimmung wegen ihrer Unerreichbarkeit nur in tiefe Depression führen.«87 In der starken gesellschaftlichen Fokussierung auf Gesundheit sieht SchneiderFlume zwei Probleme: »In dem Maße, in dem Gesundheit zur Bedingung gelingenden Lebens wird und in dem diese Bedingung sich mehr und mehr als erreichbares Ziel der Selbstverwirklichung darstellt, in dem Maße ist man erstens für seine Gesundheit selbst verantwortlich und trägt selbst die Schuld für seine Krankheit, und zweitens gewinnt die Angst um Gesundheit eine neue mitunter vernichtende Qualität.«88 Dies stehe nicht zuletzt in Widerspruch zum biblischen Verständnis von Gesundheit: »Die Achtung vor beschädigtem und schwachem Leben ist bestimmend für die gesamte biblische Tradition und spricht sich in der prophetischen Verheißung aus: ›Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.‹ (Jes 42,3) Leben ist kostbares Gut, unverfügbare Gabe und Geschenk.«89 Auch Christoffer Grundmann ist der Ansicht, dass die »heutige Obsession mit Gesundheit, Wellness und Fitness«90 die gesamte Gesellschaft durchziehe. Dabei gesteht er zu, dass die Aufmerksamkeit für Gesundheit an sich verständlich und natürlich sei – problematisch sei nur, sie zum Selbstzweck zu erheben.91 Dies sieht Grundmann allerdings als gegeben an und darin begründet, dass »[d]ie bewusste Wahrnehmung dessen, dass Leben empfangen und nicht ›gemacht‹ wird, dass Leben also radikal von dem abhängig ist, was zuvor war […], namentlich seit dem 19. Jahrhundert in allgemeine Vergessenheit geriet«.92 Im Zusammenhang mit den Umwälzungen im religiösen Feld ist auch Grundmanns These zu verstehen, dass das Thema Gesundheit »die Frage nach der Erlösung verdrängt und einen bedenklichen Weltverlust verursacht [hat], mit verheerenden Folgen für die sinnvolle, menschliche Gestaltung und Annahme des Lebens.«93 Er schildert die mit ihrer Gesundheit befassten Menschen wie folgt: »Geradezu verbissen bemühen sie sich darum, fit zu bleiben, und, wenn sie es sich leisten können, Altern sowie den körperlichen Verfall aufzuhalten, ja selbst dem
87 88 89 90 91 92 93
Ebd. A.a. O., S. 137. A.a. O., S. 138. Grundmann, Christoffer H.: Körperkult als Religionsersatz. Beobachtungen in den USA, in: Wege zum Menschen 64 (2012), S. 302–316, S. 304. A.a.O., S. 310. A.a.O., S. 312. A.a.O., S. 304.
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Sterben und Tod Einhalt zu gebieten. Die sie ständig in Atem haltende Sorge um ihren Körper betäubt ihnen die Frage nach dem, was wirklich bleibt und nach dem, was wert ist, gepflegt und bewahrt zu werden. In geradezu tragisch-paradoxer Weise verfehlen sie genau das, was sie so sehnlichst sich zu gewinnen erhoffen: ihr Leben! Ihr Körperkult bewirkt einen fatalen Welt- und Lebensverlust.«94 Dieses negative Bild kontrastiert Grundmann mit »Menschen der Hoffnung«, die »demgegenüber einen viel breiteren Verhaltens- und Handlungsspielraum [haben], der sie in ganz anderer Weise reagieren lässt, Möglichkeiten und Spielräume, die denjenigen einfach nicht zur Verfügung stehen, die dem Körperkult huldigen.«95 Er schließt seine Überlegungen mit der Warnung ab: »[J]edes an jugendlicher Schönheit, Kraft und sozialer Unbekümmertheit orientierte Körperbild popularisiert eine verkürzte Anthropologie, die, wenn sie zur Norm erhoben wird, unmenschlich wird.«96 Die Aufmerksamkeit verstärkt auf chronisch Kranke und Menschen mit Behinderung zu richten und klar festzuhalten, dass beide Gruppen in keiner Weise ein vermindertes Lebensrecht haben, ist ohne Zweifel ein wichtiges Verdienst. Zugleich stellt sich die Frage, ob die äußerst negative Sicht auf jegliches Gesundheitshandeln gerechtfertigt ist: Mit ihrer Gesundheit beschäftigte Menschen werden hier als bestenfalls bemitleidenswerte, schlimmstenfalls zu verurteilende Personen gezeichnet, denen aufgrund von persönlicher weltanschaulicher Orientierungslosigkeit und gesellschaftlichem Druck nichts anderes übrigbleibt, als sich obsessiv dem Erhalt ihrer Gesundheit und der Vermeidung von Krankheiten zu widmen. Die Beobachtung, dass die Anreize von Krankenkassen und Arbeitgeber*innen, etwas für die eigene Gesundheit zu tun, gepaart mit der ständigen Präsenz des Themas in den Medien zu Druck auf die Individuen führen kann, ist sicher richtig und wird auch in der Gesundheitssoziologie geäußert.97 Daraus zu schließen, dass Individuen diesen Druck auch tatsächlich empfinden, ist jedoch problematisch. So verweist z.B. keiner der Texte auf repräsentative empirische Studien, die einen solchen Leidensdruck belegen würde.98 Auch fehlt eine Auseinandersetzung mit der gesundheitssoziolo94 95 96 97
98
A.a.O., S. 310. A.a.O., S. 315. A.a.O., S. 315f. Vgl. Rossmann, Constanze: Die mediale Konstruktion von Gesundheit und Krankheit, in: Matthias Richter/Klaus Hurrelmann (Hg.): Soziologie von Gesundheit und Krankheit (Wiesbaden: Springer VS 2016), S. 301–311, S. 304; Dietscher, Christina/Pelikan, Jürgen: Soziologie der Krankheitsprävention, in: Richter/Hurrelmann: Soziologie von Gesundheit und Krankheit, S. 417–434, S. 422f. und 430f. Eine empirische Studie zur Rezeption von Ratgeberliteratur kam zu dem Ergebnis, dass die Befragten die Ratgeberliteratur in aller Regel kritisch einordnen und sich auch von ihr distanzieren konnten: »[M]itnichten errichtet der Ratgebertext eine Art Regime, dem die LeserInnen mehr oder weniger machtlos ausgesetzt sind. So zumindest erschien es im
IV Im Gespräch mit der Empirie: praktisch-theologische Perspektiven
gisch fundierten Gesundheitsdidaktik, die die Risiken stark autoritativer Gesundheitskommunikation ebenfalls beobachtet und bereits seit den 1990er Jahren daran (Selbst-)Kritik übt. Auch aus Perspektive der Gesundheitswissenschaften wird davon abgeraten, Menschen Schuldgefühle für ihre Krankheiten einzureden.99 Ebenso wenig wird von Schneider-Flume und Grundmann begründet, warum sie aus dem Gesundheitshandeln mancher Menschen unmittelbar folgern, diese wollten auch das Altern oder gar ihren Tod vermeiden. Auch ein kausaler Zusammenhang zwischen abnehmender Religiosität und zunehmender Beschäftigung mit der eigenen Gesundheit wird postuliert. In den Interviews stellt sich dies teilweise völlig anders dar: So sind Marion, Lydia, Michael, Martina und Ida alle tief religiös und der Kirche stark verbunden – und dennoch nutzen sie das Fasten u.a. dazu, etwas für ihre Gesundheit zu tun. Martina sorgt gerade deshalb für ihre Gesundheit, weil sie ihren Körper als Geschenk Gottes empfindet und mit diesem Geschenk sorgsam und dankbar umgehen möchte. Schneider-Flume und Grundmann scheinen solche Positionen nicht in Erwägung zu ziehen, sondern davon auszugehen, dass vor allem Menschen mit ihrer Gesundheit befasst sind, die nicht religiös eingestellt sind. Eine logische Herleitung oder empirische Belege dafür fehlen allerdings. Die gesellschaftspolitische Dimension der Krankheitsprävention findet ebenfalls keinerlei Erwähnung, obwohl sie aus gesundheitssoziologischer Perspektive ein wichtiger Bestandteil des Diskurses ist: Angesichts der starken Zunahme chronischer Krankheiten hat das Bemühen um ihre Prävention nicht nur zum Ziel, eine Verbesserung der Lebensqualität für Individuen zu erreichen, sondern auch das Gesundheitssystem langfristig stabil und finanzierbar zu halten und somit Versorgungssicherheit für alle Menschen zu garantieren.100 Generell erscheint das Thema Gesundheit in den Interviews mit Fastenden nicht als sonderlich problembehaftet. Die Befragten entsprechen nicht dem Besorgnis erregenden Bild, das in der Theologie bisweilen gezeichnet wird. Selbst diejenigen Befragten, die mit dem Heilfasten eine Praxis ausführen, die in manchen ihrer Formen extrem erscheinen kann, zeigen sie sich nicht zwanghaft und verbissen, sondern entspannt: Sie berichten davon, Fastenkuren abzubrechen oder zu verkürzen, wenn sie sich nicht (mehr) wohlfühlen – und, dass sich eine Weile nach der Fastenzeit wieder ein »normales« Essverhalten einspielt, das auch ungesunde Lebensmitkonkret empirisch erhobenen Interviewmaterial.« Heimerdinger, Timo: Zwangloser Zwang? Lebensratgeber-Literatur, Selbstformung und Alltagspragmatik, in: Conrad/Kipke: Selbstformung, S. 97–113, S. 108. 99 Vgl. Hurrelmann, Klaus/Richter, Matthias: Gesundheits- und Medizinsoziologie. Eine Einführung in sozialwissenschaftliche Gesundheitsforschung (Weinheim/Basel: Beltz/Juventa 8 2013), S. 201. 100 Vgl. Hurrelmann, Klaus/Laaser, Ulrich/Richter, Matthias: Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention, in: Klaus Hurrelmann/Oliver Razum (Hg.): Handbuch Gesundheitswissenschaften (Weinheim: Beltz/Juventa 6 2015), S. 661–691, S. 661f.
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tel enthält, denn »das gehört dann eben auch dazu« (Ingrid). Fasten erscheint als eine Möglichkeit, sich für einige Wochen intensiv, aber wohltuend seiner Gesundheit zu widmen, um sich hinterher wieder entspannen zu können.101 Wenn die Befragten dabei an ihre persönlichen Grenzen stoßen, reizt sie das zwar bisweilen und sie freuen sich nach dem Fasten darüber, etwas geschafft zu haben, was sie sich vorher nicht zugetraut hatten. Wenn sie jedoch merken, dass sie ihre Grenzen auf unangenehme Weise überschreiten (z.B. als Ingrid nach 42 Fastentagen bemerkte, wie ihre kognitive Leistung abnahm oder Angelika sich während einer Fastenkur unwohl fühlte), beenden sie das Fasten und wiederholen es in dieser Form nicht. Bei aller berechtigen Kritik an der Dominanz des Gesundheitswesens ist deshalb zu bedenken, dass Menschen in der Regel in der Lage sind, ihr Gesundheitshandeln zu reflektieren und zu hinterfragen; sie sind dem gesellschaftlichen Kontext und medialen Botschaften nicht völlig hilflos ausgeliefert. Im Gegenteil kann gerade das körperlich ausgerichtete Fasten, wie bereits beschrieben, zu Gefühlen der Selbstermächtigung führen. Auch in Bezug auf das Thema Gesundheit lässt sich im Material der meisten Fastenaktionen eine auffällige Leerstelle beobachten (»7 Wochen anders leben« bildet hier eine Ausnahme, da das körperliche Wohlbefinden durchaus zur Sprache kommt). Vermutlich hat dies ähnliche Gründe wie die Nicht-Bezugnahme auf Schlankheit und Körperlichkeit. Aus praktisch-theologischer Perspektive stellt sich die Frage, ob diese Distanz sinnvoll ist. Die Themenfelder Schlankheit und Gesundheit sind gesellschaftlich und medial präsent und werden in absehbarer Zeit vermutlich nicht verschwinden. Für viele Menschen spielen sie mit all ihren Ambivalenzen und Herausforderungen eine große Rolle, und Fasten ist neben Pilgern und Salbungen eine der (eher wenigen) religiösen Praktiken, die hier anschlussfähig sind und sich einer hohen Beliebtheit erfreuen. Dies bietet eine gute Grundlage dafür, mit Menschen über diese Themen ins Gespräch zu kommen, nicht zuletzt, um auch unterschiedliche Perspektiven aufeinander zu beziehen, einschließlich derer von Menschen mit chronischen Erkrankungen oder Behinderungen. Damit zeigt sich erneut eine Parallele zu Salbungsgottesdiensten: Auch Heike Ernsting nimmt die Problematiken des Gesundheitsdiskurses wahr, sieht Salbungsgottesdienste jedoch zugleich als Chance, das komplexe Thema des Verhältnisses von Gesundheit und Religion sowie zwischen Heilung und Heil unter theologischen Vorzeichen kritisch zu reflektieren. Fasten kann eine ähnliche Chance bieten: Leiter*innen von Fastengruppen und christliche Fastenmaterialien können sensibel auf die Problematiken von Schlankheits- und Gesundheitsdiskursen reagieren und darauf achten, sie nicht zu verschärfen, sondern die Fastenden zum Weiterdenken
101
Zugleich muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass das Sample dieser Studie aus Menschen bestand, die soweit mir bekannt keine chronischen Krankheiten oder Behinderungen haben und ihre Aussagen zum Thema Gesundheit vermutlich auch von diesem Kontext geprägt sind.
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anzuregen und ihre Ambiguitätstoleranz zu kultivieren. Dafür stellt die Fastenzeit nicht zuletzt aufgrund ihrer Verortung im Kirchenjahr eine besondere Chance dar: In der Passionszeit steht das Leiden und Sterben Jesu und damit auch die Fragilität und Vulnerabilität menschlichen Lebens im Fokus. Diese Rahmung macht es möglich, gesundheitszentrierte Fastenformen wie Heilfasten, Süßigkeiten-oder Alkoholverzicht zwar zu praktizieren, aber zugleich auf die Grenzen menschlichen Gesundheitshandeln hinzuweisen. Die Fastenzeit kann so zum Anlass werden, »sich mit Körperlichkeit als fundamentalem Bezugspunkt menschlicher Identität auseinanderzusetzen.«102 Kirchliche Akteur*innen haben hier die Chance, sich einerseits mit ihrer bisweilen leibfeindlichen oder zumindest körpervergessenen Tradition kritisch auseinanderzusetzen. Andererseits eröffnet Fasten den Gemeindemitgliedern die Möglichkeit für eine kritische Auseinandersetzung mit den ambivalenten Seiten von Körperlichkeit.103 Gerade in Fastengruppen können zudem die rein körperlichen Risiken von Praktiken wie Heilfasten ein Stück weit aufgefangen werden: Zum einen können Menschen die Signale ihres Körpers auch missdeuten.104 Zum anderen können die intensiven Körpererfahrungen für sie auch unangenehm werden, wie es bei Ida der Fall war, als sie durch die körperliche Schwäche während des Heilfastens auf sehr belastende Weise an das Körpergefühl während ihrer Chemotherapie erinnert wurde. Für sie war der Rückhalt der anderen Gruppenmitglieder sowie die seelsorgliche Unterstützung der ebenfalls mitfastenden Pfarrerin in dieser Situation von großer Bedeutung. Eine kompetente und sensible Begleitung von Menschen, die sich auf Körperarbeit mit all ihren Ambiguitäten einlassen möchten, ist deshalb wünschenswert.
3 Resonanz durch communitas: Fasten als liminale Praxis In der Gruppe der an Relationen Orientierten wurde als Bezugsproblem die Sehnsucht nach Resonanz herausgearbeitet. Hartmut Rosa weist darauf hin, dass Religion eine klassische vertikale Resonanzachse ist. Es verwundert also nicht, dass Religion in dieser Gruppe auf der Ebene des kommunikativen Wissens am engsten mit dem Fasten verbunden ist: Die Befragten werden im Fasten religiös affiziert und sehnen sich auch genau danach – immer im Bewusstsein, diese Affizierung nicht kontrolliert herbeiführen zu können. Im Folgenden möchte ich das Fasten resonanztheoretisch deuten (a) und greife dabei auch auf Victor Turners Konzepte von Liminalität und communitas (b) zurück. 102 Karle: Tiefe Adressierung, S. 187. 103 Vgl. ebd. 104 Vgl. Bette: Körperspuren, S. 42.
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anzuregen und ihre Ambiguitätstoleranz zu kultivieren. Dafür stellt die Fastenzeit nicht zuletzt aufgrund ihrer Verortung im Kirchenjahr eine besondere Chance dar: In der Passionszeit steht das Leiden und Sterben Jesu und damit auch die Fragilität und Vulnerabilität menschlichen Lebens im Fokus. Diese Rahmung macht es möglich, gesundheitszentrierte Fastenformen wie Heilfasten, Süßigkeiten-oder Alkoholverzicht zwar zu praktizieren, aber zugleich auf die Grenzen menschlichen Gesundheitshandeln hinzuweisen. Die Fastenzeit kann so zum Anlass werden, »sich mit Körperlichkeit als fundamentalem Bezugspunkt menschlicher Identität auseinanderzusetzen.«102 Kirchliche Akteur*innen haben hier die Chance, sich einerseits mit ihrer bisweilen leibfeindlichen oder zumindest körpervergessenen Tradition kritisch auseinanderzusetzen. Andererseits eröffnet Fasten den Gemeindemitgliedern die Möglichkeit für eine kritische Auseinandersetzung mit den ambivalenten Seiten von Körperlichkeit.103 Gerade in Fastengruppen können zudem die rein körperlichen Risiken von Praktiken wie Heilfasten ein Stück weit aufgefangen werden: Zum einen können Menschen die Signale ihres Körpers auch missdeuten.104 Zum anderen können die intensiven Körpererfahrungen für sie auch unangenehm werden, wie es bei Ida der Fall war, als sie durch die körperliche Schwäche während des Heilfastens auf sehr belastende Weise an das Körpergefühl während ihrer Chemotherapie erinnert wurde. Für sie war der Rückhalt der anderen Gruppenmitglieder sowie die seelsorgliche Unterstützung der ebenfalls mitfastenden Pfarrerin in dieser Situation von großer Bedeutung. Eine kompetente und sensible Begleitung von Menschen, die sich auf Körperarbeit mit all ihren Ambiguitäten einlassen möchten, ist deshalb wünschenswert.
3 Resonanz durch communitas: Fasten als liminale Praxis In der Gruppe der an Relationen Orientierten wurde als Bezugsproblem die Sehnsucht nach Resonanz herausgearbeitet. Hartmut Rosa weist darauf hin, dass Religion eine klassische vertikale Resonanzachse ist. Es verwundert also nicht, dass Religion in dieser Gruppe auf der Ebene des kommunikativen Wissens am engsten mit dem Fasten verbunden ist: Die Befragten werden im Fasten religiös affiziert und sehnen sich auch genau danach – immer im Bewusstsein, diese Affizierung nicht kontrolliert herbeiführen zu können. Im Folgenden möchte ich das Fasten resonanztheoretisch deuten (a) und greife dabei auch auf Victor Turners Konzepte von Liminalität und communitas (b) zurück. 102 Karle: Tiefe Adressierung, S. 187. 103 Vgl. ebd. 104 Vgl. Bette: Körperspuren, S. 42.
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a) »Ich bin einfach hellhöriger« – Resonanzerfahrungen im Fasten Nach Hartmut Rosa bildet Religion einen der »konstitutive[n] Resonanzräume für die moderne Gesellschaft«, in dem »viele Menschen ihre je persönlichen Resonanzachsen [etablieren]«.105 Rosa versteht Religion als eine »Form der Beziehung, welche in den Kategorien der Liebe und des Sinns die Gewähr dafür zu geben verspricht, dass die Ur- und Grundform des Daseins eine Resonanz- und keine Entfremdungsbeziehung ist«.106 Er schließt dabei an Schleiermachers Religionsverständnis an, in welchem das Affiziert-Werden eine wichtige Rolle spielt, sowie an Martin Bubers Betonung der Bezogenheit als einem elementaren Aspekt des menschlichen Daseins:107 »Als Kern der Religiosität lässt sich auf diese Weise mit Buber und mit Paul Gerhardt gleichermaßen die existentielle Antwortbedürftigkeit des Menschen auf der einen und das Versprechen ihrer potentiellen Erfüllung auf der anderen Seite identifizieren.«108 Ausdruck findet diese Antwort- und Beziehungsbedürftigkeit in zahlreichen Aussagen der Fastenden, z. B wenn Monika sich wünscht, »mehr wieder in Beziehung [zu] treten zu Gott« oder wenn Fastende betonen, während des Fastens hellhöriger zu sein und »die Fühler stärker ausgestreckt« zu haben (Marion), »fühlig« zu sein (Lydia) oder aufgrund des leichteren Schlafs häufiger das Gebet zu suchen (Günther). Besonders viele Resonanzmöglichkeiten eröffnen Gottesdienste und religiöse Riten: in ihnen »verbinden sich mit der ›Erfahrung‹ vertikaler Tiefenresonanz sowohl horizontale Resonanzachsen zwischen den Gläubigen, die sich etwa im christlichen Kulturkreis in der ›Kommunion‹ als Gemeinde konstituieren, als auch diagonale Resonanzbeziehungen, insofern Dinge und Artefakte wie Brot, Kelch, Wein oder Kreuz – oder zu anderen Zeiten beziehungsweise in anderen Kulturen eben auch Reliquien, Schreine, Altäre, Gebeine, totemisierte oder tabuisierte Gegenstände etc. – resonanztechnisch ›aufgeladen‹ werden. Daraus entsteht so etwas wie ein sensorischer Resonanzverbund, in dem die drei Achsen sich gegenseitig zu aktivieren und zu verstärken vermögen.«109 Solch eine Verbindung mehrerer Resonanzachsen kann auch im erhobenen Material beobachtet werden. Lässt sich das individuelle Fasten zunächst als vertikale Resonanzachse zwischen der fastenden Person und Gott beschreiben, tritt in Fastengruppen eine horizontale Resonanzachse hinzu, die die Fastenden miteinander ver105 106 107 108 109
Rosa: Resonanz, S. 296. A.a.O., S. 435. Vgl. a.a.O., S. 436–441. A.a.O., S. 446. A.a.O., S. 443, S. 297.
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bindet. Als diagonale Resonanzachse lässt sich z.B. die Lektüre von Fastenbriefen und -mails verstehen, aber auch manche besonders einprägsame Erinnerungen der Befragten lassen sich an konkreten Gegenständen festmachen: Martinas Erzählung vom »Scheiterholz«, Sabines Frustration angesichts in Plastik verpackter Gummibärchen oder Michaels lebhafte Erinnerung an eine Dose, in der er als Kind während der Fastenzeit seine nicht gegessenen Süßigkeiten aufbewahrte. Auch das Kreuz als zentrales Symbol des Christentums lässt sich mit Rosa »resonanztheoretisch re-interpretieren als die Verbindung horizontaler und vertikaler Resonanzachsen«.110 Dies weist eine Ähnlichkeit zu der Deutung des Kreuzsymbols bei Lydia auf: »in der Mitte ist eben das Herz Jesu, und die Horizontale und die Vertikale verbinden sich«. Eine weitere für das Fasten relevante Art der Weltbeziehung, die Resonanz ermöglichen kann, ist die Nahrung. Laut Rosa »bildet der Vorgang der Einverleibung und Ausscheidung von Welt durch Essen und Trinken einen variablen, aber überaus zentralen Bestandteil der menschlichen Weltbeziehung, der von fundamentaler Bedeutung für jegliche Form der Weltaneignung oder Weltanverwandlung ist.«111 Was Menschen essen und wie sie es essen, hat Auswirkungen auf ihre körperliche und psychische Verfassung: »[D]ie Erkenntnis, dass das Verdauungssystem die zentrale Stelle der physischen Weltbeziehung des Menschen ist und dass in dieser Weltbeziehung physische, psychische und symbolische Elemente unentwirrbar miteinander verschränkt sind, [eröffnet] in jedem Falle einmal mehr eine interessante Perspektive für die Diagnose von Weltbeziehungsstörungen. Dass uns die Welt einerseits auf den Magen schlagen kann, dass wir oft keinen Bissen hinunterbringen können, wenn es uns schlechtgeht (so dass wir uns am liebsten vor der Welt verschließen mögen), während uns das Essen andererseits köstlich schmeckt, wenn wir im Glück sind; dass also das Verdauungssystem auf unsere psychosoziale Befindlichkeit reagiert, ist in der Medizin wohlbekannt und auch ganz unumstritten.«112 Zwei Beobachtungen Rosas zur Nahrung als Ort der Weltbeziehung sind für das Fasten besonders interessant: Zum einen hält Rosa fest, dass der Vorgang der Nahrungsaufnahme ein hohes Maß an kultureller Aufmerksamkeit erhält, die Vorgänge der Nahrungsausscheidung dagegen weit weniger. Für ihn legt sich aus der Resonanzperspektive nahe, »dass die Moderne ihre Aufmerksamkeit auf das Einverleiben, Kontrollieren und Verarbeiten von Welt richtet, nicht jedoch auf das ihr gegenüber Sichöffnen, Loslassen und Zurückgeben«.113 Hier stellt das (Heil-)Fasten gewis110 111 112 113
A.a.O., S. 444. A.a.O., S. 59. A.a.O., S. 105. A.a.O., S. 104.
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sermaßen ein »Gegenprogramm« dar, denn gerade das Einverleiben von Nahrung und damit von Welt wird hier für einen begrenzten Zeitraum zurückgewiesen. Zugleich ruft diese zeitweise Zurückweisung eine Intensivierung der Weltbeziehung über das Essen hervor, wenn das Fasten beendet ist: »[S]o eine Kartoffel schmeckt einfach dann mega. Nach zwei Wochen wieder was zu essen, was einen natürlichen Geschmack hat, das ist schon toll«, formuliert Svenja. Im Endeffekt kann das Fasten so auch dazu führen, den gesellschaftlichen Fokus auf Nahrungsaufnahme noch zu verstärken, aber dennoch stellt es zunächst einmal eine signifikante Unterbrechung dar. Rosa äußert sich ferner auch zur Rolle des Körpers in resonanten Weltbeziehungen und hält dabei fest, »dass der Körper im Modus resonanter Weltbeziehungen in aller Regel kaum bewusst gespürt oder thematisiert wird: Wo er schmerzt, seinen Dienst versagt oder sich unserem Willen widersetzt, wird er zum Objekt, zum Gegner und zum Thema, und dort tritt er uns in der Regel auch stumm, das heißt im Modus instrumenteller und/oder kausaler Beziehungen, gegenüber. Die obsessive Thematisierung des Körpers in der Spätmoderne kann daher durchaus als Indiz für den Verlust resonanter (körperlicher)Weltbeziehungen gelesen werden.«114 Auch dies scheint sich im Heilfasten anders darzustellen. Das Fasten macht eine resonante Weltbeziehung wahrscheinlicher, obwohl der Körper sehr bewusst gespürt und thematisiert wird: Er wird vor dem Beginn des Fastens entleert, während der Fastentage tritt er immer wieder durch die veränderte Nahrungsroutine in den Fokus der Aufmerksamkeit und macht sich bisweilen durchaus auch durch Unwohlsein bemerkbar wie Ingrid, Angelika, Marion und Ida es beschreiben. Nach Rosas Theorie müsste dies eigentlich zu einer instrumentellen bzw. stummen Körperbeziehung führen, aber gerade das scheint hier nicht der Fall zu sein. Entgegen Rosas Beobachtung scheinen Hunger und Schmerz manche Fastenden nicht generell weniger resonanzempfänglich zu machen, sondern die Wahrscheinlichkeit von Resonanzerfahrungen sogar zu erhöhen.115 Warum machen im Heilfasten gerade die Nahrungsverweigerung und das (nicht nur angenehm) hervortretende Körpergefühl Resonanzerfahrungen wahrscheinlich? Zum Verständnis greife ich auf Victor Turners Konzepte von Liminalität und communitas zurück.
114 115
A.a.O., S. 151. Vgl. a.a.O., S. 642. Dies gilt jedoch nicht für alle Befragten: Michael berichtet z.B., Heilfasten einmal ausprobiert und dabei den ganzen Tag über nur Hunger gehabt zu haben, woraufhin er es nie wieder versuchte.
IV Im Gespräch mit der Empirie: praktisch-theologische Perspektiven
b) »Außerdem ist das unglaublich, wie schnell man eine Gruppe wird« – Liminalität und communitas beim Fasten Der Begriff Liminalität stammt ursprünglich aus der Ritualforschung Arnold van Genneps. Victor Turner nimmt van Genneps Einteilung von Ritualen in präliminale, liminale und postliminale Phase auf, um sich dann insbesondere auf die liminale Phase bzw. Schwellenphase zu fokussieren.116 Er definiert den liminalen Zustand wie folgt: »Liminal entities are neither here nor there; they are betwixt and between the positions assigned and arrayed by law, custom, convention, and ceremonial.«117 In der liminalen Phase eines Rituals haben Personen keinen distinkten sozialen Status: »It is as though they are being reduced or ground down to a uniform condition to be fashioned anew and endowed with additional powers to enable them to cope with their new station in life. Among themselves, neophytes tend to develop an intense comradeship and egalitarianism. Secular distinctions of rank and status disappear or are homogenized.«118 Erst nach dem Ritual stellen sich wieder soziale Hierarchien ein, die nun den neuen sozialen Rollen der Ritualteilnehmer*innen entsprechen. Während des Rituals selbst fördert die Abwesenheit sozialer Hierarchien allerdings einen starken sozialen Zusammenhalt unter den Teilnehmenden und ermöglicht ihnen eine besondere Verbundenheit: »These individuals are not segmentalized into roles and statuses but confront one another rather in the manner of Martin Buber’s ›I and Thou‹«.119 Turner bezeichnet diese Art der sozialen Verbundenheit, geprägt von einem homogenen Sozialstatus und kameradschaftlicher Nähe, als »communitas«.120 Sie ist der Gegensatz zur alltäglichen Struktur der Gesellschaft, die von Hierarchien und Regeln gekennzeichnet ist, und auch die Form der Gemeinschaft geht über alltägliche Formen hinaus: »Communitas differs from the camaraderie found often in everyday life, which, though informal and egalitarian, still falls within the general domain of
116
Vgl. Turner, Victor: The Ritual Process. Structure and Anti-Structure (Ithaca: Cornell Paperpacks/Cornell University Prints 1969), S. 94. 117 Turner: The Ritual Process, S. 95. 118 Ebd. 119 A.a.O., S. 132. 120 Ebd. Turner verwendet den lateinischen Begriff communitas statt des Englischen community, um zu verdeutlichen, dass es sich nicht um geteilten Wohnraum oder um Gemeinschaft im Sinne einer fest gefügten Gruppe handelt, sondern um eine spezifische Qualität sozialer Beziehungen, vgl. ebd.
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structure, which may include interaction rituals. Communitas […] tends to ignore, reverse, cut across, or occur outside of structural relationships.«121 Mit Turner lässt sich das soziale Leben auf individueller, gesellschaftlicher und auch historischer Ebene als Dialektik zwischen Struktur und communitas verstehen.122 Liminalität ist zwar das »optimal setting of communitas relations«.123 Jedoch haben sich gerade in komplexen Gesellschaften im Laufe der Zeit weitere Formen von communitas herausgebildet:124 Während die ursprüngliche »existential communitas«125 auf konkrete Ritualsituationen beschränkt ist, bezeichnet »normative communitas«126 das Bestreben, communitas als Normalzustand einer Gemeinschaft zu etablieren. Sehr häufig geschehe dies im Zusammenhang mit Religionen: »These religions recognize some of the anti-structural features of communitas and seek to extend its influence throughout whole populations as a means of ›release‹ or ›salvation‹ from the role-playing games which embroil the personality in manifold guiles, guilts, and anxieties.«127 Auch Heilfasten kann m.E. als liminale Praxis gedeutet werden, die die Fastenden aus ihrem Alltag herauslöst und ihnen, sofern sie in einer Gruppe fasten, das Erleben von communitas ermöglicht: So beschreiben Lydia, Ida, Marion und Svenja mit hoher innerer Beteiligung das intensive Gemeinschaftsgefühl, das sich in ihren Fastengruppen einstellt und als normative Form von communitas verstanden werden kann:128 Das Gemeinschaftsgefühl stellt sich nicht spontan während eines geteilten Rituals ein, sondern ist der mehr oder weniger erwartbare (wenn auch nicht völlig kontrollierbare) »Normalzustand« in den Heilfastengruppen. So beschreibt Lydia ihre Erfahrung in insgesamt über fünfzig Heilfastenkuren: »[I]ch hatte eben das Gefühl, auf einer Insel zu sein. Also man bleibt eigentlich in dem Umfeld, wo man ist, aber man ist trotzdem in einem besonderen Raum.« Weiterhin berichtet sie von dem »Erleben, dass man nicht hinter der Zeit herrennt, sondern dass die Zeit hinter einem ist«. Diese Formulierungen erinnern an Turners Beschreibung von communitas: »Communitas is almost always thought of or portrayed by actors as a timeless condition, an eternal now, as ›a moment in and out of time‹, or as a state to which the structural view of time is not applicable.« 121
Turner, Victor: Dramas, Fields, and Metaphors. Symbolic Action in Human Society (Ithaca/ London: Cornell University Press 1974), S. 274. 122 Vgl. Turner: The Ritual Process, S. 132. 123 Turner: Dramas, Fields, and Metaphors, S. 202. 124 Vgl. ebd., S. 203. 125 A.a.O., S. 132. 126 Ebd. Als drittes Beispiel nennt Turner die »ideological communitas« (ebd.), die im Rahmen von Utopien eine auf communitas basierte Gesellschaft imaginiert; vgl. zu den verschiedenen Formen der communitas auch Turner: Dramas, Fields, and Metaphors, S. 169. 127 A.a.O., S. 203. 128 Ähnlich Fechtner: Im Rhythmus des Kirchenjahres, S. 107.
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Ebenso berichten die Befragten auch von Situationen, die sich als Beispiele für spontane, existenzielle communitas verstehen lassen, wenn z.B. Angelika und Lisa, die sich von der Kirche tendenziell entfremdet fühlen, im Osternachtsgottesdienst oder bei einer Karfreitagsprozession unerwartet vom liturgischen Geschehen erfasst und emotional affiziert werden. Die Nähe vom Fasten zu liminalen Zuständen hat ihrerseits eine lange Tradition: Fasten ist in zahlreichen Kulturen Teil von Passageriten oder der Vorbereitung auf sie. Auch die bereits erwähnte Lebensform der Wüstenväter und Wüstenmütter, in deren religiösen Praktiken das Fasten einen festen Platz hatte, lässt sich als Verharren in der Liminalität verstehen, ebenso wiesen mehrere für ihr Fasten bekannte Asketinnen des Mittelalters durch ihre Askese gesellschaftliche Regeln für sich zurück. Nicht zuletzt kann Fasten ganz basal als Kontrast zur Struktur des alltäglichen Lebens verstanden werden: Statt der gewöhnlichen drei Mahlzeiten am Tag keine zu sich zu nehmen, nicht zu essen, während andere es tun, bedeutet eine erhebliche Abweichung von gesellschaftlichen Konventionen und kann Unverständnis oder sogar erhebliche Irritation auslösen, wie es von Angelika, Michael, Martina und Günther beschrieben wird. Auch der »normale« Tagesablauf ändert sich: Zeit, die man für gewöhnlich mit der Zubereitung und Aufnahme von Nahrung verbringt, wird frei und kann anderweitig genutzt werden (sofern man nicht, wie Angelika oder Marion, weiterhin für seine Angehörigen kocht und mit ihnen am Tisch sitzt, während sie essen). In der Tatsache, dass dieses Zurückweisen der gesellschaftlichen Strukturen von einer Gruppe ausgehalten werden kann, zeigt sich für Turner die Stärke der communitas, und umgekehrt schweißt genau diese gemeinsame Abweichung von der gewöhnlichen Struktur die Gruppe zusammen und verstärkt die communitas.129 In der normativen communitas wird die Gegenstruktur des Fastens selbst wieder ein Stück weit strukturalisiert,130 etwa durch regelmäßige Treffen und ritualisierte Abläufe. Dies erklärt, warum Heilfastengruppen oft überraschend schnell zusammenwachsen und einen hohen Grad von Intimität ermöglichen, wie Lydia es beschreibt: »[A]ußerdem ist das unglaublich, wie schnell man eine Gruppe wird. Also das ist wirklich eine Einheit, die sich ja dann auch wieder auflöst. Aber es ist eine Gruppe, wo eine Offenheit ist, das ist unglaublich. Also das ist für mich ein Phänomen.« Die Fastengruppe ist somit »at once an instrument and an expression of normative communitas.«131 Communitas hat überdies »an existential quality; it involves the whole man in his relation to other whole men«.132 Diese (Suggestion von) Ganzheitlichkeit weist
129 130 131 132
Vgl. Turner: The Ritual Process, S. 112. Vgl. Turner: Dramas, Fields, and Metaphors, S. 203. A.a.O., S. 224. Turner: The Ritual Process, S. 127.
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ebenfalls Parallelen zur »tiefen Adressierung« auf, bei der Menschen sich »als ganze Person gemeint« fühlen. Diese Erfahrung beschreiben z.B. Marion, Ida und Lydia. Jedoch kann in diesem Zustand niemand dauerhaft verharren und das nicht nur aus dem simplen Grund, dass dauerhaftes Fasten unweigerlich zum Tod führt. Communitas befindet sich mit Turner gesprochen immer in einem dialektischen Wechsel mit Struktur: »Communitas cannot stand alone if the material and organizational needs of human beings are to be adequately met. Maximization of communitas provokes maximization of structure, which in its turn produces revolutionary strivings for renewed communitas. The history of any great society provides evidence at the political level for this oscillation.«133 Was Turner hier bezogen auf historische Prozesse formuliert, gilt auch auf der individuell-biographischen Ebene der Befragten: Fasten ist für viele von ihnen, gerade in der relationsorientierten Gruppe, eine Erfahrung, die emotional zwar bereichernd, aber auch anstrengend ist. Ein andauerndes, bleibendes Verharren »auf der Schwelle« ist für die meisten Menschen deshalb nicht alltagstauglich. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass Liminalität auch als bedrohlich empfunden kann: »[L]iminality is a movement between fixed points and is essentially ambiguous, unsettled, and unsettling.«134 Ich sehe einige strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Turners communitasBegriff und bestimmten Formen von Rosas Resonanzbegriff. Beide Begriffe bezeichnen ein intensives, positives Erleben von Verbundenheit, Beziehung und Gemeinschaft, das elementar für das dauerhafte Zusammenleben einer Gesellschaft ist. Doch weder communitas noch Resonanz können absolut kontrolliert und gezielt herbeigeführt, sondern lediglich wahrscheinlich gemacht werden, wobei in beiden Konzepten Religion eine wichtige Rolle einnimmt. Religion, insbesondere religiöse Rituale mit liminalem Charakter, erzeugen nach Turner häufig communitas, bei Rosa ist Religion eine der klassischen vertikalen Resonanzachsen. Liminale Praktiken und das Erleben von communitas machen Resonanzerfahrungen offensichtlich wahrscheinlich – und die starken Resonanzen, die in einer Gruppe erfahren werden, stabilisieren und intensivieren wiederum die communitas. Sie gründet sich nicht nur in einem auf der geteilten Situation basierenden Kameradschaftsgefühl, sondern zudem auf der gegenseitigen emotionalen Affizierung. Dies erklärt, warum Heilfasten Resonanzerfahrungen wahrscheinlich machen kann, obwohl es die Weltbeziehung »Nahrung« radikal unterbricht und auch unangenehme körperliche Erfahrungen mit ihm einhergehen können. Auch in Bezug auf Liminalität und communitas weist das Fasten Parallelen zu anderen religiösen Praktiken auf, insbesondere zum Pilgern. Auf die Ähnlichkeiten der an Selbsterfahrung orientierten Fastenden mit derjenigen des aktivischen Pilgertypus nach Lienau wurde bereits hingewiesen. Eine vergleichbare Ähnlichkeit 133 134
A.a.O., S. 129. Turner: Dramas, Fields, and Metaphors, S. 274.
IV Im Gespräch mit der Empirie: praktisch-theologische Perspektiven
weisen die an Relationen orientierten Fastenden zu Lienaus passivischem Pilgertypus auf: Wenn die an Relationen Orientierten heilfasten, dann tun sie das nicht in erster Linie aus gesundheitlichen Gründen, sondern (wie der passivische Pilgertyp) »um sensibel zu werden und in eine pathische Haltung zu gelangen«.135 Der (willkommene) Effekt ist ein »Gegenwärtigsein im Hier und Jetzt«.136 Eine zentrale Stellung nimmt dabei das leibliche Empfinden ein: »Anders als bloß gedankliche Konstruktionen kann das leiblich Erfahrene eine Tiefenschicht erreichen, die einen hohen Realitätsgehalt und eine hohe Gewissheit verbürgt. Wirklich ist, was ohne diskursive Vermittlung oder intentionale Akte als einfach und unmittelbar da erfahren wird – und das geschieht besonders in leiblichen Vollzügen.«137 Dies korrespondiert mit der bereits erörterten »tiefen Adressierung«, die durch Körperpraktiken ermöglicht wird. Es gibt jedoch auch Unterschiede zwischen Fastenden und Pilgernden: Zum einen spielt das reflexive Nachsinnen über die eigene Tätigkeit bei den passivisch Pilgernden quasi keine Rolle,138 bei den relationsorientiert Fastenden dagegen durchaus: Insbesondere in den Interviews mit Lydia, Ida, Claudia oder Günther wird sehr deutlich, dass sie sich sowohl über das Fasten viele Gedanken machen als auch während der Fastenzeiten immer wieder ihr eigenes emotionales Erleben kognitiv reflektieren. Auch im Transzendenzbezug zeigen sich Unterschiede: die Formulierung »[g]eborgener Teil eines apersonalen Ganzen«139 , mit der Lienau das spirituelle Erleben der passivisch Pilgernden zusammenfasst, unterscheidet sich von der Spiritualität der Fastenden. Sie haben ein deutlich personaleres Gottesbild: Gott ist ein Gegenüber, auf das man hören kann (Marion, Lydia), zu dem man beten kann (Günther), dem man dankbar ist (Claudia) und zu dem man sich eine persönliche Beziehung wünscht (Ida, Monika). Die Ähnlichkeiten sind in dieser Gruppe daher insgesamt nicht so frappierend wie diejenigen zwischen den selbsterfahrungsorientierten Fastenden und den aktivisch Pilgernden, aber dennoch erkennbar. So verwundert es auch nicht, dass Monika, in deren Interview sich allmählich herauskristallisiert, dass Fasten eigentlich nicht zu ihr passt, am Schluss bemerkt, dass Pilgern ihr vielleicht besser liegen könnte, da es etwas mehr Aktivität erfordert und sie zudem den Naturbezug sehr schätzt.140
135 136 137 138 139 140
Lienau: »Mein Körper vibriert vor Dankbarkeit«, S. 199. Ebd. A.a.O., S. 201. Vgl. a.a.O., S. 200–204. A.a.O., S. 195. Hier ist darauf hinzuweisen, dass auch die Natur für Rosa eine der klassischen Resonanzachsen ist (vgl. Rosa: Resonanz, S. 296). Auch das Pilgern durch die Natur ließe sich somit sicherlich resonanztheoretisch weiter ausdeuten, in Lienaus Studie finden sich viele Beispiele für die hohe Relevanz, welche die Naturerfahrung für die Pilgernden hat.
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Insgesamt überwiegen nichtsdestoweniger die Ähnlichkeiten zwischen beiden Pilgertypen und allen Befragten, die heilfasten. Hier ist erneut der starke Fokus auf den Körper zu nennen. Er macht es möglich, diese Form des Fastens – wie auch das Pilgern – als Körpertechnik zu verstehen, wie Andrea Bieler vorschlägt.141 Ebenso stützt das vorliegende Sample Bielers Vermutung, dass sich im Fasten eine »gemischte Gemengelage hinsichtlich der Begründungszusammenhänge vorfinden«142 lässt: Die Fastenmotivation ist gerade in der Gruppe der an Selbsterfahrung Orientierten keineswegs strikt religiös, ganz im Gegenteil lässt sich in dieser Gruppe die größte Distanz zur Kirche ausmachen. Bei den an Relationen orientierten Befragten, die heilfasten (Lydia, Marion und Günther), spielt der persönliche Glaube allerdings eine entscheidende Rolle bei der Fastenmotivation, sodass hier durchaus davon gesprochen werden kann, dass eine »auf den Leib zentrierte Praxis zum Medium der Gestaltung der Gott-Mensch-Beziehung«143 wird. Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Pilgern und Heilfasten oder anderen körperlich intensiven Fastenformen ist das Erleben von Liminalität und communitas. Pilgern ist eine fundamental liminale Praxis144 – man ist wortwörtlich auf dem Weg, weder hier noch dort, herausgehoben aus dem gewöhnlichen Alltag und den Strukturen, in denen man sich sonst bewegt. Victor Turner deutet zahlreiche Berichte von Pilgerreisen als Form von normativer communitas.145 Im Pilgern als »ordered anti-structure« verbinden sich Freiwilligkeit mit normativen Vorstellungen und Erwartungen bezüglich der Pilgerreise. Da die Schwellenphase des Pilgerns viel länger ist als die klassischer Initiationsriten, kann es nicht ohne jegliche Struktur praktiziert werden. Aus demselben Grund amalgamieren im Pilgern religiöse und säkulare Dimensionen.146 Dies lässt sich aufs Fasten übertragen: Auch hier mischt sich die individuelle Entscheidung zum Fasten und für ein bestimmtes Fastenvorhaben mit normativen Überlegungen, z.B. wenn Monika ihr Vorhaben nach dem ersten Treffen mit ihrer Fastengruppe intensiver gestaltet, um »mithalten« zu können oder wenn Sabine ihrer Tochter erklärt, dass die Fastenzeit auch für ihren Geburtstag nicht unterbrochen werden wird: »Wenn, müssen wir es richtig machen.« Zudem ist auch beim Fasten die Schwellenphase ausgedehnt, je nach Wahl des Vorhabens auf die vollen vierzig Tage der Passionszeit oder auf die Dauer einer Heilfastenkur. Nicht zuletzt begegnet auch beim Fasten eine Vielzahl an Motivationen und Erfahrungen,
141 142 143 144
S. dazu im Detail Kapitel II.3 b). Bieler: Askese Postmodern, S. 210. A.a.O., S. 206. Vgl. Turner: Dramas, Fields, and Metaphors, S. 166f. sowie das gesamte Kapitel 5 dieses Buches (Pilgrimages as Social Processes, S. 166–230). 145 Vgl. a.a.O., S. 196f. 146 Vgl. a.a.O., S. 182.
IV Im Gespräch mit der Empirie: praktisch-theologische Perspektiven
in der religiöse und säkulare Dimensionen sich in unterschiedlichen Kombinationen miteinander verbinden. Während des Fastens werden die Praktizierenden einerseits häufiger mit religiösen Themen konfrontiert: Sie wissen, dass sie sich in einer kirchenjahreszeitlich bedeutsamen Zeit befinden, treffen sich in gemeindlichen Fastengruppen oder nutzen das Material von christlichen Fasteninitiativen. Andererseits hat das Fasten aber auch völlig säkulare Implikationen, etwa wenn, wie in Lydias und Marions Familie, das Kochen des Mittagessens anders organisiert werden muss als sonst oder wenn man wie Sabine beim Einkaufen nach anderen, plastikfrei verpackten Produkten suchen muss.147 Auch eine weitere Gemeinsamkeit der communitas im Fasten und im Pilgern lässt sich beobachten. So beobachtet der Soziologe Patrick Heiser im Anschluss an Victor Turner: »Die Vergemeinschaftungsformen während des Pilgerns können […] als gesteigerte Form der Gemeinschaft beschrieben werden – als sogenannte ›Communitas‹. Dabei lassen sich zwei Formen unterscheiden: Eine synchrone Communitas entsteht durch die Vergemeinschaftung von Pilgerinnen und Pilgern, die den Jakobsweg zur gleichen Zeit begehen. […] Die diachrone Communitas hingegen bezeichnet das von vielen Pilgerinnen und Pilgern geäußerte Gefühl, Teil einer ›lebendigen Geschichte‹ und ›größeren Gemeinschaft‹ zu sein. Dieses Gefühl richtet sich einerseits in die Vergangenheit: an die Pilgerinnen und Pilger früherer Generationen, mit denen man sich durch eine lange Tradition verbunden fühlt. Andererseits wird mit diachroner Communitas der Wunsch beschrieben, Pilgerinnen und Pilgern zukünftiger Generationen etwas zu hinterlassen.«148 Als Beispiele für synchrone communitas im Fasten wurden bereits die intensiven Gemeinschaftsgefühle in Fastengruppen genannt. Diachrone communitas begegnet ebenfalls, z.B. im Interview mit Ingrid, wenn sie formuliert: »[I]ch fühl mich da in der Linie dieser Tradition, so als wenn da Millionen Menschen schon hinter mir stünden.« Somit kann Fasten auch als liminale Praxis verstanden werden: Es ist klar vom Alltag unterschieden, kehrt zyklisch jedes Jahr wieder und führt bei denjenigen, die in Gruppen fasten, zu einer intensiven Gemeinschaft, die als communitas bezeichnet werden kann. Dies trägt dazu bei, Resonanzerfahrungen wahrscheinlicher zu machen, und ist somit ein wichtiger Grund, warum Fasten in der Moderne wieder an religiöser Attraktivität gewinnt: Denn »exposure to or immersion in communitas seems to be an indispensable human social requirement. People have a real need, and ›need‹ is not for me ›a dirty word‹, to doff the masks, cloaks, apparel, and insignia of status from time to time even if only to don the liberating masks of liminal 147 Dasselbe gilt nach Turner für das Pilgern, vgl. a.a.O. S. 182f. 148 Heiser, Patrick: Religionssoziologie (Brill u.a.: Wilhelm Fink 2018), S. 77.
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masquerade. But they do this freely.«149 Als eine solche freie Entscheidung zur strukturierten Anti-Struktur erweist sich das Fasten mancher Befragten.
149 Turner: Dramas, Fields, and Metaphors, S. 243.
V Schluss
Der Ausgangspunkt dieser Studie war die Beobachtung, dass Fasten im evangelischen Raum nach Jahrhunderten des Schattendaseins wieder an Bedeutung und Beliebtheit gewinnt. Um zu erforschen, warum dies der Fall ist, wurde eine empirische Erhebung mit teilnarrativen leitfadengestützten Interviews durchgeführt. Auf der Basis einer theoretischen Sensibilisierung für das Thema Fasten wurde ein Interviewleitfaden konzipiert, anhand dessen Fastende zu ihren Erfahrungen befragt wurden. Diese Interviews wurden mit der Dokumentarischen Methode ausgewertet und aus operativ-funktionaler Perspektive interpretiert. Die Ergebnisse wurden sodann praktisch-theologisch reflektiert. Insgesamt zeigt die Studie, dass zeitgenössisches Fasten in einer enormen Vielfalt von persönlichen, religiösen und gesellschaftlichen Bezügen begegnet. Fasten ist in der Moderne eine selbstbestimmte Praxis: Die Befragten entscheiden sich freiwillig und bewusst für das Fasten und für eine spezifische Ausgestaltung. In aller Regel verfügen sie über großes Wissen bezüglich der zahlreichen Fastenoptionen der Gegenwart und entscheiden mit einem hohen Grad an Selbstreflexivität, welche Form des Fastens für sie passend ist. Somit eröffnet sich eine beachtliche Bandbreite an Motivationen, Erlebnissen und Gedanken, die vielfältige Anknüpfungspunkte für ein weiteres theologisches Nachdenken sowie für die kirchliche Praxis darstellen. Konkret lassen sich mehrere Frageperspektiven an das Material richten: Auf der inhaltlichen Ebene kann gefragt werden, was die Befragten unter Fasten verstehen und wie sie es konkret ausgestalten. Methodisch formuliert wird hier die Sinnebene des kommunikativen Wissens in den Blick genommen: Was erzählen die Befragten? Welche Sachthemen bewegen sie in Bezug auf ihr Fasten? Ebenso wird danach gefragt, welche gesellschaftlichen Orientierungsschemata zur Sprache kommen. Dabei wurden zwei der Sachthemen genauer betrachtet, die in allen drei Orientierungsgruppen begegnen, aber ganz unterschiedlich verhandelt werden. Dies sind die Auseinandersetzung mit Fragen der Lebensführung sowie mit dem Gesundheitshandeln. Beide Themen erweisen sich als wichtig für die jeweiligen Befragten und sind auch praktisch-theologisch anschlussfähig. Die Fastenzeit vor Ostern bietet somit die Chance, sich diesen Themen in Fastengruppen, in Gottesdiensten an den Sonntagen der Passionszeit oder auch in religionspädagogischen
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Kontexten wie dem Konfirmations-oder Schulunterricht zu widmen und sie sowohl theologisch als auch persönlich zu reflektieren. In diesen Zusammenhängen bietet sich zugleich die Gelegenheit, ambivalente Aspekte dieser Thematiken aufzufangen, z.B. wenn Fastende aufgrund eines Fastenbrechens von Gewissensbissen geplagt werden, wenn sie Druck verspüren, sich ständig mit ihrer Gesundheit befassen zu müssen oder unter den körperlichen Auswirkungen einer Heilfastenkur leiden. Natürlich begegnen in den Interviews noch zahlreiche andere Themen, z.B. der Umgang mit Scheitern, die Frage, was »richtiges Christsein« ausmacht, das Bemühen um eine gelingende Organisation des Gemeindelebens oder das Ringen um eine erfüllende Kommunikation mit Freund*innen. Damit zeichnet sich die von mehreren Theolog*innen bereits vermutete große Bandbreite an Kontexten des Fastens ab. Zugleich zeigt sich aber auch, dass die meisten Befragten durchaus ein »Hauptthema« für ihr Fasten finden, ob es sich dabei um den Erhalt der eigenen Gesundheit, um die Beziehung zu Gott oder die Erprobung des Verzichts auf bestimmte Konsumgüter handelt. Eine zweite Frageperspektive richtet sich auf die Ebene des dokumentarischen Sinns der Interviews und fragt nach den Strukturen des persönlichen Erlebens der Befragten. Diese Strukturen spiegeln sich im Wie ihrer Erzählungen: Was halten die Befragten für erzählenswert, wie formulieren sie ihre Erfahrungen? Welche grundlegenden Orientierungsrahmen lassen sich in ihren Erzählungen rekonstruieren? Hier wurden die Orientierungen an Prinzipien, an Selbsterfahrung und an Relationen herausgearbeitet und vorgestellt und dann die theoretisierende Frage gestellt, was »eigentlich« hinter der Wiederentdeckung des Fastens steckt: Welche Funktion erfüllt das Fasten für die Befragten? Für welche latenten Bezugsprobleme ist es eine Bearbeitungsmöglichkeit bzw. dient es als Lösung?1 In der Gruppe der prinzipienorientiert Fastenden ist das Bezugsproblem die Erfahrung der Differenz zwischen Überzeugung und Handeln: Sie erleben regelmäßig, an ihren eigenen Maßstäben zu scheitern, anstatt das zu tun bzw. tun zu können, was sie für gut und richtig befinden. Damit ergibt sich eine gewisse Nähe zu dem Sündenverständnis, das Paulus im Römerbrief entfaltet: »Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich.« (Röm 7,19) Bei aller Vorsicht angesichts des negativen Potenzials dieser Passage lässt sich diese Ähnlichkeit auch als Chance begreifen. Aus der Perspektive der Fastenden könnte die Auseinandersetzung mit dem theologischen Begriff ›Sünde‹ eine Ressource für die latente Bearbeitung ihres Bezugsproblems darstellen: Sie können ihre eigene Erfahrung damit klar benennen und sie zugleich als Teil der conditio humana einordnen. Dabei markiert das Wort ›Sünde‹, dass es sich bei der Differenz zwischen Überzeugung und Handeln durchaus um ein ernst zu nehmendes Problem
1
Vgl. Nassehi: Rethinking Functionalism, S. 99.
V Schluss
handelt, nicht um eine Bagatelle – wie es sich auch im Erleben der Befragten darstellt. Zugleich werden die Fastenden davor geschützt, sich diese Differenz nur als persönliches Versagen zuzuschreiben – denn aus theologischer Perspektive ist klar, dass Sünde zum Menschsein dazugehört. Dadurch, dass die Fastenzeit auf Ostern zuläuft, kann die Gefahr des anthropologischen Pessimismus zugleich bearbeitet werden: Die Fastenzeit endet mit der Feier der Auferstehung und damit auch mit der Hoffnung auf die Befreiung aus der Verstrickung in Sünde. Hierin liegt auch eine Chance für die religiöse Kommunikation, denn ›Sünde‹ gilt nach wie vor als belasteter und ambivalenter Begriff. Dass er bei den prinzipienorientiert Fastenden in einer konkreten Erfahrung verortet werden kann, könnte ihnen die Möglichkeit geben, ihr Erleben religiös zu deuten und so auch zu bewältigen. In der Gruppe der selbsterfahrungsorientiert Fastenden sind Herausforderungen moderner Individualität das Bezugsproblem: Individuen werden in der funktional differenzierten Gesellschaft fortwährend flach adressiert, das heißt, sie sind in aller Regel nicht als »Ganze« gemeint. Vielmehr werden immer nur Teilselbste in die jeweiligen Kommunikationskontexte inkludiert. Körperbezogene Formen des Fastens bieten analog zu Praktiken wie Pilgern oder Salbungsgottesdiensten die Möglichkeit der tiefen Adressierung, bei der der Körper als ›Fluchtpunkt‹ fungiert und sich Menschen ganzheitlich wahrgenommen und gemeint fühlen. Zugleich bietet das Fasten die Möglichkeit, ein zeitlich begrenztes Experiment durchzuführen, was auch seine Anforderungen klar begrenzt, im Gegensatz etwa zu »guten Vorsätzen« für ein neues Jahr. Wenn die Fastenzeit abgeschlossen ist, können die Fastenden sich entweder darüber freuen, etwas gefunden zu haben, was sie in ihrem Alltag beibehalten wollen, oder darüber, ein Experiment durchgehalten und als bereichernd erlebt zu haben. Dies führt größtenteils zu positiven Gefühlen wie Selbstbewusstsein, Stolz und Selbstwirksamkeit – auch wenn es für viele Fastende ebenso dazugehört, »mit sich selbst die Krise zu kriegen«, wie Lisa formuliert. In der Gruppe der relationsorientiert Fastenden stellt die Sehnsucht nach Resonanz das zentrale Bezugsproblem dar. Fasten erhält gerade dadurch einen hohen Wert, dass es horizontale Resonanzachsen zu anderen Fastenden, eine vertikale Resonanzachse zu Gott und diagonale Resonanzachsen durch die Lektüre von Fastenbriefen, Fastenmails oder Fastenforen wahrscheinlicher macht. Zugleich kann vor allem das Heilfasten in Gruppen als liminale Praxis im Anschluss an Victor Turner begriffen werden, da es die Fastenden aus ihrem Alltag heraushebt und in einen Zustand der communitas versetzt. Die intensiv empfundene Gemeinschaft hilft, Resonanzerfahrungen wahrscheinlicher zu machen – und das, obwohl Fasten Resonanzerfahrungen auch erschweren kann: Es schneidet die (existenzielle) Weltbeziehungsebene der Nahrung ab und kann mit Begleiterscheinungen wie Hungergefühlen oder zeitweisem Unwohlsein einhergehen. Ebenso bietet das Verständnis von Fasten als liminaler Praxis einen Schlüssel zum Verständnis der Attraktivität seiner zyklischen Wiederkehr: Hier spiegelt sich die Dialektik von Struktur und Un-Struk-
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tur, von Hierarchie und communitas, von Beheimatung und Liminalität, die nach Turner jede Gesellschaft auf fundamentaler Ebene durchzieht. Daher verwundert es nicht, dass gerade diese Art des liminalen Fastens eine jahrtausendelange und kulturübergreifende Tradition aufweist. Fragt man abschließend nach der Rolle der Religion im zeitgenössischen Fasten, fällt die Antwort mehrdimensional aus. Auf der Ebene des kommunikativen Wissens zeichnen sich große Unterschiede ab. Religion insgesamt und die Vorbereitung auf das Osterfest spielen auf der Ebene der konkreten Ausgestaltung des Fastens für manche Befragten zwar eine sehr wichtige Rolle: So empfinden Günther, Lydia, Michael, Ida und Marion Ostern explizit als Zielpunkt ihres Fastens. Für Martina, Sabine und Monika, die sich mit dem Osterfest nicht leichttun, bietet die Fastenzeit eine Möglichkeit, sich ihren Glaubenszweifeln zu stellen und sie zu bearbeiten – gerade auch innerhalb ihrer Fastengruppen. Sabine, Ida, Lydia und Michael empfinden das Passions- und Ostergeschehen intensiv mit, Michael schätzt das Fasten zudem als jahrzehntealte religiöse Familientradition. Die Sorge mancher Theolog*innen vor einer Rückkehr der Werkgerechtigkeit erweist sich anhand des Materials als völlig unbegründet: Es gibt weder auf der Ebene des kommunikativen noch des atheoretischen Wissens Hinweise darauf, dass Befragte sich durch das Fasten Rechtfertigung versprechen. Für die eher kirchenfernen Fastenden Ingrid, Angelika und Lisa spielt die Vorbereitung auf das Osterfest keine Rolle. Dennoch sind sie sich der religiösen Dimension des Fastens bewusst und nutzen sie, um sich dem für sie ambivalent besetzten religiösen Feld auf ihre je eigene Weise zu nähern. Insgesamt ist die von Zimmerling, Fechtner, Koll und Bieler vermutete Amalgamierung verschiedener Fastenkontexte zu beobachten, innerhalb derer Religion auch eine untergeordnete Rolle einnehmen kann. Auf der Ebene des atheoretischen Wissens und der latenten Bezugsprobleme stellt sich dies etwas anders dar: So kann Fasten aus funktionaler Perspektive als konstruktive Auseinandersetzung mit nicht lösbaren Problemen verstanden werden: Eine Differenz zwischen Überzeugung und Handeln zu erleben, ist Teil der conditio humana, und dass Individuen in der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft immer nur als Teilselbste adressiert werden und resonante Weltbeziehungen unwahrscheinlich sind, kann kein Fasten dauerhaft ändern. Das Fasten stellt für die Befragten eine Möglichkeit dar, sich zu diesen nicht lösbaren Problemen dennoch sinnhaft zu verhalten. Die zeitliche Begrenztheit des Fastens und die Wahl eines konkreten Fastenvorhabens helfen dabei, die Komplexität der Bezugsprobleme für eine Weile zu reduzieren, ohne sie zu leugnen. So setzen die Befragten sich konstruktiv mit den Bezugsproblemen ihres Fastens auseinander und entwickeln damit einen »Sinn für unlösbare Fragen.«2 Aus systemtheoretischer Perspek2
Karle: Sinn für unlösbare Fragen, S. 111.
V Schluss
tive ist dies eine Grundfunktion des Religionssystems. Dies geschieht jedoch nicht durch eine intensive kognitive Reflexion, sondern vielmehr dadurch, dass der praktische Vollzug des Fastens als sinnhaft und bereichernd empfunden wird und den Befragten zu Gefühlen der Selbstwirksamkeit verhilft. Das Fasten hilft ihnen so dabei, auch angesichts der Komplexität der modernen Gesellschaft ein grundlegendes Sinnvertrauen zu bewahren.
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VI Literatur
https://www.klimafasten.de/wochenthemen/7_gemeinsam, zuletzt abgerufen am 29.04.2020. (Link nicht mehr aktiv.) https://www.misereor.de/mitmachen/fastenaktion, zuletzt abgerufen am 08.01. 2020. https://www.misereor.de/ueber-uns/geschichte#c1144, zuletzt abgerufen am 13.01. 2022. https://www.rpi-ekkw-ekhn.de/fileadmin/templates/rpi/normal/bilder/orte/f ulda/UE_Klimafasten_Sek1_KonfiArbeit_RPI_EKKW_EKHN.pdf, zuletzt abgerufen am 29.04.2020. https://www.7wochenohne.evangelisch.de/aktionsarchiv, zuletzt abgerufen am 13.01.2022. https://www.7wochenohne.evangelisch.de/die-evangelische-fastenaktion-7-woch en-ohne, zuletzt abgerufen am 13.01.2022. Von Mensch zu Mensch, auf: https://www.misereor.de/fileadmin/publikationen/m isereor-selbstdarstellung-2015.pdf, zuletzt abgerufen am 29.04.2020.
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