Wortbildung 9783110184730, 9783110708998

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort der Bandherausgeber
1. Ausführliche Benutzungsanleitung
2. Abkürzungsverzeichnisse
3. Verzeichnis der Symbole
4. Übersicht für die phonetische Umschrift
5. Systematische Einführung in die Wortbildung
ALPHABETISCHES WÖRTERVERZEICHNIS
A
B
C
D
E
F
G
H
I
J
K
L
M
N
O
P
Q
R
S
T
U
V
W
Z
6. Verzeichnis sekundärer Quellen
7. Autorenverzeichnis
8. Englisch-Deutsches Register
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Wortbildung

Wörterbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (WSK) Dictionaries of Linguistics and Communication Science Herausgegeben von / edited by Stefan J. Schierholz und Herbert Ernst Wiegand †

Band 2 / Volume 2

Wortbildung

Ein Lern- und Konsultationswörterbuch. Mit einer Systematischen Einführung und englischen Übersetzungen Herausgegeben und bearbeitet von / Edited and Compiled by Peter O. Müller und Susan Olsen

ISBN 978-3-11-018473-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-070899-8 Library of Congress Control Number: 2022941701 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Vorwort der Bandherausgeber  7 1. Ausführliche Benutzungsanleitung  9 1.1 Allgemeine Hinweise zur Benutzung  9 1.2 Zum Textverbund in WSK-Wortbildung  13 1.3 Das Wörterverzeichnis: Die Wörterbuchartikel  13 1.3.1 Zugriffsstrukturen  14 1.3.1.1 Hinweise zum direkten externen Zugriff  14 Hinweise zum registervermittelten Zugriff  16 1.3.1.2 1.3.1.3 Hinweise zum Zugriff auf die Systematische Einführung  16 1.3.1.4 Hinweise zu den zugriffunterstützenden Kopfzeilen  17 1.3.1.5 Weitere Hinweise auf externe Zugriffsmöglichkeiten  17 1.3.2 Die Struktur der Wörterbuchartikel  18 1.3.2.1 Die Lemmaposition  19 1.3.2.2 Definiensangabe  19 1.3.2.3 Das englische Äquivalent  19 1.3.2.4 Die englische Definiensangabe  20 1.3.2.5 Weiterführende Erklärungen  20 1.3.2.6 Autorenname  21 1.3.2.7 Synonymangaben  21 1.3.2.8 Antonymangaben  22 1.3.2.9 Verweise  22 1.3.2.10 Die Literaturposition  24 1.4 Die Benutzung von WSK 2 als fachliches Lernwörterbuch  25 2. Abkürzungsverzeichnisse  26 2.1 Abkürzungen  26 2.2 Verzeichnis der Bandnamenabkürzungen in den Verweisangaben  28 2.3 Verzeichnis der Siglen in den Literaturangaben  29 3. Verzeichnis der Symbole  33 4. Übersicht für die phonetische Umschrift  35 5. Systematische Einführung in die Wortbildung  37 Alphabetisches Sachregister zur Systematischen Einführung  110 ALPHABETISCHES WÖRTERVERZEICHNIS  115 6. 7. 8.

Verzeichnis sekundärer Quellen  767 Autorenverzeichnis  768 Englisch-Deutsches Register  769

Vorwort der Bandherausgeber Der WSK-Band Wortbildung hat eine lange, fast 20-jährige Geschichte. Nachdem wir 2004 zugesagt hatten, diesen Band zu übernehmen, wurden Ende des Jahres bei einem Berliner Kolloquium mit den Reihenherausgebern und dem Verlag die Eckpunkte der WSKReihe besprochen. Der erste Arbeitsschritt bestand dann darin, eine vorläufige Lemmaliste zu erstellen. Dafür haben wir linguistische Wörterbücher, vor allem aber Handbücher, Sammelbände, Monographien und Zeitschriftenbeiträge zur Wortbildung ausgewertet. Diese Lemmaliste wurde dann im Lauf der Arbeit teils reduziert, vor allem aber weiter ausgebaut, und zwar bis in das Jahr 2021. Für die Anlage der Artikel als Einzel-, Synopse- und Verweisartikel sind die Bandherausgeber verantwortlich. Dies gilt auch für die mediostrukturelle Vernetzung des Wörterbuchs sowie die endgültige Festlegung der Literaturangaben am Ende der Artikel. Der zweite aufwendige Schritt bestand in der Auswahl von Artikelautoren. Unser Ziel war es, mit einem engen Kreis ausgewiesener Experten das Wörterbuch zu erarbeiten. Dass dies letztendlich gelungen ist, verdanken wir den in Kap. 7 genannten Autoren. Die Suche nach Artikelautoren erwies sich nicht immer als leicht. Manche haben zunächst eine größere Lemmazahl übernommen, dann aber nach mehreren Jahren abgesagt. Andere lieferten Artikel, deren Qualität uns nicht überzeugt hat. Wenn dann unsere Überarbeitungsvorschläge nicht umgesetzt wurden, haben wir uns für die Neusuche entschieden. Auch dies hat die Arbeit an dem Band nicht unwesentlich verlängert. Als sehr zeitintensiv erwies sich zudem die Arbeit mit dem neuartigen webbasierten Redaktionssystem des Verlags, das mehrmals verändert wurde. Neben dem Import der Artikel mussten auch die Autoren im System angelegt, mit Zugriffsrechten ausgestattet und eingearbeitet werden. Seit 2013 ist das WSK-Fachinformationssystem online zugänglich. Auch die Artikel des vorliegenden Bandes sind dort publiziert (https://www.degruyter.com/database/wsk/html). Aufgrund der langen Entstehungsgeschichte stammen die Artikel aus unterschiedlichen Zeiten. Die ersten Artikel lagen 2008 vor, die letzten wurden 2021 geschrieben. Da wir das Wörterbuch in allen Bereichen aktuell halten wollten, haben wir uns entschieden, ältere Artikel in Absprache mit den Autoren entweder inhaltlich zu ergänzen oder zumindest im Literaturverzeichnis zu aktualisieren. Diese Überarbeitung war aufwendig, aber aus unserer Sicht unverzichtbar. Diese Aktualität gilt auch für die von uns verfasste Systematische Einführung, die mit dem Wörterbuch durch Verweise verbunden ist, aber auch autonom als Einführung in die Wortbildung benutzt werden kann. Mit unserem Band erhält die Wortbildungsforschung eine Publikation mit einem eigenen, neuen Gepräge, und wir hoffen, dass dies auch impulsgebend ist. Unser Dank gilt den Reihenherausgebern für die vertrauensvolle Zusammenarbeit und dem Verlag de Gruyter für viele Hilfen insbesondere in der Abschlussphase. Vor allem aber bedanken wir uns bei den Autoren der Wörterbuchartikel: Sie haben dem Wör-

Vorwort der Bandherausgeber 8

terbuch mit eigenen wissenschaftlichen Vorstellungen individuelle Konturen gegeben, und die Diskussion um Inhalte war für uns wissenschaftlich sehr anregend. Nürnberg und Berlin, im Mai 2022

Peter O. Müller und Susan Olsen [email protected] [email protected]

1. Ausführliche Benutzungsanleitung 1.1 Allgemeine Hinweise zur Benutzung WSK 2 ist ein alphabetisches Fachwörterbuch zur Wortbildung und gehört zum Typ des fachlichen Lern- und Konsultationswörterbuchs. Es soll Fragen zum Erwerb, zur Struktur und zur handlungsermöglichenden Funktion von wissenschaftlichem Fachwissen beantworten. Der Erwerb dieses Wissens erfolgt in unterschiedlichen Lehr-, Lern-, Studier- und Handlungssituationen vor allem sprach-, bild- und symbolvermittelt. Jede Art wissenschaftlichen Wissens – wissenschaftstheoretisches, grundlagentheoretisches, theoriespezifisches, methodisches oder anwendungsbezogenes –, das fachlich angemessenes Handeln ermöglicht, ist immer mehr oder weniger zusammenhängendes Wissen für einen bestimmten Bereich. Das wissenschaftliche Wissen, über das eine Person noch nicht verfügt, wird von dieser bei der gestörten Rezeption oder gestörten Produktion wissenschaftlicher Texte sowie bei deren Übersetzung und weiterhin vor der Inangriffnahme bestimmter wissenschaftlicher Aufgaben benötigt. Daher soll WSK 2 die folgenden Aufgaben erfüllen können: (1) Es soll in konfliktbedingten Konsultationssituationen einfach und schnell benutzbar sein, wenn bei der Arbeit mit wissenschaftlichen Texten aufgrund von fachlichen Wissenslücken aktuelle Kommunikationsstörungen (wie z.B. Textrezeptionsstörungen oder Störungen bei der Übersetzungstätigkeit) auftreten, die zu Suchfragen nach einzelnen wissenschaftlichen Termini führen, so dass man an das fachliche Wissen gelangt, das an diese Termini gebunden ist. (2) Es soll in nichtkonfliktbedingten Benutzungssituationen, die zum Typ der Wissensrecherchesituation gehören, erfolgreich benutzbar sein, und zwar besonders in solchen Recherchesituationen, die während eines Studiums oder während der Einarbeitung in ein weniger vertrautes Teilgebiet in unterschiedlichen Ausprägungen mehrfach auftreten. WSK 2 besitzt daher eine Konsultations- und eine Lernkomponente, die im Wörterbuch als Menge von sich überlappenden Eigenschaften existieren. Die Konsultationskomponente besteht aus denjenigen Eigenschaften, welche die Voraussetzungen dafür bilden, dass das Wörterbuch die unter (1) genannten Aufgaben erfüllen kann. Diese Eigenschaften sind: – eine glattalphabetische Hauptzugriffsstruktur – ein hoher Grad der makrostrukturellen Abdeckung an Fachtermini – eine hohe Parzellierung des Fachwissens in Einzelartikeln, die genaues Detailwissen präsentieren – eine textuelle Struktur der Einzelartikel, die es erlaubt, das Bei- und Ineinander von Sachwissen und gegenstandskonstitutivem Bedeutungswissen angemessen darzustellen

1. Ausführliche Benutzungsanleitung 10



ein artikelinternes Verweisungsangebot, das bei Verständnisschwierigkeiten weiterhilft, die während der Artikellektüre auftreten.

Die Lernkomponente besteht aus denjenigen Eigenschaften, welche die Voraussetzungen dafür bilden, dass das Fachwörterbuch die unter (2) genannten Aufgaben erfüllen kann. Diese Eigenschaften sind: – die Aufhebung der Wissensparzellierung in Synopseartikeln – die Rückbindung des in den Artikeln vermittelten Fachwissens an einen in der Systematischen Einführung präsentierten fachlichen Verständnisrahmen – die bidirektionale mediostrukturelle Durchlässigkeit zwischen jedem Paragraphen der Systematischen Einführung und den fachlich zugehörigen Synopse- und Einzelartikeln – die mehrdimensionale Datenakzessivität. Für Benutzer ist ein Wechsel von einer konfliktbedingten Konsultationssituation zu einer Wissensrecherchesituation sowie in der umgekehrten Richtung problemlos möglich. Das charakteristische Profil des Typs der Lern- und Konsultationswörterbücher wird im Folgenden durch typkonstitutive Eigenschaften der Wörterbuchform vorgestellt: (1) Die Datendistribution ist so gestaltet, dass die lexikographischen Daten auf die Systematische Einführung im Vorspann, auf das Verzeichnis der Termini und auf das Englisch-Deutsche Äquivalentzugriffsregister verteilt werden. Die Systematische Einführung ist nach Paragraphen gegliedert. Am Ende jedes Paragraphen findet sich eine feste Verweisposition, in der auf die Lemmata von Synopseartikeln und ausgewählten Einzelartikeln verwiesen wird, die inhaltlich zu dem jeweiligen Paragraphen gehören. Das Englisch-Deutsche Äquivalentzugriffsregister liefert für konsultative Suchfragen anhand englischer Termini das deutsche terminologische Äquivalent und damit die alphabetischen Fundortdaten für den registervermittelten Zugriff auf das jeweilige deutsche Lemma im Wörterverzeichnis. (2) Die textstrukturellen Besonderheiten für die artikelinterne lexikographische Bearbeitung gehen auf eine bestimmte Auffassung über das Verhältnis von terminologiesemantischem Wissen und fachenzyklopädischem Sachwissen zurück, nach der Ersteres als gegenstandskonstitutives fachenzyklopädisches Bedeutungswissen aufgefasst wird und als ein Teil des fachenzyklopädischen Sachwissens gilt; beide Wissensarten sind bei vielen Termini nur tentativ abgrenzbar. Entsprechend wird in jedem Wörterbuchartikel, der kein Verweisartikel ist, erst durch die lexikographische Fachdefinition ein gegenstandskonstitutives fachenzyklopädisches Bedeutungswissen vermittelt, so dass der Benutzer über einen Gegenstand als Konzept verfügt, zu dem dann anschließend weiteres fachenzyklopädisches Sachwissen in der textuellen Artikelposition für weiterführende Erklärungen mitgeteilt wird. (3) In WSK 2 gibt es einen direkten externen Zugriff auf jedes Lemma als Element der makrostrukturellen Zugriffsstruktur. Dieser wird determiniert durch ein WSK-spezifisches Zugriffsalphabet, das auf dem lateinischen Alphabet des deutschen Schrift-

11

1.1 Allgemeine Hinweise zur Benutzung

systems beruht und von diesem nur geringfügig abweicht. Weiterhin gibt es einen indirekten externen Zugriff, der vom Englisch-Deutschen Äquivalentzugriffsregister vermittelt wird, so dass es zu jedem Lemma zwei externe Zugriffspfade gibt. (4) Der typspezifische Aspekt der mediostrukturellen Vernetzung ist die bidirektionale Verweisung zwischen den Paragraphen der Systematischen Einführung und den inhaltlich zugehörigen Artikeln und damit das Vorhandensein wörterverzeichnisübergreifender mediostruktureller Netze, welche die wörterverzeichnisinternen mediostrukturellen Artikelnetze ergänzen, die durch die Verweisung von Einzel- auf Synopseartikel bzw. umgekehrt gegeben sind. Die Mediostrukturen sind insgesamt so angelegt, dass eine Konsultationshandlung, mit der auf einen Synopseartikel, einen Einzelartikel, einen Verweisartikel, das Inhaltsverzeichnis, das englisch-deutsche Register oder auf einen Paragraphen der Systematischen Einführung zugegriffen wird, durch eine Verweisbefolgungshandlung fortgesetzt werden kann, womit dann eine systematische Recherche in WSK 2 beginnt. Bandübergreifende Verweise werden auf mit dem Lemma graphemgleiche Termini gesetzt, die in anderen WSK-Bänden als Lemma angesetzt sind. Dadurch werden die einzelnen Bedeutungen, die ein Terminus innerhalb des Fachgebietsverbunds „Sprach- und Kommunikationswissenschaft“ in einem der Teilfachgebiete hat, transparent, so dass die Informationsfunktion unterstützt wird. Darüber hinaus sind die deutsche und englischsprachige Teilreihe der WSK miteinander verbunden, indem auf die Termini verwiesen wird, die in einem deutschsprachigen Band in der Äquivalentposition stehen und in einem englischsprachigen WSK-Band als Lemma angesetzt sind. Dies gilt auch in umgekehrter Richtung, so dass von einem Äquivalent in einem englischsprachigen WSK-Band auf ein deutsches Lemma in WSK 2 verwiesen wird, wenn beide Termini graphemgleich sind. Der Adressatenkreis des WSK-Bands Wortbildung besteht aus (1) den Studierenden der philologischen und im weiteren Sinne linguistischen Fächer im In- und Ausland, die während ihres Studiums deutsche und englische Fachtexte lesen müssen, die zum Fachgebiet Wortbildung gehören (2) den Dozenten an den Universitäten und Fachhochschulen im In- und Ausland, bei denen die in (1) Genannten studieren bzw. studiert haben (3) den Akademikern, die ein Studium in philologischen und/oder linguistischen Fächern erfolgreich abgeschlossen haben und einen ihren Studienfächern entsprechenden Beruf ausüben. Die wichtigsten Typen von Benutzungssituationen für WSK 2 können in (a) konfliktbedingte Konsultationssituationen und (b) nichtkonfliktbedingte Konsultationssituationen (Wissensrecherchesituationen) unterteilt werden. Unter (a) fallen Konsultationssituationen, in denen ein Benutzer-in-actu eine Suchfrage hat, z.B. eine punktuelle Frage zu einem Terminus. Zu den konsultativen Suchfragen nach den Eigenschaften eines Terminus gehören u.a.:

1. Ausführliche Benutzungsanleitung 12

– – – – –

Was bezeichnet der Terminus X? Hat der Terminus X mehrere Bedeutungen? Wie lautet das englischsprachige Äquivalent zu dem Terminus X? Woher stammt der Terminus X? Ist der Terminus X mit einem anderen Terminus synonym?

Unter (b) fallen u.a. die folgenden Typen von Wörterbuchbenutzungssituationen: – Wissensrecherche für eine Seminar-, Bachelor- oder Masterarbeit – Wissensrecherche für wissenschaftliche Publikationen – Wissensrecherche für einen Dozentenvortrag – Orientierungslektüre zu einem Teilgebiet – Vorbereitung auf ein Seminar bzw. einen Vortrag oder eine Präsentation im Seminar. Da in allen Wörterbuchartikeln in diesem Fachwörterbuch mindestens eine Literaturangabe obligatorisch ist, kann WSK 2 auch für eine bibliographische Einstiegsrecherche benutzt werden. Der WSK-Band Wortbildung ist polyfunktional konzipiert. Es können drei Wörterbuchfunktionen festgehalten werden, die für unterschiedliche Benutzungssituationen zur Verfügung stehen: – die textrezeptionsunterstützende Wörterbuchfunktion – die spezielle fachbezogene Informationsfunktion – die translationsunterstützende Wörterbuchfunktion. Dieses System der Wörterbuchfunktionen bestimmt maßgeblich die textuelle Gesamtstruktur, die Datendistribution, die Makrostruktur, die mediostrukturelle Vernetzung und die Artikelmikrostrukturen sowie die Wörterbuchbasis. Die Wörterbuchbasis von WSK 2 ist die Menge aller zur Erstellung des Wörterbuchs tatsächlich benutzten Quellen und besteht aus zwei Gruppen, den primären und den sekundären Quellen: – Die primären Quellen sind die ausgewählten einschlägigen Texte aus dem Wörterbuchgegenstandsbereich Wortbildung, wie dieser in der Systematischen Einführung für WSK 2 festgelegt ist. Dazu gehören insbesondere Handbücher, Sammelbände, Monographien und Zeitschriftenbeiträge. Bei der Mehrzahl dieser Quellen handelt es sich um deutsche und englische Texte. – Die sekundären Quellen sind diejenigen fachspezifischen Nachschlagewerke, in denen Termini, die in WSK 2 lexikographisch bearbeitet werden, bereits vorher bearbeitet wurden. Hier sind insbesondere die einschlägigen Fachwörterbücher zur Sprachwissenschaft berücksichtigt. Das fachlexikographische Corpus von WSK 2 besteht aus der Menge aller primären Quellen. Der Aufbau des fachlexikographischen Corpus ist parallel zur Lemmaselektion erfolgt. Die primären Quellen erscheinen als Literaturangaben in den Literaturpositionen

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1.3 Das Wörterverzeichnis: Die Wörterbuchartikel

am Ende der Wörterbuchartikel, so dass die gesamte Wörterbuchbasis im Wörterbuch dokumentiert ist. Die benutzten Fachwörterbücher sind im Verzeichnis der sekundären Quellen dokumentiert.

1.2 Zum Textverbund in WSK-Wortbildung In WSK 2 finden sich unterschiedliche Textsorten, die vor und hinter dem Wörterverzeichnis stehen, verschiedene Funktionen haben, welche in den einzelnen Kapiteln erläutert werden. An die Kurze Benutzungsanleitung sowie den Reihen- und Wörterbuchtitel schließen sich das Inhaltsverzeichnis und das Vorwort der Herausgeber an. Es folgen eine Ausführliche Benutzungsanleitung sowie mehrere Abkürzungsverzeichnisse: die Abkürzungen, die in den Artikeltexten vorkommen, das Abkürzungsverzeichnis der Fachgebietsnamen, die in den Wörterbuchartikeln in der Verweisposition stehen, das alphabetische Verzeichnis der in den Literaturangaben verwendeten Siglen, das Verzeichnis der Symbole in WSK und eine Übersicht für die phonetische Umschrift. Die Systematische Einführung zum Fachgebiet Wortbildung mit einem alphabetischen Sachregister zu dieser Einführung vervollständigt den Textverbund vor dem alphabetischen Wörterverzeichnis. Nach dem Wörterverzeichnis stehen das Verzeichnis der sekundären Quellen, das Verzeichnis der Autoren und Autorinnen, das Englisch-Deutsche Äquivalentzugriffsregister und auf dem hinteren Vorsatzblatt die Kurze Benutzungsanleitung in Englisch. Die einzelnen Textkonstituenten sind miteinander mediostrukturell verbunden.

1.3 Das Wörterverzeichnis: Die Wörterbuchartikel Im Wörterverzeichnis von WSK 2 treten drei Fachwörterbuchartikeltypen auf: – Synopseartikel – Einzelartikel – Verweisartikel. Die Texte in den Synopse- und Einzelartikeln sind partiell kondensiert. Die Artikel unterscheiden sich strukturell geringfügig in der Verweisposition und Literaturposition, weil hier die Zahl der Angaben bei Synopseartikeln größer ist. Zudem haben Synopseartikel einen größeren Umfang und enthalten grundsätzlich einen Verweis auf die Systematische Einführung, während dieser in Einzelartikeln optional ist. Die Verweisartikel enthalten das Verweislemma, die thematische Verweisbeziehungsangabe, die je nach Thema durch einen Rechtspfeil, ein Identitätszeichen oder einen Doppelpfeil realisiert wird, und die Verweisadressenangabe, mit der das Verweisziel genannt ist. Als Verweislemma können u.a. angesetzt sein:

1. Ausführliche Benutzungsanleitung 14

– verschiedene Arten von Mehrworttermini in nichtnatürlicher Reihenfolge (vgl. 1.3.1.1) Affix, leeres –

→ leeres Affix

die nicht präferierten Synonyme (vgl. 1.3.2.7): Adjektivabstraktum ≡ nomen qualitatis

Bindevokal

≡ Fugenelement

Mit dem Verweislemma Adjektivabstraktum bzw. Bindevokal wird das nichtpräferierte Synonym genannt. In den Artikeln zum Lemma nomen qualitatis bzw. Fugenelement steht ein Erklärungstext zum Lemma und in der Synonymposition der jeweiligen Artikel steht der Hinweis auf Adjektivabstraktum bzw. Bindevokal.

1.3.1 Zugriffsstrukturen In WSK 2 liegen eine glattalphabetische äußere Zugriffsstruktur (vgl. 1.3.1.1) und eine glattalphabetische Registerzugriffsstruktur (vgl. 1.3.1.2) vor, die beide einen Zugriff auf das Wörterverzeichnis eröffnen. Außerdem gibt es in den Umtexten Verweiskennzeichnungen (z.B. „vgl.“), wenn auf andere Umtexte verwiesen wird. Weiterhin kann auf einzelne Textkonstituenten über das Inhaltsverzeichnis, über das alphabetische Sachregister zur Systematischen Einführung (vgl. 1.3.1.3) sowie über die Kopfzeilen im Wörterverzeichnis (vgl. 1.3.1.4) zugegriffen werden. 1.3.1.1 Hinweise zum direkten externen Zugriff WSK 2 enthält 674 Lemmata und 652 Verweislemmata, die immer am Zeilenanfang stehen und streng alphabetisch nach dem lateinischen Alphabet geordnet sind, so dass eine zugriffsfreundliche Hauptzugriffsstruktur vorliegt. Für das Zugriffsalphabet gelten in Bezug auf die Alphabetisierung folgende Regelungen: – Alle Sonderzeichen (wie z.B. Kommata, Bindestriche, runde Klammern, Zahlen) bleiben unberücksichtigt, aber Leerzeichen nicht, so dass z.B. explizites Derivat nach explizite Derivation steht. – Zwischen Groß- und Kleinbuchstaben wird nicht unterschieden. Bei Homographen wird das Lemma mit kleingeschriebenem Initial zuerst genannt. – Die deutschen Umlautbuchstaben Ä/ä, Ö/ö und Ü/ü sowie alle anderen Buchstaben mit Diakritika werden wie die zugehörigen Buchstaben ohne Diakritika behandelt. – Unterscheiden sich zwei Zeichenketten nur hinsichtlich der Diakritika, folgt die Zeichenkette mit Diakritika auf diejenige ohne Diakritika. – Der Buchstabe ß wird wie s alphabetisiert; bei ansonsten bestehender Identität der Zeichenketten folgt die Zeichenkette mit ß auf die mit s.

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1.3 Das Wörterverzeichnis: Die Wörterbuchartikel

Es gelten die Regeln der aktuellen deutschen Rechtschreibung. In der Lemmaposition sind Substantive und Eigennamen mit großem, Adjektive und Verben mit kleinem Anfangsbuchstaben geschrieben. Englisch- und französischsprachige Termini sowie Fachtermini aus anderen modernen Sprachen sind gemäß den Orthographieregeln der Quellsprache aufgeführt. Diese Fachtermini werden als Zitatwörter aufgefasst, so dass sie mit kleinem Anfangsbuchstaben geschrieben sind. Dies gilt ebenso für fremdsprachliche substantivische Lemmazeichen. Für wenige Termini, die in der Fachliteratur unterschiedlich geschrieben werden, gelten WSK-spezifische Orthographieregeln, z.B. nicht-kohärentes Suffix, nomen agentis. Das Lemmazeichen kann ein Einwortterminus (z.B. Abkürzung; Suffix; Verbalabstraktum) oder ein Mehrwortterminus (z.B. explizite Derivation; relatives Adjektiv; textverflechtende Wortbildung) sein. Zu jedem Mehrwortterminus wird in dessen nichtnatürlicher Reihenfolge ein Verweislemma angesetzt (Derivation, explizite; Adjektiv, relatives; Wortbildung, textverflechtende). Dadurch stehen alle Mehrworttermini, deren letzte Konstituente identisch ist, in der Lemmastrecke in nichtnatürlicher Reihenfolge beieinander, so dass eine funktionale Verweisartikelteilstrecke entsteht, wie z.B. bei den 15 Mehrworttermini, die mit dem Wort „Morphem“ enden. Morphem, affixartiges  → Affixoid Morphem, blockiertes  → unikales Morphem Morphem, exogenes  → Fremdmorphem Morphem, exophorisches  → exophorisches Morphem Morphem, exponierendes  → Augmentativsuffix Morphem, freies  → freies Morphem Morphem, gebundenes  → gebundenes Morphem Morphem, grammatisches  → grammatisches Morphem

Morphem, homonymes  → homonymes Morphem Morphem, kombinatorisches   → Zirkumfix Morphem, lexikalisches  → lexikalisches Morphem Morphem, polyfunktionales  → polyfunktionales Affix Morphem, sekundärsprachliches  → Fremdmorphem Morphem, suprasegmentales  → suprasegmentales Morph Morphem, unikales  → unikales Morphem

Sieben Mehrworttermini in nichtnatürlicher Reihenfolge haben als Verweiszieladresse den Mehrwortterminus in natürlicher Reihenfolge, der als Lemma angesetzt ist (z.B. Morphem, freies → freies Morphem). In drei weiteren Fällen ist die Verweiszieladresse zwar ebenfalls ein Mehrwortterminus, aber entweder das Adjektiv oder das Substantiv weichen als semantische Varianten vom Verweislemma ab (Morphem, blockiertes → unikales Morphem; Morphem, polyfunktionales → polyfunktionales Affix; Morphem, suprasegmentales → suprasegmentales Morph). Fünf Mehrworttermini in nichtnatürlicher Reihenfolge haben dagegen ein Einzelwort als Verweiszieladresse, wie z.B. Morphem, exogenes → Fremdmorphem. Das liegt daran, dass exogenes Morphem

1. Ausführliche Benutzungsanleitung 16

ein Verweislemma ist, das als Synonym Fremdmorphem hat. Um den Benutzern, die nach Morphem, exogenes suchen, ein mehrfaches Nachschlagen (eine Verweisreise) über exogenes Morphem bis hin zu Fremdmorphem zu ersparen, wird beim Verweislemma Morphem, exogenes das Verweisziel Fremdmorphem angegeben, denn unter diesem Lemma findet man den zugehörigen Artikeltext. Eine funktionale Verweisartikelteilstrecke lässt erkennen, wie viele und welche Linktypen (bzw. Lemmatypen) berücksichtigt sind, die usuell mit einem Mehrwortterminus gleichen Typs bezeichnet werden. 1.3.1.2 Hinweise zum registervermittelten Zugriff Auch über das englisch-deutsche Register ist der Rückgriff auf die Lemmata des Wörterverzeichnisses möglich. Sucht man z.B. nach der Bedeutung von right-headedness, findet man im Englisch-Deutschen Äquivalentzugriffsregister folgenden Registereintrag: right-headedness

Rechtsköpfigkeit

Mittels der verweisvermittelnden Registerangabe Rechtsköpfigkeit gelangt man – auch ohne Deutschkenntnisse – zum Lemma Rechtsköpfigkeit und dem zugehörigen Wörterbuchartikel, in dem man dann anhand der deutsch- bzw. englischsprachigen lexikographischen Fachdefinition die Bedeutung des Terminus ermitteln kann. Rechtsköpfigkeit

Eigenschaft von komplexen Wörtern, bei der die morphosyntaktischen Merkmale des ganzen Wortes von seiner am weitesten rechts stehenden Konstituente bestimmt werden. ▲ right-headedness: property of complex words by which the morphosyntactic features of the whole word are determined by its right-most constituent.

1.3.1.3 Hinweise zum Zugriff auf die Systematische Einführung Die Systematische Einführung weist zwei äußere Zugriffsstrukturen auf: Im Inhaltsverzeichnis zur Systematischen Einführung ist mit Seitenverweisen auf die einzelnen Abschnitte und Paragraphen verwiesen. Das alphabetische Sachregister zur Systematischen Einführung enthält zentrale Termini als Registereingänge, die in der Systematischen Einführung verwendet werden. Die Seitenangaben im Register führen zu ihrer Verwendung im Text: Derivation 43, 44, 55, 59, 60, 67, 68, 70, 71, 72, 73, 74, 76, 85, 87, 88, 89, 92 Derivationsfuge 54 Derivationssuffix 65, 85 Determinans 56

17

1.3 Das Wörterverzeichnis: Die Wörterbuchartikel

Zu „Determinans“ findet man also in der Systematischen Einführung auf Seite 56 Informationen. Das alphabetische Zugriffsregister unterstützt die Orientierung innerhalb der Systematischen Einführung, die u.a. sowohl bei einer Lektüre der Einführung als auch im Zusammenhang mit Nachschlagehandlungen und wörterbuchinternen Wissensrecherchen erforderlich werden kann. 1.3.1.4 Hinweise zu den zugriffunterstützenden Kopfzeilen Über dem zentralen Wortschatzverzeichnis befindet sich eine lebende Kolumne, in der auf einer linken Wörterbuchseite links das erste Lemma auf der Seite und rechts die Seitenzahl genannt wird (hier mit dem Beispiellemma Ablaut): Ablaut 116

Auf einer rechten Wörterbuchseite wird links die Seitenzahl und rechts das letzte Lemma auf der Seite genannt (hier mit dem Beispiellemma Affix): 129 Affix

Die Lemmata in der lebenden Kolumne bilden eine äußere Schnellzugriffsstruktur zum Wörterverzeichnis, mit der die Zugriffszeiten auf Wörterbuchartikel deutlich verkürzt werden können. 1.3.1.5 Weitere Hinweise auf externe Zugriffsmöglichkeiten (1) Mit dem Inhaltsverzeichnis wird eine Seitenzahlzugriffsstruktur genannt. Mit den Seitenzahlen kann man auf die erste Seite der jeweiligen Textkonstituenten des Wörterbuchs zugreifen. Anhand der Inhaltsverzeichniszeile 2.2

Verzeichnis der Bandnamenabkürzungen in den Verweisangaben  28

gelangen Sie z.B. auf die erste Seite des genannten Verzeichnisses, hier Seite 28. (2) Im Alphabetischen Verzeichnis der Siglen, die in den Literaturangaben verwendet werden, werden die Siglen aufgelöst, so dass man mit dem Zugriff auf die Siglen die Literaturangaben in den Wörterbuchartikeln vervollständigen kann. (3) Das Wörterverzeichnis enthält ein reduziertes Ersatzdaumenregister. Auf jeder Seite steht zu jeder einzelnen Artikelstrecke von A bis Z auf dem Außensteg der jeweilige Anfangsbuchstabe. Unterstützt wird diese Markierung durch ein graues Rechteck, das auch am Vorderschnitt sichtbar ist. Dies ermöglicht den schnellen Zugriff auf die gesuchte Artikelstrecke, so dass sich die Nachschlagehandlung verkürzt.

1. Ausführliche Benutzungsanleitung 18

1.3.2 Die Struktur der Wörterbuchartikel Die Struktur von Einzel- und Synopseartikeln ist weitgehend gleich: Nach dem Lemmazeichen folgen die deutschsprachige Definiensposition, die Äquivalentposition, die englische Definiensposition, die weiterführende Erklärung, die Position für den oder die Autorennamen, die Synonymposition, die Antonymposition, die Position für Verweise und die Literaturposition (vgl. Abb. 1 zum Lemma Grammatikalisierung). Grammatikalisierung

Lemmaposition

Sprachwandelprozess, in dessen Verlauf sich eine lexikalische Einheit zu einer grammatischen Einheit entwickelt. ▲ grammaticalization: process of language change in the course of which a lexical unit becomes a grammatical one.

deutsche Definiensangabe

englische Äquivalentangabe: englische Definiensangabe

Position für weiterführende Erklärungen

Angabe des Autorennamens Synonym(en)angabe Antonym(en)angabe Verweisposition bandintern Verweis auf graphemgleiches Lemma Verweis auf graphemgleiches Äquivalent

Literaturposition

Abb. 1: Beispiel für einen Einzelartikel.

Der von Meillet (1912) geprägte, aber uneinheitlich verwendete Terminus (vgl. Lindström 2004) beschreibt im Kontext der Wortbildung (vgl. Rainer 2015, Wischer 2011) die Entstehung von Wortbildungsmorphemen aus Lexemen. Ausgangspunkt sind z.T. Lexeme in syntaktischen Konstruktionen wie etwa im Fall des romanischen Adverbsuffixes -mente, das aus lateinischen Ablativkonstruktionen mit dem Substantiv mēns ‘Geist, Verstand’ entstanden ist (z.B. lat. in clarā mente ‘bei klarem Verstand’ > span. claramente ‘klar, deutlich’), vgl. Detges (2015). [...] Für Überblicke zu Grammatikalisierungsphänomenen in Einzelsprachen vgl. die Beiträge von Amiot (2015), Detges (2015), Habermann (2015), Kleszczowa (2015), Pharies (2015) und Trips (2009). Weitere Beispiele enthalten die Einzelsprachportraits in den Bänden 4 und 5 des Handbuchs Word-Formation (Müller/Ohnheiser/Olsen/Rainer 2016). Peter O. Müller ≡ Grammatikalisation ↔ Degrammatikalisierung → § 39; Affixoid; Analogie; gebundenes Morphem; Partikelverb; Partizip; Präfixoid; Präfixverb; Suffixentstehung; Suffixoid; Verbpartikel; Wortbildungsbedeutung ⇀ Grammatikalisierung (Gram-Syntax; CG-Dt; Sprachdid; HistSprw; SemPrag) ⇁ grammaticalization (CG-Engl; TheoMethods; Typol)

🕮 Amiot, D./ Dugas, E. [2020] Combining Forms and Affixoids in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 855–873 ◾ Amiot, D. [2015] The grammaticalization of prepositions in French word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1811–1824 ◾ Detges, U. [2015] The Romance adverbs [...]

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1.3 Das Wörterverzeichnis: Die Wörterbuchartikel

In einem Polysemieartikel steht nach der Lemmaposition die Polysemieangabe, gekennzeichnet durch eine arabische Ziffer, dann die deutschsprachige Definiensposition sowie die Äquivalentposition und die englische Definiensposition zu der ersten Bedeutung des Lemmas. Danach folgt die zweite Polysemieangabe sowie zu der zweiten Bedeutung des Lemmas die deutschsprachige Definiensposition, die Äquivalentposition und die englische Definiensposition. Es folgen zur ersten Bedeutung die weiterführende Erklärung, die Position für den/die Autorennamen, die Synonymposition, die Antonymposition, die Position für Verweise und die Literaturposition. Danach stehen zur zweiten Bedeutung die weiterführende Erklärung, die Position für den/die Autorennamen, die Synonymposition, die Antonymposition, die Position für Verweise und die Literaturposition. Beispiele für Polysemieartikel sind u.a. historische Wortbildung und Kontextwissen. 1.3.2.1 Die Lemmaposition In der Lemmaposition steht das halbfett gesetzte Lemma, das nach links ausgezogen ist. Das mit dem Lemma genannte Lemmazeichen ist ein Einwortterminus oder ein Mehrwortterminus. Substantive werden im Nominativ Singular, Adjektive in ihrer undeklinierten Form und Verben im Infinitiv genannt. – Als Lemma sind Fachtermini wie Adjektiv, Infix, Modifikation, Reduplikation, Selektionsrestriktion, unikales Morphem oder Wortbildungstyp angesetzt. – Ein englischsprachiger Fachterminus ist als Lemma angesetzt, wenn er gebräuchlicher ist als die deutschsprachige Übersetzung oder wenn eine deutschsprachige Übersetzung nicht existiert (z.B. a-morphous morphology; righthand head rule). 1.3.2.2 Definiensangabe In der Definiensangabe wird das Definiens der fachlichen Definition genannt, so dass der mit dem Lemma genannte Terminus das Definiendum ist. Der Definitor (z.B. „ist“, „ist ein/e“, „ist der“, „ist die“, „ist das“) ist aufgrund der inneren Textkondensierung getilgt. Die Funktion der Definiensangabe besteht darin, das fachgegenstandskonstitutive Bedeutungswissen aus der für die lexikographische Fachdefinition gewählten Perspektive zu vermitteln. 1.3.2.3 Das englische Äquivalent Der englischen Äquivalentangabe ist am Zeilenanfang eine Identifizierungsangabe vorangestellt, realisiert durch das Zeichen „▲“. Die Äquivalentangabe wird mit einem Doppelpunkt abgeschlossen. In der Äquivalentposition stehen maximal drei englische Äquivalentangaben. Für die Festlegung des englischen Terminus ist die theoretische Perspektive ausschlaggebend, die für das in der deutschen Definiensposition Geschriebene eingenommen wird. Es wird also angegeben, mit welchem englischsprachigen Terminus man in einem

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englischsprachigen Text denjenigen Sachverhalt bezeichnen kann, der von dem deutschsprachigen Terminus benannt wird. Dabei kann nur unzureichend berücksichtigt werden, wenn der englischsprachige Terminus in einer theoretischen Auffassung zur englischen Sprache etwas anderes bedeutet. Handelt es sich bei dem Lemma in der Lemmaposition um einen englischsprachigen Terminus (z.B. righthand head rule), so ist in der englischen Äquivalentposition ebenso die Äquivalentangabe (hier: righthand head rule) eingetragen. Handelt es sich in der Lemmaposition um ein Lemma, das nicht übersetzbar ist, weil es im Englischen dafür keine Bezeichnung gibt (z.B. Vorgangskollektivum), so ist in der Äquivalentposition dieser Terminus in einer Form eingetragen, die dem deutschen Lemma weitestgehend entspricht, also bei Vorgangskollektivum collective process noun. Wie dieses Beispiel zeigt, enthält die englische Äquivalentposition nicht immer Fachtermini, ja zum Teil sogar Bezeichnungen, die nicht sprachüblich sind, also Notbehelfe darstellen. Die in der Äquivalentposition genannten englischen Äquivalente sind im alphabetischen Äquivalentzugriffsregister (vgl. Kap. 8) als Registereingänge aufgeführt. 1.3.2.4 Die englische Definiensangabe In der englischen Definiensposition steht eine englische terminologiesemantische Paraphrase, die eine Übersetzung der deutschen ist. Der Definitor (z.B. „is“, „is a“, „is an“, „is the“) ist aufgrund der inneren Textkondensierung getilgt. Die Übersetzung soll dem englischsprachigen Leser die Möglichkeit geben, das in der deutschen Definiensposition Geschriebene zu verstehen. 1.3.2.5 Weiterführende Erklärungen Weiterführende Erklärungen zum Lemma findet man in allen Einzel- und Synopseartikeln. Wenn man in einem Fachwörterbuchartikel die Definition sowie die englischsprachigen Angaben gelesen hat, verfügt man über ein grundlegendes Bedeutungswissen zu dem Terminus, der mit dem Lemmazeichen genannt ist. Mit den weiterführenden Erklärungen kann dieses Wissen vertieft und erweitert werden, weil in Abhängigkeit vom jeweiligen Typ des Terminus – die Theorie- sowie die Szenen- oder Schulenabhängigkeit des Terminus dargelegt werden – der Bezug zu anderen Termini erläutert wird – eine historische Einbettung mit Hinweis auf die Publikation, in welcher der Terminus geprägt wurde, vorgelegt wird – auf andere Gebrauchsweisen hingewiesen wird – das Gewicht des Terminus für die Entwicklung des Fachs erklärt wird – die Gegenstände und Sachverhalte, die der Terminus bezeichnet, mit natürlichsprachlichen Beispielen und/oder Abbildungen veranschaulicht werden – der Angabetext durch eindeutige Quellenangaben mit der Literaturposition vernetzt ist.

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1.3 Das Wörterverzeichnis: Die Wörterbuchartikel

Besonders mit den Synopseartikeln kann man das Bedeutungswissen so vertiefen und erweitern, dass man terminologiesemantische Zusammenhänge und somit auch komplexe Sachzusammenhänge besser versteht. – Im Angabetext gibt es keine Textkondensierungen, so dass die Syntax den Regeln in der deutschen Standardsprache folgt und somit stets ausformulierte Sätze gebildet sind. Es werden nur diejenigen Abkürzungen verwendet, die in den Abkürzungsverzeichnissen (vgl. Kap. 2) aufgelistet sind. – Sprachbeispiele, die in einem eigenen Textblock notiert sind, haben je eine Beispielnummer, die in runden Klammern steht. Wird in einem Sprachbeispiel etwas ausgelassen, so werden für die ausgelassenen Zeichen drei Punkte verwendet, die in eckigen Klammern stehen („[…]“). Handelt es sich bei einem Sprachbeispiel um ein Zitat, so ist hinter dem Beispiel die Quelle in runden Klammern stehend angegeben. Zu Beispielen aus literarischen Texten stehen die Quellen in eckigen Klammern. – Bedeutungsparaphrasierungen sind durch einfache hochgestellte Anführungszeichen gekennzeichnet: Die lexikalische Bedeutung von dt. Holunderbeere lässt sich ohne Schwierigkeiten aus der Motivationsbedeutung ‘Beere des Holunders’ ableiten, sie ergibt sich aus der Bedeutung der beiden unmittelbaren Konstituenten Holunder und Beere, aus deren Reihenfolge sowie aus der Wortbildungsbedeutung (‘zugehörig’).

– Abbildungen, z.B. technische Diagramme, Strukturgraphen, Tabellen, Zeichnungen, Wörterbuchartikel, sind im laufenden Artikeltext nach einem Absatz eingebunden und enthalten eine Abbildungsunterschrift. Abbildungsunterschriften sind innerhalb eines Artikels durchnummeriert, so dass im Artikeltext punktgenau darauf verwiesen werden kann. – Eine Ausspracheangabe steht in eckigen Klammern; die Notation der Aussprache erfolgt nach dem IPA (vgl. Kapitel 4). – Für Textpassagen, die einem Autor zugeordnet werden können (bei wörtlichen Übernahmen aus anderen Werken mit Anführungszeichen gekennzeichnet), ist die Quelle angegeben. Die benutzten Quellen sind in der Literaturposition des gleichen Wörterbuchartikels aufgeführt. 1.3.2.6 Autorenname Nach der weiterführenden Erklärung steht in einer neuen Zeile rechtsbündig der Autorenname (bzw. die Autorennamen), indem Vorname und Nachname genannt werden. Diese Positionierung soll deutlich machen, dass die Verantwortung der Autoren für den Text des Fachwörterbuchartikels bei dieser Position endet. Eine Liste aller Autoren findet sich im Nachspann. 1.3.2.7 Synonymangaben Synonymangaben sind fakultativ. Die Synonym(en)position beginnt am Zeilenanfang mit

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der Identifizierungsangabe, realisiert durch das Identitätszeichen „≡“, und enthält den synonymen Terminus, wie z.B. im Artikel zum Lemma Akzent. ≡ Betonung

Es werden maximal fünf synonyme Termini genannt, welche dann in der Synonymenposition in alphabetischer Reihenfolge und durch Semikolon getrennt eingetragen sind, wie z.B. im Artikel zum Lemma Allomorph. ≡ Morphemalternante; Morphemvariante; Variante

Alle Termini, die in der Synonymangabe eines Einzel- oder Synopseartikels eingetragen sind, sind auch als Verweislemma eines Verweisartikels angesetzt (vgl. 1.3.1.1). Für die Festlegung eines Terminus als Synonym wird nicht von einem strengen Synonymbegriff ausgegangen; denn unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände (z.B. Autor, der den Terminus verwendet, textueller Zusammenhang, in dem der Terminus benutzt wird, linguistische Schule, in deren Zusammenhang der Terminus gebraucht wird, Ort und Land, in dem der Terminus vorkommt bzw. die jeweilige Publikation erscheint) würde man wahrscheinlich niemals Synonymbeziehungen feststellen können. Synonyme sind in WSK 2 also immer Quasisynonyme. Die Synonymangaben tragen dazu bei, die Bedeutung des mit dem Lemma genannten Terminus zu erfassen, und ermöglichen eine Wahl bei der freien Textproduktion und bei der Anfertigung von Übersetzungen. 1.3.2.8 Antonymangaben Antonymangaben sind fakultativ. In der Antonym(en)position steht zu Anfang die Identifizierungsangabe, realisiert durch das Zeichen „↔”, gefolgt von dem antonymen Terminus zum Lemma, wie z.B. in den jeweiligen Artikeln zu den Lemmata Linksverzweigung und privativ. ↔ Rechtsverzweigung ↔ ornativ

Es werden maximal drei Antonymangaben gemacht, die in alphabetischer Reihenfolge und durch Semikolon getrennt genannt werden. Die in dieser Position stehenden antonymen Termini sind immer als Lemma angesetzt. Die Antonymangaben tragen dazu bei, die Bedeutung des mit dem Lemma genannten Terminus zu erfassen und einen vertieften Einblick in die terminologiesemantischen Zusammenhänge und somit auch in die Sachzusammenhänge zum Lemma zu erhalten. 1.3.2.9 Verweise In der Verweisposition stehen thematische Verweisbeziehungen, die je am Zeilenanfang mit einem Verweissymbol beginnen, welches somit zur Identifizierung der einzelnen Verweispositionen beiträgt.

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1.3 Das Wörterverzeichnis: Die Wörterbuchartikel

(a) wörterbuchinterne umtextorientierte Verweise Die erste alphanumerische Verweisadressenangabe wird mit dem Rechtspfeil „→“ eingeleitet und ist „§ X;“, wobei mit „X“ die Paragraphennummer in der Systematischen Einführung genannt wird. Somit wird man anhand von „§ X“ zu dem Teil der Systematischen Einführung geführt, der thematisch zu dem als Lemma angesetzten Terminus gehört. Es können auch mehrere Paragraphennummern eingetragen sein, wie z.B. in der Verweisposition zu Affixoid (→ § 19, 23, 39), aber nicht bei jedem Artikel steht ein Verweis auf die Systematische Einführung. (b) wörterbuchinterne artikelorientierte Verweise In den Einzel- und Synopseartikeln ist diese Position mit mindestens einer Verweisadressenangabe besetzt. Diese ist immer wörterbuchintern und steht hinter dem Verweissymbol („→“) bzw. in der gleichen Zeile hinter der Paragraphennummer. Mit der Außenadressenangabe wird ein Terminus genannt, der als Lemma in einem Einzel- oder Synopseartikel angesetzt ist. Werden mehrere Lemmata genannt, so sind diese in alphabetischer Reihenfolge und je durch ein Semikolon getrennt hintereinander aufgeführt. Im Artikel zu Abkürzung stehen in dieser Verweisposition fünf Termini. → Kurzwort; Kurzwortbildung; multisegmentales Kurzwort; partielles Kurzwort; Wortkürzung

(c) bandexterne artikelorientierte Verweise auf homographe Termini Der Angabe ist am Anfang der Zeile als Verweissymbol der um die untere Pfeilspitze gekappte Pfeil „⇀“ vorangestellt. Es handelt sich um eine Außenadressenangabe, weil der genannte Terminus graphemgleich als Lemma in einem Artikel eines anderen WSKBands aus der deutschen Teilreihe von WSK angesetzt ist. Hinter dem Terminus steht in runden Klammern das Bandkürzel des Fachgebiets, welches in dem jeweiligen WSKBand der Wörterbuchgegenstand ist (vgl. Abschnitt 2.2). Werden mehrere Lemmata genannt, so sind diese in alphabetischer Reihenfolge und je durch ein Semikolon getrennt hintereinander aufgeführt. Pseudosuffix Teil eines Wortes, der wie ein Suffix aussieht, aber keines ist. ⇀ Pseudosuffix (Gram-Formen)

Affix gebundenes Minimalzeichen oder Morphem mit grammatischer Bedeutung. ⇀ Affix (Gram-Formen; HistSprw; CG-Dt)

In der Verweisposition des Artikels zum Lemma Pseudosuffix wird auf den Wörterbuchartikel zu Pseudosuffix verwiesen, der sich im WSK-Band Grammatik (WSK 1.1) befindet. In der Verweisposition des Artikels zum Lemma Affix wird auf die Wörterbuchartikel zu Affix verwiesen, die sich in den WSK-Bänden Grammatik (WSK 1.1), Historische Sprachwissenschaft sowie Cognitive Grammar befinden. Bei der Ermittlung der Homographen wird nicht zwischen Groß- und Kleinschreibung unterschieden, so dass in der Verweisposition des Lemmas Diminutiv auch der

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Terminus diminutiv eingetragen ist, der in drei weiteren WSK-Bänden als Lemma vorkommt. Mit den bandexternen Verweisen wird eine mediostrukturelle Vernetzung der WSKBände erreicht, die einen tieferen Einblick in die Terminologie des Fachgebietsverbunds Sprach- und Kommunikationswissenschaft ermöglicht, aber auch die Polysemie derjenigen Termini sichtbar macht, die in verschiedenen Fachgebieten unterschiedliche Bedeutungen haben. (d) bandexterne artikelorientierte Verweise auf die englische Teilreihe der WSK Der Angabe ist am Anfang der Zeile als Verweissymbol der um die obere Pfeilspitze gekappte Pfeil („⇁“) vorangestellt. Es handelt sich um eine Außenadressenangabe, weil der genannte Terminus als Lemma in einem Artikel eines englischsprachigen WSK-Bands angesetzt ist und graphemgleich in der Äquivalentposition des jeweiligen Artikels in WSK 2 steht. Hinter dem Terminus steht in runden Klammern das Bandkürzel des Fachgebiets, das in dem jeweiligen WSK-Band der Wörterbuchgegenstand ist (vgl. 2.2). Werden mehrere Bände genannt, so sind diese in alphabetischer Reihenfolge und je durch ein Semikolon getrennt hintereinander aufgeführt. Allomorph eines der inhaltsgleichen Minimalzeichen, das zu einem bestimmten Morphem gehört. ▲ allomorph: one of the minimal signs with the same content that belongs to a given morpheme. [...] ⇁ allomorph (CG-Engl; Phon-Engl)

In der Verweisposition des Artikels zum Lemma Allomorph wird auf die Wörterbuchartikel zu allomorph verwiesen, die sich in den englischsprachigen WSK-Bänden Cognitive Grammar und Phonetics and Phonology befinden, weil in WSK 2 das englischsprachige Äquivalent zu Allomorph allomorph ist. Bei der Ermittlung der Homographie wird nicht zwischen Groß- und Kleinschreibung unterschieden. Mit dieser thematischen Verweisangabe erfolgt eine Vernetzung der deutsch- und englischsprachigen Fachterminologie. Die Verweisposition mit ihren vier Verweisangabetypen trägt wesentlich dazu bei, dass WSK 2 die ihm zugewiesenen Funktionen auf der Artikelebene auch artikel- und wörterbuchübergreifend erfüllen kann. Dadurch wird eine spezifische Eigenschaft fachwissenschaftlichen Wissens, nämlich theorievermitteltes und damit begrifflich zusammenhängendes Wissen zu sein, fachlexikographisch hervorgehoben. 1.3.2.10 Die Literaturposition Die Literaturposition beginnt am Zeilenanfang mit einer Identifizierungsangabe, die durch das ikonische Zeichen „🕮“, das ein aufgeschlagenes Buch darstellt, realisiert wird.

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1.4 Die Benutzung von WSK 2 als fachliches Lernwörterbuch

Die einzelnen Literaturangaben sind alphabetisch nach dem Autorennamen geordnet und durch den quadratischen Mittenpunkt „▪“ voneinander getrennt. Die Literaturposition ist vom restlichen Artikelblock durch einen deutlich erkennbaren Textblock abgegrenzt, so dass somit die Gestaltwahrnehmung der Artikelarchitektur unterstützt wird. In den Literaturangaben ist jeder Autorenvorname abgekürzt und die Reihen- und Zeitschriftentitel sind mit einer Sigle aufgeführt. Die Auflösung der Siglen erfolgt im Verzeichnis der Siglen (2.3).

1.4 Die Benutzung von WSK 2 als fachliches Lernwörterbuch Die bisherigen Hinweise zur Benutzung von WSK 2 haben sich auf die Verwendung als Konsultationswörterbuch in konfliktbedingten Situationen bezogen. Man kann das Fachwörterbuch aber auch systematisch als Lernwörterbuch benutzen, und zwar als (a) Einführungsbuch und (b) zur Fachwissensrecherche. (a) Für die Einarbeitung in das Fachgebiet Wortbildung eignet sich die „Systematische Einführung“. Die dort vorhandenen Paragraphenhinweise auf Wörterbuchartikel ermöglichen zudem, das im jeweiligen Paragraphen vermittelte themenspezifische Wissen zu erweitern und zu vertiefen. (b) Um bestimmte wissenschaftliche Themen zu bearbeiten, sind wörterbuchinterne Fachwissensrecherchen möglich, indem man eine Folge von mehreren Benutzungssituationen, die miteinander verknüpft sind, ausführt. Die Verknüpfung entsteht durch verweis- und angabemotivierte Konsultationshandlungen. Um z.B. zum Thema „Affixoid“ zu recherchieren, gibt es mehrere Möglichkeiten, die Recherche durchzuführen. Die beiden wichtigsten sind die Folgenden: (i) Ausgangspunkt ist die Lektüre von § 19 der Systematischen Einführung („Affixoide“). Die Verweise am Paragraphenende führen zu den Wörterbuchartikeln Affixoid, Präfixoid und Suffixoid, die weitere Informationen enthalten. (ii) Ausgangspunkt ist die Lektüre des Artikels Affixoid. In der Verweisposition steht zunächst der wörterbuchexterne Hinweis auf § 19 der Systematischen Einführung, der weitere Informationen bietet. Außerdem stehen mehrere wörterbuchinterne Verweise auf die Artikel Affix, Präfixoid, reihenbildendes Kompositionsglied und Suffixoid, die das Informationsspektrum ebenfalls erweitern. Je nach Interessenlage und Thema sind auch andere Recherchepfade und andere Folgen von Recherchepfaden wählbar. Welche Typen von äußeren Zugriffspfaden dabei prinzipiell gewählt werden können, ist in Deutsch auf dem vorderen und in Englisch auf dem hinteren Vorsatzblatt in eine Übersicht gebracht.

2. Abkürzungsverzeichnisse Die Abkürzungsverzeichnisse gliedern sich in das alphabetische Verzeichnis von Abkürzungen, die in den Umtexten und Artikeltexten von WSK vorkommen (2.1), das Verzeichnis der Bandnamenabkürzungen, die in der Verweisposition angegeben werden (2.2) und das alphabetische Verzeichnis der Siglen für die Literaturangaben (2.3).

2.1 Abkürzungen In den WSK-Bänden werden die nachfolgenden allgemeinen Abkürzungen und Sprachennamenabkürzungen verwendet. Sie können auch als Zweitglieder in Komposita vorkommen. Abb. Abbildung Abk. Abkürzung ADJ Adjektiv Adj. Adjektiv ADV Adverb aengl. altenglisch afr. afrikanisch ägypt. ägyptisch ahd. althochdeutsch aktual. aktualisiert alem. alemannisch amerik. amerikanisch API Association Phonetique Internationale arab. arabisch ASL American Sign Language Aufl. Auflage Autorenk. Autorenkollektiv AV-Medien audiovisuelle Medien bair. bairisch bayr. bayrisch Bd., Bde. Band, Bände bearb. bearbeitet bulg. bulgarisch bzgl. bezüglich bzw. beziehungsweise ca. circa chin. chinesisch CP complementizer phrase d.h. das heißt DAAD Deutscher Akademischer Austauschdienst

DaF Deutsch als Fremdsprache dän. dänisch DaZ Deutsch als Zweitsprache DET Determinierer DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft Diss. Dissertation DP(n) Determinansphrase(n) dt. deutsch durchges. durchgesehen ed. edition ed., eds. editor, editors EDV elektronische Datenverarbeitung engl. englisch erg. ergänzt erw. erweitert et al. et alii/ et alia etc. et cetera europ. europäisch f., ff. folgend[e] fachspr. fachsprachlich FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung finn. finnisch FR Frankfurter Rundschau fries. friesisch frnhd. frühneuhochdeutsch frz. französisch FU Fremdsprachenunterricht FVG Funktionsverbgefüge g.d.w. genau dann, wenn geb. geboren

27 2.1 Abkürzungen gegr. gegründet geh. gehoben germ. germanisch GG Generative Grammatik ggf. gegebenenfalls got. gotisch griech. griechisch H. Heft hebr. hebräisch Hg. Herausgeber hist. historisch hist.-vgl. Sprw. historisch-vergleichende Sprachwissenschaft hochdt. hochdeutsch holl. holländisch hrsg. herausgegeben i.A. im Allgemeinen i.e.S. im engeren Sinn i.w.S. im weiteren Sinn ide. indoeuropäisch idg. indogermanisch IDS Institut für Deutsche Sprache Indef.pron. Indefinitpronomen IP inflection phrase IPA International Phonetic Association IPA Internationales Phonetisches Alphabet isl. isländisch ital. italienisch jap. japanisch Jg. Jahrgang Jh(s). Jahrhundert(s) jidd. jiddisch jmd. jemand jmdm. jemandem jmdn. jemanden jmds. jemandes KI Künstliche Intelligenz korr. korrigiert L1 Muttersprache L2 Fremdsprache Lat. Latein, Lateinisch lat. lateinisch LDV Linguistische Datenverarbeitung Ling. Linguistik ling. linguistisch Lit. Literatur

Lit.wiss. Literaturwissenschaft luxemb. luxemburgisch mit anderen Worten m.a.W. Mannh. Morgen Mannheimer Morgen mdt. mitteldeutsch mengl. mittelenglisch mhd. mittelhochdeutsch Mio. Million MIT Massachusetts Institute of Technology mlat. mittellateinisch Ms., Mss. Manuskript, Manuskripte N Nomen Nat.wiss. Naturwissenschaft[en] n. Chr. nach Christus ndt. niederdeutsch ngriech. neugriechisch nhd. neuhochdeutsch niederl. niederländisch nlat. neulateinisch nordd. norddeutsch nordgerm. nordgermanisch norw. norwegisch NP(n) Nominalphrase(n) o.Ä. oder Ähnliche[s] obdt. oberdeutsch ON Ortsname ostd. ostdeutsch österr. österreichisch ostgerm. ostgermanisch ostmdt. ostmitteldeutsch P Präposition Perf. Perfekt Pers. Person Philos. Philosophie philos. philosophisch Pl. Plural Plq.perf. Plusquamperfekt PN Personenname poln. polnisch port. portugiesisch PP(n) Präpositionalphrase(n) Präp. Präposition Präs. Präsens Prät. Präteritum Pron. Pronomen rätoroman. rätoromanisch refl. reflexiv röm. römisch

2. Abkürzungsverzeichnisse 28 roman. romanisch rum. rumänisch russ. russisch S Satz S. Seite s. siehe s.o. siehe oben s.u. siehe unten sächs. sächsisch schriftspr. schriftsprachlich schwäb. schwäbisch schwed. schwedisch schweiz. schweizerisch SFB Sonderforschungsbereich Sg. Singular slaw. slawisch sog. so genannt, sogenannt SOV Subjekt-Objekt-Verb(-Stellung) span. spanisch spätlat. spätlateinisch spätmhd. spätmittelhochdeutsch Sprw. Sprachwissenschaft sprw. sprachwissenschaftlich standardspr. standardsprachlich sth. stimmhaft stl. stimmlos Subst. Substantiv südd. süddeutsch südwestd. südwestdeutsch SVO Subjekt-Verb-Objekt(-Stellung)

SZ Süddeutsche Zeitung Tab. Tabelle thür. thüringisch tschech. tschechisch türk. türkisch u.Ä. und Ähnliche[s] u.a. unter anderen/m; und andere überarb. überarbeitet übers. übersetzt ugs. umgangssprachlich ung. ungarisch urspr. ursprünglich usw. und so weiter u.v.a. und viele[s] andere V Verb v.a. vor allem v. Chr. vor Christus verbess. verbessert verm. vermehrt veröff. veröffentlicht vgl. vergleiche VP(n) Verbalphrase(n) vs. versus VSO Verb-Subjekt-Objekt(-Stellung) Wb., Wbb. Wörterbuch, Wörterbücher westd. westdeutsch westgerm. westgermanisch z.B. zum Beispiel z.T. zum Teil

2.2 Verzeichnis der Bandnamenabkürzungen in den Verweisangaben In der Verweisposition werden bei den bandexternen artikelorientierten Verweisen auf homographe Termini und bei den bandexternen artikelorientierten Verweisen auf die englische Teilreihe der WSK die Fachgebiete (WSK-Bandnamen) angegeben. Für diese werden die folgenden Kürzel verwendet. Gram-Formen Gram-Syntax Wobi HistSprw Phon-Dt Schrling TextlingDisk

Grammatik. Formenlehre Grammatik. Syntax Wortbildung Historische Sprachwissenschaft Phonetik und Phonologie Schriftlinguistik Textlinguistik, Stilistik und Diskurslinguistik

Dial QL-Dt Lexik CG-Dt Sprachphil Sprachdid

Dialektologie Quantitative und Formale Linguistik Lexikologie und Phraseologie Cognitive Grammar-Deutsch Sprachphilosophie Sprachdidaktik: Erstsprache, Zweitsprache, Fremdsprache

29 Onom Woform Phon-Engl TheoMethods

2.3 Verzeichnis der Siglen in den Literaturangaben Onomastik Word Formation Phonetics and Phonology Theories and Methods in

Typol CG-Engl Media

Linguistics Language Typology Cognitive Grammar-English Media Studies

2.3 Verzeichnis der Siglen in den Literaturangaben In der Literaturposition der Wörterbuchartikel werden Zeitschriftentitel, Reihentitel und Jahrbücher mittels Abkürzungen bzw. Siglen angegeben. Die folgende Übersicht enthält in der ersten Spalte in alphabetischer Reihenfolge die verwendeten Siglen und in der zweiten Spalte die Zeitschriften- und Reihentitel mit Angabe des Erscheinungsorts. AAA ABÄG AL ArchGlotIt AStTheoHistLingSc AuJLing BEDtSpr BGeschDtSprLit-H BGeschDtSprLit-T BNf BrainLg BrCog BullCLing-Cop CamTbLing CLS-I CLS-II Cog CognLing CognSc CWPL DaF Diachr DS DtLit DU DU-Bra EngLgLing EstFil FirstLg FoL FoLg FoLHist

Arbeiten aus Anglistik und Amerikanistik. Tübingen Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik. Amsterdam Applied Linguistics. Oxford Archivio Glottologico Italiano. Florenz Amsterdam Studies in the Theory and History of Linguistic Science. Amsterdam Australian Journal of Linguistics. St. Lucia Beiträge zur Erforschung der deutschen Sprache. Leipzig Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. Halle/Saale Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur. Tübingen Beiträge zur Namenforschung. Heidelberg Brain and language. San Diego, CA Brain and cognition. San Diego, CA Bulletin du Cercle Linguistique de Copenhague Cambridge Textbooks in Linguistics. Cambridge CLS. Part I. Papers from the main session. Chicago, IL: Chicago Linguistic Society CLS. Part II. The panels. Chicago, IL: Chicago Linguistic Society Cognition. Amsterdam Cognitive linguistics. Berlin Cognitive science. New York, NY Cornell working papers in linguistics. lthaca, NY: Cornell University Deutsch als Fremdsprache. Zeitschrift zur Theorie und Praxis des Deutschunterrichts für Ausländer. Berlin Diachronica. Amsterdam Deutsche Sprache. Zeitschrift für Theorie, Analyse und Dokumentation. Berlin Die deutsche Literatur. Tokio Der Deutschunterricht. Beiträge zu seiner Praxis und wissenschaftlichen Grundlegung. Seelze Deutschunterricht. Braunschweig English language and linguistics. Cambridge Estudios filológicos. Valdivia: Universidad Austral de Chile, Facultad de Filosofía y Humanidades First Language. Chalfont St. Giles, Bucks Folia Linguistica. Acta Societatis Linguisticae Europaeae. Berlin Foundations of Language. Dordrecht Folia Linguistica Historica. Acta Societatis Linguisticae Europaeae. Berlin

2. Abkürzungsverzeichnisse 30 FrM GL GL&L GlotI GrLSt HL HSK IdgF IJAL-Chic IJCorpL IJGermLingSA JanLing-Maior-H JbGermSprGesch JELing JEP-Gen JEP-LMCog JGermLing JLing JMLg JPhil JPsylingR JWAfrLg Krat LB Lexikos Lg LgLingCmp LgSc Ling LingArber LingInqu LingInv LingPhil LingTyp Lingua Linguistik-onl Linguistique LinLin

Le Français Moderne. Revue de Linguistique Française. Paris Germanistische Linguistik. Hildesheim German Life and Letters. A Quarterly Review. Oxford Glot International. Oxford [etc.] Grazer Linguistische Studien. Graz Historiographia Linguistica. International Journal for the History of Language Sciences. Amsterdam Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Berlin Indogermanische Forschungen. Zeitschrift für indogermanische Sprach- und Altertumskunde. Berlin International Journal of American Linguistics. Chicago, IL: University of Chicago Press International Journal of Corpus Linguistics. Amsterdam Interdisciplinary Journal for Germanic Linguistics and Semiotic Analysis. Berkeley, CA: University of California, International and Area Studies Janua Linguarum. Series Maior. The Hague [etc.] Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte. Berlin Journal of English Linguistics. Bellingham [etc.] Journal of Experimental Psychology. JEP: General. Arlington, VA: American Psychological Association Journal of Experimental Psychology. JEP: Learning, Memory and Cognition. Arlington, VA: American Psychological Association Journal of Germanic linguistics. The American journal of psychology. Champaign, IL: University of Illinois Journal of Linguistics. London Journal of Memory and Language. San Diego, CA The journal of philosophy. New York, NY Journal of Psycholinguistic Research. New York, NY Journal of West African Languages. Dallas, TX Kratylos. Kritisches Berichts- und Rezensionsorgan für indogermanische und allgemeine Sprachwissenschaft. Wiesbaden Linguistische Berichte. Braunschweig Lexikos. Afrilex-Reeles. Afrilex Series. Stellenbosch: Buro van die WAT Language. Journal of the Linguistic Society of America. Baltimore, MD Language and Linguistics Compass. Oxford [etc.] Language Sciences. Oxford Linguistics. An Interdisciplinary Journal of the Language Sciences. Berlin [etc.] Linguistische Arbeitsberichte. Leipzig Linguistic Inquiry. Cambridge, MA Lingvisticae Investigationes. Revue Internationale de Linguistique Française et de Linnguistique Generale. Amsterdam Linguistics and Philosophy. A Journal of Natural Language Syntax, Semantics, Logic, Pragmatics and Processing. Dordrecht Linguistic Typology. Berlin Lingua. International Review of General Linguistics. Amsterdam Linguistik online. Frankfurt/Oder: Universität Frankfurt/Oder, Kulturwissenschaftliche Fakultät [Online-Ressource] La Linguistique. Revue de la Société Internationale de Linguistique Fonctionnelle. Journal of the International Society for Functional Linguistics. Paris Lingue e Linguaggio. Bologna

31 LogosLg LSt Morph MSpr Mutterspr NamInfo NeuSpr NJLing-C NLg&LingT NLgSem NOWELgEv NphMit OceLing OEM OHMT On Onomas-onl Orbis Phonology PLingCP Poet-A PsyRev PzLing RGL RJb RLing SchIDS SdG Skand SkGrgermD-B Sprachdienst Sprachpflege Sprw SS StDtSp StGermP StGram StLg StNLg&LingT StPhil STUF

2.3 Verzeichnis der Siglen in den Literaturangaben Logos and Language. Journal of General Linguistics and Language Theory. Tübingen Linguistische Studien, Reihe A. Berlin: Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Sprachwissenschaft Morphology. Dordrecht [etc.] Moderna Språk. Saltsjoe Duvnaes Muttersprache. Zeitschrift zur Pflege und Erforschung der deutschen Sprache. Berlin Namenkundliche Informationen. Leipzig Die neueren Sprachen. Zeitschrift für Forschung, Unterricht und Kontaktstudium auf dem Fachgebiet der modernen Fremdsprache. Frankfurt/Main Nordic Journal of Linguistics. Cambridge Natural Language and Linguistic Theory. Dordrecht [etc.] Natural language semantics. Dordrecht North-Western European language evolution. Odense Neuphilologische Mitteilungen. Bulletin de la Société Néophilologique de Helsinki. Helsinki Oceanic Linguistics. Honolulu, HI The Oxford Encyclopedia of Morphology. New York The Oxford Handbook of Morphological Theory. Oxford Onoma. Bibliographical and Information bulletin. International Committee of Onomastic Sciences. Bulletin d’information et de bibliographie. Louvain Onomasiology online. Eichstätt: Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt [OnlineRessource] Orbis. Bulletin international de documentation Linguistique. Louvain Phonology. Cambridge Prague Linguistic Circle Papers. Travaux du Cercle Linguistique de Prague nouvelle série. Amsterdam Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft. Amsterdam Psychological Review. Washington, DC: American Psychological Association Papiere zur Linguistik. Tübingen Reihe Germanistische Linguistik. Tübingen Romanistisches Jahrbuch. Berlin Rivista di linguistica. Italian Journal of Linguistics. Pisa [etc.] Schriften des Instituts für Deutsche Sprache. Berlin Sprache der Gegenwart. Schriften des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim. Düsseldorf Skandinavistik. Zeitschrift für Sprache, Literatur und Kultur der nordischen Länder. Kiel Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte, B: Ergänzungsreihe. Tübingen Der Sprachdienst. Wiesbaden Sprachpflege. Zeitschrift für gutes Deutsch. Leipzig Sprachwissenschaft. Heidelberg Slovo a slovesnost. Praha Studien zur deutschen Sprache. Tübingen Studia Germanica Posnaniensia. Poznan Studia Grammatica. Berlin Studies in language. Amsterdam Studies in Natural Language and Linguistic Theory. Dordrecht [etc.] Studia Philosophica. Brno Sprachtypologie und Universalienforschung. Berlin

2. Abkürzungsverzeichnisse 32 UMOPLing VJa WBZADSpver Word WPLgU WSK WSlA WStr WW WZKMU YbMo ZAA ZDL ZfdPh ZfInterkultFU ZfS ZfSlPh ZGL ZPSK ZS ZWJW

University of Massachusetts occasional papers in linguistics. Arnherst, MA: University of Massachusetts, Graduate Linguistic Student Association Voprosy jazykoznanija. Moskva Wissenschaftliche Beihefte zur Zeitschrift des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins. Berlin Word. Journal of the International Linguistic Association. New York, NY Working Papers on Language Universals. Stanford Wörterbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Berlin Wiener Slavistischer Almanach. Wien Word Structure. Edinburgh Wirkendes Wort. Deutsche Sprache in Forschung und Lehre. Bonn Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe. Leipzig Yearbook of Morphology. Dordrecht [etc.] Zeitschrift für Anglistik und Amerikanistik. Tübingen Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Stuttgart Zeitschrift für deutsche Philologie. Berlin Zeitschrift für interkulturellen Fremdsprachenunterricht. Edmonton Zeitschrift für Semiotik. Tübingen Zeitschrift für slavische Philologie. Heidelberg Zeitschrift für germanistische Linguistik. Berlin Zeitschrift für Phonetik, Sprachwissenschaft und Kommunikationsforschung. Berlin Zeitschrift für Sprachwissenschaft. Göttingen Zeitschrift für Wortbildung/ Journal for Word Formation. Berlin

3. Verzeichnis der Symbole Das Verzeichnis enthält diejenigen Symbole, die in den WSK benutzt werden. Das Verzeichnis ist sachlich gegliedert, nach (a) sprachwissenschaftlichen Symbolen, (b) logischen und mathematischen Symbolen, (c) Symbolen, die als Strukturanzeiger dienen. Nach dem Symbol folgt die Bezeichnung, wobei angegeben wird, wie ein Symbol zu lesen ist bzw. wie dessen Funktion ist. Dahinter steht ein Beispiel. (a) sprachwissenschaftliche Symbole # * / … / ( … ) [ … ]

{ … }

< ... > ∅ < > → ↛ ⇒ ā /

Grenzsymbol für Satz, Wort oder Morphem Asterisk für ungrammatische Ausdrücke – rekonstruierte Form Schrägstriche: phonologische Einheit(en) fakultatives Element eckige Klammern für phonetische Einheit(en) – Merkmal – Dominanzrelation – Kommentare zum Inhalt geschweifte Klammern für – morphologische Einheit(en) – alternatives Vorkommen / alternative Regelanwendung spitze Klammern für Wiedergabe der geschriebenen, graph(emat)ischen Form Nullelement / Nullallomorph Kleiner-Zeichen Größer-Zeichen einfacher Pfeil für Konstituenz, Ableitungsregeln – Ableitungen (Wortbildung) einfacher, durchgestrichener Pfeil für fehlerhafte Ableitung doppelter Pfeil für Transformation Makron: langer Vokal Schrägstrich

#Wort#; Ge#tu#e *Peter lügen. idg. *bheu/ʃ/ Wort(e)s [ʃ], [ʤ] [±gespannt]; [-belebt]; [+sth] [V, NP]VP er [deiktisch] {geb} {Singular, Plural}

Pl.: Lehrer + ∅ a < b: a entsteht aus b a > b: b entsteht aus a VP → V NP: Konstituente VP wird zerlegt in V und NP Tropen → tropisch groß ↛ *Großheit

A ⇒ B: Konstituente A wird transformiert in B ā, ē, ū usw. a/b sind alternative Ausdrücke

(b) logische und mathematische Symbole

¬, ~, − Negation ∃ Existenzquantor ∀ Allquantor / Alloperator ∩, ∧ Konjunktion ∪, ∨ Disjunktion a → b; a ⊃ b einfach gerichteter Pfeil; Hufeisen ⇔; ↔ bikonditional (auch: Äquivalenz) { … } geschweifte Klammer

es gibt wenigstens ein x, für das gilt ... für alle x gilt ... q ∧ p (zu lesen wie und) q ∨ p (zu lesen wie oder) materiale Implikation; zu lesen: wenn, dann p ⇔ q; zu lesen wie genau dann, wenn Menge

3. Verzeichnis der Symbole 34 ∈ Elementbeziehung + Verkettungszeichen < Kleiner-Zeichen > Größer-Zeichen ≤ Kleiner-Gleich-Zeichen ≥ Größer-Gleich-Zeichen ∞ unendlich (im mathematischen Sinn) ≡ Äquivalenz ≢ Nicht-Äquivalenz, Disjunktion

(c) Strukturanzeiger

≡ ↔ → ⇁ ⇀

🕮 ▲ ▪

x ∈ M1; zu lesen wie: ist Element von ver + bind + en a < b; zu lesen: a kleiner als b a > b; zu lesen: a größer als b a ≤ b; zu lesen: a kleiner oder gleich b a ≥ b; zu lesen: a größer oder gleich b a ≡ b; zu lesen: „genau dann, wenn“ a≢b

Verweisidentifizierungsangabe in der Synonymposition Verweisidentifizierungsangabe in der Antonymposition Verweisidentifizierungsangabe in der Verweisposition Verweisidentifizierungsangabe in der Verweisposition für einen Verweis auf die englischsprachige Teilreihe Verweisidentifizierungsangabe in der Verweisposition für einen Verweis auf die deutschsprachige Teilreihe Verweisidentifizierungsangabe in der Literaturposition Verweisidentifizierungsangabe in der Äquivalentposition Mittenpunkt zur Trennung der Literaturangaben in der Literaturposition

4. Übersicht für die phonetische Umschrift Für die Transkription werden die phonetischen Symbole in Spalte 1 bzw. 4 verwendet, es folgt ein Beispiel in Kursivschrift (Spalte 2 bzw. 5) und in eckigen Klammern die Transkription für das Beispiel (Spalte 3 bzw. 6). a aː ɐ ɐ̯ ã ãː aɪ̯ aʊ̯ b ç d ʤ e eː ɛ ɛː ɛ ̃ ε ̃ː eɪ ə f g h i iː i̯ ɪ j k l l̩ m m̩ n

platt Adler Mutter leer engagieren Balance weil Maut bin mich du Ginger Etappe See Lende Ähre Interieur Satin Aids Lage Fenster gut Hut Rudiment sie Podium Lippe ja kommen Latte Nebel Kamm großem Nest

[plat] [aːdlɐ] [‚mʊtɐ] [leːɐ̯] [ãga‘ʒiːrən] [ba‘lãːs, ba‘lãːsə] [vaɪ̯ l] [maʊ̯t] [bɪn] [mɪç] [duː] [‘ʤɪnʤɐ] [e’tapə] [zeː] [‘lɛndə] [‘ɛːrə] [ɛ ̃te’ri̯ øːɐ̯] [za’tε ̃ː] [eɪdz] [‘la:gə] [‚fɛnstɐ] [gu:t] [huːt] [rudi’mɛnt] [ziː] [‚poːdi̯ ʊm] [‚lɪpə] [jaː] [‚kɔmən] [‚latə] [‚neːbl̩ ] [kam] [‚groːsm̩] [nɛst]

n̩ ŋ o oː o̯ õ õː ɔ ø øː œ œ̃ ː oʊ ɔɪ̯ p r s ʃ t ts tʃ θ u uː u̯ ʊ v x yː ў ʏ z ʒ

reden lang, hängen Forelle tot Toilette Fondue Fonds Amboss ökonomisch hören Nörgelei Parfum Show heute Pass Rast Fuß Schuss Tee Zahl, Benzin Tscheche Thriller kulant Mut aktuell Rum Vokal, Wasser ach Hüte Nuance Hütte Hase Manege

[‚reːdn̩] [laŋ, ‚hɛŋən] [fo’rɛlə] [toːt] [to̯a’lɛtə] [fõ’dyː] [fõː] [‘ambɔs] [øko’noːmɪʃ] [‘høːrən] [nœrgə’laɪ̯ ] [par’fœ̃ ː] [ʃoʊ] [‘hɔɪ̯ tə] [pas] [rast] [fuːs] [ʃʊs] [teː] [tsa:l, bɛn‘tsiːn] [‚tʃɛçə] [‚θrɪlɐ] [ku‘lant] [muːt] [ak‘tu̯ɛl] [rʊm] [vo‘kaːl, ‚vasɐ] [ax] [‚hyːtə] [‚nўãːs(ə)] [‚hʏtə] [‚haːzə] [ma‘neːʒə]

5. Systematische Einführung in die Wortbildung Vorbemerkung  37 5.1 Was ist Wortbildung?  38 § 1 Der Terminus Wortbildung  38 § 2 Wortbildung vs. Wortschöpfung  38 § 3 Was sind Wörter?  38 § 4 Funktionen der Wortbildung  39 § 5 Aspekte der Wortbildungsanalyse  41 § 6 Bezüge der Wortbildung zu anderen linguistischen Bereichen  41 § 7 Wortbildungsforschung in Geschichte und Gegenwart  42 5.2 Bausteine der Wortbildung: Morpheme  47 § 8 Morphemklassifikation  47 § 9 Lexikalische Morpheme  48 § 10 Unikale Morpheme  48 § 11 Konfixe  48 § 12 Grammatische Morpheme  49 § 13 Affixe  50 § 14 Präfixe  50 § 15 Verbpartikeln  50 § 16 Suffixe  51 § 17 Zirkumfixe  52 § 18 Affix-Distribution und Produktivität  52 § 19 Affixoide  53 § 20 Fugenelemente  53 5.3 Wortbildungsarten  54 § 21 Klassifikationsprinzipien  54 § 22 Komposition  55 § 23 Derivation  59

§ 24 Partikelverbbildung  60 § 25 Wortkreuzung  61 § 26 Reduplikation  63 § 27 Konversion  64 § 28 Rückbildung  65 § 29 Kurzwortbildung  66 5.4 Wortbildungssemantik  68 § 30 Semantische Motivation  68 § 31 Wortbildungsbedeutungen  70 § 32 Wortbildung vs. Bedeutungsbildung  77 5.5 Fremdwortbildung  79 § 33 Forschungsgeschichte  79 § 34 Historische Entwicklung der Fremdwortbildung  80 § 35 Fremdaffixe und Konfixe  83 § 36 Hybridbildungen  88 § 37 Deutsche Fremdwortbildung vs. Entlehnung  89 5.6 Historische Wortbildung  90 § 38 Forschungsgeschichte  91 § 39 Entstehung von Wortbildungsmodellen  92 § 40 Archaisierung von Wortbildungsmodellen  97 § 41 Wandel von Wortbildungsmodellen  98 5.7 Wortbildungsanalysen  101 5.8 Literatur  104 5.9 Alphabetisches Sachregister zur Systematischen Einführung  110

Vorbemerkung Die von den beiden Herausgebern verfasste Systematische Einführung in die Wortbildung ist der zentrale Teil der Lernkomponente dieses Fachwörterbuchs. Der Text ist mit Wörterbuchartikeln vernetzt, kann aber auch autonom als Einführung in die Wortbildung benutzt werden. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt auf der deutschen Sprache. Am Ende aller 41 Paragraphen findet man Verweisungen auf Wörterbuchartikel, die die Ausführungen in den Paragraphentexten erweitern und vertiefen. In den Artikeln ist weitere Fachliteratur aufgeführt, und es wird auf andere Artikel verwiesen. Diese Struktur der Wörterbuchtexte und deren Vernetzung ermöglicht systematische wörterbuchinterne Fachwissensrecherchen und das Studium von jeweils zusammenhängenden Ausschnitten der Terminologie zur Wortbildung.

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 38

5.1 Was ist Wortbildung? § 1 Der Terminus Wortbildung Der Terminus Wortbildung, seit dem späten 18. Jh. als grammatischer Fachbegriff bezeugt (vgl. DWB XIV, II: 1550), ist polysem und bezeichnet nicht nur eine linguistische Teildisziplin ‒ seit Jacob Grimm auch als „Wortbildungslehre“ benannt ‒, sondern auch Wortbildungsverfahren und Wortbildungsprodukte. Mögliche Kontexte sind also: (1) Die Wortbildung ist ein autonomer Bereich der Grammatik. (2) Die Wortbildung mit dem Suffix -er ist sehr produktiv. (3) Die Wortbildung Haustür zählt zur Gruppe der Determinativkomposita. Wortbildung ist mit den Regeln und Modellen aller Wörter befasst, die auf der Basis verfügbarer Wortschatzeinheiten (Wortbausteine, Wörter, Wortgruppen, Sätze) entstehen. WSK 2: Wortbildungslehre

§ 2 Wortbildung vs. Wortschöpfung Nicht als „Wortbildung“, sondern als „Wortschöpfung“ (vgl. Fleischer/Barz 2012: 18ff.; Ronneberger-Sibold 2015a) gelten dagegen Wörter, die nicht aus bedeutungstragendem Sprachmaterial (Sprachzeichen) entstanden sind, sondern durch Zuweisung eines Inhalts an eine nicht zeichenhafte Lautfolge. Solche auch „Urschöpfung“ bzw. „Kunstwort“ (Platen 1997: 44f.) genannten Wörter sind allgemeinsprachlich selten. Neben lautnachahmenden Onomatopoetika (z.B. Kuckuck, ächz, Töff ‘Motorrad’) gehören auch einige Firmen- und Produktbezeichnungen (z.B. Elmex, Kodak, Twingo, Twix) dazu (vgl. Ronneberger-Sibold 2015b). WSK 2: Kunstwort; Onomatopoetikum; Wortschöpfung

§ 3 Was sind Wörter? Der Terminus Wortbildung ist selbst eine Wortbildung, und zwar eine Zusammensetzung aus den Komponenten Wort und Bildung. Dies führt zur Frage, was man unter „Wort“ versteht. Eine einheitliche linguistische Definition gibt es nicht, vielmehr lässt sich der Terminus Wort als „intuitiv vorgegebener und umgangssprachlich verwendeter Begriff“ charakterisieren, „dessen zahlreiche sprachwissenschaftliche Definitionsversuche uneinheitlich und kontrovers sind“ (Buẞmann 2002: 750). Die Heranziehung orthografischer, phonologischer, syntaktischer bzw. semantischer Kriterien führt nicht zu einer einheitlichen, allgemein akzeptierten und ausnahmslos anwendbaren Definition.

39

5.1 Was ist Wortbildung?

Als abstrakte Einheiten des Wortschatzes bezeichnet man Wörter auch als Lexeme, ihre Verwendung im Sprachgebrauch als Wortformen. So lassen sich dem Lexem Buch die Wortformen Buch, Buches, Bücher und Büchern zuordnen. Eine ähnliche Differenzierung bieten die Termini Type (Lexem) und Token (Wortformen). Wie das Beispiel Buch und seine Wortformen zeigen, bestehen Wörter aus einem Inhaltselement wie Buch und sind Simplizia (d.h. einfache, nicht weiter morphologisch zerlegbare Wörter) oder bestehen aus mehreren Einheiten: Buch-es, Büch-er, Büch-er-n. Für die Beschreibung der Wortstruktur verwendet man die Termini Wurzel, Stamm und Flexiv (Wortformenbildung). Als Wurzeln gelten die semantisch elementaren, nicht mehr weiter zerlegbaren Bauteile, also z.B. Buch in Buch, Buches, Bücher und Büchern oder geh in gehen, Begehungen und aufgehbare. Als Stämme gelten dagegen alle Wörter (einfache und komplexe, d.h. wortgebildete) ohne Flexionselemente. Stämme entsprechen Wurzeln formal nur zum Teil. Für obige Beispiele ergibt sich also folgende Differenzierung: Buch (Stamm/Wurzel), Buches (Stamm/Wurzel + Flexiv -es), Bücher (Stamm/Wurzel mit Umlaut + Flexiv -er), Büchern (Stamm/Wurzel mit Umlaut + Flexiv -er + Flexiv -n); geh (Stamm/Wurzel), gehen (Stamm/Wurzel + Flexiv -en), Begehungen (Stamm Begehung (Wortbildungselement be- + Wurzel geh + Wortbildungselement -ung + Flexiv -en), aufgehbaren (Stamm aufgehbar (Wortbildungselement auf- + Wurzel geh + Wortbildungselement -bar) + Flexiv -e). Anhand morphologischer (Flektierbarkeit), syntaktischer (Satzpositionen) und semantischer Kriterien werden Wörter in Wortarten klassifiziert, wobei aber auch aufgrund einer unterschiedlichen Gewichtung der Kriterien kein einheitliches Schema existiert. Für den Bereich der Wortbildung sind vor allem die Wortarten Substantiv, Adjektiv, Verb (deklinierbar bzw. konjugierbar) und Adverb (nicht flektierbar, aber satzgliedfähig) relevant (vgl. § 8, Abbildung 1). Weitere flektierbare (Artikel, Pronomen) bzw. nichtflektierbare und nichtsatzgliedfähige Wörter wie die syntaktische Relationen bedingenden Präpositionen (mit Kasusrektion) und Konjunktionen (ohne Kasusrektion) sowie die Gruppe der polyfunktionalen Partikeln (Negation: Negationspartikel nicht; Fokussierung: Fokuspartikeln wie „sogar sie“, „auch er“; Intensivierung: Gradpartikeln wie „sehr schön“, „überaus genau“; subjektive Sprechereinstellungen: Modalpartikeln wie „das Wasser ist halt/doch tief“) sind dagegen randständig. WSK 2: grammatisches Morphem; Lexem; Simplex; Stamm; Wort; Wortart; Wortform; Wurzel

§ 4 Funktionen der Wortbildung Wortbildung ist neben Bedeutungsbildung (v.a. als Metaphorisierung bzw. Metonymisierung; vgl. § 32) und Wortentlehnung (vgl. § 34, 37) das zentrale Verfahren des Wortschatzausbaus. Die Gründe für die Prägung neuer Wörter (Neologismen) sind unterschiedlich. Die folgende Übersicht aus von Polenz (2000: 38) bietet einen guten Überblick: ‒ Benennung neuer Sachverhalte, vor allem in Wissenschaft und Technik (Terminologisierung): Zwischenhoch, Verkabelung

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 40

‒ Univerbierung, d.h. Ersatz einer syntaktischen Wortgruppe durch ein Wort zum Zweck der raschen Kurzbenennung in Titeln, Registern, auf Karteikarten, Schildern usw.: Einbahnstraße, Sprachgeschichte ‒ Wortersatz zur Vermeidung oder Verdeutschung von ‚Fremdwörtern‘: Fernsprecher für Telefon ‒ Wortersatz zur besseren Motiviertheit: Gehweg für Bürgersteig ‒ Wortersatz zur Verallgemeinerung oder Verschleierung: Familienplanung für Geburtenbeschränkung, Empfängnisverhütung ‒ Wortersatz zur euphemistischen Vermeidung bewertender Konnotationen des üblichen Wortes: Raumpflegerin für Putzfrau ‒ Wortersatz zur polemischen Emotionalisierung: Wendehals für Opportunist ‒ Wortzusatz zur Verdeutlichung, Unterscheidung, Verstärkung: Spitzensportler, postmodern, erzkonservativ ‒ Syntaktische Flexibilität (Wortartvariation): Quadrat ‒ quadtratisch, Kante ‒ kanten, gelten ‒ Geltung ‒ Komprimierter Formulierungsstil zum ökonomischen Ausdruck komplexer Syntagmen: Lehrfreiheit für Inhalt und Art des Lehrens frei wählen zu können Diese Zusammenstellung kann man noch erweitern durch den Hinweis auf die spezifische Sprachökonomie in Form der Kurzwortbildung mit Prägung von Kurzformen aus Vollwörtern oder Syntagmen (z.B. Elisabeth > Lisa, Kriminalpolizei > Kripo, Bayerische Motoren-Werke > BMW) sowie auf „grammatisch bedingte Notwendigkeiten der Wortbildung“ (Erben 2006: 22), etwa im Fall fehlender Plural- oder Komparativformen (z.B. Schnee: Schneemassen, Regen: Regenfälle, Trost: Tröstungen; tot: mausetot, feind: spinnefeind, schade: jammerschade). Durch individuelle oder kollektive Wortbildung entstehen zunächst okkasionelle Neuwörter (Ad-hoc-Bildungen), die teils ephemere Eintagsfliegen bleiben, teils aber auch in den allgemeinen Sprachgebrauch übergehen (Lexikalisierung von Neologismen) und dann zum usuellen, wörterbuchrelevanten Teil des Wortschatzes einer Sprachgemeinschaft zählen. Eine wichtige Rolle bei Wortbildungsprozessen spielt als kognitiver Mechanismus die Analogie (vgl. Arndt-Lappe 2015; Mattiello 2017): Wortbildung erfolgt schemabasiert, wobei als Muster sowohl Einzelwörter (z.B. Hintermann > Hinterfrau, Stehaufmännchen > Stehauf-Frau, Wunderkinder > Wundererwachsene) als auch schemaidentische Wortgruppen (z.B. Bildungen mit dem Schema „Basisverb-isier- + Suffix -ung“ bzw. „Basissubstantiv + Suffix -isierung“ wie Finnlandisierung, Merkelisierung, Vertinderisierung) fungieren können (vgl. auch § 22). WSK 2: Ad-hoc-Bildung; Analogie; Kurzwortbildung; Lexikalisierung; Metaphorisierung; Metonymisierung; Neologismus; Zweitbenennung

41

5.1 Was ist Wortbildung?

§ 5 Aspekte der Wortbildungsanalyse Für den Bereich der Wortbildung ergibt sich ein vielfältiges Panorama möglicher Untersuchungsaspekte: Eine Wortbildungsanalyse beinhaltet grundsätzlich eine ausdrucks­ seitig-morphologische (Wortart und phonologisch-morphologische Charakteristika der Wortbildungsbasen, Wortbildungsarten) und eine semantisch-funktionale (v.a. Wortbildungsbedeutungen) Ebene. Dabei kann die Untersuchungsrichtung semasiologisch (Form > Bedeutung; z.B. Welche Wortbildungsbedeutungen weisen die Wortbildungen mit dem verbalen Präfix er- auf?) oder onomasiologisch (Bedeutung > Form; z.B. Auf welche Weise sind kausative Wortbildungen gebildet?) ausgerichtet sein. Die Analyse kann synchron (zeitlich eindimensional, z.B. Wortbildung der Gegenwartssprache) oder diachron erfolgen. Eine diachrone Untersuchung erfasst dabei den ausdrucks- und inhaltsseitigen Wortbildungswandel, der sich an Veränderungen der Wortbildungsarten und -typen, der Basisbindung, der Wortbildungsbedeutungen u.a. zeigen kann (vgl. § 39‒41). Eine Wortbildungsuntersuchung kann auf Einzelsprachen (Standardsprache bzw. weitere Varietäten wie Fachsprachen, Literatur, Dialekte) begrenzt sein oder sprachvergleichend die Wortbildung mehrerer Sprachen berücksichtigen. Dabei können sowohl ganze Wortbildungssysteme (z.B. das System der Substantivderivation) als auch einzelne Wortbildungsmuster (z.B. Bildungen mit dem Suffix -ung) analysiert werden. Im Sprachvergleich zeigt sich, dass jede Einzelsprache Wortbildungscharakteristika aufweist, durch die sie sich von allen anderen Sprachen unterscheidet. Der Vergleich von 74 Wortbildungsportraits europäischer Sprachen in Müller/Ohnheiser/Olsen/Rainer (20015/16), darunter indogermanische (u.a. germanische, romanische, slavische, keltische, baltische, indoiranische) und nichtindogermanische (u.a. uralische, kaukasische und Turksprachen), verdeutlicht dies ebenso wie der typologische Überblick bei Štekauer/Valera/ Körtvélyessy (2012) unter Einbezug auch nichteuropäischer Sprachen. WSK 2: historische Wortbildung (2); Konstituentenanalyse; morphologische Wortbildungsanalyse; semantische Wortbildungsanalyse; synchrone Wortbildung; Wortbildungskonstruktion; Wortbildungslehre; Wortbildungsmodell; Wortbildungsmuster; Wortbildungswandel

§ 6 Bezüge der Wortbildung zu anderen linguistischen Bereichen Die Wortbildung steht in einem Beziehungsgeflecht zu zahlreichen weiteren inner- und außergrammatischen Bereichen, womit auch einige Abgrenzungsprobleme verbunden sind. Eine enge Beziehung besteht zu den anderen grammatischen Zentralbereichen Morphologie, Syntax und Phonologie. Zum Teil wird die Wortbildung als „Wortbildungsmorphologie“ zusammen mit der Flexionsmorphologie im Rahmen der „Morphologie“ behandelt (z.B. Booij/Lehmann/ Mugdan 2000/04; Elsen 2014), doch überwiegt heute die Auffassung, Wortbildung als autonomen Bereich mit offenen Grenzen zu betrachten und dementsprechend zwischen

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 42

„Morphologie“ (Flexionsmorphologie) und „Wortbildung“ zu differenzieren. Abgrenzungsprobleme (vgl. Štekauer 2015) bestehen im Deutschen vor allem hinsichtlich der Komparation von Adjektiven, die teils als Wortbildungsphänomen (vgl. Fleischer/Barz 2012: 10f.), häufiger aber als „Flexion“ eingestuft wird (vgl. Štekauer 2015a). Auch mit der Syntax gibt es Schnittstellen, die zum einen die Univerbierung von Wortgruppen betreffen (z.B. schwer verdaulich > schwerverdaulich; warm stellen > warmstellen; auf Grund > aufgrund), aber z.B. auch die Gruppe der morphologisch und syntaktisch trennbaren Partikelverben (z.B. absagen: abzusagen bzw. sagte ab), die zwar in der Regel als Wortbildungen gelten, aber auch als Phraseme (syntaktische Verbindungen) klassifiziert werden (vgl. Donalies 2021: 271ff.). Als Schnittstellenphänomene gelten zudem Bildungen mit Phrasen (Wortgruppen, Sätze) als Erstelement (z.B. Trimm-dich-Pfad, Drei-Tage-Urlaub, Leck-mich-am-Arsch-Haltung) sowie Alternativschreibungen mit Getrennt- bzw. Zusammenschreibung (z.B. klein schneiden vs. kleinschneiden; Erdöl fördernd vs. erdölfördernd). Nicht zuletzt daraus resultieren auch Schwierigkeiten für eine Definition von Wort (vgl. § 3). Zusammenhänge zwischen Wortbildung und Phonologie betreffen u.a. die lautliche Struktur von Wortbildungsbasen (etwa bei der Differenzierung von Wortbildungen mit -heit, -keit und -igkeit, vgl. Schönheit, Höflichkeit, Gerechtigkeit), die Betonung von Wortbildungen (verbale Präfixe: unbetont, Partikeln: betont; vgl. besteigen vs. aufsteigen) oder die z.T. phonotaktisch gesteuerte Fugensetzung (z.B. Les-e-probe). Neben den grammatischen Zentralbereichen Morphologie, Syntax und Phonologie weist die Wortbildung auch zu anderen Untersuchungsebenen Bezüge auf, was hier nur stichpunktartig angedeutet werden kann: Dazu zählen Lexikologie und Lexikographie (Wortschatzlehre bzw. Erfassung des Wortschatzes in Wörterbüchern), Semantik (Wortbildungs- bzw. Wortbedeutungen), Pragmatik (situationsabhängiger Wortbildungsgebrauch), Orthographie (Schreibregeln für Wortbildungen), Textlinguistik (Wortbildungen als textkonstitutive und textsortenspezifische Bausteine), Variationslinguistik (Wortbildungen in Fachsprachen, in der Literatur, in Dialekten, in der Jugendsprache u.a.), Namenkunde (Wortbildung von Eigennamen), Kognitive Linguistik (kognitive Prozesse bei der Produktion und Verarbeitung von Wörtern; Wortbildungen als Einheiten des mentalen Lexikons) und Psycholinguistik (Wortbildung im Spracherwerb, bei Aphasie u.a.). WSK 2: Komparation; Morphologie; Wortbildungslehre

§ 7 Wortbildungsforschung in Geschichte und Gegenwart Das Thema Wortbildung hat eine lange grammatische Tradition, die bis in die Antike zurückreicht. Daran, und insbesondere an die Tradition lateinischer Schulgrammatiken knüpfen auch die frühen volkssprachigen Grammatiken an, die in der Frühen Neuzeit entstehen. Im deutschen Bereich setzt die Grammatikographie in der zweiten Hälfte des 16. Jhs. mit drei schmalen, lateinisch verfassten Grammatiken von Albert Ölinger (1573),

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5.1 Was ist Wortbildung?

Laurentius Albertus (1573) und Johannes Clajus (1578) ein (vgl. Jellinek 1913/14). Die Wortbildung ist in diesen Werken, ebenso wie in der ersten deutschsprachigen Grammatik von Johannes Kromayer (1618), nur ganz rudimentär innerhalb der Wortartenlehre behandelt. Von diesen umfangsarmen Frühformen deutscher Grammatikographie unterscheidet sich die Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache (1663) von Justus Georg Schottelius fundamental. Es handelt sich um die erste ausführliche grammatische Darstellung des Deutschen, in der auch die Wortbildung detailliert im Abschnitt „Wortforschung“ auf rund 250 Seiten behandelt ist (vgl. Gützlaff 1989). Die nominale Ableitung (Derivation) ist nach 23 „Hauptendungen“ gegliedert, die einleitend charakterisiert und dann an alphabetischen Beispiellisten verdeutlicht werden. So heißt es zur IV. Haubtendung Ey: „Wird nur bey die selbstendigen Nennwörter gesetzet / und bleibet ein selbstendiges (Substantivum,) welches ein Amt oder tuhn / Eigenschaft oder Wesen des Dinges anzeiget / und ist allezeit Weibliches Geschlechts.“ Als Beispiele werden u.a. Abdekkerey, Betriegerey, Fresserey, Heucheley und Plauderey angeführt. Die Darstellung der (Ver-)Doppelung (Komposition) erfolgt unsystematisch nach kompositionellen Erstund Zweitgliedern mit der Zuordnung von Beispielen, wie etwa zu Noht (z.B. Nohtwehr, Nohtzucht, Nohtgeld, Nohthembd) und Knecht (Landsknecht, Fußknecht, Reitknecht, Amtsknecht). Linkserweiterte nominale und verbale Wortbildungen (Präfixderivate bzw. Partikelverbbildungen) sind dagegen alphabetisch im Rahmen der Wortart Präposition abgehandelt und ebenfalls anhand von Beispielen illustriert, wie bei Auf (z.B. Aufstand, Aufgeld, aufbäumen, aufrollen). An die Darstellung der Wortbildung bei Schottelius schließen auch die einflussreichen Grammatiken des 18. Jhs. von Johann Christoph Gottsched (Grundlegung einer Deutschen Sprachkunst 1748) und Johann Christoph Adelung (Umständliches Lehrgebäude der Deutschen Sprache 1782) an. Insbesondere bei Adelung findet sich eine ganze Reihe von Präzisierungen, die sich auch terminologisch zeigen: So verwendet er für die Erstbzw. Zweitglieder von Komposita die auch heute noch gebräuchlichen Bezeichnungen Bestimmungswort und Grundwort und unterscheidet von den „ächten“ die „unächten“ Zusammensetzungen mit „trennbaren Partikeln“ (z.B. „fortgehen, aber ich gehe fort“). Auch in seiner Charakterisierung der semantischen Leistung des Wortbildungselements ey („eine Beschaffenheit, eine Handlung, beydes oft mit einem collectiven, und noch öfter mit einem iterativen Nebenbegriffe, daher die Wörter dieser Art häufig sowohl in Appellativa, als auch in Collectiva und Iterativa übergehen“) geht er über Schottelius hinaus. Einen deutlicheren Einschnitt in der Behandlung von Wortbildungen bildet allerdings erst das 19. Jh. (vgl. Solms 1998; Kaltz/Leclercq 2015; Lindner 2015): 1824 erscheint die erste Monographie zur deutschen Wortbildung von Karl Ferdinand Becker (Die deutsche Wortbildung oder die organische Entwicklung der deutschen Sprache in der Ableitung), und mit dem Beginn der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft verändert sich auch für die Wortbildung die Forschungsausrichtung. Stand bisher die gegenwartssprachliche Perspektive im Zentrum, wurde nun die historische Sicht dominant. Maßgeblich dafür war die vierbändige Deutsche Grammatik (1819-1837) von Jacob Grimm, der in den Bänden zwei und drei eine ausführliche Darstellung der deutschen (bzw. (indo-)ger-

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 44

manischen) Wortbildung bietet und als Begründer der wissenschaftlichen Wortbildungsforschung gilt. Das von Grimm initiierte und von in junggrammatischer Tradition stehenden Nachfolgern wie Wilmanns (1899), Paul (1920), Kluge (1925) oder Henzen (1965) fortgeführte Forschungsparadigma blieb in Deutschland lange dominant. Es zeichnet sich aus durch eine „primär diachronische und atomistische (d.h. am isolierten Einzelplerem semasiologisch orientierte) Methodik“, die sich an „dem Bemühen um die ‚ursprüngliche und eigentliche‘ Bedeutung einzelner Affixe“ zeige, deren Nachwirken oder Veränderung beschrieben wird“ (von Polenz 1980: 172). Dieser Forschungsstrang blieb bis in die 1960er Jahre prägend und ist erst mit dem Handbuchwechsel von Henzen (1965) zu Fleischer (1969, aktuell: Fleischer/Barz 2012) und der damit verbundenen gegenwartssprachlichstrukturellen Umorientierung in den Hintergrund gerückt. Infolge dieses Paradigmawechsels entwickelte sich die Wortbildung, die „bis in die sechziger Jahre hinein eher ein Schattendasein führte“ (Brekle/Kastovsky 1977: 12), zu einem bevorzugten Objekt linguistischer Theoriebildung. Der einsetzende „Wortbildungsboom“ (Überblick bei Ortner 1984; Holly 1985; Eichinger 1994; Plath 2014) hält bis heute an. Es gibt kaum ein anderes linguistisches Gebiet, in dem mehr Einführungen und Handbücher vorliegen als zur Wortbildung (z.T. in Kombination mit „Flexion“ im Rahmen von Darstellungen zur Morphologie). Dies gilt sowohl für den deutschen (vgl. z.B. Fleischer 1969; Bergenholtz/Mugdan 1979; Stepanowa/Fleischer 1985; Olsen 1986; Simmler 1998; Motsch 2004; Erben 2006; Lohde 2006; Altmann 2011; Donalies 2011, 2021; Heringer 2011; Fleischer/Barz 2012; Vogel/Sahel 2013; Hentschel 2020; Michel 2020) als auch den übereinzelsprachlichen Bereich (vgl. z.B. Booij/Lehmann/Mugdan 2000/04; Štekauer/Lieber 2005; Štekauer/Valera/Körtvélyessy 2012; Lieber/Štekauer 2014; Müller/Ohnheiser/Olsen/Rainer 2015/16; Lieber 2020). Im Rahmen einer strukturalen Wortbildung (vgl. Motsch 2015) wurde der Blickwinkel zunächst auf die Gegenwartssprache gerichtet, es rückte die Untersuchung von Wortbildungssystemen in den Mittelpunkt und es wurden für Wortbildungsuntersuchungen nun größere Textkorpora verwendet, während man früher eher steinbruchartig Texte bzw. Wörterbücher ausgewertet hatte. Die ersten Arbeiten zur systematischen Darstellung der verbalen, substantivischen und adjektivischen Derivation der deutschen Gegenwartssprache anhand eines umfangreichen Textkorpus wurden in den 1970er Jahren im Rahmen eines Projekts „Deutsche Wortbildung“ des Instituts für deutsche Sprache (dazu Ortner/Ortner/Wellmann 2007) publiziert (Kühnhold/Wellmann 1973; Wellmann 1975; Kühnhold/Putzer/Wellmann 1978 ‒ später erweitert um Bände zur substantivischen und adjektivischen Komposition von Ortner et al. 1991 und Pümpel-Mader et al. 1992). Das Besondere dieser Bände besteht darin, dass die Darstellung nicht primär semasiologisch angelegt ist (Gliederung nach Wortbildungstypen sowie deren Motivationsbasis und Wortbildungsfunktion), sondern onomasiologisch nach Bedeutungsgruppen („Funktionsständen“ wie z.B. Nomina Agentis, Nomina Actionis etc.). Angeregt ist diese funktionale Ausrichtung durch die Wortbildungskomponente in der sog. „inhaltbezogenen Grammatik“ Leo Weisgerbers aus den 1950er und 1960er Jahren (vgl. Erben 2015). Wortbildung wurde hier nicht nur gestaltbezogen, sondern vor allem auch inhalt- und

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5.1 Was ist Wortbildung?

leistungsbezogen betrachtet in ihrem semantischen Beitrag zum „Worten der Welt“ und damit zum spezifischen Gepräge der „Weltsicht“ einer Sprache, womit Weisgerber an die Tradition Wilhelm von Humboldts anschließt. Einen ähnlichen, in seiner Wirkung aber bis heute anhaltenden Ansatz stellt die sog. „onomasiologische Wortbildungstheorie“ dar, die ebenfalls in den 1960er Jahren von ­Miloš Dokulil begründet und v.a. von Pavol Štekauer bis heute weiter ausgebaut wurde (vgl. Grzega 2015). Auch hier ist die Sichtweise primär inhaltbezogen (onomasiologisch) und auf die Benennung von Konzepten mit Hilfe der in einer Sprache verfügbaren Wortbildungen ausgerichtet. Eine ganz andere Sicht auf Wortbildung entwickelte sich im Rahmen der sog. „Generativen Grammatik“, die 1957 von Noam Chomsky begründet wurde. Bei dieser Grammatiktheorie ist das Interesse auf die mentale Repräsentation grammatischen Wissens und dessen Erwerb ausgerichtet. Es geht um „Sprachkompetenz“ als mental organisiertes Sprachwissen von Sprechern einer Sprache. Entsprechend unternimmt die generative Wortbildungstheorie (vgl. Lieber 2015) die „Charakterisierung des linguistisch determinierten kreativen Wortbildungsvermögens der Sprecher einer Sprache“. Das Untersuchungsziel ist „nicht die Erklärung aller Wortbildungsdaten im Sprachzustand, sondern die Isolierung und Beschreibung desjenigen Teils des Sprachsystems, welcher die produktive Bildung neuer Wörter ermöglicht“ (Olsen 1986: 17). Nicht der analytische (Wortgebildetheit), sondern der prozessuale (Wortbildungsproduktivität) Aspekt der Wortbildung steht im Mittelpunkt des Interesses, was sich auch daran zeigt, dass generative Darstellungen anders als strukturalistische nicht auf die Beschreibung ganzer Wortbildungssysteme ausgerichtet sind. War die Generative Grammatik zunächst stark syntaxlastig, wurde seit den 1970er Jahren auch die Wortbildung zum Thema und bis heute in zahlreichen disparaten Beschreibungsansätzen erforscht. Dazu zählt auch die sog. „Optimalitätstheorie“ (vgl. Raffelsiefen 2015), nach der für die Grammatik einer Sprache nicht Regeln, sondern Beschränkungen maßgeblich sind. Die Anwendung dieser Theorie auf Wortbildungserscheinungen (zur Kurzwortbildung vgl. Raffelsiefen 2021) erfolgte bislang aber noch nicht auf breiterer Basis. Neben der einflussreichen Generativen Grammatik entstanden nach 1970 weitere Grammatikmodelle mit anderen Schwerpunktsetzungen, in denen die Wortbildung zwar thematisiert ist, aber keinen zentralen Platz einnimmt. Dies gilt etwa für die „Kategorialgrammatik“ (vgl. Wandruszka 2015) sowie die „Natürliche Morphologie“ (vgl. Luschützky 2015). In einem betonten Gegensatz zur Generativen Grammatik stehen Modelle wie die „Kognitive Grammatik“ (vgl. Taylor 2015) sowie die auf mehreren Ansätzen fußende „Konstruktionsgrammatik“ (Booij 2015). In ihrer gebrauchsbasierten Variante spielt die Wortbildung eine größere Rolle und kann mittlerweile als eigene Wortbildungstheorie gelten, die v.a. von Geert Booij innerhalb der von ihm begründeten „Konstruktionsmorphologie“ (vgl. Booij 2010; Masini/Audring 2019) entwickelt wurde und gegenwärtig auch im deutschen Bereich zunehmend rezipiert wird. Diese Theorie über die morphologische Struktur von Wörtern ist ebenso wie die Generative Grammatik mentalistisch, geht aber

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 46

nicht von einem angeborenen Spracherwerbsmechanismus aus, mittels dessen Wortbildungsregeln generiert werden, sondern ist „gebrauchsorientiert“. Zugrunde liegt die Vorstellung, dass „Konstruktionen“ Grundeinheiten der Sprache sind. Konstruktionen sind (syntaktische wie morphologische) Form-Bedeutungs-Paare, wobei als minimale Einheit das Wort gilt (wortbasierter Ansatz). Dies hat zur Konsequenz, dass in diesem Ansatz unselbstständige Wortbildungselemente (z.B. er-geben, Brauch-tum) keine eigenen Wortbildungs- und Lexikoneinheiten darstellen. Alle Konstruktionen (Sätze, Phrasen, Simplizia, Wortbildungen) sind Bestandteil des mentalen Lexikons ‒ als „Konstruktikon“ bezeichnet ‒, ebenso wie daraus abgeleitete abstraktere Schemata (z.B. [V -er]N als Repräsentation für deverbal gebildete Nomina Agentis mit -er wie Lehrer, Fahrer, Taucher). Der Erwerb solcher Wortbildungsschemata wird als Vorgang gesehen, bei dem im Sprachgebrauch vorkommende Wortbildungen mit entsprechender Struktur als Instantiierungen des Schemas gelernt und dadurch schemabildend werden und dann ausgehend von solchen Schemata des Konstruktikons weitere Neubildungen möglich werden. Inwieweit mit diesem Modell eine größere Erklärungsadäquatheit als mit anderen Wortbildungstheorien erreicht werden kann, erscheint derzeit noch offen, die Zahl vorliegender Untersuchungen (z.B. Michel 2013, 2014; Hein 2015; Hartmann 2016) ist noch zu gering. Die Konstruktionsmorphologie ist zwar als Gegenmodell zur Generativen Grammatik entstanden, hat andererseits aber auch viel mit systembezogenen Untersuchungen im Rahmen des europäischen Strukturalismus gemein, was eher unterbelichtet bleibt. So sind z.B. auch die im Kontext des o.g. Projekts des Instituts für deutsche Sprache entstandenen Arbeiten korpusbasiert, berücksichtigen hinreichend die pragmatische Indizierung von Texten, erschließen aus den belegten Wortbildungen (Instantiierungen) Wortbildungsprinzipien und formale wie semantische Schemata (vgl. Ortner/Ortner 2015), die das Wortbildungswissen von Sprechern konstituieren und Rückschlüsse über Produktivität (vgl. Gaeta/Ricca 2015), d.h. Neubildungspotential erlauben. Insofern ist der Ansatz der Konstruktionsmorphologie weniger innovativ als von seinen Vertretern meist angenommen. Als theoretisches Konstrukt muss sich das „Konstruktikon“ auch an Ergebnissen der Psycho- und Neurolinguistik messen lassen. So deuten z.B. Ergebnisse der Aphasieforschung daraufhin, dass unselbständige Wortbildungselemente (z.B. un-, ver-, -isch, -ung) im mentalen Lexikon separat gelistet sind (vgl. Semenza/Mondini 2015: 2171), was den Ansatz der Konstruktionsmorphologie in Frage stellt. WSK 2: generative Morphologie; inhaltbezogene Wortbildungslehre; Kognitive Grammatik; Kon­ struktionsmorphologie; korpusbasierte Wortbildungsforschung; natürliche Morphologie; onomasiologische Wortbildungstheorie; Optimalitätstheorie; strukturalistische Wortbildungslehre; traditionelle Wortbildungslehre; Wortbildungslehre

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5.2 Bausteine der Wortbildung: Morpheme

5.2 Bausteine der Wortbildung: Morpheme § 8 Morphemklassifikation Die kleinsten bedeutungstragenden Einheiten einer Sprache nennt man Morpheme, die bei Verwendung von Notationszeichen mit geschweiften Klammern ({}) markiert werden. Der Ausdruck Morphem bezieht sich dabei auf die Ebene des Sprachsystems, also der langue. Ihre Realisierung im Sprachgebrauch (parole) bezeichnet man als Morphe. Ausdrucksähnliche Morphe, die ein Morphem repräsentieren, heißen Allomorphe. So existieren z.B. für das Morphem {Schule} im Sprachgebrauch die Allomorphe {Schule}, {Schul} und {Schül}: Im ersten Fall handelt es sich um die Simplexform, das Substantiv Schule, bei der zweiten und dritten Form um Allomorphe in Kombination mit weiteren Morphemen (z.B. Schul-haus, schul-isch, Schül-er). Für eine Morphemklassifikation mit Differenzierung verschiedener Morphemtypen werden in der Regel die Merkmale „lexikalisch“ vs. „grammatisch“ sowie „frei (wortfähig)“ vs. „gebunden (nicht wortfähig)“ verwendet. Das Ergebnis veranschaulicht Abbildung 1. Morph Allomorph Morphem lexikalisches Morphem

nicht wortfähig

grammatisches Morphem

Fugenelement (Interfix)

nicht wortfähig (Affix)

wortfähig Affixoid

unikales Konfix Morphem

Verb Substantiv Adjektiv Adverb

Wortbildungsmorphem

Präfix

Suffix

wortfähig

Flexionsmorphem (Flexiv)

flexionslos

flexionsfähig

Zirkumfix Partikel Konjunktion Präposition Artikel Pronomen Abb. 1: Morphemklassifikation

WSK 2: Allomorph; Morph; Morphem

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 48

§ 9 Lexikalische Morpheme Lexikalische Morpheme sind abgesehen von Sonderfällen wortfähig und verfügen über einen außersprachlichen Bedeutungsbezug. Sie gelten deshalb als Autosemantika mit lexikalisch-begrifflicher Bedeutung und werden auch als Wurzeln, Grund-, Kern- oder Basismorpheme bezeichnet. Sie verteilen sich auf die Wortarten Substantiv (Buch), Adjektiv (schön), Verb (schreib) und Adverb (gestern). Die Klassifikation von Verbstämmen als wortfähig ist allerdings umstritten, da nicht alle Verben unabhängige Imperativformen haben (z.B. achte!). Sonderfälle stellen unikale Morpheme und Konfixe dar. WSK 2: lexikalisches Morphem

§ 10 Unikale Morpheme Unikale Morpheme (auch: Pseudomorpheme, vgl. Simmler 2002) sind defektive Morpheme, die in nur einer Umgebung, d.h. unikal, vorkommen und deren Bedeutung synchron nicht mehr erkennbar ist. Als sprachliche Versteinerungen sind sie marginal. Beispiele sind Bräutigam (ahd. gomo ‘Mann’), Brombeere (ahd. brāma ‘Dornstrauch’), Nachtigall (ahd. galan ‘beschwören, singen’), Schornstein (mndd. schore ‘festes Land, Stützte’; ahd. scorrēn ‘emporragen’), Unflat (mhd. vlāt ‘Sauberkeit’), deftig (germ. *dab-a- ‘passen, zutreffen’), ledig (ahd. lid ‘Diener’?), beginnen (germ. *-genn-a ‘beginnen’), vergessen (germ. *-get-a ‘erlangen’). WSK 2: unikales Morphem

§ 11 Konfixe Der Terminus Konfix (lat. configere ‘aneinanderheften’) bezeichnet gebundene Morpheme mit lexikalischer Bedeutung. Er wurde von Schmidt (1987a) in die deutsche Wortbildungsforschung eingeführt. Im Wesentlichen handelt es sich um Morpheme, die aus der gräkolateinischen Tradition stammen und zentrale Bausteine der Fremdwortbildung darstellen (vgl. Abschnitt 5). Hinsichtlich der Verwendung von „Konfix“ besteht keine Einheitlichkeit (vgl. Müller 2005; 2009; 2015a), und in der angelsächsischen Wortbildung wird dieser Terminus überhaupt nicht benutzt und entsprechende Elemente werden als „combining forms“ bezeichnet. Beispiele für Wortbildungen mit einem Konfix sind die Lexeme Hydr-o-kultur, Hydro-meter und hydr-o-phob mit dem Konfix hydr-, das auf das griechische Substantiv hýdor ‘Wasser’ zurückgeht. Es handelt sich bei solchen exogenen Konfixen um Bestandteile von Wörtern, bei denen Bauteile, die in der Herkunftssprache Lexemen entsprechen, morphematisiert werden und dann ‒ im Fall von Produktivität ‒ für Neubildungen weiter-

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5.2 Bausteine der Wortbildung: Morpheme

verwendet werden, darunter auch in Form von Hybridbildungen mit indigenen Lexemen (z.B. Hydr-o-gefäß, Hydr-o-pumpe). Hinsichtlich ihrer Position lassen sich Präkonfixe und Postkonfixe unterscheiden: Präkonfixe stehen links von der Wortbildungsbasis, wie z.B. astro- (Astronaut, Astronom, Astroshow), fanat- (Fanatiker, fanatisch, Fanatismus) oder öko- (Ökobauer, Ökoladen, Ökoprodukt), Postkonfixe stehen rechts von der Wortbildungsbasis, wie z.B. -krat (Aristokrat, Bürokrat, Demokrat), -meter (Barometer, Gasometer, Thermometer) oder -thek (Bibliothek, Diskothek, Videothek). Wenige Konfixe stehen in beiden Positionen wie phob-/-phob (Phob-ie, anglo-phob) oder therm-/-therm (therm-o-phil, iso-therm ‘gleiche Temperatur habend’). Die Abgrenzung zwischen „Konfixen“ und „Affixen“ mit dem semantischen Kriterium der lexikalischen Bedeutung führt zum Teil zu unscharfen Grenzen: So werden z.B. neo- (neoliberal, Neomarxismus, Neonazi) und -itis (Bronchitis, Computeritis ‘übermäßige, als ‘krankhaft’ empfundene Betätigung am Computer’, Telefonitis) ‒ dieses Element geht nicht auf ein Lexem, sondern ein griech. Flexiv zurück ‒ auch als Affixe klassifiziert. Neben der Hauptgruppe der exogenen Konfixe stehen nur wenige indigene lexikalische Morpheme, die ebenfalls nur gebunden vorkommen, aber nicht unikal verwendet werden (z.B. Stief-bruder/kind/schwester; Schwieger-mutter/sohn/vater). Diese marginale Gruppe indigener Konfixe unterscheidet sich von den exogenen aber dadurch, dass sie im Rahmen eines Archaisierungsprozesses ihren Status als wortfähiges Morphem verloren haben (stief- schon in vorahd. Zeit) und unproduktiv sind, während die nicht-nativen Konfixe im Rahmen der Fremdwortbildung z.T. Produktivität entwickeln und sich auch in hybriden Bildungen mit indigenen Morphemen verbinden (z.B. Spielothek, Bioschwein, Ökowurst). WSK 2: Konfix

§ 12 Grammatische Morpheme Im Gegensatz zu den lexikalischen Morphemen erfüllen grammatische Morpheme andere Funktionen: Sie haben keine unmittelbare außersprachliche Referenz, sondern wirken wort- bzw. wortformenbildend und syntaktisch verknüpfend, weshalb sie auch als Synsemantika bezeichnet werden. Zu den wortfähigen grammatischen Morphemen zählen die nichtflektierbaren Wortarten Präposition, Konjunktion und Partikel (vgl. dazu § 3), zu den flektierbaren Pronomen (z.B. dies, ich, mein, welch) und Artikel (der, ein). Diese Gruppe ist kaum wortbildungsaktiv (z.B. Aufgeld, Wir-Gefühl, das Entweder-oder). WSK 2: grammatisches Morphem

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 50

§ 13 Affixe Die nicht wortfähigen grammatischen Morpheme heißen Affixe (lat. affigere ‘anheften’, affixus ‘angeheftet’) und werden in Flexionsmorpheme (Flexive) zur Wortformenbildung (z.B. Buch-es, schön-er) und Wortbildungsmorpheme unterteilt. Die Anfügung von Affixen bezeichnet man als Affigierung. Die Subkategorisierung von Affixen ist disparat, und es gibt sehr viele Hyponyme (vgl. Mugdan 2015), darunter Affixe, die für Sprachen wie das Deutsche nicht typisch sind, wie etwa Infixe, die in die Wortbinnenstruktur eingefügt werden (z.B. lat. Verbstamm rup- > rumpo ‘ich breche’ mit Infix m). Für die Wortbildung des Deutschen sind drei Affixgruppen relevant: Präfixe, Suffixe und Zirkumfixe. Die folgende Übersicht umfasst indigene Morpheme. WSK 2: Affix

§ 14 Präfixe Präfixe (lat. praefigere ‘vorne anheften’) stehen links von der Wortbildungsbasis und sind für die Wortarten Substantiv, Adjektiv und Verb charakteristisch: Substantiv: erz- (Erzschurke), ge- (Gestein), haupt- (Hauptdarsteller), miss- (Misserfolg), un- (Unglück), ur- (Ureinwohner) Adjektiv: erz- (erzkonservativ), miss- (misslaunig), un- (ungenau), ur- (uralt) Verb: be- (beladen), durch- (durchtrennen), ent- (entgehen), er- (erblühen), ge- (gefrieren), hinter- (hinterfragen), miss- (missachten), über- (überqueren), um- (umfahren), unter(unterscheiden), ver- (verschlucken), wider- (widersprechen), zer- (zerreißen) WSK 2: Präfix

§ 15 Verbpartikeln Bei den Verben werden für die Wortbildung noch weitere Präelemente verwendet, die hier jedoch nicht den Präfixen zugeordnet sind, da sie morphologisch und syntaktisch trennbar sind und formgleiche Wörter (Präpositionen und Adverbien) neben sich haben. Sie werden als Verbpartikeln bezeichnet und konstituieren die sog. Partikelverbbildung (vgl. § 24). Die Einstufung dieser Elemente sowie die Gliederung nach Subgruppen ist außerordentlich heterogen: Sie werden auch als trennbare Präfixe, Präfixoide, als Erstglieder von Wortzusammensetzungen sowie als Phrasemkomponenten, d.h. als Einheiten mit bzw. ohne Wortstatus klassifiziert (vgl. Donalies 2021: 268‒275), wodurch sich auch Unterschiede hinsichtlich der Zuordnung zu Wortbildungsarten ergeben (vgl. § 24). Im Zentrum steht die Gruppe präpositionsähnlicher Präelemente (vgl. McIntyre 2015; Dehé 2015). Dazu zählen v.a. ab- (abfahren), an- (angeben), auf- (aufsteigen), aus-

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5.2 Bausteine der Wortbildung: Morpheme

(austrinken), bei- (beiwohnen), durch- (durcharbeiten), ein- (einschlagen), mit- (mitmachen), nach- (nachtragen), über- (überreagieren), um- (umsetzen), unter- (untertauchen), vor- (vorschlagen), wider- (widerhallen), zu- (zusagen). Wie die Beispiele durch-, hinter-, über-, um-, unter- und wider- zeigen, sind manche Präelemente sowohl trenn- als auch untrennbar, so dass sie den Präfixen und den Verbpartikeln zuzuordnen sind, wobei sie als Verbpartikeln betont ('umsetzen), als Präfixe aber unbetont (um'fahren) sind. Bei Altmann (2011: 143) sind entsprechende Verben als „Präfixpartikelverben“ klassifiziert. Eine weitere Gruppe der Verbpartikeln bilden adverbiale Präelemente wie her- (herkommen), hin- (hinlegen), oder zusammen- (zusammenlegen). Eine Partikelkombination weisen Doppelpartikelverben (vgl. Mcintyre 2001) auf, die entweder aus der Kombination Doppelpartikel+Verb (z.B. gegenüber+stehen > gegenüberstehen; herbei+rufen > herbeirufen) oder der Kombination Partikel+Partikelverb (z.B. mit+ ansehen > mitansehen, wieder+herstellen > wiederherstellen) gebildet sind. Auch die Kombination mit Präfixen ist möglich (z.B. anerkennen, vorbestellen, zurückversetzen). Einen sehr weiten Begriff von „Verbpartikel“ verwenden Fleischer/Barz (2012: 424‒​ 428), die zusätzlich adjektivische (z.B. festfrieren, freihalten, volltanken) und substantivische (preisgeben, standhalten, teilnehmen) Präelemente miteinbeziehen, wobei die Trennbarkeit das leitende Kriterium ist. WSK 2: Verbpartikel

§ 16 Suffixe Suffixe (lat. suffigere ‘aneinanderheften’) stehen rechts von der Wortbildungsbasis und sind für die Wortarten Substantiv, Adjektiv, Adverb und Verb charakteristisch: Substantiv: -bold (Raufbold), -chen (Hündchen), -de (Beschwerde), -e (Kürze), -(er)ei (Eselei, Sauerei), -el (Deckel), -er (Spieler), -heit/-keit/-igkeit (Torheit, Heiterkeit, Genauigkeit), -i (Grufti), -ian (Grobian), -icht (Dickicht), -in (Dichterin), -lein (Hündlein), -ler (Künstler), -ling (Prüfling), -ner (Rentner), -nis (Finsternis), -o (Brutalo), -(e)rich (Fähnrich, Wüterich), -s (Knicks), -sal (Trübsal), -schaft (Herrschaft), -sel (Mitbringsel), -t (Fahrt), -tel (Zehntel), -tum (Brauchtum), -ung (Sendung) Adjektiv: -bar (machbar), -(e)n/-ern (golden, ledern, hölzern), -fach (fünffach), -haft (damenhaft), -ig (durstig), -isch (hündisch), -lich (menschlich), -los (hoffnungslos), -mäßig (vorschriftsmäßig), -sam (biegsam) Adverb: -dings (neuerdings), -ens (längstens), -halben/-halber (meinethalben, anstandshalber), -lei (mancherlei), -lings (blindlings), -mals (damals), -maßen (bekanntermaßen), -s (abends), -wärts (ostwärts), -weg (schlichtweg), -weise (abschnittsweise, erstaunlicherweise) Verb: -(e)l- (tänz-el-n, fenster-l-n), -(e)r- (einschläf-er-n), -ig- (stein-ig-en) WSK 2: Suffix

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 52

§ 17 Zirkumfixe Zirkumfixe (lat. circumfigere ‘ringsum anheften’) umschließen die Wortbildungsbasis und treten bei den Wortarten Substantiv, Adjektiv und Verb auf: Substantiv: ge-…-e (Gebläse) Adjektiv: ge-…-ig (geräumig), un-…-lich/-bar/-sam (unsäglich, unantastbar, unbeugsam), be-/ge-/ver-…-t (beherzt, genarbt, verkopft) Verb: be-…ig (beaufsichtig-en), ver-…-ig (vergewaltig-en) Da Zirkumfixe eine diskontinuierliche Erst- und Zweitkomponente aufweisen, werden solche Phänomene z.T. nicht als „Zirkumfix“, sondern als „Präfix-Suffix-Kombination“ eingestuft. Einen Sonderfall stellen sog. Pseudopartizipien unter den adjektivischen Zirkumfixbildungen dar (s.o. beherzt, genarbt, verkopft), die formal wie verbale Partizip II-Formen wirken, sich aber keinem Verbparadigma zuordnen lassen. Sie sind aus dem Muster des Partizip II schwacher Verben reanalysiert (vgl. § 39), aber desubstantivisch gebildet. WSK 2: Pseudopartizip; Zirkumfix

§ 18 Affix-Distribution und Produktivität Wie die Zusammenstellung indigener Affixe zeigt, unterscheiden sich die Wortarten hinsichtlich der Affix-Distribution deutlich: Während Substantive und Adjektive nur wenige Präfixe aufweisen, dafür aber eine größere Zahl an Suffixen, sind die Verhältnisse beim Verb genau umgekehrt: Neben zahlreichen Präelementen (Präfixe wie Verbpartikeln) stehen nur wenige Suffixe. Das verbale Infinitivmorphem -en gilt dabei nicht als Wortbildungs-, sondern als Flexionsmorphem, da es nicht Teil des Wortstamms und im Rahmen der Konjugation instabil ist. Die Auffassung, es handle sich um ein „Verbalisierungsmorphem“ mit der Doppelfunktion der Wort- und Wortformenbildung (vgl. Kühnhold/Wellmann 1973: 20ff.) wird heute im Allgemeinen nicht mehr geteilt. Eine Sonderstellung nimmt die Wortbildung des Adverbs ein, da die Verhältnisse hier eindimensionaler sind und die Affigierung nur mit Suffixen erfolgt, die z.T. aus erstarrten substantivischen Flexionsformen entstanden sind (vgl. Heinle 2004). Auch in Bezug auf die Produktivität der Affixe, d.h. ihr Potential für Neubildungen (vgl. Gaeta/Ricca 2015), sind die Unterschiede groß: als besonders produktiv gelten z.B. die substantivischen Suffixe -chen, -er, -erei, -heit/-keit/-igkeit, -in, -lein und -ung, die adjektivischen -bar, -ig, -isch, -lich und -mäßig sowie adverbiales -weise. Weiterhin gehören dazu die Präfixe un- (adjektivisch), be-, ent- und ver- (verbal) sowie viele Verbpartikeln. Die Zirkumfixe sind mit Ausnahme von substantivischem ge-…-e weniger produktiv. Zu den (weitgehend) unproduktiven Affixen zählen u.a. ge-, -de, -sal, -t (Substantiv), -dings, -ens, -lei, -mals, -weg (Adverb) sowie die verbalen Suffixe.

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5.2 Bausteine der Wortbildung: Morpheme

Die Produktivität, die bedingt, dass Affixe Wortbildungsmodelle konstituieren, wird durch verschiedene Faktoren eingegrenzt, die zu einer Blockierung von Neubildungen (vgl. Fleischer/Barz 2012: 77ff.) führen. Solche Restriktionen (vgl. Gaeta 2015) sind v.a. phonologische (Wortakzent, Silbenstruktur), morphologische (Wortart, Morphemstruktur) bzw. semantische Charakteristika der Wortbildungsbasis, aber auch Konkurrenzen zu anderen Bildungstypen. So ist erklärbar, dass Bildungen wie *Gebefehle, *nasig oder *Stehler blockiert sind. WSK 2: Blockierung; Infinitivmorphem; Produktivität; Restriktion; Verbalisierungsmorphem; Wortbildungsmodell

§ 19 Affixoide Die Kategorie Affixoid (Halbaffix) ist in der Wortbildungsforschung umstritten (Überblick bei Schmidt 1987b; Michel 2013). In der Regel werden Affixoide folgendermaßen charakterisiert: Es handelt sich um Morpheme, die zwar in konkreter Bedeutung wortfähig sind, in bestimmten Kontexten aber eine Bedeutungsentkonkretisierung aufweisen, die sie als affixähnlich (affixoid) erscheinen lässt. Hinsichtlich ihrer Position werden dabei Präfixoide und Suffixoide unterschieden. Beispiele sind Affen- (Affenhitze), Bomben- (Bombenstimmung), Riesen- (Riesenüberraschung), -arm (bügelarm), -frei (nikotinfrei), -werk (Buschwerk), -wesen (Verwaltungswesen), in manchen Darstellungen auch die Reihe der trennbaren (v.a. präpositionalen) Verbpartikeln. Problematisch ist aber, dass eine Abgrenzung entsprechender Belege zu den Einheiten Lexem und Affix semantisch nicht immer zu eindeutigen Lösungen führt und mit einer zusätzlichen Morphemkategorie auch das Spektrum an Wortbildungstypen erweitert werden müsste (Affixoidbildung bzw. „lexematische Junktionsbildung“ bei Fandrych 2011: 142 für adjektivische Elemente wie -frei oder -arm). Aus diesen Gründen wird hier keine Wortbildungsart Konfixbildung angesetzt, sondern von „lesartenspezifischen Stämmen“ (Fleischer/Barz 2012: 61) ausgegangen. Lediglich dann, wenn eine deutliche Homonymie zwischen wortfähiger und wortgebundener Form besteht, wie etwa bei mäßig ‘nicht in hohem Maß, wenig befriedigend’ vs. -mäßig ‘entsprechend, vergleichend’ (z.B. gefühlsmäßig, fahrplanmäßig) erscheint ein Affixstatus als plausibel. WSK 2: Affixoid; Präfixoid; Suffixoid

§ 20 Fugenelemente Bei Fugenelementen (Interfixen) handelt es sich um Segmente, die an der Verbindungsstelle (Fuge) zwischen Erst- und Zweitelementen von Wortbildungen eingefügt sind. Je nach der vorliegenden Wortbildungsart (vgl. Abschnitt 3), kann man Kompositionsfugen

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 54

(Lexem+Lexem: Arbeit-s-zeit) von Derivationsfugen (Lexem+Suffix: frühling-s-haft) unterscheiden, wobei erstere sehr deutlich überwiegen. Folgende neun Fugenelemente sind für das Deutsche charakteristisch: -s- (Alter-s-vorsorge), -es- (Tag-es-ausflug), -er- (Kind-er-garten), -n- (Sonne-n-schirm), -en- (Geburt-en-kontrolle), -ens- (Schmerz-ens-geld), -ns- (Glaube-ns-frage). Die Mehrzahl deutscher Komposita ist fugenlos (Nullfuge: Mutter-tag, teils mit subtraktivem Erstelement: Himbeer-eis), ihre Zahl beträgt im Korpus von Ortner et al. (1991) 73,8%. Die häufigste Fuge ist dort -s- (14,8%). In der Literatur zu Fugenelementen (vgl. z.B. Fuhrhop 1998, Fuhrhop/Kürschner 2015, Kopf 2018, Szczepaniak 2020) besteht über den Status dieser Segmente keine Einigkeit, was sich an der Differenzierung zwischen paradigmatischen und unparadigmatischen Fugenelementen festmachen lässt: Paradigmatische sind formal identisch mit Flexiven der Erstelemente (z.B. Plural Kinder: Kind-er-spiel; Genitiv Singular Kindes: Kindes-wohl), unparadigmatische dagegen nicht (Arbeit ohne Flexiv -s im Paradigma, aber: Arbeit-s-tag). Historisch gesehen sind die paradigmatischen Fugenelemente älter und aus Themavokalen, v.a. aber aus Flexiven entwickelt (weshalb z.B. -en- in Schwan-en-hals synchron unparadigmatisch, diachron aber paradigmatisch ist als Flexiv des ehemals schwach flektierten Maskulinum Schwan). Die eine Sichtweise ist, dass man alle paradigmatischen Fugenelemente als Flexive betrachtet und nur unparadigmatische als Fugenelemente ohne Morphemcharakter (vgl. Donalies 2021: 59-72). Alternativ werden aber auch die paradigmatischen, mit Flexiven formgleichen, aber als homophon betrachteten Segmente als Fugenelemente klassifiziert (vgl. z.B. Fleischer/Barz 2012: 66f.), da sie semantisch-funktional z.T. abweichen (z.B. Bischof-s-konferenz: morphologisch Singular, semantisch Mehrzahl; Gäns-e-braten: morphologisch Plural, semantisch Einzahl). Der Gebrauch von Fugenelementen ist abhängig von der Laut-, Silben- und Wortbildungsstruktur der Erstglieder, ist aber nicht strikt geregelt. Zu ihren Funktionen zählen etwa die rhythmische Optimierung der Erstglieder (z.B. Frau > trochäische Struktur Frau-en-schuh) sowie die Markierung von Morphemgrenzen komplexer Komposita (z.B. Hof-mauer vs. Friedhof-s-mauer). Zum Teil bestehen regionale Differenzen der Verfugung (vgl. Schwein-e-braten vs. österr. Schwein-s-braten; Bad-e-meister vs. schweiz. Bad-meister). WSK 2: Derivationsfuge; Fuge; Fugenelement; Fugenvariation; Kompositionsfuge; leeres Affix; paradigmatisches Fugenelement; unparadigmatisches Fugenelement

5.3 Wortbildungsarten § 21 Klassifikationsprinzipien Als Wortbildungsarten bezeichnet man die verschiedenen Verfahren zur Bildung von Wörtern. Die Frage, wieviele Wortbildungsarten man für eine Sprache unterscheidet, wie weit oder eng man Wortbildungsarten fasst und wie man die einzelnen Formen benennt,

55 5.3 Wortbildungsarten

ist uneinheitlich geregelt. Im Folgenden werden acht Wortbildungsarten unterschieden, die in Abbildung 2 mit Untergruppen aufgelistet sind. Grundsätzlich für die Zuordnung ist dabei die Differenzierung zwischen Wortbildungen mit bzw. ohne „UK-Struktur“. Wortbildungen mit UK-Struktur sind in der Regel binär und ermöglichen eine Analyse in zwei unmittelbare Konstituenten: Haus+tür, Strich+punkt, ver+blüh-, stein+ig, tänz+(e)l-, an+brenn-. Dieses Kriterium erfüllen fünf Wortbildungsarten: Komposition, Derivation, Partikelverbbildung und ‒ als Sonderfälle ‒ Wortkreuzung (z.B. Bistro-rant < Bistro+Restaurant) und Reduplikation (z.B. Wirrwarr). Wortbildungen ohne UK-Struktur sind dagegen nicht durch die Kombination sprachlicher Einheiten geprägt, sondern durch die syntaktische Umsetzung bzw. Kürzung von Lexemen. Zu dieser Gruppe gehören die Wortbildungsarten Konversion (z.B. Treff < treff(en)), Rückbildung (z.B. notland(en) < Notlandung) und Kurzwortbildung (z.B. FAZ < Frankfurter Allgemeine Zeitung). Im Folgenden werden zunächst die Wortbildungsarten mit UK-Struktur (Komposition, Derivation, Partikelverbbildung, Wortkreuzung, Reduplikation) dargestellt, anschließend diejenigen ohne UK-Struktur (Konversion, Rückbildung, Kurzwortbildung). Wortbildungsarten

Mit UK-Struktur

Ohne UK-Struktur

Mit Wortartwechsel Ohne Wortartwechsel

Partikelverbbildung

Komposition

Reduplikation Wortkreuzung

→ Determinativkompositum

→ Einfache Doppelung

→ Kopulativkompositum

→ Reimdoppelung → Ablautdoppelung

→ Konfixkompositum

→ Partielle Iteration

→ fusioniert → sequenziell → integrativ

Derivation → Präfixderivation → Suffixderivation → Zirkumfixderivation → Konfixderivation

Rückbildung Konversion → Syntaktische Konversion → Morphologische Konversion

Kurzwortbildung Multisegmentale KW: → Buchstabenkurzwörter → Silbenkurzwörter → Mischkurzwörter Unisegmentale KW: → Kopf-/Rumpf-/ Endwort Partielle Kurzwörter

Abb. 2: Wortbildungsarten

WSK 2: unmittelbare Konstituente; Wortbildungsart; Wortbildungstypologie

§ 22 Komposition Als Komposition bzw. Zusammensetzung (Überblick bei Ortner/Ortner 1984; Lindner 2011–18, 2019; Olsen 2015) bezeichnet man Morphemkonstruktionen, die prototypisch

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 56

Lexemkombinationen darstellen. Beispiele für Komposita sind Haustür, Briefmarkengeschäft, Rotkehlchen, siegessicher, süßsauer. Nach dem jeweiligen semantischen Verhältnis der UKs lassen sich zwei Subtypen unterscheiden, Determinativkomposita und Kopulativkomposita. Bei Determinativkomposita besteht ein hypotaktisches Verhältnis zwischen dem Erstglied (Determinans, Bestimmungswort) und dem Zweitglied (Determinatum, Grundwort). Das Bestimmungswort spezifiziert/subkategorisiert die durch das Grundwort festgelegte Bezeichnungsklasse, vgl. die Beispiele Lesebuch, Schmerzensgeld, grasgrün, hellbraun. Während das Zweitglied ein Lexem darstellt und morphosyntaktisch als Kopf fungiert, also z.B. bei Substantiven Genus und Flexionsklasse festlegt (vgl. das Lesebuch/die Lesebücher), ist das Erstglied zwar in der Regel ein Lexem ‒ zumeist Substantive wie Schmerz oder Gras, Adjektive wie hell und Verben wie les-, aber nicht ausschließlich. Folgende Kombinationen der Wortarten Substantiv, Adjektiv, Verb und Adverb zeigen dies: Substantiv+Substantiv: Haustür Adjektiv+Substantiv: Schnellzug Verb+Substantiv: Waschmittel Adverb+Substantiv: Sofortmaßnahme Präposition+Substantiv: Beiwort Pronomen+Substantiv: Wir-Gefühl Syntagma+Substantiv: Vier-Augen-Gespräch Satz+Substantiv: Du-hörst-mir-nie-zu-Vorwurf Buchstabe+Substantiv: O-Beine Substantiv+Adjektiv: altersschwach Adjektiv+Adjektiv: altklug Verb+Adjektiv: denkfaul Pronomen+Adjektiv: selbstsicher Adverb+Adjektiv: linksliberal Präposition+Adjektiv: vorlaut Verb+Verb: grinskeuchen Adverb+Adverb: dahin Präposition+Adverb: vorgestern Adjektiv+Adverb: weithin Adverb+Präposition: danach Hinsichtlich der Frequenz der unterschiedlichen Kombinationen bestehen allerdings große Unterschiede: Am oberen Rand der Skala stehen Substantiv+Substantiv-Verbindungen sowie ‒ mit Abstand ‒ Verbindungen von Adjektiv+Substantiv, Verb+Substantiv, Substantiv+Adjektiv, Adjektiv+Adjektiv und Syntagma+Substantiv (Phrasenkomposita). Am unteren Rand finden sich kaum produktive Kombinationen wie die Pronomen+Adjektiv- bzw. Verb+Verb-Verbindungen. Einen Sonderfall bilden Konfixkomposita (z.B. Bibliothek, Chemotherapie), die für die Fremdwortbildung charakteristisch sind (vgl. Abschnitt 5).

57 5.3 Wortbildungsarten

Die Entstehung von Komposita erfolgt auf verschiedene Art und Weise: 1. Kontext- bzw. musterwortunabhängig durch Anwendung der kompositionellen Regeln (z.B. Familiendrücker als okkasionelle Bildung für die Beschreibung der Umarmung von Familienmitgliedern). Diese Variante ist gegenwartssprachlich dominant. 2. Univerbierung (Juxtaposition) von zwei syntaktisch in Kontaktstellung stehenden Lexemen (z.B. frnhd. der sonnen [pränukleares Genitivattribut] schein [Nukleus] > Determinativkompositum Sonnenschein). Univerbierung wird z.T. als eigene Wortbildungsart eingestuft (vgl. Donalies 2018). Da bei Komposita synchron keine eindeutige Unterscheidung zwischen Regelbildung und Univerbierung möglich ist, werden solche Fälle hier der Komposition (z.B. Sonnenschein) bzw. Konversion (z.B. Dreikäsehoch) zugeschlagen. Auch der unscharf gebrauchte Terminus Inkorporation (vgl. Haugen 2015), der z.B. bei Eichinger (2000: 156ff.) in Verbindung mit Univerbierung gestellt und für Rektionskomposita mit Valenzvererbung (z.B. Vorgang, dass jmd. Kinder erzieht > Kindererziehung), Adjektivkomposita wie salzhaltig (das Wasser enthält Salz > ist salzhaltig) bzw. Partikelverben wie umfahren (um eine Stadt fahren > eine Stadt umfahren) verwendet ist, wird nicht als eigene Wortbildungsart klassifiziert. 3. Analogie: Analogie (vgl. Arndt-Lappe 2015; Mattiello 2017) wird z.T. auf Fälle von einzelmusterwortbezogenen Proportionalanalogien begrenzt (z.B. Hausfrau > Hausmann; Frühstück > Spätstück). Dagegen fassen neuere gebrauchs-, analogie- bzw. exemplarbasierte Theorien den Begriff weiter und gehen davon aus, dass alle morphologischen Prozesse analogischer Natur sind (vgl. Becker 1990). Nach dieser Auffassung beeinflussen Gruppen von Wörtern („Gangs“) mit unterschiedlichem Ähnlichkeitsgrad (vgl. ArndtLappe 2014) die Entstehung neuer Wörter (vgl. § 4). Während mit den bisher genannten Beispielen endozentrische Komposita vorliegen, bei denen das Bezeichnete mit der Bedeutung des Zweitglieds identisch ist (eine Haustür ist eine Tür, ein Sternekoch ist ein Koch), ist dies bei exozentrischen Determinativkomposita anders: Zu dieser Sondergruppe (z.B. Vormittag ‘Zeit vor Mittag’) gehören überwiegend Possessivkomposita, die v.a. Personen, Tiere und Pflanzen nach einem charakteristischen Merkmal bezeichnen, das sie besitzen: Beispiele sind Rotkehlchen (‘Vogel, der ein rotes Kehlchen hat’), Langbein, Löwenzahn, Graukopf, Weißkittel. Solche Komposita, für die auch der aus der altindischen Grammatik stammende Terminus Bahuvrīhi (‘viel Reis (habend)’) verwendet wird, sind also keine Hyponyme ihrer Kopfkonstituente. Zur Wortbildung zählen solche Bildungen nur dann, wenn sie direkt in possessiver Funktion gebildet sind. In einigen Fällen liegt aber keine Wort-, sondern Bedeutungsbildung als Ergebnis einer Metonymisierung vor (vgl. Gestern sprach ich wieder mit dem Langmantel (‘Person, die einen Langmantel trägt’)). Im Gegensatz zu Determinativkomposita weisen die deutlich weniger frequenten Kopulativkomposita ein parataktisches (appositionell-koordinierendes) Verhältnis zwischen Erst- und Zweitglied auf. Dies impliziert, dass beide Kompositionsglieder der gleichen Wortart angehören, häufig zudem auch der gleichen Bezeichnungsklasse: bittersüß, nasskalt, taubstumm, fünfzehn, Österreich-Ungarn, Strichpunkt, Dichterkomponist, Spielertrainer, Autor-Verleger. Aus diesem Grund ist es auch möglich, nicht nur binäre,

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sondern auch drei- oder mehrteilige koordinative Komposita zu bilden (schwarz-rot-gold, Spieler-Trainer-Manager). Bei den meisten Kopulativkomposita handelt es sich um exozentrische Bildungen, bei denen weder das Erst- noch das Zweitglied die ganze Wortbildung repräsentieren kann (Strichpunkt, taubstumm, fünfzehn). Die wenigen endozentrischen Kopulativkomposita zeigen dagegen ein appositionelles Verhältnis der UKs, die zwei Seiten eines Denotats bezeichnen (Spielertrainer, Dichterkomponist). Während die Existenz adjektivischer Kopulativkomposita nicht angezweifelt wird (im Korpus von Pümpel-Mader et al. 1992 beträgt ihr Anteil an den adjektivischen Komposita rund ein Viertel), gelten substantivische und verbale bei einigen Autoren als fragwürdig (vgl. Breindl/Thurmair 1992; Donalies 1996). Allerdings wird diese Auffassung in der Forschung mehrheitlich nicht geteilt (vgl. z.B. Olsen 2001). Auch Fleischer/Barz (2012: 85) halten daran fest, auch wenn „koordinativ interpretierbare“ Substantive (s.o.) und die wenigen verbalen Komposita, die v.a. fach- bzw. literatursprachlich genutzt werden (z.B. presspolieren, spritzgießen, rührbraten, grinskeuchen, sprechsingen), „in der Regel auch eine determinative Lesart“ zulassen (z.B. Autor-Verleger: ‘Person, die Autor und Verleger ist’ vs. ‘Verleger, der auch Autor ist’). In der Frage, wie weit man die Gruppe der Verbkomposita fasst, besteht keine Einigkeit. Während sie bei Fleischer/Barz (1992: 295ff.) auch Bildungen mit Substantiven, Adjektiven, Adverbien und Verben als trennbaren Erstgliedern inkludiert, ist sie in der aktuellen Auflage (2012: 440f.) auf Bildungen aus Verbstamm+Verb (z.B. grinskeuchen) beschränkt, wobei die Untrennbarkeit des Erstglieds nun das entscheidende Kriterium darstellt und die anderen Fälle ‒ ebenfalls nicht unproblematisch ‒ den Partikelverbbildungen zugeordnet sind. Insgesamt sind Komposita vor allem für Substantive und Adjektive charakteristisch, wobei der Strukturtyp N+N (Hundeglück) an der Spitze aller Wortbildungsmodelle des Deutschen steht. Dieser Typ weist auch die Beispiele mit den umfangreichsten Wortbildungen auf (z.B. hochgradig polymorphemische Komposita wie Berufsausbildungsförderungsgesetz, Fußballweltmeisterschaftsendrundenteilnahme), wobei teils das Erstglied umfangreicher ist (Linksverzweigung; z.B. Bundesliga-spiel), teils das Zweitglied (Rechtsverzweigung; z.B. Eierschalen-sollbruchstellenverursacher). Eine detaillierte Darstellung substantivischer und adjektivischer Komposita des Deutschen bieten Ortner et al. (1991) bzw. Pümpel-Mader et al. (1992). WSK 2: additives Ko-Kompositum; Analogie; appositionelles Kompositum; attributives Kompositum; Bestimmungswort; Determinans; Determinativkompositum; Determinatum; eigentliches Kompositum; endozentrisches Kompositum; exozentrisches Kompositum; exozentrisches Verb-Nomen-Kompositum; Grundwort; Inkorporation; Inversionskompositum; Juxtaposition; Ko-Kompositum; Komposition; Kompositum; Kopf; Kopulativkompositum; Linksköpfigkeit; Linksverzweigung; Nomen+Nomen-Kompositum; nominales Rektionskompositum; Partizipialkompositum; Phrasenkompositum; Possessivkompositum; Rechtsköpfigkeit; Rechtsverzweigung; righthand head rule; synthetisches Kompositum; uneigentliches Kompositum; Univerbierung

59 5.3 Wortbildungsarten

§ 23 Derivation Als Derivation bzw. Ableitung (Überblick bei Spencer 2015; Szigeti 2017) bezeichnet man Morphemkonstruktionen, bei der eine unmittelbare Konstituente ein Wortbildungmorphem darstellt. Im Deutschen stehen dafür Präfixe (§ 14), Suffixe (§ 16) und Zirkumfixe (§ 17) zur Verfügung. Dementsprechend ergeben sich die Untergruppen der Präfixderivation, Suffixderivation und Zirkumfixderivation: Präfix+Substantiv: Erzschurke, Gestein, Hauptdarsteller, Misserfolg, Unglück, Ureinwohner Präfix+Adjektiv: erzkonservativ, misslaunig, ungenau, uralt Präfix+Verb: beladen, durchtrennen, entgehen, erblühen, gefrieren, hinterfragen, missachten, überqueren, umfahren, unterscheiden, verschlucken, widersprechen, zerreißen Substantiv+Suffix: Raufbold, Hündchen, Beschwerde, Kürze, Sauerei, Deckel, Spieler, Torheit, Grufti, Grobian, Dickicht, Dichterin, Hündlein, Künstler, Prüfling, Rentner, Finsternis, Wüterich, Knicks, Trübsal, Herrschaft, Mitbringsel, Fahrt, Zehntel, Brauchtum, Sendung Adjektiv+Suffix: machbar, hölzern, fünffach, damenhaft, durstig, hündisch, menschlich, hoffnungslos, vorschriftsmäßig, biegsam Adverb+Suffix: neuerdings, längstens, anstandshalber, mancherlei, blindlings, damals, bekanntermaßen, abends, ostwärts, schlichtweg, erstaunlicherweise Verb+Suffix: fensterln, einschläfern, steinigen Substantiv+Zirkumfix: Gebläse Adjektiv+Zirkumfix: geräumig, unsäglich, unantastbar, unbeugsam, beherzt, genarbt, verkopft Verb+Zirkumfix: beaufsichtigen, vergewaltigen Als Basen fungieren Lexeme, Syntagmen und ‒ in der Fremdwortbildung ‒ Konfixe. Wie diese Übersicht zeigt (vgl. auch § 14, 16, 17), ist der Anteil an Suffixen (51) deutlich höher als an Präfixen (19) und Zirkumfixen (10). Während alle Suffixe wortartspezifisch sind, gibt es Präfixe, die für die Derivation von Substantiven und Adjektiven (erz-, miss, un-, ur-) bzw. Substantiven, Adjektiven und Verben (miss-) verfügbar sind. Die Suffixderivation ist die nominale bzw. adverbiale Domäne, die Präfixderivation die verbale. Im Unterschied zur Komposition, die nicht wortartverändernd wirkt, sondern nur modifizierend ist, sind bei der Derivation mehrere Affixe auch wortartverändernd. So sind substantivische Suffixe mit Basisadjektiven (Schönheit) und Basisverben (Prüfling) kombiniert, adjektivische mit Basissubstantiven (hölzern) und Basisverben (machbar), verbale mit Basissubstantiven (ängstigen) und Basisadjektiven (blödeln), adverbiale mit Basissubstantiven (anstandshalber) und Basisadjektiven (erstaunlicherweise). Dazu zählen auch verbale Präfixe (z.B. bedachen, entkernen, verschönern), die bei Fleischer/Barz (1992: 46) als Sonderfälle eingestuft und als „Präfixkonversion“ (kombinatorische Derivation) bezeichnet sind. Der Einschätzung dieser Bildungsweise als kombinatorischer Wortbildungsprozess (Konversion+Derivation) liegt die Auffassung zugrunde, dass Präfi-

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xe entsprechend der sog. righthand head rule keine Köpfe von Wortbildungen darstellen, was aber umstritten ist (vgl. Olsen 1991). In der aktuellen Auflage verzichten Fleischer/ Barz (2012) auf den Terminus Präfixkonversion und ordnen entsprechende Bildungen der Präfixderivation zu. Weitere Abgrenzungsprobleme ergeben sich erstens im Hinblick auf die Annahme von Affixoiden (vgl. § 19), was ‒ bei einer Eingliederung in die Derivation ‒ den Bestand an Wortbildungsmorphemen beträchtlich erhöhen würde, und zweitens hinsichtlich der Klassifikation von Bildungen mit der Struktur Wortgruppe+Suffix, die hier als Wortgruppenderivation behandelt sind, in anderen Darstellungen aber als Zusammenbildung bzw. synthetisches Kompositum benannt und als Derivation oder Komposition klassifiziert sind (Überblick bei Leser 1990; Neef 2015; Olsen 2017). Es handelt sich dabei vor allem um Bildungen mit den Suffixen -er (Dickhäuter, Machthaber) und -ig (blauäugig, grauhaarig). Gegen die Analyse als Komposita spricht, dass den Elementen *häuter, *haber, *äugig und *haarig kein Lexemstatus zukommt, gegen Derivation, dass die Wortverbindungen Dickhäut, Machthab, blauäug und grauhaar formal nur als Bestandteil dieser Bildungen vorkommen, aber nicht als freies Syntagma. Keine der beiden Lösungen ist ganz überzeugend, die Einordnung als Komposition bzw. Derivation ein Kompromiss. Einen detaillierten und systematischen Überblick über die verbale, substantivische und adjektivische Derivation des Deutschen bieten die Darstellungen von Kühnhold/ Wellmann (1973), Wellmann (1975) und Kühnhold/Putzer/Wellmann (1978). WSK 2: Affixoid; Basis; Derivat; Derivation; Derivationsmorphem; Derivationssuffix; explizite Derivation; Konfix; Präfix; Präfixderivat; Präfixkonversion; Pseudopartizip; righthand head rule; synthetisches Kompositum; Zirkumfigierung; Zirkumfix; Zusammenbildung

§ 24 Partikelverbbildung Zur Partikelverbbildung (vgl. Olsen 1996; Kauffer/Métrich 2007; McIntyre 2015) zählen Verben mit einem morphologisch und syntaktisch trennbaren Präelement, den verbalen Partikeln (§ 15). Die Grenzziehung ist allerdings unscharf, wobei ein gewisser Konsens darin besteht, präpositionsähnliche Präelemente (Präpositionen/Adverbien) als prototypische Verbpartikeln zu betrachten. In der folgenden Übersicht sind entsprechende Elemente aus Fleischer/Barz (2012: 396‒424) zusammengestellt. 1. Präpositionale Verbpartikeln: ab- (abfahren), an- (angeben), auf- (aufsteigen), aus- (austrinken), bei- (beiwohnen), durch- (durcharbeiten), ein- (einschlagen), gegen- (gegenlesen), hinter- (hinterfragen), mit(mitmachen), nach- (nachtragen), über- (überreagieren), um- (umsetzen), unter- (untertauchen), vor- (vorschlagen), wider- (widerhallen), zu- (zusagen), zwischen- (zwischenparken). 2. Adverbiale Verbpartikeln: da- (dalassen), her- (herkommen), heraus- (herauskommen), herum- (herumnörgeln), herunter- (herunterkommen), hin- (hinfahren), hinauf- (hinaufsteigen), hinaus- (hinaus-

61 5.3 Wortbildungsarten

führen), hinweg- (hinwegsehen), los- (losfahren), weg- (wegziehen), zurück- (zurückfahren), zusammen- (zusammensetzen) Für alle diese Präelemente gilt, dass sie anders als Präfixe morphologisch und syntaktisch trennbar sind und die Erstbetonung tragen. Dies gilt allerdings auch für entsprechende substantivische und adjektivische Erstglieder (z.B. preisgeben, teilnehmen; fertigstellen, freihalten), weshalb auch diese bei Fleischer/Barz (2012: 424ff.) als Verbpartikeln gewertet sind. Auch Altmann (2011: 158ff.) verfährt so, unterscheidet sie als „Pseudokomposita“ aber von den präpositionsähnlichen Verbpartikeln. Verzichtet man auf die Wortbildungsart „Partikelverbbildung“, ergeben sich folgende Alternativen: Wenn man trotz der Trennbarkeit des Präelements am Wortbildungsstatus festhalten will, ist ‒ bei einem weiten Präfixbegriff mit untrennbaren und trennbaren Untergruppen ‒ für Bildungen mit präpositionsähnlichen Präelementen eine Klassifikation als Präfixderivation möglich, für solche mit substantivischen, adjektivischen und adverbialen Präelementen dagegen aus semantischen Gründen (lexikalische Morpheme) als Komposition. Dieser Weg ist z.B. bei Fleischer/Barz (1995) gewählt, wurde aber dann aufgegeben (2012). Wertet man aber einen stabilen Wortstatus als entscheidendes Kriterium für Wortbildungseinheiten, dann ist eine Klassifikation als syntaktische Einheit (Phrasem) die Alternative, die z.B. Lüdeling (2001: „lexicalized phrasal construction“) und Hüning/Schlücker (2015: „multi-word expression“) wählen. Aber auch diese Sicht birgt Untiefen, denn Formen wie aufhübschen, ausufern oder anecken enthalten Zweitelemente, die als Verben nicht usuell sind. Die Verbwortbildung enthält viele Grauzonen, ihre Behandlung erfolgt heterogen. WSK 2: Doppelpartikel; Doppelpartikelverb; Partikelpräfixverb (1); Partikelpräfixverb (2); Partikelverb; Verbpartikel

§ 25 Wortkreuzung Wortkreuzung (u.a. auch Kontamination, Wortverschmelzung, engl. blending; Überblick bei Müller/Friedrich 2011; Fradin 2015) ist eine kombinatorische Wortbildungsart sui generis, bei der gleichzeitig additive und subtraktive Operationen stattfinden (z.B. Haarmonie < Haar+Harmonie, Bankfurt < Bank+Frankfurt). Es werden mindestens zwei Basiselemente zu einer neuen ausdrucks- und inhaltsseitigen Einheit verbunden, wobei an wenigstens einer der Stellen, an denen die Basiselemente aufeinandertreffen, eine Kürzung erfolgt, die nur zum Teil an Lexem-, Morphem- oder Silbengrenzen ausgerichtet ist. Aus diesem Grund ist es nicht sinnvoll, Wortkreuzungen als Sonderfall der Komposition bzw. Kurzwortbildung zu klassifizieren. Es handelt sich v.a. um ein parole-Phänomen expressiver Wortbildung (dazu Scherer 2019) mit einer Vielzahl an vorwiegend substantivischen okkasionellen Bildungen, die sprachspielerisch-auffällig sind, von der Wortbildungsnorm abweichen und texsortenspezifisch sind (v.a. Massenmedien, Werbung,

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 62

Belletristik, Szene-, Trend- und Fachsprachen). Nur wenige Bildungen sind lexikalisiert (z.B. Denglisch, jein, Ostalgie, verschlimmbessern). Für Wortkreuzungen besteht nicht nur eine große terminologische, sondern auch eine klassifikatorische Divergenz. Die folgende Gliederung in Subtypen erfolgt nach Müller/Friedrich (2011) auf der Basis einer Auswertung von gut 1.500 Bildungen. Unterschieden werden drei phonetische Grundtypen: fusionierte, sequenzielle und integrative Wortkreuzungen: 1. Fusionierte Kontaminate: Fusionierte Bildungen liegen dann vor, wenn an der Verbindungsstelle eine Überlappung besteht, wobei entweder das erste, das zweite, keines oder beide Basiselemente gekürzt sind: A(X)B (elefantastisch < Elefant+fantastisch, Frostsee < Frost+Ostsee); a(X)B (akadämlich < akademisch+dämlich, Besserwessi < Besserwisser+Wessi); A(X)b (Bankfurt < Bank+Frankfurt, Fairkehr < fair+Verkehr); a(X)b (Birnane < Birne+Banane, brillig < Brille+billig). 2. Sequenzielle Kontaminate: Diese Bildungen weisen im Gegensatz zu den fusionierten Wortkreuzungen an der Verbindungsstelle der Basiselemente keine Überlappung auf, da hier die Wortbildungsbasen als eigene Formativsequenzen aneinandergereiht, aber nicht überschichtet sind: Hier gibt es nur drei Unterklassen, weil die Struktur A B (ohne Kürzung der Basen) der Komposition entspricht: a B (Jenoptik < Jena+Optik, Sehnflucht < Sehnsucht+Flucht); A b (Kadettillac < Kadett+Cadillac, Quizionär < Quiz+Millionär); a b (Büsco < Büro+Disco, Genschman < Genscher+Superman). 3. Integrative Kontaminate: Bei diesem weniger häufigen Typ ist das zweite Basiselement in das erste integriert und wird von diesem umschlossen. Dabei muss an mindestens einer der beiden Verbindungsstellen eine Kürzung vorliegen. Für diese Kontaminate gibt es sehr viele Gestaltungsformen, dazu folgende Beispiele: anbahndeln (< anbandeln+Bahn), Norbärt (Norbert+Bär), Alumüllium (< Aluminium+Müll), KauderWebsch (Kauderwelsch+Web). Bei den Basissegmenten, aus denen die Wortkreuzungen bestehen, handelt es sich nur in wenigen Fällen um Elemente mit Morphemstatus, weshalb hier z.T. auch von extragrammatischer Morphologie die Rede ist (vgl. Fradin 2015). Es überwiegen Wortsplitter aus Einzellauten und Phonemfolgen, wobei Regelformulierungen schwierig sind. Kontaminate müssen nur den phonotaktischen Regeln des Deutschen entsprechen. Der Grad der Verständlichkeit der Bildungen ist abhängig von der Struktur (ungekürzte A- bzw. B-Konstituenten erhöhen die Durchsichtigkeit), aber auch vom Welt- und Kontextwissen. Ebenso wie bei Komposita lassen sich endozentrische und exozentrische sowie determinative und koordinative Bildungen unterscheiden, wobei vier Varianten vorkommen: endozentrisch-determinativ (Samstalk ‘Talk am Samstag’), endozentrisch-koordinativ (komfagil ‘Charakterisierung des Nissan Micra als komfortabel und agil’), exozentrischdeterminativ (Sexklusiv ‘Name eines Erotikshops, der damit wirbt, in Bezug auf Sex exklusiv zu sein’), exozentrich-koordinativ (Birnane ‘Name eines Getränks, das 30% Fruchtsaftgehalt aus Birnen und Bananen enthält’). Außer den phonetischen Wortkreuzungen sind auch graphische Bildungen in Gebrauch, die nur im Schriftbild als Kontaminate zu erkennen sind. Dazu gehören z.B.

63 5.3 Wortbildungsarten

Abitour (< Abitur+Tour), effektief (< effektiv+tief), internett (Internet+nett), Ohrakel (< Ohr+Orakel), Reclamation (< Reclam+Reklamation) und Seensucht (< See+Sehnsucht). WSK 2: Kontamination

§ 26 Reduplikation Reduplikation (lat. reduplicatio ‘Verdoppelung, Wiederholung’) ist eine Wortbildungsart, bei der Konstituenten einer lexikalischen Ausgangseinheit (Wörter bzw. Wortsegmente) in gleicher oder modifizierter Form wiederholt werden. Im Deutschen ist Reduplikation (vgl. Bzdęga 1965; Wiese 1990; Schindler 1991) ein nur wenig produktives Verfahren, das für den Substandard charakteristisch ist. Vor allem im außereuropäischen Bereich zeigt sich dagegen eine zum Teil sehr hohe Produktivität (vgl. Schwaiger 2015). Eine einheitliche Abgrenzung des Gegenstandsbereichs besteht nicht (vgl. Bzdęga 1965; Wiese 1990; Schindler 1991). Nach der obigen Bestimmung ist Voraussetzung für die Klassifikation als Reduplikation, dass (1) nur ein Element die Wortbildungsbasis darstellt und (2) es sich dabei um ein Lexem handelt. Die erste Bedingung führt zu einem Ausschluss von Komposita mit lexemdifferenter Struktur sowie Kontaminationen, die zweite zur Ausgrenzung von Wortschöpfungen (z.B. Dingdong, Kuckuck, Pipi, Techtelmechtel). Hier gibt es eine Grauzone, denn für einige Bildungen ist nicht sicher, ob sie aus einem Lexem gebildet sind oder nicht (z.B. Heckmeck, eine nach DUW: 813 ‘wohl affektive Doppelung (mit Anschluss an meckern)’). Die durch Reduplikation entstandenen Wortbildungen (Reduplikate) lassen sich unterteilen in solche mit totaler Reduplikation, bei der die Basis vollständig redupliziert ist (z.B. soso, klein-klein, Effeff) und partieller Reduplikation, bei der die Abfolge zwischen Basis und reduplizierten Teil (Reduplikand) unterschiedlich ist (Reduplikand+Basis: Krimskrams < Kram; Basis+Reduplikand: Singsang < singen). Folgende Bildungstypen können differenziert werden (vgl. auch Schindler 1991: 589; Barz 2016: 683f.): 1. Einfache Doppelung (totale Reduplikation): Film-Film, klein-klein, soso, Ururgroßvater holterdipolter (< poltern), Kuddelmuddel (< ndt. koddeln ‘nachlässig 2. Reimdoppelung:  waschen’), Schickimicki (< schick) Krimskrams (< Kram), Mischmasch (< mischen), Singsang (< sin3. Ablautdoppelung:  gen), wirrwarr (< wirr) 4. Partielle Iteration: bimmelimmelimm (< bimmeln), klickicklick (< klick) Über die Klassifizierung einfacher Doppelungen als „Reduplikation“ besteht kein Konsens. Vor allem Substantive wie Film-Film oder Mädchen-Mädchen werden z.T. auch als „Selbstkomposita“ der Komposition subsumiert. Bei Bildungen mit Fugenelementen (z.B. Brückenbrücke, Bücherbuch, Vereinsverein; vgl. Günther 1981: 270ff.) ist der Status als Kompositum allerdings deutlicher.

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 64

Bei der Ablautdoppelung spielt der Wechsel i > a eine besonder Rolle, bei der partiellen Iteration ist ein Segment mehrmals wiederholt. Insgesamt haben Reduplikationen im Deutschen im Vergleich zu allen anderen Wortbildungsarten den weitaus geringsten Anteil, ihre Frequenz liegt noch weit unter der von Wortkreuzungen. WSK 2: Iteration; Reduplikation; Selbstkompositum

§ 27 Konversion Als Konversion bezeichnet man im weitesten Sinn die syntaktische Transposition von Wörtern, Wortgruppen und Sätzen, wobei der Wortartwechsel ohne Derivationsaffixe erfolgt. Der Terminus wird in seiner Extension nicht einheitlich verwendet (vgl. Vogel 1996; Valera 2015), und es existieren für bestimmte Submodelle auch andere Bezeichnungen (s.u.). Die folgende Übersicht geht von einem weiten Konversionsbegriff aus (z.B. Fleischer/Barz 2012: 87ff.): (1) Verb > Substantiv: Infinitivkonversion: essen > das Essen; Verbstammkonversion: schlafen > der Schlaf, werfen > der Wurf (2) Adjektiv > Substantiv: fremd > ein Fremder, blau > das Blau (3) Partizip > Substantiv: angestellt > ein Angestellter, reisend > der Reisende (4) andere Wortarten > Substantiv: das Nein, ohne Wenn und Aber, das Heute (5) syntaktische Fügung > Substantiv: das So-tun-als-ob, Dankeschön, Schlagetot, Taugenichts, Vergissmeinnicht (6) Substantiv > Verb: Fisch > fischen, Sonnenbad > sonnenbaden, Wasser > wässern (7) Adjektiv > Verb: lahm > lahmen, sauber > säubern (8) Substantiv > Adjektiv: Schmuck > schmuck, Ernst > ernst (9) Partizip > Adjektiv: Partizip I: entzückend; Partizip II: ausgewiesen (10) Substantiv > Präposition: Trotz > trotz, Zeit > zeit (11) syntaktische Fügung > Adverb: trotz dem > trotzdem, dem zu Folge > demzufolge (12) syntaktische Fügung > Präposition: auf Grund > aufgrund, an Stelle > anstelle Wie diese Übersicht zeigt, ergibt sich ein breites Spektrum, und dementsprechend zählt die Konversion neben Komposition und Derivation zu den frequentesten Wortbildungsarten des Deutschen. Formale Unterschiede zeigen sich darin, dass die Flexive der Wortbildungsbasis teils mitkonvertiert werden, teils nicht. Im ersten Fall liegen syntaktische Konversionen vor (v.a. Infinitivkonversionen sowie (3), (9)), im zweiten Fall morphologische Konversionen (v.a. (6) und (7)) sowie alle Konversionen mit nichtflektierbaren Basen). Frequenziell ergeben sich für die einzelnen Gruppen größere Unterschiede. Sehr produktiv sind v.a. departizipiale Adjektive, deadjektivische Substantive und Infinitivkonversionen. Bei Verbstammkonversionen sind die Grundmodelle mit Stammvokalwechsel (treiben > Trieb) nicht mehr produktiv. Bei Verbstammkonversionen ohne Stammvokalveränderung ist die Konversionsrichtung (synchron) nicht immer eindeutig

65 5.3 Wortbildungsarten

(vgl. Lob vs. loben, Heirat vs. heiraten), so dass hier eine reversible (umkehrbare) Motivation gegeben ist. Da keine Einigkeit darüber besteht, dass alle o.g. Beispiele zur Klasse der „Konversionen“ zählen, werden im Folgenden Alternativzuweisungen angeführt. Fleischer/Barz (1992: 51) fassen unter dem Terminus implizite (innere) Derivation zwei Fälle zusammen: Erstens deverbale Bildungen mit Stammvokalveränderung (v.a. Ablaut, Rückumlaut; vgl. werfen > Wurf, ziehen > Zug, brennen > Brand), die aktuell (Fleischer/Barz 2012) den Verbstammkonversionen ohne Ablaut zugeordnet sind (vgl. (1)). Die Einstufung solcher Bildungen als „Nullableitungen“ mit „Nullmorphem“ (dazu Eschenlohr 1999: 57ff.) ist unüblich. Zweitens deverbale kausative Verben wie fällen (< fallen) oder tränken (< trinken), die aber sprachgeschichtlich -jan-Verben darstellen (z.B. germ. *fall-jan < fallan), also explizit gebildet und synchron auch nicht als Konversionen beschreibbar sind, da hier kein Wortartwechsel vorliegt. Es handelt sich um sprachgeschichtliche Relikte. Für aus syntaktischen Fügungen entstandene Substantive (vgl. (5)) besteht auch eine eigene Klassifikation als „Zusammenrückung“ (Überblick bei Heinle 1993) bzw. eine Eingliederung in „Univerbierungen“ (Donalies 2021: 117). Weitere Ausgliederungen ergeben sich dann, wenn man das verbale Infinitivmorphem -en auch als Wortbildungsmorphem klassifiziert (z.B. Kühnhold/Wellmann 1973: 20ff.) ‒ in diesem Fall fielen desubstantivische Verbkonversionen weg ‒ bzw. das mitkonvertierte Infinitivmorphem als Derivationssuffix einstuft (Hinweise bei Fleischer/Barz (2012: 89) ‒ in diesem Fall gäbe es keine Infinitivkonversionen (trinken > das Trinken). Es bleiben zwei Problemfälle, die die Konversion Partizip I > Adjektiv (9) sowie einen Teilbereich der Konversion Adjektiv > Substantiv (2) betrifft. Im Gegensatz zum Partizip II ist das Partizip I standardsprachlich nicht im Verbalparadigma verankert, so dass auch die Möglichkeit erwogen wird, -end als Wortbildungsmorphem einzustufen (z.B. Altmann 2011: 128; Donalies 2012: 118). Bei den substantivierten Adjektiven gibt es schließlich eine Untergruppe, bei der die Flexion nicht substantivisch (vgl. blau > das Blau, hoch > das Hoch) erfolgt, sondern die adjektivische Flexion beibehalten ist. Aus diesem Grund werden solche Fälle z.T. nicht als Konversionen, d.h. Beispiele für Wortartwechsel betrachtet, sondern als Adjektive in elliptischen Nominalphrasen (z.B. Olsen 1986: 112), vgl. das Neue (Buch), der Klügste (Schüler). WSK 2: Basis; implizite Derivation; Infinitivkonversion; Infinitivmorphem; innere Ableitung; Konversion; Nullmorphem; Nullsuffix; Univerbierung; Verbstammkonversion; Zusammenrückung

§ 28 Rückbildung Rückbildung (retrograde Ableitung, engl. back-formation) ist eine wenig frequente, im Wesentlichen auf Verbbildungen zentrierte Wortbildungsart (Überblick bei Åsdahl Holmberg 1976; Eschenlohr 1999; Erben 2003; Štekauer 2015b). Als Wortbildungsbasen fun-

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 66

gieren kompositionelle Substantive, deren deverbales Zweitglied reverbalisiert wird. Die Reverbalisierung erfasst dabei (1) Suffixderivate mit -er bzw. -ung und (2) Infinitiv- bzw. Verbstammkonversionen (z.T. mit Stammvokalwechsel): (1) amtshandeln (< Amtshandlung), bergsteigen (< Bergsteiger), farbkopieren (< Farbkopierer), mähdreschen (< Mähdrescher), notlanden (< Notlandung), schlussfolgern (< Schlussfolgerung) staubsaugen (< Staubsauger), zwangsräumen (< Zwangsräumung), zweckentfremden (< Zweckentfremdung) (2) ehebrechen (< Ehebruch), heimarbeiten (< Heimarbeit), kopfrechnen (< Kopfrechnen), kopfstehen (< Kopfstand), segelfliegen (< Segelflug), seiltanzen (< Seiltanz) Da die rückgebildeten Verben binär gebildet wirken, aber desubstantivisch motiviert sind (z.B. Land > land-en > Landung + Not > Notlandung > notlanden), bezeichnet man sie auch als Pseudokomposita. Charakteristisch für diese Verbgruppe ist, dass sie im Allgemeinen nur ein defektives Flexionsparadigma aufweisen und v.a. infinit verwendet werden. Hinsichtlich der syntaktischen und morphologischen Trennbarkeit verhalten sie sich ‒ soweit erkennbar ‒ heterogen (z.B. notlanden: er notlandet/landet not, notgelandet/ genotlandet, notzulanden/zunotlanden; vgl. Åsdahl Holmberg 1976: 44), was sie sowohl von den trennbaren Partikelverben als auch von untrennbaren desubstantivischen Konversionen (z.B. frühstücken < Frühstück, schriftstellern < Schriftsteller) unterscheidet. Neben den verbalen Rückbildungen werden auch vereinzelte Beispiele nominaler Rückbildungen wie Sanftmut (< sanftmütig), Unsympath (< unsympathisch) oder Unnatur (< unnatürlich) angeführt (vgl Erben 2003). Diese Fälle sind aber gegenwartssprachlich morphologisch-semantisch nicht eindeutig als Rückbildungen zu erkennen. Hier spielt auch die Belegzufälligkeit eine entscheidende Rolle für entsprechende Zuordnungen, es handelt sich um ein Grauzonenphänomen. WSK 2: Pseudokompositum; Rückbildung

§ 29 Kurzwortbildung Kurzwortbildung (Überblick bei Kobler-Trill 1994; Steinhauer 2000, 2015; Balnat 2011) ist ein Sonderfall der Wortbildung, bei der ein Einzelwort oder eine Wortgruppe mittels verschiedener Verfahren gekürzt wird, so dass als referenzidentische lexikalische Dublette ein graphisch und phonetisch eigenständiges Kurzwort entsteht. In dieser Variantenbildung einer Vollform unterscheidet sich die Kurzwortbildung von allen anderen Wortbildungsarten. Nicht zur Kurzwortbildung zählen Schriftabkürzungen (z.B. Dr., usw., vgl.), da in diesen Fällen mit der Kürzung keine eigene Aussprache verbunden ist und damit kein Wortstatus gegeben ist. Kurzwortbildung hat eine lange Tradition (vgl. Greule 2007), aber eine hohe Produktivität ist erst seit Ende des 19. Jhs. im Zusammenhang mit der Entwicklung von Wissenschaft, Technik, Wirtschaft und Verwaltung entstanden. Heute zählt die Kurzwortbildung

67 5.3 Wortbildungsarten

neben Komposition, Derivation und Konversion zu den frequentesten Wortbildungsarten des Deutschen, die auch durch die Internetkommunikation einen besonderen Stellenwert erhalten hat. Es gibt verschiedenen Kurzworttypologien, die im Wesentlichen nach der Anzahl, der Art sowie der Aussprache der Segmente differenziert sind. Im ersten Fall (z.B. Kobler-Trill 1994) ergibt sich folgende Gliederung: 1. Unisegmentales Kurzwort: a. Kopfwort (Anfangssegment): Abi(tur), Kilo(gramm), Uni(versität) b. Rumpfwort (Mittelsegment): (E)Lisa(beth), (Se)Basti(an), engl. (in)flu(enza) c. Endwort (Endsegment): (Doro)Thea, (Omni)Bus, (Violon)Cello 2. Multisegmentales Kurzwort a. Buchstabenkurzwort (Buchstaben, meist Initialen, repräsentieren die Segmente der Wortbildungsbasis, wobei die Aussprache teils buchstabierend (graphisch sichtbar bei Edeka < Einkaufsgenossenschaft deutscher Kolonialwaren- und Lebensmitteleinzelhändler), teils phonetisch gebunden erfolgt): ADAC (Allgemeiner deutscher AutomobilClub), BMW (Bayerische Motoren-Werke), LKW (Lastkraftwagen), ZDF (Zweites Deutsches Fernsehen); APO (Außerparlamentarische Opposition), DAX (Deutscher Aktienindex), OBST (Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie), TÜV (Technischer Überwachungsverein) b. Silbenkurzwort (Silben bzw. silbenähnliche Elemente repräsentieren die Segmente der Wortbildungsbasis): Kita (Kindertagesstätte), Kripo (Kriminalpolizei), Schiri (Schiedsrichter), Stabi (Staatsbibliothek) c. Mischkurzwort (Buchstaben und Silben repräsentieren die Segmente der Wortbildungsbasis): Azubi (Auszubildender), Bafög (Bundesausbildungsförderungsgesetz), Degussa (Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt), Taz (Tageszeitung) 3. Partielles Kurzwort (Wortbildungsbasen sind Determinativkomposita, bei denen das Erstglied gekürzt wird, das Zweitglied nicht): HNO-Arzt (Hals-Nasen-Ohren-Arzt), O-Saft (Orangensaft), SB-Laden (Selbstbedienungsladen), U-Bahn (Untergrundbahn), V-Mann (Verbindungsmann) Die Kategorie „partielles Kurzwort“ ist nicht unumstritten. So wird sie z.B. bei Steinhauer (2000: 35ff.) abgelehnt, da nur die Erstkomponente als „gebundene Kurzform“ zur Kurzwortbildung zähle. Einen eigenen Typ setzt Steinhauer nicht an, die entsprechend ihrer Gliederung nach der Art der Segmente (Buchstaben-, Silben-, Morphem- und Mischkurzwörter) z.B. von gebundenen Buchstabenkurzformen (O-Saft, U-Bahn) ausgeht. Zwischen den einzelnen Gruppen der uni- und multisegmentalen Kurzwörter, die fast ausschließlich Substantive darstellen (Adjektive wie bi(sexuell) sind Ausnahmen), bestehen größere Frequenzunterschiede: So handelt es sich bei unisegmentalen Kurzwörtern ganz überwiegend um Kopfwörter und bei den multisegmentalen Kurzwörtern erweisen sich (v.a. dreigliedrige) Buchstabenkurzwörter als besonders produktiv und wortbildungsaktiv (z.B. TÜV-Prüfung). In der Regel sind die Kurzwörter mit den Vollformen genusgleich, unterscheiden sich davon aber in der Pluralbildung mit -s (z.B. der/die Personenkraftwagen > der PKW/die PKWs).

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 68

Die Referenzidentität mit der Vollform ist bei einigen Kurzwörtern aufgrund von Bedeutungsbildung nicht mehr in allen Verwendungen gegeben (z.B. Bayerische MotorenWerke > BMW > ‘Auto/Motorrad der Marke BMW’; Bundesausbildungsförderungsgesetz > Bafög > ‘aufgrund des Bafög gezahlte Unterstützung’). Ist die Vollform im allgemeinen Sprachbewusstsein nicht mehr präsent, geht auch der Dublettencharakter der Kurzwörter verloren (z.B. ARD < Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland, HAPAG < Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-ActienGesellschaft). Einen Sonderfall stellt die Kurzwort-Derivation (Kürzungssuffigierung) dar, bei der Wortkürzung und Suffigierung (mit -i bzw. -o) kombiniert sind (Mutter > Mutti, Michael Schumacher > Schumi, Faschist > Fascho, Prolet > Prolo). Vorbild für diese kombinatorischen Bildungen sind Kurzwörter mit -i-/-o-Endung (Assistent > Assi, Ostdeutsche(r) > Ossi, Demonstration > Demo, Tachometer > Tacho), die als Suffix reanalysiert sind, wobei v.a. -i (dazu Köpcke 2002) umgangssprachliche auch für Derivationen ohne Kürzung verwendet wird (Gruft > Grufti, Knast > Knasti). WSK 2: Abkürzung (1); Akronym; Buchstabenkurzwort; Endwort; Kopfwort; Kürzungssuffigierung; Kurzwort; Kurzwortbildung; multisegmentales Kurzwort; orthoepische Aussprache; partielles Kurzwort; Rumpfwort; Silbenkurzwort; unisegmentales Kurzwort; Wortkürzung

5.4 Wortbildungssemantik § 30 Semantische Motivation Zwischen Wortbildungen und ihren Wortbildungsbasen besteht nicht nur eine morphologisch-strukturelle, sondern auch eine semantische Differenz. Diese ergibt sich aus dem spezifischen Verhältnis der beiden unmittelbaren Konstituenten bzw. der semantischen Relation zwischen Wortbildung und Basis bei nicht-binären Bildungen. Auf sprachlichstruktureller Ebene ist dieses spezifische Bedeutungsverhältnis aber nicht präsent, es muss erschlossen werden. So lässt das Determinativkompositum Holzschuppen oberflächenstrukturell nur die Interpretation ‘Holz, das etwas mit Schuppen zu tun hat’ zu, das Suffixderivat trinkbar als Adjektiv die Interpretation ‘Eigenschaft, die mit trinken zu tun hat’. Die spezifische semantische Prägung ist erst aus der Bezeichnungsfunktion der Wortbildung ersichtlich, die sich bei usuellen Bildungen aus dem Lexikonwissen, bei nicht-usuellen Bildungen aus der Kontexteinbettung bzw. dem außersprachlichen Wissen ergibt. Für Holzschuppen sind zwei Bedeutungen usuell (vgl. DUW: 1. ‘aus Holz errichteter Schuppen’ 2. ‘Schuppen zum Aufbewahren von Brennholz’), trinkbar ist dagegen monosem (DUW: ‘zum Trinken geeignet’). Aus diesen Bezeichnungsfunktionen lassen sich nun Wortbildungsbedeutungen abstrahieren, die den semantischen Mehrwert von Wortbildungen konstituieren. [Alternative Bezeichnungen zu „Wortbildungsbedeutung“ (z.B. Fleischer/Barz 2012: 47f.; Barz 2016: 685) sind etwa „Relationsbedeutung“ (Ortner/

69 5.4 Wortbildungssemantik

Ortner 1984: 131ff.), „Schema“ (Eichinger 2000: 10) oder „semantisches Muster“ (Motsch 2004: 4).] Im Fall von Holzschuppen sind dies die Bedeutungen ‘material’ (B besteht aus A) bzw. ‘final’ (B erfüllt Zweck für A), bei trinkbar ist es die Bedeutung ‘passivisch-modal’ (‘kann getrunken werden’). Diese Wortbildungsbedeutungen sind nicht idiosynkratisch, sondern stellen allgemeine semantische Relationen dar. So gibt es eine Vielzahl deverbaler Adjektive mit dem Suffix -bar in passivisch-modaler Funktion (z.B. annehmbar, beeinflussbar, erkennbar, essbar, machbar, verwertbar). Als Beschreibungsinstrument für die metasprachliche Wiedergabe der interpretierten Wortbildungsbedeutung eines Wortbildungsprodukts verwendet man sog. Wortbildungsparaphrasen. Als Interpretationsmuster haben Wortbildungsparaphrasen ausschließlich bedeutungsexplizierende Funktion, sie stellen aber keine mit dem Wortbildungsprodukt bedeutungsgleiche Strukturen dar. Möglich ist die Paraphrasierung sowohl in Satzform (z.B. Stickerei: ‘etwas, das gestickt wird’, Prüfling ‘jmd., der geprüft wird’) als auch in Form attribuierter Merkmalszusätze: (z.B. Tischlein ‘kleiner Tisch’, erzkonservativ ‘sehr konservativ’). Indem die Paraphrasierung zu reihenbildenden Strukturschemata führt, haben die Wortbildungsparaphrasen klassifizierende Funktion und ermöglichen die Eingliederung in einzelne Wortbildungsbedeutungen, vgl. z.B. Lehrer ‘jmd., der lehrt’ (= Nomen Agentis), Blindheit ‘Tatsache, dass jmd. blind ist’ (= Nomen Qualitatis), bleichen ‘bleich machen’ (= faktitiv), Landebahn ‘Bahn, auf der man landet’ (= lokal). Wichtig ist die Unterscheidung zwischen Wortbildungsbedeutung und Wortbedeutung: Nur semantisch motivierte Wortbildungen weisen eine Wortbildungsbedeutung auf, eine Wortbedeutung dagegen auch semantisch unmotivierte Wortbildungen (s.u.) bzw. morphologisch unmotivierte Lexeme (= Simplizia; z.B. Haus, schlecht, singen). Sind Wortbildungen semantisch unmotiviert, handelt es sich um idiomatisierte Wortbildungen als Ergebnis von Idiomatisierung. Für idiomatisierte Wortbildungen gilt, dass die Wortbedeutung anders als bei semantisch motivierten Bildungen nicht mehr durch eine Wortbildungsbedeutung geprägt ist. Charakteristisch ist der Verlust ihrer doppelten Referenz: Sie verweisen ‒ ebenso wie Simplizia ‒ lediglich auf die außersprachliche Realität; ihr Referenzbezug auf die Wortbildungsbasis ist dagegen verlorengegangen. Der Übergang zwischen motivierten und idiomatisierten Wortbildungen ist fließend, und in einigen Fällen ist die Entscheidung für eine Klassifikation als noch motiviert (d.h. nicht mehr vollmotiviert, sondern nur noch teilmotiviert) oder idiomatisiert auch vom Sprachgefühl abhängig. Der Prozess der Idiomatisierung einer Wortbildung beginnt, wenn diese über Bedeutungskomponenten verfügt, die nicht unmittelbar aus der Wortbildungsbedeutung erschließbar sind. Einige dieser überschüssigen Bedeutungsmerkmale sind reihenbildend, wie etwa das Merkmal ‘beruflich’ in einer Reihe von Personenbezeichnungen des Typs Maler, Zeichner oder Geiger, andere sind idiosynkratisch, wie etwa bei Tischler (‘jmd., der beruflich Tische und andere Gegenstände herstellt’), Haustür (‘Tür am Eingang eines Hauses’) oder Frauenhaus (‘von Frauen geleitetes Haus, in dem Frauen, die von ihren Männern misshandelt werden, mit ihren Kindern aufgenommen werden, Schutz und Hilfe finden’). Zur Bezeichnung von Idiomatisierung als diachroner Prozess verwendet man den Terminus Demotivation (Demotivierung).

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 70

WSK 2: Demotivation; demotivierte Bildung; Idiomatisierung; Motivationsbedeutung; Motivationsgrad; Wortbildungsbedeutung; Wortbildungsparaphrase

§ 31 Wortbildungsbedeutungen Hinsichtlich der Frage, wie viele Wortbildungsbedeutungen man für die semantische Klassifikation von Wortbildungen ansetzt und wie man sie benennt, besteht in der Forschung keine Einheitlichkeit; auch hier gilt, dass für semantische Klassifikationen Vagheit konstitutiv ist. Neben puristischen Ansätzen, die etwa bei Determinativkomposita alles, was über die Grundstruktur „A determiniert B“ hinausgeht, in den offenen Bereich der unregulierten Pragmatik verweisen (vgl. Heringer 1984), gibt es hochgradig differenzierende Klassifikationsmodelle (zu Substantiv- und Adjektivkomposita vgl. Ortner et al. 1991; Pümpel-Mader et al. 1992), die in ihrer Konstitution und Füllung (Substantivkomposita: 31 Haupt- und 142 Subtypen) nicht immer nachvollziehbar sind. Für die folgende Übersicht über Wortbildungsbedeutungen wird deshalb eine Modellierung auf mittlerer Abstraktionsebene gewählt, wobei die Darstellungen von Fleischer/Barz (2012) und Barz (2015, 2016) den Orientierungsrahmen abgeben. Einzelphänomene bzw. unproduktive Modelle bleiben unberücksichtigt (z.B. Beschwerde < beschweren+-de, Wüterich < Wut+-erich, Grobian < grob+-ian, töricht < Tor+-icht, Brutalo < brutal+-o, Knicks < knicken+-s, Drangsal < Drang+-sal, Fahrt < fahren+-t), und auch das Bedeutungsspektrum einzelner Affixe und Verbpartikeln kann nur in Auswahl dargestellt werden. Eine Klassifikation nach Wortbildungsbedeutungen ist allerdings nicht für alle Wortbildungsarten bzw. Subklassen relevant und ergiebig. Dies gilt für die wenig produktiven Verfahren Wortkreuzung, Reduplikation und Rückbildung, die sehr produktive Kurzwortbildung mit der Entstehung von Dubletten, für Kopulativkomposita (lediglich ‘und’Relation) sowie die meisten Konversionsmodelle (vgl. § 27): Dazu zählen Infinitivkonversionen (in der Regel Nomina Actionis), desubstantivische Adjektivkonversionen (sehr geringe Frequenz), departizipiale/deadjektivische Substantivkonversionen (semantische Sterilität: der/die/das Neue; das Blau/Hoch/Deutsch), departizipiale Adjektivkonversionen (Partizip I: aktivisch: das lesende Kind; Partizip II: passivisch: der angeleinte Hund) sowie alle weitern in § 27 genannten Konversionsformen. Dies bedeutet, dass für den folgenden Überblick Wortbildungsbedeutungen der Komposition, Derivation, Konversion (v.a. denominale Verbkonversion, Verbstammkonversion) und Partikelverbbildung angeführt werden. Die Darstellung geht dabei von Wortarten aus (Substantiv, Adjektiv, Verb, Adverb) und bietet jeweils zunächst einen knappen Überblick über die Charakteristika der substantivischen, adjektivischen, verbalen und adverbialen Wortbildung. Anschließend erfolgt eine Auflistung gängiger Wortbildungsbedeutungen mit Angabe der dafür verfügbaren Strukturmodelle. Für die Bezeichnung der Wortbildungsbedeutungen gibt es wie gesagt keinen allgemeinen Konsens. Grundsätzlich gilt, dass die Bezeichnungen im Bereich der Substantivderivation relativ einheitlich verwendet werden, im Bereich der Determinativkomposition dagegen sehr heterogen.

71 5.4 Wortbildungssemantik

In einer ersten semantischen Grobgliederung motivierter Wortbildungen ist eine Unterscheidung zwischen den Kategorien Transposition und Modifikation möglich: Eine Modifikation liegt vor, wenn die Wortbildung eine semantische (bei Verben z.T. auch eine syntaktische) Zusatzkennzeichnung der Wortbildungsbasis bewirkt. Es findet jedoch kein Wechsel der Bezeichnungsklasse und der Wortart statt. Beispiele sind Büchlein, bläulich, erblühen, grasgrün, Haustür, Spielertrainer, unmodern, vertrödeln (mit Valenzänderung: jmd. trödelt > jmd. vertrödelt die Zeit). Bei Transposition handelt es sich um die Überführung der Wortbildungsbasis in eine andere Bezeichnungsklasse, die häufig mit Wortartwechsel verbunden ist. Beispiele sind bleichen, Buntheit, dortig, hämmern, Prüfling, Städter. In wenigen Fällen führt die morphologisch-semantische Analyse nicht zu eindeutigen Ergebnissen. So ist z.B. Unfreundlichkeit als substantivische Modifikationsbildung (Präfixderivation Un+Freundlichkeit = ‘Negation’) und als deadjektivische Transpositionsbildung (Suffixderivation unfreundlich+keit = ‘Nomen Qualitatis’) klassifizierbar, Fischverkäufer dagegen als Determinativkompositum (Fisch+Verkäufer = Rektionskompositum) und als Wortgruppenderivation (Fisch verkauf+er = Nomen Agentis). In solchen Fällen handelt es sich um Mehrfachmotivation (Doppelmotivation). Die Klassifikation nach Modifikation und Transposition ist für eine differenzierte funktionale Beschreibung von Wortbildungen allerdings noch zu unpräzise und macht eine weitergehende Subkategorisierung in Wortbildungsbedeutungen notwendig. 1. Wortbildung des Substantivs: Substantive haben am Wortschatz des Deutschen den größten Anteil und sind aus allen Wortarten und mit allen Wortbildungsarten bildbar. Am frequentesten sind determinative N+N-Komposita, die das dominante Strukturmodell der deutschen Wortbildung darstellen und an der Substantivkomposition einen Anteil von knapp 80% haben (vgl. Ortner et al. 1991: 37). Sie überwiegen damit auch im Vergleich zu A+N- und V+N-Komposita sehr deutlich. Neben Determinativkomposition erweisen sich auch Derivation (v.a. deverbale und deadjektivische Suffixderivation), (Infinitiv-)Konversion sowie Kurzwortbildung als sehr produktiv. Komposition: a. N+N-Komposita: Die (determinativen) N+N-Komposita werden von Fleischer/Barz (2012: 139ff.) bzw. Barz (2015: 2391f.) in drei Gruppen unterteilt: ‒ Rektionskomposita: Diese Komposita enthalten ein deverbales Zweitglied, das eine Argumentvererbung bewirkt, in dem es die Valenz des Basisverbs auf die Wortbildung überträgt und das Erstglied die Valenzstelle ausfüllt. Erstelement als Agens: Zugabfahrt (‘der Zug fährt ab’), Ärztetagung (‘Ärzte tagen’); Erstelement als Patiens: Kohleabbau (‘Kohle wird abgebaut’), Hausdurchsuchung (‘das Haus wird durchsucht’). ‒ Komposita mit semantischen Grundrelationen zwischen Erst- und Zweitglied: lokal (Gartenbeet), temporal (Tagesfahrt), final (Strandanzug), kausal (Tränengas), komparativ (Beifallssturm), possessiv (Gemeindewald), partitiv/adhäsiv (Buchrücken), instrumental (Handbremse), ‘material’ (Lederschuh), konstitutional (Blumenstrauß), graduierend (Rie-

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 72

senskandal). Die Anzahl und Benennung solcher Grundrelationen schwankt in der Literatur stark. Letztendlich ist dies ein offener Bereich. Zu dieser Gruppe zählen auch metaphorische Komposita, bei denen Erst- und/oder Zweitglied in übertragener Bedeutung verwendet sind (Kostenlawine, Marathonsitzung) sowie verdeutlichende (explikative) Komposita, bei denen Erst- und Zweitglied das Kompositum auch selbstständig repräsentieren können (z.B. Auswertungsverfahren: die Ergebnisse des Auswertungsverfahrens/der Auswertung/des Verfahrens). ‒ Komposita mit singulärer Wortbildungsbedeutung (Kontextkomposita): Hierzu zählen (okkasionelle) Komposita mit singulärer Bedeutung, die erst mittels Lexikon-, Kontext- und Weltwissen erschließbar sind: Elchtest ‘Test, der die abrupte Lenkbewegung simuliert, die das Ausweichen vor einem plötzlich auf der Fahrbahn auftauchenden Hindernis (z.B. in nordischen Ländern ein Elch) erfordert’ (DUW). b. V+N-Komposita: Diese Gruppe wird von Fleischer/Barz (2012: 162ff.) nach semantischen Grundrelationen unterteilt: final (Rasierapparat), aktivisch (Suchtrupp), passivisch (Umhängetasche), referenziell (Sehvermögen), lokal (Impfstelle), explikativ (Absperrmaßnahme), temporal (Bedenkzeit), kausal (Kratzwunde), modal (Stehbankett). c. A+N-Komposita: Hier unterscheiden Fleischer/Barz (2012: 156ff.) zwei Haupt- und zwei Nebengruppen: Eigenschaftsbezeichnungen (Steilküste), verstärkende/abschwächende Bezeichnungen (Hochgenuss, Kleingarten), Rangbezeichnungen (Oberbürgermeister), Verwandtschaftsbezeichnungen (Großeltern). Derivation: a. Substantivische Modifikationsbildungen (Fleischer/Barz 2012: 120; Barz 2015: 2396): Präfixderivation mit erz-, ge-, miss-, un-, ur-; Suffixderivation mit -chen, -in, -lein, -ling, -schaft, -tum Diminuierung (Büchlein, Häuschen), Augmentation (Erzgauner, Unsumme), Taxation (Missernte, Scheiberling, Untat, Urform), Negation (Unglück), Kollektion (Christentum, Gestühl, Schülerschaft), Movierung (Kellnerin) b. Desubstantivische Transpositionsbildungen (Fleischer/Barz 2012: 121ff.; Barz 2015: 2395): Suffixderivation mit -ei, -er, -ler, -i, -ner, -schaft, -tum Nomina Loci (Käserei, Ziegelei), Personenbezeichnungen (Grufti, Künstler, Musiker, Rentner), Statusbezeichnungen (Abenteurertum, Feindschaft, Tyrannei) c. Deadjektivische Transpositionsbildungen (Barz 2015: 2396): Suffixderivation mit -chen, -e, -heit/-keit/-igkeit, -i, -ling, -nis, -schaft, -tum Nomina Qualitatis (Bereitschaft, Dunkelheit, Finsternis, Größe, Sauberkeit, Siechtum, Trostlosigkeit, Bereitschaft), Personenbezeichnungen (Frühchen, Schwächling, Dummi) d. Deverbale Transpositionsbildungen (Barz 2015: 2397): Suffixderivation mit -bold, -e, -(er)ei, -el, -er, -i, -ler, -ling, -ung; Zirkumfixderivation mit ge-…-e/ge-, (ge-)…-sel; Nomina Actionis/Acti (Absage, Erlaubnis, Gesinge, Gewimmel, Schufterei, Seufzer, Verzögerung), Nomina Patientis (Anhängsel, Aufkleber, Geschreibsel, Prüfling, Sammlung, Spende), Nomina Agentis (Abweichler, Maler, Saufbold, Schlucki), Nomina Instrumenti (Bremse, Deckel, Entsafter), Nomina Loci (Druckerei, Umkleide)

73 5.4 Wortbildungssemantik

Konversion: Im Gegensatz zu den sehr produktiven Infinitivkonversionen, die als Nomina Actionis substantiviert werden (trinken > das Trinken), verfügen die weniger zahlreichen Verbstammkonversionen über ein breiteres Spektrum von Wortbildungsbedeutungen (vgl. Wellmann 1975: 96f.). Diejenigen mit Stammvokalwechsel, die z.T. auch als „implizite Derivate“ ausgegrenzt werden (vgl. § 27), sind weitgehend unproduktiv. Verbstammkonversionen sind ganz überwiegend maskulin und werden v.a. als Nomina Actionis/Acti (Schlag), aber z.B. auch als Nomina Loci (Einstieg), Nomina Patientis (Aufschnitt), Nomina Instrumenti (Beleg) verwendet. In manchen Fällen ist die Motivationsbeziehung reversibel (V > S oder S > V; vgl. Lob : loben, Heirat : heiraten), und die Konkreta (z.B. Aufschnitt ‘etwas, das aufgeschnitten wird’) erweisen sich in der Regel als sekundäre Prägungen, die nicht das Ergebnis von Wortbildung, sondern von Bedeutungsbildung darstellen (vgl. § 32). 2. Wortbildung des Adjektivs: Ebenso wie beim Substantiv ist die Wortbildung des Adjektivs v.a. durch Determinativkomposita, Suffixderivate und (departizipiale) Konversionen geprägt. Bei Transpositionsbildungen überwiegen deverbale und desubstantivische Derivate. Im Gegensatz zum Substantiv sind weitere Wortbildungsarten (Wortkreuzung, Reduplikation, Rückbildung, Kurzwortbildung) nicht konstitutiv. Komposition: Auch Adjektivkomposita können in die Gruppen „Nicht-Rektionskomposita“ und „Rektionskomposita“ untergliedert werden (vgl. Barz 2016: 757ff.). Anders als beim Substantiv ist hier aber nicht der wortartgleiche Modelltyp A+A dominant, sondern N+A-Komposita, und zwar für beide Gruppen. V+A-Komposita (z.B. denkfaul) sind randständig. a. Nicht-Rektionskomposita: Nicht-Rektionskomposita realisieren ein breites semantisches Spektrum, wobei die Wortbildungsbedeutungen ‘komparativ’ (z.B. aalglatt, mausgrau, ziegelrot) und ‘graduierend’ (z.B. brandaktuell, hochmodern, tieftraurig, kotzübel) dominieren. Weitere semantische Grundrelationen sind: lokal (stadtbekannt), temporal (nachtblind), final (diensttauglich), kausal (altersschwach). b. Rektionskomposita: Ebenso wie bei substantivischen Rektionskomposita ist auch bei den adjektivischen die Wortbildungsbedeutung durch die Valenz des Zweitglieds fixiert. Folgende Beispiele zeigen dies: hilfsbedürftig (< der Hilfe bedürftig), abfahrbereit (zur Abfahrt bereit), altersgerecht (dem Alter gerecht), kalorienreich (reich an Kalorien), coronafrei (frei von Corona). Außerordentlich produktiv ist auch der Strukturtyp Substantiv+Partizipialadjektiv, bei dem das Zweitglied die Verbvalenz widerspiegelt: altersbedingt, preisgebunden, zeitbezogen. Wie diese Beispiele zeigen, finden sich unter den Rektionskomposita zahlreiche Zweitglieder, die z.T. als Suffixoide klassifiziert werden (vgl. § 19). Derivation: a. Adjektivische Modifikationsbildungen (Fleischer/Barz 2012: 305): Präfixderivation mit den Präfixen erz-, miss-, un-, ur-; Suffixderivation mit -fach, -lich

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 74

Gradation (bläulich, erzfrech, missgelaunt, urkomisch), Negation (unklug), Vervielfältigungszahlen (zweifach) b. Desubstantivische Transpositionsbildungen (Fleischer/Barz 2012: 306ff.; Barz 2016: 767ff.): Suffixderivation mit -(e)n/-ern, -haft, -ig, -isch, -lich, -los, -mäßig; Zirkumfixderivation mit be-…-t, ge-…-t, ver-…-t relational (seelisch, staatlich, ideologiemäßig), komparativ (clownhaft, bullig, tierisch, menschlich, gefühlsmäßig), ‘material’ (hölzern), ornativ/possessiv (fehlerhaft, ölig, höhnisch, ängstlich, blauäugig, bemoost, genarbt, verkopft), privativ (lustlos) c. Deverbale Transpositionsbildungen (Fleischer/Barz 2012: 306ff.; Barz 2015: 2399): Suffixderivation mit -bar, -haft, -ig, -isch, -lich, -sam; Zirkumfixderivation mit un-…-lich/​ ‑bar/-sam aktivisch-modal (brennbar, zitterig, kurzlebig, schwatzhaft, sparsam, unermüdlich), passivisch-modal (bezahlbar, begreiflich, biegsam, unglaublich, unverkennbar, unaufhaltsam) 3. Wortbildung des Verbs: Die Wortbildung des Verbs unterscheidet sich von der nominalen Wortbildung durch die Suffixarmut, die viel bedeutendere Rolle von Präfixen für die Wortbildung, den Mangel an Komposita sowie die eigenen Wortbildungsarten Partikelverbbildung und Rückbildung. Betrachtet man die Untrennbarkeit als entscheidendes Kriterium für den Wortstatus, dann sind verbale Komposita auf die Kleingruppe von V+V-Verbindungen (grinskeuchen, drehbohren) begrenzt, alle anderen Fälle sind entweder der Partikelverbbildung zugeordnet oder als syntaktische Verbindungen von der Wortbildung ausgeschlossen (vgl. § 24). Im Folgenden werden deshalb nur die Wortbildungsarten Derivation, Partikelverbbildung und Konversion dargestellt. Derivation: a. Verbale Modifikationsbildungen (Fleischer/Barz 2012: 382; Barz 2015: 2402): Präfixderivation mit be-, durch-, ent-, er-, über-, um-, ver-, zer-; Suffixderivation mit -(e)lingressiv (entbrennen), egressiv (verblühen), intensiv (beschützen), ‘falsch’ (missdeuten), ‘normabweichend’ (überdüngen), reversativ (verachten, überhören), ‘weg’ (entlaufen), ‘zerstörend’ (zerschlagen), diminutiv/iterativ (hüsteln) Deverbale Präfixderivate bewirken z.T. auch syntaktische Effekte: einerseits Valenzänderungen (v.a. be- als transitivierendes Präfix: jmd. forscht > jmd. erforscht etwas; jmd. siegt > jmd. besiegt jmdn.), andererseits Inkorporation (§ 22), die mit einer Verschiebung von Aktantenrollen verbunden ist (über das Plakat kleben > das Plakat überkleben; durch den Wald laufen > den Wald durchlaufen; um den See fahren > den See umfahren). b. Desubstantivische Transpositionsbildungen (Fleischer/Barz 2012: 382; Barz 2015: 2400): Präfixderivation mit be-, durch-, ent-, er-, über-, um-, ver-, zer-; Suffixderivation mit -(e)l-; Zirkumfixderivation mit be-…-ig, ver-…-ig agentiv (bemuttern, verarzten, beaufsichtigen, vergewaltigen), inchoativ (versumpfen), ingressiv (vergreisen), instrumentativ (überlisten, verriegeln, zerbomben), kausativ

75 5.4 Wortbildungssemantik

(verschrotten, zertrümmern, häufeln), ornativ (beschriften, überdachen, ummanteln, unterkellern, vergolden), privativ (entgräten) c. Deadjektivische Transpositionsbildungen ((Fleischer/Barz 2012: 382; Barz 2015: 2401): Präfixderivation mit be-, durch-, ent-, er-, ver-; Suffixderivation mit -el-, Zirkumfixderivation mit be-…-ig agentiv (fremdeln), ingressiv (ergrauen, vereinsamen), kausativ (befreien, durchfeuchten, entfremden, erfrischen, verharmlosen, besänftigen) Partikelverbbildung (berücksichtigt werden nur präpositionsähnliche Verbpartikeln): a. Deverbale Modifikationsbildungen (Fleischer/Barz 2012: 398; Barz 2015: 2403f.): Verbpartikeln: ab-, an-, auf-, aus-, durch-, ein-, nach-, vor-, zuegressiv (abheilen, ausrechnen), ingressiv (anschalten, aufschreien), intensiv (abarbeiten, aufzeigen, ausdeuten), lokativ (absteigen, anbinden, aufschauen, ausladen, durchkriechen, einwerfen, zuordnen), ‘öffnen’ (aufmachen), reversativ (abbestellen), ‘schließen’ (zuklappen), temporal (nachnutzen, vorglühen), ‘verändern’ (umbauen), ‘verbessern’ (aufbügeln) Ebenso wie Präfixe sind auch Verbpartikeln z.T. valenzverändernd und inkorporierend (vgl. einen Brief an jmdn. schreiben > jmdn. anschreiben). b. Desubstantivische Transpositionsbildungen (Fleischer/Barz 2012: 398; Barz 2015: 2401): Verbpartikeln: ab-, an-, auf-, aus-, ein-, zuinstrumentativ (anketten, einmeißeln, zukorken), lokativ (auftischen, eintüten), ornativ (auspolstern), privativ (abbeeren, ausmisten) c. Deadjektivische Transpositionsbildungen (Fleischer/Barz 2012: 398; Barz 2015: 2402): Verbpartikeln: ab-, an-, auf-, aus-, eininchoativ (abflauen), kausativ (abschrägen, anrauen, aufmuntern, ausnüchtern, einschüchtern) Konversion: Verbale Konversionen sind (abgesehen von wenigen Ausnahmen wie miauen) denominale Bildungen, deren Wortbildungsbedeutungen eine große Parallelität zu Präfix- und Partikelverbbildungen aufweisen. a. Desubstantivische Transpositionsbildungen (Fleischer/Barz 2012: 439; Barz 2016: 718): agentiv (malern), diminutiv-iterativ (frösteln), effizierend (qualmen), ingressiv (rosten), instrumentativ (bremsen), intensiv (ausdeuten), kausativ (schroten), lokativ (stranden), ornativ (fetten), privativ (häuten), stativ (träumen), ‘Witterung’ (herbsten) b. Deadjektivische Transpositionsbildungen (Fleischer/Barz 2012: 439; Barz 2016: 718): ingressiv (faulen), kausativ (härten), stativ (gleichen) 4. Wortbildung des Adverbs Die Wortbildung des Adverbs unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von derjenigen

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 76

der Substantive, Adjektive und Verben. Sie ist begrenzt auf die Wortbildungsarten Komposition, Suffixderivation und Konversion. Viele Bildungen sind Grenzgänger zwischen Wortbildungsarten, der Anteil an idiomatisierten Bildungen ist hoch, der Anteil an produktiven Modellen dagegen niedrig, eine systematische Darstellung von Wortbildungsbedeutungen ist nicht möglich. Komposition: Die adverbiale Komposition ist kein fest umrissener und klar gegliederter Bereich. Die Bildungen weisen häufig keine eindeutige determinative Struktur auf, ohne das Kriterium von Kopulativkomposita zu erfüllen. Hinsichtlich der Klassifikation besteht eine große Heterogenität. So werden z.B. viele der bei Fleischer/Barz (2012: 362ff.) als „Komposita“ behandelte Bildungen bei Altmann (2011: 167ff.) als „Zusammenrückungen“ klassifiziert (s.u.). Weitgehend unstrittig sind Lexemkombinationen mit einem adverbialen Zweitelement; hier sind Bildungen mit den Richtungsadverbien her und hin (daher, dorthin) dominant. Problematisch sind dagegen Fälle, in denen das Zweitglied kein Adverb ist, sondern z.B. eine Präposition wie bei der Gruppe der Präpositionaladverbien (Adverb da/hier/wo+Präposition: darauf, hierunter, worin) oder der sprachhistorisch aus Univerbierungen entstandenen Bildungen mit weiteren nichtadverbialen Zweitgliedwortarten (z.B. fürwahr, kurzerhand, überdies). Während Fleischer/Barz (2012) solche Fälle als „Komposition“ (und nicht als „Wortgruppenkonversion“) behandeln, sind sie bei Altmann (2011) den „Zusammenrückungen“ zugeordnet, auch wenn es teilweise schwierig ist, „eine geeignete syntaktische Basisstruktur für die Einordnung als Zusammenrückung zu finden“ (S. 171). Aufgrund des hohen Anteils an demotivierten und unproduktiven Bildungen erweist sich die Adverbkomposition als Grauzone par excellence. Derivation: Die adverbiale Derivation ist auf Suffixbildungen beschränkt. Das Inventar umfasst elf Suffixe, von denen aber die Hälfte nicht produktiv ist. Eine hohe Produktivität zeigt nur -weise, deutlich weniger produktiv sind -s, -halber, -maßen und -wärts. Zur historischen Ausbildung der Adverbsuffixe vgl. § 39. Anders als z.B. das Englische (-ly) oder Französische (-ment) verfügt das Deutsche heute nicht mehr über ein eigenes grammatisches Suffix zur Kennzeichnung von Adverbien. Im Gegensatz zur nominalen und verbalen Wortbildung existiert auch keine semantische Konvergenz der Suffixe; jedes Suffix ist idiosynkratisch, weshalb der folgende Überblick (vgl. Altmann 2011: 176ff.; Fleischer/ Barz 2012: 366ff.) nach Suffixen gegliedert ist. -dings: Dieses Suffix ist als Kombination von -ding mit dem Adverbsuffix -s entstanden und in Bildungen aus Adjektiv/Pronomen+Fuge -er-+-dings präsent (allerdings, neuerdings). -ens: Ausgangspunkt der Bildungsweise sind mit -s gebildete Superlativformen (längsten-s, schnellsten-s); durch Reanalyse erfolgte die Übertragung auf andere Bildungen (einst-ens, übrig-ens). Auch die Bildung von Einteilungszahlen (erst-ens, zweit-ens) erfolgt mit diesem Suffix. -halben/-halber: Nur die Variante -halber ist produktiv und bildet aus Substantiven Adverbien mit kausaler Funktion (anstandshalber ‘aus Anstand’, vorsichtshalber ‘aus Vorsicht’).

77 5.4 Wortbildungssemantik

-lei: Dieses aus frz. ley (‘Art’) entlehnte Suffix leitet Gattungszahlen aus Kardinalzahlen (dreierlei, tausenderlei) sowie Pronomina (beiderlei, keinerlei) und Adjektive (bunterlei, verschiedenerlei) ab, jeweils mit der Fuge -er-. -lings: Das Suffix bewirkt die reine Adverbialisierung von Adjektiven (blindlings) sowie die Bezeichnung von Körperhaltungen bei substantivischen Basen (bäuchlings, rücklings). -mals: Dieses unproduktive Suffix ist mit nicht-flektierbaren Basiswörtern verbunden (damals, erstmals, niemals). -maßen: Als produktives Suffix verbindet sich -maßen mit partizipialen Basen in mit -er- verfugten Wortbildungen, die z.T. mit ‘wie Partizip ist’ paraphrasierbar sind (bekanntermaßen ‘wie bekannt ist’, erwiesenermaßen ‘wie erwiesen ist’). -s: Als Basen von -s-Derivaten fungieren Substantive (anfangs), Adjektive (bereits), Partizipien (vergebens) und substantivische Syntagmen (andernfalls). Seine Funktion besteht lediglich in der Adverbialisierung von Wörtern und Syntagmen. -wärts: Dieses Suffix bildet Richtungsadverbien mit Substantiven (bergwärts, seewärts) und Präpositionen/Adverbien (abwärts, hinwärts, vorwärts). -weg: Dieses unproduktive Suffix ist mit Adjektiven (glattweg, rundweg) und Adverbien (durchweg, vorweg) verbunden. Die Formvariante -wegen mit Basispronomen und -t-Epenthese (deinetwegen, ihretwegen) ist synonym mit -halben (s.o.). -weise: Das Suffix -weise (‘in der Form/Art des Basisworts’) adverbialisiert Adjektive/ Partizipien (erfreulicherweise, bezeichnenderweise), Substantive (beispielsweise) sowie selten Verben (leihweise, mietweise) und unterscheidet sich durch sein hohes Neubildungspotential deutlich von allen anderen Adverbsuffixen. Die Bildungen zu Adjektiven/ Partizipien enthalten die Fuge -er-; v.a. die Bildungen mit Basissubstantiven werden zum Teil auch adjektiviert (z.B. die blattweisen Nummerierungen). Konversion: Während man Wortbildungen mit UK-Struktur, bei denen das Zweitglied kein Adverb darstellt (s.o.), auch als „Wortgruppenkonversion“ (d.h. Zusammenrückung) einstufen kann, sind nur wenige Beispiele für Wortkonversion (Substantiv > Adverb) vorhanden (Heim > heim, Weg > weg). Diese Bildungsweise ist gegenwartssprachlich unproduktiv. WSK 2: Adjektivierung; Adverbialisierung; Aktionsart; Derivation; Komposition; Konversion; Mehrfachmotivation; Modifikation; Nominalisierung; Partikelverb; reversible Wortbildungsbeziehung; Substantivierung; Transposition; Valenz; Valenzänderung; Verbbildung; Wortbildungsbedeutung

§ 32 Wortbildung vs. Bedeutungsbildung Wie der Überblick über die substantivische, adjektivische und verbale Wortbildung gezeigt hat, ist die Mehrzahl der Affixe und Verbpartikeln polysem, also in Verbindung mit Wortbildungsbasen in mehr als einer Wortbildungsbedeutung verwendet. Diese Polysemie ist das Ergebnis unterschiedlicher Sprachwandelprozesse (vgl. § 41) und wird in Affixübersichten in der Regel im Rahmen der Darstellung von „Funktionsklassen“ erfasst,

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 78

deren quantitativer Anteil durch eine Indizierung der Affixe kenntlich gemacht ist (vgl. Kühnhold/Wellmann 1973, Wellmann 1975, Kühnhold/Putzer/Wellmann 1978). Dies bedeutet allerdings nicht, dass alle Wortbildungsbedeutungen „Wortbildung“ widerspiegeln, denn z.T. handelt es sich um das Ergebnis metaphorischer bzw. metonymischer Prozesse, d.h. um Bedeutungsbildung. Das Beispiel -ung kann dies zeigen. Bei Welllmann (1975: 94f.) sind für dieses Suffix sieben gegenwartssprachliche Wortbildungsbedeutungen angesetzt. Für das dort ausgewertete Textkorpus ergibt sich, dass 88% aller -ung-Bildungen Abstrakta darstellen, wobei der Anteil an Nomina Actionis zur Bezeichnung von Vorgängen und Handlungen (-ung1; z.B. Abfertigung) gegenüber Nomina Acti (-ung2; Zustandsbezeichnungen wie Verblüffung) deutlich überwiegt (82,9% : 5,1%). Für die weiteren Wortbildungsbedeutungen ‒ Objektbezeichnungen (-ung3; z.B. Abbildung ‘das, was abgebildet wird’), Nomina Instrumenti (-ung4; z.B. Ausrüstung ‘das, womit jmd. ausgerüstet wird’), Nomina Agentis sowie weitere Personen- bzw. Sachbezeichnungen als ‘Agens’-Größe (-ung5; z.B. Bedienung ‘jmd., der jmdn. bedient’; Erhebung ‘etwas, das sich erhebt’), Kollektiva (-ung6; z.B. Bestuhlung ‘die gesamten Stühle’) und Nomina Loci (-ung7; z.B. Niederlassung ‘Ort, an dem sich jmd. niedergelassen hat’) ‒ ergibt sich dagegen nur ein sehr geringer Anteil von insgesamt gut 10%. Wellmann (1975: 494f.) bezeichnet die Bildungen mit -ung3 bis -ung7 als „sekundär“ und versteht darunter „alle Bildungen, die sich erst ‚sekundär‘ durch eine Umprägung (etwa durch die ‚Umfunktionalisierung‘ eines gramm. Abstraktums zum Kollektivum, zum ‚nomen facti‘ usw.) in das beschriebene Wortbildungsparadigma einfügen“. Mit anderen Worten: Lexeme mit ung3 bis -ung7 resultieren nicht aus Wortbildungsprozessen, sondern aus einem Bedeutungswandel „primärer“ (d.h. abstrakter) -ung-Derivate. Sie sind das Ergebnis von Bedeutungsbildung, also der semantischen Umprägung einzelner Wortbildungen (z.B. Bedienung: 1. ‘Handlung des Bedienens’ > 2. ‘Person, die jmdn. bedient’; Abstraktum > Nomen Agentis). Solche Fälle von Bedeutungsbildung von ‘abstrakt’ zu ‘konkret’ sind auch für andere Suffixe charakteristisch, wie etwa bei -heit/-keit/-igkeit (z.B. Berühmtheit: 1. ‘das Berühmtsein’ > 2. ‘Person, die berühmt ist’; Nomen Qualitatis > Personenbezeichnung) oder -e (z.B. Ausleihe: 1. ‘Handlung des Ausleihens’ > 2. ‘Ort, an dem man etw. ausleiht’; Nomen Actionis > Nomen Loci). Auch die umgekehrte semantische Entwicklung von ‘konkret’ zu ‘abstrakt’ ist möglich, wie das Beispiel -er zeigt: Die primäre Leistung dieses Suffixes ist die Bildung von Nomina Agentis (bei Wellmann 1975: 62f.: 67,8%). Daneben sind mit diesem Suffix aber u.a. auch Abstrakta dokumentiert, wie etwa Ausrutscher, Hopser, Jodler, Lacher, Schnaufer, Schnitzer, Seufzer, Rülpser und Versprecher. Im Gegensatz zu den Beispielen für den Wandel von ‘abstrakt’ zu ‘konkret’ sind diese Bezeichnungen für akustische Äußerungen bzw. schnelle Bewegungen bei Wellmann (1975: 226f.) aber nicht als „sekundär“ eingestuft. Auch diese Bildungen spiegeln zwar eine Reanalyse von Nomina Agentis wider (z.B. Jodler ‘jmd., der jodelt’; Lacher ‘jmd., der lacht’; Schnitzer ‘jmd., der etw. schnitzt’), allerdings ist in diesem Fall aus der ursprünglichen Bedeutungsbildung (z.B. Jodler: ‘jmd., der jodelt’ > ‘kurzes Jodeln’) ein produktiver Wortbildungsprozess ohne Nomina Agentis-Scharnier entstanden (vgl. auch Müller 2011).

79 5.5 Fremdwortbildung

Die Entstehung und Weiterentwicklung sekundärer Wortbildungsbedeutungen ist bislang noch unzureichend erforscht (vgl. Müller 2016). Dies gilt auch für die Frage, ob die Ausbildung neuer Wortbildungsbedeutungen überhaupt einen Wortbildungswandel reflektiert oder nicht. Dieser Aspekt ist auch deshalb von zentraler Bedeutung, weil damit die Frage nach der Produktivität von Wortbildungsmorphemen verbunden ist, also nach der Verwendung von Affixen für Neubildungen. So ist bei -ung die Dimension der Produktivität offensichtlich geringer, als es die Funktionsklassenübersicht von Wellmann (1975) nahelegt. Das Suffix -ung wäre danach zwar polysem, da es über mehrere Wortbildungsbedeutungen verfügt, aber monofunktional, d.h. nur zur Bildung von Abstrakta produktiv. Diese Differenz zwischen Wortbildung und Bedeutungsbildung ist in den meisten Wortbildungsdarstellungen unterbelichtet. Um beide Ebenen nicht zu vermischen, trennt Müller (2016: 310f.) begrifflich zwischen „Wortbildungsbedeutung“ und „Wortbildungsfunktion“: Wortbildungsbedeutungen sind lexemgebunden und ergeben sich aus der semantischen Analyse von Textwörtern, entsprechen also einer analytischen Perspektive. Wortbildungsfunktionen bezeichnen dagegen das Produktivitätspotential von Affixen. Das Suffix -ung ist nach der Darstellung bei Wellmann (1975) mit sieben Wortbildungsbedeutungen polysem, verfügt aber nur über eine Wortbildungsfunktion (Bildung von Abstrakta). Das Suffix -er ist ebenfalls polysem, aber anders als -ung auch polyfunktional, weil alle Wortbildungsbedeutungen mit unterschiedlicher Frequenz für Neubildungen genutzt werden, also produktiv sind. WSK 2: Metaphorisierung; Metonymisierung; polyfunktionales Affix; Polyfunktionalität; Polysemie; Wortbildungsbedeutung; Wortbildungsfunktion; Wortbildungsgruppe; Wortbildungspolysemie

5.5 Fremdwortbildung In Ergänzung zur bisherigen Darstellung der indigenen Wortbildung des Deutschen wird in diesem Abschnitt die Fremdwortbildung beschrieben (vgl. dazu die Überblicke bei Müller 2005, 2009, 2015a; Ganslmayer/Müller 2021a). Nach einer Skizze der Forschungsgeschichte werden die Entstehung und Entwicklung der Fremdwortbildung, die dafür verfügbaren Affixe und Konfixe sowie die Kombination mit der nativen Wortbildung im Rahmen von Hybridbildungen behandelt. Das Grundproblem jeder Darstellung der Fremdwortbildung, die Differenzierung zwischen Entlehnung und Wortbildung, steht abschließend im Fokus.

§ 33 Forschungsgeschichte Die Erforschung der Fremdwortbildung (auch: Lehnwortbildung) wurde im Rahmen der germanistischen Wortbildungsforschung lange Zeit kaum beachtet. So konnte Marchand noch 1955 zurecht feststellen: „Books on German word-formation systematically omit

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 80

treatment of foreign-coined words, obviously on the assumption that only morphemes of Germanic origin have a legitimate claim to a place in word-formation“ (Marchand 1955: 17). Diese bis in die 1960er Jahre bestehende weitgehende Abstinenz gegenüber dem Forschungsgegenstand Fremdwortbildung erweist sich auch als Ergebnis eines wissenschaftlichen Tabus: Dieses entstand im Zusammenhang mit einem Fremdwortpurismus, der sich im deutschen Sprachraum seit dem 17. Jh. entwickelt und in der Lexikographie zu einer weitgehenden Dichotomisierung zwischen der Dokumentation von Erbwortschatz bzw. Fremdwortschatz geführt hat. Dementsprechend finden sich auch in Wortbildungsdarstellungen Züge einer Stigmatisierung von Fremdwortbildungen. So stellt etwa Wilmanns zu -ieren-Verben fest, dass diese „wie Schlingenkraut den ebnen Boden unserer Rede [überziehen]“, und betrachtet es als „Missbrauch“, „die Endung -ieren auch deutschen Stämmen anzuhängen“ (Wilmanns 1899: 114). Stärkere Beachtung fand die Fremdwortbildung erst mit dem Übergang von einer eher diachronen, an einzelnen Wortbildungsmitteln ausgerichteten Forschungstradition zu einer auf die Gegenwartssprache bezogenen Wortbildungslehre, die das systematische Zusammenwirken der Wortbildungsmittel in den Mittelpunkt stellte und auch die Funktion nicht-nativer Wortbildungselemente betonte, wie etwa bei Fleischer (1969). Im Rahmen des seit 1985 im Institut für deutsche Sprache (Mannheim) durchgeführten Forschungsprojekts „Lehnwortbildung“ (vgl. Hoppe et al. 1987) wurde die nicht-native Wortbildung des Deutschen dann zum eigenen Forschungsgegenstand. Das eigentliche Ziel dieses Projekts, die Erarbeitung eines „Lexikons der deutschen Lehnwortbildung“, konnte zwar nicht realisiert werden − lediglich Einzelstudien zu Fremdmorphemen wurden publiziert ‒, aber dennoch bildete dieses Forschungsprojekt eine wichtige Basis für weitere Untersuchungen (Überblick bei Ganslmayer/Müller 2021a). Auch wenn die Erforschung der lange Zeit vernachlässigten Fremdwortbildung gegenwärtig Fortschritte macht, bieten die bislang vorliegenden Publikationen noch kein abgerundetes Bild. So bestehen nach wie vor größere Differenzen hinsichtlich der Analyse von Fremdwortbildungen und des Konfix-Begriffs (vgl. § 11), und für zahlreiche gebundene Fremdmorpheme ist das Wissen über deren Entlehnungsweg, über morphologischsemantische Entwicklungsprozesse, Kombinatorik, Gebrauchsradius und Produktivität noch zu gering. WSK 2: Fremdwortbildung

§ 34 Historische Entwicklung der Fremdwortbildung Die historische Entwicklung der deutschen Fremdwortbildung spiegelt die Geschichte der deutschen Sprachkontakte wider. Diese ist lange Zeit durch den dominanten Einfluss des Lateinischen schon seit dem frühen Mittelalter sowie des Französischen seit dem 12. Jh. geprägt. Andere Sprachen wie das Italienische oder Spanische seit der frühen Neuzeit sind weit weniger einflussreich, und das Englische spielt vor dem 18./19. Jh. so gut wie keine Rolle.

81 5.5 Fremdwortbildung

Voraussetzung für Fremdwortbildung ist Wortentlehnung. Bei den Wortentlehnungen ins Deutsche handelt es sich ganz überwiegend um gräkolateinischen Wortschatz, der teils aus dem Griechischen bzw. Lateinischen (Neulatein!), teils aber auch aus weiteren europäischen Sprachen (Französisch, Italienisch und Englisch dominieren als Kontaktsprachen) stammt. Auch Fremdwortbildungen lebender Fremdsprachen, die ebenfalls die weitreichende gräkolateinische Grundlage der Sprachen Europas bezeugen, gehören dazu. Die Herkunft ist nicht immer eindeutig zu klären, da auch mit gegenseitiger Beeinflussung und Polygenese zu rechnen ist, handelt es sich doch häufig um Internationalismen mit „Euro-Morphemen“. Wortentlehnung erfolgt teils ohne formale Anpassung (lat. Luxus > Luxus), teils mit Kürzung (lat. elementum > Element) bzw. weiterer morphologischer Integration. Schon von Anfang an geschieht die Entlehnung zum Teil mit Interferenzsuffixen, die die Anpassung an das morphologische System des Deutschen gewährleisten (vgl. lat. canin-us > ahd. kanin-isc ‘hündisch’; lat. congel-are > frnhd. congel-ieren ‘gefrieren’). Solange solche Lexeme innerhalb des Deutschen morphologisch unmotiviert sind, müssen sie als Simplizia betrachtet werden. Dies gilt etwa für das im 17. Jh. aus frz. stupidité entlehnte Substantiv Stupidität, das erst sekundär, nach Entlehnung des Adjektivs stupid im 18. Jh. unter synchronem Aspekt als morphologisch-semantisch motivierbare Wortbildung mit Suffix -ität aufgefasst werden kann, wenn auch – diachron gesehen – nicht als deutsche Fremdwortbildung, denn die Wortbildung wurde nicht im Deutschen geprägt. Die formale Angleichung von Lehnwörtern bildet zugleich das Fundament für deren weitere Verwendung im Rahmen der deutschen Fremdwortbildung. Denn die deutschen Fremdwortbildungen – diachron verstanden als die im Deutschen geschaffenen Wortbildungen mit entlehnten Morphemen – sind eine Folge der Entlehnung von (komplexen) Wörtern, deren Bauformen ein Muster abgeben konnten für die Prägung weiterer Lexeme (Neologismen). Der Fremdwortbildung liegen dabei zwei unterschiedliche Verfahren zugrunde: die Aktivierung von Fremdmorphemen (Lexeme, Präfixe, Suffixe) sowie die Morphematisierung fremdsprachiger Lexemsegmente. Im ersten Fall werden von dem Muster entlehnter Wörter ausgehend Fremdlexeme (vgl. lat. luxus > Luxus → Luxusartikel, Luxusauto, Luxusweibchen) oder Fremdaffixe (Präfixe wie lat. re-: resozialisieren bzw. Suffixe wie lat. -ismus: Darwinismus) für Neubildungen nutzbar gemacht. Morpheme, die in der Kontaktsprache wortfähig sind, treten dabei im Deutschen häufig nur gebunden auf (vgl. lat. post ‘nach, hinter’: postmodern). Im zweiten Fall resultiert die Nutzung fremder Wortbausteine als Wortbildungselemente aus einer Reanalyse. Morphematisiert werden im Allgemeinen solche Bestandteile von Fremdwörtern, die in der Herkunftssprache (Kontaktsprache) kein Affix darstellen, die aber auch nicht als Fremdwörter in das Deutsche übernommen worden sind. Zu entsprechenden Morphemen, die innerhalb der germanistischen Wortbildungsforschung in der Regel als Konfixe bezeichnet werden und nur gebunden auftreten, gehören etwa meter (zu griech. métron ‘Maß’: Barometer, Gasometer, Thermometer) und therm (zu griech. thermós ‘warm’: Thermostat, thermophil, isotherm). Die Geschichte der deutschen Fremdwortbildung ist bislang noch nicht hinreichend

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 82

erforscht. So ist nur für einzelne Fremdmorpheme detailliert untersucht, welche Lehnwörter das Muster für Neubildungen abgegeben haben (Leitwörter wie Anti-Christ, Post-Moderne oder Ex-Jesuit), welche Produktivitätsquote und welche morphologischen, semantischen bzw. pragmatischen Entwicklungsprozesse sich zeigen. Zudem ist zu bedenken, dass sich die Abgrenzung zwischen Wortentlehnung und deutscher Fremdwortbildung in vielen Fällen als schwierig erweist und selbst auf der Grundlage von Detailuntersuchungen nicht immer möglich ist (zu -ismus vgl. Ganslmayer/Müller 2021a, 2021b). Insgesamt zeichnet sich ab, dass das Phänomen „deutsche Fremdwortbildung“ erst seit der Frühen Neuzeit einen Entwicklungsschub erfährt, auch wenn die Anfänge schon im Frühmittelalter mit dem Fremdsuffix -āri (< lat. -ārius, nhd. -er: Lehr-er; vgl. Müller 2011) liegen und im 12./13. Jh. mit weiteren Suffixen französischer bzw. lateinischer Herkunft (-ier-: nhd. add-ier-en; -ier: nhd. Bank-ier; -(er)īe: nhd. Lauf-erei; -lei: nhd. vieler-lei) fortgesetzt wird. Begegnen Fremdsuffixe zu Beginn der Neuzeit nur vereinzelt, so nehmen sie in den folgenden drei Jahrhunderten rapide zu und werden um 1800 gleichwertig neben nativen Affixen genutzt. Humanismus, barocke Hofkultur und Aufklärung bedingen die weitgehende Bindung an gräkolateinische (neulateinische) bzw. französische Entlehnungsgrundlagen und schaffen damit die Voraussetzung für deren Weiterwirken im Rahmen der deutschen Fremdwortbildung. Dieser Befund reflektiert auch die Emanzipation des Deutschen als Wissenschaftssprache, verbunden mit der allmählichen Ablösung des humanistischen Neulateins als gelehrter Lingua franca. Das Verhältnis von Wortentlehnung und deutscher Fremdwortbildung ist quantitativ und qualitativ ganz unterschiedlich ausgeprägt und auch mit erheblichen Divergenzen in deren zeitlicher Abfolge verbunden, so dass kaum Verallgemeinerungen möglich sind. Die Beispiele -thek und ex- sollen dies verdeutlichen (vgl. Hoppe 1999, 2000): Das Konfix -thek ist zunächst im 16. Jh. in griechisch-lateinischen Lehnwörtern nachweisbar (1511 Bibliothek, 1548 Pinakothek). Erst sehr viel später – seit dem frühen 19. Jh. – wird es vereinzelt für deutsche Fremdwortbildungen verwendet: 1816 Glyptothek (‘[Ort einer] Sammlung von Glypten [geschnittenen Steinen, Skulpturen]’), 1905 Kartothek (‘[Ort einer] Zettelsammlung’), 1927 Pianothek (‘[Ort einer] Pianosammlung’). Als produktives Fremdmorphem ist -thek aber erst in jüngerer Zeit – seit den 1960er Jahren – mit zahlreichen, hinsichtlich Gebräuchlichkeit, Konnotation und Verwendungsradius abweichenden Neubildungen dokumentiert, z.B. 1960 Filmothek (‘[Ort einer] Sammlung von Filmen’), Phonothek (‘[Ort einer] Sammlung von Tonaufnahmen’), 1975 Hobbythek (‘[Ort einer] hobbybezogenen Sammlung’), 1981 Spielothek (‘[Ort eines] Sortiment(s) von Spielen’), 1988 Quatschothek (‘Ort, wo man quatschen kann’), Salatothek (‘[Ort eines] Salatsortiment[s]’), 1994 Puffothek (‘Bordell’), Schnapsothek (‘Ort, an dem man Schnaps trinken/kaufen kann’). Ein anderes Bild ergibt sich dagegen für das Fremdpräfix ex- (‘ehemalig’): Es ist zunächst nur vereinzelt in neulateinischen Lehnwörtern dokumentiert (z.B. 1746 Excalvinist), erfährt dann aber ausgehend von dem Leitwort Exjesuit (1773 im Zusammenhang mit der Aufhebung des Jesuitenordens geprägt) schon bald einen Produktivitätsschub und ist noch im 18. Jh. in zahlreichen Neubildungen mit exogenen bzw. nativen Basen

83 5.5 Fremdwortbildung

belegt (Exgeneral, Exminister, Exnonne, Exschuster, Exfrau, Exnachtwächter etc.). Diese Produktivität hat sich bis heute erhalten, wo ex- immer häufiger auch als wortfähiges Morphem verwendet wird (z.B. mein Ex = ‘Ex-Freund, Ex-Mann, Ex-Geliebter, Ex-Lebensgefährte etc.’). Eine solche Lexematisierung (Degrammatikalisierung) zeigen auch andere Morpheme wie bio und öko. Im Gegensatz zu Wortbildungen mit -thek und ex-, die die Produktivität beider Kombineme verdeutlichen, gibt es aber auch zahlreiche Fremdmorpheme, die im Deutschen keine oder nur eine ganz geringe Wortbildungsaktivität zeigen. Sie sind Bestandteil von Lehnwörtern, die im Deutschen durch Bezugslexeme morphologisch-semantisch motivierbar und damit analysierbar sind. Dazu zählen nicht wenige Prä- und Suffixe wie etwa -and (Habilitand) oder -esse (Baronesse), die in der Regel nur in wenigen Bildungen nachweisbar sind und vermutlich auch deshalb wortbildungsinaktiv bleiben. In Bezug auf das quantitative Verhältnis beider Morphemgruppen ist zweifellos die Feststellung von Munske (2009: 247) zutreffend, dass die „Zahl der auch im Deutschen motivierten Entlehnungen (im Sinne analysierbarer Muster) […] um ein Vielfaches höher [ist] als die der produktiv im Deutschen entstandenen Lehnwortbildungen“. Im Rahmen der folgenden Übersicht über Fremdaffixe und Konfixe wird dies näher erläutert. WSK 2: Degrammatikalisierung; Fremdwortbildung; Interferenzsuffix; Morphematisierung; neoklassisches Kompositum

§ 35 Fremdaffixe und Konfixe Die folgende Übersicht über Affixe und Konfixe (zu Abgrenzungsproblemen vgl. § 11) berücksichtigt Morpheme, die für die Allgemeinsprache eine gewisse Relevanz besitzen. Die Affixe sind nach Wortarten unterteilt, die Konfixe nach ihrem Status als initiale und/ oder terminale Wortbildungseinheiten. Im Anschluss an die Zusammenstellung der Morpheme folgen Hinweise zu Wortbildungsbedeutungen sowie zur Produktivität. Die Sicht auf diese Wortbildungseinheiten ist rein analytisch. Die Darstellung geht primär von der Identifizierung als Morpheme aus, nicht von der Produktivität. Wie noch gezeigt wird, sind die meisten dieser Elemente im Deutschen (nahezu) wortbildungsinaktiv. Fremdpräfixe: a. Substantiv: a-/an- (Amoral), anti- (Antithese), bi- (Bimetall), de-/des- (Desinteresse), dis- (Disharmonie), ex- (Ex-Monarch), hyper- (Hyperproduktion), inter- (Interdisziplin), ko-/kol-/kom-/ kon-/kor- (Koautor), mega- (Mega-Hit), meta- (Metakommunikation), non- (Nonexistenz), pan- (Paneuropa), post- (Postmaterialismus), prä- (Präexistenz), pro- (Prorektor), re- (Reimport), semi- (Semifinale), sub- (Subkultur), super- (Supertalent), supra- (Suprasystem), top- (Topagent), trans- (Transaktion), ultra- (Ultrafaschist), vize- (Vizepräsident) b. Adjektiv: a-/an- (asozial), anti- (antiliberal), bi- (bilateral), de-/des- (dezentral), dis- (dispropor-

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 84

tional), ex- (exradikal), extra- (extrakommunikativ), hyper- (hypernervös), in-/il-/im-/ir(irrregulär), inter- (interaktiv), intra- (intrafamiliär), mega- (megacool), meta- (metakommunikativ), non- (nonverbal), pan- (panarabisch), post- (postpubertär), prä- (pränatal), pro- (proenglisch), semi- (semiprofessionell), sub- (subnormal), super- (superintelligent), supra- (supranational), top- (topaktuell), trans- (transsexuell), ultra- (ultrakonservativ) c. Verb: de-/des- (deaktivieren), dis- (disqualifizieren), in- (inaktivieren), ko-/kol-/kom-/kon-/kor(koexistieren), re- (resozialisieren) Wie diese Übersicht zeigt, werden zahlreiche Präfixe wortartübergreifend zur Modifikation von Basissubstantiven, -adjektiven und -verben verwendet. Das Ausmaß der Produktivität von Fremdpräfixen ist – und dies gilt auch für Suffixe und Konfixe (s.u.) – nicht immer leicht zu bestimmen. Sie kann über längere Zeit hinweg stabil bleiben, aber auch stärkeren Schwankungen unterliegen, die sich an der Zu- bzw. Abnahme von Neologismen zeigen und im Extremfall zur Inaktivität führen können. Andere Fremdmorpheme haben dagegen im Deutschen nie eine nennenswerte Produktivität entwickelt. Sie sind im Rahmen von im Deutschen motivierten Fremdwortbildungen analysierbar, haben aber keinen Modellcharakter für Neubildungen. Auch die zum Teil sehr spezifische Textsortenbindung von Fremdmorphemen mit einer Präferenz (fach-)wissenschaftlicher bzw. journalistischer Texte ist zu berücksichtigen. Für die Fremdpräfixe ergibt sich ein disparates Bild, das von inaktiven oder nur vereinzelt für Neubildungen genutzten bis zu signifikant produktiven Elementen reicht. Zu diesen zählen die Präfixe anti-, ex-, mega-, super- und top-, wobei sich wortartspezifische Unterschiede ergeben wie bei ex-, das mit der allgemeinsprachlichen Bedeutung ‘ehemalig’ nur bei Substantiven produktiv ist, nicht aber bei Adjektiven. In semantischer Hinsicht lassen sich die Fremdpräfixe im Wesentlichen den Bedeutungsgruppen ‘Negation’ (a-/an-, de-/des-, dis-, in-/il-/im-/ir-, non-), ‘Augmentation’ (extra-, hyper-, mega-, super-, top-, ultra-), ‘temporale Relation’ (ex-, post-, prä-, re-), ‘räumliche Relation’ (meta-, extra-, inter-, intra-, pan-, sub-, supra-, trans-) und ‘Quantifizierung’ (bi-) zuordnen. Außerhalb dieser Gruppen stehen die Präfixe anti- (‘gegen’), ko-/kol-/kom-/kon/kor- (‘zusammen mit’), pro- (‘anstatt’), semi- (‘halb’) und vize- (‘stellvertretend’). Nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ ergeben sich damit Unterschiede zur kleinen Gruppe der nativen Präfixe, bei denen die Augmentation einen deutlich geringeren Stellenwert einnimmt – diese Funktion erfüllen primär präfixoide Kompositionsglieder (z.B. mords-: Mordshunger ‘sehr großer Hunger’; sau-: saukalt ‘sehr kalt’; tod-: todtraurig ‘sehr traurig’) – und temporal-räumliche Modifikationsfunktionen fehlen. Fremdsuffixe: a. Substantiv: -ade (Robinsonade), -age (Kartonage), -aille (Journaille ‘Journalisten, die mit ihren Beiträgen Hetze betreiben’), -alien (Archivalien), -ament/-ement (Bombardement), -and/-end (Doktorand), -aner (Afrikaner), -ant/-ent (Fabrikant), -anz/-enz (Dominanz), -ar/-är (Revolutuionär), -arium (Planetarium), -at (Konsulat), -ee (Resümee), -ese/-iese (Vietnamese), -ess (Stewardess), -esse (Delikatesse), -ette (Operette), -erie (Galanterie), -eur (Boykotteur), -euse

85 5.5 Fremdwortbildung

(Friseuse), -ie (Aristokratie), -ine (Blondine), -ing (Coaching), -ier (Bankier), -iere (Garderobiere), -ik (Problematik), -iker (Alkoholiker), -ion (Diskretion), -ismus (Aktivismus), -ist (Terrorist), -it (Israelit), -ität (Banalität), -ness (Fairness), -or (Illustrator), -ur (Architektur) b. Adjektiv: -abel/-ibel (diskutabel), -al/-ell (regional), -ant/-ent (charmant), -ar/är (atomar), -esk (clownesk), -iv (instinktiv), -oid (faschistoid), -os/-ös (medikamentös) c. Verb: -ier- (asphaltieren), -ifizier- (personifizieren), -isier- (stabilisieren) Ebenso wie im Bereich der nativen Wortbildung ist auch bei der Fremdwortbildung im Deutschen der Anteil an substantivischen Suffixen deutlich höher als an adjektivischen und vor allem an verbalen. Anders als Präfixe sind Suffixe nicht nur mit Lexemen, sondern auch mit Konfixen kombinierbar, was bei der Annahme von Motivationsbasen zu Problemen und unterschiedlichen Lösungen führen kann (z.B. polemisch: 1. Konfixderivation: Konfix polem- + Suffix -isch; 2. Desubstantivische Derivation mit Suffixsubstitution: Polem-ik > polem-isch). In semantischer Hinsicht sind – ebenso wie bei den Präfixen – monoseme Suffixe wie -oid (‘ähnlich’: z.B. faschistoid, snoboid, grippoid: ‘Verhalten bzw. Erkrankung, die einem Faschisten/Snob bzw. einer Grippe ähnlich ist’) von polysemen zu unterscheiden. So bezeichnen Derivate mit -or sowohl Nomina Agentis (z.B. Illustrator ‘jmd., der etwas illustriert’) als auch Nomina Instrumenti (z.B. Isolator ‘Material, mit dem man etwas isoliert’). Die Wortbildungsbedeutungen der Fremdsuffixe entsprechen im Allgemeinen dem nativen Bereich. Bei den Substantiven finden sich außer Nomina Agentis und Nomina Patientis auch Nomina Loci (z.B. Konsul-at), Nomina Abstracta (z.B. Monarch-ie), Movierung (z.B. Baron-esse), Kollektivbildung (z.B. Archiv-alien) und Diminuierung (z.B. Oper-ette). Im adjektivischen Bereich dominieren durch Basissubstantive motivierte Relationsadjektive (z.B. region-al ‘die Region betreffend’), komparative (z.B. clown-esk ‘wie ein Clown’) und ornative (z.B. charm-ant ‘mit Charme versehen’) Bildungen sowie durch Verben motivierte Derivate mit passivisch-modaler Bedeutung (z.B. diskut-abel ‘kann diskutiert werden’). Die verbalen Suffixe -ier-, -ifizier- und -isier-, zum Teil auch als Allomorphe betrachtet, erweisen sich als ausgesprochen polysem. Zu den durch Substantive motivierten Bildungen zählen insbesondere ornative (z.B. asphalt-ier-en ‘mit Asphalt versehen’), faktitive (z.B. pulver-isier-en ‘zu Pulver machen’) und agentive/imitative (z.B. spion-ier-en ‘als Spion tätig sein’) Bildungen. Durch Adjektive motivierte Derivate sind in der Regel Faktitiva (z.B. legal-isier-en ‘legal machen’). Werden Verben zu Konfixen gebildet, so sind -ier-, -ifizier- und -isier- als Verbalisierer fester Bestandteil entsprechender Bildungen (z.B. stud-ier-en, elektr-ifizier-en, polit-isier-en). Das Suffix -ier- fungiert allerdings nicht nur als Derivationssuffix, sondern auch als seit dem 12. Jh. genutztes Interferenzsuffix, das fremdsprachige Verben in das deutsche Flexionssystem eingliedert. Nicht alle dieser Verben stellen im Deutschen motivierte Wortbildungen dar (z.B. edieren ‘Bücher herausgeben, veröffentlichen’ < lat. edere ‘herausgeben’  googlen/googeln, EMail > emailen, scannen > das Scannen), Rückbildung (z.B. Powerwalking > powerwalken, Windsurfing > windsurfen), Wortkreuzung (z.B. Magalog ‘Journal, das eine Mischung aus Magazin und Katalog darstellt’, Bistrorant ‘Gaststätte, die eine Mischung aus Bistro und Restaurant darstellt’) und Kurzwortbildung (z.B. Homo < Homosexueller, inlinen < inlineskaten). Zu den Charakteristika der Fremdwortbildung zählen neben der Morphemkategorie „Konfix“ mit den eigenen Wortbildungstypen Konfixkomposition (z.B. Bio-Schwein, Gastronom, Spielothek) und Konfixderivation (z.B. polemisch) sowie den Fremdsuffixen mit Hauptakzent auch die Fugenelemente -o- und (selten) -i- (z.B. Stratigraphie), die auf Kompositionsvokale des Griechischen (-o-) bzw. des Lateinischen (-i-) zurückgehen. Sie treten in der Regel in substantivischen und adjektivischen Fremdwortbildungen auf, die

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 88

mindestens ein gräkolateinisches Konfix enthalten. Auch die Interpretation entsprechender Konfixkomposita erfolgt uneinheitlich, weshalb etwa für das Substantiv Filmothek eine dreifache Strukturierung möglich ist: mit Fugenelement -o- (Film-o-thek), mit der Kompositionsstammform filmo- (Filmo-thek) und mit dem Postkonfixallomorph -­othek (­Film-othek). Für die Verwendung von -o- ist grundsätzlich das Vorhandensein bzw. Fehlen eines vokalischen Auslauts des Erstelements bzw. eines vokalischen Anlauts des Zweitelements maßgebend. Deshalb fehlt -o- in Hobbythek (vokalischer Auslaut des Erstelements Hobby) und in thermal (vokalischer Anlaut des Fremdsuffixes -al), und deshalb fehlt -o- auch grundsätzlich bei der Kombination von Präkonfixen mit Verben, da hier das vokalisch anlautende und den Hauptakzent tragende Suffix -ier- (-ifizier-, -isier-) fester Bestandteil ist (z.B. hydr-ieren vs. Hydr-o-phobie, Hydr-o-skop, hydr-o-phil). WSK 2: Derivation; Fremdmorphem; Fremdpräfix; Fremdsuffix; Fugenelement; Komposition; Konfix; Konversion; Kurzwortbildung; -o-Fuge; Produktivität; Rückbildung; Wortbildungsbedeutung; Wortkreuzung

§ 36 Hybridbildungen Hybridbildungen (Mischbildungen) sind Wortbildungen, die aus der Kombination exogener mit nativen Morphemen entstanden sind (Überblick bei Munske 2009). Die folgende Übersicht bietet eine Zusammenstellung der Kombinationsmöglichkeiten, die nach den Wortbildungsarten Komposition (a–d) und Derivation (e–j) untergliedert sind: a. exogenes Lexem + indigenes Lexem: Luxus+wohnung b. indigenes Lexem + exogenes Lexem: Glas+manufaktur c. indigenes Lexem + Konfix: Spiel-o-thek d. Konfix + indigenes Lexem: Hydr-o-werk e. exogenes Präfix + indigenes Lexem. Ex+König f. indigenes Präfix + exogenes Lexem: ab+montieren g. indigenes Lexem + exogenes Suffix: hof+ier-en h. exogenes Lexem + indigenes Suffix: Autor+schaft i. exogenes Konfix + indigenes Suffix: stat+isch j. indigenes Präfix + exogenes Lexem + exogenes Suffix: ver+absolut+ier-en In Bezug auf die Frequenz ergeben sich für diese Subtypen größere Unterschiede. Bei der Komposition gibt es für die Modelle (a) und (b) keinerlei Restriktionen, sie werden massenhaft verwendet. Die Kombination von Fremdkonfixen mit indigenen Lexemen (c, d) zählt dagegen zu den eher selten genutzten Modellen, wobei in den letzten Jahren stilistisch auffällige Verbindungen u.a. mit -thek (z.B. Quatsch-o-thek ‘Ort, wo man quatschen kann’) zunehmen. Während im Bereich der substantivischen und adjektivischen Komposition abgesehen von hybriden Konfixkomposita kaum Bildungsbeschränkungen bestehen, zeigen

89 5.5 Fremdwortbildung

sich für die Derivation stärkere Restriktionen. Im Bereich der Suffigierung entsprechen Hybridbildungen ganz überwiegend den Strukturtypen (h) und (i). Das indigene Suffix wirkt hier assimilierend. Sehr produktiv sind die Suffixe -ung (z.B. Klassifizier-ung), -in (z.B. Sekretär-in), -isch (z.B. elektr-isch) und -bar (z.B. praktizier-bar). Der umgekehrte Fall (Modell g), bei dem das exogene Suffix die indigene Basis „verfremdet“, ist dagegen selten. Dazu zählen Bildungen mit -ist (z.B. Lager-ist), -ität (z.B. Schwul-ität) und -ier- (z.B. gast-ier-en). Auch bei Präfixderivaten zeigen sich Divergenzen: Während bei Verben Hybridbildungen des Typs indigenes Präfix/Partikel + exogenes Lexem (Modell f) häufig vorkommen (z.B. ent-tabuisieren, ab-montieren, um-sortieren), teils auch als denominale Bildungen mit Präfix-Suffix-Struktur (Modell j, z.B. ver-absolut-ieren), sind im nominalen Bereich nur Bildungen mit un- geläufig, vor allem bei Adjektiven (z.B. un-exakt, un-präzise). Dafür finden sich im Nominalbereich zahlreiche Beispiele für Modell (e), darunter viele Augmentativbildungen mit mega- (z.B. Mega-Stau), hyper- (z.B. hyper-genau) und ultra- (z.B. ultra-stark) sowie Derivate mit ex- (z.B. Ex-Fußballer) und anti- (z.B. anti-deutsch). Nicht nur hinsichtlich der Frequenz der einzelnen Modelle hybrider Wortbildung, sondern auch in Bezug auf die Wortbildungsaktivität der nativen und exogenen Affixe bestehen größere Unterschiede. So werden verbale Fremdpräfixe (de-, dis-, in-, ko-, re-) überhaupt nicht zur Hybridbildung genutzt, während im nominalen Bereich Präfixe mit großer Produktivität begegnen (ex-, hyper-, mega-). Munske (2009: 253) erklärt dies damit, „daß Lehnbildungsmodelle in morphologisch und semantisch eindeutigen Nischen besonders erfolgreich sind und hier auch Modelle der indigenen Wortbildung verdrängen und ersetzen können“. Allerdings spielt wohl auch die Frequenz eine wichtige Rolle, denn gerade die analysierbaren, aber unproduktiven Strukturmuster sind im Deutschen in der Regel nur mit wenigen Lehnwörtern präsent (z.B. -ast: Gymnasiast, Enthusiast; -ee: Gelee, Odyssee, Resümee). WSK 2: Hybridbildung; Wortbildungsaktivität

§ 37 Deutsche Fremdwortbildung vs. Entlehnung Wie bereits mehrfach angesprochen, besteht das Grundproblem der Fremdwortbildungsforschung darin, produktive von unproduktiven Wortbildungsstrukturen zu unterscheiden. Gerade in diesem Punkt ist der Forschungsstand sehr unbefriedigend, was in den Darstellungen zur Wortbildung in der Regel dazu führt, den Anteil der deutschen Fremdwortbildung zu überschätzen. Am Beispiel einer Auswertung zu -ismus (vgl. Ganslmayer/ Müller 2021a: 133ff.) lassen sich drei Aspekte festmachen, die zukünftig einer Revision bedürfen: a. Es fehlt eine Differenzierung zwischen Entlehnungen und deutschen Fremdwortbildungen, so dass kein angemessener Eindruck über die tatsächliche Produktivität von -ismus entsteht.

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b. Es erfolgt keine Unterscheidung zwischen alten und neuen Wortschatzschichten, so dass auch keine zutreffende Aussage zur gegenwartssprachlichen Produktivität möglich ist. So sind bei Wellmann (1975, 80f. mit Abschnittsverweisen) 53 Beispiele für -ismus-Bildungen angeführt, von denen 45 bereits für den Zeitraum von 1572 bis 1913 belegt sind. Fleischer/Barz (2012: 246) erwähnen 41 Bildungen, von denen 38 schon für den Zeitraum von 1592 bis 1915 nachweisbar sind. Die Bildungsweise von -ismus wird auf Basis synchroner Analyseregeln bei Fleischer/Barz (2012: 246) folgendermaßen erklärt: Die Masse der Derivate wird von Adjektiven auf -al gebildet: Feudalismus, Idealismus, Klerikalismus, Liberalismus, Nationalismus; häufig auch von Adjektiven auf ‑iv: Aktivismus, Positivismus, Relativismus; andere sind seltener: Absolutismus, Humanismus, Separatismus.

Aussagen zur Suffixproduktivität werden hier ausschließlich auf Basis von Bildungen getroffen, die bereits viel früher belegt sind und überwiegend Entlehnungen darstellen. c. In semantischer Hinsicht werden ahistorische Analysen geboten, die den tatsächlichen Produktionsregeln nicht entsprechen. So konstruiert Wellmann (1975: 80f.) einen Zusammenhang zwischen Adjektiven bzw. Substantiven der jeweiligen Wortfamilie als Motivationsbasis und -ismus-Bildungen, wie die Beispiele Hebraismus und Optimismus zeigen: Hebraismus: deadjektivische Agensbildung zu hebräisch: ‘hebräische Sprachform’. Optimismus: deadjektivische bzw. desubstantivische Abstraktbildung zu optimistisch/Optimist: ‘Tatsache, daß jmd. optimistisch/Optimist ist’. In beiden Fällen handelt es sich aber nicht um deutsche Fremdwortbildungen, sondern um Entlehnungen aus dem Neulatein. Auch die Analyse bei Fleischer/Barz (2012, 246), in solchen Fällen von einem „Konfix“ als Basis auszugehen, also bei Optimismus z.B. von optim-, bietet eine reine Sekundärmotivation, spiegelt aber die ursprüngliche Bildungsweise nicht wider. Hier sind zukünftig neue Wege zu bestreiten, für die die Genese von Bildungsmustern genauso wichtig ist wie gegenwartssprachliche Korpusanalysen mit Erfassung von tatsächlichen Neologismen. WSK 2: Fremdwortbildung; Neologismus; Produktivität

5.6 Historische Wortbildung Die gegenwartssprachliche Wortbildung basiert auf sehr unterschiedlichen Formen von Wortbildungswandel, die sich vom Beginn der deutschen Sprachgeschichte im Althochdeutschen (ca. 750‒1050) über das Mittelhochdeutsche (1050‒1350), Frühneuhochdeutsche (1350‒1650) und ältere Neuhochdeutsch (1650‒1900) bis in die Gegenwart erstrecken. Im Anschluss an eine knappe Forschungsskizze zur historischen Wortbildung werden die zentralen Formen von Wortbildungswandel an Beispielen aufgezeigt. Bei den behandelten Entwicklungstendenzen handelt es sich teils um Wortbildungswandel im engeren Sinn, bei dem Wortbildungsmodelle hinsichtlich Basisaffinität (morphologisch-

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5.6 Historische Wortbildung

semantische Charakteristika der Wortbildungsbasis) und Wortbildungsfunktionen einen Wandel erfahren, teils um Schnittstellenphänomene, bei denen phonologische, lexikalische, morphologische und syntaktische Wandelerscheinungen auf die Wortbildung wirken. Sie führen dazu, dass Wortbildungsmodelle unproduktiv bzw. morphologisch undurchsichtig werden sowie neue Modelle entstehen, und sie bedingen auch den formalen bzw. funktionalen Wandel von Wortbildungsmodellen. Von besonderer Bedeutung für die Wortbildung des Deutschen sind im Verlauf der Sprachgeschichte Tendenzen zur Univerbierung (Wortgruppe > Wortbildung), zur Grammatikalisierung (Lexem > Affix), zur Ausbildung einer deutschen Fremdwortbildung ‒ diese ist in Abschnitt 5 abgehandelt ‒ sowie zur Standardisierung, verbunden mit dem Abbau von Allomorphen, Konkurrenzbildungen, idiomatisierten Wortbildungen und Bildungen mit pleonastischem (funktionslosem) Affix, wodurch die Effizienz des Wortbildungssystems steigt. Reanalyse spielt bei vielen Wandelerscheinungen eine zentrale Rolle.

§ 38 Forschungsgeschichte Die Erforschung der historischen Wortbildung des Deutschen (Überblick bei Müller 1993, 2002; Solms 1998) hat ihre Wurzeln im 19. Jh. im Rahmen der sich ausbildenden historisch-vergleichenden Sprachforschung. Lange Zeit prägend wurde Jacob Grimms Behandlung der Wortbildung im zweiten und dritten Band seiner „Deutschen Grammatik“ (1819-37). Grimms primär diachrone, an etymologischen Kriterien orientierte Darstellung, eher ausdrucksseitig als semantisch und eher am Einzelwort als am Wortbildungssystem ausgerichtet, blieb grundsätzlich auch für die späteren Darstellungen von Wilmanns (1899) bis Henzen (1965) maßgebend. Seit Mitte der 1980er Jahre wurde diese Forschungsrichtung im Zuge eines theoretisch-methodischen Paradigmenwechsels um eine „historisch-synchrone Wortbildungsforschung“ ergänzt, die an die gegenwartssprachlichen Untersuchungen des IDS-Projekts „Deutsche Wortbildung“ (vgl. § 7) anknüpften. Für diesen Ansatz (vgl. Müller 1993, 2002) sind folgende Ziele charakteristisch, die einen Gegensatz zur traditionellen diachronen Wortbildungsbetrachtung darstellen: (a) Die Rekonstruktion historischer Wortbildungssysteme, um das funktionale Zusammenwirken der Morpheme und Wortbildungsmuster zu erfassen. Die Analyse erfolgt damit primär unter synchroner, d.h. auf einen bestimmten Zeitraum bezogener Perspektive mit Erschließung der zu diesem Zeitpunkt gegebenen morphologisch-semantischen Motiviertheit von Wortbildungen. (b) Die Erarbeitung der Wortbildungsanalyse basiert auf der Analyse umfangreicher Textkorpora und nicht anhand von Wörterbuchbelegen bzw. Zufallsfunden, und die Ergebnisse beruhen auf einer genauen prozentualen Auswertung, nicht auf Schätzungen von Beleghäufigkeit. (c) Der diachrone Vergleich historisch-synchroner Wortbildungsanalysen ermöglicht Aussagen über den Wandel von Wortbildungssystemen, über Veränderungen im Funktionspotential von Wortbildungsmodellen, Konkurrenzen und Oppositionen sowie das funktionale Zusammenwirken von Wortbildungsmodellen bei der Konstituierung von Funktionsklas-

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sen (d.h. Wortbildungsbedeutungen wie Abstrakta, Nomina Agentis, Kollektiva etc.), so dass Entwicklungslinien vom mittelalterlichen zum frühneuzeitlichen und neuhochdeutschen Wortbildungssystem erkennbar werden. Entsprechende Arbeiten wurden zunächst zum Frühneuhochdeutschen vorgelegt; seit dem 21. Jh. rückte auch das Mittelhochdeutsche in den Mittelpunkt (Forschungsüberblick bei Müller 2015b). Untersucht wurden in erster Linie substantivische, adjektivische und verbale Derivationssysteme, daneben auch die Komposition (vgl. Meineke 2016; Kopf 2018). Zur Wortbildung des Althochdeutschen sowie des neueren Deutsch (17.–19. Jh.; vgl. Kempf 2016 zur Adjektivderivation) fehlen systemorientierte Vergleichsdarstellungen weitgehend. Die historische Entwicklung von Konversionen ist nur zum Teil erfasst (im Rahmen von Arbeiten zur Derivation). Zu anderen Wortbildungsarten fehlen eigenständige Untersuchungen dagegen ganz. Eine Gesamtdarstellung zur historischen Wortbildung des Adverbs bietet Heinle (2004). Durch die Aufbereitung umfangreicher Textkorpora (z.B. Referenzkorpus des Ahd., Mhd. und Frnhd. sowie das Deutsche Textarchiv für den Zeitraum von 1500 bis 1900) bieten sich der Erforschung der historischen Wortbildung neue Möglichkeiten, z.B. hinsichtlich der Produktivitätsmessung (vgl. Ganslmayer/Müller 2021; Kempf 2021). Ein Vergleich der Sammelbände von Habermann/Müller/Munske (2002) mit Ganslmayer/ Schwarz (2021) zeigt den Wandel in der Erforschung der historischen Wortbildung des Deutschen im Verlauf der letzten 20 Jahre. WSK 2: historische Wortbildung (1); historisch-synchrone Wortbildung; korpusbasierte Wortbildungsforschung

§ 39 Entstehung von Wortbildungsmodellen (a) Univerbierung: Eine große Bedeutung kommt im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte der Univerbierung von syntaktischen Gruppen zu Wortbildungen zu. Dass das Deutsche heute eine besonders kompositionsfreudige Sprache ist, resultiert zum großen Teil aus der Entstehung von Komposita aus Wortgruppen, durch die neue Wortbildungsmodelle entstanden sind. Eine besondere Rolle spielen dabei entsprechende Veränderungen im Bereich substantivischer N+N-Komposita: Schon seit dem Ahd. gibt es zwei, aus dem (Indo-)Germanischen ererbte Kompositionstypen (cf. Lindner 2011: 15ff., 50ff.), Stammkomposita (traditionell: „eigentliche“ bzw. „echte“ Komposita bzw. „Zusammensetzung“) und Kasuskomposita (traditionell: „uneigentliche“ bzw. „unechte“ Komposita bzw. „Zusammenrückung“). Bei den Stammkomposita, die als sprachgeschichtlich älter gelten, ist das determinierende Erstglied ein Nominalstamm (z.B. ahd. hunt-fliaga ‘Hundsfliege’). Zum Teil sind Erst- und Zweitglied durch einen Fugenvokal (ahd. -a-, -e-, -i-, -o-, -u-) verbunden, bei dem es sich historisch um ein stammbildendes Suffix handelt (z.B. ahd. taga-lioht ‘Tageslicht’, spil-i-hūs ‘Theater’). Teils sind diese germanischen Stammbildungssuffixe bereits ahd. aufgegeben bzw. erscheinen in Abhängigkeit von Quantität und Qualität

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5.6 Historische Wortbildung

des Nominalstamms, aber auch zeitlich, sprachräumlich oder wortspezifisch bedingt in veränderter Form und in Varianten (z.B. neben spil-i-hūs auch spil-o-hūs, spil-e-hūs und spil-hūs). Zum Mhd. hin werden sie zu -e- abgeschwächt und (später) zum Teil auch aufgegeben (vgl. ahd. bot-a-scaf > mhd. bot-e-schaft > nhd. Bot-schaft). Nur wenige der nhd. Komposita mit -e-Fuge lassen sich auf ahd. Bildungen mit Fugenvokal zurückführen (z.B. nhd. Tag-e-werk), so dass die Entstehung von Fugenelementen aus stammbildenden Suffixen im Deutschen unbedeutend ist. Die Stammkomposita überwiegen im Ahd. und Mhd. noch deutlich im Vergleich mit dem zweiten Typ sog. Kasuskomposita, bei denen das Erstglied ein Genitivflexiv aufweist (z.B. ahd. tages-zīt ‘Tageszeit’, sunnūn-tag ‘Sonntag’). Die Abgrenzung zwischen Kasuskomposita und Syntagmen ist aufgrund vielfacher Getrenntschreibung allerdings oft nicht eindeutig möglich, so dass sich eine strukturelle Ambiguität ergibt (z.B. ahd. huntes zunga ‘Zunge eines Hundes/Hundezunge’ als Nominalphrase mit pränominalem Genitivattribut [[huntes] zunga] oder als Genitivkompositum [huntes zunga]). Auch eine Differenzierung zwischen Stammkompositum und Kasuskompositum ist nicht immer eindeutig möglich (z.B. ahd. hell-e-wazer ‘Fluss der Unterwelt’ mit Genitive oder abgeschwächtem Stammvokal -i). Erst seit dem 16./17. Jh. steigt die Frequenz von Kasuskomposita stark an und führt zur Herausbildung eines sehr produktiven Kompositionsmodells (vgl. Kopf 2018). Dies steht im Zusammenhang mit einem im Frnhd. wirksam werdenden syntaktischen Wandel, der Umstrukturierung von pränuklearen zu postnuklearen Genitivattributen (vgl. der sunnen schein > der Schein der Sonne). Im Zuge dieses Wandels wurden die Grenzen zwischen Syntagma und Kompositum fließend, und lexikalisierte syntaktische Verbindungen (Nominalphrasen) konnten als Komposita reanalysiert werden (z.B. [[der tohter] man]NP > [der [tohter man]]KOMP ‘Schwiegersohn’), wobei die Genitivflexive als Fugenlemente umfunktionalisiert (grammatikalisiert) und dann auch unparadigmatisch verwendet werden konnten (vgl.. nhd. Geburt-s-tag, obwohl Geburt kein -s-Flexiv aufweist). Durch Analogiebildung entstanden zahlreiche neue, auch mehrgliedrige Kasuskomposita, deren Status als Kompositum im 17. Jh. auf unterschiedliche Art graphisch markiert wurde (z.B. RechtsSachen, Kenn=Zeichen). Auch für andere Wortarten spielt die Univerbierung (auch: Zusammenrückung; Inkorporation) eine wichtige Rolle. Von zentraler Bedeutung ist sie für die adverbiale Wortbildung (Überblick bei Heinle 2004). Entsprechende Bildungen, vor allem mit adverbialen, präpositionalen und nominalen Letztgliedern sind schon ahd. belegt und nehmen seit dem Mhd. deutlich zu (z.B. nhd. da-durch, dort-hin, der-zeit). Bei den Adjektiven führt Univerbierung zur großen Gruppe der Partizipialkomposita, bei denen das Letztglied ein Adjektiv in der Form des Partizip I bzw. II darstellt (z.B. nhd. preis-gekrönt, ohren-betäubend). Entsprechende Bildungen, die nicht immer eindeutig von Syntagmen zu unterscheiden sind und in der Gegenwartssprache sehr zahlreich vorkommen, stellen ein Phänomen der jüngeren Sprachgeschichte dar. Aus dem Mittelalter gibt es kaum Beispiele. Unter diachronem Aspekt handelt es sich auch bei den Präfix- bzw. Partikelverben um Beispiele für Univerbierung, weshalb diese Wortbildungen in den traditionellen Handbüchern als Präfix- bzw. Partikelkomposita bezeichnet werden (vgl. Wilmanns 1899: 115ff.).

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Sie sind durch Zusammenrückung von Adverbien/Präpositionen mit Verben entstanden. Teils sind sie schon im Ahd. als Präfixe eingefroren (z.B. ahd. int-ērēn ‘entehren’), teils begegnen sie bis heute auch als selbstständiges Wort (z.B. ahd. miti-loufan ‘mitlaufen’). Bei allen diesen verbalen Präelementen ist die Univerbierung mit Grammatikalisierung verbunden. Da die Partikelverben ebenso wie die seltenen Adjektiv-Verb- bzw. Substantiv-Verb-Verbindungen (z.B. nhd. fest-binden, stand-halten) – auch diese werden zum Teil den Partikelverben subsumiert (vgl. § 15) ‒ morphologisch und syntaktisch trennbar sind, wird ihr Status als Wortbildung allerdings zum Teil infrage gestellt und eine Interpretation als Syntagma präferiert. Damit wäre die linkserweiternde verbale Wortbildung auf die Präfixderivation sowie wenige Beispiele fester Komposita (z.B. nhd. grins-keuchen ‘grinsend keuchen’ oder kopulativ: ‘grinsen und keuchen’) begrenzt. (b) Grammatikalisierung: Für die Erweiterung des Affixbestands im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte spielt die Grammatikalisierung von Kompositionsgliedern eine zentrale Rolle (Überblick bei Habermann 2015). Auf diese Weise entstehen schon im Ahd. Bildungen mit nominalen „Kompositionssuffixen“ sowie verbale „Präfixkomposita“ (Meid 1967: 36, 218). Die entsprechenden Wortbildungselemente stehen mit mehr oder weniger deutlich entkonkretisierter Bedeutung neben den Substantiven, Adjektiven, Adverbien bzw. Präpositionen, aus denen sie entstanden sind. Dies gilt im Ahd. etwa für substantivisches -tům (< tům ‘Urteil, Würde, Herrschaft, Stand’), -scaf(t) (< scaf ‘Ordnung’, scaft ‘Schöpfung’), und -heit (< heit ‘Person, Geschlecht, Stand, Art’), für adjektivisches -līh (< līh ‘Körper, Leichnam, Gestalt’), -sam (< sama/samo ‘ebenso, derselbe’), -haft (< haft (Verbaladjektiv) ‘behaftet, gebunden’), -lōs (< lōs ‘los, von, außerhalb von’) und -bāri (< bāri (Verbaladjektiv zu beran ‘hervorbringen, tragen’) sowie für die verbalen Präelemente ir- (< ir (Präposition) ‘aus, außerhalb’) und bi- (< bi (Präposition) ‘an, bei, um’). Während in diesen Fällen der Grammatikalisierungsprozess seit dem Spätmhd. in der Regel abgeschlossen ist und neben diesen Affixen kein freies Lexem mehr steht, behalten die trennbaren verbalen Partikeln ihr freies Pendant (z.B. ahd. nāh-loufan ‘nachlaufen’, bīstān ‘beistehen’) und werden als Partikelverben – unter diachroner Perspektive auch als Partikelkomposita bezeichnet – von den Präfixverben terminologisch differenziert. Auch im nominalen Bereich führt die spätere, (fr)nhd. Grammatikalisierung nicht mehr zur Aufgabe der Ausgangslexeme, wie etwa bei -werk (< Werk ‘Arbeit, Tätigkeit, Erzeugnis’; z.B. Laub-werk ‘Gesamtheit der Blätter eines Baumes/Strauches’) und -wesen (< Wesen ‘Lebewesen, Eigenart/Charakter von jmdm./etw.’; z.B. Schul-wesen ‘alles, was mit der Schule zusammenhängt’), dem relationalen adjektivischen Suffix -mäßig (< mäßig ‘relativ gering, mittelmäßig’; z.B. vorschrift-s-mäßig ‘der Vorschrift entsprechend’) oder dem adverbialen Suffix -weise (< Weise ‘Art, Form’; z.B. gruppe-n-weise ‘in Form von Gruppen’). Aus diesem Grund werden entsprechende Elemente zum Teil als Affixoide (Präfixoide, Suffixoide) bezeichnet und von den nur gebunden auftretenden Affixen begrifflich unterschieden (vgl. § 19). (c) Lautwandel: Lautwandel hat im Deutschen großen Einfluss auf die Wortbildung ausgeübt und zur Entstehung neuer Wortbildungsmodelle geführt. So erweisen sich Bildungen mit dem substantivischen Suffix -e etymologisch einerseits als durch Deklinations-

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typen (Stammbildungssuffixe) bestimmte Wortbildungen wie etwa Sprache (ehemaliger -ō-Stamm), andererseits aber auch als mit unterschiedlichen Wortbildungsmorphemen gebildete Lexeme, wie etwa Glaube (ehemaliges deverbales -ni-Derivat zu glauben) oder Länge (ehemaliges -ī-Derivat zu lang) (vgl. Henzen 1965: 170ff.). Während in diesen Fällen als Folge der Nebensilbenabschwächung Suffixsynkretismus eintritt, führt die lautliche Nivellierung im Fall der ehemaligen schwachen -jan-, -ōnund -ēn-Verben (> -en) zu einem Modellwechsel von suffigierten Verben zur Konversion. Die spätahd. Abschwächung der Suffixe germ. -jan (> ahd. -en; z.B. zūn-en ‘umzäunen’ < zūn ‘Zaun’), -ōn (z.B. fisc-ōn ‘fischen’ < fisc ‘Fisch’) und -ēn (z.B. alt-ēn ‘alt werden’ < alt ‘alt’), deren Status als Flexiv (Stammbildungssuffix) bzw. Wortbildungsmorphem allerdings nicht unumstritten ist (vgl. Wilmanns 1899: 44-86 vs. Meid 1967: 230f.), macht die Verbbildung durch denominale Konversion zum zweiten zentralen Bereich der Verbwortbildung neben der Präfixderivation und Partikelverbbildung (vgl. § 31). (d) Suffixübertragung und Suffixverschmelzung: Eine weitere Form der Ausbildung neuer Wortbildungsmodelle besteht in einer Reanalyse der Morphemfuge, wobei zwei unterschiedliche Fälle – Suffixübertragung und Suffixverschmelzung – zu unterscheiden sind. Ein Beispiel für „Suffixübertragung“ (Henzen 1965: 114) stellt die Entstehung des verbalen Suffixes -ig dar. Es ist aus desubstantivischen -ig-Adjektiven entstanden, die durch Konversion verbalisiert wurden (z.B. Kraft ‘Vermögen, Fähigkeit’ > kräft-ig ‘über Kraft verfügend’ > kräftig-en ‘bewirken, dass jmd./etw. kräftig wird’). Während noch im Ahd. entsprechende Verben in der Regel zu -ig-Adjektiven gebildet sind (nicht aber zum Beispiel krūz-ig-ōn ‘kreuzigen’ < krūzi ‘Kreuz’), entstehen schon mhd. mehrere Verben mit reanalysiertem verbalem Suffix -ig, die nicht deadjektivisch, sondern desubstantivisch gebildet sind, also keine Konversionen, sondern Suffixderivate darstellen. So entsteht zu mhd. pīn ‘Strafe, Qual’ das Suffixderivat pīn-ig-en ‘strafen, quälen’, das zum Nhd. hin die ältere, durch Nebensilbenabschwächung undeutlich gewordene Konkurrenzbildung mhd. pīn-en (< ahd. pīn-ō-n) verdrängt. Auch Zirkumfixderivate entstehen als Folge dieser Reanalyse (z.B. nhd. Nachricht > be-nachricht-ig-en; Absicht > be-absicht-ig-en). Während mit der Entstehung des verbalen Wortbildungsmorphems -ig ein Wandel der Wortbildungsart verbunden ist, gilt dies für „Suffixverschmelzung“ (Henzen 1965: 113f.) nicht. Hier wird durch Reanalyse die (Sprechsilben-)Grenze zwischen Wortbildungsbasis und Suffix so verschoben, dass das Suffix um Endelemente des Basisworts erweitert wird. Auf diese Weise entstehen neue Suffixe bzw. Suffixallomorphe. Dazu zählen folgende Beispiele: – Suffix -ling aus Derivaten mit Suffix -ing (ahd. edil-ing ‘Edelmann’ < edili ‘von adeliger Herkunft’ > Reanalyse: edi-ling; danach auch mhd. vrisch-linc (neben vrisch-inc ‘junges Tier’ < vrisch ‘jung’; nhd. Roh-ling ‘roher Mensch; Werkstück, das noch weiter bearbeitet werden muss’ Reanalyse: wage-ner > Wagner; danach auch nhd. Glöck-ner ‘jmd., der für das Läuten der Glocken zuständig ist’ < Glocke; Rent-ner < Rente);

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Suffix(allomorph) -keit aus Derivaten mit Suffix -heit (z.B. mhd. üppec-heit ‘Überfluss, Vergänglichkeit, Übermut’ < üppec ‘unnütz, nichtig, leichtfertig, übermütig’ > Reanalyse: üppe-cheit > üppe-keit > nhd. Üppig-keit mit Restituierung der Adjektivendung -ig; danach auch nhd. Wirksam-keit < wirksam; Betulich-keit < betulich bzw. Dreist-igkeit < dreist; Genau-igkeit < genau). (e) Doppelmotivation: Ein weiterer wichtiger Faktor für die Ausbildung neuer Wortbildungsmodelle ist Doppelmotivation. In diesen Fällen erscheinen Wortbildungen hinsichtlich des Basisbezugs bzw. des Wortbildungstyps als ambig. So hat die Möglichkeit der Doppelmotivation im Ahd. die Ausbildung von V+N-Komposita begünstigt, ausgehend von N+N-Komposita, deren Erstglied sowohl nominal als auch verbal interpretiert werden konnte: z.B. beto-man ‘Beter’ (zu beta ‘Gebet’ bzw. betōn ‘beten’), strīt-louft ‘Wettlauf’ (zu strīt ‘Streit’ bzw. strītan ‘streiten’), slāf-kamara ‘Schlafzimmer’ (zu slāf ‘Schlaf’ bzw. slāfan ‘schlafen’). Auch bei den adjektivischen -bar-Bildungen hat eine solche Uminterpretation stattgefunden. Der Wandel von zunächst ausschließlich desubstantivischen zu den heute dominierenden deverbalen Bildungen erfolgt hier ebenfalls über die Möglichkeit der Reanalyse nominaler Basen als verbal (z.B. mhd. ēr-bære ‘mit Ehre versehen/geehrt’ zu ēre bzw. ēren, wandel-bære ‘Wandel verursachend/wandelnd’ zu wandel bzw. wandeln). Auch hier fungiert Doppelmotivation als Scharnier des Wortbildungswandels, infolgedessen -bar heute ganz überwiegend für deverbale Bildungen mit passivisch-modalem Charakter (z.B. erklär-bar ‘kann erklärt werden’) verwendet wird (vgl. § 41). Dass Doppelmotivation auch zur Entstehung neuer Wortbildungsmorpheme führen kann, zeigt das erst seit Ende des 20. Jhs. als Verbpartikel gebrauchte Element gegen- (vgl. Fleischer/Barz 2012: 412). Es ist zunächst Bestandteil von Rückbildungen aus Substantiven (z.B. Gegendarstellung > gegendarstellen ‘eine Gegendarstellung machen’), das aufgrund von Doppelmotivation als verbbildende Partikel reanalysiert werden kann (gegen-darstellen) und dann auch in Bildungen auftritt, die nicht desubstantivisch (als Rückbildungen) interpretierbar sind (z.B. gegen-lesen ‘zur Kontrolle nochmals lesen’, gegen-kehren ‘in entgegengesetzte Richtung kehren’). f) Wortbildungsmorpheme aus Flexiven: Die Entstehung von Wortbildungsmorphemen aus Flexiven ist im Deutschen wenig ausgeprägt. Von den Wortbildungsmorphemen, die auch gegenwartssprachlich noch in Gebrauch sind, haben nur das Adverbsuffix -s sowie die adjektivischen Zirkumfixe ge-…-t und be-…-t eine flexivische Grundlage. Das adverbiale Suffix -s entwickelte sich aus der Genitiv-Singular-Form starker Maskulina/Neutra, die schon ahd. auch in adverbialer Verwendung nachweisbar sind (vgl. des abends > abends). -s wurde dann als Adverbsuffix reanalysiert und steht schon ahd. flexivisch unberechtigt auch bei Feminina (naht-es > nacht-s). Es entwickelte sich dann zu einem Adverbmarker, der in Kombination mit anderen Letztgliedern von Adverbien auch eigene Suffixe ausbildete (z.B. nhd. -mals in nie-mals; vgl. § 31). Auch die adjektivischen Zirkumfixbildungen mit be-…-t, ge-…-t bzw. ver-…-t (z.B. nhd. ge-blüm-t ‘mit Blumenmuster versehen’, ge-narb-t ‘mit Narbe(n) versehen’, ver-kopf-t ‘vom Intellekt beherrscht’) sind aus dem Muster des Partizip II schwacher Verben reanalysiert.

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Formal wirken sie wie departizipiale Konversionen, doch lassen sie sich keinem Verbparadigma zuordnen. Man bezeichnet sie deshalb auch als Pseudopartizipien. Sie stellen ornative desubstantivische Zirkumfixbildungen dar, die schon ahd. nachweisbar sind. WSK 2: Affixoid; eigentliches Kompositum; Grammatikalisierung; Konkurrenzbildung; Mehrfachmotivation; Morphematisierung; Pseudopartizip; Suffixentstehung; Suffixverschmelzung; Synkretismus; uneigentliches Kompositum; Univerbierung

§ 40 Archaisierung von Wortbildungsmodellen Am Anfang der Archaisierung von Wortbildungsmodellen steht der Verlust an Produktivität: Ein Wortbildungsmittel wird nicht mehr für Neubildungen verwendet. Für einige Wortbildungselemente beginnt dieser Prozess schon im Germanischen, in anderen Fällen deutlich später. Zum Teil sind ehemalige Wortbildungsmodelle schon zu Beginn der deutschen Sprachgeschichte nicht mehr durchsichtig und entsprechende Bildungen haben den Status von Simplizia, da keine Wortbildungsstruktur mehr erkennbar ist, wie bei den Lexemen nhd. Saum ‘genähter Rand’ (< idg. *sjeu- ‘nähen’) und Zaum ‘Zaum’ (< germ. *teuh-a- ‘ziehen’), die sich etymologisch als Bildungen mit dem idg. Suffix -mo erweisen. Begleiterscheinungen der allmählichen Archaisierung sind das Ausscheiden zahlreicher Bildungen aus dem Wortschatz, die zunehmende Undeutlichkeit des morphologischen bzw. semantischen Basisbezugs sowie die hohe Zahl an lexikalisierten sowie idiomatisierten Bildungen. In anderen Fällen sind aus dem (Indo-)Germ. ererbte Wortbildungsmodelle noch durchsichtig, obwohl sie schon im Ahd. nicht mehr produktiv sind. Dies gilt zum Beispiel für die adjektivischen Bahuvrīhi-Bildungen mit substantivischem Grundwort, von denen nhd. nur noch barfuß (‘einen entblößten Fuß habend’) erhalten ist. Mit dem substantivischen Suffix -t (< idg. *-ti/-tu), das ebenfalls bereits ahd. unproduktiv ist, sind dagegen mehr Bildungen erhalten. Schon im Mhd. ist die Zahl noch motivierter -tBildungen gering. Auch in der Gegenwartssprache sind Lexeme bewahrt, die als entsprechende Wortbildungen noch erkennbar sind (z.B. Fahr-t < fahren, Fluch-t < fliehen), aber daneben gibt es auch zahlreiche Bildungen, deren morphologisch-semantischer Basisbezug mehr oder weniger undeutlich geworden ist und die den Charakter von Simplizia annehmen (vgl. Vernun-f-t < ahd. firnum-f-t < firneman ‘wahrnehmen, verstehen’, Kluf-t ‘Spalt’ < klieben ‘spalten’). In diesen Fällen hat -t bereits den Charakter eines Pseudomorphems (weitere Beispiele für archaisierende Morpheme bei Simmler 2002). In vielen Fällen zeichnet sich ein Produktivitätsrückgang bzw. -verlust von Wortbildungsmodellen im Mhd. ab, in der Regel verbunden mit einer lautlichen Abschwächung der Affixstruktur. Dies gilt für folgende Beispiele: – substantivische Abstrakta mit dem ahd. Suffix -ōd/-ōt, von denen nhd. nur wenige Bildungen erhalten sind (z.B. Heimat, Armut, Zierat); – substantivische Nomina Agentis mit dem ahd. Suffix -o (> mhd. -e > nhd. -e/∅; z.B. ahd. erb-o ‘Erbe’ > mhd. erb-e > nhd. Erb-e; ahd. beck-o ‘Bäcker’ > mhd. beck-e > nhd. Beck

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als auch in Familiennamen erhaltene mundartliche Variante zu schriftsprachlichem Bäcker), die in den meisten Fällen der Konkurrenz des ausdrucksseitig deutlicher markierten Lehnsuffixes ahd. -āri (> mhd. -ere > nhd. -er; ahd. iagāri ‘Jäger’ > mhd. jeg-er(e) > nhd. Jäger) unterliegen; – das substantivische Abstraktsuffix ahd. -ida (> mhd. -(e)de > nhd. -de), das nhd. nur noch in wenigen Bildungen dokumentiert ist (z.B. ahd. gimein-ida ‘Allgemeinheit’ (< gimeini ‘allgemein’) > mhd. gemein-de > nhd. Gemeinde), und vor allem durch das Suffix -heit abgelöst wurde (vgl. mhd. gemeinheit ‘Allgemeinheit’); – das Adverbsuffix -o, das im Ahd. das zentrale Wortbildungsmittel zur Bildung deadjektivischer Adverbien gewesen ist (z.B. ahd. lang ‘vor langer Zeit’ > lang-o; snel ‘schnell, rasch’ > snell-o). Als Folge der mhd. eingetretenen Endsilbenabschwächung (-o > -e; vgl. lang-e, schnell-e) sowie der mhd. einsetzenden Apokope von -e (schnell-e > schnell) verlor das Suffix seine Produktivität. Auch das zunächst als Ersatzform fortgeführte, durch Reanalyse aus -o-Bildungen zu -līh-Adjektiven im Ahd. entstandene Adverbsuffix -līhho (z.B. ahd. meisterlīhh-o ‘meisterhaft, kunstvoll’ > Reanalyse: meister-līhho), das sekundär auch mit simplizischen Adjektiven verbunden werden konnte (vgl. ahd. gern-līhho ‘gern, sorgfältig’ < gern), unterlag schließlich der Apokope. Dadurch war jedoch keine Differenzierung zu Adjektiven auf -lich mehr gegeben, so dass auch dieses Adverbsuffix frnhd. unproduktiv wurde; – das nominale, silbenstrukturell nachteilige Negations- und Taxationspräfix ā- (vgl. mhd. ā-maht ‘Machtlosigkeit’ < maht, weiterentwickelt zu omacht und volksetymologisch umgedeutet als (fr)nhd. Ohn-macht = ‘ohne Macht’), das schon mhd. kaum mehr produktiv ist und durch die Präfixe ab- und un- abgelöst wurde. Wie diese Beispiele zeigen, spielen für die Archaisierung von Wortbildungsmodellen die Faktoren „Lautwandel mit phonologischer Reduktion“ sowie „Konkurrenz zu anderen Wortbildungsmodellen“ eine zentrale Rolle. Um solche motivierenden Konkurrenzen morphologisch-semantischer Art aufdecken zu können, sind allerdings Untersuchungen zu Wortbildungssystemen erforderlich, die bislang für die Geschichte der deutschen Wortbildung nur zum Teil vorliegen (vgl. § 36). WSK 2: Analysierbarkeit; Demotivation; Konkurrenzbildung; Undurchsichtigkeit; unproduktiv

§ 41 Wandel von Wortbildungsmodellen Der Wandel von Wortbildungsmodellen betrifft sowohl ausdrucksseitig-morphologische als auch semantische Wortbildungsprozesse. Zu den ausdrucksseitig-morphologischen Veränderungen im Bereich der Komposition zählt zum einen die Entwicklung von Fugenelementen (vgl. § 20), die aus Stammbildungssuffixen (bei den „eigentlichen“ Stammkomposita) bzw. aus Flexionssuffixen (bei den „uneigentlichen“ Kasuskomposita) entstanden sind und durch Analogie schließlich

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auch zu Komposita mit unparadigmatischer Fuge führten (s.o.). Weitere Veränderungen betreffen die vor allem frnhd. stark zunehmende Zusammenschreibung als graphisches Merkmal der Kompositionshaftigkeit (vgl. Kempf 2018), die ebenfalls seit dem Frnhd. ansteigende Bildung polymorphemischer Komposita (z.B. nhd. Autobahn-raststätte, Fußballweltmeisterschaft-s-qualifikationsspiel) sowie die für das jüngere Deutsch charakteristische Ausbildung von Bindestrich-Komposita (Phrasenkomposita; vgl. Hein 2015) mit Wortgruppen bzw. Sätzen als Erstelement (vgl. ahd. zwei-elne-mez ‘Maß von zwei Ellen’ als frühes Beispiel; nhd. Erste-Hilfe-Ausrüstung, Es-hat-keinen-Sinn-mehr-Gefühl). Wortbildungssuffixe unterliegen zunächst den allgemeinen Laut- bzw. Schreibwandelerscheinungen des Deutschen und verändern dadurch ihre Form (vgl. ahd. -ida > mhd. -ede > nhd. -de; -āri > -ære/-ere > -er; -unga > -unge > -ung). Allerdings existiert daneben auch eine zum Teil sehr ausgeprägte historisch-synchrone Variation, die diatopisch begründet ist. So ist für das Mhd. eine phonetisch-graphische Affixvariation nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Für das adjektivische Suffix -lich z.B. sind zahlreiche weitere Formen wie -lih, -leich, -lig, -līh, -lik, -lic, -leh und -lech belegt (vgl. Klein/Solms/Wegera 2009: 311). Zum Nhd. wird diese ausgeprägte Affixallomorphie abgebaut und eine Form standardisiert, die Affixstruktur somit stabilisiert. Auch hinsichtlich der Basisaffinität sind die Affixe einem Wandel unterworfen. Dazu zählen Veränderungen hinsichtlich der Basiswortart sowie der morphologischen bzw. semantischen Charakteristika der Basislexeme: – Einen markanten Wechsel hinsichtlich der Basiswortart zeigt z.B. das grammatikalisierte Suffix -sam, das noch mhd. (vgl. Klein/Solms/Wegera 2009: 334ff.) ganz überwiegend Substantive adjektiviert (z.B. tugent-sam), während nhd. sehr deutlich Basisverben überwiegen (z.B. einpräg-sam < (sich) einprägen). – Das Suffix -ung dient dagegen zwar von Anfang an zur Bildung deverbaler Abstrakta, zeigt aber gegenwartssprachlich semantische Restriktionen hinsichtlich des Basisbezugs und damit eine Eingrenzung des Produktivitätsniveaus: Im Gegensatz zum Mhd./Frnhd. (vgl. Klein/Solms/Wegera 2009: 133; Hartmann 2016) fehlen im Nhd. z.B. -ung-Derivate zu Wahrnehmungs- und Zustandsverben (z.B. mhd. seh-unge ‘das Sehen’, wünsch-unge ‘das Wünschen’). – Ein Beispiel für Veränderungen hinsichtlich morphologischer Basisrestriktionen bietet das substantivische Suffix -heit mit den durch Reanalyse entwickelten Allomorphen -keit und -igkeit, deren gegenwartssprachliche Distribution (vgl. Fleischer/Barz 2012: 209ff.) noch frnhd. nicht fest war. So verbindet sich -heit noch im 14./15. Jh. auch mit mehrsilbigen Adjektiven zu Nomina Qualitatis (z.B. bitter-heit ‘Bitterkeit’, eitel-heit ‘Leere, Reinheit, Nichtigkeit’ < eitel ‘leer, lauter, nichtig’), während das Allomorph -keit auch bei einsilbigen Basen verwendet wird (z.B crank-keit ‘Krankheit’, geyl-keit ‘Fröhlichkeit, Übermut, sexuelle Erregung’ < geyl ‘fröhlich, übermütig, sexuell erregt’). Die semantischen Wandelprozesse (Wortbildungsbedeutungswandel, vgl. Müller 2016) betreffen Veränderungen im Bereich des Funktionspotentials von Wortbildungsmodellen, was hier am Beispiel von Affixen erläutert werden soll. In der Regel haben diese eine primäre Wortbildungsfunktion, die entweder – bei aus dem Germanischen übernomme-

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 100

nen Affixen – die ursprüngliche ist, oder – bei den aus Lexemen grammatikalisierten Affixen – unmittelbar aus der ehemaligen Lexembedeutung abgeleitet ist. Die meisten Affixe bleiben im Lauf ihrer historischen Entwicklung nicht monosem, sondern werden mit zusätzlichen, sekundären Funktionen ausgestattet. Dabei bleibt die primäre Funktion zum Teil die Hauptfunktion, und die sekundären Funktionen bleiben zweitrangig. In anderen Fällen kann aber auch die primäre Funktion ihre Produktivität einbüßen, nachrangig werden und frequenziell von sekundären Bedeutungen übertroffen werden, wie etwa bei -bar (s.u.). Die funktionalen Umschichtungsprozesse können allgemein dazu führen, dass die Anzahl der Affixfunktionen zu- oder abnimmt (Polysemierung bzw. Depolysemierung), aber auch, dass einzelne Funktionen profiliert bzw. nivelliert werden. Diese funktionalen Veränderungen von Affixen haben auch Auswirkungen auf deren Produktivitätsrate sowie auf das Wortbildungssystem. Am Beispiel des Suffixes -bar soll dies verdeutlicht werden (vgl. Müller 2017: 194ff.): Das adjektivische Suffix -bar hat sich über Grammatikalisierungsprozesse vom Kompositionsglied zu einem Suffix gewandelt (s.o.). Deshalb verbindet es sich zunächst ausschließlich mit Substantiven (z.B. mhd. ēr-bære ‘Ehre tragend’). Noch im Mhd. dominieren desubstantivische Bildungen bei weitem (vgl. Klein/Solms/Wegera 2009: 273), darunter kausativ-faktitive (z.B. vruht-bære ‘Frucht hervorbringend’) und possessiv-ornative (z.B. ēr-bære ‘Ehre habend’). Passivisch-modale -bar-Bildungen sind vor dem 14. Jh. kaum belegt. Nhd. erfolgt bei -bar ein fundamentaler funktionaler Wandel hin zu einem profilierten Suffix zur Bildung deverbaler passivisch-modaler Adjektive (z.B. mach-bar ‘kann gemacht werden’). Ausgangspunkt dieser semantischen Umschichtung sind mittelalterliche Bildungen, die doppelmotiviert und damit sowohl desubstantivisch als auch deverbal interpretierbar sind (vgl. mhd. ēr-bære liute ‘Leute, die Ehre haben’ vs. ‘Leute, die geehrt werden’). Der eigentliche Umbruch erfolgt im Frnhd. Seit dem 15. Jh. nimmt der Anteil an deverbalen Bildungen deutlich zu, im 17. Jh. sind rund zwei Drittel der Neubildungen bereits deverbal, wobei der Produktivitätsschub wohl auch durch den Einfluss lat. bzw. frz. Adjektive mit -abilis bzw. -able/-ible bedingt ist (vgl. Kempf 2016: 185ff.). In der Gegenwartssprache sind deverbale Derivate weiter profiliert: Mit rund 92% passivisch-modaler Bildungen ist -bar heute nahezu ein monofunktionales Suffix. Dieser funktionale Wandel von -bar hat auch Auswirkungen auf die Auslastung des Funktionsbereichs ‘passivischmodal’. Für das Korpus der mhd. Grammatik (vgl. Klein/Solms/Wegera 2009: 360) ergibt sich folgende Verteilung (die Indices geben an, welchen Rang diese Wortbildungsbedeutung im Bedeutungsspektrum der Suffixe hat): -lich9: 44,4%; -ig5: 33,3%; -bære4: 14,8%; -haft6: 7,4%. In passivisch-modaler Funktion sind also vor allem Adjektive mit -lich und -ig nachweisbar, wobei diese Funktion für beide Suffixe nachrangig ist: bei -lich ist es die neunthäufigste, bei -ig die fünfthäufigste Funktion. Deutlich weniger frequent sind dagegen Adjektive mit -bære, die noch kaum passivisch-modal verwendet sind (vierthäufigste Funktion), sowie Bildungen mit -haft (sechsthäufigste Funktion). In der geschriebenen Gegenwartssprache zeigt sich dagegen ein völlig anderes Bild (vgl. Kühnhold/Putzer/ Wellmann 1978: 398): -bar1: 63,9%; -lich3: 19,8%; -abel/-ibel1: 9,4%; -ig12: 3,4%; -(at)iv8: 1,9%; -sam3: 1,9%; weitere unter 1%. -bar ist in seiner Hauptfunktion nun mit großem Abstand

101 5.7 Wortbildungsanalysen

das dominante Suffix zur Bildung passivisch-modaler Adjektive. Obwohl bei -lich die Funktion ‘passivisch-modal’ an Gewicht gewonnen hat (mhd. neunthäufigste > nhd. dritthäufigste Funktion), hat es seinen dominanten Rang in diesem Funktionsbereich verloren, und Gleiches gilt auch für -ig, bei dem gegenwartssprachlich die passivisch-modale Funktion (nur noch zwölfthäufigste Funktion) unbedeutend ist. Die Zahl an Affixen, die passivisch-modal verwendet werden, hat gegenwartssprachlich zwar zugenommen, aber allein -bar ist produktiv. Schon das zweitplatzierte -lich hat nach Kempf (2016: 202) die passivisch-modale Produktivität seit dem 18. Jh. verloren, der gegenwartssprachliche Befund erweist sich somit nur als „zeitlich versetzter Zerrspiegel einer bereits erloschenen Aktivität“ (S. 304). Die Fremdsuffixe -abel/-ibel (z.B. akzept-abel ‘kann akzeptiert werden’) und -(at)iv (z.B. addit-iv ‘kann addiert werden’) sind lediglich für entlehnte Fremdwörter charakteristisch. Diese Umstrukturierung und die hohe Produktivität von -bar führen nun auch dazu, dass der Funktionsbereich ‘passivisch-modal’ insgesamt stärker gewichtet ist. Während mhd. deverbale Adjektive mit aktivischer Bedeutung (z.B mhd. betrüebe-lich ‘kann betrüben’) gegenüber passivischen dominieren (vgl. Klein/Solms/Wegera 2009: 359f.) hat sich das Verhältnis in der geschriebenen Gegenwartssprache umgekehrt. Das Beispiel -bar zeigt, wie semasiologischer und onomasiologischer Wortbildungsbedeutungswandel verzahnt sind: Es verändert vom Mhd. zum Nhd. grundsätzlich sein semantisches Profil und entwickelt in passivisch-modaler Funktion eine hohe Produktivität, was auch zu einer Rangerhöhung (7 > 4) innerhalb der adjektivischen Suffixfrequenz führt. -bar ist nhd. polysem, aber im Wesentlichen monofunktional. Bedingt durch den semantischen Wandel von -bar erfolgt auch eine Profilierung der Wortbildungsbedeutung ‘passivisch-modal’, deren Anteil am Funktionsspektrum der Affixderivation vom Mhd. zum Nhd. deutlich ansteigt (Rang 11 > 4). Allerdings ist dafür ausschließlich das Suffix -bar verantwortlich, denn alle weiteren für diesen Funktionsbereich nachweisbaren Suffixe erweisen sich gegenwartssprachlich als unproduktiv. Sie sind entweder nur für entlehnte Wortbildungen konstitutiv oder haben ihre Produktivität in früherer Zeit verloren. WSK 2: Affixkonvergenz; Allomorph; Fugenelement; polyfunktionales Affix; Produktivität; Restriktion; Suffixvariation; Wortbildungsbedeutung

5.7 Wortbildungsanalysen Die verschiedenen Wortbildungsmöglichkeiten kommen nur z.T. in eindimensionalen Bildungen vor, bei denen die Wortbildungsanalyse ausschließlich eine Stufe beinhaltet (z.B. Determinativkompositum: Frau-en-haus; Präfixderivat: un-schön; Suffixderivat: Sauberkeit; Zirkumfixderivat: be-erd-ig-en; Partikelverbbildung: an-seh-en; Konversion: öl-en). Sehr häufig ist der strukturelle Aufbau von Wörtern aber komplex. Als visuelles Mittel für die Darstellung der hierarchischen Struktur mehrdimensionaler Wortbildungen verwendet man z.T. sog. Strukturbäume. Die folgenden Beispiele einer morphologisch-semantischen Analyse zeigen, dass in solchen Fällen häufig mehrere Wortbildungsarten kombiniert sind.

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 102

1Anglerin 2Angler

{-in} WBM, Suffix

Subst.

3anglAllomorph zu Verbstamm angel-

{-er} WBM, Suffix 1 desubstantivische Suffixderivation; ‘Movierung’ 2 deverbale Suffixderivation; ‘Nomen Agentis’ 3 desubstantivische morphologische Konversion; ‘instrumentativ’

{angel} KM Subst. Abb. 3: Strukturbaumanalyse von Anglerin

1Ex-EHC-Mitglied 2EHC-Mitglied

{ex-} WBM, Präfix, exogen

Subst.

3EHC Kurzwort

4Mitglied

Subst.

5Eishockeyclub

Subst.

6Eishockey

{club} KM Subst.

Subst.

{eis} KM Subst.

{mit} Präposition, frei gram. M.

{hockey} KM Subst.

Abb. 4: Strukturbaumanalyse von Ex-EHC-Mitglied

1 desubstantivische

{glied} KM Subst.

Präfixderivation: Hybridbildung mit Erläuterungsbindestrich; ‘temporal’ (‘ehemalig’) 2 substantivisches Determinativkompositum; ‘Mitglied des EHC’; ‘partitiv’ 3 Kurzwortbildung: multisegmentales Buchstabenkurzwort, buchstabierende Aussprache 4 substantivisches Determinativkompositum; idiomatisiert 5 substantivisches Determinativkompositum; ‘Themabezug’ 6 substantivisches Determinativkompositum; ‘lokal’

103 5.7 Wortbildungsanalysen

1Betriebsausflug 2Betrieb-s

4ausflug

Subst. FE paradigmatisch

Subst.

1 substantivisches

Determinativkompositum mit paradigmatischem Fugenelement; Rektionskompositum 2 deverbale morphologische Konversion mit Stammvokalwechsel (Ablaut); ‘Nomen Patientis’ 3 deverbale Präfixderivation; idiomatisiert; syntaktisch: Transitivierung 4 deverbale morphologische Konversion mit Stammvokalwechsel (Ablaut); idiomatisiert (metaphorisch) 5 deverbale Partikelverbbildung; ‘lokativ’

3betreib-

Verbstamm

{be-}

{treib-}

WBM Präfix

KM Verbstamm 5ausfliegVerbstamm

{aus-} WBM präpositionale Verbpartikel

{flieg-} KM Verbstamm

Abb. 5: Strukturbaumanalyse von Betriebsausflug

1Machbarkeitsprüfung

2Machbarkeit-s

3Prüfung

Subst. FE unparadigm.

4machbar

{-keit} WBM Suffix

Adjektiv

{mach-} KM Verbstamm

{-bar} WBM Suffix

Abb. 6: Strukturbaumanalyse von Machbarkeitsprüfung

Subst.

{prüf-} KM Verbstamm 1 substantivisches

{-ung} WBM Suffix

Determinativkompositum mit unparadigmatischem Fugenelement; Rektionskompositum 2 deadjektivische Suffixderivation; ‘Nomen Qualitatis’ 3 deverbale Suffixderivation; ‘Nomen Actionis’ 4 deverbale Suffixderivation; ‘passivisch-modal’

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 104 Abkürzungen in den Strukturbaumanalysen: FE = Fugenelement gram. M. = grammatisches Morphem KM = Kernmorphem (lexikalisches Morphem) Subst. = Substantiv WBM = Wortbildungsmorphem

WSK 2: Strukturbaum

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5. Systematische Einführung in die Wortbildung 110

5.9 Alphabetisches Sachregister zur Systematischen Einführung A+A-Kompositum 73 Abkürzung 68 Ablaut 65, 103 Ablautdoppelung 55, 63‒64 Ableitung 59 Abstraktum 97‒98 additives Ko-Kompositum 58 adhäsiv 71 Ad-hoc-Bildung 40 Adjektiv 39, 47‒48, 50‒52, 56, 59, 65, 73‒74, 83‒85, 100 Adjektivderivation 73‒74, 92 Adjektivierung 77 Adjektivkomposition 73 Adjektivkonversion 70, 76 adjektivische Wortbildung 73‒74 Adverb 39, 47‒48, 51, 56, 59, 65, 92 Adverbderivation 76‒77 adverbiale Wortbildung 75‒77, 93 Adverbialisierung 77 Adverbkomposition 76 Adverbkonversion 77 Adverbsuffix 76‒77, 96, 98 Affix 47, 49‒50, 52‒53, 99‒100 Affixkonvergenz 101 Affixoid 47, 53, 60, 94, 97 agentiv 74‒75, 85 ‘ähnlich’ 85 Akronym 68 Aktionsart 77 aktivisch 70, 72, 101 aktivisch-modal 74 Allomorph 47, 88, 91, 95‒96, 99, 101‒102 Althochdeutsch 90, 92‒99 Analogie 40, 57‒58, 93, 99 Analysierbarkeit 98 A+N-Kompositum 72 Aphasie 42 Apokope 98 appositionelles Kompositum 58 Archaisierung 97‒98 Artikel 39, 47, 49 attributives Kompositum 58 Augmentation 72, 84, 89 außersprachliches Wissen 68 back-formation 65 Bahuvrīhi 57, 97

Basis 60, 65, 96 Basisaffinität 90, 99 basisfähig 87 Basismorphem 48 Basiswort 95, 99 Bedeutungsbildung 39, 57, 68, 73, 78‒79 Bedeutungswandel 78 Bestimmungswort 56, 58 Bindestrich-Kompositum 99 blending 61 Blockierung 53 Buchstabenkurzwort 55, 67‒68, 102 combining form 48 Degrammatikalisierung 83 Demotivation 69‒70, 97‒98 demotivierte Bildung 70 Depolysemierung 100 Derivat 60 Derivation 55, 59‒60, 70, 72‒74, 76‒77, 88‒89 Derivationsfuge 54 Derivationsmorphem 60 Derivationssuffix 60, 65 Derivationssystem 92 Determinans 56, 58 Determinativkompositum 55‒56, 58, 71‒73, 101‒103 Determinatum 56, 58 diachron 41, 69, 80‒81, 91, 93‒94 Diminuierung 72, 85 diminutiv 74‒75 Doppelmotivation 71, 96, 100 Doppelpartikel 51, 61 Doppelpartikelverb 51, 61 Doppelung 55, 63 Dublette 66, 68, 70 effizierend 75 egressiv 74‒75 eigentliches Kompositum 58, 92, 97‒98 Einteilungszahl 76 endozentrisches Kompositum 57‒58 Endwort 67‒68 Entlehnung 79, 80‒81, 83, 89‒90 Epenthese 77 Erstglied 43, 50, 54, 56‒58, 61, 67, 71‒72, 92‒93, 96 exogen 48‒49, 82, 88‒89, 102 exozentrisches Kompositum 57‒58 exozentrisches Verb-Nomen-Kompositum 58 explikativ 72

111

5.9 Alphabetisches Sachregister zur Systematischen Einführung

explizite Derivation 60 expressiv 61 extragrammatische Morphologie 62 faktitiv 69, 85, 100 ‘falsch’ 74 final 69, 71‒73 Flexionsmorphem 47, 50 Flexiv 39, 47, 50, 54, 64, 93, 95‒96, 98 Fremdaffix 81, 83‒86 Fremdmorphem 80‒84, 88 Fremdpräfix 82‒84, 88‒89 Fremdsuffix 82, 84‒86, 88, 101 Fremdwortbildung 49, 56, 59, 79‒91 Frühneuhochdeutsch 90, 92‒101 Fuge 53‒54, 76‒77, 87‒88, 93, 95, 99 Fugenelement 47, 53‒54, 87‒88, 93, 98, 101 Fugenvokal 92‒93 Funktionsklasse 77, 79 Funktionsstand 44 fusioniertes Kontaminat 62 Gattungszahl 77 gebundenes Morphem 47‒49, 80‒81, 86‒87, 94 Generative Grammatik 45 Generative Morphologie 46 generative Wortbildungstheorie 45 Gradation 74 graduierend 71, 73 gräkolateinisch 81‒82, 86 Grammatikalisierung 91, 93‒94, 97, 100 grammatisches Morphem 39, 47, 49 Grundmorphem 48, 87 Grundwort 56, 58, 97 Halbaffix 53 historische Wortbildung 41, 44, 90‒101 historisch-synchrone Wortbildung 92 historisch-synchrone Wortbildungsforschung 91‒92 historisch-vergleichende Sprachforschung 43, 91 Hybridbildung 49, 79, 88‒89, 102 hypotaktisch 56 Idiomatisierung 69‒70, 76, 91, 97, 102‒103 idiosynkratisch 69, 76 imitativ 85 implizite Derivation 65, 73 inchoativ 74‒75 indigen 49‒50, 52, 79, 88‒89 Infinitivkonversion 64‒65, 70, 73 Infinitivmorphem 52‒53, 65 Infix 50 ingressiv 74‒75

inhaltbezogene Grammatik 44‒45 inhaltbezogene Wortbildungslehre 46 Inkorporation 57‒58, 74‒75 innere Ableitung 65 instrumental 71 instrumentativ 74‒75, 102 integratives Kontaminat 62 intensiv 74‒75 Interferenzsuffix 81, 83, 85 Interfix 47, 53 Internationalismus 81 Inversionskompositum 58 Iteration 55, 63‒64 iterativ 74‒75 -jan-Verb 65 Juxtaposition 57‒58 Kasuskompositum 92‒93, 99 Kategorialgrammatik 45 kausal 71‒73, 76 kausativ 41, 65, 74‒75, 100 Kernmorphem 48, 102‒103 Kognitive Grammatik 45‒46 Kognitive Linguistik 42 Ko-Kompositum 58 Kollektion 72, 78, 85 Kollektivum 78, 92 Komparation 42 komparativ 71, 73‒74, 85 Komposition 55‒58, 70‒74, 76‒77, 88, 92, 98‒99 Kompositionsfuge 53‒54 kompositionsgliedfähig 87 Kompositionssuffix 94 Kompositionsvokal 87 Kompositum 55‒58, 63, 72, 93‒94 Konfix 47‒49, 53, 59, 60, 79, 80‒83, 85‒88, 90 Konfixderivation 55, 87 Konfixkomposition 87 Konfixkompositum 55‒56, 88 Konjunktion 39, 47, 49 Konkurrenzbildung 91, 95, 97‒98 Konstituentenanalyse 41 konstitutional 71 Konstruktionsgrammatik 45 Konstruktionsmorphologie 45‒46 Kontaminat 62 Kontamination 61‒62 Kontexteinbettung 68 Kontextkompositum 72

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 112 Konversion 55, 64‒65, 70, 73, 75, 77, 87, 92, 95, 97, 101 Kopf 56, 58 Kopfwort 67‒68 Kopulativkompositum 55‒58, 70 korpusbasierte Wortbildungsforschung 44, 46, 92 Kunstwort 38 Kürzungssuffigierung 68 Kurzwort 66‒68 Kurzwortbildung 40, 55, 66‒68, 87‒88, 102 Kurzwort-Derivation 68 langue 47 Lautwandel 94‒95, 98 Lehnsuffix 98 Lehnwort 81, 83, 89 Lehnwortbildung 79‒80, 83 Leitwort 82 Lexem 39, 53, 55‒56, 59‒60, 63, 86‒88, 94‒95, 97, 100 Lexematisierung 83 lexikalisches Morphem 47‒48 Lexikalisierung 40, 97 Lexikographie 42 Lexikologie 42 Lexikonwissen 68 Linksköpfigkeit 58 Linksverzweigung 58 lokal 71‒73, 102 lokativ 75, 103 ‘material’ 69, 71, 74 Mehrfachmotivation 71, 77, 97 metaphorisches Kompositum 72 Metaphorisierung 39, 79 Metonymisierung 39, 57, 79 Mischbildung 88 Mischkurzwort 55, 67 Mittelhochdeutsch 90, 92‒101 modal 72 Modifikation 71, 77, 84 Modifikationsbildung 71‒75 monosem 68, 85, 100 Morph 47 Morphem 47 Morphematisierung 81, 83 Morphemklassifikation 47 Morphologie 41, 42 morphologische Konversion 55, 64, 102‒103 morphologische Motivation 41, 97 morphologische Wortbildungsanalyse 41

Motivationsbasis 44, 85, 90 Motivationsbedeutung 70 Motivationsgrad 70 Movierung 72, 85, 102 multisegmentales Kurzwort 55, 67‒68 multi-word expression 61 N+A-Kompositum 73 Namenkunde 42 nativ 82, 84‒85, 87‒89 natürliche Morphologie 46 Natürlichkeitstheorie 45 Negation 39, 71‒72, 74, 84, 98 neoklassisches Kompositum 83 Neologismus 39, 86, 90, 100 Neuhochdeutsch 90, 92‒101 N+N-Kompositum 58, 71‒72, 92‒93, 96 Nomen 72 Nomen Acti 72‒73, 78, 85 Nomen Actionis 72‒73 78, 85, 103 Nomen Agentis 72, 78, 85, 97, 102 Nomen Facti 78 Nomen Instrumenti 72‒73, 78, 85 Nomen Loci 72‒73, 78, 85 Nomen Patientis 72‒73, 85, 103 Nomen Qualitatis 72, 78, 103 nominales Rektionskompositum 58 Nominalisierung 77 ‘normabweichend’ 74 Nullableitung 65 Nullfuge 54 Nullmorphem 65 Nullsuffix 65 ‘öffnen’ 75 -o-Fuge 88 onomasiologisch 41, 44‒45, 101 onomasiologische Wortbildungstheorie 45‒46 Onomatopoetikum 38 Optimalitätstheorie 45‒46 ornativ 74‒75, 85, 97, 100 orthoepische Aussprache 68 Orthographie 42 paradigmatisches Fugenelement 54, 103 parataktisch 57 parole 47, 61 partielles Kurzwort 55, 67‒68 Partikel 39, 47, 49 Partikelkompositum 93 Partikelpräfixverb 61 Partikelverb 42, 61, 75, 77, 93‒94

113

5.9 Alphabetisches Sachregister zur Systematischen Einführung

Partikelverbbildung 50, 55, 60‒61, 70, 74‒75, 95, 101, 103 partitiv 71, 102 Partizip 64, 77, 93, 96 Partizipialkompositum 58, 73, 93‒94 passivisch 72 passivisch-modal 69, 74, 85, 96, 100‒101, 103 Personenbezeichnung 72, 78 Phonologie 42 Phrase 42, 46 Phrasem 42, 50 Phrasenkompositum 56, 58, 99 pleonastisches Affix 91 polyfunktionales Affix 79, 101 Polyfunktionalität 79 polymorphemisches Kompositum 99 polysem 77, 79, 85, 101 Polysemie 77, 79 Polysemierung 100 possessiv 71, 74, 100 Possessivkompositum 57‒58 Postkonfix 49, 86‒88 Präfix 47, 50‒52, 59‒60, 88, 94, 98, 102‒103 Präfixderivat 60, 89, 93, 101 Präfixderivation 55, 59‒60, 72‒74, 94‒95, 102‒103 Präfixkompositum 93‒94 Präfixkonversion 59‒60 Präfixoid 50, 53, 84, 94 Präfixpartikelverb 51 Präfixverb 94 Pragmatik 42 Präkonfix 49, 86‒88 Präposition 39, 47, 49, 56, 64,102 Präpositionaladverb 76 privativ 74‒75 Produktivität 52‒53, 76‒77, 79, 83‒90, 97‒101 Produktivitätsmessung 92 Pronomen 39, 47, 49, 56, 76‒77 Pseudokompositum 61, 66 Pseudomorphem 48, 97 Pseudopartizip 52, 60, 97 Psycholinguistik 42 Quantifizierung 84 räumlich 84 Reanalyse 68, 76, 81, 91, 93, 95‒96, 98 Rechtsköpfigkeit 58 Rechtsverzweigung 58 Reduplikand 63 Reduplikat 63

Reduplikation 55, 63‒64, 70 referenziell 72 Rektionskompositum 57, 71, 103 Reimdoppelung 55, 63 Relaissprache 86 relational 74, 94 Relationsadjektiv 85 Relationsbedeutung 68 Restriktion 53, 88, 99, 101 retrograde Ableitung 65 reversativ 74‒75 reversible Motivation 65, 73 reversible Wortbildungsbeziehung 77 righthand head rule 58, 60 Rückbildung 55, 65‒66, 70, 74‒75, 87‒88, 96 Rückumlaut 65 Rumpfwort 67‒68 Sachbezeichnung 78 Schema 69 ‘schließen’ 75 Schriftabkürzung 66 sekundäre Prägung 73 Selbstkompositum 63‒64 Semantik 42 semantische Motivation 68‒69 semantisches Muster 69 semantische Wortbildungsanalyse 41 semasiologisch 41, 44, 101 sequenzielles Kontaminat 62 Silbenkurzwort 55, 67‒68 Simplex 39, 69, 81, 97 Spracherwerb 42 Stamm 39 Stammbildungssuffix 92‒93, 95, 98 Stammkompositum 92‒93, 98 Standardisierung 91 stativ 75 Statusbezeichnung 72 Strukturalismus 44 strukturalistische Wortbildungslehre 46 strukturalistische Wortbildungstheorie 44 Strukturbaum 101‒104 Substantiv 39, 47, 50‒52, 56, 59, 64, 66, 71‒73, 83‒85 Substantivderivation 41, 70, 72 Substantivierung 77 substantivische Wortbildung 71‒73 Substantivkomposition 71‒72 Substantivkonversion 70

5. Systematische Einführung in die Wortbildung 114 Suffix 47, 50‒52, 59‒60, 88, 94‒96, 99, 102‒103 Suffixderivat 66, 68, 73, 95, 101 Suffixderivation 55, 59‒60, 72‒74, 76, 102‒103 Suffixentstehung 94‒97 Suffixoid 53, 73, 94 Suffixsynkretismus 95 Suffixübertragung 95 Suffixvariation 101 Suffixverschmelzung 95, 97 synchrone Wortbildung 41 Synkretismus 97 Syntagma 56, 93‒94, 98‒99 syntaktische Fügung 64 syntaktische Konversion 55, 64 syntaktische Verbindung 42, 74, 93 Syntax 42 synthetisches Kompositum 58, 60 Taxation 72, 98 temporal 71‒73, 75, 84, 102 Textkorpus 44, 92 Textlinguistik 42 ‘Themabezug’ 102 Themavokal 54 Token 39 totale Reduplikation 63 traditionelle Wortbildungslehre 46 Transposition 71, 77 Transpositionsbildung 71‒72, 74‒75 Type 39 UK-Struktur 55 Undurchsichtigkeit 98 uneigentliches Kompositum 58, 92, 97‒99 unikales Morphem 47‒48 unisegmentales Kurzwort 55, 67‒68 Univerbierung 40, 57‒58, 65, 91‒94, 97 unmittelbare Konstituente 55 unparadigmatisches Fugenelement 54, 93, 99, 103 unproduktiv 97‒98, 101 Urschöpfung 38 V+A-Kompositum 73 Valenz 77 Valenzänderung 74‒75, 77 Variationslinguistik 42 ‘verändern’ 75 Verb 39, 47‒48, 50‒52, 56, 59, 64, 66, 84‒85 verbale Wortbildung 74‒75 Verbalisierer 85 Verbalisierungsmorphem 52‒53 Verbbildung 77

Verbderivation 74‒75 ‘verbessern’ 75 Verbkompositum 58, 74 Verbkonversion 65, 70, 74‒75 Verbpartikel 50‒52, 60‒61, 75, 96 Verbstammkonversion 64‒65, 70, 73 Verbwortbildung 74‒75 Vervielfältigungszahl 74 V+N-Kompositum 72, 96 Volksetymologie 98 V+V-Kompositum 74 ‘weg’ 74 ‘Witterung’ 75 Wort 38, 39 Wortart 39 Wortbedeutung 69 Wortbildung 38, 79 Wortbildungsaktivität 89 Wortbildungsanalyse 41, 101‒104 Wortbildungsart 54‒68, 95, 102 Wortbildungsbasis 69, 96 Wortbildungsbedeutung 68‒79, 83, 88, 100‒101 Wortbildungsbedeutungswandel 99‒101 Wortbildungsforschung 42‒46, 79‒80, 91‒92 Wortbildungsfunktion 79, 91, 100‒101 Wortbildungsgruppe 79 Wortbildungskonstruktion 41 Wortbildungslehre 38, 41, 42, 46 Wortbildungsmodell 41, 53, 90, 92, 94, 97‒101 Wortbildungsmorphem 47, 50, 95‒96, 102‒103 Wortbildungsmorphologie 41 Wortbildungsmuster 41, 91 Wortbildungsparaphrase 69‒70 Wortbildungspolysemie 79 Wortbildungsprodukt 38, 69 Wortbildungssystem 44, 100 Wortbildungstyp 44, 53, 87, 96 Wortbildungstypologie 55 Wortbildungsverfahren 38 Wortbildungswandel 41, 79, 90‒91, 96, 98‒101 Wortentlehnung 39, 81‒82 Wortersatz 40 wortfähig 47‒50, 53, 81, 83 Wortform 39 Wortformenbildung 39 Wortgruppenderivation 60, 71 Wortgruppenkonversion 76‒77 Wortkonversion 77 Wortkreuzung 55, 70, 87‒88

115

5.9 Alphabetisches Sachregister zur Systematischen Einführung

Wortkürzung 68 Wortschöpfung 38, 63 Wortverschmelzung 61 Wurzel 39, 48 ‘zerstörend’ 74 Zirkumfigierung 60 Zirkumfix 47, 50, 52, 59‒60, 72, 74‒75, 96

Zirkumfixderivat 95, 101 Zirkumfixderivation 55, 59, 72, 74‒75, 95‒97 Zusammenbildung 60 Zusammensetzung 38, 43, 50, 55, 92 Zusammenrückung 65, 76‒77, 92‒94 Zweitbenennung 40 Zweitglied 43, 56‒58, 66‒67, 71‒73, 76‒77, 92

A Abbreviation

≡ Akronym ⇀ Abbreviation (HistSprw)

Abbreviatur ≡ Kurzwort

abgeleitetes Wort ≡ Derivat

Abkürzung

1. gekürzte Wortform, die ausgesprochen wird wie die längere Form, aus der sie entstanden ist, und daher nicht als Wortbildungsprodukt gilt. ▲ abbreviation: short form which is phonetically identical to the long form from which it is formed and thus is not considered to be a word-formation product.

2. in der älteren Terminologie ein Produkt der Wortkürzung, das meist aus Einzelbuchstaben einer längeren Ursprungsform besteht und heute als Kurzwort bezeichnet wird. ▲ abbreviation: In older terminology a product of word shortening mostly consisting of the initials of a longer source word, and in modern terminology termed a word shortening. Zu 1: Relativ einheitlich wird in der neueren Literatur von Abkürzungen gesprochen, wenn sich die gekürzte Form auf die Schriftsprache beschränkt, die Kurzform also nicht als solche gesprochen wird, etwa bei Abk., Hbf., Jhrg. oder z.B.: Gesprochen werden die Langformen ›Abkürzung‹, ›Hauptbahnhof‹, ›Jahrgang‹ und ›zum Beispiel‹. Abkürzungen können relativ beliebig aus einer längeren Form gebildet werden – je nach Platzmangel kann man etwa ›Jahrgang‹ mit Jahrg., Jhrg. oder Jg. abkürzen. Es werden also

entweder nur der erste Buchstabe (S. = ›Seite‹) oder die ersten Buchstaben (Abt. = ›Abteilung‹) oder der erste und der letzte (Dr. = ›Doktor‹) oder der erste und weitere beliebige, möglichst für das Schriftbild charakteristische Buchstaben (z.Hdn. = ›zu Händen‹) zur Bildung der Abkürzung eines Wortes herangezogen. Abkürzungen werden in der schriftlichen Kommunikation zur Verknappung genutzt, um Platz zu sparen oder Wiederholungen zu vermeiden. Diese Form der auf die Schriftsprache beschränkten lexikalischen Kürzung ist schon seit der Antike belegt – die wohl bekanntesten Belege sind die Kreuzesinschrift INRI (›Jesus Nazarenus Rex Judaeorum‹) und das Kürzel SPQR für den römischen Senat (›Senatus Populusque Romanus‹) –; auch in den mittelalterlichen Handschriften finden sich zahlreiche Abkürzungen. Abzugrenzen sind Abkürzungen nach dieser Definition von allen anderen Kürzungsprodukten, vor allem von den Kurzwörtern, die gelegentlich auf die gleiche Weise gebildet sein können, aber in der gekürzten Form auch gesprochen werden. Anja Steinhauer

→ § 29; Kurzwort; Kurzwortbildung; multisegmentales Kurzwort; partielles Kurzwort; Wortkürzung

⇀ Abkürzung (Lexik; Schrling; QL-Dt)

🕮 Bergström-Nielsen, H. [1952] Die Kurzwörter im heutigen Deutsch. In: MSpr 46: 2–22 ◾ Duden [2011] Das Wörterbuch der Abkürzungen. Über 50.000 nationale und internationale Abkürzungen und Kurzwörter mit ihren Bedeutungen. 6., überarb. u. erw. Aufl. Mannheim [etc.] ◾ Kobler-Trill, D. [1994] Das Kurzwort im Deutschen. Eine Untersuchung zu Definition, Typologie und Entwicklung. Tübingen.

Zu 2: Vorwiegend in älteren Publikationen, in der Literatur außerhalb der Wortbildungsforschung sowie in nicht linguistischen Zusammenhängen wie (Spezial-)Wörterbüchern zu verschiedenen

Ablaut 118

A

Kurzformen werden mit Abkürzungen auch Produkte der Wortkürzung bezeichnet, die in der Kurzform gesprochen werden, also allgemein lexikalische Kurzformen außer den unisegmentalen Kurzwörtern, die übereinstimmend als Kurzwörter bezeichnet werden. Insbesondere Kurzformen aus einzelnen Buchstaben (häufig „Initialwörter“ oder „Akronyme“ genannt) wie LKW (›Lastkraftwagen‹) oder TÜV (›Technischer Überwachungsverein‹) werden nach dieser Terminologie auch Abkürzungen genannt. Anja Steinhauer

→ Akronym; Kurzwortbildung; unisegmentales Kurzwort ⇀ Abkürzung (Lexik; Schrling; QL-Dt)

🕮 Kobler-Trill, D. [2002] Die Formseite der Abkürzungen und Kurzwörter. In: Cruse, D.A./ Hundsnurscher, F./ Job, M./ Lutzeier, P.R. [Hg.] Lexikologie (HSK 21.1). Berlin [etc.]: 452–456.

Ablaut

von der Beeinflussung durch die lautliche Umgebung im Gegensatz zum Umlaut unabhängiger, bestimmten Regeln unterworfener und insoweit „systematischer“ Wechsel in der Qualität und Quantität der Vokale innerhalb etymologisch verwandter Wörter oder ihrer Teile. ▲ ablaut; vowel gradation; apophony: change in the quality and quantity of vowels in etymologically related words or their parts which is, contrary to umlaut, independent of the phonetic surroundings, but nevertheless subject to specific rules, and as such systematic. Mit dieser Bedeutung wird der von Schottel 1673 eingeführte Begriff seit J. Grimm (Deutsche Grammatik, I, 1819) gebraucht, der den Terminus für den regelmäßigen Wechsel des Stammvokals in der Flexion der starken Verben der indogermanischen Sprachen verwendete, und zwar im Gegensatz zum Umlaut. Adelung hatte die Erscheinung des Stammvokalwechsels, die zunächst beim Verb beobachtet worden war, „Biegung der Wurzel“ genannt. Mit dem Terminus „Ablaut“ wurde zuvor in herabsetzender Weise jede Form vokalischer Unregelmäßigkeit bezeichnet. Grimm spricht vom „Verhältnis mannigfacher Vokalabwechselung“, das auf einer „anfänglichen sinnlich-bedeutsamen Wortflexion“ beruhen könne. Schleicher spricht von „Vokalsteigerung und Vokalschwächung“ der von ihm angesetzten Grundvokale a, i und u. Die in verschiedenen Sprachen übliche Bezeichnung Apophonie – als ‘apophony’ übernahm Jespersen

den Begriff für das Englische – ist eine Lehnübersetzung des von Jacob Grimm gebrauchten Terminus „Ablaut“: apó ‘von ... weg’ – phōnḗ ‘Ton’. Dieser Ab­laut geht wohl bereits auf die proto-indogermanische Ursprache zurück und zeigt noch in den meisten indogermanischen Sprachen seine Nachwirkungen. Vom Ablaut betroffen sind nicht nur die Vokale der Grundmorpheme, sondern auch die der Wortbildungs- und Flexionsmorpheme, außer den einfachen Vokalen auch die Diphthonge. Außer den idg. Sprachen haben auch die semitischen ein entwickeltes Ablautsystem, das FinnoUgrische weist hingegen nur ein rudimentäres auf. Der entsprechende Konsonantenwechsel im Finnischen wird als Stufenwechsel bezeichnet. Man unterscheidet zwischen dem quantitativen Ablaut („Abstufung“) und dem qualitativen Ablaut („Abtönung“). Die häufigste Form des qualitativen Ablauts ist der Wechsel zwischen idg. *e und idg. *o: vgl. lat. tego ‘ich decke’, lat. toga ‘die Toga; Decke’. Da diese Vokale den gleichen Entwicklungen im weiteren Verlauf der Sprachgeschichte unterworfen sind wie die übrigen Vokale, erscheint diese Form des Ablauts z.B. im Ahd. als Wechsel zwischen e und a: ahd. ne̲man Inf. ‘nehmen’, ahd. nam 1./3. Sg. Ind. Prät. ‘ich bzw. er, sie, es nahm’. Ebenfalls häufig ist der Wechsel der entsprechenden Langvokale, idg. *ē und *ō, wie er sich in gotisch lētan Inf. ‘lassen’ und la̲ il̲ ōt (mit Reduplikationssilbe laí-; das Graphem bezeichnet einen kurzen e-Laut) 3. Sg. Ind. Prät. ‘er, sie, es ließ’ zeigt. Auch idg. *a und *o wechseln: gr. ágo ‘ich treibe’, gr. ógmos ‘Furche’. Durch den quantitativen Ablaut wird die Quantität (Länge und Kürze) ein und desselben Vokals verändert. Setzt man als Normalstufe, die auch Voll- oder Hochstufe genannt wird, einen Kurzvokal an, so wird dieser durch den quantitativen Ablaut entweder zur Länge gedehnt (Dehnstufe) oder bis zum Schwund des Vokals gekürzt („Schwundstufe“). Beispiele für die Dehnstufe sind griechisch póda Akk. Sg., gr. pōs ‘Fuß’ Nom. Sg.; gr. patéra, patḗr ‘Vater’; ahd. neman Inf. ‘nehmen’, ahd. nāmun 1./3. Pl. Ind. Prät. ‘sie nahmen’ mit ā aus ē; Beispiele für die Kürze bzw. den Schwund sind gr. pétomai ‘ich fliege’, gr. eptómen ‘ich flog’; got. brōþar Nom. Sg. ‘Bruder’ < idg. *bhrātēr, got. brōþruns < idg. *bhrātrós. Neben der Form des quantitativen Ablauts, der von einem Kurzvokal als Normalstufe ausgeht,

119 Ablaut gibt es noch eine weitere Form, in der die Normalstufe einen Langvokal hat. In diesen Ablautreihen kommen keine Kurzvokale vor, sondern die gekürzte Stufe des Langvokals ist *ə (Reduktionsoder Tiefstufe). Der Laut *ə, den man auch Schwa nennt (hebr. ‘nichts’; der Begriff bezeichnet in der hebräischen Grammatik einen überkurzen Vokal), erscheint in den idg. Sprachen in der Regel als a (gr. auch als e und o), nur im Indoiranischen als i. Solchen Ablautstufen fehlen also im Idg. kurze Vollvokale, wenngleich sie in den Einzelsprachen restituiert sind: vgl. lat. stāre ‘stehen’: status, gr. statós, ai. sthitás Part. Prät. < idg. *stətós; ahd. lāzan ‘lassen, zulassen, unterlassen’: ahd. laz ‘träge, stumpfsinnig, säumig, lässig’ < idg. *lədos. Demgegenüber gingen die alten Grammatiker des Sanskrit von der Schwundstufe als Grundstufe aus und bezeichneten die Grundstufe (oder Vollstufe) als Guṇa (‘hoher Grad’) und die Dehnstufe als Vṛddhi (‘Wachstum’). Die Möglichkeiten des idg. Ablauts zeigen sich deutlich in der Struktur der Ablautreihen. Aber auch alle anderen Wortarten zeigen Ablaut: binden : Band : Bund, werfen : Wurf. Das bedeutet, dass der Ablaut nicht allein bei der Präteritumsbildung des st. Verbs auftritt, sondern allen Wortarten eigen ist. Ursprünglich war er durch den (im Wort zwischen Grundmorphem, Formations- und Flexionsmorphem) wechselnden Akzent bedingt. In der geläufigsten Ablauterscheinung wird idg. *e wie folgt variiert: Normal-/Vollstufe: idg. *e Abtönungsstufe (qualitativer Ablaut): idg. *o Dehnstufe (quantitativer Ablaut): idg. *ē abgetönte Dehnstufe: idg. *ō Schwundstufe (quantitativer Ablaut): idg. ∅. Im Ahd. zeigt sich dieses Ablautverhältnis in der folgenden Weise: Normalstufe: ahd. e Abtönung (qualitativer Ablaut): ahd. a Dehnstufe (quantitativer Ablaut): ahd. ā abgetönte Dehnstufe: ahd. ō Schwundstufe (quantitativer Ablaut): hier ahd. sekundärer Vokaleinschub nach dem Präsensvokal (Reduktions- oder Restitutionsstufe). Ansonsten kann der in der Schwundstufe geschwundene Vokal durch einen vor einem silbischen Konsonanten entfalteten Vokal ersetzt werden; im Germanischen ist das das u, etwa in bintan – band – buntum – gibuntan.

Diese Möglichkeit des Ablauts zeigt sich in den ersten fünf Ablautreihen des st. Verbs: Tab. 1: Ablautreihe I Normalstufe Abtönungsstufe Schwundstufe idg.

*ei

*oi

*∅i

germ.



*ai

*i/e

ahd.

ī

ei/ē

ii

a) rītan ‘reiten’, rītu ‘ich reite’ – reit ‘ich ritt’ – ritun ‘wir ritten’, giritan ‘geritten’ b) zīhan ‘beschuldigen’, vgl. nhd. zeihen, zīhu – zēh – zigun, gizigan Tab. 2: Ablautreihe II idg. germ. ahd.

*eu

*ou

*∅u

*eu/iu

*au

*u/o

io iu

ou/ō

uo

a) biogan ‘biegen’, biugu – boug – bugun, gibogan b) biotan ‘bieten’, biutu – bōt – butun, gibotan Tab. 3: Ablautreihe III idg.

*eNK

*oNK

∅ṆK

germ.

*i/eNK

*aNK

*u/oNK

i/eNK iNK

aNK

uNK u/oNK

ahd.

N= Nasal, K = Konsonant Ṇ ist ein silbischer Nasal, woraus sich zum Germ. hin uN entwickelt. a) bintan ‘binden’, bintu – bant – buntun, gibuntan b) werfan ‘werfen’, wirfu – warf – wurfun, giworfan Tab. 4: Ablautreihe IV idg.

*eN

*oN

*ēN

*∅Ṇ

germ.

*e/iN

*aN

*ēN

*u/oN

ahd.

eN iN

aN

*āN

oN

neman ‘nehmen’, nimu – nam – nāmun – ginoman Tab. 5: Ablautreihe V idg.

*eK

*oK

*ēK

*eK

germ.

*e/iK

*aK

*i/eK

ahd.

eK iK

aK

*ē1K āK

eK

geban ‘geben’, gibu – gab – gābun – gigeban Neben dem idg. *e/o-Ablaut (auch mit Langvokalen als *ē/ō-Ablaut) existiert noch ein *a/o-Ablaut

A

Ablaut 120

A

in folgenden Varianten: idg. *a : o : ā : ō : ∅ bzw. idg. ā : ō : ə, wobei die letztere Variante nicht unumstritten ist. Auf diesen Ablautmöglichkeiten beruht die 6. Ablautreihe des Germ. Hier wechseln a und ō miteinander. ō erscheint im Ahd. bereits diphthongiert: Tab. 6: Ablautreihe VI idg.

*a/o

*ō/ā

*a/o

germ.

*a *a

*ō *ō

*a

aa

uo uo

a

ahd.

faran ‘fahren’, faru – fuor, fuorun – gifaran Schließlich wird ein anderer idg. Ablauttyp, nämlich idg. *ē : *ō : *ə, bei den got. ablautend-reduplizierenden Verben sichtbar und auch sonst in der Wortbildung: got. lētan Inf. ‘lassen’ : laílōt 1./3. Sg. Ind. Prät. ‘ich bzw. er, sie, es ließ’: lats ‘lässig, träge’. Die verschiedenen auftretenden Ablautstufen werden mit der Hypothese erklärt, dass die Entstehung des Ablauts die phonetische Folge unterschiedlicher und zu verschiedenen Zeiten wirksamer Akzente in den betroffenen Wortformen sei. Der qualitative Ablaut, der zur Entstehung verschiedener Vokale wie e und o führt, beruhe auf dem musikalischen Akzent (Hervorhebung durch Tonhöhenwechsel). Der quantitative Ablaut, dessen Folge die Längung (e > ē) oder Kürzung (e > ∅) ist, sei in einem dynamischen Akzent (Druckakzent, Intensitätsakzent, Stärkeakzent, engl. dynamic stress, stress accent, d.h. Hervorhebung durch eine Intensitätsvariation des Atemdrucks) begründet. Methodisch handelt es sich hierbei um eine Erklärung vom Ergebnis her: Weil die Folge so ist, wie sie ist, wird eine dem Ergebnis entsprechende Kraft angenommen. Folgende Möglichkeiten werden angenommen: a. akrostatisches Paradigma: Deklinationstyp ohne Akzentwechsel, aber mit qualitativem beziehungsweise quantitativem Ablaut in der Wurzelsilbe und/oder Suffixsilbe; b. proterodynamisches Paradigma: Deklinationstyp mit Akzentwechsel zwischen Wurzelsilbe und Suffixsilbe und quantitativem Ablaut; c. hysterodynamisches Paradigma: Deklinationstyp mit Akzentwechsel zwischen Suffixsilbe und Endungssilbe und quantitativem Ablaut; d. amphidynamisches Paradigma: Deklinationstyp mit Akzentwechsel zwischen Wurzelsilbe und Endungssilbe und quantitativem Ablaut.

Eine neuere, von der obigen Darstellung abweichende Auffassung geht davon aus, dass der musikalische Akzent für die Abtönung e : o verantwortlich ist, der dynamische Akzent aber nur für die Abstufung e : ∅. Die früher als primär angesehene Dehnstufe ē verdanke ihre Entstehung dagegen morphonologischer Analogie. Auch die ältere Annahme primärer nicht auf e basierender Ablautreihen sei im Hinblick auf die Laryngaltheorie heute aufgegeben. Diese Theorie nimmt folgende Phasen der Ablautentwicklung an. Die erste Phase stelle die Auswirkung des dynamischen Akzents dar. Der Vokal /e/ schwinde in unbetonter Stellung. In der zweiten Phase mache sich der musikalische Akzent bemerkbar; /e/ werde in unbetonter Stellung zu /o/ abgetönt. In der dritten Phase bilde sich erstens die Dehnstufe /e:/ der Grundstufe /e/, und zwar aufgrund morphologischer Analogie und unabhängig vom Akzent. Zweitens entstehe in dieser Phase die Dehnstufe /o:/ des abgetönten Vokals /o/, gleichfalls aufgrund morphologischer Analogie und unabhängig vom Akzent. Als Größe morphologischer Funktion spielte der Ablaut entsprechend seiner morphonologischen Basis zunächst keine Rolle. Vielmehr werden die grammatischen Funktionen der Wortform durch die Flexionsmorpheme getragen. Insoweit ist eine Formulierung wie die folgende nicht sprachwissenschaftlich valide: „Verschiedene grammatikalische Formen eines Wortes wurden oft durch Ablaut oder Vokalwechsel gekennzeichnet: Der Wurzelvokal änderte sich systematisch, um Kontraste wie Singular und Plural oder Imperfekt und Präsens anzuzeigen, wie es im Deutschen noch heute häufig geschieht, etwa bei Mutter/Mütter oder gehen/ging“ (Crystal 1993: 297). Oder: „Der Ablaut ist eine innere Flexion (durch Vokalwechsel)“ (Heupel 1973: s.v.). Oder gar: „Der Ablaut fungiert in manchen Sprachen als Tempus-Morphem“ (Heupel 1973: s.v.). Dass der Ablaut kein Ausdruck grammatischer Funktion („grammatical inflection by variation in the vowel of a root“, Trask 1993: s.v.) ist, kann etwa daran gesehen werden, dass beim starken Verb der Klassen 1–5 im gleichen Tempus Präteritum des Ahd. zwei verschiedene Ablautstufen vorkommen, wobei im Singular Präteritum sogar in der 2. Person die Ablautstufe des Plurals auftritt. Sekundär wurde der Ablaut beim st.V. zum Ausdruck des Tempus

121 Ablaut etwas mehr funktionalisiert, was für das Frnhd. gut erforscht ist (Strömberg 1907; Granmark 1933; Alm 1936; Solms 1984; Chirita 1988), so dass in der Gegenwartssprache zumindest nur eine Ablautstufe jeweils für das Präteritum Singular sowie für das Präteritum Plural auftritt. In den starken Verben der Klasse 6 und den ehemals reduplizierenden Verben der Klasse 7 sind die Grundmorphemvokale im Singular und Plural Präteritum gleich, so dass sich hier also Präsens und Präteritum durch eine jeweilige Ablautstufe unterscheiden, was den Eindruck der grammatischen Funktion des Ablauts noch verstärkt. Jedoch bleibt es auch hier bis in die Gegenwartssprache dabei, dass die Flexive der entscheidende Ausdruck der grammatischen Funktion sind. Für das Bewusstsein des Sprachträgers sind freilich die unterschiedlichen Ablautstufen sekundäre Signalträger für die grammatischen Funktionen der betroffenen Wortformen. Die Auffassung, dass der Ablaut sozusagen mit dem Zurücktreten anderer Ausdrucksmöglichkeiten für die Akzidenzien grammatischer Kategorien an morphologischer Kraft gewann, ist in der Sprachwissenschaft vor allem durch de Saussure zur Geltung gebracht worden: Die vokalischen Verschiedenheiten, etwa in geben und gab, hätten funktionell nur deshalb diese Wichtigkeit erlangt, weil das ursprüngliche Flexionssystem sich durch verschiedene Vorgänge vereinfacht habe, so dass der Wurzelablaut mit seiner Opposition e : a allein bedeutungsvoll geworden sei. Die regelmäßige lautliche Verschiedenheit biete eine verschiedene Vorstellung und somit des Wertes, betone aber zugleich die Einheit des Stammes und die grammatischen Beziehungen zwischen seinen Abwandlungen, wie etwa in Wetter und Gewitter (de Saussure 1967: 170, 191). Dazu ist bereits oben bemerkt worden, dass diese Auffassung irrig ist. Entsprechend dem Eindruck, dass die lautlich verschiedenen Stammvarianten zugleich Träger morphologisch-semantischer Informationen seien, wird der unterschiedliche, durch Ablaut bedingte Vokal in den verschiedenen wortartgleichen und wortartverschiedenen simplizischen und wortbildungserzeugten Mitgliedern einer Wortfamilie als zumindest zusätzliche Signalisierung der Wortbildungsprozesse aufgefasst: fahren – Fahrt – Fuhre ­– Furt; binden – Binde – Band – Bund; trinken – Trunk – Trank. In

der zweiten und der letztgenannten Beispielreihe sind die bedeutungsverschiedenen Lexeme Band und Bund sowie Trunk und Trank in der Lexikonform nur durch den verschieden ablautenden Vokal differenziert, und auch in der erstgenannten Reihe sind Fahrt und Furt genaugenommen auf gleiche Weise voneinander geschieden, wobei aber als weiteres Differenzierungssignal das Schriftbild hinzukommt. Bei Trunk und Trank ist, wenigstens ursprünglich, von einer inhaltlichen Differenzierung auszugehen; der Fokus lag bei Trank auf dem Gegenstand des Trinkens, bei Trunk auf dessen Vollzug. Nur durch die Ablautstufe geschieden und insoweit Ableitungen voneinander sind etwa das in der deutschen Hochsprache veraltete Schwäher ‘Schwiegervater’ (heute ersetzt durch Schwiegervater) zu mhd. sweher, ahd. swehur, sweger, swēr < germ. *swehura- m. ‘Schwiegervater’ < idg. *swéḱuro- m. ‘Schwiegervater’ und Schwager < mhd. swāger, ahd. swāgur, swāger. Das letztgenannte Wort ist eine Zugehörigkeitsbildung mit Vṛddhi (‘Dehnstufe’) zu Schwäher, deren Bedeutung also ‘Sohn des Schwiegervaters’ ist. Abgesehen von demjenigen Vokalwechsel, der den idg. Vokalablaut in den einzelnen Sprachen fortsetzt, gibt es weitere, nicht auf den idg. Ablaut zurückgehende Vokalalternationen in den idg. Einzelsprachen und auch in nichtindogermanischen Sprachen. Beispiele aus dem idg. Bereich sind etwa lat. mando/commendo, cano/cecini, frz. dois/devons, engl. life [laif]/living [liviŋ], russ. sestra/sëstry. Insoweit, als die hier beobachteten Vokalveränderungen oder Vokalwechsel auf den Starkton zurückgehen, kann man für sie teilweise von Ablaut sprechen (Knobloch 1986: 12). Demgegenüber wird für den lautmalenden Vokalwechsel in bim – bam – bum mit Wiẞmann der Begriff elementarer Ablaut vorgeschlagen (Knob­ loch 1986: 12). Für den im Flexionsparadigma auftretenden Ablaut im Grundmorphem (‘Wurzelsilbe’) wird der Begriff Deklinations- oder Konjugationsablaut verwendet. Der Ablaut der unflektierbaren Wortarten heißt Partikelablaut, der der Suffixe Suffixablaut; dieser kann als Suffixabstufung (πατήρ (patḗr): πατρόϛ : πατέρα (patéra),) oder Suffixabtönung (-es/-os in lat. hominis : altlat. hominus) auftreten. ≡ Apophonie; Vokalgradation

Eckhard Meineke

A

Ablautausgleich 122

A

→ Ablautausgleich; Ablautkombination; Basisablaut;

Derivation; Derivationsmittel; Derivationsstammform; ersetzendes Morph; fusionierende Morphologie; implizite Derivation; innere Ableitung; Item-and-Process-Modell ⇀ Ablaut (Gram-Formen; Phon-Dt; HistSprw)

🕮 Alm, E. [1936] Der Ausgleich des Ablauts im starken Präteritum der ostmitteldeutschen Schriftdialekte. Uppsala ◾ Born, R. [1979] Disintegration and Reintegration. The History of the Verbal Ablaut from Proto-Germanic to Modern German. Diss., Cornell University ◾ Chirita, D. [1988] Der Ausgleich des Ablauts im starken Präteritum im Frühneuhochdeutschen. Bern [etc.] ◾ Coetsem, F. van [1990] Ablaut and Reduplication in the Germanic Verb. Heidelberg ◾ Crystal, D. [1993] Die Cambridge Enzyklopädie der Sprache. Übersetzung u. Bearbeitung d. dt. Ausgabe von St. Röhrich, A. Böckler und M. Jansen. Frankfurt/ Main [etc.] ◾ Fulk, R.D. [1986] The Origins of Indo-European Quantitative Ablaut. Innsbruck ◾ Granmark, O.S. [1933] Die Ausgleichung des Ablauts im starken Präteritum des rheinfränkischen Schriftdialekts. Lund ◾ Heupel, C. [1973] Taschenwörterbuch der Linguistik. München ◾ Holtzmann, A. [1977] Über den Ablaut. Zwei Abhandlungen, and Über den Umlaut. New ed. with an introductory article by W.A. Benware. Amsterdam ◾ Ising, E. [1956] Die Begriffe „Umlaut“ und „Ablaut“ in der Terminologie der frühen deutschsprachigen Grammatik. In: Hiersche, R./ Ising, E./ Ginschel, G. [Hg.] Aus der Arbeit an einem historischen Wörterbuch der sprachwissenschaftlichen Terminologie. Berlin: 21–45 ◾ Kienle, R. von [1968] Indogermanische Grammatik. Bd. II: Akzent, Ablaut. Heidelberg ◾ Kienle, R. von [1969] Historische Laut- und Formenlehre des Deutschen. 2. Aufl. Tübingen ◾ Knobloch, J. [Hg. 1986] Sprachwissenschaftliches Wörterbuch. Bd. 1: A-E. Heidelberg ◾ Kuryłowicz, J. [1956] L'apophonie en Indo-Européen. Wrocław ◾ Kuryłowicz, J. [1968] Indogermanische Grammatik II: Akzent. Ablaut. Heidelberg ◾ Prokosch, E. [1939] A comparative Germanic grammar. Philadelphia, PA ◾ Rasmussen, J.E. [1989] Studien zur Morphophonemik der indogermanischen Grundsprache. Innsbruck ◾ Saussure, F. de [1967] Cours de linguistique générale. 2nd ed. Berlin ◾ Solms, H.-J. [1984] Die morphologischen Veränderungen der Stammvokale der starken Verben im Frühneuhochdeutschen. Bonn ◾ Strömberg, E. [1907] Die Ausgleichung des Ablauts im starken Präteritum. Mit besonderer Rücksicht auf oberdeutsche Sprachdenkmäler des 15.–16. Jh. Göteborg ◾ Trask, R.L. [1993] A Dictionary of Grammatical Terms in Linguistics. London [etc.].

Ablautausgleich

Ausgleich verschiedener Ablautstufen im Singular und Plural der Präteritumformen der Klassen I-V des starken Verbs. ▲ ablaut leveling: leveling of different ablaut vowel alternations in the singular and plural preterite forms of the classes I-V of the strong verb. Ablautausgleich ist in der Indogermania bereits früh belegt (Tichy 2004: 128); hier werden die Verhältnisse anhand der deutschen Sprachgeschichte dargestellt. Dass der Ablaut ursprünglich kein

Ausdruck grammatischer Funktion ist, kann etwa daran gesehen werden, dass beim starken Verb der Klassen 1–5 im gleichen Tempus Präteritum des Ahd. zwei verschiedene Ablautstufen vorkommen, wobei im Singular Präteritum sogar in der 2. Person die Ablautstufe des Plurals auftritt. Sekundär wurde der Ablaut beim starken Verb zum Ausdruck des Tempus etwas mehr funktionalisiert, was für das Frnhd. gut erforscht ist (Strömberg 1907; Granmark 1933; Alm 1936; Solms 1984; Chirita 1988), so dass in der Gegenwartssprache nur die eine gleiche Ablautstufe sowohl für das Präteritum Singular als auch für das Präteritum Plural auftritt. In den starken Verben der Klasse 6 und den ehemals reduplizierenden Verben der Klasse 7 sind die Grundmorphemvokale im Singular und Plural Präteritum gleich, so dass sich hier also Präsens und Präteritum durch eine jeweilige Ablautstufe unterscheiden, was den Eindruck der grammatischen Funktion des Ablauts noch verstärkt. Jedoch bleibt es auch hier bis in die Gegenwartssprache dabei, dass die Flexive der entscheidende Ausdruck der grammatischen Funktion sind. Für das Bewusstsein des Sprachträgers sind freilich die unterschiedlichen Ablautstufen sekundäre Signalträger für die grammatischen Funktionen der betroffenen Wortformen. Es lassen sich drei Typen des Ausgleichs unterscheiden. 1. Der Vokal des Präteritum Singular 1. 3. Person wird zum Vokal für das gesamte Präteritum. Dieser Vorgang tritt in den Klassen II und III auf, abgesehen von werden und schinden sowie den unter (3.) genannten Ausnahmen. So entwickeln sich die Formen von mhd. triefen Klasse IIa, trouf (1. 3. Pers. Sg. Prät.) – trufen (1. 3. Pers. Pl. Prät.), zu frnhd. troff und troffen, die Formen von mhd. biegen, bouc und bugen, zu frnhd. bōg und bōgen. Die Formen von mhd. bieten Klasse IIb, bōt und buten, erscheinen als frnhd. bōt und bōten, die von mhd. sieden, sōt und suten, als frnhd. sott und sotten. 2. Der Vokal des Präteritum Plural wird zum Vokal für das gesamte Präteritum. Dieser Vorgang tritt in den Klassen I, IV und V sowie bei werden und schinden auf. So erscheinen statt der Formen des Verbs mhd. rīten ‘reiten’ Klasse Ia, reit und riten, im Frnhd. ritt und ritten, statt der Formen sweic und swigen des Verbs mhd. swīgen ‘schweigen’ frnhd. schwieg und schwiegen. Statt

123 Ablautkombination der Formen des Verbs mhd. zīhen ‘beschuldigen’ Klasse IIb, zēh und zigen, erscheinen frnhd. (ver)zieh und (ver)ziehen. Aus den Formen des Verbs mhd. nëmen ‘nehmen’ Klasse IV, nam und nāmen, entwickeln sich frnhd. nahm und nahmen. Aus den Formen von mhd. gëben Klasse V, gap und gāben, entstehen frnhd. gāb und gāben. Das Verb wërden (mhd. wart, wurden) erhält stattdessen frnhd. wurde, wurden neben noch heute belegtem archaischem ward. Das Verb schinden (schant, schunden) erscheint mit den frnhd. Formen schund und schunden. 3. Es wird der Präteritumvokal o für Singular und Plural übernommen. Aus den mhd. Klassen III, IV, V und VI wird in einer Anzahl Lexeme der Präteritumvokal zu einheitlichem o geändert. Aus der Klasse III zählen hierzu frnhd. glimmen, klimmen, quellen, schwellen, schmelzen, melken, erschallen (schëllen). Aus Klasse IV gehören hierher frnhd. scheren, löschen, flechten, fechten, dreschen, rächen, aus Klasse V frnhd. gären, wiegen, bewegen (aus mhd. wëgen), pflegen, aus Klasse VI heben und schwören. Im Ahd. und Mhd. weicht der ablautende Stammvokal der Form der 2. Pers. Sg. Prät. von denen der 1. 3. Pers. Sg. Prät. ab, und zwar hat die 2. Pers. Sg. Prät. im Ahd. in den Klassen I-V den Stammvokal der Ablautstufe des Pl. Präteritum. In der Klasse VI ergibt sich noch im Ahd., jedenfalls soweit das durch die Graphie angezeigt wird, keine Änderung des Vokals der 2. Pers. Sg. Prät. gegenüber den Formen der 1. 3. Pers. Sg., da die Ablautstufe im Singular und Plural Präteritum die gleiche ist: 1. 3. Pers. Sg. Prät. gruob, 2. Pers. Sg. Prät. gruobi, 1. Pers. Pl. Prät. gruobun zu graban ‘graben’. Da die 2. Pers. Sg. Prät. im Ahd. auf -i endet, wird in den betreffenden Formen bei umlautfähigen Vokalen im Mhd. der durch das ahd. -i hervorgerufene Umlaut manifest, so dass auch in der Klasse VI, bei der im Ahd. graphisch keine Änderung des Stammvokals der Form der 2. Pers. Sg. Prät. gegenüber den anderen Formen angezeigt wird, ein Umlaut sichtbar wird. Die Verhältnisse sind im einzelnen: Klasse I 1. 3. Pers. Sg. Prät. greif – 2. Pers. Sg. Prät. grif(f)e, Klasse II bōt – büte, Klasse III bant – bünde, Klasse IV nam – næme, Klasse V gap – gæbe, Klasse VI gruop – grüebe. Dieser Vokalwechsel wird zum Nhd. hin ausgeglichen. Der Ausgleich findet überwiegend im Lauf des 15. Jahrhunderts statt: Klasse I grif(f)e

– griff(e)st, Klasse II büte – bot(e)st, Klasse III bünde – band(e)st, Klasse IV næme – nahm(e)st, Klasse V gæbe – gāb(e)st, Klasse VI grübe – grub(e)st. Verbunden mit diesem Ausgleich ist, wie gezeigt, die Übernahme der Endung -(e)st aus dem Paradigma des schwachen Verbs bzw. der Flexion des Präsens, was zur Vereinheitlichung der Form der 2. Pers. Sg. Ind. führt. Da nunmehr gegenüber der früheren Form mit umgelautetem Stammvokal und bis auf ­­-e abgeschwächter Flexionsendung ein deutlicheres konkatenatives Signal in Gestalt des Flexionsmorphems -(e)st vorhanden ist, wird der Ausgleich des Stammvokals erleichtert, da der umgelautete Stammvokal als Träger der Signalinformation für die Form der 2. Pers. Sg. Prät. redundant geworden ist.

→ Ablaut; paradigmatischer Ausgleich

Eckhard Meineke

🕮 Alm, E. [1936] Der Ausgleich des Ablauts im starken Präteritum der ostmitteldeutschen Schriftdialekte. Uppsala ◾ Born, R. [1979] Disintegration and Reintegration. The History of the Verbal Ablaut from Proto-Germanic to Modern German. Diss., Cornell University ◾ Chirita, D. [1988] Der Ausgleich des Ablauts im starken Präteritum im Frühneuhochdeutschen. Bern [etc.] ◾ Granmark, O.S. [1933] Die Ausgleichung des Ablauts im starken Präteritum des rheinfränkischen Schriftdialekts. Lund ◾ Hartweg, F./ Wegera, K.-P. [2005] Frühneuhochdeutsch. Eine Einführung in die deutsche Sprache des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. 2., neu bearb. Aufl. Tübingen ◾ Nowak, J. [2015] Zur Legitimation einer 8. Ablautreihe. Eine kontrastive Analyse zu ihrer Entstehung im Deutschen, Niederländischen und Luxemburgischen. Hildesheim [etc.] ◾ Solms, H.-J. [1984] Die morphologischen Veränderungen der Stammvokale der starken Verben im Frühneuhochdeutschen. Bonn ◾ Strömberg, E. [1907] Die Ausgleichung des Ablauts im starken Präteritum. Mit besonderer Rücksicht auf oberdeutsche Sprachdenkmäler des 15.–16. Jh. Göteborg ◾ Tichy, E. [2004] Indogermanistisches Grundwissen für Studierende sprachwissenschaftlicher Disziplinen. 2., überarb. Aufl. Bremen.

Ablautbildung

≡ implizite Derivation

Ablautdoppelung

≡ Ablautkombination

Ablautkombination

Spezialfall der Reduplikation, bei dem zwei oder mehr im Ablaut stehende Elemente zu einem Wort kombiniert werden. ▲ ablaut combination: special case of reduplication, where two or more elements that stand in ablaut relation are combined into a word.

A

Ableitung 124

A

Ablautkombinationen werden auch als „Ablautdoppelungen“ bezeichnet. Der letztere Begriff trifft zu, insoweit es sich hier meistens um binäre Wortbildungsprodukte wie Bimbam, Hickhack, Klingklang, Krimskrams, Mischmasch, Piffpaff, Schnickschnack, Singsang, Ticktack, Tingeltangel, Wirrwarr, Wischiwaschi oder Zickzack handelt. Doch gibt es auch Trikomposita wie bimbambum oder Piffpaffpuff. Dabei entspricht die qualitative Vokalvariation nur in einem Teil der Fälle, so in Singsang, dem in der Geschichte des Indogermanisch-Deutschen belegten Ablaut. Die betreffenden Bildungen sind fast ganz auf den Bereich der Substantive beschränkt. Im Verbalbereich fehlen sie fast ganz. Vor allem im Niedersächsischen belegtes fickfacken ‘(eigentlich) leichtsinnig und ohne Absicht hin und her laufen, vagari, und dann figürlich, lose, leichtfertige Händel anfangen’ ist bei Adelung (1796: 145) belegt, in der gegenwärtigen Gemeinsprache aber fast ungebräuchlich. Die von Simmler (1998: 490) nach Bzdęga (1965: 147, 176) genannten Verben hickhacken und zwickezwacken dürften jedenfalls ungebräuchlich sein. Im Bereich des Adjektivs sind Ablautkombinationen schwach vertreten, etwa bei der engl. tiptop nachempfundenen Bildung tipptopp. Von Simmler (1998: 448f.) nach Bzdęga (1965: 161f.) zitiertes ticktack dürfte es als Adjektiv nicht geben; sprachüblich ist ein kindersprachliches Substantiv Ticktack. In diesem Zusammenhang auch genanntes pickepackevoll ist nur als Komposition mit voll existent, aber nicht als pickepacke allein, für das insoweit eher eine adverbiale Verwendung denkbar wäre. Die für den Bereich der Adverbien genannten Bildungen gripschgrapsch und kritzelkratz ‘kreuz und quer’ (Simmler 1998: 462f. nach Bzdęga 1965: 146, 155) führen im ersten Fall eher auf den Eigennamen einer Märchenfigur, also ein Substantiv, im zweiten auf einen Produktnamen. Außerdem liegt im zweiten Fall keine reine Reduplikationsbildung vor, die ja *Kritzkratz oder *Kritzelkratzel lauten müsste. Gleichwohl ist die Verwendung beider Wörter als Adverbien gut vorstellbar. Als Interjektionen werden Wortschöpfungen wie bimbam, bimbambum, klippklapp und klitschklatsch genannt (Simmler 1998: 470f. nach Bzdęga 1965: 132, 153). In Gelegenheitsbildungen kommen Ablautkombinationen als Erstglied von Substantivkomposita vor, so in Tippeltappeltour ‘langsame Erledigung

in herkömmlicher Weise’ (Fleischer/ Barz 1992: 48). Die Bildungsweise wird für das Deutsche dem Bereich des Substandards zugeordnet. Insoweit so erzeugte Bildungen in die Literatursprache gelangten, hätten sie vorwiegend pejorativen Charakter. Weitere Entlehnungen aus dem Englischen neben tipptopp sind Flipflop mit den Bedeutungen ‘bistabile elektronische Kippschaltung’ und ‘Badesandale aus Kunststoff mit Zehensteg und Schrägriemenbefestigung’, Pingpong ‘Tischtennis’ (vgl. Fleischer/Barz 1992: 48) und HipHop (daraus die Komposition Hip-Hop-Musik). Als Ablautkombination lässt sich auch die Vogelbezeichnung Zilpzalp für den Weidenlaubsänger verstehen. ≡ Ablautdoppelung → Ablaut; Kompositum; Reduplikation

Eckhard Meineke

🕮 Adelung, J.C. [1796] Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Bd. 2. Leipzig ◾ Bzdęga, A.Z. [1965] Reduplizierte Wortbildung im Deutschen. Poznan ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [1992] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen ◾ Graz database on reduplication. [Unter: http://reduplication.uni-graz.at/; letzter Zugriff: 29.03.2021] ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin.

Ableitung

≡ Derivation ⇀ Ableitung (Gram-Syntax; QL-Dt)

Ableitung, attenuative → Diminutivum

Ableitung, explizite → explizite Derivation

Ableitung, implizite → implizite Derivation

Ableitung, innere → innere Ableitung

Ableitung, inverse → Rückbildung

Ableitung, kombinatorische → kombinatorische Derivation

Ableitung, korrelative → korrelative Derivation

125

Ableitung, retrograde → Rückbildung

Ableitungsbasis

≡ Derivationsbasis

Ableitungsbeziehung

≡ Derivationsbeziehung ⇀ Ableitungsbeziehung (Lexik)

Ableitungsmittel

≡ Derivationsmittel

Ableitungsmorphem ≡ Derivationsmorphem

Ableitungsmuster ≡ Derivationsmodell

Ableitungsrichtung ≡ Derivationsrichtung

Ableitungsstufe

≡ Derivationsstufe

Ableitungssuffix

≡ Derivationssuffix ⇀ Ableitungssuffix (Gram-Formen)

abschließendes Suffix

Suffix, das nicht ohne Weiteres eine weitere morphologische Veränderung der gleichen Art erlaubt. ▲ closing suffix: suffix that does not permit a further morphological change of the same type. Abschließendes Suffix ist ein Begriff der Wortbildungsmorphologie, obwohl die Grundidee zunächst in der Flexionsmorphologie entdeckt wurde. Insbesondere Bybee (1985) hat hier ihren Beitrag geleistet. In der Flexionsmorphologie hat Bybee Hierarchien entwickelt. Es soll hier der Einfachheit halber am Substantiv gezeigt werden, obwohl Bybee die Hierarchie wesentlich am Verb entwickelt hat. Substantive flektieren nach Kasus und Numerus, Numerus wird im Allgemeinen vor Kasus angezeigt, so in Deutsch Hund-e-n, noch deutlicher im Türkischen zum Beispiel evler-i, ev-ler-in usw., wobei -ler das Suffix ist, das Plural anzeigt. Nach dem Kasussuffix ist die Form geschlossen, sie kann nicht weiter flektiert wer-

additives Ko-Kompositum den. Die Kasussuffixe fungieren also in der Sub­ stantivflexion als abschließende Suffixe. Ähnlich sind -ung, -ling, -heit usw. schließende Suffixe im Deutschen. Von ung-Ableitungen kann zum Beispiel keine Adjektivableitung (*beobachtunglich), von ling-Ableitungen keine weitere Movierung (*Prüflingin) gebildet werden. Inzwischen ist das Konzept der abschließenden Suffixe weiter entwickelt worden, im Prinzip stecken hier semantische Prinzipien dahinter, vgl. Eisenberg/Sayatz (2004). ≡ schließendes Suffix → Derivationssuffix; Movierungssuffix

Nanna Fuhrhop

🕮 Bybee, J.L. [1985] Diagrammatic Iconicity in Stem-inflection. In: Haiman, J. [Hg.] Iconicity in Syntax. Amsterdam: 11–47 ◾ Eisenberg, P./ Sayatz, U. [2004]. Left of number. Animacy and plurality in German nouns. In: Gunkel, L./ Müller, G./ Zifonun, G. [eds.] Explorations in Nominal Inflection. Berlin: 97–120 ◾ Manova, S. [2015] Closing suffixes. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 957–972 ◾ Sitchinava, D. [2015] Closing suffix patterns in Russian. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 972–983.

Abstraktum, grammatisches → grammatisches Abstraktum

additives Ko-Kompositum

Hauptklasse von Ko-Komposita, die Paare oder Mengen denotieren. ▲ additive co-compound: major class of co-compounds that denote a pair or a group. Ko-Komposita sind koordinativ strukturierte Komposita, die hauptsächlich in den Sprachen Süd- und Südostasiens, Neuguineas und Mesoamerikas vorkommen und sich von den Kopulativkomposita der standardeuropäischen Sprachen durch ihre hyperonymische Bedeutung auszeichnen. Ko-Komposita umfassen mehrere semantische Gruppen, von denen additive Ko-Komposita den Hauptyp bilden. Additive Ko-Komposita drücken typischerweise natürliche Koordination aus und fassen meist Verwandtschaftsbezeichnungen, Körperteile oder andere Objekte, die typischerweise zusammen vorkommen, zu einem Paarausdruck zusammen. Weil die additive Bedeutung am häufigsten vorkommt, gilt sie bei Wälchli (2005) als die prototypische Bedeutung der Ko-Komposita. Beispiele sind mordvinisch t'et'a.t-ava.t ‘Eltern; lit. Vater.Pl-Mutter.Pl’ und ge-

A

additives Kompositum 126

A

orgisch msvild-isari ‘Schießbogen-Pfeil’. Additive Ko-Komposita können auch ihre Konstituenten zu einer Menge zusammenfassen. Mordvinisch skal.t-vaz.t ‘Küh.Pl-Kalb.Pl’ denotiert bspw. eine Gruppe von mehreren Kühen und Kälbern. Indem die Mengenbedeutung generisch wird, kann sie in eine kollektive Bedeutung übergehen, vgl. die mordvinische Kombination ponks.t-panar.t ‘Hose.Pl-Hemd.Pl’, die einmal die additive Bedeutung ‘Hosen und Hemden’ hat, aber auch die kollektive Bedeutung ‘Kleider’ annehmen kann, vgl. Wälchli (2005: 137–139). Die bekanntesten additiven Ko-Komposita in der indogermanistischen Wortbildungsliteratur sind die Sanskrit Dvandvas; hastyaçvāu ‘Elefant Pferd.Dual’ referiert bspw. auf eine Zweiergruppe bestehend aus einem Elefanten und einem Pferd. Mit einer Plural- statt Dualmarkierung bedeutet hastyaçvās eine Gruppe von mehr als zwei Elefanten und Pferden (Whitney 1993: 485). Mitunter wird der Terminus additives Kompositum alternativ zu Kopulativkompositum benutzt und bezogen auf die koordinierten Komposita der germanischen Sprachen. Diese Verwendung ist bspw. bei Marchand zu finden (Marchand 1969: 41, 88, 124). Der Gebrauch des Terminus „additiv“ in dieser Weise ist unglücklich, weil Bildungen wie composer-conductor ‘Komponist-Dirigent’, contractor-builder ‘Bauunternehmer-Baumeister’ und actor-producer-director ‘Schauspieler-Produzent-Regisseur’ nicht additiv sind, sondern appositionell: Sie denotieren weder ein Paar noch eine Menge und nehmen auch keine kollektive Bedeutung an, sondern sie identifizieren ein Individuum durch zwei oder mehr zutreffende Eigenschaften. Das Individuum ist ein Hyponym des ganzen Kompositums ‒ kein Hyperonym wie bei den Ko-Komposita. Erben (1983: 37) spricht von der Schnittmenge von "Dichter" und "Komponist" bei der Deutung von Dichter-Komponist. Und Fanselow (1981: 116) interpretiert BadenWürttemberg als ein Individuum, das Baden und Württemberg zu Teilen hat. Susan Olsen ≡ additives Kompositum → § 22; appositionelles Kompositum; Ko-Kompositum; Kompositum; Kopulativkompositum

🕮 Erben, J. [1983] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 2. Aufl. Berlin ◾ Fanselow, G. [1981] Zur Syntax und Semantik der Nominalkomposition. Tübingen ◾ Marchand, H. [1969] The

Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Wälchli, B. [2005] Co-compounds and Natural Coordination. Oxford ◾ Whitney, W.D. [1993] Sanskrit Grammar. Delhi [Nachdruck der 5. Aufl. von 1924, Leipzig].

additives Kompositum

≡ additives Ko-Kompositum

Ad-hoc-Bildung

Wort, das spontan gebildet wird, um ein augenblickliches Bedürfnis zu erfüllen, und das in der Sprechergemeinschaft nicht zu einem etablierten Wort wird. ▲ nonce formation; occasional word: word which is coined on the spur of the moment to fulfil an immediate need and which does not become an established word in the speech community. Das OED [1884 – 1928] führt (to) dumple ‘make a dumpling’ und deericide ‘das vorsätzliche Töten eines Rehs’ als Ad-hoc-Bildungen auf, d.h. als Wörter, die nie allgemeinen Eingang in die englische Sprache gefunden haben. Manche Linguisten, insbesondere Lexikografen, unterscheiden zwischen Ad-hoc-Bildungen und Neologismen in dem Sinne, dass Ad-hoc-Bildungen sich im Gegensatz zu Neologismen nicht in der betreffenden Sprache etablieren, cf. Crystal (2003). Andere Linguisten sehen dies als nützliche diachrone Beobachtung, finden aber im Moment der Bildung keinen Unterschied zwischen Ad-hoc-Bildungen und Neologismen und bezeichnen deshalb beide Arten der Wortbildung als Ad-hoc-Bildungen. Laurie Bauer ≡ Augenblicksbildung; Gelegenheitsbildung; nicht-usuelle Bildung; Okkasionalismus; okkasionelle Bildung ↔ lexikalisierte Bildung → § 4; Institutionalisierung; Neologismus; usuelles Wort ⇀ Ad-hoc-Bildung (Lexik; Onom) ⇁ nonce formation (Woform)

🕮 ◾ Bauer, L. [2001] Morphological Productivity. Cambridge [etc.] ◾ Crystal, D. [2003] A Dictionary of Linguistics and Phonetics. 5th ed. Oxford ◾ Hohenhaus, P. [1996] Ad-hoc-Wortbildung. Terminologie, Typologie und Theorie kreativer Wortbildung im Englischen. Frankfurt/Main [etc.] ◾ Jesenšek, V. [1998] Okkasionalismen. Ein Beitrag zur Lexikologie des Deutschen. Maribor ◾ OED [1884–1928] = Oxford Dictionary of English. Oxford [etc.] ◾ Peschel, C. [2000] Zum Zusammenhang von Wortneubildung und Textkonstitution. Tübingen.

Adjektiv, passivisches → passivisches Adjektiv

127 Adjektivierung

Adjektiv, qualitatives → qualitatives Adjektiv

Adjektiv, relatives → relatives Adjektiv

Adjektiv, substantiviertes → substantiviertes Adjektiv

Adjektivabstraktum ≡ nomen qualitatis

Adjektivbildung ≡ Adjektivierung

Adjektivierung

Bildung eines Adjektivs aus einer nichtadjektivischen Basis. ▲ adjectivalization: formation of an adjective from a non-adjectival base. Im Zentrum der Adjektivierung stehen Verben, Substantive und zum geringen Teil auch Adverbien als Basiswortarten, die mittels Derivation bzw. Konversion in Adjektive umgeprägt werden, wobei diese Verfahren einzelsprachlich unterschiedlich ausgeprägt sind (vgl. Sleeman 2020 sowie die Einzelsprachenporträts in Müller/ Ohnheiser/Olsen/Rainer 20015/16, Vol. 4/5). Im Deutschen ergeben sich für beide Wortbildungsarten folgende Schwerpunkte: Derivation: Ebenso wie beim Substantiv zeigt sich ein deutliches Übergewicht der Suffixderivation (-bar, -(en)/-ern, -fach, -haft, -ig, -isch, -lich, -los, -mäßig, -sam) im Vergleich zur Zirkumfixderivation (ge-…ig, un-…-lich/-bar/-sam, be-/ge-/ ent-/zer-…-t). Die Grenze zur Komposition ist bei Zweitelementen wie -arm (nikotinarm) oder -frei (bügelfrei) durchlässig, was z.T. durch eine Charakterisierung solcher Morpheme als „Suffixoid“ kenntlich gemacht wird. Als Wortbildungsbasen fungieren ganz überwiegend Substantive und Verben; die Adjektivierung von Adverbien (heute > heutig, dort > dortig) ist randständig. Ob man Bildungen wie braunäugig, feinfühlig, leichtlebig oder vierhändig als Wortgruppenderivate („Zusammenbildungen“) oder Komposita („synthetische Komposita“) einstuft, ist diskutabel. In semantischer Hinsicht erfüllen die Transpositionsbildungen unterschiedliche Wortbildungs-

funktionen, wobei allerdings gilt: „Die Wortbildungsbedeutung der Suffixmodelle ist vielfach ‒ über die syntaktische Transposition zum Adjektiv hinaus ‒ nur vage bestimmbar und lässt sich u.U. erst in Abhängigkeit von der Semantik auch des attribuierten Substantivs spezifizieren“ (Fleischer/Barz 2012: 297). Desubstantivische Derivate, die z.T. eine Derivationsfuge aufweisen (oper-n-haft, gewicht-s-mäßig, wesen-t-lich), sind v.a. relational (‘Relationen bezeichnend’: dichterisch, staatlich, gefühlsmäßig), komparativ (‘Vergleich’: frühlingshaft, affig, hündisch, freundlich, leistungsmäßig), ornativ (‘haben, versehen sein mit’: schamhaft, bärtig, ängstlich, bemoost), privativ (‘nicht haben’: hoffnungslos, lustlos) und material (‘bestehen aus’: hölzern, papieren). Mit -fach werden Vervielfältigungszahlen gebildet (millionenfach). Deverbale Derivate sind im Allgemeinen aktivisch-modal bzw. passivisch-modal: Im ersten Fall wird indiziert, „dass der im Bezugswort bezeichnete Referent (Person oder Sache) zu einem bestimmten Tun neigt bzw. dazu fähig oder veranlagt ist“ (Fleischer/Barz 2012: 306): brennbar, zänkisch, beweglich, schwatzhaft, zapp(e)lig, sparsam, unaufhörlich. Im zweiten Fall „gibt das Adjektiv an, was mit der vom Bezugswort bezeichneten Größe getan werden kann“ (Fleischer/Barz 2012: 307): bezahlbar, verzeihlich, biegsam, unabänderbar. In Bezug auf den jeweiligen Anteil der Suffixe an den Funktionsklassen ergeben sich starke Divergenzen, wie etwa die Korpusauswertung von Kühnhold/Putzer/Wellmann (1978) zeigt: So weisen z.B. rund zwei Drittel aller passivischmodalen Bildungen das Suffix -bar auf (S. 398), während bei den ornativen desubstantivischen Bildungen mit knapp 80% Anteil das Suffix -ig dominiert (S. 312). Ein Vergleich mit den sprachhistorischen Arbeiten von Ganslmayer (2012) und Kempf (2016) lässt dabei charakteristische Wortbildungswandelerscheinungen sowohl hinsichtlich der Polyfunktionalität der Suffixe als auch der Auslastung der Funktionsklassen erkennen. Konversion: Im Unterschied zur Derivation ist diese Form der Adjektivierung stark auf partizipiale Basen ausgerichtet, wobei Bildungen mit aktivischer (Partizip I: spielende Kinder, lachende Zuschauer) bzw. passivischer (Partizip II: geschlossene Fenster, aufgepumpte Reifen) Bedeutung entstehen. Nicht alle Partizipialadjektive

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Adverbialbildung 128

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sind allerdings deverbal motiviert, denn zum Teil ist die verbale Basis archaisiert (z.B. verlogene Moral zu veraltetem verlügen), und auch semantische Abweichungen zeigen einen Isolierungsprozess (z.B. abgebrühter Profi, spannendes Spiel). Auch sog. Pseudopartizipien sind differenziert zu beurteilen und z.T. nicht als konvertiert, sondern als desubstantivische Zirkumfixderivate klassifizierbar (z.B. bebrillt, bepelzt). Die Konversion von Substantiven zu Adjektiven ist dagegen randständig. Lediglich konvertierte Farbbezeichnungen (oliv, sand) bzw. Bewohnerbezeichnungen auf -er (Nürnberger Bratwürste, Schweizer Käse) ‒ sie werden z.T. auch als Derivate klassifiziert (vgl. Fleischer/Barz 2012: 319) ‒ bilden größere Gruppen. „Dass Substantive nur eingeschränkt als Basen für adjektivische Konversionen genutzt werden, erklärt sich aus der morphologischen und syntaktischen Unvollständigkeit der Konversionsprodukte. Sie sind standardsprachlich meist indeklinabel und nicht komparierbar (spitze ‒ ein *spitzer Film, klasse ‒ *am klassesten) und auch syntaktisch stark eingeschränkt (mir ist angst, aber nicht: das *angste Gefühl). Ihnen fehlen folglich typische Adjektivmerkmale“ (Barz 2016: 764f.). Neben der indigenen Wortbildung steht die exogene: Durch die gräkolateinische Tradition gehören zur deutschen Sprache zahlreiche entlehnte Verben, die ebenfalls für departizipiale adjektivische Konversionen offen sind (informieren > informierende Behörde, informierte Zuhörer). Und es gibt auch zahlreiche Adjektive, die Fremdsuffixe aufweisen: -abel/-ibel (diskutabel, disponibel), -al/-ell (formal, rituell), -ant/-ent (tolerant, abstinent), -ar/-är (atomar, regulär), -esk (clownesk, kafkaesk), -(at)iv (effektiv, fiktiv), -oid (faschistoid, paranoid), -os/-ös (grandios, desaströs). In der Regel verbinden sich diese Fremdsuffixe nur mit exogenen Basen, wobei es sich dabei teils um Lexeme (Form + -al > formal, Atom + -ar > atomar, Clown + -esk > clownesk) handelt, teils aber auch um gebundene Stämme (Konfixe) (abstin-ent, fiktiv, paran-oid). Zwar sind diese Bildungen im Deutschen morphologisch analysierbar, aber die Frage ist, inwieweit es sich um Entlehnungen oder um deutsche Fremdwortbildungen handelt, die die Produktivität dieser Fremdsuffixe reflektieren. In den Darstellungen zur deutschen Wortbildung bleibt dieser Aspekt unterbelichtet. Fuhrhop

(1998: 130) kommt zu dem Ergebnis, dass alle adjektivischen Fremdsuffixe unproduktiv sind. Peter O. Müller ≡ Adjektivbildung → § 31; Derivation; Fremdwortbildung; Konfix; Konversion; passivisches Adjektiv; Pseudopartizip; qualitatives Adjektiv; relatives Adjektiv; Suffixoid; synthetisches Kompositum; Wortbildungsbedeutung; Zusammenbildung ⇀ Adjektivierung (HistSprw)

🕮 Barz, I. [2016] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 9., vollst. überarb. u. aktual. Aufl. Berlin: 644‒774 ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Fuhrhop, N. [1993] Grenzfälle morphologischer Einheiten. Tübingen ◾ Ganslmayer, C. [2012] Adjektivderivation in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts. Eine historisch-synchrone Untersuchung anhand der ältesten deutschsprachigen Originalurkunden. Berlin [etc.] ◾ Kempf, L. [2016] Adjektivsuffixe in Konkurrenz. Wortbildungswandel vom Frühneuhochdeutschen zum Neuhochdeutschen. Berlin [etc.] ◾ Kühnhold, I./ Putzer, O./ Wellmann, H. [1978] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 3. Hauptteil: Das Adjektiv. Düsseldorf ◾ Lenz, B. [1993] Probleme der Kategorisierung deutscher Partizipien. In: ZS 12: 39‒76 ◾ Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds. 2015/16] Word-Formation (HSK 40.1‒40.5). Berlin [etc.] ◾ Reckenthäler, S. [2020] Wortbildung korpuslinguistisch betrachtet ‒ Eine empirische Untersuchung possessiver und privativer komplexer Adjektive. Mannheim ◾ Sleeman, P. [2020] Adjectivalization in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 550‒567.

Adverbialbildung

≡ Adverbialisierung

Adverbialisierung

Überführung eines Adjektivs in die Wortart Adverb. ▲ adverbialization: transposition of an adjective into the category adverb. Adjektive können zu Adverbien transponiert werden und so den ganzen Satz, die Verbalphrase oder eine Adjektivphrase syntaktisch modifizieren. Einzelsprachlich wird der adverbiale Gebrauch eines Adjektivs unterschiedlich signalisiert. Vielfach dienen Adverbsuffixe der regelmäßigen Adverbialisierung, die lexikalische Bedeutung verändert sich dabei nicht. Restriktionen sind durch die Semantik der Basisadjektive begründet, i.d.R. lassen sich nur qualifizierende Adjektive adverbialisieren. Hochproduktive Suffixe sind im Engl. -ly (completely ‘vollständig’), im Frz. -ment (exactement ‘genau’), im Ital. -mente (attualmente ‘gegenwärtig’), im Span. -mente (seguramente ‘sicher’), im Russ. -o (krasivo ‘schön’), im Poln. -nie/-cie/-o (sta-

129 Affix rannie ‘sorgfältig’, przyzwoicie ‘anständig’, szybko ‘rasch’), im Tschech. -e (rychle ‘schnell’). Zur spezifischen Problematik des span. Adverbialsuffixes -mente vgl. Rainer (1993: 600f.). Der adverbiale Gebrauch eines Adjektivs erfolgt in einigen wenigen Fällen auch ohne Markierung (z.B. ital. [parlare] forte ‘laut [sprechen]‘, span. [pensar] alto ‘laut [denken]’, [hablar] claro ‘deutlich [sprechen]’). Rainer (1993: 688) sieht hier eine Korrelation zwischen Lautäußerungen und deren Qualifizierung. Auch im Frz. z.B. kann bei enger semantischer Beziehung ein Adjektiv unmarkiert adverbial gebraucht werden (laver chaud ‘warm waschen’, payer cher ‘teuer bezahlen’, commencer petit ‘klein anfangen’, vgl. Thiele (1981: 152). Für das Engl. konstatiert Schmid (2005: 182) eine so produktive und so stark grammatisch determinierte Adverbsuffigierung, dass sie von manchen Linguisten nicht als Wortbildung, sondern als Flexion betrachtet wird. Auch für das Ital. z.B. findet sich diese Auffassung (vgl. Seewald 1996: 74f.). In der Lateinischen Grammatik (vgl. Throm 2002: 37) wird die Adverbialisierung des Adjektivs als Flexionsprozess behandelt (iustus > iuste, Komparativ iustius, Superlativ iustissime; miser > misere, miserius, miserrime; fortis > fortiter, fortius, fortissime). Im Unterschied zu anderen Sprachen ist im gegenwartssprachlichen Dt. der adverbiale Gebrauch des Adjektivs morphologisch nicht markiert, woraus sich auch ein notorisches Problem bei der Wortartbestimmung ergibt. Gallmann (2009: 354f.) nimmt hier keinen Wortartwechsel an. Auch Motsch (2004: 172ff.) spricht nur von adjunktiv verwendeten Adjektiven, die unterschiedliche Bestandteile eines Geschehens oder Zustands modifizieren können. Helbig/Buscha (2001: 305f.) sprechen von „Adjektivadverbien“. Diese behalten auch alle Möglichkeiten der Komparierung (dt. Sie läuft schnell/schneller/am schnellsten.). Von einigen kann neben der Form mit am + -sten noch ein Superlativ auf -stens (schnellstens, bestens) gebildet werden. Daneben gibt es in wenigen Fällen auch die Adverbialisierung von Superlativformen mit dem Präfix zu(zutiefst), vgl. Fleischer/Barz (2012: 370). Das im Frnhd. produktivste Adverbsuffix -(ig)lich ist heute unproduktiv und nur noch in einigen demotivierten Adverbien wie kürzlich, bitterlich, neulich erhalten (vgl. Fleischer/Barz 2012: 366). Hannelore Poethe

≡ Adverbialbildung → § 31; Derivationssuffix; Produktivität ⇀ Adverbialisierung (Gram-Syntax)

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Gallmann, P. [2009] Die flektierbaren Wortarten. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 145–388 ◾ Helbig, G./ Buscha, J. [2001] Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 20. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Rainer, F. [1993] Spanische Wortbildungslehre. Tübingen ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin ◾ Seewald, U. [1996] Morphologie des Italienischen. Tübingen ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig ◾ Throm, H. [2002] Lateinische Grammatik. Berlin.

Affix

gebundenes Minimalzeichen oder Morphem mit grammatischer Bedeutung. ▲ affix: bound minimal sign or morpheme with grammatical meaning. Minimalzeichen und die zugehörigen Morpheme werden in zwei Klassen eingeteilt, die insbesondere für die Unterscheidung zwischen Komposition und Derivation relevant sind. Die eine Art von Elementen nennt man traditionell Wurzel (lat. radix, engl. root, frz. radical usw.; aus der hebräischen Grammatik übernommen, s. Lindner 2012: 144–146), die andere wird als Affix bezeichnet (seit dem frühen 16. Jh. als lat. affixum von affīgō ‘anheften’ belegt, s. Lindner 2012: 146f.); der morphologische Prozess der Anfügung eines Affixes wird Affigierung genannt. Der Terminus Wurzel kann allerdings auch für eine (rekonstruierte) etymologische Ursprungsform verwendet werden und wird daher in der modernen deutschsprachigen Linguistik im synchronen Kontext oft zugunsten von Grundmorphem, Basismorphem oder Kernmorphem vermieden. Nach manchen Definitionen bezeichnet der Terminus Wurzel das, was bleibt, wenn alle Flexionsaffixe eines Wortes weggelassen werden (z.B. Stump 2001: 33); dann müsste z.B. deutschsprachigen aus der Wurzel deutschsprachig und dem Flexionsaffix -en bestehen. Üblicherweise wird jedoch die so definierte Einheit Stamm genannt (s. Matthews 1974: 40). Gemäß einer gängigen Erklärung sind Wurzeln frei, d.h. sie können allein als Wort auftreten, wogegen Affixe gebunden sind, d.h. nur als Teil eines Wortes vorkommen. Präziser kann man also nach dieser Auffassung Wurzeln als potentiell frei und

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Affix 130

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Affixe als obligatorisch gebunden bezeichnen. In dem Wort Preisunsicherheit sind demnach Preis und sicher Wurzeln, un- und -heit Affixe. Im Unterschied zu deutschen Substantiven und Adjektiven, bei denen die Wurzel im Nominativ Singular bzw. in der prädikativen Form allein ein Wort bildet, ist die Situation bei Verben komplizierter. Bei fragen tritt frag frei auf, nämlich (neben frage) als Imperativ Singular. Bei messen dagegen kommt mess- nur gebunden vor. Allerdings könnte man mess- dennoch als Wurzel gelten lassen, weil ein anderes Allomorph desselben Morphems frei ist, nämlich miss (im Imperativ). Bei rechnen mit dem Imperativ rechne ist auch das nicht möglich; um das unerwünschte Ergebnis zu vermeiden, dass rechn- ein Affix ist, muss die Definition modifiziert werden. Eine Möglichkeit ist es, das potentiell freie Vorkommen als eine hinlängliche, aber nicht notwendige Bedingung für Wurzeln zu betrachten. Dann sind aber zusätzliche Kriterien erforderlich, um bei den obligatorisch gebundenen Elementen Wurzeln und Affixe zu unterscheiden. Ein anderer Vorschlag lautet, Minimalzeichen auch dann als frei zu betrachten, wenn sie nur in Verbindung mit einem Flexionsaffix ein Wort bilden können (vgl. Donalies 2005: 20). Das setzt freilich voraus, dass Flexionsaffixe bereits definiert sind. Außerdem sind auch nach dieser Definition Elemente wie ident- in identisch, Identität usw., die von manchen Konfix genannt werden, nicht frei und müssten daher als Affixe gelten (zu weiteren Typen gebundener Morpheme s. Næss 2017: 938–942). Eine ähnliche Unterscheidung wie die zwischen frei und gebunden ist die zwischen obligatorisch und fakultativ: Jedes Wort muss eine Wurzel enthalten, wogegen es nicht unbedingt Affixe enthalten muss (s. Vardul’ 1991: 29). Auch hier folgt, dass ein Minimalzeichen, das allein ein Wort bildet, eine Wurzel sein muss. Wenn jedoch ein Wort obligatorisch zwei Minimalzeichen enthält (wie bei den Formen des Lexems rechnen), bedarf es wiederum zusätzlicher Kriterien, um zu entscheiden, welches die Wurzel und welches das Affix ist. Es kommt hinzu, dass es eine Reihe von Fällen gibt, in denen ein Wort anscheinend keine Wurzel enthält. So zeigen die hebräischen Beispiele /‌gan/ ‘Garten’, /ləgan/ ‘zu [einem] Garten’, /ganxa/ ‘dein Garten’ und /ləganxa/ ‘zu deinem Garten’, dass

/‌gan/ ‘Garten’ die Wurzel ist, /lə-/ ‘zu’ ein Präfix (Affix vor der Wurzel) und /-xa/ ‘dein’ ein Suffix (Affix nach der Wurzel). Das Wort /ləxa/ ‘zu dir’ scheint also aus einem Präfix und einem Suffix kombiniert zu sein, ohne eine Wurzel aufzuweisen. Noch erstaunlicher ist es, dass ungarisch tőlünk ‘von uns’ aus zwei Suffixen zu bestehen scheint, -től wie in körtől ‘vom Kreis’ und -ünk wie in körünk ‘unser Kreis’ (mit der auch ohne Suffix auftretenden Wurzel kör ‘Kreis’). Der Vorschlag, dass dasselbe Element től in tőlünk Wurzel und in körtől Affix sein könnte, ist für manche Linguisten prinzipiell nicht akzeptabel (z.B. Vardul’ 1991: 31; s. auch Volodin/‌Chrakovskij 1991: 110 zu weiteren Fällen dieser Art, die z.T. auch anders analysiert werden können), und selbst wenn man so etwas zulassen wollte, könnte man bei hebr. /‌ləxa/ kaum entscheiden, ob Präfix+Wurzel oder Wurzel+Suffix vorliegt. Eine zweite Unterscheidung, die zur Abgrenzung zwischen Wurzel und Affix herangezogen wird, ist die zwischen lexikalischer und grammatischer Bedeutung. Dabei spielen mehrere Faktoren eine Rolle (s. Croft 2000: 258–260); grob gesagt, haben lexikalische Bedeutungen etwas mit Entitäten, Eigenschaften und Sachverhalten in einer mentalen Welt zu tun, auf die wir die reale oder auch eine imaginäre außersprachliche Welt abbilden, grammatische Bedeutungen dagegen mit Beziehungen und Strukturen in sprachlichen Äußerungen. Das entspricht weitgehend dem Begriffspaar autosemantisch (hat alleine Bedeutung)/synsemantisch (hat nur in Verbindung mit anderen Elementen Bedeutung). Eine Schwierigkeit ist allerdings, dass viele Bedeutungen sowohl durch freie als auch durch gebundene Elemente ausgedrückt werden können (s. Volodin/Chrakovskij 1991: 109; Croft 2000: 258), sei es in verschiedenen Sprachen, sei es sogar innerhalb derselben Sprache, wie etwa bei ehemaliger Präsident/Ex-Präsident. Die semantische Bestimmung von Wurzeln und Affixen stimmt also nicht mit der distributionellen überein. Zweitens ist nicht immer klar, ob bestimmte Bedeutungen in einer Sprache als lexikalisch oder grammatisch gelten sollen. So sind Derivationselemente per Definition Affixe (vgl. Booij 2005: 109), aber ihre Bedeutungen werden manchmal als grammatisch bezeichnet (z.B. Fleischer/Barz 2012: 63), manchmal als lexikalisch (z.B. Fleischer/Barz 1992: 26). Andererseits

131 Affix haben manche potentiell freien Minimalzeichen eine offensichtlich grammatische Bedeutung, unter anderem Adpositionen wie für, entgegen, usw. und Pronomina wie es, kein, usw. Es scheint daher sinnvoll, alle freien Minimalzeichen unabhängig von der Art ihrer Bedeutung als Wurzeln zu klassifizieren und lediglich bei den gebundenen Minimalzeichen das semantische Kriterium heranzuziehen, um Wurzeln mit lexikalischer und Affixe mit grammatischer Bedeutung zu trennen (s. Tab. 1). Man könnte auch Wurzel auf Elemente mit lexikalischer Bedeutung beschränken und für freie Elemente mit grammatischer Bedeutung Partikel verwenden (vgl. Bergenholtz/ Mugdan 1979: 119–121). Tab. 1: Unterscheidung Wurzel/Affix

potentiell frei

lexikalische Bedeutung

grammatische Bedeutung

Wurzel

Wurzel

obligatorisch gebunden Wurzel

Affix

Für Elemente wie Riesen- in Riesendummheit, Riesenerfolg usw., die nach einer Auffassung Wurzeln (als Kompositionsglieder) sind, nach einer anderen Derivationsaffixe, wollen manche eine Zwischenkategorie Affixoid oder Halbaffix ansetzen. Damit ergibt sich jedoch ein doppeltes Abgrenzungsproblem (gegenüber Wurzeln und gegenüber Affixen). Andere Ansätze geben den Versuch auf, jedes zu klassifizierende Element genau einer Klasse zuzuordnen, und lassen stattdessen fließende Übergänge zu, sodass Affix einen durch bestimmte Eigenschaften definierten prototypischen oder kanonischen (besonders klaren und unstrittigen) Fall bezeichnet, dem die einzelnen Elemente einer gegebenen Sprache mehr oder weniger nahekommen. Dabei muss auch mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass kein Element in sämtlichen Eigenschaften mit diesem prototypischen oder kanonischen Fall übereinstimmt. (Dass das eigentlich nur für kanonisch und nicht für prototypisch gelten sollte, s. Corbett 2010: 142, wird oft nicht beachtet, vgl. Næss 2017: 915.) Es ist jedoch bemängelt worden, dass bei dieser Sichtweise Wurzel und Affix als Pole vorgegeben sind und der Zwischenbereich nur als Abweichung davon betrachtet wird; man müsse vielmehr zunächst die ganze in den Sprachen der Welt beobachtbare Variationsbreite beschreiben

und daraus die relevanten Parameter herleiten (Næss 2017: 915f.). Während für die linguistische Theorie und die Sprachtypologie differenziertere Analysen wünschenswert sind, muss man sich aber doch für manche praktischen Zwecke, z.B. Angaben in Wörterbüchern oder annotierten Korpora, für das eine oder andere Etikett entscheiden – es sei denn, man stellt Kompositionsglieder und Derivationsaffixe gleich dar, was mit Blick auf die Benutzer durchaus vertretbar sein kann (vgl. Mugdan 1984: 298–303). Das, woran Affixe antreten, ist im einfachsten Fall eine Wurzel, z.B. bei freund-lich; es kann aber auch ein komplexeres Gebilde sein, wie bei unfreundlich, Unfreundlich-keit, Unfreundlichkeit-en. Je nachdem, wie man Stamm definiert, handelt es dabei um Stämme, aber es bietet sich an, für das, woran das Affix antritt, den neutralen Terminus Basis zu benutzen (s. Matthews 1991: 131). Affixe können nun danach klassifiziert werden, ob sie die Basis unterbrechen (sodass sie diskontinuierlich ist), und ob sie selbst unterbrochen (diskontinuierlich) sind (s. Mel’čuk 1982: 82–87; 2006: 299f.). Damit ergeben sich die vier in Tab. 2 dargestellten Typen. Bei den Affixen, die weder unterbrochen sind, noch die Basis unterbrechen, unterscheidet man Präfix (vor der Basis) und Suffix (nach der Basis) sowie möglicherweise Interfix (zwischen zwei Basen). Interfixe sind jedoch entbehrlich, wenn man ein Fugenelement wie -s- in Freiheit-s-statue nicht als ein eigenständiges Minimalzeichen betrachtet (sei es mit einem Inhalt wie ‘fuge’, sei es als leeres Morph ohne Inhalt), sondern als Teil der ersten Basis, sodass Freiheit und Freiheits- als Varianten desselben Stamms gelten. Tab. 2: Typen von Affixen nach dem Kriterium der Kontinuierlichkeit kontinuierliche diskontinuierliche Basis Basis kontinuierliches Affix

Präfix, Suffix, Interfix

Infix

diskontinuierliches Affix

Zirkumfix

Transfix

Einen allgemein üblichen Oberbegriff für Präfixe und Suffixe (und Interfixe) gibt es nicht. Der hierfür vorgeschlagene Terminus Konfix (Mel’čuk 1982: 84; 2006: 299) ist auch für bestimmte Arten

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Affix 132

A

gebundener Wurzeln in Gebrauch; Exfix (Marušič 2003: 1) and Extrafix (vgl. Hoeksema/Janda 1988: 204) sind ebenfalls selten und mehrdeutig. Der Ausdruck Adfix begegnet fast nur im Kontext der Frage, ob Infixe auf Prä- und Suffixe zurückzuführen sind (vgl. Yu 2007: 4f.), hat aber den Vorteil, dass er Adposition entspricht, dem Oberbegriff für Prä- und Postpositionen. Ambifix dient für ein Affix, das als Präfix oder Suffix auftritt. Es ist auch möglich, dass ein Affix als Präfix und Infix oder als Infix und Suffix oder in allen drei Positionen vorkommt (vgl. Marušič 2003: 9–12; Paster 2009: 20; Rice 2011: 177f.). Eine andere Klassifikation nimmt nur Präfixe, Suffixe und Infixe als grundlegende Typen an und beschreibt diskontinuierliche Affixe als Kombinationen davon, wobei nur die Kombination eine Bedeutung trägt, aber nicht die Bestandteile. Ein Zirkumfix ist demnach eine Kombination von Präfix und Suffix, und alle Kombinationen eines Infixes mit Präfixen, Suffixen oder Infixen sind gemäß der obigen Definition durch Transfix abgedeckt. Nur wenn man Transfix enger als Infix-Infix-Kombination definiert, bleibt eine „deskriptive Lücke“ (Bauer 1988: 17), die man durch zusätzliche Termini füllen könnte, z.B. Parafix für Präfix+Infix oder Infix+Suffix (Blevins 1999: 383f.). Polyaffix ist für Affixkombinationen aller Art vorgeschlagen worden (Plungjan 2003: 95–97), Synaffix für Kombinationen von Affixen untereinander oder mit innerer Modifikation (Bauer 1988: 23), z.B. Umlaut+Suffix in dt. Städte, und Multifix für Kombinationen aller Arten morphologischer Prozesse (Hoeksema/Janda 1988: 216), also auch Reduplikation, Subtraktion oder Metathese. Allerdings erübrigen sich Synaffix und Multifix, wenn man als Träger der betreffenden grammatischen Bedeutung nur das Affix annimmt und alle Begleiterscheinungen als Allomorphie analysiert. Dann ist z.B. bei Städte nur -e Träger von ‘plural’ und nicht der Umlaut, da Stadt und Städt- als Allomorphe desselben Morphems {Stadt} gelten. Neben segmentalen Phonemen können auch suprasegmentale Merkmale wie Akzent und Ton grammatische Bedeutungen ausdrücken (s. Hyman/Leben 2000; Akinlabi 2011). Dabei gibt es theoretisch drei Möglichkeiten: 1. Die grammatische Bedeutung wird durch ein

Akzent- oder Tonmuster ausgedrückt, das mit einer rein segmentalen Basis verbunden wird. 2. Die grammatische Bedeutung wird durch eine bestimmte Veränderung des Akzent- oder Tonmusters der Basis ausgedrückt. 3. Träger der grammatischen Bedeutung ist ein einzelner Ton oder Akzent, der zugrundeliegend nicht an ein Segment gebunden ist („floating tone“), aber die benachbarten Ton- oder Akzentmuster beeinflusst. Für Typ 1 ist der Terminus Suprafix eingeführt worden (Nida 1949: 69), neben dem auch Superfix anzutreffen ist; die Alternative Simulfix (Hockett 1954: 212) konnte sich nicht durchsetzen. Manche Definitionen von Suprafix beziehen sich auf Typ 2 (z.B. Bauer 2004: 98), obwohl es sich dabei eigentlich nicht um ein Affix, also eine Addition, sondern um eine Substitution (ähnlich wie Umlaut usw.) handelt. Freilich ist es nicht immer leicht, zwischen den Typen zu unterscheiden (vgl. Matthews 1974: 133 zu englischen Substantiv-Verb-Paaren wie tránsport/transpórt), und die Anwendung von Termini des Musters X-fix auf nicht-additive Prozesse ist, wie Synaffix und Multifix zeigen, auch sonst anzutreffen. Wörter können eine größere Zahl von Affixen enthalten. Eine Möglichkeit, deren Kombinationsmöglichkeiten darzustellen, ist ein Raster (engl. template) mit verschiedenen Positionen (engl. position classes oder slots; vgl. Rice 2011: 188–193), in denen jeweils eines von mehreren einander ausschließenden Elementen (oder keines) gewählt werden muss. Die Positionen werden quasigleichzeitig gefüllt, auch wenn es zwischen ihnen Abhängigkeiten geben kann, z.B. dass Position j nicht gefüllt werden kann, wenn Position i gefüllt ist. Eine andere Möglichkeit ist eine hierarchische Struktur, die durch die schrittweise Anwendung von Regeln erzeugt und als Baumdiagramm oder Klammerausdruck dargestellt werden kann. So unterscheiden sich z.B. verunsichert und unversichert in der Reihenfolge, in der un-, ver- und -t angefügt werden: [[ver[un[sicher]]]t] gegenüber [un[[ver[sicher]]t]]. Typischerweise werden Derivationsaffixe hierarchisch eingeführt, um zunehmend komplexe Stämme aufzubauen, während deren Verknüpfung mit Flexionsaffixen oft am einfachsten durch ein Raster erfasst werden kann (vgl. Mugdan 2015: 261f.). Joachim Mugdan

133 ≡ Formationsmorphem → § 13; Ambifix; freies Morphem; gebundenes Morphem; grammatisches Morphem; Infix; lexikalisches Morphem; Minimalzeichen; Morphem; Präfix; Suffix; Wurzel ⇀ Affix (Gram-Formen; HistSprw; CG-Dt) ⇁ affix (Typol; CG-Engl)

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Affix, leeres

→ leeres Affix

Affix, negierendes → Negationsaffix

Affix, nicht-natives → Fremdwortbildung

Affix, polysemes

→ polyfunktionales Affix

affix, rival

→ affixale Domäne; Affixkonvergenz

affixale Domäne

durch ein bestimmtes sprachliches Kriterium definierte Menge aller Basen, für die die Anwendung eines bestimmten morphologischen Prozesses erwartbar ist. ▲ affixal domain: set of bases, defined by a certain linguistic criterion, to which a morphological process may be expected to apply. Domänen werden auch in Bezug auf die Beschränkungen auf die Basis betrachtet. So wird z.B. häufig festgestellt, dass das nomenbildende -al im Englischen nur auf Verben mit Finalakzent angewendet wird. Dies kann entweder als eine Beschränkung über die Klasse der Basen formuliert werden, auf die diese Suffigierungsregel angewendet werden kann, oder als eine Domäne, innerhalb derer die al-Suffigierung ein relevanter Prozess ist (natürlich wird al-Suffigierung nicht auf alle Verben mit Finalakzent angewendet, weil hier noch weitere Beschränkungen gelten). Obwohl Domänen phonologisch (wie im Beispiel oben) oder semantisch definiert sein können (so können manche Prozesse bspw. lediglich auf Nomina angewendet werden, die Menschen bezeichnen), sind es die morphologisch definierten Domänen, die den Kern des Domänenbegriffs bilden. So hat das englische Suffix -ity als Teil seiner Domäne bzw. als eine seiner Domänen Adjektive auf -able, während das deutsche genusmarkierende Suffix -in in der Regel nicht in Nomina auftritt,

A

affixaler Kopf 134

A

die bereits mit dem Suffix -ling markiert sind, cf. Prüfling – *Prüflingin und Pflegling – *Pfleglingin. Das Suffix -ing liegt also außerhalb der Domäne von -in. Laurie Bauer

→ Affixkonvergenz; Blockierung; Produktivität; Restriktion

🕮 Baeskow, Heike. [2020] Denominal Verbs in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 531–550 ◾ van Marle, J. [1985] On the Paradigmatic Dimension of Morphological Creativity. Dordrecht.

affixaler Kopf

Affix, das als Kopf einer Wortbildung seine morphosyntaktischen Merkmale einschließlich seiner externen thematischen Rolle auf das komplexe Wort als Ganzes überträgt. ▲ affixal head: affix that as the head of a word structure assigns its morpho-syntactic features as well as its external thematic role to the whole complex word.

Affixale Köpfe passen in systematischer Art und Weise in die Theorie über abgeleitete Argumentstrukturen von Di Sciullo/Williams (1987). Die Autoren betrachten Argumentstruktur als eine geordnete Liste von thematischen Rollen. So hat zum Beispiel das Verb sehen ein externes Agens und ein internes Thema, vgl. John sah einen Geist: (1) see (A, Th) In der Syntax wird die interne Theta-Rolle von sehen innerhalb der ersten Projektion des Kopfes einer Konstituente zugeordnet, während das externe Argument sich auf die maximale Projektion ausbreitet und dem Subjekt des Satzes zugeordnet wird. Dieselben Prinzipien gelten auch für Komposita und Derivationen. Im Kompositum destruction story ‘Zerstörungsgeschichte’ wird die interne Rolle des Kopfes story der NichtKopf-Konstituente destruction zugeordnet. Das externe Argument von story wird an das ganze Wort weitergegeben, um dann dem Referenten des Kompositums destruction story zugeordnet zu werden. (2) destructioni story Charakteristisch für das Suffix -ness ist ein referenzielles externes Argument R, welches bestimmt, bis zu welchem Grad die Eigenschaft der Basis gilt. (3) -ness (R) Wird das Suffix zum Beispiel an complete ange-

hängt, um completeness zu bilden, so wird das externe Argument der Basis zum internen Argument des komplexen Wortes. Das externe Argument des Affixes stattet das abgeleitete Nomen mit dem referenziellen Argument aus, woraus sich die Bedeutung ‘Grad zu dem X vollendet ist’ ergibt, wie im Beispiel die Vollendung des Berichtes, vgl. Di Sciullo/Williams (1987: 28–33).

→ Affix; Argumentstruktur; Thetamarkierung ⇁ affixal head (Woform)

Susan Olsen

🕮 Di Sciullo, A.-M./ Williams, E. [1987] On the Definition of Word. Cambridge, MA [etc.].

affixartiges Morphem ≡ Affixoid

Affixcluster

diskontinuierliche unmittelbare Konstituente aus Präfix und Suffix, die einen Wortstamm umschließt und der Bildung von Wörtern dient. ▲ affix cluster: discontinuous immediate constituent consisting of a prefix and suffix that surrounds a word stem and serves to form new words. Das Besondere der Affixcluster gegenüber anderen Derivationsaffixen ist, dass Präfix und Suffix zusammen eine funktionale Einheit darstellen. Sie werden auch diskontinuierliches Affix oder Zirkumfix genannt. Gegenüber anderen Derivationsarten bleibt die kombinatorische Derivation mit Zirkumfixen auf wenige Bildungsmodelle beschränkt. Zur Verfügung stehen im Deutschen zur Bildung von Substantiven Ge-…-e (Ge-lauf-e), zur Bildung von Adjektiven ge-…-ig (ge-räum-ig), un…-lich/-bar/-sam (un-aufhör-lich), be-/ge-/ent-/zer…-t/-et (zerklüftet), zur Bildung von Verben be/ver-…-ig[en] (be-grad-ig[en]). Im Französischen gelten Zirkumfixe ebenfalls als Randerscheinung. Thiele (1981: 28) nennt em-…-ment (emprisonnement) und en-…-ure (encolure) als Beispiele. Wie weit die Klasse Affixcluster in der Wortbildung synchron zu fassen ist, wird kontrovers diskutiert. Die Klassifizierung hängt davon ab, ob man verbalen Infinitivflexiven eine Wortbildungsfunktion zuspricht oder nicht. In der spanischen und französischen Wortbildungslehre versteht man Affixcluster meist insofern weiter als die Klasse Zirkumfix im Deutschen, als die verbalen Flexionsmorpheme wie ital. -are/-ire (in-

135 Affixoid sapon-are), span. -ar/-er/-ir (re-fresc-ar), frz. -er/-ir (en-racin-er) als Teil der Affixcluster und somit als wortbildend angesehen werden (Rainer 1993: 72). Die entsprechenden Wörter werden parasynthetische Bildungen genannt. Im Deutschen gilt das verbale -en dagegen als Flexiv, entsprechende Bildungen wie be-feucht-en werden den Präfixderivaten zugeordnet. Als Affixcluster gelten darüber hinaus auch adjazente Affixe, die zu einem neuen Affix verschmolzen sind, vgl. Suffix -erei (Trinker – Trinker-ei – Lauf-erei); russ. -nica (chudožnik – chudož-nic-a – učitel-nica). Irmhild Barz

→ diskontinuierliches Morph; Präfix; Suffix; Zirkumfix

🕮 Eisenberg, P. [2013] Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 4., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart [etc.] ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Rainer, F. [1993] Spanische Wortbildungslehre. Tübingen ◾ Seewald, U. [1996] Morphologie des Italienischen. Tübingen ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig.

Affixkonvergenz

Funktionales Zusammenwirken von Affixen in einem Wortbildungsparadigma. ▲ affix convergence: functional interplay of affixes within a word-formation paradigm.

In einem Wortbildungsparadigma, dessen Glieder die gleiche Wortbildungsbedeutung aufweisen, konvergieren mehrere Affixe miteinander, typischerweise Suffixe mit Suffixen oder Präfixe mit Präfixen. Zur Bildung von nomina agentis werden z.B. die Suffixe -er, -bold und -ling genutzt (Maler, Saufbold, Lehrling); russ. -ec, -nik, -tel‘ (prodavec, izmennik, čitatel‘); frz. -ant, -eur (assistant, serveur); engl. -er, -or (writer, visitor). Diminutiva entstehen mit -chen, -lein und -le (Schuhchen, Fischlein, Häusle); vgl. russ. -ek/-ok, -ik/-čik/ -iko (glazok, čemodančik, plečiko). Verschiedene Präfixe dienen bei Verben z.B. der Kennzeichnung von Phasen oder Verlaufsweisen des Geschehens: ent-, er- (erblühen, entbrennen – ‘ingressiv’), ver-, er- (verblühen, erjagen – ‘egressiv’), ver-, miss- (sich verlaufen, missdeuten – ‘missglücktes Geschehen’). Denominale Verben mit ornativer Bedeutung entstehen mit den Präfixen be-, ver- und über- (bebildern, vergolden, überbrücken).

Suffixe und Zirkumfixe können ebenfalls konvergieren. Bei deverbalen Geschehensbezeichnungen sind das beispielsweise -ung, -erei und Ge-…-e (Deutung, Lauferei, Gelache); bei Adjektiven zum Ausdruck von Möglichkeit/Unmöglichkeit -bar und un-…-bar (bezahlbar, unverkennbar). Fasst man die Wortbildungsbedeutung relativ allgemein, besteht Konvergenz auch zwischen Suffixen und Präfixen wie etwa beim Adjektiv zwischen ur- und -lich zum Ausdruck einer Graduierung der bezeichneten Eigenschaft: urkomisch ‘sehr’ und kränklich ‘ein wenig’. Zur Frage, wie Affixkonkurrenz entsteht, wie sie sich sprachistorisch verändert und welchen Anteil daran Wortbildung bzw. Bedeutungsbildung haben, vgl. den Überblick bei Müller (2017). Irmhild Barz

→ § 41; Affix; Präfix; Suffix; Wortbildungsbedeutung; Wortbildungsgruppe; Wortbildungsparadigma

🕮 Autorenk. [unter Leit. v. L. Wilske 1984] Die russische Sprache der Gegenwart. Bd. 4: Lexikologie. 2., unveränd. Aufl. Leipzig ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Müller, P.O. [2017] Wortbildungsbedeutungswandel. In: Oehme, F./ Schmid, H.U./ Spranger, F. [Hg.] Wörter. Wortbildung, Lexikologie und Lexikographie, Etymologie. Berlin [etc.]: 184–208 ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig.

affixlose Bildung

≡ implizite Derivation

Affixoid

Bestandteil eines Wortes, dessen Klassifikation als Kompositionsglied oder Affix gewisse Schwierigkeiten bereitet. ▲ affixoid: part of a word that is somewhat difficult to classify as either a member of a compound or as an affix. Während die Termini Präfixoid und Suffixoid bei Romanisten und – offenbar unabhängig davon – bei russischen Autoren seit den 1930er bzw. 1940er Jahren sporadisch belegt sind (s. Migliorini 1935: 14; 1939: 258; Lotte 1948: 734), ist der Oberbegriff Affixoid jünger. So ist es bemerkenswert, dass das OED, das 1993 suffixoid und 2007 prefixoid aufnahm (mit Erklärungen, die einander nicht entsprechen), keinen Eintrag affixoid enthält. Im Russischen lässt sich der Terminus ab den frühen

A

Affixoid 136

A

1960er Jahren bei Šanskij nachweisen (s. Galkina-Fedoruk/Gorškova/Šanskij 1962: 275 gegenüber Šanskij 1959: 106, 115, wo nur die Hyponyme auftreten), und zwar für Elemente wie polu- in poluten’ ‘Halbschatten’ und -ved in literaturoved ‘Literaturwissenschaftler’, die allerdings als besondere Wurzelmorpheme und nicht als dritte Kategorie zwischen Wurzel und Affix gelten. In die Germanistik fand Affixoid dank Fleischer Eingang, der in der Erstauflage seines bekannten Lehrbuchs der deutschen Wortbildung für Fälle wie -leer in luftleer nur die Bezeichnungen Halbsuffix und relatives Suffix erwähnte (Fleischer 1969: 65f.), bald darauf aber – sicherlich aufgrund seiner Kenntnis der russischen Fachliteratur – zu der Einschätzung kam, für solche „tatsächlich im Übergangsbereich befindliche Elemente, denen man einen klaren Suffixcharakter (noch) nicht zusprechen kann, wäre wohl der Terminus Suffixoid (Präfixoid, Affixoid) am ehesten zu empfehlen“ (Fleischer 1972: 137). Das Buch wurde entsprechend überarbeitet (Fleischer 1974: 70), und rasch wurden sowohl die Termini Affixoid, Präfixoid und Suffixoid als auch die in diesem Zusammenhang diskutierten Beispiele, u.a. Riesen-, Erz-, -arm, -zeug in Riesenerfolg, Erzfeind, knitterarm, Strickzeug usw., allgemein übernommen. Die Gruppe der Affixoide wurde jedoch von verschiedenen Autoren unterschiedlich weit gefasst; was für manche in den Übergangsbereich gehörte, war für andere noch eindeutig Kompositionsglied, für andere bereits zweifelsfrei Affix (s. Amiot/Dugas 2020: 864–870 zu Kriterien und Untertypen). Klar ist allerdings, dass ein gebundenes Element noch kein Affix, sondern höchstens ein Affixoid sein kann, solange es dazu ein freies Pendant gibt. Eines der Kriterien für die Einstufung als Affixoid und nicht als Kompositionsglied war die „Reihenbildung“, d.h. die hohe Produktivität des Bildungsmusters. Auch klassische Kompositionsglieder kommen aber in zahlreichen, leicht vermehrbaren Bildungen vor (z.B. Jahr[es]- und -jahr[e]; s. Mugdan 1984: 248–259). Es waren wohl eher gewisse Modeerscheinungen, vor allem die Verwendung von Riesen-, Heiden-, Affen- usw. zur bloßen Verstärkung, die den Eindruck vermittelten, man habe es mit etwas Besonderem zu tun. Ein zweiter Grund dafür, ein gebundenes Element nicht mehr als Kompositionsglied zu betrachten,

war die Verschiebung und „Entkonkretisierung“ seiner Bedeutung gegenüber dem freien Gegenstück. Zusätzlich wurde argumentiert, es könne sich nicht um ein Kompositionsglied handeln, wenn es in dieser Bedeutung positionsfest ist, d.h. entweder nur als Erst- oder nur als Zweitglied vorkommt. Während die Befürworter einer Kategorie „Affixoid“ sehr rasch bereit waren, eine wesentliche semantische Abweichung (d.h. Homonymie) zu postulieren, betonten die Kritiker, dass in den angeführten Beispielen eine enge semantische Nähe bestehe, die es nicht rechtfertige, z.B. -frei in glutenfrei, bügelfrei usw. von dem Lexem frei zu trennen – insbesondere im Rahmen eines theoretischen Modells des Lexikons und der Wortbildung (s. z.B. Schmidt 1987: 78–96; Olsen 1988; vgl. auch aus der Sicht der Konstruktionsgrammatik Michel 2013). Bei X-frei ist sogar regelmäßig ein Paraphrase mit dem freien Pendant möglich (frei von X). Das trifft bei -zeug in Badezeug, Strickzeug usw. zwar nicht zu, aber die Parallele zu Badesachen, Stricksachen usw. zeigt, dass hier durchaus ein gängiger Typ von Kompositum vorliegt, bei dem das Erstglied den Zweck angibt (‘Gegenstände zum Baden’, ähnlich wie Waschmittel ‘Mittel zum Waschen’ usw.; vgl. Olsen 1988: 90f.). So wie es zwischen der freien und der gebundenen Verwendung eines Elements Polysemie geben kann, gibt es sie auch oft zwischen seiner Verwendung als Erst- und als Zweitglied (wie bei den Bildungen mit Jahr[es]- und -jahr[e]), sodass auch Positionsfestigkeit einer Einstufung der Beispiele für „Affixoide“ als Kompositionsglieder nicht entgegensteht. Hinzu kam der grundsätzliche Einwand, dass bei Klassifikationsproblemen mit der Einführung einer Zwischenkategorie nichts gewonnen ist, weil man dann statt des einen Abgrenzungsproblems, hier „Kompositionsglied oder Affix?“, nunmehr zwei hat, also „Kompositionsglied oder Affixoid?“ und „Affixoid oder Affix?“; der Hinweis, dass sprachliche Kategorien unscharf (engl. fuzzy) sind und fließende Übergänge zwischen einem Zentrum von Elementen, die einem Prototyp nahekommen, und einer Peripherie von atypischen Elementen aufweisen, rechtfertigt es nicht, für Problemfälle neue Kategorien zu schaffen oder aber sie unklassifiziert zu lassen (Schmidt 1987: 97f.). Diese Kritik führte zu einer breiten Abkehr vom

137 Affixsubstitution Affixoidbegriff, der sich auch Fleischer anschloss (s. Fleischer/Barz 1992: 27f.), wenn auch manche Affixoid als eine Benennung gewisser Wortbildungsphänomene, die keinen theoretischen Status beansprucht, weiterhin brauchbar fanden (Motsch 1996; Booij 2005: 114, 117, 130) oder sogar dafür plädierten, Affixoide als eigene Kategorie von Wortbildungselementen beizubehalten (Elsen 2009). Die entscheidende Frage ist jedoch, ob Derivation und Komposition in einem formalen Grammatikmodell grundsätzlich verschieden oder nach denselben Prinzipien dargestellt werden sollen. Die Option eines dritten Mechanismus für „Affixoide“ steht in diesem Zusammenhang nicht zur Diskussion; ein einheitliches und zugleich flexibles Modell der Wortbildung wie das der Construction Grammar ermöglicht es jedoch, Bildungen vom Typ Riesenerfolg oder glutenfrei einerseits in ein allgemeines Schema für Komposita einzuordnen und andererseits die idiomatische Bedeutung des einzelnen Musters zu spezifizieren (s. z.B. Booij 2005). Joachim Mugdan ≡ affixartiges Morphem; Halbaffix → § 19, 23, 39; Affix; Präfixoid; reihenbildendes Kompositionsglied; Suffixoid ⇀ Affixoid (CG-Dt; HistSprw) ⇁ affixoid (CG-Engl)

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W. [1996] Affixoide. Sammelbezeichnung für Wortbildungsphänomene oder linguistische Kategorie? In: DaF 33: 160–168 ◾ Mugdan, J. [1984] Grammatik im Wörterbuch. Wortbildung. In: Wiegand, H.E. [Hg.] Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie IV (GL 1–3/83). Hildesheim [etc.]: 237–308 ◾ Olsen, S. [1988] Flickzeug vs. abgasarm. Eine Studie zur Analogie in der Wortbildung. In: Gentry, F.G. [ed.] Semper idem et novus. Festschrift for Frank Banta. Göppingen: 75–97 ◾ Ralli, A. [2020] Affixoids: An Intriguing Intermediate Category. In: Körtvélyessi, L./ Štekauer, P. [eds.] Complex Words. Advances in Morphology. Cambridge: 217–240 ◾ Šanskij, N.M. [1959] Očerki po russkomu slovoobrazovaniju i leksikologii. Moskva ◾ Schmidt, G.D. [1987] Das Affixoid. Zur Notwendigkeit und Brauchbarkeit eines beliebten Zwischenbegriffs der Wortbildung. In: Hoppe, G. et al. [Hg.] Deutsche Lehnwortbildung. Beiträge zur Erforschung der Wortbildung mit entlehnten WB-Einheiten im Deutschen. Tübingen: 53–101.

Affixsubstitution

morphologische Operation, bei der ein Affix die strukturelle Position eines anderen Affixes einnimmt, in der Weise, dass die beiden Affixe nicht zusammen auftreten können. ▲ affix substitution: type of morphological operation by which one affix takes the structural position of another affix with the consequence that the two affixes in question cannot co-occur. So wird das englische Suffix -ee an transitive Verben angefügt (employ ‘jemanden beschäftigen’: employee ‘jemand, der beschäftigt wird’; pay ‘(jemanden) bezahlen’: payee ‘jemand, der bezahlt wird’). Obwohl bei Paaren wie nomin-at-e ‘jemanden als Kandidaten aufstellen’ : nomin-ee ‘jemand, der als Kandidat aufgestellt wurde’ oder evacu-at-e ‘evakuieren’ : evacu-ee ‘Evakuierter’ eine semantische Ableitungsbeziehung besteht, beispielsweise also das abgeleitete Substantiv nominee das Basisverb nominate voraussetzt, weisen die auf -ee endenden Substantive das Verbalsuffix -at nicht auf (*nomin-at-ee). Sofern also angenommen wird, dass Wortbildungsregeln nur von Wörtern als Basis für die Ableitung ausgehen können, dann sind diese Konstruktionen problematisch. Verwandte Fälle werden unter Apokope, Haplologie, Synkope und vor allem Tilgung behandelt. Insoweit versucht wird, dieses Phänomen in Wortbildungsregeln zu fassen, sind einerseits Trunkierungsregeln formuliert worden (Aronoff 1976). Die Trunkierung (engl. truncation) ist eine morphologische Operation, durch die ein Morphem getilgt wird, wenn es als Bestandteil der Ableitungsbasis sozusagen die Vo-

A

Agensnominalisierung 138

A

raussetzung für ein anderes Suffix ist, das durch sein Auftreten bereits auf diese Ableitungsbeziehung verweist. Die allgemeine Regel sieht folgendermaßen aus: (i) Truncation [[Basis + A]X + B]Y 1

2

3

>

1

0

3

Dabei sind X und Y Hauptwortarten und A und B Affixe.

Infolge dieser Operation können die beiden fraglichen Affixe nicht zusammen erscheinen. Trun­ kie­rung ist eine Alternative zur Affixsubstitution und wird aufgrund der gleichen Gründe vorgeschlagen. Beide Operationstypen sind in einer wortbasierten Morphologie notwendig, da oft regulär abgeleitete Wörter angetroffen werden, die semantisch durchsichtig sind und mit produktiven Affixen erzeugt wurden, obwohl sie in der Oberflächenstruktur scheinbar nicht von Wörtern abgeleitet wurden, sondern von Morphemen. Im Fall des vorliegenden Beispiels würde also mit Aronoff (1976) eine Trunkierungsregel angenommen werden, die beim Aufeinandertreffen von -at und -ee das -at tilgt: (ii) [[ Wurzel + at(-e)]V 1

2

+ ee]N 3

>

1

0 3

Andererseits haben andere Sprachwissenschaftler das Problem angegangen, indem sie Regeln formulieren, die eine Affixsubstitution zulassen. Aufgrund einer solchen Regel nimmt im vorliegenden Beispiel -ee die strukturelle Position von -at ein oder umgekehrt. Affixsubstitution kann auch für das Verhältnis der ital. Suffixe -ism(o) und -ist(a) in commun-ism-o vs. commun-ist-a angenommen werden (Mutz 2008: 68). Eckhard Meineke

→ Apokope; Haplologie; Synkope; Tilgung; Trunkierung

🕮 Aronoff, M. [1976] Word Formation in Generative Grammar. Cambridge, MA [etc.] ◾ Mutz, K. [2008] „Regelmäßigkeit“ und „Unregelmäßigkeit“ in Derivation und Flexion. In: Stroh, C./ Urdze, A. [Hg.] Morphologische Irregularität. Neue Ansätze, Sichtweisen und Daten. Bochum: 49–89 ◾ Stroh, C./ Urdze, A. [Hg. 2008] Morphologische Irregularität. Neue Ansätze, Sichtweisen und Daten. Bochum ◾ van Marle, J. [1985] On the Paradigmatic Dimension of Morphological Creativity. Dordrecht.

Agensnominalisierung

Realisierung der Agens-Rolle bei der Nominalisierung einer verbalen Basis. ▲ agent nominalization: realization of an agent rolle by the nominalization of a verbal base. Bei der Nominalisierung einer verbalen Basis vererbt sich die in der Argumentstruktur des Verbs angelegte semantische Rolle des Agens, d.h. das Subjektargument, auf das abgeleitete Nomen. Die Funktion des Agens wird bei der Nominalisierung häufig von einem Suffix übernommen. Produktive Suffixe sind im Dt. -er (Bewohner, Auftraggeber); im Engl. -er/-or (writer ‘Schreiber’, visitor ‘Besucher’), -ent/-ant (student ‘Student‘, combatant ‘Kämpfer’); im Frz. -eur (danseur ‘Tänzer’), im Ital. -atore/-itore (fumatore ‘Raucher’, lettore ‘Leser’), im Span. -ador/-edor/-idor (fumador ‘Raucher’, corredor ‘Läufer’, servidor ‘Diener’), im Russ. -tel‘ (učitel‘‘ ‘Lehrer’), im Poln. -nik (užytkownik ‘Benutzer’). Parallel stehen in einigen Sprachen movierende Suffixvarianten für feminine Personenbezeichnungen zur Verfügung (wie frz. -euse neben -eur in danseuse ‘Tänzerin’, ital. -trice neben -tore in lettrice ‘Leserin’, poln. -niczka neben -nik in užytkowniczka ‘Benutzerin’). Bei der Konversion stellt sich die Agensfunktion als inhärente Beziehung zwischen Basis und Wortbildungsprodukt dar (dt. der/die Studierende, engl. coach ‘Trainer’, frz. étudiant/e ‘Student/in’, span. escribiente ‘Schreiber/in’). In Bildungen, die auf syntaktische Fügungen zurückgehen (dt. Klavierspieler, Auftraggeber), wird zugleich wortintern die Thema-Rolle realisiert (vgl. dazu Motsch 2004: 339ff.). Das idealtypische Agens ist ein (menschlich) belebtes Wesen, das intentional handelt. Abgrenzungsprobleme bestehen gegenüber nicht-belebten Verursachern einer Handlung (nomina instrumenti). Zum Problem der Abgrenzung zwischen nomina agentis und nomina instrumenti vgl. z.B. Laca (1986: 228ff.). Die Auffassung von semantisch verstandenen Kasusrollen (Tiefenkasus) geht auf die von Fillmore entwickelte Kasusgrammatik zurück. Hannelore Poethe

→ Argumentvererbung; nomen agentis; nomen instrumenti; Nominalisierung

⇀ Agensnominalisierung (Gram-Formen) ⇁ agent nominalization (Typol)

139 Akkommodation 🕮 Fillmore, C.J. [1971] Plädoyer für Kasus. In: Abraham, W. [Hg.] Kasustheorie. Frankfurt/Main: 1–118 ◾ Laca, B. [1986] Die Wortbildung als Grammatik des Wortschatzes. Untersuchungen zur spanischen Subjektnominalisierung. Tübingen ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.].

Agglutination

≡ agglutinierende Morphologie ⇀ Agglutination (Gram-Formen; HistSprw; Onom; QL-Dt)

agglutinierende Morphologie

Verkettung von Stämmen mit Affixen, die eine eigene grammatische Funktion haben. ▲ agglutinative morphology: linking of bases to affixes each of which has its own specific grammatical function. Der Begriff der agglutinierenden Morphologie wird mehrdeutig genutzt. Er geht auf Wilhelm von Humboldt zurück, der zunächst beschreiben wollte, dass es Sprachen mit Affixen gibt – neben solchen, die Flexion und Wortbildung im Stamm anzeigen. Die häufig mit Humboldt beschriebene Eigenschaft von Sprachen wird heutzutage aber eher mit „konkatenativer Morphologie“ beschrieben. Damit wird der Begriff der agglutinierenden Morphologie in folgendem Sinne (zweite Deutung) eingeschränkter verwendet: Einzelne Morpheme werden aneinander gehängt und jedes Morphem hat eine Funktion und jede Funktion wird durch genau ein Morphem dargestellt. Dazu gehört auch, dass die Affixe jeweils klar voneinander abgetrennt werden können. Typisch für agglutinierende Sprachen sind zum Beispiel Türkisch und Ungarisch. Die Wortbildung des Deutschen ist ebenfalls weitgehend agglutinierend, vgl. z.B. Wissen-schaft-ler-in, denn sehr häufig sind die Affixe ein-eindeutig. Die Flexion des Deutschen ist nur zum Teil agglutinierend: Die Endung -st ist zum Beispiel eindeutig für die Verbflexion (2. Person, Singular). Eine Endung -en hingegen ist vieldeutig, sie kann den Plural bei Substantiven markieren (Burg – Burgen), den verbalen Infinitiv (sag-en), die 1. und 3. Person Plural bei Verben (sagen), verschiedene Formen des Adjektivs (gut-en), Pronomens (dies-en) usw. Die Flexion des Deutschen ist also nur in sehr kleinen Teilen agglutinierend, die Flexion des Englischen ebenso, zum

Beispiel hat das Suffix -s verschiedene Funktionen im Englischen. Nanna Fuhrhop ≡ Agglutination → fusionierende Morphologie; Wortbildungstypologie

🕮 Aronoff, M./ Fudeman, K. [2011] What is Morphology? 2nd ed. London [etc.] ◾ Bickford, J.A. [1998] Morphology and Syntax. Tools for Analyzing the World's Languages. Dallas ◾ Comrie, B. [1981] Language Universals and Linguistic Typology. Chicago ◾ Haspelmath, M./ Sims, A.D. [2010] Understanding Morphology. London [etc.] ◾ Humboldt, W. von [1836] Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Berlin.

Akkommodation

Modifizierung eines Schemas zum Zwecke der Interpretation eines markierten bzw. metaphorischen sprachlichen Ausdrucks. ▲ accommodation: modification of a schema for the purpose of interpreting a marked or metaphoric linguistic expression. Die Interpretation von Sätzen, Phrasen und Wörtern erfolgt über mentale Repräsentationen – z.B. über Schemata –, die das auf Erfahrungen und Erwartungen basierende Weltwissen eines Sprachbenutzers abbilden und zu sprachlichen Ausdrücken in Beziehung setzen. Ist ein sprachlicher Ausdruck mit den Gegebenheiten der außersprachlichen Realität nicht kompatibel, so macht die Interpretation Modifizierungen innerhalb der beteiligten Schemata erforderlich. Die von Ryder (1994) als accommodation bezeichnete Modifizierung eines Schemas äußert sich entweder in der Änderung eines Slotwertes oder im Extremfall in der Änderung eines ansonsten konstanten Attributs. Die Änderung eines Slotwertes wird z.B. bei der Interpretation der Phrase a brick-red cat erforderlich. Das entity-Schema, das dem semantic information schema von cat zuzuordnen ist, beinhaltet u.a. das Attribut color, dessen Slot mit Default-Werten wie ‘grey’, ‘black’ oder ‘yellow’ gefüllt ist. Werden diese durch den markierten Wert ‘brick-red’ überschrieben, so wird eine Kompatibilitätsbeziehung zwischen der Phrase a brick-red cat und dem entity-Schema von cat erzwungen. Eine gravierendere Schemamodifikation findet bei der Interpretation des Satzes That's a restaurant where the customer doesn't pay for his meal statt. Hier ist das Attribut payment, das sowohl eine Konstante des event-Schemas customer ea-

A

Akkusativierung 140

A

ting in a restaurant als auch eine Konstante des entity-Schemas von restaurant bildet, von dem accommodation-Prozess betroffen, vgl. Ryder (1994: 92). „Akkommodation“ wird mitunter auch zur kontextfreien Interpretation von Nomen+NomenKomposita eingesetzt. Hier dient diese Strategie dazu, eine Kompatibilitätsbeziehung zwischen dem Schema der Kopfkonstituente und dem Schema der Modifikatorkonstituente herzustellen. Ein Beispiel ist die Neubildung hamburger-shrub. Die Lesart ‘a shrub that has huge thick leaves that are different colors’ resultiert aus der Akkommodation des mit der Kopfkonstituente shrub assoziierten entity-Schemas, welches Blätter, die im unmarkierten Fall grün sind, als Bestandteile von Büschen ausweist. Zu beachten ist, dass die ebenfalls mögliche Lesart „a shrub on which hamburgers grow“ nicht durch Akkommodation, sondern durch die Kreation eines neuen Schemas erzielt wird. Heike Baeskow

→ Nomen+Nomen-Kompositum; Schema; semantic information schema; slot

⇀ Akkommodation (Sprachdid; CG-Dt) ⇁ accommodation (CG-Engl)

🕮 Ryder, M.E. [1994] Ordered Chaos. The Interpretation of English Noun-Noun Compounds. Berkeley [etc.].

Akkusativierung

Realisierung eines Arguments als Akkusativobjekt, das sonst in einem anderen Kasus oder als Präpositionalphrase erscheint. ▲ accusativization: realization of an argument which otherwise appears in another case or in a prepositional phrase as an accusative object. Im Deutschen können bestimmte Verbpräfixe zu einer Akkusativierung führen. Besonders das Präfix be- ist hier einschlägig: vgl. den Fall bereden (vs. über den Fall reden) und ferner seinen Tod beweinen, einen Fonds besparen. Der Begriff lässt sich auch auf andere Präfixe anwenden: ein Land durchreisen/überfliegen/umfahren. Man kann auch von Akkusativierung sprechen, wenn ein Verb entgegen seinem früheren Gebrauch ein Akkusativobjekt nimmt, etwa im Falle von vergessen, das früher ein Genitivobjekt an sich nahm (vgl. Vergissmeinnicht).

→ Transitivierung; Valenzänderung

Andrew McIntyre

⇀ Akkusativierung (HistSprw; Gram-Syntax)

🕮 Butt, M. [2006] Theories of Case. Cambridge ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [1992] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen ◾ Malchukov, A./ Spencer, A. [eds. 2008] The Oxford Handbook of Case. Oxford [etc.] ◾ Plank, F. [ed. 1984] Objects: Towards a Theory of Grammatical Relations. London.

Akkusativkompositum

Nomen+Nomen-Kompositum in traditioneller historischer Grammatik, das mit einem deverbalen Kopf geformt wird und dessen Basis-Verb den Akkusativ-Kasus bestimmt. ▲ accusative compound: noun+noun compound in traditional historical grammar made up of a deverbal head whose base verb governs the accusative case. Dieser Begriff kam in der traditionellen Grammatik hauptsächlich zum Einsatz, um eine bestimmte Klasse von verbalen Komposita festzulegen. Diese zeigen eine Verbindung zwischen ihrer ersten Konstituente und ihrem Kopf, die syntaktisch über den Kasus des Akkusativs ausgedrückt werden würde. Henzen (1965: 61) gibt zu, dass der Begriff im Grunde eigentlich schlecht gewählt ist, da ein Nomen nicht den Akkusativ-Kasus bestimmen kann. Beispiele hierfür sind Nußknacker und Wasserträger, jedoch kann das Muster auch auf solche Fälle wie Auftraggeber von Auftrag geben oder Liebhaber von liebhaben ausgeweitet werden, bei denen das Kopfnomen nicht allein auftritt. Diese letzteren Fälle werden „Zusammenbildungen“ genannt. Susan Olsen

→ Kompositum; nominales Rektionskompositum; verbal compound; Zusammenbildung

⇁ accusative compound (Woform)

🕮 Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen.

Akronym

nicht ganz einheitlich benutzter Terminus für verschiedene Produkte der Wortkürzung, meist für multisegmentale Kurzwörter aus den Anfangsbuchstaben der einzelnen Konstituenten der Vollform. ▲ acronym: non-uniform term for various products of word shortening, mostly used for multisegmental short forms consisting of the initial letters of the full form constituents. Die Bezeichnung „Akronym“ wird meist synonym mit „Initialwort“ verwendet, womit ein multi-

141 Aktionsart segmentales Kurzwort aus einzelnen Buchstaben gemeint ist, die in der Regel die jeweils ersten Teile einzelner Segmente der Vollform darstellen (griech. akros ›Spitze‹). Diese Segmente können Bestandteile von Komposita (Pkw für ›Personenkraftwagen‹) oder einzelne Wörter lexikalisierter Wortgruppen sein (FAQ für ›frequently asked questions‹). Ronneberger-Sibold (2007) unterscheidet in diesem Sinne in Buchstabierakronyme wie Pkw und Lautwertakronyme (APO für ›Außerparlamentarische Opposition‹), des Weiteren in „akronymische Kürzungen“ mit längeren Sequenzen vom Beginn der Konstituenten als nur den ersten Buchstaben wie bei Schupo für ›Schutzpolizist‹. Gelegentlich wird der Terminus Akronym auch allgemein für solche Wortkürzungsprodukte verwendet, die mehr als nur einzelne Buchstaben vom Beginn der Konstituenten enthalten (Bafög für ›Bundesausbildungsförderungsgesetz‹). Schließlich gibt es eine Definition von Akronym, die nicht buchstabiert gesprochene, sondern nur orthoepisch, als Wort ausgesprochene Kurzwörter aus Einzelbuchstaben oder Silben einschließt (AIDS/Aids für ›Acquired immune deficiency syndrome‹). Aufgrund der unscharfen Terminologie verzichtet die deutsche Kurzwortforschung heute häufig auf den Ausdruck Akronym; in der engl. Literatur hingegen ist „acronym“ weit verbreitet. Allerdings herrscht auch hier Uneinheitlichkeit in Bezug auf die Definition, teils wird acronym als Oberbegriff für alle Buchstabenkurzwörter verwendet (unterteilt in „orthoepic“/„letter-sounding acronym“ und „alphabetic“/„letter-naming acronym“), teils nur für die gebunden auszusprechenden Buchstabenkurzwörter, denen die „initialisms“ als buchstabiert gesprochene Buchstabenkurzwörter gegenüberstehen; s. zu den unterschiedlichen Typologien besonders López Rúa (2004). Gänzlich unüblich ist heute allerdings die Verwendung des Ausdrucks Akronym für alle Arten von Kurzwörtern – also auch für unisegmentale Kurzwörter –, wie sie früher gelegentlich zu finden war. Anja Steinhauer ≡ Abbreviation; Buchstabenwort; Initialabkürzung; Initialbildung; Initialkürzung; Initialwort → § 29; Kurzwort; multisegmentales Kurzwort; orthoepische Aussprache; Wortkürzung

⇀ Akronym (Onom; CG-Dt; Lexik; Schrling) ⇁ acronym (CG-Engl)

🕮 Balnat, V. [2011] Kurzwortbildung im Gegenwartsdeutschen. Hildesheim [etc.] ◾ Kobler-Trill, D. [1994] Das Kurzwort im Deutschen. Eine Untersuchung zu Definition, Typologie und Entwicklung. Tübingen ◾ Kreidler, C.W. [2000] Clipping and acronymy. In: Booij, G.E./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [eds.] Morphology (HSK 17.1). Berlin [etc]: 956–963 ◾ López Rúa, P. [2004] Acronyms & Co.: A typology of typologies. In: Estudios Ingleses de la Universidad Complutense: 109–129 ◾ Ronneberger-Sibold, E. [2007] Zur Grammatik von Kurzwörtern. In: Bär, J.A./ Roelcke, T./ Steinhauer, A. [Hg.] Sprachliche Kürze. Konzeptuelle, strukturelle und pragmatische Aspekte. Berlin [etc.]: 276–291 ◾ Steinhauer, A. [2015] Clipping. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 352–363.

Aktionsart

Komponente der lexikalischen Bedeutung bei Verben, durch welche erstens der zeitliche Verlauf des durch das Verb bedeuteten Vorgangs verschieden moduliert wird oder zweitens speziell bei abgeleiteten Verben das Verhältnis des bedeuteten Vorgangs zum von der Basis Bedeuteten beinhaltet wird. ▲ aktionsart: component of the lexical meaning of verbs by which, first, the temporal course of the process signified by the verb is variously modulated, or by which, second, a relationship between the process expressed by a derived verb and the process signified by its morphological base is intended. Das Verb erblühen bedeutet im Unterschied zu unspezifischem blühen den Beginn des Vorgangs des Blühens, das Verb verblühen das Ende des Vorgangs. Der zeitliche Verlauf des Prozesses wird also verschieden versprachlicht. Die drei Verben haben verschiedene Aktionsarten: ingressiv (erblühen), durativ (blühen) und egressiv (verblühen). Die andauernde, weitverzweigte, differenzierte und teilweise kontaminierende Diskussion um den Begriff „Aktionsart“ (Schwerdt 2008: 78–84) im Zusammenhang mit Begriffen wie „Aspekt“ (Sacker 1983; de Groot/Tommola 1984; Kunert 1984; Abraham/Janssen 1989; Vet/Vetters 1994; Comrie 1995; Hewson/Bubenik 1997; Sasse 2002; Gautier/Haberkorn 2004; Schwerdt 2008: 76–78), „Aspektualität“ (Schwall 1991; Verkuyl 1993), „Aktionalität“ (Tatevosov 2002), „aktionelle Bedeutung“ (Schwerdt 2008: 78–84), „Ereignisstruktur“ (Engelberg 2000) und „Zeitkonstituenz“ kann in diesem Rahmen nicht abgebildet werden (vgl. Sauer 1984; François 1985; Tschirner 1991; Egg

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Aktionsart 142

A

1994; Nicolay 2007; Schwerdt 2008), ebensowenig wie die Begriffsgeschichte oder die Frage der inhaltlichen Ausprägung des Phänomens der Aktionsart in Sprachgruppen wie dem Germanischen, dem Romanischen und dem Slavischen. Die Aktionsart wird hier im Wesentlichen im Hinblick auf die Wortbildung behandelt und mit Beispielen aus dem Deutschen dargestellt. Die Aktionsart (auch Handlungsart, Handlungsstufe, Phasenbedeutung) eines Verbs ist eine Komponente von dessen lexikalischer Bedeutung, also eine lexikalisch-semantische Kategorie (Tschirner 1991: 6f.). In diesem Enthaltensein in der lexikalischen Bedeutung liegt der Unterschied der Aktionsart zum Aspekt, der eine grammatisch-semantische Kategorie (also kein Bestandteil der lexikalischen Bedeutung) ist, so z.B. mit seinen beiden Ausprägungen Imperfektivum (unvollendete Hand­lungs­form) und Perfektivum (vollendete Hand­ lungs­ form) beim slavischen Verb. Der Aspekt ebenso wie eine Reihe von Aktionsarten (aber nicht alle) beziehen sich auf die gleiche semantische Kategorie, nämlich den zeitlichen Verlauf eines Prozesses, wobei aber die Aktionsarten über die Dichotomie ‚andauernd/abgeschlossen’ des Aspekts beträchtlich hinausgehen (vgl. Tschir­ner 1991: 7f.). Die übergreifende semantische Kategorie für die Leistung des Aspekts und bestimmter Aktionsarten, nämlich derjenigen, die sich auf den zeitlichen Zugriff auf außersprachliche Realitäten beziehen (Phasenaktionsarten), ist die „Aktionalität“ (Tschir­ner 1991: 8). Die Aktionsartbedeutung ist als Bestandteil der lexikalischen Bedeutung allen Verben eigen, also auch den Simplizia (Schwerdt 2008: 83). Dabei steht der Begriff „Aktionsart“ für die vom Verb bedeutete Verlaufsweise und Abstufung des Geschehens. Als Komponente der lexikalischen Bedeutung ist dabei die jeweilige dem Verb eigene Aktionsart von einer bestimmten grammatischen, infiniten oder finiten, Form des Verbs unabhängig. Für den Begriff „Aktionsart“ wird in diesem Sinne vor allem im englischsprachigen Raum auch die Bezeichnung lexical aspect „lexikalischer Aspekt“ verwendet. Die Aktionsart ist wie bereits ausgeführt zu unterscheiden von der in der deutschen Sprachwissenschaft „Aspekt“ genannten Ebene, für die englisch grammatical aspect ‘grammatikalischer Aspekt’ steht. In Abgrenzung zum Begriff „Aspekt“ wird im Englischen neben „aktionsart“ gelegentlich auch „man-

ner of action“ verwendet. Der diesen beiden Termini entsprechende französische Begriff ist „caractère de l’action“. Die oben angesprochenen Phasenaktionsarten sind diejenigen Aktionsarten, bei denen ein bestimmter zeitlicher Zugriff auf außersprachliche Realitäten bedeutet wird oder die anders ausgedrückt den inhärenten Zeitbezug von Prädikaten widerspiegeln (Tschir­­ner 1991: 16). Die Verlaufsweise eines Vorgangs wird also nach zeitlichen Gesichtspunkten differenziert (Tschir­ner 1991: 16f.). Diese Phasenaktionsarten können erstens in die beiden Gruppen „durativ“ und „terminativ/nicht-durativ“ unterteilt werden. Durative Verben bedeuten die Vorgänge als solche, die hinsichtlich ihres Zeitablaufs unspezifiziert sind. Der Prozess wird als ein zeitlich nicht begrenzter dargestellt, der keinen Anfangspunkt und keinen Endpunkt hat (Tschir­ner 1991: 63). Durative Verben in diesem Sinne sind einerseits etwa wohnen und besitzen, andererseits etwa arbeiten oder lachen. Wohnen und besitzen sind in dem Sinne statisch, dass sie einen Zustand bedeuten. Arbeiten und lachen sind in dem Sinne dynamisch, dass sie einen Vorgang, den Ablauf einer Tätigkeit oder eines Ereignisses bedeuten (Tschir­ ner 1991: 64f.). Terminative Verben bedeuten einen Vorgang als einen zeitlich begrenzten. Gemeint sind Verben wie erstens finden, treffen, erblicken, erreichen, gewinnen, entdecken. Diese Verben haben eine punktuelle Aktionsart, für die auch der Begriff „momentan“ verwendet wird. Der von ihnen versprachlichte Vorgang wird als ein solcher dargestellt, der ohne zeitliche Ausdehnung punkthaft geschieht. Der Vorgang ist mit seinem Eintreten auch bereits wieder vollendet. Zweitens umfasst die Gruppe der terminativen Verben Lexeme wie untergehen, durchschneiden, aufblühen, ausklingen, aufmachen und weglaufen. Diese Verben sind nicht-punktuell. Bedeutet werden Vorgänge als (kurz oder lang) andauernde, die aber durch einen Anfangs- oder Endpunkt begrenzt sind (Tschirner 1991: 65f.). Für Verben, die den Beginn eines Vorgangs bedeuten (entflammen, erblühen, abfahren, Tschirner 1991: 68), wird der Begriff „ingressiv“ verwendet, für solche, die das Ende eines Vorgangs oder einer Tätigkeit in den Blickpunkt rücken (verblühen, aufessen, Tschirner 1991: 68), der Begriff „egressiv“ (Tschirner 1991: 67). Für diese nicht-punktuellen terminativen Verben kann auch der Begriff „telisch“ verwendet

143 Aktionsart werden. Denn diese Verben bedeuten einen Prozess, der im Hinblick auf ein Ziel abläuft, das zum Zeitpunkt, zu dem das Verb geäußert wird, noch nicht erreicht ist (Tschirner 1991: 66f.). Eine etwas andere Gliederung der Aktionsarten nimmt Nicolay (2007: 231) vor, auf die hier wegen ihrer problematischen Kategorisierung nur verwiesen sei. Ihr kann soweit gefolgt werden, als auch hier stative („statische“ bei Tschirner) Verben von nichtstativen („dynamischen“ bei Tschirner) Verben unterschieden werden. Die weitere Unterscheidung der stativen Verben nach entweder „[+Situation] Zustand“ (sitzen) oder „[-Situation]“, und zwar „[+Intervall] Intransformativ (bleiben) bzw. [-Intervall] Eigenschaft“ (wohnen) wirkt dagegen überspitzt. Die nicht-stativen Verben werden mittels der Parameter „[-begrenzt] Prozess“ (laufen) sowie „[+begrenzt] (Ereignis)“ unterschieden. Die erstere Gruppe entspricht derjenigen der dynamischen Durativa bei Tschirner. Die Verben mit dem Merkmal [+begrenzt] werden in die telischen und die nicht-telischen Verben unterteilt. Bei den telischen Verben gebe es durative Verben mit dem Charakteristikum „Accomplishment“ wie genesen und nicht-durative Verben mit dem Charakteristikum „Achievement“ wie umfallen. Die nicht-telischen Verben ließen sich in durative Verben mit dem Charakteristikum „intergressiv“ wie besichtigen und in nicht-durative Verben mit dem Charakteristikum „semelfaktiv“ wie blitzen aufteilen. Verben wie genesen und umfallen würden bei Tschirner den telischen Verben ohne weitere Untergliederung zugeordnet werden, weil dort die Länge oder Kürze des Vorgangs keine Rolle spielt. Das Verb besichtigen würde bei Tschirner zu den Durativa gestellt werden, das Verb blitzen zu den punktuellen Verben. Die verschiedenen Aktionsarten werden nach ihrer Bedeutung, also nach semantischen Kriterien unterschieden. Bei der Ableitung von schwachen Verben aus Verben und anderen Wortarten werden im Ahd. drei Klassen sichtbar, die germanischen -jan-Verben (ahd. -en), die -ōn-Verben und die -ēn-Verben (siehe weiter unten), mit denen je nach Basiswortart verschiedene Aktionsarten verbunden sind. Aufgrund der Endsilbenabschwächung sind diese Klassen abgesehen von den Umlautwirkungen des j auf den Stammvokal in der ersten Klasse (mhd. krenken ‘krank machen’ (< krank-jan) > nhd. kränken; mhd. kranken ‘krank sein, werden (< ahd.

krankēn) > nhd. kranken) aber bereits im Mhd. nicht mehr als Suffixklassen zu erkennen, wirken also nicht-konkatenativ. Daneben ist bereits im Ahd. die Ableitung durch Präfixe belegt, die sich bis in die Gegenwartssprache erhalten hat (entbrennen < brennen). Insoweit ist Aktionsart eine Folge der semantischen Leistung der Wortbildung, die Derivationsmorphologie und Kompositionsmorphologie einer Sprache. Denn im Übrigen lassen sich auch durch Partikel­phra­sen­kom­po­si­ta wie einschlafen ‘zu schlafen beginnen’ (inchoativ) < schlafen (nicht inchoativ) oder aufessen ‘ganz und gar essen’ (resultativ) < essen (nicht resultativ) Aktionsartunterschiede erzeugen. Für die Hauptunterscheidung der Phasenaktionsarten, das heißt in „durativ“ und „terminativ“, erscheinen einerseits auch die Begriffe „aterminativ“, „kontinuativ“, „kursiv“, „immutativ“, „unvollendet“, „atelisch“, „imperfektiv“, andererseits auch „nicht-durativ“, „mutativ“, „vollendet“, „telisch“ und „perfektiv“. Als Unterkategorien der durativen Aktionsart lassen sich folgende Aktionsarten auffassen. Die iterative Aktionsart beinhaltet, dass sich etwas wiederholt, mehrmals (regelmäßig, gewöhnlich) geschieht, zum Beispiel bei sticheln ‘öfter stechen’. Allerdings ist sticheln zugleich auch mit dem Moment des Diminutiven verbunden, ebenso wie bei tröpfeln. Im Nhd. werden Iterativa typischerweise mit dem Suffix -l erzeugt. Die intensive Aktionsart bedeutet ein Geschehen, das durch hohe (erhöhte) Intensität gekennzeichnet ist. Allerdings ist das bei den für das Nhd. genannten Beispielen wie etwa rupfen zu raufen, schnitzen zu schneiden oder horchen zu hören nicht mehr nachvollziehbar, weil die zusammen mit der ausdrucksseitigen Auseinanderentwicklung einhergehende Lexikalisierung zu einer zu weiten Entfernung der Bedeutungen geführt hat. Die diminutive (attenuative) Aktionsart bedeutet Geschehen geringerer (verringerter) Intensität, zum Beispiel in tänzeln ‘ein bisschen tanzen’ oder lächeln. Verben mit intransformativer Aktionsart bedeuten, dass sich am gegebenen Zustand ausdrücklich nichts ändert, zum Beispiel in behalten oder weiterleben. Die nicht-durative Aktionsart hat folgende Untergruppen. Die inchoative (ingressive, inzeptive, initive) Aktionsart bedeutet einen Anfang, einen (allmählichen) Beginn, den Austritt aus einem alten Zustand und den Eintritt in einen neuen Zustand (entflammen, erblühen,

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Aktionsart 144

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loslaufen). Die Begriffe „inchoativ/inzeptiv“ und „ingressiv/initiv“ können differenziert werden, indem man erstere als Aktionsart des allmählichen Beginns und letztere als Aktionsart des plötzlichen Beginns festlegt (einschlafen vs. aufspritzen). Die egressive (resultative, finitive, delimitative) Aktionart bedeutet den Austritt aus einen Zustand zuzüglich Verlauf (verblühen). Die Aktionsart des plötzlichen Zustandswechsels wird als „punktuell“ oder „momentan“ bezeichnet (finden, erblicken, aufstöhnen). Was die Wortbildung betrifft, so hat sich die Aktionsartenforschung vor allem mit den schwachen Verben befasst, indem diese in den meisten Fällen Ableitungen von einer verbalen, substantivischen oder adjektivischen Basis sind und damit eine Handlung oder einen Vorgang bedeuten, der in irgendeiner Weise mit dem in der Basis Bedeuteten zu tun hat: tränken (germ. *drankjan, abgelautete Basis erscheint im Ahd. mit Umlaut) ‘zu trinken geben’ [‘trinken machen‘: kausativ] > trinken ‘trinken‘ (germ. *drinkan); fischen (ahd. fiskōn) ‘fischen’ [‘sich Fische verschaffen’: afficientiv] > Fisch (ahd. fisk]; faulen (ahd. fūlēn) ‘faul werden’ [‘allmählich zur Eigenschaft ‘faul’ übergehen’: inchoativ] > faul (ahd. fūl). Dabei geht inhaltliche Differenziertheit dieser Ableitungen über die der oben dargestellten Phasenaktionsarten hinaus. Die betreffenden Strukturen können etwa für das Ahd. skizziert werden. Die erste Klasse der ahd. schwachen Verben, die im Germanischen auf -jan ausging, hat als Basis vor allem starke Verben und Adjektive, daneben aber auch Substantive, Adverbien, Syntagmen und Interjektionen. Das kausative Verb trenken > nhd. tränken wurde bereits erwähnt. Das kausative Verhältnis der Ableitungen zu den verbalen Basen überwiegt bei dieser Verbgruppe, als kleinere Gruppe treten Intensiva beziehungsweise Iterativa auf. So bedeutet tretten zur Basis tretan st.V. ‘treten, betreten’ eine iterative, das heißt eine sich wiederholende, bzw. intensive, d.h. mit besonderem Nachdruck ausgeführte Handlung im Vergleich zur Bedeutung der Basis, also ‘oft betreten, zertreten, zermalmen’ (Meineke/Schwerdt 2001: 303). Stellen sich -jan-Verben zu Adjektiven, überwiegt bei weitem eine faktitive Ableitungssemantik. Durch das sw. Verb heilen ‘heilen’ wird ausgedrückt, dass etwas oder jemand heil ‘gesund’ gemacht wird. Neben den Faktitiva sind mit adjektivischer Basis vor allem noch Essiva (zu lat. esse

‘sein’) belegt. Das sind Verben, deren Bildungsmotivation mit ‘die in der adjektivischen Basis genannte Eigenschaft aufweisen’ oder ‘das durch das Basisadjektiv Bedeutete sein’ umschrieben werden kann (Meineke/Schwerdt 2001: 303). So bedeutet das von bald ‘[u.a.] zuversichtlich’ abgeleitete Verb belden u.a. ‘zuversichtlich sein’ (Schützeichel 1995: 94). Schwache -jan-Verben zu substantivischen Basen sind im Ahd. vor allem Facientiva, bei denen das durch das Basissubstantiv Bedeutete zugleich Inhalt der Verbalhandlung ist. Das trifft bei wunscen ‘(etwas) wünschen, ersehnen, verlangen’ zur Basis wunsc ‘Wunsch’ zu oder bei wuofen ‘weinen, klagen, trauern, jammern’ zur Basis wuof ‘Weinen, Klage, Seufzen’. Die zweitgrößte Gruppe sind die Ornativa, bei denen die Paraphrase ‘mit dem im Basissubstantiv Genannten versehen’ lautet. Hierher gehören bouhhanen ‘zeigen, (durch Zeichen) andeuten, bezeichnen, versinnbildlichen’ zu bouhhan ‘Typus, Sinnbild, Zeichen’ oder zūnen ‘verzäunen, umzäunen’ zu zūn ‘Zaun, Verschanzung’. Bei den an dritter Stelle zu nennenden Instrumentativa wird ausgedrückt, dass das im Basissubstantiv Genannte als Instrument der Verbalhandlung verwendet wird, so nagalen ‘nageln’ zur Basis nagal ‘Nagel’ oder gerten ‘anstacheln, quälen, peinigen’ zu gart ‘Stachen, Treibstecken’. Bei den Occupativa, der vierten Gruppe, geht es darum, dass das durch die Basis Genannte durch die Verbalhandlung berührt wird, ohne aber ihr Inhalt, Instrument oder Resultat zu sein. Hierher gehören nisten ‘nisten, wohnen’ zu nest ‘Nest’ oder fulken ‘gruppieren, formieren, zusammendrängen’ zu folk ‘Volk, Volksmenge’ (Meineke/ Schwerdt 2001: 303f.). Sehr schwach vertreten, und zwar nur im Ahd. mit jeweils zwei Verben, sind die Agentiva (‘als bzw. wie ein durch das Basissubstantiv Bezeichneter handeln’) und Privativa. Als Agentivum lässt sich zohen ‘treiben, führen’ verstehen. Die Basis *zoho tritt im Ahd. nicht als Simplex auf, aber als Zweitglied von herizoho ‘Heerführer, Herzog’ und maguzoho ‘Erzieher’. Ein Privativum ist kurnen ‘dreschen, entkernen’ zu korn ‘Korn, Same, Getreide’; durch die im Verb ausgedrückte Handlung wird das Korn aus den Ähren entfernt (Meineke/Schwerdt 2001: 304). Die Handlungen der bisher vorgestellten Gruppen sind sämtlich willensabhängig, weshalb für

145 Aktionsart diese Verben auch der Begriff „final“ gebraucht wurde. Kausale Prozesse werden durch die zwei folgenden Gruppen bezeichnet, die Emotiva (‘Empfinden des im Basissubstantiv Genannten’ bzw. ‘Empfinden des im Basissubstantiv Genannten für bzw. gegenüber jemandem’) und die Fientiva (‘das durch das Basissubstantiv Genannte vollzieht sich’). Emotiva sind dursten ‘dursten, Durst haben (nach)’ zur Basis durst ‘Durst, Dürre’ oder zurnen ‘zürnen, sich empören’ zu zorn ‘Zorn’, Fientiva bluoten ‘bluten, blutig sein’ zu bluot ‘Blut’ oder troumen ‘träumen’ zu troum ‘Traum’ (Meineke/Schwerdt 2001: 304). Bei den -ōn-Verben ergibt sich bei substantivischer Basis (Schaefer 1984) eine Ableitungssemantik, deren Gemeinsamkeit darin liegt, dass sich die bedeutete Handlung in irgendeiner Weise auf das in der Basis Genannte bezieht. Im einzelnen ergeben sich folgende Gruppierungen. Die erste Gruppe sind die Agentiva, deren generelle Paraphrase ‘als bzw. wie ein durch das Basissubstantiv Bezeichneter handeln’ ist. Beispiel ist smidōn ‘schmieden’ zur Basis ahd. smid ‘Schmied’. Zweitens sind die Fientiva zu nennen, eine kleine Gruppe, deren Mitglieder sich meist auf Naturvorgänge beziehen und deren Ableitungssemantik als ‘das durch das Basissubstantiv Genannte vollzieht sich’ umschrieben werden kann. So stellt sich ahd. donarōn ‘donnern’ zur Basis donar ‘Donner’. Bei der dritten Gruppe, für die der Terminus Efficientiva verwendet wird, fungiert das im Basissubstantiv Genannte als effiziertes Objekt der durch das abgeleitete Verb ausgedrückten Handlung, die demnach als ‘jemand macht das im Basissubstantiv Genannte’ umschrieben werden kann. Das trifft für ahd. scadōn ‘schaden, Schaden anrichten, zufügen’ zur Basis scado ‘Schaden’ zu. Die an vierter Stelle zu nennenden Facientiva haben die gleiche Ableitungssemantik ‘machen des im Basissubstantiv Genannten’, aber im Unterschied zu den Efficientiva ist das im Basissubstantiv Genannte, ein grammatisches Abstraktum oder eine verbale Handlung, auch der Inhalt der Verbalhandlung. Während also bei scadōn der entstehende Schaden durch ganz verschiedenartige Handlungen bewirkt werden kann, beispielsweise durch das Legen von Feuer, ist bei spilōn ‘spielen’ der Inhalt der Basis spil ‘Spiel’ mit dem Inhalt der Verbalhandlung identisch. Der fünfte Typ, der anhand des bereits genannten Beispiels fiskōn ‘fi-

schen’ [‘Fische fangen’] beschrieben wird, nennt in der Basis von der Verbalhandlung affizierte Objekte; entsprechend heißen die betreffenden Verben Afficientiva. Die sechstens zu nennenden Emotiva sind denominale Ableitungen, deren Basis einen Gemütszustand oder eine Empfindung bezeichnet und durch ‘Empfinden des im Basissubstantiv Genannten’ bzw. ‘Empfinden des im Basissubstantiv Genannten für jemanden bzw. gegenüber jemandem’ umschrieben werden können. Zu dieser Gruppe gehört beispielsweise minnōn ‘lieben, verehren’ zur Basis minna ‘Liebe, Zuneigung [...]’. Die siebte Gruppe sind die Ornativa; für sie gilt die Paraphrase ‘versehen von jemandem bzw. etwas mit dem im Basissubstantiv Genannten’. Das bekannteste Beispiel ist salbōn ‘salben, (be-)streichen’ zur Basis salba ‘Salbe’. Zu dieser Gruppe gehören auch lōnōn ‘belohnen’ zur Basis lōn ‘Lohn’ oder namōn ‘nennen, benennen, anreden, anrufen’ zur Basis namo ‘Name, Wort [...]’. Achtens sind die Instrumentativa zu nennen; diese sind mittels ‘das im Basissubstantiv Genannte als Instrument einsetzen’ zu paraphrasieren. So stellt sich ahd. rītrōn ‘sieben’ zu rītera ‘Sieb’. Der größte Teil der desubstantivischen -ōn-Verben des Germanischen ist mit den genannten semantischen Ableitungstypen beschreibbar. Dabei sind einige Bildungen nicht nur einem einzigen Typ zuzuordnen, da neue, durch Uminterpretation der Ableitungsverhältnisse nach anderen Mustern entstandene Bildungen neben die alten treten oder diese ganz verdrängen können. So ist egisōn ‘erschrecken’ zu egiso ‘Schrecken’ sowohl ornativ (‘jemanden erschrecken’) als auch emotiv (‘Schrecken empfinden’) (Meineke/Schwerdt 2001: 304f.). Die ahd. -ēn-Verben stellen sich zu Adjektiven, Substantiven und Verben. Dabei sind die von Adjektiven abgeleiteten Verben eine produktive Gruppe, in der eine ingressiv-inchoative Bedeutung erzeugt wird: Das Verb bedeutet einen Prozess, der zu dem durch die Basis bezeichneten Zustand führt (‘das durch das Basisadjektiv Bezeichnete werden’). Hierher gehören beispielsweise altēn ‘alt werden, veralten’, fūlēn ‘faulen, verfaulen, verwesen’ oder muodēn ‘ermüden’. Das inchoative Verhältnis der Verbbedeutung zu derjenigen der Basis gilt u.a. auch bei Ableitungen aus Substantiven, und zwar bei den Zeitbestimmungen wie tagēn ‘Tag werden’ oder abandēn ‘Abend werden’. Dagegen ist ērēn ‘Ehre erweisen,

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(ver)ehren, (hoch)achten; verherrlichen, anbeten’ zu ēra ‘Ehre, Ansehen, Verehrung [...]’ eher als Ornativum aufzufassen. Bei verbaler Basis haben -ēn-Verben teilweise eine durative oder genauer intransformative Bedeutung, so bei werēn ‘währen, dauern, halten, bestehen, (bestehen) bleiben’ zu wesan ‘sein, werden [...]’. Das st. Verb zeigt freilich ebenfalls die aktuellen Bedeutungen ‘bestehen, bleiben, gelten, währen’. Doch sind beim abgeleiteten Verb ausschließlich die auf die Dauer bezogenen Bedeutungen belegt (Meineke/ Schwerdt 2001: 305). Eckhard Meineke

→ § 31; durativ; faktitives Verb; final (1); inchoativ; ingressiv; iterativ; ornativ

⇀ Aktionsart (Gram-Formen; SemPrag) ⇁ aktionsart (Typol)

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aktiv

Eigenschaft von Affixen, einige, aber nicht viele neue Wörter zu produzieren. ▲ active; semi-productive: property of an affix to be used to produce some new words, but not large numbers of new words. Aktivität ist eine Stufe auf der Produktivitätsskala. Die ergiebigsten Affixe (oder Prozesse) werden als „produktiv“, weniger ergiebige als „aktiv“ und unzugängliche als „unproduktiv“ bezeichnet. Dieser Begriff ist im Deutschen gebräuchlich, im Englischen dagegen kaum. Pike (1967) ist eine der wenigen anglophonen Autoritäten, die den Begriff „aktiv“ verwenden. Für ihn scheint er äquivalent zu produktiv. Fleischer (1975) stützt seine Verwendung des Begriffs auf Kubrjakova (1965). Die englische Bezeichnung, die „aktiv“ am nächsten kommt, scheint "semi-productive“ zu sein, wie von Matthews (1974) definiert, die dann verwendet wird, wenn Affixe sporadisch zur Bildung neuer Wörter verwendet werden. Die Bezeichnung „lebendig“ (Englisch „living“) wird zuweilen in solchen Kontexten verwendet, allerdings ohne eine Beschränkung zu implizieren, so dass „lebendig" äquivalent zu „produktiv" ist. Laurie Bauer

→ produktiv; Produktivität; Verfügbarkeit; Wortbildungsaktivität

⇀ Aktiv (CG-Dt); Aktiv (1) (Gram-Formen); Aktiv (2) (Gram-Formen)

🕮 Fleischer, W. [1975] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., durchges. Aufl. Tübingen ◾ Kubrjakova, S. [1965] Cto takoe slovoobrazovanie. Moskow. ◾ Matthews, P.H. [1974] Morphology. Cambridge ◾ Pike, K.L. [1967] Language in Relation to a Unified Theory of the Structure of Human Behavior (JanLing-Maior-H 24). The Hague [etc.].

aktuelles Wort ≡ usuelles Wort

Akzent

Hervorhebung oder relative Prominenz an festgelegten Stellen einer sprachlichen Äußerung durch die in den einzelnen Sprachen unterschiedlich genutzten akustischen Faktoren. ▲ accent: stress or relative prominence on defined segments of a linguistic utterance by means of acoustic factors that differ in the individual languages. Der Begriff Akzent beruht auf lat. accentus ‘Betonung’ < ad-cantus ‘Dazugesungenes’. Die für die

147 Akzent Hervorhebung genutzten akustischen Faktoren sind: 1. Steigerung der Atemdruckstärke bzw. Lautstärke (Schallintensität, dynamischer Akzent, Druckakzent, exspiratorischer Akzent, Intensitätsakzent, Stärkeakzent, engl. stress accent, frz. accent d’intensité), 2. Änderung der Tonhöhe bzw. Grundfrequenz (musikalischer Akzent, chromatischer, melodischer, tonaler, tonischer Akzent, Tonhöhen-Akzent, engl. pitch accent, frz. accent musical) oder des Tonhöhenverlaufs, der sich über mehrere sprachliche Einheiten (Silben, Wörter, Wortgruppen) erstrecken kann, 3. Dehnung von Lauten (quantitativer oder temporaler Akzent, (Ton)Dauer, length, duration, accent de quantité). Gelegentlich wird auch ein Spannungsakzent oder Artikulationsakzent angenommen, also eine Akzentart, die durch gespannte Artikulation entsteht. Keiner dieser Akzenttypen ist in den natürlichen Sprachen in reiner Form anzutreffen. Es wirken stets mehrere Faktoren, etwa Atemdruck/ Längung oder Tonhöhe/Stärkeabstufung, zusammen, so dass in der Regel gemischter Akzent auftritt. Dieser kann beispielsweise vorwiegend dynamischen oder vorwiegend musikalischen Charakter haben. In der engsten Definition, die Akzent und Ton auseinanderhält, wird unter Akzent nur der unter 1. genannte Druckakzent (Druck, Nachdrucksakzent) verstanden. Hierbei erfolgt die Hervorhebung durch den Anstieg des Drucks, mit dem die pulmonale Luft durch das Ansatzrohr gepresst wird. Hervorgehoben werden können Laute, Silben, Wörter, Wortgruppen und Sätze. Der Silbenakzent kann entsprechend den Schwankungen der Exspirationsintensität eingipflig oder zweigipflig sein bzw. nach den Schwankungen des Tonfalls eben oder gleichbleibend, steigend (Akut), fallend (Gravis), steigend-fallend (Zirkumflex), fallend-steigend oder gleichbleibend-steigend-gleichbleibend sein. Für diese Parameter wird der übergeordnete Begriff Intonationen verwendet. Der Wortakzent (word stress) hebt bei einem (mehrsilbigen) Wort eine Silbe oder einen Wortteil durch den Hauptakzent oder Hauptton (Starkton, engl. primary stress, frz. accent principal) hervor. Dabei können andere Silben einen Neben-

akzent (Nebenton, engl. secondary stress, frz. accent accessoire) erhalten, also einen stärkeren oder schwächeren Nebenton (Kiparsky 1973: 92– 95), etwa in dem Beispiel Kònstantinópel. Nebenakzente lassen sich etwa auch bei den Komposita vom Hauptakzent unterscheiden. In der Literatur werden etwa die Beispiele engl. ópposítion, dt. Áugenblíck, Éisenbáhnschíene, Únterábtéilungen, Háftpflichtversícherung, Privátkránkenkásse, Rótwein/glás oder Sílber/ármband genannt (vgl. auch Behme-Gissel 2005: 57). Erfolgt eine Akzentverschiebung, übernimmt der frühere Nebenton als Gegenakzent die Rolle des Hauptakzents. Die übrigen Silben sind unbetont (Schwachton, engl. tertiary stress). Statt dieser Dreiergliederung wird auch eine Vierergliederung mit primary stress [´], secondary stress [^], tertiary stress [`] und weak stress [ ] vorgeschlagen (Antonsen 2007: 79). Über die Stufung der Akzente und die Anzahl der notwendigen distinktiven Akzentgrade gibt es zum Beispiel für das Deutsche und Englische eine rege Forschungsdiskussion. Während Moulton (1947) vier bis fünf Grade ansetzte, wurden für prosodische und versanalytische Zwecke bis zu zehn Stufen postuliert. Knobloch (1986: 83) nimmt für den Druckakzent drei bis vier Stärkeabstufungen an. Legt der Sprecher besonderen Nachdruck auf ein Wort, das bei normaler Akzentverteilung nicht genügend hervorgehoben werden würde, bedient er sich des logischen oder emphatischen Akzents, der auch, ein wenig missverständlich, als diskriminierender Akzent bezeichnet wurde: Er schreibt den Brief. Er schreibt den Bríef. Ér schreibt den Brief. Ích komme, nicht ér! Wenn der Wortakzent mit dem Versakzent nicht in Einklang steht oder zwei benachbarte Silben unter einer gemeinsamen Druckwelle vereinigt sind wie in tschech. zelený, spanilý, wird von einem schwebenden Akzent gesprochen. Schwebende Betonung tritt im Deutschen bei Verstärkungskomposita wie tághéll, héllwách, blútjúng auf; es wird also Glied für Glied betont. Diese Betonungsweise zeigt sich auch bei lautmalerischvokalvariierenden Reduplikationsbildungen wie Zíckzáck, Wírrwárr oder Síngsáng oder der Zusammenrückung Díngsdá. Von schwebender Betonung wird auch gesprochen, wenn auf allen Gliedern einer Wortbildung zumindest ein starker Akzent liegt, so in gútbǘrgerlich, fúnkelnágelnéu oder mútterséelenalléin, Báden-Báden, déutsch-

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pólnisch, Schléswig-Hólstein. Ferner kommt die schwebende Betonung bei den meisten Adjektiven und Adverbien vor, die mit all- beginnen, etwa in állwíssend (Behme-Gissel 2005: 55f.). Allerdings gibt es hier wohl eine Tendenz zur Minderbetonung von all-: állt´äglich > allt´äglich. Nach der Einwirkung auf die Lautform wird die subordinierende Betonung, bei der eine unbetonte Silbe geschwächt wird, von der koordinierenden Betonung unterschieden; bei dieser erfährt die unbetonte Silbe keine lautlichen Veränderungen. Zu unterscheiden ist grundsätzlich der Akzent als Betonung in einem (mehrsilbigen) Wort, der Wortakzent (word stress), von der Art und Weise, wie ein Wort in einem Satz eine prominente Position zum Ausdruck bringt, also von dem Wortgruppenakzent und Satzakzent (sentence stress), der als grammatischer, aber auch emphatischer Akzent auftreten kann. Die beiden als solche zu unterscheidenden Akzentformen Laut-/Silben-/Wortakzent und Wortgruppen-/ Satzakzent hängen in der Rede insofern zusammen, als der Satzakzent meist durch eine entsprechende Setzung der Wortakzente aufgebaut bzw. unterstützt wird (Bierwisch 1973, Henke 1993, Isačenko/Schädlich 1973, Kiparsky 1973: 79–92). In den europäischen „Schulsprachen“ wird der Tonhöhe die Hauptrolle hinsichtlich der Komponenten des Akzents zugesprochen. Wenngleich es sicher zutrifft, dass dem Sprecher vom System der Sprache her nicht vorgegeben ist, durch welche phonetischen Mittel er einen Wortteil hervorhebt, und es allein wichtig wäre, dass er ihn hervorhebt und auffällig macht, so werden sich hier sicher sprachspezifische normale Akzentuierungsmodi herausgebildet haben. Es wird angenommen, dass der Hörer am deutlichsten und sichersten die Hervorhebung in der tonalen Gestaltung empfindet. Im Deutschen sollen Veränderungen der Grundfrequenz gegenüber Unterschieden in der Intensität/Lautstärke vorrangige Bedeutung haben (Isačenko/Schädlich 1973). Dabei wird auch angenommen, dass zumindest im Deutschen bei der Realisierung des Akzents Verbindungen mit dem Melodieverlauf hineinspielen. Damit ist gemeint, dass die akzentuierte Stelle meist nicht nur durch die größere Intensität, sondern zugleich auch durch höhere Tonlage und größere Dauer von den übrigen abgehoben wird (vgl. Antonsen 2007: 79–83).

Der Akzent kann verschiedene Funktionen erfüllen. 1. Er signalisiert die Wortgrenze. Mit Hilfe rhythmischer Mittel kann die erste Silbe hervorgehoben werden, so im Finnischen, Ungarischen und Tschechischen. Im Polnischen wird die vorletzte Silbe (paenultima) hervorgehoben. Im Französischen wird die letzte Silbe betont oder die nächst größere Einheit, das mot phonétique; dabei gibt das Wort im Satz seine Eigenbetonung auf, im Persischen auf der letzten Silbe (oxyton). 2. Der Akzent hebt die „sinntragende“ „Stamm“silbe hervor, also die Silbe über dem Grundmorphem, das für die Bedeutung eines Wortes die zentrale Rolle spielt. Das gilt aber nur für die Simplizia, während bei den Komposita der erste Bestandteil hervorgehoben wird, welcher gerade nicht den Kern der Bedeutung versprachlicht, sondern die Modifikation der Bedeutung des Kompositums gegenüber derjenigen des Grundwortes (Behme-Gissel 2005: 50f.). So wird das Simplex Tísch betont, aber auch das Bestimmungswort in Tíschdecke und Tíschgeséllschaft, das aus artikulatorischen Gründen einen etwas stärkeren Nebenakzent auf -geséllschaft besitzt. Dazu lässt sich die Betonung im Russischen vergleichen: stól ‘Tisch’, stolóvaja ‘Mensa, Speisezimmer’, stolovój ‘Tisch-’ Adj.; auch das Lateinische zeigt signifikant andere Verhältnisse: románus, romanórum. 3. Der Akzent kann der Unterscheidung der Wortbedeutung dienen, übt also eine lexikalisch-semantische Funktion aus. Hier sind Beispiele wie übersétzen ‘aus der einen in die andere Sprache übertragen’/ǘbersetzen ‘mit einem Schwimmfahrzeug ein Gewässer überqueren’, wiederhólen ‘repetieren’/wíederholen ‘etwas zurückholen’, umgéhen ‘etwas nicht berücksichtigen, sich vor etwas drücken’/úmgehen ‘umhergeistern’ zu nennen; hier korrelieren die Betonungsverhältnisse mit der Untrennbarkeit bzw. Trennbarkeit des Erstglieds der Wortbildungskonstruktion. Bei Betonung des Erstglieds liegt generell ein kompositionelles Verhältnis bei der Wortbildung vor, während bei Nichtbetonung des Erstglieds und Untrennbarkeit in den finiten Formen das derivationelle Betonungsmuster angewandt wird, ohne dass aber die Bedeutung selbst notwendigerweise stets derivationell aufgefasst werden müsste. Die Bedeutung untrennbarer Wortbildungsprodukte mit dem Verb als Grundwort kann aber gegenüber den trennbaren lexikalisierter sein. Dafür

149 Akzent gibt es keine ausschließlichen „Regeln“, sondern nur Tendenzen, wie es für natürliche Sprachen typisch ist. Aus dem Bereich der Adjektive ist zu nennen blútarm ‘arm an Blut’ mit kompositioneller Bedeutung bei substantivischem Erstglied und blutárm ‘ganz und gar arm’ mit lexikalisierter, in den Bereich der Wortbildungsmorpheme weisender Bedeutung des Erstglieds und derivationeller Betonung. Beispiele für die akzentgestützte Bedeutungsdifferenzierung sind ferner etwa Áugust/Augúst, dámit/damít, to récord/to recórd, russ. zámok/zamók, muká/múka, slóva/slová ‘des Wortes’/‘Wörter’, ital. nócciolo ‘Stein, Kern (bot.); Kern, Hauptsache (übertragen)’/noccíolo ‘Haselnuss, Haselnussstrauch’, span. Córtes ‘spanisches Parlament’/cortés ‘höflich, zuvorkommend’, término/termíno/terminó ‘Ende’/‘ich beende’/‘er hat beendet’, serbokroat. drūga ‘meines Freundes’ mit lang-fallender Intonation/drúga ‘meine Freundin’ mit lang-steigender Intonation. 4. Der Akzent kann der Unterscheidung von Flexionsformen dienen, so in russ. bérega ‘des Ufers’/beregá ‘die Ufer’, mórja ‘des Meeres’/morjá ‘die Meere’. 5. Der Akzent dient der Unterscheidung von Wortarten, so in engl. récord/to recórd, ímport/to impórt. 6. Der Akzent kann Nebenbedeutungen und konnotative Bedeutungen hervorheben, etwa in dt. unm´öglich/únmöglich, unerh´ört/únerhört, únmenschlich/unménschlich. Aufgrund der Fähigkeit, in der gezeigten Weise Minimalpaare zu erzeugen, ist der Akzent im Sinne phonetischer Prominenz als abstrakte phonologische Größe bzw. als phonologisches Merkmal aufgefasst worden. Distinktive Funktionen kann auch der Satzakzent aufweisen. In der Wortgruppe stuft der dynamische Akzent als grammatischer Akzent die Wörter und Wortteile nach ihrem Sinnwert ein. Bei der Affektbetonung (psychologischer oder emphatischer Akzent, accent d’insistance, accent emphatique) und bei der Gegensatzbetonung (oppositiver, antithetischer, logischer Akzent) treten bewusste individuelle aussageabsichtbezogene normwidrige Akzentverlagerungen (accent intellectuel) auf (Er ist nicht érzogen, sondern vérzogen.). Davon zu unterscheiden ist die mechanische Betonung (wortmechanischer Akzent), die aus dem unbewussten Bestreben erwächst, das Silbengewicht bequemer zu verteilen (lebéndig, Holúnder).

Im Hinblick auf die Eigenschaft des Akzents, keine absolute, sondern eine relative Größe zu sein in dem Sinne, dass ein Äußerungsteil oder eine Silbe ein stärkeres Gewicht hat als ein anderer bzw. eine andere, ist die generative metrische Phonologie entwickelt worden. Sie stellt die Akzentbeziehungen oder die relativen Prominenzen von Äußerungsteilen mit Hilfe von Baumgraphen oder metrischen Bäumen (metrical trees) dar; bei ihnen wird der einzelne Knoten als s (strong) oder w (weak) bezeichnet. Ziel der metrischen Phonologie ist eine möglichst allgemeine und letztlich universelle Beschreibung des Akzents. Diese soll die möglichen Akzentmuster aller natürlichen Sprachen erfassen, die wichtigsten universellen Parameter für die Beschreibung von metrischen Bäumen der Einzelsprachen formulieren und deren Optionen aus einem Inventar von Möglichkeiten eruieren. In Bezug auf die Verteilung des Akzents innerhalb morphologischer Einheiten wird der gebundene oder feste Akzent von dem ungebundenen oder freien Akzent unterschieden. Den festen Akzent, bei dem der Akzent immer auf einer bestimmten Silbe des Wortes liegt, gibt es unter anderem im Tschechischen, Lettischen, Finnischen, Ungarischen, und zwar jeweils auf der ersten Silbe. Im Polnischen erscheint der feste Akzent gegebenenfalls auf der vorletzten Silbe, im Makedonischen auf der drittletzten Silbe, im Französischen und Persischen auf der letzten Silbe. Dabei dient in diesem Fall der Akzent zur Kennzeichnung der Wortgrenze, weshalb für ihn auch der Begriff delimitativer Akzent verwendet wird. Zu den Sprachen mit festem Akzent wird in der Regel auch das Germanische unter Einschluss des Deutschen gerechnet, indem dort beim Simplex oder einer Ableitung der Stamm bzw. bei einer Komposition das erste der beiden Wörter betont wird. Allerdings gibt es im Deutschen (siehe unten) gewisse Möglichkeiten der Variation, durch welche die Ausschließlichkeit dieser Regel nicht mehr gegeben ist, ohne dass aber deshalb der Akzent als frei bezeichnet werden könnte. Auch werden die Fremdwörter nicht in diese Akzentregel einbezogen (vgl. Behme-Gissel 2005: 79–90). Der freie oder ungebundene (bewegliche) Akzent besteht unter anderem im Russischen, Bulgarischen, Spanischen, Italienischen und Englischen. In Sprachen mit gebundenem Akzent kann dieser

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funktional als Grenzsignal aufgefasst werden. In Sprachen mit freiem Akzent können Akzentunterschiede, wie bereits oben ausgeführt, zur Unterscheidung verschiedener Wortarten dienen, so in engl. progress als Substantiv mit Anfangsakzent ['pɹəʊgɹəs] gegenüber [pɹə'gɹɛs] als Verb, oder verschiedener Wortformen, etwa in ital. canto ‘ich singe’ gegenüber cantò ‘er hat gesungen’, russ. rúki ‘die Hände’ (Nom. Pl.) – rukí ‘der Hand’ (Gen. Sg.). Vereinzelt wird dieser Akzent deshalb auch als grammatischer Akzent bezeichnet. Die Möglichkeit der Hervorhebung bedeutungstragender Einheiten wird üblicherweise den Sprachen mit freiem Akzent zugeschrieben, doch ist sie als Sonder- oder Kontrastbetonung auch in den Sprachen mit festem Akzent möglich, wo der Effekt auf dem bewussten Normbruch beruht: Das entscheidet nicht der Hausverwálter, sondern der Hausbesítzer (Behme-Gissel 2005: 53). Die oben angesprochene Ausnahme im Deutschen von einer völlig starren Regelung besteht darin, dass in einigen wenigen Fällen der verschieden gelagerte Akzent zur Unterscheidung verschiedener Lexeme genutzt werden kann, so in úmfahren ‘an X fahren, so dass X umgestoßen wird’ gegenüber umfáhren ‘um X herumfahren’. Allerdings ist dieses Phänomen sehr stark mit der teilweise unfesten, teilweise festen Verbindung des ersten Kompositionsglieds beim komponierten Verb zum verbalen Grundwort verbunden. Bei úmfahren ‘durch Anfahren umstoßen’ wird im Sinne der oben formulierten Kompositionsregel das erste Kompositionsglied in Gestalt der Präposition um betont. Der Wortcharakter dieses um zeigt sich nun daran, dass beim Gebrauch der finiten Verbformen die Präposition noch als selbstständiges, vom Verb getrenntes Wort erscheint: X fährt Y um. Bei dem Verb umfáhren hingegen, bei dem das um- in allen finiten Wortformen untrennbar ist (X umfährt Y.), könnte man argumentieren, dass hier das erste Kompositionsglied bereits als Präfixoid behandelt wird und darum seine Betonung verloren hat. Bei ǘbersetzen ‘über ein Gewässer befördern’ sind Präposition und Verb bei den finiten Formen getrennt; die Lexikonform und die infiniten Formen zeigen die Betonungsstruktur einer Komposition. Bei übersétzen ‘in eine andere Sprache übersetzen’ ist das Erstglied auch in den finiten Formen fest mit dem Verb verbunden; die Betonungsstruktur ist wie-

derum die einer Ableitung. Insoweit sind solche Fälle kein Argument gegen die Annahme eines festen Akzents für das Deutsche. Ohnehin haben bekanntlich Regeln in der Sprache nicht den Status einer naturwissenschaftlich definierten Gesetzmäßigkeit, die keine Ausnahme zulässt. Weitere Beispiele für die Bedeutungsdifferenzierung durch Betonung des Erst- bzw. Zweitgliedes (vgl. die Liste bei Behme-Gissel 2005: 33–50) sind etwa dúrchbluten (Der Verband war durchgeblutet.) – durchblúten (Ihre Hände sind nach wie vor gut durchblutet.); ´übergehen ‘verändern, überwechseln’ (Vollmilch ist durch sehr langes Schlagen in Butter übergegangen.), ‘staunen, überrascht sein’ (Dir werden die Augen noch übergehen!) – übergéhen ‘vernachlässigen, unbeachtet lassen’ (Schmerzen sollte man nicht übergehen. Bei der Beförderung ist die Mitarbeiterin übergangen worden.); úmbauen ‘baulich verändern’ (Das Gartenhäuschen wurde umgebaut und vergrößert.) – umbáuen ‘umgeben, einfassen’ (Die Häuser an der Autobahn mussten mit einer schallschluckenden Mauer umbaut werden.). Es liegt auf der Hand, dass die Akzentverhältnisse in sprachgeschichtlicher Hinsicht wesentlich an der Veränderung der Lautverhältnisse und der Phonemstruktur beteiligt sind. So sind in den germanischen Sprachen u.a. die im Vernerschen Gesetz (Ramers 1999: 21–45) begründeten konsonantischen Unterschiede, so diejenigen in den verschiedenen Formen der starken Verben, etwa ahd. was ‚war’ – wārum ‘wir waren’, die für das Deutsche als grammatischer Wechsel bezeichnet werden, eine Folge des idg. freien Akzents. Die entscheidende Wirkung des auf dem Grundmorphem eines Wortes liegenden Akzents im Germanischen besteht phonetisch darin, dass sich fast alle Vokale der unbetonten Silben zu tonlosem [ə] entwickeln, so dass in der Lautentwicklung des Germanisch-Deutschen der Bereich der Vokale im Hauptton von demjenigen der Vokale im Nebenton getrennt betrachtet werden muss. Für die Formationsmorpheme und Relationsmorpheme (Flexive) führt die Grundmorphembetonung morphologisch gesehen dazu, dass alle unbetonten Morpheme lautlich reduziert werden, so dass es neben der Schwächung der ausdrucksseitigen Konsistenz zu Morphemverschmelzungen und Morphemwegfall kommen kann. Des weiteren werden in ihrer Konsistenz

151 Akzent geschwächte Morpheme, etwa im Formativbereich oder dem Bereich der wie Formative funktionierender Wortausgänge der Lexikonformen, zum Teil durch neue Morpheme ersetzt. Das zeigt sich etwa bei dem Verlust der Produktivität des ahd. Suffixes -ī, das überwiegend zur Schaffung von Adjektivabstrakta wie etwa snellī ‘Schnelligkeit, Raschheit, Lebhaftigkeit; Tapferkeit’ verwendet wird, im Mhd. Dort hat der Nachfolger dieses Suffixes die Lautgestalt -ə, was offenbar für eine adäquate Symbolisierung der Morphemfunktion nicht mehr ausreicht, so dass das Suffix zunehmend durch -heit und sodann durch -igkeit ersetzt wird. Was die wie Formationsmorpheme wirkenden Wortausgänge betrifft, so wird etwa die Klasse der nomina agentis auf -o, vertreten etwa durch accarbigengo sw. M. ‘Bauer, Landarbeiter’, deren -o kein Formationsmorphem ist, sondern der reguläre Nominativausgang der schwachen Maskulina mit germ. -n-Stamm, deren -o sich zu mhd. -e entwickelt, bereits im Ahd. durch die Klasse der nomina agentis auf -āri > mhd. -ǣre > nhd. -er, vertreten etwa durch acarbigengiri st. M. ‘Bauer, Landarbeiter’, abgelöst, deren Formativ trotz der auch hier einsetzenden Auswirkungen der Unbetontheit noch genug morphologische Substanz aufweist, um seine Symbolisierungsfunktion ausüben zu können. Was die abgeschwächten oder wegfallenden Wortformen betrifft, so unterstützen diese die Prominenz von primär grammatische Funktionen tragenden Wörtern wie der Artikel im Fall der Genus, Numerus- und Kasussymbolisierung bei den Substantiven sowie der Pronomen im Fall der Personen- und Numerussymbolisierung bei den Verben. Insoweit die Zahl der unterschiedlichen Kasusparadigmen durch den Verfall der Formenparadigmen reduziert wird, führt dies zum Ausbau eines differenzierten Wortfeldes von Präpositionen zum lexembasierten Ausdruck der Tiefenkasus, der sich bereits ab dem Ahd. beobachten lässt, trägt also zum Wandel des Deutschen von einer flektierenden zu einer isolierenden Sprache bei. Im Bereich der Haupttonsilben führt der dortige starke Akzent zum Teil zu Wandlungen der dort befindlichen Vokale oder könnte jedenfalls zu einem solchen Wandel beitragen, wie es in der Literatur vermutet worden ist. So mag im Deutschen die Dehnung der Vokale in offener Tonsilbe (ahd. dennen sw. V. ‘ausdehnen [...]’ > nhd. deh-

nen) mit der Akzentuierung zusammenhängen. Bei dieser Frage wäre allerdings noch zu klären, warum sich bei gleichartiger Grundlage in bestimmten Fällen überhaupt eine offene, d.h. auf Vokal ausgehende und damit auf Dauer gedehnte, Tonsilbe entwickelt, in anderen Fällen, etwa bei nennen oder rennen, aber gerade nicht. Auf jeden Fall werden bei diesem Prozess bei den davon betroffenen Wörtern neue Silbenstrukturen geschaffen. Mit der Starkbetonung der betonten Vokale wird auch die nhd. Diphthongierung der mhd. Langvokale ī, ǖ und ū zu nhd. ei, eu und au in Verbindung gebracht, doch kann dieser Reihenschritt auch andere Gründe haben, zumal er im Niederdeutschen und im Alemannischen bei gleichen Voraussetzungen nicht eintritt. Schließlich wird angenommen, dass die Veränderung des ursprünglichen musikalischen Akzents im Idg. zu einem exspiratorischen oder dynamischen Akzent (über die Erhöhung des Atemdrucks) zum Zusammenfall von Hochton und Starkton im Nhd. geführt habe (Polenz 1978: 17ff.). Eckhard Meineke ≡ Betonung → Kompositum; Präfixoid; Reduplikation; Verbpartikel; Verstärkungspräfix ⇀ Akzent (Gram-Formen; Sprachphil; HistSprw; Dial; Phon-Dt) ⇁ accent (Phon-Engl)

🕮 Altmann, H./ Ziegenhain, U. [2007] Phonetik, Phonologie und Graphemik fürs Examen. 2., überarb. u. erg. Aufl. Göttingen ◾ Antonsen, E.H. [2007] Elements of German. Phonology and Morphology. Tuscaloosa ◾ Behme-Gissel, H. [2005] Deutsche Wortbetonung. München ◾ Bierwisch, M. [1973] Regeln für die Intonation deutscher Sätze. In: StGram VII. Untersuchungen über Akzent und Intonation im Deutschen. 3. Aufl. Berlin: 99– 201 ◾ Burzio, L. [1994] Principles of English Stress. Cambridge ◾ Coetsem, F. van [1996] Towards a typology of lexical accent. „Stress accent“ and „pitch accent“ in a renewed perspective. Heidelberg ◾ Dieth, E. [1950] Vademekum der Phonetik. Bern ◾ Eisenberg, P./ Ramers, K.H./ Vater, H. [Hg. 1992] Silbenphonologie des Deutschen. Tübingen ◾ Féry, C. [2000–2001] Phonologie des Deutschen. Eine optimalitätstheoretische Einführung. Potsdam ◾ Günther, C. [1999] Prosodie und Sprachproduktion. Tübingen ◾ Hall, T.A. [1992] Syllable Structure and SyllableRelated Processes in German. Tübingen ◾ Hayes, B. [1995] Metrical Stress Theory: Principles and case studies. Chicago ◾ Henke, S. [1993] Formen der Satzakzentuierung und ihr Beitrag zur Satzbedeutung in deutschen Aussagesätzen. Trier ◾ Hirt, H. [1895] Der indogermanische Accent. Straßburg ◾ Isačenko, A.V./ Schädlich, H.-J. [1973] Untersuchungen über die deutsche Satzintonation. In: Untersuchungen über Akzent und Intonation im Deutschen. 3. Aufl. Berlin: 7–67 ◾ Kiparsky, P. [1973]

A

Akzentwechsel 152

A

Über den deutschen Akzent. In: Untersuchungen über Akzent und Intonation im Deutschen. 3. Aufl. Berlin: 69–98 ◾ Klein, U.F.G. [1992] Fokus und Akzent. Bemerkungen zum Verhältnis von inhaltlicher und grammatischer Hervorhebung. 2. Aufl. Hürth-Efferen ◾ Kleinhenz, U. [1998] On Words and Phrases in Phonology. A Comparative Study with Focus on German. Diss., University of Tübingen ◾ Knobloch, J. [Hg. 1986] Sprachwissenschaftliches Wörterbuch. Bd. 1: A-E. Heidelberg ◾ Kuryłowicz, J. [1968] Indogermanische Grammatik II: Akzent. Ablaut. Heidelberg ◾ Löhken, S.C. [1997] Deutsche Wortprosodie. Abschwächungs- und Tilgungsvorgänge. Tübingen ◾ Moulton, W. [1947] Juncture in Modern Standard German. In: Lg 23: 212–226 ◾ Ramers, K.H. [1999] Historische Veränderungen prosodischer Strukturen. Analysen im Licht der nichtlinearen Phonologie. Tübingen ◾ Schindler, F./ Thürmann, E. [1971] Bibliographie zur Phonetik und Phonologie des Deutschen. Unter Mitwirkung von Christine Riek. Tübingen ◾ Schmerling, F. [1976] Aspects of English Sentence Stress. London ◾ Smith, G. [2003] Phonological Words and Derivation in German. Hildesheim [etc.] ◾ Třísková, H. [ed. 2001] Tone, Stress and Rhythm in Spoken Chinese. Berkeley ◾ Vater, H. [Hg. 1979] Phonologische Probleme des Deutschen. Tübingen ◾ Vennemann, T. [Hg. 1982] Silben, Segmente, Akzente. Referate zur Wort-, Satz und Versphonologie anläßlich der vierten Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft, Köln, 2.–4. März 1982. Tübingen ◾ von Polenz, P. [2009] Geschichte der deutschen Sprache. 10., völlig überarb. Aufl. Berlin [etc.].

Akzentwechsel

Wechsel der betonten Silbe in verschiedenen grammatischen Formen eines Wortes oder bei in einer Ableitungsbeziehung stehenden Wörtern. ▲ accent shift: change in the accentuated syllable in different grammatical forms of a word or in derivationally related words. Dass in verschiedenen Sprachen in verschiedenen grammatischen Formen eines Wortes der Akzent auf unterschiedlichen Silben liegen kann, etwa in aimér – j’áime – nous aimóns, wird im Lemma „Akzent“ an Beispielen dargestellt. Auch im Deutschen, das aus dem Germ. die Betonung auf dem Grundmorphem geerbt hat, weist bei Ableitungen, Fremd- oder Lehnwörtern bzw. Wörtern, die in einer Ableitungsbeziehung stehen, Akzentwechsel auf: Musík – Músiker, Telefón – telefoníeren, Biologíe – Biológe, fáhren – ábfahren, Jápan – Japánerin, gesúnd – úngesund. ≡ Betonungsverschiebung → Akzent ⇀ Akzentwechsel (Phon-Dt) ⇁ accent shift (Phon-Engl)

Eckhard Meineke

🕮 Eisenberg, P./ Ramers, K.H./ Vater, H. [Hg. 1992] Silbenphonologie des Deutschen. Tübingen ◾ Günther, C. [1999] Prosodie

und Sprachproduktion. Tübingen ◾ Hall, T.A. [1992] Syllable Structure and Syllable-Related Processes in German. Tübingen ◾ Schmerling, F. [1976] Aspects of English Sentence Stress. London ◾ Smith, G. [2003] Phonological Words and Derivation in German. Hildesheim [etc.].

Allograph

→ Allographie ⇀ Allograph (Schrling)

Allographie

graphische Varianz bei ein und demselben Morphem. ▲ allography: graphical variation in one and the same morpheme.

Graphische Varianten, d.h. Doppelformen in der Schreibung, kommen durch den hohen Grad an rechtschreiblicher Normierung in den entwickelten Literatursprachen nur selten vor. Im Deutschen tritt Allographie in den wenigen Fällen auf, in denen nach dem morphologischen Prinzip der Stammschreibung (auch: Morphemkonstanz, Schemakonstanz) verschiedene Herleitungen angenommen werden können, z.B. Schänke von (Aus)schank oder Schenke von (aus)schenken; aufwändig von Aufwand oder aufwendig von aufwenden. Bei einigen Fremdelementen kommt es aufgrund spezieller Laut-Buchstaben-Zuordnungen und des Nebeneinanders von fremder und integrierter Schreibung zu Allographie. Das betrifft Konfixe wie graph(ie)/graf(ie), phon/ fon, phot/fot, bei denen auch die entsprechenden Wortbildungen mehr oder weniger systematisch graphische Varianz zeigen: Mikrophon/ Mikrofon, Lexikograph(ie)/Lexikograf(ie), Photograph(ie)/Fotograf(ie). Seltener und insgesamt weniger systematisch und konsequent tritt Allographie auch bei Fremdaffixen auf: -eur/-ör (Friseur/Frisör, aber nur: Konstrukteur, Monteur, Likör). Bei Basen auf -z (Existenz, Justiz, Potenz, Substanz) weisen die entsprechenden Derivate mit dem Laut [ts] vor [i] + Vokal graphische Varianz auf: existentiell/existenziell, Existentialismus/Existenzialismus, Justitiar/Justiziar, justitiabel/justiziabel, potentiell/potenziell, substantiell/ substanziell. Eine größere Rolle spielt die Allographie in älteren Texten aus Zeiten mit fehlender oder geringer orthografischer Normierung. So finden sich z.B. in fnhd. Texten als graphische Varianten gesellen/

153 Allomorph gsellen, gesetz/gsetz, gespott/gspött, gnaden/genad (vgl. Habermann/Müller 1987: 128). Im Engl. zeigt sich in einigen Fällen Varianz zwischen dem amerikanischen und dem britischen Engl., z.B. bei -ize/-ise (modernize/modernise, specialize/specialise). Im amerikanischen Engl. wurden einige Schreibungen mit dem Ziel einer allgemeinen Vereinfachung reformiert, z.B. wurde die Endung -our zu -or gekürzt (honor, color, behavior neben honour, colour, behaviour im brit. Engl.), die roman. Endung -re (centre) durch german. -er ersetzt (center, theater, meter), vgl. Leisi/Mair (2008: 189). Zum Teil sind vereinfachte Schreibungen von Einzelwörtern auch ins britische Engl. übernommen worden (encyclopedia statt encyclopaedia), vgl. Leisi/Mair (2008: 194).

→ Nullallomorph; Stammalternation ⇀ Allographie (Schrling)

Hannelore Poethe

🕮 Amtliche Regelung [2006] Die amtliche Regelung der deutschen Rechtschreibung. In: Duden. Die deutsche Rechtschreibung. 24., völlig neu bearb. und erw. Aufl. Mannheim [etc.]: 1161–1216 ◾ Habermann, M./ Müller, P.O. [1987] Zur Wortbildung bei Albrecht Dürer. Ein Beitrag zum Nürnberger Frühneuhochdeutschen um 1500. In: ZfdPh 106. Sonderheft: Frühneuhochdeutsch. Zum Stand der sprachwissenschaftlichen Forschung: 117–137 ◾ Leisi, E./ Mair, C. [2008] Das heutige Englisch: Wesenszüge und Probleme. 9. Aufl. Heidelberg.

Allolex

≡ grammatisches Wort

Allomorph

eines der inhaltsgleichen Minimalzeichen, das zu einem bestimmten Morphem gehört. ▲ allomorph: one of the minimal signs with the same content that belongs to a given morpheme. Die in den 1940er Jahren analog zu Allophon geschaffene Bezeichnung Allomorph (Garvin 1945: 253; Nida 1948: 420 Fn. 13; 1949: 14) ist relational zu verstehen, also als „Allomorph von …“. Dabei wird eine Definition von Morphem als Menge inhaltsgleicher Minimalzeichen vorausgesetzt. Ein Allomorph ist ein Element dieser Menge. So sind im Deutschen unter anderem /n/ in Auge-n, /ǝn/ in Bett-en und /ǝr/ in Lied-er Allomorphe des Morphems {pl} und /ɑːbər/ ist das einzige Allomorph von {aber}. Da Allomorphe Zeichen mit Ausdruck und Inhalt sind, wäre es richtiger, sie als /n/ ‘pl’ usw. zu notieren, aber der Einfachheit halber wird oft nur der Ausdruck angegeben. Zuweilen werden

Allomorphe ebenso wie Morpheme in geschweiften Klammern {…} notiert (so Elsen 2014: 5), was aber den Unterschied zwischen diesen Einheiten verwischt und nicht zu der Funktion geschweifter Klammern passt, Mengen zu kennzeichnen. Die Allomorphe eines Morphems sind meistens komplementär verteilt: In einem gegebenen Kontext kann, wie in den obigen Beispielen, nur eines von ihnen auftreten. Es ist aber auch möglich, dass Allomorphe in freier Variation stehen, d.h. beliebig austauschbar sind (wobei jedoch meistens Unterschiede in der Stilebene, in der Häufigkeit oder in Alter, regionaler Herkunft oder sozialem Status der Sprecher bestehen). Das gilt z.B. für den Subjunktiv Imperfekt im Spanischen, der wahlweise durch ra oder se gekennzeichnet werden kann, wie in si cantáramos/cantásemos ‘wenn wir singen würden’. Es kommt auch vor, dass Allomorphe in manchen Kontexten komplementär verteilt sind und in anderen in freier Variation stehen. So sind im Deutschen die Diminutivsuffixe -chen und -lein meistens austauschbar, z.B. Häus-chen oder Häus-lein, aber es ist nur Büch-lein möglich und nicht *Büch-chen, nur Teilchen und nicht *Teil-lein. Wie die Beispiele zeigen, ist es durchaus zulässig, dass sich die Allomorphe eines Morphems im Ausdruck stark voneinander unterscheiden und sogar in einer Beziehung der Suppletion stehen (vgl. Nida 1949: 44). Wenn man z.B. im Deutschen -e, -er, -s usw. als Plural-Allomorphe betrachtet, ist es daher nicht korrekt, Allomorph als „geringfügig variierte Form eines Morphems“ zu erläutern (Elsen 2014: 288), und auch die Bezeichnung Morphemvariante ist nicht sehr glücklich. Einzelne Autoren erlauben dagegen keine suppletiven Allomorphe (z.B. Reformatskij 1955: 110f.) und müssen dann im Deutschen mehrere Morpheme mit dem Inhalt ‘pl’ ansetzen. Andere verlangen gerade umgekehrt, dass Allomorphe suppletiv sein müssen (z.B. Booij 2002: 174; vgl. Bonet/Lloret/Mascaró 2015: 1, wo Allomorphie als ausdrucksseitige Variation verstanden wird, die sich nicht durch morphophonemische Regeln beschreiben lässt). Sie betrachten dann /n/ in Auge-n und /ǝn/ in Bett-en nicht als Allomorphe, sondern als phonologisch zu beschreibende Varianten eines Allomorphs. Bleibt man bei der klassischen Terminologie, so sind bei der Beschreibung von Allomorphen drei Aspekte wesentlich.

A

Allomorph 154

A

1. Phonologische Verwandtschaft: Sind die Ausdrucksunterschiede zwischen den Allomorphen unregelmäßig (suppletiv) oder lassen sie sich durch Regeln erfassen, sodass die Allomorphe auf eine gemeinsame Repräsentation zurückgeführt werden können? Dafür gibt es mehrere klassische Möglichkeiten: (a) Generative Phonologie (s. Chomsky/Halle 1968: 7–14 und schon Bloomfield 1933: 211f.; Gussmann 2000): Es wird eine (oft zwischen senkrechten Strichen |…| angegebene) zugrundeliegende Repräsentation angesetzt, die mit einem der an der Oberfläche erscheinenden Allomorphe identisch sein kann, aber nicht muss. Aus ihr werden die (anderen) Allomorphe mit phonologischen Ersetzungsregeln abgeleitet. Beispielsweise kann man für die deutschen Plural-Allomorphe /n/ und /ən/ als zugrundeliegende Repräsentation |ǝn| ansetzen und daraus /n/ durch eine Regel herleiten, die /ə/ tilgt, wenn die vorangehende Silbe /ə/ enthält: |aʊɡǝ-ǝn| ‘Auge-pl’ → /aʊɡǝ-n/, |feːdərǝn| ‘Feder-pl’ → /feːdǝr-n/. Für diese Analyse spricht ferner, dass dieselbe Tilgungsregel auch auf zugrundeliegendes |ə| angewendet werden kann: |raɪtər-ə| ‘Reiter-pl’ → /raɪtər/. Zentrale Fragen bei diesem Modell sind, wie „abstrakt“ (d.h. von den Oberflächenrepräsentationen entfernt) die zugrundeliegende Repräsentation sein darf, und wie die phonologischen Regeln miteinander interagieren (s. z.B. Kenstowicz/‌Kisseberth 1979: 179–235, 291–330). (b) Archiphonem (s. Jakobson 1929: 8f.; Akamatsu 2000: 492–494): Wenn die in den Allomorphen eines Morphems miteinander alternierenden (wechselnden) Phoneme bestimmte Merkmale gemeinsam haben, die sie zugleich von allen anderen Phonemen unterscheiden, kann man sie zu einem nur teilweise spezifizierten Phonem, einem Archiphonem, zusammenfassen. So hat im Karaimischen das Morphem {1sg.poss} vier Allomorphe, die z.B. in /baʃɯm/ ‘mein Kopf’ /‌itim/ ‘mein Hund’ /qozum/ ‘meine Walnuss’ und /‌køzym/ ‘mein Auge’ auftreten. Da /ɯm/, /im/, /‌um/ und /ym/ gemeinsam haben, dass sie mit einem hohen Vokal beginnen, können sie zu /‌Im/ zusammengefasst werden, wobei /I/ für das Merkmalbündel [+V,+hoch] steht. Die fehlenden Merkmale [±vorn] und [±rund] werden mittels Regeln ergänzt. (c) Morphophonem (s. Trubetzkoy 1929; Akamat-

su 2000: 490–492): In den Allomorphen eines Morphems miteinander alternierende Phoneme oder Phonemfolgen, die nicht unbedingt gemeinsame Merkmale haben müssen, werden auf einer besonderen Ebene der Repräsentation zu sogenannten Morphophonemen zusammengefasst, für die neben der hier gewählten Notation //…// auch andere anzutreffen sind, z.B. {…} (s. Chao 1968: 45). So könnte man im Deutschen den Wechsel von /ǝ/ mit ∅ („Null“, d.h. Nichtvorhandensein eines Phonems) durch //Ǝ// repräsentieren. Den nichtalternierenden Phonemen entsprechen ebenfalls Morphophoneme, die man typischerweise mit Kleinbuchstaben angibt. So lassen sich die Plural-Allomorphe /n/ und /ǝn/ zu //Ǝn// zusammenfassen. Eine Notation mit Großbuchstaben, die man als Archiphoneme oder Morphophoneme interpretieren kann, wird auch für praktische Zwecke in Lehrwerken usw. eingesetzt. Auf diese Weise kann man in Sprachen mit Vokalharmonie wie dem Karaimischen den Wechsel zwischen den Vokalen abkürzen und muss ihn nicht bei jedem Morphem explizit angeben. Zu betonen ist, dass Allomorphe, die in einer regulären phonologischen Beziehung zueinander stehen, oberflächlich recht unähnlich sein können, wogegen in Fällen von schwacher Suppletion trotz großer Ähnlichkeit keine Regularität vorliegt, z.B. bei /fiːr/ ‘vier’ und /fɪrtəl/ ‘Viertel’ mit einem unregelmäßigen Wechsel zwischen /i:/ und /ɪ/. 2. (Äußere) Konditionierung: Von welchen Faktoren hängt es ab, welches Allomorph in einem gegebenen Kontext auftritt? (a) Phonologische Konditionierung: In dem karaimischen Beispiel sind die Allomorphe phonologisch bedingt (vgl. Neef 2000, Phonologische), denn der Vokal des Suffixes hängt allein vom letzten Vokal des Stamms ab und stimmt mit ihm in den Merkmalen [±vorn] und [±rund] überein. (Neben Segmenten im Kontext sind unter anderem auch Silbenstruktur und Akzent typische bedingende Faktoren.) Diese Vokalharmonie gilt im Karaimischen generell; die Wahl des Allomorphs ergibt sich also aus den in dieser Sprache zulässigen Abfolgen von Phonemen. Im Gegensatz dazu folgt die Wahl von /n/ oder ∅ gegenüber /ən/ bzw. /ə/ im Plural deutscher Substantive nach einem /ə/ als letztem Stammvokal nicht etwa aus einem

155 Allomorph allgemeinen Verbot von zwei /ǝ/ in aufeinanderfolgenden Silben, denn Adjektivformen dürfen zwei oder sogar drei /ə/ enthalten, z.B. /haɪtǝr-ǝ/ ‘heiter-nom.sg’ und /haɪt-ər-ǝr‑ǝ/ ‘heiter-komparnom.sg’. Diese beiden Unterarten phonologischer Konditionierung werden manchmal primär und sekundär genannt (Kastovsky 1971: 16). (b) Morphologische Konditionierung: Dass im Albanischen /mal/ ‘Berg’, /lot/ ‘Träne’ und /top/ ‘Ball’ die Plural-Allomorphe /e/, /ǝ/ bzw. /a/ verlangen, ist nicht auf phonologische Gründe zurückführbar, sondern von Merkmalen abhängig, die Teil des Inhalts sind; das nennt man morphologische Konditionierung (vgl. Neef 2000, Morphologische: 473–479). Dabei könnte man noch genauer danach unterscheiden, was für ein Faktor die Auswahl steuert. So ist es teilweise ein Merkmal, das unabhängig davon benötigt wird (z.B. Genus von Substantiven), teilweise ein „diakritisches“ Merkmal, das keinem anderen Zweck dient, als das passende Allomorph auszuwählen. Manchmal bedingt ein Affix Allomorphie in seiner Basis (z.B. erfordert dt. -chen ‘diminutiv’ (kurz ‘dim’), wann immer möglich, Umlaut im Stamm, z.B. Wort – Wört-chen) und manchmal die Basis Allomorphie im Affix (wie bei den Pluralallomorphen /n/, /ə/, /ər/ usw.). Etwas allgemeiner lassen sich nach innen gerichtete (engl. inward) und nach außen gerichtete (engl. outward) Konditionierung trennen (s. Carstairs 1990: 20). Das deckt sich nur teilweise mit einer Unterscheidung danach, ob das bedingende Element grammatische oder lexikalische Bedeutung hat (s. Matthews 1971: 116), denn im Deutschen kann das letzte Morphem eines Substantivstamms, das die Pluralbildung steuert, auch ein grammatisches sein, nämlich ein Derivationsmorphem (z.B. verlangt ‑ung /ən/, aber -nis /ə/). Insofern sind die Bezeichnungen grammatische Konditionierung und lexikalische Konditionierung, die auch anders (und nicht immer klar) verwendet werden, nicht allzu hilfreich (s. Mugdan 2015: 242). Wenn es sich bei Wort und Wört‑ in Wörtchen um Allomorphe desselben Morphems handelt, die sich per Definition im Inhalt nicht unterscheiden, so ist das mit der Annahme verbunden, dass ‘dim’ ausschließlich durch -chen ausgedrückt wird. Dahinter steht das Prinzip, dass in einem Fall, wo die Hinzufügung eines bestimmten Inhalts (hier ‘dim’) mit mehreren Veränderungen im Ausdruck (hier Addition

von -chen sowie Substitution o → ö) gekoppelt ist, nur eine davon als Ausdruck dieses Inhalts zu betrachten ist; die übrigen gelten als inhaltsleere Begleiterscheinungen („Principle of a Single Morphological Process“, s. Mel’čuk 2000: 533f.). Dabei wird man als Ausdruck von ‘dim’ -chen wählen, weil man erstens generell einem Affix den Vorzug vor einer Substitution gibt und weil zweitens bei der Diminutivbildung das Affix immer vorhanden ist, aber Umlaut nicht immer auftreten kann (wie bei Kleid – Kleid-chen). Nach einer anderen Auffassung sind in einem Fall wie Wört-chen Affix und Umlaut gleichermaßen Träger oder „Marker“ des Inhalts ‘dim’ (vgl. Wurzel 1984: 60) – und dann kann es morphologisch konditionierte Allomorphie in Stämmen prinzipiell nicht geben. (c) Syntaktische Konditionierung: Es ist auch denkbar, dass die Auswahl unter Allomorphen von syntaktischen Faktoren abhängt, z.B. der Funktion, die das betreffende Morphem im Satz hat (vgl. Neef 2000, Morphologische: 482f.). So könnte man im Englischen bei I/me, she/her, we/us jeweils ein Morphem ansetzen, das ausnahmsweise in Subjekt‑ und Objektfunktion verschiedene Allomorphe hat (vgl. Nida 1948: 422f.). Die damit verbundene Annahme, dass I und me denselben Inhalt haben, ist aber unbefriedigend. Treffender lässt sich eine solche Überdifferenzierung im Vergleich zu anderen Lexemen derselben Klasse mit einem zusätzlichen Inhaltsmerkmal, z.B. [‑objective] für I und [+objective] für me, beschreiben (vgl. Comrie 1986). Auch andere Beispiele, die für syntaktische Konditionierung genannt worden sind, vermögen nicht zu überzeugen. Sie sind aber ohnedies für die Wortbildung nicht relevant. Phonologische Verwandtschaft tritt häufig zusammen mit phonologischer Konditionierung auf; dabei gibt es sehr oft einen phonetisch plausiblen Zusammenhang zwischen den Allomorphen und den Umgebungen, in denen sie auftreten (z.B. Assimilation, Dissimilation usw.; s. Neef 2000, Phonologische: 465–468). Dagegen sind im Deutschen /vɔrt/ in [des] Wort-es, wort-los und /‌vœrt/ in Wört-er, Wört-chen, wört-lich phonologisch verwandt (/ɔ/ und /œ/ unterscheiden sich nur im Merkmal [±vorn]), aber das Auftreten von /vœrt/ ist durch bestimmte Morpheme oder Allomorphe bedingt, die entweder (wie -er ‘pl’) immer Umlaut erzwingen oder (wie -lich) nur

A

Allomorph 156

A

in bestimmten Stämmen Umlaut bewirken. Suppletive Allomorphe sind häufig morphologisch konditioniert, wie bei den deutschen Plural-Allomorphen /ə/ in Fett-e, /ən/ in Bett-en und /ər/ in Brett-er, deren Auftreten nicht phonologisch und in diesem Fall auch nicht durch den sonst oft relevanten Faktor Genus erklärbar ist. Es kommt aber durchaus vor, dass die Auswahl unter suppletiven Allomorphen von phonologischen Bedingungen abhängt (s. Carstairs 1988; 1990; Nevins 2011). Ein oft genanntes Beispiel dafür ist das Morphem {2. Person Singular} (kurz {2sg}) im Indikativ Präsens ungarischer Verben, das nach /s/, /z/ oder /ʃ/ das Allomorph /El/ hat (wobei /E/ für einen mittleren Vokal steht, dessen Merkmale [±vorn] und [±rund] durch die Vokalharmonie bestimmt werden), z.B. in /hisel/ ‘[du] glaubst’, /ɑːʃol/ ‘[du] gräbst’, /føːzøl/ ‘[du] kochst’, sonst das Allomorph /s/, z.B. in /iːrs/ ‘[du] schreibst’. Wie Tab. 1 zusammenfassend zeigt, gibt es also alle Kombinationen von phonologisch regelhafter oder suppletiver Beziehung einerseits und phonologischer oder morphologischer Konditionierung andererseits. Tab. 1: Beziehung und Konditionierung von Allomorphen phonologisch konditioniert

morphologisch konditioniert

regelhafte Beziehung

karaim. ɯm~im~um~ym dt. vɔrt~vœrt ‘Wort’ ‘1sg.poss’

suppletive Beziehung

ung. s~(el~ol~øl) ‘2sg’

dt. ə~ən~ər ‘pl’

3. Domäne (innere Konditionierung): Wie lassen sich die Morpheme bestimmen, in deren Allomorphen dieselbe Alternation (d.h. derselbe Wechsel zwischen Phonemen) auftritt? Beispielsweise haben im Deutschen viele Morpheme ein Allomorph mit Umlaut und eines ohne, z.B. Zahn – Zähnchen, Sohn – Söhnchen, Huhn – Hühnchen, Baum – Bäumchen usw. (Der Einfachheit halber werden hier die geschriebenen Formen angegeben; phonologisch ist die Alternation etwas komplizierter als [‑vorn]/[+vorn], s. Wurzel 1970: 134–154.) In Verbindung mit -chen ist der Umlaut obligatorisch, wann immer ein umlautfähiger Vokal vorliegt (sieht man von Sonderfällen wie Frauchen und dem vielzitierten, aber fiktiven Kuhchen ab). Anders verhält es sich bei dem Nominalisierungssuffix -er: Hier finden wir frag[en] – Frager ohne Umlaut und trag[en] – Träger mit

Umlaut. Die Domäne von Umlaut (die Menge der Morpheme, in deren Allomorphen Umlaut auftritt) ist also im ersten Fall phonologisch definiert, im zweiten Fall morphologisch, durch ein besonderes Inhaltsmerkmal, das man z.B. [±umlautfähig] nennen könnte. (Genauer gesagt, werden mehrere Umlautmerkmale benötigt, weil der Umlaut z.B. in der dritten Person Singular Präsens nicht genauso verteilt ist wie in Verbindung mit -er, vgl. frag-en – frag-t – Frag-er, trag-en – träg-t – Träg-er, fahr-en – fähr-t – Fahr-er, kauf-en – kauf-t – Käuf-er usw.; s. Wurzel 1970: 118–133.) Während die Annahme mehrerer nicht rein phonologisch bedingter Allomorphe bei Flexionsaffixen allgemein akzeptiert ist, weil es sich um festgefügte Systeme handelt, erweist es sich in der Derivationsmorphologie als weitaus schwieriger, zum einen zu entscheiden, ob Affixe denselben Inhalt haben und somit Allomorphe desselben Morphems sein können (z.B. bei Personenbezeichnungen wie Archiv-ar, Million-är, Fabrik-ant, Boykott-eur, Bank-ier, Alkohol-iker, Ideal-ist), und zum anderen ihre Verteilung zu beschreiben. Daher stellt sich die Frage, ob irgendetwas damit gewonnen ist, z.B. -ar, -är, -ant usw. als Allomorphe desselben Morphems zu betrachten, statt als verschiedene, miteinander konkurrierende Morpheme. Auch wenn man darüber streiten kann, was genau als Allomorphie gelten soll, ist es doch für manche Sprachen oder Teilsysteme charakteristisch, dass sie in hohem Maß suppletive Allomorphe, morphologische Konditionierung und/oder morphologisch definierte Domänen aufweisen. In anderen haben dagegen die Morpheme höchstens rein phonologisch beschreibbare Allomorphe. Das ist einer der Parameter, die in die sprachtypologische Unterscheidung zwischen den Idealtypen „flektierend“ und „agglutinierend“ eingehen (s. Plungjan 2001). Joachim Mugdan ≡ Morphemalternante; Morphemvariante; Variante → § 8, 41; Affix; Marker; Morph; Morphem; Morphonologie; Stamm; Suppletion ⇀ Allomorph (Gram-Formen; Lexik; CG-Dt; Phon-Dt) ⇁ allomorph (CG-Engl; Phon-Engl)

🕮 Akamatsu, T. [2000] Generalized representations. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 489–499 ◾ Bloomfield, L. [1933] Language. New York ◾ Bonet, E./ Lloret, M.-R./ Mascaró, J. [2015] Introduction. In: Bonet, E./ Lloret, M.-R./ Mascaró, J. [eds.] Understanding Allomor-

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Amalgamierung

≡ Zusammenrückung ⇀ Amalgamierung (SemPrag)

Ambifix

Affix, das als Präfix oder als Suffix auftreten kann

a-morphous morphology ▲ ambifix: affix which can occur as a prefix or as a suffix.

Analog zu Ambiposition für eine Adposition, die sowohl als Präposition als auch als Postposition auftritt (z.B. gegenüber in gegenüber dem Bahnhof/dem Bahnhof gegenüber), dient der Terminus Ambifix, der selten auch anstelle von Zirkumfix verwendet wird (s. Greenberg 1963: 72), für ein Affix, das sowohl als Präfix als auch als Suffix vorkommt. Seine Position kann frei variieren oder von phonologischen, morphologischen oder syntaktischen Faktoren abhängen (vgl. Marušič 2003:4–9; Paster 2009: 34–36; Rice 2011: 177f.). Beispielsweise tritt im Litauischen das Reflexivaffix si als letztes Suffix auf, wenn der Stamm nicht präfigiert ist, bei präfigierten Stämmen aber als Präfix vor der Wurzel, z.B. imperfektiv perk-a-si ‘kauf–3sg-refl (er/sie kauft für sich)’ gegenüber perfektiv nu-si-perk-a ‘perf-refl-kauf–3sg’. Da es auch Affixe gibt, die als Präfix und Infix oder als Infix und Suffix oder in allen drei Positionen vorkommen, bietet es sich an, den Terminus Ambifix auf solche Fälle auszuweiten.

→ Affix; Präfix; Suffix; Zirkumfix

Joachim Mugdan

🕮 Bauer, L. [2004] A Glossary of Morphology. Washington, DC ◾ Greenberg, J.H. [1963] Some universals of grammar with particular reference to the order of meaningful elements. In: Greenberg, J.H. [eds.] Universals of Language. Cambridge, MA: 58–90 ◾ Marušič, F. [2003] *Aff-STEM-ix: On discontinuous morphology. [Unter: https://www.academia.edu/2495382/ Aff_STEM_ix_On_discontinuous_morphology; letzter Zugriff: 08.05.2019] ◾ Paster, M. [2009] Explaining phonological conditions on affixation. Evidence from suppletive allomorphy and affix ordering. In: WStr 2: 18–47 ◾ Rice, K. [2011] Principles of affix ordering. In: WStr 4: 169–200.

a-morphous morphology

Wortbildungstheorie, die annimmt, dass komplexe Wörter durch die Anwendung von Regeln auf bereits bestehende Wörter entstehen. ▲ a-morphous morphology: theory of word-formation that conceives of complex words as arising from the application of rules to already existing words. Die „a-morphous morphology“ wurde von Anderson (1992) vorgeschlagen und hat ihren Ursprung in der Wort-und-Paradigma-Theorie von Matthews (1972). Sie basiert auf der expliziten Behauptung, dass komplexe Wörter nicht aus

A

Amplifikation 158

A

bedeutungstragenden Einheiten, den Morphemen, bestehen, sondern dass sie eher durch die Anwendung von morphologischen Regeln auf Wörter (oder zumindest auf Lexeme) gebildet werden. Anderson argumentiert, dass Morpheme im strengsten Sinne aus einer Paarung von einer einheitlichen Form mit einer einheitlichen Bedeutung bestehen; anders ausgedrückt sind Morpheme klassische Saussure'sche Zeichen. Jedoch ist die Annahme, dass Wörter aus Morphemen bestehen, problematisch: Es ist in flektierten Formen oft unmöglich, Wörter in Einheiten zu trennen, die eine eigenständige und einheitliche Bedeutung haben, da es häufig eine viel-zu-einsoder eine eins-zu-viel-Beziehung zwischen Form und Bedeutung gibt. In der „a-morphous morphology“ verknüpfen Regeln flektierende Merkmale mit ganzen Wörtern und Affigierung wird auf dieselbe Weise behandelt wie zum Beispiel Ablaut oder Reduplikation. So mag beispielsweise die regelmäßige Regel für die englische Vergangenheitsform auf folgende Art wiedergegeben werden, vgl. (1): (1) [+past] X → Xed Unregelmäßige Vergangenheitsformen können wie regelmäßige Formen behandelt werden, wenn eine Regel wie (2) für das Verb sing/sang bzw. für andere Verben, die mit einem velaren Nasal enden, angenommen wird: (2) [+past] siŋ → sæŋ oder [+past] Xiŋ → Xæŋ Im Rahmen der „a-morphous morphology“ ist es nicht nötig, eine Form wie Latein puellārum ‘Mädchen.Gen.Sg’ in ein Stammmorphem, ein Genitivmorphem und ein Singularmorphem zu trennen. Die Merkmale [Genitiv] und [Plural] können vielmehr durch eine Regel wie (3) hinzugefügt werden. (3) [genitive, -plural] Xā → Xārum „A-morphous morphology“ unterscheidet sich von der Wort-und-Paradigma-Theorie von Matthews (1972) darin, dass die Merkmale nicht in Bezug zueinander angeordnet, sondern unter bestimmten Umständen zu schichten sind. Im Laufe der letzten Dekaden hat sich die „a-morphous morphology“ in verschiedenen Richtungen entwickelt, wobei Aspekte in Theorien integriert wurden wie in Stumps (2001) Theorie der Flektion bzw. in der Theorie der „distributed morphology“, vgl. Harley/Noyer (1999). Rochelle Lieber

→ Ablaut; Morphem; replacive morphology; Wort-und-Paradigma-Modell

⇁ a-morphous morphology (Woform)

🕮 Anderson, S.R. [1992] A-morphous Morphology. Cambridge [etc.] ◾ Harley, H./ Noyer, R. [1999] Distributed Morphology. In: GlotI 4/4: 3–9 ◾ Matthews, P.H. [1972] Inflectional Morphology. A Theoretical Study Based on Aspects of Latin Verb Conjugation. Cambridge ◾ Stump, G.T. [2002] Inflectional Morphology. Cambridge.

Amplifikation

≡ Augmentation ⇀ Amplifikation (Lexik)

Amplifikativum

≡ Augmentativum

Āmreḍita

repetitives Kompositum im Sanskrit mit identischen Bestandteilen. ▲ āmreḍita: iterative Sanskrit compound with identical constituents. Von den Hindi-Grammatikern wurde eine kleine strukturelle Gruppe, die eine wiederholte Konstituente enthielt, als eine Unterklasse der Kopulativkomposita angesehen und als Āmreḍita (‘wiederholt’) bezeichnet. Sie waren schon in den ältesten vedischen Texten vorhanden. Betont waren sie auf der ersten Konstituente, während die zweite Konstituente ihren selbständigen Akzent verlor. Beispiele sind skr. dyávi-dyavi ‘Tag für Tag’, áñgād-añgāl ‘Glied um Glied’, párvaṇi-parvaṇi ‘Gelenk für Gelenk’, vgl. Whitney (1950: 488). Henzen (1965: 258) nennt als weitere Beispiele aus anderen Sprachen dazu lat. quis-quis ‘wer auch immer’ und ahd. selbselbo ‘gerade derselbe’ (vgl. auch Bloomfield 1933: 235). ≡ repetitives Kompositum → Kopulativkompositum

Susan Olsen

🕮 Bloomfield, L. [1933] Language. London ◾ Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Whitney, W.D. [1950] Sanskrit Grammar.Cambridge, MA [Unter: https://en.wikisource.org/wiki/Sanskrit_Grammar_(Whitney); letzter Zugriff: 17.06.2021].

Analogie

Mechanismus linguistischer Generalisierung, bei dem ein neues morphologisch komplexes Wort auf der Grundlage von ähnlichen, bereits existierenden komplexen Wörtern gebildet wird. ▲ analogy: mechanism of linguistic generalization

159 Analogie in which a novel, morphologically complex word is formed based on similar, already existing complex words. Jenseits der oben angeführten sehr allgemeinen Definition finden sich in der Literatur verschiedene Verwendungen des Begriffs, die ihn theorieabhängig konkretisieren. Besonders einflussreich ist die aus der junggrammatischen Tradition (vgl. v.a. Paul 1886, ausführlich diskutiert etwa in Fertig 2013) stammende Auffassung von Analogie als proportionaler Gleichung („proportionale Analogie“) in der Historischen Linguistik. Die allgemeine Form dieser Gleichung ist: a : b :: c : x. Dabei ist x häufig ein neues komplexes Wort und c dessen morphologische Basis oder eine weitere abgeleitete Form dieser Basis. Parallel ist b ein bereits existierendes komplexes Wort, das Analogon (auch „Modell“ genannt), und a dessen morphologische Basis oder eine andere morphologisch verwandte Form. Die Form der Neubildung x wird abgeleitet, indem, vermittelt über Ähnlichkeitsbeziehungen, die formale und semantische Beziehung zwischen a und b auf die Beziehung zwischen c und x übertragen wird. Ein Beispiel ist die Bildung seascape, gebildet auf der Basis von landscape (zitiert aus Bauer 1983: 96). Das Paar existierender Wörter land : landscape bildet demnach die Elemente a : b der oben genannten Gleichung. Sea ist Element c der Gleichung, die Ableitungsbasis für die Neubildung. Die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen land und landscape einerseits und zwischen land und sea andererseits bilden nun die Grundlage für die analogische Bildung seascape. Das Beispiel seascape zeigt, dass Bildungen, die nicht kompositionell als morphologische Bildungen erklärt werden können, mithilfe eines analogischen Mechanismus beschrieben werden können: Das Wort seascape besteht nicht, zumindest nicht ursprünglich, aus den Morphemen sea und scape, weil scape kein Morphem der englischen Sprache ist, oder es zumindest nicht war zu dem Zeitpunkt, als seascape gebildet wurde. Dennoch eignet sich die proportionale Gleichung auch, um Bildungen zu beschreiben, die sehr wohl als Zusammensetzung von Morphemen analysiert werden können. Ein Beispiel ist das Kompositum chair woman, bestehend aus den Konstituenten chair und woman. Die Bildung von chair woman geht auf das existierende Wort

chairman zurück, mit dem es die Konstituente chair teilt. Das Paar chair : chairman kann wieder als die Elemente a und b der oben genannten proportionalen Gleichung angesehen werden. Chair woman kann gemäß dieser Gleichung beschrieben werden, indem man annimmt, dass chair die Komponente c der Gleichung ist. Vermittelt über die gleiche Konstituente chair (a und c) kann nun chair woman als das Ergebnis der Übertragung der Ähnlichkeitsbeziehung zwischen chair (a) und chairman (b) auf das neu entstandene Ableitungspaar chair (c) und chair woman (x) beschrieben werden. Während in der Historischen Linguistik „analogischer Wandel“ überwiegend für die Flexion diskutiert und auf die Form, weniger auf die Bedeutung, bezogen wird, sind auch diachrone Wortbildungsprozesse mithilfe proportionaler Analogien beschrieben worden. Typische Phänomene sind diachrone Prozesse, die zur Herausbildung neuer Affixe führen (sog. „affix secretion“, Marchand 1969). Ein häufig zitiertes Beispiel ist die Form work-aholic und diesem Muster nachfolgende Bildungen (z.B. choc-oholic), die auf eine Reanalyse des Analogons alcoholic zurückgehen. Ein wichtiges Charakteristikum der Beschreibung diachroner, proportional analogischer Prozesse ist, dass es sich bei proportionalen Analogien häufig um Bildungen handelt, die auf ein einziges, bestimmtes Analogon zurückgehen, das darüber hinaus der Neubildung in Form und Bedeutung in sehr hohem Maße ähnlich ist. Ferner machen einschlägige Beschreibungen keine Vorhersagen darüber, welche Analogien in einem linguistischen System zu erwarten sind und welche nicht. Ein Grund dafür ist, dass in proportionalen Analogiegleichungen nicht festgelegt ist, welche Eigenschaften von Wortformen genau ausschlaggebend für die Berechnung von Ähnlichkeiten sind. Die genannten Eigenschaften der Verwendung des Begriffs der „proportionalen Analogie“ in der Literatur haben dazu geführt, dass Analogie in diesem Sinne auch in synchronen Prozessen häufig als Ursprung kreativer Einzelbildungen gilt. So findet sich die Bezeichnung „analogische Wortbildungsprozesse“ oft für Prozesse, die nicht regelhaft, vorhersagbar oder produktiv sind, und die diachron in ihrem Ursprung auf ein bestimmtes, rekonstruierbares Analogon zurück-

A

Analogie 160

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gehen (vgl. z.B. Mattiello 2017 zum englischen Wortbildungssystem). Die angenommene Unvorhersagbarkeit analogischer Neubildungen – und umgekehrt, die angenommene Vorhersagbarkeit produktiver Wortbildungsregeln – ist auch in generativen Ansätzen der Grund dafür, dass Analogie als irregulärer Mechanismus gilt (vgl. z.B. die Diskussion in Bauer 2001, Becker 1990). Eine andere für die synchrone Wortbildungsforschung einflussreiche Konkretisierung des Analogiebegriffs findet sich in sogenannten gebrauchs-, analogie- oder exemplarbasierten Theorien linguistischer Generalisierung (im Folgenden: „analogische Theorien“, z.B. Bybee 2010; Skousen 1989ff.; Daelemans/van den Bosch 2005ff.; Nosofsky 1986; Nakisa et al. 2000). Diese nehmen an, dass „Analogie“ nicht der Gegenbegriff zu regelhaftem morphologischen Verhalten ist, sondern dass alle morphologischen Prozesse analogischer Natur sind. „Analogie“ wird jedoch grundlegend anders konzipiert als in den oben genannten Ansätzen. So gehen analogische Theorien nicht davon aus, dass analogischen Prozessen immer genau ein Analogon zugrunde liegt, sondern dass in der Regel Gruppen ähnlicher Wörter (sogenannte „Gangs“) die Entstehung neuer morphologischer Bildungen beeinflussen. Ferner finden, anders als in den oben genannten Ansätzen, analogische Prozesse nicht nur zwischen sehr ähnlichen Wörtern statt, sondern können auch auf unterschiedlich starken Ähnlichkeitsbeziehungen beruhen. Aus beiden Annahmen ergeben sich Herausforderungen für die empirische Testbarkeit der Idee, dass regelhafte (im Sinne von „vorhersagbare“) Wortbildungsprozesse als analogische Prozesse modelliert werden können. Insbesondere ergibt sich, dass ein analogiebasiertes Wortbildungsmodell nur dann empirisch testbare Vorhersagen macht, wenn klar definiert ist, wie genau ein analogischer Mechanismus mit den verschiedenen Dimensionen lexikalischer Ähnlichkeitsbeziehungen im oben beschriebenen Sinne umgeht. Eine solche Formalisierung des Mechanismus nehmen komputationell implementierte analogische Modelle vor. Die bekanntesten Algorithmen sind das Generalised Context Model (GCM, Nosofsky 1986; Nakisa et al. 2001), Analogical Model of Language (AM(L), Skousen 1989; Skousen/Lonsdale/Parkinson 2002) und Tilburg Memory-Based Learner (TiMBL, Daelemans/van den Bosch 2005).

Die meisten einschlägigen Simulationsstudien beschäftigen sich mit Variationsphänomenen, die nur schwer mithilfe traditioneller Dichotomien von regelhaftem Verhalten und Ausnahme erklärbar sind. Dabei messen sie zum einen die Vorhersagekraft ihrer Modelle (etwa als Precision und Recall bei der simulierten Vorhersage in Testdaten). Zum anderen werden Simulationsstudien eingesetzt, um verschiedene grundlegende Annahmen und Vorhersagen, z.B. zur Natur lexikalischer Repräsentationen oder zur Struktur der Verteilung von Ähnlichkeitsmustern im Lexikon, zu testen. So verwenden beispielsweise Krott et al. (2001) den Algorithmus TiMBL, um die Vorhersagekraft linguistischer Merkmale auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen für Fugenmorpheme in niederländischen Komposita zu vergleichen. In ähnlicher Weise führen – im Bereich der Flexion – Dawdy-Hesterberg/Pierrehumbert (2014) vergleichende Simulationsstudien mit dem GCMAlgorithmus durch, um herauszufinden, auf welcher phonologischen Repräsentationsebene (hier: entweder auf der Ebene individueller Laute oder auf der Ebene abstrahierender Silbenstruktur) Ähnlichkeitsbeziehungen kodiert sein müssen, um eine Vorhersage nicht-katenativer Pluralmuster (sog. broken plurals) im Arabischen in einem analogischen Modell vorhersagbar zu machen. Für die Variation zwischen den englischen Nominalisierungssuffixen -ity und -ness in Neologismen zeigt Arndt-Lappe (2014) in einer Simulationsstudie mit AML, dass die Modellvorhersagen für -ity- und -ness-Ableitungen auf unterschiedlich starken Ähnlichkeitsbeziehungen beruhen. Analogien für -ity sind überwiegend lokal, d.h. beruhen auf analogischen Gangs, deren Mitglieder einander sehr ähnlich sind; Analogien für -ness dagegen beruhen auf Gangs, deren Mitglieder einander sehr viel weniger ähnlich sind. Während in exemplar- und analogiebasierten Theorien der Wortbildung angenommen wird, dass der analogische Mechanismus immer zum Einsatz kommt, wenn Neubildungen im Sprachgebrauch generiert oder verstanden werden, gehen einige gebrauchsbasierte Theorien davon aus, dass analogische Prozesse zwar allen Formen linguistischer Generalisierung zugrunde liegen (etwa im Spracherwerb), dass aber letztendlich Wissen über sprachliche Ähnlichkeitsmuster in abstrahierter Form gespeichert wird.

161 Prominent wird dieser Ansatz v.a. in der Konstruktionsmorphologie vertreten (Booij 2010a; 2010b; 2018; vgl. auch Relational Morphology, Jackendoff/Audring 2019), die davon ausgeht, dass Generalisierungen über sprachliche Muster als morphologische Schemata abgespeichert sind. Morphologische Schemata unterschiedlicher Abstraktionsgrade sind hierarchisch organisiert. Analogische Prozesse bilden dabei die Vorstufe zur schematischen Abstraktion oder entsprechen – in einigen Ansätzen – Einwort-Schemata des niedrigsten Abstraktionsgrades. Eine andere Rolle spielen Analogien in Theorien, die diskriminatives Lernen (Ramscar et al. 2010; 2013) für konstitutiv bei der Sprachverarbeitung im Mentalen Lexikon halten (Implicit Morphology, Discriminative Lexicon, Baayen et al. 2011; 2019). Auf der Basis von Korpusdaten werden Mappings zwischen Form und Bedeutung gelernt, die als gewichtete Assoziationsstärken zwischen diesen gespeichert werden. Die Stärke dieser Gewichtung hängt wesentlich von der Verteilung von Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Wortformen und zwischen Wortbedeutungen im Mentalen Lexikon ab. Gewichtsmaße in diesem Modell operationalisieren jedoch nicht nur besagte Ähnlichkeitsbeziehungen, sondern – wesentlich – die Diskriminierbarkeit eines jeden Mappings gegenüber allen anderen Mappings im Lexikon. Sabine Arndt-Lappe → § 4, 22; Konstruktionsmorphologie; Wortbildungsprozess; Wortbildungsregel ⇀ Analogie (HistSprw; Gram-Syntax; SemPrag; Phon-Dt; Dial; CG-Dt); Analogie (1) (Sprachphil); Analogie (2) (Sprachphil) ⇁ analogy (TheoMethods; CG-Engl; Phon-Engl)

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analogiebasiertes Modell Advances in Construction Morphology. Dordrecht ◾ Bybee, J. [2010] Language, Usage and Cognition. Cambridge ◾ Daelemans, W./ van den Bosch, A. [2005] Memory-Based Language Processing. Cambridge ◾ Dawdy-Hesterberg, L.G./ Pierrehumbert, J.B. [2014] Learnability and generalisation of Arabic broken plural nouns. In: Language, Cognition and Neuroscience 29 (10): 1268–1282 ◾ Fertig, D. [2013] Analogy and Morphological Change. Edinburgh ◾ Fertig, D. [2020] Analogy in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 3. New York: 1787–1801 ◾ Jackendoff, R./ Audring, J. [2019] The Texture of the Lexicon – Relational Morphology and the Parallel Architecture. Oxford ◾ Krott, A./ Baayen, R.H./ Schreuder, R. [2001] Analogy in morphology: Modeling the choice of linking morphemes in Dutch. In: Ling 39: 51–93 ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. München ◾ Mattiello, E. [2017] Analogy in Word-formation. A Study of English Neologisms and Occasionalisms. Berlin [etc.] ◾ Nakisa, R./ Plunkett, K./ Hahn, U. [2000] Single- and dual-route models of inflectional morphology. In: Broeder, P./ Murre, J.M.J. [eds.] Models of Language Acquisition. Inductive and Deductive Approaches. Oxford: 201–222 ◾ Nosofsky, R.M. [1986] Attention, similarity, and the identification-categorization relationship. In: JEP-Gen 115: 39–57 ◾ Paul, H. [1886] Principien der Sprachgeschichte. 2. Ausgabe. Halle ◾ Ramscar, M./ Dye, M./ McCauley, S.M. [2013] Error and expectation in language learning: The curious absence of "mouses" in adult speech. In: Lg 89(4): 760–793 ◾ Ramscar, M./ Yarlett, D./ Dye, M./ Denny, K./ Thorpe, K. [2010] The effects of feature‐label‐order and their implications for symbolic learning. In: CognSc 34 (6): 909–957 ◾ Skousen, R./ Lonsdale, D./ Parkinson, D.B. [eds. 2002] Analogical Modeling. Amsterdam [etc.] ◾ Skousen, R. [1989] Analogical Modeling of Language. Dordrecht.

analogiebasiertes Modell

psycholinguistisches Modell, welches auf der Annahme basiert, dass konventionalisierte Komposita die kontextfreie Interpretierbarkeit neuer Komposita determinieren, indem sie als Interpretationsmuster fungieren. ▲ analogy-based model: psycholinguistic model based on the assumption that conventionalized compounds determine the context-free interpretability of novel compounds in that they act as interpretation patterns. Das Analogiemodell hat seinen Ursprung in der griechisch-römischen Antike. Hier bezog es sich auf die Bildung regelmäßig flektierter Formen nach dem Vorbild bereits vorhandener Formen. So bestand beispielsweise die Möglichkeit, die Perfektform amavi ‘ich habe geliebt’ analog zu laudavi ‘ich habe gelobt’ zu bilden (Becker 1990: 9). In modernen analogy-based models (z.B. Derwing/​Skousen 1989, Ryder 1994) wird davon ausgegangen, dass neue, in Isolation präsentier-

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Analogiebasis 162

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te Komposita analog zu konventionalisierten und somit mental repräsentierten Komposita interpretiert werden. Die Neubildung mud man könnte z.B. beim Hörer bzw. Leser eine Assoziation mit den konventionalsierten Komposita garbage man oder milk man auslösen. Erfolgt die Interpretation in Analogie zu garbage man, so wird die Lesart ‘man who collects mud’ erzeugt. Dient hingegen milk man als Interpretationsmuster, so führt dies zu der ebenfalls möglichen Lesart ‘man who delivers mud’. In Arbeiten, die sich kritisch mit dem Analogiegedanken auseinandersetzen, wird die Einflussnahme konventionalisierter Komposita auf Neubildungen relativiert. Während Štekauer (2005) eine auf Analogie beruhende Interpretation in Einzelfällen nicht ausschließt, haben van Jaarsveld/ Coolen/Schreuder (1994) anhand von psycholinguistischen Experimenten nachgewiesen, dass die Aktivierung konventionalisierter Komposita zwar die zur Klassifizierung nominaler Sequenzen als neue Komposita benötigte Reaktionszeit verkürzt und somit zur Verarbeitung neuer Komposita beiträgt, aber keinen Einfluss auf die Interpretierbarkeit der Neubildungen hat. Heike Baeskow

→ Analogiebasis; Nomen+Nomen-Kompositum

🕮 Becker, T. [1990] Analogie und morphologische Theorie. München ◾ Derwing, B.L./ Skousen, R. [1989] Morphology in the Mental Lexicon: A New Look at Analogy. In: Booij, G./ van Marle, J. [eds.] YbMo 1989. Dordrecht [etc.]: 55–71 ◾ Ryder, M.E. [1994] Ordered Chaos. The Interpretation of English NounNoun Compounds. Berkeley [etc.] ◾ Štekauer, P. [2005] Meaning Predictability in Word Formation. Novel, context-free naming units. Amsterdam [etc.] ◾ van Jaarsveld, H.J./ Coolen, R./ Schreuder, R. [1994] The Role of Analogy in the Interpretation of Novel Compounds. In: JPsylingR 23/2: 111–137.

Analogiebasis

spezifische Schablone, die bei der Bildung eines neuen, komplexen Wortes als Vorlage dient. ▲ analogy base: specific template which serves as a base in the formation of a novel complex word. Im engeren Sinne handelt es sich bei einer Analogiebasis um eine unproduktive linguistische Schablone, die als Vorlage für eine sehr begrenzte Anzahl von Analogiebildungen dient. Ein von Motsch (1977: 187) angeführtes und von Bauer (1983: 96) zitiertes Beispiel ist das konventionalisierte deutsche Adjektiv einsam, welches als Basis für die Neubildung zweisam verwendet

wurde. Obwohl keine morphologischen Restriktionen existieren, die weitere analoge Formen wie dreisam, fünfsam, zwölfsam etc. blockieren, geht Bauer davon aus, dass pragmatische Gründe gegen eine produktive Verwendung des Musters „Numerale plus -sam“ sprechen (vgl. zweisam vs. *dreihundertneunundsechzigsam). Da jedoch die Postulierung einer nicht-arbiträren Akzeptabilitätsgrenze nicht möglich ist, kann die Analogiebasis auch im weiteren Sinne als Schablone, die zur Bildung einer beliebigen Menge neuer Wörter dient, interpretiert werden. Diese weniger restriktive Auslegung des Begriffs findet sich in Ryders (1994) Theorie zur Interpretation englischer Nomen+Nomen-Komposita im Rahmen der „Cognitive Grammar“. Als Analogiebasis fungieren hier nicht nur die Schablonen individueller Wörter wie blackmail (> whitemail), sondern auch Schablonen von Mengen von Komposita, die eine gemeinsame erste oder zweite Konstituente (ein sog. core word) aufweisen und beliebig ergänzt werden können, z.B. sealion, seaman, sea cow, seaweed oder boathouse, warehouse, tree house, firehouse. Selbst abstrakte Muster, die lediglich eine allgemeine Beziehung zwischen den beiden Konstituenten angeben, fungieren nach Ryder als Basis für weitere Analogiebildungen und werden somit zu den Schablonen gezählt. Beispiele sind Y + Container X = X that characteristically holds Y, vgl. wastebasket, bookcase, matchbox, wine glass, ice bag, sowie Location Y + X = X located in/at Y, wie in schoolroom, field mouse, housefly, river­boat. Heike Baeskow

→ analogiebasiertes Modell; linguistisches template; Nomen+Nomen-Kompositum

🕮 Bauer, L. [1983] English Word-Formation. Cambridge [etc.] ◾ Motsch, W. [1977] Ein Plädoyer für die Beschreibung von Wortbildungen auf der Grundlage des Lexikons. In: Brekle, H.E./ Kastovsky, D. [Hg.] Perspektiven der Wortbildungsforschung. Bonn: 180–202 ◾ Ryder, M.E. [1994] Ordered Chaos. The Interpretation of English Noun-Noun Compounds. Berkeley [etc.].

Analysierbarkeit

Eigenschaft von Wortbildungen, die in ihrer morphologischen Struktur als solche zu erkennen sind. ▲ analyzability: property of a word-formation to be recognizable in its morphological structure. Der Terminus wird in der Forschungsliteratur

163

anaphorisches Kompositum

eher uneinheitlich gebraucht. Mitunter wird er als Synonym zu Motiviertheit und/oder Durchsichtigkeit verwendet. In anderen Darstellungen wird die Analysierbarkeit deutlich von der Durchsichtigkeit oder der Motiviertheit von Wörtern unterschieden (vgl. u.a. Schmid 1998: 82). Bei einer so gearteten begrifflichen Differenzierung wäre Durchsichtigkeit – im Unterschied zur linguistischen Analysierbarkeit – allein abhängig vom „Bewußtsein des normalen Sprechers“ (Gauger 1992: 47). Wörter wie dt. heute oder engl. lady sind für den „normalen Sprecher“ des Deutschen bzw. des Englischen undurchsichtig, da sie sich bei synchroner Betrachtung nicht auf ein anderes, in der jeweiligen Sprache vorhandenes Wort beziehen lassen. Für den Linguisten sind beide Wörter gleichwohl analysierbar und lassen sich mithilfe der Verfahren der historischen Wortbildungsforschung bis in das Stadium ihrer Motiviertheit zurückverfolgen: dt. heute < ahd. hiutu, hiuto, aus hiu dagu ‘an diesem Tag’; engl. lady < ae. hlæfdīge < hlāf ‘Brot’ + dæge ‘Kneterin des (Brot)teigs, Bäckerin’, dann ‘Herrin, deren Brot einer isst’. Analysierbarkeit wäre mithin eine linguistische, Durchsichtigkeit eine natürlichsprachliche Kategorie. Wieder andere Darstellungen (vgl. u.a. Lipka 1971) verstehen – bei synchroner Betrachtung – unter Analysierbarkeit lediglich die strukturelle Durchsichtigkeit einer Bildung. So sei dt. Uhrmacher synchron betrachtet zwar morphologisch durchsichtig, d.h. analysierbar, jedoch nicht mehr morphosemantisch motiviert, „da ein Uhrmacher nur noch Uhren repariert oder überhaupt nur mehr verkauft“ (Lipka 1971: 180). Anja Seiffert

↔ Lexikalisierung → § 40; Demotivation; Durchsichtigkeit; Motivation; Undurchsichtigkeit

⇀ Analysierbarkeit (CG-Dt) ⇁ analyzability (CG-Engl)

🕮 Gauger, H.-M. [1992] Zum richtigen Ansatz in der Wortbildung. In: Ágel, V. [Hg.] Offene Fragen, offene Antworten in der Sprachgermanistik. Tübingen: 45–52 ◾ Lipka, L. [1971] Ein Grenzgebiet zwischen Wortbildung und Wortsemantik: die Partikelverben im Englischen und Deutschen. In: Bausch, K.-R./ Gauger, H.-M. [Hg.] Interlinguistica. Sprachvergleich und Übersetzung. Festschrift zum 60. Geburtstag von Mario Wandruszka. Tübingen: 180–189 ◾ Schmid, H.-U. [1998] -lîh-Bildungen: vergleichende Untersuchungen zu Herkunft, Entwicklung und Funktion eines althochdeutschen Suffixes. Göttingen.

anaphorisches Kompositum

Kompositum, dessen Interpretation von einem bereits im Kontext ausgedrückten Zusammenhang abhängt. ▲ anaphoric compound: compound whose interpretation is gleaned from a relation already expressed in the context. Ein neugeformtes Determinativkompositum ist im Allgemeinen nicht darin beschränkt, welche Relation es zwischen den Head- und den NichtHead-Konstituenten auszudrücken vermag. Diese Eigenschaft von Komposita bezeichnete Allen (1978) als die „Variable R“-Bedingung und Bauer (1978: 122) als die „Steht in einer Beziehung zu“Bedingung. Zimmer (1971) und Downing (1977) sprachen von einem „passenden klassifizierenden Zusammenhang“ zwischen den Konstituenten, eine Eigenschaft, die von Dowty (1979: 316) in seiner Formel für die Interpretation von Komposita genutzt wurde, um die unterspezifizierte Relationsvariable einzuschränken. Hört man beispielsweise das Primärkompositum lawyer joke ‘Anwaltwitz’ zum ersten Mal, so ist seine Interpretation mehrdeutig, da mehr als ein Zusammenhang zwischen „Anwalt“ und „Witz“ möglich ist, wie in ‘ein Witz, erzählt über Anwälte’/‘ein Witz, oft erzählt von Anwälten’, etc. Bei einem anaphorischen Kompositum ist eine plausible Wahl für die Interpretation seines unausgesprochenen Zusammenhangs bereits ein Teil des Kontextes. So klingt, um ein Beispiel von Meyer (1993) zu nutzen, das Kompositum Sammlermuseum außerhalb des Kontextes etwas seltsam. Museen werden aus Materialien hergestellt (Ziegelmuseum), sie zeigen bestimmte Exponate (Buchmuseum), sie gehören oder werden geleitet von einer Institution (Bezirksmuseum), etc. Hingegen scheint das Konzept „Sammler“ zu keinem dieser Hauptkontexte gut zu passen. Erscheint es aber im Anschluss an den folgenden Mini-Kontext, der den intendierten Zusammenhang explizit macht, so ist das Kompositum überhaupt nicht ungewöhnlich (vgl. Meyer 1993: 189ff.): (1) Bremen hat das erste Museum in Europa eröffnet, das Leihgaben von Sammlern ausstellt. Das Sammlermuseum war ein Erfolg. Das Kompositum Sammlermuseum steht in einer anaphorischen Verbindung zu der vorher ausge-

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Anreihkompositum 164

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drückten Proposition, da es auf Information zurückverweist, die im Kontext vorliegt. Susan Olsen

→ appropriately classificatory relation; Determinativkomposi-

tum; Kontextkompositum; Neubildung; variable R condition

⇁ anaphoric compound (Woform)

🕮 Allen, M.R. [1978] Morphological Investigations. Ph.D. Diss. Storrs, CT ◾ Bauer, L. [1978] The Grammar of Nominal Compounding. Odense ◾ Downing, P. [1977] On the creation and use of English compound nouns. In: Lg 53: 810–842 ◾ Dowty, D.R. [1979] Word Meaning and Montague Grammar. Dordrecht [etc.] ◾ Meyer, R. [1993] Compound comprehension in isolation and in context. Tübingen ◾ Zimmer, K. [1971] Some General Observations about Nominal Compounds. In: WPLgU 5: C1-C21.

vorgänge. Tübingen ◾ Lüttel, V. [1981] Kάς und καί. Dialektale und chronologische Probleme im Zusammenhang mit Dissimilation und Apokope. Göttingen ◾ van Lessen Kloeke, W. [1982] Deutsche Phonologie und Morphologie. Merkmale und Markiertheit. Tübingen.

Apophonie ≡ Ablaut

Appellativierung

≡ deonymische Wortbildung ⇀ Appellativierung (HistSprw)

Applikation, funktionale → funktionale Applikation

Anreihkompositum

≡ Bandwurmkompositum

Applikativ

Antonymie

→ Wortbildungsantonymie ⇀ Antonymie (CG-Dt; SemPrag; Lexik)

Apokope

Vorgang und Ergebnis des Abfalls eines Sprachlauts, mehrerer Sprachlaute oder einer Silbe am Wortende. ▲ apokope: process and result of the loss of a speech sound, several speech sounds or a syllable at the end of a word. Der Begriff wurde aus gr. apokope ‘das Wegschneiden’ gewonnen. Von diesem Abfall am Wortende ist vor allem der schwachtonige Vokal [ǝ] betroffen, was etwa beim Sprachwandel des Germanisch-Deutschen beobachtet werden kann, so bei der Entwicklung der nominalen Flexion: im Walde > im Wald, dem Freunde > dem Freund. Apokope kann auch im Syntagma vor dem anlautenden Vokal des Folgeworts auftreten, so in span. un buen amigo ‘ein guter Freund’ zu bueno. Gegenüber der genannten weiteren Definition der Apokope, die auf die Antike zurückgeht, gibt es eine engere, welche nur die Unterdrückung eines auslautenden Vokals vor einem Anlautkonsonanten als Apokope bezeichnet. Eckhard Meineke

→ Synkope ⇀ Apokope (Gram-Formen; Onom; HistSprw; Dial; Phon-Dt)

🕮 Lindgren, K.B. [1953] Die Apokope des mittelhochdeutschen -e in seinen verschiedenen Funktionen. Helsinki ◾ Löhken, S.C. [1997] Deutsche Wortprosodie. Abschwächungs- und Tilgungs-

abgeleitete Form eines Verbs, die es erlaubt, eine sonst oblique realisierte Angabe als Objekt des Verbs zu realisieren. ▲ applicative: derived form of a verb which enables the realization of an expression as a direct object which would otherwise be realized in an oblique form. Die (in gewissen afrikanischen, amerikanischen und austronesischen Sprachen vertretenen) Applikativkonstruktionen sind im prototypischen Fall dadurch charakterisiert, dass das Verb mit einem Applikativmorphem versehen ist und ein Objekt hat, das in der nicht-applikativen Verwendung des Verbs in einer Präpositionalphrase oder anderweitig oblique realisiert wäre. Das deutsche Präfix be- wird manchmal als Applikativmorphem angesehen in Verwendungen wie das Haus bewohnen (vgl. im Haus wohnen), die Wand (mit Zetteln) bekleben (vgl. die Zettel an die Wand kleben). Aus diesen Beispielen ist ersichtlich, dass die Hinzufügung eines Applikativmorphems zu einer Valenzerhöhung oder zu einer Verdrängung des sonst vom Verb selegierten direkten Objekts führen kann. Das applizierte Objekt kann sprachübergreifend am häufigsten eine der folgenden thematischen Rollen aufweisen: Benefiziens, Instrument, Lokation, Ziel (auch im Sinne von Empfänger). Bisweilen wird der Begriff „Applikativkonstruktion“ auf Konstruktionen ausgedehnt, die kein (overtes) Applikativmorphem aufweisen, die sich aber sonst semantisch und syntaktisch wie typische Applikativkonstruktionen verhalten. Vgl. etwa die Analysen von Verben wie geben bei

165

appositionelles Kompositum

Pylkkänen (2002), in denen das Empfänger- und Themaargument als Argumente eines Applikativkopfes einfgeführt werden, dessen Projektion als Komplement des Verbs fungiert. Andrew McIntyre

→ Objektumsprung; Präfixverb; Valenzänderung ⇀ Applikativ (Gram-Formen) ⇁ applicative (Typol)

🕮 Baker, M.C. [1988] Incorporation. A Theory of Grammatical Function Changing. Chicago, IL [etc.] ◾ Jeong, Y. [2007] Applicatives. Structure and Interpretation from a Minimalist Perspective. Amsterdam [etc.] ◾ Peterson, D.A. [2007] Applicative Constructions. Oxford ◾ Polinsky, M. [2005] Applicative Constructions. In: Haspelmath, M./ Dryer, M./ Gil, D./ Comrie, B. [eds.] The World Atlas of Language Structures. Oxford: 442–445 ◾ Pylkkänen, L. [2002] Introducing Arguments. Cambridge, MA.

appositionelles Kompositum

Kompositum, das zwei Aspekte derselben Entität bezeichnet. ▲ appositional compound: compound that denotes two facets of the same entity. Selbst wenn der Begriff Kopulativkompositum auf die hyponymischen koordinierten Komposita des Germanischen beschränkt wird, umfasst er immer noch verschiedene semantische Gruppen. Marchand (1969: 61) spricht von additiven, attributiven und appositionellen Kopulativkomposita. Zu den additiven Kopulativa zählt er Bildungen wie fighter-bomber ‘Jagdbomber’ und roller-coaster ‘Berg- und Talbahn’, die deswegen aber nicht als additiv angesehen werden sollten, weil sie ein einziges Individuum mittels zweier gleichwertiger Eigenschaften denotieren. „Additiv“ im echten Sinne sind die Dvandvas, die zwei oder mehr Individuen zu einer Gruppe zusammenfassen, vgl. Skr. kapotolukāú ‘Taube und Eule’ (Whitney 1950: 485) sowie auch die additiven Ko-Komposita wie mordvinisch ponks.t-panar.t ‘Kleidung; lit. Hose-Hemd’, die auch teils kollektive Bedeutung übernehmen wie georgisch da-szma ‘Geschwister; Schwester-Bruder’ (Wälchli 2005). Wenn hier nicht mit klaren Kriterien gearbeitet wird, entsteht die gleiche terminologische Verwirrung, die bei dem Gebrauch der Termini Dvandva und Kopulativkompositum zu konstatieren ist. Dvandva wird nämlich häufig als Synonym für Kopulativkompositum eingesetzt, z.B. bei Marchand (1969: 41), obwohl diese zwei Termini verschiedene typologische Phänomene denotieren. Höchstens bei der Deutung des komplexen Erstglieds in Bildun-

gen wie Vater-Sohn-Konflikt, Herz-Lunge-Transplantation usw., kann man im Germanischen von additiver Bedeutung sprechen, vgl. Olsen (2004). An einer späteren Stelle in seiner Diskussion bezieht Marchand den Begriff additiv auch auf die Gruppe der Kopulativa, die er anfangs attributiv genannt hat (vgl. Marchand 1969: 61, 124) und mit der er Bildungen wie girl friend, toy tank und poison gas zusammenfasst, die er auch appositionell nennt. Es wird schnell klar, dass die Bezeichnungen additiv, attributiv und appositionell nicht in einem scharf gegeneinander abgegrenzten Sinne gebraucht werden. Als Formel für die Kopulativa gilt die Paraphrasierung „A, das auch B ist“. Diese Formel umfasst auch subsumptive Komposita wie oak tree ‘Eichbaum’ und pebble-stone ‘Kieselstein’. Die so genannten Durchschnitt-Komposita des Typs north-east ‘Nordost’, die auch bei Marchand zu den Kopulativa gehören, werden etwas restringierter durch die Formel „das, was zwischen A und B liegt“ beschrieben. Letztendlich muss also konstatiert werden, dass auch die hyponymischen Kopulativa des Germanischen verschiedene Bedeutungstypen repräsentieren wie die hyperonymischen Ko-Komposita der Süd- und Südostasiatischen Sprachen, vgl. Wälchli (2005). Nach moderner Auffassung wird der Terminus „appositionell“ also auf die produktive Kerngruppe der Kopulativkomposita bezogen, d.h. auf diejenigen, die im strikten Sinne Marchands Formel „A, das auch B ist“ exemplifizieren. SchauspielerKellner (bzw. Kellner-Schauspieler) denotiert ein Individuum, das sowohl Schauspieler als auch Kellner ist, und ist in diesem Sinne appositionell. Dies ist die Verwendungsweise von Plag (2003: 146), die auch sinnvoll ist, weil in der Paraphrase eine Apposition (Schauspieler ist Kellner/Kellner ist Schauspieler) zustande kommt wie in einer syntaktischen Phrase. „Attributiv“ ist andererseits als Bezeichnung für Marchands Typ girlfriend, woman doctor, madman angebracht, weil das Erstglied in diesen Bildungen wie ein attributives Adjektiv in einer Nominalphrase fungiert, vgl. female friend ‘weibliche Bekannte’, female doctor ‘weiblicher Arzt’, crazy man ‘verrückter Mann’. Für Fleischer/Barz (2012: 151) ist diese Gruppe an der Grenze zu den Determinativkomposita anzusiedeln, weil das Erstglied ein determinatives Verhältnis zum Ausdruck bringt. Der Typ der appositionellen Komposita existier-

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appositives Kompositum 166

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te schon in älteren Sprachstufen. Whitney (1950: 495) bspw. führt Beispiele von Karmadharayas im Sanskrit an, die eine appositionelle Interpretation erlangen, wenn ihr Erstglied ein Nomen aufweist, das wie ein Adjektiv das Zweitglied modifiziert, vgl. brahmarṣi ‘Priester-Gelehrter’, gṛhanaraka ‘Haus wie eine Höhle; lit. Haus-Höhle’. Marchand nennt weiterhin werwolf und Henzen (1965: 77) muoter-meit ‘Maria’ als Beispiele. Frühe Beispiele kommen in der Literatur des 17. Jh. vor. Shakespeare benutzt giant-dwarf ‘Riese-Zwerg’ und uncle-father ‘Onkle-Vater’. Nach Marchand wird das Muster allerdings erst ab dem 19. Jh. geläufig. In den modernen Sprachen benennen appositionelle (Kopulativ-)Komposita meist zwei (oder mehr) professionelle Tätigkeiten, vgl. actormanager, lawyer-environmentalist ‘RechtsanwaltUmweltschützer’, biochemist-immunologist ‘Biochemiker-Immunologe', composer-pianist-singer ‘Komponist-Pianist-Sänger’, dancer-choreographer-actor-designer ‘Tänzer-Choreograph-Schauspieler-Designer’. Andere Möglichkeiten sind aber auch nicht selten: goddess-nymph-mermaid ‘Göttin-Nymphe-Meerweib’, badboy-chef, cowboymoviestar, film student-friend, rockstar husband, police-chief father. Dieses Muster ist zumindest im Englischen produktiv, vgl. Olsen (2004, 2014). Seltener werden appositionelle Kombinationen auch zur Bezeichnung von Ereignissen oder Objekten gebildet, vgl. earthquake-tsunami, restaurant-nightclub und sogar die fünfgliedrige telephone-microcomputer-facsimile-answering machine-alarm clock. Susan Olsen ≡ appositives Kompositum → § 22; additives Ko-Kompositum; attributives Kompositum; Determinativkompositum; Dvandva; Ko-Kompositum; Kompositum; Kopulativkompositum ⇁ appositional compound (Woform)

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Olsen, S. [2004] The Case of Copulative Compounds. In: ter Meulen, A./ Abraham, W. [eds.] The Composition of Meaning. From Lexeme to Discourse. Amsterdam: 17–37 ◾ Olsen, S. [2014] Coordinative Structures in Morphology. In: Machicao y Priemer, A./ Nolda, A./ Sioupi, A. [Hg.] Zwischen Kern und Peripherie. Berlin [etc.]: 269–286 ◾ Plag, I. [2003] Word-Formation in English. Cambridge ◾ Wälchli, B. [2005] Co-compounds and Natural Coordination. Oxford ◾ Whitney, W.D. [1950] Sanskrit

Grammar. Cambridge, MA [https://en.wikisource.org/wiki/ Sanskrit_Grammar_(Whitney)/Chapter_XVIII; letzter Zugriff am 12.06.2021].

appositives Kompositum

≡ appositionelles Kompositum

appropriately classificatory relation

Annahme, dass die implizite Verbindung zwischen den zwei Komponenten eines Kompositums auf einer Relation beruht, die es dem Kompositum erlaubt, eine plausible Kategorie im kognitiven Klassifikationssystem des Sprechers zu benennen. ▲ appropriately classificatory relation: assumption that the implicit relationship between the two components of a compound is one that allows the compound to name a plausible category in the cognitive system of the speaker. Der Begriff „appropriately classificatory relation" stammt von Zimmer (1971, 1972), der anregte, von dem Bemühen abzurücken, eine vollständige Charakterisierung der semantischen Typen von Komposita zu geben, wie es seine auf den Gebieten der traditionellen, deskriptiven Linguistik und der frühen generativen Tradition tätigen Vorgänger (vgl. Lees 1970 und Levi 1978) versucht haben. Zimmer argumentierte damit, dass bei der Produktion eines neuen Kompositums Sprecher die zugrundeliegende Struktur „nicht mit einer Liste von möglichen Kompositionsregeln vergleichen, um zu überprüfen, ob das Kompositum dem Input einer dieser Regeln entspricht“ (Zimmer 1971: C10). Stattdessen schlug er vor, dass jeder Zusammenhang, der „appropriately classificatory“ ist, der Bildung eines Kompositums unterliegen kann. Ein Nomen A besitzt einen angemessenen klassifizierenden Zusammenhang zu einem Nomen B, „wenn ein Sprecher diese Verbindung als signifikant für die Klassifizierung und nicht für die Beschreibung von B betrachtet“ (Zimmer 1972: 4). Seiner Meinung nach wäre es falsch, nominale Komposita hinsichtlich der Satzstruktur zu definieren, wie es frühe Generativisten wie Lees (1960), Kürschner (1974) und selbst Marchand (1969) taten, ohne die Grundfunktion von Wörtern gegenüber Sätzen zu beachten, welche nämlich eher die Kategorisierung von Erfahrungen und Benennung von entstehenden Kategorien statt der Beschreibung von Fakten oder Vorgängen umfasst. Zimmers Meinung wurde von einer

167 Arbitrarität Denkweise beeinflusst, die so ähnlich bereits wesentlich früher in Bradley (1906) Ausdruck fand. In seiner Abhandlung über die semantische Offenheit von nominalen Komposita wie houseboat ‘Hausboot’, das zusätzlich zu seiner konventionellen Bedeutung ‘sowohl Haus als auch Boot’ auch die Bedeutung ‘Boot, das in einem Haus aufbewahrt wird’, ‘Boot, das zu einem Haus gehört’ oder ‘Boot, das die Bedürfnisse eines Hauses befriedigt’ tragen kann, sagt Bradley (1906: 81): „Die allgemeine Bedeutung für diese Klasse von Komposita kann ausgedrückt werden, indem gesagt wird, dass das Nomen, welches aus den zwei Nomen A und B geformt wird, ein B beschreibt, das über eine Art von Zusammenhang zu A oder zu As im Allgemeinen verfügt.“ Andere Linguisten haben sich seitdem unabhängig voneinander diesem Verständnis angenähert. Selkirk (1982: 23) stellt bei der Beschreibung der Bedeutung von Komposita fest, dass „innerhalb von pragmatischen Grenzen fast jeder Zusammenhang zwischen Head und Nicht-Head möglich zu sein scheint […]“. Bauer (1978: 122) schlägt ein implizites PRO-Verb vor, welches allen Kompositastrukturen unterliegt und unter allen kontextuellen Faktoren die Bedeutung im zu erwartenden Zusammenhang trägt. Zimmers Idee eines passend klassifizierenden Zusammenhangs bekommt zusätzliches Gewicht in Downing (1977), die betont, dass die Beziehung in einem Kompositum sich erkennbar unterscheiden kann bedingt durch die verschiedenen Klassen von Head-Nomen. Ihrer Meinung nach haben verschiedene Zusammenhänge je nach Art der Entität, auf die Bezug genommen wird, auch unterschiedliche klassifizierende Werte. So werden Menschen häufig anhand ihrer Tätigkeit sowie ihrer sexuellen oder ethnischen Identität (police woman ‘Polizeifrau’), Tiere und Pflanzen anhand ihres Aussehens oder Habitats (giraffe bird, prairie dog ‘Giraffenvogel, Präriehund’), natürliche Objekte durch ihre Zusammensetzung oder ihren Ort (salt flats, mountain stream ‘Salztonebene, Gebirgsfluss’) und synthetische Objekte ihren Zweck betreffend (banana fork ‘Bananengabel’) charakterisiert (vgl. Downing 1977: 35). Sich auf die Erkenntnisse von Zimmer und Downing stützend, formalisierte Dowty (1979: 316) die Idee eines offenen, aber auch klassifizierenden Zusammenhangs zwischen den Konstituenten

eines Kompositums, indem er die externen Argumente der im Kompositum vorhandenen Prädikate miteinander verbindet. Dies geschieht durch eine unspezifische Verbindungsvariable „R", die mit dem Prädikat der höheren Ordnung „appropriately classificatory" belegt wird. Allen (1978: 93) versuchte die Reihe der möglichen Bedeutungen eines Kompositums durch eine „Variable R“Bedingung zu charakterisieren, die sicherstellen sollte, dass die semantischen Merkmale der zwei Konstituenten inhaltlich kompatibel sind. Susan Olsen

→ Determinativkompositum; primary compound; variable R condition

⇁ appropriately classificatory relation (Woform)

🕮 Allen, M.R. [1978] Morphological Investigations. Diss. Storrs, CT ◾ Bauer, L. [1978] The Grammar of Nominal Compounding. Odense ◾ Bradley, H. [1906] The Making of English. London ◾ Downing, P. [1977] On the creation and use of English compound nouns. In: Lg 53: 810–842 ◾ Dowty, D.R. [1979] Word Meaning and Montague Grammar. Dordrecht [etc.] ◾ Kürschner, W. [1974] Zur syntaktischen Beschreibung deutscher Nominalkomposita. Tübingen ◾ Lees, R.B. [1960] The Grammar of English Nominalizations. Bloomington, IN [etc.] ◾ Lees, R.B. [1970] Problems in the Grammatical Analysis of English Nominal Compounds. In: Bierwisch, M./ Heidolph, K.E. [eds.] Progress in Linguistics. The Hague [etc.]: 174–186 ◾ Levi, J.N. [1978] The Syntax and Semantics of Complex Nominals. New York, NY [etc.] ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of PresentDay English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Selkirk, E. [1982] The Syntax of Words. Cambridge, MA [etc.] ◾ Zimmer, K. [1971] Some General Observations about Nominal Compounds. In: WPLgU 5: C1-C21.

Arbitrarität

Umstand, dass bei sprachlichen Zeichen keine naturnotwendige Beziehung zwischen Ausdrucksseite und Inhaltsseite besteht. ▲ arbitrariness: fact that there does not exist a necessary natural relationship between the form and the content of a linguistic sign. Der Begriff „Arbitrarität“ leitet sich von lat. arbitrarius ‘willkürlich’ her. de Saussure bezieht im „Cours de linguistique générale“ (1916 postum aufgrund von Vorlesungsmitschriften veröffentlicht) den Begriff „arbitraire“ (Engler 1968: 13f.) auf das Verhältnis von Ausdrucksseite (image acoustique ‘Lautbild’) und Inhaltsseite (concept) des sprachlichen Zeichens. Diese Verbindung sei insoweit arbiträr, als die Ausdrucksseite keine Beziehung zur Inhaltsseite des sprachlichen Zeichens habe („le lien unissant le signifiant au signifié est ar-

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Arbitrarität 168

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bitraire“, vgl. Ungeheuer (2004: 40), wie ja auch dasselbe Objekt der Realität in verschiedenen Sprachen anders benannt werde. So wird für den Inhalt „Baum“ im Deutschen das Wort Baum, im Englischen das Wort tree und im Französischen das Wort arbre verwendet. Daraus ergibt sich, dass eine naturnotwendige Beziehung zwischen Ausdruck (signifiant) und Inhalt (signifié) nicht besteht, sondern der Ausdruck auf menschlicher Konvention beruht. Dabei geht es nicht um das genetische Problem des Sprachursprungs, sondern um das rein funktionelle der Relation von Lautung und Bedeutung (Ungeheuer 2004: 41). Diese „Willkürlichkeit“ des sprachlichen Zeichens besagt aber nicht, dass der einzelne Sprecher ein sprachliches Zeichen frei wählen kann. Vielmehr besteht für ihn im Hinblick auf den Spracherwerb und die faktische Kommunikation eine gewohnheitsmäßige und für die Aufrechterhaltung der Kommunikation auch obligate Beziehung (Konvention), was Peter Bichsel in seiner Geschichte „Ein Tisch ist ein Tisch“ ex negativo demonstriert. Die Bildung von Neologismen ist dadurch natürlich nicht ausgeschlossen. Die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens besagt nur, dass eine naturnotwendige Beziehung zwischen Ausdruck und Inhalt nicht besteht. Alle simplizischen Wörter einer Einzelsprache sind in diesem Sinne arbiträr. Dadurch ist jedoch nicht ausgeschlossen, dass es auch motivierte Zeichen gibt, bei denen die Struktur der außersprachlichen Wirklichkeit auf die Struktur des außersprachlichen Zeichens einwirkt (aber ohne Notwendigkeit und ohne Zwangsläufigkeit der Art und Weise). Das räumt auch de Saussure an einer Stelle ein: „Une partie seulement des signes seront radicalement arbitraires, chez d’autres signes intervient un phénomène au nom duquel on peut distinguer [des degrés] d’arbitraire. [...] Le lien fondamental entre signe et idée arrive dans une partie des signes à être relativement motivé“ (Engler 1968: 14). Das Konzept der Arbitrarität bei de Saussure muss daher unbedingt im Zusammenhang seines Konzepts der Motivation relativ (Engler 1968: 36) gesehen werden, woraus sich die Unterscheidung einer relativen Arbitrarität bzw. Motiviertheit von einer absoluten Arbitrarität ergibt. Die bekanntesten in diesem Sinne motivierten Zeichen sind die Onomatopoetika, bei denen die Ausdrucksseite des sprachlichen Zeichens die Ge-

räuschkomponente des Bezeichneten aufnimmt, also Wörter wie Kikeriki für den Ruf des Hahns oder das kindersprachliche Wauwau für den Hund. Auch hier besteht eine einzelsprachliche Façon für das motivierte Zeichen, was sich im Fall von Kikeriki etwa an dem französischen cocorico oder dem englischen cock-a-doodle-doo zeigt. Das ist darin begründet, dass es für die Funktionsfähigkeit motivierter sprachlicher Zeichen nicht darauf ankommt, dass das sprachliche Zeichen im Sinne Umberto Ecos ein Duplikat seiner Vorlage ist wie die durch Jäger nachgeahmten Tierrufe, sondern nur darauf, dass eine genügend große Ähnlichkeitsbeziehung besteht. Die verschiedene Ausgestaltung onomatopoetischer Wörter in verschiedenen Sprachen zeigt, dass auch diese Zeichen insofern konventionell sind. Die Frage, ob die Wörter ihre Ausdrucksgestalt dem Wesen der bedeuteten Entität oder menschlicher Setzung und Übereinkunft verdanken (Naturalismus versus Konventionalismus), wird für die europäische Tradition der Philosophie bereits in Platons Dialog „Kratylos“ angesprochen. Die Arbitrarität ist eine faktische Eigenschaft aller simplizischen Wörter einer Sprache, das heißt derjenigen Wörter, die abgesehen von den Flexionsmorphemen für das Bewusstsein der Sprachträger zum Zeitpunkt einer bestimmten Synchronie nur aus einem nicht mehr weiter segmentierbaren Grundmorphem bestehen, also etwa Buch, Bild, Wetter, Regen. Für die Wortbildung gemäß in dieser Synchronie geltender Wortbildungsregeln gilt das jedoch nicht; Kompositionen wie Bilderbuch und Regenwetter oder Derivationen wie regnerisch oder bebildert sind in dem Sinne motiviert, dass der Sprecher aufgrund einer bestimmten Benennungsmotivation und für die Sprache geltenden Wortbildungsregeln die betreffende Bildung jederzeit erzeugen kann und dass auch der Hörer befähigt ist, die Bildung semantisch zutreffend zu analysieren. Dieses Phänomen wird mit dem Begriff „sekundäre Motiviertheit“ bezeichnet und läßt sich auch in der Syntax beobachten, wobei es angemessen erschiene, statt des Begriffs „Nichtarbitrarität“ vielmehr den Terminus „Ikonizität“ zu verwenden (vgl. Dotter 1990). Eckhard Meineke

↔ Motivation → sekundäre Motivation; Unmotiviertheit ⇀ Arbitrarität (Lexik; CG-Dt; Sprachphil; SemPrag)

169

⇁ arbitrariness (Typol; CG-Engl)

🕮 Coseriu, E. [1968] L’arbitraire du signe. Zur Spätgeschichte eines aristotelischen Begriffes. In: ArchStNeuSpLit 204: 81–112 ◾ Dotter, F. [1990] Nichtarbitrarität und Ikonizität in der Syntax. Hamburg ◾ Engler, R. [1968] Lexique de la terminologie Saussurienne. Utrecht [etc.] ◾ Lindemann, B. [1972] L’arbitraire du signe. Zur Neubestimmung eines Saussureschen Begriffs. In: Orbis 21: 275–288 ◾ Saussure, F. de [1916/1968] Cours de linguistique générale. Ed. critique par R. Engler. Wiesbaden ◾ Saussure, F. de [1916] Cours de linguistique générale. Publié par C. Bally et A. Sechehaye avec la collaboration de A. Riedlinger. Paris [etc.] ◾ Saussure, F. de [²1967] Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Berlin ◾ Ungeheuer, G. [2004] Über den arbiträren Charakter des sprachlichen Zeichens. Ein Beitrag zum Verhältnis von synchronischer und ahistorischer Betrachtungsweise in der Linguistik. In: Ungeheuer, G. [Hg.] Sprache und Kommunikation. 3. Aufl. Münster: 35–44 ◾ Wright, E.L. [1976] Arbitrariness and motivation. In: FoLg 14: 505–523.

Archaismus

zeitlich konnotierte, veraltende oder veraltete sprachliche Einheit, die noch im Bewusstsein der Sprecher ist und in gegenwartssprachlichen Texten vorkommt. ▲ archaism: linguistic unit marked in terms of time due to its antiquating or antiquated connotation which speakers remain aware of and which still occurs in contemporary texts. Archaismen sind Wörter (dt. Oheim für Onkel, tsch. šlojíř ‘Schleier’ für závoj), Lesarten (dt. Backfisch, niederl. bakvis ‘junges Mädchen’), Morpheme (dt. dem Sohne, zu zweien, after- in Afterglaube, -rede, -weisheit) oder syntaktische Fügungen (dt. sich Rats erholen für sich Rat holen, niederl. me dunkt für ik denk). Daneben begegnet nicht selten die Archaisierung der Schreibweise, etwa in dt. Circus, Capital, Photo, Roulleau. Von den Archaismen zu unterscheiden sind die sogenannten Historismen, die nicht mehr existierende, historische Gegenstände oder Sachverhalte bezeichnen (dt. Geleitgeld, Schuldturm, engl. vassal ‘Vasall, Lehnsmann’). Mitunter schließt der Begriff Archaismus aber auch Historismen mit ein (vgl. Schippan 2002: 248). Im Sprachgebrauch können Archaismen Indikatoren für Alter oder Herkunft der Sprecher sein, vgl. die unterschiedliche Verwendung von Maßeinheiten wie dt. Pfund und Kilo(gramm) oder Gramm. Auch regionale Varietäten bewahren zahlreiche Archaismen, etwa – bezogen auf den Lautstand – alem. zīt, hūs. Nach Cherubim (1988: 534) gelten sie jedoch nur dort als Achaismen, „wo sie bewußt in altertümelnden

argument linking principle Kontexten Verwendung finden“. Als Stilmittel bereits in der antiken Rhetorik bekannt, werden Archaismen bewusst eingesetzt, um bestimmte sprachliche Wirkungen zu erzielen, so etwa in literarischen Texten, wo sie je nach Kontext ironisch oder pathetisch wirken oder Zeitkolorit stiften, ferner in der politischen Rede, aber auch – meist scherzhaft oder ironisch – in der Alltagssprache (Gestatten, gnä Frau?, Wünsche wohl geruht zu haben; Wie ist dero Wohlbefinden?). Auch die Werbung bedient sich der Archaismen, vor allem dort, wo nostalgisch auf „die gute alte Zeit“ Bezug genommen wird (Cherubim 1988: 504f.). Darüber hinaus ist die beinahe durchgehende Beibehaltung von Archaismen in bestimmten Textsorten oder Funktionalstilen zu beobachten. Dies betrifft zum Beispiel religiöse oder juristische Texte, vgl. §2077 BGB: Eine letztwillige Verfügung, durch die der Erblasser seinen Verlobten bedacht hat, ist unwirksam, wenn das Verlöbnis vor dem Tode des Erblassers aufgelöst worden ist.

→ Fossilisierung ⇀ Archaismus (HistSprw; Textling; Lexik; Dial)

Anja Seiffert

🕮 Cherubim, D. [1988] Sprach-Fossilien. Betrachtungen zum Gebrauch, zur Beschreibung und zur Bewertung sogenannter Archaismen. In: Munske, H.H./ von Polenz, P./ Reichmann, O./ Hildebrandt, R. [Hg.] Deutscher Wortschatz. Lexikologische Studien. Ludwig Erich Schmitt zum 80. Geburtstag. Berlin: 525–552 ◾ Cherubim, D. [1997] Archaismus. In: Weimar, K. [Hg.] Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Bd. I: A-G. Berlin [etc.]: 125–127 ◾ Fleischer, W. [1990] Archaismen im heutigen Deutsch. In: Hörz, H. [Hg.] Soziolinguistische Aspekte der Sprachgeschichte. Dem Wirken Rudolf Großes gewidmet. (= Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Nr. 9/G) Berlin: 32–38 ◾ Mrozek, B. [2005] Lexikon der bedrohten Wörter. Reinbek ◾ Osman, N. [2007] Kleines Lexikon untergegangener Wörter. Wortuntergang seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. 13., unveränd. Aufl. München ◾ Schippan, T. [2002] Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen.

argument linking principle

Prinzip, das die Anzahl möglicher Komposita erklären soll, indem es auf die lexikalische Argumentstruktur der Konstituenten Bezug nimmt. ▲ argument linking principle: principle intended to account for the range of possible compounds by referring to the lexical argument structure of a compound’s constituents. Das Prinzip der Argumentverlinkung wurde von Lieber (1983) vorgeschlagen, um die Menge von möglichen Komposita zu erklären, indem die

A

argument linking principle 170

A

Argumentstruktur der Konstituentenlexeme berücksichtigt wird. Nach Liebers (1981) Theorie über das Lexikon werden Morpheme innerhalb der lexikalischen Komponente der Grammatik in binärverzweigende lexikalische Strukturen eingefügt. Die Knoten dieser lexikalischen Strukturen erhalten ihre Bezeichnungen mithilfe von Konventionen zur Merkmalsausbreitung, welche die morpho-syntaktischen Merkmale der Morpheme bis zu den sie dominierenden Knoten hinauftragen. Konvention IV, die auf Kompositastrukturen angewandt wird, legt fest, dass die Merkmale des rechten Stammes bis zu jenem Zweigknoten weitergegeben werden, der die zwei Komponentenlexeme dominiert. Diese einfache Vorstellung von Kompositastrukturen legt der Kombination von zwei Wortstämmen keine weiteren Restriktionen auf und sagt somit voraus, dass alle Arten von Komposita erzeugt werden sollten. Dies ist jedoch offensichtlich nicht der Fall. Kombinationen der Kategorien Adjektiv und Nomen sind sehr häufig, während die Kombinationen anderer Kategorien weniger häufig vorkommen und bestimmte Kombinationen, wie zum Beispiel die einer lexikalischen Kategorie mit einem präpositionalen Kopf, gar nicht auftreten. Lieber schlägt vor, die Argumentstruktur der Konstituenten des Kompositums zu nutzen, um die von ihrer Theorie erlaubte Übergenerierung von Kompositastrukturen zu begrenzen. Sie nimmt an, dass Verben und Präpositionen über eine lexikalisch spezifizierte Argumentstruktur verfügen. Das Prinzip der Argumentverlinkung wird dann wie folgt formuliert (Lieber 1983: 258): (1a) In der Konfiguration [ ]{V, P} [ ]α oder [ ]α [ ]{V, P}, in der α sich über alle Kategorien erstreckt, muss {V, P} in der Lage sein, alle internen Argumente zu verlinken. (1b) Wenn ein Wortstamm [ ]α frei innerhalb eines Kompositums, das auch einen Argumentnehmenden Stamm enthält, vorkommt, muss α als ein semantisches Argument des Argumentnehmenden Stammes interpretierbar sein, d.h. als ein lokatives, agentives, instrumentales, benefaktives Argument oder ein Argument der Art und Weise. Somit gibt ein Kompositum wie (to) handweave ‘handweben’ die Kategorie Verb bis zur Wortebene weiter. Da das an erster Stelle befindliche Nomen nach Liebers Annahmen keine Argu-

mentstruktur besitzt, muss es nach der zweiten Bedingung des Prinzips der Argumentverlinkung als semantisches Argument konstruiert werden, also als ein semantisches Argument der Art und Weise, d.h. ‘per Hand weben’. Weil die verbale erste Konstituente in drawbridge ‘Ziehbrücke’ ein links vorkommender Wortstamm ist, kann sie ihre Merkmale nicht an das ganze Wort weitergeben und muss deshalb ihre Argumentstruktur innerhalb des Kompositums erfüllen. Folglich überträgt die Konstituente ihr internes Argument auf den zweiten Stamm. Andere Fälle von ersten Wortstämmen mit einer Argumentstruktur folgen diesem Muster, mit Ausnahme von Fällen, in denen die Stämme mehr als ein Argument besitzen. Ein Beispiel für diese nicht möglichen Strukturen ist *put-box ‘stell-kasten’, bei dem die beiden Argumente vom Verb put ‘stellen’ nicht innerhalb des Kompositums gesättigt werden können. Des Weiteren werden Kombinationen ausgeschlossen, in denen beide Stämme ein Argument tragen, wie in *above-arrive ‘überankommen’. Wenn kein Stamm ein Argument trägt, wie bei den häufigsten Komposita-Mustern NN, AN, NA und AA, dann greift das Prinzip der Argumentverlinkung nicht. Dies hat zur Folge, dass solche Strukturen völlig frei und offen für verschiedene Interpretationen sind, was bspw. von Allens (1978) „Variable R“-Bedingung vorhergesagt wird. Das Prinzip der Argumentverlinkung ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Zunächst zwingt es allen synthetischen Komposita die Struktur in (2a) auf statt der plausibleren Struktur in (2b): (2a) [[truck][drive]er] (2b) [truck [driv er]] Da die Vererbung eines Arguments in dieser Theorie durch die Argumentverlinkung modelliert wird, erhält man die Verb-Argument-Interpretation nur, wenn zugelassen wird, dass das Verb in (2a) sein internes Argument auf die linke Konstituente etwa im einem Kompositum *truck drive ‘LKW-fahren’ überträgt. Theorien der Argumentvererbung erlauben auf der anderen Seite dem deverbalen nomen agentis driver, die Argumentstruktur seiner Basis zu ererben und das erbte thematische Argument entweder auf die erste Konstituente im Kompositum oder auf das syntaktische Argument in der Phrase driver of a truck ‘Fahrer eines LKWs’ zu übertragen (vgl. Bierwisch 1989). Ein zweites Problem

171 Argumentstruktur ist die Erklärung von komplexen Verben wie to spoon-feed, play-act, flower-arrange als Komposita. Tatsächlich werden diese Strukturen über Rückbildung aus den Grundstrukturen spoon-fed, play-acting und flower-arrangement abgeleitet. Ebenso wird auch die Annahme, dass die Kategorien N und A über keine Argumentstrukturen verfügen (Stadtbürgermeister – Bürgermeister der Stadt; weltfremd – der Welt fremd), von den meisten Linguisten nicht geteilt. Susan Olsen

→ Argumentstruktur; Argumentvererbung; variable R condition

⇁ argument linking principle (Woform)

🕮 Allen, M.R. [1978] Morphological Investigations. Diss. Storrs, CT ◾ Bierwisch, M. [1989] Event nominalizations. In: Motsch, W. [Hg.] Wortstruktur und Satzstruktur. Berlin: 1–73 ◾ Lieber, R. [1981] The Organization of the Lexicon. Bloomington, IN ◾ Lieber, R. [1983] Argument Linking and Compounding in English. In: LingInqu 14: 251–285.

Argumentstruktur

Anzahl und Art der Argumente, die mit einer lexikalischen Kategorie assoziiert werden. ▲ argument structure: number and type of arguments associated with a lexical category.

In einem lexikalischen System wie dem von Bierwisch (1989) wird ein lexikalischer Eintrag als eine Datenbank aufgefasst, die vier verschiedene Arten von Information mit der jeweiligen lexikalischen Einheit verbindet: ihre phonologische Form PF, ihre grammatikalischen Merkmale GF, ihre Argumentstruktur AS und eine Spezifizierung ihrer lexikalischen Semantik SF. Die Argumentstruktur der lexikalischen Einheit wird auf prinzipielle Weise von ihrer semantischen Repräsentation abgeleitet, indem bestimmte Einzelvariablen dieser Repräsentation mithilfe eines Lambda-Operators gebunden werden. Folglich hätte die Repräsentation des Verbs eat ‘essen’ folgende Umsetzung: seine Argumentstruktur deutet daraufhin, dass das Verb drei Argumente hat, die sich auf die Vorgangsposition, den Ausführenden der Handlung und das der Handlung unterzogene Objekt beziehen. (1) /i:t/;

[+V, -N];

(λy)

PF

GF

AS

λx

λe

[e INST [x [EAT y]]] SF

Das Nomen son ‘Sohn‘ hätte die Repräsentation in (2) mit zwei Argumenten, die den potenziel-

len Referenten und das interne Argument anzeigen: (2) /sʌn/;

[+N, -V];

λy

PF

GF

AS

λx

[[x CHILD-OF y] ʌ [MALE x]] SF

Die Abfolge der Lambda-Operatoren in der Argumentstruktur von lexikalischen Einheiten spiegelt von links nach rechts die Reihenfolge wider, in der die Argumentpositionen in der Syntax abgehandelt werden. Die Argumentstruktur im Sinne Bierwischs ist darüber hinaus durch die folgenden Prinzipien charakterisiert: 1) Jede Argumentstruktur hat ein designiertes (= „designated“) Argument. 2) Das höchste (= am weitesten rechts stehende) Argument ist das referenzielle Argument eines Nomens oder eines Verbs. 3) Das designierte Argument ist das zweithöchste Argument in einem verbalen und das höchste in einem nominalen Raster; außerdem sind designierte gekennzeichnete und referenzielle Argumente für Nomen identisch. 4) Das interne Argument geht dem designierten Argument voraus. 5) Nur interne Argumente können optional sein; Optionalität wird für Verben und Präpositionen explizit spezifiziert, bei Nomen und Adjektiven ist dies nicht notwendig, da ihre internen Argumente normalerweise fakultativ sind. Die Argumentstruktur einer lexikalischen Kategorie spielt insofern eine wichtige Rolle in der Derivation von komplexen Wörtern, als bestimmte Affixe die Argumentstruktur der lexikalischen Kategorie, die ihnen als Basis dient, systematisch übernehmen. Im von Bierwisch skizzierten lexikalischen System wird das Phänomen der Argumentvererbung prinzipiell so erklärt, dass ein Affix als ein lexikalischer Eintrag angesehen wird, der eine einzige Argumentposition λx besitzt, welche mit einem eine lexikalische Kategorie identifizierenden Merkmal assoziiert wird. Folglich ist ein Affix ein Funktor, der mit seinem Argument (d.h. der ausgewählten lexikalischen Kategorie) über funktionale Komposition verbunden wird, welche die ungesättigte Argumentstruktur des Komplements erbt. So hätte das nominalisierende Affix -ing im Englischen die folgende Darstellung, die anzeigt, dass das Argument des Affixes (= λx) ein Verb auswählt:

A

Argumentvererbung 172

A

Argumentvererbung

(3) [-V, +N];

/-Iη/;

λx

[X]

[+V, -N] Das Affix -ing fügt kein zusätzliches semantisches Material zu dem Verb hinzu, welches von ihm nominalisiert wird. Die einzige von ihm ausgelöste Änderung betrifft den Wechsel der Argumentstruktur des Verbes in die eines Nomens. (4) /i:tIη/;

[-V, +N];

λy

λx

λe

[e INST [x [EAT y]]]

Somit zeigt die nominale Argumentstruktur von eating in (4) mittels des obigen Prinzips (3) eine Argumentstruktur, bei der λe das referenzielle und das designierte Argument des komplexen Nomens eating ist. Demzufolge bezieht sich eating auf die Handlung, die durch das Verb eat ‘essen’ angezeigt wird. Des Weiteren sind die ebenfalls vom Verb eat vererbten λy und λx interne Argumente, die den zwei Komplementen in der Nominalphrase (5a) zugeordnet werden. Da beide nach Prinzip (5) optional sind, können die Beispiele in (5b) – (5d) ebenfalls vorhergesagt werden: (5a) the children’s eating of the cake ‘das Essen des Kuchens durch die Kinder’ (5b) the eating of the cake ‘das Essen des Kuchens’ (5c) the children’s eating ‘das Essen durch die Kinder’ (5d) the eating ‘das Essen’ Für eine aktuelle und ausführlichere Diskussion der Rolle der Argumentstruktur bei der Derivation vgl. Bierwisch (2015). Susan Olsen

→ Argumentvererbung; funktionale Komposition; Lexikoneintrag (1)

⇀ Argumentstruktur (Gram-Syntax; SemPrag; CG-Dt) ⇁ argument structure (Woform; Typol; CG-Engl)

🕮 Bauer, L./ Lieber, R./ Plag, I. [2013] The Oxford Reference Guide to English Morphology. Oxford ◾ Bierwisch, M. [1989] Event nominalizations. In: Motsch, W. [Hg.] Wortstruktur und Satzstruktur. Berlin: 1–73 ◾ Bierwisch, M. [2015] Word-formation and argument structure. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1056–1099 ◾ Härtl, H. [2015] Argument-structural restrictions on word-formation patterns. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 876–894 ◾ Olsen, S. [2019] Innerconnectness and variation of meaning in derivational patterns. In: SKASE Journal of Theoretical Linguistics, vol.16(1): 19–34.

Übertragung ungesättigter Argumente von der Basis auf die Argumentstruktur eines abgeleiteten Wortes. ▲ argument inheritance: passing on of unsaturated arguments from the base of a complex word into the argument structure of a derived word. Argumentvererbung bezieht sich auf die Fähigkeit von komplexen Wörtern, mithilfe von bestimmten Affixen die Argumentstruktur ihrer lexikalischen Basis zu übernehmen. Wenn solche Affixe als Kopf einer Konstruktion auftreten, können die durch sie erfolgte Derivationen bestimmte Argumente der Basiskategorie übernehmen. Beispiele werden in (1) gegeben, wo die vom Basisverb übernommenen Argumente realisieren werden in (1). Das Nomen payment ‘Bezahlung’ sowie das Adjektiv payable ‘bezahlbar’ haben das Thema des Verbs pay ‘bezahlen’ geerbt: (1a) the payment of the bill ‘die Bezahlung der Rechnung’ (1b) The bill is payable (upon presentation). ‘Die Rechnung ist (bei Vorlage) bezahlbar.’ In den frühen 1980er Jahren wurden Versuche unternommen, die Wortbildung unter den Prinzipien der Universalgrammatik (UG) zusammenzufassen, welche für die Festlegung der Syntax einer bestimmten Sprache zuständig waren. Studien von verschiedenen Linguisten, unter ihnen Lieber (1983), Selkirk (1982), Toman (1983), Williams (1981), Fabb (1984), Sproat (1985) und Pesetsky (1985), prägten den Begriff „Wortsyntax“ für die Untersuchung von komplexen Wortstrukturen, die mithilfe von parametrisierten syntaktischen Prinzipien wie der X-Bar-Theorie oder der Zuweisung von Thetarollen erzeugt werden können. Die Vorstellung von Argumentvererbung machte es möglich, die scheinbare Erfüllung von Argumentstrukturen in komplexen Wörtern ähnlich wie die von in den Phrasen der Syntax zu erklären. Sowohl im Kompositum als auch in der Nominalphrase in (2) wird das Nomen fund ‘Fonds’ als das Thema des Verbs (to) manage ‘managen’ verstanden. (2a) fund manager ‘Fondsmanager’ (2b) manager of funds ‘Manager eines Fonds’ Ausgelöst wird dies vom abgeleiteten nomen agentis manager, das das Thema-Argument seiner Basis erbt. Selkirk (1982) postulierte die

173 Argumentvererbung „First Order Projection Condition“ (FOPC), um sicherzustellen, dass thematische Rollen nur innerhalb der ersten Projektion des Kopfes zugewiesen werden können. Sproat (1985) andererseits beruft sich auf seine „Cross-categoriale Theta Grid Percolation Convention“ zur Erklärung der formalen Einschränkungen bei der Vererbung von Argumenten. Auf der anderen Seite bezog Fanselow (1988) ausdrücklich Stellung gegen solche Positionen, indem er argumentierte, dass komplexe Wörter nicht unter Prinzipien der UG fallen können. Wortstrukturen entsprechen nicht den X-BarKonfigurationen der Syntax. Die Head-Konstituente eines komplexen Wortes nimmt häufig nicht eine Position ein, die mit der Stellung eines syntaktischen Kopfes in der Phrasenstruktur einer Sprache oder mit den Kopfpositionen in den unterschiedlichen Wortstrukturen der Sprache übereinstimmt. Darüber hinaus gibt es in strukturellen Wortkonfigurationen weder leere Kategorien noch lassen sich die Bindungstheorie oder auch die Theta-Theorie auf komplexe Wörter anwenden. Die formalen Aspekte von Wortstrukturen seien laut Fanselow lernbar und gehörten somit nicht zur Domäne der UG. Auf den ersten Blick scheinen -er-Derivationen wie solche in (3) einen formalen Mechanismus von Argumentvererbung in ihrer Grammatik zu exemplifizieren. (3a) der Fahrer des Lastwagens (3b) der Leser des Buchs Eine solche Vererbung von Argumenten wird aber durch die instrumentelle Interpretation von er-Nomen blockiert, wie die Beispiele in (4) zeigen: (4a) *ein Kopierer von Aufsätzen (4b) *ein Öffner der Konservendosen Jedoch kann in der Kompositum-Version dieser Phrasen die erste Konstituente eine Interpretation als das logische Objekt der verbalen Basis sowohl in agentiver als auch in instrumenteller Lesart erfahren: (5a) Lastwagenfahrer (5b) Aufsatzkopier Interessanterweise verbieten eine Anzahl von Verben, die obligatorisch transitiv sind, die über Argumentvererbung zu erklärende Interpretation, selbst wenn die agentive Lesart intendiert ist: (6a) *der Hemmer des Appetits (6b) *der Löser des Problems

Dennoch ist die Interpretation des Erstglieds als logisches Objekt der verbalen Basis innerhalb dieser Kompositum-Strukturen möglich: (6c) der Appetithemmer (6d) der Problemlöser Fanselow nimmt an, dass Derivationen, die eine Kategorie- (und damit eine Bedeutungs-)Änderung einschließen, keine formale Argumentvererbung erlauben. Ihrer semantische Interpretation resultiert eher aus dem Erschließen einer prominenten Relation. Er geht davon aus, dass alle Argumentpositionen solcher Verben geschlossen werden, bevor das Verb dem Prozess der Suffigierung unterzogen wird. Die ObjektVerb-Lesart entsteht über einen semantischen Prozess, der auf der Grundlage der Bedeutung des Verbs das Erschließen einer prominenten Relation erlaubt (Fanselow 1981: 106). Der Schluss auf eine typische Aktivität, die mit einer verbalen Bedeutung assoziiert wird, betrifft nicht-abgeleitete agentive Nomen ebenso wie die Beispiele in (7), die keine Möglichkeit für die formale Übertragung von Argumenten bereitstellen: (7a) der Autor des Buchs (7b) der Pilot der 747 Diese Fälle sind den instrumentellen -er Lesarten insofern ähnlich, als sie nicht zulassen, dass die abhängige Nominalphrase als das logische Objekt des Basisverbs verstanden wird: (8a) *der Stift des Artikels (8b) *das Flugzeug der Briefe Auf der anderen Seite lässt Fanselow die Option der formalen Argumentstruktur bei Ereignisnomen, Partizipien und nominalen Infinitiven zu, bei denen die Derivation keine Bedeutungsänderung einschließt: (9a) das Kleben von Briefmarken auf Umschläge (9b) des Mordes angeklagt Die Idee von der formalen Argumentvererbung mittels funktionaler Komposition, die bereits von Moortgat (1981) vorgeschlagen worden war, wurde von Bierwisch (1989) wieder aufgenommen. Dies geschah im Kontext einer umfassenden Theorie zu affixaler Derivation, die nicht nur die eventive Lesart von Nominalisierungen, sondern auch deren Resultat und solche instrumentellen Variationen wie in (10) erklärt: (10a) Die Beschriftung des Packets dauerte nur eine Minute.

A

Assimilation 174

A

(10b) Die Beschriftung des Packets kann leicht gesehen werden. (10c) Die Beschriftung des Packets erlaubt seinen einfachen Transport. Susan Olsen

→ affixaler Kopf; Argumentstruktur; Derivation; funktionale Komposition

⇀ Argumentvererbung (Gram-Syntax; SemPrag) ⇁ argument inheritance (Woform)

🕮 ◾ Bierwisch, M. [1989] Event nominalizations. In: Motsch, W. [Hg.] Wortstruktur und Satzstruktur. Berlin: 1–73 ◾ Bierwisch, M. [2015] Word-formation and argument structure. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] WordFormation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1056–1099 ◾ Boase-Beier, J./ Toman, J. [1986] On Ɵ–role Assignment in German Compounds. In: FoL 20: 319–339 ◾ Fabb, N. [1984] Syntactic Affixation. Diss. Cambridge, MA ◾ Fanselow, G. [1988] „Word Syntax" and Semantic Principles. In: Booij, G./ van Marle J. [eds.] YbMo 1988. Dordrecht: 95–122 ◾ Härtl, H. [2015] Argument-structural restrictions on word-formation patterns. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 876–894 ◾ Lieber, R. [1983] Argument Linking and Compounding in English. In: LingInqu 14: 251–285 ◾ Moortgat, M. [1985] Functional composition and complement inheritance. In: Hoppenbrouwers, G.A.J./ Seuren, P.A.M./ Weijters, A. [eds.] Meaning and the lexicon. Dordrecht: 39–48 ◾ Olsen, S. [2019] Innerconnectness and variation of meaning in derivational patterns. In: SKASE Journal of Theoretical Linguistics, vol. 16(1): 19–34 ◾ Pesetsky, D. [1985] Morphology and Logical Form. In: LingInqu 16: 193–246 ◾ Selkirk, E. [1982] The Syntax of Words. Cambridge, MA [etc.] ◾ Sproat, R. [1985] On Deriving the Lexicon. Diss. Cambridge, MA ◾ Toman, J. [1983] Wortsyntax. Tübingen ◾ Williams, E. [1981] On the Notions „Lexically Related" and „Head of a Word". In: LingInqu 12: 245–274.

Assimilation

Vorgang und Ergebnis der Anpassung eines Lautsegments an einen benachbarten Laut. ▲ assimilation: process and result of the adaptation of a sound segment to an adjacent sound. Der Terminus Assimilation beruht auf lat. assimilatio ‘Ähnlichmachung’ zu assimilis ‘(sehr) ähnlich’. Bei der Assimilation erfolgt die artikulatorische Anpassung eines Sprachlautes oder allgemeiner gesagt eines Lautsegmentes in einer Sequenz an einen benachbarten Laut hinsichtlich eines Merkmals oder mehrerer Merkmale, und zwar meist im Sinne einer artikulatorischen Vereinfachung. Die Assimilation lässt sich mit dem unbewussten Bestreben verbinden, zu große Unterschiede in den Bewegungsamplituden bei der Erzeugung der Sprachlaute durch die Sprechorgane zu vermeiden, ist also Ergebnis sprachökonomischen Verhaltens. Zum Verständ-

nis der sich hier ergebenden Vorgänge ist generell die Kenntnis der Eigenarten des Sprechbewegungsablaufs (Lindner 1975) sowie die des Zusammenhangs von Merkmalsredundanz und Sprachverständlichkeit (Grassegger 1977) notwendig. Dabei kann sich die Assimilation erstens auf die beteiligten Artikulationsorgane beziehen. So besitzt das nach dem Schriftbild ausgesprochene (orthoepische) Wort [zɛnf] den mit der Zungenspitze (Apex) am oberen Zahndamm (Alveolen) gebildeten Laut [n], während das umgangssprachliche [zɛɱf] ein durch Anlegen der unteren Schneidezähne an die Oberlippe gebildetes [ɱ] aufweist, das Ergebnis der Angleichung des Apiko-Alveolars [n] an den dental-labialen Folgelaut [f] ist. Mit dem Kriterium der Artikulationsorgane ist zweitens naturgemäß das der Artikulationsstelle (Artikulationsort) verbunden. Gegenüber der morphologisch durchsichtigeren Aussprache des Infinitivs geben, [ge:bən], welche neben der Zweisilbigkeit auch das auslautende [n] bewahrt, zeigt die umgangssprachliche Lautung [ge:m] eine Assimilation des auslautenden [n] an das bilabiale [b] zu [m] ([ge:bm]) und den darauffolgenden Wegfall des [b]. Primär als Wechsel der Artikulationsart lässt sich drittens ein Fall wie die Entwicklung von mhd. elne ‘Elle’ zu nhd. Elle auffassen. Der sonore (unter Beteiligung des Nasenhöhlenresonanzraums artikulierte) Laut [n] des mhd. Wortes gleicht sich völlig an den davorstehenden nicht sonoren Liquidlaut [l] an. Viertens ist das Verhalten der Stimmlippen, das heißt das Aktivieren oder Unterlassen der Stimmtonbeteiligung, berührt in einem Fall wie das Salz, das orthoepisch mit anlautendem stimmhaftem [z] des Substantivs gesprochen würde, also [das’zalts], während in der Umgangssprache das eigentlich stimmhafte [z] des Substantivs an das stimmlose [s] des Artikelauslauts angeglichen wird: [das’salts]. Umgekehrt wird in frz. une tasse de thé ‘eine Tasse Tee’, das eigentlich mit stimmlosem [s] von tasse gesprochen werden müsste, also [ʏntasdə’te:], das stimmlose [s] an das folgende stimmhafte [d] von de angeglichen: [ʏntazdə’te:]. Das Gaumensegel (Velum) ist fünftens bei der Entwicklung beispielsweise von lat. lingua zu frz. langue [lãg] insoweit betroffen, als der durch partielles Andrücken der Zunge am vorderen harten Gaumen (Palatum) gebildete Vokal [i] sich an das

175 Assimilation velar gebildete [g] assimiliert und zu dem mit tieferer Zungelage und weiter hinten im Mundraum gebildeten sonoren [ã] wird. Zur Erhöhung der Zungenlage kommt es sechstens durch die Assimilation beispielsweise des Grundmorphemvokals [e] von ahd. werfan in den Formen wirfu ‘ich werfe’, wirfis ‘du wirfst’ und wirfit ‘er, sie wirft’ gegenüber werfamēs ‘wir werfen’ bzw. werfant ‘sie werfen’. Hier liegt eine völlige bzw. teilweise Assimilation an das in der Flexionsform folgende mit hoher Zungenlage artikulierte [i] bzw. [u] vor. Die Einflussrichtung des Assimilationsvorgangs kann vom vorausgehenden auf den nachfolgenden Sprachlaut ausgehen, so dass der nachfolgende Laut an den vorausgehenden angeglichen wird. In diesem Fall spricht man von perseverierender, repetitiver oder progressiver Assimilation. Der seine Assimilationskraft entfaltende Laut wirkt, bezogen auf die in einem Zeitkontinuum verlaufende Artikulationskette, sozusagen von links nach rechts bzw. von früher nach später. Das ist etwa bei ahd. zimbar, mhd. zimber im Vergleich zu nhd. Zimmer der Fall; das vorstehende [m] gleicht das nachfolgende [b] an sich an. Das Analoge gilt für rufen, das in der Umgangssprache als [ru:fm] gesprochen wird; hier ist das durch Assimilation entstandene bilabiale [m] der Artikulationsstelle des dentilabialen [f] näher als das frühere apiko-alveolare [n]. Man vergleiche auch [lipṃ] ‘Lippen’ mit an die Aussprache des p assimiliertem silbischen m; analog [ha:bṃ] ‘haben’. Weiterhin: lat. hominem > frz. homme. Demgegenüber liegt dann, wenn ein folgender Laut den vorausgehenden an sich angleicht, eine antizipierende oder regressive Assimilation vor. So ist die Pluralform von ahd. gast ‘Gast’ das aufgrund der i-haltigen Flexionsform umgelautete gesti ‘Gäste’, als dessen Vorform ein nicht umgelautetes *gasti anzusetzen ist. Eine antizipierende Assimilation liegt auch bei der Entwicklung von mhd. hōchvart ‘edler Stolz, äußere Pracht, Übermut’ zu nhd. Hoffahrt zugrunde, wobei das velare ch völlig an das dentilabiale f angeglichen wird, bei der Entwicklung von ahd. inbiz/inbīz > Imbiss und in dem oben beschriebenen Fall der umgangssprachlichen Artikulation von Senf; ein vergleichbarer Fall ist die umgangssprachliche Angleichung in [fymf] ‘fünf’. Im Vergleich zur lat. Akkusativform noctem ‘die Nacht’ zeigt ital. notte

die Assimilation des [k] an das nachfolgende [t]. Man vergleiche weiterhin [n] > [ŋ] in Dank [daŋk] oder sinkt [ziŋkt], lat. domina > it. donna. Eine phonologisch totale Assimilation ist dann gegeben, wenn eine völlige Angleichung zweier Sprachlaute aneinander erfolgt, wie etwa in den bereits besprochenen Fällen zimber > Zimmer oder noctem > notte oder bei mhd. tump > nhd. dumm. Eine partielle, also teilweise Assimilation liegt dann vor, wenn die Angleichung nicht alle Merkmale betrifft, die angeglichen werden könnten, wie das bereits oben an dem Fall der umgangssprachlichen Artikulation von Senf, [sɛɱf], gezeigt wurde. Der vor dem [f] stehende Laut wird zwar vom apiko-alveolaren [n] zum bilabialen Sonorant [ɱ], wird aber nicht zum bilabialen Reibelaut, den das [f] darstellt. Eine partielle Assimilation zeigt etwa auch die Entwicklung von mhd. inbiz/inbīz zu nhd. Imbiss. Der dentale (apiko-alveolare) Nasal [n] wurde unter dem Einfluss des bilabialen Verschlusslauts [b] zum bilabialen Nasal [ɱ]. Man vergleiche auch umgangssprachlich fümf < fünf. Es fallen also die Artikulationsstellen zusammen, nicht die Artikulationsarten. Die partielle Assimilation kann zur weitgehenden Opakheit eines Wortes oder Wortteils führen, was etwa ahd. hintberi (Erstglied zu ahd. hinta ‘Hirschkuh’ > nhd. Himbeere zeigt. Die Assimilation wird reziprok genannt, wenn eine gegenseitige Anpassung der beiden Ausgangslaute erfolgt. Dabei werden die beiden ursprünglichen Sprachlaute durch einen dritten ersetzt. So zeigt sich im Vergleich von ahd. fisk mit nhd. Fisch [fɩʃ], dass einerseits das apiko-alveolare [s] an das palatale k assimiliert worden ist, andererseits aber auch der Verschlusslaut k an den davorstehenden Reibelaut. Hierzu auch lat. rapidum > ital. ratto, bei dem das d durch das p stimmlos wird und das p durch das d dentalisiert wird. Wenn die Assimilation zwei unmittelbar aufeinander folgende Sprachlaute betrifft, liegt Kontaktassimilation vor, wie sie bereits am Beispiel des umgangssprachlichen [zɛɱf] ‘Senf’ besprochen wurde. Im anderen Fall spricht man von Fernassimilation, so etwa bei ahd. i-Umlaut von *gasti > gesti ‘die Gäste’. Als sprachgeschichtlich bedeutsamste Assimilationen werden die Auslautverhärtung, die Labialisierung, die Monophthongierung, die Nasalierung, die Palatalisierung,

A

assoziative Bedeutung 176

A

die Sonorisierung, die Umlaut-Bildung und die Vokalharmonie aufgefasst. Eckhard Meineke

↔ Dissimilation → Umlaut ⇀ Assimilation (Sprachdid; Onom; HistSprw; CG-Dt; Phon-Dt; Dial)

⇁ assimilation (Phon-Engl; CG-Engl)

🕮 Dieth, E. [1950] Vademekum der Phonetik. Bern ◾ Grassegger, H. [1977] Merkmalsredundanz und Sprachverständlichkeit. Hamburg ◾ Kim, H.-S. [2003] The Lexical and Phonological Diffusion of Umlaut in Korean Dialects. In: Lee, S.-O./ Kim, H.-S./ Eom, I.-S. [eds.] The Lexical Diffusion of Sound Change in Korean and Sino-Korean. Berkeley, CA: 97–173 ◾ Lenerz, J. [1985] Phonologische Aspekte der Assimilation im Deutschen. In: ZS 4: 5–36 ◾ Lindner, G. [1975] Der Sprechbewegungsablauf. Eine phonetische Studie des Deutschen. Berlin ◾ Lipka, L. [1969] Assimilation and Dissimilation as Regulating Factors in English Morphology. In: ZAA 17: 159–173 ◾ Müller, U./ Schmidt, L./ Schramm, E. [1984] Lautreduktionen und Lautassimilationen. Lehrmaterial zur Phonetik im Deutschunterricht für Ausländer. Leipzig ◾ Ohala, J.J. [1990] The phonetics and phonology of aspects of assimilation. In: Kingston, J./ Beckman, M.E. [eds.] Papers of laboratory phonology. Cambridge: 258–275 ◾ Schopf, E. [1919] Die konsonantischen Fernwirkungen. Fern-Dissimilation, Fern-Assimilation und Metathesis. Ein Beitrag zur Beurteilung ihres Wesens und ihres Verlaufs und zur Kenntnis der Vulgärsprache in den lateinischen Inschriften der römischen Kaiserzeit. Göttingen.

assoziative Bedeutung

Bedeutungsaspekt, der durch die Assoziation einer lexikalischen Einheit mit einer anderen lexikalischen Einheit erschlossen wird. ▲ associative meaning: aspect of meaning which is inferred by the association of a lexical unit with another lexical unit. Die Bedeutungserschließung mittels Assoziationen trägt zur Bereicherung des durch Wörterbuchdefinitionen stark eingeschränkten Bedeutungsspektrums lexikalischer Einheiten bei. Eines der von Štekauer durchgeführten Experimente hat beispielsweise ergeben, dass das Nomen tulip Assoziationen mit Begriffen wie red, beauty oder Holland auslösen kann (2005: 165ff., 233f.). Assoziationen dieser Art liegen mannigfaltige Relationen zugrunde, die – wie Štekauer zeigt – mitunter bei der kontextfreien Interpretation neuer Wörter aktiviert werden. Ein neues, durch Konversion gebildetes Verb to tulip kann z.B. aufgrund der zwischen tulip und red bestehenden farblichen Relation im Sinne von ‘to blush with shame’ interpretiert werden. Hierbei handelt es

sich um eine assoziative, d.h. durch Assoziation mit red hergestellte Bedeutung von to tulip. Eine weitere assoziative Bedeutung, nämlich ‘to flourish; look beautiful like a tulip’, setzt die Tulpe in eine symbolische Relation zur Schönheit. Die zwischen tulip und Holland hergestellte Assoziation basiert auf einer lokalen Relation. Wird diese aktiviert, so entsteht die potentielle Lesart ‘to go to Holland (in order to buy tulips)’. Da Assoziationen subjektiv sind und mitunter metaphorischen Charakter haben, sind sie für die maschinelle Sprachverarbeitung schwer erfassbar. Ein erster Schritt zur computergesteuerten Repräsentation assoziativer Bedeutungen besteht in der Erstellung von Assoziationsmatrizes, die den Grad der zwischen zwei miteinander assoziierten Wörtern bestehenden semantischen Ähnlichkeit determinieren (Heylighen 2001). Heike Baeskow

→ kontextfreie Interpretation; Metaphorisierung ⇀ assoziative Bedeutung (SemPrag)

🕮 Heylighen, F. [2001] Mining Associative Meanings from the Web. From word disambiguation to the global brain. In: Temmerman, R./ Lutjeharms, M. [eds.] Trends in Special Language and Language Technology. Antwerpen: 15–44 ◾ Štekauer, P. [2005] Meaning Predictability in Word Formation. Novel, context-free naming units. Amsterdam [etc.].

Asymmetrie, morphologische → morphologische Asymmetrie

attenuativ

Aktionsart einer Untergruppe der durativen Verben, durch welche das abgeleitete Verb einen Vorgang abgeschwächter Intensität denotiert. ▲ attenuative: aktionsart of a subgroup of the durative verbs by which the derived verb denotes a less intensive process. Der im Rahmen der Theorie der Aktionsart alternativ zu „diminutiv“ gebrauchte Begriff leitet sich aus lat. attenuatum ‘abgeschwächt’ her. Im Dt. wird Verben wie hüsteln, lächeln, spötteln, tänzeln, tröpfeln im Vergleich zu husten, lachen, spotten, tanzen und tropfen eine attenuative Aktionsart zugeschrieben. Hierher könnten auch deuteln zu deuten, förscheln zu forschen, köcheln zu kochen und zündeln zu zünden gestellt werden. Das in diesem Zusammenhang auch genannte liebeln zu lieben dürfte abgesehen von seiner Wörterbuchexistenz im gegenwärtigen Dt. ungebräuch-

177 Augmentation lich sein. Teilweise besitzen die Attenuativa auch eine iterative Komponente; im Übrigen ist das in den genannten Bildungen vorkommende Suffix -l, das auf ahd. -il zurückgeht, nicht auf die Erzeugung von Attenuativa oder Iterativa festgelegt. Soweit sich das ehemalige Basisverb in seiner Bedeutung verändert hat, ergibt sich die attenuative Aktionsart gegenüber einem Syntagma aus Basis und Hilfsverb, so bei krank sein und kränkeln, bei dem die eigentliche Basis kranken eine Bedeutungsveränderung durchgemacht hat und in der hier in Frage kommenden Bedeutung durch das periphrastische Syntagma ersetzt wurde. Vergleichbar ist schwach sein und schwächeln. Bei frieren und frösteln besteht eine Wortfamilien- und Wortfeldbeziehung, aber keine direkte Ableitungsrelation. Aus den roman. Sprachen werden Beispiele wie frz. craquer ‘krachen, knacken’/craqu-et-er ‘knistern’, ital. cantare ‘singen’/canterellare ‘trällern, vor sich hin singen’, dormire ‘schlafen’/dormicchiare ‘schlummern’, bruciare ‘brennen’/bruciacchiare ‘anbrennen’ genannt, aus dem Russ. podvypit’ ‘ein bisschen trinken’.

→ Aktionsart; Diminutivum ⇀ attenuativ (Gram-Formen)

Eckhard Meineke

🕮 Nicolay, N. [2007] Aktionsarten im Deutschen. Prozessualität und Stativität. Tübingen ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin ◾ Tschirner, E. [1991] Aktionalitätsklassen im Neuhochdeutschen. New York [etc.].

attenuative Ableitung ≡ Diminutivum

attributives Kompositum

Determinativkompositum, bei dem die modifizierende Konstituente Attribut zum Kopf ist. ▲ attributive compound: determinative compound in which the modifying element is an attribute to the head element. Attributive Komposita sind Komposita, bei denen das nominale Erstglied in einer attributiven Funktion zum Zweitglied vorkommt. Zwischen attributiven und appositionellen Komposita macht Marchand (1969: 61) keinen Unterschied; er betrachtet sie beide als Kopulativkomposita. Seine Beispiele sind u.a. girl friend, ghostwriter, loan word, puppy dog, peasant girl ‘Bauernmäd-

chen’. Sie lassen sich zwar einerseits durch die Formel ‘A, das auch ein B ist’ paraphrasieren, vgl. puppy dog = ‘Welpe, der auch ein Hund ist’. Andererseits wird die Bedeutung der Konstruktion mit dieser Gleichsetzung nicht vollständig erfasst: Denn ein puppy dog denotiert eine Art vom Hund, nämlich einen jungen Hund. Somit wird klar, dass es angemessener ist, attributive Komposita in semantischer Hinsicht als eine Untergruppe der Determinativkomposita aufzufassen und nicht als Kopulativa, vgl. auch Fleischer/Barz (2012: 151). Nach moderner Auffassung wird der Terminus „appositionelles Kompositum“ andererseits für die produktive Kerngruppe der germanischen Kopulativkomposita verwendet, d.h. für diejenigen, die im strikten Sinne Marchands Formel „A, das auch B ist“ entsprechen, vgl. Arcodia/Grandi/Wälchli (2010) und Bauer/Lieber/Plag (2013: 479). Dies ist auch sinnvoll, da Maler-Schriftsteller ein Individuum denotiert, das sowohl Schriftsteller als auch Maler ist, und dementsprechend ein appositionelles Kompositum darstellt. Die Konstituenten einer echten koordinierten Relation sind in der Reihenfolge umstellbar (vgl. Maler-Schriftsteller = Schriftsteller-Maler), was für die attributiven Grenzfälle puppy dog, girl friend, woman doctor usw. nicht gilt. Susan Olsen

→ § 22; appositionelles Kompositum; endozentrisches Kompositum; Komposition; Kompositum; Kopulativkompositum

⇁ attributive compound (Woform)

🕮 Arcodia, G./ Grandi, N./ Wälchli, B. [2010] Coordination in compounding. In: Scalise, S./ Vogel, I. [eds.] Cross-Disciplinary Issues in Compounding. Amsterdam [etc.]: 177–197 ◾ Bauer, L./ Lieber, R./ Plag, I. [2013] The Oxford Reference Guide to English Morphology. Oxford ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Melloni, C. [2020] Subordinate and Synthetic Compounds in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 700–726.

Augenblicksbildung ≡ Ad-hoc-Bildung

Augmentation

zur semantischen Grundklasse der Modifikation gehörendes Verfahren zur Bildung von Augmentativa. ▲ augmentation: basic semantic process of modification which yields augmentatives. Die Termini Augmentation bzw. Augmentativum

A

Augmentativbildung 178

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stammen aus der Romanistik. Augmentation bezeichnet dort das Verfahren der desubstantivischen oder deadjektivischen Ableitung zur Kennzeichnung einer besonderen Größe der durch die Basis bezeichneten Entität: ital. casone ‘großes Haus’ < casa ‘Haus’, span. hombrote ‘großer Mann’ < hombre ‘Mann’. Unter Augmentation i.e.S. versteht man im Allgemeinen die Bezeichnung des hohen Grades, der hohen Intensität der bezeichneten Eigenschaft oder des bezeichneten Vorgangs oder der besonderen Größe oder Ausdehnung des bezeichneten Gegenstandes, vgl. Ruf (1996: 46). I.w.S. umfasst der Begriff „alle Sprachmittel, die eine Intensivierung der Aussagekraft, eine Verstärkung des emotionalen Gehaltes oder der kommunikativen Absicht bewirken können“ (Ruf 1996: 45). Augmentation i.w.S. bezieht sich demnach auf das Gewicht der Aussage und/oder auf die Nachdrücklichkeit der Rede. Diese weite Definition rückt den Begriff der Augmentation in die Nähe des Begriffs der Emphase. Zur Augmentation i.e.S. gehören unterschiedliche Verfahren und Bildungsmuster. Die Verstärkung kann analytisch, mithilfe lexikalischer Mittel (z.B. dt. sehr schnell), und synthetisch (dt. blitzschnell) ausgedrückt werden. In einigen Sprachen, etwa im Italienischen oder Russischen, werden Augmentativa durch Suffigierung gebildet (ital. nasone ‘große Nase’ < naso ‘Nase’, russ. rybina ‘großer Fisch’ < ryba ‘Fisch’). Daneben kennen viele Sprachen augmentative Präfixe (ital. superuomo ‘Übermensch’, russ. superzvezda ‘Superstar’, dt. Unzahl ‘große Zahl’, niederl. megadisco ‘große Disko’). Im Deutschen fehlen Augmentativsuffixe als Pendant zu den Diminutivsuffixen. Der Terminus Augmentation wird hier auf die große Zahl kompositioneller Erstglieder und/oder Präfixoide mit augmentativer Funktion angewandt, vgl. Riesen- (Riesenskandal), Affen- (Affenhitze), Mords(Mordslärm), sau- (saukalt), stink- (stinklangweilig), top- (topmodern). Sie kommen vor allem in der gesprochenen Sprache in spontaner Rede vor und weisen einen hohen emotionalen Gehalt auf (Ruf 1996: 64). Einige der (gebundenen) Erstglieder bilden keine oder nur sehr kurze Reihen und sind damit nur schwach produktiv, vgl. etwa aalglatt, brühheiß, funkelnagelneu, hauchdünn, heilfroh, klatschnass, mausetot. Solche Bildungen stehen den Vergleichsbildungen nahe. Grundsätzlich impliziert jedoch jede Augmentation einen

Vergleich mit den Bezugsobjekten im Standardbereich (Wiegand 2001: 105). Aufgrund der in vielen Bildungen zusätzlich enthaltenen Komponente einer Stellungnahme oder Wertung gerät die Augmentation mitunter in die Nähe des Begriffs der Taxation, vgl. dt. Idealgewicht, Topform. Im Unterschied zur Taxation wird bei der Augmentation aber in erster Linie eine Größe bezeichnet, wobei zusätzlich eine Einschätzung oder Wertung zum Ausdruck kommen kann (Ruf 1996: 65, anders Karbelaschwili 2001). Aufgrund dieser emotional-evaluativen, expressiven Funktion stehen Augmentativa – ebenso wie Diminutiva – im Zentrum von Darstellungen zum Thema „Wortbildung und Pragmatik“ (vgl. Hummel 2015; Merlini Barbaresi 2015, Nagórko 2015; Scherer 2019; Grandi 2020). Anja Seiffert ≡ Amplifikation; Hervorhebung; Verstärkung ↔ Diminuierung → Augmentativkompositum; Augmentativsuffix; Augmentativum; Taxation; Wortbildungsbedeutung

🕮 Ettinger, S. [1980] Form und Funktion in der Wortbildung. Die Diminutiv- und Augmentativmodifikation im Lateinischen, Deutschen und Romanischen (Portugiesisch, Spanisch, Italienisch und Rumänisch). Tübingen ◾ Grandi, N. [2020] Evaluatives in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 607–619 ◾ Hummel, M. [2015] The semantics and pragmatics of Romance evaluative suffixes. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation. (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1528–1545 ◾ Karbelaschwili, S. [2001] Lexikon zur Wortbildung der deutschen Sprache (Augmentation und Diminution). Regensburg ◾ Merlini Barbaresi, L. [2015] The pragmatics of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation. (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1128–1142 ◾ Nagórko, N. [2015] Morphopragmatics in Slavic. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] WordFormation. (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1545–1560 ◾ Rainer, F. [2015] Intensification. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [Hg.] Word-Formation. (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1339– 1351 ◾ Ruf, B. [1996] Augmentativbildungen mit Lehnpräfixen. Eine Untersuchung zur Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Heidelberg ◾ Scherer, C. [2019] Expressivität in der Wortbildung. In: d' Avis, F./ Finkbeiner, R. [Hg.] Expressivität im Deutschen. Berlin [etc.]: 49–74 ◾ Suščinskij, I.I. [1998] Zur Entwicklung eines Wörterbuchs der verstärkenden Wortverbindungen in der deutschen und der russischen Gegenwartssprache. In: DaF 35: 98–103 ◾ Wiegand, H.E. [2001] Augmentation in Printwörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache. In: Korhonen, J. [Hg.] Von der mono- zur bilingualen Lexikografie für das Deutsche. Frankfurt/Main: 101–137.

Augmentativbildung

≡ Augmentativum ⇀ Augmentativbildung (Lexik)

179 Augmentativsuffix

Augmentativkompositum

Kompositum, dessen Bestimmungswort eine Vergrößerung oder Verstärkung der durch das Grundwort bezeichneten Entität anzeigt. ▲ augmentative compound: compound whose nonhead marks an enlargement or intensification of the entity denominated by the head. In Sprachen wie der dt., in denen Augmentativsuffixe als Pendant zu den Diminutivsuffixen fehlen, können kompositionelle Erst- oder Zweitglieder die entsprechenden Aufgaben übernehmen (Fleischer/Barz 2007: 100, 205). So stehen im Dt. zahlreiche augmentative substantivische und adjektivische Erstglieder zur Verfügung, vgl. Bomben- (Bombenwetter, Bombenerfolg), Heiden(Heidenspaß, Heidenangst), hoch- (hochaktuell, hochexplosiv), Höllen- (Höllenlärm, Höllentempo), Mords- (Mordsarbeit, Mordskrach), Riesen- (Riesenaufwand, Riesenskandal), Wahnsinns- (Wahnsinnshitze, Wahnsinnstempo) etc. Ihr morphologischer Status ist keineswegs unumstritten, sie gelten als freie Morpheme oder Morphemkomplexe (Fleischer/Barz 2007), als Präfixoide (Watanabe 1987, Karbelaschwili 2001) oder als gebundene Lexikoneinheiten (Motsch 2004). Einige dieser Einheiten werden auch zu den Präfixen gezählt: Bomben-, Mords- (Karbelaschwili 2001: 27, 53), Riesen- (Bakema/Geeraerts 2000: 1051), vgl. ebenso niederl. reuzeproblem ‘Riesenproblem’ oder reuzebedrijf ‘Riesenbetrieb’ (zu reus ‘Riese’), welche nicht als Komposita, sondern als Präfigierungen gelten (Bakema/Geeraerts 2000: 1046). Dagegen lässt sich einwenden, dass das Substantiv Riese in gleicher Funktion metaphorisch verwendet werden kann und dass sich die Bildungen mit Hilfe des Adjektivs riesig paraphrasieren lassen (Fleischer/Barz 2007: 100). Viele dieser Bildungen sind als umgangssprachlich oder salopp markiert und verfügen über einen hohen emotionalen Gehalt. Sie werden vor allem in affektbetonten Situationen der mündlichen Kommunikation verwendet. Auffällig ist – im Vergleich zu anderen Determinativkomposita – die Akzentuierung beider unmittelbarer Konstituenten, vgl. 'Riesen'aufwand, 'Mords'arbeit, 'Höllen'lärm, 'Wahnsinns'hitze ‘große Hitze’ vs. 'Wahnsinnstat ‘im Wahnsinn begangene Tat’ (Fleischer/Barz 2007: 101). Auch einige kompositionelle Zweitglieder wie

-berg, -flut, -lawine, -riese, -sturm können ausdrücken, dass die durch das Erstglied bezeichnete Größe in hohem Maße vorhanden und/oder als au­ßer­ge­wöhn­lich zu beurteilen ist: Beifallssturm, Kos­ten­la­wi­ne, Informationsflut, Schuldenberg, Ver­ hand­lungsmarathon etc. (vgl. ­ Karbelaschwili 2001). Hierbei handelt es sich um sogenannte Kom­ positionsmetaphern (Fleischer/​Barz 2007: 99), in denen das Zweitglied metaphorisiert ist. Anja Seiffert ≡ verstärkende Zusammensetzung → Augmentation; Augmentativsuffix; Augmentativum; Diminuierung; Kompositum; Metaphorisierung; Präfixoid

🕮 Bakema, P./ Geeraerts, D. [2000] Diminution and augmentation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J./ Skopeteas, S. [Hg.] Morphologie (HSK 17.2). Berlin [etc.]: 1045–1052 ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Karbelaschwili, S. [2001] Lexikon zur Wortbildung der deutschen Sprache (Augmentation und Diminution). Regensburg ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Berlin [etc.] ◾ Watanabe, Y. [1987] Deutsche Substantive mit Präfixoiden zur Steigerung und Verstärkung. In: DtLit 31: 135–167.

Augmentativsuffix

Suffix, das die Bedeutung der Basis als Vergrößerung oder Verstärkung modifiziert. ▲ augmentative suffix: suffix which marks the meaning of the base as an enlargement or an intensification.

Vor allem in den (süd-)roman. Sprachen, aber auch in einigen slaw. Sprachen ist die Augmentation durch Augmentativsuffixe verbreitet: ital. nas-one ‘große Nase’< nasa, span. botell-ón ‘große, dicke Flasche’ < botella, port. sapat-ão ‘großer Schuh’ < sapato, poln. dom-isko ‘großes Haus’ < dom, russ. ruč-išča ‘große Hand, Pranke’ < ruka. Augmentativsuffixe modifizieren die lexikalische Bedeutung der Basis innerhalb ein und derselben Wortart und Bedeutungskategorie. Das Suffix fungiert als morphologischer Kopf (Head) der Bildung, insofern als es die Grammatik der Gesamteinheit bestimmt: russ. -išče (Maskulinum, vgl. domišče ‘großes Haus’), -išča (Femininum, vgl. ručišča). Dabei kann es gegenüber der Ausgangseinheit zu einem Genuswechsel kommen: port. casarão (Maskulinum) < casa (Femininum). Ihrer semantischen Funktion nach bilden die Augmentativsuffixe das Gegenstück zu den Diminutivsuffixen, vgl. russ. domik ‘Häuschen’ – dom ‘Haus’– domišče ‘großes Haus’, ručka ‘Händchen’

A

Augmentativum 180

A

– ruka ‘Hand’ – ručišča ‘große Hand’. Im Dt. fehlen Augmentativsuffixe.

Anja Seiffert ≡ exponierendes Morphem; intensivierendes Suffix; Steigerungssuffix; Verstärkungssuffix ↔ Diminutivsuffix → Augmentation; Augmentativkompositum; Augmentativum

🕮 Bakema, P./ Geeraerts, D. [2000] Diminution and augmentation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J./ Skopeteas, S. [Hg.] Morphologie (HSK 17.2). Berlin [etc.]: 1045–1052 ◾ Dressler, W.U./ Merlini Barbaresi, L. [1994] Morphopragmatics. Berlin [etc.] ◾ Ettinger, S. [1974] Diminutiv- und Augmentativbildung. Regeln und Restriktionen. Morphologische und semantische Probleme der Distribution und der Restriktion bei der Substantivbildung im Italienischen, Portugiesischen, Spanischen und Rumänischen. Tübingen ◾ Ettinger, S. [1980] Form und Funktion in der Wortbildung. Die Diminutiv- und Augmentativmodifikation im Lateinischen, Deutschen und Romanischen (Portugiesisch, Spanisch, Italienisch und Rumänisch). Tübingen ◾ Harden, T. [1997] Gebrauch und Funktion von Diminutiv- und Augmentativformen im Portugiesischen und Deutschen. In: Lüdtke, H./ Schmidt-Radefeld, J. [Hg.] Linguistica contrastiva. Deutsch versus Portugiesisch – Spanisch – Französisch. Tübingen: 135–150.

Augmentativum

abgeleitetes oder zusammengesetztes Wort, bei dem die Bedeutung der Ausgangseinheit als Vergrößerung oder Verstärkung modifiziert wird. ▲ augmentative: derivative or compound whose base meaning is modified as an enlargement or as an intensification.

Augmentativa entstehen durch Suffixderivation (ital. governone < governo ‘Verwaltung’), durch Präfixderivation (engl. arch-enemy ‘Erzfeind’, archliar ‘Erzlügner’) oder durch Komposition (dt. Hochgeschwindigkeit, Hochgenuss). Dabei werden vor allem Substantive und Adjektive (dt. erzkonservativ, topmodern, urkomisch) gebildet, seltener Verben (tschech. přepracovat se ‘sich überarbeiten‛ < pracovat ‘arbeiten’). Augmentativa drücken im weitesten Sinne eine Größeneinstufung aus, indem sie das Konzept, auf das mit der Ausgangseinheit Bezug genommen wird, als besonders groß, besonders wichtig, wesentlich oder besonders typisch kennzeichnen. Darüber hinaus signalisieren sie oft emotionale Einstellungen und Wertungen, bringen eine subjektive Stellungnahme des Sprechers zum Ausdruck und können die gleiche Einstellung auch beim Hörer bewirken, vgl. niederl. supergevoelig ‘hochsensibel, in übertriebener Weise empfindlich’, dt. ober-

schlau ‘sich für besonders schlau haltend, ohne es zu sein’. In ihrer Funktion, eine Größe einzustufen, ähneln die Augmentativa den Diminutiva.

Anja Seiffert ≡ Amplifikativum; Augmentativbildung; Steigerungsbildung; Vergrößerungsform; Verstärkungsbildung ↔ Diminutivum → Augmentation; Augmentativkompositum; Augmentativsuffix ⇁ augmentative (Typol)

🕮 Bakema, P./ Geeraerts, D. [2000] Diminution and augmentation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J./ Skopeteas, S. [Hg.] Morphologie (HSK 17.2). Berlin [etc.]: 1045–1052 ◾ Dressler, W.U./ Merlini Barbaresi, L. [1994] Morphopragmatics. Berlin [etc.] ◾ Karbelaschwili, S. [2001] Lexikon zur Wortbildung der deutschen Sprache (Augmentation und Diminution). Regensburg ◾ Ruf, B. [1996] Augmentativbildungen mit Lehnpräfixen. Eine Untersuchung zur Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Heidelberg ◾ Wiegand, H.E. [2001] Augmentation in Printwörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache. In: Korhonen, J. [Hg.] Von der mono- zur bilingualen Lexikografie für das Deutsche. Frankfurt/Main: 101–137.

Ausdrucksnotwendigkeit, objektive → Erstbenennung

Ausgleich, paradigmatischer → paradigmatischer Ausgleich

außersprachliches Wissen

von der linguistischen Kompetenz unabhängige und zur Interpretation sprachlicher Ausdrücke erforderliche Kenntnisse über Fakten der außersprachlichen Realität. ▲ extralinguistic knowledge: knowledge of extralinguistic reality which is independent of linguistic competence and necessary for the interpretation of linguistic expressions. Das außersprachliche Wissen umfasst sowohl generisches Wissen als auch spezifisches Wissen (Clark/Clark 1979: 788f., Štekauer 2005: 60). Im Gegensatz zu dem generischen Wissen, das die meisten Sprachbenutzer teilen, variiert das spezifische Wissen von Sprecher zu Sprecher, da es durch externe Faktoren wie Bildung, soziales und kulturelles Umfeld, individuelle Erlebnisse und Erfahrungen etc. geprägt wird. Eine Art der Variation manifestiert sich in der von Moravcsik (1981: 18) vorgenommenen Differenzierung zwischen dem Fachwissen des Experten und dem Wissen des Laien in Bezug auf ein bestimmtes Konzept, z.B. Wasser. Während

181 ein Chemiker über eine weitgehend vollständige mentale Repräsentation dieses Konzepts verfügt, die Details wie ‘farblose, geruchsneutrale Flüssigkeit’, ‘Verbindung aus Wasserstoff und Sauerstoff’, ‘Lösungsmittel für anorganische Stoffe’, ‘erstarrt bei 0 Grad Celsius zu Eis’, ‘trinkbar’, ‘verursacht Erosion’ etc. spezifiziert, beschränken sich die Kenntnisse des Laien in der Regel auf generisches Wissen wie ‘farblose, geruchsneutrale Flüssigkeit’, ‘trinkbar’, ‘zum Waschen geeignet’ etc. Nichtsdestoweniger sind diese beiden mentalen Repräsentationen komplementär und schließen einander somit nicht aus. Außersprachliches Wissen trägt auch zur Bildung bzw. Interpretation neuer Wörter bei. Eine adäquate Interpretation des aus dem Eigennamen Havel gebildeten Verbs to Havel ist beispielsweise ohne Kenntnisse in Bezug auf den Träger dieses Namens nicht möglich. Das für die Interpretation erforderliche außersprachliche Wissen bezieht sich auf die Aktivitäten Václav Havels als Schriftsteller und Philosoph, seine politische Weltanschauung, seine Beteiligung an der Samtenen Revolution, seine Rolle als Präsident der Tschechoslowakei bzw. der Tschechischen Republik und andere saliente Eigenschaften (Štekauer 2005: 65f.). Auch dieses Wissen variiert von Sprecher zu Sprecher und ist in der tschechischen und slowakischen Sprechergemeinschaft am stärksten ausgeprägt. Umstritten und bislang ungeklärt ist die Frage, ob außersprachliches Wissen Bestandteil der semantischen und somit lexikalischen Repräsentation sprachlicher Ausdrücke ist (z.B. Langacker 1988: 57f.) oder auf einer separaten konzeptuellen Ebene angesiedelt ist (vgl. die Zwei-Ebenen-Semantik von Bierwisch 1983). Für die zweite Option spricht u.a. das Argument Moravcsiks (1981: 16), dass Kinder bereits Konzepte internalisieren, bevor sie über das zur Bezeichnung dieser Konzepte notwendige Vokabular verfügen. Heike Baeskow ≡ Weltwissen ↔ sprachliches Wissen → generisches Wissen; Kognitive Grammatik; kontextfreie Interpretation; Salienz; Schema; semantic information schema

🕮 Bierwisch, M. [1983] Semantische und konzeptuelle Repräsentation lexikalischer Einheiten. In: Růžička, R./ Motsch, W. [Hg.] Untersuchungen zur Semantik. Berlin: 61–99 ◾ Clark, E.V./ Clark, H.H. [1979] When nouns surface as verbs. In: Lg 55:

autolexikalische Syntax 767–811 ◾ Langacker, R.W. [1988] A View of Linguistic Semantics. In: Rudzka-Ostyn, B. [ed.] Topics in Cognitive Linguistics. Amsterdam [etc.]: 49–90 ◾ Moravcsik, J. [1981] How do words get their meanings? In: JPhil 78: 5–24 ◾ Štekauer, P. [2005] Meaning Predictability in Word Formation. Novel, context-free naming units. Amsterdam [etc.].

Aussprache, gebundene → orthoepische Aussprache

Aussprache, orthoepische → orthoepische Aussprache

Aussprache, silbische

→ orthoepische Aussprache

autolexikalische Syntax

Theorie, die entworfen wurde, um mit Phänomenen wie Nomen-Inkorporierung und Klitisierung umzugehen, bei denen linguistische Formen drei parallelen und möglicherweise diskrepanten strukturellen Analysen unterzogen werden können, nämlich der syntaktischen, der morphologischen und der semantischen Analyse. ▲ autolexical syntax: theory designed to deal with phenomena like noun incorporation and cliticization in which linguistic forms can receive three simultaneous and possibly discrepant structural analyses, syntactic, morphological, and semantic. Die autolexikalische Syntax wurde von Sadock (1991) vorgeschlagen und sie dehnt einige der Ansichten aus der autosegmentalen Phonologie und Morphologie auf Phänomene wie Nomen-Inkorporierung und Klitisierung aus. Diese scheinen auf der einen Seite von syntaktischer Natur, besitzen auf der anderen Seite aber auch für die Wortbildung typische Charakteristika. In Sadocks System besteht die Grammatik aus (mindestens) drei getrennten Modulen, die nicht linear oder hierarchisch zueinander angeordnet sind, sondern die eher parallel operieren. Ihre separaten Outputs werden auf einer Zwischenebene koordiniert (Sadock 1991: 20):

A

Autosegment 182

A

Autosegment

Syntax rsyn

Interface {rsyn, rsem, rmor}

rsem

rmor

Semantics

Morphology

Abb. 1: Autolexikalische Syntax

Das Lexikon wird in diesem System als Teil dieser Zwischenebene gesehen, da es Information über die syntaktischen, semantischen und morphologischen Eigenschaften von Affixen und Roots enthält. Die Verfügbarkeit von parallelen morphologischen und syntaktischen Strukturen erlaubt es Sadock, das Verhalten von einem simplen Klitikum wie ’s (als die verkürzt Form von is) zu erklären, indem dieses in der syntaktischen Repräsentation als ein unabhängiges Verb und in der morphologischen Repräsentation als ein Affix gezählt wird (Sadock 1991: 2): S NP

VP

Det

N

V

PP

the

man

’s

at the door

W

W

Af

WW

W

W Abb. 2: Autolexikalische Syntax

Sadock präsentiert mehrstufige Analysen von anderen Phänomen, die Diskrepanzen zwischen morphologischen und syntaktischen Strukturen aufweisen, einschließlich der Nomen-Inkorporierung in Inuktitut (Eskimo), der Struktur der definiten NP im Skandinavischen und der Verbkomposition im Ungarischen. Rochelle Lieber

→ autosegmental tier; autosegmentale Morphologie; Nomeninkorporation

⇁ autolexical syntax (Woform; TheoMethods)

🕮 Sadock, J. [1991] Autolexical Syntax. Chicago, IL.

in der nicht-linearen Phonologie oder der nicht-verkettenden Morphologie Merkmal oder Bündel von distinktiven Merkmalen, das durch Assoziierungsregeln auf ein prosodisches Raster abgebildet wird, welches in den frühen Versionen der autosegmentalen Theorie aus einer Sequenz von Konsonanten und Vokalen oder in den späteren Versionen aus einer prosodischen Einheit wie einer minimalen Silbe besteht. ▲ autosegment: in non-linear phonology or non-concatenative morphology, feature or bundle of distinctive features that is mapped by rules of association onto a prosodic template consisting of in early versions of autosegmental theory a sequence of consonants and vowels or in later versions of the theory a prosodic unit like a minimal syllable. Die autosegmentale Theorie begann Mitte der 1970er mit Arbeiten zu Tonsprachen, in denen gezeigt wurde, dass Ton als ein Merkmal typischerweise unabhängig vom segmentalen Teil einer phonologischen Repräsentation agiert (Leben 1973; Goldsmith 1976). Dies passiert, indem ein einzelner Ton auf mehr als ein Segment oder mehr als ein Ton auf ein einzelnes Segment abgebildet werden kann. (1) L

HLH

abc

a b

Autosegmentale Abhandlungen wurden schnell auf Analysen von Vokal- und Konsonantenharmonie ausgedehnt (Clements 1980; Halle/Vergnaud 1981), in denen individuelle Merkmale oder Merkmalsets vom Rest der segmentalen Repräsentation getrennt wurden und auf diesen Rest durch Assoziierungsregeln abgebildet wurden. Durch die Verwendung von autosegmentalen Repräsentationen konnte gezeigt werden, wie ein Merkmal oder Merkmale sich von einem Stammvokal beispielsweise auf den Vokal eines Affixes ausdehnen konnten: (2) [+high] x

y

z

q

C V C V C+ V C

183 In der autosegmentalen Theorie ist das Segment nicht länger eine Liste von distinktiven Merkmalen, sondern wird zu einer komplexen, hierarchisch organisierten Struktur mit mehreren Schichten oder mit einer Schicht für jedes distinktive Merkmal. Diese aus distinktiven Merkmalen bestehenden Schichten können im Gegensatz zu Einheiten mit prosodischer Organisation als Autosegmente bezeichnet werden. Die autosegmentale Theorie wurde auch für die Analyse von kompensatorischer Längung (Clements 1982) und für Untersuchungen von nicht-verkettender Morphologie (McCarthy 1979) interessant. Rochelle Lieber → autosegmentale Morphologie; nicht-konkatenative Morphologie ⇀ Autosegment (Phon-Dt) ⇁ autosegment (Woform; Phon-Engl)

🕮 Clements, G.N. [1980] Vowel harmony in non-linear generative phonology. An autosegmental model. Bloomington, IN ◾ Clements, G.N. [1982] Compensatory lengthening. An independent mechanism of phonological change. Bloomington, IN ◾ Goldsmith, J. [1976] Autosegmental Phonology. Diss. Cambridge, MA ◾ Halle, M./ Vergnaud, J.R. [1981] Harmony Processes. In: Klein, W./ Levelt, W. [eds.] Crossing the Boundaries in Linguistics. Dordrecht: 1–22 ◾ Leben, W. [1973] Suprasegmental Phonology. Diss. Cambridge, MA ◾ McCarthy, J.J. [1985] Formal Problems in Semitic Phonology and Morphology. New York, NY.

autosegmental tier

in der nicht-linearen Phonologie oder der nicht-verkettenden Morphologie unabhängige Schicht eines Segments, die aus einem oder mehreren Merkmalen besteht, welche durch Assoziierungsregeln auf andere Schichten abgebildet werden können. ▲ autosegmental tier: in non-linear phonology or non-concatenative morphology independent layer of a segment consisting of one or more distinctive features that may be mapped onto other layers by rules of association. Die autosegmentale Morphologie geht davon aus, dass das phonologische Segment in eine Anzahl von unterschiedlichen Schichten oder Stufen mit jeweils einem oder mehreren distinktiven Merkmalen getrennt werden kann, um Arten der Wortbildung zu erklären, die sich nicht den linearen, affixbasierten Analysen unterziehen lassen. McCarthys heute klassische Analyse der arabischen Konjugation (McCarthy 1979) spaltet das Verb in drei Stufen auf: eine konsonantische Melodie, die die Wurzelbedeutung des Verbs trägt, ein Skelett,

autosegmentale Morphologie dass das Grundmuster von Konsonanten und Vokalen darstellt und die Konjugation (oder binyan, Pl. binyanim, in der Terminologie von hebräischen Grammatikern) andeutet, und eine vokalische Melodie, die zum Beispiel die Information über Genus Verbi oder über Aspekt enthält: (1) k t b ‘write’ C

C

V C V a

C

Binyan 9 perfective active

Die Stufen werden durch den Gebrauch von Assoziierungsregeln verbunden, die konsonantische und vokalische Melodien auf das Skelett abbilden, indem sie sich von links nach rechts bewegen und das am weitesten rechts stehende Autosegment ausbreiten, wenn es mehr Skelettsegmente als Melodiesegmente gibt. Deshalb erscheint die obige Form als ktabab. Rochelle Lieber

→ Autosegment; autosegmentale Morphologie; Binyan; morphemic tier hypothesis; nicht-konkatenative Morphologie; tier conflation ⇀ autosegmental tier (Phon-Dt) ⇁ autosegmental tier (Woform)

🕮 McCarthy, J.J. [1981] A prosodic theory of nonconcentative morphology. In: LingInqu 12: 373–418 ◾ McCarthy, J.J. [1985] Formal Problems in Semitic Phonology and Morphology. New York, NY.

autosegmentale Morphologie

System der Morphologie, das seit den späten 1970er Jahren entwickelt wurde, um solche Arten von nicht-verkettenden Phänomenen wie Rootand-Pattern-Morphologie, Reduplikation, Ablaut und Konsonantenmutation zu erklären. ▲ autosegmental morphology: framework of morphology developed beginning in the late 1970s to account for such types of non-concatenative phenomena as root and pattern morphology, reduplication, ablaut, and consonant mutation. Die autosegmentale Morphologie geht auf die Arbeit von McCarthy (1979) zurück und basierte auf der Annahme, dass das phonologische Segment in eine Anzahl von unterschiedlichen Schichten oder Stufen mit jeweils einem oder mehreren distinktiven Merkmalen getrennt werden kann, um Arten der Wortbildung zu erklären, die sich nicht den linearen, affixbasierten Analy-

A

avoid synonymy principle 184

A

sen unterziehen lassen. McCarthys heute klassische Analyse der arabischen Konjugation spaltet das Verb in drei Stufen auf: eine konsonantische Melodie, die die Wurzelbedeutung des Verbs trägt, ein Skelett, das Grundmuster von Konsonanten und Vokalen darstellt und die Konjugation (oder binyan, pl. binyānîm in der Terminologie von hebräischen Grammatikern) andeutet, und eine vokalische Melodie, die zum Beispiel die Information über Genus Verbi oder über Aspekt enthält: (1) k t b ‘write’ C

C

V C V a

C

Binyan 9 perfective active

Die Stufen werden durch den Gebrauch von Assoziierungsregeln verbunden, die konsonantische und vokalische Melodien auf das Skelett abbilden, indem sie sich von links nach rechts bewegen und das am weitesten rechts stehende Autosegment ausbreiten, wenn es mehr Skelettsegmente als Melodiesegmente gibt. Deshalb erscheint die obige Form als ktabab. Das System der autosegmentalen Morphologie wurde in den 1980ern erweitert, um andere Arten von nichtverkettender Morphologie zu erklären wie Reduplikation (Marantz 1982), Konsonantenmutation (Lieber 1984) und Umlaut (Lieber 1987). Theoretiker wie McCarthy, Marantz und Lieber sahen einen signifikanten Nutzen des autosegmentalen Systems darin, dass es zulässt, die nicht-verkettende Morphologie an die verkettende Morphologie anzupassen. Dies wird möglich, indem innerhalb des Systems Morpheme erkannt werden, die entweder nicht-sequenziell sind oder die aus weniger als einem vollen Segment bestehen. Die autosegmentale Morphologie bietet deshalb eine Alternative zu prozessbasierten Analysen dieser Wortbildungsarten. Rochelle Lieber

→ Ablaut; Autosegment; Item-and-Process-Modell; nicht-

konkatenative Morphologie; nicht-lineare Morphologie; Reduplikation; replacive morphology ⇁ autosegmental morphology (Woform)

🕮 Lieber, R. [1984] Consonant Gradation in Fula. In: Aronoff, M./ Oehrle, R.T. [eds.] Language Sound Structure. Studies in Phonology Presented to Morris Halle by His Teacher and Students. Cambridge, MA [etc.]: 329–345 ◾ Lieber, R. [1987] An Integrated Theory of Autosegmental Processes. Albany, NY ◾

Marantz, A. [1982] Re Reduplication. In: LingInqu 13: 435–482 ◾ McCarthy, J.J. [1985] Formal Problems in Semitic Phonology and Morphology. New York, NY.

avoid synonymy principle

Prinzip, das die Blockierung einer möglichen neuen Bildung wegen der Existenz eines bereits etablierten Synonyms im Wortbestand erfasst. ▲ avoid synonymy principle: principle to account for the blocking of a possible new formation due to the existence of an established synonym already in the vocabulary. Das „avoid synonymy principle“ ist eine Version der Blockierung, die Kiparsky (1983) vorgeschlagen hat. Kiparsky formuliert das Prinzip wie folgt: „The output of a lexical rule may not be synonymous with an exisiting lexical item“ [Der Output einer lexikalischen Regel darf nicht synonym zu einer existierenden lexikalischen Einheit sein]. Das Prinzip sagt bspw. voraus, dass ein Wort wie Stehler wegen des bereits bestehenden Dieb nicht gebildet werden kann.

→ Blockierung; Produktivität ⇁ avoid synonymy principle (Woform)

Laurie Bauer

🕮 Kiparsky, P. [1983] Word-Formation and the Lexicon. In: Ingemann, F. [ed.] 1982 Mid-America Linguistics Conference Papers. Lawrence, KS: 3–22.

Avyayībhāva

nicht-deklinierbares und adverbial verwendetes Kompositum im Sanskrit mit einem Indeklinabile als Erst- und einem Nomen als Zweitelement. ▲ avyayībhāva: indeclinable compound in Sanskrit used adverbally with an indeclinable first element and a noun as second element. Die Sanskrit-Grammatiker unterscheiden vier Hauptklassen von Komposita. Dazu gehören Tatpuruṣas oder Kasus-Komposita (z.B. ami­tra­ senā' ‘Feindesheer’), Karmadhārayas oder Attributiv- und Appositiv-Komposita (Skr. nīlotpala ‘blauer Lotus’), Dvandvas oder Koordinativ-Komposita (z.B. candrādityāu ‘Mond und Sonne’) sowie Bahuvrīhis oder possessive Komposita (z.B. bṛha­dra­tha ‘(wer) einen großen Streitwagen (besitzt)’). Diese Klassen haben auch in vielen modernen Sprachen Entsprechungen, vgl. Whitney (1950: 480–513). Eine kleinere Gruppe bilden die Avyayībhāvas, die durch eine Umwandlung von Präpositional-

185 Avyayībhāva konstruktionen mit Akkusativ- (weniger häufig: mit Instrumental- und Ablativ-Kasus) entstanden und adverbial verwendet werden. Es handelt sich dabei um nicht-deklinierbare Komposita mit einem Indeklinabile als Erst- und einem Nomen als Zweitelement. Der Terminus leitet sich ab von avyaya+bhū ‘indeklinabel werden’. Beispiele sind uparājam ‘mit dem König’ oder upanadam ‘nah am Fluss’, vgl. Whitney (1950: 513). Susan Olsen

→ Dvandva; Dvigu; Karmadhāraya; Possessivkompositum; Tatpuruṣa

🕮 Bauer, L. [2001] Compounding. In: Haspelmath, M./ König, E./ Oesterreicher, W./ Raible, W. [eds.] Language Typology and Language Universals (HSK 20.1). Berlin [etc.]: 695–707 ◾ Lindner, T. [2011–2018] Indogermanische Grammatik. Band IV: Wortbildungslehre. Teilband 1: Komposition. Teilband 2: Komposition im Aufriß. Heidelberg ◾ Stenzler, A.F. [2003] Elementarbuch der Sanskrit-Sprache. 19., durchges. u. verb. Aufl. v. A. Wezler. Berlin [etc.] ◾ Whitney, W.D. [1950] Sanskrit grammar. Cambridge, MA [etc.] [https://en.wikisource.org/wiki/ Sanskrit_Grammar_(Whitney)/Chapter_XVIII; letzter Zugriff am 08.06.2021].

A

B Bahuvrīhi

≡ Possessivkompositum

Bandwurmkompositum

Kompositum mit einer Wortgruppe als erster Kon­ stituente. ▲ tape-worm compound: compound with a word group as its first constituent. Knobloch (1978) bezeichnet Determinativ-Komposita, deren Head-Konstituente eine Wortgruppe vorangeht, als Bandwurmkomposita, da er die entsprechende Wortgruppe als eine Nebeneinanderstellung/Zusammenrückung von Wörtern ansieht. Seine Daten stammen hauptsächlich aus Zeitungen und der Werbung. Er findet vier Haupttypen von Bandwurmkomposita: Komposita, die ein Funktionswort (Frage-und-Antwort-Spiel, engl. question-and-answer game), eine Präpositionalphrase (Nach-dem-Bad-Mantel, engl. after-the-bath robe), einen Ausdruck des Zwecks (immer-dabeiRechner, engl. always-at-hand calculator) oder ein Motto (Jetzt-wissen-wir-alles-Blick, engl. we-nowknow-everything look) enthalten.

Susan Olsen ≡ Anreihkompositum → Determinativkompositum; Kompositum; Phrasenkompositum; Zusammenrückung

🕮 Dargiewicz, A.[2016] Bandwurmkomposita als besonderes Phänomen des Deutschen. ◾ In: Linguistica Silesiana 37: 239– 257 ◾ Knobloch, J. [1978] Bandwurmkomposita im heutigen Deutsch. In: MSpr 72: 147–149 ◾ Methling, R. [2022] Warum die Wörter im Deutschen so lang sind: Von Bandwurmwörtern und skurrilen Wortschöpfungen. Berlin.

Basis

sprachliche Einheit, die als Ausgangseinheit für die Bildung von Derivaten sowie von Konversionsprodukten dient. ▲ base: linguistic unit that serves as the basis for the formation of derivations and conversions.

Als Basis für Präfix-, Suffix- und Zirkumfixderivate sowie für Konversionsprodukte dienen vor allem Wörter bzw. Wortstämme sowie verbale und substantivische Wortgruppen (phrasale Basen/syntaktische Fügungen/Syntagmen), in sehr geringem Umfang auch Sätze. Wörter bzw. Wortstämme können ihrer morphologischen Struktur nach einfach oder komplex sein (dt. Haus in häuslich, hausen; häuslich in Häuslichkeit; klar in unklar, Klarheit; unklar oder auch Klarheit in Unklarheit; nutz(en) in nützlich, benutzen, der Nutzen; benutz(en) in benutzbar, Benutzer, Benutzung; benutzbar in Benutzbarkeit; engl. safe ‘sicher’ in safeness ‘Sicherheit’, unsafe ‘unsicher’, unsafe in unsafeness ‘Unsicherheit’, know ‘wissen, erkennen’ in knowing ‘wissentlich’, unknowable ‘unerkennbar’; frz. terre in terreux ‘erdig’, terrer ‘mit Erde bedecken’, atterrer ‘zu Boden werfen’, atterrir ‘landen’, atterrir in atterrisage ‘Landung’). Mit zunehmender Komplexität der Wortbildungsbasis nimmt die Wortbildungsaktivität ab. Bei syntaktischen Fügungen können freie (dt. Grundstein legen > Grundsteinlegung, blaue Augen > blauäugig; engl. long hair > long-haired ‘langhaarig’, two seats > two-seater ‘Zweisitzer’; span. siete meses > sietemesino ‘siebenmonatig’) oder phraseologische Wortgruppen (dt. sich den Hals brechen > halsbrecherisch; engl. to take one’s breath away ‘jmdm. den Atem verschlagen’ > breathtaking ‘atemberaubend’; russ. perelivat‘ iz pustogo v porošnee ‘leeres Stroh dreschen’ > pustoporošnij ‘nichtig, eitel, nutzlos’) als Basis dienen. Sätze kommen nur als Basis von Konversionen vor, dabei dominieren imperativische Sätze (dt. Stelldichein; engl. forget-me-not ‘Vergissmeinnicht’; frz. rendez-vous ‘Stelldichein’, cessez-lefeu ‘Feuereinstellung, Waffenruhe’). In geringem Umfang treten Initialwörter als Derivationsbasis

Basis, onomasiologische 188

B

auf (dt. SPDler; engl. VAT > VATable/vatable ‘mehrwertsteuerpflichtig’; frz. C.G.T. > cégétiste ‘Mitglied der C.G.T.’). Daneben sind auch nicht wortfähige Elemente mit lexikalisch-begrifflicher Bedeutung basisfähig. Es handelt sich dabei vor allem um aus dem Lateinischen und Griechischen entlehnte Wortbestandteile, für die sich neben gebundenem Grundmorphem der Begriff Konfix eingebürgert hat (dt. fanat- in fanatisch, therm- in thermisch, thermal; frz. socio- in sociologie). Auch einige heimische Wortstämme existieren nur in gebundener Form (dt. winz- in winzig, Winzling; frz. buv- in buvable ‘trinkbar’). Zu gebundenen Stämmen im Dt. vgl. z.B. Eisenberg (2012: 253). In der englischen Wortbildung (vgl. Schmid 2005: 41ff., 169) wird bei Wortbestandteilen, die nach der Segmentierung von Suffixen verbleiben und semantisch den lexikalischen Morphemen entsprechen, auch von gebundenen Wurzeln („bound roots“) gesprochen (engl. dist- in distal, distant, distance; spec- in special, specific, specify, specialty). Zur spezifischen Problematik der Fremdwortbildung im Dt. vgl. Eisenberg (2012, bes. Kap. 6), Müller (2015). Je nach Wortart, Wortbildungstyp, Morphemstruktur und indigener oder exogener Herkunft unterliegen die Basen verschiedenen Restriktionen in Bezug auf ihre Distribution sowie hinsichtlich morphologischer und/oder phonologischer Variation. Affigierung und Konversion nehmen grammatisch und semantisch Einfluss auf die jeweiligen Basen. Für eine synchron orientierte Abgrenzung von Basis und Derivat bzw. Konversionsprodukt, d.h. für die Bestimmung der Ableitungsrichtung, ist neben morphologischen Aspekten vor allem die semantische Motivationsbasis entscheidend (Erben 2006: 30f.), vgl. dt. Fisch als Basis von fischen, blicken als Basis von Blick; engl. hammer ‘Hammer’ als Basis von to hammer ‘hämmern’, dirty ‘schmutzig’ als Basis von to dirty ‘schmutzig werden/machen’, to reprint ‘nachdrucken’ als Basis von reprint ‘Nachdruck’. Mitunter müssen auch zwei Analysemöglichkeiten eingeräumt werden. So ist z.B. Unklarheit doppelmotiviert: als ein Suffixderivat durch unklar als Basis oder als ein Präfixderivat durch Klarheit als Basis (vgl. Fleischer/Barz 2012: 69f.). Bei Wortpaaren aus

Basis und Konversionsprodukt lässt sich die Konversionsrichtung synchron nicht immer eindeutig bestimmen, z. B. bei Antwort – antworten, Teil – teilen (vgl. Barz 2009: 667). Im Engl. wird zudem diachron durch den Wegfall der meisten Flexionsendungen der formale Zusammenfall von Nomina, Verben und Adjektiven begünstigt, sodass für viele Wortformen mehrfache Wortklassenzugehörigkeit anzunehmen ist (Schmid 2005: 187ff.). Nicht immer lässt sich die Ableitungsrichtung klar entscheiden. Hannelore Poethe ≡ Basismorphem → § 23, 27; Basisaffinität; Basisfähigkeit; Basislexem; Basisvariation; Derivationsbasis; Derivationsstammform; gebundenes Grundmorphem; Konfix; Konversion; Motivationsbasis; phrasale Basis ⇀ Basis (Phon-Dt; CG-Dt) ⇁ base (Phon-Engl; CG-Engl)

🕮 Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Eisenberg, P. [2012] Das Fremdwort im Deutschen. 2., überarb. Aufl. Berlin ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Müller, P.O. [2015] Foreign word-formation in German. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1615–1637 ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig.

Basis, onomasiologische → onomasiologische Basis

Basis, phrasale → phrasale Basis

Basis, potentiale → potentiale Basis

Basisablaut

Wechsel des Stammvokals bei der impliziten Ableitung. ▲ stem ablaut: change of the stem vowel in an internal derivation. Im Bereich des Substantivs betrifft die Erscheinung Substantive, die zur Wortfamilie von starken Verben gehören. Dabei bezeichnet Wellmann (1975: 40) alle diejenigen geregelten, proportional auftretenden Vokalalternationen zwischen Basis und Ableitung als Basisablaut,

189 Basisfähigkeit die nicht den Regeln des Umlauts folgen. Für das Gegenwartsdeutsche sind dabei folgende Verhältnisse belegt (Wellmann 1975: 40): 1. Wechsel ei – i: beißen – Biss, kneifen – Kniff, schleifen – Schliff. Dieser Ablaut tritt bei Wörtern auf, deren Grundmorphemvokal vor stimmlosen Spiranten oder r steht; 2. Wechsel ei – ī: abreiben – Abrieb, absteigen – Abstieg, treiben – Trieb (vor b, d, g bzw. deren stimmlosen Auslautvarianten); 3. Wechsel i – u vor Nasal und Konsonant: binden – Bund, finden – Fund, springen – Sprung; 4. Wechsel ī – u vor den stimmlosen Spiranten s und [χ]: fließen – Fluss, genießen – Genuss, riechen – Geruch; 5. Wechsel von ī und ū vor b, d, g bzw. ihren stimmlosen Auslautvarianten: fliegen – Flug, schieben – Schub, ziehen – Zug; 6. Wechsel von i zu a vor Nasal oder Konsonant: dringen – Drang, klingen – Klang, trinken – Trank; 7. Wechsel von e zu a vor oder nach r und l: brechen – Bruch, dreschen – Drusch, sprechen – Spruch; 8. Wechsel von ē zu ā vor stimmhaften Medien: geben – Gabe, nehmen – (An-, Über-)nahme, belegen – Belag (Wellmann 1975: 40). Von Basisablaut wird auch im Zusammenhang der Wortbildung mit Affixen oder Präpositionen gesprochen, insofern etwa bei präfigierten oder mit Präpositionen komponierten starken Verben im Frnhd. nur in einem Teil der flektierten Formen Ablaut in der Basis auftritt, etwa frnhd. bewegen ‘abwägen, überlegen’: bewog/bewegte (vgl. Habermann 1994: 275f.), frnhd. verhelen: verhol/verhelte, verschaffen: verschuf/verschaffte (vgl. Habermann 1994: 356), frnhd. abweisen: abweiste [statt abwies] (vgl. Habermann 1994: 110).

→ implizite Derivation; verbales Präfix

Eckhard Meineke

🕮 Habermann, M. [1994] Verbale Wortbildung um 1500. Eine historisch-synchrone Untersuchung anhand von Texten Albrecht Dürers, Heinrich Deichslers und Veit Dietrichs. Berlin [etc.] ◾ Ortner, L./ Müller-Bollhagen, E. [1991] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 4. Hauptteil: Substantivkomposita. Berlin [etc.] ◾ Wellmann, H. [1975] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 2. Hauptteil: Das Substantiv. Düsseldorf.

Basisaffinität

Neigung eines Wortbildungsaffixes, sich mit einer bestimmten Basiswortart zu verbinden.

▲ base affinity: tendency of a word-formation affix

to combine with a certain category of base.

Wortbildungsaffixe weisen hinsichtlich der Basiswortart unterschiedliche Präferenzen auf (Gansl­ mayer 2012: 996). Der im Rahmen des „Erlanger Modells“ einer historisch-synchronen Wortbildungsanalyse geprägte Begriff dient zugleich als Kriterium dafür, „ob zwei gegebene phonologischgraphemische Strukturformen als allomorphische Varianten oder als zwei eigenständige Wortbildungsmorpheme zu klassifizieren sind“. Als Allomorphe werden „alle etymologisch verbundenen phonologisch-graphemischen Strukturvarianten eines Wortbildungsmorphems [betrachtet], die in ihrer Wortbildungsfunktion und Basisaffinität konvergieren“ (Müller 1993: 46f.). Danach sind z.B. im Dürer-Korpus nicht nur -heit/-keit/-i(g)keit als allomorphische Varianten anzusehen, sondern auch -er/-ner, die gegenwartssprachlich hinsichtlich der Basiswortart divergieren und damit als eigenständige Wortbildungsmorpheme gelten. Aussagen zur Basisaffinität nach dem „Erlanger Modell“ gehören auch in anderen historisch-synchronen Untersuchungen zur morphologischen Wortbildungsanalyse, so z.B. bei Ring (2008), Gansl­mayer (2012). In der gegenwartssprachlichen Wortbildungsforschung wird in Bezug auf die Umgebung linguistischer Einheiten meist von Distribution gesprochen. Hannelore Poethe

→ Basis; Basiswortart; Derivation; Distribution

🕮 Ganslmayer, C. [2012] Adjektivderivation in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts. Eine historisch-synchrone Untersuchung anhand der ältesten deutschsprachigen Originalurkunden. Berlin [etc.] ◾ Müller, P.O. [1993] Substantiv-Derivation in den Schriften Albrecht Dürers. Ein Beitrag zur Methodik historisch-synchroner Wortbildungsanalysen. Berlin [etc.] ◾ Ring, U. [2008] Substantivderivation in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts. Eine historisch-synchrone Untersuchung anhand der ältesten deutschsprachigen Originalurkunden. Berlin [etc.].

Basisallomorphie ≡ Basisvariation

Basisfähigkeit

Eigenschaft einer sprachlichen Einheit, als Ausgangseinheit für Derivationen oder Konversionen fungieren zu können.

B

Basislexem 190 ▲ base capability: ability of a linguistic unit to serve

B

as the base of a derivation or conversion.

Basisfähig können einfache und komplexe Wörter bzw. Wortstämme sein, vgl. dt. gelb > gelblich; klar > unklar, Klarheit, klären; Nacht > nächtlich, nachts; rechn(en) > berechnen, Rechner, Rechnung, das Rechnen; sing(en) > besingen, Gesinge, Gesang, das Singen, sangbar, singbar; berechn(en) > Berechnung; verfügbar > Verfügbarkeit; engl. safe ‘sicher’ > unsafe ‘unsicher’ > unsafeness ‘Unsicherheit’; frz. possible ‘möglich’ > impossible ‘unmöglich, possibilité ‘Möglichkeit’. In geringerem Umfang sind auch Phrasen und Sätze basisfähig (dt. drei Fenster > dreifenstrig, Grundstein legen > Grundsteinlegung, Vergissmeinnicht; engl. two-seater ‘Zweisitzer’; frz. le rendez-vous ‘Verabredung’; span. nomeolvides ‘Vergissmeinnicht’, siete meses > sietemesino ‘siebenmonatig’), ebenso auch Initialwörter (dt. SPDler; frz. C.G.T. > cégétiste ‘Mitglied der C.G.T.’; engl. VAT > VATable/ vatable ‘mehrwertsteuerpflichtig’). Konfixe sind zwar allein nicht wortfähig, aber aufgrund ihrer lexikalischen Bedeutung überwiegend basisfähig (dt. fanat- in fanatisch, polit- in Politik; frz. socioin sociologie). Weder wort- noch basisfähig sind dagegen Affixe (Fleischer/Barz 2012: 84). In der englischen Wortbildung (vgl. Schmid 2005: 41ff., 169) wird mitunter bei Wortbestandteilen, die nach der Segmentierung von Suffixen verbleiben und semantisch den lexikalischen Morphemen entsprechen, auch von gebundenen Wurzeln („bound roots“) gesprochen (engl. distin distal, distant, distance ‘fern von’, ‘entfernt’, ‘Ferne’; spec- in special, specific, specify, specialty). Zur genaueren Beschreibung nicht wortfähiger, aber basisfähiger Elemente in der Fremdwortbildung im Dt. vgl. Eisenberg (2012, bes. Kap. 6), Müller (2015). Einschränkungen hinsichtlich der Basisfähigkeit ergeben sich aus der Spezifik der Wortbildungsarten: Phrasen und Konfixe können wegen der fehlenden Wortartmarkiertheit nicht als Basen für Präfixderivate fungieren (Barz 2009: 665f.). Aus diesem Grund sind auch Konfixe als Basen für Konversionen ausgeschlossen. Phrasen können nur zu Substantiven konvertiert werden (vgl. dt. das Auswendiglernen, das Von-der-Handin-den-Mund-Leben; engl. forget-me-not ‘Vergissmeinnicht’; frz. cessez-le-feu ‘Feuereinstellung,

Waffenruhe’). Einschränkungen der Kombinationsfähigkeit ergeben sich auch bei nicht nativen Basen. So verbinden sich im Dt. die fremdsprachlichen verbalen Präfixe de-/des-, dis-, in-, ko-/kol-/ kom-/kon-/kor-, prä-, re-, trans- ausschließlich mit fremdsprachlichen Basen (Barz 2009: 691). Hannelore Poethe

→ Basis; Derivation; Konfix; Konversion; phrasale Basis

🕮 Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Eisenberg, P. [2012] Das Fremdwort im Deutschen. 2., überarb. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Müller, P.O. [2015] Foreign word-formation in German. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1615–1637 ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin.

Basislexem

Lexem, auf das ein Wortbildungsprozess angewendet wird. ▲ base lexeme: lexeme to which a process of word-formation is applied. Wenn man Wortbildung als Bildung von Lexemen aus Lexemen versteht, ist ein Basislexem ein Lexem, aus dem ein anderes abgeleitet wird oder das mit einem weiteren Basislexem zu einem Kompositum verbunden wird (vgl. z.B. Spencer 2018: 285). Beispielsweise ist Staat Basislexem für staatlich, Freistaat, Staatsakt usw. Oft spricht man jedoch einfach von der Basis eines Wortbildungsprozesses oder vom Input dafür, was auch die Möglichkeit offenlässt, dass diese Prozesse mit Bezug auf Stämme formuliert werden (vgl. Mugdan 2015: 284–286). Basislexem wird insbesondere auch für den Ausgangspunkt einer Kurzwortbildung verwendet und dabei gerne auf Wortgruppen ausgeweitet, sodass z.B. nicht nur Universität als Basislexem für Uni gilt, sondern auch Elektronische Datenverarbeitung als Basislexem für EDV (s. Kobler-Trill 2002).

→ Basis; Kurzwort; Lexem; Vollwort ⇀ Basislexem (Lexik)

Joachim Mugdan

🕮 Kobler-Trill, D. [2002] Die Formseite der Abkürzungen und Kurzwörter. In: Cruse, D.A./ Hundsnurscher, F./ Job, M./ Lutzeier, P.R. [Hg.] Lexikologie (HSK 21.1). Berlin [etc.]: 452–456 ◾ Mugdan, J. [2015] Units of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 235–301 ◾ Spencer, A. [2018] On lexical entries

191 Basisumlaut and lexical representations. In: Bonami, O./ Boyé, G./ Dal, G./ Giraudo, H./ Namer, F. [eds. 2018] The lexeme in descriptive and theoretical morphology. Berlin: 277–301.

Basismorphem

≡ Basis; Grundmorphem

deutschen um 1500. In: ZfdPh 106. Sonderheft: Frühneuhochdeutsch. Zum Stand der sprachwissenschaftlichen Forschung: 117–137 ◾ Müller, P.O. [1993] Substantiv-Derivation in den Schriften Albrecht Dürers. Ein Beitrag zur Methodik historischsynchroner Wortbildungsanalysen. Berlin [etc.].

Basisumlaut

Basisrang

Bewertungsskala, mit der die Belegung einer Wortbildungsbasis in einem Korpus erfasst werden kann. ▲ base status: scale by means of which the attestation of a word-formation base in a corpus can be evaluated. Für Zwecke der historisch-synchronen Wortbildung wurde von Habermann/Müller (1987) im Zusammenhang mit der Kategorie Motivationsdichte eine Skala entwickelt, mit der sich die Belegung einer motivierenden Wortbildungsbasis bewerten lässt (Müller 1993: 64f.). Der Basisrang zeigt die räumlich-zeitliche Relation zwischen einem Derivat und dessen in Texten und Wörterbüchern ermittelter Wortbildungsbasis. Basisrang 1 – als Idealfall – nehmen die Basen ein, die im Textkorpus selbst belegt sind. Bei der Analyse der Substantiv-Derivation in den Schriften Albrecht Dürers beispielsweise sind das der handschriftliche Nachlass bzw. die Druckschriften Dürers. Bei den Basisrängen 2 bis 6 ist der Basisbezug lediglich textextern nachzuweisen, abgestuft nach räumlicher oder zeitlicher Distanz: bei Basisrang 2 in weiteren Texten derselben Zeit und desselben Ortes (in unserem Beispiel: um 1500 in Nürnberg), bei Basisrang 3 z.B. in Glossarien und Wörterbüchern des 15./16. Jh., die in Nürnberg gedruckt wurden; bei Basisrang 4 in Texten und Wörterbüchern, die ebenfalls im 15./16. Jh., aber nicht in Nürnberg entstanden sind; bei Basisrang 5 in Quellen – v.a. Wörterbüchern – des 17./18. Jh. Bei Basisrang 6 ist der Nachweis nur noch in Wörterbüchern des 19./20. Jh. möglich. Die Klassifikation kann nur approximativ angegeben werden, da Faktoren wie Textsortengebundenheit, Belegzufälligkeit und lexikografische Praxis das Ergebnis entscheidend beeinflussen können. Hannelore Poethe

→ Basis; historische Wortbildung (1); Motivationsdichte

🕮 Habermann, M./ Müller, P.O. [1987] Zur Wortbildung bei Albrecht Dürer. Ein Beitrag zum Nürnberger Frühneuhoch-

Umlaut, der in umlautfähigen Basen bei der Ableitung mit einen Umlautfaktor enthaltenden Suffixen auftritt. ▲ stem umlaut: mutation of the stem vowel as result of a derivation with suffixes containing a factor that conditions the mutation. Im Ahd. beispielsweise ist der Basisumlaut vor allem im Fall der Umlautung des germ. a durch einen folgenden Umlautfaktor in Gestalt von i, ī oder j zu beobachten, so in germ. drank-j-an sw. V. > ahd. trenken, kraft st. F. > kreftīg Adj., bald Adj. ‘kühn’ > beld-ida st. F. ‘Kühnheit’. Im Mhd. wird auch der Umlaut in den Basen durch die Graphie sichtbar, die alle anderen umlautfähigen kurzen und langen Vokale außer germ. a aufweisen, so etwa in ā > langes æ in ahd. sālida > mhd. sælde ‘Heil (von Gott)’, ō > œ in ahd. scōnī > mhd. scœne st. F. ‘Schönheit’, germ. haur-j-an > ahd. hōren > hœren sw. V. ‘hören’, ahd. hōhiro > mhd. hœher. Beim Basisumlaut geht es wohlgemerkt nicht darum, dass die Basis bereits einen Umlaut aufweist, der dann in der Ableitung ebenfalls erscheint oder aber gerade nicht, wie es bei der Ableitung von frnhd. böse mit -heit der Fall ist, welche als bösheit erscheinen kann, aber auch als bosheit. Im Fall der umlautlosen Ableitung bosheit kann angenommen werden, dass die Ableitung bereits im Ahd. erzeugt wurde, so dass der Umlautfaktor des Adjektiv ahd. bōsi so früh ausfiel, dass in der Basis kein Umlaut mehr erzeugt werden konnte. Wenn aber die Ableitung in frnhd. Quellen sogar innerhalb ein und desselben Textes einmal umgelautet als bösheit und ein andermal nicht umgelautet als bosheit erscheint, dürfte hier primär ein graphematisches Problem vorliegen; der Umlaut wird nicht systematisch bezeichnet (vgl. Doer­ fert 1994: 73). Im Folgenden wird das Auftreten bzw. Nichtauftreten des Basisumlauts im Deutschen anhand einiger Beispiele dargestellt. Vollständigkeit kann in diesem Rahmen nicht erreicht werden. Der Basisumlaut ist eine für die Wortbildung durch Suffixe im Deutschen charakteristische Erschei-

B

Basisumlaut 192

B

nung (Prell/Schebben-Schmidt 1996: 26f.). Dabei wollen Prell/Schebben-Schmidt das vom Begriff Umlaut Bezeichnete nicht als einen historischen Prozess, sondern als eine synchron feststellbare Basisvariation verstehen. Sie tritt etwa im Rahmen der frnhd. Verbableitungen auf -en auf bei farbe/färben, ferben; rot/beröten, furcht/fürchten, haupt/enthäupten. Von diesem wortbildungsbedingten Basisumlaut werden die Fälle unterschieden, in denen der Umlaut auf eine Pluralform zurückzuführen ist wie bei blätter-n, auf eine Diminutivform wie bei küchel-n oder eine Komparativform wie bei schmäler-n. Ein weiterer Faktor tritt in dem Fall begnädigt im Ostschwäbischen auf; dieses Wort stehe offenbar unter dem Einfluss des Adjektivs gnädig; strenggenommen habe hier nur das Adjektiv Umlaut (Prell/Schebben-Schmidt 1996: 27). Basisumlaut ist weiterhin belegt bei den Verben auf -igen (Prell/SchebbenSchmidt 1996: 41, 52), auch zusätzlich präfigierten wie begnadigen/begnedigen (1996: 203), denominalen -ern-Ableitungen wie räuchern und einäschern (1996: 55f.), bei Partizipialbildungen wie vergöttet ‘zu einem Gott geworden’ statt vergottet zum Verb vergötten (jünger vergöttern) statt vergotten (vgl. 1996: 88), weiterhin bei Verben auf -en in rümpfen ‘die Stirn in Falten legen’ – vgl. die Nase rümpfen – zu rumpf ‘Runzel, Falte’ (1996: 95), narren/nerren ‘zum Narren machen, wie einen Narren behandeln’ zur Basis narr, in den späteren Schriften Luthers im Gegensatz zu den früheren mit Umlaut belegt (1996: 99), raumen/räumen zu raum (1996: 104), dampfen/dämpfen zu dampf (1996: 110), etw. sturmen/stürmen ‘im Sturm angreifen, einnehmen’ zu sturm (1996: 132), rasten/resten zu rast ‘Ruhe, Rast’. Dort, wo zwei Verben jeweils mit und ohne Umlaut nicht nur lautliche Varianten ein und desselben Verbs sind, sondern verschiedene Bedeutungen haben, kann davon gesprochen werden, dass der Basisumlaut analog einem Wortbildungsmittel wirkt. Das ist etwa der Fall bei fallen/fällen oder bei saugen/säugen (1996: 360). Bei der Substantivableitung mit -heit/-keit, -ida, -ī im Frnhd. ist der Basisumlaut etwa im Vergleich der Basis fromm mit der Ableitung Frömmigkeit belegt (Doerfert 1994: 73). Die Bildungen mit der Kontinuante des ahd. Suffixes -ida zeigen im Frnhd. teilweise Basisumlaut, so bei Verben als Basis erbarmen > erbermde oder gebaren > geberde (vgl. Doerfert 1994: 93). Bei adjektivischen

Basen ist der Basisumlaut in allen fünf Bildungen mit umlautfähiger Basis belegt: warm > wermede, hoich > hoechde, starck > sterckde, lange > lengde, lam > lemde (vgl. Doerfert 1994: 93f.). Bei den Bildungen mit der Kontinuante von ahd. -ī zeigen etwa die Ableitungen fäule zu faul, größe zu groß, kürze zu kurz, schärfe zu scharf oder säure zu sauer Basisumlaut (Doerfert 1994: 97, 99), ebenso wie Ableitungen von Modaladverbien wie bälde > bald oder genüge > genug (Doerfert 1994: 99). Im Rahmen der substantivischen Ableitung der deutschen Gegenwartssprache erscheint Basisumlaut nur in der Verbindung mit Suffixen, wobei er aber mit größerer Regelmäßigkeit nur bei wenigen von ihnen auftritt. Wie bereits eingangs ausgeführt, war die hauptsächliche lautliche Bedingung für das Eintreten des Umlauts ein -i in der dem betreffenden Vokal nachfolgenden Silbe. Das ist im heutigen Deutsch nur noch an dem Vokalwechsel vor -in (Wölfin), -icht (Röhricht), -ling (Fäustling) und -nis (Gelöbnis) zu beobachten. Für die später eingeführten Fremdsuffixe wie -ist oder -ismus gilt das aber nicht. Der Vokalwechsel tritt aber auch vor einem heutigen -e oder -ei auf, sofern diese aus altem -i oder -ī stammen, also vor -lein (Stündlein), -(er)ei (Büberei), -e (Länge, Wäsche), -el (Bündel), -er (< -āri) (Läufer), -ner (Söldner) und -ler (Ausflügler). Dabei gilt die Umlautregel wie angedeutet für keines der Wortbildungssuffixe ausnahmslos (Wellmann 1975: 36f. sowie Tabelle 38f.). Ferner ist Vokalwechsel vor -chen (Füßchen), -issin (Äbtissin), -erich (Gänserich), bei Ge-...-(e) (Gelände, Gesträuch, Gespött, Gebäck) und -igkeit (Frömmigkeit) belegt (Wellmann 1975: 38f.). Okkasionelle Bildungen wie Jämmerling können sowohl auf Jammer als auch auf jämmerlich bezogen werden (Wellmann 1975: 315). Teilweise mit Basisumlaut verbunden sind aus Regionalnamen oder Ländernamen abgeleitete Herkunftsbezeichnungen wie Steiermärker oder Elsässer. Bei Bildungen zu Länderbezeichnungen mit dem Zweitglied -land wie Engländer, Neuseeländer oder Niederländer wird der hier auftretende Umlaut mit einer Anregung durch die umgelautete Pluralform in Verbindung gebracht (Wellmann 1975: 401). Bei den verbalen Ableitungen der deutschen Gegenwartssprache ist Basisumlaut bei den reinen, d.h. präfixlosen Ableitungen mittels -igen

193 Basisvariation von Adjektiven und Substantiven wie in sättigen < satt belegt, wenn die Basis umlautfähig ist; eine Ausnahme bildet lediglich huldigen < Huld. Bei den Präfix-Suffix-Ableitungen hingegen gibt es häufiger umlautlose Ableitungen, so belobigen, beschuldigen, entmutigen. Denominale Bildungen mit -(e)l-(n) haben zu 90% ebenfalls Basisumlaut, so etwa züngeln oder kränkeln. Nur unter den Bildungen mit substantivischer Basis finden sich vereinzelte Bildungen ohne Basisumlaut, so radeln. Bei den Deverbativa weisen 40% keinen Basisumlaut auf, so dass Fälle wie hüsteln oder spötteln neben solchen wie hangeln oder brummeln stehen (Kühnhold/Wellmann 1993: 23). Bildungen mit dem Suffix -(is)ier-(en) zeigen dagegen nie einen Umlaut der meist fremdwörtlichen Basis. Dagegen wechseln bei den Ableitungen mit -∅(en) Umlaut und Umlautlosigkeit. Dabei ist aber dieser Wechsel wohl von den Bedingungen der lautlichen Umgebung nicht abhängig. Manche Wortbildungsweisen kommen ganz ohne Umlaut aus. Besonders bei der Ableitung intransitiver Verben durch -∅-(en) erscheint meistens kein Basisumlaut. Zu diesen gehören vor allem die desubstantivischen Bildungen wie tagen oder hageln, fußballern oder strolchen, robben oder luchsen, sich kugeln oder flammen, buttern oder modern, mosten oder wursten, knospen oder harzen, fluchen oder urlauben, trommeln oder gondeln. Die wenigen Gegenbeispiele sind Wörter wie kämpfen, strömen, trügen, stürmen, höhnen, brüten, stürzen; diese können synchron sowohl als Ableitungen zu Kampf, Strom, Tag usw. angesehen werden als auch umgekehrt als verbale Basen zu diesen substantivischen Aktionsbezeichnungen. Bei den deadjektivischen Intransitiva wie lahmen ist der Umlaut ähnlich geregelt. Die meisten Gegenbeispiele wie etwa bräunen, nässen oder säuern lassen sich als intransitiv verwendete eigentliche Transitiva mit Umlaut erklären. Diese Transitiva nämlich bieten ein anderes Bild. Bei ihnen sind die umgelauteten Varianten häufiger als die nicht umgelauteten. Dabei sind allerdings bei den desubstantivischen Ableitungen unter den Transitiva keine festen Regularitäten anzugeben, so dass einerseits Verben wie schroten, etw. achteln, andererseits Verben wie häufen oder stählen, einerseits jdn. salben, loben, andererseits jdn. krönen, trösten, einerseits etw. polstern, salzen, andererseits etw. färben, kränzen, einerseits

etw. häuten, schälen, andererseits etw. schuppen, einerseits etw. kämmen, pflügen, andererseits etw. hobeln belegt sind (Kühnhold/ Wellmann 1993: 24). Bei den deadjektivischen Bildungen von Transitiva wird der Umlaut in etwa 80% der Fälle gesetzt, ebenso wie bei den entsprechenden Reflexiva (etw./sich röten). Dagegen stehen Beispiele wie sich/etw. straffen, sich doppeln, sich/etw. lockern, sich/etw. offenbaren, sich/etw. runden, etw. garen, etw. trocknen (Kühnhold/Wellmann 1993: 25). Die Opposition zwischen umgelauteten und nicht umgelauteten Verben wird allerdings nicht systematisch zur Trennung der Intransitiva von den Transitiva genutzt, sondern nur in wenigen Fällen wie kranken (intrans.) und jdn. kränken bei adjektivischer Basis, dampfen und etw. dämpfen mit substantivischer Basis (Kühnhold/Wellmann 1993: 25). Eckhard Meineke

→ deadjektivische Derivation; desubstantivische Derivation; deverbale Derivation; implizite Derivation

🕮 Doerfert, R. [1994] Die Substantivableitung mit -heit/-keit, -ida, -î im Frühneuhochdeutschen. Berlin [etc.] ◾ Kühnhold, I./ Wellmann, H. [1973] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 1. Hauptteil: Das Verb. Düsseldorf ◾ Prell, H.-P./ Schebben-Schmidt, M. [1996] Die Verbableitung im Frühneuhochdeutschen. Berlin ◾ Wellmann, H. [1975] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 2. Hauptteil: Das Substantiv. Düsseldorf.

Basisvariation

unterschiedliche formale Realisierungsformen von Wortbildungsbasen. ▲ base variation: different formal realisations of a word-formation base. Abhängig von sprachhistorischen Faktoren und von der Distribution können Wortbildungsbasen lautlich und graphisch variieren. Aufgrund der semantischen Identität und phonologisch-graphischer Ähnlichkeit lassen sich die verschiedenen Realisierungsformen als Varianten (Allomorphe) ein und desselben Morphems identifizieren (vgl. Fleischer/Barz 2007: 30f.). Solche auch als morphonologische Alternanten bezeichneten Varianten bilden die Schnittstelle zwischen Morphologie und Phonologie (Schmid 2005: 167). Typische Erscheinungsformen im Dt. sind Phonemtilgung oder -alternation im Morphem- bzw. Wortausgang (Schule – schulisch, Winkel – winklig) sowie die Vokalalternation im Stammvokal

B

Basiswortart 194

B

durch Umlaut (Dorf – dörflich, hart – härten) oder Ablaut (binden – Band). Kombinatorische Allomorphie liegt vor, wenn die Variation an bestimmte Wortbildungstypen gebunden ist (vgl. die Umlautung bei der deadjektivischen Derivation auf -e: rot – die Röte oder die lautliche Varianz des Phonems /ç/ bei Buch – Büchlein, Bach – Bächlein). Fleischer/Barz (2012: 342) betrachten auch den Einschub eines Gleitkonsonanten -t-, -d- (wesentlich, morgendlich) und das Anfügen von -nt bei Basen auf -e (wöchentlich, namentlich) als Fälle von Basisvarianz. Auch im Frz. z.B. lassen sich Bindekonsonanten wie in enjoli/v/er, cafe/t/ière, fourmi/l/ière als „allomorphischer Zuwachs an Basismorphemen“ betrachten (vgl. Thiele 1981: 18). Im Engl. (vgl. Schmid 2005: 166ff.) können Basen in Suffigierungen ihr Betonungsmuster und die Qualität der Vokale ändern (írony – irónical). Eine weitere Erscheinungsform ist die Assimilation des auslautenden Konsonanten der Basis an den Anlaut des Suffixes, vgl. exclude – exclusive, relate – relation. Vielfach wird die Assimilation durch Veränderung des Vokals der betonten Silbe begleitet (please – pleasure). Als vermutlich häufigsten Fall der morphonologischen Alternation führt Schmid „die Kombination aus Verschiebung des Haupttons innerhalb eines Wortes und einer qualitativen und quantitativen Veränderung von Vokalen“ an: ecónomy – económic, combíne – combinátion. Distributionell bedingte lautliche Varianz findet sich auch häufig im Frz. (vgl. die Aussprache von /g/ in prolongement – prolongation). Varianten der Basis finden sich in verschiedenen Sprachen häufig bei Bildungen mit entlehnten Elementen (dt. agieren – Aktion, projizieren – Projektion, frz. construire – construction, corriger – correcteur). In den romanischen Sprachen sind Varianten häufig dadurch bedingt, dass das Lat. zu verschiedenen Zeiten die Wortschatzentwicklung beeinflusst hat (frz. lire ‘lesen’ – lecteur ‘Leser’, rompre ‘brechen’ – rupture ‘Bruch’, ital. cenere ‘Asche’ – cinereo ‘aschfarbig, aschgrau’, vetro ‘Glas‘ – vitreo ‘gläsern’, oro ‘Gold’ – aureo ‘golden’. ≡ Basisallomorphie

→ Stammvariante

Hannelore Poethe

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völ-

lig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig.

Basiswortart

Wortart, der eine Derivations- oder Konversionsbasis angehört. ▲ base word-class: word class to which a derivation or a conversion belongs. Die Wortbildungsanalyse nach Basiswortarten ist Grundlage für eine morphologische Subklassifizierung bei der Derivation und Konversion. Als Subtypen ergeben sich danach vor allem desubstantivische (Substantiv als Basiswortart), deadjektivische (Adjektiv als Basiswortart) und deverbale Derivations- und Konversionsmodelle (Verb als Basiswortart). Die übrigen Wortarten sind nur schwach oder kaum wortbildungsaktiv. Die Wortart gehört zu den entscheidenden Faktoren für die Wortbildungsaktivität (vgl. Fleischer/Barz 2012: 81f.). Auch für konfrontative Untersuchungen stellt die Wortart der Basis einen wichtigen Aspekt dar (vgl. Ohnheiser 1987: 15ff.). Im „Erlanger Modell“ einer historisch-synchronen Wortbildungsanalyse wird auch die Lexemgruppe unter dem Begriff der Basiswortart mit erfasst, wie z.B. in den Derivaten düner machung, seidensticker (Müller 1993: 160 u. 243). In gegenwartssprachlichen Darstellungen wird hier meist von phrasaler Basis (syntaktische Fügungen und Sätze) gesprochen. Hannelore Poethe

→ Basis; Basisfähigkeit; deadjektivische Derivation; desubstantivische Derivation; deverbale Derivation; phrasale Basis; Wortbildungsaktivität

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Müller, P.O. [1993] Substantiv-Derivation in den Schriften Albrecht Dürers. Ein Beitrag zur Methodik historisch-synchroner Wortbildungsanalysen. Berlin [etc.] ◾ Ohnheiser, I. [1987] Wortbildung im Sprachvergleich. Russisch – Deutsch. Leipzig.

Bedeutung, assoziative → assoziative Bedeutung

Bedeutungsbeziehung

≡ semantische Relation ⇀ Bedeutungsbeziehung (SemPrag)

Bedeutungsbildung

→ Metaphorisierung; Metonymisierung

195 Benennungslücke

Bedeutungsisolierung

≡ Idiomatisierung ⇀ Bedeutungsisolierung (SemPrag)

Bedeutungsverschlechterung

≡ Pejoration ⇀ Bedeutungsverschlechterung (HistSprw; Lexik)

Benennung

usuelle oder okkasionelle lexikalische Einheit, mit der Sprecher auf Begriffe und durch sie vermittelt auf Gegenstände, Vorstellungen, Prozesse und deren Merkmale referieren können. ▲ denomination: usual or occasional lexical unit by means of which speakers refer to concepts and via these concepts to objects, ideas, and processes and their properties. Der Ausdruck „Benennung“ bezieht sich auf strukturell und funktional unterschiedliche Zeichen. Ihrer Struktur nach sind Benennungen einfache oder komplexe Wörter oder Wortgruppen. In Hinblick auf ihre Funktion lassen sich nichtterminologische und terminologische Appellativa und Onyme unterscheiden. Benennungen hypostasieren eine gedankliche Einheit, ein Konzept. Sie haben begriffskonsolidierende Funktion, mit ihnen erwerben die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft die in dieser Gemeinschaft üblichen Begriffe, deren Gliederung und Strukturierung. Nicht jedes Wort ist damit eine Benennung, eine Versprachlichung konzeptueller Strukturen, mit deren Hilfe Sprecher auf Gegenstände, Prozesse oder Eigenschaften der (realen oder fiktiven) Umwelt referieren, vgl. etwa Konjunktionen, Präpositionen und Partikeln. Bellmann (1988) differenziert zwischen Benennung und Nomination. Danach ist Benennung nur insofern ein referentieller Vorgang, „als einem Objekt bzw. dessen Begriff ein Ausdruck zur künftigen Verwendung zugeordnet wird“ (Bellmann 1988: 12). Dem steht die Nomination als Nutzung eines Zeichens im Redeakt, als „aktuelle Bezugnahme des Schreibers/ Sprechers auf Objekte oder auf Begriffe von Objekten“ (Bellmann 1988: 12) gegenüber. Eine solche kommunikative Referenz setzt in den meisten Fällen Benennung voraus. In der v.a. durch russ. Linguisten entwickelten Nominationstheorie (vgl. Serebrennikov/Ufimceva 1977) werden dagegen beide Prozesse, der Akt der Bildung

einer Benennung und die Benennung im Redeakt, unter dem Begriff der Nomination zusammengeschlossen. Dabei wird auch die Phraseologie als Benennungsart unter nominationstheoretischem Aspekt betrachtet. Die nominationstheoretisch orientierte Wortbildungsforschung untersucht Wortbildungen als Mittel der Nomination (Fleischer 1984; Barz 1988). Anja Seiffert

→ Benennungslücke; Benennungsmotiv; Erstbenennung; Hypostasierung (1); Zweitbenennung

⇀ Benennung (Lexik; Sprachphil)

🕮 Barz, I. [1988] Nomination durch Wortbildung. Leipzig ◾ Bellmann, G. [1988] Motivation und Kommunikation. In: Munske, H.H./ von Polenz, P./ Reichmann, O./ Hildebrandt, R. [Hg.] Deutscher Wortschatz. Lexikologische Studien. Berlin [etc.]: 3–23 ◾ Fleischer, W. [1984] Aspekte der sprachlichen Benennung. Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR. Gesellschaftswissenschaften. 7/G. Berlin ◾ Knobloch, C./ Schaeder, B. [Hg. 1996] Nomination – fachsprachlich und gemeinsprachlich. Opladen ◾ Serebrennikov, B.A./ Ufimceva, A.A. [eds. 1977] Jazykovaja nominacija. Vidy naimenovanij. Moskva.

Benennungslücke

konzeptuelle Einheit, für die innerhalb einer Sprache keine geeignete Benennung existiert. ▲ lexical gap: conceptual unit for which a language lacks a suitable denomination. Benennungen sind versprachlichte Konzepte. Es gibt jedoch Konzepte, für die eine geeignete Benennung fehlt, sei es, weil die entsprechenden konzeptuellen Einheiten infolge neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse oder technischer Entwicklungen erstmals begrifflich gefasst werden oder weil innerhalb einer Sprachgemeinschaft kein Bedarf an einer entsprechenden Benennung besteht. So kennt das Dt. zwar Benennungen wie salzig oder nussig, für den ‘Geschmack von Paprika’ oder den ‘Geschmack von Mandeln’ gibt es dagegen keine Benennung (vgl. auch Schwarz/Chur 2007: 62ff.). Für das Engl. fehlen Benennungen konzeptueller Einheiten wie ‘brother and sister’ (dt. Geschwister), ‘to say nothing’ (dt. schweigen). Unter kommunikativem Aspekt entstehen Benennungslücken auch dann, wenn eine vorhandene Benennung den Sprecherintentionen nur noch unzureichend oder gar nicht mehr gerecht wird (Eichinger 2000: 43), vgl. engl. negro/dt. Neger. Um die Schließung einer Benennungslücke handelt es sich, wenn eine neue Benennung geschaffen wird, die eine bisher nicht versprachlichte konzeptuelle

B

Benennungsmotiv 196

B

Einheit hypostasiert. Die Hauptwege zur Schließung von Benennungslücken sind: Wortbildung (engl. ozone hole/dt. Ozonloch), Entlehnung (dt. Job-Floater) und Bedeutungswandel (engl. mouse/ dt. Maus/frz. souris ‘Computermaus’). Anja Seiffert ≡ lexikalische Lücke → Benennung; Erstbenennung; Hypostasierung (1); Zweitbenennung

🕮 Corbin, D. [1987] Morphologie dérivationnelle et structuration du lexique. 2 vols. Tübingen ◾ Eichinger, L.M. [2000] Deutsche Wortbildung. Tübingen ◾ Plank, F. [1981] Morphologische (Ir-)Regularitäten. Tübingen ◾ Schepping, M.-T. [1985] Das Lexikon im Sprachvergleich. In: Schwarze, C./ Wunderlich D. [Hg.] Handbuch der Lexikologie. Königstein: 184–195 ◾ Schwarz, M./ Chur, J. [2007] Semantik. Tübingen.

Benennungsmotiv

Merkmal eines Begriffs, das in den Benennungsprozess eingeht. ▲ denomination motivation: property of a concept which determines its denomination. Benennungsmotive wirken als semantische Stütze bei der Sprachverarbeitung. Bei phonetisch motivierten Wörtern wie dt. quaken, engl. to quack, russ. kvakat’ manifestiert sich das Benennungsmotiv in der Lautstruktur, die das bezeichnete Lautbild akustisch nachzuahmen sucht. Als Benennungsmotiv figurativ motivierter Bedeutungsübertragungen, z.B. engl. fox ‘clever person’, dt. Fuchs ‘listiger Mensch, Schlaukopf’ oder ‘Pferd von rötlich-brauner Farbe’, engl. bottleneck ‘Engpass’, dienen Ähnlichkeitsbeziehungen, etwa die Ähnlichkeit des Charakters, der Farbe oder der Form. Wortbildungen wie dt. Blaubeere/engl. blueberry/russ. černika (zu čërnyj ‘schwarz’) oder engl. blackberry (‘Brombeere’), benannt nach der Farbe, dt. Stachelbeere/ital. uva spina benannt nach der Form oder dt. Johannisbeere, benannt nach der Zeit der Fruchtreife (Johannistag: 24. Juni), verweisen durch ihr Benennungsmotiv auf charakteristische Objektmerkmale. Dabei zeigt sich gerade im Nebeneinander von Benennungen wie dt. Blaubeere/Heidelbeere (zu Heide; benannt nach dem Standort), dass das Benennungsmotiv eine subjektive, sozial und kommunikativ bedingte Auswahl von Merkmalen ist. Bei der Wahl des Benennungsmotivs entscheidet sich der Benennende für die Merkmale, die ihm wichtig sind, sei es, weil sie besonders auffallen, weil sie zur

begrifflichen Differenzierung beitragen oder weil sie bestimmte Assoziationen auslösen, etwa die Assoziation ‘gesund’ in Biojoghurt, Biogemüse, Bio-Kartoffeln oder ‘umweltverträglich’ in Ökoladen, Ökostrom, Ökotourismus. Benennungsmotive können beschönigend oder verschleiernd wirken, z.B. Entsorgungspark (vgl. Strauẞ/Haẞ/ Harras 1989). Dass sich Benennungsmotive wandeln können, beweisen referentiell identische Ausdrücke wie Altenheim – Seniorenheim bzw. Seniorenresidenz oder Hilfsschule – Sonderschule – Förderschule, die sich in Hinblick auf ihre Benennungsmotive, deren semantische Vernetzung und die damit aktivierten Wissensstrukturen unterscheiden. Anja Seiffert ≡ Bezeichnungsmotiv → Benennung; Motivation; Wortbildungsbedeutung; Zweitbenennung

🕮 Schippan, T. [2002] Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache. 2., unveränd. Aufl. Tübingen ◾ Schröder, M. [1980] Zum Zusammenhang zwischen Benennungsmotiv, Motivbedeutung und Wortbedeutung. In: DaF 1980: 327–330 ◾ Strauẞ, G./ Haẞ, U./ Harras, G. [1989] Brisante Wörter von Agitation bis Zeitgeist. Berlin [etc.].

Bestimmungswort

≡ Determinans ⇀ Bestimmungswort (Lexik)

Betonung

≡ Akzent ⇀ Betonung (Phon-Dt; Sprachdid)

Betonungsverschiebung ≡ Akzentwechsel

Bewertung, taxierende → Taxation

Bewirkungsverb ≡ faktitives Verb

Bezeichnungsmotiv ≡ Benennungsmotiv

Bikompositum

≡ Doppelkompositum

Bildung, affixlose

→ implizite Derivation

197

Bildung, demotivierte → demotivierte Bildung

Bildung, durchsichtige → motivierte Bildung

Bildung, hypokoristische → Hypokoristikum

Bildung, idiomatisierte → demotivierte Bildung

Bildung, isolierte

→ demotivierte Bildung

Bildung, lexikalisierte → lexikalisierte Bildung

Bildung, motivierte → motivierte Bildung

Bildung, movierte → movierte Bildung

Bildung, nicht-usuelle → Ad-hoc-Bildung

Bildung, okkasionelle → Ad-hoc-Bildung

Bildung, opake

→ demotivierte Bildung

Bildung, transparente → motivierte Bildung

Bildung, undurchsichtige → demotivierte Bildung

Bildung, usuelle → usuelles Wort

Bildung, verdunkelte → demotivierte Bildung

Bildungsbeschränkung ≡ Restriktion

Bildungstyp, syntaxnaher → syntaxnaher Bildungstyp

binäre Verzweigung

binäre Verzweigung

Struktur komplexer Wörter, für die eine Verkettung von zwei Elementen auf jeder Analyse-Ebene charakteristisch ist. ▲ binary branching: structure of complex words in which any level of analysis is characterized by a concatenation of two elements. Eine zentrale Annahme von strukturalistischen Theorien über Wortbildung war, dass komplexe Wörter auf verschiedenen Ebenen in mittelbare und unmittelbare Morphem-Kombinationen segmentiert werden können. Strukturalistische Analysen von komplexen Wörtern haben deshalb bereits von der Idee hierarchischer Anordnungen Gebrauch gemacht. Marchand (1969) machte diese Annahme expliziter, indem er morphologische Syntagmen als binäre Kombinationen auffasste, die die funktionale Struktur eines Determinans zusammen mit einem Determinatum aufweisen. Die Terminologie innerhalb der traditionellen Wortbildungsgrammatik des Deutschen deutete diese Analyse bereits an, da sie von „Bestimmungswort“ und „Grundwort“ sprach. Frühe generative Theorien zur Wortbildung strukturierten komplexe Wörter ebenfalls in binäre Gruppen, die aus der Art und Weise, auf die Wortbildungsregeln angewandt wurden, resultierten. Aronoff (1976: 22), zum Beispiel, nahm an, dass Wortbildungsregeln auf Wörtern basieren und dass sie eine spezifische phonologische Operation an einer Basis spezifizierten. Weil seine Theorie auf Wörtern und nicht auf Morphemen basierte, definierte Aronoff Affixe nicht als unabhängige Elemente des Lexikons. Stattdessen erscheinen Affixe in seiner Theorie nur als phonologische Einheiten innerhalb von Wortbildungsregeln, die zu einer Wortbasis hinzugefügt werden und die ein strukturelles und semantisches Resultat auf das abgeleitete komplexe Wort haben. Ein Beispiel ist die Wortbildungsregel, die die Einheit +ee an Verben anhängt, um belebte Nomen, die sich auf das direkte oder indirekte Objekt der verbalen Aktivität beziehen, wie in employee oder payee gegenüber *tearee, zu bilden. Die Anwendung der relevanten Wortbildungsregel resultiert in die Form in (1) (vgl. Aronoff 1976: 49): (1) [[employ]V +ee]N ‘Angestellter’ Die Anwendung der Wortbildungsregel mit -ism auf das abgeleitete Adjektiv constitutional in (2a)

B

Bindevokal 198

B

würde constitutionalism mit der Struktur in (2b) bilden (vgl. Aronoff (1976: 58). Dementsprechend bringt Aronoffs Theorie zu Wortbildungsregeln eine binäre Anordnung auf jeder Ebene der Analyse hervor: (2a) [[constitution]N al]A (2b) [[[constitution]N al]A #ism]N Die wort-syntaktischen Theorien von Lieber (1981), Williams (1981), Selkirk (1982) und Toman (1983) waren im Gegensatz zu Aronoff (1976) eher morphem- als wortbasiert, da sie sowohl Wurzel- und Stammmorpheme als auch Affixe als einzelne lexikalische Elemente mit eigenen lexikalischen Einträgen betrachteten. Wortbildungsregeln (oder Perkulationskonventionen bei Liebers) verketteten diese individuellen Einträge miteinander, um binär verzweigte hierarchische Konfigurationen zu bilden, die den durch die Regeln und Prinzipien der Syntax geformten Konfigurationen ähnelten. Tatsächlich schlugen sowohl Selkirk (1982) als auch Toman (1983) parametrisierte Versionen der X-Bar-Theorie als Wortbildungsregeln vor, die Strukturen wie in (3) bewirkten: (3) Nn Nn

Nn

Nn

Af

neighbor

-hood

planning

Diese Annahme über die interne Struktur von komplexen Wörtern wurde als „binary branching hypothesis“ bekannt, die in expliziter Form eine Annahme festhielt, die seit den frühen Untersuchungen der Wortbildung implizit gewesen war. Folglich werden für die Ableitung unlikeability ‘Nicht-Liebenswürdigkeit’ sowie für die Komposita ostrich race promoter ‘Straußenrennen-Promoter’, downstairs dining room ‘Erdgeschoss-Esszimmer’ und home health care worker ‘häuslicher Krankenpfleger’ die rekursiven, hierarchischen Strukturen in (4) vorhergesagt: (4a) [[un [like abl(e)]] ity] (4b) [[ostrich race] promoter] (4c) [[down stairs] [dining room]] (4d) [home [[health care] worker]] Parasynthetische Wortbildungen werden als

eine Herausforderung für die Annahme der „binary branching hypothesis“ angesehen. Parasynthetische Wörter wie de+caffein+ate (ent+koffein+ier+en) scheinen keine binary branching structure zu haben, sondern eine, in der ein Präfix und ein Suffix gleichzeitig der Basis (caffein/ Koffein) hinzugefügt werden. In diesem Kontext diskutiert Scalise (1984: 150–151) die italienischen Konstruktionen in (5), (5a) calcistico ‘related to football’ (5b) manualistico ‘related to handbook’ (5c) intellettualistico ‘intellectualistic’ in denen die mittleren Formen calcista, manualista, intellettualista nicht als Wörter erscheinen. Um bspw. calcistico von calcio abzuleiten ohne die binary branching hypothesis zu verletzen, nimmt Scalise die mögliche, aber nicht usuelle Zwischenform calcista an. Dies ist keine unplausible Annahme, was durch diejenigen Fälle gezeigt werden kann, in denen der Zwischenschritt als ein etabliertes Wort erscheint, vgl. semplice ‘simple’ > semplicista ‘superficial person’ > semplicistico ‘simplistic’. Schmid (2005: 210) hingegen argumentiert auf Grundlage des Beispiels unknowable (*to unknow, *knowable), dass ternäre Strukturen eine Möglichkeit sein sollten. Susan Olsen

→ Determinans-Determinatum-Struktur; Rekursivität; strukturalistische Wortbildungslehre

🕮 Aronoff, M. [1976] Word Formation in Generative Grammar. Cambridge, MA [etc.] ◾ Lieber, R. [1981] The Organization of the Lexicon. Bloomington, IN ◾ Plag, I. [2003] Word-Formation in English. Cambridge ◾ Scalise, S. [1984] Morphology in Generative Grammar. Dordrecht ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin ◾ Selkirk, E. [1982] The Syntax of Words. Cambridge, MA [etc.] ◾ Toman, J. [1983] Wortsyntax. Tübingen ◾ Williams, E. [1981] On the Notions „Lexically Related“ and „Head of a Word“. In: LingInqu 12: 245–274.

Bindevokal

≡ Fugenelement

Binnenflexion

1. Flexion innerhalb des Wortes. ▲ internal inflection: inflection that occurs inside a word. 2. fusionierende Flexion.

▲ internal inflection: fusing inflection.

Zu 1: In einigen Komposita halten sich Reste von Flexion wie in Langeweile – Langerweile – Langen-

199 Binomiale weile (vgl. ich habe das aus Langerweile gemacht). Mitunter wird dies als Hinweis dafür gesehen, dass die Univerbierung – also hier die Entstehung eines neuen Wortes aus einem Syntagma – noch nicht völlig abgeschlossen ist. Grammatikalisiert ist dieser Typ von Binnenflexion in derselbe, dieselbe, desjenigen usw. Dieser Typ von Binnenflexion widerspricht gängigen Annahmen über das Verhältnis von Flexion und Komposition: Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass die Komposition zunächst mit Stämmen passiert und dann das gesamte Wort flektiert wird, im Deutschen typischerweise das Zweitglied. So heißt beispielsweise die Nominativ-Pluralform von Haustür nicht *Häusertüren, sondern Haustüren, obwohl es sich durchaus um die Türen mehrerer Häuser handeln kann. Binnenflexion ist also ein sehr besonderer Fall. ≡ Fugenbeugung → Binnenflexion (2); Univerbierung ⇀ Binnenflexion (Gram-Formen) ⇁ internal inflection (Typol)

Nanna Fuhrhop

🕮 Wurzel, W.U. [2000] Was ist ein Wort. In: Thieroff, R. et al. [Hg.] Deutsche Grammatik in Theorie und Praxis. Tübingen: 29–42.

Zu 2: Binnenflexion im Sinne der fusionierenden Flexion ist Flexion, die nicht durch Suffigierung, sondern durch eine Änderung im Stamm angezeigt wird, wie Ablaut, Umlaut usw. Es geht hier also um „nicht-konkatenative“ Morphologie. Nanna Fuhrhop

→ Binnenflexion (1); fusionierende Morphologie; nicht-konkatenative Morphologie

⇀ Binnenflexion (Gram-Formen) ⇁ internal inflection (Typol)

🕮 Wurzel, W.U. [2000] Was ist ein Wort. In: Thieroff, R. et al. [Hg.] Deutsche Grammatik in Theorie und Praxis. Tübingen: 29–42.

Binomiale

durch Konjunktion oder Präposition verknüpftes Wortpaar. ▲ binomial: word pair connected by a conjunction or preposition. Binomiale sind Wortpaare, die durch eine Konjunktion oder Präposition verbunden sind. Sie bestehen aus bloßen lexikalischen Kategorien (Nomen, Adjektiven, Adverbien oder Verben), die in ihrer Bedeutung eng zusammen gehören. Die ka-

tegoriale und semantische Parallelität der Wörter wird oft zugleich durch phonetische Ähnlichkeiten unterstützt. So weisen die Konjunkte oft Alliteration (Wind und Wetter, Nacht und Nebel; engl. facts and figures) oder Reim (Dach und Fach, Lug und Trug, engl. fair and square) auf. Manchmal zeigt sich ihre Parallelität auch in der morphologischen Struktur: nach bestem Wissen und Gewissen, Sinn und Unsinn; engl. highways and byways, part and parcel. Die verbundenen Wörter können Synonyme sein (Feuer und Flamme, Tür und Tor, schließlich und endlich, biegen und beugen; engl. leaps and bounds, odds and ends, safe and sound, rant and rave) oder Antonyme (Berg und Tal, Ebbe und Flut, dick und dünn; engl. brain and brawn, heaven and hell). Wenn die Verbindung durch eine Präposition erfolgt, sind die Wörter identisch: vgl. Schlag auf Schlag, Schritt für Schritt, Zahn um Zahn; engl. day by day, time after time, vgl. u.a. Malkiel (1959). All diese Faktoren dienen der offenbar intendierten Auffälligkeit der Binomiale, die einerseits der Ausdrucksstärke dienen und andererseits leicht zu memorieren sind. Trotz des Vorkommens eines expliziten Koordinators bzw. einer manifesten Präposition wird der lexikalische Status des Musters dadurch klar, dass die Wortkombinationen strukturell „gefroren“ sind. D.h. sie bestehen zum einen aus einfachen lexikalischen Kategorien ohne Artikel, attributive Adjektive oder Adverbien, die in einer phrasalen Entsprechung frei ergänzbar wären. Zudem weisen die Binomiale eine feste Wortfolge auf, die nicht wie bei einer freien Koordination umstellbar ist, vgl. *Boden und Grund, *Krach und Ach, engl. *rail and ride. Sie sind also als etablierte Einheit des Lexikons erkennbar. Dennoch können sie nicht einfach als einzelne Idiome abgetan werden. Wie Lenz (1999) belegt, ist das lexikalisierte Muster produktiv und breitet sich in verschiedenen Registern der modernen Sprache aus, z.B. in der Sprache der Werbung. Zudem sind immer mehr mehrgliedrige Kombinationen, bestehend aus drei und vier Konjunkten, zu finden: Jubel, Trubel, Heiterkeit; Pleiten, Pech und Pannen; Schlafsack, Schnaps und Schwebebahn; frisch, fromm, fröhlich, frei. In der Literatur wird oft versucht, die Reihenfolge der Wörter in einem Binomiale zu erklären. Cooper/Ross (1975) identifizeren phonetische und semantische Kriterien, die die Abfolge der Konjunkte mehr oder weniger gut vorhersagen. Für

B

Binyan 200

B

Fenk-Oczlon (1989) ist andererseits die Wortfolge aus der Frequenz der beteiligten Wörter erklärbar: Das am häufigsten vorkommende Wort wird zuerst genannt. Oft wird festgestellt, dass das Muster durch die bevorzugte metrische Struktur des Trochäus (stark-schwache Alternation der Silbenbetonung) beschränkt wird: fix und fertig, Freud' und Leid, Müh' und Not, vgl. Müller (1997). Aus der Perspektive der Wortbildung sind Binomiale u.a. interessant, weil sie nach Arcodia/ Grandi/Wälchli (2010) in den standardeuropäischen Sprachen das syndetische Pendant zu den (asyndetischen) Ko-Komposita der Sprachen Südund Südostasiens, Neuguineas und Mesoamerikas bilden. Ko-Komposita sind Kombinationen, die eine natürliche Koordination ausdrücken und eine hyperonymische Bedeutung haben, vgl. Mari kid=jol ‘Glieder; lit. Hand-Fuß’, vgl. Arcodia/ Grandi/Wälchli (2010: 178). Mit den Kopulativkomposita der europäischen Sprachen, die durch zufällige Koordination charakterisiert sind und eine hyponymische Bedeutung haben (vgl. Geologe-Archeologe), haben sie wenig gemeinsam. Parallelen sind andererseits zwischen den KoKomposita und den europäischen Binomialen zu finden, die ebenfalls durch natürliche Koordination ein superordiniertes Konzept zum Ausdruck bringen. Binomiale sind additiv wie eine Hauptklasse der Ko-Komposita (Pferd und Reiter, Braut und Bräutigam, Schloss und Riegel, engl. shirt and tie, cup and saucer). Sie können generalisierend sein (Tag und Nacht ‘immer’, alt und jung ‘alle Menschen’, nie und nimmer, engl. now and then, this and that); sie verbinden Synonyme (Fug und Recht, Lug und Trug, engl. rough and tough, stress and strain) und weisen Archaismen als Konstituenten auf (Bausch und Bogen, Kind und Kegel, engl. kit and caboodle, kith and kin). Ko-Komposita, die teilweise Flexion an beiden Konstituenten aufweisen (vgl. mordvinisch ponks.t-panar.t 'Hose.Pl-Hemd.Pl'), Binomiale mit overtem Koordinator oder Präposition, die linksköpfigen Komposita der romanischen Sprachen mit der Struktur N+P+N (Fr. pomme de terre) sowie phrasale Komposita (Zwischen-denMalzeiten-Imbiss) dokumentieren einen großen Zwischenbereich zwischen Lexikon/Morphologie und Syntax, der aus einer gradierten Skala der Wort- bzw. Phrasenähnlichkeit besteht. Susan Olsen

≡ Paarformel; Zwillingsform → Ko-Kompositum; Kompositum; Kopulativkompositum; linksköpfiges Kompositum ⇀ Binomiale (Gram-Syntax) ⇁ binomial (Woform)

🕮 Arcodia, G./ Grandi, N./ Wälchli, B. [2010] Coordination in compounding. In: Scalise, S./ Vogel, I. [eds.] Cross-Disciplinary Issues in Compounding. Amsterdam [etc.]: 177–197 ◾ Cooper, W./ Ross, J.R. [1975] World Order. In: Grossmann, R.E./ San, L.J./ Vance, T. [eds.] Papers from the Parasession on Functionalism. Chicago: 63–111 ◾ Fenk-Oczlon, G. [1989] Word frequency and word order in freezes. In: Ling 27: 517–556 ◾ Lenz, B. [1999] Schlafsack, Schnaps und Schwebebahn. Tradierte und neue Mehrlingsformeln. In: PzLing 61: 93–118 ◾ Malkiel, Y. [1959] Studies in Irreversible Binomials. In: Lingua 8: 113–160 ◾ Müller, G. [1997] Beschränkungen für Binomialbildung im Deutschen. In: ZfS 16: 5–51 ◾ Schröter, U. [1980] Paarformeln in Gegenwart und Geschichte der deutschen Sprache (Struktur, Semantik, Funktion). In: Sprachpflege 29: 193–195.

Binyan

der traditionellen hebräischen Grammatik entnommene und in der Beschreibung der Morphologie semitischer Sprachen verwendete Bezeichnung für eine Reihe Derivationskategorien, die auf verbalen Wurzeln zugreifen und sich von einander hinsichtlich der Anordnung von Vokalen und Konsonanten unterscheiden. ▲ binyan: term taken from traditional Hebrew grammar and used in the description of the morphology of Semitic languages for a series of derivational categories that are applied to verbal roots and that differ from one another in terms of the arrangement of vowels and consonants. In semitischen Sprachen bestehen Wörter zumeist aus konsonantischen Wurzeln, die die lexikalische Kernbedeutung des Wortes tragen und die in Mustern angeordnet sind, innerhalb derer Vokale eingefügt werden. Das spezifische Muster von Konsonanten und Vokalen kann Modifikationen der lexikalischen Bedeutung der Wurzel ausdrücken oder auch Diathese oder Argumentstruktur des Verbs verändern. Vokalische Muster können Genus-Verbi- und Aspektdistinktionen ausdrücken. McCarthy (1979: 240) gibt zur Illustration von binyanim (Plural zu binyan) folgende Beispiele aus dem Arabischen an: (1) I

katab

‘write’

II

kattab

‘cause to write’

III

kaatab

‘correspond’

201 Blockierung IV

Ɂaktab

‘cause to write’

VI

takaatab

‘write to each other’

VII

nkatab

‘subscribe’

VIII

ktatab

‘write, be registered’

X

staktab

‘write, make write’

Hier besteht die lexikalische Wurzel aus den drei Konsonanten ktb. Der Vokal a, der in allen vokalischen Positionen erscheint, drückt Perfekt Aktiv und Aspekt aus. Andere derivationelle Distinktionen werden durch die spezifische Anordnung von Konsonanten und Vokalen ausgedrückt; es sind solche Muster, auf die sich der Ausdruck binyanim bezieht. Rochelle Lieber

→ autosegmentale Morphologie; nicht-lineare Morphologie; Root-and-Pattern-Morphologie; Transfigierung; triliteral root ⇁ binyan (Woform)

🕮 McCarthy, J.J. [1985] Formal Problems in Semitic Phonology and Morphology. New York, NY.

blending

≡ Kontamination ⇀ blending (Textling; SemPrag; CG-Dt)

blockiertes Morphem ≡ unikales Morphem

Blockierung

Fehlen eines bestimmten Wortes mit einer spezifischen Basis aufgrund des Vorkommens eines anderen, synonymen Wortes, insbesondere eines aus der gleichen Basis gebildeten Wortes. ▲ blocking: non-existence of a particular word using a specific base because of the existence of another synonymous word, especially one formed on the same base. Der Begriff der Blockierung wurde von Aronoff (1976) für einen spezifischen Typ von Verstoß des „avoid synonymy principle“ eingeführt. Die genaue Definition des Begriffs variiert leicht: Einige Theoretiker betrachten das Fehlen von stealer ‘Stehler’ wegen des Vorkommens von thief ‘Dieb’ als Blockierung (dies ist wahrscheinlich die gängigste Interpretation), während andere das Fehlen des möglichen Wortes childly (dt. kindig) wegen des Vorkommens von childlike (dt. kindlich) als ein einschlägiges Beispiel für Blockierung ansehen, weil beide von child (bzw. Kind) abgelei-

tet sind. Die allgemeine Auffassung ist äquivalent zum „avoid synonymy principle“. Wenn dieselbe Basis notwendig ist, handelt es sich um einen speziellen Fall des „avoid synonymy principle“ mit spezifischer Relevanz für die Wortbildung. Clark/ Clark (1979) bestimmen zwei Seiten der Blockierung, die sie als „preemption by synoymy“ [Prävention durch Synonymie] und „preemption by homonymy“ [Prävention durch Homonymie] bezeichnen. „Preemption by synonymy“ ist das, was allgemein unter Blockierung verstanden wird; „preemption by homonymy“ bezeichnet den Fall, dass ein Wort vermieden wird, weil es zu einem bereits vorhandenen Wort homophon wäre und mit diesem verwechselt werden könnte. Testify wäre wegen seiner bereits bestehenden Bedeutung ‘vor Gericht aussagen’ eine unwahrscheinliche Form für ‘zu einem Test machen’. Rainer (1988) unterscheidet zwischen TokenBlockierung (des oben beschriebenen Typs) und Typ-Blockierung, wo eine morphologische Konstruktion in einer bestimmten morphologischen Domäne deshalb nicht möglich ist, weil eine alternative Form in dieser Domäne gebräuchlich ist. Rainer zitiert das Beispiel zweisilbiger italienischer Adjektive auf -uV, die Nomina auf -ità bilden, obwohl das Suffix -ezza erwartbar wäre, weil -ezza das Standardsuffix für zweisilbige Adjektive ist. So bilden tenue ‘dünn’ und arduo ‘beschwerlich’, die Nomina auf -ezza erwarten lassen, tatsächlich tenuità ‘Dünnheit’ und arduità ‘Beschwerlichkeit’. In der lexikalischen Phonologie hat Blockierung eine sehr spezifische Bedeutung, sodass eine bestimmte Bildung durch ein Synonym auf der gleichen oder auf einer früheren Ebene blockiert sein kann – un- auf level II kann niemals die Anwendung von in- auf level I verhindern, wohl aber umgekehrt (Kiparsky 1982). Insensitive ‘unempfindlich’ kann also den Gebrauch des potentiellen unsensitive verhindern, aber inkind ist nicht durch unkind ‘unnett’ blockiert, sondern durch die allgemeinen Bedingungen für das Präfix in- verhindert. Das Hauptproblem all dieser Varianten von Blockierung ist, dass sie nicht zuverlässig funktionieren. Die Bildung von Synonymen ist erwartbar, aber die Vorstellung von Blockierung führt zu der Erwartung, dass alle Bildungen bis auf eine schnell verlorengehen. Dies ist aber nicht der Fall

B

Buchstabenkurzwort 202

B

(siehe z.B. Bauer 2006). Synonyme Formen, selbst solche mit der gleichen Basis, können jahrhundertelang erhalten bleiben. Dies ist auch dann der Fall, wenn sich die Formen nicht durch verschiedene Konnotationen unterscheiden, auf verschiedene Dialekte oder Register beschränkt sind oder in verschiedenen Kollokationen verwendet werden. Unbark und disbark existierten mehr als einhundert Jahre nebeneinander, und auch debark und die gegenwärtige Form disembark ‘von Bord gehen’ zeigen trotz ihrer Synonymie zeitliche Überlappungen. Es gilt noch zu untersuchen, in welchen Situationen Blockierung funktioniert und in welchen nicht. Aronoff (1976) weist darauf hin, dass Blockierung bei den produktivsten Wortbildungsprozessen nie funktioniert. Auch enthält Blockierung eine Frequenzkomponente, sodass gebräuchlichere Wörter eher überdauern als weniger gebräuchliche (Rainer 1988, Bauer 2006). Laurie Bauer

→ § 18; affixale Domäne; avoid synonymy principle ⇁ blocking (Phon-Engl; Woform; Phon-Engl)

🕮 Aronoff, M. [1976] Word Formation in Generative Grammar. Cambridge, MA [etc.] ◾ Bauer, L. [2006] Competition in English Word Formation. In: van Kemenade, A./ Bettelou, L. [eds.] The Handbook of the History of English. Malden, MA: 177–198 ◾ Clark, E.V./ Clark, H.H. [1979] When nouns surface as verbs. In: Lg 55: 767–811 ◾ Gaeta, L. [2015] Restrictions in word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 859–875 ◾ Kiparsky, P. [1982] Lexical Phonology and Morphology. In: Yang, I.-S. [ed.] Linguistics in the Morning Calm. Seoul: 3–91 ◾ Rainer, F. [1988] Towards a Theory of Blocking. The Case of Italian and German Quality Nouns. In: Booij, G./ van Marle, J. [eds.] YbMo 1988. Dordrecht [etc.]: 155–185 ◾ Rainer, F. [2020] Blocking. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 1172–1184.

Buchstabenkurzwort

meist multisegmentales Kurzwort aus einzelnen Buchstaben einer bedeutungsgleichen längeren lexikalischen Einheit, der Vollform. ▲ acronym: short form, mostly multisegmental, consisting of the initial letters of a longer lexical unit equivalent in meaning, the full form. Buchstabenkurzwörter bilden die zahlenmäßig bedeutendste Gruppe der Kurzwörter. Für ihre Bildung werden prinzipiell beliebige einzelne Buchstaben aus einer längeren Vollform ausgewählt. Meistens handelt es sich um die ersten Buchstaben einzelner Komponenten der Vollform

(FCKW zu Fluorchlorkohlenwasserstoffe oder GmbH für Gesellschaft mit beschränkter Haftung); es können aber auch einzelne Buchstaben aus anderen Teilen der Vollform hinzutreten (Dax zu Deutscher Aktienindex oder Tbc zu Tuberculose). Während die grundsätzliche Einteilung der Kurzwörter in unisegmentale und multisegmentale Kurzwörter nach Bellmann (1980) und KoblerTrill (1994) zunächst von der Anzahl der Segmente aus der Vollform ausgeht, differenziert eine andere Typologie (erstmals ausführlicher Greule 1996, später weiter Steinhauer 2000) als Erstes nach der Qualität der ausgewählten Segmente (Buchstaben, Silben, Morpheme) und erst dann nach der Anzahl. Nach beiden Ansätzen gibt es multisegmentale Kurzwörter aus Buchstaben, aus Silben und aus einer Mischung von beiden. Kobler-Trill allerdings unterscheidet „Initialkurzwörter“ (mit Buchstaben vom Beginn einzelner Segmente der Vollform) prinzipiell von Belegen wie Dax und Tbc, die als „besondere Kurzwörter“ bezeichnet werden. Unisegmentale Buchstabenkurzwörter gibt es nach dieser Terminologie nicht. Man findet sie allerdings, wenn auch – aufgrund der extremen Undurchsichtigkeit – in der Alltagskommunikation nur selten: Bezeichnungen für Autobahnen und Bundestraßen (A 3, B 455) oder die Kleidergrößen S, M und L für small, medium und large. In den Fachsprachen dagegen spielen unisegmentale Kurzwörter eine größere Rolle. Sie werden in der Fachkommunikation bevorzugt überall dort verwendet, wo mit Formeln und Gleichungen gearbeitet wird: also in den naturwissenschaftlich-technischen Fachsprachen. Physikalische Größen etwa werden häufig mit einbuchstabigen Kurzwörtern bezeichnet (s für Strecke, v für Geschwindigkeit von lat. velocitas). Aber auch in der Rechtswissenschaft findet man in Urteilen und anderen juristischen Schriften unisegmentale Buchstabenkurzwörter, etwa V für den Verkäufer und K für den Käufer. Innerhalb der multisegmentalen Kurzwörter sind Buchstabenkurzwörter die weitaus größte Gruppe; solche mit zwei Segmenten (BH, EU) kommen wiederum relativ selten vor, die meisten bestehen aus drei Segmenten (ARD, DVD). Beispiele für viersegmentale Buchstabenkurzwörter sind GmbH oder StGB; vereinzelt gibt es solche aus fünf Buchstaben (Hapag).

203 Buchstabenwort Zu unterscheiden sind die Buchstabenkurzwörter noch nach ihrer Aussprache. Es gibt solche mit gebundener, silbischer Aussprache (DaF zu Deutsch als Fremdsprache oder PISA zu engl. Programme for International Student Assessment und frz. Programme international pour le suivi des acquis des élèves) und solche mit Buchstabieraussprache (TVöD zu Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst). Da die meisten Buchstabenkurzwörter aus den Anfangsbuchstaben von Morphemen der Vollform bestehen, werden sie häufig auch als „Initialwörter“ oder „Initialkurzwörter“ bezeichnet, auch „Akronym“ ist ein gängiger, allerdings nicht einheitlich verwendeter Terminus. Anja Steinhauer ≡ Initialkurzwort → § 29; Akronym; Kurzwort; Kurzwortbildung; multisegmentales Kurzwort; orthoepische Aussprache; unisegmentales Kurzwort ⇁ acronym (CG-Engl)

🕮 Balnat, V. [2011] Kurzwortbildung im Gegenwartsdeutschen. Hildesheim [etc.] ◾ Bellmann, G. [1980] Zur Variation im Lexikon. Kurzwort und Original. In: WW 30: 369–383 ◾ Greule, A. [1996] Reduktion als Wortbildungsprozeß der deutschen Sprache. In: Mutterspr 106: 193–203 ◾ Kobler-Trill, D. [1994] Das Kurzwort im Deutschen. Eine Untersuchung zu Definition, Typologie und Entwicklung. Tübingen ◾ Kreidler, C.W. [2000] Clipping and acronymy. In: Booij, G.E./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphology (HSK 17.1). Berlin [etc]: 956–963 ◾ Steinhauer, A. [2000] Sprachökonomie durch Kurzwörter. Bildung und Verwendung in der Fachkommunikation. Tübingen ◾ Steinhauer, A. [2015] Clipping. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 352–363.

Buchstabenwort ≡ Akronym

B

C Chamäleon-Morph

subject’ und ‘to organize a conference’ (Štekauer 2005: 174ff.).

competition principle

→ kontextfreie Interpretation; objectified predictability rate;

≡ reduplikatives Morph

Prinzip, welches besagt, dass die mit einer Neubildung assoziierten potentiellen Lesarten in Bezug auf Akzeptabilität seitens des Hörers bzw. Lesers konkurrieren. ▲ competition principle: principle according to which multiple possible interpretations associated with a novel compound compete in the hearer or reader regarding their acceptability. Wird ein neues Wort in Isolation, d.h. ohne jeglichen Kontext präsentiert, so wird der Hörer bzw. Leser dazu veranlasst, eine kontextfreie Interpretation vorzunehmen. Dies führt in der Regel dazu, dass einer Neubildung nicht nur eine, sondern mehrere potentielle Lesarten zugeschrieben werden, von denen keine als richtig oder falsch bewertet werden kann. Stattdessen sind diese Lesarten Gegenstand des Wettbewerbsprinzips, indem sie in Bezug auf Akzeptabilität konkurrieren. In der Onomasiologischen Wortbildungstheorie Štekauers (2005) geht Akzeptabilität mit dem Kriterium der Bedeutungsvorhersagbarkeit (meaning predictability) einher: Die empirisch zu ermittelnde bevorzugte Lesart ist zugleich die wahrscheinlichste Lesart einer Neubildung. Die Frage, ob es sich dabei um die von dem Urheber des Wortes intendierte Bedeutung handelt oder nicht, ist für die Ermittlung der Bedeutungsvorhersagbarkeit irrelevant. Die Konkurrenz zweier oder mehrerer Lesarten ist dann am stärksten, wenn ihre Vorhersagbarkeitsrate (predictability rate) ähnlich hoch ist. Dies gilt z.B. für die mit dem Verb to conference assoziierten Lesarten ‘to meet to talk about/consult/discuss a

Heike Baeskow

predictability rate

🕮 Štekauer, P. [2005] Meaning Predictability in Word Formation. Novel, context-free naming units. Amsterdam [etc.].

compound stress rule

Regel, die in einem zweigliedrigen Kompositum den Wortakzent der linken Konstituente zuweist. ▲ compound stress rule: rule assigning stress to the left-hand element in a two-element compound. Die „compound stress rule“ wurde von Chomsky/ Halle (1968) formuliert. Sie nimmt an, dass Komposita im Engl. eine wohl definierte Menge von Wörtern sind, deren linker Bestandteil stets den Wortakzent trägt. Diese Annahme setzt sich in späteren Versionen der „compound stress rule“ fort, so z.B. in der von Liberman/Prince (1977). Die Annahme ist allerdings fragwürdig, weil es viele Konstruktionen gibt, die offensichtlich nicht durch irgendeinen morphologischen, syntaktischen oder semantischen Test von Komposita zu unterscheiden wären, die aber ihren Wortakzent auf der rechtestmöglichen Komponente tragen, so ist z.B. im Engl. bei apple-cake der Wortakzent auf der linken Komponente, bei apple-pie aber auf der rechten. Wenn allein das Wortakzentmuster diese beiden Konstruktionen unterscheidet, ist nicht vorhersagbar, welches der beiden Muster auftreten wird, der Wortakzent wird also nicht vorhergesagt, sondern stipuliert. Trotz dieses bekannten Problems ist die Verwendung der compound stress rule in der Literatur weitverbreitet.

→ Kompositum; nuclear stress rule ⇀ compound stress rule (Phon-Dt)

Laurie Bauer

compound, primary 206

C

⇁ compound stress rule (Phon-Engl; Woform)

🕮 Chomsky, N./ Halle, M. [1968] The Sound Pattern of English. New York, NY ◾ Giegerich, H. [2004] Compound or phrase? English noun-plus-noun constructions and the stress criterion. In: EngLgLing 8(1). 1–24 ◾ Giegerich, H. [2009] Compounding and lexicalism. In: Lieber, R./ Stekauer, P. [eds]. In: The Oxford Handbook of Compounding. Oxford 178–200 ◾ Liberman, M./ Prince, A. [1977] On Stress and Linguistic Rhythm. In: LingInqu 8: 249– 336 ◾ Olsen, S. [2000] Compounding and Stress in English. A closer look at the boundary between morphology and syntax. In: LB 181: 55–69 ◾ Plag, I. [2006] The variability of compound stress in English. Structural, semantic and analogical factors. In: EngLgLing 10/1: 143–172.

compound, primary → primary compound

compound, root

→ primary compound

compound, verbal → verbal compound

concept elaboration

Anreicherung der intensionalen, über slot filling identifizierten Bedeutung komplexer Konzepte durch Weltwissen. ▲ concept elaboration: enrichment by means of world knowledge of the intensional meaning of complex concepts which has been identified by slot filling. Der Begriff „concept elaboration“ wurde in den Arbeiten von Cohen/Murphy (1984) und Murphy (1988) geprägt. Er bezeichnet einen kognitiven Prozess, der dazu dient, die intensionale Bedeutung eines komplexen Konzepts durch Weltwissen zu ergänzen. Die über „slot filling“ identifizierte intensionale Bedeutung eines komplexen Konzepts ist in der Regel zu allgemein, da sie lediglich Aufschluss über die semantische Kompatibilität der zugrunde liegenden Konzepte gibt, aber keinen Raum für weiterführende Assoziationen bietet. Dies zeigt z.B. die dem Kompositum apartment dog zugeordnete Lesart ‘a dog that lives in an apartment’, die sich darauf beschränkt, das durch dog bezeichnete Konzept in eine lokale Relation zu dem Konzept von apartment zu setzen. In die mentale Verarbeitung des exemplarischen Kompositums fließen jedoch auch konzeptexterne Bedeutungsaspekte ein, die beispielsweise durch den Vergleich eines Stuben-

hundes mit einem Hofhund gewonnen werden. Ein Stubenhund ist gewöhnlich kleiner, friedlicher und reinlicher als ein Hofhund (Murphy 1988: 532f.). Informationen dieser Art werden durch das Weltwissen bereitgestellt und verleihen dem komplexen Konzept eine Kohärenz und Abgerundetheit, die durch slot filling allein nicht gewährleistet ist. Heike Baeskow

→ komplexes Konzept; Nomen+Nomen-Kompositum; relation linking; slot filling

🕮 Cohen, B./ Murphy, G.L. [1984] Models of Concepts. In: CognSc 8: 27–58 ◾ Murphy, G.L. [1988] Comprehending complex concepts. In: CognSc 12: 529–562 ◾ Štekauer, P. [2005] Meaning Predictability in Word Formation. Novel, context-free naming units. Amsterdam [etc.].

constraint

Restriktion, die entweder für den Input oder für den Output eines grammatischen Prozesses gilt. ▲ constraint: restriction on either the input to or the output of a grammatical process. „Constraints“ sind spätestens seit den frühen 1970er Jahren Bestandteil von generativen Grammatiken. Ein Beispiel hierfür ist das wohlbekannte constraint *that-trace, das Sätze wie *Who do you know that t left? verhindert bzw. „herausfiltert“. Dieses constraint operiert auf dem Output der wh-Bewegung im Englischen, um eine Bewegung aus der Subjektposition heraus bei vorausgehender subordinierenden Konjunktion (complementizer) auszuschließen (Chomsky/Lasnik 1977). Constraints sind bestimmender Bestandteil der Optimalitätstheorie, in der eine Reihe von gerankten constraints auf dem Output einer Komponente operieren, die mehrere Kandidaten für jeden potentiellen Satz, jede potentielle phonologische Form, jedes potentielle Wort usw. generiert (McCarthy 2007). Die Treueconstraints der Optimalitätstheorie sind konservativ in dem Sinne, dass sie Output-Kandidaten bevorzugen, die dem Input möglichst ähnlich sind. So verbietet das constraint dep die Epenthese, das constraint max die Tilgung von Segmenten. Die Markiertheitsconstraints der Optimalitätstheorie stellen Beschränkungen der sprachlichen Wohlgeformtheit dar. So verbieten typische Markiertheitsconstraints Silbenkodas oder verlangen Silbenonsets. Treue- und Markiertheitsconstraints stehen in den Grammatiken der Einzelsprachen in ständi-

207 gem Konflikt miteinander. Zwar sind constraints bisher vornehmlich in der phonologischen und syntaktischen Analyse verwendet worden, sie finden aber zunehmend Anwendung in der Behandlung morphologischer Fragen. Plag (1999) z.B. verwendet eine Reihe von gerankten constraints, um zu erklären, warum im Englischen bei der Affigierung von -ize die Tilgung eines finalen Stammvokals (memorize wird gegenüber memoryize präferiert) und nicht die Tilgung eines finalen Konsonanten (hospitalize wird gegenüber hospitize präferiert) präferiert wird. Rochelle Lieber → constraint ranking; faithfulness; Optimalitätstheorie ⇀ constraint (Gram-Syntax); constraint (1) (Phon-Dt); constraint (2) (Phon-Dt) ⇁ constraint (CG-Engl; Woform; Typol); constraint (1) (PhonEngl); constraint (2) (Phon-Engl)

🕮 Chomsky, N./ Lasnik, H. [1977] Filters and Control. In: LingInqu 8/3: 425–504 ◾ McCarthy, J.J. [2007] What is Optimality Theory? In: LgLingCmp 1: 260–291 ◾ Plag, I. [1999] Morphological Productivity. Structural Constraints on English Derivation. Berlin [etc.].

constraint ranking

in der Optimalitätstheorie lineare Anordnung oder eine Hierarchie von constraints in Bezug auf Dominanz oder Relevanz in der Evaluierung von Kandidaten. ▲ constraint ranking: in optimality theory, linear ordering or hierarchy of constraints in terms of dominance or importance in the evaluation of candidates. In optimalitätstheoretischen Grammatiken stellt die Gesamtheit gerankter constraints die Grammatik einer Einzelsprache dar (McCarthy 2007). Die Funktion GEN generiert sämtliche möglichen Kandidaten für einen gegebenen Input. Der Output von GEN, die Kandidaten, sind potentielle Ableitungen spezifischer zugrundeliegender Formen. Jeder Kandidat kann ein oder mehrere constraints verletzen, aber derjenige Kandidat, der in Relation zu anderen Kandidaten niedriger gerankte constraints verletzt, ist der optimale Kandidat. So könnten in einer Sprache, in der das constraint *C (das die Silbifizierung aller Konsonanten verlangt) das constraint dep (das Epenthese verbietet) dominiert, [bab.ca.bab] oder [bab.c.bab] mögliche Kandidaten eines hypothetischen Inputs /babc-bab/ sein. Der erstere ist optimal, obwohl er

cue reliability das constraint dep verletzt, denn in dieser hypothetischen Sprache ist ein nichtsilbifizierter Konsonant eine schwererwiegende Verletzung als ein Vokal im Output, der nicht im Input enthalten ist. Rochelle Lieber

→ constraint; faithfulness; Optimalitätstheorie ⇀ constraint ranking (Phon-Dt) ⇁ constraint ranking (Phon-Engl; Woform)

🕮 McCarthy, J.J. [2007] What is Optimality Theory? In: LgLingCmp 1: 260–291.

cranberry morpheme ≡ unikales Morphem

cue reliability

Grad, bis zu dem die Bedeutung von Komposita, die eine bestimmte Konstituente teilen, aufgrund der Bedeutung dieser Konstituente vorhersagbar wird. ▲ cue reliability: extent to which the meaning of compounds with a shared constituent is predictable on the basis of this shared constituent's meaning. Der von Bates/MacWhinney (1987: 164) geprägte Terminus „cue reliability“ wird von Ryder (1994: 81f.) auf die durch eine gemeinsame Konstituente bewirkte Bedeutungsvorhersagbarkeit einer Gruppe von Komposita angewandt. Die Stabilität der „cue reliability“ richtet sich danach, inwieweit die gemeinsame Konstituente – das Kernwort (core word) – eine konstante Bedeutung in die Kompositagruppe einbringt und somit auch die Bedeutung der komplexen Wörter determiniert. Absolute „cue reliability“ liegt vor, wenn das Kernwort in jeder Kombination mit einem anderen Wort die gleiche Bedeutung vermittelt und somit eine hohe Korrelation zwischen Paaren von Konstituenten bewirkt. Ein Beispiel hierfür ist das Nomen box, das den Kopf einer ganzen Reihe von Komposita bildet (cigar box, matchbox, pillbox, letterbox, moneybox, flourbox etc.) und diesen stets die Bedeutung ‘a box used to hold/ store X’ hinzufügt. Von relativer cue reliability spricht man, wenn das Kernwort in Verbindung mit Konstituenten, die eine semantische Klasse bilden, auftritt und die Bedeutung der mit Hilfe dieses linguistischen Rasters gebildeten Komposita vorhersagbar macht. Wird z.B. das Nomen man durch ein Nomen der semantischen Klasse „a produced object“ modifiziert, so ist das Kompositum mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit als ‘man who produces/

C

cue reliability 208

C

sells/transports X’ interpretierbar, z.B. milkman, mailman, blanket man, thimble man. Bleiben die Bedeutungen trotz eines gemeinsamen Kernwortes weitgehend idiosynkratisch, so ist die cue reliability gering. Dies ist beispielsweise bei solchen Komposita der Fall, die das Nomen board als Kopf aufweisen (fiberboard, blackboard, checkerboard, cupboard, surfboard etc.). Hier variieren nicht nur die zwischen den Modifikatoren und dem

Kopf board bestehenden semantischen Relationen, sondern auch die Referenten von board.

Heike Baeskow

→ linguistisches template; Nomen+Nomen-Kompositum

🕮 Bates, E./ MacWhinney, B. [1987] Competition, variation, and language learning. In: MacWhinney, B. [ed.] Mechanisms of Language Acquisition. Hillsdale, NJ: 157–194 ◾ Ryder, M.E. [1994] Ordered Chaos. The Interpretation of English NounNoun Compounds. Berkeley [etc.].

D Dativkompositum

Kompositum, dessen erstes Element durch den Kasus Dativ markiert ist. ▲ dative compound: compound whose first element is marked with the dative case. Als Beispiele für diese Komposita-Art, die eine mit dem Dativ markierte erste Konstituente aufweist, führt Henzen (1965: 61) isländische Komposita wie hornumskvāli ‘jemand, der mit Hörnern Lärm macht’ an. Das moderne Isländische weist eine kleine Gruppe von Partizipialkomposita mit dativischem Erstglied auf, wie bspw. fánumprýddur ‘decorated with flags; lit. flags decorated’, vgl. Indriðason (2015: 2581). Ahd. Komposita der Form gote-leido, wörtl. Gottverhaßter, ‘jmd., der von Gott verachtet wird’ sind dagegen, ebenso wie etwa das nhd. Kompositum Liebediener, echte Komposita mit einer ersten Konstituente, die nicht für Kasus markiert ist, obwohl das Basisverb des Kopfnomens den Dativ verlangt. Eine unmarkierte Dativ-Verbindung kann auch bei Nomen+Adjektiv-Komposita wie weltfremd ‘die Welt nicht kennend’ vorliegen.

→ Determinativkompositum; Kompositum ⇁ dative compound (Woform)

Susan Olsen

🕮 Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Indriðason, Þ. [2015] Icelandic. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.4). Berlin [etc.]: 2578–2599.

deadjektivische Derivation

Derivation mit einem Adjektiv als Basis. ▲ deadjectival derivation: derivation with an adjective as the base. Die Wortart Adjektiv als Derivationsbasis ist an der Bildung aller Hauptwortarten beteiligt (Flei-

scher/Barz 2012: 299). Beim Substantiv dient die deadjektivische Suffigierung vorwiegend der Bildung von substantivischen Eigenschaftsbezeichnungen (nomina qualitatis). Produktive Suffixe sind dt. -heit/-keit/-igkeit (Schönheit, Heiterkeit, Hemmungslosigkeit); engl. -ity (validity ‘Gültigkeit’), -ness (slowness ‘Langsamkeit’); frz. -ité (vérité ‘Wahrheit’), -ance (vraisemblance ‘Wahrscheinlichkeit’), -esse (tendresse ‘Zärtlichkeit’); span. -eza (belleza ‘Schönheit’); ital. -ità (velocità ‘Schnelligkeit’), -ezza (accuratezza ‘Genauigkeit’); russ. -ost‘ (mudrost‘ ‘Weisheit’); poln. -ość (mądrość ‘Klugheit’). Daneben können auch Lebewesen oder Gegenstände nach einer typischen Eigenschaft benannt werden (dt. Schwächling, Frischling, Bitterling; engl. stranger ‘Fremder’; span. forastero ‘Fremdling’; russ. umnik ‘kluger Mensch’, židkost‘ ‘Flüssigkeit’). Beim Adjektiv wird durch deadjektivische Präfixund Suffixderivation die in der Basis genannte Eigenschaft modifiziert. Durch Präfixe mit negierender Semantik lassen sich Wortbildungsantonyme erzeugen (dt. unglücklich; engl. dissatisfied ‘unzufrieden’, unrealistic ‘unrealistisch’; frz. impossible ‘unmöglich’; span. desacertado ‘ungeschickt’; ital. inutile ‘nutzlos’; russ. nesčastnyj ‘unglücklich’). Viele Präfixe dienen der Graduierung und Quantifizierung von Eigenschaften (dt. uralt; engl. superdigestible ‘bes. bekömmlich’; frz. hypersensible ‘überempfindlich’; span. superfino ‘hochfein’, ultramoderno ‘hochmodern’; ital. superdotato ‘hochbegabt’, stragrande ‘außerordentlich groß’, ipocalorico ‘kalorienarm’). Suffixe haben vor allem graduierende Funktion (dt. schwächlich, bläulich; engl. roundish ‘rundlich’, yellowish ‘gelblich’; frz. douceâtre ‘süßlich’; span. enfermizo ‘kränklich’; ital. azzurrino ‘bläulich’, dolciastro ‘süßlich’).

Deadjektivum 210

D

Bei deadjektivischen Verben dominieren Präfixe, Suffixe und Zirkumfixe mit ingressiver und kausativer Bedeutung (dt. erblinden, befreien, entfremden, reinigen, beschönigen, verabsolutieren; engl. legalize ‘legalisieren’, simplify ‘vereinfachen’; frz. amplifier ‘erweitern’, solubiliser ‘löslich machen’; span. alargar ‘verlängern’, empeorar ‘verschlimmern, sich verschlimmern’, empobrecer ‘verarmen’; ital. amplificare ‘vergrößern’; russ. krasnet‘ ‘sich röten, erröten’, krepnut‘ ‘erstarken’, sušit‘ ‘trocknen’). Betrachtet man die Adverbialisierung von Adjektiven durch Suffixe als Wortbildungsprozess, dann gehören auch Bildungen wie engl. completely ‘vollständig’, frz. exactement ‘genau’, ital. attualmente ‘gegenwärtig’, span. seguramente ‘sicher’, russ. krasivo ‘schön’, poln. szybko ‘rasch’, tschech. rychle ‘schnell’ zur deadjektivischen Derivation. Das im Fnhd. produktivste Adverbsuffix -(ig)lich ist heute unproduktiv und nur noch in einigen demotivierten Adverbien wie kürzlich, bitterlich, neulich erhalten (vgl. Fleischer/Barz 2012: 366). Die Wortbildungsaktivität von Adjektiven ist jeweils abhängig von deren Komplexitätsgrad sowie vom Affixinventar der jeweiligen Einzelsprache. Einzelsprachlich bestehen oft große Unterschiede. Im Dt. beispielsweise ist die Modifikationsart „Gradation“ bei der Suffixderivation nur mit dem Suffix -lich bei einfachen Adjektiven vertreten (rötlich, kränklich, bläulich). Das Frz. dagegen verfügt hier über weitaus mehr Suffixe und vielfältigere Graduierungsmöglichkeiten: diminutiv: -âtre (bleuâtre ‘bläulich’), -(el)et (aigrelet ‘säuerlich’, pauvret ‘ärmlich’), -ot (vieillot ‘ältlich’); pejorativ: -ard (mignard ‘geziert’), -asse (blondasse ‘strohblond’, mollasse ‘weichlich’), -aud (coutaud ‘untersetzt’); superlativisch: -issime (rarissime ‘höchst selten’), vgl. Thiele (1981: 116). Auch im Russ. z.B. verfügen Adjektive im Vergleich zum Dt. über eine größere Wortbildungsaktivität, gestützt durch ein reiches Suffixinventar (Ohnheiser 1987: 34). Hannelore Poethe

→ Adverbialisierung; Deadjektivum; Derivationsbasis; Graduierung; ingressiv; nomen qualitatis; Wortbildungsaktivität; Wortbildungsantonymie; Wortbildungsprozess

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Ohnheiser, I. [1987] Wortbildung im Sprachvergleich. Russisch – Deutsch. Leipzig ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig.

Deadjektivum

von einem Adjektiv abgeleitetes Wort. ▲ deadjectival formation: word derived from an adjective. Die Wortart Adjektiv ist als Basis vor allem an der Bildung von Substantiven, Adjektiven und Verben beteiligt. Betrachtet man die Adverbialisierung von Adjektiven durch Suffixe als Wortbildungsprozess, dann gehören auch Adverbien wie engl. completely ‘vollständig’, frz. exactement ‘genau’, ital. attualmente ‘gegenwärtig’, span. seguramente ‘sicher’, russ. skoro ‘schnell’, poln. szybko ‘rasch’, tschech. rychle ‘schnell’ zu den Deadjektiva. Als Wortbildungsarten treten Suffixderivation, Präfixderivation, Zirkumfixderivation und Konversion auf. Morphologisch finden sich neben der Grundform des Adjektivs auch flektierte Formen sowie gelegentlich der Komparativ (dt. der/die Klügere, bessern, mildern, verschönern) und der Superlativ (dt. das Größte, spätestens, engl. the worst ‘der/die/das Schlimmste’, frz. la plus belle ‘die Schönste’, ital. il massimo ‘das Höchste’, span. lo más íntimo ‘das Innerste’). Deadjektiva können durch Suffixderivation entstandene Adjektive (rötlich), Substantive (Klugheit, Röte), Verben (reinigen), durch Präfixderivation entstandene Adjektive (unecht) und Verben (erfrischen), durch Zirkumfixderivation entstandene Verben (beschönigen), durch Konversion entstandene Substantive (das Rot, der/die/das Rote) und Verben (röten) sein. Durch Suffixderivation und Konversion entstandene Substantive stellen semantisch vor allem Adjektivabstrakta dar (dt. Schönheit, das Schöne, engl. validity ‘Gültigkeit’, frz. vérité ‘Wahrheit’, le nécessaire ‘Unentbehrliches’, span. belleza ‘Schönheit’, lo bello ‘das Schöne’, ital. velocità ‘Schnelligkeit’, il vero ‘das Wahre’, russ. mudrost‘ ‘Weisheit’, poln. mądrość ‘Klugheit’). Daneben benennen sie Gegenstände, seltener Personen, die durch eine bestimmte Eigenschaft charakterisiert sind (dt. Höhle, Ebene, das Helle, Schwächling, Frischling, Bitterling, engl. stranger ‘Fremder’, empties ‘Leergut’, frz. rareté ‘Rarität’, célébrité ‘Berühmtheit’, rapide ‘Schnellzug’, ital. interno ‘das Innere’, span. forastero ‘Fremdling’, russ. umnik ‘kluger Mensch’). Sehr produktiv ist der Typ der durch deadjektivische Konversion gebildeten

211 Personenbezeichnungen (dt. der/die Jugendliche, engl. white ‘der/die Weiße’, frz. le vieux/la vieille ‘der/die Alte’, ital. povero/povera ‘der/die Arme’, span. adolescente ‘der/die Jugendliche’). Beim Adjektiv wird durch deadjektivische Präfixund Suffixderivation die in der Basis genannte Eigenschaft modifiziert. Durch Präfixe mit negierender Semantik lassen sich Wortbildungsantonyme erzeugen (dt. unglücklich, engl. dissatisfied ‘unzufrieden’, unrealistic ‘unrealistisch’, frz. impossible ‘unmöglich’, span. desacertado ‘ungeschickt’, ital. inutile ‘nutzlos’, russ. nesčastnyj ‘unglücklich’). Viele Präfixe dienen der Graduierung und Quantifizierung von Eigenschaften (dt. uralt, engl. superdigestible ‘bes. bekömmlich’, frz. hypersensible ‘überempfindlich’, span. sobresaliente ‘überragend’, ultramoderno ‘hochmodern’, ital. superdotato ‘hochbegabt’, stragrande ‘außerordentlich groß’, ipocalorico ‘kalorienarm’). Suffixe haben vor allem graduierende Funktion (dt. schwächlich, bläulich, engl. roundish ‘rundlich’, yellowish ‘gelblich’, frz. douceâtre ‘süßlich’, span. enfermizo ‘kränklich’, ital. azzurrino ‘bläulich’, dolciastro ‘süßlich’). Durch deadjektivische verbale Präfixderivate werden hauptsächlich kausative (dt. befreien, entblößen, erfrischen, verbilligen) und ingressive Verben (dt. ermüden, ergrauen, verarmen, verblassen) abgeleitet. Daneben sind auch einige lexikalisierte deadjektivische Partikelverben belegt: abschrägen, anfeuchten, aufheitern, ausbreiten, ausdünnen, einschüchtern (Barz 2009: 691f., 704). Weitere Verben mit adjektivischer Basis sind je nach Auffassung über den Status der Verbalisierungsmorpheme als Suffix- bzw. Zirkumfixderivate oder Konversionen einzuordnen (dt. schwärzen, engl. legalize ‘legalisieren’, simplify ‘vereinfachen’, humidify ‘anfeuchten’, frz. grandir ‘groß werden, vergrößern’, amplifier ‘erweitern’, sensibiliser ‘veranschaulichen’, span. alargar ‘verlängern’, empobrecer ‘verarmen’, empeorar ‘verschlimmern, sich verschlimmern’, ital. amplificare ‘vergrößern’, russ. krasnet‘ ‘sich röten, erröten’, krepnut‘ ‘erstarken’, sušit‘ ‘trocknen’). Die Wortbildungsaktivität von Adjektiven ist jeweils abhängig von deren Komplexitätsgrad sowie vom Affixinventar der jeweiligen Einzelsprache. Einzelsprachlich bestehen oft große Unterschiede. Im Dt. beispielsweise ist die Modifikationsart „Gradation“ bei der Suffixderivation

deadverbiale Wortbildung nur mit dem Suffix -lich bei einfachen Adjektiven vertreten (rötlich, kränklich, bläulich). Das Frz. dagegen verfügt hier über weitaus mehr Suffixe und vielfältigere Graduierungsmöglichkeiten: diminutiv: -âtre (bleuâtre ‘bläulich’), -(el)et (aigrelet ‘säuerlich’, pauvret ‘ärmlich’), -ot (vieillot ‘ältlich’); pejorativ: -ard (mignard ‘geziert’), -asse (blondasse ‘strohblond’, mollasse ‘weichlich’), -aud (coutaud ‘untersetzt’); superlativisch: -issime (rarissime ‘höchst selten’), vgl. Thiele (1981: 116). Auch im Russ. z.B. zeigen Adjektive im Vergleich zum Dt. eine größere Wortbildungsaktivität, gestützt durch ein reiches Suffixinventar (Ohnheiser 1987: 34). Hannelore Poethe

→ deadjektivische Derivation; nomen qualitatis

🕮 Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Ohnheiser, I. [1987] Wortbildung im Sprachvergleich. Russisch – Deutsch. Leipzig ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung Berlin ◾ Seewald, U. [1996] Morphologie des Italienischen. Tübingen ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig.

deadverbiale Wortbildung

mit einem Adverb gebildetes Wort. ▲ deadverbial formation: word derived from an adverb. Adverbien sind insgesamt nur schwach wortbildungsaktiv. Sie können als Basis von Suffixderivaten und Konversionen sowie als Verbpartikel bei der Partikelverbbildung auftreten. Adverbiale Basen bilden im Dt. mit dem Suffix -ig „ein produktives Modell der Adjektivierung von Adverbien, die ohne weitere semantische Veränderungen auf diese Weise flektierbar und adjektivisch-attributiv verwendungsfähig gemacht werden: alleinig, baldig, dortig, einstig, nachherig, sofortig, sonstig, vorig, wohlig“ (Fleischer/Barz 2012: 339), vgl. z.B. auch im Poln. tutaj ‘hier’ > tutejszy ‘hiesig’. Teilweise treten bei der Suffigierung Veränderungen der Basis auf (hier – hiesig, damals – damalig). Die entsprechenden Adjektive – meist von Situierungsadverbien abgeleitet – sind nicht graduierbar und auf attributive Verwendung beschränkt. Als syntaktische Alternative zur attributiven Verwendung der derivierten Adjektive treten Adverbien in postnominaler Stel-

D

Deakzentuierung 212

D

lung auf (das Treffen gestern), vgl. Motsch (2004: 190f.). Im Engl. finden sich deadverbiale Adjektive mit dem Suffix -ward (backward ‘rückwärts gerichtet’, downward ‘nach unten gerichtet’). Wie Wörter anderer Wortklassen auch können Adverbien durch Konversion substantiviert werden (dt. das Jetzt, das Hier, das Heute, engl. today ‘Gegenwart’, frz. trop ‘Zuviel’, span. el hoy ‘das Heute’, ital. oggi ‘das Heute’). Dabei können die Konversionsprodukte eine semantische Eigenentwicklung nehmen (z.B. gegenüber ‘auf der entgegengesetzten Seite’ – das Gegenüber ‘Person, die jmdm. gegenübersitzt oder -steht’, morgen ‘am nächsten Tag’ – das Morgen ‘die Zukunft’). Im Frz. belegt sind auch Adverbien in adjektivischer Funktion: la marche arrière ‘Rücklauf, Rückwärtsfahren’, la place debout ‘Stehplatz’ (Thiele 1981: 135). Im Dt. ist die adjektivische Verwendung von Adverbien mit dem Suffix -weise zunehmend möglich, wenn auch insgesamt weniger üblich: die probeweise Einführung, das zeitweise Fehlen, ein schrittweiser Abbau (Nübling 2009: 571). Der attributive Gebrauch als flektiertes Adjektiv gilt nur dann als korrekt, wenn das Bezugswort ein Substantiv ist, das eine Handlung oder einen Vorgang bezeichnet (vgl. Fleischer/Barz 2012: 370 sowie Duden 2011: 1010). Reich entfaltet ist im Dt. die Verbbildung mit adverbialen Verbpartikeln (dazwischenkommen, herunterlaufen, herumfahren, hineingehen, loslaufen, zurückdenken). Besonders produktiv sind dabei direktionale Verbpartikeln, die sich mit Verben unterschiedlichster semantischer Klassen verbinden, so dass auch Neubildungen wie heraufstrahlen, herbeibefehlen kaum als neu auffallen (vgl. Fleischer/Barz 2012: 419ff.). Daneben sind Adverbien noch wortbildungsaktiv als Kompositionsglied beim Substantiv (dt. Auswärtsspiel, Außenanlage, Nichtfachmann, engl. non-smoker ‘Nichtraucher’, frz. non-existence ‘Nichtvorhandensein’, poln. niepalący ‘Nichtraucher’) und beim Adjektiv (dt. linksextrem, nichtflektierbar, engl. non-conductive ‘nichtleitend’, frz. non-officiel ‘nicht-amtlich’, poln. nieopłacalny ‘nicht einträglich’) sowie bei der Komposition von Adverbien untereinander (dorthinab, untenherum), vgl. Fleischer/Barz (2012: 170ff., 361). Hannelore Poethe

→ Adverbialisierung; Derivationssuffix; Komposition; Konversion; Partikelverb; Wortbildungsaktivität

🕮 Duden [2011] Richtiges und gutes Deutsch. Das Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle. 7., vollst. überarb. Aufl. Mannheim [etc.] ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Nübling, D. [2009] Die nicht flektierbaren Wortarten. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 567–633 ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig.

Deakzentuierung

Nichtauftreten des Pitch-Akzents bei nicht fokussierten Elementen im Satz. ▲ deaccentuation: lack of pitch accent on non-focused elements of a sentence. Der Begriff Deakzentuierung bezeichnet den Umstand, dass in der prosodischen Kontur eines Satzes diejenigen Elemente, die nicht fokussiert sind, keinen Pitch-Akzent tragen, also dementsprechend relativ unbetont und in diesem Sinne deakzentuiert sind. Der Begriff beinhaltet (a) nicht unbedingt eine Entwicklung hin von einer Akzentuierung zu einem Verlust der Akzentuierung, sondern bezieht sich zunächst auf das faktische Nebeneinander durch Akzent herausgehobener bzw. nicht durch Akzent hervorgehobener Teile eines Satzes (Büring 2006: 146). Allerdings verlagert sich die Fokussierung bei einem Frage-Antwort-Paar, so dass damit (b) auch eine als Prozess beschreibbare Deakzentuierung eines Bestandteils der Frage in der Antwort eintritt, (vgl. Müller 2002: 165–169; Reich 2003): (1a) Wer verspricht Anna zu árbeiten und das Büro zu putzen? (1b) Péter verspricht Anna zu arbeiten und das Büro zu putzen. (2a) Wem verspricht Peter zu árbeiten und das Büro zu putzen? (2b) Peter verspricht Ánna zu arbeiten und das Büro zu putzen. Allgemein ist festzustellen, dass diese so gemeinte Deakzentuierung stets dann auftritt, wenn gegenüber der Normalbetonung Kontrastbetonung eingesetzt wird (vgl. Kohler 1995: 194f.). Von Akzentwechsel und demzufolge Deakzentuierung kann auch im Vergleich von Basis und Ableitung bei der Wortbildung gesprochen werden: Jákob – jakóbisch, Prosodíe – prosódisch (vgl. Becker 1990: 172).

→ Akzent; Akzentwechsel

Eckhard Meineke

213 Dekompositum

⇀ Deakzentuierung (Phon-Dt) ⇁ deaccentuation (Phon-Engl)

🕮 Becker, T. [1990] Analogie und morphologische Theorie. München ◾ Büring, D. [2006] Intonation und Informationsstruktur. In: Blühdorn, H./ Breindl, E./ Waẞner, U.H. [Hg.] Text – Verstehen. Grammatik und darüber hinaus. Berlin: 144–163 ◾ Kohler, K.J. [1995] Einführung in die Phonetik des Deutschen. 2., neu bearb. Aufl. Berlin ◾ Kohlhof, I. [2002] „Integration“ und „Deakzentuierung“ im Deutschen. Vorschlag für eine syntaktische Analyse. Diss. Tübingen. Berlin ◾ Müller, H.M. [Hg. 2002] Arbeitsbuch Linguistik. Paderborn ◾ Reich, I. [2003] Frage, Antwort und Fokus. Berlin.

Degrammatikalisierung

Sprachwandel, der entgegen dem prototypischen Grammatikalisierungspfad verläuft. ▲ degrammaticalization: language change that is contrary to the prototypical grammaticalization path. Der Terminus „Degrammatikalisierung“ steht in unmittelbarer Verbindung zu „Grammatikalisierung“, wird nicht einheitlich definiert und zum Teil auch abgelehnt, etwa weil man Grammatikalisierung als unidirektionalen Prozess betrachtet (vgl. Lehmann 2002). Eine grundlegende Darstellung zur Degrammatikalisierung, bei der es sich im Gegensatz zur systematischen Grammatikalisierung eher um Einzelfälle handelt, bietet Norde (2009, 2010), die unter dieser Bezeichnung drei Typen von Wandelprozessen fasst: die als „degrammation“ bezeichnete Entwicklung von Funktionswörtern zu Vollwörtern (z.B. Hilfsverb > Vollverb) sowie die in den Kontext der Wortbildung gehörenden Typen „debonding“ und „deinflectionalization“. Zu „debonding“ zählt die (sprachvarietätenbezogene) Entwicklung von Derivationsaffixen zu Lexemen, d.h. ungebundenen Morphemen. Dazu gehören Beispiele wie das schon seit dem 18. Jahrhundert nachweisbare, aus dem Fremdsuffix -ismus (z.B. Sozialismus) entwickelte Substantiv Ismus (‘bloße Theorie; Sammelbezeichnung für -ismus-Substantive’), Ex ‘früherer Partner’ (ExMann > mein Ex), die augmentativen mega (megageil > jugendsprachlich das war einfach mega) und ur (z.B. uralt), das im Wiener Dialekt von jüngeren Sprechern als Intensivierungsadverb gebraucht wird (ur viel Geld; das taugt mir ur; vgl. Rainer 2015: 1769). Das Suffix -zig (niederländisch -tig/friesisch tich; vgl. Norde 2009: 213–220) zur Bildung von Zehnerzahlen (z.B. achtzig) ist als

Numerale zur Bezeichnung einer unspezifisch hohe Menge verselbstständigt (z.B. zig Kleider). Auch das englische Suffix -ish (z.B. brownish) zeigt vereinzelt diese Tendenz, behält dabei aber seine graduierend-abschwächende Wortbildungsfunktion bei (Can you swim well? ‒ Ish; Norde 2009: 225). Mit „deinflectionalization“ bezeichnet Norde (2009) die Entwicklung von Flexiven zu Klitika bzw. Derivationssuffixen. Im Deutschen gilt dies für das Genitiv-Flexiv -s, das als Adverbsuffix reanalysiert wurde (z.B. des Abends, des Sommers > abends, sommers). Für das Schwedische verweist Norde (2009: 179–181) auf das Beispiel -er und dessen Wandel von einer Flexionsendung (Nom. Sg. Mask.) zu einem semantisch angereicherten Derivationssuffix zur Bildung deadjektivischer Substantive in der Bedeutung ‘Person mit der Eigenschaft x’ (z.B. en dummer ‘a stupid one’). „From there it developed into a derogatory suffix used with nouns expresssing disgraceful activities, such as en fjäsker ‘a fawning one’ (< fjäsk ‘fawning behaviour’) or en slarver ‘a messy one’ (< slarve ‘mess’)“ (Norde 2009: 180).

↔ Grammatikalisierung → § 34; Augmentativum; Derivationssuffix ⇀ Degrammatikalisierung (SemPrag)

Peter O. Müller

🕮 Lehmann, C. [2002] Thoughts on Grammaticalization. A Programmatic sketch. Vol. I. Revised edition. Erfurt ◾ Norde, M. [2009] Degrammaticalization. Oxford ◾ Norde, M. [2010] Degrammaticalization: Three common controversies. In: Stahti, K./ Gehweiler, E./ König, E. [eds.] Grammaticalization. Current Views and Issues. Oxford: 123–150 ◾ Rainer, F. [2015] Mechanisms and motives of change in word-formation. In: Müller, P. O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1761–1781.

Deidiomatisierung ≡ Remotivation

Dekomposition, semantische → semantische Dekomposition

Dekompositum

Kompositum or Derivat, das auf Basis eines Kompositums geformt wird. ▲ complex compound: compound or a derivation formed on the basis of a compound. Henzen (1965: 22) stellt fest, dass der Begriff „Dekompositum“ von Grimm nicht deutlich und un-

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Demotivation 214

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missverständlich definiert wurde. Auf der einen Seite kann er sich auf ein komplexes Kompositum beziehen, welches selbst ein anderes Kompositum enthält. Dies wird von Henzen (1965: 48) auch „Tricompositum“ genannt, wie zum Beispiel in Zahnradbahn mit der Analyse [[Zahn rad] bahn]. Auf der anderen Seite schließt der Begriff auch parasynthetische Komposita mit ein, also Derivate, die auf der Basis eines Kompositums geformt wurden. So kommt zum Beispiel das got. fullaweisjan ‘überreden’ vom Adjektiv fullaweis ‘vollkommen weise’. Beispiele aus dem modernen Deutschen sind wehklagen von Wehklage, wetteifern von Wetteifer und ratschlagen von Ratschlag. Susan Olsen ≡ Mehrfachkompositum; Mehrwortkompositum; Parasynthetum; polymorphemisches Kompositum → Kompositum; Trikompositum; Zusammenbildung ⇀ Dekompositum (Lexik; HistSprw)

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Grimm, J. [1818–1837] Deutsche Grammatik. 4 Bde. Göttingen ◾ Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen.

Demotivation

Verblassen der Motivation einer sprachlichen Einheit im Bewusstsein der Sprachträger. ▲ demotivation: weakening of the motivation of a linguistic unit in the consciousness of the speakers. Analog zur Unterscheidung von morphologischer und figurativer Motivation lassen sich mehrere Arten der Demotivation unterscheiden. Ursprünglich figurativ motivierte lexikalische Einheiten gelten als demotiviert, wenn die Beziehung zwischen primärer (wörtlicher) und sekundärer (metaphorisch oder metonymisch übertragener) Lesart nicht mehr zu erkennen ist, vgl. dt. Mutter ‘Frau, die ein Kind geboren hat’ und Mutter ‘das Gewinde einer Schraube drehbar umschließendes zylindrisches (Metall-)Teil’. Unter morphologischer Demotivation versteht man den Verlust der morphologischen Motivation aufgrund von Lautveränderung, Wortschwund, Untergang des Wortbildungstyps, Bedeutungsveränderung oder Untergang des Sachwissens (Munske 1993: 510ff., Barz/Schröder 2001: 188f.), etwa in dt. Ritter (zu reiten), Brombeere (zu ahd. brāmo/brāma ‘Dornstrauch’), barfuß (‘bar den Fuß habend’ – damit wohl Possessivkompositum, vgl. Erben 2006: 148),

engl. bonfire (‘Freudenfeuer’ zu me. bōn ‘Knochen‛). Phraseologismen gelten als demotiviert, wenn sich die Gesamtbedeutung synchron nicht mehr aus der wendungsexternen Bedeutung ihrer Bestandteile erschließen lässt, vgl. dt. den Stab über jmdn. brechen ‘jmdn. verurteilen’. Die ursprüngliche Motivation lässt sich hier oft nur unter Einbeziehung kulturgeschichtlicher Gegebenheiten, mit dem „Weltwissen der Vergangenheit“ (Munske 1993: 512) erhellen. Munske (1993: 512f.) spricht – in Anlehnung an die situative Motivation (Bellmann 1988) – von situativer Demotivation. Es gibt unterschiedliche Grade der Demotivation (Sauer 2000: 1634f.), vgl. engl. birthday – holiday – Thursday – daisy (‘Gänseblümchen’ – ae. dæges ‘Tages-’ und ēage ‘Auge’). Mitunter gelten bereits Bildungen als demotiviert, deren lexikalische Bedeutung noch mit der bildungsexternen Bedeutung ihrer Bestandteile in Verbindung gebracht werden kann, ohne dass sich die Bedeutung der Bildung vollständig aus der Summe ihrer Bestandteile erschließen lässt, vgl. dt. Schuhmacher, engl. shoemaker ‘jmd., der Schuhe herstellt und repariert’, dt. Geburtstag, engl. birthday ‘Jahrestag der Geburt’ (Lipka 1981, Sauer 2000: 1634f.). Hierbei ist jedoch zu bedenken, dass die Motivationsbedeutung einer Bildung in der Regel nicht identisch ist mit der lexikalischen Bedeutung, da die Benennungsmotive jeweils nur bestimmte Merkmale des Benennungsobjekts hervorheben, andere dagegen ausblenden. Munske (1993) schlägt daher vor, zwischen Idiomatisierung und Demotivation auch terminologisch zu trennen. Demzufolge bezeichnet Idiomatisierung den Prozess der Bedeutungsisolierung, der oft schon mit der Bildung eines Wortes einsetzt, vgl. dt. Altstadt vs. alte Stadt. Die Motivation einer Bildung wird dabei zunächst nicht beeinträchtigt. Dagegen ist die Demotivation an den Verlust der semantischen Transparenz gebunden: dt. Augenblick (nicht ‘Blick der Augen‛), frz. beaucoup ‘viel’ (nicht ‘schöner Schlag’). Während hier jeweils beide unmittelbare Konstituenten ihre konstruktionsexterne Bedeutung verloren haben, weshalb die entsprechenden Bildungen auch als vollständig demotiviert bezeichnet werden, betrifft die semantische Veränderung in Handtuch oder Handschuh nur eine der beiden Konstituenten. Solche Bildungen gelten mitunter als teilmotiviert (Fill

215 1980: 69–73, Erben 2006: 23, Sauer 2000: 1637, anders Käge 1980: 18ff., Fleischer/Barz 2007: 18). Günther (1974: 36f.) definiert Demotivation formbezogen (betrachten), Idiomatisierung inhaltsbezogen (berechnen). Danach bezeichnet Demotivation die formale (strukturelle) Isolierung einer lexikalischen Einheit, etwa durch den Verlust des Zeichencharakters einer oder beider unmittelbarer Konstituenten: dt. Brombeere, engl. cranberry (vgl. auch Lipka 1981, Sauer 2000). Grundsätzlich ist Demotivation nicht gleichzusetzen mit dem Verlust der Analysierbarkeit. Auch Bildungen wie dt. Junggeselle oder engl. bilberry sind in ihrer äußeren Struktur als komplexe Bildungen zu erkennen (Gauger 1971). Diese Durchsichtigkeit der morphologischen Struktur ermöglicht ihre Remotivation (Fleischer/Barz 2007: 18), vgl. einen Augen-Blick lang. Verdunkelte Komposita wie dt. heute (ahd. hiu tagu) oder dt. Nachbar/ engl. neighbour (zu ahd. nāh, ae. nēah ‘nah’ und ahd. gibūr(o), ae. zebūr ‘Bauer’) sowie Bildungen mit verdunkelten Präfixen (dt. fressen < mhd. verezzen) oder Suffixen (dt. Blume zu blühen) werden heute meist als Simplizia aufgefasst. Sie fallen damit nicht unter den Begriff der Demotivation (anders dagegen Sauer 2000: 1634). Anja Seiffert ≡ Demotivierung; Formisolierung ↔ Motivation → § 30, 40; Analysierbarkeit; demotivierte Bildung; Idiomatisierung; isoliertes Partizip; Lexikalisierung; Motivationsgrad; Remotivation; sekundäre Motivation; Unmotiviertheit; verdunkeltes Kompositum; verdunkeltes Präfix; verdunkeltes Suffix ⇁ demotivation (Typol)

🕮 Barz, I./ Schröder, M. [2001] Grundzüge der Wortbildung. In: Fleischer, W./ Helbig, G./ Lerchner, G. [Hg.] Kleine Enzyklopädie – deutsche Sprache. Frankfurt/Main [etc.]: 178–217 ◾ Bellmann, G. [1988] Motivation und Kommunikation. In: Munske, H.H./ von Polenz, P./ Reichmann, O./ Hildebrandt, R. [Hg.] Deutscher Wortschatz. Lexikologische Studien. Berlin [etc.]: 3–23 ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fill, A. [1980] Wortdurchsichtigkeit im Englischen. Innsbruck ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Gauger, H.-M. [1971] Durchsichtige Wörter. Zur Theorie der Wortbildung. Heidelberg ◾ Günther, H. [1974] Das System der Verben mit be- in der deutschen Sprache der Gegenwart. Tübingen ◾ Käge, O. [1980] Motivation. Probleme des persuasiven Sprachgebrauchs, der Metapher und des Wortspiels. Göppingen ◾ Lipka, L. [1977] Lexikalisierung, Idiomatisierung und Hypostasierung als Probleme einer synchronischen Wortbildungslehre. In: Brekle, H. E./ Kastovsky, D. [Hg.] Perspektiven der Wortbildungsforschung. Beiträge zum Wuppertaler Wort-

demotivierte Bildung bildungskolloquium vom 9.–10. Juli 1976. Bonn: 155–164 ◾ Lipka, L. [1981] Zur Lexikalisierung im Deutschen und Englischen. In: Lipka, L./ Günther, H. [Hg.] Wortbildung. Darmstadt: 119–132 ◾ Lipka, L. [1992] Lexicalization and Institutionalization in English and German. In: Linguistica Pragensia 1: 1–13 ◾ Marzo, D. [2015] Motivation, compositionality, idiomatization. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 984–1001 ◾ Munske, H.H. [1993] Wie entstehen Phraseologismen? In: Mattheier, K.J. et al. [Hg.] Vielfalt des Deutschen. Festschrift für Werner Besch. Frankfurt/ Main: 481–516 ◾ Ronneberger-Sibold, E. [2001] Funktional begründeter Abbau von Transparenz durch Sprachwandel, Entlehnung und Wortschöpfung. In: Igla, B./ Stolz, T. [Hg.] Was ich noch sagen wollte... A multilingual Festschrift for Norbert Boretzky. Berlin: 115–138 ◾ Sauer, H. [2004] Lexicalization and demotivation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.2). Berlin [etc.]: 1625–1636 ◾ Shaw, J.H. [1979] Motivierte Komposita in der deutschen und englischen Gegenwartssprache. Tübingen.

demotivierte Bildung

Wortbildung, deren lexikalische Bedeutung gegenwartssprachlich-synchron keinen Zusammenhang mehr zur Bedeutung ihrer Ausgangseinheiten erkennen lässt. ▲ demotivated formation: word-formation whose present-day synchronic lexical meaning is no longer related to the meaning of its constituents. Die lexikalische Bedeutung von dt. Holunderbeere lässt sich ohne Schwierigkeiten aus der Motivationsbedeutung ‘Beere des Holunders’ ableiten, sie ergibt sich aus der Bedeutung der beiden unmittelbaren Konstituenten Holunder und Beere, aus deren Reihenfolge sowie aus der Wortbildungsbedeutung (‘zugehörig’). Stimmen lexikalische Bedeutung und Motivationsbedeutung wie bei Holunderbeere weitgehend überein, bezeichnet man die entsprechenden Bildungen als motiviert. Demgegenüber lässt sich die lexikalische Bedeutung von Vogelbeere heute nicht mehr ohne Weiteres aus der Motivationsbedeutung (‘Beere für Vögel’) erschließen. Dabei war die Bildung zum Zeitpunkt ihrer Entstehung durchaus motiviert – die Frucht wurde einst als Köder beim Vogelfang verwendet. Aus gegenwartssprachlich-synchroner Sicht dürfte Vogelbeere als demotiviert gelten. Allerdings zeigt das Beispiel Vogelbeere auch, dass die Beurteilung des Motivationsgrades abhängig ist vom Sprach- und Sachwissen des Rezipienten (Fleischer/Barz 2012: 45). Die historische Sprachkompetenz bestimmt letztlich über den Motivationsgrad von Vogelbeere.

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Demotiviertheit 216

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In ähnlicher Weise wird ein Sprachbenutzer, der Kenntnis darüber hat, dass die Frucht der Johannisbeere um den sogenannten Johannistag, den 24. Juni, reift, den Motivationsgrad von dt. Johannisbeere höher einschätzen als jemand, der dieses Sachwissen nicht hat. Grundsätzlich lassen sich zwei Arten demotivierter Bildungen unterscheiden: – zum einen Bildungen wie Brombeere oder Himbeere, deren unikaler Bestandteil nicht mehr frei, sondern nur noch in der entsprechenden Bildung vorkommt; – zum anderen Bildungen wie dt. Vogelbeere oder engl. gooseberry ‘Stachelbeere’, in denen mindestens eine der beiden unmittelbaren Konstituenten zwar formal, aber nicht (mehr) semantisch auf die entsprechende frei vorkommende lexikalische Einheit zu beziehen ist (vgl. Häcki Buhofer 2002: 126ff.; Fleischer/ Barz 2012: 46). Bei der Beurteilung des Motivationsgrades besteht in der Literatur durchaus nicht immer Einigkeit darüber, wann eine Bildung als demotiviert zu gelten hat. Wellmann (1998: 418) nennt nur solche Bildungen demotiviert, „von denen kein Teil mehr durch ein anderes Wort oder einen anderen Wortteil motiviert erscheint“, also Bildungen wie dt. Hagebutte (zu mhd. hag/hac ‘Dornbusch’ und mhd. butte ‘Frucht der Heckenrose’). Zusammensetzungen mit einem unikalen Morphem, deren zweiter Bestandteil motiviert ist (dt. Himbeere, Brombeere), oder Bildungen, deren Bedeutung sich geändert hat und infolgedessen nicht mehr aus der Bedeutung der jeweils zugrunde liegenden Ausgangseinheiten erklärt werden kann (dt. Johannisbeere, Vogelbeere), gelten bei Wellmann (1998: 418) als teilmotiviert (ähnlich auch Erben 2006: 23). Häufig werden solche Bildungen aber auch zu den demotivierten Bildungen gezählt, da sie lediglich in ihrer äußeren Struktur als Wortbildungen zu erkennen sind (Fleischer/Barz 2012: 46f.). Die Erschließbarkeit der äußeren Struktur solcher demotivierten Bildungen ermöglicht letztlich ihre Remotivation und/oder ihre sekundäre Motivation. So wird dt. Maulbeere gegenwartssprachlich-synchron eher auf das Substantiv Maul bezogen, auch wenn Maulbeere tatsächlich über mhd. mūlber, ahd. mūrberi, mōrberi auf lat. morum ‘Maulbeere,

Brombeere’ mit dem verdeutlichenden Grundwort beri ‘Beere’ zurückgeht (Pfeifer 2000: 850f.).

Anja Seiffert ≡ idiomatisierte Ableitung; idiomatisierte Bildung; isolierte Bildung; opake Bildung; undurchsichtige Bildung; verdunkelte Bildung ↔ motivierte Bildung → § 30; Demotivation; lexikalisierte Bildung; Motivationsgrad; Remotivation; sekundäre Motivation; unikales Morphem; unmittelbare Konstituente; Wortbildungsbedeutung ⇀ demotivierte Bildung (Lexik)

🕮 Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Häcki Buhofer, A. [2002] „Unikalia“ im Sprachwandel. Phraseologisch gebundene Wörter und ihre lexikographische Erfassung. In: Piirainen, E./ Piirainen, I.T. [Hg.] Phraseologie in Raum und Zeit. Baltmannsweiler: 125–160 ◾ Käge, O. [1980] Motivation. Probleme des persuasiven Sprachgebrauchs, der Metapher und des Wortspiels. Göppingen ◾ Marzo, D. [2015] Motivation, compositionality, idiomatization. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 984–1001 ◾ Pfeifer [2003] = Pfeifer, W. Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. Berlin ◾ Wellmann, H. [1998] Die Wortbildung. In: Duden [1998] Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 6., neu bearb. Aufl. Mannheim [etc.]: 408–557.

Demotiviertheit

≡ Undurchsichtigkeit

Demotivierung

≡ Demotivation ⇀ Demotivierung (SemPrag)

denominale Derivation

≡ desubstantivische Derivation

Denominativum

≡ Desubstantivum

deonymische Wortbildung

Wortbildung auf der Grundlage von Eigennamen. ▲ deonymic word-formation: word-formation based on proper names. Deonyme sind Wörter, die durch Bildung aus Eigennamen (nomina propria) entstanden sind. Hierbei handelt es sich zum einen um nomina appellativa, appellativische Substantive, Verben, Adjektive oder Interjektionen, die jeweils aus Eigennamen gebildet sind, zum anderen um

217 aus Eigennamen gebildete Eigennamen, etwa aus Personennamen erzeugte Ortsnamen. Die Teildisziplin der Sprachwissenschaft, die sich mit Deonymen befasst, ist die Deonomastik. Der Terminus Deonomastik ist eine lateinisch und griechisch basierte Neuschöpfung (aus lat. de ‘von, ab’ und ὀνομαστικόν ‘namensbezogen’), die Enzo La Stella (1982) einführte, indem er aus it. derivativo onomastico (‘Ableitung aus einem Namen’) die Kontraktion deonomastico (später eingedeutscht als Deonomastikon, Plural Deonomastika) bildete und hieraus auch den Namen der Disziplin (la deonomastica ‘die Deonomastik’) ableitete. Diese Begriffsbildung hat sich seither besonders in der romanischen und deutschsprachigen Sprachwissenschaft durchgesetzt. Für den Eigennamen als Grundlage einer Wortbildung hat sich im Anschluss an La Stella die Bezeichnung Eponym eingebürgert (von griech. ἐπι ‘an, bei, nach’ und ὀνομα ‘Name’). Für das Ergebnis der Wortbildung aus einem Eigennamen wiederum, für das in der älteren deutschen Fachsprache Bezeichnungen wie Eigennamenwort oder Appellativname gebräuchlich waren, hat sich in der Deonomastik im Anschluss an eine in der Germanistik von Fleischer (1992) eingeführte Begrifflichkeit der Terminus Deonym/deonymische Ableitung etabliert, während der von La Stella hierfür geprägte Terminus Deonomastikon sich in dieser Bedeutung weniger durchsetzen konnte, sondern vorwiegend noch als Gattungsbezeichnung (in Analogie zu [βιβλίον] ὀνομαστικόν ‘Buch über Namen, Onomastikon’) für ein Wörterbuch von Deonymen beibehalten wurde. In der englischsprachigen oder vom englischen Sprachgebrauch geprägten Sprachwissenschaft und in der Slavistik, soweit sie sich ebenfalls mit Wortbildungen aus Eigennamen befassen und sich der deonomastischen Terminologie in der Nachfolge La Stellas nicht angeschlossen haben, wird demgegenüber mit Eponym das Ergebnis des Wortbildungsprozesses bezeichnet, ohne festen Gegenbegriff für den zugrundeliegenden Eigennamen. Als Wortbildungsarten kommen im Wesentlichen folgende vor: – Konversion aus Familienname Alzheimer < Alois Alzheimer (Neurologe und Neuropathologe), Ampère < André-Marie Ampère Asperger < Hans Asperger (österreichischer Kin-

deonymische Wortbildung derpsychologe), Audi < Übersetzung des Familiennamens von August Horch – Konversion aus Rufname bzw. Cognomen Mäzen < Gaius Cilnius Maecenas, Mentor < Mentor (Freund des Odysseus und Beschützer von dessen Sohn Telemachos), Nestor < Nestor (Held der griechischen Mythologie, vereinigte Altersweisheit, Beredsamkeit, Redlichkeit und heitere Lebenskunst) – Konversion aus Vorname Axel (Sprung beim Eiskunstlauf) < Axel Paulsen, Don Juan < Juan de Tenorio, Uzi < „Uzi“ Uziel Gal (israelischer Armeeoffizier und Waffenkonstrukteur) – Verkürzung aus Familienname Farad < Michael Faraday, Gal < Galileo Galilei, Volt < Alessandro Volta – Komposition mit Rufname als Bestimmungswort Achillesferse, Argusaugen < Argos (Allesseher in der griechischen Mythologie, ein Ungeheuer mit hundert Augen am ganzen Körper), Ariadnefaden < Ariadne – Komposition mit Vorname als Bestimmungswort Elisenlebkuchen < Elise Haeberlein (Nürnberger Bürgermädchen), Teddybär < Theodore Roosevelt (weigerte sich, ein angebundenes Bärenjunges zu erschießen) – Komposition mit Familienname als Bestimmungswort Auerbachsalto, Bachblüten < Edward Bach (englischer Arzt), Béchamelsoße < Louis Béchamel – Konfixbildung mit Familienname als Bestimmungswort Goretex < Wilbert Gore, Saxophon < Adolphe Sax – Substantivableitung aus Rufname Akademie < Akademos (altgriechischer Heros, dessen Hain Platon zum ersten „Philosophischen Garten“ machte), Benediktiner < Benedikt von Nursia, Bernhardiner < Bernhard von Menthon – Substantivableitung aus Vorname Amerika < Amerigo (Vespucci) – Substantivableitung aus Familienname Bandoneon < Heinrich Band, Beckmesserei < Sixtus Beckmesser (kleinlicher, pedantischer Kritiker in der Wagner-Oper „Die Meistersinger von Nürnberg“), Begonie < Michel Bégon – Verbableitung aus Rufname bezirzen < Circe

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dephraseologische Wortbildung 218

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– Verbableitung aus Familienname Einwecken < Johannes Weck, galvanisieren < Luigi Galvani, lumbecken < Emil Lumbeck (Klebebinden bei der Buchherstellung) – Adjektivableitung aus Familienname Braunsche Röhre < Karl Ferdinand Braun, Eulersche Zahl < Leonhard Euler, Faradayscher Käfig < Michael Faraday – Adjektivableitung aus Rufname drakonisch < Drakon, gordischer Knoten < Gordios (kunstvoll verknotete Seile, die am Streitwagen des Königs Gordios durch die Götter befestigt waren), Gregorianischer Kalender < Papst Gregor XIII. (Papst, der den Kalender anpassen ließ) – Markenname aus Vorname Melitta < Melitta Bentz (Erfinderin des Kaffeefilters), Mercedes < Mercédès Jellinek (Namenspatronin der Automobilmarke sowie des Hotels Mercedes in Paris) – Markenname aus Genitiv des Vornamens des Gründers Levi’s < Levi Strauss – Markenname aus Gründername (und Ortsangabe) als Akronym: Adidas > Adi Dassler, Eduscho < Eduard Schopf, Haribo < Hans Riegel, Bonn, Ricola < Emil Wilhelm Richterich (Richterich & Co. Laufen, Süßwaren- und Teehersteller) – Markenname mit Vorderteil des Herstellernamens als Bestimmungswort Nescafé < Henri Nestlé ≡ Appellativierung → Derivation; Komposition; Konversion

Eckhard Meineke

🕮 ◾ Arenz, D. [2001] Eponyme und Syndrome in der Psychiatrie. Biographisch-klinische Beiträge. Köln ◾ Cintas, P. [2004] Der Weg zu chemischen Namen und Eponymen: Entdeckung, Priorität und Würdigung. In: Angewandte Chemie 116/44: 6012–6018 ◾ Fleischer, W. [1992] Deonymische Derivation. In: Fleischer, W. Name und Text. Ausgewählte Studien zur Onomastik und Stilistik. Tübingen: 58–66 ◾ Hornbruch, H. [1996] Deonomastika. Adjektivbildungen auf der Basis von Eigennamen in der älteren Überlieferung des Deutschen. Göttingen ◾ Köster, R. [2003] Eigennamen im deutschen Wortschatz. Ein Lexikon. Berlin ◾ La Stella, E. [1982] Deonomastica: lo studio dei vocaboli derivati da nomi propri. In: Le lingue del mondo 47: 13–18 ◾ Ronneberger-Sibold, E. [2015] Word-formation and brand names. In: Müller, P.O./ Onheiser, I. /Olsen, S. /Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 2192–2210 ◾ Schweickard, W. [1992] Deonomastik. Ableitungen auf der Basis von Eigennamen im Französischen (unter vergleichender Berücksichtigung des Italienischen, Rumänischen und Spanischen). Tübingen ◾ Wackernagel, W. [1859] Die deutschen Appella-

tivnamen. In: Germania 4: 129–159 ◾ Wackernagel, W. [1860] Die deutschen Appellativnamen. In: Germania 5: 290–356 ◾ Wengeler, M. [2010] Schäubleweise, Schröderisierung und riestern – Formen und Funktionen von Ableitungen aus Personennamen im öffentlichen Sprachgebrauch. In: Komparatistik online: 79–98 ◾ Winkelmann, A. [2009] Von Achilles bis Zuckerkandl. Eigennamen in der medizinischen Fachsprache, 2. Aufl. Bern.

dephraseologische Wortbildung

Wortbildung mit einem Phraseologismus oder Phraseologismussegment als Basis oder als Kompositionsglied. ▲ dephraseological word-formation: word-formation with a phraseologism or a phraseological segment as a base or as a compound constituent. Phraseologismen können ebenso wie freie Syntagmen wortbildungsaktiv werden und als Input für lexikalische Neuerungen dienen (Fleischer/ Barz 2012: 22f.). Sie entfalten vor allem in den Wortbildungsarten Suffixderivation, Konversion und Komposition eine gewisse Wortbildungsaktivität. Bei einer weiten Auffassung von dephraseologischer Derivation sind darunter nicht nur „die eigentlichen Derivationsprozesse expliziter oder impliziter Art“ erfasst, sondern wird „auch die Verwendung phraseologischer Konstruktionen oder Komponentengruppen in Komposita“ mit berücksichtigt (Fleischer 1997, Phraseologie: 185f.). Dephraseologische Wortbildung vollzieht sich im Prinzip nach den gleichen Modellen wie die mit freien Syntagmen (vgl. Fleischer 1997, Zusammenwirkung: 20). Phraseologismen können als Basis für substantivische, adjektivische und verbale Derivate und Konversionen fungieren (dt. Süßholz raspeln > Süßholzraspler, sich den Hals brechen > halsbrecherisch, sich jmdn./etw. auf den Hals laden > aufhalsen, Stellung nehmen > Stellungnahme, in Kraft treten > das Inkrafttreten, etw. auswendig lernen > das Auswendiglernen, engl. up to date ‘modern’ > up-to-dateness ‘Modernität’, to take one’s breath away ‘jmdm. den Atem verschlagen’ > breathtaking ‘atemberaubend’, russ. perelivat‘ iz pustogo v porošnee ‘leeres Stroh dreschen’ > pustoporošnij ‘nichtig, eitel, nutzlos’, s uma sšedšij ‘den Verstand verloren’ > sumasšedšij ‘Verrückter’). Im Dt. ist entsprechend dem dominierenden Charakter der verbalen Phraseologismen die deverbale dephraseologische Derivation von Substantiven besonders stark entwickelt (Fleischer 1997,

219 Derivat Phraseologie: 186). Häufig sind nomina agentis (Dünn­brett­bohrer, Possenreißer) und nomina actionis (Berichterstattung, Besitzergreifung, Wichtigtuerei, Inbetriebnahme, Stimmungsmache). Seltener werden dephraseologische adjektivische Derivate gebildet (augenfällig, heißblütig). In substantivischen Komposita können Phraseologismen nur als Erstglieder auftreten. Gegenüber freien Syntagmen werden phraseologisch gebundene in Phrasenkomposita sogar bevorzugt. Un­geachtet der eher geringen Lexikalisierungschancen ist das Muster hochproduktiv vor allem bei Bildungen wie Alles-wird-gut-Verdrängungsmechanismus, Mal-sehen-was-kommt-Phrase, Der-Schoß-ist-fruchtbar-noch-These (Fleischer/​ Barz 2012: 22, Beispiele nach Schmidt 2000). Als hochkomplexe und meist konnotierte Bildungen bleiben sie überwiegend okkasionell. Weniger komplexe Bildungen können auch usuell werden (Kopf-an-Kopf-Rennen, Nacht-und-Nebel-Aktion, Vier­au­gen­ge­spräch). Seit Längerem üblich sind auch onymische Wortgruppen und Nominationsstereotype als Erstglieder (Rotkreuzschwester, Schwarz­meerhafen, vgl. Fleischer 1997, Phraseologie: 188). Nicht immer gehen alle Segmente eines Phraseologismus in die dephraseologische Bildung ein (unter dem Pantoffel stehen > Pantoffelheld, Nürnberger Trichter > jmdm. etw. eintrichtern). Auch in solchen Fällen ist die Bedeutung des Wortbildungsprodukts nicht ohne Bezug auf den phraseologischen Charakter zu erschließen (vgl. Barz 2007: 33, Fleischer 1997, Zusammenwirken: 22).

→ phrasale Basis; Phrasenkompositum

Hannelore Poethe

🕮 Autorenk. [unter Leit. v. L. Wilske 1984] Die russische Sprache der Gegenwart. Bd. 4: Lexikologie. 2., unveränd. Aufl. Leipzig ◾ Barz, I. [2007] Wortbildung und Phraseologie. In: Burger, H./ Dobrovol’skij, D./ Kühn, P./ Norrick, N.R. [Hg.] Phraseologie (HSK 28.1). Berlin [etc.]: 27–36 ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Fleischer, W. [1997] Das Zusammenwirken von Wortbildung und Phraseologisierung in der Entwicklung des Wortschatzes. In: Wimmer, R./ Berens, F.J. [Hg.] Wortbildung und Phraseologismus. Tübingen: 9–24 ◾ Fleischer, W. [1997] Phraseologie der deutschen Gegenwartssprache. 2. Aufl. Tübingen ◾ Gläser, R. [1990] Phraseologie der englischen Sprache. Leipzig ◾ Schmidt, H. [2000] Hochkomplexe Lexeme. Wortbildung und Traditionen des Formulierens. In: Habermann, M./ Müller, P.O./ Naumann, B. [Hg.] Wortschatz und Orthographie in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Horst Haider Munske zum 65. Geburtstag. Tübingen: 135–158.

Derivat

Resultat der Erzeugung eines komplexen Wortes aus einem Basismorphem, einem Basiskonfix, Basiswort oder Basissyntagma, zumeist mittels nicht wortfähiger Formationsmorpheme, die generelle semantische Konzepte repräsentieren. ▲ derivation: product of the formation of a complex word from a base morpheme, bound morpheme, word or syntactic structure, most commonly by means of dependent word-formation morphemes signifying general semantic concepts. Formale Klassifikationen der Derivate beziehen sich auf deren Umfang bzw. die Gestalt im Vergleich zur Basis. Dabei kann die Basis selbst ein Simplex oder auch eine komplexe Morphemkonstruktion sein. In Frage kommen im letzteren Fall komplexe Basen wie eine Komposition (Blumenkörb-chen), wobei aber nicht sicher ist, ob es sich nicht vielmehr um eine Komposition Blumenkörbchen handelt, eine Ableitung (vergnüg-lich), eine Partizipialform (Belebt-heit), ein (festes) Syntagma (Rotkreuzler < Rotes Kreuz) oder bei der Zusammenbildung ein Syntagma, dessen Bestandteile in der Ableitung nur teilweise erscheinen können (scharf machen > Scharfmacher; Fußball spielen > Fußballspieler/Fußballer). Auch lexikalisierte Sätze sind in seltenen Fällen als Basen denkbar (Ohne mich! > Ohnemichel). Zwischen der Basis und dem Derivat besteht in den meisten Fällen ausdrucksseitig das Verhältnis der Addition, das heißt es tritt ein Derivationsaffix als Suffix, als Präfix, als Zirkumfix oder als Infix hinzu. Die von Naumann/Vogel (2000: 933) in diesem Zusammenhang genannte Reduplikation (Bimbim) ist nur von der Wirkung her mit der Derivation zu vergleichen. Ausdrucksseitig gehört sie aber nicht hierher, da ja die Basis verdoppelt wird und kein eigentliches Derivationsmorphem erscheint. Als Derivation in diesem Sinne kann allenfalls die partielle Reduplikation verstanden werden, wobei der Basis ein als solcher nicht selbstständiger Teil ihrer selbst hinzugefügt wird. Gleichfalls eigentlich nicht in den Bereich der Derivation gehören Ersetzungsprozesse wie die Suppletion (gut – besser – am besten), weil hier die Basis ausgetauscht wird. Sonderformen der Derivation sind die ausdrucksseitig identische Derivation, bei der eine Wortartänderung erzielt wird (Konversion) und die subtraktive Ableitung. Fer-

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ner werden suprasegmentale Prozesse und Permutationen bzw. die Metathese zum Bereich der Derivation gezählt (Naumann/Vogel 2000: 933). In den Sprachen der Welt ist die Derivation mittels Affixen am weitesten verbreitet. Zu beobachten ist dabei die einfache und die komplexe Affigierung. Bei der einfachen Affigierung ist die Suffigierung von der Präfigierung sowie der Infigierung zu unterscheiden. Bei der Suffigierung wird das Affix nach der Basis angefügt (dt. frei > Freiheit). Bei der Präfigierung steht das Affix vor der Basis (suchen > besuchen). Bei der Infigierung wird das Affix in die Basis eingefügt: Chrau (Vietnam) vŏh ‘wissen’ > v-an-ŏh ‘weise’ (Naumann/ Vogel 2000: 934). Bei der komplexen Affigierung oder Synaffigierung erfolgt die Hinzufügung einer Kombination formal getrennter Elemente. Dabei wird die semantische Wirkung des derivationellen Programms nur dann erzielt, wenn die beiden Morpheme zugleich auftreten (Synaffix). Der hauptsächliche Typ der Synaffigierung ist die Zirkumfigierung. Hierbei wird die Basis von einem Präfix und einem Suffix umschlossen; die Abfolge der Affixe ist also diskontinuierlich. Das trifft etwa zu für dt. Ge-sing-e zu sing-en oder für Bahasa (Indonesien) per-adab-an ‘Zivilisation’ zu adab ‘zivilisiert’ (Naumann/Vogel 2000: 934). Eine nichtdiskontinuierliche Spielart der Synaffigierung ist die Interfigierung. Dabei wird die Derivation formal durch das gleichzeitige Auftreten eines Präfixes oder Suffixes und eines nicht-diskontinuierlichen postpräfixalen oder präsuffixalen semantisch „leeren“ Affixes herbeigeführt. Beispiele für den letztgenannten Typ sind etwa it. banc-ar-ell(o) oder banc-ar-ozz(o) ‘little bench’ zu banc-(o) ‘bench’ (Naumann/Vogel 2000: 934). Die Transfigierung ist mit dem morphologischen Typus der Introflexion verbunden, der nur in den semitischen Sprachen vorkommt. Sie ist definiert als die Hinzufügung eines diskontinuierlichen Affixes zu einer ebenfalls diskontinuierlichen Basis. Dabei hängt eine üblicherweise trikonsonantische Wurzel, die als solche niemals autonom ist, mit einer Form zusammen, die aus vokalischen und/oder konsonantischen Segmenten (Transfix) besteht. Die Transfigierung wird oft von Suffigierung, Präfigierung oder Infigierung begleitet. Beispiele sind k-a-t-a-b ‘schreiben’ und k-i-t-aa-b ‘Buch’ aus dem modernen Arabisch, die auf die

abstrakte Wurzel k-t-b ‘was mit schreiben zu tun hat’ bezogen sind. Da Derivation üblicherweise als eine morphologische Operation verstanden wird, die von konkreten autonomen Basen ausgeht, nicht aber abstrakten Wurzeln, kann die transfixale Derivation auch als ein Sonderfall der vollständigen Affixsubstitution angesehen werden (Naumann/Vogel 2000: 934). Die vollständige Reduplikation vom Typus bimbim kann nicht als Derivation angesehen werden, weil hier kein nichtautonomes Affix hinzugefügt wird, sondern die autonome Basis. Die Hinzurechnung dieses Typs der Wortbildung zur Derivation ist demzufolge im Hinblick auf die Ausdrucksseite und den Status des „Affixes“ nicht überzeugend. Anders steht es hingegen scheinbar bei der (mit einem logisch schiefen Terminus benannten) partiellen Reduplikation, denn das der Basis entnommene Reduplikationselement ist nicht autonom (s.u.). Ungeachtet dessen können die Wirkungen der vollständigen Reduplikation, etwa Motu (Papua-Neuguinea) mero-mero ‘kleiner Junge’ zu mero ‘Junge’, denen der Derivation entsprechen, so dass hier ein Mixtum compositum oder eine Kontamination von formaler Komposition zweier ausdrucksseitig identischer Einheiten und inhaltlicher Derivation gegeben ist, das folglich eine eigene Kategorie jenseits von Komposition und Derivation erfordert. Dagegen ist die Zuordnung der partiellen Reduplikation, etwa Maori aahua-hua ‘gleichen’ zu aahua ‘Aussehen’, zur Derivation zwar insofern sachlich scheinbar unproblematisch, als das auftretende Partialreduplikat keine selbständige Lexikoneinheit ist. Zweifelhaft ist die Einordnung der partiellen Reduplikation in den Bestand der Derivation aber deshalb, weil dieses Partialreduplikat von der Gestalt der Basis abhängt und kein mit einem von der Gestalt der Basis unabhängigen Morphem symbolisiertes morphologisch-semantisches Programm vertritt. All das sollte Grund genug sein, die Reduplikation als eigenständigen Wortbildungsprozess aufzufassen (vgl. Naumann/ Vogel 2000: 935). Im Hinblick auf das Verhältnis von Basis und abgeleitetem Wort kann von „Ersatz“ dann gesprochen werden, wenn bei einer simplizischen Basis oder bei einem Affix, das zu einer komplexen Basis gehört, partiell Segmente ausgetauscht oder die Eigenschaften von Segmenten geändert

221 Derivat werden. Hierfür wurde von Sapir (1921: 61) der Begriff „internal modification“ (Naumann/Vogel 2000: 935) geprägt. Er bezieht sich auf Fälle wie: engl. (to) wreathe [ri:ɗ] ‘winden’ < (a) wreath [ri:ɵ] ‘Kranz’, lat. tog-a ‘Bedeckung’ < tege-(re) ‘bedecken’ und dt. güld-en ‘golden’ < Gold ‘Gold’. Dabei ist im ersten Fall aber die Stimmlosigkeit des dentalen Reibelauts in wreath ‘Kranz’ lediglich eine Folge seiner Auslautposition wie umgekehrt die Stimmhaftigkeit in to wreathe ein Ergebnis der intervokalischen Stellung, so dass hier kaum ernsthaft von einer morphologisch relevanten Operation gesprochen werden kann. Das zweite Paradigma beruht auf Ablaut, das dritte auf Umlaut in der althochdeutschen Vorläuferform guldīn mit dem Umlautfaktor ī und dessen nachheriger Abschwächung zu tonlosem e. Für beide Erscheinungen sind derivationelle Funktionalisierungen belegt. Für das Germanisch-Deutsche existieren für bestimmte Varietäten der beiden letztgenannten Phänomene, vor allem der Variation durch Ablaut, die Begriffe „innere Ableitung“ (Wortbildung) sowie „implizite Derivation“. In diesen Zusammenhang wird auch die „Suppletion“ gestellt (Naumann/Vogel 2000: 935). Es handelt sich dabei um den völligen „Austausch“ eines Grundmorphems oder Wortes bei einem Paar von Wörtern, das semantisch in einer Beziehung steht, welche derjenigen von Basis und basisgleicher Ableitung entspricht. So steht frz. chute ‘der Fall’ mit tomber ‘fallen’ in einer als „derivationell“ auffassbaren semantischen Beziehung, wie sie als solche, aber nicht mit dieser spezifischen Ausprägung, etwa bei beauté ‘Schönheit’ und beau ‘schön’ auftritt. Der nicht verifizierbare Absatz bei der Einordnung der „Suppletion“ als Ableitung liegt darin, dass das semantische Verhältnis zweier Wörter ohne Rücksicht auf die morphologischen Verhältnisse zum Maßstab für die Klassifikation gemacht wird, obwohl chute nicht aus tomber abgeleitet werden kann. Die Suppletion ist demnach aus dem Gebiet der Ableitung auszuschließen. Im Gegensatz zu suppletiven Komparationsparadigmen wie gut – besser – am besten, die dem Sprachträger als funktionale Muster präsent sind, wird die suppletive Beziehung von chute und tomber von der Sprachwissenschaft künstlich konstruiert; sie wäre angemessener im Rahmen des Wortfeldparadigmas zu beschreiben.

Wenn ein offensichtlich semantisch aus einem anderen Wort abgeleitetes Wort sich von der Basis ausdrucksseitig nicht unterscheidet, weder durch ein hinzugefügtes Affix noch durch eine interne Modifikation, kann von „Konversion“ gesprochen werden (Don/Trommelen/Zonneveld 2000). So kann etwa aus dem Adjektiv grün sowohl das Substantiv das Grün als auch das Verb grünen ‘grün werden’ abgeleitet werden. Letzteres ist zwar im Hinblick auf seine Genese als germ. -jan-Verb auch als explizite Derivation auffassbar, doch macht sich die Wortgeschichte in der Gegenwartssprache morphologisch nicht mehr bemerkbar. Dabei ist allerdings von der Infinitivform grün-en abzusehen. Sie hat mit der Verwendung als Verb insoweit nichts zu tun, als in den finiten Formen lediglich die für die Wortart typischen Flexionsmorpheme an das Grundmorphem grün- antreten, was bei dem Ausgangsadjektiv grün und der substantivischen Ableitung das Grün ebenso der Fall ist. Dabei kann gewiss nicht der Begriff „Konversion“ für die Verhältnisse im Englischen deshalb reserviert werden, weil die Konversion hier besonders stark ausgeprägt ist (so Naumann/Vogel 2000: 935f.), was angeblich mit einem voranschreitenden Wandel im Wortklassensystem des Englischen zusammenhängt. Kürzungsvorgänge sind im Rahmen der Derivationsmorphologie extrem selten. Das dürfte mit dem Widerspruch zwischen einem Mehr an Bedeutung, aber einem Weniger an symbolisierender morphologischer Substanz zusammenhängen (vgl. Naumann/Vogel 2000: 936), also einem im Rahmen der Natürlichkeitstheorie als „markiert“ aufzufassendem Verhältnis zwischen Inhalt und Gestalt. Auch die in der Literatur in diesem Zusammenhang genannten Ableitungsparadigmen (Naumann/Vogel 2000: 936) erscheinen nicht ohne weiteres als überzeugend oder unproblematisch. Es handelt sich um ital. Umbr(ola) ‘(männlicher/weiblicher) Einwohner von Umbrien, zu Umbrien gehörig’ zu Umbri-(a) ‘Umbria’, poln. wód-(a) ‘viel oder schlechter Wodka’ zu wodk-(a) ‘guter oder kleiner Wodka’ und russ. Zin-(a) zu Zinaid-(a) (kosende Verkleinerungsform eines Frauennamens). Zumindest der erste Fall könnte auch anders interpretiert werden, indem man die Morphemgrenze nach Umbr- annimmt; Umbrola wäre dann eine normale additive Derivation. Die bei-

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den anderen Fälle ließen sich als hyperkorrekte Reanalysen auffassen, weil die Basis jeweils das Sem der Kleinheit oder des Kosenden aufweist, dem normalerweise eine fülligere Morphologie entspricht (Wässerchen < Wasser, Ännchen < Anne), so dass der Ableitung ohne dieses Sem eine weniger aufwändige morphologische Gestalt zugewiesen wird. Eckhard Meineke ≡ abgeleitetes Wort; Derivativum → § 23; Affixsubstitution; Derivation; explizite Derivation; Fugenelement; implizites Derivat; Infix; Konversion; Präfix; Reduplikation; subtraktive Morphologie; Suffix; Suppletion; Synaffix; Transfix; Transposition; Wortart; Zirkumfix ⇀ Derivat (Onom; Lexik) ⇁ derivation (Phon-Engl; CG-Engl; Typol)

🕮 Don, J./ Trommelen, M./ Zonneveld, W. [2000] Conversion and category indeterminacy. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 943–952 ◾ Lieber, R./ Stekauer, P. [eds. 2014]: The Oxford Handbook of Derivational Morphology. Oxford ◾ Mugdan, J. [2015] Units of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 235–301 ◾ Naumann, B./ Vogel, P.M. [2000] Derivation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 929–943 ◾ Sapir, E. [1921] Language: An Introduction to the Study of Speech. New York, NY ◾ Spencer, A. [2015] Derivation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] WordFormation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 301–321.

Derivat, explizites → explizites Derivat

Derivat, idiomatisiertes → demotivierte Bildung

Derivat, implizites → implizites Derivat

Derivation

Bezeichnung sowohl für die Erzeugung eines komplexen Wortes aus einem Basismorphem, einem Basiskonfix, Basiswort oder Basissyntagma, zumeist mittels nicht wortfähiger Wortbildungsmorpheme, die generelle semantische Konzepte repräsentieren, als auch für deren Resultat. ▲ derivation: designation for the formation of a complex word from a base morpheme, bound morpheme, word or syntactic structure, most commonly by means of dependent word-formation morphemes signifying general semantic concepts, as well as for the product of such a formation.

Mit „Derivation“ wird in einer weiten Verwendung des Begriffs jede Art der Wortbildung bezeichnet, bei der nur eine der beiden unmittelbaren Konstituenten eine lexikalische Größe in Gestalt eines Grundmorphems, gebundenen Morphems (Konfixes), Wortes oder Syntagmas ist, die andere Konstituente aber, falls sie auftritt – was bei der impliziten Derivation nicht der Fall ist –, ein nicht wortfähiges Affix, dem auch isoliert keine lexikalische Bedeutung zugewiesen werden kann, sondern das im Zusammenhang des erzeugten Derivats ein generelles semantisches Konzept vermittelt. Bei einer engeren Fassung des Terminus geht es bei der Derivation um die Erzeugung komplexer Wörter, indem zu dem Grundmorphem oder Stamm eines Ausgangswortes, zu einem lexikalische Bedeutung tragenden aber nicht als selbständiges Wort auftretendem Konfix (Agression), zu einem bereits wortgebildeten Wort (etwa: Großvater > Ur-großvater > urgroßväter-lich; Simmler 1998: 491) oder einem Syntagma (Wellen brechen > Wellenbrech-er) ein nicht wortfähiges Wortbildungsmorphem hinzugefügt wird oder deren mehrere dazutreten (ist gleich explizite Derivation). Diese Wortbildungsmorpheme fügen der lexikalischen Bedeutung der Basis ein generelles semantisches Konzept hinzu oder betten sie vielmehr darin ein. So etwa: ‘jemand, der die in der Basis (Verb) bedeutete Tätigkeit ausübt’ im Fall eines nomen agentis wie Helfer zum Verb helf-, das man sich üblicherweise in der Lexikoneintragsform helfen vorstellt. Mit der Derivation kann wie in dem genannten Beispiel ein Wortartwechsel verbunden sein, muss es aber nicht. Das zeigen vor allem die Präfixbildungen wie etwa besprechen zu sprechen im verbalen Bereich oder Diminutivbildungen wie Brötchen zu Brot bzw. Movierungen (genusverändernde Ableitungen) wie Kassiererin zu Kassierer im substantivischen. Semantische Ergebnisse, die überwiegend durch den Einsatz expliziter morphologischer Einheiten erzeugt werden, können nicht nur durch die verschiedenen Formen der expliziten kompositiven (Cannon 2000; Mithun 2000) und derivativen Wortbildung (Broselow 2000; Hall 2000; Moravcsik 2000) erreicht werden, sondern auch teilweise ohne explizite Wortbildung (Bergenholtz/ Mugdan 2000; Don/Trommelen/Zonnefeld 2000; Dressler 2000; Eschenlohr 1999; Vogel 1996),

223 Derivation durch lautliche Variation des Basiswortgrundmorphems („implizite Derivation“) oder weitere Mittel (Fleischer 2000; Kreidler 2000; Wilt­ shire/Marantz 2000). In der Entwicklung von Sprachen können früher selbstständige Wörter (Lexeme) zu Wortbildungsmorphemen werden. Das ist etwa der Fall bei heit. Dieses Wort ist im Ahd. noch als selbstständiges Substantiv mit Bedeutungen wie ‘Person, Persönlichkeit, Gestalt’ belegt. Aber in der deutschen Gegenwartssprache kommt es ausschließlich als Suffix vor, das z.B. in der Derivation Vollkommenheit das generelle semantische Paradigma ‘Zustand/Eigenschaft, der/die durch das in der Basis (Adjektiv) bedeutete Eigenschaft charakterisiert ist’ repräsentiert. In der Übergangsphase beispielsweise der Entwicklung eines Lexems zum Wortbildungssuffix tritt typischerweise erstens das jeweilige Wort als freies Simplex auf. Zweitens erscheint das Element als Zweitbestandteil von kompositionell interpretierbaren Wortbildungsprodukten. Drittens tritt es als Zweitbestandteil von Wortbildungen auf, die eher eine derivationelle Semantik zeigen, womit für das betreffende Element der Verlust des Wortstatus einhergeht. Im weiteren Verlauf der Entwicklung wird der Gebrauch des selbständigen Wortes aufgegeben (vgl. Meineke 1994: 501–552). Formale Klassifikationen der Derivation beziehen sich auf den Umfang bzw. die Gestalt der Derivate im Vergleich zur Basis. Dabei kann die Basis selbst ein Simplex oder auch eine komplexe Morphemkonstruktion sein. In Frage kommen im letzteren Fall komplexe Basen wie eine Komposition (Blumenkörb-chen), wobei aber nicht sicher ist, ob es sich nicht vielmehr um eine Komposition Blumenkörbchen handelt, eine Ableitung (vergnüg-lich), eine Partizipialform (Belebt-heit), ein (festes) Syntagma (Rotkreuzler < Rotes Kreuz) oder bei der Zusammenbildung ein Syntagma, dessen Bestandteile in der Ableitung nur teilweise erscheinen können (scharf machen > Scharfmacher; Fußball spielen > Fußballspieler/Fußballer). Auch lexikalisierte Sätze sind in seltenen Fällen als Basen denkbar (Ohne mich! > Ohnemichel). Zwischen der Basis und dem Derivat besteht in den meisten Fällen ausdrucksseitig das Verhältnis der Addition, das heißt es tritt ein Derivationsaffix als Suffix, als Präfix, als Zirkumfix oder als Infix hinzu.

Addierende Affigierung: In den Sprachen der Welt ist die Derivation mittels Affixen am weitesten verbreitet. Zu beobachten ist dabei die einfache und die komplexe Affigierung. Bei der einfachen Affigierung ist die Suffigierung von der Präfigierung sowie der Infigierung zu unterscheiden. Bei der Suffigierung wird das Affix nach der Basis angefügt (dt. frei > Freiheit). Bei der Präfigierung steht das Affix vor der Basis (suchen > besuchen). Bei der Infigierung wird das Affix in die Basis eingefügt: Chrau (Vietnam) vŏh ‘wissen’ > v-an-ŏh ‘weise’ (Naumann/Vogel 2000: 934). Bei der komplexen Affigierung oder Synaffigierung erfolgt die Hinzufügung einer Kombination formal getrennter Elemente. Dabei wird die semantische Wirkung des derivationellen Programms nur dann erzielt, wenn die beiden Morpheme zugleich auftreten (Synaffix). Der hauptsächliche Typ der Synaffigierung ist die Zirkumfigierung. Hierbei wird die Basis von einem Präfix und einem Suffix umschlossen; die Abfolge der Affixe ist also diskontinuierlich. Das trifft etwa zu für dt. Ge-sing-e zu sing-en oder für Bahasa (Indonesien) per-adab-an ‘Zivilisation’ zu adab ‘zivilisiert’ (Naumann/Vogel 2000: 934). Eine nichtdiskontinuierliche Spielart der Synaffigierung liegt dann vor, wenn die Derivation formal durch das gleichzeitige Auftreten eines Präfixes oder Suffixes und eines nicht-diskontinuierlichen postpräfixalen oder präsuffixalen semantisch „leeren“ Affixes herbeigeführt wird. Beispiele für den letztgenannten Typ sind etwa it. banc-ar-ell(o) oder banc-ar-ozz(o) ‘little bench’ zu banc-(o) ‘bench’ (Naumann/Vogel 2000: 934). Die Transfigierung ist mit dem morphologischen Typus der Introflexion verbunden, der nur in den semitischen Sprachen vorkommt. Sie ist definiert als die Hinzufügung eines diskontinuierlichen Affixes zu einer ebenfalls diskontinuierlichen Basis. Dabei hängt eine üblicherweise trikonsonantische Wurzel, die als solche niemals autonom ist, mit einer Form zusammen, die aus vokalischen und/oder konsonantischen Segmenten (Transfix) besteht. Die Transfigierung wird oft von Suffigierung, Präfigierung oder Infigierung begleitet. Beispiele sind k-a-t-a-b ‘schreiben’ und k-i-t-aa-b ‘Buch’ aus dem modernen Arabisch, die auf die abstrakte Wurzel k-t-b ‚was mit schreiben zu tun hat’ bezogen sind. Da Derivation üblicherweise als eine morphologische Operation verstanden

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Derivation 224

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wird, die von konkreten autonomen Basen ausgeht, nicht aber abstrakten Wurzeln, kann die transfixale Derivation auch als ein Sonderfall der vollständigen Affixsubstitution angesehen werden (Naumann/Vogel 2000: 934). Ersatz: Im Hinblick auf das Verhältnis von Basis und abgeleitetem Wort kann von „Ersatz“ dann gesprochen werden, wenn bei einer simplizischen Basis oder bei einem Affix, das zu einer komplexen Basis gehört, partiell Segmente ausgetauscht oder die Eigenschaften von Segmenten geändert werden. Hierfür wurde von Sapir (1921: 61) der Begriff „internal modification“ (Naumann/ Vogel 2000: 935) geprägt. Er bezieht sich auf Fälle wie: engl. (to) wreathe [ri:ɗ] ‘winden’ < (a) wreath [ri:ɵ] ‘Kranz’, lat. tog-a ‘Bedeckung’ < tege-(re) ‘bedecken’, dt. güld-en ‘golden’ < Gold ‘Gold’. Dabei ist im ersten Fall aber die Stimmlosigkeit des dentalen Reibelauts in wreath ‘Kranz’ lediglich eine Folge seiner Auslautposition wie umgekehrt die Stimmhaftigkeit in to wreathe ein Ergebnis der intervokalischen Stellung, so dass hier kaum ernsthaft von einer morphologisch relevanten Operation gesprochen werden kann. Das zweite Paradigma beruht auf Ablaut, das dritte auf Umlaut in der ahd. Vorläuferform guldīn mit dem Umlautfaktor ī und dessen nachheriger Abschwächung zu tonlosem e. Für beide Erscheinungen sind derivationelle Funktionalisierungen belegt. Für das Germanisch-Deutsche existieren für bestimmte Varietäten der beiden letztgenannten Phänomene, vor allem der Variation durch Ablaut, die Be­griffe innere Ableitung (Wortbildung) sowie implizite Derivation. Ausdrucksseitige Identität (Konversion): Wenn ein offensichtlich semantisch aus einem anderen Wort abgeleitetes Wort sich von der Basis ausdrucksseitig nicht unterscheidet, weder durch ein hinzugefügtes Affix noch durch eine interne Modifikation, kann von „Konversion“ gesprochen werden (Don/Trommelen/Zonneveld 2000). So kann etwa aus dem Adjektiv grün sowohl das Substantiv das Grün als auch das Verb grünen ‘grün werden’ abgeleitet werden. Letzteres ist zwar im Hinblick auf seine Genese als germ. -jan-Verb auch als explizite Derivation auffassbar, doch macht sich die Wortgeschichte in der Gegenwartssprache morphologisch nicht mehr bemerkbar. Dabei ist allerdings von der Infinitivform grün-en abzusehen. Sie hat mit der Ver-

wendung als Verb insoweit nichts zu tun, als in den finiten Formen lediglich die für die Wortart typischen Flexionsmorpheme an das Grundmorphem grün- antreten, was bei dem Ausgangsadjektiv grün und der substantivischen Ableitung das Grün ebenso der Fall ist. Kürzung: Kürzungsvorgänge sind im Rahmen der Derivationsmorphologie extrem selten. Das dürfte mit dem Widerspruch zwischen einem Mehr an Bedeutung, aber einem Weniger an symbolisierender morphologischer Substanz zusammenhängen (vgl. Naumann/Vogel 2000: 936), also einem im Rahmen der Natürlichkeitstheorie als „markiert“ aufzufassendem Verhältnis zwischen Inhalt und Gestalt. Auch die in der Literatur in diesem Zusammenhang genannten Ableitungsparadigmen (Naumann/Vogel 2000: 936) erscheinen nicht ohne weiteres als überzeugend oder unproblematisch. Es handelt sich dabei um Beispiele wie ital. Umbr-(ola) ‘(männlicher/weiblicher) Einwohner von Umbrien, zu Umbrien gehörig’ zu Umbri-(a) ‘Umbria’, poln. wód-(a) ‘viel oder schlechter Wodka’ zu wodk-(a) ‘guter oder kleiner Wodka’ oder russ. Zin-(a) zu Zinaid-(a) (kosende Verkleinerungsform eines Frauennamens). Zumindest der erste Fall könnte auch anders interpretiert werden, indem man die Morphemgrenze nach Umbr- annimmt; Umbrola wäre dann eine normale additive Derivation. Die beiden anderen Fälle ließen sich als hyperkorrekte Reanalysen auffassen, weil die Basis jeweils das Sem der Kleinheit oder des Kosenden aufweist, dem normalerweise eine fülligere Morphologie entspricht (Wässerchen < Wasser, Ännchen < Anne), so dass der Ableitung ohne dieses Sem eine weniger aufwändige morphologische Gestalt zugewiesen wird. Semantische Klassifikation: Allgemeines. Die Wortbildung scheint im Gegensatz zur Flexion sehr sprachspezifisch und in diesem Sinne idiosynkratisch zu sein, so dass es sich empfiehlt, die auftretenden Strukturen am besten jeweils gesondert für eine Einzelsprache zu untersuchen und darzustellen. In Sprachen mit ausgeprägten Wortarten, welche kognitive Stereotypen wie „Entität“ (Substantiv), „Aktivität“ (Verb) und „Eigenschaft“ (Adjektiv) vermitteln, wird die Wortart durch die Derivation teils verändert (Transposition), teils nicht (Modifikation), wobei der Wortartwechsel nicht

225 Derivation selten als der eigentliche Zweck der Derivation erscheint (Naumann/Vogel 2000: 938), wohingegen abgesehen von der Änderung der Wortartbedeutung (kategorielle Bedeutung) eine Änderung der lexikalischen Bedeutung schwer bis gar nicht auszumachen ist. In vergleichsweise „flexiblen“ Sprachen wie etwa der polynesischen TongaSprache im Südpazifik soll sich die Wirkung der Derivation hingegen ausschließlich auf die semantische Modifikation beschränken (Naumann/ Vogel 2000: 938). Auch in Sprachen mit unterschiedlichen Wortarten sind die Wortartänderungen durch Derivation auf bestimmte wenige Wortarten beschränkt. Transpositionen zwischen Substantiven, Verben und Adjektiven sind sehr verbreitet, während solche zu Adverbien weniger häufig sind. Ebenso scheinen Transpositionen von der Wortart Adverb zu anderen Wortarten nur selten vorzukommen. Die Wortarten, die sich hinsichtlich der semantischen Leistungen der Derivation kategorisieren lassen, sind dementsprechend hauptsächlich Substantiv, Verb und Adjektiv (Naumann/Vogel 2000: 938f.). Substantive: Wenn Substantive von Verben oder Adjektiven abgeleitet werden (Nominalisierung), bedeuten sie eine Handlung oder einen Zustand, der sich auf ihre Basis oder eines von deren Argumenten bezieht. In den Sprachen der Welt sind dabei bestimmte Paraphrasemuster häufiger als andere. Die folgende Aufstellung nach den Kategorien von Naumann/Vogel (2000: 939) und Comrie/Thompson (1985) nennt die betreffenden Muster der Transposition beginnend mit den häufigsten: Handlung/Vorgang/Zustand: Aufbruch < aufbrechen, Klugheit < klug; Agentiv: Leser < lesen; Instrumental: Hefter < heften; Art und Weise: Aussprache < aussprechen; Lokativ: Brauerei < brauen; Objekt: Abgabe < abgeben; Grund: sundanesisch paŋ-daek ‘Grund, bereitwillig zu sein’ < daek ‘bereitwillig sein’ (Naumann/Vogel 2000: 939). Werden Substantive aus Substantiven abgeleitet, entstehen hauptsächlich folgende Kategorien der semantischen Modifikation (Naumann/Vogel 2000: 939 nach Comrie/Thompson 1985). Abstraktum: Kindheit < Kind; Augmentativ: Si-Luyana (Bantu) si-tondo ‘großer/häßlicher/ nutzloser Baum’ < mu-tondo ‘Baum’; Pejorativ: Missbildung < Bildung, Dichterling < Dichter; Diminutiv: Bäumchen < Baum; Kollektiv: Gebirge < Berg; Singulativ: russ. trav-k-(a) ‘Grashalm’ < trav-

(a) ‘Gras’; moviertes Femininum: Göttin < Gott; moviertes Maskulinum: Witwer < Witwe. Die semantischen Wirkungen und die einzelsprachlichen Mittel, die für die Erzielung bestimmter semantischer Leistungen zur Verfügung stehen, sind dabei wie Inhalt und Ausdruck zwei Seiten einer Medaille, nämlich des sprachlichen Zeichens. Verben: Bei der Ableitung von Verben aus den Hauptwortarten gibt es keine von den Sprachen bevorzugte Ausgangswortart. Im Vergleich zu den Verhältnissen bei den Substantiven erscheint die Ableitung zum Verb als sehr produktiv und transparent. Ableitungen von Substantiven und Adjektiven werden Verbalisierungen genannt. Hauptsächlich wird durch Ableitung zu Verben eine Änderungen der Valenz erzielt oder es wird die kausative Aktionsart eingebracht, sodann werden der Zustand oder die Zustandsänderung ausgedrückt, schließlich weitere Aktionsarten vermittelt wie iterativ, punktuell oder intensiv (Naumann/Vogel 2000: 939f. nach Comrie/Thompson 1985). Valenzwiederherstellung: erbitten (mit direktem Objekt) < bitten (mit Präpositionalobjekt); Valenzerweiterung: Wolof (Niger-Kordofanisch) -andikia (+ Empfänger + direktes Objekt) < andik-a (+ direktes Objekt) ‘schicken’; Valenzbeschränkung: russ. kusa-(t’)-sja (- direktes Objekt) < kusa-(t’) (+ direktes Objekt) ‘beißen’, Kausativ: tränken ‘trinken machen’ < trinken; Zustand und Zustandsänderung: russ. bele-(t’) ‘weiß sein, weiß werden’ < bel-(yi) ‘weiß’; grünen ‘grün werden’ < grün; erwachen ‘wach werden’ < wach, verdummen ‘dumm werden’ < dumm. Weitere Aktionsarten, Art und Weise: ahd. sprangōn ‘sprudeln’ (iterativ), ‘emporspringen’ (intensiv) < springan ‘springen’; russ. kašlja-nu(t’) ‘(einmal) husten’ < kašlja-(t’) ‘husten’ (Naumann/Vogel 2000: 240). Adjektive. Adjektive können von sich selbst und den beiden anderen Hauptwortarten abgeleitet werden (Adjektivierung). Die charakteristischsten Derivationskategorien sind „Relation“, erzeugt durch Ableitung vom Substantiv (biblisch < Bibel), „Negativ“, durch Modifikation (unglücklich < glücklich), und „Potentialis“, erzeugt durch Ableitung vom Verb (waschbar < waschen) (Naumann/Vogel 2000: 240). Eckhard Meineke

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Derivation, deadjektivische 226

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≡ Ableitung → § 23, 31, 35; Affixsubstitution; Aktionsart; Diminutivum; explizite Derivation; gebundenes Morphem; Grundmorphem; implizite Derivation; Infix; Konfix; Konversion; Kurzwortbildung; Movierung; Präfix; Suffix; Synaffix; Transfix; Transposition; Valenz; Valenzänderung; Wortart; Wortbildungskonstruktion; Zirkumfix ⇀ Derivation (Gram-Formen; CG-Dt; Onom; QL-Dt; Phon-Dt; HistSprw; Lexik) ⇁ derivation (Phon-Engl; CG-Engl; Typol)

🕮 Bergenholtz, H./ Mugdan, J. [2000] Nullelemente in der Morphologie. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 435–450 ◾ Broselow, E. [2000] Transfixation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 552–557 ◾ Cannon, G. [2000] Blending. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 952–956 ◾ Comrie, B./ Thompson, S.A. [1985] Lexical nominalization. In: Shopen, T. [ed.] Language Typology and Semantic Description. Vol. III: Grammatical Categories and the Lexicon. Cambridge: 349–398 ◾ Don, J./ Trommelen, M./ Zonneveld, W. [2000] Conversion and category indeterminacy. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 943–952 ◾ Dressler, W.U. [2000] Subtraction. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 581–587 ◾ Eschenlohr, S. [1999] Vom Nomen zum Verb. Konversion, Präfigierung und Rückbildung im Deutschen. Hildesheim [etc.] ◾ Fleischer, W. [2000] Die Klassifikation von Wortbildungsprozessen. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 886–897 ◾ Hall, C.J. [2000] Prefixation, suffixation and circumfixation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 535–545 ◾ Kreidler, C.W. [2000] Clipping and acronymy. In: Booij, G.E./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc]: 956–963 ◾ Lieber, R./ Stekauer, P. [eds. 2014]: The Oxford Handbook of Derivational Morphology. Oxford ◾ Lieber, R. [2020] Derivational Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 427–443 ◾ Meineke, E. [1994] Abstraktbildungen im Althochdeutschen. Wege zu ihrer Erschließung. Göttingen ◾ Mithun, M. [2000] Incorporation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 916–928 ◾ Moravcsik, E.A. [2000] Infixation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 545–552 ◾ Mugdan, J. [2015] Units of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 235–301 ◾ Naumann, B./ Vogel, P.M. [2000] Derivation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 929–943 ◾ Sapir, E. [1921] Language: An Introduction to the Study of Speech. New York, NY ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin ◾ Spencer, A. [2015] Derivation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 301–321 ◾ Szigeti, I. [2017] Derivation. Heidelberg ◾ Vogel, P.M. [1996] Wortarten und Wortartenwechsel. Zu Konversion und verwandten Erscheinungen im Deutschen und in anderen Sprachen. Berlin [etc.] ◾ Wiltshire, C./ Marantz, A. [2000] Reduplication. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 557–567.

Derivation, deadjektivische → deadjektivische Derivation

Derivation, denominale

→ desubstantivische Derivation

Derivation, desubstantivische → desubstantivische Derivation

Derivation, deverbale → deverbale Derivation

Derivation, explizite → explizite Derivation

Derivation, implizite → implizite Derivation

Derivation, inverse → Rückbildung

Derivation, kombinatorische → kombinatorische Derivation

Derivation, korrelative → korrelative Derivation

Derivation, retrograde → Rückbildung

Derivation, verbale

→ deverbale Derivation

Derivationsaffix

≡ Derivationsmorphem

Derivationsbasis

gebundenes Morphem, Wort oder Syntagma, von dem aus eine Ableitung erzeugt wird. ▲ derivational base: bound morpheme, word or syntagma which serves as the base of a derived word. Die Derivationsbasis ist neben dem Derivationsaffix eine der beiden unmittelbaren Konstituenten einer Ableitung. Die Derivationsbasis ist ein gebundenes Morphem/Konfix (Histor-ismus), ein freies Morphem (Mein-ung) bzw. eine freie Morphemkonstruktion als Wort (Unaufmerksam-keit, Ex-kanzler) oder Syntagma (Liebhab-er), wobei beim Syntagma auch die zum Initialwort gekürzte

227 Derivationsbeziehung Variante Basis sein kann (Deutsches Rotes Kreuz > DRK > DRKler; vgl. Fleischer/Barz 1992: 46). Über die Morphem- bzw. die Konstituentenstruktur der Derivationsbasis und über deren lexikalische Bedeutung unterrichten Fleischer/Barz (2007: 40–42, 46f.). In Sprachen mit ausgeprägten Wortarten, welche kognitive Stereotypen wie „Entität“ (Subst.), „Aktivität“ (Verb) und „Eigenschaft“ (Adj.) vermitteln, wird die Wortart durch die Derivation teils verändert (Transposition), teils nicht (Modifikation), wobei der Wortartwechsel nicht selten als der eigentliche Zweck der Derivation erscheint (Naumann/Vogel 2000: 938), wohingegen abgesehen von der Änderung der Wortartbedeutung (kategorielle Bedeutung) eine Änderung der lexikalischen Bedeutung schwer bis gar nicht auszumachen ist. In vergleichsweise „flexiblen“ Sprachen wie etwa der polynesischen Tonga-Sprache im Südpazifik soll sich die Wirkung der Derivation hingegen ausschließlich auf die semantische Modifikation beschränken (Naumann/Vogel 2000: 938). Auch in Sprachen mit unterschiedlichen Wortarten sind die Wortartänderungen durch Derivation auf bestimmte wenige Wortarten beschränkt. Transpositionen zwischen Subst., Verben und Adj. sind sehr verbreitet, während solche zu Adverbien weniger häufig sind. Ebenso scheinen Transpositionen von der Wortart Adverb zu anderen Wortarten nur selten vorzukommen. Die Wortarten, die sich hinsichtlich der semantischen Leistungen der Derivation kategorisieren lassen, sind dementsprechend hauptsächlich Subst., Verb und Adj. (Naumann/Vogel 2000: 938f.). Eckhard Meineke ≡ Ableitungsbasis → Derivation; Konfix; Konversion; Modifikation; Transposition; Wortart

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [1992] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Naumann, B./ Vogel, P.M. [2000] Derivation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 929–943.

Derivationsbeziehung

Beziehung der Ableitung zwischen zwei Wörtern. ▲ derivational relationship: derivational relationship between two words. Durch die Derivation treten zu dem semantischen

Gehalt der Basis ein oder mehrere Bedeutungsbestandteile (Seme) hinzu, abgesehen von der Frage des Wortartwechsels oder der Wortartbeibehaltung. So sind zum Beispiel die aus starken Verben abgeleiteten schwachen -jan-Verben des Germanisch-Deutschen meist Kausativa, so etwa brinnan st. V. → brann-jan → brennen sw. V. ‘anzünden’ (‘brennen machen’); daneben zeigen die historischen Sprachstufen bereits andere Bedeutungen. Die Derivationsrichtung ist also in diesem Fall als ‘nicht kausatives Verb → kausatives Verb’ zu bezeichnen. Zugleich ist das Basisverb intransitiv, fordert kein Objekt, das abgeleitete Verb transitiv (auf ein Objekt zielend). Es ist aber bei der Verbableitung auch die umgekehrte Derivationsrichtung möglich; ein nicht-transitives Verb kann aus einem transitiven Verb abgeleitet werden. Dieser Derivationstyp ist etwa im Gotischen vertreten, und zwar durch die schwachen -nanVerben. So kann aus dem präfigierten starken Verb and-bindan ‘losmachen, lösen’ das schwache Verb and-bund-nan ‘sich losmachen, sich lösen’ abgeleitet werden, aus dem transitiven starken Verb dis-taíran ‘[etwas] abreißen’ das schwache Verb dis-taúrnan ‘abreißen’ (intransitiv) (vgl. García García 2005: 24), mit teilweise unzutreffender Klassifizierung). Für die Feststellung, dass ein Wort aus einem anderen abgeleitet wurde und von wo nach wo die Derivationsbeziehung verläuft, nennen Fleischer/Barz (2007: 210) drei Kriterien. Erstens das formale Kriterium wie das Vorhandensein eines Affixes, so etwa reißen > zerreißen. Zweitens das semantische Kriterium. So bedeutet fischen ‘Fische fangen’; die Paraphrase enthält also die Bedeutung des sich damit als Basis erweisenden Wortes Fisch sowie die Verbalbedeutung. Hingegen kann Fisch nicht aus fischen abgeleitet sein, weil es kein semantisches Merkmal des Wortes Fisch ist, dass man den Fisch fängt. Drittens wird das Kriterium der Gebrauchshäufigkeit genannt; die Basis müsste demnach häufiger gebraucht werden als das Derivat. Das an dritter Stelle genannte Kriterium ist allerdings angesichts der Unwägbarkeiten der Wortgeschichte und Verwendungskontexte zweifelhaft. Entscheidend ist angesichts der Möglichkeit der morphologisch merkmallosen Derivation (Vogel 1996) das semantische Kriterium. Bei stammgleichem starken Verb und Subst. wie

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Derivationsformant 228

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etwa rufen und Ruf ist die Feststellung einer Derivationsbeziehung aufgrund des Fehlens expliziter Derivationsmorpheme nicht möglich, aber auch das semantische Kriterium liefert keine eindeutigen Ergebnisse, jedenfalls nicht in der Gegenwartssprache, so dass in solchen Fällen beide Arten von Derivationsbeziehungen, rufen > Ruf und Ruf > rufen, angenommen werden (Fleischer/Barz 2007: 210). Allerdings ist dazu zu bemerken, dass starke Verben im Gegensatz zu den schwachen im Allgemeinen nicht aus anderen Wortarten abgeleitete, primäre Verben sind, so dass von daher die Beziehung rufen > Ruf vorzuziehen wäre (vgl. Schwerdt 2008: 45–51). Das Problem der Ableitungsrichtung stellt sich insbesondere bei der Konversion (Schmid 2005: 196–198). Eckhard Meineke ≡ Ableitungsbeziehung → Derivat; Derivation; kausatives Verb; Konversion

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ García García, L. [2005] Germanische Kausativbildung. Die deverbalen jan-Verben im Gotischen. Göttingen ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin ◾ Schwerdt, J. [2008] Morphosemantik der schwachen Verben im Ostgermanischen und Kontinentalwestgermanischen. Frankfurt/Main ◾ Vogel, P.M. [1996] Wortarten und Wortartenwechsel. Zu Konversion und verwandten Erscheinungen im Deutschen und in anderen Sprachen. Berlin [etc.].

Derivationsformant

≡ Derivationsmorphem

Derivationsfuge

Schnittstelle, an der in einem abgeleiteten Wort Stamm und Affix zusammengesetzt werden. ▲ derivational boundary: boundary between the stem and affix in a derived word. Die Derivationsfuge ist die Schnittstelle in einem abgeleiteten Wort, an der Stamm und Affix zusammengesetzt werden. Mit Fuge kann auch das Fugenelement gemeint sein, dann bezeichnet die Derivationsfuge diejenigen Fugenelemente, die an der Schnittstelle zwischen Stamm und Derivationsaffix auftreten. Formal können das im Deutschen verschiedene Elemente sein: 1. die Fugenelemente der Komposition (frühling-s-haft, elfe-n-haft), 2. Interfixe (eigen-t-lich), 3. Suffixerweiterungen (brasili-an-isch). Zu 1: Fugenelemente der Komposition: Bestimmte

Suffixe im Deutschen verhalten sich noch wortartig; so sind viele Suffixe ursprünglich Stämme, die ihre Selbstständigkeit verloren haben; insbesondere bei sogenannten Suffixoiden kommen diese Fugenelemente häufig vor (Genosse-nschaft, Held-en-tum, Witwe-n-tum, behelf-s-mäßig, lieben-s-wert, nachahmung-s-würdig, geruch-sfrei). Sie sind damit kompositionsähnlich; die Fugenelemente sind dann geradezu ein Kriterium für die (Noch-)Wortigkeit der Suffixe. Zu 2: Die typischen Interfixe im Deutschen sind des folgenden Typs: eigen-t-lich, wissen-t-lich, öffen-t-lich, allen-t-halben. Es handelt sich häufig um alveolare Verschlusslaute, die ihren Ursprung als „Sprosskonsonanten“ haben, offenbar insbesondere nach silbischem alveolaren Nasal; bei unsilbischem alveolaren Nasal findet sich dieses Interfix nicht (grünlich). Sie haben damit einen völlig anderen Ursprung als die Fugenelemente. Nach Szczepaniak (2007: 253f.) ist die Funktion aber vergleichbar. Sie interpretiert die Einfügung von -t- an dieser Stelle als Stärkung des phonologischen Wortrandes; die Grenze wird deutlicher markiert, es handelt sich bei eigentlich usw. um zwei phonologische Wörter. Dieser Typ von Konsonantenepenthese findet sich zwar nicht ausschließlich innerhalb von Derivationen; damit zusammenhängend sind auch historische Prozesse wie der Wandel von ieman zu jemand usw. zu sehen. Dennoch ist die genannte Interfigierung ein anderer Prozess, denn eine „entsprechende“ Form zu offen, nämlich*offent hat sich offenbar nicht durchgesetzt. Zu 3: Als Derivationsfuge können auch Elemente bezeichnet werden, die dazu dienen, eine „Derivationsstammform“ zu bilden. Besonders auffällig und auch systematisch im Deutschen zu beschreiben sind diese Derivationsstammformen bei Bewohnerbezeichnungen. So werden hier typischerweise Formen gebildet wie chines, brasilian, von denen dann einerseits die Bewohnerbezeichnungen Chines-e, Chines-in, Brasilian-er, Brasilian-erin, andererseits die entsprechenden Adjektive chines-isch, brasilian-isch gebildet werden. Wie auch bei anderen Fugenelementen geht das nicht einher mit einem Bedeutungsunterschied; so wird von Arabien ohne weiteres Element Arab-er/in, arab-isch gebildet (Fuhrhop 1998: 141ff.). In diesem Sinne finden sich weitere „Suffixerweiterungen“ wie is-ieren (sozial-is-ieren),

229 Derivationsmittel al-isch usw. Diese Elemente werden unter verschiedenen Begriffen behandelt: Neben „Interfix“ (Derivationsfuge) auch „Suffixerweiterung“, „Allomorphie“ oder „Suffixvarianten“. Alle diese Begriffe beinhalten, dass es keinen Bedeutungsunterschied gibt, der systematisch auf die zusätzlichen Elemente rückgeführt werden kann. In diesem Sinn sind sie grundsätzlich den Fugenelementen vergleichbar. Nanna Fuhrhop

→ Allomorph; Derivationsstammform; Einfügung; Fuge;

Fugenelement; Fugenvariation; Kompositionsfuge; paradigmatisches Fugenelement; Suffixerweiterung; unparadigmatisches Fugenelement

🕮 Dressler, W.U. [1984] Zur Wertung der Interfixe in einer semiotischen Theorie der natürlichen Morphologie. In: WSlA 13: 35–45 ◾ Fleischer, W. [2000] Die Klassifikation von Wortbildungsprozessen. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 886–897 ◾ Fuhrhop, N./ Kürschner, S. [2015] Linking Elements in Germanic. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 568–582 ◾ Fuhrhop, N. [1998] Grenzfälle morphologischer Einheiten. Tübingen ◾ Szczepaniak, R. [2007] Der phonologisch-typologische Wandel des Deutschen von einer Silben- zu einer Wortsprache. Berlin [etc.] ◾ Szczepaniak, R. [2020] Linking Elements in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 890–912.

Derivationsmittel

Morphem, Morphemkombination, lautliche Veränderung des Grundmorphems, morphologische Identität von Basis und Derivat bei gleichzeitigem Wortartwechsel oder Kürzung der Basis, die zur Erzeugung einer Ableitung verwendet werden. ▲ derivational means: morpheme, or a combination of morphemes, a sound change in the base morpheme, the morphological identity of a base and derivative in combination with a change in the part of speech, or a shortening of the base, which are used to generate a derivative. Affigierung: In den Sprachen der Welt ist die Derivation mittels Affixen am weitesten verbreitet. Zu beobachten ist dabei die einfache und die komplexe Affigierung. Bei der einfachen Affigierung ist die Suffigierung von der Präfigierung sowie der Infigierung zu unterscheiden. Bei der Suffigierung wird das Affix nach der Basis angefügt (dt. frei > Freiheit). Bei der Präfigierung steht das Affix vor der Basis (suchen > besuchen). Bei der Infigierung wird das Affix in die Basis eingefügt: Chrau (Vietnam) vŏh ‘wissen’ > v-an-ŏh ‘weise’ (Naumann/Vogel 2000: 934).

Bei der komplexen Affigierung oder Synaffigierung erfolgt die Hinzufügung einer Kombination formal getrennter Elemente. Dabei wird die semantische Wirkung des derivationellen Programms nur dann erzielt, wenn die beiden Morpheme zugleich auftreten (Synaffix). Der hauptsächliche Typ der Synaffigierung ist die Zirkumfigierung. Hierbei wird die Basis von einem Präfix und einem Suffix umschlossen; die Abfolge der Affixe ist also diskontinuierlich. Das trifft etwa zu für dt. Ge-sing-e zu sing-en oder für Bahasa (Indonesien) per-adab-an ‘Zivilisation’ zu adab ‘zivilisiert’ (Naumann/Vogel 2000: 934). Eine nichtdiskontinuierliche Spielart der Synaffigierung ist die Interfigierung. Dabei wird die Derivation formal durch das gleichzeitige Auftreten eines Präfixes oder Suffixes und eines nicht-diskontinuierlichen postpräfixalen oder präsuffixalen semantisch „leeren“ Affixes herbeigeführt. Beispiele für den letztgenannten Typ sind etwa it. banc-ar-ell(o) oder banc-ar-ozz(o) ‘little bench’ zu banc-(o) ‘bench’ (Naumann/Vogel 2000: 934). Die Transfigierung ist mit dem morphologischen Typus der Introflexion verbunden, der nur in den semitischen Sprachen vorkommt. Sie ist definiert als die Hinzufügung eines diskontinuierlichen Affixes zu einer ebenfalls diskontinuierlichen Basis. Dabei hängt eine üblicherweise trikonsonantische Wurzel, die als solche niemals autonom ist, mit einer Form zusammen, die aus vokalischen und/oder konsonantischen Segmenten (Transfix) besteht. Die Transfigierung wird oft von Suffigierung, Präfigierung oder Infigierung begleitet. Beispiele sind k-a-t-a-b ‘schreiben’ und k-i-t-aa-b ‘Buch’ aus dem modernen Arabisch, die auf die abstrakte Wurzel k-t-b ‘was mit schreiben zu tun hat’ bezogen sind. Da Derivation üblicherweise als eine morphologische Operation verstanden wird, die von konkreten autonomen Basen ausgeht, nicht aber abstrakten Wurzeln, kann die transfixale Derivation auch als ein Sonderfall der vollständigen Affixsubstitution angesehen werden (Naumann/Vogel 2000: 934). Die vollständige Reduplikation vom Typus bimbim kann nicht als Derivation angesehen werden, weil hier kein nichtautonomes Affix hinzugefügt wird, sondern die autonome „Basis“. Die Hinzurechnung dieses Typs der Wortbildung zur Derivation ist demzufolge im Hinblick auf die Ausdrucksseite und den Status des „Affixes“ nicht

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Derivationsmittel 230

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überzeugend. Anders steht es hingegen scheinbar bei der (mit einem logisch schiefen Terminus benannten) partiellen Reduplikation, denn das der Basis entnommene Reduplikationselement ist nicht autonom (s.u.). Ungeachtet dessen können die Wirkungen der vollständigen Reduplikation, etwa Motu (Papua-Neuguinea) mero-mero ‘kleiner Junge’ zu mero ‘Junge’, denen der Derivation entsprechen, so dass hier ein Mixtum compositum oder eine Kontamination von formaler Komposition zweier ausdrucksseitig identischer Einheiten und inhaltlicher Derivation gegeben ist, das folglich eine eigene Kategorie jenseits von Komposition und Derivation erfordert. Dagegen ist die Zuordnung der partiellen Reduplikation, etwa Maori aahua-hua ‘gleichen’ zu aahua ‘Aussehen’, zur Derivation zwar insofern sachlich scheinbar unproblematisch, als das auftretende Partialreduplikat keine selbständige Lexikoneinheit ist. Zweifelhaft ist die Einordnung der partiellen Reduplikation in den Bestand der Derivation aber deshalb, weil dieses Partialreduplikat von der Gestalt der Basis abhängt und kein mit einem von der Gestalt der Basis unabhängigen Morphem symbolisiertes morphologisch-semantisches Programm vertritt. All das sollte Grund genug sein, die Reduplikation als eigenständigen Wortbildungsprozess aufzufassen (vgl. Naumann/ Vogel 2000: 935). Ersatz: Im Hinblick auf das Verhältnis von Basis und abgeleitetem Wort kann von „Ersatz“ dann gesprochen werden, wenn bei einer simplizischen Basis oder bei einem Affix, das zu einer komplexen Basis gehört, partiell Segmente ausgetauscht oder die Eigenschaften von Segmenten geändert werden. Hierfür wurde von Sapir (1921: 61) der Begriff „internal modification“ (Naumann/ Vogel 2000: 935) geprägt. Er bezieht sich auf Fälle wie engl. (to) wreathe [ri:ɗ] ‘winden’ < (a) wreath [ri:ɵ] ‘Kranz’, lat. tog-a ‘Bedeckung’ < tege-(re) ‘bedecken’, dt. güld-en ‘golden’ < Gold ‘Gold’. Dabei ist im ersten Fall aber die Stimmlosigkeit des dentalen Reibelauts in wreath ‘Kranz’ lediglich eine Folge seiner Auslautposition wie umgekehrt die Stimmhaftigkeit in to wreathe ein Ergebnis der intervokalischen Stellung, so dass hier kaum ernsthaft von einer morphologisch relevanten Operation gesprochen werden kann. Das zweite Paradigma beruht auf Ablaut, das dritte auf Umlaut in der althochdeutschen Vorläufer-

form guldīn mit dem Umlautfaktor ī und dessen nachheriger Abschwächung zu tonlosem e. Für beide Erscheinungen sind derivationelle Funktionalisierungen belegt. Für das Germanisch-Deutsche existieren für bestimmte Varietäten der beiden letztgenannten Phänomene, vor allem der Variation durch Ablaut, die Be­griffe innere Ableitung (Wortbildung) sowie implizite Derivation. In diesen Zusammenhang wird auch die „Suppletion“ gestellt (Naumann/Vogel 2000: 935). Es handelt sich dabei um den völligen „Austausch“ eines Grundmorphems oder Wortes bei einem Paar von Wörtern, das semantisch in einer Beziehung steht, welche derjenigen von Basis und basisgleicher Ableitung entspricht. So steht frz. chute ‘der Fall’ mit tomber ‘fallen’ in einer als derivationell auffassbaren semantischen Beziehung, wie sie als solche, aber nicht mit dieser spezifischen Ausprägung, etwa bei beauté ‘Schönheit’ und beau ‘schön’ auftritt. Der nicht verifizierbare Absatz bei der Einordnung der Suppletion als Ableitung liegt darin, dass das semantische Verhältnis zweier Wörter ohne Rücksicht auf die morphologischen Verhältnisse zum Maßstab für die Klassifikation gemacht wird, obwohl chute nicht aus tomber abgeleitet werden kann. Die Suppletion ist demnach aus dem Gebiet der Ableitung auszuschließen. Im Gegensatz zu suppletiven Komparationsparadigmen wie gut – besser – am besten, die dem Sprachträger als funktionale Muster präsent sind, wird die „suppletive“ Beziehung von chute und tomber von der Sprachwissenschaft künstlich konstruiert; sie wäre angemessener im Rahmen des Wortfeldparadigmas zu beschreiben. Ausdrucksseitige Identität (Konversion): Wenn ein offensichtlich semantisch aus einem anderen Wort abgeleitetes Wort sich von der Basis ausdrucksseitig nicht unterscheidet, weder durch ein hinzugefügtes Affix noch durch eine interne Modifikation, kann von „Konversion“ gesprochen werden (Don/Trommelen/Zonneveld 2000). So kann etwa aus dem Adjektiv grün sowohl das Substantiv das Grün als auch das Verb grünen ‘grün werden’ abgeleitet werden. Letzteres ist zwar im Hinblick auf seine Genese als germ. -jan-Verb auch als explizite Derivation auffassbar, doch macht sich die Wortgeschichte in der Gegenwartssprache morphologisch nicht mehr bemerkbar. Dabei ist allerdings von der Infini-

231 Derivationsmodell tivform grün-en abzusehen. Sie hat mit der Verwendung als Verb insoweit nichts zu tun, als in den finiten Formen lediglich die für die Wortart typischen Flexionsmorpheme an das Grundmorphem grün- antreten, was bei dem Ausgangsadjektiv grün und der substantivischen Ableitung das Grün ebenso der Fall ist. Dabei kann gewiss nicht der Begriff „Konversion“ für die Verhältnisse im Englischen deshalb reserviert werden, weil die Konversion hier besonders stark ausgeprägt ist (so Naumann/Vogel 2000: 935f.), was angeblich mit einem voranschreitenden Wandel im Wortklassensystem des Englischen zusammenhängt. Kürzung: Kürzungsvorgänge sind im Rahmen der Derivationsmorphologie extrem selten. Das dürfte mit dem Widerspruch zwischen einem Mehr an Bedeutung, aber einem Weniger an symbolisierender morphologischer Substanz zusammenhängen (vgl. Naumann/Vogel 2000: 936), also einem im Rahmen der Natürlichkeitstheorie als „markiert“ aufzufassenden Verhältnis zwischen Inhalt und Gestalt. Auch die in der Literatur in diesem Zusammenhang genannten Ableitungsparadigmen (Naumann/Vogel 2000: 936) erscheinen nicht ohne weiteres als überzeugend oder unproblematisch. Es handelt sich um ital. Umbr-(ola) ‘(männlicher/weiblicher) Einwohner von Umbrien, zu Umbrien gehörig’ zu Umbri-(a) ‘Umbria’, poln. wód-(a) ‘viel oder schlechter Wodka’ zu wodk-(a) ‘guter oder kleiner Wodka’, russ. Zin-(a) zu Zinaid-(a) (kosende Verkleinerungsform eines Frauennamens). Zumindest der erste Fall könnte auch anders interpretiert werden, indem man die Morphemgrenze nach Umbr- annimmt; Umbrola wäre dann eine normale additive Derivation. Die beiden anderen Fälle ließen sich als hyperkorrekte Reanalysen auffassen, weil die Basis jeweils das Sem der Kleinheit oder des Kosenden aufweist, dem normalerweise eine fülligere Morphologie entspricht (Wässerchen < Wasser, Ännchen < Anne), so dass der Ableitung ohne dieses Sem eine weniger aufwändige morphologische Gestalt zugewiesen wird. In der Entwicklung von Sprachen können früher selbständige Wörter (Lexeme) zu Formationsmorphemen werden (Grammatikalisierung). Das ist etwa der Fall bei heit. Dieses Wort ist im Althochdeutschen noch als selbstständiges Substantiv mit Bedeutungen wie ‘Person, Persönlichkeit,

Gestalt’ (belegt. Aber in der deutschen Gegenwartssprache kommt es ausschließlich als Suffix vor, das z.B. in der Derivation Vollkommenheit das generelle semantische Paradigma ‘Zustand/ Eigenschaft, der/die durch das in der Basis (Adjektiv) bedeutete Eigenschaft charakterisiert ist’ repräsentiert. In der Übergangsphase beispielsweise der Entwicklung eines Lexems zum Wortbildungssuffix tritt typischerweise erstens das jeweilige Wort als freies Simplex auf. Zweitens erscheint das Element als Zweitbestandteil von kompositionell interpretierbaren Wortbildungsprodukten. Drittens tritt es als Zweitbestandteil von Wortbildungen auf, die eher eine derivationelle Semantik zeigen, womit für das betreffende Element der Verlust des Wortstatus einhergeht. Im weiteren Verlauf der Entwicklung wird der Gebrauch des selbständigen Wortes aufgegeben (vgl. Meineke 1994: 501–552). Eckhard Meineke ≡ Ableitungsmittel → Ablaut; Affix; Basis; Derivation; Grammatikalisierung; implizite Derivation; Infix; innere Ableitung; Interfigierung; Konversion; Präfix; Reduplikation; Suffix; Suppletion; Synaffix; Transfigierung; Wortkürzung; Zirkumfix 🕮 Don, J./ Trommelen, M./ Zonneveld, W. [2000] Conversion and category indeterminacy. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 943–952 ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Lieber, R./ Stekauer, P. [eds. 2014]: The Oxford Handbook of Derivational Morphology. Oxford ◾ Meineke, E. [1994] Abstraktbildungen im Althochdeutschen. Wege zu ihrer Erschließung. Göttingen ◾ Naumann, B./ Vogel, P.M. [2000] Derivation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 929–943 ◾ Sapir, E. [1921] Language: An Introduction to the Study of Speech. New York, NY.

Derivationsmodell

Derivationsparadigma mit einem bestimmten Affix und einer bestimmten Basiswortart, vom Gesichtspunkt der Erzeugung her gesehen. ▲ derivational model: derivational paradigm consisting of a specific affix and a specific part of speech of the base word from the point of view of creation. Wortbildungsprodukte werden entweder aus unmittelbaren Konstituenten zu Wortbildungskonstruktionen aufgebaut oder es findet die Überführung einer simplizischen oder komplexen Ausgangseinheit zu einer neuen Einheit, d.h. dem Angehörigen einer anderen Wortart bei gleicher

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Derivationsmorphem 232

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Ausdrucksseite des Wortes (abgesehen von den wortarttypischen Flexionsmorphemen), statt. Diesem Vorgang liegen Wortbildungsmodelle zugrunde, für die auch der Begriff Wortbildungsmuster geprägt wurde (Fleischer/Barz 2007: 53). Ein Wortbildungsmodell ist ein morphologischsyntaktisch und lexikalisch-semantisch bestimmtes Strukturschema, nach dem Reihen gleichstrukturierter Wortbildungsprodukte mit unterschiedlichem lexikalischen Material erzeugt werden können. Ein Wortbildungsmodell stellt bspw. das Strukturschema Verbstamm + Adjektivsuffix -ig mit der Bedeutung ‘Neigung zu der durch das Verb bedeuteten Tätigkeit bzw. Verhaltensweise habend’ dar, das sich in Bildungen wie bummel-ig oder taumel-ig konkretisiert (Fleischer/Barz 2007: 53). Beim Wortbildungsmodell geht es im Unterschied zum Wortbildungstyp um den generativen Gesichtspunkt, den der Erzeugung in einem funktionierenden System, nicht um den analytischen Gesichtspunkt. Ein Wortbildungsmodell sollte nach Fleischer/ Barz (2007: 54) Angaben über folgende Strukturmerkmale enthalten: a. Morphemcharakteristik der unmittelbaren Konstituenten: Grundmorphem, Grundmorphemkomplex oder Konfix bzw. Affix; Wortart und semantische Klasse (falls Grundmorphem). b. Reihenfolge der unmittelbaren Konstituenten. c. Wortart und semantische Klasse (oder Wortbildungsgruppe) der erzeugten Einheit (bei Derivaten). d. Formativstrukturelle Spezifika der erzeugten Bildung: morphonologische (etwa: Interfigierung), suprasegmentale (Akzentverteilung) und graphische (etwa: Bindestrich) Charakteristik. e. Wortbildungsbedeutung. Ferner könnten in die Modellbeschreibungen zusätzliche Angaben über Beschränkungsbedingungen aufgenommen werden. Ferner solle die Modellbeschreibung nach Möglichkeit durch Angaben zur „funktionalen Charakteristik“ ergänzt werden. Diese bezögen sich auf stilschichtliche Markierungen, insbesondere „salopp/umgangssprachlich“ (z.B. bei Verben auf -s wie knacksen und mucksen) und die funktionalstilistische, spezieller textsortenspezifische Differenzierung (Fleischer/Barz 2007: 54). Eckhard Meineke

≡ Ableitungsmuster → Affix; Akzent; Basiswortart; Derivation; Grundmorphem; Konfix; unmittelbare Konstituente; Wortbildungsbedeutung; Wortbildungsmodell; Wortbildungsmuster; Wortbildungsparadigma; Wortbildungstyp 🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Lieber, R./ Stekauer, P. [eds.] [2014]: The Oxford Handbook of Derivational Morphology. Oxford ◾ Lieber, R./ Stekauer, P. [eds. 2014]: The Oxford Handbook of Derivational Morphology.Oxford ◾ Mugdan, J. [2015] Units of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1) Berlin [etc.]: 235–301 ◾ Spencer, A. [2015] Derivation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1) Berlin [etc.]: 301–321.

Derivationsmorphem

nicht wortfähiges Morphem, das zur Erzeugung einer Ableitung verwendet wird. ▲ derivational morpheme: morpheme that is not itself able to be the base of a word but which is used to generate a derivative. Das Derivationsmorphem ist neben der Derivationsbasis eine der beiden unmittelbaren Konstituenten; es wird auch als Derivatem bezeichnet. Im Deutschen treten folgende Arten von Derivationsaffixen auf: a. Suffix: Ordn-ung, fröh-lich, krise-l-n; b. Präfix: Un-glück, ur-alt, ver-gießen; c. Präfix-Suffix-Kombination: Ge-sing-e, ver-unrein-ig-en (Fleischer/Barz 2007: 46). Als Präfix-Suffix-Derivationen werden laut Fleischer/Barz (2007: 46) auch „die Konversionen mit zusätzlichem Präfix betrachtet (ver-arzt-en) und als Präfixkonversion von der Präfix-Suffix-Derivation unterschieden”. – Da aber -en lediglich das Morphem für die Erzeugung des Infinitivs ist und im Paradigma des finiten Verbs nicht auftritt, ist der Begriff kombinatorische Derivation nur beim substantivischen Infinitiv angebracht, aber nicht beim Verb. In den Sprachen der Welt ist die Derivation mittels Affixen am weitesten verbreitet. Zu beobachten ist dabei die einfache und die komplexe Affigierung. Bei der einfachen Affigierung ist die Suffigierung von der Präfigierung sowie der Infigierung zu unterscheiden. Bei der Infigierung wird das Affix in die Basis eingefügt: Chrau (Vietnam) vŏh ‘wissen’ > v-an-ŏh ‘weise’ (Naumann/ Vogel 2000: 934). Bei der komplexen Affigierung oder Synaffigie-

233 Derivationsmorphem rung erfolgt die Hinzufügung einer Kombination formal getrennter Elemente. Dabei wird die semantische Wirkung des derivationellen Programms nur dann erzielt, wenn die beiden Morpheme zugleich auftreten (Synaffix). Der hauptsächliche Typ der Synaffigierung ist die Zirkumfigierung. Hierbei wird die Basis von einem Präfix und einem Suffix umschlossen; die Abfolge der Affixe ist also diskontinuierlich. Das trifft für das bereits erwähnte dt. Ge-sing-e zu sing-en zu oder für Bahasa (Indonesien) per-adaban ‘Zivilisation’ zu adab ‘zivilisiert’ (Naumann/ Vogel 2000: 934). Eine nichtdiskontinuierliche Spielart der Synaffigierung ist die Interfigierung. Dabei wird die Derivation formal durch das gleichzeitige Auftreten eines Präfixes oder Suffixes und eines nicht-diskontinuierlichen postpräfixalen oder präsuffixalen semantisch „leeren“ Affixes herbeigeführt. Beispiele für den letztgenannten Typ sind etwa it. banc-ar-ell(o) oder banc-ar-ozz(o) ‘little bench’ zu banc-(o) ‘bench’ (Naumann/Vogel 2000: 934). Die Transfigierung ist mit dem morphologischen Typus der Introflexion verbunden, der nur in den semitischen Sprachen vorkommt. Sie ist definiert als die Hinzufügung eines diskontinuierlichen Affixes zu einer ebenfalls diskontinuierlichen Basis. Dabei hängt eine üblicherweise trikonsonantische Wurzel, die als solche niemals autonom ist, mit einer Form zusammen, die aus vokalischen und/oder konsonantischen Segmenten (Transfix) besteht. Die Transfigierung wird oft von Suffigierung, Präfigierung oder Infigierung begleitet. Beispiele sind k-a-t-a-b ‘schreiben’ und k-i-t-aa-b ‘Buch’ aus dem modernen Arabisch, die auf die abstrakte Wurzel k-t-b ‘was mit schreiben zu tun hat’ bezogen sind. Da Derivation üblicherweise als eine morphologische Operation verstanden wird, die von konkreten autonomen Basen ausgeht, nicht aber abstrakten Wurzeln, kann die transfixale Derivation auch als ein Sonderfall der vollständigen Affixsubstitution angesehen werden (Naumann/Vogel 2000: 934). Wortbildungsaffixe kommen im Unterschied zu den Grundmorphemen nicht als zentrale Grundlage selbstständiger Lexeme vor, sind also nicht „frei“, sondern „gebunden“. In Verbindung mit Derivationsbasen, das sind simplizische Wörter, unselbstständige lexikalische Kerne (Konfixe), wortgebildete Wörter und Syntagmen, dienen sie

der Bildung komplexer Wörter. Bei diesen wird, wenn es sich um Suffixe oder Zirkumfixe handelt, die Bedeutung der Basis meist in das von dem Suffix oder dem Zirkumfix vermittelte generelle semantische Konzept eingebettet, also etwa Freiheit ‘Zustand, frei zu sein’, Bürgertum ‘Gruppe, Gesamt der Bürger’, essbar ‘kann gegessen werden’. Daneben ist bei bestimmten Suffixen, etwa Brot > Brötchen, eine Modifikation gegenüber der Basisbedeutung möglich (‘kleines Brot’). Durch Suffixbildungen kann gegenüber der Wortart der Basis eine andere Wortart entstehen (einsam > Einsamkeit), muss es aber nicht (grün > grünlich). Ein Wortartwechsel ist dagegen bei Präfixbildungen nicht möglich, und semantisch weist die Präfixbildung gegenüber der Basisbedeutung überwiegend eine Modifikation der Basisbedeutung auf, so etwa in reißen > zerreißen ‘völlig durchreißen’. Dabei kann die Modifikation bis hin zum Ausdruck des Gegenteils gehen, so in bekannt > unbekannt (vgl. Fleischer/Barz 2007: 26). Ein Derivationssuffix oder ein Zirkumfix legt die Wortart der Derivation fest, wobei es nicht entscheidend ist, ob die Basis bereits die durch die Derivation entstehende Wortart aufweist (s.o.) oder nicht. Dagegen wird bei der Präfigierung die Wortart beibehalten. Präfixe treten vor ein vollständiges Lexem, das bereits einer Wortart angehört. Die insoweit bestehende „kategoriale Unmarkiertheit“ des Präfixes schließt allerdings nicht aus, dass es bestimmte Zuordnungen von bestimmten Präfixen zu bestimmten Wortarten gibt bzw. Blockaden von bestimmten Präfixen für bestimmte Wortarten, was allerdings einen geschichtlich gewordenen Befund und keinen Widerspruch zu der vorherigen funktionalen Aussage darstellt. So wird man das Präfix un- vor Substantiven und Adjektiven erwarten (Undank, unlesbar), aber nicht vor Simplexverben (*unsagen) (vgl. Fleischer/Barz 2007: 26). Allerdings ist die Zuordnungsstringenz der Präfixe zu den Wortarten weitaus geringer als bei den Suffixen. Diese sind für die Wortarten Substantiv, Adjektiv und Verb geschieden und Homonymie wie bei -ig für Verben und -ig für Adjektive tritt nur vereinzelt auf. Demgegenüber können eine ganze Reihe von Präfixen bei Substantiven, Adjektiven und auch nicht selten bei Verben verwendet werden. Sie werden also insofern als „relativ selektionsschwach“ bezeichnet (vgl. Fleischer/ Barz 2007: 26).

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Derivationsparadigma 234 Über die allgemeinen Eigenschaften von Affixen und die Besonderheiten verbaler Präfixe unterrichten Fleischer/Barz (2007: 28–30).

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Eckhard Meineke ≡ Ableitungsmorphem; Derivationsaffix; Derivationsformant → § 23; Affixsubstitution; Derivationsbasis; Infix; Interfigierung; Konfix; Präfix; Suffix; Synaffix; Transfigierung; Wortart; Zirkumfix ⇀ Derivationsmorphem (CG-Dt) ⇁ derivational morpheme (CG-Engl)

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Lieber, R./ Stekauer, P. [eds. 2014]: The Oxford Handbook of Derivational Morphology. Oxford ◾ Mugdan, J. [2015] Units of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (40.1) Berlin [etc.]: 235–301 ◾ Naumann, B./ Vogel, P.M. [2000] Derivation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 929–943 ◾ Spencer, A. [2015] Derivation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1) Berlin [etc.]: 301–321.

Derivationsparadigma

Sammelbegriff für die Klassifizierung der Derivationen im Hinblick auf die Paradigmen Wortbildungsreihe, Wortbildungsgruppe und Wortbildungsnest. ▲ derivational paradigma: collective name for the classification of derivatives with respect to the paradigms word-formation series, word-formation group and word-formation nest. Wortbildungsprodukte stehen aufgrund ihrer morphologischen Komplexität und ihrer Motiviertheit in speziellen systemhaften Beziehungen zueinander, bilden verschiedene Wortbildungsparadigmen aus. Da das Paradigma als eine Menge unterschiedlicher Einheiten definiert werden kann, die aufgrund eines das Paradigma konstituierenden Merkmals zusammengefasst werden, kann ein und dasselbe Wortbildungsprodukt entsprechend dem das Paradigma konstituierenden strukturellen oder semantischen Merkmal unter Umständen mehreren Paradigmen zugeordnet werden (Fleischer/Barz 2007: 68f.). Dabei unterscheiden Fleischer/Barz (2007: 69) die Paradigmen Wortbildungsreihe, Wortbildungsgruppe und Wortbildungsnest. Unter Wortbildungsreihe wird die Gesamtheit der Wortbildungsprodukte verstanden, die nach ein und demselben Modell gebildet sind. So stellten z.B. deverbale Substantive auf -er mit der Bedeutung nomen agentis (Leser) eine solche Reihe dar. Eine weitere Reihe werde gebildet durch Bildun-

gen des gleichen morphologischen Programms mit der Bedeutung nomen instrumenti (Schalter), eine dritte durch die desubstantivischen Substantive auf -er mit der Bedeutung nomen agentis (Musiker), da hier im Vergleich zu Leser eine andere Modellstruktur vorliege (Fleischer/Barz 2007: 69). Die wiederholte Nutzung des jeweiligen Wortbildungsmodells zur Bildung neuer Wörter aus vorhandenen sprachlichen Elementen, so Leser, Maler, Verkäufer; Schalter, Drücker, Summer; Musiker, Schüler, Stahlwerker, ist Reihenbildung. Der Umfang der Wortbildungsreihe werde vom Grad der Produktivität des entsprechenden Modells bestimmt (Fleischer/Barz 2007: 69). Ein Affix kann gemäß dieser Definition mehrere Wortbildungsreihen erzeugen und monofunktionale Affixe wie -in als Movierungssuffix (König - Königin) oder ex- in der Bedeutung ‘ehemalig’ seien selten (Fleischer/Barz 2007: 69). – Dabei ist zu beachten, dass im ersten Beispiel die Ableitung Königin sowohl ‘regierende Königin’ als auch ‘Ehefrau eines Königs’ bedeuten kann, was damit zusammenhängt, dass durch -in in früheren Sprachperioden vor allem die letztere Bedeutungsvariante vermittelt wurde. Und auch ex- hat nicht nur die Bedeutung ‘ehemalig’, was etwa Exartikulation, Exhalation, Exkommunikation zeigen können. Die Ausprägung von Reihen ist ein spezielles Merkmal der Derivationsmodelle, weil die Bedeutung der Affixe einen relativ hohen Allgemeinheitsgrad besitzt. Dadurch ist die Verbindung der Affixbedeutung mit der Bedeutung selbstständiger Wörter relativ wenig eingeschränkt (Fleischer/Barz 2007: 69). Entsprechend tritt auch bei Komposita Reihenbildung verstärkt auf, wenn eine der beiden unmittelbaren Konstituenten eine Bedeutung mit sehr allgemeiner Denotation hat (grund-, haupt-, -mittel, -stoff, -zeug). Zu diesen Konstituenten mit von vornherein weiter Denotation treten solche, die erst in der Wortbildungskonstruktion zu einer allgemeineren Bedeutung tendieren, damit von der Verwendung als freies Wort abweichen und so zu Affixoiden werden, etwa -fähig, -arm, -freundlich (Fleischer/Barz 2007: 70). Die Wortbildungsgruppe ist eine Gruppe von Wortbildungsprodukten mit unterschiedlichem Affix, aber einem gemeinsamen Element hinsichtlich der Denotation. So stellen die Deriva-

235 Derivationsrestriktion tionsmodelle und -typen zur Bezeichnung von Personen eine Derivationsgruppe dar. Es handelt sich um die Modelle Basis (Verb) + -er (Leser), B (Substantiv) + -er (Schüler), B (S) + -ler (Künstler), B (V) + -ling (Lehrling), B (Adjektiv) + -ling (Feigling), B (Numerale) + -ling (Fünfling), B (S) + -bold (Witzbold), B (A) + -ian (Grobian), B (V) + -eur (Friseur) usw. (Fleischer/Barz 2007: 70). Inwieweit der in diesem Zusammenhang verwendete Begriff der Konvergenz der Affixe (Fleischer/Barz 2007: 70 nach Kühnhold/Wellmann 1973: 135) erkenntnisfördernd ist, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass es eine begrenzte Anzahl von Denotatbereichen in der vom Menschen versprachlichten Welt gibt, für die jeweils Ableitungen mit verschiedenen Affixen zur Verfügung stehen, die also in Bezug auf das als Merkmal angesetzte Kriterium Derivationsgruppen bilden. Neben den aufgrund eines onomasiologischen Kriteriums konstituierten Gruppen kommen auch solche mit der gleichen Wortbildungsbedeutung vor (Fleischer/Barz 2007: 71). Bei den substantivischen Derivaten sind insoweit neben den Personenbezeichnungen noch die Derivationsgruppen der Kollektiva (Menschheit, Lehrerschaft, Bürgertum, Buschwerk, Schulwesen, Gebirge, Bürokratie, Motivik), der Eigenschaftsbezeichnungen (Blässe, Klarheit, Strebertum, Wirksamkeit, Haltlosigkeit, Naivität, Akkuratesse), der Gerätebezeichnungen (Leuchte, Kocher, Stöpsel, Hebel), der Räumlichkeitsbezeichnungen (Schmiede, Gärtnerei, Gefängnis) gegeben, bei den Adjektiven Bezeichnungen für einen hohen Grad der Eigenschaft (superklug, urkomisch, hyperkorrekt), für die Möglichkeit des in der Basis Bedeuteten (tragbar, entbehrlich, akzeptabel), für das Vorhandensein des in der Basis Bedeuteten (schmerzlich, fehlerhaft, sandig). Das Kriterium der Wortbildungsbedeutung greift bei den Verben, wo etwa eine Derivationsgruppe mit der Wortbildungsbedeutung ‘versehen mit’ (Aktionsart ornativ) angesetzt werden kann (ölen, einfetten, vergolden, beeinflussen, überbrücken, unterkellern), mit der Wortbildungsbedeutung ‘privativ’ (häuten, entlausen, abbalgen), mit der inchoativen Aktionsart ‘(plötzlicher) Beginn der Handlung’ (erklingen, entbrennen, aufschreien, anfahren, losgehen) (Fleischer/Barz 2007: 71). Das dritte Wortbildungsparadigma ist das Wortbildungsnest. Als Wortbildungsnest werden Wort-

bildungsprodukte bezeichnet, die zur gleichen Wortfamilie gehören, also in ihrer Struktur ein formal und semantisch identisches Grundmorphem aufweisen: klug/unklug, Klugheit, ausklügeln; Kopf/köpfen, Dummkopf, Kopfverletzung; kaufen/abkaufen, käuflich, kauflustig (Fleischer/Barz 2007: 71; Weiteres zum Wortbildungsnest ebenda, 72f.). Eckhard Meineke

→ Affixkonvergenz; Affixoid; Derivationsmodell; Grundmor-

phem; Motivation; Wortbildungsbedeutung; Wortbildungsgruppe; Wortbildungskonstruktion; Wortbildungsmodell; Wortbildungsnest; Wortbildungsreihe

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Kühnhold, I./ Wellmann, H. [1973] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 1. Hauptteil: Das Verb. Düsseldorf ◾ Lieber, R./ Štekauer, P. [eds. 2014]: The Oxford Handbook of Derivational Morphology. Oxford ◾ Meineke, E. [1996] Das Substantiv in der deutschen Gegenwartssprache. Heidelberg.

Derivationsrestriktion

morpho-syntaktische, phonologische oder semantische Beschränkung, welche die Bildung nicht-wohlgeformter Derivate verhindert. ▲ derivational restriction: morpho-syntactic, phonological or semantic restriction which prevents the formation of ill-formed derivatives. Derivationsrestriktionen, die ihren Ursprung in der generativen Wortbildung haben, dienen dazu, die Kombination von Suffixen und Präfixen mit geeigneten Basiselementen zu gewährleisten (z.B. sing-er, boy-hood, short-en, un-kind) und gleichzeitig nicht-wohlgeformte Derivate (z.B. *fall-er, *book-hood, *dry-en, *un-bad) am Eintritt in die Syntax zu hindern. In frühen generativen Wortbildungsmodellen wurden Derivationsprozesse insbesondere durch Wortbildungsregeln (Halle 1973, Aronoff 1976) bzw. Subkategorisierungsrahmen (z.B. Lieber 1981) gesteuert. Hierbei handelt es sich um morpho-syntaktische, mitunter durch semantische Informationen angereicherte Mechanismen, welche den In- und Output von Affixen über lexikalische Kategorien wie N („Nomen“), A („Adjektiv“) oder V („Verb“) definieren. Mittels der in Abb. 1 (1) dargestellten Wortbildungsregel (WBR) trägt Aronoff (1976) beispielsweise der Tatsache Rechnung, dass das Suffix -er typischerweise im Kontext von Verben auftritt. Diese können sowohl

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Derivationsrichtung 236

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transitiv (z.B. teach-er, produc-er, discover-er) als auch intransitiv sein (z.B. dream-er, sleep-er, stalk-er). Der Output der WBR gehört der Kategorie N an und erhält eine agentivische Interpretation, die eine Funktion der Bedeutung der Basis ist. (1) [X]v → [[X]v #er]n [± transitive]

[± transitive]

“one who Vs habitually, professionally, ...” Der Subkategorisierungsrahmen in (2) gibt Auf(2) ]n nominale Suffix -ness a ___das schluss -ness: darüber, ]dass typischerweise adjektivische Basiselemente selegiert (happi-ness, sweet-ness, product-ive-ness etc.). Subkategorisierungsrahmen wurden von Lieber (1981) analog zu syntaktischen Subkategorisierungsrahmen postuliert, die in der Generativen Transformationsgrammatik Chomskys den Komplementbereich von lexikalischen Köpfen (insbesondere von Verben) definieren. (2) -ness: ]A ___ ]N Ein anschauliches Beispiel für eine phonologische Derivationsrestriktion bieten Derivate wie blacken, whiten, toughen, harden, dampen etc., die erkennen lassen, dass das verbbildende Suffix -en nur mit monosyllabischen Adjektiven, die auf einen Obstruenten enden, kombinierbar ist. Adjektive, die diese Voraussetzung nicht erfüllen, sind mit -en inkompatibel (z.B. *bitter-en, *dry-en, *green-en). Aufgrund dieser Tatsache gelangte Halle (1973: 13) zu der Erkenntnis, dass Wortbildungsregeln nicht nur Zugriff auf das Lexikon, sondern auch auf den Output phonologischer Prozesse haben. Eine semantische Derivationsrestriktion ist z.B. für das verbale lateinische Lehnsuffix -ate zu verzeichnen. Eine von Plag (1999: 205–206) durchgeführte Untersuchung von -ate-Verben, die im 20. Jh. von den Sprechern des Engl. gebildet wurden, ergab, dass der Input dieses Suffixes synchron auf Basiselemente beschränkt ist, die chemische Substanzen bezeichnen, z.B. methan-ate, gel-ate, fluorid-ate, glycerin-ate. Derivationsrestriktionen sind auch als Generalisierungen über Klassen von Affixen formulierbar. Die von Lieber (2004: 161) formulierte „redundancy restriction“ besagt beispielsweise, dass Affixe einer Basis keine semantischen Informationen hinzufügen, die der Basis bereits innewohnen. Aufgrund dieser Restriktion, die zur Vermeidung von Redundanz im Lexikon dient, werden seman-

tisch nicht-wohlgeformte Derivate wie *un-bad, *in-malicious; *concentration-age, *peace-hood etc. blockiert. (3) The Redundancy Restriction Affixes do not add semantic content that is already available within a base word (simplex or derived). Zu beachten ist jedoch, dass Derivationsrestriktionen jeglicher Art in der Regel keinen absoluten Charakter haben, sondern Tendenzen reflektieren. Im Engl. belegte Bildungen wie bluer, upper, fourteener, penny-a-liner bzw. moneyness, weness, nullness oder plus ça change-ness verdeutlichen beispielsweise, dass die in Abb. 1 (1) und (2) dargestellten Wortbildungsmechanismen, die den Input von -er und -ness auf Verben bzw. Adjektive beschränken, mitunter zu restriktiv sind. Ebenso schwächen Derivate wie unevil, incorrupt, perfectionism oder obstructionism die Aussagekraft der redundancy restriction. Der Grund für die häufig zu beobachtende Diskrepanz zwischen Derivationsrestriktionen und tatsächlich belegten Daten besteht darin, dass Wortbildungsmuster zwar vorwiegend systematisch, aber dennoch flexibel sind und somit Abweichungen von der „Norm“ tolerieren, sofern diese interpretierbar sind. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Derivation von dem weitgehend statischen Flexionssystem, das Formen wie *oxes, *writed oder *bonuses als ungrammatisch ausweist. Nichtsdestoweniger sind Derivationsrestriktionen unverzichtbar, da sie den Maßstab für die Bildung bzw. Analyse von Derivaten setzen und somit Abweichungen von der „Norm“ erst erkennbar machen. Heike Baeskow

→ morphologische Subkategorisierung; Wortbildungsregel

🕮 Aronoff, M. [1976] Word Formation in Generative Grammar. Cambridge, MA [etc.] ◾ Gaeta, L. [2015] Restrictions in wordformation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 859–875 ◾ Halle, M. [1973] Prolegomena to a Theory of Word Formation. In: LingInqu 4: 3–16 ◾ Lieber, R. [1981] The Organization of the Lexicon. Bloomington, IN ◾ Lieber, R. [2004] Morphology and Lexical Semantics. Cambridge ◾ Plag, I. [1999] Morphological Productivity. Structural Constraints on English Derivation. Berlin [etc.].

Derivationsrichtung

Beziehung der Ableitung zwischen zwei Wörtern. ▲ derivational direction: direction in which the derivational relation between two words occurs.

237 Derivationsstammform Durch die Derivation treten zu dem semantischen Gehalt der Basis ein oder mehrere Bedeutungsbestandteile (Seme) hinzu, abgesehen von der Frage des Wortartwechsels oder der Wortartbeibehaltung. So sind zum Beispiel die aus starken Verben abgeleiteten schwachen -jan-Verben des Germanisch-Deutschen meist Kausativa, so etwa brinnan st. V. > brann-jan > brennen sw. V. ‘anzünden’ (‘brennen machen’); daneben zeigen die historischen Sprachstufen bereits andere Bedeutungen. Die Derivationsrichtung ist also in diesem Fall als ‘nicht kausatives Verb > kausatives Verb’ zu bezeichnen. Zugleich ist das Basisverb intransitiv, fordert kein Objekt, das abgeleitete Verb transitiv (auf ein Objekt zielend). Es ist aber bei der Verbableitung auch die umgekehrte Derivationsrichtung möglich; ein nicht-transitives Verb kann aus einem transitiven Verb abgeleitet werden. Dieser Derivationstyp ist etwa im Gotischen vertreten, und zwar durch die schwachen -nan-Verben. So kann aus dem präfigierten starken Verb and-bindan ‘losmachen, lösen’ das schwache Verb and-bund-nan ‘sich losmachen, sich lösen’ abgeleitet werden, aus dem transitiven starken Verb dis-taíran ‘[etwas] abreißen’ das schwache Verb dis-taúrnan ‘abreißen’ (intransitiv) (vgl. García García 2005: 24, mit teilweise unzutreffender Klassifizierung). Für die Feststellung, dass ein Wort aus einem anderen abgeleitet wurde und von wo nach wo die Derivationsbeziehung verläuft, nennen Fleischer/Barz (2007: 210) drei Kriterien. Erstens das formale Kriterium wie das Vorhandensein eines Affixes, so etwa reißen > zerreißen. Zweitens das semantische Kriterium. So bedeutet fischen ‘Fische fangen’; die Paraphrase enthält also die Bedeutung des sich damit als Basis erweisenden Wortes Fisch sowie die Verbalbedeutung. Hingegen kann Fisch nicht aus fischen abgeleitet sein, weil es kein semantisches Merkmal des Wortes Fisch ist, dass man den Fisch fängt. Drittens wird das Kriterium der Gebrauchshäufigkeit genannt; die Basis müsste demnach häufiger gebraucht werden als das Derivat. Das an dritter Stelle genannte Kriterium ist allerdings angesichts der Unwägbarkeiten der Wortgeschichte und Verwendungskontexte zweifelhaft. Entscheidend ist angesichts der Möglichkeit der morphologisch merkmallosen Derivation (Vogel 1996) das semantische Kriterium. Bei stammgleichem starken Verb und Substantiv

wie etwa rufen und Ruf ist die Feststellung einer Derivationsbeziehung aufgrund des Fehlens expliziter Derivationsmorpheme nicht möglich, aber auch das semantische Kriterium liefert keine eindeutigen Ergebnisse, jedenfalls nicht in der Gegenwartssprache, so dass in solchen Fällen beide Arten von Derivationsbeziehungen, rufen > Ruf und Ruf > rufen, angenommen werden (Fleischer/Barz 2007: 210). Allerdings ist dazu zu bemerken, dass starke Verben im Gegensatz zu den schwachen im Allgemeinen nicht aus anderen Wortarten abgeleitete, primäre Verben sind, so dass von daher die Beziehung rufen > Ruf vorzuziehen wäre (vgl. Schwerdt 2008: 45–51). Das Problem der Ableitungsrichtung stellt sich insbesondere bei der Konversion (Schmid 2005: 196–198). Eckhard Meineke ≡ Ableitungsrichtung → Derivation; Derivationsbeziehung; kausatives Verb; Konversion

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ García García, L. [2005] Germanische Kausativbildung. Die deverbalen jan-Verben im Gotischen. Göttingen ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin ◾ Schwerdt, J. [2008] Morphosemantik der schwachen Verben im Ostgermanischen und Kontinentalwestgermanischen. Frankfurt/Main ◾ Vogel, P.M. [1996] Wortarten und Wortartenwechsel. Zu Konversion und verwandten Erscheinungen im Deutschen und in anderen Sprachen. Berlin [etc.].

Derivationsstammform

angenommene oder tatsächliche Stammformvariante, die speziell bei der Derivation auftritt. ▲ derivational stem form: supposed or real stem form variant appearing especially in a derivative. Bei Flexion, Derivation und Komposition können im Deutschen die Stämme der betroffenen Wörter tatsächlich oder scheinbar in unterschiedlicher Gestalt auftreten. Diese Stammvarianten lassen sich zu einem Stammparadigma zusammenfassen. Dabei gilt die der Flexion zugrundeliegende Stammform auch als die Grundstammform (Fuhrhop 1998: 23). Abweichungen treten dieser Auffassung zufolge etwa bei der Ableitung von Brasilien > Brasilianer auf; bei Annahme eines Ableitungsmorphems -er müsste die Stammvariante *Brasilian- angenommen werden (Fuhrhop 1998: 24), die dann auch dem Adjektiv brasilian-isch zugrunde läge.

D

Derivationsstufe 238

D

Dieser Ansatz dürfte durch die Nichtberücksichtigung der sprachgeschichtlichen Entstehung des „Paradigmas“ bedingt sein. Die Grundlage liegt offenbar in dem lateinischen Ableitungssuffix -anus (Brasili-a/brasili-anus), das sowohl für das tatsächliche Adjektiv brasilianisch als auch das substantivierte Adjektiv Brasilianer in der lateinischen Gelehrtensprache eingetreten und dann teilweise ins Deutsche transformiert worden sein dürfte. Entsprechend bei Amerika > Amerikaner > amerikanisch, wo die Annahme einer speziellen Derivationsstammform *Amerikan- (Fuhrhop 1998: 149) ebenso wenig angenommen werden müsste wie bei vergleichbaren Bildungen (Afrikaner, Mohammedaner, Lutheraner). Über eine Neubenennung von als solchen bekannten morphologischen und quasimorphologischen Einheiten hinaus erbringt der Ansatz einer „Derivationsstammform“ ebensowenig wie der einer „Kompositionsstammform“ und einer „Flexionsstammform“ einen Erkenntnisgewinn. Das Problem wird wohl gegenstandsadäquater im Rahmen der Annahme von Morphemerweiterungen (Interfixen) behandelt. Ein anderes Problem liegt vor, wenn in Fremdwortbildungen wie Oper-ation/oper-ieren, Solidar-ität/solidar-isch gegenüber Neu-heit keine Derivationsstammform abgetrennt werden kann, die im Deutschen als wortfähig angesehen werden kann, und so natürlich auch nicht als Flexionsstammform auftreten könnte (Baier 2002: 42; Scherer 2005: 55f., 66; Müller 2005; Seiffert 2008). Hier können auch in der gleichen Wortfamilie verschiedene „Derivationsstammformen“ (diskut-ieren/Diskuss-ion) sowie differente Derivations- und Kompositionsstammformen festgestellt werden, so Pragmat-ik/Pragma-linguistik (Seiffert 2008: 84f.). Dieser Umstand ist im Zusammenhang der Konfixbildungen zu behandeln (Fleischer/Barz 2007: 67f.) Bei der Ableitung von schwachen Verben aus starken Verben oder der Ableitung von Substantiven aus starken Verben treten im GermanischDeutschen mitunter verschiedene Ablautformen der beteiligten Grundmorpheme bzw. Stämme auf. So wird aus dem starken Verb ahd. springan ‘springen’ das Kausativum sprengen mit der Motivationsbedeutung ‘springen machen’ abgeleitet, das auf germ. *sprang-j-an beruht. Das schwache Verb zeigt ein ablautendes Grundmorphem, dessen Vokal a später durch den umlautenden

Einfluss des nachfolgenden -j- zu e wurde. Zum starken Verb binden mit den ablautenden Tempusformen band und gebunden stehen die Sub­ stantive Binde, Band, Bande und Bund in einer Ablautbeziehung. Ebenso lässt sich behaupten, dass in Träum-er und verträum-t die umgelautete Derivationsstammform auftritt, in Traum-deutung die unumgelautete. Eckhard Meineke

→ Ablaut; Derivation; Fremdwortbildung; Fugenelement;

Grundmorphem; Interfigierung; Konfix; Suffixerweiterung; Umlaut

🕮 Baier, W. [2002] Form und Funktion fremder Suffixe im Gegenwartsdeutschen. München [etc.] ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Fuhrhop, N. [1998] Grenzfälle morphologischer Einheiten. Tübingen ◾ Müller, P.O. [2005] Einführung. In: Müller, P.O. [Hg.] Fremdwortbildung. Theorie und Praxis in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt/Main [etc.]: 11–45 ◾ Scherer, C. [2005] Wortbildungswandel und Produktivität. Eine empirische Studie zur nominalen -er-Derivation im Deutschen. Tübingen ◾ Schmidt, G.D. [1987] Das Kombinem. Vorschläge zur Erweiterung des Begriffsfeldes und der Terminologie für den Bereich der Lehnwortbildung. In: Hoppe, G. et al. [Hg.] Deutsche Lehnwortbildung. Tübingen: 37–52 ◾ Seiffert, A. [2008] Autonomie und Isonomie fremder und indigener Wortbildung am Beispiel ausgewählter numerativer Wortbildungseinheiten. Berlin.

Derivationsstufe

Stufe des Ableitungsprozesses bei der Ableitung von einer Ableitung. ▲ derivational level: level of a derivational process in which a derivative is derived from a derivative. Bei einer Ableitung wie Befolgung liegt ein mehrphasiger Derivationsprozess zugrunde: Folge > folgen > befolgen > Befolgung; recht > richten > gerichtet > Gerichtetheit; trüb > trüben > betrüben > Betrübnis. Jede dieser Phasen kann als Derivationsstufe bezeichnet werden. ≡ Ableitungsstufe; Derivationstiefe → Derivation

Eckhard Meineke

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen.

Derivationssuffix

nicht wortfähiges, am Ende der Wortbildungskonstruktion auftretendes Morphem, das zur Erzeugung einer Ableitung verwendet wird. ▲ derivational suffix: suffix by means of which a derivative is formed.

239 Das Derivationssuffix ist neben der Derivationsbasis eine der beiden unmittelbaren Konstituenten, sofern es nicht in einer Präfix-Suffix-Kombination steht. Im Deutschen treten folgende Typen bei den drei Hauptwortarten auf: a. Suffix: Ordn-ung, fröh-lich, krise-l-n; b. Präfix-Suffix-Kombination: Ge-sing-e, ver-unrein-ig-en (Fleischer/Barz 2007: 46). Wortbildungssuffixe kommen im Unterschied zu den Grundmorphemen nicht als zentrale Grundlage selbstständiger Lexeme vor, sind also nicht „frei“, sondern „gebunden“. In Verbindung mit Derivationsbasen, das sind simplizische Wörter, unselbstständige lexikalische Kerne (Konfixe), wortgebildete Wörter und Syntagmen, dienen sie der Bildung komplexer Wörter. Bei diesen wird, wenn es sich um Suffixe oder Zirkumfixe handelt, die Bedeutung der Basis meist in das von dem Suffix oder dem Zirkumfix vermittelte generelle semantische Konzept eingebettet, also etwa Freiheit ‘Zustand, frei zu sein’, Bürgertum ‘Gruppe, Gesamt der Bürger’, essbar ‘kann gegessen werden’. Daneben ist bei bestimmten Suffixen, etwa Brot > Brötchen, eine Modifikation gegenüber der Basisbedeutung möglich (‘kleines Brot’). Durch Suffixbildungen kann gegenüber der Wortart der Basis eine andere Wortart entstehen (einsam > Einsamkeit), muss es aber nicht (grün > grünlich). Ein Derivationssuffix oder ein Zirkumfix legt die Wortart der Derivation fest, wobei es nicht entscheidend ist, ob die Basis bereits die durch die Derivation entstehende Wortart aufweist (s.o.) oder nicht. Die Suffixe sind für die Wortarten Substantiv, Adjektiv und Verb geschieden und Homonymie wie bei -ig für Verben und -ig für Adjektive tritt nur vereinzelt auf. In der Entwicklung von Sprachen können früher selbstständige Wörter (Lexeme) zu Formationsmorphemen werden. Das ist etwa der Fall bei heit. Dieses Wort ist im Ahd. noch als selbständiges Substantiv mit Bedeutungen wie ‘Person, Persönlichkeit, Gestalt’ belegt. Aber in der deutschen Gegenwartssprache kommt es ausschließlich als Suffix vor, das z.B. in der Derivation Vollkommenheit das generelle semantische Paradigma ‘Zustand/Eigenschaft, der/die durch das in der Basis (Adjektiv) bedeutete Eigenschaft charakterisiert ist’ repräsentiert. In der Übergangsphase bspw. der Entwicklung eines Lexems zum Wortbildungssuffix tritt typischerweise erstens das

desubstantivische Derivation jeweilige Wort als freies Simplex auf. Zweitens erscheint das Element als Zweitbestandteil von kompositionell interpretierbaren Wortbildungsprodukten. Drittens tritt es als Zweitbestandteil von Wortbildungen auf, die eher eine derivationelle Semantik zeigen, womit für das betreffende Element der Verlust des Wortstatus einhergeht. Im weiteren Verlauf der Entwicklung wird der Gebrauch des selbständigen Wortes aufgegeben (vgl. Meineke 1994: 501–552). Eckhard Meineke ≡ Ableitungssuffix → § 23; Derivation; Derivationsbasis; Grundmorphem; Konfix; Modifikation; Suffix; Suffixentstehung; unmittelbare Konstituente; Wortart; Wortbildungshomonymie; Zirkumfix ⇀ Derivationssuffix (Gram-Formen)

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Meineke, E. [1994] Abstraktbildungen im Althochdeutschen. Göttingen ◾ Mugdan, J. [2015] Units of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 235–301.

Derivationstiefe

≡ Derivationsstufe

Derivativum ≡ Derivat

desubstantivische Derivation

Derivation mit einem Substantiv als Basis. ▲ denominal derivation: derivation with a noun as the base. Die Wortart „Substantiv“ weist insgesamt eine hohe Wortbildungsaktivität auf. Als Derivationsbasis ist das Substantiv an der Bildung aller Hauptwortarten beteiligt. Im Dt. ist „nahezu die Hälfte der heute geläufigen Suffixe […] für desubstantivische Bildungen verwendbar. Die Suffigierung substantivischer Basen ermöglicht die Bildung nicht nur von Substantiven, Adjektiven und Verben, sondern auch von Adverbien (nachts, wochenends, quartalsweise).“ (Fleischer/ Barz 2012: 119) Auch andere Sprachen verfügen über vielfältige Modelle der desubstantivischen Derivation. Je nach Wortbildungsart bzw. Wortbildungsmodell werden dabei substantivische Basen transponiert oder modifiziert. Beim Substantiv dient die desubstantivische Suffigierung besonders der Bildung von Personenbezeichnungen (dt. Musiker, Sportler, engl. mi-

D

desubstantivische Derivation 240

D

ner ‘Bergarbeiter’, frz. cuisinier/cuisinière ‘Koch/ Köchin’, opticien/opticienne ‘Optiker/in’, cycliste ‘Radfahrer/in’, ital. dentista ‘Zahnarzt/Zahnärztin’, bancario/bancaria ‘Bankangestellte/r’, span. molinero/molinera ‘Müller/in’, russ. pianist/pianistka ‘Pianist/in’). Zur Bezeichnung weiblicher Personen stehen z.T. Suffixvarianten (frz. -ier/​ ‑iére, -ien/-ienne, ital. -ario/-aria, span. -o/-a) oder movierende Suffixe zur Verfügung (dt. -in: Musikerin, Sportlerin, Ärztin, engl. -ess: manageress ‘Direktorin‘, russ. -ka: pianistka ‘Pianistin’). Produktiv bei der Suffixderivation ist auch die Diminuierung substantivischer Basen (dt. Häuschen, Büchlein, engl. streamlet ‘Bächlein’, frz. jardinet ‘Gärtchen’, maisonnette ‘Häuschen’, ital. gattino ‘Kätzchen, libretto ‘Büchlein’, cassettina ‘kleines Häuschen’, span. perrito ‘Hündchen’). Durch desubstantivische Präfixderivation entstehen Substantive, bei denen die Basisbedeutung modifiziert wird. So verfügen z.B. viele Sprachen über Präfixe, die eine Negation ausdrücken (dt. Unglück, Misserfolg, engl. disorder ‘Unordnung’, unreality ‘Unwirklichkeit’, frz. désaccord ‘Missklang’, inexpérience ‘Unerfahrenheit’, ital. insuccesso ‘Misserfolg’, span. infelicidad ‘Unglück’, russ. nepravda ‘Unwahrheit’, tschech. neklid ‘Unruhe’). Beim Adjektiv entstehen durch desubstantivische Suffigierung sowie Zirkumfigierung transponierende Wortbildungen zur Bezeichnung von Relationen. „Ein Substantiv wird durch die Derivation als adjektivisches Attribut verfügbar gemacht und kann somit zu einem weiteren Substantiv in Beziehung gesetzt werden“ (Barz 2009: 756). Als wichtige Transpositionsarten treten auf: unspezifische relative Adjektive (dt. abendlich, elterlich, herbstlich, engl. scientific ‘wissenschaftlich’, frz. chimique ‘chemisch’, span. económico ‘wirtschaftlich’), des Weiteren Adjektive mit den Wortbildungsbedeutungen „vergleichend“ (dt. früh­lingshaft, seidig, schülermäßig, engl. childish ‘kindisch’, frz. romanesque ‘romanhaft‘), „haben, besitzen“ (dt. schmackhaft, staubig, bemoost, gestreift, engl. powerful ‘kraftvoll’, frz. courageux ‘mutig’, span. polvoroso ‘staubig’), „nicht haben, besitzen“ (dt. lustlos, engl. colourless ‘farblos’) und „bestehen aus“ (dt. golden, gläsern, engl. metallic ‘metallen’, frz. argenté ‘silbern’, span. férreo ‘eisern’). Ein spezifisches und produktives morphologisch-

semantisches Muster stellen Substantive und Adjektive mit einem Eigennamen als Basis dar (dt. Spanier, Marxismus, Calvinist, goethesch/Goethe’sch/goethisch, erzgebirgisch; engl. Marxist, Italian, Freudian; frz. gaulliste, darwinisme, algérien; span. darwinismo, americano, británico; ital. leninismo, maoistico; russ. darvinizm, darvinistskij; tschech. Američan, Marxista, marxistický). Die entsprechenden deonymischen Substantive bezeichnen meist die geografische Herkunft sowie politische oder kulturelle Lehren, Bewegungen, Strömungen und deren Anhänger, die Adjektive die Zugehörigkeit oder einen Vergleich. Desubstantivische Verben entstehen durch Präfix-, Suffix- sowie Zirkumfixderivation (dt. verarzten, programmieren, begnadigen; engl. glorify ‘rühmen’, discourage ‘entmutigen’; frz. étatiser ‘verstaatlichen’, pacifier ‘Frieden stiften’; span. aterrizar ‘landen’; ital. ‘cristallizzare ‘kristallisieren’, pietrificare ‘versteinern’, insaponare ‘einseifen’; russ. slesarničat‘ ‘als Schlosser arbeiten’). Die Verben verfügen über eine große semantische Vielfalt. Für die Suffixderivate gilt als Grundbedeutung ‘die Handlung ausführen, die für das motivierende Substantiv typisch ist‘ (Autorenk. 1984: 173). Bei den Präfixderivaten z.B. finden sich im Dt. nach Barz (2009: 696) ornative (vergolden), agentive (bewirten), privative (entgiften), kausative (versklaven), ingressive (verstauben) und instrumentative Verben (vergiften). Betrachtet man – wie Donalies (2005: 95) – auch Konversion als Derivationsprozess, dann sind Bildungen vom Typ dt. Fisch > fischen, frz. trou > trouer ‘durchlöchern’ ebenfalls in die desubstantivische verbale Derivation mit einzubeziehen. Daneben stellen im Dt. auch desubstantivische Partikelverben mit simplizischen Basen ein produktives Muster dar (anleinen, aufforsten, abbeeren, zukorken), vgl. Barz (2009: 701ff.). Beim Adverb lassen sich durch Suffigierung substantivische Konzepte für adverbiale Verwendung verfügbar machen. Produktive Derivationssuffixe sind z.B. im Dt. -s (abends), -halber (umzugshalber), -wärts (himmelwärts), -weise (stundenweise), im Engl. -wise (clockwise ‘im Uhrzeigersinn’) und -wards (eastwards ‘ostwärts’). Kaum noch produktiv ist im Frz. -ment bei substantivischer Basis (diablement ‘teuflisch’). ≡ denominale Derivation

Hannelore Poethe

241 Desubstantivum

→ deonymische Wortbildung; Derivation; Derivationsbasis;

Derivationssuffix; Desubstantivum; Diminutivum; Präfix; Transposition; Wortbildungsaktivität; Wortbildungsart; Wortbildungsbedeutung; Wortbildungsmodell; Zirkumfigierung ⇁ denominal derivation (Typol)

🕮 Autorenk. [unter Leit. v. L. Wilske 1984] Die russische Sprache der Gegenwart. Bd. 4: Lexikologie. 2., unveränd. Aufl. Leipzig ◾ Baeskow, H. [2020] Denominal Verbs in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 531–550 ◾ Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Donalies, E. [2005] Die Wortbildung des Deutschen. Ein Überblick. 2., überarb. Aufl. Tübingen ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig.

Desubstantivum

Wortbildungsprodukt mit einem Substantiv als Derivations- oder Konversionsbasis. ▲ denominal: product of a derivational or conversion process with a noun as base. Die Wortart Substantiv weist insgesamt eine hohe Wortbildungsaktivität auf. Als Derivationsbasis ist das Substantiv an der Bildung aller Hauptwortarten beteiligt, als Konversionsbasis vor allem an der Bildung von Verben, seltener von Adjektiven. Im Dt. ist „nahezu die Hälfte der heute geläufigen Suffixe […] für desubstantivische Bildungen verwendbar. Die Suffigierung substantivischer Basen ermöglicht die Bildung nicht nur von Substantiven, Adjektiven und Verben, sondern auch von Adverbien (nachts, wochenends, quartalsweise)“ (Fleischer/Barz 2012: 119). Auch andere Sprachen verfügen über vielfältige Modelle der desubstantivischen Derivation. Je nach Wortbildungsart bzw. Wortbildungsmodell werden dabei substantivische Basen transponiert oder modifiziert. Beim Substantiv dient die desubstantivische Suffigierung besonders der Bildung von Personenbezeichnungen (dt. Musiker, Sportler; engl. miner ‘Bergarbeiter’; frz. cuisinier/cuisinière ‘Koch/ Köchin’, opticien/opticienne ‘Optiker/in’, cycliste ‘Radfahrer/in’; ital. dentista ‘Zahnarzt/Zahnärztin’, bancario/bancaria ‘Bankangestellte/r’; span. molinero/molinera ‘Müller/in’; russ. pianist/pianistka ‘Pianist/in’). Zur Bezeichnung weiblicher Personen stehen z.T. Suffixvarianten (frz. -ier/​ -iére, -ien/-ienne, ital. -ario/-aria, span. -o/-a) oder movierende Suffixe zur Verfügung (dt. -in: Musi-

kerin, Sportlerin, Ärztin; engl. -ess: manageress ‘Direktorin’; russ. -ka: pianistka ‘Pianistin’). Produktiv bei der Suffixderivation ist auch die Diminuierung substantivischer Basen (dt. Häuschen, Büchlein; engl. streamlet ‘Bächlein’; frz. jardinet ‘Gärtchen’, maisonnette ‘Häuschen’; ital. gattino ‘Kätzchen’, libretto ‘Büchlein’, cassettina ‘kleines Häuschen’; span. perrito ‘Hündchen’). Durch desubstantivische Präfixderivation entstehen Substantive, bei denen die Basisbedeutung modifiziert wird. So verfügen z.B. viele Sprachen über Präfixe, die eine Negation ausdrücken (dt. Unglück, Misserfolg; engl. disorder ‘Unordnung’, unreality ‘Unwirklichkeit’; frz. désaccord ‘Missklang’, inexpérience ‘Unerfahrenheit’; ital. insuccesso ‘Misserfolg’; span. infelicidad ‘Unglück’; russ. nepravda ‘Unwahrheit’; tschech. neklid ‘Unruhe’). Beim Adjektiv entstehen durch desubstantivische Suffigierung sowie Zirkumfigierung transponierende Wortbildungen zur Bezeichnung von Relationen. „Ein Substantiv wird durch die Derivation als adjektivisches Attribut verfügbar gemacht und kann somit zu einem weiteren Substantiv in Beziehung gesetzt werden“ (Barz 2009: 756). Als wichtige Transpositionsarten treten auf: unspezifische relative Adjektive (dt. abendlich, elterlich, herbstlich; engl. scientific ‘wissenschaftlich’; frz. chimique ‘chemisch’; span. económico ‘wirtschaftlich’), des Weiteren Adjektive mit den Wortbildungsbedeutungen ‘vergleichend’ (dt. frühlingshaft, seidig, schülermäßig; engl. childish ‘kindisch’; frz. romanesque ‘romanhaft’), ‘haben, besitzen’ (dt. schmackhaft, staubig, bemoost, gestreift; engl. powerful ‘kraftvoll’; frz. courageux ‘mutig’; span. polvoroso ‘staubig’), ‘nicht haben, besitzen’ (dt. lustlos; engl. colourless ‘farblos’) und ‘bestehen aus’ (dt. golden, gläsern; engl. metallic ‘metallen’; frz. argenté ‘silbern’; span. férreo ‘eisern’). Ein spezifisches und produktives morphologischsemantisches Muster stellen Substantive und Adjektive mit einem Eigennamen als Basis dar (dt. Spanier, Marxismus, Calvinist, goethesch/ Goethesch/goethisch, erzgebirgisch; engl. Marxist, Italian, Freudian; frz. gaulliste, darwinisme, algérien; span. darwinismo, americano, británico; ital. leninismo, maoistico; russ. darvinizm, darvinist­ skij; tschech. Američan, Marxista, marxistický). Die entsprechenden deonymischen Substantive bezeichnen meist die geografische Herkunft so-

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Desuperlativum 242

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wie politische oder kulturelle Lehren, Bewegungen, Strömungen und deren Anhänger, die Adjektive die Zugehörigkeit oder einen Vergleich. Desubstantivische Verben entstehen durch Präfix-, Suffix- sowie Zirkumfixderivation (dt. verarzten, programmieren, begnadigen; engl. glorify ‘rühmen’, discourage ‘entmutigen’; frz. étatiser ‘verstaatlichen’, pacifier ‘Frieden stiften’, emprisonner ‘ins Gefängnis stecken’; span. aterrizar ‘landen’; ital. cristallizzare ‘kristallisieren’, pietrificare ‘versteinern’, insaponare ‘einseifen’; russ. slesarničat‘ ‘als Schlosser arbeiten’). Die Verben verfügen über eine große semantische Vielfalt. Für die Suffixderivate gilt als Grundbedeutung ‘die Handlung ausführen, die für das motivierende Substantiv typisch ist’ (Autorenk. 1984: 173). Bei den Präfixderivaten z.B. finden sich im Dt. nach Barz (2009: 696) ornative (vergolden), agentive (bewirten), privative (entgiften), kausative (versklaven), ingressive (verstauben) und instrumentative Verben (vergiften). Daneben stellen im Dt. auch desubstantivische Partikelverben mit simplizischen Basen ein produktives Muster dar (anleinen, aufforsten, abbeeren, zukorken), vgl. Barz (2009: 701ff.). Beim Adverb lassen sich durch Suffigierung substantivische Konzepte für adverbiale Verwendung verfügbar machen. Produktive Derivationssuffixe sind z.B. im Dt. -s (abends), -halber (umzugshalber), -wärts (himmelwärts), -weise (stundenweise), im Engl. -wise (clockwise ‘im Uhrzeigersinn’) und -wards (eastwards ‘ostwärts’). Kaum noch produktiv ist im Frz. -ment bei substantivischer Basis (diablement ‘teuflisch’). Bei der Konversion sind vor allem desubstantivische Verben produktiv und semantisch breit gefächert (dt. computern, fischen, kleiden, ölen, geigen, schauspielern, snowboarden, urlauben; engl. to bicycle ‘Fahrrad fahren’, to bottle ‘in Flaschen füllen’, to trumpet ‘trompeten’; frz. grouper ‘eingruppieren’, trouer ‘durchlöchern’, ornementer ‘mit Ornamenten verzieren’). Die desubstantivische adjektivische Konversion ist im Dt. im Allgemeinen kaum produktiv (barock, schmuck, klasse, jugendsprachlich auch schrott, hammer). Motsch (2004: 179) betrachtet ein solches gelegentliches Nebeneinander von Substantiv und Adjektiv als syntaktisch doppelte Kategorisierung und sieht „keinen Grund, diese innerlexikalische Beziehung als ein Wort-

bildungsmuster zu beschreiben“. Stark genutzt wird die desubstantivische Konversion vor allem zur Bildung von Farbbezeichnungen (bordeaux, orange, sand), vgl. Fleischer/Barz (2012: 358). Auch in anderen Sprachen ist der Gebrauch von Substantiven als Farbadjektive ein geläufiges Muster (engl. chocolate ‘schokoladenbraun’, olive ‘olivgrün’; frz. cerise ‘kirschrot’, moutarde ‘senffarben’; ital. limone ‘zitronengelb’; span. naranja ‘orange’). Hannelore Poethe ≡ Denominativum → deonymische Wortbildung; desubstantivische Derivation; Diminuierung; Konversion; Modifikation; Movierung; Partikelverb; Präfix; Suffix; Transposition; Wortbildungsaktivität; Wortbildungsbedeutung; Wortbildungsmodell; Zirkumfix ⇀ Desubstantivum (Lexik)

🕮 Autorenk. [unter Leit. v. L. Wilske 1984] Die russische Sprache der Gegenwart. Bd. 4: Lexikologie. 2., unveränd. Aufl. Leipzig ◾ Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Hansen, B./ Hansen, K./ Neubert, A./ Schentke, M. [1990] Englische Lexikologie. 3. Aufl. Leipzig ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Pittner, K./ Berman, J. [2006] video ist echt schrott aber single ist hammer. Jugendsprachliche Nomen-Adjektiv-Konversion in der Prädikativposition. In: DS 33: 233–250 ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig.

Desuperlativum

von der Superlativform eines Adjektivs abgeleitetes Wort. ▲ desuperlative formation: word derived from the superlative form of an adjective. Wie alle Komparationsformen des Adjektivs können auch Superlativformen, einschließlich der Suppletivformen, bei der deadjektivischen substantivischen Konversion als Basis fungieren (dt. das Wichtigste, der/die/das Schönste, der/die/ das Beste; engl. the worst ‘der/die/das Schlimmste’; span. mejor ‘der/die/das Beste’; ital. massimo ‘das Höchste’). Auch bei der analytischen Bildung von Komparationsformen können Superlativformen substantiviert werden (z.B. frz. la plus belle ‘die Schönste’; span. lo más íntimo ‘das Innerste’). Prinzipiell ist die Substantivierung von Superlativformen möglich, bleibt aber mit Ausnahme einiger lexikalisierter Bildungen meist okkasionell. Im Dt. treten in einigen Fällen Superlativformen

243 Determinans als Basis bei der Adverbialisierung mit dem Suffix -ens (bestens, frühestens) sowie bei der Adverbialisierung mit dem Präfix zu- auf (zutiefst, zunächst), vgl. Fleischer/Barz (2012: 370). Ansonsten sind Superlativformen nur noch wortbildungsaktiv als adjektivische Erstglieder bei Substantiv- und Adjektivkomposita, z.B. dt. Höchstmaß, Bestform, Mindestalter, größtmöglich, meistgespielt, bestinformiert (Fleischer/Barz 2012: 155f., 325f.). Hannelore Poethe

→ Adverbialisierung; Deadjektivum; Komparation; Konversion; Substantivierung; Wortbildungsaktivität

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Schpak-Dolt, N. [2012] Einführung in die Morphologie des Spanischen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Schwarze, C. [1995] Grammatik der italienischen Sprache. 2., verbess. Aufl. Tübingen ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig ◾ Widdig, W. [1982] Archi-, ultra-, maxi- und andere Steigerungspräfixe im heutigen Französisch. Geneve.

Desynonymisierung

Prozess der Auflösung der synonymischen Beziehung zwischen zwei lexikalischen Einheiten aufgrund der Verdrängung einer dieser lexikalischen Einheiten zugunsten der anderen oder aufgrund einer zunehmenden Bedeutungsdifferenzierung. ▲ desynonymization: dissolution of the synonymous relationship between two lexical units due to the supression of one of them in favor of the other or due to a differentiation in meaning. Dem Prinzip der Sprachökonomie folgend leistet sich eine Sprache normalerweise nur wenige totale Synonyme. In der Regel setzt bereits mit der Aufnahme eines Synonyms ins Lexikon der Prozess der Desynonymisierung ein. Dies geschieht zum einen durch semantische Differenzierung ursprünglich synonymer Wortschatzeinheiten, dt. Arbeit ʻTätigkeit, mit der man einen bestimmten Zweck verfolgtʼ vs. Job ʻGelegenheitsarbeit, mit der man für relativ kurze Zeit Geld verdientʼ. Am Ende dieses fortschreitenden Prozesses steht die völlige Exklusivität der beiden Begriffe. Eine weitere Möglichkeit der Desynonymisierung ist vor allem im Zusammenhang mit der Untersuchung des Sprachgebrauchs in der DDR nach der Wende beschrieben worden: die Desynonymisierung durch die Verdrängung einer der beiden synonymen lexikalischen Einheiten, etwa bei dt. Team, das Kollektiv inzwischen weitgehend

verdrängt hat, oder bei Kaufhalle, das durch das ursprünglich synonyme Supermarkt nahezu vollständig verdrängt wurde (Reiher 1995: 239). Der Prozess der Desynonymisierung lässt sich nicht nur bei lexikalischen Synonymen, sondern auch bei Wortbildungssynonymen beobachten, indem auch hier entweder eine der beiden synonymen Bildungen ganz außer Gebrauch kommt oder indem eine semantische Differenzierung eintritt: mhd. vür-schuz/über-schuz (beide ʻÜberschussʼ) vs. nhd. Vorschuss ʻim Voraus bezahlter Teil des Lohnsʼ/Überschuss ʻReingewinn, Plusʼ, vgl. auch kind-isch vs. kind-lich. Unter dem Begriff der Desynonymisierung subsumiert man in der Wortbildungsforschung mitunter auch die fortschreitende semantische Differenzierung zwischen Wortbildung und syntaktischer Parallelkonstruktion infolge Idiomatisierung und/oder Demotivation ursprünglich motivierter Wortbildungen: dt. Hochofen ≠ hoher Ofen (Fleischer 1983: 26).

→ Idiomatisierung; Wortbildungssynonymie ⇀ Desynonymisierung (SemPrag; Lexik)

Anja Seiffert

🕮 Ballerstaedt, K. [2004] Auf dem Weg zur sprachlichen Einheit. Entwicklungen in Ostdeutschland seit der Wiedervereinigung. In: Siewert, K. [Hg.] Vor dem Karren der Ideologie. DDR-Deutsch und Deutsch in der DDR. Münster: 317–330 ◾ Fleischer, W. [1983] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig ◾ Reiher, R. [1995] Deutsch-deutscher Sprachwandel. In: Reiher, R. [Hg.] Sprache im Konflikt. Zur Rolle der Sprache in sozialen, politischen und militärischen Auseinandersetzungen. Berlin [etc.]: 232–243 ◾ Reiher, R. [1997] DreiRaum- versus Drei-Zimmerwohnung. Zum Sprachgebrauch der Ostdeutschen, In: DU 1: 42–49.

Deterioration ≡ Pejoration

Deteriorativ

≡ Pejorativbildung

Determinans

in der Wortbildungslehre Bezeichnung für das semantisch eingrenzende Element der Wortbildungskonstruktion. ▲ determinant: semantically determining element of a word-formation construction. Innerhalb der Wortbildungslehre wird als Determinans bei der endozentrischen Determinativkomposition das Bestimmungswort bezeichnet,

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Determinans-Determinatum-Struktur 244

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durch dessen Semantik die Komposition gegenüber der Bedeutung des Grundwortes (Determinatum) eine enger umgrenzte Bedeutung im Rahmen der Denotation des Grundwortes aufweist. So bedeutet Haustür mit dem Determinatum Tür und dem Determinans Haus eine bestimmte Art von Tür, in diesem Fall diejenige Tür, durch die man normalerweise das Haus betritt, im Unterschied zu anderen Türen wie Kellertür oder Terrassentür. Bei der exozentrischen Determinativkomposition vom Typus Dreispitz ‘Hut, der drei Spitzen hat’ ist zwar in der morphologisch realisierten Komposition drei das Determinans zu Spitz wie etwa auch rot in Rotkehlchen das Determinans zu Kehlchen. Doch aufgrund der Paraphrase eines exozentrischen Determinativkompositums zeigt sich, dass das eigentliche Determinatum, also in den vorliegenden Beispielen ‘Hut’ sowie ‘Vogel (der ein rotes Kehlchen hat)’, morphologisch nicht realisiert ist, so dass die morphologisch realisierte Komposition insgesamt als Determinans zu dem nicht ausgedrückten Determinatum aufgefasst werden kann. Die exozentrische Determinativkomposition lässt sich als eine pragmatisch begründete Ersparungskonstruktion auffassen, die also auf der Grundlage eines den Sprachträgern gemeinsamen Weltwissens bezüglich des sachlichen Kontextes des bedeuteten Gegenstandes ermöglicht wird. In einem anderen Kontext als dem der Fauna kann die Bezeichnung Dreispitz etwa auch als die Benennung eines entsprechend geformten Brotes verwendet werden. Bei der Ableitung kann gleichfalls von Determinans und Determinatum gesprochen werden. Da das jeweilige Ableitungsprogramm, etwa -er, ein generelles semantisches Konzept symbolisiert, in diesem Fall etwa ‘jemand, der das in der Basis (Verb) Bedeutete (beruflich/gewohnheitsmäßig) tut’, ist die jeweilige morphologische Basis, etwa lehr-, dicht- oder helf- in Lehrer, Dichter oder Helfer, als eine nähere Bestimmung im Rahmen der Extension des Ableitungsprogramms auffassbar. Eckhard Meineke ≡ Bestimmungswort → § 22; Derivation; Determinans-Determinatum-Struktur; Determinatum; endozentrisches Kompositum; exozentrisches Kompositum; Komposition; Possessivkompositum ⇀ Determinans (Onom; Lexik); Determinans (1) (Gram-Formen); Determinans (2) (Gram-Formen)

🕮 Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Naumann, B./ Vogel, P.M. [2000] Derivation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 929–943 ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin.

Determinans-Determinatum-Struktur

Beziehung zwischen dem semantisch eingrenzenden Element der Wortbildungskonstruktion und dem semantisch für die Gesamtbedeutung grundlegenden Element. ▲ determinans-determinatum structure: relationship between the semantically determining element and the semantically determined element of a word-formation construction. Die Determinans-Determinatum-Struktur ist die jeweilige Ausprägung des Verhältnisses zwischen bestimmendem Element und bestimmtem Element in der Wortbildungskonstruktion. Bei der endozentrischen Determinativkomposition wird als Determinans das an erster Stelle stehende Bestimmungswort bezeichnet, durch dessen Semantik die Komposition gegenüber der Bedeutung des Grundwortes (Determinatum) eine enger umgrenzte Bedeutung im Rahmen der Denotation des Grundwortes aufweist. So bedeutet Haustür mit dem Determinatum Tür und dem Determinans Haus eine bestimmte Art von Tür, in diesem Fall diejenige Tür, durch die man normalerweise das Haus betritt, im Unterschied zu anderen Türen wie Kellertür oder Terrassentür. Bei der exozentrischen Determinativkomposition vom Typus Dreispitz ‘Hut, der drei Spitzen hat’ ist zwar in der morphologisch realisierten Komposition drei das Determinans zu Spitz wie etwa auch rot in Rotkehlchen das Determinans zu Kehlchen. Doch aufgrund der Paraphrase eines exozentrischen Determinativkompositums zeigt sich, dass das eigentliche Determinatum, also in den vorliegenden Beispielen ‘Hut’ sowie ‘Vogel (der ein rotes Kehlchen hat)’, morphologisch nicht realisiert ist, so dass die morphologisch realisierte Komposition insgesamt als Determinans zu dem nicht ausgedrückten Determinatum aufgefasst werden kann. Die exozentrische Determinativkomposition lässt sich als eine pragmatisch begründete Ersparungskonstruktion auffassen, die also auf der Grundlage eines den Sprachträgern

245 Determination gemeinsamen Weltwissens bezüglich des sachlichen Kontextes des bedeuteten Gegenstandes ermöglicht wird. In einem anderen Kontext als dem der Fauna kann die Bezeichnung Dreispitz etwa auch als die Benennung eines entsprechend geformten Brotes verwendet werden. Bei der Ableitung kann gleichfalls von Determinans und Determinatum gesprochen werden. Da das jeweilige Ableitungsprogramm, etwa -er, ein generelles semantisches Konzept symbolisiert, in diesem Fall etwa ‘jemand, der das in der Basis (Verb) Bedeutete (beruflich/gewohnheitsmäßig) tut’, ist die jeweilige morphologische Basis, etwa lehr-, dicht- oder helf- in Lehrer, Dichter oder Helfer, als eine nähere Bestimmung im Rahmen der Extension des Ableitungsprogramms auffassbar, wäre also das Determinans, während das Determinatum durch das Ableitungsprogramm vertreten wird. Eckhard Meineke ≡ Operator-Operand-Struktur → Determinans; Determinativkompositum; Determinatum; exozentrisches Kompositum

🕮 Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre, 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Naumann, B./ Vogel, P.M. [2000] Derivation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 929–943 ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin.

Determination

Eingrenzung der Denotation eines Wortbildungsprodukts durch deren semantisch bestimmendes Element gegenüber der breiteren Denotation des bestimmten Elements. ▲ determination: narrowing modification of the denotation of a word-formation construction by a semantically determining element as compared to the broader denotation of the semantically determined element. Determination (zu lat. determinare ‘begrenzen, eingrenzen, festlegen, bestimmen’) ist ein mit dem Wortbildungsakt vielfach verbundener Vorgang, durch den mittels der Hinzufügung einer Konstituente, dem Determinans, gegenüber der allgemeineren Bedeutung der semantisch grundlegenden Konstituente, die dadurch zum Determinatum wird, eine näher eingegrenzte Bedeutung des Wortbildungsprodukts erzielt wird.

Anders gesagt wird der Denotatumfang innerhalb des Denotatbereichs des Determinatums verkleinert (vgl. Donalies 2005: 58). Am schlüssigsten anwendbar ist dieser Beschreibungsansatz bei der endozentrischen Determinativkomposition, dem mengenmäßig bei weitem überwiegenden Normaltyp der Komposition. Bei der endozentrischen Determinativkomposition wird als Determinans das an erster Stelle stehende Bestimmungswort bezeichnet, durch dessen Bedeutung die Komposition gegenüber der Bedeutung des Grundwortes (Determinatum) eine enger umgrenzte Bedeutung im Rahmen der Denotation des Grundwortes aufweist. So bedeutet Haustür mit dem Determinatum Tür und dem Determinans Haus eine bestimmte Art von Tür, in diesem Fall diejenige Tür, durch die man normalerweise das Haus betritt, im Unterschied zu anderen Türen wie Kellertür oder Terrassentür. Die Determination wird also durch das Bestimmungswort geleistet. Bei der exozentrischen Determinativkomposition vom Typus Dreispitz ‘Hut, der drei Spitzen hat’ ist zwar in der morphologisch realisierten Komposition drei das Determinans zu Spitz wie etwa auch rot in Rotkehlchen das Determinans zu Kehlchen. Doch aufgrund der Paraphrase eines exozentrischen Determinativkompositiums zeigt sich, dass das eigentliche Determinatum, also in den vorliegenden Beispielen ‘Hut’ bzw. ‘Vogel’, morphologisch nicht realisiert ist, so dass die vorhandene Komposition insgesamt als Determinans zu dem nicht ausgedrückten Determinatum aufgefasst werden kann. Die exozentrische Determinativkomposition lässt sich als eine pragmatisch begründete Ersparungskonstruktion auffassen, die also auf der Grundlage eines den Sprachträgern gemeinsamen Weltwissens bezüglich des sachlichen Kontextes des bedeuteten Gegenstandes ermöglicht wird. In einem anderen Kontext als dem der Fauna kann die Bezeichnung Dreispitz etwa auch zur Benennung eines entsprechend geformten Brotes verwendet werden. Die Determination wird also durch das Gesamtkompositum zu einer aus pragmatischen Gründen ausdrucksseitig ausgesparten, gedachten lexikalischen Einheit geleistet. Bei der Kopulativkomposition vom Typ schwarzweiß oder dreizehn tritt logischerweise keine De-

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Determination 246

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termination des zweiten Bestandteils durch das erste Glied auf. Bei der Ableitung kann gleichfalls mit einer gewissen Berechtigung von Determinans und Determinatum gesprochen werden. Da das jeweilige Ableitungsprogramm, etwa -er, ein generelles semantisches Konzept symbolisiert, in diesem Fall etwa ‘jemand, der das in der Basis (Verb) Bedeutete (beruflich/gewohnheitsmäßig) tut’, ist die jeweilige morphologische Basis, etwa lehr-, dichtoder helf- in Lehrer, Dichter oder Helfer, als eine nähere Bestimmung im Rahmen der Extension des Ableitungsprogramms auffassbar, wäre also das Determinans, während das Determinatum durch das Ableitungsprogramm vertreten wird. Die Determination wird insofern durch das Basislexem der Ableitung geleistet. Dabei ist zu bedenken, dass eine Ableitung zwar ausgehend von der Basis erzeugt wird, denn nur die Basis ist ein Lexem. Zugleich aber ist dem Sprachträger aufgrund der bereits vorhandenen Wortbildungsprodukte mit dem betreffenden Suffix das zugrundeliegende Derivationsprogramm soweit präsent, dass die neue Bildung analog zu den bereits vorhandenen des Programms realisiert wird. Bei dem Beschreibungsansatz liegt also keine unberechtigte Projektion des analytischen Aspekts der Sprachwissenschaft auf den generativen vor. Bei einer Ableitung wie Kindchen lässt sich die für Lehrer vorgestellte Beschreibung der Determination aber offensichtlich nicht anwenden. Da Kindchen ‘besonders kleines (niedliches, geliebtes) Kind’ bedeutet, ist der semantische Determinator hier das Suffix -chen, wodurch die Ableitung eine gegenüber der Bedeutung der Basis eingegrenzte Denotation im Rahmen der Denotation der Basis erhält. Der Vorschlag, Kindchen als ‘-chen, das ein Kind ist’ zu interpretieren, beruht auf einer Verabsolutierung der sogenannten Righthand Head Rule, derzufolge der „Head“ einer Wortbildungskonstruktion im Deutschen rechts stehen müsse (vgl. Donalies 2005: 58). Aufgrund dieser Beobachtungen zur Determination bei Ableitungen kann ausgehend von Donalies (2005) eine Typik der Wortbildungsaffixe nach transponierenden, determinierenden und determinierten Wortbildungsaffixen entwickelt werden. Dabei sind aber die in der Sprachwissenschaft ansonsten unüblichen, konfusen Verwendungen

der Begriffe Transposition, kategorielle Bedeutung und grammatische Funktion bei Donalies (2005) fernzuhalten. Donalies (2005: 37f.) definiert Transposition als einen semantisch definierten Wortbildungsvorgang. Durch Transposition werde ein Wort in eine andere Wortart überführt, und zwar so, dass sich nur wenig an der „kategoriellen Verwendung“ ändere, z.B. schön > Schönheit. Die kategorielle Bedeutung sei jene Bedeutung, die Wörter verschiedener Wortarten voneinander unterscheide. Nomina bezeichneten üblicherweise Sachen und Sachverhalte, Adjektive bezeichneten üblicherweise Eigenschaften, Verben bezeichneten üblicherweise Tätigkeiten, Zustände und Prozesse. Bei Wortbildungsprodukten werde mitunter die kategorielle Bedeutung der Basis übernommen. Zwar sei Schönheit ein Nomen, es habe aber die kategorielle Bedeutung des Basisadjektivs; sowohl schön als auch Schönheit bezeichneten Eigenschaften. Wortbildnerisch verändert werde also vor allem die „grammatische Funktion“. Demgegenüber ist erstens festzuhalten: Der Begriff Transposition (lat. transponere ‘versetzen’) benennt in der Linguistik den Fall, dass ein vorhandenes Wort in eine neue semantische Klasse überführt wird, wobei sich die Wortart ändern kann (Wortartwechsel, zum Beispiel Stadt (Nomen) – städtisch (Adjektiv)) oder aber erhalten bleibt (z.B. Stadt – Städter (beides Nomen)). Zweitens ist zu sagen, dass es bei der kategoriellen Bedeutung um die Wortartbedeutung geht, also die Wortartbedeutung des Substantivs, des Adjektivs, des Verbs usw. Bei der kategoriellen Bedeutung oder Wortartbedeutung geht es im Fall des Substantivs nicht darum, dass Substantive üblicherweise Sachen und Sachverhalte bezeichneten, sondern Substantive bedeuten etwas als Sache oder Sachverhalt, bauen also einen kategorialen Stereotyp auf, mittels dessen ein prädikabiles Subjekt oder eine objektfähige Größe sprachlich geschaffen wird. Verben bedeuten etwas als Tätigkeit oder Vorgang und stellen damit eine prädikatfähige Größe sprachlich her, Adjektive bedeuten etwas als Eigenschaft und stellen damit ein Wort dar, das zur näheren attributiven oder prädikativen Bestimmung einer nominal ausgedrückten Größe verwendet werden kann. Deshalb hat Schönheit folglich nicht die kategorielle Bedeutung des Basisadjektivs schön,

247 Determinativkompositum „Eigenschaft“, sondern die des Substantivs, „Entität“ (vgl. Meineke 1996: 77–128). Drittens ist mit dem Wortartwechsel nicht nur die Änderung der grammatischen Funktion verbunden, sondern diese ist vielmehr Ausdruck und Folge der geänderten kategoriellen Bedeutung. Grammatische Funktion und kategorielle Bedeutung können nicht getrennt voneinander gesehen werden, sondern sie stehen in einem Verhältnis gegenseitiger Bedingtheit. Als determinierende Wortbildungsaffixe kommen die Präfixe und bestimmte Suffixe in Betracht (Donalies 2005: 35f.). Die semantische Leistung ist dabei erstens die negative oder positive Bewertung (Missheirat, Unwort, Romänchen, Dichterling – Kindchen). Zweitens geht es um eine positive oder negative Hervorhebung (Erzbösewicht, Megaunfall, Unzahl, hypersympathisch, ultraschön). Drittens geht es um die Relativierung (Pseudovergnügen, paramilitärisch, grünlich). Viertens geht es um die Verneinung (Undank, ahistorisch, destabil, unwesentlich). Fünftens geht es – von Donalies nicht erwähnt – um die Diminuierung (Pflänzchen, Steinchen, Kügelchen), bei der keine affektbezogene Benennung erfolgt. Sechstens (vgl. Donalies 2005: 38) geht es um die Movierung (Dichter > Dichterin). Als Vertreter des Determinatum lassen sich bestimmte Vertreter aller drei Affixarten Präfix, Suffix und Zirkumfix auffassen. Bereits erwähnt wurde das Beispiel Lehrer, in dem -er als Bezeichnung einer Person aufgefasst werden kann, die semantisch durch die Information eingegrenzt wird, dass sie lehrt (Donalies 2005: 36). Entsprechend wäre Schönling die Bezeichnung einer (negativ konnotierten) Person, die die näher charakterisierende Eigenschaft aufweist, schön zu sein. Beschönigen bezeichnete eine durch be-Basis-ig(en) benannte Tätigkeit, bei der das obligatorische Objekt mit der Eigenschaft ‘schön’ versehen wird. Entsprechend der idiosynkratischen Verwendung der drei Begriffe „Transposition“, „kategorielle Bedeutung“ und „grammatische Funktion“ vermitteln auch die Schemata zur Determination bei Donalies (2005: 38f.) ein unzutreffendes Bild der Sachlage, so dass sie an dieser Stelle nicht zu referieren sind. Es ergibt sich vielmehr folgendes Bild: Zu unterscheiden sind grundsätzlich Transpositionen und Modifikationen. Bei den ersteren findet die Über-

führung in eine neue semantische Klasse statt, bei den letzteren eine nähere Bestimmung im Rahmen der semantischen Klasse. Transpositionen mit Wortartwechsel (Donalies’ „Typ II“) sind naiv > Naivling, sensibel > sensibilisieren, Gold > vergolden. Transpositionen ohne Wortartwechsel („Typ IV“) sind Lyrik > Lyriker, Mensch > Menschheit. Bei diesen beiden Gruppen lässt sich das Affix als Determinatum auffassen, die Basis als Determinans. Modifikationen („Typ III“) sind gelb > gelblich, sozial > asozial, Dichter > Dichterin. Hier ist das Affix das Determinans, die Basis das Determinatum. Als bloße Wortartwechsel ohne semantische Transposition („Typ I“) lassen sich schön > Schönheit und bergen > Bergung auffassen. Das im Zusammenhang dieses Typus von Donalies genannte wackeln > wacklig wäre eher zu den Transpositionen mit Wortartwechsel zu stellen, bei denen also das durch das Affix repräsentierte derivationelle Konzept ‘eine Neigung zu dem durch die Basis bedeuteten Prozess habend’ als Determinatum auftritt. Eckhard Meineke

→ Determinans; Determinans-Determinatum-Struktur;

Determinatum; endozentrisches Kompositum; Kopf; Kopulativkompositum; Modifikation; Präfix; Suffix; Transposition; Wortart; Zirkumfix ⇀ Determination (CG-Dt); Determination (1) (Gram-Formen); Determination (2) (Gram-Formen) ⇁ determination (CG-Engl; Typol)

🕮 Donalies, E. [2005] Die Wortbildung des Deutschen. 2., überarb. Aufl. Tübingen ◾ Meineke, E. [1996] Das Substantiv in der deutschen Gegenwartssprache. Heidelberg ◾ Naumann, B./ Vogel, P.M. [2000] Derivation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 929–943.

Determinativkompositum

produktivste Form der endozentrischen Nominalkomposita, bei der eine Konstituente von einer anderen modifiziert wird. ▲ determinative compound: most productive type of endocentric nominal compound in which one of the constituents is modified by the other. Determinativkomposita stellen die produktivsten Formen der regulären (endozentrischen) Nominalkomposita dar; sie erzeugen ein Muster, bei dem eine Konstituente von einer anderen modifiziert wird. Marchand (1969) gebraucht die Begriffe „Determinant“ und „Determinatum“, um diese Verbindung zu beschreiben, die bspw. in jazz musician ‘Jazz-Musiker’ besteht. Dieses Kompositum kennzeichnet eine Art von Musiker, der weiter

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Determinatum 248

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charakterisiert wird vom Konzept Jazz, nämlich weil der Musiker Jazz spielt, Jazz schreibt oder auf irgendeinen anderen Weg in Jazz-Musik involviert ist. In deutschen Grammatiken werden die zwei Konstituenten häufig als „Bestimmungswort“ und „Grundwort“ bezeichnet, während moderne Ansätze eher von einer „Kopf-“ und einer „Nicht-Kopf/Modifizierer“-Konstituente sprechen. Das zentrale Merkmal von Determinativkomposita ist die (implizierte) unterordnende Relation zwischen Kopf und Modifizierer. Als Klasse können diese Komposita auf die Tatpuruṣa- und Karmadhāraya-Komposita im Sanskrit zurückgeführt werden, die von den Dvandva-Komposita, die eine koordinierende Beziehung zwischen den Konstituenten aufwiesen, und den BahūvrīhiKomposita, die exozentrischer Natur waren, abzugrenzen sind. Diese dreigliedrige Terminologie (Determinativ-, Kopulativ- und Possessivkomposita) wird häufig in traditionellen Handbüchern beibehalten. Moderne theoretische Behandlungen von Komposita unterteilen die Gruppe der Determinativkomposita in primäre und verbale Komposita. Primäre Komposita zeigen die implizite unterordnende Relation der subordinierenden Komposita am deutlichsten, vgl. Sommertag, Katzenbaum. Die Beschaffenheit der impliziten Verbindung ist Gegenstand von vielen verschiedenen Theorien, z.B. von der Theorie der wiederauffindbaren Prädikate (Lees 1960), von einer kleinen Menge primitiver Verbindungen (Levi 1978), von PRO-Verben (Lees 1970 und Kürschner 1974), von angemessenen klassifizierenden („appropriately classificatory“) Prädikaten (Zimmer 1981, Downing 1977) und unterspezifizierten Verbindungen (Bauer 1978 und Dowty 1979) bis hin zur Theorie von ableitbaren stereotypischen Verbindungen (Fanselow 1981), vgl. auch Allens (1978) „Variable R Bedingung“. Neuere psychologische Literatur spricht von einem Prozess, der zwei Konzepte kombiniert und die variable Verbindung in neuen komplexen Wörtern aufgrund einer Interaktion in der von den Bestandteilen bereitgestellten konzeptuellen Information vorhersagt. Die verbale Interpretation von Komposita kommt zustande, wenn der Kopf selbst eine Relation darstellt. In diesem Fall wird die Relation, die in der Semantik des Kopfes verankert ist, als die Interpretationsbasis vorgezogen mit der Folge, dass

die Ambiguität der Interpretation, die für primäre Komposita charakteristisch ist, nicht auftritt. Bei den Beispielen horse rescuer ‘Pferderetter’ und wedding planner ‘Hochzeitsplaner’ sind die Bedeutungen ‘jemand, der Pferde rettet’ oder ‘jemand, der Hochzeiten plant’ schwerlich zu übergehen, obwohl selbst in diesen Fällen eine nicht-relationale (oder primäre) Interpretation, wie bspw. für horse rescuer ‘jemand, der Pferde reitend etwas rettet’, nicht ausgeschlossen ist. Susan Olsen

→ § 22; appropriately classificatory relation; Determin-

ans-Determinatum-Struktur; Dvandva; endozentrisches Kompositum; Karmadhāraya; kontextfreie Interpretation; Possessivkompositum; primary compound; Tatpuruṣa; variable R condition; verbal compound ⇀ Determinativkompositum (Onom; Lexik) ⇁ determinative compound (Woform)

🕮 Allen, M.R. [1978] Morphological Investigations. Diss. Storrs, CT ◾ Bauer, L. [1978] The Grammar of Nominal Compounding. Odense ◾ Downing, P. [1977] On the creation and use of English compound nouns. In: Lg 53: 810–842 ◾ Dowty, D.R. [1979] Word Meaning and Montague Grammar. Dordrecht [etc.] ◾ Fanselow, G. [1981] Zur Syntax und Semantik der Nominalkomposition. Tübingen ◾ Kürschner, W. [1974] Zur syntaktischen Beschreibung deutscher Nominalkomposita. Tübingen ◾ Lees, R.B. [1960] The Grammar of English Nominalizations. Bloomington, IN [etc.] ◾ Lees, R.B. [1970] Problems in the Grammatical Analysis of English Nominal Compounds. In: Bierwisch, M./ Heidolph, K.E. [eds.] Progress in Linguistics. The Hague [etc.]: 174–186 ◾ Levi, J.N. [1978] The Syntax and Semantics of Complex Nominals. New York, NY [etc.] ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Melloni, C. [2020] Subordinate and Synthetic Compounds in Morphology. In: Lieber, R. [ed. ] OEM. Vol.1. New York: 700–726 ◾ Olsen, S. [2015] Composition. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 364–386 ◾ ten Hacken, P. [2020] Compounding in Morphology In: Lieber, R. [ed. ] OEM. Vol.1. New York: 683–700 ◾ Zimmer, K. [1971] Some General Observations about Nominal Compounds. In: WPLgU 5: C1-C21.

Determinatum

in der Wortbildungslehre Bezeichnung für das semantisch allgemeinere und durch das Determinans näher bestimmte Element der Wortbildungskonstruktion. ▲ determinatum: semantically determined element of a word-formation construction. Innerhalb der Wortbildungslehre wird als Determinatum bei der endozentrischen Determinativkomposition das als zweite unmittelbare Konstituente auftretende Grundwort bezeichnet, dessen Semantik die Komposition in ein bestimm-

249 Diminuierung tes Bezeichnungsfeld stellt. Durch das vorangestellte Bestimmungswort, das Determinans, wird eine enger umgrenzte Bedeutung im Rahmen der Denotation des Grundwortes erzielt. So bedeutet Haustür mit dem Determinatum Tür und dem Determinans Haus eine bestimmte Art von Tür, in diesem Fall diejenige Tür, durch die man normalerweise das Haus betritt, im Unterschied zu anderen Türen wie Kellertür oder Terrassentür. Bei der exozentrischen Determinativkomposition vom Typus Dreispitz ‘Hut, der drei Spitzen hat’ ist zwar in der morphologisch realisierten Komposition -spitz das scheinbare Determinatum von Dreispitz wie etwa auch -kehlchen in Rotkehlchen das scheinbare Determinatum des Kompositums. Doch aufgrund der Paraphrase eines exozentrischen Determinativkompositiums zeigt sich, dass das eigentliche Determinatum, also in den vorliegenden Beispielen ‘Hut’ sowie ‘Vogel (der ein rotes Kehlchen hat)’, morphologisch nicht realisiert ist, so dass die morphologisch realisierte Komposition insgesamt als Determinans zu dem nicht ausgedrückten Determinatum aufgefasst werden kann. Die exozentrische Determinativkomposition lässt sich als eine pragmatisch begründete Ersparungskonstruktion auffassen, die also auf der Grundlage eines den Sprachträgern gemeinsamen Weltwissens bezüglich des sachlichen Kontextes des bedeuteten Gegenstandes ermöglicht wird. In einem anderen Kontext als dem der Fauna kann die Bezeichnung Dreispitz etwa auch als die Benennung eines entsprechend geformten Brotes verwendet werden. Bei der Ableitung kann gleichfalls von Determinans und Determinatum gesprochen werden. Da das jeweilige Ableitungsprogramm, etwa -er, ein generelles semantisches Konzept symbolisiert, in diesem Fall etwa ‘jemand, der das in der Basis (Verb) Bedeutete (beruflich/gewohnheitsmäßig) tut’, und somit das allgemeinere Determinatum versprachlicht, ist die jeweilige morphologische Basis, etwa lehr-, dicht- oder helf- in Lehrer, Dichter oder Helfer, als eine nähere Bestimmung im Rahmen der Extension des Ableitungsprogramms auffassbar, mithin als Determinans. Eckhard Meineke ≡ Grundwort → § 22; Determinans; Determinans-Determinatum-Struktur; Determinativkompositum; endozentrisches Kompositum; exozentrisches Kompositum

⇀ Determinatum (Gram-Formen; Lexik; Onom) ⇁ determinatum (Typol)

🕮 Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre, 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Naumann, B./ Vogel, P.M. [2000] Derivation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 929–943 ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin.

deverbale Derivation

Ableitung, die ein Verb als Basis hat. ▲ deverbal derivation: derivation which has a verb as base. Beispiele für deverbale Ableitungen sind das Nomen Fahrer und das Adjektiv knallig. Je nach Autor kann sich der Terminus auch auf deverbale Verben beziehen (steigern und ersteigen von steigen). ≡ verbale Derivation → Derivation; Deverbativum

Andrew McIntyre

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [1992] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen.

Deverbativum

abgeleitetes Wort, das ein Verb als Basis hat ▲ deverbal formation: derived word which has a verb as a base. Beispiele für ein Deverbativum (Pl. Deverbativa) sind das Nomen Fahrer und das Adjektiv knallig. Je nach Autor kann sich der Terminus auch auf deverbale Verben beziehen (steigern und ersteigen von steigen). Im Unterschied zum Terminus deverbale Derivation kann Deverbativum sich nicht auf einen Ableitungsprozess, sondern nur auf das Ergebnis einer Ableitung beziehen.

→ deverbale Derivation ⇀ Deverbativum (Gram-Formen; Lexik)

Andrew McIntyre

🕮 Eichinger, L.M. [2001] Deutsche Wortbildung. Tübingen.

diachrone Wortbildung

≡ historische Wortbildung (1); historische Wortbildung (2)

Diminuierung

zur semantischen Grundklasse der Modifikation gehörendes Verfahren zur Bildung von Diminutiva. ▲ diminution: process belonging to the basic se-

D

Diminuierung 250 mantic class of modification resulting in the formation of diminutives.

D

Diminuierung (oV: Deminuierung) und Augmentation sind sowohl funktional als auch quantitativ zentrale Bereiche des sprachlichen Ausdrucks. Geht man davon aus, dass in der wahrnehmbaren Wirklichkeit „drei objektive Werte existieren: ‚groß – ‚normal‛ - ‚klein‛, die reale Gegenstände und Erscheinungen aller Art sowie abstrakte Vorstellungen charakterisieren“ (Karbelaschwili 2001: 6), dann bezeichnen Diminutiva eine reduzierte, verkleinerte Form des Normalen. Diese Abweichung vom Normalen kann analytisch, mithilfe lexikalischer Mittel (z.B. dt. kleine Stadt) und synthetisch (dt. Städtchen) ausgedrückt werden. Gewöhnlich bezieht sich der Terminus „Diminuierung“ auf synthetische Formen (Bakema/Geeraerts 2000: 1045). Das Inventar für die Diminuierung ist vielseitig: Präfixe (jap. kogawa ‘kleiner Fluss’ < kawa ‘Fluss’), Suffixe (russ. domik ‘Häuschen’ < dom ‘Haus’) und Infixe, etwa innerhalb des Nama, einer der Khoisan-Sprachen im südlichen Afrika, qhomdaï ‘kleiner Berg’ < qhomi ‘Berg’. Auch durch Reduplikation können Diminutiva entstehen: malaiisch budak-budak ‘kleines Kind’ < budak ‘Kind’ (Baekma/Geeraerts 2000: 1045). Teilweise werden auch Komposita wie dt. Halbwissen, Halbwahrheit, Kleinstadt, Kleingarten, Zwergschule, Zwergstaat zu den Diminutivbildungen gezählt (Barz/Schröder 2001: 205, Karbelaschwili 2001). Bemerkenswert ist die Kookkurrenz analytischer und synthetischer Formen der Diminuierung wie in dt. kleines Häuschen. Auch die Häufung von Diminutivsuffixen in dt. Kind – Kindelchen, Buch – Büchelchen, ital. tazzo ‘Tasse’ – tazzettina bzw. tazzinetta ‘kleine Tasse’ oder corto ‘kurz’ – cortinoinoino ‘sehr kurz‛ ist möglich, vor allem in den slaw. Sprachen dienen entsprechende Bildungen zumeist dem Ausdruck besonderer Zuneigung (Wierzbicka 1991: 52f.). Produktiv sind schließlich auch Kombinationen von Kürzung und (simultaner) Suffixderivation wie in dt. Mutti (zu Mutter), Trabi (zu Trabant) oder Kombinationen von Kürzung und Reduplikation wie in frz. tuture (zu voiture ‘Auto’), bibine (zu bière ‘Bier’). Die Diminuierung tritt – etwa im Dt., Ital. oder Niederl. – bei allen drei Hauptwortarten (Substantiv, Adjektiv, Verb) und darüber hinaus bei

weiteren Wortarten auf (dt. Kindchen, bläulich, lächeln, tschüssi), sie ist jedoch beim Substantiv besonders ausgebaut. In einigen Sprachen existieren morphologische Restriktionen. So verhindert im Dt. -ling am Wortende den Gebrauch des Diminutivsuffixes (*Schmetterlingchen) (vgl. Hentschel 2002). Für das Niederl. gelten Bildungsbeschränkungen für Ableitungen auf -de, -isme, -dom, -nis oder -schap (Klimazewska 1983: 22f., Bakema/Geeraerts 2000: 1046). Einige Sprachen kennen phonologische Restriktionen für die Distribution der Diminutivsuffixe, vgl. die Distribution der Diminutivsuffixe -chen und -lein im Dt. (Bächlein – *Bächchen, Spielchen – *Spiellein) oder die Distribution der Diminutivsuffixe im Rum., wo einige der Suffixe (z.B. -icel) auf einsilbige, andere (z.B. -el) auf zweisilbige Basen beschränkt sind. Schließlich existieren semantische Restriktionen (etwa in Hinblick auf Abstrakta wie dt. Hass – *Hasschen, Zorn – *Zörnlein), die jedoch bisher kaum systematisch dargestellt wurden. Diminutiva im engeren Sinne modifizieren die Bedeutung der Basis als „Verkleinerung“ (dt. Stiefelette, niederl. gebouwtje ‘kleines Gebäude’). Die meisten Diminutiva signalisieren darüber hinaus aber auch emotionale Einstellungen und Wertungen, wirken also nicht nur quantifizierend (‘klein’), sondern auch qualifizierend (‘gut/ schlecht’). Sie stehen deshalb mit ihrer emotionalevaluativen, expressiven Funktion – ebenso wie Augmentativa – im Zentrum von Darstellungen zum Thema „Wortbildung und Pragmatik“ (vgl. Hummel 2015; Merlini Barbaresi 2015; Nagórko 2015; Scherer 2019; Grandi 2020). Solche Konnotationen sind etwa Geringschätzung oder ironische Distanz (dt. Bürschchen, niederl. romannetje ‘unbedeutender Roman’, frz. fifille ‘Töchterchen’ auch: ‘unselbstständige junge Frau, die von ihrer Mutter verwöhnt wird’), Approximation (dt. ein Stündchen ‘annähernd eine Stunde’) oder Wertschätzung und Zuneigung (dt. Mütterchen, russ. syniška ‘geliebter Sohn, Söhnchen’; entsprechende Bildungen werden auch als Hypokoristika bezeichnet). Dabei ergeben sich freilich Berührungen zu anderen Wortbildungsgruppen, etwa zu den Pejorativbildungen. Mitunter wird die Pejoration zur Diminuierung gerechnet, so dass auch Bildungen wie dt. Käseblatt ‘kleine, minderwertige (Lokal-)Zeitung’ oder Kuhdorf ‘kleines, abgelegenes Dorf’ als Diminutiva gelten (Karbelasch-

251 Diminution wili 2001). Ein überaus enger Zusammenhang besteht darüber hinaus zur Augmentation. Augmentativa verfügen oft über ähnliche Konnotationen, z.B. Wertschätzung oder Geringschätzung, und die Diminuierung einer Ausgangseinheit wie klein (z.B. miniklein) bewirkt eine Intensivierung des entsprechenden Ausdrucks und hat insofern eine augmentative Funktion (Bakema/Geeraerts 2000: 1049). In der Fachsprache werden Konnotationen, die dem Wortbildungstyp in der Allgemeinsprache anhaften, in der Regel neutralisiert, vgl. Elementarteilchen, Blutkörperchen, Halbleiter, Halbaffix (Barz/Schröder 2000: 205). Die regional bedingte Variation diminutiver Formen (ndt. Männeken, Mäuseken, obdt. Manne(r)l, Männle, Mäuse(r)l etc.) ist vor allem für die dt. Sprache untersucht worden (Seebold 1983). Mit dem vermeintlich unterschiedlichen Gebrauch von Diminutiva bei Frauen und Männern sowie mit dem sexistischen Gebrauch von Diminutivformen hat sich die linguistische Genderforschung auseinandergesetzt (Schneider/Schneider 1991, Dressler/Merlini Barbaresi 1994). Textlinguistische und stilistische Untersuchungen widmen sich vor allem Textsorten wie dem Märchen, in denen Diminutiva gehäuft vorkommen (Scheidweiler 1984). Von besonderem Interesse sind schließlich kulturspezifische Unterschiede in Hinblick auf Bildung und Gebrauch diminutiver Formen (Wierzbicka 1991, Klimaszewska 1983: 115–117). Diese Unterschiede betreffen vor allem die Vielfalt der zur Verfügung stehenden Wortbildungsmittel und die Häufigkeit des Gebrauchs, vgl. etwa die für das Dt. ungewöhnlich hohe Frequenz diminutiver Formen wie Söhnchen, Mütterchen, Onkelchen in Übersetzungen aus dem Russ. Anja Seiffert ≡ Diminution ↔ Augmentation → Augmentativkompositum; Derivationsrestriktion; Diminutivsuffix; Diminutivum; Hypokoristikum; Modifikation; Pejoration; Reduplikation; Restriktion 🕮 Bakema, P./ Geeraerts, D. [2000] Diminution and augmentation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J./ Skopeteas, S. [Hg.] Morphologie (HSK 17.2). Berlin [etc.]: 1045–1052 ◾ Barz, I./ Schröder, M. [2001] Grundzüge der Wortbildung. In: Fleischer, W./ Helbig, G./ Lerchner, G. [Hg.] Kleine Enzyklopädie – deutsche Sprache. Frankfurt/Main [etc.]: 178–217 ◾ Dressler, W.U./ Merlini Barbaresi, L. [1994] Morphopragmatics. Berlin [etc.] ◾ Ettinger, S. [1974] Diminutiv- und Augmentativbildung.

Regeln und Restriktionen. Morphologische und semantische Probleme der Distribution und der Restriktion bei der Substantivbildung im Italienischen, Portugiesischen, Spanischen und Rumänischen. Tübingen ◾ Ettinger, S. [1980] Form und Funktion in der Wortbildung. Die Diminutiv- und Augmentativmodifikation im Lateinischen, Deutschen und Romanischen (Portugiesisch, Spanisch, Italienisch und Rumänisch). Tübingen ◾ Gooch, A. [1967] Diminutive, Augmentative and Pejorative Suffixes in Modern Spanish. Oxford. ◾ Grandi, N. [2020] Evaluatives in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol.1. New York: 607–619 ◾ Harden, T. [1997] Gebrauch und Funktion von Diminutiv- und Augmentativformen im Portugiesischen und Deutschen. In: Lüdtke, H./ Schmidt-Radefeld, J. [Hg.] Linguistica contrastiva. Deutsch versus Portugiesisch – Spanisch – Französisch. Tübingen: 135–150 ◾ Hasselrot, B. [1957] Études sur la formation diminutive dans les langues romanes. Uppsala [etc.] ◾ Hentschel, E. [2002] Unnötige Regeln. In: Linguistik online 10/. https://doi.org/10.13092/lo.10.926 ◾ Herms, I. [1989] Zur Bildung von Diminutiv- und Augmentativformen im Swahili. In: ZPSK 42: 738–747 ◾ Hummel, M. [2015] The semantics and pragmatics of Romance evaluative suffixes. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1528–1545 ◾ Jurafsky, D. [1996] Universal Tendencies in the Semantics of the Diminutive. In: Lg 72: 533– 578 ◾ Karbelaschwili, S. [2001] Lexikon zur Wortbildung der deutschen Sprache (Augmentation und Diminution). Regensburg ◾ Klimaszewska, Z. [1983] Diminutive und augmentative Ausdrucksmöglichkeiten des Niederländischen, Deutschen und Polnischen. Wrocław ◾ Merlini Barbaresi, L. [2015] The pragmatics of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1128–1142 ◾ Nagórko, N. [2015] Morphopragmatics in Slavic. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] WordFormation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1545–1560 ◾ Pellegrini, I.A. [1977] Die Diminutive im Deutschen und im Italienischen. Zürich ◾ Scheidweiler, G. [1984] Zur Konnotation der Diminutivsuffixe -chen und -lein. Prosaisch oder poetisch? In: Mutterspr 95: 69–79 ◾ Scherer, C. [2019] Expressivität in der Wortbildung. In: d' Avis, F./ Finkbeiner, R. [Hg.] Expressivität im Deutschen. Berlin [etc.]: 49–74 ◾ Schiller, M. [2006] Pragmatik der Diminutiva, Kosenamen und Kosewörter in der modernen russischen Umgangsliteratursprache. München ◾ Schneider, I./ Schneider K.P. [1991] „Ach Kindchen, davon verstehen Sie nichts!“ Über den sexistischen Gebrauch deutscher Diminutivformen. In: Feldbusch, E./ Pogarell, R./ Weiss, C. [Hg.] Neue Fragen der Linguistik. Akten des 25. Linguistischen Kolloquiums, Paderborn 1990. Tübingen: 169–174 ◾ Seebold, E. [1983] Diminutivformen in den deutschen Dialekten. In: Besch, W./ Knoop, U./ Putschke, W./ Wiegand, H.E. [Hg.] Dialektologie (HSK 1.2). Berlin [etc.]: 1250–1255 ◾ Wierzbicka, A. [1991] Cross-cultural Pragmatics. The Semantics of Human Interaction. Berlin [etc.] ◾ Würstle, R. [1992] Überangebot und Defizit in der Wortbildung. Eine kontrastive Studie zur Diminutivbildung im Deutschen, Französischen und Englischen. Frankfurt/Main.

Diminution

≡ Diminuierung ⇀ Diminution (Gram-Formen; SemPrag)

D

Diminutiv 252

Diminutiv

D

≡ Diminutivum ⇀ diminutiv (Gram-Formen; Lexik; HistSprw)

Diminutivbildung ≡ Diminutivum → Pejorativbildung

Diminutivsuffix

Suffix, das die Bedeutung der Basis als Verkleinerung modifiziert. ▲ diminutive suffix: suffix which modifies the meaning of the base as a decrease. In den roman., slaw. und germ. Sprachen entstehen Diminutiva (oV: Sg. Deminutivum, Pl. Deminutiva) vor allem durch Suffigierung: lat. lib-ellus ‘Büchlein’ (zu liber ‘Buch’), frz. maison-ette ‘Häuschen’ (zu maison ‘Haus’), tschech. děvč-átko ‘kleines Mädchen’ (zu děvče ‘Mädchen’), russ. glaz-ok ‘Äuglein’ (zu glaz ‘Auge’), dt. Fisch-lein (zu Fisch), niederl. tafel-tje ‘Tischchen’ (zu tafel ‘Tisch’). Diminutiva vertreten den Modifikationstyp der Derivation, die Diminutivsuffixe modifizieren die lexikalische Bedeutung der Basis innerhalb ein und derselben Wortart und Bedeutungskategorie (Barz/Schröder 2001: 202ff.). Gleichwohl bestimmt das Suffix die morphologische Kategorie der entsprechenden Bildung: dt. Häuschen (Sub­ stantiv, Neutrum), bläulich (Adjektiv). Insofern fungieren Diminutivsuffixe als Köpfe (vgl. Bakema/Geeraerts 2000: 1047). Bei den substantivischen Bildungen kann es zu einem Genuswechsel kommen: dt. Fisch (Maskulinum) – Fischlein (Neutrum), ital. carro ‘Wagen‛ (Maskulinum) – carretta (Femininum). Anja Seiffert

↔ Augmentativsuffix → Diminuierung; Diminutivum; Hypokoristikum; Modifikation; Suffix

🕮 Bakema, P./ Geeraerts, D. [2000] Diminution and augmentation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J./ Skopeteas, S. [Hg.] Morphologie (HSK 17.2). Berlin [etc.]: 1045–1052 ◾ Barz, I./ Schröder, M. [2001] Grundzüge der Wortbildung. In: Fleischer, W./ Helbig, G./ Lerchner, G. [Hg.] Kleine Enzyklopädie – deutsche Sprache. Frankfurt/Main [etc.]: 178–217.

Diminutivum

abgeleitetes, seltener auch zusammengesetztes Wort, bei dem die Bedeutung der Ausgangseinheit als Verkleinerung modifiziert wird.

▲ diminutive: derivative, seldom a compound, in which the meaning of the base is modified as decreased.

Diminutiva (Sg. Diminutivum; oV: Sg. Deminutivum, Pl. Deminutiva) entstehen vor allem durch Präfigierung (dt. Mini-kamera), Suffigierung (russ. djad-juška ‘Onkelchen’ < djadja ‘Onkel’) oder Reduplikation (frz. fi-fille ‘Töchterchen’ < fille ‘Tochter’), seltener durch Infigierung. Mitunter werden auch Komposita wie dt. Halbwissen, Kleinbus, Kleinstlebewesen oder Minimalprogramm als Diminutiva bestimmt (Karbelaschwili 2001). Als Ausgangswortarten kommen vor allem Substantive, Adjektive, und Verben in Betracht: russ. ëločka ‘Tannenbäumchen’ (zum Subst. ëlka), dt. rundlich (zum Adj. rund), hüsteln (zum Verb husten). Daneben begegnen jedoch auch andere Wortarten als Basen, vgl. niederl. ietsje ‘ganz wenig’ (zum Pron. iets) (Bakema/Geeraerts 2000: 1046). Die Diminution ist beim Subst. am stärksten ausgebaut. Diminutiva werden auch als Ausdruck emotionaler Einstellungen des Sprechers verwendet, vgl. tschech. maminka (‘liebe Mutter, Mütterchen’) zu matka (‘Mutter’). Solche Bildungen mit affektiver, liebevoller Konnotation werden als hypokoristisch bezeichnet. Andere Diminutiva drücken eher ironische Distanz aus: dt. Bürschchen, Problemchen, frz. mémère (‘dicke, meist ältere Frau’) zu mère ‘Mutter’. Der Gegensatz zur Augmentation ist nicht in allen Sprachen ausgebildet. Die Existenz von Augmentativa in einer Sprache impliziert das Vorhandensein von Diminutiva. Die Umkehrung dieser Beziehung trifft dagegen nicht zu (Bakema/Geeraerts 2000: 1046). Anja Seiffert ≡ attenuative Ableitung; Diminutiv; Diminutivbildung; Verkleinerungsform ↔ Augmentativum → Augmentation; Diminuierung; Diminutivsuffix; Hypokoristikum; Infix; Wortart ⇀ Diminutivum (Gram-Formen) ⇁ diminutive (Typol)

🕮 Bakema, P./ Geeraerts, D. [2000] Diminution and augmentation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J./ Skopeteas, S. [Hg.] Morphologie (HSK 17.2). Berlin [etc.]: 1045–1052 ◾ Grandi, N. [2020] Evaluatives in Morphology. In: Lieber, R. [ed. ] OEM. Vol.1. New York: 607–619 ◾ Karbelaschwili, S. [2001] Lexikon zur Wortbildung der deutschen Sprache (Augmentation und Diminution). Regensburg.

direktional

semantische Grundrelation, bei der die beiden un-

253 Dissimilation mittelbaren Konstituenten einer Wortbildung in einer gerichteten räumlichen Beziehung zueinander stehen. ▲ directional: semantic basic relation in which the two immediate constituents of a word-formation stand together in a directional spatial relation. Die direktionale Wortbildungsbedeutung ist eine spezifische Form der lokalen Wortbildungsbedeutung, bei der die semantische Beziehung zwischen den unmittelbaren Konstituenten als gerichtete Bewegung mit einem (explizit genannten oder implizit mitzuverstehenden) Bezugsort als Ausgangs- oder Endpunkt beschrieben werden kann (vgl. Motsch 2004: 78): dt. Dachlawine (der Bezugsort Dach ist Ausgangspunkt der Bewegungsrichtung); dt. Kellertreppe (der Bezugsort Keller kennzeichnet den Endpunkt der Bewegungsrichtung); russ. vchodit' ‘hineingehen’ (der Bezugsort „innen“ ist Endpunkt der Bewegungsrichtung); russ vychodit' ‘hinausgehen’ (der Bezugsort „außen“ ist Endpunkt der Bewegungsrichtung). Darüber hinaus werden häufig auch räumliche Beziehungen, die bezüglich ihrer genauen Richtungsangabe unspezifisch sind, zu den direktionalen Beziehungen gezählt (vgl. Fleischer/Barz 2012: 419f.): dt. herumlaufen, russ. proechat' ‘durchfahren, durchreisen’.

→ lokal; Wortbildungsbedeutung ⇀ Direktional (Gram-Syntax; SemPrag) ⇁ directional (Typol)

Anja Seiffert

🕮 Eichinger, L.M. [1989] Raum und Zeit im Verbwortschatz des Deutschen. Eine valenzgrammatische Studie. Tübingen ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.].

diskontinuierliches Morph

Morph, d.h. Minimalzeichen, dessen Ausdruck eine durch den Ausdruck eines anderen Zeichens unterbrochene Folge von Segmenten ist. ▲ discontinuous morph: morph, i.e. minimal sign, whose expression is a string of segments interrupted by the expression of another sign. Ein diskontinuierliches Morph kann ein Affix sein oder eine Basis für Affigierung (in der Regel eine Wurzel). Ein diskontinuierliches Affix ist entweder ein Zirkumfix, das eine kontinuierliche Basis umschließt, z.B. Ge…e in Gerenne, oder ein Trans-

fix, dessen Basis ebenfalls diskontinuierlich ist, z.B. die Vokalmuster /…o…e…/ und /…a…a…/ in hebr. /poter/ ‘[er] öffnet’ und /patar/ ‘[er] öffnete’. Eine Basis ist diskontinuierlich, wenn sie durch ein Infix oder ein Transfix unterbrochen wird, z.B. /k…lam/ in Kammu (Laos) /krlam/ ‘Last’ (zu /klam/ ‘tragen’ mit dem Infix /r/) bzw. das Konsonantengerüst /p…t…r/ in den obigen hebräischen Beispielen. Diese Fälle (vgl. Mel’čuk 1982: 82–87; Mugdan 2015: 262f.) fasst Tab. 1 zusammen. Tab. 1: Typen diskontinuierlicher Morphe

Affix kontinuierlich

Basis kontinuierlich

Basis diskontinuierlich

(Präfix, Suffix, Interfix)

Infix

Affix Zirkumfix diskontinuierlich

Transfix

Joachim Mugdan

→ Affix; Fugenelement; Infix; Präfix; Suffix; Transfix; Zirkumfix

🕮 Mel’čuk, I.A. [1982] Towards a Language of Linguistics. A System of Formal Notions for Theoretical Morphology. München ◾ Mugdan, J. [2015] Units of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 253–301.

Dissimilation

Vorgang und Ergebnis der Differenzierung zwischen zwei gleichen oder ähnlichen Lauten innerhalb eines Wortes. ▲ dissimilation: process and result of differentiation between two identical or similar sounds of a word.

Der Terminus „Dissimilation“ ist aus lat. dissimulatio > dissimilatio, dessen lautliche Entwicklung übrigens Beispiel für eine Fernassimilation (s. Assimilation) ist, abgeleitet. Dissimilation liegt etwa vor in der Entwicklung von mhd. mörter mit inlautendem und auslautendem r zu nhd. Mörtel mit inlautendem r und auslautendem l oder in mhd. sehs mit Reibelaut h vor Reibelaut s hin zu nhd. sechs [sɛks] mit Verschlusslaut vor Reibelaut. In lat. peregrinus sind sich r in pere- und g in -grinus artikulatorisch recht ähnlich, wenn man in beiden Fällen von velarer Artikulation ausgeht; das Ausweichen des r zu apiko-palatalem l, wie es in frz. pelerin vorliegt, beseitigt diese artikulatorische Nähe. In lat. anima stehen zwei Nasalkonsonanten in dichter Abfolge; it. span. alma löst das artikulatorische Problem. Der Vorläufer des Wortes Kartoffel lautete Tartuffel (< ital. tartufi-

D

Dissimilation 254

D

culo M. ‘Trüffel’); im 17. Jahrhundert dissimilierte das [k] vom [t]. Weitere Beispiele sind etwa mhd. klobelouch > nhd. Knoblauch oder ahd. samanōn > mhd. samenen > samelen > nhd. sammeln. Die sich durch die Dissimilation zeigende Tendenz zur Erleichterung der Aussprache durch Vermeiden gleichartiger Artikulationen steht im Gegensatz zum Streben nach Erhaltung der Lautgestalt von Grundmorphemen und sonstigen Morphemen, was erklärt, dass Lehngut vergleichsweise häufiger von der Dissimilation betroffen ist, so etwa in dt. Marmelstein zu marmor oder frühnhd. körpel ‘Körper’. Ein eigentlich lautgesetzlich zu erwartender Lautwandel kann ausbleiben, wenn der entstehende Laut eine Ausspracheschwierigkeit bewirken würde, die dann wieder durch Dissimilation beseitigt werden müsste. So entwickelt sich lat. miser nicht zu *mirer und lat. caesaries nicht zu *caeraries. Für diesen Vorgang werden die Begriffe „prophylaktische Dissimilation“ oder „prohibitive Dissimilation“ (Knobloch 1986: 644) verwendet, die unzutreffend erscheinen; sachlich zutreffend wäre der Terminus „Dissimilationsvermeidung“. Nicht immer ist völlig sicher, ob eine lautliche Änderung der Dissimilation zugeschrieben werden kann. So könnte das Wort Fibel ‘ch, Lehrbuch’, das auf Bibel beruht und durch Luther verbreitet wurde, auf einer kindlichen Dissimilation beruhen. Denkbar ist aber auch der Anschluss an lat. fibula ’Heftnadel’. Zuweilen werden auch Dissimilationen angenommen, die so nicht vor sich gegangen sind. Als Grundlage des verdeutlichenden Kompositums Turteltaube < ahd. turtiltūba wird von Einigen lat. turtur angenommen, so dass hier l aus r dissimiliert worden wäre. Doch ist die Grundlage von Turtel- die mittellateinische Diminutivbildung tortella, turtella. Bei der Dissimilation wird zwischen der sog. Berührungsdissimilation, wie sie etwa bei der neuhochdeutschen Diphthongierung (Dissimilation überdehnter und damit zweigipflig gewordener Langvokale) als Grundlage vermutet worden ist, und der Ferndissimilation unterschieden; meistens liegt die letztere vor, wie bei den bereits oben genannten Beispielen. Die betroffenen Laute folgen also hier nicht unmittelbar aufeinander. Berührungs- oder Kontaktdissimilation (engl. contiguous dissimilation) liegt etwa bei lat. carmen ‘Gedicht’ < *can-men vor, Ferndissimilation

(dissimilation at a distance, incontiguous dissimilation) bei lat. lumpa < gr. νύμφη. Eine besondere Form der Kontaktdissimilation ist die Geminatendissimilation oder Dissoziation. Beispiele hierfür sind etwa assyr. ṣubbu ‘Lastenwagen’ > ṣumbu, gr. σάββατον > σάμβατον ‘Samstag’ oder die von Menzerath (1929: 64) sogenannte modale Dissimilation, bei der nur die Artikulationsart geändert wird, etwa in span. doχtor < lat. doctor. Diphthong-Dissimilation oder vokalische Dissimilation wird die Erscheinung genannt, dass die einmal eingeschlagene Richtung der Diphthongierung im weiteren Verlauf der Sprachgeschichte zu einer stärkeren Differenzierung der beiden an dem Diphthong beteiligten Vokale führt, wie das bei mhd. ei > nhd. ai, bei afrz. rei > frz. roi oder bei altkirchenslav. jě > ja der Fall ist. Nach der Richtung der wirkenden Kraft wird wie bei der Assimilation eine vorwärts wirkende oder progressive von einer rückwärts wirkenden oder regressiven Dissimilation unterschieden. Progressive Dissimilation liegt etwa vor bei lat. rarus > ital. rado und regressive bei lat. venenum ‘Gift’ > ital. veleno, lat. armarium > dt. Almer vor. Die sog. totale Dissimilation führt zum dissimilatorischen Lautschwund, wie er in lat. crēbescō statt crēbrescō ‘werde häufiger’ vorliegt. Bei der partiellen Dissimilation wird entweder nur die Artikulationsart verändert, wie das bei lat. biblia > dt. Fibel der Fall ist (s. dazu aber weiter oben), oder nur die Artikulationsstelle, so bei Kartoffel < Tartuffel. Die Dissimilation ist die Grundlage verschiedener Vorgänge im Rahmen des Lautwandels. So hat Thurneysen (1898) eine Regularität der Dissimilation im Gotischen formuliert, der zufolge in Derivationssuffixen die Stimmtonbeteiligung von Frikativen sich jeweils entgegengesetzt zur Stimmtonbeteiligung der grundmorphemauslautenden Konsonanten verhält. Das heißt: Ist der grundmorphemauslautende Konsonant stimmhaft, ist der Reibelaut des Derivationssuffixes stimmlos, ist der grundmorphemauslautende Konsonant stimmlos, ist der Reibelaut des Derivationssuffixes stimmhaft. So ist in waldufni ‘Gewalt’ der grundmorphemauslautende Konsonant d stimmhaft, das f des Derivationssuffixes stimmlos, in fraistubni ‘Versuchung’ das auslautende s des Grundmorphems stimmlos, das b des Deri-

255 Dissimilation vationssuffixes stimmhaft. In wratōdus ‘Reise’ ist das grundmorphemschließende t stimmlos, das d des Suffixes stimmhaft, in gabaújōþus ‘Lust’ das grundmorphemschließende j stimmhaft, das þ des Suffixes stimmlos. Dieser Vorgang wird auch als progressive Stimmton-Dissimilation bezeichnet. Die Dissimilation von Konsonanten beim Aussprechen eines Wortes oder einer Folge von Wörtern ist eine sich auf die Ebene der Phonetik auswirkende, aber physiologisch bedingte Lautdifferenzierung bei der Sprachproduktion, die auch durch dissimilatorische Versprecher belegt werden kann. Sie kann sich erstens als Lautverlust auswirken, was auch als dissimilatorische Elision bezeichnet wird, oder zweitens als Lautsubstitution, also Ersatz des betreffenden Lautes durch einen anderen. Ein Lautverlust liegt etwa vor bei der Entwicklung von ahd. pfending > mhd. pfenninc/pfennic > nhd. Pfennig. Abgesehen davon, dass das d an n assimiliert worden sein dürfte, hat die Häufung des n in dem Wort dazu geführt, dass der betreffende Laut vor dem schließenden g durch Dissimilation beseitigt wurde. Nach Hjelmslev (1968: 60) ist die Dissimilation „eine Elementeinwirkung, mit der die sprechenden Individuen vermeiden, ein und dieselbe Bewegung bei zwei Elementen zu wiederholen“. Die Begründung für das Zustandekommen der Dissimilation liegt darin, dass die relativ vielen verschiedenen Konsonanten eines einzelsprachlichen Phonemsystems durch relativ wenige artikulatorische Merkmale, auch Sprechgesten oder Artikulatoren genannt, gebildet werden, für deren Formierung jeweils eine Vielzahl verschiedener Muskeln in bestimmter, erlernter Reihenfolge aktiviert werden muss. Da eine relativ geringe Menge von Artikulatoren für viele Laute zuständig ist, die aufgrund der Phonotaktik eines Sprachsystems, d.h. der hier gegebenen möglichen Lautabfolgen, in kurzen Zeitabständen artikuliert werden müssen, können sich zeitlich kollidierende oder genauer gesagt (fast) unmittelbar aneinander anschließende Anforderungen an ein und denselben Artikulator ergeben. Zum Verständnis der sich hier ergebenden Vorgänge ist generell die Kenntnis der Eigenarten des Sprechbewegungsablaufs (Lindner 1975) sowie die des Zusammenhangs von Merkmalsredundanz und Sprachverständlichkeit (Grassegger 1977) notwendig.

Aufgrund solcher mehr oder weniger unmittelbar aneinander anschließender Anforderungen, die zu Überlastungen des Artikulationsapparats führen, kann es zur Dissimilation kommen. Man nimmt an, dass bereits bei der Äußerungsvorbereitung, also der Innervierung des Sprechapparats für die auszusprechende Äußerungseinheit, eine regressive, d.h. antizipatorische (vorwegnehmende) Vorstellungs„kollision“ entsteht, die man auch als Horror aequi (voci) bezeichnet hat, und/oder dann bei der faktischen Aussprache eine Muskelinnervations-„Kollision“. Dass bei einem Fall wie peregrínus > pelegrinus das erste der beiden ursprünglichen r von der Dissimilation betroffen ist und nicht das zweite (*pereglinus), ergibt sich Hjelmslev zufolge aus dem „Gesetz“: „Ein Element in einer Gruppe in betonter Silbe dissimiliert ein Element, das allein steht zwischen zwei Vokalen – niemals umgekehrt“ (Hjelmslev 1968: 61). Das ist etwa auch an der Entwicklung von frz. cérébral zu volkstümlich célébral zu sehen; die letzte Silbe des Wortes ist betont. Weiterhin dissimiliere ein gedecktes Element ein ungedecktes, niemals umgekehrt. So müsse ital. tartufolo > dt. Tartuffel > Kartoffel werden, während *Tarkoffel undenkbar wäre. Beim Sprechen beziehen sich Dissimilationen als „Versprecher“ auch auf größere Einheiten als den Laut, wozu die Phänomene verglichen werden können, welche mit dem Begriff Haplologie erfasst werden. ≡ Entähnlichung; Entgleichung ↔ Assimilation → Derivationssuffix; Haplologie ⇀ Dissimilation (Onom; Phon-Dt; HistSprw) ⇁ dissimilation (Phon-Engl)

Eckhard Meineke

🕮 Dieth, E. [1950] Vademekum der Phonetik. Bern ◾ Grassegger, H. [1977] Merkmalsredundanz und Sprachverständlichkeit. Hamburg ◾ Hjelmslev, L. [1968] Die Sprache. Darmstadt ◾ Kluge, F. [2002] Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24., durchges. und erw. Aufl. Bearb. von E. Seebold. CD-ROM-Version. Berlin [etc.] ◾ Knobloch, J. [Hg. 1986] Sprachwissenschaftliches Wörterbuch. Bd. 1: A-E. Heidelberg ◾ Lindner, G. [1975] Der Sprechbewegungsablauf. Eine phonetische Studie des Deutschen. Berlin ◾ Menzerath, P. [1929] Assimilation und Nasalierung. Ein experimenteller Versuch. In: Donum natalicium Schrijnen. Nijmegen [etc.]: 63–68 ◾ Plénat, M: [2015] Dissimilatory phenomena in French word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSL 40.2). Berlin [etc.]: 945–1001 ◾ Posner, R.R. [1961] Consonantal Dissimilation in the Romance Languages. Oxford ◾ Schopf, E. [1919] Die konsonantischen Fernwirkungen. Fern-

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Distanzkompositum 256 Dissimilation, Fern-Assimilation und Metathesis. Ein Beitrag zur Beurteilung ihres Wesens und ihres Verlaufs und zur Kenntnis der Vulgärsprache in den lateinischen Inschriften der römischen Kaiserzeit. Göttingen ◾ Thurneysen, R. [1898] Spirantenwechsel im Gotischen. In: IdgF 8: 208–214.

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Distanzkompositum ≡ Partikelverb

distributed morphology

theoretischer Rahmen, der annimmt, dass erstens die Morphologie ein Teil von Syntax ist und dass morphosyntaktische Merkmale als Teil der syntaktischen Derivation verbunden werden, dass zweitens die phonologische Form, die den morphosyntaktischen Merkmalen entspricht, erst artikuliert wird, nachdem die syntaktische Derivation vollständig ist, und dass drittens Wurzeln keine intrinsische syntaktische Kategorie haben. ▲ distributed morphology: theoretical framework which assumes that morphology is part of syntax, with morphosyntactic features being merged as part of the syntactic derivation; that the phonological form that corresponds to morphosyntactic features is spelled out only after the syntactic derivation is complete; and that roots have no intrinsic syntactic category.

Die „distributed morphology“, die als erstes in Halle/Marantz (1993) vorgeschlagen und weitestgehend innerhalb der minimalistischen Syn­ tax­ theo­rie ausgeprägt wurde, lehnt die lexikalische Integritätshypothese ab. Die mor­pho­syn­tak­ti­schen Merkmale werden durch die „Operation Merge“ eingeführt und können durch die „Operation Move“ beeinflusst werden. In diesem Sinne teilt sich die „distributed morphology“ Annahmen mit „Item-and-Process“-basierten Theorien zur Morphologie. Jedoch werden die tatsächlichen phonologischen Formen oder Vokabulareinträge, die den morphosyntaktischen Merkmalen entsprechen, me Morpheme Base wie in Beards (1995) „Lexe­ Morphology“ erst post-syntaktisch eingeführt. Vor der Aussprache, dem „Spell-Out“, unterliegen Komplexe von morphosyntaktischen Merkmalen Operationen wie „Impoverishment“ (Verarmung), die in bestimmten Kontexten Merkmale löschen kann, und „Fission“ (Aufspaltung), die die Assoziation von mehr als einem Vokabulareintrag mit einem einzigen Knoten zulässt. Die Theorie wurde im Laufe der Jahre verändert, indem sie zuerst den

Inhalt von Baumstrukturen streng auf morphosyntaktische Merkmale limitierte und annahm, dass Wurzelmorpheme sowie Affixe einer späten Insertion unterliegen (Harley/Noyer 1999). Aktuellere Versionen der Theorie (Embick/Noyer 2007) unterscheiden lexikalische Wurzeln von morphosyntaktischen Merkmalen; während letztere in syntaktischen Derivationen ohne entsprechende phonologische Form erscheinen, sind erstere mit phonologischer Form in der Derivation durchgehend präsent. Wurzeln sind aber intrinsisch kategorienlos und erhalten ihre Kategorie nur durch die Verbindung mit einem funktionalen Knotenpunkt. Rochelle Lieber

→ Item-and-Process-Modell; lexikalische Einsetzung ⇁ distributed morphology (TheoMethods; Woform)

🕮 Beard, R. [1995] Lexeme-Morpheme Base Morphology. A General Theory of Inflection and Word Formation. Albany, NY ◾ Embick, D./ Noyer, R. [2007] Distributed Morphology and the Syntax-Morphology Interface. In: Ramchand, G./ Reiss, C. [eds.] The Oxford Handbook of Linguistic Interfaces. Oxford: 289–324 ◾ Halle, M./ Marantz, A. [1993] Distributed Morphology and the Pieces of Inflection. In: Hale, K./ Keyser, S.J. [eds.] The View from Building 20. Cambridge, MA: 111–176 ◾ Harley, H./ Noyer, R. [1999] Distributed Morphology. In: GlotI 4/4: 3–9 ◾ Siddiqi, D. [2019] Distributed Morphology. In: Audring, J./ Masini, F. [eds.] OHMT. Oxford: 143–165.

Distribution

Menge der Kontexte, in denen ein sprachliches Element vorkommen kann. ▲ distribution: set of environments in which a linguistic element can occur. Das Konzept der Distribution kann auf allen Ebenen linguistischer Analyse angewendet werden. Die Distribution von Phonemen in einer gegebenen Sprache besteht aus den Kontexten, in denen dieses Phonem zu finden ist. So kommt das Phonem /ŋ/ im Englischen in der Koda von Silben vor, nicht aber im Onset. In der Morphologie können zur Feststellung der Distribution eines Elements Angaben darüber gehören, ob es frei (write) oder gebunden ist (-er), und, wenn gebunden, mit welcher Kategorie bzw. mit welchen Kategorien von Elementen es verbunden werden kann (das agentive -er z.B. mit Verben, das komparative -er mit Adjektiven). Ebenso können Angaben über phonologische Beschränkungen (das komparative -er z.B. kann nur mit monosyllabischen Basen oder mit erstbetonten bisyllabischen Basen ver-

257 Doppelkompositum bunden werden), etymologische Beschränkungen (so z.B. dass -ity lateinische Basen bevorzugt) usw. zur Feststellung der Distribution von Elementen gehören. Obwohl der Begriff der Distribution in allen morphologischen Theorien von Bedeutung ist, war insbesondere die strukturalistische Theorie (Nida 1949) damit befasst, eine geeignete Methode zur Angabe der Distribution sprachlicher Elemente zu finden. Rochelle Lieber

→ Restriktion ⇀ Distribution (Gram-Formen; CG-Dt; QL-Dt; Lexik; Phon-Dt; Sprachphil; Textling)

⇁ distribution (CG-Engl; Woform; Phon-Engl; TheoMethods; Media)

🕮 Nida, E.A. [1949] Morphology. The Descriptive Analysis of Words. 2nd, compl. new ed. Ann Arbor, MI.

Dittologie

Wiederholung einer Silbe oder eines Lautkomplexes im Wort. ▲ dittology: repetition of a syllable or a sound sequence in a word. Der aus griech. dittós ‘doppelt’ und lógos ‘Wort’ abgeleitete Begriff bezeichnet das versehentliche Wiederholen einer silbischen oder nichtsilbischen Lautfolge im Wort sowie die konventionalisierte Wiederholung einer Lautsequenz oder Silbe im Wort, die der Verdeutlichung dient. Für eine Silbenwiederholung als Artikulationsfehler (Stottern) werden etwa Beispiele wie ich habe la.lange gebraucht oder in mi.mich darfst ni.nich fragen angeführt. Die Artikulation des gemeinten Wortes wird nach dem ersten Vokal abgebrochen und das Wort wird dann vollständig gesprochen. Ein konventionalisierter Prozess wird etwa bei der Entwicklung von Kassierer aus Kassier angenommen, doch scheint hierbei eher das nomina agentis erzeugende Morphem -er angefügt worden zu sein; bei frz. und dt. Aussprache wäre die zweite Silbe -sier, das in beiden Fällen keine Ähnlichkeit mit -er aufweist. Mundartlich kommt etwa Pfuscherer für Pfuscher vor.

↔ Haplologie → nomen agentis

Eckhard Meineke

🕮 Bloodstein, O./ Ratner, N.B. [2008] A Handbook on Stuttering. 6th ed. Clifton Park, NY.

Domäne, affixale → affixale Domäne

doppelförmiges Verb

Verb mit einem Präelement, das sich entweder wie ein Präfix oder wie eine Partikel verhält. ▲ ambiguous verb: complex verb formed with a preverb which may behave either like a prefix or a particle. Beispiele für doppelförmige Verben sind umgehen, durchfahren, übersetzen. Vgl.: Sie umgingen das Problem vs. Dort gingen Gerüchte um; Sie durchfuhren die Stadt vs. Wir fahren hier durch; Sie übersetzen Bücher vs. Wir setzten mit der Fähre über. Wie andere Präfixe im Deutschen sind die Präfixe in Partikelpräfixverben unbetont (eine Stadt umfáhren) im Gegensatz zu deren Verwendung als Partikel (jemanden úmfahren). Neben dem Terminus „doppelförmiges Verb“ werden die Termini „Partikelpräfixverb“ und „biparadigmatisches Verb“ (Šimečková 2002) verwendet. Andrew McIntyre

→ Partikelpräfixverb (2); Partikelverb; Präfixverb

🕮 Blom, C. [2005] Complex Predicates in Dutch. Utrecht ◾ Helbig, G./ Buscha, J. [2001] Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 20. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Šimečková, A. [2002] Untersuchungen zum „trennbaren“ Verb im Deutschen II. Funktionalisierung von Trennbarkeit und Untrennbarkeit beim komplexen Verb. Prag ◾ Wunderlich, D. [1983] On the compositionality of German prefix verbs. In: Bäuerle, R./ Schwarze, C./ Stechow, A. von [eds.] Meaning, Use, and Interpretation of Language. Berlin [etc.]: 452–465.

Doppelkompositum

komplexes Verb, das aus zwei präpositionalen oder adverbialen Konstituenten vor dem Verbstamm besteht. ▲ double compound: complex verb consisting of two prepositional or adverbial constituents before the verb stem. Die modernen deutschen Präfixe be-, er-, ver-, ent- und zer- stammen historisch von unabhängigen Präpositionen und Adverbien ab. Schon im Germanischen entstanden Zweierkombinationen solcher unabhängigen Elemente vor einem Verbstamm, die man zum Teil als „Doppelkomposita, Sg. Doppelkompositum“ (Henzen 1965: 82) bezeichnet hat. Einige Beispiele aus dem Gotischen sind inn-ga-leian ‘hineingehen’, ana-in-sakan ‘auferlegen’ und faura-fra-waurkajan ‘vorher sündigen’. Diese Konstruktionen nennt man auch „Bikomposita, Sg. Bikompositum“, vgl. Henzen (1965: 103). In der modernen Sprache enthalten

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Doppelmotivation 258

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Kombinationen wie anvertrauen, anerziehen und vorenthalten nicht mehr zwei freie präverbale Elemente, weshalb sie als „Doppelpräfigierungen“ (vgl. Fleischer/Barz 1995: 318, 322) oder Partikel-Präfix-Verben bezeichnet werden. Susan Olsen ≡ Bikompositum → Doppelpräfigierung; Partikelpräfixverb (1) ⇁ double compound (1) (Woform); double compound (2) (Woform)

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [1995] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 2., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen.

→ § 24; Doppelpartikelverb; Partikel; Verbpartikel

🕮 Harnisch, R. [1982] „Doppelpartikelverben“ als Gegenstand der Wortbildungslehre und Richtungsadverbien als Präpositionen. Ein syntaktischer Versuch. In: Eichinger, L.M. [Hg.] Tendenzen verbaler Wortbildung in der deutschen Gegenwartssprache. Hamburg: 107–133 ◾ Hinderling, R. [1982] Konkurrenz und Opposition in der verbalen Wortbildung. In: Eichinger, L.M. [Hg.] Tendenzen verbaler Wortbildung in der deutschen Gegenwartssprache. Hamburg: 81–106 ◾ McIntyre, A. [2001] German Double Particles as Preverbs. Morphology and Conceptual Semantics. Tübingen ◾ Zimmer-Poreaux, A. [2007] Essai sur les préverbes composés de l’allemand. Le cas des préverbes en hin- et en her-. Bern [etc.].

Doppelpartikelverb

Partikelverb, das aus einem Verb und einer morphologisch komplexen Partikel besteht. ▲ double particle verb: particle verb consisting of a verb and a morphologically complex particle.

Doppelmotivation

≡ Mehrfachmotivation

Doppelpartikel

morphologisch komplexe Verbpartikel, die aus einem deiktischen Element und einer Verbpartikel besteht. ▲ double particle: morphologically complex verb particle consisting of a deictic element and another verb particle. Beispiele für Doppelpartikeln sind hinaus, herab, runter, drauf in Konstruktionen wie hinaus gehen, herab fallen, runter gehen, drauf gehen. Das erste Element ist primär deiktischer Art, wobei die Tendenz besteht, die Unterscheidung zwischen sprechergerichteter und sprecherabgewandter Bewegung (herein vs. hinein) durch den Gebrauch einer Einheitsform mit r- (rein) zu nivellieren. Manche Doppelpartikeln werden wie Präpositionalphrasen mit ihren jeweiligen verwandten Präpositionen interpretiert, mit dem Unterschied, dass das Komplement der Präposition implizit bleibt und so interpretiert wird, als wäre es ein Pronomen, vgl. er sah das Loch nicht und fiel hinein/(he)rein, wo die Doppelpartikel das ungrammatische *in es ersetzt. Dies gilt nicht ausnahmslos, vgl. (he)runter, das (im Gegensatz zu d(a)runter) nicht ‘unter etwas kontextuell Erschließbares’ bedeutet, sondern ‘nach unten’. Die meisten als Doppelpartikel fungierenden Elemente sind nicht immer Verbpartikeln. Sie können in anderen Umgebungen auftreten, in denen man Präpositionalphrasen vorfindet, vgl. Raus mit euch! Ich sah einen Tisch mit einem Buch drauf. Der Weg herunter war schwierig. Andrew McIntyre

Beispiele für Doppelpartikelverben sind hinzufügen, hinausschieben, reinfallen, drübergehen. Die Partikeln enthalten meistens ein deiktisches Element (hin-, her-, r-, dr-) als Erstglied. Häufig sind Doppelpartikelverben semantisch transparenter als die entsprechenden Konstruktionen mit Einfachpartikeln (vgl. hineingehen und eingehen), wobei lexikalisierte Doppelpartikelverben durchaus vorkommen (vgl. runterputzen, dreinblicken). Die deiktische Unterscheidung zwischen hin- und her- in Doppelpartikeln wird in der Umgangssprache oft aufgegeben zugunsten der Einheitsform r- (vgl. dort reingehen). Andrew McIntyre

→ § 24; Doppelpartikel; Doppelpräfix; Partikel; Partikelverb

🕮 Harnisch, R. [1982] „Doppelpartikelverben“ als Gegenstand der Wortbildungslehre und Richtungsadverbien als Präpositionen. Ein syntaktischer Versuch. In: Eichinger, L.M. [Hg.] Tendenzen verbaler Wortbildung in der deutschen Gegenwartssprache. Hamburg: 107–133 ◾ Hinderling, R. [1982] Konkurrenz und Opposition in der verbalen Wortbildung. In: Eichinger, L.M. [Hg.] Tendenzen verbaler Wortbildung in der deutschen Gegenwartssprache. Hamburg: 81–106 ◾ McIntyre, A. [2001] German Double Particles as Preverbs. Morphology and Conceptual Semantics. Tübingen ◾ Zimmer-Poreaux, A. [2007] Essai sur les préverbes composés de l’allemand. Le cas des préverbes en hin- et en her-. Bern [etc.].

Doppelpräfigierung

komplexes Wort, das zwei Präfixe enthält, bzw. die Ableitung eines solchen Wortes. ▲ double prefixation: complex word which contains two prefixes, or the formation of such a word.

259 durativ Beispiele für Doppelpräfigierung sind mißverstehen, unterbelichten. Wird der Terminus (trennbares) Präfix auf Verbpartikeln angewandt, könnte sich der Begriff der Doppelpräfigierung auch auf Partikel-Präfix-Kombinationen beziehen wie heraufbeschwören, aberkennen. In diesem weiten Sinne verstanden, werfen doppelpräfigierte Verben einige Probleme auf. Beispielsweise gibt es Sprecher des Deutschen, bei denen eine sonst abtrennbare Partikel als unabtrennbar behandelt wird (er anerkennt das). Fernerhin sind gewisse rückgebildete doppelpräfigierte Konstruktionen nur in denjenigen syntaktischen Strukturen möglich, die keine Entscheidung zwischen der trennbaren und der untrennbaren Verwendung verlangen (da sie das Stück uraufführen aber *sie uraufführen das Stück/*sie führen das Stück urauf). Andrew McIntyre

→ Doppelpartikelverb; Doppelpräfix; Präfixverb; Rückbildung

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [1992] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen ◾ Lohde, M. [2006] Wortbildung des modernen Deutschen. Ein Lehr- und Übungsbuch. Tübingen ◾ Stiebels, B./ Wunderlich, D. [1994] Morphology feeds syntax. The case of particle verbs. In: Ling 32: 913–968 ◾ Wurzel, W.U. [1998] On the development of incorporating structures in German. In: Hogg, R.M./ Bergen, L. van [eds.] Historical Linguistics 1995. Vol. 2: Germanic linguistics. Amsterdam [etc.]: 331–344.

Doppelpräfix

Kombination zweier Präfixe links vom Wortstamm. ▲ double prefix: combination of two prefixes to the left of the word stem. Doppelpräfigierungen sind quantitativ gesehen eine Randerscheinung der deutschen Wortbildung. Sie kommen in der denominalen, deadjektivischen und deverbalen Verbbildung vor. Ihr liegen in der Regel zwei Wortbildungsprozesse zugrunde. Ein bereits präfigiertes Wort dient als Basis einer weiteren Präfigierung mit einem anderen Präfix: möglich – unmöglich – verunmöglichen, Glück – Unglück – verunglücken, werten – bewerten – überbewerten, zahlen – bezahlen – unterbezahlen; mit demotivierter Erstpräfigierung Gesellschaft – vergesellschaften, verstehen – missverstehen. Doppelpräfixe treten nicht gleichzeitig an eine präfixlose verbale Basis (Erben 2006: 57). Ebenso wenig wird ein gleiches Präfix beim Verb vor sich selbst gestellt.

In älteren Arbeiten zur Wortbildung des Verbs werden auch die trennbaren präpositionalen Verbpartikeln als Präfixe („Präfixe mit homonymen freien Morphemen“, Fleischer 1969: 302) klassifiziert, da sie wie Präfixe das verbale Zweitglied modifizieren. Im Rahmen einer solchen Betrachtungsweise stellen Verben mit der Kombination Verbpartikel-Präfix (abbestellen, anerkennen) und Präfix-Verbpartikel (beeindrucken, veranlassen) ebenfalls Doppelpräfigierungen dar. Nach Kühnhold, die dieser Auffassung folgt, machen Doppelpräfigierungen ca. 2% des Gesamtbestands an Präfixverben aus (Kühnhold 1974: 193). Einen anderen Charakter hat die Präfixkombination an nominalen und adjektivischen Basen. Hier kann das Präfix ur- in jeweils spezifischer Bedeutung redupliziert werden. In Verwandtschaftsbezeichnungen (Urgroßvater) beziehen sich die Doppel- oder Mehrfachpräfigierungen immer auf eine Generation weiter zurück (Ururgroßvater; vgl. poln. prapradziadek; russ. prapraded). Mit urdoppelpräfigierte Adjektive drücken eine weitere Steigerung des Basisinhalts aus (ururalt). ≡ Präfixkombination → Präfix; Präfixkomposition; Verbpartikel

Irmhild Barz

🕮 Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Fleischer, W. [1969] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig ◾ Kühnhold, I. [1974] Über veranlassen, anvertrauen und verwandte Typen der verbalen Doppelpräfigierung im neueren Deutsch. In: Engel, U./ Grebe, P. [Hg. 1974/1975] Sprachsystem und Sprachgebrauch. Festschrift für H. Moser zum 65. Geburtstag. Teil 1. Düsseldorf: 193–205.

durativ

Aktionsart von Verben, deren lexikalische Bedeutung einen hinsichtlich Beginn und Abschluss nicht spezifizierten Verlauf des bedeuteten Vorgangs beinhaltet. ▲ durative: aktionsart of verbs whose lexical meaning implies a temporal course of the process signified by the verb which is not specified in respect of the beginning or the end. Das Verb erblühen bedeutet im Unterschied zu unspezifischem blühen den Beginn des Vorgangs des Blühens, das Verb verblühen das Ende des Vorgangs. Der zeitliche Verlauf des Prozesses wird also verschieden versprachlicht. Die drei

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durchsichtige Bildung 260

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Verben haben verschiedene Aktionsarten: ingressiv (erblühen), durativ (blühen) und egressiv (verblühen). Durative Verben bedeuten die Vorgänge als solche, die hinsichtlich ihres Zeitablaufs unspezifiziert sind. Der Prozess wird als ein zeitlich nicht begrenzter dargestellt, der keinen Anfangspunkt und keinen Endpunkt hat (Tschirner 1991: 63). Durative Verben in diesem Sinne sind einerseits etwa wohnen und besitzen, andererseits etwa arbeiten oder lachen. Wohnen und besitzen sind in dem Sinne statisch, dass sie einen Zustand bedeuten. Arbeiten und lachen sind in dem Sinne dynamisch, dass sie einen Vorgang, den Ablauf einer Tätigkeit oder eines Ereignisses bedeuten (Tschirner 1991: 64f.). Als Unterkategorien der durativen Aktionsart lassen sich folgende Aktionsarten auffassen: Die iterative Aktionsart beinhaltet, dass sich etwas wiederholt, mehrmals (regelmäßig, gewöhnlich) geschieht, z.B. bei sticheln ‘öfter stechen’. Allerdings ist sticheln zugleich auch mit dem Moment des Diminutiven verbunden, ebenso wie bei tröpfeln. Im Nhd. werden Iterativa typischerweise mit dem Suffix -l erzeugt. Die intensive Aktionsart bedeutet ein Geschehen, das durch hohe (erhöhte) Intensität gekennzeichnet ist. Allerdings ist das bei den für das Nhd. genannten Beispielen wie etwa rupfen zu raufen, schnitzen zu schneiden oder horchen zu hören nicht mehr nachvollziehbar, weil die zusammen mit der ausdrucksseitigen Auseinanderentwicklung einhergehende Lexikalisierung zu einer zu weiten Entfernung der Bedeutungen geführt hat. Die diminutive (attenuative) Aktionsart bedeutet Geschehen geringerer (verringerter) Intensität, z.B. in tänzeln ‘ein bisschen tanzen’ oder lächeln. Verben mit intransformativer Aktionsart bedeuten, dass sich am gegebenen Zustand ausdrücklich nichts ändert, z.B. in behalten oder weiterleben. Eckhard Meineke

→ Aktionsart; attenuativ; Diminutivum; ingressiv; iterativ ⇀ durativ (SemPrag)

🕮 Nicolay, N. [2007] Aktionsarten im Deutschen. Prozessualität und Stativität. Tübingen ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin ◾ Tschirner, E. [1991] Aktionalitätsklassen im Neuhochdeutschen. New York [etc.].

durchsichtige Bildung ≡ motivierte Bildung

Durchsichtigkeit

Eigenschaft von Wortbildungen, deren morphosemantische Struktur es dem Sprachbenutzer ermöglicht, die lexikalische Bedeutung einer Bildung aus der Bedeutung der Ausgangseinheiten zu erschließen. ▲ transparency: property of a word-formation whose morphosemantic structure allows speakers to infer the lexical meaning of the complex form from the meaning of its constituents. Durchsichtigkeit wird in der aktuellen Forschungsdiskussion in der Regel mit morphosemantischer Motiviertheit gleichgesetzt (vgl. u.a. Erben 2006: 23). Der Begriff der Durchsichtigkeit taucht bereits bei Wandruszka (1958: 10) auf, geht in seiner eigentlichen Prägung jedoch auf Gauger (1971) zurück. Gauger bezeichnet Wörter wie dt. Gärtner oder Gartenhaus als durchsichtige Wörter, weil ihre formal-inhaltliche Struktur es dem Sprachbenutzer erlaube, „durch sie hindurch zu sehen, sie gleichsam zu ‘durchschauen’ und sie – eben dadurch – zu erklären“ (Gauger 1971: 8). Dabei betont Gauger ausdrücklich, dass das durchsichtige Wort dem durchschnittlichen Sprachbenutzer – und nicht erst dem Sprachwissenschaftler – Durchsicht auf die jeweiligen Ausgangseinheiten gewähre: „Das Subjekt der Durchsichtigkeit sind die Sprechenden: für deren Bewußtsein, nicht für dasjenige irgendeines außerhalb stehenden Betrachters, ist das durchsichtige Wort durchsichtig“ (Gauger 1971: 12). Durchsichtigkeit beziehe sich daher nicht nur auf im Sprachsystem angelegte Regelmäßigkeiten (frz. pomme > pommier ‘Apfelbaum’; poire > poirier ‘Birnbaum’; abricot > abricotier ‘Aprikosenbaum’), sondern vielmehr darauf, dass diese Regelmäßigkeiten dem Sprachbenutzer in einem Akt der Reflexion bewusst seien. „Durchsichtigkeit ist nicht, sie geschieht, und zwar insofern sie von den Sprechenden vollzogen wird“ (Gauger 1971: 12). Auf diese Weise ist Durchsichtigkeit abhängig vom Wissen der Sprachbenutzer über ihre Sprache. Jeder Sprecher des Italienischen weiß, warum der Gärtner giardiniere heißt, er kann ital. giardiniere auf giardino ‘Garten’ beziehen und kennt weitere Bildungen des entsprechenden Wortbildungsmodells: antipastiere (< antipasto), cavaliere (< cavallo), gondoliere (< gondola) etc. Ein durchsichtiges Wort weise dadurch weg von

261 Dvandva sich selbst auf ein oder mehrere andere Wörter. Es sei durch diese(s) vermittelt und mithin ein abhängiges Wort, wohingegen das undurchsichtige Wort nur auf sich selbst verweise (Gauger 1971: 13). Nach Gauger (1992: 48) sind „[d]ie durchsichtigen Wörter – nur diese – [...] Gegenstand der Wortbildung“. Anja Seiffert ≡ Motiviertheit; Transparenz ↔ Undurchsichtigkeit; Unmotiviertheit → Analysierbarkeit; Motivation; motivierte Bildung; phonologische Durchsichtigkeit; semantische Durchsichtigkeit; Wortbildungsmodell ⇀ Durchsichtigkeit (Onom; Lexik) ⇁ transparency (Phon-Engl; Media)

🕮 Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Gauger, H.-M. [1971] Durchsichtige Wörter. Heidelberg ◾ Gauger, H.-M. [1992] Zum richtigen Ansatz in der Wortbildung. In: Ágel, V. [Hg.] Offene Fragen, offene Antworten in der Sprachgermanistik. Tübingen: 45–52 ◾ Wandruszka, M. [1958] Etymologie und Philosophie. In: DU-S 10/4: 7–18.

Durchsichtigkeit, semantische → semantische Durchsichtigkeit

Dvandva

Kompositum, bei dem jeder Bestandteil selbstständig auf eine der Komponenten referiert, aus der das Kompositum besteht. ▲ dvandva: compound in which each constituent refers independently to one of the elements of which the whole is made up. Ein Dvandva ist ein Kompositum, das aus Lexemen von gleicher Kategorie besteht, die miteinander koordiniert werden und miteinander die Bedeutung einer Gruppenbildung oder einer superordinierten Kategorie ergeben. Die HindiGrammatiker haben Konstruktionen dieses Typs den Namen Dvandva ‘Paar; lit. zwei+zwei’ gegeben, der selbst aber eine Reduplikation darstellt. Nach Whitney (1950: 485–487) sind die SanskritDvandvas mit dem Numerus Dual markiert, wenn sie auf eine Menge von zwei Objekten referierten, vgl. (1a), und tragen eine Pluralmarkierung, wenn sie sich auf mehr als zwei Objekte beziehen wie in (1b). Mit dem Neutrum Singular drückt das Kompositum eine kollektive Größe aus (1c): (1a) candrādityāu (= candra+āditya-Dual) ‘Mond und Sonne’

(1b) devāsurās (= deva+ura-Plural) ‘drei oder mehr Götter und Dämonen’ (1c) keçaçmaçrú ‘Haar und Bart’ Spätere Dvandvas können auch aus mehr als zwei Wörtern bestehen, vgl. (2): (2a) çayyāsanabhogās ‘liegen, sitzen und essen’ (2b) devagandharvamānusoragaraksasās (= deva +gandharva+mānusa+uraga+raksasa-Plural) ‘Gruppe bestehend aus Göttern+Engeln+Menschen+Schlangen+Dämonen’ Die ursprünglichen Dvandvas im Sanskrit waren nach Whitney zweigliedrig und bestanden aus den Namen zweier Götter, wobei jeder Name den Numerus Dual trug und seinen Akzent bewahrte: (3) índrāsómā (= índrā-Dual + sómā-Dual) Neben koordinativen kommen auch disjunktive Verbindungen vor (= (4)), vgl. Whitney (1950: 485). (4) jayaparājaya ‘Sieg oder Niederlage’ Adjektive werden auf gleiche Weise zu Kopulativa verbunden wie Nomina, sind aber seltener (= (5)), vgl. Whitney (1950: 485, 487). (5) çuklakṛṣṇa ‘hell und dunkel’ Im Laufe der Sprachentwicklung wird die Numerusmarkierung sowie der Akzent allein am letzten Bestandteil bewahrt, der auch das Genus und die Flexionsklasse des Gesamtworts bestimmt. Die Anzahl der Komposita verdoppelt sich im klassischen Sanskrit im Vergleich zu den früheren Sprachstufen, während die Klasse der Neutra abgebaut wird. Mitunter wird in modernen Behandlungen der verschiedenen Kompositatypen die Bezeichnung Dvandva gleichbedeutend mit appositionellem Kompositum verwendet. Schon im Sanskrit war die koordinierte Bedeutung der Dvandvas nicht immer von der appositionellen Bedeutung der Karmadhārayas zu unterscheiden, vgl. als Sanskrit-Dvandvas oṣadhivanaspatí ‘Pflanzen und Bäume’ und ṛksāmé ‘Vers und Kirchengesang’ mit den semantisch ähnlichen Sanskrit-Karmadhārayas duhitṛjana ‘Tochter-Mensch’ und çāpāgni ‘FluchFeuer’ (Whitney 1950: 484, 495). Diese Gleichsetzung ist allerdings irreführend, weil die appositionellen Komposita auf ein einziges Individuum referieren, während Dvandvas gruppenbildend sind. Appositionelle Komposita kommen im Germanischen vor und sind besonders produktiv im Englischen (vgl. Spieler-Trainer, Maler-Schriftsteller; engl. singer-actress ‘Sänger-Schauspieler’,

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Dvigu 262

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bartender-psychologist, ‘Bartender-Psychologe’, poet-politician ‘Dichter-Politiker’, scholar-athlete ‘Wissenschaftler-Athlet’, usw.). Echte Dvandvas, die auf mehr als ein Individuum referieren, kommen im Germanischen dagegen nur restringiert vor, und zwar erscheinen sie allein in der eingebetteten Position eines mehrgliedrigen Kompositums, wo sie als Modifikator zum Kopf fungieren – eine Position, die nicht referentiell ist, vgl. die Beispiele in (6) mit denen in (7) aus Fanselow (1985): (6) *Rhein-Main-Donau, *Schmidt-Genscher (7) Rhein-Main-Donau-Kanal, Schmidt-GenscherKonflikt Für Bildungen wie in (8) schlägt Fanselow den Terminus „Scheindvandva“ vor, um den typologischen Unterschied zwischen den beiden Sprachtypen deutlich zu machen. Die Komposita in (8) denotieren im Gegensatz zu echten Dvandvas und ähnlich wie die appositionellen Komposita des Germanischen ein einziges Individuum (das aus mehreren Teilen besteht). (8) Baden-Württemberg, Daimler-Chrysler Ebenso unglücklich ist die Verwendung der Bezeichnung Dvandva im Sinne von Ko-Kompositum (engl. co-compound). Wie Wälchli (2005) zeigt, gehören Dvandvas zwar zu den Ko-Komposita, allerdings umfasst der Terminus Ko-Kompositum auch andere semantische Typen. Beispiele von additiven und kollektiven Ko-Komposita aus anderen Sprachen sind mordvinisch t'et'a.t-ava.t ‘Eltern; lit. Vater-Pl-Mutter-Pl’, georgisch da-dza ‘Geschwister; lit. Schwester-Bruder’, und chuvash xut-kārantas ‘paper-pencil’, vgl. Wälchli (2005: 137f.). Susan Olsen ≡ konjunktives Kompositum; koordinatives Kompositum → additives Ko-Kompositum; appositionelles Kompositum; Karmadhāraya; Ko-Kompositum; Kompositum; Schein­ dvandva ⇀ Dvandva (HistSprw; Lexik)

🕮 Bauer, L. [2008] Dvandva. In: WStr 1: 1–20 ◾ Fanselow, G. [1985] What is a possible complex word? In: Toman, J. [ed.] Studies in German Grammar. Dordrecht: 289–318 ◾ Lindner, T. [2019] Historische Metalinguistik I: Indogermanische Kompositionslehre. Salzburg [etc.] ◾ Olsen, S. [2001] Copulative Compounds. In: Booij, G./ van Marle, J. [eds.] YbMo 2000. Dord-

recht: 279–320 ◾ Wälchli, B. [2005] Co-compounds and Natural Coordination. Oxford ◾ Wälchli, B. [2015] Co-compounds. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 707–727 ◾ Whitney, W.D. [1950] Sanskrit Grammar. Cambridge, MA [https://en.wikisource.org/ wiki/Sanskrit_Grammar_(Whitney)/Chapter_XVIII; letzter Zugriff 11.06.2021].

Dvigu

nominales Determinativkompositum im Sanskrit mit einem Numerale als Erstelement. ▲ dvigu: nominal determinative compound in Sanskrit with a numeral as first element.

Die Sanskrit-Grammatiker unterscheiden vier Hauptklassen von Komposita. Dazu gehören Tat­ pu­ru­ṣas oder Kasus-Komposita (z.B. ami­tra­se­nā ‘Feindesheer’), Karmadhārayas oder Attributivund Appositiv-Komposita (Skr. nīlotpala ‘blauer Lotus’), Dvandvas oder Koordinativ-Komposita (z.B. candrādityāu ‘Mond und Sonne’) sowie Ba­ hu­vrī­his oder possessive Komposita (z.B. bṛha­ dra­tha ‘(wer) einen großen Streitwagen (besitzt)’). Diese Klassen haben auch in vielen modernen Sprachen Entsprechungen, vgl. Whitney (1950: 480–513). Eine kleinere Gruppe bilden die als Dvigu bezeichneten Bildungen. Es handelt sich dabei um nominale Determinativkomposita mit einem Numerale als Erstelement. Der Terminus leitet sich ab von dvigu ‘zwei Kühe wert; lit. zwei Kuh'’ und ist zugleich ein Beispiel dieser Klasse. Weitere Beispiele sind ṣaḍahá ‘Zeitspanne von sechs Tagen’ und daçān̄gulá ‘Breite von zehn Fingern’, vgl. Whitney (1950: 512). Susan Olsen

→ Avyayībhāva; Dvandva; Karmadhāraya; Possessivkompositum; Tatpuruṣa

🕮 Bauer, L. [2001] Compounding. In: Haspelmath, M./ König, E./ Oesterreicher, W./ Raible, W. [eds.] Language Typology and Language Universals (HSK 20.1). Berlin [etc.]: 695–707 ◾ Lindner, T. [2011–2018] Indogermanische Grammatik. Band IV: Wortbildungslehre. Teilband 1: Komposition. Teilband 2: Komposition im Aufriß. Heidelberg ◾ Stelzer, A.F. [2003] Elementarbuch der Sanskrit-Sprache. 19., durchges. u. verb. Aufl. v. A. Wezler. Berlin [etc.] ◾ Whitney, W.D. [1950] Sanskrit grammar. Cambridge, MA [etc.] [https://en.wikisource.org/wiki/Sanskrit_Grammar_ (Whitney)/Chapter_XVIII; letzter Zugriff am 24.11.2021].

E Ebene, onomasiologische → onomasiologische Ebene

echte Zusammensetzung ≡ eigentliches Kompositum

effizierendes Verb

Verb, dessen Objekt erst durch die Ausführung der Verbalhandlung existiert. ▲ effected object verb: verb whose object comes into existence as a result of the verbal event. Beispiele für Konstruktionen mit effizierenden Verben (oder Verben mit effiziertem Objekt) sind Gott schuf die Erde; Das Programm erzeugt Passwörter und Sie schrieb Briefe. Manche Verben haben effizierende und nicht-effizierende Lesarten, vgl. den Kuchen backen (effizierend) und Kartoffeln backen (nicht-effizierend); burn a CD (= ‘sie mit einem CD-Brenner erzeugen, oder sie verbrennen’), paint a house (= ‘eine Abbildung eines Hauses erzeugen, oder ein Haus bemalen/anmalen’). In einigen Sprachen können effizierende Verben ein Doppelleben als Kausativverben führen, vgl. machen (effizierend: einen Kuchen machen; nichteffizierend: etwas glatt machen) oder französisch faire (effizierend: faire un gâteau ‘einen Kuchen machen’; nicht-effizierend: faire tomber une chaise ‘bewirken, dass ein Stuhl (um)fällt’). Möglicherweise besteht der Zusammenhang darin, dass verursachte Ereignisse und effizierte Objekte gleichermaßen erst durch die durch machen bzw. faire genannte Aktion zustande kommen. Die Unterscheidung zwischen effizierenden und nicht-effizierenden Verben ist in verschiedenen grammatischen Bereichen relevant. Beispielsweise ist die englische benefaktive Doppelobjektkonstruktion mit effizierenden Verben, aber nicht mit

den meisten anderen Verbtypen kompatibel (burn her a CD ist in der Erzeugungslesart möglich und in der Verbrennungslesart unmöglich).

→ Aktionsart; kausatives Verb

Andrew McIntyre

🕮 Levin, B. [1993] English Verb Classes and Alternations. Cambridge, MA ◾ Lohde, M. [2006] Wortbildung des modernen Deutschen. Tübingen.

eigentliches Kompositum

Kompositum, dessen Erstglied eine Stammform ohne Kasusendung ist. ▲ genuine compound: compound whose first constituent is a bare stem without case marking.

Eine große Bedeutung kommt im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte der Univerbierung von syntaktischen Gruppen zu Wortbildungen zu. Dass das Deutsche heute eine besonders kompositionsfreudige Sprache ist, resultiert zum großen Teil aus der Entstehung von Komposita aus Wortgruppen, durch die neue Wortbildungsmodelle entstanden sind. Eine besondere Rolle spielen dabei entsprechende Veränderungen im Bereich substantivischer N+N-Komposita: Schon seit dem Ahd. gibt es zwei, aus dem (Indo-)Germanischen ererbte Kompositionstypen (vgl. Lindner 2011–18, Bd. 1: 15ff., 50ff.), Stammkomposita (traditionell: „eigentliche“ bzw. „echte“ Komposita; vgl. Grimm 1826: 407f.) und Kasuskomposita (traditionell: „uneigentliche“ bzw. „unechte“ Komposita; vgl. Grimm 1826: 407f.). Bei den Stammkomposita, die als sprachgeschichtlich älter gelten, ist das determinierende Erstglied ein Nominalstamm (z.B. ahd. hunt-fliaga ‘Hundfliege’). Zum Teil sind Erst- und Zweitglied durch einen Fugenvokal (ahd. -a-, -e-, -i, -o-, -u-) verbunden, bei dem es sich historisch um ein stammbildendes Suffix handelt (z.B. ahd. tag-

Einfügung 264

E

a-lioht ‘Taglicht’, spil-i-hūs ‘Spielhaus, Theater’). Teils sind diese germanischen Stammbildungssuffixe bereits ahd. aufgegeben bzw. erscheinen in Abhängigkeit von Quantität und Qualität des Nominalstamms, aber auch zeitlich, sprachräumlich oder wortspezifisch bedingt in veränderter Form und in Varianten (z.B. neben spil-i-hūs auch spil-o-hūs, spil-e-hūs und spil-hūs; Überblick bei Gröger 1911). Zum Mhd. hin werden sie zu -e- abgeschwächt und (später) zum Teil auch aufgegeben (z.B. ahd. bot-a-scaf > mhd. bot-e-schaft > nhd. Bot-schaft). Nur wenige der nhd. Komposita mit -e-Fuge lassen sich auf ahd. Bildungen mit Fugenvokal zurückführen (z.B. Tag-e-werk), so dass die Entstehung von Fugenelementen aus stammbildenden Suffixen im Deutschen unbedeutend ist (vgl. Nübling/Szczepaniak 2013: 69–72). Die Stammkomposita überwiegen im Ahd. und Mhd. noch deutlich im Vergleich mit dem zweiten Typ sog. Kasuskomposita, bei denen das Erstglied ein Genitivflexiv aufweist (z.B. ahd. tages-zīt ‘Tageszeit’, sunnūn-tag ‘Sonntag’) und die sich im Dt. erst seit der Frühen Neuzeit zu einem produktiven Kompositionsmuster entwickeln (vgl. Kopf 2018). Die Termini „eigentliches“ vs. „uneigentliches“ Kompositum beziehen sich auf die unterschiedliche Genese von N+N-Komposita. Unter synchronem Aspekt sind beide Typen aber nicht mehr zu unterscheiden, denn beide überschneiden sich insofern, als es in beiden historischen Gruppen sowohl Komposita mit Fuge („eigentlich“: z.B. Tag-e-lohn; „uneigentlich“: z.B. Krieg-s-heer, Apparat-e-medizin) als auch ohne Fuge („eigentlich“: z.B. Burg-∅-graf; „uneigentlich“: z.B. Stadt-∅mauer) gibt (Beispiele aus Kopf 2018: 16). In der Gegenwartssprache ist der Anteil an Komposita ohne Fuge („Nullfuge“) mit rund 70% deutlich höher (vgl. Ortner et al. 1991: 54; Fuhrhop/Kürschner 2015: 569) als der von verfugten Komposita. Zu Fugen-Komposita in anderen germanischen Sprachen vgl. Fuhrhop/Kürschner (2015: 574ff.) bzw. Szczepaniak (2020). Peter O. Müller ≡ echte Zusammensetzung ↔ uneigentliches Kompositum → § 22, 39; Einfügung; Fugenelement; Kompositionsfuge; Kompositum; syntaxnaher Bildungstyp; Univerbierung; Wortbildungsmodell ⇁ genuine compound (Woform) 🕮 Fuhrhop, N./ Kürschner, S. [2015] Linking elements in Germanic. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.]

Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 568–582 ◾ Grimm, J. [1826] Deutsche Grammatik. Zweiter Theil. Göttingen ◾ Gröger, O. [1911] Die althochdeutsche und altsächsische Kompositionsfuge mit Verzeichnis der althochdeutschen und altsächsischen Composita. Zürich ◾ Kopf, K. [2018] Fugenelemente diachron. Eine Korpusuntersuchung zu Entstehung und Ausbreitung der verfugenden N+N-Komposita. Berlin [etc.] ◾ Lindner, T. [2011– 2018] Indogermanische Grammatik. Band IV: Wortbildungslehre. Teilband 1: Komposition. Teilband 2: Komposition im Aufriß. Heidelberg ◾ Nübling, D./ Szczepaniak, R. [2013] Linking elements in German: Origin, Change, Functionalization. In: Morph 23: 67–89 ◾ Ortner, L./ Müller-Bollhagen, E./ Ortner, H./ Wellmann, H./ Pümpel-Mader, M./ Gärtner, H. [1991] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 4. Hauptteil: Substantivkomposita ‒ Komposita und kompositionsähnliche Strukturen 1. Berlin [etc.] ◾ Szczepaniak, R. [2020] Linking Elements in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol 2. New York: 890–912.

Einfügung

Einfügung von Lauten zwischen den Komponenten einer Komposition oder Ableitung. ▲ insertion: insertion of sounds between the components of a composition or derivation. In der Wortbildungslehre bezeichnet der Begriff „Einfügung“ die Insertion von Vokalen oder Konsonanten zwischen Basis und Formationsmorphem bei der Ableitung bzw. zwischen Bestimmungswort und Grundwort bei der Komposition. Bei der Komposition werden die eingefügten Laute Fugenelemente genannt. Sie sind im deutschen Bereich besonders für die ältesten Sprachstufen gut untersucht worden (Gröger 1910; Reutercrona 1920). Genetisch gesehen sind die „eingefügten“ Elemente erstens ehemalige Stammbildungselemente bei der eigentlichen oder Stammkomposition (ahd. spil-a-hūs ‘Theater’, tag-a-lōn ‘Tagelohn’ (Lohn für einen Tag Arbeit) < germ. đaǥ-a-laun-az). Bei der über ein Syntagma entstandenen oder analog gebildeten „uneigentlichen“ Komposition stehen zweitens in der Fuge ehemalige Flexionsmorpheme wie etwa in ahd. sunnūntag ‘Sonntag’. Darüberhinaus sind drittens nicht aus der Stammbildung oder Flexion herrührende ausspracheerleichternde Vokale oder Konsonanten als Fugenelement möglich, wie in nhd. Arbeitsamt. Das Fugen-s gehört nicht zum Flexionsparadigma des Erstglieds Arbeit, lehnt sich aber an ansonsten anderweitig vorkommende Flexionsmorpheme an, was als sprachökonomischer Zug aufgefasst werden kann.

265 Einzelprägung Im Bereich der Substantivkomposition des Gegenwartsdeutschen sind es besonders die Lautgruppen -(e)s, -(e)n, -er und -e, die zwischen Bestimmungswort und Grundwort treten (Wellmann 1975: 46). Für die Derivation spielen davon nur -(e)s, -(e)n eine Rolle; sie können bei den Ableitungen auf -tum und -schaft vor dem Formationsmorphem stehen (Wellmann 1975: 46). So weisen -tum-Ableitungen aus schwach flektierten Maskulina und Neutra sowie aus Feminina mit -en-Plural immer eine -(e)n-Fuge auf. Stark flektierte Basen hingegen werden in der Regel unmittelbar mit dem Suffix verbunden. Nur bei Mannestum (daneben Manntum), Mönchstum (neben Mönchtum) und Volkstum erscheint ein Fugenelement (Wellmann 1975: 46). Vor -schaft steht in der Mehrzahl der Fälle kein Fugenelement. Bei stark flektierten Maskulina und Neutra wird -s als Fugenelement durch lautliche Gründe verhindert, so in *Nachbar-s-schaft. Nur bei Basen mit schwacher Flexion kann ein Fugenelement auftreten, besonders bei Kollektiva (Gehilfenschaft, Untertanenschaft). Das ist aber nicht immer der Fall, wie etwa neben Nachbarschaft die auch als Kollektiva gebrauchten Kameradschaft und Herrschaft zeigen (Wellmann 1975: 46f.). Bei femininen Basen tritt vor -schaft ähnlich wie bei -tum weitgehend die -(e)n-Fuge auf, so in Frauenschaft oder Witwenschaft. Allerdings werden einige feminine Substantive unmittelbar mit dem Suffix verbunden, so bei Mutterschaft (Wellmann 1975: 47). Eckhard Meineke

→ Derivationsfuge; eigentliches Kompositum; Fugenelement; Kompositionsfuge; uneigentliches Kompositum; Wortbildungslehre

🕮 Fuhrhop, N./ Kürschner, S. [2015] Linking elements in Germanic. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 568–582 ◾ Gröger, O. [1910] Die althochdeutsche und altsächsische Kompositionsfuge, mit Verzeichnis der althochdeutschen und altsächsischen Composita. Zürich ◾ Reutercrona, H. [1920] Svarabhakti und Erleichterungsvokal im Altdeutschen bis ca. 1250. Heidelberg ◾ Szczepaniak, R. [2020] Linking Elements in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol 2. New York: 890–912 ◾ Wellmann, H. [1975] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 2. Hauptteil: Das Substantiv (SdG 32). Düsseldorf.

Einsetzung, lexikalische → lexikalische Einsetzung

Einzelprägung

Wortbildungsprodukt, das bereits bei der Bildung eine idiomatisierte Bedeutung aufweist. ▲ idiomatic coinage: complex word that has an idiomatic meaning already from the moment of its formation. Wortbildungsprodukte, deren Bedeutung im Augenblick ihrer Erschaffung durch die Bedeutungen der verwendeten Bestandteile und eine übliche Relation zwischen den von ihnen bedeuteten Denotaten motiviert ist, wie das etwa bei Taschenlampe der Fall war und ist, können im Lauf einer längeren Gebrauchsgeschichte die Motivationsbedeutung verlieren, so dass die spätere lexikalische Bedeutung nicht durch eine Paraphrase mittels der beiden Konstituenten ausgedrückt werden kann. Das ist etwa bei Junggeselle der Fall, dessen Bedeutung nicht etwa ‘junger Geselle’ ist, sondern ‘unverheirateter Mann (eher höheren Alters)’, ebenso wie Jungfrau nicht ‘junge Frau’ bedeutet. Die sich im längeren Gebrauch des Wortes vollziehende Loslösung von seiner Motivationsbedeutung wird üblicherweise als Lexikalisierung bezeichnet. Das Ergebnis der Lexikalisierung von komplexen Wörtern oder syntaktischen Gruppen kann als Idiomatisierung bezeichnet werden. Nun gibt es auch Fälle, bei denen die Wortbildungskonstruktion bereits im Augenblick ihrer Bildung idiomatisch ist. Da hier kein Weg der Bedeutungsänderung über einen längeren Wortgebrauch und die damit verbundene Lexikalisierung vorliegt, ist dieser Fall einer sogleich idiomatischen Bildung von dem Phänomen der Lexikalisierung zu trennen. Für eine bereits im Augenblick ihrer Entstehung idiomatische Bildung wie Geisterfahrer hat Lipka (1981: 122) den Begriff Einzelprägung vorgeschlagen. Die Einzelprägungen bilden damit eine spezielle semantische Gruppe der Neubildungen in Gestalt von festen Syntagmen (desktop publishing ‘using a microcomputer and a laser printer to produce high-quality printed material’), Kompositionen (laptop ‘tragbarer Computer’) und Derivationen (pedestrianization ‘the restriction of access to a street to pedestrians only’). Diese Bildungen werden also nicht durch einen diachronen Vorgang idiomatisiert, sondern üblicherweise durch eine kreative Ausschöpfung uneigentlicher Wort-

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Elativ 266

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bedeutungen, aber man kann synchron keinen Unterschied zu auf diese Weise idiomatisierten Bildungen feststellen (Grimm 1991: 59f.). Bereits Paul (1975: 90) habe darauf hingewiesen, dass es eine Art von Spezialisierung gebe, die gleich ihren Anfang nehme, sobald das Wort überhaupt gebraucht werde (Lipka 1981: 122). Paul nennt als Belege für diese Erscheinung unter anderem Schüler, Eisenbahn, Schreiner, Fernsprecher und Standesamt und führt unter anderem aus, dass Schüler auch ‘Schulmeister’ hätte bedeuten können (vgl. Grimm 1991: 66). Allerdings ist ein Fall wie Schüler etwas anders gelagert als die von Lipka gemeinte Einzelprägung. Bei Wörtern wie Schüler geht es darum, dass ungeachtet der spezifischen Wortbildungsmotivation, die zu der Bildung Schüler geführt hat, ein Wort wie Schüler auch etwas anderes bedeuten könnte, weil Wortbildungsprogramme eine mehr oder weniger große Polysemie aufweisen. Jedenfalls lässt sich Schüler nicht als von vornherein idiomatisiert bezeichnen, sondern aktualisiert lediglich (und notwendigerweise) eine einzige Spielart des Spektrums möglicher Funktionen des morphologischen Programms. Auch Lipka selbst ist in seiner Argumentation nicht konsequent, wenn er bemerkt, dass die Einzelprägung einen einmaligen Benennungsakt darstelle, der zu einem idiomatischen Resultat führen könne, aber nicht müsse (Lipka 1981: 122). Als Konsequenz aus den bislang vorgetragenen entweder unrichtigen oder inkonsequenten Forschungsauffassungen ergibt sich, dass der Begriff der Einzelprägung bislang nicht exakt definiert ist. Erstens ergibt der Benennungsakt als solcher nicht notwendigerweise eine Einzelprägung. Zweitens folgt aus dem Umstand, dass eine bestimmte Bildung eine von mehreren Bedeutungsmöglichkeiten eines morphologischen Programms aktualisiert, noch nicht das Vorliegen einer Einzelprägung. Von einer Einzelprägung sollte demnach nur gesprochen werden, wenn es sich um ein Wortbildungsprodukt handelt, das bereits im Augenblick seiner Bildung eine Bedeutung jenseits der normalerweise möglichen Bedeutungsmöglichkeiten eines derivationellen Programms oder der üblicherweise von einer Komposition mit den betreffenden Konstituenten erwartbaren Bedeutung aufweist. Normalerweise wird das dadurch erzielt werden, dass eine

uneigentliche, bildhafte Bedeutungsfunktion bei einer der beteiligten Konstituenten oder dem Wortbildungsprodukt insgesamt Grundlage der Bildungsmotivation ist. Einen anderen Begriff der Einzelprägung verwendet Doerfert (1994: 277), wenn sie frnhd. genuge als einzige ornative Bildung mit adverbialer Basis in dem Sinne als Einzelprägung klassifiziert, dass sie nicht als Muster für weitere Bildungen dieser Art dient und insofern nicht produktiv ist. Eckhard Meineke

→ Idiomatisierung; Kreativität; Lexikalisierung

🕮 Doerfert, R. [1994] Die Substantivableitung mit -heit/-keit, -ida, -î im Frühneuhochdeutschen. Berlin [etc.] ◾ Grimm, U. [1991] Lexikalisierung im heutigen Englisch am Beispiel der -erAbleitungen. Tübingen ◾ Lipka, L. [1981] Zur Lexikalisierung im Deutschen und Englischen. In: Lipka, L./ Günther, H. [Hg.] Wortbildung. Darmstadt: 119–132 ◾ Paul, H. [1975] Prinzipien der Sprachgeschichte. 9., unveränd. Aufl. Tübingen.

Elativ

morphologische Kategorie von Adjektiven, seltener von Adverbien, zum Ausdruck von Graduierung. ▲ elative: morphological category of adjectives, and less commonly adverbs, expressing gradation. Der Elativ als absoluter Superlativ dient zur Bezeichnung eines sehr hohen Grades ohne Vergleichsgröße, er ist einzelsprachlich unterschiedlich grammatikalisiert. Einige Sprachen, wie das Russ., verfügen über spezifische morphologische Markierungen des Elativs (-ušč-: bol’šoj ‘groß’ – bolšuščij ‘riesengroß’, -enn-: širokij ‘breit’ – širočennyj ‘enorm breit’, vgl. Autorenk. (1984: 180). In romanischen Sprachen dienen vom lat. Superlativsuffix -issim- abgeleitete Suffixe zur Bildung des Elativs (ital. -issim-: bellissimo ‘wunderschön’, span. -ísim-: hermosísimo ‘sehr schön’, frz. -issime: rarissime ‘äußerst selten’). Das Dt. verfügt über keine spezifische morphologische Markierung des Elativs, hier wird der Superlativ auch elativisch verwendet (in den besten Hotels, mit herzlichsten Grüßen). Elativische Bedeutung haben auch Ausdrücke mit aufs/auf das (aufs Beste, auf das Empfindlichste) sowie Formen auf -st und -ens (höchst, bestens), vgl. dazu auch Gallmann (2016: 380ff.). Als weitere Möglichkeiten zum Ausdruck eines hohen Grades dienen besonders Modifizierungen des Positivs durch Gradausdrücke (sehr groß, äußerst geschickt, überaus erfreulich, besonders zuverlässig).

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elliptisches Kompositum

Ein vieldiskutiertes Problem ist die Frage, ob die Komparation eine flexionsmorphologische oder eine wortbildungsmorphologische Erscheinung darstellt. Nach Hentschel/Weydt (2013: 197) ist die Komparation durchaus mit dem Wortbildungsverfahren Modifikation vergleichbar, bei dem eine semantisch modifizierte Form der gleichen Wortklasse entsteht. Die enge Berührung von flexions- und wortbildungsmorphologischer Graduierung zeigt sich am Beispiel der Wortbildungssuffixe zur Bildung des Elativs in den romanischen Sprachen, die sich vom lateinischen Superlativsuffix herleiten (vgl. Seewald 1996: 17, Schpak-Dolt 2012: 41, Thiele 1981: 118). Rainer (1993: 41) rechnet die Elativbildung zu den Wortbildungsverfahren und argumentiert u.a. damit, dass dem Elativsuffix das Derivationssuffix zur Adverbbildung folgen kann (span. -mente). Neben der flexionsmorphologischen Möglichkeit der Komparation hat sich in den Einzelsprachen ein reiches und differenziertes Inventar von Wortbildungsmustern zum Ausdruck der Graduierung von Adjektiven herausgebildet. Dabei graduieren die Wortbildungen „die durch die Ausgangseinheiten bezeichneten Eigenschaften differenzierter als die Komparation, indem sie der Abstufung zusätzliche semantische Nuancierungen und emotional wertende Komponenten hinzufügen. Graduiert werden durch Wortbildung auch solche Adjektive, die sich der flexionsmorphologischen Graduierung normalerweise entziehen, wie z.B. Farbadjektive“ (Barz 2009: 743). Daneben kann die Graduierung in vielen Sprachen, vor allem in der mündlichen Kommunikation, auch durch lexikalische Mittel ausgedrückt werden (dt. sehr, furchtbar, schrecklich, total, engl. very ‘sehr’, terribly ‘schrecklich’, ital. straordinariamente ‘außergewöhnlich’), vgl. dazu auch Cuzzolin/Lehmann (2004: 1217). Hannelore Poethe

→ Graduierung; Komparation; Steigerungspräfix; Superlativform; Superlativmorphem

⇀ Elativ (HistSprw; Lexik; Gram-Formen) ⇁ elative (Typol)

🕮 Autorenk. [unter Leit. v. L. Wilske 1984] Die russische Sprache der Gegenwart. Bd. 4: Lexikologie. 2., unveränd. Aufl. Leipzig ◾ Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Cuzzolin, P./ Lehmann, C. [2004] Comparison and gradation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.2). Berlin [etc.]: 1212–1220 ◾ Eisenberg, P. [2013] Grundriss der deut-

schen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 4., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart [etc.] ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Gallmann, P. [2016] Die flektierbaren Wortarten. In: Duden. Die Grammatik. 9., vollst. überarb. u. aktual. Aufl. Berlin: 149–394 ◾ Hentschel, E./ Weydt, H. [2013] Handbuch der deutschen Grammatik. 4., vollst. überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Rainer, F. [1993] Spanische Wortbildungslehre. Tübingen ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin ◾ Schpak-Dolt, N. [2012] Einführung in die Morphologie des Spanischen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Seewald, U. [1996] Morphologie des Italienischen. Tübingen ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig.

Elision

≡ Tilgung ⇀ Elision (HistSprw; Phon-Dt)

elliptisches Kompositum

Kompositum, bei dem eine Konstituente aufgrund ihrer formalen Gleichheit zu einer parallelen Form in einer koordinierten Struktur weggelassen wurde. ▲ elliptical compound: compound in which one constituent has been omitted by virtue of its formal identity with a parallel form in a coordinated structure. Als Fälle von prosodischer Lückenbildung betrachtet Booij (2002: 171) die elliptischen Formen von explizit markierten, beigeordneten Komposita, veranschaulicht durch einerseits Wespenund Bienenstiche, Haupt- und Nebenbetonung und lang- oder kurzfädig (vgl. Höhle 1982: 98ff.), bei denen die zweite Konstituente der ersten Koordinate ausgelassen wurde, und durch andererseits Regelordnung und -Anwendung und Männerschuhe und -Mäntel, bei denen die erste Konstituente der zweiten Koordinate fehlt, als Fälle von prosodischer Lückenbildung. Die ersten Beispiele veranschaulichen rückwärtsgewandte Lückenbildung, die zweiten vorwärtsgerichtete Lückenbildung auf der morphologischen Ebene der Grammatik. Lückenbildung ist jedoch ein allgemeiner Prozess, der in einer parallelen Konstruktion eine wiederholte Form, die auf der Ebene der syntaktischen Phrasenstruktur schwer zu definieren ist, reduziert (vgl. z.B. Hartmann 2000). Lückenbildung auf der morphologischen Ebene ist aber nicht spezifisch für koordinierte Kompositastrukturen, sondern tritt auch bei nicht-kohä-

E

endozentrisches Kompositum 268

E

renten Affixen auf, wie niederl. zicht- en tastbaar ‘seh- und greifbar’ oder auch engl. child- and homeless ‘kinder- und obdachlos’ und pre- and post war ‘Vor- und Nachkrieg’ aus Plag (2003: 84). Nicht-kohärente Affixe sind Affixe, die ein unabhängiges prosodisches Wort bilden, vgl. Booij (2002) und Höhle (1982). Diese formale Beschränkung schließt schlecht geformte Reduzierungen wie *langfad- und kurzfädig und *computer- and formalize aus.

→ Kompositum; nicht-kohärentes Suffix ⇁ elliptical compound (Woform)

Susan Olsen

🕮 Booij, G. [2002] The Morphology of Dutch. Oxford ◾ Hartmann, K. [2001] Right Node Raising and Gapping. Interface Conditions on Prosodic Deletion. Amsterdam ◾ Höhle, T. [1982] Über Komposition und Derivation. Zur Konstituentenstruktur von Wortbildungsprodukten. In: ZS 1: 76–112 ◾ Plag, I. [2003] Word-Formation in English. Cambridge.

endozentrisches Kompositum

Kompositum, das ein Hyponym seiner Kopfkonstituente darstellt. ▲ endocentric compound: compound which stands in a relation of hyponymy to its head constituent „Endozentrisches Kompositum“ ist ein durch Bloomfield (1933: 235f.) bekannt gewordener Terminus zur Bezeichnung einer Konstruktion, die ein Hyponym seiner Kopfkonstituente darstellt. Bloomfield illustriert den Terminus anhand der engl. Komposita blackbird ‘Schwarzdrossel’ und door-knob ‘Türknauf’, die er als endozentrisch klassifiziert, weil sie eine Unterart von engl. bird bzw. knob denotieren. Diese Beispiele stehen in einer Hyponymie-Relation zu ihren Kopfkonstituenten; d.h. sie denotieren subordinierende Konzepte ihrer Kopfkonzepte. Weitere Beispiele von endozentrischen Komposita sind Gartenbank, Hundesteuer, Seidenbluse, Bierglas, Winterurlaub. In semantischem Gegensatz zu diesen endozentrischen Komposita stehen die exozentrischen Komposita, die zwar die gleiche formale (d.h. nominale) Funktion wie ihre Kopfkonstituenten erfüllen können, aber keine Hyponyme ihrer Köpfe konstituieren. Denn das Bezeichnete liegt außerhalb des Kopfs, der nicht das Hyperonym des Kompositums darstellt. Besonders typische Beispiele für exozentrische Komposita im Germanischen sind Possessivkomposita wie Dickbauch, Plattfuß, Kleingeist. Obwohl die Begriffe endozentrisch und exo-

zentrisch in der modernen Linguistik meist auf Bloomfield (1933) zurückgeführt werden, sind sie schon älter. Sie entstammen der historischen Sprachwissenschaft des 19. Jh. Bis zur Prägung der neuen Termini waren die Bezeichnungen sekundäre vs. primäre bzw. mutierte vs. nicht-mutierte Komposita gängig. Darin spiegelt sich die Auffassung, dass die Possessivkomposita sekundär aus zugrundeliegenden Determinativkomposita durch eine Transposition zu Adjektiven entstanden seien. Aleksandrow (1888: 110) war der erste, der die Bezeichnungen exozentrisch vs. esozentrisch in seiner Dissertation zu den nominalen Komposita im Litauischen verwendete. Danach sind diese Termini wohl wegen ihrer Neutralität gegenüber konkurrierenden Entstehungstheorien von anderen Sprachwissenschaftlern wie etwa Brugmann (1905/06) übernommen und in der Form exozentrisch vs. endozentrisch bekannt geworden (vgl. Lindner 2019: 21). Susan Olsen

↔ exozentrisches Kompositum; Possessivkompositum → § 22; Determinativkompositum; Kompositum; Kopf; mutiertes Kompositum; Wortbildungshyponymie

⇀ endozentrisches Kompositum (Lexik) ⇁ endocentric compound (Woform; Typol)

🕮 Aleksandrow, A. [1888] Litauische Studien I: Nominalzusammensetzungen. Diss. Dorpat ◾ Bloomfield, L. [1933] Language. London ◾ Brugmann, K. [1905/06] Zur Wortzusammensetzung in den idg. Sprachen. In: IdgF 18: 59–76 ◾ Lindner, T. [2019] Historische Metalinguistik I: Indogermanische Kompositionslehre. Salzburg [etc.] ◾ Melloni, C. [2020] Subordinate and Synthetic Compounds in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 700–726 ◾ Moyna, M. [2020] Exocentricity in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 742–764 ◾ Olsen, S. [2015] Composition. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 364–386.

Endwort

unisegmentales Kurzwort, das aus dem letzten Teil einer bedeutungsgleichen längeren lexikalischen Einheit besteht. ▲ fore-clipping: unisegmental short form consisting of the last part of a longer lexical unit equivalent in meaning. Man unterscheidet im Rahmen der Kurzwortbildung verschiedene Kürzungsprodukte; solche aus einem zusammenhängenden Teil der Vollform nennt man unisegmentale Kurzwörter. Wird für die Bildung eines unisegmentalen Kurzworts der vordere Teil der Vollform getilgt, dann wird der

269 Epenthese verbleibende silbenwertige hintere Teil als „Endwort“ oder auch „Schwanzwort“ und „Schwanzform“ bezeichnet. Es handelt sich um einen im Dt. relativ seltenen Typ der Kurzwörter, als geläufige Beispiele gelten Bus (für ›Autobus‹) und Cello (für ›Violoncello‹). Endwörter können nach Kobler-Trill (1994) nochmals unterteilt werden in den „Typ Cello“ und den „Typ Rad“; bei Ersteren bleibt kein (dt.) Morphem übrig, bei Letzteren handelt es sich um den letzten Teil eines Kompositums (Rad aus ›Fahrrad‹). Ob es sich dabei allerdings tatsächlich um Endwörter als einen Kurzwörtertyp handelt, ist umstritten. Im Engl. und im Frz. finden sich ebenfalls nur wenige Endwörter (bus wie im Dt. in beiden Sprachen, weiter z.B. engl. plane für ›aeroplane‹, phone für ›telephone‹, van für ›caravan‹ oder gator für ›alligator‹). Häufiger scheinen sie in den skandinavischen Sprachen zu sein; Nübling in Nübling/Duke (2007) weist sie als einen recht produktiven Typ der Wortbildung im Isl. nach (z.B. bill für ›automobil‹, flensa für ›influensa‹, krati für ›sósíaldemokrati‹, retta für ›sígaretta‹). Anja Steinhauer ≡ Schwanzform; Schwanzwort → § 29; Kurzwort; Kurzwortbildung; unisegmentales Kurzwort; Wortkürzung ⇀ Endwort (Lexik)

🕮 Bär, J.A./ Roelcke, T./ Steinhauer, A. [Hg. 2007] Sprachliche Kürze. Konzeptuelle, strukturelle und pragmatische Aspekte. Berlin [etc.] ◾ Kobler-Trill, D. [1994] Das Kurzwort im Deutschen. Eine Untersuchung zu Definition, Typologie und Entwicklung. Tübingen ◾ Nübling, D./ Duke, J. [2007] Kürze im Wortschatz skandinavischer Sprachen. Kurzwörter im Schwedischen, Dänischen, Norwegischen und Isländischen. In: Bär, J.A./ Roelcke, T./ Steinhauer, A. [Hg.] Sprachliche Kürze. Konzeptuelle, strukturelle und pragmatische Aspekte. Berlin [etc.]: 227–263.

Entähnlichung ≡ Dissimilation

Entgleichung

≡ Dissimilation

Entlehnung

→ Fremdwortbildung ⇀ Entlehnung (Lexik; HistSprw)

Epenthese

Einfügung von Vokalen oder Konsonanten als Gleitlaut.

▲ epenthesis: insertion of vowels or consonants as a glide.

Unter Epenthese zu gr. ep-én-thesis ‘Einfügung, Einschaltung, Zwischenschaltung’, welcher Begriff sich gr. epi ‘in, nach ... hin’ sowie thesis ‘das Setzen’ verdankt (auch: Lauteinschaltung, Lauteinschub), versteht man vor allem die Einfügung von Vokalen oder Konsonanten als Gleitlaut in ein morphologisch bzw. silbenstrukturell komplexes Wort zwischen Konsonanten im In- und Auslaut ohne etymologische Motivation, um dessen Aussprache zu erleichtern. So lautet die Ableitung von Namen mittels des Suffixes -lich nicht *namenlich, sondern namentlich; die adverbiale Ableitung von hoffen, hoffentlich, müsste wortgeschichtlich eigentlich *hoffenlich lauten; man vergleiche auch öffentlich zu offen, morgendlich zu morgen, jemand < mhd. ieman. Aus mhd. spinnel hat sich Spindel entwickelt, in lat. emptus ist das p eingeschoben und in Arbeitsamt wie Zeitungsbote kann der Charakter des -s- als Fugenelement bereits daran erkannt werden, dass das Paradigma der beiden Wörter im Genitiv kein -s aufweist, sondern vielmehr Endungslosigkeit. Die vokalische Epenthese wird auch als Vokaleinschaltung, Vokalinfigierung oder Vorklang bezeichnet. So wird für das Altiranische unter Epenthese das durch ein i, u usw. der folgenden Silbe bewirkte Hervorklingen eines i, u nach dem Vokal der vorhergehenden Silbe verstanden. In frz. campagne, gesprochen [kaṅpajnj], klinge das j nicht bloß nach, sondern auch vor (Knobloch 1986: 801). In einzelnen idg. Sprachen wird i- und u-Epenthese unterschieden, wobei die durch den nachfolgenden Vokal hervorgerufene Palatalisierung oder Labialisierung einer Konsonanz die Entstehung eines i- oder u-Diphthongs in der vorhergehenden Silbe zur Folge gehabt habe. Beispiele sind port. euga < lat. equa, raiva < *rabi̯ a zu lat. rabies. Dabei fällt der verursachende Laut teilweise später wieder fort (Knobloch 1986: 801f.). Als Epenthese ist auch die Entfaltung des germ. u vor silbenbildendem ḷ des Idg. (idg. pḷnos > urgerm. fulnaz) aufgefasst worden (Szulc 1987: 15), womit das silbenbildende ḷ seine Funktion aufgebe. Daneben werden sprachhist. bedingte Laute, auch in der Entwicklung von Syntagmen oder analytischen Formen, als Produkte der Epenthese

E

Epikoinon 270

E

bezeichnet, so das epenthetische n in altslav. sъniti ‘zusammenkommen’, das t in frz. a-t-il < lat. habet ille, das d in span. vendré (vgl. frz. vendrai) < ven’ré < lat. venire habeo, das a in frz. canif < germ. knīf. Das epenthetische l im Slaw. wird als Auswirkung eines ursprünglichen j auf Labiale verstanden, so in russ. korablj ‘Schiff’, das sich mit mgriech. καράβιον vergleicht. Dieser Laut wird auch als euphonisches l bezeichnet (Knobloch 1986: 802). Eckhard Meineke ≡ excrescence; Lauteinschaltung; Lauteinschub; Svarabhakti → Einfügung; Fugenelement; Infix ⇀ Epenthese (HistSprw; Phon-Dt) ⇁ epenthesis (Phon-Engl)

🕮 Althaus H.P./ Henne, H./ Wiegand H.E. [Hg. 1980] Lexikon der Germanistischen Linguistik. 2., vollst. neu bearb. und erw. Aufl. Tübingen ◾ Giegerich, H. [1987] Zur Schwa-Epenthese im Standarddeutschen. In: LB 112: 449–469 ◾ Hall, T.A. [1992] Syllable Final Clusters and Schwa Epenthesis in German. In: Eisenberg, P./ Ramers, K.H./ Vater, H. [Hg.] Silbenphonologie des Deutschen. Tübingen: 208–245 ◾ Knobloch, J. [Hg. 1986] Sprachwissenschaftliches Wörterbuch. Bd. 1: A-E. Heidelberg ◾ Szulc, A. [1987] Historische Phonologie des Deutschen. Tübingen ◾ van Lessen Kloeke, W.[1982] Deutsche Phonologie und Morphologie. Merkmale und Markiertheit. Tübingen.

Epikoinon

auf Lebewesen referierendes Nomen, das unabhängig von der Genusmarkierung weibliche als auch männliche Personen oder Tiere bezeichnen kann. ▲ epicene: noun referring to a living being and able to denote both a female or male person or animal independently of its own grammatical gender. Ein Epikoinon zu gr. epí-koinos ‘gemeinsam’ (engl. epicene, frz. épicène ‘beiderlei Geschlechts’; oV: Sg. Epicönum, Pl. Epicöna) ist ein auf Lebewesen referierendes Nomen, das ohne Wechsel des grammatischen Genus oder anders gesagt unabhängig von einer Markierung des Genus sowohl weibliche als auch männliche Personen oder Tiere bezeichnen kann, so etwa die Person, die Eule, die Ratte, span. el pájaro ‘der Vogel’. Demgegenüber würden bei Aktualisierung der Opposition die Ente – der Erpel, die Katze – der Kater, der Löwe – die Löwin geschlechtsdifferenzierende Substantive vorliegen, obwohl auch hier die Ente, die Katze und der Löwe generisch gebraucht werden können. Die zuvor genannten Bezeichnungen Person, Eule, Ratte können aber diese Geschlechtsdifferenzierung über ein weiteres,

geschlechtsspezifisches Lexem *Personin, *Eulerich oder *Ratterich gar nicht erst bei Bedarf aufbauen, abgesehen davon, dass die Bildung die Rättin durch den gleichnamigen Roman von G. Grass verbreitet wurde. Es sind allenfalls kreative Scherzbildungen denkbar, wie das etwa bei der Gast – *die Gästin bereits belegt ist. Allerdings ist die Bildung gestin bereits in der Nürnberger Polizeiordnung aus dem 15. Jahrhundert überliefert: ob auch einich gast oder gestin halbe geheffte tuch herprechte (DRW s.v. Gästin); speziell die Bildung Gästin wird auch von Pusch (2011: 14f.) aus dem Kreis der feministischen Linguistik propagiert. Vom System her ist dagegen nichts einzuwenden; es ist eine Angelegenheit der Norm, ob eine solche Bildung akzeptiert werden wird, wie auch das fraglos gebräuchliche Besucherin zeigt. Allerdings kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass sich bei bestimmten von feministischer Seite propagierten Bildungen die Konnotation des Närrischen einstellt. Als eine Art Epikoinon ist auch die lateinische Bezeichnung parentes aufgefasst worden, weil die pluralische Bildung im Plural Maskulinum das Maskulinum und das Femininum zusammenfasse.

→ Movierung ⇀ Epikoinon (HistSprw; Lexik)

Eckhard Meineke

🕮 Bär, J.A. [2004] Genus und Sexus. Beobachtungen zur sprachlichen Kategorie »Geschlecht«. In: Eichhoff-Cyrus, K.M. [Hg.] Adam, Eva und die Sprache. Beiträge zur Geschlechterforschung. Mannheim [etc.]: 148–175 ◾ DRW = Deutsches Rechtswörterbuch. [https://drw-www.adw.uni-heidelberg.de/drw/ info; letzter Zugriff 10.06.2021] ◾ Hoberg, U. [2004] Grammatik des Deutschen im europäischen Vergleich. Das Genus des Substantivs. Mannheim ◾ Knobloch, J. [Hg. 1986] Sprachwissenschaftliches Wörterbuch. Bd. 1: A-E. Heidelberg ◾ Pusch, L.F. [2011] Deutsch auf Vorderfrau. Sprachkritische Glossen. Göttingen.

episodisches Linking

semantische Restriktion, welche besagt, dass der Referent eines abgeleiteten Nomens über einen bestimmten Zeitraum hinweg an einem durch den Stamm bezeichneten Ereignis beteiligt sein muss. ▲ episodic linking: semantic restriction according to which the referent of a derived noun must be involved in the event referred to by the stem for a certain period of time. Der Begriff des episodischen Linkings wurde von Barker (1998: 711ff.) für die Beschreibung von

271 Erleichterungsrückbildung Personenbezeichnungen, die das Suffix -ee aufweisen, eingeführt. Die meisten Derivate dieser Art sind dadurch gekennzeichnet, dass sich ihre Referenten in einer passiven Situation befinden (z.B. trainee ‘someone who is being trained for a job’, addressee ‘the person a letter, package etc. is addressed to’, laughee ‘someone who is laughed at’). Darüber hinaus existieren aber auch solche -ee-Bildungen, deren Referenten aktiv an dem durch den Verbstamm bezeichneten Ereignis beteiligt sind (z.B. escapee ‘someone who has escaped from somewhere’, pledgee ‘someone who pledges funds to a charity’, signee ‘someone who has signed a contract or register’). Durch episodisches Linking wird eine einheitliche semantische Beschreibung aller auf -ee endenden Personenbezeichnungen erzielt. So ist z.B. ein Individuum nur dann für die Personenbezeichnung trainee qualifiziert, wenn es über einen bestimmten Zeitraum hinweg an einem durch das Verb to train bezeichneten Ereignis partizipiert. Die Art der Beteiligung ist dabei unerheblich. Wichtig ist hingegen der Zeitfaktor, da die Extension englischer -ee-Bildungen durch die jeweilige Dauer der Beteiligung bestimmt wird. Da ein durch to train bezeichnetes Ereignis zeitlich begrenzt ist, verbleibt der Auszubildende, d.h. der Referent von trainee, nur während seines Ausbildungsverhältnisses in der Extension der Personenbezeichnung trainee. Nach Abschluss der Ausbildung trifft diese Personenbezeichnung nicht mehr auf ihn zu. Die Referenten von adoptee oder retiree werden hingegen von einem bestimmten Zeitpunkt an dauerhaft durch die im Verbstamm genannten Ereignisse geprägt. Die zwischen der Dauer der Beteiligung an einem durch den Verbstamm bezeichneten Ereignis und der Extension von -ee-Bildungen bestehende Beziehung determiniert den episodischen Charakter dieser Personenbezeichnungen.

→ nomen patientis; Suffix

Heike Baeskow

🕮 Barker, C. [1998] Episodic -ee in English: A thematic role constraint on new word formation. In: Lg 74/4: 695–727.

Ergebnisbezeichnung ≡ nomen acti

Erleichterungsrückbildung

sekundäre Rückbildung, die eine vorausgehende Suffixableitung ersetzt.

▲ secondary back-formation: backformation which

supplements a previous suffix derivation.

Von Henzen (1965: 243) und Erben (1993: 34) verwendeter Begriff für Fälle wie die Rückbildung Erweis, die neben Erweisung auf dem Verb erweisen beruht. Wenn Erleichterungsrückbildung vorliegen würde, wäre zuerst die -ung-Ableitung Erweisung erzeugt worden und dann die morphologisch weniger komplexe und insofern erleichterte Rückbildung Erweis. So auch Ausdrückung/Ausdruck oder Einführung/Einfuhr (so noch Jung 1968: 409), Ausdrückung/Ausdruck, Auslesung/Auslese, Vollziehung/Vollzug (Knobloch 1986: 828). Der Begriff wird von Fleischer/Barz (1992: 52) mit dem Argument abgelehnt, dass es zu viele Paare wie das genannte als nach zwei verschiedenen morphologischen Modellen gebildete deverbale Substantive als voneinander unabhängige Produkte vom gleichen Verb gebe, als dass man die von Erben postulierte Entwicklungsrichtung annehmen müsste. Nur eingehende historische Recherchen könnten in diesem oder jenem Einzelfall die -ung-Bildung als primär erweisen. Das müsse aber immer noch nicht heißen, dass sie die konkrete Ausgangsvariante für die kürzere Bildung gewesen sei. Die Erleichterungsrückbildung kann ungeachtet dieses Einwandes bei Wörtern der Wortarten Substantiv (siehe oben), Adjektiv und Verb wenn nicht nachgewiesen, so doch als möglich angenommen werden. So würden bei den Adjektiven wahrhaftiglich > wahrhaftig, nutzbarlich > nutzbar und genialisch > genial die Suffixe -lich und -isch getilgt worden sein. Simmler (1998: 638) nimmt an, dass bei -lich die Suffixtilgung damit zusammenhängt, dass dieses Suffix im Frnhd. ein Mittel zur Adverbbildung war, was sich beim Übergang vom Adverb zum Adjektiv als unnötig erwiesen habe. Bei den Adjektiven wahrhaftig und wahrhaftiglich besteht im Frnhd. noch ein synchrones Nebeneinander mit deutlich höherer Gebrauchshäufigkeit von wahrhaftig. Demgegenüber hat der Gebrauch von nutzbar den von nutzbarlich abgelöst, so dass die Annahme einer Rückbildung (natürlich) nur noch durch die Berücksichtigung der sprachgeschichtlichen Entwicklung zu erkennen ist. Bei genial und genialisch ist noch ein Nebeneinander beider Adjektive

E

Ersatzprobe 272 vorhanden, wobei aber genial deutlich dominant ist (vgl. Simmler 1998: 638 mit weiterer Literatur). Eine verbale Erleichterungsrückbildung nimmt Erben (1993: 34) bei lacken neben lackieren an (vgl. Simmler 1998: 639). Allerdings ist lacken in der Gemeinsprache ungebräuchlich.

E

singular

plural

Bedeutung

/ɡas/

/ɡasn/

Straße

/ʃul/

/ʃuln/

Synagoge

/ʃturəm/

/ʃturəms/

Sturm

/kiʃn/

/kiʃns/

Kissen

/vant/

/vent/

Wand

/kop/

/kep/

Kopf

nig überzeugend.) Die Bezeichnung ersetzendes Morph (oder ungenau ersetzendes Morphem) beruht auf der Annahme, dass eine solche Ersetzungsoperation als Ausdruck eines Minimalzeichens zulässig ist, z.B. /a→e/ ‘plural’ (s. replacive morpheme bei Nida 1948: 440f. und schon substitution-alternant und substitution-feature bei Bloomfield 1933: 216f.). Die Substitution von Vokalen bezeichnet man, falls sie assimilatorisch ist, oft als Umlaut, Mutation oder engl. metaphony, sonst als Ablaut, Gradation oder engl. apophony (was jedoch auch in einem weiteren Sinn verwendet werden kann); bei Konsonanten scheint die Präferenz für Mutation oder Gradation zum Teil sprachabhängig zu sein. In der deutschsprachigen Wortbildungslehre findet man auch den Ausdruck implizite Derivation. Die Substitution suprasegmentaler Merkmale wird manchmal mit der Addition solcher Merkmale unter Termini wie suprasegmentales Morph oder Suprafix zusammengefasst, und manche segementalen Substitutionen lassen sich auch suprasegmental analysieren (s. zu Terminologie, Phänomenen und theoretischen Ansätzen Lieber 2000; vgl. auch Davis/Tsujimura 2014: 209–217; Mugdan 2015: 275f.; Stewart 2020: 841–847). Gegenüber der Anfügung eines Affixes hat Substitution als morphologischer Prozess den Nachteil, nicht konstruktionell ikonisch zu sein, d.h. dem Mehr an Inhalt entspricht kein Mehr an Ausdruck. Andererseits ist sie ökonomischer: Trotz des zusätzlichen Inhalts wird der Ausdruck nicht länger. Das mag erklären, warum Substitution in manchen Sprachen durchaus eine bedeutende Rolle spielt. Allerdings ist sie oft sprachhistorisch sekundär. So ist im Jiddischen und vielen oberdeutschen Dialekten die Pluralbildung durch Substitution das Ergebnis einer typischen Abfolge von phonologischen Sprachwandelprozessen, wie sie Tab. 2 am Beispiel des Plurals von Gast schematisch darstellt:

/zun/

/zin/

Sohn

Tab. 2: Von Affigierung zu Substitution

Eckhard Meineke

→ Rückbildung

🕮 Erben, J. [1993] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 3. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [1992] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen ◾ Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Jung, W. [1968] Grammatik der deutschen Sprache. 3., unveränd. Aufl. Leipzig ◾ Knobloch, J. [Hg. 1986] Sprachwissenschaftliches Wörterbuch. Bd. 1: A-E. Heidel ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin.

Ersatzprobe

≡ Wortbildungsparaphrase ⇀ Ersatzprobe (Sprachdid)

ersetzendes Morph

Morph, d.h. Minimalzeichen, dessen Ausdruck eine Ersetzungsoperation ist. ▲ replacive morph: morph, i.e. minimal sign, whose expression is an operation of replacement. Für ein Item-and-Arrangement-Modell der Morphologie, das jede Äußerung vollständig und restlos als Verkettung von Minimalzeichen darstellen will, sind Fälle wie die in Tab. 1 dargestellten jiddischen Plurale eine Herausforderung. Tab. 1: Jiddische Plurale

Während in den ersten Beispielpaaren die Suffixe /n/ ‘plural’ bzw. /s/ ‘plural’ erkennbar sind, wird bei /vent/, /kep/ und /zin/ der Inhalt ‘plural’ nicht durch eine hinzugefügte Phonemfolge ausgedrückt, sondern offenbar durch eine Ersetzung von Phonemen der Basis. (Andere Analysen, die z.B. Infixe oder Nullsuffixe annehmen, sind we-

Phase

Plural

Affigierung

/ɡast-i/

phonologisch konditionierte Stamm-Allomorphie /ɡest-i/ (nach /a/→/e/ vor /i/) morphologisch konditionierte Stamm-Allomorphie (nach Zusammenfall der auslautenden Vokale in /ə/)

/ɡest-ə/

Substitution (nach Verlust von auslautendem /ə/) /ɡest/

273 Ersetzungsbildung In einer weiteren Phase wurde die Substitution sogar analog auf Substantive ausgedehnt, die ursprünglich keinen Umlaut hatten, z.B. jidd. /toɡ/ ‘Tag’ – /teɡ/ ‘Tage’, /ʃux/ ‘Schuh’ – /ʃix/ ‘Schuhe’; nachdem sie zu einem Charakteristikum des einzelsprachlichen Systems geworden war, konnte sie sich gegenüber der universalen Präferenz für Affigierung behaupten. Häufig betrifft die Substitution eine bestimmte Klasse von Phonemen und besteht in der Ersetzung eines einzelnen Merkmals. Beispielsweise sind im Jiddischen /o/ und /u/ die beiden hinteren (und runden) Vokale, deren Ersetzung durch die entsprechenden vorderen (und breiten) Vokale /e/ bzw. /i/ als [+hinten]→[‑hinten] beschrieben werden kann. Die Ersetzung von /a/ durch /e/ passt jedoch nicht ganz dazu, und auch andere Substitutionen weisen oft phonologische Unregelmäßigkeiten auf (s. Lieber 2000: 572). Von der Substitution als Träger einer grammatischen Bedeutung sind die Fälle zu unterscheiden, in denen eine Ersetzung als Begleiterscheinung von Affigierung vorkommt (Bsp. /ɡest-ə/ in Tab. 2; vgl. Štekauer/Valera/Körtvélyessy 2012: 156–167) oder als ein rein phonologischer Prozess (Bsp. /ɡest-i/ in Tab. 2). Joachim Mugdan

→ Ablaut; Assimilation; implizite Derivation; Infix; Item-andArrangement-Modell; Morph; Mutation (1); Nullsuffix; Suprafix; suprasegmentales Morph; Umlaut

🕮 Bloomfield, L. [1933] Language. New York ◾ Davis, S./ Tsujimura, N. [2014] Non-Concatenative Derivation. Other Processes. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [Hg.] The Oxford Handbook of Derivational Morphology. Oxford: 190–218 ◾ Lieber, R. [2000] Substitution of segments and features. In: Booj, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 567–576 ◾ Mugdan, J. [2015] Units of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 235–301 ◾ Nida, E.A. [1948] The identification of morphemes. In: Lg 24: 414–441 ◾ Štekauer, P./ Valera, S./ Körtvélyessy, L. [2012] Word-Formation in the World’s Languages. A Typological Survey. Cambridge [etc.] ◾ Stewart, T.W. [2020] Stem change (apophony and consonant mutation) in morphology. In: Lieber, R. [Hg.] OEM. Vol. 2. New York: 841–855 .

Ersetzungsbildung

angenommene Wortbildungsart, bei welcher ein Morphem der Basis ersetzt werde. ▲ replacement coinage: supposed type of word-formation in which a morpheme of the base appears to have been replaced.

Als „Ersetzungsbildung“ bezeichnet Becker (1993) solche Wortbildungsprodukte, bei denen das Ausgangswort nicht dadurch modifiziert werde, dass man ihm ein Element hinzufüge, sondern dadurch, dass in ihm ein Affix oder der Stamm ersetzt werde. Ersetzungsbildungen hätten nicht die Struktur A > AB, sondern es gelte AB > AC (Becker 1993: 185). Bei Wortpaaren wie einpacken – auspacken, eintragen – austragen usw. liege eine Affixersetzung vor. Für diese Wörter sei aus semantischen Gründen eine affigierende Regel unangemessen (Becker 1993: 187). Eine semantische Motivierung werde nicht sichtbar. Stammersetzung liege vor bei Fällen wie werfen – Wurf, ziehen – Zug usw. Das Konzept wird auch auf die Beschreibung von Komposita ausgeweitet: Frau – Mann/Hausfrau – X > Hausmann; Wort – Schlüsselwort/Begriff – X > Schlüsselbegriff. Gegen das Konzept der „Ersetzungsbildung“ lassen sich Einwände vorbringen. Bildungen wie einpacken und auspacken sind jeweils von der Basis packen abgeleitet, auch wenn möglicherweise eine der Bildungen früher existierte und dann von ihr ausgehend ein Antonym gebildet worden sein sollte. Bei eintragen – austragen ‘aus der Liste entfernen’ ist dagegen durchaus eine Motivation über eintragen gegeben, weil nur diese Ableitung die Basisbedeutung ‘aufzeichnen’ vermittelt, nicht aber tragen. Dennoch handelt es sich um eine einfache Analogiebildung, bei der nichts „ersetzt“, sondern der Basis ein anderes Morphem hinzugefügt wird. Dass eine affigierende Regel unangemessen und eine semantische Motivierung nicht sichtbar sei, ist unzutreffend. Insoweit erscheint die traditionelle Bezeichnung als Proportionalanalogie gegenstandsadäquater. Bei werfen – Wurf oder ziehen – Zug handelt es sich um durch Ablaut und grammatischen Wechsel gebundene Wortpaare, die als traditionelle Korrelate in der sprachgeschichtlichen Stafettenkontinuität weitervermittelt werden, für die es aber keine synchrone produktive Ersetzungsregel gibt. Bei dem Fall Frau – Mann / Hausfrau – X > Hausmann verhält es sich ähnlich wie bei eintragen – austragen. Die Bildung Hausmann ist zwar eine Analogiebildung zu Hausfrau (zu der allerdings

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Erstbenennung 274

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bereits Hausherr existierte), aber nach diesem Vorbild reziprok aus Mann abgeleitet. Dass das entscheidende Movens solcher Bildungen die Analogie ist, zeigt sich insbesondere bei Wort – Schlüsselwort / Begriff – X > Schlüsselbegriff. Hier wird nicht in Schlüsselwort das Grundwort Wort durch Begriff ausgetauscht, sondern analog zur Bildung Schlüsselwort wird zu Begriff die Komposition Schlüsselbegriff erzeugt. Allgemein ist zu der Annahme von Ersetzungsbildungen zu sagen, dass die Bildung neuer Ableitungen und Komposita stets im sprachgeschichtlichen und funktionalen Umfeld erfolgt, in dem die Ausweitung und Differenzierung einer Bezeichnungsgruppe (Haustür, Terrassentür, Kellertür, Balkontür, Vordertür, Hintertür) ebenso vor dem Hintergrund bereits vorhandener Bildungen erfolgt wie die Erzeugung von Gegensatzpaaren (Eingang, Ausgang).

mailen, engl. to e-mail) und Eigenschaften (dt. allergiegetestet, ozonfreundlich, engl. emailable of a document: ‘able to be sent via email’/of a person: ‘contactable via email’). Zu den Erstbenennungen gehören auch notwendig gewordene Begriffsdifferenzierungen wie dt. Fahrer-, Beifahrer-, Seitenairbag oder frz. ordinateur personnel, ordinateur portable, ordinateur central etc. Abweichend hiervon versteht Bellmann (1988: 12) unter Erstbenennung jeden metakommunikativen Referenzakt, durch den ein sprachlicher Ausdruck einem Begriff zur künftigen Verwendung zugeordnet wird. Eine Differenzierung zwischen objektiven oder subjektiven Ausdrucksbedürfnissen (Erstbenennung vs. Zweitbenennung) erfolgt dabei nicht. Der metakommunikativen Referenz der Erstbenennung stellt Bellmann die außersprachlich orientierte, kommunikative Referenz der Nomination gegenüber.

→ Ablaut; Analogie; Derivation; implizite Derivation; Komposi-

Anja Seiffert ≡ objektive Ausdrucksnotwendigkeit → Benennung; Benennungslücke; Zweitbenennung

Eckhard Meineke

tion; Wortbildungsgruppe

🕮 Becker, Th. [1990] Analogie und morphologische Theorie. München ◾ Becker, Th. [1993] Morphologische Ersetzungsbildungen im Deutschen. In: ZS 12: 185–217 ◾ Paul, H. [1975] Prinzipien der Sprachgeschichte. 9., unveränd. Tübingen ◾ Plank, F. [1983] Morphologische (Ir-)Regularitäten. Aspekte der Wortstrukturtheorie. Tübingen.

Erstbenennung

lexikalische Einheit, mit der Sprecher auf neu aufgekommene oder erstmals begrifflich gefasste Gegebenheiten referieren. ▲ first denomination: lexical unit by means of which speakers refer to a novel entity or to an idea not previously conceived. Bei der Erstbenennung führen sachbedingte, „objektive Ausdrucksnotwendigkeiten“ (Erben 2006: 22) zur Wortneubildung. Die zu benennenden Gegenstände oder Sachverhalte sind insbesondere neu entwickelte Artefakte (dt. Plasmabildschirm, engl. lap-top ‘of a computer: small and light enough to be used on one's lap’), politische oder soziale Veränderungen (dt. Elterngeld, Jamaika-Koalition ‘Koalition von CDU/CSU, FDP und Grünen, nach den Farben Schwarz, Gelb und Grün in der Nationalflagge Jamaikas’), wissenschaftliche Erkenntnisse (engl. ozone hole/dt. Ozonloch), veränderte Wahrnehmungen (dt. Selbstakzeptanz, Selbstbild), aber auch neue Tätigkeiten (dt.

🕮 Barz, I./ Schröder, M. [1983] Wortbildungskonstruktionen als Benennungseinheiten. In: Fleischer, W. [Hg.] Entwicklungen in Wortbildung und Wortschatz der deutschen Gegenwartssprache. Berlin: 1–20 ◾ Bellmann, G. [1988] Motivation und Kommunikation. In: Munske, H.H./ von Polenz, P./ Reichmann, O./ Hildebrandt, R. [Hg.] Deutscher Wortschatz. Lexikologische Studien. Berlin [etc.]: 3–23 ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Wiegand, H.E. [1996] Über usuelle und nichtusuelle Benennungskontexte in Alltag und Wissenschaft. In: Knobloch, C./ Schaeder, B. [Hg.] Nomination – fachsprachlich und gemeinsprachlich. Opladen: 55–103.

erweitertes Suffix ≡ Suffixvariante

evaluativ

→ Augmentation; Diminuierung

excrescence

≡ Epenthese ⇀ excrescence (Phon-Dt)

exogene Wortbildung ≡ Fremdwortbildung

exogenes Morphem ≡ Fremdmorphem

275

exozentrisches Kompositum

exophorisches Morphem

Morphem mit deiktischer Funktion. ▲ exophoric morpheme: morpheme with a deictic function.

Zuweilen werden Morpheme mit einer beliebigen deiktischen Funktion als exophorisch bezeichnet, also solche, die relativ zum Ich-hier-jetzt-Ausgangspunkt des Sprecher zu interpretieren sind, wie du, dort, gestern (s. Bühler et al. 1973: 299). In einem engeren Sinn kann man anaphorische Morpheme (u.a. Demonstrativa), die auf etwas im Text bereits Erwähntes verweisen, von exophorischen unterscheiden, die sich auf eine – insbesondere durch eine Zeigegeste identifizierbare – Entität außerhalb des Textes beziehen. Im Deutschen werden dafür dieselben sprachlichen Mittel verwendet, z.B. Neben mir wohnt ein Lehrer; dieser [anaphorisch] Nachbar ist ein begeisterter Gärtner und dieser [exophorisch, mit Zeigegeste] Nachbar ist ein begeisterter Gärtner; das Koreanische hat dagegen dafür zwei verschiedene Demonstrativa (s. Ahn/Davidson 2018). Mit der Begründung, dass exophorische Morpheme lediglich eine Untergruppe der Grundmorpheme bilden und nicht einen gleichrangigen Morphemtyp, ist exophorisches Morphem als eigener Terminus für unnötig gehalten worden (Simmler 1998: 88).

→ Grundmorphem; Morphem

Joachim Mugdan

🕮 Ahn, D. / Davidson, K. [2018] Where pointing matters. English and Korean demonstratives. In: Hucklebridge, S./ Nelson, M. [eds.] NELS 48. Proceedings of the Forty-Eighth Annual Meeting of the North East Linguistic Society. Vol. 2. Amherst, MA: 15–24 ◾ Bühler, H. et al. [1973] Funkkolleg Sprache. Eine Einführung in die moderne Linguistik. Bd. II. Frankfurt/Main ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Berlin.

exozentrisches Kompositum

Kompositum, das kein Hyponym seiner Kopfkonstituente darstellt. ▲ exocentric compound: compound which does not form a hyponym of its head constituent. Exozentrisches Kompositum ist ein durch Bloomfield (1933: 235f.) bekannt gewordener Terminus zur Bezeichnung einer Konstruktion, die im Gegensatz zu einem endozentrischen Kompositum kein Hyponym seiner Kopfkonstituente darstellt. Bloomfield illustriert diesen Typ anhand

der engl. Komposita gadabout ‘Herumtreiber; lit. treiben+herum’ und turnkey ‘Gefängniswärter; lit. drehen+Schlüssel’. Diese Bildungen sind exozentrisch, weil das Denotat nicht mit dem Kopf identisch ist. Das Muster der romanischen Verb-Nomen-Komposita stellt eine Bildungsweise von Exozentrika dar, die produktiver ist als die Exozentrika der germanischen Sprachen (vgl. Ricca 2015), die meist als Possessivkomposita vorkommen, vgl. Dickkopf, Kleingeist, Plattfuß, Rotbart, Blauhelm, Koksnase usw. Weitere exozentrische Kompositatypen sind die Dvandvas im Sanskrit, die eine Gruppe von zwei oder mehr Einheiten denotieren vgl. ṛksāmé ‘Vers und Kirchengesang’ und kapotolukāú ‘Taube und Eule’. Die semantisch additiven Dvandvas repräsentieren eine der Bedeutungsgruppen der Ko-Komposita, die in Ostund Südostasien, Neuguinea und Mesoamerika vorkommen. Weitere Beispiele sind die kollektiven Komposita dāo-qiāng (Mandarin: ‘Waffen; lit. Schwert-Speer’) und xei-p'exi (Georgisch: ‘Körperglied; lit. Hand-Fuß’) sowie das skalare Kompositum srab-mthug (Tibetisch: ‘Dichte; lit. dünn-dick’), das durch die Benennung der zwei gegensätzlichen Pole einer Skala die Skala selbst bedeutet (vgl. Wälchli 2005). Obwohl die Begriffe endozentrisch und exozentrisch in der modernen Linguistik meist auf Bloomfield (1933) zurückgeführt werden, sind sie schon älter. Sie entstammen der historischen Sprachwissenschaft des 19. Jh. Bis zur Prägung der neuen Termini waren die Bezeichnungen sekundäre vs. primäre bzw. mutierte vs. nicht-mutierte Komposita gängig. Darin spiegelt sich die Auffassung, dass die Possessivkomposita sekundär aus zugrundeliegenden Determinativkomposita durch eine Transposition zu Adjektiven entstanden seien. Aleksandrow (1888: 110) war der erste, der die Bezeichnungen exozentrisch vs. esozentrisch in seiner Dissertation zu den nominalen Komposita im Litauischen verwendete. Danach sind sie wohl wegen ihrer Neutralität gegenüber konkurrierenden Entstehungstheorien von anderen Sprachwissenschaftlern wie etwa Brugmann (1905/06) übernommen und in der Form exozentrisch vs endozentrisch bekannt geworden (vgl. Lindner 2019: 21).

↔ endozentrisches Kompositum

Susan Olsen

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exozentrisches Verb-Nomen-Kompositum 276

→ § 22; Dvandva; Ko-Kompositum; Komposition; Kompositum; Metaphernkompositum; mutiertes Kompositum; Possessivkompositum; Wortbildungshyponymie ⇀ exozentrisches Kompositum (Onom; Lexik) ⇁ exocentric compound (Woform; Typol)

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🕮 Aleksandrow, A. [1888] Litauische Studien I: Nominalzusammensetzungen. Diss. Dorpat ◾ Bauer, L. [2009] Exocentric compounds. In: Morph 18: 51–74 ◾ Bloomfield, L. [1933] Language. London ◾ Brugmann, K. [1905/06] Zur Wortzusammensetzung in den idg. Sprachen. In: IdgF 18: 59–76 ◾ Lindner, T. [2019] Historische Metalinguistik I: Indogermanische Kompositionslehre. Salzburg [etc.] ◾ Melloni, C. [2020] Subordinate and Synthetic Compounds in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 700–726 ◾ Moyna, M.I. [2020] Exocentricity in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol.1. New York: 742–764 ◾ Olsen, S. [2015] Composition. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 364–386 ◾ Ricca, D. [2015] Verb-noun compounds in Romance. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 688–707 ◾ Scalise, S./ Guevara, E. [2006] Exocentric Compounding in a Typological Framework. In: LinLin 2: 185–206 ◾ Wälchli, B. [2005] Co-compounds and Natural Coordination. Oxford ◾ Wälchli, B. [2015] Co-compounds. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 707–727.

exozentrisches Verb-Nomen-Kompositum

Typ exozentrischer Komposita, die häufig in romanischen, aber nicht in germanischen Sprachen vorkommen und die aus einem verbalen Element und einem Argument dieses Verbs bestehen. ▲ Romance compound: type of exocentric compound, common in the Romance languages but not in Germanic, made up of a verbal element and an argument of that verb. Dieser Typ von Komposita ist charakteristisch für die Romania, weil exozentrische Verb-Nomen-Komposita in allen romanischen Sprachen vorkommen und in diesen Sprachen häufig auch die produktivste Kompositionsform sind. Im Englischen sind sie selten und unproduktiv. Es handelt sich um ein Muster, das zu mittelenglischen Zeiten aus dem Französischen eingeführt wurde, vgl. daredevil ‘Darausgänger’, scarecrow ‘Vogelscheuche’, killjoy ‘Spielverderber’. In anderen germanischen Sprachen kommen sie so gut wie nicht vor. Anstatt dessen verfügen die germanischen Sprachen über das produktive Muster der synthetischen Komposita, vgl. Fensterputzer, Gemüseverkäufer, Dosenöffner. Beispiele sind das frz. gratte-ciel ‘Wolkenkratzer; lit. kratz-Himmel’, das ital. lavapiatti ‘Geschirrspüler; lit. wasch-Teller’ und das sp. cuente chistes 'Witzerzähler; lit.

erzähl-Witze’, vgl. Ricca (2015) für eine ausführliche Besprechung dieses Kompositionstyps. Solche Komposita finden sich auch in nicht-indogermanischen Sprachen wie z.B. im Babungo, im Meithei und im Japanischen. Das japanische tsume-kiri ‘Nägelschneider; lit. schneid-Nägel’ ist ein Beispiel. Diese Bildungen sind exozentrisch, weil sie keine Hyponyme ihrer nominalen Konstituenten sind, obwohl sie sich wie Nomina verhalten. Sie bilden auch keine Hyponyme ihrer verbalen Konstituenten. In einigen Sprachen werden Wörter mit ähnlichen Bedeutungen durch Affigierung deriviert, in anderen, wie dem Deutschen und dem Englischen, werden sogenannte synthetische Komposita ähnlich verwendet, vgl. Geschirrspüler und dishwasher. Dies wirft die Frage auf, ob für diese exozentrischen Verb-Nomen-Komposita ein finales Nullmorphem anzunehmen ist, wie von Marchand (1969) für Englisch vorgeschlagen, diese Hypothese ist allerdings kontrovers. Es ist unklar, ob diese Unterschiede zwischen den einzelnen Sprachen typologisch bedingt sind.

Laurie Bauer ≡ Romance compound → § 22; exozentrisches Kompositum; Kompositum; Nullmorphem; synthetisches Kompositum; Wortbildungshyponymie ⇁ Romance compound (Woform)

🕮 Fradin, B. [2009] IE, Romance: French. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Compounding. Oxford: 417–435 ◾ Kornfeld, L.M. [2009] IE, Romance: Spanish. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Compounding. Oxford: 436–452 ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Melloni, C. [2020] Subordinate and Synthetic Compounds in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 700–726 ◾ Moyna, M. [2020] Exocentricity in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 742–764 ◾ Rainer, F./ Varela, S. [1992] Compounding in Spanish. In: RLing 4/1: 117–142 ◾ Ricca, D. [2015] Verb-noun compounds in Romance. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 688–707.

Expansion

Syntagma mit einem freien Morphem als Determinatum. ▲ expansion: syntagma with a free morphem as the determinatum. Nach Marchand (1969: 2) befasst sich Wortbildung mit dem Studium von analysierbaren Kombinationen („analysable composites“), die

277

explizite Derivation

er Syntagmen nennt. Linguistische Elemente werden zu einem Syntagma geformt, das eine Determinans-Determinatum-Struktur aufweist. Um die Haupttypen der Wortbildung zu definieren, setzt Marchand den Terminus Expansion ein, vgl. Marchand (1969: 11). Eine Expansion ist ein Syntagma, das ein freies Morphem als Determinatum enthält. Demgemäß gehören Komposita wie Dampfschiff und farbenblind (engl. steam boat und colorblind) und auch Präfigierungen wie engl. rewrite (und dt. einfahren) zur Klasse der Expansionen. Steamboat, colorblind und rewrite sind durch Modifikation erweiterte (expandierte) Versionen von boat, blind und write. Sind Determinans und Determinatum freie Morpheme, so ist das Syntagma ein Kompositum. Ist das Determinans ein gebundenes Morphem, so handelt es sich um eine Präfigierung. Wie spätere Generalisierungen auch festgehalten haben (vgl. die „IS A“ condition von Allen 1978 und die „righthand head rule“ von Williams 1981), geht der Begriff Expansion davon aus, dass das Determinatum eines Syntagmas die Kategorie der gesamten Kombination bestimmt. Enthält das Syntagma als Determinatum ein abhängiges Morphem, so gehört es nicht zur Klasse der Expansionen, sondern gilt als Derivation. Eine Kombination, die den Bedingungen für eine Expansion nicht genügt, gilt also eine Derivation. Da exozentrische Komposita wie birdbrain ‘dummer Mensch’ keine Expansionen von bspw. brain sind, fasst Marchand (1969: 13) sie nicht als Komposita auf, sondern als Pseudo-Komposita, d.h. als Derivation mit einem Nullmorphem als Determinatum: bird/brain/∅. Gewisse präfigierte Verben passen auch nicht zur Klasse der Expansionen. Dies gilt für denominale und privative Verben wie engl. encage und unbutton ‘einkerkern, aufknöpfen’ und dt. entfetten. Weil sie nicht Modifikationen von Verben sind, werden sie mit einem Nullmorphem als Determinatum analysiert (*un/button/∅) sondern als Pseudo-Präfigierungen aufgefasst (Marchand 1969: 134ff.) im Gegensatz zu den Präfixbildungen, die der Expansionsformel AB = B entsprechen wie einfahren und rewrite. Susan Olsen

→ Determinans-Determinatum-Struktur; exozentrisches Kompositum; Nullmorphem; righthand head rule

⇀ expansion (Phon-Dt; Textling; Lexik)

⇁ expansion (Phon-Engl)

🕮 Allen, M.R. [1978] Morphological Investigations. Diss. Storrs, CT ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of PresentDay English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Williams, E. [1981] On the Notions „Lexically Related“ and „Head of a Word“. In: LingInqu 12: 245–274.

explizite Ableitung ≡ explizite Derivation

explizite Derivation

Derivation, die durch Morpheme symbolisiert wird. ▲ explicit derivation: derivation that is symbolized morphologically. Bei einer engeren Fassung des Terminus geht es bei der Derivation um die Erzeugung komplexer Wörter, indem zu dem Grundmorphem oder Stamm eines Ausgangswortes, zu einem lexikalische Bedeutung tragenden aber nicht als selbstständiges Wort auftretendem Konfix (Agress-ion), zu einem bereits wortgebildeten Wort (etwa: Großvater > Ur-großvater > urgroßväter-lich; Simmler 1998: 491) oder einem Syntagma (Wellen brechen > Wellenbrech-er) ein nicht wortfähiges Formationsmorphem hinzugefügt wird oder deren mehrere dazutreten (zur Unterscheidung von Grund-, Formations- und Relationsmorphemen s. Simmler 1998: 38–53). Diese Wortbildungsmorpheme fügen der lexikalischen Bedeutung der Basis ein generelles semantisches Konzept hinzu oder betten sie vielmehr darin ein. So etwa: ‘jemand, der die in der Basis (Verb) bedeutete Tätigkeit ausübt’ im Fall eines nomen agentis wie Helfer zum Verb helf-, das man sich üblicherweise in der Lexikoneintragsform helfen vorstellt. Mit der Derivation kann wie in dem genannten Beispiel ein Wortartwechsel verbunden sein, muss es aber nicht. Das zeigen vor allem die Präfixbildungen wie etwa besprechen zu sprechen im verbalen Bereich oder Diminutivbildungen wie Brötchen zu Brot bzw. Movierungen (genusverändernde Ableitungen) wie Kassiererin zu Kassierer im substantivischen. Die Klassifizierung und Beschreibung von Derivationen beruht vor allem erstens auf formalen Kriterien im Hinblick auf die Arten der Basiswörter und die Gestalt und Position der hinzutretenden Affixe. Zweitens beruht sie auf semantischen Eigenschaften im Hinblick auf die semantischen Funktionen der Affixe und den sich daraus erge-

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explizite Derivation 278

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benden Paraphrasemodellen für ein bestimmtes morphologisches „Programm“. Drittens beruht sie auf den syntaktischen Eigenschaften im Hinblick auf die Wortarten von Basis und Ableitung (zur Derivation s. Simmler 1998: 491–640). Formale Klassifikationen der Derivation beziehen sich auf den Umfang bzw. die Gestalt der Derivate im Vergleich zur Basis. Dabei kann die Basis selbst ein Simplex oder auch eine komplexe Morphemkonstruktion sein. In Frage kommen im letzteren Fall komplexe Basen wie eine Komposition (Blumenkörb-chen), wobei aber nicht sicher ist, ob es sich nicht vielmehr um eine Komposition Blumen-körbchen handelt, eine Ableitung (vergnüg-lich), eine Partizipialform (Belebt-heit), ein (festes) Syntagma (Rotkreuzler < Rotes Kreuz) oder bei der Zusammenbildung ein Syntagma, dessen Bestandteile in der Ableitung nur teilweise erscheinen können (scharf machen > Scharfmacher; Fußball spielen > Fußballspieler/Fußballer). Auch lexikalisierte Sätze sind in seltenen Fällen als Basen denkbar (Ohne mich! > Ohnemichel). Zwischen der Basis und dem Derivat besteht in den meisten Fällen ausdrucksseitig das Verhältnis der Addition, das heißt es tritt ein Derivationsaffix als Suffix, als Präfix, als Zirkumfix oder als Infix hinzu. Die von Naumann/Vogel (2000: 933) in diesem Zusammenhang genannte Reduplikation (Bimbim) ist nur von der Wirkung her mit der Derivation zu vergleichen. Ausdrucksseitig gehört sie aber nicht hierher, da ja die „Basis“ verdoppelt wird und kein eigentliches Derivationsmorphem erscheint. Als Derivation in diesem Sinne kann allenfalls die partielle Reduplikation verstanden werden, wobei der Basis ein als solcher nicht selbstständiger Teil ihrer selbst hinzugefügt wird. Gleichfalls eigentlich nicht in den Bereich der Derivation gehören Ersetzungsprozesse wie die Suppletion (gut – besser – am besten), weil hier die Basis ausgetauscht wird. Sonderformen der Derivation sind die ausdrucksseitig identische Derivation, bei der eine Wortartänderung erzielt wird (Konversion) und die subtraktive Ableitung. Ferner werden suprasegmentale Prozesse und Permutationen bzw. die Metathese zum Bereich der Derivation gezählt (Naumann/Vogel 2000: 933). In den Sprachen der Welt ist die Derivation mittels Affixen am weitesten verbreitet. Zu beob-

achten ist dabei die einfache und die komplexe Affigierung. Bei der einfachen Affigierung ist die Suffigierung von der Präfigierung sowie der Infigierung zu unterscheiden. Bei der Suffigierung wird das Affix nach der Basis angefügt (dt. frei > Freiheit). Bei der Präfigierung steht das Affix vor der Basis (suchen > besuchen). Bei der Infigierung wird das Affix in die Basis eingefügt: Chrau (Vietnam) vŏh ‘wissen’ > v-an-ŏh ‘weise’ (Naumann/ Vogel 2000: 934). Bei der komplexen Affigierung oder Synaffigierung erfolgt die Hinzufügung einer Kombination formal getrennter Elemente. Dabei wird die semantische Wirkung des derivationellen Programms nur dann erzielt, wenn die beiden Morpheme zugleich auftreten (Synaffix). Der hauptsächliche Typ der Synaffigierung ist die Zirkumfigierung. Hierbei wird die Basis von einem Präfix und einem Suffix umschlossen; die Abfolge der Affixe ist also diskontinuierlich. Das trifft etwa zu für dt. Ge-sing-e zu sing-en oder für Bahasa (Indonesien) per-adab-an ‘Zivilisation’ zu adab ‘zivilisiert’ (Naumann/Vogel 2000: 934). Eine nichtdiskontinuierliche Spielart der Synaffigierung ist die Interfigierung. Dabei wird die Derivation formal durch das gleichzeitige Auftreten eines Präfixes oder Suffixes und eines nicht-diskontinuierlichen postpräfixalen oder präsuffixalen semantisch „leeren“ Affixes herbeigeführt. Beispiele für den letztgenannten Typ sind etwa it. banc-ar-ell(o) oder banc-ar-ozz(o) ‘little bench’ zu banc-(o) ‘bench’ (Naumann/Vogel 2000: 934). Die Transfigierung ist mit dem morphologischen Typus der Introflexion verbunden, der nur in den semitischen Sprachen vorkommt. Sie ist definiert als die Hinzufügung eines diskontinuierlichen Affixes zu einer ebenfalls diskontinuierlichen Basis. Dabei hängt eine üblicherweise trikonsonantische Wurzel, die als solche niemals autonom ist, mit einer Form zusammen, die aus vokalischen und/oder konsonantischen Segmenten (Transfix) besteht. Die Transfigierung wird oft von Suffigierung, Präfigierung oder Infigierung begleitet. Beispiele sind k-a-t-a-b ‘schreiben’ und k-i-t-aa-b ‘Buch’ aus dem modernen Arabisch, die auf die abstrakte Wurzel k-t-b ‘was mit schreiben zu tun hat’ bezogen sind. Da Derivation üblicherweise als eine morphologische Operation verstanden wird, die von konkreten autonomen Basen ausgeht, nicht aber abstrakten Wurzeln, kann die

279 transfixale Derivation auch als ein Sonderfall der vollständigen Affixsubstitution angesehen werden (Naumann/Vogel 2000: 934). Die vollständige Reduplikation vom Typus bimbim kann nicht als Derivation angesehen werden, weil hier kein nichtautonomes Affix hinzugefügt wird, sondern die autonome Basis. Die Hinzurechnung dieses Typs der Wortbildung zur Derivation ist demzufolge im Hinblick auf die Ausdrucksseite und den Status des „Affixes“ nicht überzeugend. Anders steht es hingegen scheinbar bei der (mit einem logisch schiefen Terminus benannten) partiellen Reduplikation, denn das der Basis entnommene Reduplikationselement ist nicht autonom (s.u.). Ungeachtet dessen können die Wirkungen der vollständigen Reduplikation, etwa Motu (Papua-Neuguinea) mero-mero ‘kleiner Junge’ zu mero ‘Junge’, denen der Derivation entsprechen, so dass hier ein Mixtum compositum oder eine Kontamination von formaler Komposition zweier ausdrucksseitig identischer Einheiten und inhaltlicher Derivation gegeben ist, das folglich eine eigene Kategorie jenseits von Komposition und Derivation erfordert. Dagegen ist die Zuordnung der partiellen Reduplikation, etwa Maori aahua-hua ‘gleichen’ zu aahua ‘Aussehen’, zur Derivation zwar insofern sachlich scheinbar unproblematisch, als das auftretende Partialreduplikat keine selbständige Lexikoneinheit ist. Zweifelhaft ist die Einordnung der partiellen Reduplikation in den Bestand der Derivation aber deshalb, weil dieses Partialreduplikat von der Gestalt der Basis abhängt und kein mit einem von der Gestalt der Basis unabhängigen Morphem symbolisiertes morphologisch-semantisches Programm vertritt. All das sollte Grund genug sein, die Reduplikation als eigenständigen Wortbildungsprozess aufzufassen (vgl. Naumann/ Vogel 2000: 935). Die Hinzufügung morphologischer Elemente ist der bedeutendste Fall der Derivation, weil sie die am häufigsten auftretenden Derivationstypen der Suffigierung und der Präfigierung umfasst. Für eine Reihe von Suffixen und Präfixen ist belegt, dass sie aus einem autonomen Wort entstanden, das an die Basis angefügt wurde, so dass daraus eine Komposition entstand. Im Lauf der sprachlichen Entwicklung hat das später Affix werdende Element den Prozess der Grammatikalisierung durchgemacht und so die meisten seiner seman-

explizites Derivat tischen Merkmale verloren. Dieser Prozess kann einhergehen mit einem teilweisen Verlust oder einer Veränderung der Ausdrucksgestalt. Grammatikalisierung fand nicht nur in der Vergangenheit statt, sondern ist von permanenter Natur. So können auch in der Gegenwartssprache Lexeme beobachtet werden, die im Wortbildungsbereich eine andere semantische Qualität aufweisen als in freier Verwendung, so etwa Werk ‘Fabrik, Mechanismus’/Schuhwerk ‘Schuhe’ (Kollektivum). Für bereits wie Affixe wirkende Elemente, die noch ein freies Lexem neben sich haben, wird der Ausdruck Affixoid (Präfixoid, Suffixoid) verwendet. Beispiele, die auf entsprechende Vorgänge in früheren Sprachstufe des Deutschen verweisen, sind etwa weiblich ‘das weibliche Geschlecht aufweisend, fraulich, einer Frau gemäß’ zu Weib < ahd. mhd. wīb ‘Frau’. Das heutige Adjektivsuffix -lich geht auf ein Substantiv līh ‘Körper’ zurück; die früheste Stufe des späteren Adjektivs ist das Pron.-Adj. wībilī(c)h ‘jede Frau’ bei Otfrid (Schützeichel 1995: 321), dessen Bildungsmotivation ‘jede der Frauen’ ist. Das Substantiv Antwort zu Wort zeigt ein Präfix Ant-, das mit einem freien Lexem verbunden werden kann, welches sich noch in der gotischen Präposition and ‘entlang, hin zu’ zeigt, die sich mit gr. anti ‘gegen’ vergleicht (Naumann/Vogel 2000: 936). Eckhard Meineke ≡ explizite Ableitung → § 23; Affixoid; Derivation; Grammatikalisierung; Grundmorphem; Infix; Komposition; Konversion; Partizip; Präfix; Reduplikation; subtraktive Morphologie; Suffix; Synaffix; Transfix; Wortart; Zirkumfix; Zusammenbildung 🕮 Lieber, R./ Stekauer, P. [eds. 2014]: The Oxford Handbook of Derivational Morphology. Oxford ◾ Naumann, B./ Vogel, P.M. [2000] Derivation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 929–943 ◾ Schützeichel, R. [1995] Althochdeutsches Wörterbuch. 5. Aufl. Tübingen ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin ◾ Spencer, A. [2015] Derivation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 301–321.

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Produkt einer expliziten Derivation. ▲ explicit derivative: product of explicit derivation. Der Gegenstand wird im Hinblick auf die in den Sprachen der Welt vorkommenden ausdrucksseitigen Ausprägungen der expliziten Derivate unter

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dem Stichwort „explizite Derivation“ sowie im Rahmen aller Arten der Ableitung im Synopseartikel „Derivation“ behandelt. Im Folgenden werden die Ausdrucksformen und semantischen Leistungen expliziter Derivate am Beispiel des Deutschen beschrieben. Was die Präfigierung des Substantivs betrifft bzw. die Erzeugung präfigierter Substantive aus Grundmorphemen anderer Wortarten, so stehen dafür in der deutschen Gegenwartssprache nur fünf primärsprachliche Formationsmorpheme zur Verfügung, die sich mit substantivischen Grundmorphemen oder Pseudomorphemen sowie in einem Fall mit verbalen Grundmorphemen verbinden lassen (Simmler 1998: 494–498). Diese sind aber sämtlich auch bei Adjektiven sowie hinsichtlich zweier Präfixe (ge- und miss-) auch bei Verben bezeugt. Es handelt sich um Erz(Erzschelm), Ge- (Geäst, Gewühl mit verbalem Grundmorphem), Miss- (Missmut), Un- (Unmut) und Ur- (Urbild). In Missetat kommt eine Variante von Miss- vor. Die Bildung Geländer ist insofern als gegenwartssprachliche Bildung mit einem Pseudomorphem zu bewerten, als sie auf mhd. gelender ‘Geländer’ zu lander ‘Stangenzaun’ beruht (vgl. Simmler 1998: 494). Gleichfalls ein substantivisches Pseudomorphem liegt vor bei Unflat zu mhd. vlāt ‘Sauberkeit’ bzw. unvlāt ‘Schmutz, Unsauberkeit’ (Simmler 1998: 494). In beiden Bildungen ist das Derivationsmorphem nicht mehr trennbar, weil die Basen nicht mehr existieren. Die Präfixbildungen mit primärsprachlichen Affixen haben eine begrenzte Anzahl inhaltsseitiger Funktionen. Im Vergleich zu den Grundmorphemen nehmen sie eine Modifikation vor. Dabei ist die generelle Art der Modifikation zu unterscheiden von damit verbundenen zusätzlichen semantischen Merkmalen. Die Modifikation der Augmentation leistet Erz- in Erzschelm, wobei die zusätzlichen semantischen Merkmale „unverbesserlich“ und „pejorativ“ sind. Dagegen ist die Augmentation in Erzbischof mit dem Merkmal „höchstrangig“ verknüpft, während sie in Unmenge das Merkmal „unübersehbar“ mit sich führt. Als Augmentation lässt sich auch die Leistung von Ur- in Urbild auffassen, wobei das Merkmal „ursprünglich“ mitschwingt. Kollektion ist die semantische Funktion von Ge- in Geäst und Gewühl. Dabei ist das zusätzliche semantische Merkmal im ersten Fall „sachbezogen“, im zweiten „vor-

gangsbezogen, iterativ“. Vorgangsbezogen und iterativ ist die Kollektion auch in Gefasel, doch gesellt sich hier das Merkmal „pejorativ“ hinzu. Eine Taxation oder taxierende Bewertung wird in Missmut und Unmut versprachlicht, wobei die Merkmale „verdrießlich, schlecht“ hinzutreten. Negation ist schließlich die Funktion von Miss- in Missernte mit der Nebenbedeutung „abweichend, unzulänglich“ und in Unmensch mit der Nebenbedeutung „schlecht“ (Simmler 1998: 499; man vergleiche Simmler 1998: 498–500). Im Unterschied zu den Verhältnissen bei den Präfixen sind die Möglichkeiten der Suffixableitung ausdrucksseitig weitaus vielfältiger. Für das Deutsche wurden unter Ausklammerung der Suffixoide 26 primärsprachliche Suffixe gezählt (Simmler 1998: 500 nach Fleischer/Barz 1992: 37). Für Substantivbildungen mit verbalem Grundmorphem gibt es die 18 primärsprachlichen Suffixe -sel (Füllsel < füllen, Stöpsel < stoppen), -e (Liege < liegen, Gosse < gießen, goss), -ian (Schlendrian < schlendern), -bold (Saufbold < saufen), -ei (Blödelei < blödeln), -erei (Brüllerei < brüllen), ‑erich (Wüterich < wüten), -el (Hebel < heben), -ler (Abweichler < abweichen), -s (Knicks < knicken), -er (Lehrer < lehren), -icht (Kehricht < kehren), -ling (Lehrling < lehren), -nis (Ereignis < sich ereignen, Begräbnis < begraben, begräbt), -sal (Rinnsal < rinnen), -schaft (Belegschaft < belegen), -tum (Irrtum < irren) und -ung (Lesung < lesen; Simmler 1998: 501; vgl. Simmler 1998: 500–512). Die inhaltsseitigen bzw. denotativen Funktionen der deverbalen, durch Suffixableitung erzeugten Substantive lassen sich auf verschiedene Weise beschreiben (vgl. Simmler 1998: 512f. mit Hinweis auf weitere Literatur). Bedeutet werden durch die betreffenden Bildungen erstens Personen und Personengruppen (Saufbold, Lehrer, Wüterich, Schlendrian, Abweichler, Lehrling, Belegschaft, Bedienung, Regierung). Dabei ist die Motivationsparaphrase etwa bei Lehrer aktivisch ‘jemand, der das in der Basis (Verb) Bedeutete (tendenziell, gewohnheitsmäßig, beruflich) tut’ oder bei Lehrling passivisch ‘jemand, dem etwas gelehrt wird’. Hier wäre auch eine Deutung als desubstantivische Ableitung ‘jemand, der in die Lehre geht’ möglich. Bei Schlendrian ist nicht nur eine Personenbezeichnung denkbar, sondern auch das Abstraktum der Schlendrian ‘Nachlässigkeit, Schlamperei’, also ‘Zustand, Eigenschaft, die

281 durch das (übertragen aufgefasste) Verhalten X (Basisverb) gekennzeichnet ist’. Zweitens bedeuten die deverbalen Suffixableitungen Geräte, so in Leuchte, Pfeife, Bremse, Hebel, Bohrer, Kocher, Anlasser, Stöpsel und Steuerung. Die Generalparaphrase ist ‘Gerät, das zum Ausüben der in der Basis (Verb) bedeuteten Funktion dient’. Bei (drittens) weiteren Sachbezeichnungen wie Häkelei, Liege, Rinne, Abgabe, Spende, Stickerei, Erzählung, Dichtung, Ladung handelt es sich zum Teil um Versprachlichungen für das ‘Produkt des in der Basis (Verb) bedeuteten Tuns’ (Häkelei, Stickerei, Erzählung, Dichtung), um Bezeichnungen von Geräten, die das in der Basis (Verb) bedeutete ‘Tun’ ermöglichen (Liege, Rinne), oder um Wörter für Objekte, die Gegenstand des in der Basis (Verb) bedeuteten ‘Tuns’ sind (Abgabe, Spende, Ladung). Viertens werden Orte und Räumlichkeiten bedeutet (Schmiede, Schwemme, Druckerei, Rinnsal, Ansiedlung), fünftens Vorgänge oder Handlungen (Suche, Pflege, Anmache; Blödelei; Schluchzer, Dreher, Fehler, Versprecher; Lauferei; Schlendrian; Wagnis, Erlebnis; Knicks; Schwächung, Erwerbung; Wachstum), sechstens Zustände (Betrübnis, Besorgnis; Schicksal; Irrtum; Erregung, Verzweiflung; Simmler 1998: 513). Für die Ableitung deadjektivischer Substantive stehen 15 primärsprachliche Suffixe zur Verfügung. Es handelt sich um -keit (Ehrbarkeit), -tel (Fünftel), -igkeit (Schnelligkeit, Müdigkeit), -e (Frische, Kürze, Höhe, Säure), -ian (Blödian), -heit (Schönheit, Weisheit), -chen (Kleinchen), -er (Vierer), -icht (Dickicht), -ling (Feigling), -nis (Wildnis), -sal (Trübsal), -schaft (Barschaft), -tum (Reichtum) und -ung (Festung; Simmler 1998: 514; vgl. Simmler 1998: 514–519). Für Ableitungen von Substantiven aus Substantiven sind 23 Suffixe im Gebrauch. Es handelt sich um -in (Wirtin, Ärztin < Arzt, Botin < Bote, Zauberin < Zauberer), -lein (Kindlein, Bächlein < Bach, Zicklein < Zicke, Fädlein < Faden, Engelein < Engel), -ner (Schuldner, Söldner < Sold, Rentner < Rente), -i (Schatzi, Mutti < Mutter), -elei (Eifersüchtelei < Eifersucht), -e (Biologe < Biologie), -heit (Kindheit), -chen (Kindchen, Fässchen < Fass, Tantchen < Tante, Bröckchen < Brocken, Kinderchen < Kinder), -bold (Witzbold), -ei (Ziegelei, Pfarrei < Pfarre, Wüstenei < Wüste, Bücherei < Buch, Bücher), -erei (Lumperei, Käserei < Käse), -erich (Wegerich, Gänserich < Gans, Enterich < Ente, Knöterich < Kno-

explizites Derivat ten, Fähnrich < Fahne), -el (Ärmel < Arm, Eichel < Eiche), -ler (Sportler, Künstler < Kunst, Völkerkundler < Völkerkunde), -s (Dings), -er (Schlosser, Wächter < Wacht, Grenzer < Grenze, Wagner < Wagen), -icht (Röhricht < Rohr, Tännicht < Tanne), -ling (Lüstling < Lust, Däumling < Daumen, Stichling < Stichel, Engerling < ahd. angar ‘Anger, Feld’), -nis (Bildnis, Bündnis < Bund), -sal (Drangsal, Mühsal < Mühe), -schaft (Bruderschaft, Kundschaft < Kunde), -tum (Christentum < Christ) und -ung (Stallung) (Simmler 1998: 520f.; vgl. ebenda, S. 521–540). Neben die Wortbildungen mit entweder Präfix oder Suffix treten diejenigen, die sowohl ein Präfix als auch ein Suffix zugleich aufweisen. Im Deutschen ist dieser Typus gegenwartssprachlich auf das Programm Ge-Basis-e beschränkt. Auch von der Basis her ergibt sich eine Begrenzung, nämlich auf Verben. Entscheidend ist für die Morphologie des Typus, dass ein Wortbildungsprodukt wie Geklopfe zu dem verbalen Grundmorphem klopf- durch den gleichzeitigen Einsatz der beiden Suffixe entsteht; sie werden nicht chronologisch nacheinander angefügt. Es werden nomina actionis erzeugt, die neben den Merkmalen des Iterativen (sich ständig Wiederholenden) und Frequentativen (Häufigen) eine pejorative Konnotation aufweisen. Diese pejorative Konnotation lässt sich etwa auch beim Vergleich der beiden Ableitungen Gebell und Gebelle, Geschrei und Geschreie zeigen. Durch die Verwendung der beiden Formationsmorpheme lassen sich fast von jedem Verb vergleichbare Bildungen ableiten (Simmler 1998: 544; Meineke 1996: 348–351). Der morphologische Status von Ge-Basis-e wird in der Literatur verschieden beurteilt. Fleischer/Barz (2007: 207–209) gehen ebenso wie Olsen (1990: 208) nicht von einer Wortbildung mit zwei Affixen aus, sondern nehmen ein diskontinuierliches Formativ an, also ein Zirkumfix. Simmler (1998: 545) geht von einem Wortbildungstyp mit zwei Formativen aus. Aus sprachhistorischer Sicht sind beide Beschreibungsansätze nicht überzeugend, weil das -e des Wortausgangs nicht auf ein Wortbildungssuffix zurückgeht, sondern auf den im Mittelhochdeutschen zu -e abgeschwächten Wortausgang ahd. -i der germanischen -ja-Stämme; -i ist der Rest des germanischen Stammbildungselements wie bei Hirte < ahd. hirti < germ. *herð-ja-.

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Als Ableitungsbasis für diesen Typus kommen nicht nur verbale Simplizia vor, sondern auch Präfixoidbildungen, Komposita und Zusammenbildungen. Dabei tritt in Bildungen wie das Abgelese zu ablesen, das Hinausgelaufe zu hinauslaufen und das Sitzengebleibe zu sitzenbleiben das Element ge- vor das verbale Grundmorphem der Ableitungsbasis, was eine Spiegelung der Trennbarkeit der betreffenden Basisbildungen sein dürfte und keinen Status von ge- als Infix begründet (vgl. Simmler 1998: 545). Bei den Verben der deutschen Gegenwartssprache kommen sowohl Präfigierungen als auch Suffigierungen sowie Präfix-/Suffixkombinationen vor. Dabei können bereits präfigierte Verben zur Basis für weitere Präfix- oder Präfixoidbildungen werden (ver-anlassen, aus-verkaufen, Simmler 1998: 588f.). Die Präfixbildung wird im Deutschen wesentlich häufiger eingesetzt als die Suffixbildung. Bei deverbalen Verben treten die folgenden Präfixe auf: be- (befahren, belächeln, beginnen < ahd. biginnan), ent- (entfahren), er- (erfahren), ge- (geloben), miss- (missfallen), ver- (verfahren, veranlassen), zer- (zerfallen) (Simmler 1998: 589). Zur semantischen Leistung der mit den sieben Präfixen gebildeten Verben ist zu sagen, dass ihre Hauptfunktion wie bei den Präfixbildungen im Bereich der Substantive und der Adjektive darin besteht, dass eine Modifikation erzielt wird. Allerdings ergeben sich bei den präfigierten Verben im Unterschied zu den beiden anderen Wortarten mit ein- und demselben Präfix vielfältige inhaltsseitige Relationen. Denn jedes verbale Präfix hat nicht nur eine einzige inhaltliche Funktion, sondern diese variiert je nach und mit dem Inhalt der Basis. Die sieben Präfixe werden nicht gleichmäßig, sondern in unterschiedlichem Ausmaß verwendet. Auf jeden Fall lassen sich als die Hauptfunktionen der präfigierenden Modifizierung erstens die Differenzierung des zeiträumlichen Bezugs und zweitens die Differenzierung der Aktionsart ansehen. Als dritte Hauptfunktion kann die modale Spezifizierung des Geschehens aufgefasst werden (Simmler 1998: 591). Bezüglich der raumzeitlichen Differenzierung durch die verbale Präfigierung lassen sich folgende Verhältnisse vorfinden (zusätzliche semantische Merkmale werden in Klammern angegeben). Eine lokal-dynamische Art der Modifikation leisten 1. entströmen, errichten (resultativ); 2. entrei-

ßen (resultativ, intensiv), 3. ersteigen (resultativ, aufwärts), 4. enteilen, verjagen, verreisen (resultativ, weg), 5. zerschneiden (resultativ, auseinander) und 6. verkleben (resultativ, abschließend). Eine zeitliche Modifikation erbringen 7. beginnen, entbrennen, erbeben (Beginn), 8. gefrieren, verheilen (Ende) sowie 9. ertragen (Verlauf). Im Hinblick auf eine modale Modifikation des Geschehens werden zumeist zusätzliche semantische Merkmale im Bereich des Negativen vermittelt. So durch 1. missverstehen, sich verrechnen („falsch“), 2. missbrauchen („falsch, negativ“) und 3. versalzen („falsch, zu viel“). Die Nebenbedeutung „reversibel“ haben 4. entbinden, entfärben. „Negation“ wird vermittelt durch 5. missgönnen, verachten und „beschädigend“ durch 6. zerbeißen, zerkratzen. Durch die Präfigierungen werden verschiedene Aktionsarten versprachlicht (zusätzliche semantische Merkmale in Klammern). Eine inchoative Aktionsart vermitteln 1. beginnen, entschlafen und erblühen. Die durative Aktionsart weisen 2. erahnen und 3. erfreuen, erleiden auf; dabei ist die Nebenbedeutung „intensiv“. Relativ groß ist die Gruppe mit perfektiver Aktionsart. Es handelt sich um 4. gerinnen, verblühen, 5. besteigen, erhandeln, verlöschen, zerreißen mit der Nebenbedeutung „resultativ“, 6. verhallen, verklingen mit der Nebenbedeutung „allmählich“ sowie 7. verhaken, verkitten mit der Nebenbedeutung „verbindend“. Verben wie 8. befragen und vermeiden werden als Intensiva aufgefasst, 9. betreten als punktuell (Simmler 1998: 592). Diese Ausführungen illustrieren bereits die oben getroffene Feststellung, dass Verben, die mit einem bestimmten Präfix gebildet sind, ganz verschiedene Wortbildungsbedeutungen aufweisen können; das einzelne Präfix ist also in der Kombination mit der Basisbedeutung mehr oder weniger polysem. Das kann am Beispiel der er-Bildungen mit verbalem Grundmorphem gezeigt werden (Simmler 1998: 595). So lassen sich für ein Verb wie 1. errichten die Merkmale „lokal, dynamisch + resultativ“ ansetzen, für 2. ein Verb wie ersteigen „lokal, dynamisch + resultativ, aufwärts“, für 3. erbeben „zeitlich, Beginn“, für 4. ertragen „zeitlich, Verlauf“, für 5. erblühen „inchoativ“, 6. erahnen „durativ“, 7. erfreuen, erleiden „durativ + intensiv“ und für 8. erhandeln „perfektiv + resultativ“.

283 Für die Bildung von Verben nimmt Simmler (1998: 596) in der deutschen Gegenwartssprache sieben primärsprachliche Suffixe an, nämlich -en, -n, -eln, -ln, -ern, -rn und -igen. Diese könnten zugleich weder bei substantivischen, adjektivischen noch verbalen Grundmorphemen festgestellt werden, sondern verteilten sich auf die verschiedenen Ableitungsbasen und besäßen bei ihnen eine unterschiedliche Häufigkeit und Produktivität. Für die Bildung von Verben aus Substantiven gebe es fünf Suffixe. Das erste sei -en in tagen < Tag, dämpfen < Dampf, regnen < Regen, atmen < Atem, koken < der Koks, rahmen < der Rahmen. Das zweite sei -n in ackern < Acker, färben < Farbe, blättern < Blatt, Blätter. Die hier vorgetragene Darstellung beruht auf der Bewertung der Infinitivform der betreffenden Verben als Verbalsuffix. Doch ist die Infinitivform in der Gestalt -(e)n auf jeden Fall vorhanden, nicht nur bei Ableitungen, weil das hier auftretende Morphem als Suffix zur Erzeugung der Infinitivform aufgefasst werden kann, die eigentlich ein Substantiv ist und vom Verbalparadigma getrennt gesehen werden sollte. Die finiten Formen der Verben, also etwa es tagt oder er ackert, zeigen, dass hier keine Suffixe vorliegen; die Ableitung ist morphologisch in der Gegenwartssprache merkmallos. Bei radeln < Rad und hänseln < Hans trete 3. das Suffix -eln auf, bei fensterln < Fenster, schlängeln < Schlange, 4. das Suffix -ln. Die finiten Formen der Verben zeigen, dass bei 3 das Suffix -el vorliegt, bei 4 das Suffix -l. Bei huldigen < Huld tritt 5. nicht das Suffix -igen auf, sondern die Gestalt des Suffixes ist -ig. Da rund 80% aller Verben zu substantivischen Grundmorphemen als Ableitungsbasis gebildet werden, und von diesen nach Kühnhold/Wellmann (1973: 26) 75% Derivationen „mit den Suffixen {ǝn} und {n}“ (Simmler 1998: 597) sind, wird also die Mehrzahl der abgeleiteten Verben, 60%, vielmehr morphologisch merkmallos erzeugt. Bei den Verbableitungen aus adjektivischen Grundmorphemen treten bei Simmler (1998: 604) die gleichen Beschreibungsprobleme auf wie bei den aus Substantiven abgeleiteten Verben. So liegen in 1. kranken < krank, schwärzen < schwarz, trocknen < trocken, kräftigen < kräftig, 2. dunkeln < dunkel, säubern < sauber, bessern < besser, albern < albern, 3. blödeln < blöd, klügeln

explizites Derivat < klug, 4. festigen < fest, sättigen < satt nicht die Suffixe -en, -n, -eln und -igen vor, sondern entweder überhaupt keine Suffixe oder aber -el und -ig. Die umgelauteten Formen lassen sich aus der Gegenwartssprache heraus nicht erklären, sondern sind Nachfolger bereits im Ahd. bezeugter germanischer Verben. Am deutlichsten zeigt sich die Problematik einer rein synchronen Analyse bei den Verben, die ihrerseits aus Verben abgeleitet wurden (Simmler 1998: 606). Bei deuteln < deuten tritt nicht das Suffix -eln auf, sondern ein Suffix -(e)l. Bei folgern < folgen müsste von einem Suffix -er ausgegangen werden, nicht von -ern. Bei legen < liegen ist synchron eine Ableitung nicht möglich, weil die beiden Verben in ihrer formalen Gestalt Kontinuanten germanisch-althochdeutscher Strukturen sind; hier ein Suffix -en anzunehmen, ist für die Gegenwartssprache nicht verifizierbar und erklärt zudem nicht den Wechsel des Stammvokals. In lächeln < lachen ist das Suffix nicht -eln, sondern -el; der Umlaut ist synchron nicht verstehbar. Insoweit sind folglich die weitaus meisten Verben, die in der Gegenwartssprache als aus substantivischen, adjektivischen und verbalen Grundmorphemen abgeleitet erscheinen, morphologisch merkmallos. Die übrigen haben -(e)l, -er oder -ig als Suffix. Semantisch gesehen lassen sich die abgeleiteten Verben in eine Reihe von Bedeutungsgruppen einordnen, wobei es meistens um die Erzeugung bestimmter Aktionsarten geht. Im Einzelfall wird man über die Zuordnungen (Simmler 1998: 610) verschiedener Auffassung sein können. So ist die Frage, ob die Klassifizierung „aktualisierend“ bei tagen ‚Tag werden’ das hier Gemeinte trifft. Da es um die Bezeichnung des Übergangs von der Nacht zum Tag geht, wäre hier eher „ingressiv-inchoativ’ angebracht (Meineke/Schwerdt 2001: 305). Bei 2a. schmieden, robben, büffeln ist die Klassifikation „imitativ, vergleichend“ bei robben und büffeln nachvollziehbar, insofern damit gemeint ist, dass sich jemand wie das in der Basis genannte Tier bewegt oder (übertragen) tätig ist. Bei schmieden trifft diese Bestimmung den Sachverhalt nicht, denn derjenige, der schmiedet, übt den Beruf eines Schmieds aus, ahmt diesen aber (hoffentlich) nicht nach. Es handelt sich bei schmieden also um ein Agentivum (Meineke/Schwerdt 2001: 304). Für 2b. frömmeln

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< fromm wird als inhaltsseitige Funktion „imitativ, charakterisierend“ angegeben, was dann zutrifft, wenn mit frömmeln ein Verhalten gemeint ist, das nur scheinbar fromm ist. Bei einem solchen nicht gerade sehr oft gebrauchten Verb ist man sich vielleicht auch nicht ganz im Klaren, was es bedeutet. Jedenfalls ließe sich frömmeln wohl auch von jemandem aussagen, der dazu neigt, allzeit frommes Verhalten zu zeigen (und deshalb als etwas weltfremd eingeschätzt wird). Mit dieser Bedeutung stände das Verb der Gruppe 9 mit iterativer Aktionsart (s.u.) näher. Als dritte Gruppe werden die Verben mit resultativer Aktionsart angesetzt. Resultative Verben verwiesen auf das Ergebnis oder die Wirkung eines Tuns. Dabei wäre für die unter 3a genannten Bildungen lammen, ferkeln, bündeln aber eher der Begriff „Efficientiva“ zu verwenden, der Verben betrifft, deren Basissubstantiv das benennt, was durch die Handlung als Objekt hervorgebracht wird (Meineke/Schwerdt 2001: 304). Für das unter 3b genannte rosten („resultativ, übergehend“) und die unter 3c aufgeführten reifen und welken („resultativ, beginnend“) wäre eher der Begriff „Inchoativa“ anwendbar. Die Gruppe 4 sind Privativa wie häuten und pellen, mit denen ein Entfernen des in der Basis Bedeuteten benannt wird. Gruppe 5 enthalte Faktitiva wie schroten mit substantivischer Basis und kürzen, demütigen, festigen und reinigen mit adjektivischer Basis. Faktitive Verben drückten aus, dass jemand oder etwas zu etwas gemacht wird (Simmler 1998: 611). Diese Paraphrase trifft aber nur für schroten zu, das auch den Efficientiva zugeordnet werden könnte. Im Ahd. sind die Faktitiva üblicherweise -jan-Verben mit adjektivischer Basis wie etwa heilen ‘heil machen’ (Meineke/Schwerdt 2001: 303); auch die für die Gegenwartssprache genannten Bildungen wie kürzen können mit der ‘machen’-Paraphrase beschrieben werden, also ‘jemandem oder etwas die in der Basis (Adjektiv) genannte ‚Eigenschaft’ zufügen’. Die Verben der Gruppe 6 wie teeren, fliesen, kacheln und peinigen sind Ornativa, womit Verben gemeint sind, die bedeuten, dass jemandem oder etwas das in der Basis (Substantiv) Genannte zugefügt oder jemand/etwas mit dem in der Basis (Substantiv) Genannten versehen wird. In den Verben der Gruppe 7 wie flöten, trommeln, rudern zeigt sich die instrumentale Aktionsart; das in der Basis (Substantiv) Genannte ist Inst-

rument der Handlung. Als „lokativ“ lassen sich 8. Verben wie hausen, landen, schultern auffassen, die eine orts- oder richtungsbezogene Information enthalten, als „iterativ“ 9. frösteln, kriseln, tröpfeln und spötteln, wenn es um eine wiederholte Handlung geht. Das Verb wachen wird als ein Beispiel für die Gruppe 10 der Durativa aufgeführt, also Verben, die die Dauer einer Handlung oder eines Zustandes betonen. Kausativ ist legen zu liegen, insofern die Paraphrase für solche Verben ‘die in der Basis (Verb) genannte ‚Handlung’ herbeiführen’ ist, im vorliegenden Fall also ‘liegen machen’. Wie bereits ausgeführt, kann legen in der Gegenwartssprache nicht mehr als Ableitung von liegen erkannt werden, jedenfalls nicht als Suffixableitung. Das Verb müsste als „innere Ableitung“ bestimmt werden. Die meisten der als kombinierte Präfix-/Suffixbildungen zu substantivischen Basen angenommenen Verben wie besolden, bedachen, bespitzeln, bepflastern, beurkunden, enttrohnen, entkernen, entsahnen, erdolchen, verbriefen, verschrotten, vertrotteln, vergittern, verfliesen, zerbomben, zertrümmern (Simmler 1998: 613f.) sind im Hinblick auf die oben geführte Diskussion ontologisch nicht existent, weil bei ihnen kein gesondertes Suffix auftritt. Zutreffend ist jedoch, dass oft zugleich mit der als solcher suffixlosen Verbableitung eine Präfigierung erfolgen muss, so dass in den betreffenden Fällen kein Simplex wie *kernen, *trotteln oder *trümmern auftritt. Anhand von pflastern, thronen oder bomben zeigt sich aber, dass das nicht stets der Fall ist. Als kombinierte Bildungen sind lediglich bescheinigen, beaufsichtigen, beerdigen und beseitigen aufzufassen, weil hier das Suffix -ig erscheint und es weder ein vorheriges *bescheinen (für die Bedeutung ‘etwas durch einen Schein bestätigen’) noch ein vorheriges *scheinigen gibt, analog bei den übrigen drei genannten Beispielverben. Entsprechendes gilt für die als kombinierte Präfix-/Suffixbildungen zu adjektivischen Basen aufgefassten Verben (Simmler 1998: 615). Auch hier sind nur die mit dem Suffix -ig und zugleich mit einem Präfix erzeugten Verben wie begradigen, verunreinigen und besänftigen dieser Gruppe zuzurechnen. Bei den deutschen Adjektivbildungen wird bei weitem nicht die Differenziertheit der Verhältnisse wie beim Substantiv erreicht. Dabei gibt es

285 allerdings einen Unterschied zwischen der Ableitung mit Präfixen und der mit Suffixen sowie zwischen den Verhältnissen bei den primärsprachlichen und den sekundärsprachlichen Affixen, welche letzteren an dieser Stelle wie die der anderen beiden Wortarten nicht vorgestellt werden können (Simmler 1998: 546f.). Bei den Präfixbildungen mit primärsprachlichen Affixen kommen dieselben Formative wie bei den substantivischen Präfigierungen vor. Es handelt sich um erz- (erzfaul), ge- (getreu, geheim, wobei hier das Grundmorphem substantivisch ist), miss(missvergnügt), un- (unfein; ungestüm < mhd. ungestüeme ‘ungestüm, stürmisch’ zu gestüeme ‘sanft, still, ruhig’; unliebsam zum Verb lieben, analogische Bildung zu biegsam; unersättlich zum Verb sättigen) und ur- (uralt) (Simmler 1998: 547; vgl. ebenda, 547–549). Durch diese Präfixe werden die folgenden inhaltlichen Modifikationen versprachlicht. Augmentation liegt vor bei erzfaul mit den zusätzlichen semantischen Merkmalen „unverbesserlich“ und „pejorativ“, bei erzkomödiantisch, bei uralt mit dem weiteren Merkmal „zeitlich weit zurückliegend“ und bei urkomisch. Dagegen hat urgermanisch zwar das weitere semantische Merkmal „zeitlich weit zurückliegend“, beinhaltet aber keine Augmentation. Bei geheim und getreu setzt Simmler (1998: 549) als Art der Modifikation „Gemeinschaft, Verbindung“ an und als weiteres semantisches Merkmal „versehen mit“. Taxation ist belegt bei missvergnügt mit den Nebenbedeutungen ‘verdrießlich, schlecht’, Negation bei unfein mit der Nebenbedeutung ‘schlecht’. Negation dürfte im Gegensatz zur Auffassung Simmlers, der hier als Modifikation „Augmentation“ ansetzt, auch die Art der Modifikation bei unaussprechbar sein (vgl. Simmler 1998: 549), jedenfalls dann, wenn es etwa um einen Namen oder allgemein etwas Sprachliches geht. Hier kommt es aber auf den Verwendungskontext und das Stadium der Bedeutungsentwicklung an. In einem Syntagma wie die unaussprechbare Güte Gottes (Simmler 1998: 549) wird für die Güte eine nicht mehr steigerbare Qualität ausgesagt, so dass hier auf den ersten Blick von Augmentation mit einer Nebenbedeutung ‘positiv’ gesprochen werden könnte. Allerdings sollte sich die Bestimmung der Modifikation immer auf den Vergleich mit der Basis des präfigierten Adjektivs beziehen; in dem genann-

explizites Derivat ten Syntagma kommt die Präfixbildung bereits mit übertragener Bedeutung vor. Es gibt erheblich weniger adjektivbildende Suffixe als substantivbildende. Bei den deverbalen Bildungen treten zehn verschiedene Suffixe auf. Es handelt sich um -bar (trinkbar), -haft (naschhaft), -isch (neckisch, mürrisch), -lich (hinderlich, tunlich, hoffentlich < hoffen, scheußlich < mhd. schiuzen ‘Scheu oder Abscheu empfinden’), -sam (folgsam), -ig (findig, wacklig, strittig < streiten, stritt, erbötig < erbieten, erbot, schleunig < ahd. sniumen ‘beschleunigen’), -erig (kotzerig), -rig (klebrig), -erisch (regnerisch) und -erlich (fürchterlich) (Simmler 1998: 550; vgl. ebenda, 550–558). Bei den deverbalen Adjektiven können folgende inhaltliche Funktionen festgestellt werden. ‘Potentialität’ wird in trinkbar und hinderlich vermittelt. ‘Neigung’ ist die inhaltliche Leistung bei naschhaft, findig, kotzerig, klebrig, neckisch ‘zu Neckereien aufgelegt’, regnerisch, fürchterlich ‘furchterregend’ und folgsam (Simmler 1998: 558; vgl. Simmler 1998: 558f.). Für die Bildung desubstantivischer Adjektive treten ebenfalls zehn verschiedene Suffixe auf. Es handelt sich um -en (golden), -n (ledern, wollen), -ern (blechern, hölzern), -er (Berliner), -bar (dienstbar, schandbar < Schande), -haft (glückhaft, heldenhaft < Held, lückenhaft < Lücke, geisterhaft < Geist, frühlingshaft < Frühling, sündhaft < Sünde), -isch (tierisch, wölfisch < Wolf, schulisch < Schule, teuflisch < Teufel, bäurisch < Bauer, grimmsch < Eigenname Grimm), -lich (zeitlich, männlich < Mann, friedlich < Friede, morgendlich < Morgen, willentlich < Wille), -sam (tugendsam) und -ig (staubig, kräftig < Kraft, blumig < Blume, striemig < Striemen, winklig < Winkel, schaurig < Schauer, hurtig < mhd. hurt ‘Stoß, Anprall, stoßendes Losrennen’) (Simmler 1998: 559f.; vgl. ebenda, 560–569). Mit neun verschiedenen Suffixen lassen sich Adjektive von Adjektiven ableiten. Es handelt sich um -icht (hellicht), -fach (dreifach), -er (dreißiger), -bar (offenbar), -haft (krankhaft), -isch (linkisch), -lich (kleinlich, ärmlich < arm, grässlich < mhd. graz, nhd. grass ‘wütend, zornig’), -sam (sattsam) und -ig (kundig, völlig < voll, niedrig < nieder) (Simmler 1998: 569; vgl. ebenda, 570–574). Deadverbielle Adjektivbildungen sind selten und im Wesentlichen auf den Typ -ig (baldig, dortig, wohlig, sofortig, alleinig, nachherig, damalig < da-

E

exponierendes Morphem 286 mals, abseitig < abseits, rückwärtig < rückwärts, obig < oben) beschränkt (Simmler 1998: 574f.). Eckhard Meineke

→ Aktionsart; deadjektivische Derivation; Derivat; Derivation;

desubstantivische Derivation; deverbale Derivation; explizite Derivation; Grundmorphem; Modifikation; Präfix; Pseudomorph; Suffix; Wortbildungsbedeutung; Zirkumfigierung

E

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Kühnhold, I./ Wellmann, H. [1973] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 1. Hauptteil: Das Verb. Düsseldorf ◾ Lieber, R./ Stekauer, P. [eds. 2014]: The Oxford Handbook of Derivational Morphology.Oxford ◾ Meineke, E./ Schwerdt, J.

[2001] Einführung in das Althochdeutsche. Stuttgart ◾ Olsen, S. [1990] Konversion als ein kombinatorischer Wortbildungsprozeß. In: LB 127: 185–216 ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin ◾ Spencer, A. [2015] Derivation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 301–321.

exponierendes Morphem ≡ Augmentativsuffix

expressiv

→ Augmentation; Diminuierung

F faithfulness

Constraintfamilie in der Optimalitätstheorie, die Kandidaten, bei denen der Output sich vom Input unterscheidet, nicht präferiert. ▲ faithfulness: family of constraints in optimality theory that disfavor candidates in which output differs from input. Die Optimalitätstheorie kennt zwei Arten von constraints: Markiertheitsconstraints, die die sprachliche Wohlgeformtheit beschränken, und Treueconstraints, die gewährleisten, dass diejenigen Kandidaten optimal sind, bei denen der Output dem Input so ähnlich wie möglich ist. Die Familie der Treueconstraints beinhaltet im Allgemeinen eine Menge von constraints, die sicherstellt, dass der Output nicht weniger Segmente beinhaltet als der Input (max), eine zweite, die dafür sorgt, dass der Output nicht mehr Segmente beinhaltet als der Input (dep), und eine dritte, die gewährleistet, dass die Merkmale der Segmente im Output die gleichen sind wie im Input (IDENT). Jede dieser drei Constraintmengen kann in der Tat als Familie verstanden werden. Max, dep und IDENT können global fungieren oder auf bestimmte Domänen beschränkt sein. So kann für eine Sprache, die keine Ortsassimilation benachbarter Segmente kennt, ein hoch geranktes constraint IDENTplace postuliert werden. In einer solchen Sprache wird bei einer Inputform /mta/ ein Outputkandidat mta gegenüber nta präferiert werden (Pulleybank 1997: 65), denn die Artikulationsstelle in mta ist in Input und Output identisch. In einer Sprache, in der das constraint niedriger gerankt ist, ist zu erwarten, dass nta gegenüber mta präferiert wird. McCarthy/Prince (1995, 1999) untersuchen den Begriff der faithfulness mithilfe der „Korrespondenztheorie“. Diese

Theorie erweitert den Begriff der Korrespondenz so, dass Treueconstraints nicht nur Repräsentationen von Input und Output betreffen, sondern auch Paare von Oberflächenformen (Output-Output-Korrespondenz) oder Paare aus einer Basis und einer derivierten Form (z.B. ein Stamm und seine reduplizierte Form). Spätere Arbeiten (McCarthy 2000) berücksichtigen auch Treueconstraints, die mehrschichtige Repräsentationen betreffen, so z.B. constraints gegen veränderte Assoziationslinien durch Verbreitung oder Entkoppelung. Rochelle Lieber

→ constraint; constraint ranking; Optimalitätstheorie ⇁ faithfulness (Phon-Engl; Woform)

🕮 McCarthy, J.J./ Prince, A.S. [1995] Faithfulness and reduplicative identity. In: UMOPLing 18: 249–384 ◾ McCarthy, J.J./ Prince, A.S. [1999] Faithfulness and identity in prosodic morphology. In: Kager, R./ van der Hulst, H. / Zonneveld, W. [eds.] The Prosody-Morphology Interface. Cambridge: 218–309 ◾ McCarthy, J.J. [2000] Faithfulness and prosodic circumscription. In: Dekkers, J./ van der Leeuw, F./ van der Weijler, J. [eds.] Optimality Theory. Phonology, Syntax, and Aquisition. Oxford: 151–192 ◾ Pulleyblank, D. [1997] Optimality Theory and Features. In: Archangeli, D./ Langendoen, D.T. [eds.] Optimality Theory. Oxford: 59–101.

faktitives Verb

abgeleitetes Verb, das eine kausative Bedeutung hat. ▲ factitive verb: derived verb with a causative meaning. Der Begriff „faktitives Verb“ wird bisweilen als Synonym für „kausatives Verb“ verwendet, wird aber am häufigsten auf Verben eingeschränkt, welche die Herbeiführung einer Situation ausdrücken und mit morphologischen Mitteln abgeleitet sind. Im Deutschen können faktitive Verben deverbal, denominal oder deadjektivisch sein. Deverbale faktitive Verben drücken die Verursa-

Faktitivum 288

F

chung der vom Basisverb denotierten Situation aus. Beispiele sind ich fällte den Baum (= ‘bewirkte, dass er fiel’), sie legte das Buch auf den Tisch (= ‘bewirkte, dass es dort lag’), das steigerte die Temperatur (= ‘bewirkte, dass sie stieg’). Beispiele für denominale faktitive Verben sind verschrotten und verbeamten (= ‘veranlassen, dass das Objekt in Schrott verwandelt wird/zum Beamten wird’). Deadjektivische faktitive Verben sind erheitern, trocknen, stabilisieren (= ‘bewirken, dass das Objekt in einen heiteren/trockenen/stabilen Zustand übergeht’). ≡ Bewirkungsverb; Faktitivum → kausatives Verb ⇀ faktitives Verb (Gram-Formen) ⇁ factitive verb (Typol)

Andrew McIntyre

🕮 Lohde, M. [2006] Wortbildung des modernen Deutschen. Tübingen.

Faktitivum

≡ faktitives Verb ⇀ Faktitivum (Gram-Formen)

figurative Motivation

Teilidentität zwischen der primären, wörtlichen und der sekundären, übertragenen Bedeutung bei metaphorischer, metonymischer oder ähnlicher Bedeutungsübertragung. ▲ figurative motivation: partial identity between the primary, literal, and the secondary, figurative, meaning in metaphoric, metonymous, and similar forms of transfer of meaning. Seit Ullmann (1972) ist es üblich, den Motivationsbegriff auch auf die Beschreibung metaphorischer oder metonymischer Bedeutungsübertragung anzuwenden, wenn zwischen der primären und sekundären Bedeutung synchron eine Beziehung besteht. Dies ist der Fall bei dt. Virus/ engl. virus ‘Krankheitserreger’ und ‘Computerprogramm, das unbemerkt in einen Rechner eingeschleust wird in der Absicht, die vorhandene Software oder Hardware zu manipulieren oder zu zerstören’ oder bei dt. Fuchs ‘Raubtier mit rötlich-braunem Pelz, das als listig gilt’ und ‘Pferd von rötlich-brauner Farbe’ oder ‘listiger Mensch, Schlaukopf’; engl. fox ‘clever person’ oder ‘sexually attractive woman’. Ullmann bezeichnet diese Art der Motivation, die durch gemeinsame Bedeutungselemente der beteiligten sprachlichen

Einheiten gegeben ist, als semantische Motivation. Dagegen wenden Käge (1980) und Bellmann (1988) ein, dass die exklusive Verwendung des Attributs semantisch für den Fall des figurativen (tropischen) Wortgebrauchs zu der irrigen Annahme verleiten könne, dass semantische Beziehung nur hier eine Rolle spiele. Gebräuchlicher ist daher – vor allem in der deutschen Wortbildungsforschung – in Anlehnung an Käge (1980: 6) und Bellmann (1988: 5) der Terminus figurative Motivation, da semantische Modelle – Figuren – zugrunde liegen. Die Ausweitung des Motivationsbegriffs auf diese und andere Fälle metaphorischer oder metonymischer Bedeutungsübertragung ist nicht unproblematisch, denn in anderen Zusammenhängen, etwa in der Phraseologie, werden derartige Bedeutungsverschiebungen, selbst wenn es sich dabei um durchschaubare Bilder handelt, bereits als eine Form der Demotivation beschrieben. Zudem betrifft der Motivationsbegriff im engeren Sinne nach de Saussure eigentlich nur die Beziehung zwischen Ausdrucksseite und Inhaltsseite des sprachlichen Zeichens. Fuchs im Sinne von ‘listiger Mensch, Schlaukopf’ wäre danach ebenso arbiträr wie viele andere minimale, d.h. nicht komplexe sprachliche Zeichen (Käge 1980: 5). Das Erschließen eines figurativ motivierten Wortes setzt in der Regel eine Vielzahl unterschiedlicher Wissenskomponenten voraus, neben dem Sprachwissen sind dies vor allem soziokulturelles Wissen (Fuchs ‘gilt als listig’), aber auch enzyklopädisches Wissen (Viren ‘Mikroorganismen, die sich nur in lebenden Zellen vermehren, dazu in die Zelle eindringen und dabei die Zelle schädigen oder zerstören’) und Handlungswissen (ugs., scherzhaft alter Fuchs!). Anja Seiffert ≡ semantische Motivation → Demotivation; Metaphorisierung; Metonymisierung; Motivation

🕮 Bellmann, G. [1988] Motivation und Kommunikation. In: Munske, H.H./ von Polenz, P./ Reichmann, O./ Hildebrandt, R. [Hg.] Deutscher Wortschatz. Lexikologische Studien. Berlin [etc.]: 3–23 ◾ de Saussure, F. [1916] Cours de Linguistique Générale. Paris ◾ Käge, O. [1980] Motivation. Probleme des persuasiven Sprachgebrauchs, der Metapher und des Wortspiels. Göppingen ◾ Levin, S.R. [1977] The semantics of metaphor. Baltimore, MD [etc.] ◾ Schröder, M. [1981] Zur Rolle des Motivationsbegriffes für Wortbildungskonstruktionen und feste Wortverbindungen. In: Wissenschaftliche Zeitschrift der KarlMarx-Universität Leipzig. Gesellschafts- und Sprachwiss. Reihe

289 final 30 /1981: 453–458 ◾ Ullmann, S. [1972] Grundzüge der Semantik. Berlin [etc.].

final

1. Wortbildungsbedeutung von Komposita, deren Bestimmungswort einen Zweck angibt, dem ein durch das Grundwort bezeichneter Gegenstand oder eine durch die Wortbildung explizit oder implizit genannte Handlung dienen. ▲ purposive: wort-formation meaning of compounds whose first element names the purpose of the object denoted by the second element or the purpose of the action explicitly or implicitly conveyed by the compounds meaning. 2. Stellungsmerkmal gebundener Wortbildungseinheiten, die innerhalb einer Bildung die zweite, rechts von der Basis gelegene Position oder die Position des Zweitglieds einnehmen. ▲ final: placement of bound word-formation units that occur in the second position to the right of the base or take the position of the second element.

Zu 1: In Bildungen wie dt. Rosenschere, engl. writing paper ʻSchreibpapierʼ oder frz. coupe-fromage ʻKäsehobelʼ stehen Grund- und Bestimmungswort in einer semantischen Relation zueinander, die sich als Zweckrelation beschreiben lässt. Das Bestimmungswort gibt an, wofür die durch das Grundwort bezeichnete Entität geeignet oder bestimmt ist (vgl. Fleischer/Barz 2012: 142). Die Wortbildungsparaphrase solcher Bildungen enthält in der Regel die Präpositionen für oder zu: ʻSchere für die Rosenʼ, ʻPapier zum Schreibenʼ. In den germanischen Sprachen, insbesondere in kompositionsfreudigen Sprachen wie dem Deutschen, im Englischen oder Niederländischen, gehört die finale Wortbildungsbedeutung zu den häufigsten semantischen Grundtypen sowohl der substantivischen als auch der adjektivischen Komposition (vgl. Fleischer/Barz 2012: 141f. und 323f.). Es existieren unterschiedliche Formativstrukturen: Innerhalb der substantivischen Komposition gelten vor allem finale Komposita mit verbalem Bestimmungswort als produktiv, vgl. dt. Nähmaschine, Rasierapparat, niederl. leesbril ʻLesebrilleʼ, afwasmachine ʻGeschirrspülerʼ; vgl. niederl. afwas ʻAbwaschʼ; hierher gehören auch engl. playing cards ʻSpielkartenʼ oder washing machine ʻWaschmaschineʼ. Daneben finden sich zahlreiche substantivische Komposita des Struk-

turtyps Substantiv + Substantiv, z.B. dt. Kinderbuch, Spielzeugkiste, Trainingsjacke; engl. teacup ʻTeetasseʼ, holiday flat ʻFerienwohnungʼ; niederl. computerspel ʻComputerspielʼ, kinderspeelplaats ʻKinderspielplatzʼ. In den slawischen Sprachen, etwa im Polnischen, Russischen oder Tschechischen, werden finale Beziehungen dagegen normalerweise nicht durch Komposita ausgedrückt; als entsprechende Benennungseinheiten fungieren hier syntaktische Phrasen, v.a. Nominalphrasen mit nachgestelltem oder vorangestelltem adjektivischen Attribut oder Präpositionalphrasen: dt. Computerpapier vs. poln. papier komputerowy, tschech. počítačový papir (zu počítač ʻComputerʼ), russ. bumaga dlja kompjutera ʻPapier für Computerʼ (vgl. Ohnheiser 2015: 760). Eine Ausnahme bilden einzelne finale Komposita mit aus dem Englischen entlehnten Wortbildungseinheiten, z.B. russ. serfing-kostjum ʻSurfanzugʼ (Ohnheiser 2015: 769). Auch in den romanischen Sprachen finden sich anstelle der im Deutschen belegten Finalkomposita häufiger Umschreibungen mittels syntaktischer Phrase: dt. Kinderbuch vs. frz. livre pour enfants, ital. libro per ragazzi (ʻBuch für Kinderʼ). Neben den substantivischen kommen auch einige adjektivische Bildungen mit finaler Wortbildungsbedeutung vor: lebenswichtige Vitamine ʻVitamine, die wichtig zum Leben sindʼ, winterwarme Stiefel ʻStiefel, die für den Winter warm [genug] sindʼ. Im Deutschen weisen vor allem Adjektivkomposita mit wichtig, notwendig oder tauglich eine systematische Modifikation durch das semantische Merkmal „final“ auf (vgl. Pümpel-Mader/Gassner-Koch/Wellmann /Ortner1992: 111), vgl. existenzwichtig, lebenswichtig, überlebenswichtig; alltagstauglich, fahrtauglich, praxistauglich, tropentauglich etc. Gerade hier können sich jedoch Abgrenzungsschwierigkeiten zu Rektionskomposita ergeben, deren Wortbildungsbedeutungen sich aus valenzbedingten und semantischen Eigenschaften einer der beiden unmittelbaren Konstituenten erschließen lassen. Das Grundwort eröffnet hierbei eine Argumentstelle, die durch das Bestimmungswort besetzt wird: zu etw. taugen; zum Dienst tauglich > diensttauglich. Auch bei einigen substantivischen Bildungen ergeben sich mitunter Überschneidungen, vgl. dt. Kinderanimation: jmdn. animieren; ʻAnimation für Kinderʼ (final) vs. ʻAnimation der Kinderʼ (Ob-

F

Flexionsmorphem 290

F

jekt); frz. un essuie-verre ʻGläsertuchʼ; un essuiemain ʻHandtuchʼ (zu essuyer qc ʻetw. abtrocknenʼ). Hinzu kommt, dass bei Komposita wie dt. Holzkiste mitunter ein breiter Interpretationsspielraum in Hinblick auf die Wortbildungsbedeutung besteht, vgl. Holzkiste ʻKiste aus Holzʼ (material), ʻKiste für Holzʼ (final), ʻKiste mit Holzʼ (partitiv/adhäsiv), sodass es auch hier zu Überschneidungen mit anderen Wortbildungsbedeutungen kommen kann (vgl. Fleischer/Barz 2012: 139). Verbale Komposita mit finaler Wortbildungsbedeutung sind insgesamt selten, kommen in fachsprachlichen Texten gleichwohl vereinzelt vor: dt. reparaturschweißen ʻetw. zum Zwecke der Reparatur schweißenʼ, fließpressen ʻetw. pressen, damit es zu fließen beginntʼ (vgl. Altmann/Kemmerling 2005: 92). Anja Seiffert

→ Determinans; instrumental; nominales Rektionskompositum; Wortbildungsbedeutung; Wortbildungsparaphrase

⇁ purposive (Typol)

🕮 Altmann, H./ Kemmerling, S. [2005] Wortbildung fürs Examen. 2., überarb. Aufl. Göttingen ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Ohnheiser, I. [2015] Compounds and multi-word expressions in Slavic. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 757–779 ◾ Pümpel-Mader, M./ Gassner-Koch, E./ Wellmann, H./ Ortner, L. [1992] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 5. Hauptteil: Adjektivkomposita und Partizipialbildungen. Berlin.

Zu 2: Als gebundene Wortbildungseinheiten lassen sich Affixe und Konfixe gemeinhin nach der Position, in der sie innerhalb einer Bildung vorkommen, beschreiben. Man unterscheidet – neben der die Basis umschließenden Position der Zirkumfixe – vor allem die initiale Position (auch: präpositiv) als die Position links von der Basis von der finalen Position (auch: postpositiv), der Position rechts von der Basis. Affixe gelten generell als positionsfest, sind also auf eine Position – entweder final (Suffixe) oder initial (Präfixe) – festgelegt. Unter den Konfixen gibt es hingegen neben den positionsfesten auch solche, die sowohl initial als auch final vorkommen (Crestani 2010: 111; Fleischer/Barz 2012: 54 und 108; Müller 2000: 125; Seifert 2008: 101). Initiale Konfixe werden mitunter auch als Präkonfixe, finale Konfixe als Postkonfixe bezeichnet (vgl. Barz 2016: 694). Ausschließlich final kommen etwa -lekt/-lect

und -thek/-thèque vor: dt. Bibliothek, Mediathek; Dialekt, Soziolekt; engl. dialect, idiolect, frz. vidéo­ thèque, oenothèque ʻVinothekʼ. Konfixe wie -phonoder -therm- sind dagegen sowohl in initialer als auch in finaler Position belegt: dt. Phonologie vs. anglophon, engl. phonograph ʻPlattenspielerʼ vs. francophone; dt. Thermik vs. endotherm; engl. thermal vs. stenotherm ʻnur geringe Temperaturschwankungen ertragendʼ. ≡ postpositiv → Affix; Konfix; Zirkumfix

Anja Seiffert

🕮 Barz, I. [2016] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 9., vollst. überarb. u. aktual. Aufl. Berlin: 644–774 ◾ Crestani, V. [2010] Wortbildung und Wirtschaftssprachen. Vergleich deutscher und italienischer Texte. Bern ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Müller, P.O. [2000] Deutsche Fremdwortbildung. Probleme der Analyse und der Kategorisierung. In: Habermann, M./ Müller, P.O./ Naumann, B. [Hg.] Wortschatz und Orthographie in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Horst Haider Munske zum 65. Geburtstag. Tübingen: 115–134 ◾ Seiffert, A. [2008] Autonomie und Isonomie fremder und indigener Wortbildung am Beispiel ausgewählter numerativer Wortbildungseinheiten. Berlin.

Flexionsmorphem

→ grammatisches Morphem ⇀ Flexionsmorphem (CG-Dt)

Flexiv

→ grammatisches Morphem ⇀ Flexiv (Gram-Formen)

Form, semantische → semantische Form

Formationsmorphem

≡ Affix ⇀ Formationsmorphem (Gram-Formen)

Formenlehre

≡ Morphologie ⇀ Formenlehre (Gram-Formen)

Formisolierung ≡ Demotivation

Fossilisierung

Ergebnis, seltener auch Vorgang, der Bewahrung älterer Sprachzustände in einem aktuellen Sprachsystem.

291 Frame ▲ fossilization: result, seldom the process, of the

preservation of antiquated language stages in a current language system.

Schon Behaghel (1927: 214) vergleicht relikthafte Erscheinungen in der Sprache mit „Versteinerungen der Geologie [...], die nur von altem Leben Zeugnis ablegen, die unter den heutigen Bedingungen des sprachlichen Daseins sich nicht hätten bilden können“. Zu den unterschiedlichen Formen von Fossilisierungen gehören nach Jang (2006): a) Historismen als Bezeichnungen von Gegenständen oder Sachverhalten vergangener Zeiten, die heute oft nur noch museal präsent sind, vgl. dt. Hellebarde/engl. halberd, frz. guillotine; b) Archaismen wie tagsdarauf (für: am Tag danach), etwas wider jemand vorbringen (für: etwas gegen jmd. vorbringen); c) sprachliche Relikte in der Wortbildung, besonders in Bildungen mit unikalen Bestandteilen wie dt. Nachtigall/niederl. nachtegaal/engl. nightingale (zu ahd., aengl. galan ‘singen’), in verdunkelten Komposita (dt. Amboss zu ahd. ana- ‘an, auf’ und bōzen ‘schlagen’, engl. garlic zu aengl. gār ‘Speer, Ger’ und lēac ‘Lauch, Zwiebel’) oder in synchron nicht mehr analysierbaren Bildungen mit verdunkelten Präfixen (dt. Urteil, Antwort) bzw. Suffixen (dt. Heimat, Zierat mit dem westgerm. Suffix -ođja, ahd. -ōti ); solche sprachlichen Relikte stehen in der Regel nicht mehr für Wortneubildungen zur Verfügung, vgl. Unfug, aber nicht *fuglos, *fuglich, *fugmäßig; zur Unikalisierung als Endstufe der Fossilisierung vgl. Fleischer (1990: 35f.); d) Relikte in Eigennamen, vgl. Dietrich zu ahd. thiot ‘Volk‛ und rīhhi ‘Herrschaft, Macht, Herrscher, reich, mächtig’, Naumburg (nicht umgelautetes nau < nūwe statt neu < niuwe); e) Sprachliche Relikte in Phraseologismen wie mit Kind und Kegel (mhd. kegel ‘uneheliches Kind’), mit Fug und Recht (mhd. vuoc ‘Schicklichkeit, Zuständigkeit’, vgl. Unfug). Fossilisierungen sind also vor allem dort zu erwarten, wo sprachliche Erscheinungen eine höhere Stabilität aufweisen: in lexikalisierten Bildungen, Eigennamen, festen Wortverbindungen, aber auch in bestimmten Varietäten, vor allem in Dialekten, Fach- oder Gruppensprachen (Cherubim 1988: 539), vgl. fachspr. Vormund, Leumund,

Mündel (zu ahd., mhd. munt ‘Hand, Schutz’), jägersprachlich schliefen ‘das Eindringen der Hunde in einen Fuchsbau oder Dachsbau’ (zu ahd. slīfan, mhd. slīfen ‘gleiten’), gelt ‘unfruchtbar’, auch in Gelttier, Geltricke (zu ahd., mhd. galt, Partizip von galan ‘singen, zaubern, behexen’; nach dem Volksglauben galt unfruchtbares Vieh als behext). Anja Seiffert ≡ Versteinerung → Archaismus; unikales Morphem; verdunkeltes Kompositum; verdunkeltes Präfix; verdunkeltes Suffix ⇁ fossilization (TheoMethods)

🕮 Behaghel, O. [1927] Sprachliche Versteinerungen. In: Behaghel, O. Von deutscher Sprache. Aufsätze, Vorträge und Plaudereien. Lahr: 214–220 ◾ Cherubim, D. [1988] Sprach-Fossilien. Betrachtungen zum Gebrauch, zur Beschreibung und zur Bewertung sogenannter Archaismen. In: Munske, H.H./ von Polenz, P./ Reichmann, O./ Hildebrandt, R. [Hg.] Deutscher Wortschatz. Lexikologische Studien. Ludwig Erich Schmitt zum 80. Geburtstag. Berlin: 525–552 ◾ Fleischer, W. [1990] Archaismen im heutigen Deutsch. In: Hörz, H. [Hg.] Soziolinguistische Aspekte der Sprachgeschichte. Dem Wirken Rudolf Großes gewidmet. Berlin: 32–38 ◾ Jang, A.Y. [2006] Lexikalische Archaismen und ihre Verwendung in Pressetexten des heutigen Deutsch. Diss. Göttingen.

Frame

auf Alltagserfahrungen basierende mentale Struktur zur Repräsentation einer stereotypen Situation oder eines Objekts. ▲ frame: mental structure representing a stereotype situation or object based on every day knowledge. Die für die Linguistik relevante Auslegung dieses Begriffs geht auf Minsky (1975) zurück. Minsky geht im Rahmen der Künstlichen Intelligenzforschung davon aus, dass der Mensch neue Situationen verarbeitet, indem er Frames aus dem Gedächtnis abruft, die er aufgrund von bereits erlebten und typischerweise in ähnlicher Form wiederkehrenden Situationen internalisiert hat. Ein Frame ist als Netzwerk von Knoten und Relationen zu verstehen, das sowohl invariable als auch variable, mit einem Konzept assoziierte Informationen enthält. Die invariablen und somit stets vorhandenen Informationen werden in Form von Attributen repräsentiert und bilden den Kern des jeweiligen Konzepts. Für die variablen Informationen halten die Attribute Slots bereit, die mit Inhalt gefüllt werden müssen. Aufgrund der Erwartungen, die man an eine Situation oder an ein Objekt knüpft, werden den Slots Default-

F

framebasierte Repräsentation 292

F

Werte zugeordnet, die bezogen auf eine konkrete Situation oder ein konkretes Objekt durch spezifische Werte überschrieben werden können. Ein Beispiel ist die Situation des Kindergeburtstags, dessen Ablauf und Szenario mental fixiert ist. Ein für diese stereotype Situation konzipierter Frame weist u.a. die Slots Geschenk, Spiele, Dekoration und Festessen auf, denen Default-Werte wie „soll dem Geburtstagskind gefallen“, „Blindekuh“, „Luftballons“ und „Kuchen“ zugeordnet werden. Häufig sind auch die durch Slots bezeichneten Konzepte komplex und verfügen somit ihrerseits über Frames. Die Frames dieser Subkonzepte werden dem Frame des dominierenden Konzepts untergeordnet. Auf diese Weise entsteht eine Frame-Hierarchie, innerhalb derer Eigenschaften des dominierenden Konzepts an die untergeordneten Konzepte vererbt werden können. Aufgrund von Frames als Strukturen der Wissensrepräsentation werden bestimmte Erwartungen in eine neue Situation eingebracht, die entweder erfüllt oder (im Falle einer Abweichung von der stereotypen Situation) mit den aktuellen Gegebenheiten nicht kompatibel sind. Letzteres wäre beispielsweise der Fall, wenn die für die Gestaltung des Kindergeburtstags verantwortlichen Erwachsenen alkoholische Getränke für die Kinder bereitstellen würden. Andererseits ermöglicht die Variabilität der den Slots zugeordneten Werte es dem Menschen, neue Erfahrungen und Erkenntnisse in einen Frame zu integrieren. Nach Tannen (1993: 15) ist der Begriff der Erwartung (engl. expectation) für die Definition von Frames von zentraler Bedeutung, da viele Vorgänge in der Welt ohne die aus der Erfahrung resultierenden Erwartungen für den Menschen nicht interpretierbar wären. Im Bereich der Wortbildung lassen sich die Bedeutungen von Nomen+Nomen-Komposita mit Hilfe von Frames beschreiben. Dies zeigt beispielsweise das von Finin (1980) entwickelte frame-basierte Repräsentationssystem, welches sowohl die durch die Konstituenten bezeichneten Konzepte als auch die zwischen diesen bestehenden Relationen darstellt. Heike Baeskow → framebasierte Repräsentation; Nomen+Nomen-Kompositum; Prototypikalität; Schema; slot; Wissensrepräsentation ⇀ Frame (Textling; Gram-Syntax; Sprachphil; CG-Dt; Lexik); Frame (1) (SemPrag); Frame (2) (SemPrag)

⇁ frame (CG-Engl; Media)

🕮 Finin, T.W. [1980] The Semantic Interpretation of Compound Nominals. Urbana ◾ Minsky, M. [1975] A Framework for Representing Knowledge. In: Haugeland, J. [ed. 1982] Mind Design. Philosophy, Psychology, Artificial Intelligence. Cambridge, MA [etc.]: 95–128 ◾ Minsky, M. [1985] The Society of Mind. New York, NY ◾ Minsky, M. [1990] Mentopolis. Übersetzt von Malte Heim. Stuttgart ◾ Tannen, D. [1993] What’s in a Frame? Surface Evidence for Underlying Expectations. In: Tannen, D. [ed.] Framing in Discourse. Oxford [etc.]: 14–56.

framebasierte Repräsentation

in der Künstlichen Intelligenzforschung angewandte Methode zur Darstellung von Konzepten und den zwischen diesen bestehenden Relationen. ▲ frame-based representation: method in artificial intelligence research used to represent concepts and the relations between them. Diese Art der Repräsentation bildet stereotype Situationen oder Objekte und somit Konzepte der außersprachlichen Realität in Form von Frames ab. In formalen Ansätzen zur Wissensrepräsentation (z.B. Brachman/Levesque 2004) wird zwischen individuellen und generischen Frames differenziert. Individuelle Frames repräsentieren einzelne Objekte bzw. Situationen (z.B. einen Flug nach Toronto), während generische Frames zur Repräsentation von Kategorien bzw. Klassen von Objekten dienen (z.B. CanadianCity). Die folgenden Beispiele für frame-basierte Repräsentationen stammen von Brachman/Levesque (2004: 137). (1) individuelle Frames a. b.

(tripLeg123

...) (toronto

...)

(2)

generischer Frame (CanadianCity

)

Ein individueller Frame ist als Instantiierung eines generischen Frames zu verstehen, indem beispielsweise der Flug nach Toronto in (1a) eine Etappe einer größeren Reise darstellt und somit in einer instance-of-Relation zu der gesamten

293

freies Morphem

Reiseroute steht. Der Slot „Destination“ in (1a) wird durch den Wert „Toronto“ gefüllt, der, wie die Abbildung (1b) zeigt, seinerseits über einen individuellen Frame verfügt. Bei einem generischen Frame handelt es sich hingegen um eine Spezialisierung eines anderen generischen Frames. In dem unter (2) dargestellten Beispiel steht „CanadianCity“ in einer „IS-A“-Relation zu dem allgemeineren, mit „City“ assoziierten Frame. Framebasierte Repräsentationen sind also nicht auf einzelne Konzepte beschränkt, sondern dienen auch zur Identifikation von Relationen, die zwischen zwei oder mehreren Konzepten bestehen können, sofern diese kompatibel sind. Somit eignen sie sich z.B. für die Interpretation von Komposita mit nominalen Konstituenten. Jede Konstituente eines Nomen+Nomen-Kompositums bezeichnet ein Konzept mit fixierten und variablen Eigenschaften, das eine Repräsentation in Form eines Frames erlaubt. Mögliche Relationen zwischen den beiden Konstituenten werden sichtbar, wenn eines der beiden Konzepte einen Slot im Frame des anderen Konzepts füllt, so dass ein komplexes Konzept entsteht. Das Kompositum A380 flight bringt z.B. eine instrumentale Relation zum Ausdruck, während January flight eine temporale Relation suggeriert. Da ein Flug erfahrungsgemäß an ein Flugobjekt gebunden ist, zu einer bestimmten Zeit stattfindet und zielgerichtet ist, weist der mit dem Kopfkonzept flight assoziierte Frame Slots wie „instrument“, „time“ und „location“ auf (Finin 1980). Die unterschiedlichen Lesarten der beiden exemplarischen Komposita kommen dadurch zustande, dass die modifizierenden Konzepte A380 und January verschiedene Slots des Flug-Frames füllen, nämlich „instrument“ und „time“. Durch das Füllen der Slots entstehen neue Instantiierungen des durch flight bezeichneten Konzepts. Des Weiteren führt das Füllen eines Slots im Frame des Kopfkonzepts durch das Modifikatorkonzept zu einer hierarchischen Anordnung der beiden Konzepte, die eine Vererbung von Eigenschaften des Kopfkonzepts an das Modifikatorkonzept ermöglicht. Aufgrund der Annahme, dass die mentalen Repräsentationen von Konzepten Slots aufweisen, die mit Werten zu füllen sind, lassen sich framebasierte Repräsentationen in Computerprogramme implementieren. Heike Baeskow

→ Frame; komplexes Konzept; Nomen+Nomen-Kompositum; slot filling; Wissensrepräsentation

🕮 Brachman, R.J./ Levesque, H.J. [2004] Knowledge Representation and Reasoning. Amsterdam [etc.] ◾ Finin, T.W. [1980] The Semantic Interpretation of Compound Nominals. Urbana.

freies Morphem

Morphem mit einem Allomorph, das allein als Wort auftreten kann. ▲ free morpheme: morpheme with an allomorph that can occur by itself as a word.

Ein Morphem ist frei, wenn eines seiner Allomorphe frei oder vielmehr potentiell frei ist, d.h. als Wort auftreten kann (zur Unterscheidung frei/ gebunden s. schon Bloomfield 1926: 155f.; zur Präzisierung „potentiell frei“ s. Nida 1949: 81; vgl. auch Simmler 1998: 77–81; Mugdan 2015: 256f.). Beispielsweise hat im Dt. das Morphem {Rad} die Allomorphe /raːt/, /raːd/, /rɛːt/ und /rɛːd/ (in Rad, [des] Rades, Rädchen, Räder). Da /raːt/ alleine ein Wort bilden kann, obwohl es auch als Teil eines Wortes (z.B. Radweg) vorkommt, ist es potentiell frei, und damit ist auch das Morphem {Rad} frei. Da Affixe per Definition nicht frei, sondern gebunden sind, müssen freie Morpheme Wurzeln sein. Die Umkehrung gilt jedoch nicht, d.h. Wurzelmorpheme sind nicht notwendigerweise frei. Beispielsweise muss im Litauischen rat- ‘Rad’ immer mit einem Kasus/Numerus-Suffix verbunden werden, z.B. rat-as ‘Rad-nom.sg’, rat-o ‘Rad-gen. sg’, rat-ai ‘Rad-nom.pl’, rat-ų ‘Rad-gen.pl’ usw. Auch die Unterscheidung zwischen lexikalischen und grammatischen Morphemen verläuft quer zu der zwischen frei und gebunden, denn einerseits gibt es gebundene lexikalische Morpheme wie lit. rat- und andererseits freie grammatische Morpheme wie die deutschen Partikeln oder, bei, obwohl usw. Joachim Mugdan

↔ gebundenes Morphem → Allomorph; grammatisches Morphem; lexikalisches Morphem; Morphem

⇀ freies Morphem (Gram-Formen; CG-Dt) ⇁ free morpheme (Typol; CG-Engl)

🕮 Bloomfield, L. [1926] A Set of Postulates for the Science of Language. In: Lg 2: 153–164 ◾ Mugdan, J. [2015] Units of wordformation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 235–301 ◾ Nida, E.A. [1949] Morphology. The Descriptive Analysis of Words. 2nd ed. Ann Arbor MI ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Berlin.

F

Fremdelement 294

Fremdelement

≡ Fremdmorphem

Fremdmorphem

F

Morphem mit ausdrucksseitigen Fremdheitsmerkmalen und ausgeprägt exogener Kombinatorik. ▲ foreign morpheme: morpheme with non-native features and pronounced exogenous combinatorics.

Als Fremdmorpheme können alle morphologischen Bausteine einer Sprache gelten, die in formaler Hinsicht nicht (vollständig) assimiliert sind und phonologische, graphematische bzw. morphologische Fremdheitsmerkmale (Überblick bei Munske 1988) aufweisen. Da dies für die entlehnten, aber assimilierten Affixe erz- (aus lat. archi-; z.B. Erzbischof) und -er (aus lat. -ārius; z.B. ahd. laerāri > nhd. Lehrer) nicht zutrifft, werden sie in gegenwartssprachlichen Wortbildungsdarstellungen nicht als „fremd” kategorisiert, zumal sie auch keine ausgeprägt exogene Kombinatorik aufweisen. Dies gilt ebenfalls für das entlehnte und nach wie vor die Hauptbetonung tragende Suffix -(er)ei (z.B. Gärtnerei, Schmeichelei), das deshalb gleichfalls synchron nicht als Fremdsuffix gewertet wird. In den Fällen, in denen die Abgrenzung zwischen „fremd“ und „nicht fremd“ nach formalen Kriterien problematisch ist (z.B. in- als Negationspräfix in inadäquat oder inaktuell), kann die sprachvergleichende Perspektive weiterhelfen und die erkennbare Ähnlichkeit von Signifikanten (inhaltlich verwandter) lexikalischer Einheiten mehrerer Sprachen (Link 1983: 71) als synchrones Kriterium für den Status als Fremdmorphem („Euromorphem“) fungieren, wobei in diesen Fällen auch die ausgeprägte Kombinatorik mit nichtnativen Morphemen den Fremdwortbildungsstatus indiziert. Als Fremdmorpheme fungieren freie Grundmorpheme (Lexeme) wie Luxus oder Kultur, Präfixe (z.B. a-sozial, in-stabil), Suffixe (z.B. Sozial-ismus, brüsk-ier-en) und Konfixe (gebundene Morpheme mit lexikalischer Bedeutung), die häufig in Konfix-Konfix-Verbindungen (z.B. Aero-naut, Thermo-meter) vorkommen. Peter O. Müller ≡ exogenes Morphem; Fremdelement; sekundärsprachliches Morphem

→ § 35; Fremdpräfix; Fremdsuffix; Grundmorphem; Konfix

🕮 Eisenberg, P. [2012] Das Fremdwort im Deutschen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Link, E. [1983] Fremdwörter – der Deutschen liebste Wörter? In: DS 11: 47–77 ◾ Müller, P.O. [2005] Einführung. In: Müller, P.O. [Hg.] Fremdwortbildung. Theorie und Praxis in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt/Main [etc.]: 11–45 ◾ Müller, P.O. [2015] Foreign word-formation in German. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] WordFormation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1580–1597 ◾ Müller, P.O. [Hg. 2009] Studien zur Fremdwortbildung. Hildesheim [etc.] ◾ Munske, H.H. [1988] Ist das Deutsche eine Mischsprache? Zur Stellung der Fremdwörter im deutschen Sprachsystem. In: Munske, H.H./ Polenz, P. v./ Reichmann, O./ Hildebrandt, R. [Hg.] Deutscher Wortschatz. Lexikologische Studien. Ludwig Erich Schmitt zum 80. Geburtstag von seinen Marburger Schülern. Berlin [etc.]: 46–74.

Fremdpräfix

Präfix mit ausdrucksseitigen Fremdheitsmerkmalen und ausgeprägt exogener Kombinatorik. ▲ foreign prefix: prefix with non-native features and pronounced exogenous combinatorics. Fremdpräfixe weisen phonologische, graphematische bzw. morphologische Fremdheitsmerkmale auf (was z.B. für das ebenfalls entlehnte, aber vollständig assimilierte erz- < griech. archi- nicht zutrifft) und unterscheiden sich von nativen Präfixen auch in der ausgeprägten Kombinatorik mit exogenen Basen. Für das Deutsche ergibt sich folgende Wortartverteilung: a. Substantiv: a-/an- (Amoral), anti- (Antithese), bi- (Bimetall), de‑/des- (Desinteresse), dis- (Disharmonie), ex- (ExMonarch), hyper- (Hyperproduktion), inter- (In­ter­ disziplin), ko-/kol-/kom-/kon-/kor- (Ko­autor), mega(Mega-Hit), meta- (Metakommunikation), non(Non­existenz), pan- (Paneuropa), post- (Post­ma­te­ ria­lis­mus), prä- (Präexistenz), pro- (Pro­rektor), re(Reimport), semi- (Semifinale), sub- (Subkultur), super- (Supertalent), supra- (Su­pra­system), top(Topagent), trans- (Transaktion), ultra- (Ultrafaschist), vize- (Vizepräsident) b. Adjektiv: a-/an- (asozial), anti- (antiliberal), bi- (bilateral), de‑/des- (dezentral), dis- (disproportional), ex- (exradikal), extra- (extrakommunikativ), hyper- (hy­ per­nervös), in-/il-/im-/ir- (irregulär), inter- (interaktiv), intra- (intrafamiliär), mega- (megacool), meta- (metakommunikativ), non- (nonverbal), pan- (panarabisch), post- (postpubertär), prä-

295 Fremdsuffix (pränatal), pro- (proenglisch), semi- (semiprofessionell), sub- (subnormal), super- (superintelligent), supra- (supranational), top- (topaktuell), trans- (transsexuell), ultra- (ultrakonservativ) c. Verb: de-/des- (deaktivieren), dis- (disqualifizieren), in(inaktivieren), ko-/kol-/kom-/kon-/kor- (koexistieren), re- (resozialisieren) Wie diese Übersicht zeigt, werden zahlreiche Präfixe wortartübergreifend zur Modifikation von Basissubstantiven, -adjektiven und -verben verwendet. Das Ausmaß der Produktivität von Fremdpräfixen ist nicht immer leicht zu bestimmen. Sie kann über längere Zeit hinweg stabil bleiben, aber auch stärkeren Schwankungen unterliegen, die sich an der Zu- bzw. Abnahme von Neologismen zeigen und im Extremfall zur Inaktivität führen können. Andere Fremdmorpheme haben dagegen im Deutschen nie eine nennenswerte Produktivität entwickelt. Sie sind im Rahmen von im Deutschen motivierten Fremdwortbildungen analysierbar, haben aber keinen Modellcharakter für Neubildungen. Auch die zum Teil sehr spezifische Textsortenbindung von Fremdmorphemen mit einer Präferenz (fach-)wissenschaftlicher bzw. journalistischer Texte ist zu berücksichtigen. So ergibt sich für Fremdpräfixe ein disparates Bild, das von inaktiven oder nur vereinzelt für Neubildungen genutzten bis zu signifikant produktiven Elementen reicht, die allerdings auf den nominalen Bereich eingeschränkt sind. Zu diesen zählen die Präfixe anti-, ex-, mega-, super- und top-, wobei sich wortartspezifische Unterschiede ergeben wie bei ex-, das mit der allgemeinsprachlichen Bedeutung ‘ehemalig’ nur bei Substantiven produktiv ist, nicht aber bei Adjektiven. Charakteristisch für die Produktivität ist die große Anzahl an Hybridbildungen, in denen Fremdpräfixe mit nativen Basen verbunden sind (z.B. anti-deutsch, Ex-Fußballer, hyper-genau, Mega-Stau, ultra-stark). In semantischer Hinsicht lassen sich die Fremdpräfixe im Wesentlichen den Bedeutungsgruppen ‘Negation’ (a-/an-, de-/des-, dis-, in-/il-/im-/ir-, non-), ‘Augmentation’ (extra-, hyper-, mega-, super-, top, ultra-), ‘temporale Relation’ (ex-, post-, prä-, re-), ‘räumliche Relation’ (extra-, inter-, intra-, meta-, pan-, sub-, supra-, trans-) und ‘Quantifizierung’ (bi-) zuordnen. Außerhalb dieser Gruppen stehen die Präfixe anti- (‘gegen’), ko-/kol-/kom-/kon-/kor-

(‘zusammen mit’), pro- (‘anstatt’), semi- (‘halb’) und vize- (‘stellvertretend’). Nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ ergeben sich damit Unterschiede zur kleinen Gruppe der nativen Präfixe, bei denen die Augmentation einen deutlich geringeren Stellenwert einnimmt – diese Funktion erfüllen primär Präfixoide (z.B. mords-: Mordshunger ‘sehr großer Hunger’; sau-: saukalt ‘sehr kalt’; tod-: todtraurig ‘sehr traurig’) – und temporal-räumliche Modifikationsfunktionen fehlen. Peter O. Müller ≡ Lehnpräfix → § 35; Augmentation; Fremdsuffix; Hybridbildung; Modifikation; Negation; Präfix; Präfixoid; Wortart ⇀ Fremdpräfix (Gram-Formen)

🕮 Eisenberg, P. [2012] Das Fremdwort im Deutschen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Klosa, A. [1996] Negierende Lehnpräfixe des Gegenwartsdeutschen. Heidelberg ◾ Müller, P.O. [2005] Einführung. In: Müller, P.O. [Hg.] Fremdwortbildung. Theorie und Praxis in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt/M. [etc.]: 11– 45 ◾ Müller, P.O. [2015] Foreign word-formation in German. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1580–1597 ◾ Ruf, B. [1996] Augmentativbildungen mit Lehnpräfixen. Eine Untersuchung zur Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Heidelberg.

Fremdsuffix

Suffix mit ausdrucksseitigen Fremdheitsmerkmalen und ausgeprägt exogener Kombinatorik. ▲ foreign suffix: suffix with non-native properties and pronounced exogenous combinatorics. Fremdsuffixe weisen phonologische, graphematische bzw. morphologische Fremdheitsmerkmale auf (was z.B. für das ebenfalls entlehnte, aber vollständig assimilierte -er < lat. -ārius nicht zutrifft) und unterscheiden sich von nativen Suffixen auch in der ausgeprägten Kombinatorik mit exogenen Basen. Für das Deutsche ergibt sich folgende Wortartverteilung: a. Substantiv: -ade (Robinsonade), -age (Kartonage), -aille (Journaille ‘Journalisten, die mit ihren Beiträgen Hetze betreiben’), -alien (Archivalien), -ament/-ement (Bombardement), -and/-end (Doktorand), -aner (Afrikaner), -ant/-ent (Fabrikant), -anz/-enz (Dominanz), -ar/-är (Revolutuionär), -arium (Planetarium), -at (Konsulat), -ee (Resümee), -ese/-iese (Vietnamese), -ess (Stewardess), -esse (Delikatesse), -ette (Operette), -erie (Galanterie), -eur (Boykotteur), -euse (Friseuse), -ie (Aristokratie), -ine (Blon-

F

Fremdwortbildung 296

F

dine), -ing (Coaching), -ier (Bankier), -iere (Garderobiere), -ik (Problematik), -iker (Alkoholiker), -ion (Diskretion), -ismus (Aktivismus), -ist (Terrorist), -it (Israelit), -ität (Banalität), -ness (Fairness), -or (Illustrator), -ur (Architektur) b. Adjektiv: -abel/-ibel (diskutabel), -al/-ell (regional), -ant/-ent (charmant), -ar/är (atomar), -esk (clownesk), -iv (instinktiv), -oid (faschistoid), -os/-ös (medikamentös) c. Verb: -ier- (asphaltieren), -ifizier- (personifizieren), -isier(stabilisieren) Ebenso wie im Bereich der nativen Wortbildung ist auch bei der Fremdwortbildung im Deutschen der Anteil an substantivischen Suffixen deutlich höher als an adjektivischen und vor allem an verbalen. Anders als Präfixe sind Suffixe nicht nur mit Lexemen, sondern auch mit Konfixen kombinierbar, was bei der Annahme von Motivationsbasen zu Problemen und unterschiedlichen Lösungen führen kann. In semantischer Hinsicht sind – ebenso wie bei den Präfixen – monoseme Suffixe wie -oid (‘ähnlich’: z.B. faschistoid, snoboid, grippoid: ‘Verhalten bzw. Erkrankung, die einem Faschisten/Snob bzw. einer Grippe ähnlich ist’) von polysemen zu unterscheiden. So bezeichnen Derivate mit -or sowohl nomina agentis (z.B. Illustrator ‘jmd., der etwas illustriert’) als auch nomina instrumenti (z.B. Isolator ‘Material, mit dem man etwas isoliert’). Die Wortbildungsbedeutungen der Fremdsuffixe entsprechen im Allgemeinen dem nativen Bereich. Bei den Substantiven finden sich außer nomina agentis und nomina patientis auch nomina loci (z.B. Konsul-at), nomina abstracta (z.B. Monarch-ie), Movierung (z.B. Baron-esse), Kollektivbildung (z.B. Archiv-alien) und Diminuierung (z.B. Oper-ette). Im adjektivischen Bereich dominieren durch motivierte Relationsadjektive (z.B. region-al (‘die Region betreffend’), komparative (z.B. clown-esk ‘wie ein Clown’) und ornative (z.B. charm-ant ‘mit Charme versehen’) Bildungen sowie durch Verben motivierte Derivate mit passivisch-modaler Bedeutung (z.B. diskut-abel ‘kann diskutiert werden’). Die verbalen Suffixe -ier-, -ifizier- und -isier-, zum Teil auch als Allomorphe betrachtet, erweisen sich als ausgesprochen polysem. Zu den durch Substantive motivierten Bildungen zählen insbesondere ornative (z.B. asphalt-ier-en ‘mit Asphalt versehen’), faktitive (z.B.

pulver-isier-en ‘zu Pulver machen’) und imitative (z.B. spion-ier-en ‘als Spion tätig sein’) Lexeme. Durch Adjektive motivierte Derivate sind in der Regel Faktitiva (z.B. legal-isier-en ‘legal machen’). Werden Verben zu Konfixen gebildet, so sind -ier-, -ifizier- und -isier- als Verbalisierer fester Bestandteil entsprechender Bildungen (z.B. studier-en, elektr-ifizier-en, polit-isier-en). Das Suffix -ier- fungiert allerdings nicht nur als Derivationssuffix, sondern auch als seit dem 12. Jahrhundert genutztes Interferenzsuffix, das fremdsprachige Verben in das deutsche Flexionssystem eingliedert. Nicht alle dieser Verben stellen im Deutschen motivierte Wortbildungen dar (z.B. edieren ‘Bücher herausgeben, veröffentlichen’ < lat. edere ‘herausgeben’ < ex + dare). Bei den Fremdsuffixen ergeben sich hinsichtlich der Produktivität große Unterschiede, wobei gilt, dass die Masse der Suffixe über keine signifikante Produktivität verfügt. Der Bestand an Lexemen ist zum Teil sehr begrenzt, und neben entlehnten, aber synchron motivierten Bildungen sind kaum Neologismen dokumentiert. Zu den Ausnahmen zählen die substantivischen Suffixe -ismus, -ist, -ität und -ion sowie verbales -isier-. Die meisten Fremdsuffixe zählen zum gräkolateinischen Erbe des Deutschen, das zum Teil über Relaissprachen (Französisch, Italienisch, Englisch) vermittelt wurde. Nur wenige Wortbildungsmorpheme sind französischen (-ade, -age, -ee, -esse, -ette, -eur, -euse, -ier), italienischen (-esk) bzw. englischen (-ing, -ness) Ursprungs. Peter O. Müller ≡ Lehnsuffix → § 35; Diminuierung; Diminutivum; faktitives Verb; Fremdpräfix; Hybridbildung; Interferenzsuffix; Kollektivum; Konfix; Motivation; Movierung; nomen agentis; nomen instrumenti; nomen loci; nomen patientis; Nominalabstraktum; Suffix; Wortbildungsbedeutung ⇀ Fremdsuffix (Gram-Formen)

🕮 Eisenberg, P. [2012] Das Fremdwort im Deutschen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Müller, P.O. [2005] Einführung. In: Müller, P.O. [Hg.] Fremdwortbildung. Theorie und Praxis in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt/Main [etc.]: 11–45 ◾ Müller, P.O. [2015] Foreign word-formation in German. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1580–1597.

Fremdwortbildung

Wortbildung mit nicht-nativen Morphemen. ▲ foreign word-formation : word-formation with non-native morphemes.

297 Fremdwortbildung Die europäische Fremdwortbildung spiegelt die Geschichte der Sprachkontakte wider und ist grundsätzlich stark durch das gräkolateinische Erbe bestimmt. Obwohl dadurch in den Einzelsprachen viele nicht-native Wortbildungsmittel als Internationalismen („Euromorpheme“) eine gemeinsame Geschichte haben, ist die Ausprägung der Fremdwortbildung ‒ auch als Lehnwortbildung bezeichnet ‒ quantitativ und qualitativ durchaus unterschiedlich. Dies zeigt nicht nur der Vergleich zwischen roman. (vgl. zum Ital. Iacobini 2015), slaw. (zum Poln. vgl. Waszakowa 2015) und germ. (zum Engl. vgl. Dietz 2015; zum Dt. Müller 2015) Sprachen, sondern auch zwischen dem Dt. und Engl., das weit mehr „Mischsprache“ ist als das Dt. (vgl. Lutz 2008). Der folgende Überblick ist auf das Dt. zentriert. Die Erforschung der dt. Fremdwortbildung wurde aus puristischen Gründen lange Zeit kaum beachtet, und so zeigen sich auch noch heute eine ganze Reihe von Forschungslücken (Forschungsüberblicke bei Müller 2005a; 2005b; 2009a; 2009b; 2015; Ganslmayer/Müller 2021). Auch lexikographisch sind die Fremdwortbildungsmittel im Dt. nach wie vor unzureichend erfasst und beschrieben (vgl. Müller 2016). Insbesondere fehlt eine diachrone Gesamtdarstellung der deutschen Fremdwortbildung von etwa 1500 bis zur Gegenwart unter verschiedenen Aspekten (Etymologie, Wortbildungsstatus, Allomorphie, Wortbildungsfunktionen, Kombinatorik, Gebrauchsradius, Produktivität), die auf der Basis eines umfangreichen Korpus und in hinreichend sprachvergleichender Perspektive erarbeitet ist. Grundsätzliche Probleme bereitet dabei die Abgrenzung zwischen Entlehnungen einerseits und dt. Fremdwortbildungen andererseits, die den eigentlichen Forschungsgegenstand ausmachen. Eine Differenzierung zwischen beiden Wortschatzbereichen setzt aber eingehende sprachvergleichende Untersuchungen voraus, um abschätzen zu können, welche Fremdmorpheme im Dt. in welcher Ausprägung und zu welchen Zeiten produktiv geworden sind. Dazu gibt es aber nur wenige Untersuchungen (vgl. Kirkness 1996 zu aero-; Hoppe 1999 zu ex-, 2000 zu -(o)thek; Kinne 2000 zu post-, prä- und neo-; Nortmeyer 2000 zu inter- und trans-; Banholzer 2005 zu (i)tät). So werden in Wortbildungsdarstellungen im Allgemeinen auch solche Lexeme als „Fremdwortbildungen“ mitbe-

handelt, die tatsächlich Entlehnungen darstellen. Am Beispiel von -(i)tät (vgl. Banholzer 2005) lässt sich dies anhand von vier Wortgruppen verdeutlichen: (a) Autonomität, Defektivität, Depressivität (b) Honorität, Luscität, Xenizität (b) Laszivität, Naivität, Neutralität (c) Gravität, Kapazität, Pietät Bei diesen -(i)tät-Bildungen handelt es sich um Lexeme, die teils im Dt. gebildet (a, b), teils aber auch aus anderen Sprachen entlehnt worden sind (c, d). In diachroner Perspektive zählen nur diejenigen Lexeme zum Bereich der deutschen Fremdwortbildung, die im Dt. gebildet wurden, und zwar entweder zu Basiswörtern (Gruppe a: Rigorosität < rigoros, Synonymität < synonym, Vertikalität < vertikal) oder zu lexikalischen Morphemen, die im Dt. nur gebunden verwendet werden und im Allgemeinen als Konfixe bezeichnet werden (Gruppe b: Honor-ität < lat. honor, Lusc-ität ‘Schiefsichtigkeit’ < lat. luscus ‘schielend’, Xen-izität ‘Fremdartigkeit des Verhaltens von Elementarteilchen’ < griech. xénos ‘fremd’). Unter synchroner Perspektive wird der Gegenstandsbereich der germanistischen Fremdwortbildungsforschung dagegen im Allgemeinen weiter gefasst, da grundsätzlich alle zu einem bestimmten Zeitpunkt durch Wortbildungsbasen motivierbare Wortbildungen berücksichtigt werden, also auch solche, die entlehnt wurden, aber innerhalb des Wortbildungssystems des Dt. analysierbar sind. Dies gilt für die Lexeme unter (c), die aus dem Lat./Frz. entlehnt, aber im Dt. durch (ebenfalls entlehnte) Adjektive (lasziv, naiv, neutral) motiviert und damit als -ität-Derivate (nomina qualitatis) klassifizierbar sind. In den Darstellungen zur (Fremd-)Wortbildung des Dt. sind es gerade Beispiele aus dieser Gruppe (und nicht aus Gruppe a und b), anhand derer die Verwendung von Fremdaffixen und -konfixen dokumentiert wird. Anders dagegen Entlehnungen wie die Lexeme unter (d), denn sie sind nicht im Dt. durch eine Wortbildungsbasis motivierbar, sondern nur in der Herkunftssprache Latein (Gravität < gravitas < gravis, Kapazität < capacitas < capax, Pietät < pietas < pius). Wie vor allem das Beispiel Luscität zeigt, ein medizinisches Fachwort des 19. Jhs., dessen Element Lusc- im Dt. im Gegensatz zu Honor- (vgl. Honorar, honorig, honorieren) und Xen- (vgl. Xenolekt, xenophil, xenophob) nicht rei-

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henbildend vorkommt, ist aber auch die Abgrenzung der Gruppen b und d schwierig und ohne eingehende sprachvergleichende Untersuchungen nicht machbar. Die Geschichte der dt. Sprachkontakte ist lange Zeit durch den dominanten Einfluss des Lat. schon seit dem frühen Mittelalter sowie des Frz. seit dem 12. Jh. geprägt. Andere Sprachen wie Ital. oder Span. seit der frühen Neuzeit sind weit weniger einflussreich, und Engl. spielt vor dem 18./19. Jh. so gut wie keine Rolle und ist als Spendersprache für Affixe und Konfixe auch noch heute unbedeutend (vgl. Barz 2008). Insgesamt zeichnet sich ab, dass das Phänomen „deutsche Fremdwortbildung“ erst seit der frühen Neuzeit zu einer nachhaltigen Veränderung der Wortbildung des Dt. geführt hat, auch wenn die Anfänge schon im Frühmittelalter mit dem Fremdsuffix -āri (< lat. -ārius, nhd. -er: Lehr-er; cf. Müller 2011) liegen und im 12./13. Jh. mit weiteren Suffixen frz. bzw. lat. Herkunft (-ier-: nhd. add-ier-en; -ier: nhd. Bank-ier; -(er)īe: nhd. Lauf-erei; -lei: nhd. vieler-lei) fortgesetzt wird (vgl. die Beiträge von Öhmann in Müller 2005a). Erst zwischen 1500 und 1800 findet der entscheidende Wandel statt, der die Wortbildung des Dt. nachhaltig umgestaltet hat. Begegnen Fremdsuffixe zu Beginn der Neuzeit nur vereinzelt, so nehmen sie in den folgenden drei Jh. rapide zu und werden um 1800 gleichwertig neben nativen Affixen genutzt. Humanismus, barocke Hofkultur und Aufklärung bedingen die weitgehende Bindung an gräkolat. (neulat.) bzw. franz. Entlehnungsgrundlagen und schaffen damit die Voraussetzung für deren Weiterwirken im Rahmen der dt. Fremdwortbildung. Voraussetzung für Fremdwortbildung ist Wortentlehnung (zum Fremdwortschatz vgl. Eisenberg 2012). Bei den Wortentlehnungen ins Dt. handelt es sich ganz überwiegend um gräkolat. (neulat.) Wortschatz, der teils aus dem Griech. bzw. (Neu-)Lat., teils aber auch aus weiteren europ. Sprachen (Frz., Ital. und Engl. dominieren als Kontaktsprachen) stammt. Auch Fremdwortbildungen lebender Fremdsprachen, die ebenfalls die weitreichende gräkolateinische Grundlage der Sprachen Europas bezeugen, gehören dazu. Die Herkunft ist nicht immer eindeutig zu klären, da auch mit gegenseitiger Beeinflussung und Polygenese zu rechnen ist, handelt es sich doch häufig um Internationalismen.

Der Fremdwortbildung liegen zwei unterschiedliche Verfahren zugrunde: die Aktivierung von Fremdmorphemen (Lexeme, Präfixe, Suffixe) sowie die Morphematisierung fremdsprachiger Lexemsegmente. Im ersten Fall werden von dem Muster entlehnter Wörter ausgehend Fremdlexeme (z.B. lat. luxus > Luxus > Luxusartikel, Luxusauto, Luxusweibchen) oder Fremdaffixe (Präfixe wie lat. re-: resozialisieren bzw. Suffixe wie lat. -ismus: Darwinismus) für Neubildungen nutzbar gemacht. Morpheme, die in der Kontaktsprache wortfähig sind, treten dabei im Dt. häufig nur gebunden auf (z.B. lat. post ‘nach, hinter’: postmodern). Im zweiten Fall resultiert die Nutzung fremder Wortbausteine als Wortbildungselemente aus einer Reanalyse. Morphematisiert werden dabei i.A. solche Bestandteile von Fremdwörtern, die in der Herkunftssprache (Kontaktsprache) kein Affix darstellen, die aber auch nicht als Fremdwörter in das Dt. übernommen worden sind. Zu entsprechenden Segmenten, die innerhalb der germanistischen Wortbildungsforschung in der Regel als „Konfixe“ bezeichnet werden ‒ das engl. Pendant ist „combining form“ (vgl. Eins 2015: 1563f.) ‒ und nur gebunden auftreten, gehören etwa meter (zu griech. métron ‘Maß’: Barometer, Gasometer, Thermometer) und therm (zu griech. thermós ‘warm’: Thermostat, thermophil, isotherm). Die Definition von Konfixen und ihre Abgrenzung zu Stämmen bzw. Affixen erfolgt uneinheitlich (vgl. Schmidt 1987; Eins 2008; Donalies 2009). Das Verhältnis von Wortentlehnung und deutscher Fremdwortbildung ist quantitativ und qualitativ ganz unterschiedlich ausgeprägt und auch mit erheblichen Divergenzen in deren zeitlicher Abfolge verbunden, so dass kaum Verallgemeinerungen möglich sind. Die Beispiele -thek und exsollen dies verdeutlichen (vgl. Hoppe 1999, 2000): Das Konfix -thek ist zunächst im 16. Jahrhundert in griechisch-lateinischen Lehnwörtern nachweisbar (1511 Bibliothek, 1548 Pinakothek). Erst sehr viel später – seit dem frühen 19. Jh. – wird es vereinzelt für dt. Fremdwortbildungen verwendet: 1816 Glyptothek (‘[Ort einer] Sammlung von Glypten [geschnittenen Steinen, Skulpturen]’), 1905 Kartothek (‘[Ort einer] Zettelsammlung’), 1927 Pianothek (‘[Ort einer] Pianosammlung’). Als produktives Fremdmorphem ist -thek aber erst in jüngerer Zeit – seit den 60er Jahren des 20. Jh.>

299 Fremdwortbildung – mit zahlreichen, hinsichtlich Gebräuchlichkeit, Konnotation und Verwendungsradius abweichenden Neubildungen dokumentiert, z.B. 1960 Filmothek (‘[Ort einer] Sammlung von Filmen’), Phonothek (‘[Ort einer] Sammlung von Tonaufnahmen’), 1975 Hobbythek (‘[Ort einer] hobbybezogenen Sammlung’), 1981 Spielothek (‘[Ort eines] Sortiment(s) von Spielen’), 1988 Quatschothek (‘Ort, wo man quatschen kann’), Salatothek (‘[Ort eines] Salatsortiment[s]’), 1994 Puffothek (‘Bordell’), Schnapsothek (‘Ort, an dem man Schnaps trinken/kaufen kann’). Ein anderes Bild ergibt sich dagegen für das Fremdpräfix ex- (‘ehemalig’): Es ist zunächst nur vereinzelt in neulateinischen Lehnwörtern dokumentiert (z.B. 1746 Excalvinist), erfährt dann aber ausgehend von dem Leitwort Exjesuit (1773 im Zusammenhang mit der Aufhebung des Jesuitenordens geprägt) schon bald einen Produktivitätsschub und ist noch im 18. Jh. in zahlreichen Neubildungen mit exogenen bzw. nativen Basen belegt (Exgeneral, Exminister, Exnonne, Exschuster, Exfrau, Exnachtwächter etc.). Diese Produktivität hat sich bis heute erhalten, wo ex- immer häufiger auch als wortfähiges Morphem verwendet wird (z.B. mein Ex = ‘Ex-Freund, Ex-Mann, ExGeliebter, Ex-Lebensgefährte etc.’). Im Gegensatz zu Wortbildungen mit -thek und ex-, die die Produktivität beider Kombineme verdeutlichen, gibt es aber auch Wortbildungsmuster, die im Deutschen keine oder nur eine ganz geringe Wortbildungsaktivität zeigen. Sie sind Bestandteil von Lehnwörtern, die im Deutschen durch Bezugslexeme morphologisch-semantisch motivierbar und damit analysierbar sind. Dazu zählen zahlreiche Prä- und Suffixe wie etwa -and (Habilitand) oder -esse (Baronesse), die in der Regel nur in wenigen Bildungen nachweisbar sind und vermutlich auch deshalb wortbildungsinaktiv bleiben. In Bezug auf das quantitative Verhältnis beider Morphemgruppen ist festzustellen, dass die „Zahl der auch im Dt. motivierten Entlehnungen (im Sinne analysierbarer Muster) […] um ein Vielfaches höher [ist] als die der produktiv im Dt. entstandenen Lehnwortbildungen” (Munske 2009: 247). Die an der Fremdwortbildung beteiligten Lexeme, Affixe und Konfixe haben schwerpunktmäßig Anteil an den Wortbildungsarten Komposition ((1a-d)) und Derivation ((2a-c)):

(1) Komposition (1a) Lexem(stamm) + Lexem(stamm): Luxus-Suite (1b) Konfix + Lexem(stamm): Bio-Gas (1c) Lexem(stamm) + Konfix: Kosm-o-naut (1d) Konfix + Konfix: therm-o-phil (2) Derivation (2a) Präfix + Lexem(stamm): in-aktiv (2b) Lexem(stamm) + Suffix: Hotel-ier (2c) Konfix + Suffix: Polem-ik Weitere Fremdwortbildungsarten sind die Konversion (z.B. Google > googlen/googeln; E-Mail > emailen; scannen > das Scannen), Rückbildung (z.B. Powerwalking > powerwalken; Windsurfing > windsurfen), Kontamination (z.B. Magalog ‘Journal, das eine Mischung aus Magazin und Katalog darstellt’; Bistrorant ‘Gaststätte, die eine Mischung aus Bistro und Restaurant darstellt’) und Kurzwortbildung (z.B. Homo < Homosexueller; inlinen < inlineskaten), allerdings mit deutlich geringerer Frequenz. Die Analyse von Fremdwortbildungen birgt zum Teil Probleme, die im Bereich der indigenen Wortbildung so nicht auftreten. Dazu zählt die Möglichkeit, sowohl stamm- als auch wortorientiert zu analysieren (z.B. polemisieren: Konfix polem + Suffix -isier oder: polemisch als Basiswort + Suffix -isier mit Annahme von Suffixtausch), aber auch die Abgrenzung der morphologischen Bausteine ‘Basislexem/Konfix’, ‘Fuge’ und ‘Affix/Konfix’ wie bei den divergenten Strukturanalysen von Chinese (Chin-es-e vs. Chines-e vs. Chin-ese), Afrikaner (Afrika-ner vs. Afrika-n-er vs. Afrikan-er vs. Afrik-aner), Demonstration (Demonstr-at-ion vs. Demonstra-tion vs. Demonstr-ation) oder Filmothek (Film-o-thek vs. Film-othek vs. Filmo-thek). Zu den Charakteristika der Fremdwortbildung zählen neben der Morphemkategorie „Konfix“ und den Fremdsuffixen mit Hauptakzent auch die Fugenelemente -o- und (selten) -i- (z.B. Stratigraphie), die auf Kompositionsvokale des Griech. (-o-) bzw. des Lat. (-i-) zurückgehen. Sie treten in der Regel in substantivischen und adjektivischen Fremdwortbildungen auf, die mindestens ein gräkolateinisches Konfix enthalten. Auch die Interpretation entsprechender Konfixkomposita erfolgt uneinheitlich, weshalb etwa für das Subst. Filmothek eine dreifache Strukturierung möglich ist: mit Fugenelement -o- (Film-o-thek), mit der Kompositionsstammform filmo- (Filmo-thek) und

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Fremdwortbildung 300

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mit dem Postkonfixallomorph -othek (Film-othek). Für die Verwendung von -o- ist grundsätzlich das Vorhandensein bzw. Fehlen eines vokalischen Auslauts des Erstelements bzw. eines vokalischen Anlauts des Zweitelements maßgebend. Deshalb fehlt -o- in Hobbythek (vokalischer Auslaut des Erstelements Hobby) und in thermal (vokalischer Anlaut des Fremdsuffixes -al), und deshalb fehlt -o- auch grundsätzlich bei der Kombination von Präkonfixen mit Verben, da hier das vokalisch anlautende und den Hauptakzent tragende Suffix -ier- (-ifizier-, -isier-) fester Bestandteil ist (z.B. hydr-ieren vs. Hydr-o-phobie, Hydr-o-skop, hydr-ophil). In Bildungen wie Filmothek gewährleistet die -o-Fuge die Akzentverlagerung auf Postkonfixe, die ebenso wie die neoklassischen Fremdsuffixe den Hauptakzent tragen. Indigene Erstelemente werden damit dem Betonungsmuster von Postkonfixbildungen angepasst. Dies ist allerdings nicht die alleinige Funktion von -o-, denn in hybriden Bildungen des Musters ‘Präkonfix + indigenes Lexem’ (z.B. Thermo-Hose) bleibt das Betonungsmuster nativer Determinativkomposita erhalten. Die Verwendung der -o-Fuge ist offenbar konfixabhängig rechts- wie linksgesteuert, womit sich dieses Fugenelement in seiner Funktion deutlich von den nativen Fugen unterscheidet. In sog. Hybridbildungen (vgl. Munske 2009; Dargiewicz 2013) kommt es schließlich zur Kombination von exogener und indigener Wortbildung. Die folgende Übersicht zeigt die Kombinationsmöglichkeiten hybrider Komposita und Derivate: a. exogenes Lexem + indigenes Lexem: Luxus+wohnung b. indigenes Lexem + exogenes Lexem: Glas+manufaktur c. indigenes Lexem + Konfix: Telefon+itis d. Konfix + indigenes Lexem: Hydro+werk e. exogenes Präfix + indigenes Lexem: Ex+König f. indigenes Präfix + exogenes Lexem: ab+montieren g. indigenes Lexem + exogenes Suffix: hof+ier-en h. exogenes Lexem + indigenes Suffix: Autor+schaft i. exogenes Konfix + indigenes Suffix: stat+isch j. indigenes Präfix + exogenes Lexem + exogenes Suffix: ver+absolut+ier-en In Bezug auf die Frequenz ergeben sich für diese Subtypen größere Unterschiede. Bei der Komposition (a–d) gibt es für die Modelle (a) und (b) kei-

nerlei Restriktionen, sie werden massenhaft verwendet. Die Kombination von Fremdkonfixen mit indigenen Lexemen zählt dagegen zu den eher selten genutzten Modellen, wobei in den letzten Jahren stilistisch auffällige Verbindungen mit -thek (z.B. Quatsch-o-thek ‘Ort, wo man quatschen kann’) und -itis (Modell c) zunehmen. Während im Bereich der substantivischen und adjektivischen Komposition abgesehen von hybriden Konfixkomposita kaum Bildungsbeschränkungen bestehen, zeigen sich für die Derivation stärkere Restriktionen. Im Bereich der Suffigierung entsprechen Hybridbildungen ganz überwiegend den Strukturtypen (h) und (i). Das indigene Suffix wirkt hier assimilierend. Sehr produktiv sind die Suffixe -ung (z.B. Klassifizierung), -in (z.B. Sekretär-in), -isch (z.B. elektr-isch) und -bar (z.B. praktizier-bar). Der umgekehrte Fall (Modell g), bei dem das exogene Suffix die indigene Basis „verfremdet“, ist dagegen selten. Dazu zählen Bildungen mit -ist (z.B. Lager-ist), -ität (z.B. Schwul-ität) und -ier- (z.B. gast-ier-en). Auch bei Präfixderivaten zeigen sich Divergenzen: Während bei Verben Hybridbildungen des Typs ‘indigenes Präfix/Partikel + exogenes Lexem’ (Modell f) häufig vorkommen (z.B. ent-tabuisieren, ab-montieren, um-sortieren), teils auch als denominale Bildungen mit Präfix-Suffix-Struktur (Modell j, z.B. ver-absolut-ieren), sind im nominalen Bereich nur Bildungen mit un- geläufig, vor allem bei Adjektiven (z.B. un-exakt, un-präzise). Dafür finden sich im Nominalbereich zahlreiche Beispiele für Modell (e), darunter viele Augmentativbildungen mit mega- (z.B. Mega-Stau), hyper- (z.B. hyper-genau) und ultra- (z.B. ultra-stark) sowie Derivate mit ex- (z.B. Ex-Fußballer) und anti- (z.B. anti-deutsch). Nicht nur hinsichtlich der Frequenz der einzelnen Modelle hybrider Wortbildung, sondern auch in Bezug auf die Wortbildungsaktivität der nativen und exogenen Affixe bestehen größere Unterschiede. So werden verbale Fremdpräfixe (de-, dis-, in-, ko-, re-) überhaupt nicht zur Hybridbildung genutzt, während im nominalen Bereich Präfixe mit großer Produktivität begegnen (z.B. ex-, hyper-, mega-). Munske (2009: 253) erklärt dies damit, „daß Lehnbildungsmodelle in morphologisch und semantisch eindeutigen Nischen besonders erfolgreich sind und hier auch Modelle der indigenen Wortbildung verdrängen und er-

301 Frequentativbildung setzen können”. Allerdings spielt wohl auch die Frequenz eine wichtige Rolle, denn gerade die analysierbaren, aber unproduktiven Strukturmuster sind im Dt. in der Regel nur mit wenigen Lehnwörtern präsent (z.B. -ast: Gymnasiast, Enthusiast; -ee: Gelee, Odyssee, Resümee). Hybridbildungen verdeutlichen, auf welche Weise die beiden Teilsysteme der deutschen Wortbildung, die native und die Fremdwortbildung, verzahnt sind. Diese Konvergenz hat jedoch ihre Grenzen, die sich an verschiedenen Faktoren zeigen. Dazu zählen Restriktionen in der Kombinierbarkeit nativer und exogener Morpheme, aber auch Differenzen in Bezug auf den Morphemstatus und Wortbildungsstrukturen (Konfix, Kombination gebundener Morpheme), Probleme der eindeutigen Zuordnung zu nicht-nativen Wortbildungsbasen, eigene Regeln der Allomorphie (z.B. in-aktuell, il-legal, im-materiell, ir-regulär; explodieren : Explosion), die Existenz paralleler Wortbildungsmuster (z.B. immigrieren : einwandern, kooperieren : zusammenarbeiten, renovieren : erneuern) sowie die domänenspezifische Verteilung: Die Frequenz von Fremdwortbildungen nimmt von Fachsprachen über die akademische zur nicht-akademischen Alltagssprache kontinuierlich ab, und der Anteil an Fremdmorphemen ist in der Wortbildung der gesprochenen Sprache deutlich niedriger als in der Schriftsprache. Fremdwortbildung und native Wortbildung erweisen sich im Deutschen als grundsätzlich eigene, aber komplementäre Systeme. Peter O. Müller ≡ exogene Wortbildung; Lehnwortbildung; nicht-native Wortbildung → § 33, 34, 37; Allomorph; Augmentativum; Derivation; Fremdpräfix; Fremdsuffix; Fuge; Fugenelement; Grundmorphem; Hybridbildung; Komposition; Konfix; Kontamination; Konversion; Kurzwortbildung; Rückbildung; unproduktiv; Wortbildungsaktivität; Wortbildungsmuster 🕮 Banholzer, I. [2005] -(i)tät: Vom lateinischen Suffix zum deutschen Fremdsuffix. Marburg ◾ Barz, I. [2008] Englisches in der deutschen Wortbildung. In: Eichinger, L.M./ Meliss, M./ Domínguez Vázquez, M.J. [Hg.] Wortbildung heute. Tendenzen und Kontraste in der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen: 39–60 ◾ Dargiewicz, A. [2013] Fremde Elemente in Wortbildungen des Deutschen. Zu Hybridbildungen in der deutschen Gegenwartssprache am Beispiel einer raumgebundenen Untersuchung in der Universitäts- und Hansestadt Greifswald. Frankfurt/Main [etc.] ◾ Dietz, K. [2015] Foreign word-formation in English. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]:1637–1660 ◾ Donalies,

E. [2009] Stiefliches Geofaszintainment − Über Konfix­theorien. In: Müller, P.O. [Hg.] Studien zur Fremdwortbildung. Hildesheim: 41–64 ◾ Eins, W. [2008] Muster und Konstituenten der Lehnwortbildung. Das Konfix-Konzept und seine Grenzen. Hildesheim [etc.] ◾ Eins, W. [2015] Types of foreign word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] WordFormation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1561–1579 ◾ Eisenberg, P. [2012] Das Fremdwort im Deutschen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Ganslmayer, C./ Müller, P.O. [2021] Historische Fremdwortbildung. Forschungsstand und Perspektiven. In: Gansl­ mayer, C./ Schwarz, C. [Hg.] Historische Wortbildung: Theorien – Methoden – Perspektiven. Hildesheim [etc.]: 105‒144 ◾ Hoppe, G. [1999] Das Präfix ex-. Beiträge zur Lehn-Wortbildung. Mit einer Einführung in den Gegenstandsbereich von Gabriele Hoppe und Elisabeth Link. Tübingen ◾ Hoppe, G. [2000] Aspekte der Entlehnung und Lehn-Wortbildung am Beispiel -(o)thek. Mit einem Verzeichnis französischer Wörter auf -(o)thèque und Anmerkungen zu Eingangseinheiten von -(o)thek-Kombinationen. Mannheim ◾ Iacobini, C. [2015] Foreign word-formation in Italian. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1660–1679 ◾ Kinne, M. [2000]: Die Präfixe post-, prä- und neo-. Beiträge zur Lehn-Wortbildung. Tübingen ◾ Kirkness, A. [1996] Zur lexikographischen Dokumentation eurolateinischer Wortbildungseinheiten: Vergleichende Beobachtungen am Beispiel aero-. In: Munske, H.H./ Kirkness, A. (Hg.) Eurolatein. Das griechische und lateinische Erbe in den europäischen Sprachen. Tübingen: 236–274 ◾ Lutz, A. [2008] Types and Degrees of Mixing: A Comparative Assessment of Latin and French Influences on English and German Word Formation. In: IJGermLingSA 13(2): 131–165 ◾ Müller, P.O. [Hg. 2005a] Fremdwortbildung. Theorie und Praxis in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt/Main [etc.] ◾ Müller, P.O. [2005b] Einführung. In: Müller, P.O. [Hg.] Fremdwortbildung. Theorie und Praxis in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt/Main [etc.]: 11–45 ◾ Müller, P.O. [Hg. 2009a] Studien zur Fremdwortbildung. Hildesheim [etc.]◾ Müller, P.O. [2009b] Fremdwortbildung. Eine Einführung in diesen Band. In: Müller, P.O. [Hg.] Studien zur Fremdwortbildung. Hildesheim [etc.]: 1–17 ◾ Müller, P.O. [2011] The polysemy of the German suffix -er: aspects of its origin and development. In: STUF − Language Typology and Universals 64: 33–40 ◾ Müller, P.O. [2015] Foreign word-formation in German. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1580–1597 ◾ Müller, P.O. [2016] Historische Lexikographie und Fremdwortbildung. In: Lobenstein-Reichmann, A./ Müller, P.O. [Hg.] Historische Lexikographie zwischen Tradition und Innovation. Berlin [etc.]: 187–212 ◾ Munske, H.H. [2009] Was sind eigentlich „hybride“ Wortbildungen? In: Müller, P.O. [Hg.] Studien zur Fremdwortbildung. Hildesheim [etc.]: 223–260 ◾ Nortmeyer, I. [2000]: Die Präfixe inter- und trans-. Beiträge zur Lehn-Wortbildung. Tübingen ◾ Schmidt, G.D. [1987] Das Kombinem. In: Hoppe, G./ Kirkness, A./ Link, E./ Nortmeyer, I./ Rettig, W./ Schmidt, G.D. [Hg.] Deutsche Lehnwortbildung. Tübingen: 37–52 ◾ Waszakowa, K. [2015] Foreign word-formation in Polish. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]:1679–1696.

Frequentativbildung ≡ Frequentativum

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frequentative Vorgangsbezeichnung 302

frequentative Vorgangsbezeichnung ≡ Vorgangskollektivum

Frequentativum

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semantisch bestimmte Klasse zumeist verbaler, seltener nominaler Bildungen zur Bezeichnung der regelmäßigen Wiederholung einer Handlung oder eines Vorgangs. ▲ frequentive: semantically determined class of mostly verbal, seldom nominal formations for the expression of a regularly repeated process or action. Um die regelmäßige Wiederholung einer Handlung oder eines Vorgangs auszudrücken, stehen in den verschiedenen Sprachen ganz unterschiedliche Mittel und Verfahren zur Verfügung: – lexikalische Mittel: dt. täglich, engl. repeatedly; syntaktische Konstruktionen mit speziellen –  Hilfs­verben: dt. sie pflegt morgens lange zu schlafen; norw. han pleier å legge seg tidlig ‘er pflegt zeitig zu Bett zu gehenʼ (vgl. Mønnesland 1984: 53f.); - Flexion: dt. die Hirten [mehrere] fingen [mehrere Handlungen] Rentiere ein (Schlachter 1966: 74); - Wortbildung: lat. facere ‘tun’ > facitāre ‘zu tun pflegen’, finn. muistuttavat ‘jmdn. erinnern’ > muistuttelevat ‘jmdn. wiederholt erinnern’ (vgl. Kolehmainen/Savolainen 2007: 8f.), ung. beszélni ‘reden’ > beszélgetni ‘häufig, längere Zeit reden; sich unterhalten’ (vgl. Schlachter 1966: 85f.). Der Terminus Frequentativum bezieht sich im Allgemeinen auf Wortbildungen mit frequentativer (auch: iterativer) Wortbildungsbedeutung. Frequentativa bezeichnen ebenso wie Kontinuativa durative Vorgange, also Vorgänge, die in ihrem zeitlichen Ablauf kontinuierlich und nicht auf einen Endpunkt hin ausgerichtet sind. Im Unterschied zu Kontinuativa, die das überdurchschnittlich lange Andauern bzw. das langsame Ablaufen eines Vorgangs kennzeichnen, drücken Frequentativa jedoch aus, „daß der Vorgang mehrmals abläuft oder mehrere Objekte erfaßt oder daß mehrere Subjekte nacheinander handeln“ (Schlachter 1966: 75). Ihre Bildung erfolgt zumeist durch Derivation, entsprechende Modelle sind vor allem in den slawischen und in den finno-ugrischen Sprachen äußerst produktiv. Darüber hinaus können Frequentativa auch durch Reduplikation gebildet werden: lat. murmur ʻdas Gemurmel, das Murmelnʼ. Im Deutschen stehen für die Bildung verbaler

Frequentativa vor allem die Suffixe -(e)l(n) und -(e)r(n) zur Verfügung: stechen > sticheln, blinken > blinkern (vgl. Fleischer/Barz 2012, 429–431). Substantivische Frequentativa entstehen mithilfe des Suffixes -erei sowie mithilfe des Zirkumfixes Ge-...-e: Gepfeife, Pfeiferei ‘fortgesetztes Pfeifen’ (vgl. Erben 2006: 51). Dabei ergibt sich häufig eine Nähe zu anderen semantischen Klassen. Insbesondere zu den Diminutiva und zu den Pejorativa ist die Abgrenzung schwierig, da zahlreiche Frequentativa zusätzlich auch über diminutive und/ oder pejorative Bedeutungskomponenten verfügen, vgl. dt. hüsteln ‘mehrmals hintereinander schwach husten’, Gesinge ‘dauerndes, als lästig empfundenes Singen’. In einigen Sprachen – etwa in den slawischen oder den finno-ugrischen Sprachen – sind verbale Frequentativa als entsprechende Aktionsart systematisch ausgebildet (vgl. Schlachter 1966: 71). So entstehen frequentative Verben im Russischen regelmäßig durch das Affix -va-: govorit' ‘sagen’ > govarivat' ‘zu sagen pflegen’, sprasit' ‘fragen’ > sprašivat' ‘ausfragen, immer wieder fragen’. Mitunter wird diese Erscheinung der Kategorie Aspekt (russ. vid) zugeordnet. Unter diesem Gesichtspunkt rücken verbale Frequentativbildungen aus dem Zentrum der Wortbildung heraus in den Bereich der Formenbildung. Anja Seiffert ≡ Frequentativbildung → Aktionsart; Derivation; Diminutivum; durativ; iterativ; Kollektivum; pejorativ; Reduplikation; Wortbildungsbedeutung; Wortbildungsmodell

🕮 Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Kolehmainen, L./ Savolainen, T. [2007] Deverbale Verbbildung im Deutschen und im Finnischen. Würzburg [etc.] ◾ Mønnesland, S. [1984] The slavonic frequentative habitual. In: de Groot, C./ Tommola, H. [eds.] Aspect bound. Dordrecht: 53–76 ◾ Schlachter, W. [1966] Zur Geschichte der Frequentativa im Ungarischen. Göttingen: 72–156.

Frequenz

Häufigkeit, mit der ein Wort oder ein Affix innerhalb eines Textes vorkommt. ▲ frequency: term referring to the number of times a word or affix occurs in a text. Die Frequenz wird normalerweise mittels großer elektronischer Korpora gemessen, von

303 Fuge denen angenommen wird, dass sie für die betreffende Sprache repräsentativ sind. Tatsächliche Frequenzen variieren notwendigerweise von Sprecher zu Sprecher je nach ihrem sozioökonomischen Status und den Berufs- und Freizeitgruppen, denen sie angehören. Wörter mit dem Bestandteil kardio- werden bei Herzchirurgen frequenter sein als bei Bergarbeitern. Die Frequenz wird normalerweise durch die Anzahl der Vorkommen pro Million Wörter laufenden Textes ausgedrückt. Es sind zwei Arten von Frequenz zu unterscheiden: Typenfrequenz und Tokenfrequenz. Im Zusammenhang mit Wörtern wird normalerweise der Typ mit dem Lexem gleichgesetzt (das in diesem Kontext häufig als Lemma bezeichnet wird), sodass liebe, liebst, liebt, lieben alle Tokens desselben Typs sind. Im Zusammenhang mit Affixen (oder anderen morphologischen Prozessen) gelten die Wörter, die das Affix beinhalten, als Typ, die Anzahl des Vorkommens dieses Affixes als Token. So könnte ein größeres Korpus des Englischen lediglich zwei Typen mit dem Suffix -ter (laughter und slaughter, unter der Annahme, dass slaughter als relevant akzeptiert wird) enthalten, aber wenn laughter 267-mal vorkäme und slaughter 33-mal, dann würde die Tokenfrequenz von -ter in dem betreffenden Korpus 300 betragen (was auch als eine Number pro eine Million Wörter ausgedrückt werden kann), die Typenfrequenz aber nur 2. Grundsätzlich geht man davon aus, dass eine hohe Tokenfrequenz für jeden Typ bei geringer Typenfrequenz mit geringer Produktivität und eine relativ geringe Tokenfrequenz für jeden Typ mit hoher Produktivität korreliert, vgl. hier Baayen (1992) und (1993). Für ein nicht-produktives Affix, wie z.B. das oben angeführte -ter wird man in einem umfangreichen Korpus wahrscheinlich alle Typen finden, die es beinhalten, und die einzelnen Typen werden wegen ihrer Geläufigkeit für die Sprecher wahrscheinlich mehrfach vorkommen. Ein hochproduktives Affix wie -ness dagegen wird in weit mehr Wörtern vorkommen, als in Korpora gefunden werden können, aber weil einige der Typen, in denen -ness vorkommt, Neubildungen sein werden, wird die durchschnittliche Anzahl von Token für jeden Typ wahrscheinlich geringer sein als im Fall des nicht-produktiven Affixes, vgl. Plag (1999). Man nimmt an, dass

Frequenz eng mit vielen Aspekten sprachlichen Verhaltens verknüpft ist. So ist es z.B. ein Allgemeinplatz der historischen Linguistik, dass hochfrequente irreguläre Flexionsformen mit höherer Wahrscheinlichkeit erhalten bleiben als niedrig-frequente irreguläre Formen. Laurie Bauer

→ Ad-hoc-Bildung; korpusbasierte Wortbildungsforschung; Lexem; Produktivität

⇀ Frequenz (CG-Dt; QL-Dt; Phon-Dt; Textling) ⇁ frequency (Phon-Engl; CG-Engl; Woform; Typol; Media)

🕮 Baayen, H. [1992] Quantitative Aspects of Morphological Productivity. In: Booij, G./ van Marle, J. [eds.] YbMo 1991. Dordrecht [etc.]: 109–149 ◾ Baayen, H. [1993] On Frequency, Transparency and Productivity. In: Booij, G./ van Marle, J. [eds.] YbMo 1992. Dordrecht [etc.]: 181–208 ◾ Bauer, L. [2001] Morphological Productivity. Cambridge [etc.] ◾ Gaeta, L./ Ricca, D. [2015] Productivity. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 842–858 ◾ Plag, I. [1999] Morphological Productivity. Structural Constraints on English Derivation. Berlin [etc.].

Fuge

Verbindungsstelle zwischen den Bestandteilen in einem Kompositum oder in einem Derivat. ▲ morphological boundary: boundary between the constituents in a compound or a derivative.

Als „Fuge“ bezeichnet man gewöhnlich die Nahtstelle zwischen den Konstituenten einer komplexen Wortbildung (vgl. Fleischer/Barz 2012: 185). Dabei sind den unterschiedlichen Wortbildungsarten entsprechend Kompositionsfugen von Derivationsfugen zu unterscheiden. In den meisten Fällen weisen Fugen kein Fugenelement auf („Nullfuge“), vgl. Fest-geld, Haus-tür, Schaum-bad; heil-sam, klein-lich. Der Anteil an Wortbildungen, deren Nahtstelle Fugenelemente (z.T. verkürzt als „Fugen“ bezeichnet) enthält (z.B. Geburt-s-tag, Schwein-e-braten; frühling-s-haft, Held-en-tum) ist vergleichsweise gering und liegt z.B. im Korpus von Ortner et al. (1991: 54) für Substantivkomposita bei rund 26%. Nanna Fuhrhop

→ § 20; Derivationsfuge; Einfügung; Fugenelement; Kompositionsfuge; -o-Fuge

⇀ Fuge (Gram-Formen)

🕮 Donalies, E. [2005] Die Wortbildung des Deutschen. 2., überarb. Aufl. Tübingen ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Fuhrhop, N. [1998] Grenzfälle morphologischer Einheiten. Tübingen ◾ Fuhrhop, N./ Kürschner, S. [2015] Linking elements in Germanic. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./

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Fugenbeugung 304

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Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 568– 582 ◾ Kopf, K. [2018] Fugenelemente diachron. Eine Korpusuntersuchung zu Entstehung und Ausbreitung der verfugenden N+N-Komposita. Berlin [etc.] ◾ Nübling, D./ Szczepaniak, R. [2008] On the Way from Morphology to Phonology. German Linking Elements and the Role of the Phonological Word. In: Morph 18: 1–25 ◾ Ortner, L./ Müller-Bollhagen, E./ Ortner, H./ Wellmann, H./ Pümpel-Mader, M./ Gärtner, H. [1991] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der deutschen Gegenwartssprache. 4. Hauptteil: Substantivkomposita (Komposita und kompositionsähnliche Strukturen). Berlin [etc.].

Fugenbeugung

≡ Binnenflexion (1)

Fugenelement

Einheit, die in der Komposition oder in der Derivation an einer morphologischen Verbindungsstelle eingefügt wird. ▲ linking element: entity that is inserted at the morphological boundary in a compound or a derivative. Fugenelemente finden sich in einigen Sprachen an der Schnittstelle von Komposita (Liebling-sgetränk) oder Derivaten (frühling-s-haft). Fugenelemente in dieser Form sind eine Besonderheit der germanischen Sprachen, sie kommen zum Beispiel im Dt., Niederl., Schwed. vor. Der so genannte Themavokal, wie das Altgriech. ihn kennt, der auch in dt. Gräzismen zu finden ist wie Ök-onomie, wird im Allgemeinen nicht als Fugenelement bezeichnet. Die Fugenelemente der germanischen Sprachen sind im Allgemeinen ursprünglich Flexionselemente, die aus unterschiedlichen Gründen erhalten geblieben sind. Interessant ist, ob sie als Fugenelemente, also unabhängig von ihrer ursprünglichen Flexionsfunktion, in den verschiedenen Sprachen produktiv geworden sind. Da Komposita häufig lexikalisiert werden, besteht grundsätzlich die Möglichkeit, ein Fugenelement mit zu lexikalisieren. Die Fugenelemente haben nach dem Stand der Forschung im Dt. die weiteste Ausprägung; daher ist das Dt. hier die Modellsprache. Die Fugenelemente werden bestimmt vom Erstglied, daher wird auch von der Kompositionsstammform gesprochen. So gibt es Kompositionsstammformen wie Rind-er-, die dann mit verschiedenen Zweitgliedern Komposita bildet wie Rinderbraten, Rinderfarm, Rindergehacktes, Rinderwahnsinn.

Mitunter gibt es auch mehrere (häufig zwei) Kompositionsstammformen, für Rind regional Rinds (Rindsbraten, Rindsgehacktes usw.) Hier spricht man von Fugenvariation. Beide Elemente sind ursprünglich Flexionselemente, sie haben hier allerdings kaum noch diese Funktion: So stammt das Fleisch für den Rinderbraten nur von einem Rind (und nicht von mehreren Rindern) und das Lieblingsgetränk ist nicht das Getränk des Lieblings. Der Gesamtbestand der Fugenelemente im Dt. ist der folgende: s, es, n, en, er, ens, e, wie in Lieblingsgetränk, Gottesdienst, Blumenstiel, Frauenbewegung, Schilderwald, Schmerzensschrei, Badehose. Interessant sind im Dt. insbesondere die Fugenelemente, die nicht im Flexionsparadigma des Erstgliedes vorkommen; sie sind als Fugenelemente auf diese Stämme übertragen worden und können keine Reste der Flexion sein. Diese Fugenelemente nennt man unparadigmatisch – sie kommen im (Flexions-)Paradigma nicht vor. Diese Fugenelemente sind interessant, weil an ihnen losgelöst von der Flexion die Funktion der Fugenelemente besonders gut erkannt werden kann. Zudem sind sie im heutigen Dt. regelmäßig und sie sind häufig. In der Forschung wurde zunächst der Bestand ermittelt und beschrieben. Die Suche nach der Systematik ist insbesondere durch die Konzentration auf die produktiven Fugenelemente vorangegangen, produktiv sind -s- und -n- in Zusammenhang mit Reduktionssilben. -n- ist dann produktiv, wenn das Schwa nicht morphologisch interpretiert wird: Bei Stärkenachweis ist e ein Derivationssuffix (stark – Stärke), bei Blumenstiel ist e kein Derivationssuffix. -s- ist produktiv nach bestimmten Suffixen, insbesondere femininen Suffixen (-schaft, -ung, -heit usw.) und -ling. Ausgehend von diesen Beobachtungen wurden die genannten Suffixe (die femininen Suffixe wie -heit, -schaft, -ung und das maskuline Suffixe -ling) genauer untersucht – als schließende Suffixe lassen sie keine weitere Derivation zu. Das Fugenelement hat damit die Funktion, geschlossene Stämme für weitere morphologische Prozesse (wie Komposition oder kompositionsähnliche Derivation mit wortähnlichen Suffixen) zu öffnen. Nübling/Szczepaniak (2008) beobachten allerdings phonologische Regularitäten bei den Fugenelementen und insbesondere bei der Fugenvariation. Nach Nübling/Szczepaniak (2008) ist

305 Fugenvariation die Fugenelementsetzung im Dt. durch die Dichotomie „Silben- vs. Wortsprache“ begründet. Kurz gefasst: Das Dt. ist eine Wortsprache. Als solche bevorzugt sie bestimmte prosodische Füße, nämlich erstens einsilbige Füße und zweitens den Trochäus mit Schwa-Silbe. Fugenelemente, namentlich -s-, werden bevorzugt gesetzt, wenn die bevorzugte Fußstruktur nicht vorhanden ist – das betrifft die genannten Suffixe (-schaft, -ung, -heit, -ling), aber auch Strukturen wie Verlauf-s-protokoll vs. Lauf-hose. Das Fugenelement sichert hier die Erkennung des phonologischen Wortes, das typischerweise morphologisch interpretiert wird. Da inzwischen nachgewiesen wurde, dass die prosodische Form der Suffixe nicht zufällig ist, erweist sich heute der Zusammenhang „Fugenelement – abschließende Suffixe“ als ein indirekter (und nicht als ein direkter, wie ursprünglich von Aronoff/Fuhrhop 2002) angenommen). Die Fugenelemente sind auch in anderen germanischen Sprachen untersucht worden. Der Zusammenhang zum Flexionssystem ist ähnlich zu sehen wie im Dt., es sind ursprüngliche Flexionselemente, die sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt haben, eine einheitliche Funktion für alle Fugenelemente gibt es in keiner dieser Sprachen. Die gemeinsame Funktion zwischen den Sprachen ist aber die Funktion der Markierung von morphologischer Komplexität, insbesondere mit Hilfe von -s- (für das Dän., s. Kürschner 2010). Reste von Flexionsbedeutungen sind ebenso in einzelnen Fällen zu beobachten. Besonders deutlich ist das Niederl., Pluralflexive transportieren hier deutlich häufiger Pluralbedeutung als in den anderen germanischen Sprachen (Kürschner 2010). Dennoch bleibt festzuhalten, dass im Dt. sich die Fugenelemente als solche am weitesten von den Flexionssuffixen entfernt haben. Für eine eingehendere Diskussion s. Fuhrhop/ Kürschner (2015) und Kopf (2018). Nanna Fuhrhop ≡ Bindevokal; Fugenmorphem; Fugensilbe; Fugenzeichen; Interfix; Stammbildungselement; Verbindungsmorphem → § 20, 35, 41; abschließendes Suffix; Derivationsfuge; Einfügung; Fuge; Fugenvariation; Kompositionsfuge; paradigmatisches Fugenelement; unparadigmatisches Fugenelement ⇀ Fugenelement (Gram-Formen; HistSprw)

🕮 Aronoff, M./ Fuhrhop, N. [2002] Restricting Suffix Combinations in German and English. Closing Suffixes and the Monosuffix Constraint. In: NLg&LingT: 451–490 ◾ Dressler, W.U. et

al. [2000] The processing of interfixed German compounds. In: Booij, G./ van Marle, J. [eds.] YbMo 1999: 185–220 ◾ Fuhrhop, N. [1998] Grenzfälle morphologischer Einheiten. Tübingen ◾ Fuhrhop, N./ Kürschner, S. [2015] Linking Elements in Germanic. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 568–582 ◾ Kopf, K. [2018] Fugenelemente diachron. Eine Korpusuntersuchung zu Entstehung und Ausbreitung der verfugenden N+N-Komposita. Berlin [etc.] ◾ Kürschner, S. [2010] Fuge-n-kitt, voeg-en-mes, fuge-masse und fog-e-ord – Fugenelemente im Deutschen, Niederländischen, Schwedischen und Dänischen. In: Dammel, A./ Kürschner, S./ Nübling, D. [Hg.] Kontrastive Germanistische Linguistik. Bd. 2. Hildesheim [etc.]: 827–862 ◾ Neef, M./ Borgwaldt, S. [2012] Fugenelemente in neu gebildeten Nominalkomposita. In: Gaeta, L./ Schlücker, B. [Hg.] Das Deutsche als kompositionsfreudige Sprache. Berlin [etc.]: 27–56 ◾ Nübling, D./ Szczepaniak, R. [2008] On the Way from Morphology to Phonology. German Linking Elements and the Role of the Phonological Word. In: Morph 18: 1–25 ◾ Szczepaniak, R. [2020] Linking Elements in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 890–912.

Fugenelement, paradigmatisches → paradigmatisches Fugenelement

Fugenelement, unparadigmatisches → unparadigmatisches Fugenelement

Fugenmorphem ≡ Fugenelement

Fugensilbe

≡ Fugenelement

Fugenvariation

Variation bei Kompositions- und Derivationsstammformen. ▲ linking variation: variation in the form of the first stem in a compound or the base stem in a derivational word. Kompositionserstglieder können einerseits verschiedene Kompositionsstammformen ausbilden wie Manneskraft, Mannsbild, Männerpension. Alle drei Formen sind homonym zu Flexionsformen von Mann, sie sind also paradigmatisch. Solche Formen sind lediglich in Fällen, in denen ein Rückbezug auf die ursprüngliche Flexionsbedeutung noch möglich scheint, durchsichtig: Antiquitätenhandel – Antiquitätshandel. In einigen Fällen findet sich eine regionale Variation, so Schweine-braten vs. Schwein-s-braten (bairisch). Mitunter gibt es auch historisch bedingte Variation, also der Erhalt von alten Flexionsformen, wie den

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Fugenzeichen 306

F

Pluralformen von Substantiven, die ursprünglich schwach flektierten: das Ballett Schwanensee vs. das Schwanseebad (in Weimar). Eine solche Variation ergibt sich zwischen lexikalisierten Kompositionsstammformen und solchen, die auf produktive Weise gebildet wurden. Andererseits kann ein Erstglied mit oder ohne Fugenelement auftreten wie in Schadenersatz vs. Schadensersatz, aber auch Anwalt-beruf vs. Anwalt-s-beruf. Hierbei handelt es sich um aktuell zu findende Schwankungsfälle. Die Schwankungsfälle können mit großen Korpora untersucht werden, und zwar sowohl synchron als auch diachron. Die Variation kann auf einen aktuellen Sprachwandel hinweisen. Nach Nübling/ Szczepaniak (2011) verdeutlicht die Variation die Funktion von Fugenelementen: Sie treten erstens insbesondere bei nicht-präferierten Füßen auf (Abitur-s?-ball, Aufwand-s?-entschädigung); zweitens bei nominal gebrauchten Infinitiven (Schaden, Essen, Schaffen-s-kraft) – zur Verdeutlichung der Substantivität der Erstglieder. Diese Schwankungen können auch bedingt sein durch das Zweitglied: Wenn Komposita aus Syntagmen entstehen wie Arbeit geben – Arbeitgeber, Richtung weisen – richtung(s?)weisend, gibt es einerseits die „syntaktischere“ Form, andererseits die „morphologischere“ Form, also die Form, die eigentlich der Kompositionsstammform entspricht. Solche Schwankungen sind typisch für deverbale Zweitglieder; sie halten das ursprüngliche syntagmatische Verhältnis (Arbeit geben) länger. Auch bei den Derivationsfugen ist Variation möglich; sie ist aber offenbar sehr viel weniger ausgeprägt, sicherlich wegen der stärkeren Reguliertheit der Derivation mit Affixen. Es finden sich Formen wie öffen-t-lich neben offen-bar, harmon-is-ieren neben harmon-ieren, Ind-ian-er neben ind-isch. Bei den letzten beiden Paaren würde man aber kaum von „Variation“ sprechen, zu unterschiedlich sind die Bedeutungen der entstehenden Wörter. Im ersten Paar wäre zu überlegen, welcher Wortart die Basis angehört und letztendlich auch, wie durchsichtig die Wortbildungsprozesse tatsächlich in diesen Fällen noch sind. Die Variation scheint in der Derivation doch deutlich einzelfallabhängig, während sie in der Komposition eine systematische Dimension erreicht. Nanna Fuhrhop

→ § 20; Einfügung; Fuge; Fugenelement; paradigmatisches Fugenelement; unparadigmatisches Fugenelement

🕮 Fuhrhop, N. [1998] Grenzfälle morphologischer Einheiten. Tübingen ◾ Fuhrhop, N./ Kürschner, S. [2015] Linking Elements in Germanic. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 568–582 ◾ Nübling, D. [2004] Vom Name-n-forscher zum Name-ns-forscher. Unbefugte und befugte ns-Fuge in Namen(s)-Komposita. In: Bok, V./ Williams, U./ Williams-Krapp, W. [Hg.] Studien zur deutschen Sprache und Literatur. Hamburg: 334–353 ◾ Nübling, D./ Szczepaniak, R. [2009] Religion+s+freiheit, Stabilität+s+pakt und Subjekt(+s+)pronomen. Fugenelemente als Marker phonologischer Wortgrenzen. In: Müller, P.O. [Hg.] Studien zur Fremdwortbildung. Hildesheim [etc.]: 195–222 ◾ Nübling, D./ Szczepaniak, R. [2011] Merkmal(s?)analyse, Seminar(s?)arbeit und Essen(s?)ausgabe. Zweifelsfälle der Verfugung als Indikatoren für Sprachwandel. In: ZS 30: 45–73.

Fugenzeichen

≡ Fugenelement

funktionale Applikation

formale Operation, die aus der kategorialen Grammatik stammt, bei der ein Funktor mit einem passenden Argument kombiniert wird, um einen komplexen Ausdruck zu bilden, in dem das Argument zum Teil die Argumentstruktur des Funktors erfüllt. ▲ functional application: formal operation stemming from categorial grammar in which a functor combines with an appropriate argument yielding a complex expression in which the argument satisfies part of the argument structure of the functor. In der kategorialen Grammatik wird funktionale Applikation definiert als eine Operation, die eine Funktion vom Typ a/b auf einen passenden Ausdruck vom Typ b anwendet, um einen komplexen Ausdruck vom Typ a zu erzeugen. Wenn bspw. ein intransitives Verb wie schlafen vom Typ b\a ist, so kann es auf einen Ausdruck b wie Peter angewandt werden, um den komplexen Ausdruck Peter schläft abzuleiten. Dadurch wird die offene Argumentstelle von schlafen durch Peter gesättigt. Im Fall eines transitiven Verbs wie trinken vom Typ b\(a/c), das zwei Argumentstellen (b und c) besitzt, kommt die funktionale Applikation zweimal zur Anwendung, wobei zuerst die interne (= c) und dann die externe (= b) Argumentstelle von trinken belegt wird: Peter trinkt Milch. Funktionale Applikation spielt in der Wortbildung eine Rolle bei der Interpretation von Komposita. Ist der Kopf eines Kompositums ein relationaler

307 Funktionsklasse Ausdruck wie bei Bürgermeister oder Tischecke, so entsteht die Lesart ‘Bürgermeister der Stadt’ bzw. ‘Ecke des Tisches’ durch die Applikation der Funktionen Bürgermeister und Ecke auf die entsprechenden Argumente Stadt und Tisch. Auch adjektivische Komposita erhalten mittels funktionaler Applikation ihre Interpretation, wenn der adjektivische Kopf relational ist und als eine Funktion aufgefasst werden kann, vgl. schmerzfrei ‘frei von Schmerz’. Verbalkomposita wie Steuerzahler oder Haartrockner werden ebenfalls mit Hilfe der funktionalen Applikation gedeutet. Indem die deverbalen Köpfe Zahler und Trockner die Argumentstruktur (in leicht abgewandelter Form) ihrer verbalen Basis mittels funktionaler Komposition erben, steht diese abgeleitete Argumentstruktur zur Grundlage der Interpretation bereit. Susan Olsen

→ affixaler Kopf; Argumentvererbung; funktionale Komposition; Kategorialgrammatik; verbal compound

⇀ funktionale Applikation (SemPrag) ⇁ functional application (Woform)

🕮 Bierwisch, M. [1989] Event nominalizations. In: Motsch, W. [Hg.] Wortstruktur und Satzstruktur. Berlin: 1–73 ◾ Bierwisch, M. [2015] Word-formation and argument structure.In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1056–1099 ◾ Di Sciullo, A.-M./ Williams, E. [1987] On the Definition of Word. Cambridge, MA [etc.].

funktionale Komposition

formale Operation, die aus der kategorialen Grammatik stammt und die einen Funktor mit einem zweiten Funktor kombiniert, was in einer komplexen Funktion resultiert, die die Argumente des zweiten Funktors übernimmt. ▲ functional composition: formal operation stemming from categorial grammar that combines a functor with a second functor resulting in a complex function that inherits the arguments of the latter.

Funktionale Komposition wurde in die Wortbildungsdiskussion von Moortgat (1981, 1985) eingeführt, um die Übernahme von Argumenten durch ein komplexes Wort zu erlauben, das mithilfe bestimmter Affixe abgeleitet wird, die als Funktoren aufgefasst werden können. Ein Affix wie -ance wird mit einem Verbstamm kombiniert, um ein Nomen zu formen, vgl. (to) rely ‘vertrauen’ > reliance ‘Vertrauen’. In der daraus resultierenden Ableitung hat das Affix Skopus über das Basisverb

und seine Argumente, vgl. rely on him ‘auf ihn vertrauen’ – reliance on him ‘Vertrauen auf ihn’. Moortgat schlägt eine generalisierte Version der in der kategorialen Grammatik bekannten Operation der funktionalen Komposition vor, um das Phänomen der Argumentvererbung in derivationellen Wortbildungsprozessen zu modellieren. Seine generalisierte Regel der funktionalen Komposition kombiniert einen affixalen Funktor mit einer komplexen Kategorie, die als sein Argument fungiert, in eine komplexe Funktion, die die ungesättigten Argumente der Basis erbt. Vereinfacht kann die Operation folgendermassen verstanden werden: ein Funktor des Typs a/b verbindet sich mit einem zweiten Funktor des Typs b/c, um einen Funktor der Form a/c zu bilden. Moortgats Vorschlag wurde von Di Sciullo/Williams (1987) in ihre Theorie zur affixalen Derivation übernommen. In seiner umfassenden Theorie zum lexikalischen System der Grammatik fasst Bierwisch (1989, 2015) es als eine definierende Eigenschaft von Affixen auf, dass sie als Funktoren fungieren, die sich mithilfe von funktionaler Komposition mit ihrer Basis verbinden. Dies erlaubt die automatische Vererbung der Argumentstruktur an deverbale und deadjektivische Nominalisierungen, wie to translate the novel ‘das Buch übersetzen’ > translation of the novel ‘die Übersetzung des Buches’, translator of the novel ‘Übersetzer des Buches’ > translatable novel ‘übersetzbares Buch’. Susan Olsen

→ affixaler Kopf; Argumentvererbung; funktionale Applikation; Kategorialgrammatik

⇀ funktionale Komposition (SemPrag) ⇁ functional composition (Woform)

🕮 Bierwisch, M. [1989] Event nominalizations. In: Motsch, W. [Hg.] Wortstruktur und Satzstruktur. Berlin: 1–73 ◾ Bierwisch, M. [2015] Word-formation and argument structure. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1056–1099 ◾ Di Sciullo, A.-M./ Williams, E. [1987] On the Definition of Word. Cambridge, MA [etc.] ◾ Moortgat, M. [1983] A Fregean restriction on metarules. In: Burke, V./ Pustejovsky, J. [Hg.] NELS 14. Amherst: 306–325 ◾ Moortgat, M. [1985] Functional composition and complement inheritance. In: Hoppenbrouwers, G.A.J. et al. [eds.] Meaning and the Lexicon. Dordrecht: 39–48 ◾ Reichel, K. [1982] Categorial Grammar and Word-Formation. The De-adjectival Abstract Noun in English. Tübingen.

Funktionsklasse

≡ Wortbildungsgruppe

F

Funktionsstand 308

Funktionsstand

≡ Wortbildungsgruppe

Funktionstyp

≡ Wortbildungsgruppe

fusionierende Morphologie

F

Verschmelzung von verschiedenen Kategorien zu einem Ganzen. ▲ fusional morphology: melting of different categories into a whole. Morphologische Kategorien können einerseits mit dem Stamm verschmelzen, andererseits können verschiedene Kategorien innerhalb eines Affixes verschmelzen. Deswegen ist es sinnvoll, zwei Typen von fusionierender Morphologie zu unterscheiden. 1. Veränderung des Stammes, im Dt. also zum Beispiel Ablaut oder Umlaut. 2. Die Markierung mehrerer Kategorien (insbesondere Flexionskategorien) in einem Affix. Auch der Begriff „fusionierende Morphologie“ ist wie die anderen typologischen Begriffe deutlich für die Flexion geprägt. In die Wortbildung wird er übertragen. Fusionierende Morphologie im ersten Bedeutungssinn ist in der heutigen Wortbildung zu finden, aber nicht mehr produktiv, wie in werfen – Wurf, schieben – Schub (auch unter dem Begriff „implizite Ableitung“), ebenso bei so genannten Kausativbildungen trinken – tränken, saugen – säugen. In anderen Sprachen – zum Beispiel in semitischen Sprachen – werden diese „Wurzelveränderungen“ sehr viel stärker in der Wortbildung genutzt. Die heutige dt. Wortbildung neigt eher zu einer agglutinierenden Struktur (Wissenschaft-ler-in) oder zur syntaktischen Konversion (singen – Singen). Häufig wird dieser Typ von fu-

sionierender Morphologie auch als ein Typ von morphologischen Prozessen beschrieben. Fusionierende Morphologie im zweiten Bedeutungssinn wird in der Flexionsmorphologie begrifflich beschrieben, aber weniger in der Wortbildung. In dem Affix -es in heißes Wasser wird sowohl die Kasus-, Numerus- und Genusflexion (z.B. Nominativ, Singular, Neutrum) als auch die „Stärke“-Flexion gezeigt. Das eine Affix hat damit mehrere Funktionen, es ist eine Eine-Formmehrere-Funktionen-Beziehung, die Funktionen „fusionieren“ in dem einen Affix. In der Wortbildung wird der Begriff eher nicht genutzt, weil die „Funktionen“ vom System her nicht so deutlich festgelegt scheinen. Aus diesem Grund ist auch eine „Fusion der Funktionen“ weniger messbar. Flexionsmorphologisch werden Sprachen danach unterteilt, ob sie vorwiegend fusionierend flektieren; besonders fusionierend ist das Latein. Fusionierend hat einen bestimmten Begriff von „flektierend“ abgelöst, Humboldt hat die Sprachen in „flektierend“ und „agglutinierend“ eingeteilt. Da aber auch Flexion „agglutinierend“ dargestellt werden kann, ist Humboldts Begriff „flektierend“ durch „fusionierend“ ersetzt worden. Nanna Fuhrhop

→ Ablaut; agglutinierende Morphologie; implizite Derivation; isolierende Morphologie; kausatives Verb; Umlaut; Wortbildungstypologie

🕮 Bickford, J.A. [1998] Morphology and Syntax. Tools for Analyzing the World's Languages. Dallas ◾ Comrie, B. [1981] Language Universals and Linguistic Typology. Chicago, IL ◾ Haspelmath, M./ Sims, A.D. [2010] Understanding Morphology. London [etc.] ◾ Lyons, J. [1995] Einführung in die moderne Linguistik. 8. Aufl. München ◾ Sapir, E. [1921] Language: An Introduction to the Study of Speech. New York, NY ◾ von Humboldt, W. [1836] Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Berlin.

G dung. Berlin ◾ Schmidt, G.D. [1987] Das Kombinem. In: Hoppe, G./ Kirkness, A./ Link, E./ Nortmeyer, I./ Rettig, W./ Schmidt, G.D. [Hg.] Deutsche Lehnwortbildung. Tübingen: 37–52.

gebundene Aussprache ≡ orthoepische Aussprache

gebundenes Grundmorphem

nicht wortfähiges Grundmorphem. ▲ bound base morpheme: not freely occurring base morpheme. Grundmorpheme als Träger einer lexikalisch-begrifflichen Bedeutung sind in der Regel wortfähig. Eine Ausnahme stellen daher nicht wortfähige, nur in Kombination mit anderen Morphemen, d.h. gebunden auftretende Grundmorpheme dar (Fischer 1985: 210). Meist handelt es sich um entlehnte Elemente (dt. bio-, -thek, -therm-), selten sind heimische Elemente (dt. schwieger-, stief-). Analoge Erscheinungen finden sich, z.T. begrifflich anders gefasst, auch in anderen Sprachen, z.B. engl. spec-, aggress-, frz. télé, aéro-, -phile, -phobe (vgl. dazu Schmid 2005: 168f., Lüdtke 2007: 39f.). Die Elemente treten als Derivationsbasis oder als Erst- oder Zweitglied in Komposita auf. Geläufiger ist für diese Erscheinung inzwischen der in der Lehnwortforschung entwickelte Begriff des Konfixes (vgl. Schmidt 1987). „Das entscheidende Kriterium für die Zuordnung eines gebundenen Elements zur Klasse der Konfixe ist seine lexikalisch-begriffliche Bedeutung.“ (Fleischer/Barz 2007: 25).

→ Grundmorphem; Konfix

Hannelore Poethe

🕮 Eins, W. [2008] Muster und Konstituenten der Lehnwortbildung. Das Konfix-Konzept und seine Grenzen. Hildesheim [etc.] ◾ Fischer, E. [1985] Das „gebundene Grundmorphem“ in der deutschen Sprache der Gegenwart. In: BEDtSpr 5: 210–224 ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Lüdtke, J. [2007] Romanische Wortbildung. Inhaltlich – diachronisch – synchronisch. Tübingen ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbil-

gebundenes Morphem

Morphem ohne ein Allomorph, das allein als Wort auftreten kann. ▲ bound morpheme: morpheme without an allomorph that can occur by itself as a word. Ein Morphem ist gebunden, wenn alle seine Allomorphe gebunden oder vielmehr obligatorisch gebunden sind, d.h. immer nur als Teil eines Wortes auftreten (zur Unterscheidung frei/gebunden s. schon Bloomfield 1926: 155f.; s. auch Simmler 1998: 77–81; Mugdan 2015: 256f.). Beispielsweise ist das deutsche Morphem {rechn} gebunden, weil seine Allomorphe rechn- und rechen- nur in Verbindung mit einem anderen Morphem als Wort vorkommen, z.B. in [du] rechn-est, [wir] rechn-en, rechn-e [!], Rechn-ung; Rechen-werk, berechen-bar usw. Andere Verbwurzeln sind nicht gebunden, sondern frei, weil sie im Imperativ Singular allein als Wort vorkommen, z.B. {fahr} mit dem Imperativ fahr (neben fahre) oder auch {sprech} mit dem Imperativ sprich, sofern man sprech und sprich als Allomorphe desselben Morphems betrachtet. Während Wurzeln also frei oder gebunden sein können, sind Affixe per Definition gebunden. Die Beispiele zeigen ferner, dass zu den gebundenen Morphemen sowohl lexikalische wie {rechn} als auch grammatische wie {imp. sg} gehören. Joachim Mugdan

↔ freies Morphem → Affix; Allomorph; grammatisches Morphem; lexikalisches Morphem; Morphem

⇀ gebundenes Morphem (Gram-Formen; CG-Dt) ⇁ bound morpheme (CG-Engl; Typol)

Gegenstandsbezeichnung 310 🕮 Bloomfield, L. [1926] A Set of Postulates for the Science of Language. In: Lg 2: 153–164 ◾ Mugdan, J. [2015] Units of wordformation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation. (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 235–301 ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Berlin.

Gegenstandsbezeichnung

≡ nomen rei actae ⇀ Gegenstandsbezeichnung (Gram-Formen)

gekürztes Wort

G

≡ Kurzwort

Gelegenheitsbildung ≡ Ad-hoc-Bildung

generative Morphologie

mentalistisches System zur Analyse der Morphologie, das die Fähigkeit von Muttersprachlern, eine unbegrenzte Anzahl neuer Wörter zu produzieren und zu verstehen, zu erklären versucht. ▲ generative morphology: mentalist framework for the analysis of morphology that attempts to account for the native speaker’s ability to produce and understand infinite numbers of new words. „Generative Morphologie“ ist ein Überbegriff für eine Reihe von Analyseansätzen zur Wortbildung und Flexion, welche eine Nebenerscheinung der generativen Grammatik (GG) sind. Was all diese Ansätze gemeinsam haben, ist die Annahme, dass die morphologische Analyse auf die Erklärung der Fähigkeit von Muttersprachlern, eine unbegrenzte Anzahl neuer Wörter zu produzieren und zu verstehen, abzielt. Von daher ist die generative Morphologie ein mentalistisches System, das mit der Hervorhebung der Struktur und des Inhalts des mentalen Lexikons befasst ist. Die Ansätze unterscheiden sich in Inhalt und Organisation des mentalen Lexikons sowie in der Art der Regeln, durch die komplexe Wörter geformt werden. Generell wird Chomskys (1970) Remarks on Nominalization als der Anschub für die generative Morphologie angenommen. In den Anfängen der GG galt die Morphologie als unabhängiger Bereich als wenig interessant für Generativisten, besonders in den Vereinigten Staaten. Die frühe generative Theorie konzentrierte sich auf die Syntax und die Phonologie und schloss die Morphologie aus, teilweise vielleicht als Reaktion auf den amerikanischen Strukturalismus, der die Morphologie als unab-

hängige Ebene der Grammatik besonders betonte. Aspekte der Wortbildung wurden in der frühen generativen Theorie insofern diskutiert, als sie entweder als Ergebnisse von Transformationen (zum Beispiel Lees (1960) Analyse von Komposita und abgeleiteten Nominalisierungen) oder von phonologischen Regeln behandelt wurden. Mit Remarks on Nominalization klammerte Chomsky jedoch die Analyse von engl. Nominalisierungen aus dem Bereich der Syntax aus, indem er argumentierte, dass die semantischen und strukturellen Idiosynkrasien von Nominalisierungen diese ungeeignet für eine transformationelle Analyse machen. Die offensichtliche Folge dieser Schlussfolgerung war, dass es irgendeinen Aufbewahrungsort für idiosynkratisch komplexe Wörter und gleichzeitig einen Erklärungsweg für die Aspekte ihrer Struktur und ihrer Bedeutung, die zumindest teilweise vorhersagbar waren, geben muss. Chomsky selber griff diese Fragen nicht direkt auf, da er sich stattdessen auf die Konsequenzen dieses Ausschlusses für die syntaktische Komponente konzentrierte. Halle (1973) und Jackendoff (1975) waren die ersten, welche die Idee von einem Lexikon als eine unabhängige Komponente der Grammatik entwickelten, obwohl ihre Versuche größtenteils programmatisch waren. Halle schlug vor, dass das Lexikon aus einer Liste von Morphemen zusammen mit einer Menge von Wortbildungsregeln bestehen sollte. Das Ergebnis dieser Regeln waren komplexe Wörter, von denen einige tatsächliche und andere nur potenzielle Wörter darstellten. Dazu war dieses Ergebnis einem sogenannten Filter ausgesetzt, der die nicht existierenden Wörter ausfilterte und die Wörter, deren Semantik nicht kompositionell ist, mit idiosynkratischer Bedeutung ausstattete. Die Wörter, die den Filter passierten, wurden in einem Wörterbuch aufgelistet. Jackendoff (1975) verzichtete auf das Konzept von einer Liste von Morphemen und einer Menge an Regeln. Stattdessen wählte er vollständige lexikalische Einträge sowohl für Simplizia als auch für komplexe Wörter. Lexikalische Verwandtschaft wurde über den Gebrauch von lexikalischen Redundanzregeln ausgedrückt, welche als Mittel für die Evaluation der in zwei verwandten Einträgen (z.B. entscheiden und Entscheidung) enthaltenen unabhängigen Information angesehen wurden. Je mehr Information in zwei Einträgen geteilt werde, desto näher sei

311 die Verwandtschaft dieser Einträge und desto „billiger“ sei ihre Auflistung für die Grammatik. Jackendoff befasste sich größtenteils mit den Beziehungen zwischen im Lexikon existierenden Elementen. Obwohl er, wie bei Halles Theorie, Vorkehrungen für den produktiven Gebrauch von Redundanzregeln traf, lag die Betonung auf der Behandlung von idiosynkratischen Beziehungen im Lexikon. Erst durch die bahnbrechende Arbeit von Aronoff (1976) verschob sich die Aufmerksamkeit von der Untersuchung der Idiosynkrasie im Lexikon zur Behandlung der Natur der produktiven Wortbildung. Aronoffs Theorie beginnt mit der Annahme, dass das Wort das minimale Saussure'sche Zeichen ist. Obwohl er Morpheme aufgrund der Existenz von bedeutungslosen Morphemen (unikale Morpheme, lateinische Basen wie die englischen ceive und mit) als Einheiten erkennt, argumentiert er, dass sie nicht als Basis für die Anwendung von Wortbildungsregeln angesehen werden können. Der Grund für die Existenz einer Morphologie ist die Modellierung der Fähigkeit von Muttersprachlern, eine potenziell endlose Anzahl an neuen Wörtern zu produzieren und zu verstehen. Deshalb wurden Wortbildungsregeln (WFRs), anders als Jackendoffs Redundanzregeln, primär als generative Mittel verstanden. Aronoff'ische WFRs spezifizieren die Kategorie der Basis, auf die sie angewandt werden, eine quasi-phonologische Operation an dieser Basis, die kategoriale Zugehörigkeit des Outputs. In dem Sinne könnte Aronoffs Theorie als eine generative Version der Item-and-Process-Morphologie interpretiert werden. In den späten 1970er und frühen 1980er Jahren weckte die generative Morphologie das Interesse einer Reihe von Wissenschaftlern, die anfingen, auf die von Aronoff gelegte Grundlage näher einzugehen und Fragen zu skizzieren, welche die Richtung für Morphologen für das folgende Jahrzehnt vorgaben. Unter diesen Theoretikern plädierten Lieber (1981), Williams (1981) und Selkirk (1982) für morphembasierte Morphologien, die eher strukturalistischen Item-and-Arrangement-Modellen glichen. In gewissem Sinne folgten ihre Systeme Entwicklungen in der Syntax, obwohl die Theoretiker an der lexikalischen Integritätshypothese (Lapointe 1980) strikt festhielten. Damit verschoben sich die Theorien

generative Morphologie weg von Aronoffs quasi-phonologischen Wortbildungsregeln hin zu mehr syntaxähnlichen Regeln, in denen komplexe Wörter durch das morphologische Äquivalent zu Phrasenstrukturregeln geformt wurden. In der Mitte der 1980er Jahre führte dieser Trend zu Anfechtungen der lexikalischen Integritätshypothese in Arbeiten von Sproat (1985) und Lieber (1992). Eines der Themen, welches in den Anfängen der generativen Morphologie behandelt wurde, war die Beziehung zwischen Flexion und Derivation. Während Aronoff (1976) sich ausschließlich mit Derivation beschäftigte, argumentierte Lieber (1981), dass es im Prinzip keinen Unterschied zwischen Flexion und Derivation gäbe, da beide durch dieselben formalen Mittel erreicht werden könnten. Zur selben Zeit plädierte Anderson (1982) jedoch für die „split morphology“-Hypothese, nach der Derivation und Komposition als Teil des Lexikons, Flexion dagegen als post-syntaktische Operation durchgeführt werden. Ein zweites Thema in der frühen generativen Theorie war die Art der Lokalität. Verschiedene Prinzipien wurden als Erklärung für Lokalität vorgeschlagen: die „atom condition" und die „adjacency condition“ legten grundsätzlich fest, dass nur die äußerste Schicht der Wortbildung zu einem beliebigen Punkt in der Derivation sichtbar wird. Im System der lexikalischen Phonologie und Morphologie wird derselbe Effekt durch die „bracket erasure convention“ erzielt, welche die wortinterne Struktur buchstäblich auslöscht. Die Frage nach Headedness in der Derivation spielte ebenfalls eine große Rolle, mit Williams' Vorschlag der „righthand head rule“ (Williams 1981). Diskussionen der Headedness führten logischerweise zum Problem der Perkolation oder Vererbung von Merkmalen der internen Morpheme (Lieber 1981, Selkirk 1982). Andere Themen, die von den frühen generativen Morphologen angesprochen wurden, waren die Natur der Allomorphie, die Rolle der Produktivität in der Grammatik und die angemessene Analyse von Komposition und Konversion. Der Trend in den frühen 1980er Jahren hin zu einer Item-and-Arrangement-Behandlung der Morphologie verband sich mit Fortschritten in der Analyse von Ton- und Harmoniesystemen in der Phonologie und rief nicht-lineare Ansätze zur Root-and-Pattern-Morphologie (McCarthy 1979), zur Reduplikation (Marantz 1982) und zur Kon-

G

generative Morphologie 312

G

sonantenmutation (Lieber 1983) hervor. In der nicht-linearen oder autosegmentalen Morphologie können Morpheme eher aus Schichten von unterschiedlichen Merkmalen denn aus ganzen Segmenten bestehen und Prinzipien zu Anfügung und Ausbreitung die Organisation dieser Morpheme zu Wörtern erklären. Forschungen in der generativen Morphologie verbreiteten sich früh in England und in Westeuropa, zum Beispiel durch Arbeiten von Scalise (1984) und Spencer (1991). Tatsächlich liefert Scalise eine hervorragende Zusammenfassung und Beurteilung der frühen Jahre der generativen Morphologie, während Spencer eine überzeugende und detaillierte Diskussion zur Entwicklung der generativen Morphologie in den ersten fünfzehn Jahren enthält. Um 1990 hatte die generative Morphologie angefangen, eine Reihe von spezielleren Fragen genauer zu verfolgen, was zu einer Ausbreitung von Systemen führte, die grundsätzlich von generativer Natur, aber in wichtigen Dingen doch unterschiedlich waren. Lieber (1992) folgt dem Ansatz, dass Wortbildung im Grunde syntaktisch ist, und versucht, eine „government and binding“-Syntax auf morphologische Aspekte zu übertragen. Andersons (1992) „a-morphous morphology“ enthält den Versuch, das Wort-und-Paradigma-Modell der Wortbildung auf die Untersuchung der Flexion anzuwenden. Beard (1995) schlägt in seiner Lexem-morphembasierten Morphologie die „separation hypothesis“ vor, durch welche morphologische Prozesse aufgespalten werden. In einer formalen Phase wird der semantische/funktionelle Gehalt der Morpheme hinzugefügt und in einer späteren Phase wird dieser Inhalt mit dem phonologischen Gehalt verbunden. Borer (1988) vertritt eine parallele Morphologie, die morphologische Prozesse in eine lexikalische und eine syntaktische Komponente teilt. Die Entwicklung zur Ausbreitung von generativinspirierten Systemen setzte sich in den 1990er Jahren und bis ins 21. Jahrhundert fort, mit der Aufstellung der „distributed morphology“ (Halle/Marantz 1993), Di Sciullos (2005) asymme­ trischer Morphologie, Booijs (2005a, 2015) Konstruktionsmorphologie, Stumps (2001) Arbeit zu Flexionsparadigmen und optimalitätstheoretischen Ansätzen zur Morphologie (Raffelsiefen 1996, 2015). Ein über die ersten Jahrzehnte der generativen

Morphologie lange unbehandelt gebliebener Aspekt war das Thema der Semantik in der Wortbildung, was nicht überrascht, da die Semantik grundsätzlich während dieser Periode in der generativen Theorie vernachlässigt wurde. Pustejovskys (1995) Theorie zum generativen Lexikon brachte jedoch die generelle Frage nach der Polysemie von Wörtern nach vorne. Die Arbeit von Jackendoff (1990) zur Verbsemantik ebnete den Weg hin zu einer Diskussion über eine Untersuchung der Semantik in der Wortbildung. Trotzdem blieb das Thema im generativen System größtenteils bis zur Arbeit von Lieber (2004) unbeachtet. In dieser wurde ein System von einer lexikalisch-semantischen Repräsentation vorgeschlagen, welches sowohl auf simple Elemente als auch gebundene Morpheme angewandt werden kann; solch ein System erlaubt eine Erklärung für Nichtübereinstimmungen zwischen Form und Bedeutung in der Wortbildung, die bis dahin nicht zugänglich gewesen war. Gleichzeitig sollte darauf hingewiesen werden, dass außerhalb Nordamerikas die lexikalische Semantik und die Semantik in der Wortbildung schon viel früher zum Thema geworden war, zum Beispiel in der Arbeit von Bierwisch (1983, 1989, vgl. auch Bierwisch 2015a, 2015b). Durch die Ausbreitung von Fachbüchern zur generativen Morphologie in den frühen Jahren des 21. Jahrhunderts wird deutlich, dass sich diese Morphologie von einer Seitenvariante der generativen Tradition, die nur von einer Handvoll von Theoretikern verfolgt wurde, hin zu einem etablierten Bereich mit unzähligen konkurrierenden theoretischen Ansätzen entwickelt hat. Nichtsdestotrotz teilen diese Ansätze aber nach wie vor das generative Ziel, das mentale Lexikon erklären und modellieren zu wollen. Weitere Diskussion zu diesem Thema findet man in Lieber (2015). Rochelle Lieber

→ § 7; a-morphous morphology; autosegmentale Morpho-

logie; distributed morphology; Item-and-Arrangement-Modell; Item-and-Process-Modell; Konstruktionsmorphologie; Kopf; Optimalitätstheorie; Root-and-Pattern-Morphologie; Wort-und-Paradigma-Modell ⇁ generative morphology (Woform)

🕮 Anderson, S. [2019] A short history of morphological theory. In: Audring, J./ Masini, F. [eds.] OHMT. Oxford: 19–33 ◾ Anderson, S.R. [1982] Where’s Morphology? In: LingInqu 13/4: 571–612 ◾ Anderson, S.R. [1992] A-morphous Morphology. Cambridge [etc.] ◾ Aronoff, M. [1976] Word Formation in Generative

313 Grammar. Cambridge, MA [etc.] ◾ Beard, R. [1995] LexemeMorpheme Base Morphology. A General Theory of Inflection and Word Formation. Albany, NY ◾ Bierwisch, M. [1983] Semantische und konzeptuelle Repräsentation lexikalischer Einheiten. In: Růžička, R./ Motsch, W. [Hg.] Untersuchungen zur Semantik. Berlin: 61–99 ◾ Bierwisch, M. [1989] Event nominalizations. In: Motsch, W. [ed.] Wortstruktur und Satzstruktur. Berlin: 1–73 ◾ Bierwisch, M. [2015a] Word-formation and argument structure. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] WordFormation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1056–1099 ◾ Bierwisch, M. [2015b] Word-formation and metonymy. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1099–1128 ◾ Bobaljik, J.D. [2020] Distributed Morphology In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 976–1004 ◾ Booij, G. [2005] The Grammar of Words. An Introduction to Linguistic Morphology. Oxford [etc.] ◾ Booij, G. [2015] Wordformation in construction grammar. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 188–202 ◾ Booij, G. [2020] Construction Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 1004–1016 ◾ Borer, H. [1988] On the morphological parallelism between compounds and constructs. In: Booij, G./ van Marle, J. [eds.] YbMo 1988. Dordrecht [etc.]: 45–66 ◾ Chomsky, N. [1970] Remarks on nominalization. In: Jacobs, R./ Rosenbaum, P. [eds.] Readings in English Transformational Grammar. Waltham, MA: 184–221 ◾ Di Sciullo, A.M. [2005] Asymmetry in Morphology. Cambridge, MA ◾ Halle, M./ Marantz, A. [1993] Distributed Morphology and the Pieces of Inflection. In: Hale, K./ Keyser, S.J. [eds.] The View from Building 20. Cambridge, MA: 111–176 ◾ Halle, M. [1973] Prolegomena to a Theory of Word Formation. In: LingInqu 4: 3–16 ◾ Jackendoff, R. [1975] Morphological and Semantic Regularities in the Lexicon. In: Lg 51: 639–671 ◾ Jackendoff, R. [1990] Semantic Structures. Cambridge, MA [etc.] ◾ Lapointe, S. [1980] A Theory of Grammatical Agreement. Diss., University of Massachusetts. Amherst, MA ◾ Lees, R.B. [1960] The Grammar of English Nominalizations. Bloomington, IN [etc.] ◾ Lieber, R. [1981] The Organization of the Lexicon. Bloomington, IN ◾ Lieber, R. [1984] Consonant Gradation in Fula. In: Aronoff, M./ Oehrle, R.T. [eds.] Language Sound Structure. Studies in Phonology Presented to Morris Halle by His Teacher and Students. Cambridge, MA [etc.]: 329–345 ◾ Lieber, R. [1992] Deconstructing Morphology. Word Formation in Syntactic Theory. Chicago, IL ◾ Lieber, R. [2004] Morphology and Lexical Semantics. Cambridge ◾ Lieber, R. [2015] Word-formation in generative grammar. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 94–112 ◾ Marantz, A. [1982] Re Reduplication. In: LingInqu 13: 435–482 ◾ Marios, A. [2020] Lexical Semantic Framework for Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol.2. New York: 1017–1031 ◾ McCarthy, J.J. [1985] Formal Problems in Semitic Phonology and Morphology. New York, NY ◾ Montermini, F. [2019] Later generative grammar and beyond: Lexicalism. In: Audring, J./ Masini, F. [eds.] OHMT. Oxford: 122–142 ◾ Pustejovsky, J. [1995] The Generative Lexicon. Cambridge, MA ◾ Raffelsiefen, R. [1996] Gaps in word formation. In: Kleinhenz, U. [ed.] Interfaces in Phonolgy. Berlin: 194–209 ◾ Raffel­siefen, R. [2015] Word-formation in optimality theory. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] WordFormation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 158–187 ◾ Scalise, S. [1984] Morphology in Generative Grammar. Dordrecht ◾ Selkirk, E.

generisches Wissen [1982] The Syntax of Words. Cambridge, MA [etc.] ◾ Spencer, A. [1991] Morphological Theory. Oxford [etc.] ◾ Sproat, R. [1985] On Deriving the Lexicon. Diss., MIT. Cambridge, MA ◾ Stump, G.T. [2001] Inflectional Morphology. A theory of paradigm structure. Cambridge ◾ Ten Hacken, P. [2019] Early generative Grammar. In: Audring, J./ Masini, F. [eds.] OHMT. Oxford: 105–121 ◾ Ten Hacken, P. [2020] Classical Generative Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 949–962 ◾ Williams, E. [1981] On the Notions „Lexically Related“ and „Head of a Word“. In: LingInqu 12: 245–274.

generisches Wissen

von individuellen Erfahrungen, Erlebnissen und Fachkenntnissen unabhängiger Teil des außersprachlichen Wissens. ▲ generic knowledge: part of extralinguistic knowledge which is independent of individual experience and expert knowledge. Als generisches Wissen wird das Basiswissen, das der Mensch in Bezug auf Raum und Zeit, grundlegende physikalische Gesetze, natürliche Objekte, Artefakte etc. erworben hat, klassifiziert (Clark/ Clark 1979: 788). Dieses Wissen ermöglicht u.a. eine bis zu vier Dimensionen umfassende Charakterisierung konkreter Objekte in Bezug auf distinktive Merkmale, Beschaffenheit, Funktion und Entstehung. So unterscheidet sich z.B. eine Flasche aufgrund ihrer Form von anderen Behältern wie Gläser, Vasen oder Krüge. Sie besteht aus einem bestimmten Material (Glas oder Plastik), dient zur Aufbewahrung einer Flüssigkeit und wird in der Regel maschinell hergestellt. Diese vier Dimensionen, die das mit einer Entität assoziierte generische Wissen reflektieren, gehen auf Aristoteles zurück. Sie wurden als generative Faktoren von Moravcsik (1975) wiederentdeckt und von Clark/Clark (1979) und Pustejovsky (1996) formalisiert. Generisches Wissen spielt beispielsweise bei der Interpretation englischer Verben, die durch Konversion aus Nomen gebildet wurden, eine entscheidende Rolle (Clark/Clark 1979, Baeskow 2006). Verben wie to brick (the ice cream) oder to bottle (the wine) fokussieren jeweils einen der oben genannten generativen Faktoren der durch das Basisnomen bezeichneten Entität, nämlich die Form im Falle von brick und die Funktion im Falle von bottle. Da generisches Wissen weitgehend invariabel ist und von den meisten Sprechern geteilt wird, trägt es zur erfolgreichen Kommunikation bei. Heike Baeskow

G

Genitivkompositum 314

→ außersprachliches Wissen; Konversion; slot

🕮 Baeskow, H. [2006] Reflections on noun-to-verb conversion in English. In: ZS 25: 205–237 ◾ Clark, E.V./ Clark, H.H. [1979] When nouns surface as verbs. In: Lg 55: 767–811 ◾ Moravcsik, J. [1975] Aitia as Generative Factor in Aristotle’s Philosophy. In: Dialogue 14: 622–636 ◾ Pustejovsky, J. [1996] The Generative Lexicon. 2nd print. Cambridge, MA.

Genitivkompositum

G

Kompositum, dessen erstes Element zu seiner KopfKonstituente in einer Beziehung steht, die syntaktisch durch den Kasus Genitiv charakterisiert würde. ▲ genitive compound: compound whose first element is in a relationship to its head constituent that would be characterized syntactically by the genitive case. Genitivkomposita bilden eine Untergruppe der Determinativkomposita. In seiner historischen Betrachtung hat J.Grimm (1878) die Komposita in eigentliche und uneigentliche unterteilt. Die eigentlichen Komposita stellen den ältesten Typ dar, der auf eine Zeit vor der Entstehung der Syntax zurückgeht, in der einfache Stämme frei miteinander kombiniert wurden. Uneigentliche Komposita hingegen sind eine spätere Entwicklung zu einer Zeit, in der nominale Modifikatoren Kasus trugen. Mit der Zeit wurden die vorangestellten Attribute mit dem Kopfnomen zu einem Komplex zusammengezogen. Die ersten Konstituenten dieser Univerbierungen wiesen eine grammatische Kasusform auf, die derjenigen in einer semantisch äquivalenten Syntaxkonstruktion entspricht. Oft ist dies der Genitiv, vgl. wolfes-milh ‘Milch eines Wolfs’, sunnūn-tag ‘Tag der Sonne’. Die jüngeren zusammengerückten Formen bildeten eine analogische Basis für die Entstehung weiterer Bildungen, in denen die internen Kasusendungen ihre syntaktische Funktion einbüßten und als leere Grenzelemente (Fugenelemente) umgedeutet wurden. Die charakteristischen Genitivendungen waren -en, -es und -er. Laut Henzen (1965: 51) wurde das Muster der Genitivkomposita so dominant, dass es andere Kompositatypen beeinflusste, insbesondere die eigentlichen Komposita, mit dem Ergebnis, dass die zwei ursprünglichen Typen der eigentlichen und der uneigentlichen Komposita zu einem gemeinsamen Schema zusammenfielen. So entstanden auch Komposita mit unparadigmatischen Formen wie nhd. Arbeitsamt oder Geburtstag, in

denen die Fuge nicht einem historischen Genitiv entspricht. Diese Entwicklung gilt für alle germanischen Sprachen. Nur im heutigen Englisch sind die Fugenelemente bis auf wenige Ausnahmen mit Genitiv-Struktur weggefallen. Und selbst in diesen Fällen stellt sich die Frage, ob solche Beispiele nicht eher lexikalisierte Kollokationen (cashier's check ‘Bankscheck’, driver's license ‘Führerschein’, fool's errand ‘vergebliche Mühe’) als echte morphologische Komposita darstellen. Nichtsdestotrotz sind Spuren dieser historischen Entwicklung noch in einigen germanischen Sprachen wie dem Westfriesischen nachweisbar. Dort sind nämlich die historischen Entwicklungsstufen der Komposita aus ursprünglichen Nominalphrasen mit einem Genitivattribut über eine univerbierte Form mit vorangestelltem Genitiv zu einem echten Kompositum nachvollziehbar, vgl. Hoekstra (2016). Das Westfr. weist wie die anderen germanischen Sprachen auch Komposita ohne und mit Grenzmarkierungen auf, vgl. die Beispiele in (1a und b). (1) a) ohne Fugenelement:

skiepfleis

‘Hammel-fleisch’

b) mit Fugenelement:

doarpsbern

‘Dorf-Fugen_s-kind’

Es finden sich außerdem im Westfr. Wortstrukturen mit vorangestellten Genitiven wie kokensdoar in (2a). In dieser Bildung wird das Zweitglied betont, das Erstglied trägt obligatorisch die Genitivendung -s und ist referentiell. Dies sind die typischen Kennzeichen von syntaktischen Phrasen. Das komplexe Wort denotiert ‘die Tür der Küche’ und hat nicht die klassifikatorische Funktion wie sie im Beispiel (2b) kokendoar gegeben ist, wo koken (hier ohne -s-Genitiv) zusammen mit doar ein subordiniertes Konzept bildet, 'typische Tür für Küchen'. Der generische Sinn von kokendoar wird begleitet von einer Hauptbetonung auf dem Erstglied. Dies wiederum sind die typischen Eigenschaften von Komposita, vgl. Hoekstra (2016: 2453f.) (2) a) vorangestellter Genitiv

kokensDOAR ‘die Tür der Küche’

b) Kompositum o. Fugenelement

KOKENdoar

‘Küchen-tür’

Susan Olsen

315 Genuswechsel

→ Determinativkompositum; eigentliches Kompositum; Fu-

genelement; Kompositionsfuge; Kompositum; syntaxnaher Bildungstyp; uneigentliches Kompositum ⇀ Genitivkompositum (Onom) ⇁ genitive compound (Woform)

🕮 Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Hoekstra, J. [2016] Frisian. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1) Berlin [etc.]: 2451–2465.

Genuswechsel

Wechsel des Genus bei den Substantiven einer Sprache im Lauf der Sprachgeschichte oder das Auftreten verschiedener Genera eines einzigen Substantivs im synchronen System einer Sprache. ▲ gender change: change in the grammatical gender of a noun in the course of the historical development of the language or the occurrence of different genders in an individual noun in the synchronic system of a language. Der Wechsel des Genus in der Geschichte einer Einzelsprache ist zunächst ein sprachgeschichtlich beschreibbares Phänomen. Für das Deutsche als Beispiel sieht die Ausgangslage so aus, dass bereits im Ahd. bei der allergrößten Zahl der Substantive das Genus fest ist. Daneben gibt es aber auch eine geringe Anzahl Substantive, die mehr als ein Genus aufweisen oder aufgrund unspezifischer Wortformen aufweisen könnten, so etwa heit st. M. F. ‘Person, Persönlichkeit; Gestalt’ oder tuom st. M. N. ‘Urteil, Gericht; Gerechtigkeit; Macht, Herrschaft; Fähigkeit; Tat; Ruhm, Ansehen’. Eine Analyse der Verhältnisse im Ahd. verspricht die Arbeit von Froschauer (2003). Gegenstand des Vorhabens war eine Untersuchung des Mehrfachgenus ahd. Substantive im Hinblick auf dessen angenommene Funktionalität. Es wird der aufgrund von Einzelfällen aufgestellten Hypothese von Leiss (Leiss 1997 nach Lehmann 1958) nachgegangen, wonach der Genusgebrauch im Ahd. nicht dem Belieben anheimgestellt sei, sondern durch bestimmte semantische Kategorien motiviert ist. Im Ahd. sei nach dieser Theorie ein im Idg. funktionierendes semantisch motiviertes Genussystem resthaft erhalten. Das bedeutete, dass ursprünglich von jedem Substantiv (im Sinne des Genus als funktionaler grammatischer Kategorie mit dem Merkmal der Wählbarkeit) alle drei Genera nach den semantischen Kategorien Singulativum (Maskulinum), Kollektivum (Femi-

ninum) und Kontinuativum (Neutrum) habe gebildet werden können. Die These von Leiss kann durch die Arbeit von Froschauer nicht bestätigt werden. Im Verlauf der Sprachgeschichte kann sich bei Wörtern, die nur ein einziges Genus tragen, dieses eine Genus ändern, ohne dass dadurch die Semantik geändert wird, so bei ahd. slango sw. M. > mhd. slange sw. M. st. sw. F. > nhd. Schlange st. F. Im vorliegenden Fall dürfte der Genuswechsel durch den Verlust des eindeutigen ausdrucks­ seitigen Signals für ein schwaches Nomen in Gestalt von auslautendem ahd. -o durch die Abschwächung zu tonlosem -e und damit die ausdrucksseitige Gleichheit der Lexikonform mit femininen Substantiven wie mhd. gebe < ahd. geba bedingt sein. Ferner in Betracht kommt bei einem solchen Vorgang die Anlehnung des Genus an das Genus bedeutungsverwandter Wörter der jeweiligen Synchronie, hier mhd. viper sw. F. ‘Viper, Schlange’ beziehungsweise mhd. nâter sw. F. ‘Natter’, gegenüber denen mhd. wurm st. M. ‘Wurm, Schlange, Drache’ aufgrund seiner weitergespannten Bedeutung weniger analogische Kraft entfaltet hätte. In der gegenwärtigen Synchronie des Deutschen kann der Wechsel des Genus bzw. das Vorliegen von zwei gleichlautenden Lexemen verschiedenen Genus mit einer Verschiedenheit der Bedeutung verbunden werden, so bei das/der Band – der/das Bund – der/die Flur – der/das Gehalt – die/das Koppel – der/das Korn – der/das Korpus – der/das Moment – der/das Schild – der/die See – die/das Steuer – der/das Verdienst. Somit stellt die Genusdifferenzierung von Homonymen ein inhaltliches und ausdrucksseitiges Signal für die unterschiedliche Bedeutung dar, die vom Lexem selbst ausdrucksseitig nicht symbolisiert werden kann. Mottausch (2008) hat die Genusschwankungen in den südhessischen Mundarten untersucht. Im Südhessischen, wie in den meisten deutschen Dialekten, haben viele Substantive gegenüber ihren ahd. und mhd. Entsprechungen sowie denen der nhd. Schriftsprache ein anderes Genus. Dabei ist das üblichste Verteilungsmuster des früheren und des gegenwärtigen Genus diatopisch, das heißt, es gibt zwei Genera. Jedoch ist in einer Reihe von Fällen eine Konstellation von drei Genera entstanden, die üblicherweise ebenso diatopisch

G

Gerätebezeichnung 316

G

verteilt sind. Wie bereits im Fall von ahd. slango > mhd. slange angesprochen, sieht Mottausch als eine Vorbedingung für Genuswechsel und Genusfluktuation den Umstand an, dass deutsche Substantive, nicht zuletzt wegen des Ausmaßes der Apokope, in den meisten Fällen keine Vorhersagen über ihr Genus auf der Grundlage ihrer äußeren Lexikonform mehr zulassen. Folgende Gründe für ein gegenüber der Hochsprache abweichendes Genus werden festgestellt: 1. Beibehaltung eines früheren Sprachzustandes gegenüber dem Standard der nhd. Schriftsprache. 2. „Analogie der Form“, das heißt Genusangleichung an Wörter einer gleichen oder ähnlichen (Lexikon)Form, und zwar (a) auf der Basis des Reims mit Wörtern der gleichen oder ähnlichen Struktur oder (b) auf der Basis der Wortendung. 3. Rückbildung auf der Grundlage eines üblicherweise verwendeten Plurals, der zu einer Unsicherheit bezüglich der korrekten Form des Singulars führen kann. 4. Angleichung des Genus an das von Wörtern mit der gleichen oder einer ähnlichen Bedeutung, entweder (a) an Synonyme oder – was der verbreitetste solcher Fälle ist – (b) aus dem gleichen semantischen Feld. 5. Einfluss der Quellsprache auf einige Entlehnungen, was seltener auftritt. Als „unmarkiertes“ Genus spielt das Neutrum eine besondere Rolle, und zwar insofern, als es in den Fällen verbreitet ist, wo die „korrekte“ Zuweisung unklar ist. Weibliche Personennamen sind oft auch Neutra, und zwar auf dem Wege über die Assoziation mit Diminutivformen. Eckhard Meineke

→ Apokope; Diminutivum; Wortbildungshomonymie ⇀ Genuswechsel (Gram-Formen)

🕮 Froschauer, R. [2003] Genus im Althochdeutschen. Eine funktionale Analyse des Mehrfachgenus althochdeutscher Substantive. Mit einem Vorwort von Rolf Bergmann und Elisabeth Leiss. Heidelberg ◾ Lehmann, W.P. [1958] On Earlier Stages of the Indo-European Nominal Inflection. In: Lg 34: 179–202 ◾ Leiss, E. [1997] Genus im Althochdeutschen. In: Glaser, E./ Schlaefer, M. [Hg.] Grammatica ianua artium. Festschrift für Rolf Bergmann zum 60. Geburtstag. Heidelberg: 33–48 ◾ Mottausch, K.-H. [2008] Die Bach – der Jack – das Ort. Genuswechsel und Genusschwankungen in den südhessischen Mundarten. In: ZDL 75: 158–179.

Gerätebezeichnung ≡ nomen instrumenti

Gerundium

im Lateinischen ein unpersönliches Verbalsubstantiv. ▲ gerund: in Latin, an impersonal verbal substantive.

Die Übertragung von Latein ist in verschiedenen Sprachen unterschiedlich, daher ist auch der Begriff „Gerundium“ unterschiedlich gebräuchlich. Betrachtet man allerdings die Übertragung von „Verbalsubstantiv“, so wäre im Dt. eine solche Form der sogenannte substantivische oder substantivierte Infinitiv das Singen (mit Kasus-, aber ohne Numerusflexion die Kunst des Singens), im Engl. ausschließlich singing in substantivischer Verwendung the singing of Christmas songs. Wegen der Formgleichheit wird aber auch häufig die (verbale) Verlaufsform im Engl. als Gerundium bezeichnet (Peter is singing), was von der latein. Grammatik aus gesehen aber ein Gerundivum ist (Verbaladjektiv) und im Dt. am ehesten mit singend – die singenden Kinder in Verbindung gesetzt wird. ≡ verbales Nomen → Verbaladjektiv; Verbalsubstantiv ⇀ Gerundium (Gram-Formen; HistSprw; CG-Dt) ⇁ gerund (CG-Engl; Typol)

Nanna Fuhrhop

🕮 Risch, E. [1984] Gerundivum und Gerundium. Berlin.

Gradation

≡ Graduierung

Graduativum

Adjektiv mit graduierender Wortbildungsbedeutung. ▲ graduative: adjective with a gradable word-formational meaning. Der Begriff Graduativum wird im Rahmen einer wortbildungssemantischen Untersuchung für eine Teilmenge adjektivischer Wortbildungen verwendet, die Kombination von über- + Adjektiv (Graser 1973). Für diesen morphologisch einheitlichen, aber semantisch mehrdeutigen Typ von Wortbildungssyntagmen gelangt Graser auf der Grundlage eines transformationellen Analyseverfahrens zu unterschiedlichen Tiefenstrukturen, die zwei semantische Bildungsmuster ausweisen, die Graduativa und die Transgressiva (Graser 1973: 39ff.). Bei den Graduativa, die im Korpus mit rund 100 verschiedenen über-Syntagmen belegt sind, mache die Einsetzbarkeit von sehr oder zu

317 Graduierung für über- „ein semantisches Merkmal des betreffenden Syntagmas sichtbar, das in einem gegenüber dem Basisadjektiv des Syntagmas deutlich höheren Grad der genannten Eigenschaft besteht“ (z.B. überängstlich, übergroß). Für die mit etwa 80 verschiedenen Syntagmen belegten Transgressiva wird das Inhaltsmerkmal der Grenzüberschreitung (‘führt über … hinaus’) ermittelt (z.B. überirdisch, übersinnlich). Zu den Gra­du­a­ti­va vgl. auch die Übersicht in Kühnhold/Putzer/Wellmann (1978: 95). Bei Erben werden die entsprechenden modifizierenden Bildungen allgemeiner unter dem Begriff Gradation gefasst (Erben 2006: 109ff.). Bildungen mit über- werden semantisch als ‘ein alle „normalen“ Erwartungen übertreffendes (Über-)Maß der nachgenannten Eigenschaft’ beschrieben, wobei je nach Art der Eigenschaft und Sachlage eine positive oder negative Empfindung und Wertung ausgedrückt wird. Bei Fleischer/Barz (2012: 305, 310ff.) erscheinen die Bildungen ebenfalls unter Gradation bzw. Gradationsbildung. Das Präfix über- wird semantisch durch „Ausdruck des Zuviel“, der Normüberschreitung, als „normativtransgressiv“ charakterisiert. Motsch (2004: 280ff.) spricht von Gradierung und schreibt dem Präfix über- die Bedeutung ‘die von einem Adjektiv bezeichnete Eigenschaft als im hohen Maße zutreffend’ zu (eine überglückliche junge Mutter, übergroße Freude, eine überreiche Ernte). Möglich sei auch die Interpretation ‘der Grad übersteigt ein erwünschtes oder tolerierbares Maß’ (überängstlich, übernervös, überempfindlich). Hannelore Poethe

→ Graduierung; Modifikation; Wortbildungsbedeutung

🕮 Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Graser, H. [1973] Die Semantik von Bildungen aus „über‑“ und Adjektiv in der deutschen Gegenwartssprache. Düsseldorf ◾ Kühnhold, I./ Putzer, O./ Wellmann, H. [1978] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 3. Hauptteil: Das Adjektiv. Düsseldorf ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.].

Graduierung

Ausdruck unterschiedlicher Grade von Eigenschaften. ▲ gradation: expression of different degrees of properties.

Zum Ausdruck unterschiedlicher gradueller Abstufung von Eigenschaften stehen den Einzelsprachen vielfältige Möglichkeiten zur Verfügung. Das wichtigste Mittel ist die morphologische Kategorie Komparation bei Adjektiven, seltener bei Adverbien. Mit den Steigerungsstufen Positiv (Grundstufe), Komparativ (1. Steigerungsstufe, Vergleichsstufe, Mehrstufe), Superlativ (2. Steigerungsstufe, Höchststufe, Meiststufe) sowie dem Elativ (absoluter Superlativ) lassen sich Erscheinungen hinsichtlich bestimmter Eigenschaften miteinander vergleichen und wertend beurteilen. Bildungsrestriktionen sind durch die Semantik der Adjektive begründet. So gelten z.B. Farb-, Stoff- und Formadjektive sowie Relationsadjektive als nicht komparierbar. Auch von adjektivischen Wortbildungen wie blickdicht, schneeweiß, urkomisch, unüberhörbar, kinderlos sind im Allgemeinen Komparationsformen ausgeschlossen (vgl. Gallmann 2009: 377f.). Aber auch unübliche Steigerungsformen wie röter, quadratischer, unmöglicher sind grammatisch wohlgeformt und in bestimmten Kontexten denkbar (vgl. Eisenberg 2013: 177). Einzelsprachlich wird die Komparation unterschiedlich realisiert: synthetisch (dt. groß – größer – größte, engl. happy ‘glücklich’ – happier – happiest) oder analytisch (frz. rapide ‘schnell’ – plus rapide – le/la plus rapide, ital. bello ‘schön’ – più bello – il più bello, span. caro ‘teuer’ – más caro – el más caro), mitunter auch durch Mischung beider Verfahren (russ. krasívyj ‘schön’ – krasívee/bolee krasívyj – najbólee krasívyj/sámyj krasívyj). Mit analytischen Formen lässt sich auch der geringere Grad ausdrücken (frz. moins rapide ‘weniger schnell’ – le moins rapide ‘am wenigsten schnell’, ital. meno bello ‘weniger schön’ – il meno bello ‘am wenigsten schön’, span. menos caro ‘weniger teuer’ – el menos caro ‘am wenigsten teuer’). Einige Sprachen, wie das Russ., verfügen über spezifische morphologische Markierungen des Elativs (-ušč-: bol’šoj ‘groß’ – bolšuščij ‘riesengroß’, -enn-: širokij ‘breit’ – širočennyj ‘enorm breit’, vgl. Autorenk. 1984: 180). In romanischen Sprachen dienen vom lat. Superlativsuffix -issimabgeleitete Suffixe zur Bildung des Elativs (ital. -issim-: bellissimo ‘wunderschön’, span. -ísim-: hermosísimo ‘sehr schön’, frz. -issime: rarissime ‘äußerst selten’). In seltenen Fällen wird die Steigerung durch Reduplikation des Adjektivs ausge-

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Grammatik, kognitive 318 drückt (samoan. tele ‘groß’ – teletele ‘sehr groß’), vgl. Cuzzolin/Lehmann (2004: 1217). Hannelore Poethe ≡ Gradation → Elativ; Komparation; Komparativform; Komparativmorphem; Reduplikation; Superlativform; Superlativmorphem ⇀ Graduierung (SemPrag; Gram-Formen; Lexik)

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🕮 Autorenk. [unter Leit. v. L. Wilske 1984] Die russische Sprache der Gegenwart. Bd. 4: Lexikologie. 2., unveränd. Aufl. Leipzig ◾ Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Cuzzolin, P./ Lehmann, C. [2004] Comparison and gradation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morpholoie (HSK 17.2). Berlin [etc.]: 1212–1220 ◾ Eisenberg, P. [2013] Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 4., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart [etc.] ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Gallmann, P. [2009] Die flektierbaren Wortarten. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 145–388 ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin ◾ Schpak-Dolt, N. [1992] Einführung in die französische Morphologie. Tübingen ◾ Seewald, U. [1996] Morphologie des Italienischen. Tübingen ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig.

Grammatik, kognitive → Kognitive Grammatik

Grammatikalisation

≡ Grammatikalisierung

Grammatikalisierung

Sprachwandelprozess, in dessen Verlauf sich eine lexikalische Einheit zu einer grammatischen Einheit entwickelt. ▲ grammaticalization: process of language change in the course of which a lexical unit becomes a grammatical one. Der von Meillet (1912) geprägte, aber uneinheitlich verwendete Terminus (vgl. Lindström 2004) beschreibt im Kontext der Wortbildung (vgl. Rainer 2015, Wischer 2011) die Entstehung von Wortbildungsmorphemen aus Lexemen. Ausgangspunkt sind z.T. Lexeme in syntaktischen Konstruktionen wie etwa im Fall des romanischen Adverbsuffixes -mente, das aus lateinischen Ablativkonstruktionen mit dem Substantiv mēns ‘Geist, Verstand’ entstanden ist (z.B. lat. in clarā mente ‘bei klarem Verstand’ > span. claramente ‘klar, deutlich’), vgl. Detges (2015). Wesentlich häufiger erfolgt die Genese von Affixen aber nicht ausgehend von Lexemen in syn-

taktischen Konstruktionen, sondern von Kompositaeinheiten. Auch im Deutschen spielt die Grammatikalisierung von Kompositionsgliedern eine zentrale Rolle für die Erweiterung des Affixbestands. Auf diese Weise entstehen schon im Ahd. Bildungen mit nominalen „Kompositionssuffixen“ sowie verbale „Präfixkomposita“ (Meid 1967: 36, 218). Die entsprechenden Wortbildungselemente stehen mit mehr oder weniger deutlich entkonkretisierter Bedeutung neben Substantiven, Adjektiven, Adverbien bzw. Präpositionen, aus denen sie als Folge einer semantischen Entkonkretisierung entstanden sind. Dies gilt im Ahd. etwa für substantivisches -tům (< tům ‘Urteil, Würde, Herrschaft, Stand’), -scaf(t) (< scaf ‘Ordnung’, scaft ‘Schöpfung’), und -heit (< heit ‘Person, Geschlecht, Stand, Art’), für adjektivisches -līh (< līh ‘Körper, Leichnam, Gestalt’), -sam (< sama/ samo ‘ebenso, derselbe’), -haft (< haft (Verbaladjektiv) ‘behaftet, gebunden’), -lōs (< lōs ‘los, von, außerhalb von’) und -bāri (< bāri (Verbaladjektiv zu beran ‘hervorbringen, tragen’)) sowie für die verbalen Präelemente ir- (< ir (Präposition) ‘aus, außerhalb’) und bi- (< bi (Präposition) ‘an, bei, um’). Während in diesen Fällen der Grammatikalisierungsprozess seit dem Spätmhd. in der Regel abgeschlossen ist und neben diesen Affixen kein freies Lexem mehr steht, behalten die trennbaren verbalen Partikeln ihr freies Pendant (z.B. ahd. nāh-loufan ‘nachlaufen’, bī-stān ‘beistehen’) und werden als Partikelverben – unter diachroner Perspektive auch als Partikelkomposita bezeichnet – von den Präfixverben terminologisch differenziert. Auch im nominalen Bereich führt die spätere, (fr)nhd. Grammatikalisierung nicht mehr zur Aufgabe der Ausgangslexeme, wie etwa bei den substantivischen Kollektivsuffixen -werk (< Werk ‘Arbeit, Tätigkeit, Erzeugnis’; z.B. Laub-werk ‘Gesamtheit der Blätter eines Baumes/Strauches’) und -wesen (< Wesen ‘Lebewesen, Eigenart/Charakter von jmdm./etw.’; z.B. Schul-wesen ‘alles, was mit der Schule zusammenhängt’), dem relationalen adjektivischen Suffix -mäßig (< mäßig ‘relativ gering, mittelmäßig’; z.B. vorschrift-s-mäßig ‘der Vorschrift entsprechend’) oder dem adverbialen Suffix -weise (< Weise ‘Art, Form’; z.B. gruppe-n-weise ‘in Form von Gruppen’). Aus diesem Grund werden entsprechende Elemente zum Teil als Affixoide (Präfixoide, Suffixoide) bezeich-

319 net und von den nur gebunden auftretenden Affixen begrifflich unterschieden. Da die Grammatikalisierung, für die die Faktoren Reihenbildung, Reanalyse und Analogie wichtig sind, graduell verläuft (vgl. Lehmann 2002) und eine Homonymie zwischen Lexem und Affixoid/Affix nicht immer gegeben ist, erfolgt die Kategorisierung von Elementen wie -arm (z.B. abgasarm) oder Riesen(z.B. Riesenskandal) heterogen als Kompositionsglied, Affixoid oder Affix. Insgesamt lassen sich also unterschiedliche Grammatikalisierungsgrade unterscheiden: In einer älteren Schicht sind die Ausgangslexeme untergegangen und die Grammatikalisierung hat zu gebundenen Morphemen mit einer entkonkretisierten Wortbildungsbedeutung geführt. In jüngeren Fällen ist die Grammatikalisierung dagegen auf einer früheren Stufe eingefroren, bei der trotz einer (partiellen) semantischen Ausbleichung (noch) kein Lexemschwund eingetreten ist. In der Regel ist der Grammatikalisierungsprozess mit der Entstehung von Wortbildungsmorphemen abgeschlossen. Eine weitergehende Grammatikalisierung von Wortbildungsmorphemen zu Flexiven ist dagegen nur in wenigen Fällen gegeben. Für das Deutsche gilt dies nur für das Präfix ge-, das anfänglich eine soziative Funktion hatte (vgl. ge-heim, ge-leiten, beide nhd. idiomatisiert) und als verbales Präfix im Ahd./Mhd. v.a. zur Markierung der ‘vollständigen Durchführung’ von Vorgängen/Handlungen diente (z.B. mhd. gebrechen ‘zerbrechen’, gestillen ‘völlig stillen’; vgl. Klein/ Solms/Wegera 2009: 486), heute aber als Wortbildungsmorphem unproduktiv ist und als Flexiv zur Bildung des Partizip Präteritum (z.B. ge-bunden, ge-lieb-t) fungiert. Für Überblicke zu Grammatikalisierungsphänomenen in Einzelsprachen vgl. die Beiträge von Amiot (2015), Detges (2015), Habermann (2015), Kleszczowa (2015), Pharies (2015) und Trips (2009). Weitere Beispiele enthalten die Einzelsprachportraits in den Bänden 4 und 5 des Handbuchs Word-Formation (Müller/Ohnheiser/Olsen/Rainer 2016). Peter O. Müller ≡ Grammatikalisation ↔ Degrammatikalisierung → § 39; Affixoid; Analogie; gebundenes Morphem; Partikelverb; Partizip; Präfixoid; Präfixverb; Suffixentstehung; Suffixoid; Verbpartikel; Wortbildungsbedeutung

grammatische Rückbildung

⇀ Grammatikalisierung (Gram-Syntax; CG-Dt; Sprachdid; HistSprw; SemPrag)

⇁ grammaticalization (CG-Engl; TheoMethods; Typol)

🕮 Amiot, D. [2015] The grammaticalization of prepositions in French word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1811–1824 ◾ Amiot, D./ Dugas, E. [2020] Combining Forms and Affixoids in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 855–873 ◾ Detges, U. [2015] The Romance adverbs in -mente: a case study in grammaticalization. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1824–1842 ◾ Habermann, M. [2015] Grammaticalization in German word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1794–1810 ◾ Klein, T./ Solms, H.-J./ Wegera, K.-P. [2009] Mittelhochdeutsche Grammatik. Teil III: Wortbildung. Tübingen ◾ Kleszczowa, K. [2015] Grammaticalization in Slavic word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1842–1853 ◾ Lehmann, C. [2002] Thoughts on Grammaticalization. A Programmatic sketch. Vol. I. Revised edition. Erfurt ◾ Lindström, Th.A.M. [2004] The History of the Concept of Grammaticalization. Ph.D. dissertation, University of Sheffield ◾ Meid, W. [1967] Germanische Sprachwissenschaft. III. Wortbildungslehre. Berlin ◾ Meillet, A. [1912] L’évolution des formes grammaticales. In: Scientia 12, Nr. 26, H. 6: 384–400 ◾ Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds. 2016] Word-Formation (HSK 40. 4/5). Berlin [etc.] ◾ Norde, M. [2020] Grammaticalization in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 3. New York: 1751–1771 ◾ Pharies, D. [2015] The origin of suffixes in Romance. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1854–1866 ◾ Rainer, F. [2015] Mechanisms and motives of change in word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1761–1781 ◾ Trips, C. [2009] Lexical Semantics and Diachronic Morphology. The Development of -hood, -dom and -ship in the History of English. Tübingen ◾ Wischer, I. [2011] Grammaticalization and word formation. In: Narrog, H./ Heine, B. [eds.] The Oxford Handbook of Grammaticalization. Oxford [etc.]: 356–364.

grammatische Rückbildung

Bildung von Singularformen zu Wörtern, die ursprünglich nur als Pluralformen vorlagen. ▲ grammatical back-formation: formation of singular forms out of words formerly existing only as plural forms. Unter grammatischer Rückbildung versteht man die Bildung von Singularformen zu Wörtern, die ursprünglich nur in Pluralformen vorlagen, so engl. pea zu peas. Ein dt. Beispiel ist die aus Eltern rückgebildete Form Elter (Mask./Neutr.) zur geschlechtsabstrakten Bezeichnung eines Elternteils, die im 19. Jh. zunächst fachsprachlich aufkam und heute z.T. auch in gendersensitiver

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grammatisches Abstraktum 320 Funktion verwendet wird (vgl. z.B. den Leitfaden zum geschlechtergerechten Formulieren im Deutschen; Schweizer Bundeskanzlei 2009).

→ Derivationsrichtung; Rückbildung

Eckhard Meineke

🕮 Henzen, W. 1965 Deutsche Wortbildung. Rev. und erg. 3. Aufl. Tübingen: 242 ◾ Kluge, F. [2002] Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24., durchges. und erw. Aufl. Bearb. von E. Seebold. CD-ROM-Version. Berlin [etc.] ◾ Nichtenhauser, D. [1920] Rückbildungen im Neuhochdeutschen. Diss. Freiburg i. Br..

G

grammatisches Abstraktum

durch Nominalisierung eines Prädikatsinhalts entstandene Bildung. ▲ abstract noun: word form that arises by nominalization of a predicate. Substantive, die etwas Nichtgegenständliches bezeichnen, werden – in Abgrenzung zu den Konkreta – Abstrakta genannt. Als grammatische Abstrakta gelten diejenigen unter ihnen, die als substantivische Wortbildungen den Prädikatsinhalt nominalisieren (vgl. Habermann 1994: 64) und insofern „im Satzgefüge und bei der Textkonstitution […] zur Wiederaufnahme prädikativer Konstruktionen [dienen]“ (Wellmann 1975: 209): dt. er liest > das Lesen, engl. she arrives ‘sie kommt an’ > her arrival ‘ihre Ankunft’, I'm happy ‘ich bin glücklich’ > my happyness ‘mein Glück’; russ. otkryt' [dver'] ‘[die Tür] öffnen’ > otkrytie [dveri] ‘das Öffnen [der Tür]’. Dabei entsprechen „[d]ie 'grammatischen Abstrakta' [...] transformationell den Inhaltssätzen oder vergleichbaren Infinitivkonstruktionen“ (Wellmann 1975: 210): dt. ehrenamtliche Lesepaten setzen sich für regelmäßiges Vorlesen in Kindertagesstätten ein > sie setzen sich dafür ein, dass in Kindertagesstätten regelmäßig vorgelesen wird/sie setzen sich dafür ein, in Kindertagesstätten regelmäßig vorzulesen. Valenzbedingte Ergänzungen, die für die prädikative Konstruktion obligatorisch sind, sind beim grammatischen Abstraktum mitunter fakultativ (vgl. Wellmann 1975: 209): Vorlesepaten unterstützen das Lesenlernen > die Unterstützung [des Lesenlernens] [durch Vorlesepaten]. Die Paraphrasierung grammatischer Abstrakta erfolgt in der Regel mithilfe der Paraphrase ‘die Tatsache, dass etwas geschieht’, wodurch die Thematisierung des Prädikatsinhalts angezeigt wird (vgl. Müller 1993: 62). Damit sind grammatische

Abstrakta – etwa dt. das Senden – in ihrem Bezeichnungscharakter zu unterscheiden von „Nominalisierungen mit zusätzlichen semantischen Veränderungen“ (Motsch 1999: 321) wie Sendung, Sender, die das Handlungsresultat, das Handlungsinstrument oder den Handlungsträger bezeichnen. Dessen ungeachtet sind einzelne grammatische Abstrakta doppelt motiviert, indem sie – durch sekundäre Prägung – neben dem Prädikatsinhalt etwa auch auf das Handlungsresultat referieren können (dt. das Schreiben). Eine Subklassifizierung grammatischer Abstrakta erfolgt häufig unter morphologischem Gesichtspunkt, nämlich nach ihrer Ausgangswortart, in Verbalabstrakta (frz. il court ‘er läuft’ > son course ‘sein Lauf’), Adjektivabstrakta (dt. sie ist krank > ihre Krankheit) und Nominalabstrakta (engl. he is a child ‘er ist ein Kind’ > his childhood ‘seine Kindheit’). Die Basis grammatischer Abstrakta muss demnach kein Vollverb sein, infrage kommen ebenso Adjektive und Substantive (vgl. Wellmann 1975: 210). Syntaktisch betrachtet wird dabei eine prädikative Konstruktion aus Kopulaverb und Prädikativum wiederaufgenommen: dt. sie ist klug > ihre Klugheit; frz. il est mon ami ‘er ist mein Freund’ > son amitié ‘seine Freundschaft’. Anja Seiffert

→ nomen qualitatis; Nominalabstraktum; Verbalabstraktum ⇁ abstract noun (CG-Engl; Typol)

🕮 Gaeta, L. [2020] Collective/Abstract in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 3. New York: 482–497 ◾ Habermann, M. [1994] Verbale Wortbildung um 1500. Eine historisch-synchrone Untersuchung anhand von Texten Albrecht Dürers, Heinrich Deichslers und Veit Dietrichs. Berlin [etc.] ◾ Motsch, W. [1999] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. Berlin [etc.] ◾ Müller, P.O. [1993] Substantiv-Derivation in den Schriften Albrecht Dürers. Ein Beitrag zur Methodik historisch-synchroner Wortbildungsanalysen. Berlin [etc.] ◾ Wellmann, H. [1975] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 2. Hauptteil: Das Substantiv. Düsseldorf.

grammatisches Morphem

Morphem mit einer grammatischen Bedeutung. ▲ grammatical morpheme: morpheme with a grammatical meaning. Grammatische Bedeutungen werden oft als solche beschrieben, die Beziehungen herstellen. Demnach unterscheiden sich grammatische Morpheme von lexikalischen dadurch, dass sie synsemantisch und nicht autosemantisch sind (vgl. Marty 1908: 205f.), d.h. eine Bedeutung

321 nicht allein, sondern nur in Verbindung mit anderen Morphemen haben. (In der französischen Tradition wird Morphem auf grammatische Morpheme beschränkt und der Bezeichnung Lexem für lexikalische Morpheme gegenübergestellt, s. Martinet 1960: 20, während diese Termini sonst andere Bedeutungen haben.) Ähnlich motiviert ist die Trennung zwischen Funktionswörtern und Inhaltswörtern sowie die zwischen „leeren“ und „vollen“ Wörtern in der chinesischen Tradition. Für grammatische Morpheme ist ferner charakteristisch, dass sie oft kleine Teilsysteme von einander gegenseitig ausschließenden Elementen bilden. Das gilt insbesondere für Flexionsmorpheme (und für gewisse Partikeln); das Inventar der Derivationsmorpheme ist demgegenüber weniger strukturiert. Während Affixe per Definition grammatische Bedeutungen haben, sind nicht alle grammatischen Morpheme Affixe, denn es gibt auch freie grammatische Morpheme: Partikeln in einem weiteren Sinn wie Präpositionen, Konjunktionen usw., die man entweder zu den Wurzeln rechnen oder als eine eigene Klasse betrachten kann (s. Croft 2000: 258). Im letzteren Fall können Wurzeln keine grammatischen Morpheme sein. Nun kann man beispielsweise ‘zu mir’, ‘zu dir’, ‘zu uns’, ‘zu euch’ in manchen Sprachen durch Personalpronomina mit Kasussuffixen ausdrücken (z.B. burjat-mongol. /nam-da/, /ʃam-da/, /man-da/, /tan-da/ mit konstantem /-da/ ‘zu’), in anderen durch Präpositionen mit Personalsuffixen (z.B. maltes. lil-i, lil-ek, lil-na, lil-kom mit konstantem lil ‘zu’; s. auch Croft 2000: 258). Da die Basis für die Anfügung von Suffixen eine Wurzel sein muss, ergibt sich, dass burjat-mongol. /nam-/ ‘ich’ ein lexikalisches Morphem ist, maltes. -i ‘ich’ dagegen ein grammatisches, sodass dieselbe Bedeutung lexikalisch oder grammatisch sein kann. Eine Alternative wäre es, in beiden Sprachen die Morpheme mit den Bedeutungen ‘ich’ und ‘zu’ immer als grammatische zu betrachten, auch wenn sie Wurzeln sind. Dann sollte man umgekehrt auch Affixe mit lexikalischer Bedeutung zulassen, und tatsächlich werden Affixe wie Bella Coola (British Columbia) /kuɬ-/ ‘viel haben’ (z.B. in /kuɬ-taala/ ‘viel Geld haben’) weithin als lexikalische bezeichnet (s. Mithun 1997). Eine universale, rein semantische Abgrenzung grammatischer Bedeutungen von lexikalischen dürfte aber kaum möglich sein.

grammatisches Wort So muss man letztlich die geschlossene Klasse der grammatischen Morpheme in jeder Sprache durch Aufzählung definieren, wobei ein universaler Katalog typischer grammatischer Bedeutungen durchaus hilfreich sein kann (s. Croft 2000: 260–262). Joachim Mugdan

↔ lexikalisches Morphem → § 3, 12; Affix; gebundenes Morphem; Morphem ⇀ grammatisches Morphem (Gram-Formen; CG-Dt) ⇁ grammatical morpheme (CG-Engl; Typol)

🕮 Croft, W. [2000] Lexical and grammatical meaning. In: Booj, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 257–263 ◾ Martinet, A. [1960] Éléments de linguistique générale. Paris ◾ Marty, A. [1908] Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie. Erster Bd. Halle ◾ Mithun, M. [1997] Lexical Affixes and Morphological Typology. In: Bybee, J./ Haiman, J./ Thompson, S.A. [eds.] Essays on Language Function and Language Type Dedicated to T. Givón. Amsterdam [etc.]: 357–371.

grammatisches Wort

als sprachliches Zeichen betrachtetes Wort, das zu einem Lexem gehört. ▲ grammatical word: word viewed as a linguistic sign which belongs to a lexeme. Der Terminus „grammatisches Wort“ wird manchmal im Gegensatz zu „phonologisches Wort“ für das Wort als Einheit von Morphologie und Syntax verwendet und ist dann synonym zu „morphosyntaktisches Wort“. In einem engeren Sinn wird „grammatisches Wort“ benutzt, um die Mehrdeutigkeit von Wort hinsichtlich des Klassifikationsproblems (liegt dasselbe Wort vor oder verschiedene Wörter?) aufzulösen (s. Matthews 1974: 20–36). Der Inhalt eines grammatischen Worts umfasst neben einer lexikalischen Bedeutung auch bestimmte morphosyntaktische Eigenschaften, die zu bestimmten morphosyntaktischen Kategorien gehören (engl. „morphosyntactic property“ und „morphosyntactic category“, s. Matthews 1974: 66, 136; zu anderen Terminologien s. Mugdan 2015: 253). Eine morphosyntaktische Kategorie umfasst zwei oder mehr morphosyntaktische Eigenschaften (auch „Grammeme“ genannt, s. Mel’čuk 1982: 30), die sich gegenseitig ausschließen und von denen für jedes Wort einer bestimmten Klasse eine gewählt werden muss. Beispielsweise haben deutsche Verben unter anderem eine morphosyntaktische Kategorie Tempus, in der sich die beiden morphosyntaktischen

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Grundmorphem 322 Eigenschaften ‘präsens’ und ‘präteritum’ gegenüberstehen, sowie eine Kategorie, in der Person (‘1’, ‘2’ oder ‘3’) und Numerus (‘singular’ oder ‘plural’) kombiniert sind. Damit ergibt sich das in Tab. 1 dargestellte Teilparadigma. Tab. 1: Teilparadigma des Lexems frag

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frag

‘präs’

‘prät’

‘1Sg’

frage

fragte

‘2Sg’

fragst

fragtest

‘3Sg’

fragt

fragte

‘1Pl’

fragen

fragten

‘2Pl’

fragt

fragtet

‘3Pl’

fragen

fragten

An jeder Stelle in diesem Raster steht ein grammatisches Wort, ein sprachliches Zeichen mit Ausdruck und Inhalt: frag-e ‘frag[Präs]–1Sg’, fragt-e ‘frag-Prät–1Sg’ usw. In diesem Sinn kann die traditionelle Redeweise verstanden werden, fragte sei „die erste Person Singular Präteritum von fragen“. Dabei dient der Infinitiv fragen als Zitierform, mit der das Lexem frag benannt wird, d.h. die Menge aller grammatischen Wörter im Flexionsparadigma. Ein grammatisches Wort steht zu dem Lexem, zu dem es gehört, in derselben Element-Menge-Beziehung wie ein Allomorph zum entsprechenden Morphem; daher wird es auch „Allolex“ genannt. Manchmal stehen an einer Stelle im Paradigma verschiedene Möglichkeiten zur Wahl, wie bei dem in Tab. 2 dargestellten Substantivlexem geist. Hier ist z.B. im Genitiv Singular neben die Einheit des Geistes auch die Einheit des Geists belegt, und im Dativ Singular findet man sowohl aus dem Geist des Widerspruchs als auch aus dem Geiste des Widerspruchs. Tab. 2: Paradigma des Lexems geist geist

‘sg’

‘pl’

‘nom’

Geist

Geister

‘gen’

Geistes/Geists Geister

‘dat’

Geist/Geiste

Geistern

‘akk’

Geist

Geister

Wenn man in einem solchen Fall sagt, dass bei Geistes und Geists dasselbe grammatische Wort vorliege, aber verschiedene Wortformen (Carstairs-McCarthy 2000: 596), definiert man das grammatische Wort nicht mehr als Zeichen, son-

dern nur durch seinen Inhalt, also die lexikalische Bedeutung sowie die Grammeme, die eine bestimmte Stelle im Paradigma kennzeichnen. ≡ Allolex → Lexem; Wort; Wortform

Joachim Mugdan

🕮 Carstairs-McCarthy, A. [2000] Lexeme, word-form, paradigm. In: Booj, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 595–607 ◾ Matthews, P.H. [1974] Morphology. Cambridge [etc.] ◾ Mel’čuk, I.A. [1982] Towards a Language of Linguistics. A System of Formal Notions for Theoretical Morphology. München ◾ Mugdan, J. [2015] Units of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation. (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 235–301.

Grundmorphem

Morphem, das die Flexionsformen eines Simplex oder die Wörter einer Wortfamilie gemeinsam haben. ▲ base morpheme: morpheme that the inflectional forms of a simplex or the words of a word family share. Der Terminus „Grundmorphem“ dient in der deutschsprachigen Linguistik als eine von diachronen Assoziationen freie Alternative zu „Wurzel“ (s. z.B. Fleischer 1969: 34). In anderen Sprachen trifft man in gleicher Bedeutung eher das Äquivalent zu „Wurzel“ an (engl. root, frz. racine, russ. koren’ usw.). Manche Autoren bevorzugen „Basismorphem“ (nicht zu verwechseln mit „Basis“ als das, worauf eine morphologische Operation wie Affigierung angewendet wird) oder „Kernmorphem“ (z.B. Bergenholtz/Mugdan 1979: 120; vgl. „Kern“ bei Bünting 1971: 93); Unterschiede in den Definitionen hängen nicht direkt mit der Wahl eines dieser drei Termini zusammen, sodass sie als synonym gelten dürfen. Nach einer Definition sind alle Morpheme, die keine Affixe sind, Grundmorpheme. Da Affixe sowohl obligatorisch gebunden sind (d.h. nie allein als Wort auftreten) als auch grammatische Bedeutung haben, ist ein Morphem ein Grundmorphem, wenn es potentiell frei ist oder lexikalische Bedeutung hat (oder beides). Demnach kann es auch Grundmorpheme geben, die grammatische Bedeutung haben (wenn sie frei sind, z.B. Präpositionen, Konjunktionen und andere Partikeln), und solche, die obligatorisch gebunden sind (wenn sie lexikalische Bedeutung haben, z.B. Verbwurzeln, die stets ein Flexionsaffix erfordern, oder unikale Morpheme wie Brom- in Brombeere). Nur in ag-

323 Grundwort glutinierenden Sprachen oder Teilsystemen (wie dem der deutschen Substantive) sind Grundmorpheme generell frei. Eine andere Definition setzt Grundmorpheme mit lexikalischen Morphemen gleich. In diesem Fall sind nicht alle anderen Morpheme Affixe, weil zu den grammatischen Morphemen auch solche wie oder und wegen sowie d- (in der, des, die usw.) und unser- gehören (s. Bergenholtz/Mugdan 1979: 118–121). Wie bei der ersten Definition bilden die Grundmorpheme eine große offene Menge, während die anderen Klassen relativ klein und geschlossen sind, also durch Aufzählung definiert werden können. Auf dieser Basis lassen sich die Strukturen von Wörtern beschreiben, die in einer Sprache möglich sind (s. Bergenholtz/Mugdan 1979: 121–125). Obwohl normalerweise jedes Wort mindestens ein Grundmorphem enthält, gibt es gelegentlich Ausnahmen (s. z.B. Mel’čuk 2006: 472–475 zu „zero radicals“). Zuweilen wird erklärt, dass Grundmorpheme solche Morpheme seien, die mit Flexionsaffixen verbunden werden können. Das schließt unflektierte Partikeln wie oder und wegen aus, aber z.B. d- und unser- ein – und hat die wenig sinnvollen Konsequenzen, dass nicht flektierbare lexikalische Morpheme wie standarddt. lila keine Grundmorpheme sind und dass Sprachen des isolierenden Typs überhaupt keine Grundmorpheme besitzen. Wenn allerdings ein einfaches (nicht zusammengesetztes oder abgeleitetes) Lexem verschiedene Flexionsformen aufweist, ist der allen gemeinsame Bestandteil ein Grundmorphem, wobei zu berücksichtigen ist, dass es unterschiedliche Allomorphe haben kann, wie bei les- in [ich] les-e, [wir] les-en, [ihr] les-t und lies- in lies!, [sie] lies-t.

Ähnlich ist ein Grundmorphem der gemeinsame Bestandteil einer Wortfamilie, wiederum mit unterschiedlichen Allomorphen, wie bei les-bar, vor-les[en], lese-freudig, un-leser-lich usw. Die Trennung zwischen Grundmorphemen und Affixen ist für die Unterscheidung zwischen Komposition und Derivation wesentlich. Neben der theoretischen Frage, welche Kriterien ausschlaggebend sein sollen und wie sie präzisiert werden können, stellt sich dabei das empirische Problem, dass zahlreiche Morpheme nicht so leicht einzuordnen sind; strittig ist, ob es deshalb nötig ist, die Dichotomie Grundmorphem/Affix zugunsten einer feineren Einteilung oder eines Kontinuums aufzugeben (vgl. z.B. Olsen 2014; Næss 2017). ≡ Basismorphem; Kernmorphem → Affix; Wurzel ⇀ Grundmorphem (Gram-Formen; Lexik)

Joachim Mugdan

🕮 Bergenholtz, H./ Mugdan, J. [1979] Einführung in die Morphologie. Stuttgart ◾ Bünting, K.-D. [1971] Einführung in die Linguistik. Frankfurt/Main ◾ Fleischer, W. [1969] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig ◾ Mel’čuk, I. [2006] Aspects of the Theory of Morphology. Berlin [etc.] ◾ Næss, Å. [2017] Beyond roots and affixes. Äiwoo deverbal nominals and the typology of bound lexical morphemes. In: StLg 41: 914–955 ◾ Olsen, S. [2014] Delineating Derivation and Compounding. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Derivational Morphology. Oxford: 26–49.

Grundmorphem, gebundenes → gebundenes Grundmorphem

Grundwort

≡ Determinatum ⇀ Grundwort (Onom)

G

H Halbaffix

≡ Affixoid ⇀ Halbaffix (Gram-Formen)

Halbpräfix

≡ Präfixoid ⇀ Halbpräfix (Gram-Formen)

Halbsuffix

≡ Suffixoid ⇀ Halbsuffix (Gram-Formen)

Handlungsbezeichnung ≡ nomen actionis

Haplologie

fehlerhafte oder konventionalisierte Vereinfachung zweier gleich oder ähnlich klingender Sprecheinheiten, die unmittelbar aufeinander folgen und so die Aussprache erschweren. ▲ haplology: incorrect or conventionalised simplification of two identical or similar sounding speech sounds which follow each other directly and thus make the pronunciation more difficult. Der aufgrund von gr. haploos ‘einfach’ und lógos ‘Wort’ gebildete Begriff, für den auch der Terminus „Silbenschichtung“ verwendet wird, bezeichnet die fehlerhafte oder konventionalisierte Vereinfachung zweier gleich oder ähnlich klingender Sprecheinheiten, das heißt Vokal-KonsonantenFolgen, Silben oder Wörter, die unmittelbar aufeinander folgen und so die Aussprache erschweren. Dabei kann die wegfallende Sprecheinheit die erste oder die zweite der beiden ähnlichen oder gleichen Sprecheinheiten sein. So müsste die feminine Form von Zauberer eigentlich Zaubererin lauten; stattdessen wird aber Zauberin gebraucht,

statt eigentlich Mineralologie wird vielmehr Mineralogie gesagt, statt lat. nutrītrīx vielmehr nutrīx ‘Amme’ verwendet, statt tragicokomisch vielmehr tragikomisch. Im Deutschen verbreitet, aber nicht fraglos, ist etwa Ruderin statt Rudererin oder Bewunderin statt Bewundererin. Für diese Fälle gilt eine „Regel“ von Seiten des Duden (2001: 809): Bei femininen Personenbezeichnungen aus entsprechenden maskulinen Ableitungen auf -erer oder -rer werden folgende Gruppen unterschieden (zu den Ausnahmen Abenteu[r]erin und Märtyr[er]in Abenteurerin/Abenteuerin usw.). 1. Bei maskulinen Personenbezeichnungen auf -erer wird an die Stelle des zweiten -er die feminine Endung -in gesetzt: Eroberer – Eroberin (nicht: Erobererin), Förderer – Förderin, Lästerer – Lästerin. 2. Bei maskulinen Personenbezeichnungen auf -rer wird die feminine Endung -in immer an die volle maskuline Form angehängt: Bewahrer – Bewahrerin, Betörer – Betörerin, Führer – Führerin, Lehrer – Lehrerin, Verehrer – Verehrerin, Verführer – Verführerin, Zerstörer – Zerstörerin. Das gilt auch dann, wenn maskuline Wörter auf -erer um ihr erstes e verkürzt werden. Bewunderer – Bewunderin, aber: Bewundrer – Bewundrerin; Ruderer – Ruderin, aber: Rudrer – Rudrerin. Ausnahmen sind Abenteuerin neben Abenteurerin sowie Märtyrin neben Märtyrerin. Ein Beispiel aus dem Baskischen ist das Wort für „Apfelwein“, das eigentlich eine Komposition aus sagar ‘Apfel’ und ardo ‘Wein’ sein müsste, aber statt *sagar-ardo vielmehr sagardo lautet (Trask 1993). ≡ Silbenschichtung ↔ Dittologie

Eckhard Meineke

haplologische Zusammensetzung 326

→ Movierung ⇀ Haplologie (HistSprw)

🕮 Duden [2001] Richtiges und gutes Deutsch. 5. Aufl. Mannheim [etc.] ◾ Trask, R.L. [1993] A Dictionary of Grammatical Terms in Linguistics. London [etc.].

haplologische Zusammensetzung ≡ Kontamination

Head

≡ Kopf

Hervorhebung

H

≡ Augmentation

hierarchische Struktur

Eigenschaft der internen Struktur von linguistischen Ausdrücken wie syntaktischen Phrasen und komplexen Wörtern, die durch potenziell rekursive Kombinationsregeln gebildet werden. ▲ hierarchical structure: property of the internal structure of linguistic expressions, such as syntactic phrases and complex words, formed by the application of potentially recursive rules of combination. Die Analyse von komplexen Wörtern als Gruppierungen von strukturellen Einheiten geht zurück bis zu den frühesten Beschreibungen der Wortbildungsprodukte, was am Inhalt der traditionellen Begriffe Zusammensetzung und Ableitung gesehen werden kann. Im Strukturalismus wurden komplexe Wörter in mittelbare und unmittelbare Konstituenten zergliedert. In seiner deskriptiven Grammatik zur Wortbildung hält Marchand (1969: 2) zunächst fest: „Word-formation can only be concerned with composites which are analysable both formally and semantically“ [Wortbildung kann sich nur mit Zusammensetzungen („composites“) befassen, die sowohl formal als auch semantisch analysierbar sind] und setzt dann fort mit „a composite is a syntagma consisting of a determinant and a determinatum“ [eine Zusammensetzung („composite“) ist ein Syntagma, das aus einem Determinans und einem Determinatum besteht] (Marchand 1969: 3). Die Vorstellung, dass die interne Struktur komplexer Wörter hierarchisch ist, dass sie also aus potenziell rekursiven eingebetteten Konstituenten besteht, leitet sich von generativen Wortbildungsmodellen ab, die von der syntaktischen

Theorie der generativen Grammatik beeinflusst wurden (vgl. z.B. Chomsky 1981). Williams (1981), Selkirk (1982), Toman (1983). Andere entwickelten in Arbeiten der frühen 1980er Jahre das Konzept einer Wortsyntax basierend auf der X-BarTheorie der Syntax, die parametrisiert wurde, um nicht syntaktische, sondern lexikalische und affixale Kategorien zu kombinieren. Dadurch sollten sich binär verzweigende, rekursive, lexikalische Strukturen auf der X0-Ebene bilden, die mit den Knoten der Syntax (d.h. den lexikalischen Köpfen der X-Bar-Theorie) eine Schnittstelle bilden. Ein Beispiel für die hierarchische Struktur, die Selkirk Derivationen zuschreibt, findet sich in (1), vgl. Selkirk (1982: 97): (1) Word Af

Word Word

Af

Root non2-subscrib-er2 re-soft-en ex-believ-er Lieber (1981) erreichte eine ähnliche Form von hierarchischer Struktur mithilfe ihrer Konventionen zur Merkmalsperkolation, die Strukturen wie in (2) generierten, vgl. Spencer (1991: 203): (2) N [+PL]

N

A false [A]

hood s [N] [N, +PL]

Komposita zeigen ebenfalls eine hierarchische Struktur mit rekursiven Einbettungen, die entweder am rechten (3) oder am linken Zweig (4) erscheinen: (3) [Tokyo [stock market]] (4) [[cell phone] company]

327

historische Wortbildung

Das Konzept einer hierarchischen Struktur liefert Einblicke in die interne Struktur von komplexen Wörtern, die durch kombinatorische Prozesse gebildet wurden. Ein gutes Mittel, um die charakteristische komplexe interne Struktur vieler komplexer Wörter visuell zu vermitteln, ist das Baumdiagramm. Das Baumdiagramm in (5) modelliert die interne Struktur des Wortes indecipherablity ʻUnkenntlichkeitʼ nach Spencer (1991: 183): (5) N

🕮 Chomsky, N. [1981] Lectures on Government and Binding. The Pisa Lectures. Berlin ◾ Lieber, R. [1981] The Organization of the Lexicon. Bloomington, IN ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Selkirk, E. [1982] The Syntax of Words. Cambridge, MA [etc.] ◾ Spencer, A. [1991] Morphological Theory. Oxford [etc.] ◾ Toman, J. [1983] Wortsyntax. Tübingen ◾ Williams, E. [1981] On the Notions „Lexically Related“ and „Head of a Word“. In: LingInqu 12: 245–274.

Himbeermorphem ≡ unikales Morphem

historische Wortbildung

1. Wortbildungsforschung und -lehre in der Geschichte der Sprachwissenschaft. ▲ historical word-formation: science and study of word-formation in the history of linguistics.

A A V

2. Analyse der Wortbildung in historischen Quellen.

▲ historical word-formation: analysis of word-forma-

N

tion in historical sources.

in de cipher able ity [n [ ain [a [ vde [ncipher] ] able] ] ity] Jedoch passen nicht alle Sprachen zu diesem Muster. Viele der Indianersprachen Amerikas werden treffender mithilfe von Schablonen beschrieben, die eine Reihe von festen Positionen für spezielle Affixtypen im Hinblick auf einen gegebenen Wortstamm festlegen. Navajo ist ein Beispiel für eine solche Sprache, die eine Schablonen-Morphologie verlangt: der Navajo-Verbstamm erscheint auf der äußersten rechten Seite, welcher neun verschiedene Präfix-Positionen vorausgehen. In der folgenden abstrakten Schablone sind die Präverb-Positionen für Präfixe reserviert, die die Kategorien Thema, Iterativ, Distributiv, Direktes Objekt, Subjekt, Theme, Modus/Aspekt und Klassifizierer in dieser Reihenfolge ausdrücken (vgl. Spencer 1991: 209): (6) I

II

III

IV

V

VI

VII

VIII

IX

X

TH

ITER

DIST

DO

SUBJ

TH

MODE/ASP

SUBJ

CL

STEM

Diese Präfixe können nicht über individuelle Affigierungsprozesse an den verbalen Stamm angefügt worden sein. Susan Olsen

↔ Mehrfachverzweigung; templatische Morphologie → binäre Verzweigung; Determinans-Determinatum-Struktur; Kopf; Rekursivität; strukturalistische Wortbildungslehre; Strukturbaum ⇁ hierarchical structure (Woform)

Zu 1: Informative Überblicke über die historische Wortbildungsforschung bieten Solms (1998), Kaltz/Leclercq (2015) und Lindner (2015). Wissenschaftsgeschichtlich von Bedeutung sind dabei die Herausbildung der Wortbildung als eigenständiger Disziplin mit einem eigenen Gegenstand, der Wandel von der am Einzelwort orientierten Wortforschung zu den Wortbildungsmitteln und Wortschatzstrukturen, die Überwindung des wesensmäßig historischen etymologischen Zugriffs sowie das Verhältnis von diachronischer und synchronischer Betrachtung. In den verschiedenen Phasen der historischen Wortbildungsforschung und -lehre galt das Erkenntnisinteresse zunächst vorrangig formalen Aspekten und wurde als „normative Wort-Forschung“ (Solms 1998: 597) innerhalb der Grammatikographie (Schottel, Gottsched, Adelung) und als „vergleichend etymologische Wort-Forschung“ (Solms 1998: 600; z.B. J. Grimm, Bopp, Becker) betrieben. Mit der „funktional bestimmte[n] Wortschatz-Forschung“ (Solms 1998: 604; z.B. Scherer, Paul, Kluge, Wilmanns, Henzen) rückten Fragen der Bedeutung und Bedeutungsbeziehungen in den Blick. Die gegenwärtige historische Wortbildung versteht sich als „synchrone Strukturbeschreibung des Alt- bis Neuhochdeutschen“ und hat dafür spezifische Methoden und Prinzipien entwickelt (vgl.

H

historische Wortbildung 328 Müller 1993; Habermann/Müller/Munske 2002; Ganslmayer/Schwarz 2021). ≡ diachrone Wortbildung → § 38; historisch-synchrone Wortbildung ⇀ historische Wortbildung (HistSprw)

H

Hannelore Poethe

🕮 Anderson, S. [2019] A short history of morphological theory. In: Audring, J./ Masini, F. [eds.] OHMT. Oxford: 19–33 ◾ Ganslmayer, C./ Schwarz, C. [Hg. 2021] Historische Wortbildung. Theorien – Methoden – Perspektiven. Hildesheim [etc.] ◾ Habermann, M./ Müller, P.O./ Munske, H.H. [Hg. 2002] Historische Wortbildung des Deutschen. Tübingen ◾ Hüning, M. [2019] Morphological theory and diachronic change. In: Audring, J./ Masini, F. [eds.] OHMT. Oxford: 476–492 ◾ Kaltz, B./ Leclercq, O. [2015] Word-formation research from its beginnings to the 19th century. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1) Berlin [etc.]: 22–37 ◾ Lindner, T. [2015] Word-formation in historical-comparative grammar. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1) Berlin [etc.]: 38–52 ◾ Müller, P.O. [1993] Historische Wortbildung: Forschungsstand und Perspektiven. In: ZfdtPh 112: 394–419 ◾ Solms, H.-J. [1998] Historische Wortbildung. In: Besch, W./ Betten, A./ Reichmann, O./ Sonderegger, S. [Hg.] Sprachgeschichte. 2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. (HSK 2.1). Berlin [etc.]: 596–610.

Zu 2: „Untersuchungen zur historischen Wortbildung sind in ihrer Anlage notwendigerweise korpusbezogene Bestandsaufnahmen mit dem Ziel, die belegten Wortbildungen adäquat zu beschreiben und ihren Gebrauch unter Berücksichtigung pragmatischer Indikatoren zu erklären. Die jeweilige Art der Beschreibung bzw. Erklärung ist dabei abhängig von den zugrunde gelegten sprachtheoretisch-methodischen Untersuchungsgrundsätzen, die wiederum in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit an die Korpusqualität gebunden sind ...“ (Müller 1993: 30). Es ist zu prüfen, inwieweit primär gegenwartssprachlich ausgerichtete Sprachkonzepte für sprachhistorische Analysen nutzbar gemacht werden können. Für sprachhistorische Analysen, die eine Strukturbeschreibung des Gesamtsystems der in einem Textkorpus nachweisbaren Wortbildungsmittel zum Ziel haben, erscheint ein strukturalistischer Ansatz mit einer auf die „Wortgebildetheit“ gerichteten Betrachtungsweise angemessener als z.B. ein generativer Ansatz, der sich für die Sprachkompetenz eines idealen Sprecher-Hörers interessiert (Müller 1993: 30ff.). Eine strukturalistische Darstellung kann primär morphologisch-ausdrucksseitig oder funktional-semantisch orientiert sein. Nach Auffassung von Müller wird ein sog.

pragmastrukturalistischer Ansatz einer Untersuchung, die den Wortbildungsgebrauch in einem sprachhistorischen Textkorpus möglichst adäquat und unter Einbeziehung außersprachlicher, kommunikationsrelevanter Faktoren beschreiben will, am ehesten gerecht. Neben der Übertragung empirisch erprobter gegenwartssprachlicher Untersuchungsmethoden, die aus Vergleichsgründen wünschenswert sind, sind zusätzlich auf historische Texte bezogene Analyseverfahren zu entwickeln. Diese haben vor allem das Ziel, die unzureichende historische Sprachkompetenz bei der semantischen und funktionalen Erschließung des Materials zu kompensieren (vgl. Müller 1993: Vff.). Zur historischen Wortbildung des Deutschen vgl. die Sammelbände von Habermann/Müller/Munske (2002) und Ganslmayer/Schwarz (2021). In dem internationalen Handbuch „Word-Formation“ (Müller/Ohnheiser/Olsen/Rainer 2015) ist das Thema „Historische Wortbildung“ in den Abschnitten X-XII behandelt. Dort finden sich allgemeine Beiträge zu Mechanismen und Motiven des Wortbildungswandels (Rainer 2015) und zum Produktivitätswandel (Scherer 2015) sowie einzelsprachliche Portraits zum Wortbildungswandel im Deutschen (Müller 2015), Englischen (Dietz 2015), Irischen (Stifter 2015), Griechischen (Manolessou/Ralli 2015), Türkischen (Schönig 2015), Ungarischen (Forgacs 2015), in romanischen (Buchi/Chauveau 2015, Rainer/Buridant 2015, Salla 2015), slawischen (Mengel 2015) und uralischen (Laakso 2015) Sprachen. ≡ diachrone Wortbildung → § 5; historisch-synchrone Wortbildung ⇀ historische Wortbildung (HistSprw)

Hannelore Poethe

🕮 ◾ Anderson, S. [2019] A short history of morphological theory. In: Audring, J./ Masini, F. [eds.] OHMT. Oxford: 19–33 ◾ Buchi, É./ Chauveau, J.-P. [2015] From Latin to Romance. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1931–1957 ◾ Dietz, K. [2015] Foreign word-formation in English. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1637–1660 ◾ Forgacs, T. [2015] From Old Hungarian to Modern Hungarian. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 2079–2096 ◾ Ganslmayer, C./ Schwarz, C. [Hg. 2021] Historische Wortbildung. Theorien – Methoden – Perspektiven. Hildesheim [etc.] ◾ Habermann, M./ Müller, P.O./ Munske, H.H. [Hg. 2002] Historische Wortbildung des Deutschen. Tübingen ◾ Laakso, J. [2015] The history of word-formation in Uralic. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin

329 [etc.]: 2061–2076 ◾ Manolessou, I./ Ralli, A. [2015] From Ancient Greek to Modern Greek. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 2041–2061 ◾ Mengel, S. [2015] Historical word-formation in Slavic. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 2021–2041 ◾ Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds. 2015] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.] ◾ Müller, P.O. [1993] Substantiv-Derivation in den Schriften Albrecht Dürers. Ein Beitrag zur Methodik historisch-synchroner Wortbildungsanalysen. Berlin [etc.] ◾ Müller, P.O. [2015] Historical word-formation in German. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1867–1914 ◾ Rainer, F. [2015] Mechanisms and motives of change in word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] WordFormation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1761‒1781 ◾ Rainer, F./ Buridant, C. [2015] From Old French to Modern French. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1975–2000 ◾ Salla, M.R. [2015] From Latin to Romanian. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1957– 1975 ◾ Scherer, C. [2015] Change in productivity. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1781–1793 ◾ Schönig, C. [2015] Historical word-formation in Turkish. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 2096–2116 ◾ Stifter, D. [2015] From Old Irish to Modern Irish. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]; 2000–2021 ◾ Trips, C. [2020] Morphological Change. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 3. New York: 1735–1750.

historisch-synchrone Wortbildung

synchrone Analyse der Wortbildung in historischen Texten eines bestimmten Zeitraums. ▲ historical-synchronic word-formation: synchronic analysis of word-formation in historical sources of a certain time frame. Im Bereich der historisch orientierten Wortbildungsforschung hat sich in den letzten 20 Jahren ein wesentlicher Wandel vollzogen. Nach früheren stärker diachron-etymologischen Untersuchungen gilt nun das Interesse einer historischsynchronen Ausrichtung, für die die Orientierung an einem Textkorpus, eine systembezogene Untersuchungsperspektive sowie die Darstellung synchroner morphologisch-semantischer Motivationsbezüge bestimmend sind. Dazu wurden im Rahmen eines Projekts zur „Wortbildung des Nürnberger Frühneuhochdeutsch“ (1985–2001; Band 1: Müller 1993, Band 2: Habermann 1994, Band 3: Thomas 2002) eigene Methoden und Prinzipien beispielhaft entwickelt (vgl. Müller 2002). Zu den methodischen Vor-

historisch-synchrone Wortbildung überlegungen gehörten Fragen der Korpusbasiertheit, der Anwendung empirisch erprobter gegenwartssprachlicher Untersuchungsmethoden, der Entwicklung von speziell auf historische Texte bezogenen Analyseverfahren, der Repräsentativität sowie der statistischen Auswertung der Textkorpora. Bei der semantischen und funktionalen Erschließung historischer Wortbildungen müssen die unzureichende Sprachkompetenz durch geeignete methodische Verfahren kompensiert und die Analyse intersubjektiv nachprüfbar gemacht werden. Probleme des Nachweises für die Motivationsbasis bei der Untersuchung von Derivaten lassen sich z.B. mit den Kategorien Motivationsdichte und Basisrang lösen. Das zunächst für die Untersuchung Nürnberger Texte um 1500 entwickelte „Erlanger Modell“ einer historisch-synchronen Wortbildungsanalyse ist verallgemeinerbar und kann so auch für entsprechende Wortbildungsuntersuchungen zu anderen sprachhistorischen Bereichen genutzt werden. Erst der Vergleich historischer Wortbildungssysteme erlaubt weitergehende Aussagen über wesentliche Sprachwandelerscheinungen im Bereich der Wortbildung. Dazu gehören vor allem Veränderungen im Inventar der heimischen und entlehnten Wortbildungselemente, Veränderungen bei Wortbildungsmustern, Veränderungen im Funktionspotential von Affixen, Reduzierung semantischer Konkurrenzbildungen aufgrund des Veraltens oder der Bedeutungsdifferenzierung von Wortbildungen, Idiomatisierungs-, Grammatikalisierungs- und Fossilierungsprozesse (Müller 2002: 7). Das angestrebte Ziel historisch-synchroner Analysen ist die Erarbeitung einer neuen Gesamtdarstellung zur Geschichte der dt. Wortbildung, die die traditionellen Handbücher ersetzen kann. „Eine solche Darstellung sollte nicht nur einen Überblick über sprachhistorische Wortbildungssysteme und deren Wandel bieten, sondern auch einen wissenschaftsgeschichtlichen Teil enthalten, aus dem die unterschiedlichen theoretisch-methodischen Prinzipien hervorgehen, die den einzelnen Forschungsparadigmen zugrunde liegen.“ (Müller 2002: 8). Eine historisch-synchrone Wortbildungsbeschreibung für das Mhd. liegt mit Klein/Solms/Wegera (2009) vor; speziell zur mhd. Urkundensprache vgl. Ring (2008) und Ganslmayer (2011). Hannelore Poethe

H

homonymes Affix 330

→ § 38; Basisrang; historische Wortbildung (1); Motivationsdichte; synchrone Wortbildung

H

🕮 Ganslmayer, C. [2011] Adjektivderivation in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts. Eine historisch-synchrone Untersuchung anhand der ältesten deutschsprachigen Originalurkunden. Berlin [etc.] ◾ Habermann, M. [1994] Verbale Wortbildung um 1500. Eine historisch-synchrone Untersuchung anhand von Texten Albrecht Dürers, Heinrich Deichslers und Veit Dietrichs. Berlin [etc.] ◾ Klein, T./ Solms, H.-J./ Wegera, K.P. [2009] Mittelhochdeutsche Grammatik. Teil III. Wortbildung. Tübingen ◾ Müller, P.O. [1993] Substantiv-Derivation in den Schriften Albrecht Dürers. Ein Beitrag zur Methodik historischsynchroner Wortbildungsanalysen. Berlin [etc.] ◾ Müller, P.O. [2002] Historische Wortbildung im Wandel. In: Habermann, M./ Müller, P.O./ Munske, H.H. [Hg.] Historische Wortbildung des Deutschen. Tübingen: 1–11 ◾ Müller, P.O. [2015] Historical word-formation in German. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1867–1914 ◾ Müller, P.O. [2016] Wortbildungswandel oder Bedeutungsbildung? – Zur Entstehung und Interpretation sekundärer Wortbildungsbedeutungen. In: Kwekkeboom, S./ Waldenberger, S. [Hg.] PerspektivWechsel oder: Die Wiederentdeckung der Philologie. Bd. 1: Sprachdaten und Grundlagenforschung in der Historischen Linguistik. Berlin: 309–332 ◾ Müller, P.O. [2017] Wortbildungsbedeutungswandel. In: Oehme, F./ Schmid, H.U./ Spranger, F. [Hg.] Wörter. Wortbildung, Lexikologie und Lexikographie, Etymologie. Berlin [etc.]: 184–208 ◾ Ring, U. [2008] Substantivderivation in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts. Eine historisch-synchrone Untersuchung anhand der ältesten deutschsprachigen Originalurkunden. Berlin [etc.] ◾ Thomas, B. [2002] Adjektivderivation im Nürnberger Frühneuhochdeutsch um 1500. Eine historisch-synchrone Analyse anhand von Texten Albrecht Dürers, Veit Dietrichs und Heinrich Deichslers. Berlin [etc.].

homonymes Affix

≡ homonymes Morphem

homonymes Morphem

Morphem, das mit einem anderen Morphem, von dem es inhaltsseitig verschieden ist, ausdrucksseitig übereinstimmt. ▲ homonymic morpheme: morpheme which is identical to another morpheme in form but is non-identical to the same morpheme in meaning. Mit der Homonymie, der ausdrucksseitigen Identität sprachlicher Zeichen mit unterschiedlicher Bedeutung, und der Polysemie als lexikalischer Mehrdeutigkeit beschäftigen sich in erster Linie Lexikologie und Semantik. Die Abgrenzung beider Erscheinungen ist schwierig. Aus der Sicht der Wortbildungsforschung ist die Homonymie der Wortbildungsmittel, v.a. der Morpheme, von Interesse. Auch hier erweist

sich die Abgrenzung homonymer und polysemer oder polyfunktionaler Morpheme als schwierig. Unter diachronem Gesichtspunkt dient zumeist die unterschiedliche etymologische Herkunft homonymer Morpheme als Kriterium. So geht das dt. Morphem Erz- in Erzbischof, Erzherzog auf griech. arch(i)- ʻerster, obersterʼ zurück, das homonyme Morphem Erz in Erzabbau, Erzbergwerk gehört dagegen etymologisch zu ahd. aruz ʻErzklumpenʼ. Homonymie ist insofern das synchrone Ergebnis eines Lautwandels. Aus synchroner Perspektive gelten Morpheme als homonym, wenn sie inhaltlich so verschieden sind, dass sie unterschiedlichen Morphemklassen zugeordnet werden. Im Dt. sind beispielsweise das Wortbildungsmorphem -werk in Schuhwerk und das Grundmorphem Werk in Kunstwerk, das Wortbildungsmorphem -e in Wärme und das Flexionsmorphem -e in Stühle oder das Konfix -meter ʻMessgerätʼ in Thermometer und das frei vorkommende Morphem Meter ʻLängenmaßʼ in Kilometer homonyme Morpheme. Homonym sind ebenso lautgleiche, aber positionsverschiedene Affixe wie das dt. Präfix er- in erreichen und das Suffix -er in Maler oder das engl. Präfix in- in inexpensive ʻnicht teuerʼ und das Suffix -in in to lie-in ʻausschlafenʼ. Darüber hinaus werden auch Suffixe, die sich hinsichtlich ihrer Wortartmarkierung unterscheiden, wie dt. -ent1 in Referent als substantivisches und -ent2 in evident als adjektivisches Suffix, als Homonyme bezeichnet (vgl. Fleischer/Barz 2012: 54). Dagegen gelten wortartunspezifische Präfixe, die die Wortart ihrer Basis nicht fixieren, etwa dt. miss- in missachten < achten, Misserfolg < Erfolg oder frz. désordre ʻUnordnungʼ < ordre ʻOrdnungʼ, déshonnête ʻunanständigʼ < honnête ʻanständigʼ und desespérer ʻverzweifelnʼ < espérer ʻhoffenʼ zumeist als polyfunktionale Affixe. Homonymie tritt bei exogenen Morphemen häufig auf, wenn komplexe Bildungen gekürzt werden und die auf diese Weise entstandenen Kurzwörter ausdrucksseitig mit der zumeist konfigalen Ausgangseinheit ihrer Vollform zusammenfallen: dt. Foto (Kurzwort zu Fotografie) in Fotolabor, Fotowettbewerb vs. Foto- ʻLichtʼ in Fotosynthese, fotochrom; Auto (Kurzwort zu Automobil) in Autohaus, Autoreifen vs. Auto- ʻselbst, eigenʼ in Autodidakt, Autohypnose oder Zoo (Kurzwort zu zoologischer Garten) in Zootier, Zoobesucher vs. Zoo- ʻLebewesen, Tierʼ in Zoolo-

331 Honorativ gie, Zoonose. Auch hier zeigt sich Homonymie als Ergebnis formalen Wandels. Anja Seiffert

↔ polyfunktionales Affix → Konfix; Kurzwort; Wortart; Wortbildungshomonymie

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Nagórko, A. [2007] Wortbildungshomonymie. In: Nagórko, A. [Hg.] Lexikologie des Polnischen. Hildesheim [etc.]: 173–177 ◾ Nikolaev, G.A. [2000] Wortbildungshomonymie. In: Jelitte, H./ Schindler, N. [Hg.] Handbuch zu den modernen Theorien der russischen Wortbildung. Frankfurt/Main: 555–561.

Homonymie

→ Wortbildungshomonymie ⇀ Homonymie (Onom; HistSprw; Sprachphil; SemPrag; Lexik; CG-Dt; Dial; QL-Dt)

Homophonie

Erscheinungsform partieller Homonymie, bei der verschiedene Lexeme oder Morpheme dieselbe Lautform, aber unterschiedliche Schriftform aufweisen. ▲ homophony: form of partial homonymy in which lexemes or morphemes are identical in their phonetic form but non-identical in their graphic form.

Homophonie tritt vor allem zwischen Lexemen auf, z.B. dt. mahlen/malen, Mohr/Moor, Saite/ Seite, wieder/wider, engl. son ʻSohn’/sun ʻSonne’‚ frz. saut ʻSprung’/sceau ʻSiegel’/seau ʻEimer’/sot ʻDummkopf’, span. baca ʻBeere’/vaca ʻKuh’. In der Wortbildung spielt sie nur eine marginale Rolle. Gelegentlich sind Wortbildungselemente untereinander oder mit lexikalischen Morphemen homophon, z.B. dt. wider-/wieder- , ur-/Ur- und Uhr, frz. -aud/-eau/-o/-ot und eau ʻWasser’. Wenn homophone Wörter oder Morpheme wortbildungsaktiv werden, kann sich deren Homophonie auch auf das Wortbildungsprodukt übertragen: Lehre/Leere, Mahlerei/Malerei, Uhrzeit/Urzeit. Bedingt durch die phonologische Regel der Auslautverhärtung im Dt. entsteht Homophonie bei den Suffixpaaren -and/-ant, -end/-ent und führt in seltenen Fällen zu homophonen Wortformen wie Informant/Informand. Die Auslautverhärtung am Silbenende verdeckt bei end- auch den graphematischen (und morphematischen) Unterschied zum Präfix ent- (endgültig, entgelten) und führt gelegentlich zu Unsicherheiten oder Fehlern in der Schreibung. Die wortinterne Distribution und der

Kontext wirken in den meisten Fällen disambiguierend. Verständnis- und Rechtschreibprobleme können vor allem bei Nichtmuttersprachlern entstehen. Aufgrund der stark historisch geprägten Schreibung im Engl. und Frz., die einen vergangenen Lautbestand widerspiegelt, ist Homophonie in diesen Sprachen deutlich häufiger zu finden. Hannelore Poethe

→ Wortbildungshomonymie ⇀ Homophonie (HistSprw; CG-Dt; Lexik; Onom) ⇁ homophony (CG-Engl)

🕮 Blank, A. [2001] Einführung in die lexikalische Semantik. Tübingen ◾ Hansen, B./ Hansen, K./ Neubert, A./ Schentke, M. [1990] Englische Lexikologie. 3. Aufl. Leipzig ◾ Löbner, S. [2003] Semantik. Eine Einführung. Berlin [etc.].

Honorativ

linguistische Kennzeichnung der Respekt-Haltung des Sprechers zu seinem Gesprächspartner oder zu einem Dritten, über den gesprochen wird. ▲ honorific: linguistic expression of respect on the part of the speaker for a conversational partner or another person about whom is being spoken. Der Honorativ ist an der Schnittstelle verschiedener linguistischer Disziplinen angesiedelt, er gilt ebenso als stilistisches wie als grammatisches Phänomen (vgl. dazu Simon 2003: 4–23, Kishitani 1985: 113). Es handelt sich insofern um keine einheitliche Kategorie, vielmehr entspricht der Honorativ „einer ganzen Reihe von Funktionen, die das soziale Verhältnis des Sprechers entweder zu seinem Gesprächspartner oder zu erwähnten Personen nach den Dimensionen der relativen Höhe des angenommenen sozialen Status oder der mehr oder minder großen Vertrautheit mit dem Sprecher […] bezeichnen“ (Lie 1991: 69). Im Deutschen und in den meisten europäischen Sprachen wird Honorativität durch lexikalische Mittel ausgedrückt, etwa durch spezielle Nomen (engl. sir; frz. madame), durch die Wahl zwischen Vor- und Zunamen (dt. Herr Müller vs. Max), vor allem aber durch spezielle Anredepronomen für die Bezeichnung eines sozial höher- oder fernerstehenden Gesprächspartners: dt. Sie, Ihr vs. du, dein; frz. vous ʻSieʼ vs. tu ʻduʼ, russ. vy ʻSieʼ vs. ty ʻduʼ. Mit Blick auf die Anredepronomen wird mitunter auch für europäische Sprachen wie das Deutsche eine Grammatikalisierung von Höflichkeit konstatiert und mithin eine grammatische

H

Honorificum 332

H

Kategorie „Respekt“ angenommen (vgl. u.a. Simon 2003). In einigen ost- und südostasiatischen Sprachen, etwa im Japanischen oder im Koreanischen, ist Honorativität sehr viel stärker entfaltet. Hier existieren neben lexikalischen Paradigmen stark ausgebaute morphologische Paradigmen zur Kennzeichnung unterschiedlichster Honorativarten und -stufen. So unterscheidet das Koreanische unter anderem zwischen einem durch Affigierung gebildeten subjektbezogenen und einem objektbezogenen Honorativ. Letzterer wird durch die Wahl bestimmter Lexeme bzw. spezieller objekthonorativer Stämme ausgedrückt (Lie 1991: 69f.). Einen solchen objekthonorativen Stamm bildet etwa das koreanische Verb poypta ʻsehenʼ, das als lexikalisierte Höflichkeitsform das nichthonorifizierende Verb pota substituiert (vgl. Lee 1996: 125). Als subjekthonorative Affixe fungieren im Koreanischen beispielsweise die Morpheme si und nim: (1) eme-nim-i-cinci-lul-ciu-si-nta eme nim i cinci Mutter Honorativ Nominativ Reis lul ciu si nta Akkusativ kochen Honorativ Indikativ ʻDie Mutter kocht Reisʼ (vgl. Lee 1996: 126) Unter den Honorativaffixen finden sich Präfixe wie das japanische Honorationspräfix go- in gosyuzin ʻ(verehrter) Ehemannʼ, Infixe wie das koreanische -usi- in cōh-usi-ta ʻder/die/das Verehrte ist gutʼ vs. cōh-ta ʻer/sie/es ist gutʼ (vgl. Simon 2003: 78–85) und Suffixe wie das japanische -sama in otera-sama ʻIhr verehrter Tempelʼ (vgl. Haase 1994: 63). Das Beispiel o-tera-sama macht eine weitere Besonderheit in Sprachen mit ausgeprägten honorativen Formen deutlich: Es gibt in diesen Sprachen in der Regel unterschiedliche Dimensionen des Respektziels. So kann ein Sprecher die direkte Form der Höflichkeitserweisung wählen, indem er sich mit dem Honorativ auf eine (höhergestellte) Person bezieht – und zwar entweder auf den Adressaten der Äußerung oder auf einen unbeteiligten Dritten. Oder er wählt die indirekte Form der Höflichkeitszuweisung, indem „der Respekt nicht unmittelbar hinsichtlich der zu ehrenden Person ausgedrückt wird, sondern statt dessen in Hinblick auf Gegenstände, die der Respekt-Person gehören, von ihr hergestellt wurden, in ihrer

Einflußsphäre liegen oder auf sonst eine Art mit ihr assoziativ verknüpft sind“ (Simon 2003: 78), vgl. das folgende japanische Beispiel: (2) sensei no o-hanashi

sensei no o- hanashi Lehrer Genitiv Honorativ Vortrag



ʻder Vortrag des Lehrersʼ (vgl. Simon 2003: 78)

≡ Honorificum → Pejoration; Taxation ⇀ Honorativ (Gram-Formen) ⇁ honorific (Typol)

Anja Seiffert

🕮 Haase, M. [1994] Respekt. Die Grammatikalisierung von Höflichkeit. München [etc.] ◾ Kishitani, S. [1985] Die Person in der Satzaussage. Beiträge zur deutschen und japanischen Verbalkategorie. Wiesbaden ◾ Lee, N.-S. [1996] Deixis und Honorifica. Allgemeine deiktische Phänomene und die pragmatische Komponente des Koreanischen. Tübingen ◾ Lie, K.-H. [1991] Verbale Aspektualität im Koreanischen und im Deutschen. Tübingen ◾ Simon, H.J. [2003] Für eine grammatische Kategorie „Respekt“ im Deutschen. Synchronie, Diachronie und Typologie der deutschen Anredepronomina. Tübingen ◾ Watts, R./ Ide, S./ Ehlich, K. [eds. 2005] Politeness in language. 2nd rev. and exp. ed. Berlin [etc.].

Honorificum ≡ Honorativ

Hybridbildung

Wortbildungskonstruktion, deren Bestandteile aus verschiedenen Sprachen stammen. ▲ hybrid formation: word-formation construction containing constituents from different languages. Hybridbildungen werden erstens in einer bestimmten Sprache aus Wörtern, Konfixen und Affixen erzeugt, die diese Sprache aus mehreren anderen Sprachen übernommen hat. Beispiele für Hybridbildungen des Deutschen aus den Bereichen der Komposition und der Derivation sind etwa Biokraftstoff, Endredaktion, Hyperschall, megaout, obercool oder abchillen. Von diesen in der Nehmersprache selbst, aber teilweise nach fremdsprachigem Vorbild als Lehnübersetzung oder Lehnübertragung erzeugten Bildungen sind zweitens diejenigen zu unterscheiden, die als bereits fertige Wortbildungskonstruktionen aus anderen Sprachen übernommen und nur lautlich/graphisch angepasst wurden, so etwa engl. television > dt. Television für Fernsehen aus griechischem und lateinischem Wortmaterial im Rahmen des sogenannten „Eurolateins“.

333 Hypostasierung Teilweise erscheinen drittens bei nah verwandten Sprachen solche Bildungen als Eigenerzeugnis, sind aber lexikalisch umgesetzte Übernahmen, so etwa bei engl. supermarket > dt. Supermarkt. Eckhard Meineke ≡ Mischbildung; Mischform → § 36; Affix; Konfix; Lehnübersetzung; Lehnübertragung; Wortbildungskonstruktion ⇀ Hybridbildung (Onom; HistSprw; Lexik)

🕮 Fleischer, W. [2005] Entlehnung und Wortbildung in der deutschen Sprache der Gegenwart. In: Müller, P.O. [Hg.] Fremdwortbildung. Theorie und Praxis in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt/Main [etc.]: 63–76 ◾ Munske, H.H. [2009] Was sind eigentlich „hybride“ Wortbildungen? In: Müller, P.O. [Hg.] Studien zur Fremdwortbildung. Hildesheim [etc.]: 223–260.

Hyperonymie

→ Wortbildungshyperonymie ⇀ Hyperonymie (CG-Dt; SemPrag; Lexik; QL-Dt)

Hypokoristikum

Lexem mit affektiver, verkleinernder und/oder liebevoll-zärtlicher Bedeutungskomponente. ▲ hypocoristic: lexeme containing an affective, diminutive and/or affectionate component of meaning. Als Hypokoristika gelten mitunter nur die zur Gruppe der Übernamen gehörenden Onyme, die als Kosenamen neben den amtlichen, offiziell gebräuchlichen Personennamen existieren. Ihnen stehen jedoch nichtonymische Benennungen mit kosender Funktion wie engl. dad, dada, daddy, dt. Vati, Papi nahe, die ebenfalls zu den Hypokoristika gezählt werden können. Hypokoristika entstehen durch Bedeutungserweiterung, Entlehnung, Wortbildung oder Wortschöpfung. Bei der Bedeutungserweiterung erhalten Appellativa, mit denen bestimmte Eigenschaften wie „anschmiegsam‛, „klein“, „stark“, „kostbar“ assoziiert werden, eine zusätzliche, neue Lesart, vgl. dt. Hase, Maus, Bär, Schatz als liebevolle Anrede, z.B. für den (Ehe-)Partner oder das (eigene) Kind. Komposition, Derivation oder Reduplikation der entsprechenden Einheiten sind möglich: dt. Schätzchen, Schatzi, Mause-Spatz; frz. chou-chou (‘Süßer, Süße’ < chou), pupuce (‘Floh’ < puce). Hypokoristische Wortbildungen entstehen vor allem durch Suffigierung (russ. syniška ‘geliebter Sohn, Söhnchen’ < syn ‘Sohn’), Reduplikation (frz. fifille ‘Töchterchen’ < fille), Kürzung (engl. Jeff < Jeffrey)

oder Kürzungssuffigierung (dt. Mutti < Mutter, Rosi < Rosemarie). Besonders vielfältig und oft wenig systematisch erfolgt die Bildung von Hypokoristika, die aus den eigentlichen, als Vornamen offiziell gebräuchlichen Personennamen abgeleitet werden: engl. Dick < Richard, Kitty < Katherine, Bess < Elizabeth, russ. Anja, Anjuta, Anjutka, Anečka, Annuška, Njuta, Njurka < Anna, Dima, Dimočka, Dimon, Mitja, Mitjuša, Mitka < Dmitrij. Hypokoristika werden vor allem in nichtöffentlichen Kommunikationssituationen verwendet: innerhalb einer Familie oder in der Kommunikation befreundeter Familien, zwischen befreundeten, überwiegend gleichaltrigen Menschen meist jüngeren Alters und zwischen Liebenden (Naumann 1996: 1757). Anja Seiffert ≡ hypokoristische Bildung; Koseform → deonymische Wortbildung; Diminuierung; Diminutivsuffix; Diminutivum; Komposition; Reduplikation; Suffix; Wortkürzung; Wortschöpfung ⇀ Hypokoristikum (Lexik)

🕮 Debus, F./ Seibicke, W. [Hg. 1993] Reader zur Namenkunde II. Anthroponyme. Hildesheim ◾ Frank, R. [1975] Kosenamenbildung und Kosenamengebungstendenzen im Ruhrgebiet. In: On 19: 95–111 ◾ Koẞ, G. [2002] Namenforschung. Eine Einführung in die Onomastik. 3., aktual. Aufl. Tübingen ◾ Naumann, H. [1996] Kosenamen. In: Eichler, E. et al. [Hg.] Namenforschung (HSK 11.2). Berlin [etc.]: 1757–1761 ◾ Neumann, I. [1973] Offizielle und nicht-offizielle Personenbenennungen. In: NamInfo 23: 1–8.

hypokoristische Bildung ≡ Hypokoristikum

Hyponymie

→ Wortbildungshyponymie ⇀ Hyponymie (QL-Dt; CG-Dt; Sprachphil; Lexik; SemPrag)

Hypostase

≡ Hypostasierung (1)

Hypostasierung

1. Tatsache, dass der Gebrauch eines Wortes die Existenz eines Denotatums für dieses Wort impliziert. ▲ hypostatization: fact that the use of a word implies the existence of a denotatum for that word. 2. Verselbstständigung von Wörtern infolge einer Veränderung ihrer syntaktischen Funktion und Bedeutung.

H

Hypostasierung 334 ▲ hypostatization: gaining of independence by

words as a result of a change in their syntactic function and meaning.

H

Zu 1: Die Bildung eines neuen Wortes setzt voraus, dass es eine Entität in der (fiktionalen oder realen) Welt gibt, auf die sich das neue Wort bezieht. Wird ein neues Wort wie Katzenflüsterer gebildet, so setzt die Bildung die Existenz der bezeichneten Kategorie voraus, ebenso wie die Nominalisierung eines Adjektivs wie schrill in der Bedeutung ‘exzentrisch’ zu (seine) Schrillheit die Qualität des Schrillseins vergegenständlicht. Hypostasierung bezieht sich auf die Tatsache, dass der Gebrauch eines Worts die Existenz des intendierten Referenten impliziert. Wortbildungen erschaffen in diesem Sinne eine Realität. Dieser Umstand findet Anwendung in Werbung und Propaganda. ≡ Hypostase

→ Benennung; Benennungslücke; Produktivität ⇀ Hypostasierung (Sprachphil) ⇁ hypostatization (Woform)

Laurie Bauer

🕮 Bauer, L. [2001] Morphological Productivity. Cambridge [etc.] ◾ Leisi, E. [1973] Praxis der englischen Semantik. Heidelberg ◾ Lipka, L. [1990] An Outline of English Lexicology. Tübingen.

Zu 2: Im Rahmen der Wortbildungsforschung wird der Terminus „Hypostasierung“, z.B. von Henzen verwendet, der darunter den Übertritt von Wörtern bzw. Wendungen in eine andere Wortart mit neuer Funktion und neuer Bedeutung versteht. Er unterscheidet dabei Fälle, in denen Wörter in einer Flexionsform selbstständig werden (z.B. Substantive im Genitiv > Adverbien, wie bei flugs oder mittags) von Fällen, „in denen aus unflektierbaren Gebilden (namentlich Präpositionalverbindungen) flektierbare Wörter entstehen“ (Henzen 1965: 243; z.B. Adverb zufrieden > Adjektiv zufrieden, Syntagma über Nacht > Verb übernachten). In der modernen Wortbildungslehre werden solche Fälle nicht mehr als Hypostasierung, sondern als Konversion bezeichnet. Peter O. Müller

→ Konversion; Transposition; Wortart; Wortbildungslehre ⇀ Hypostasierung (Sprachphil) ⇁ hypostatization (Woform)

🕮 Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. Dritte, durchges. u. ergänzte Auflage. Tübingen.

I idiomatisierte Ableitung ≡ demotivierte Bildung

idiomatisierte Bildung

≡ demotivierte Bildung ⇀ idiomatisierte Bildung (Lexik)

idiomatisiertes Derivat ≡ demotivierte Bildung

Idiomatisierung

Prozess der Bedeutungsisolierung, in dessen Ergebnis eine komplexe sprachliche Einheit eine spezifische Bedeutung entwickelt, die nicht oder nur noch teilweise als Summe der Bedeutungen ihrer Bestandteile zu erschließen ist. ▲ idiomatization: process of isolation of meaning, the result of which is a complex linguistic unit that develops a specific meaning which is not at all, or only partially, analyzable as the sum of the meaning of its parts. Von Idiomatisierung betroffen sind Wortbildungen (engl. cupboard, dt. Handtuch) und syntaktische Konstruktionen (dt. für jmdn. durchs Feuer gehen ‘bereit sein, für jmdn. alles zu tun’). Im Falle der syntaktischen Konstruktionen spricht man auch von Phraseologisierung. Idiomatisierung ist eine graduelle Erscheinung, wie die folgende Reihe substantivischer Komposita mit zunehmender Idiomatisierung deutlich macht: Apfelbaum, Laubbaum, Nadelbaum, Weihnachtsbaum, Maibaum, Hebebaum (‘Eisenstange oder Holzstange, mit der unter Ausnutzung der Hebelwirkung Lasten angehoben werden’). Der Prozess der Idiomatisierung setzt oft schon im Moment der Prägung bzw. der „Wahl eines Ausdrucks für Zwecke einer bestimmten Referenz“ (Munske 1993: 511) ein, in-

dem eine Bildung gegenüber ihren Ausgangseinheiten zusätzlich mit Bedeutung aufgeladen wird, vgl. Kurzwort vs. kurzes Wort, neue Bundesländer. Solche zusätzlichen Bedeutungsmerkmale führen nicht unbedingt zur Demotivation der Bildung. Eine Bildung kann demnach vom Zeitpunkt ihrer Entstehung an mehr oder weniger idiomatisiert sein, ohne demotiviert zu sein (Barz/Schröder 2001: 189). Auch die Metaphorisierung der Ausgangseinheiten sorgt gelegentlich dafür, dass eine Bildung von Anfang an idiomatisiert ist, vgl. dt. Schellenbaum, engl. family tree. Idiomatisierung und Demotivation verlaufen oft parallel (vgl. Munske 1993: 513), etwa in Elchtest (‘Test, bei dem die Sicherheit eines Autos bei Ausweichmanövern erprobt wird’) oder Augenblick. Mitunter werden die beiden Termini auch synonym verwendet (vgl. Fleischer/Barz 2007: 18). Anja Seiffert ≡ Bedeutungsisolierung → § 30; Demotivation; Lexikalisierung; Metaphorisierung; Motivationsgrad ⇀ Idiomatisierung (Lexik; SemPrag; HistSprw; Lexik)

🕮 Barz, I./ Schröder, M. [2001] Grundzüge der Wortbildung. In: Fleischer, W./ Helbig, G./ Lerchner, G. [Hg.] Kleine Enzyklopädie – deutsche Sprache. Frankfurt/Main [etc.]: 178–217 ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Günther, H. [1974] Das System der Verben mit be- in der deutschen Sprache der Gegenwart. Tübingen ◾ Marzo, D. [2015] Motivation, compositionality, idiomatization. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin (etc.): 984–1001 ◾ Munske, H.H. [1993] Wie entstehen Phraseologismen? In: Mattheier, K.J. et al. [Hg.] Vielfalt des Deutschen. Festschrift für Werner Besch. Frankfurt/Main: 481–516.

Idiomatizität

≡ Unmotiviertheit ⇀ Idiomatizität (Lexik; HistSprw; CG-Dt)

Idiosynkrasie 336

Idiosynkrasie

≡ Unmotiviertheit ⇀ Idiosynkrasie (Gram-Syntax; HistSprw; Lexik)

Ikonizität

unmittelbare Gleichheit von Signifikant und Signifikat in einem komplexen Wort. ▲ iconicity: direct similarity between signifier and signified in a complex word.

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Obwohl der Begriff der Ikonizität in der Prager Schule zu finden ist, ist er vor allem in der Natürlichkeitsmorphologie (Dressler 1985, 2000, 2005) von entscheidender Bedeutung. Hier bezieht sich Ikonizität darauf, dass in einem komplexen Wort die Form in irgendeiner Weise der ausgedrückten Bedeutung ähnlich ist. Dressler (2005: 268) führt die Diminutivform des Nonsense-Wortes wug an, das die jüngsten Kinder in einem klassischen Experiment als wig angaben. Der höhere Vokal im Diminutiv drückt in ikonischer Weise geringere Größe aus. In Konstruktionen besteht die Ikonizität darin, dass ein Mehr an Form ein Mehr an Bedeutung anzeigt. In diesem Sinne ist die reguläre Bildung des Past Tense durch Affigierung mit -ed (hang – hanged) ikonischer als die Bildung durch Ablaut (hang – hung). Rochelle Lieber

→ Diminuierung; natürliche Morphologie ⇀ Ikonizität (Schrling; SemPrag; Lexik; Textling; HistSprw; CG-Dt) ⇁ iconicity (TheoMethods; Typol; CG-Engl; Woform; Media)

🕮 Dressler, W.U. [1985] Morphonology. The Dynamics of Derivation. Ann Arbor, MI ◾ Dressler, W.U. [2000] Naturalness. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 288–296 ◾ Dressler, W.U. [2005] Word formation in natural morphology. In: Štekauer, P./ Lieber, R. [eds.] Handbook of Word-Formation. Dordrecht [etc.]: 267–284.

implizite Ableitung ≡ implizite Derivation

implizite Derivation

Begriff der deutschen Wortbildungslehre, der teilweise für die Ableitung suffixloser Substantive aus starken Verben mit gegenüber der Präsensablautstufe des Verbs differenten Ablautstufen des Wurzelvokals verwendet wird. ▲ implicit derivation: term used in German word-formation research for the derivation of substantives without additional affixes from strong verbs with an

ablaut change in the root vowel as compared to the present-tense stem root vowel of the verb. Ableitungen können mit oder ohne Wortbildungsmorpheme erfolgen. Dabei bleibt das Grundmorphem lautlich gleich oder tritt mit einer Vokaländerung auf, teilweise auch mit einer Änderung des grundmorphemauslautenden Konsonanten. Für die Teilgruppe der von starken Verben abgeleiteten, aber ohne Derivationssuffix erscheinenden Substantive des Germanisch-Deutschen mit oder ohne Ablautvariation des Wurzelvokals hatte J.Grimm den Begriff „innere Wortbildung“ geprägt. In der Diskussion über die suffixlose Ableitung werden die Begriffe „Konversion“, „implizite Derivation“ und „Nullableitung“ bzw. ihre Äquivalente in anderen Sprachen (so conversion, implicit derivation, zero derivation) gebraucht, teilweise partiell („implizite Ableitung“ auch für Fälle wie das Essen, die anderswo „Konversion“ genannt werden, bei Barz 1988: 74, weil die Konversion als Unterart der impliziten Derivation aufgefasst wird, 133f.) oder völlig in eins gesetzt (Ronneberger-Sibold 2004: 1275 unter Verweis auf Naumann 2000: 15f.; Kastovsky 1969). Die hier nur paradigmatisch darstellbare Thematik wird von Monographien, Einführungen in die Wortbildungslehre und Handbuchartikeln ausführlich behandelt (Olsen 1986: 110–134; Vogel 1996; Eschenlohr 1999; Bergenholtz/Mugdan 2000; Don/Trommelen/Zonneveld 2000; Naumann/Vogel 2000; Ronneberger-Sibold 2004), auf die hier verwiesen werden kann. Dort findet sich auch die weiterführende Literatur. In der deutschsprachigen Diskussion werden die Begriffe „implizite Derivation“ und „Konversion“ mit verschiedener Abgrenzung und teilweise von der bezeichneten Sache her problematisch verwendet oder es wird die Seinsberechtigung des Begriffs „implizite Ableitung“ zugunsten des Begriffs „Konversion“ überhaupt bestritten. Für frnhd. homonyme Bildungen wie frez und fraz zu frezzen, also Produkte der von Grimm so genannten inneren Wortbildung, wird von Frisch (1993: 8f.) der Begriff „∅-Ableitung“ verwendet, um frez nicht in die Konversionen und fraz in die impliziten Ableitungen einordnen zu müssen. Hierzu stimmt letztlich auch der Begriff „∅-Translativ“ (Eckert-Werner 1973: 84) für ein nicht vorhande-

337 nes Suffix bei deverbalen Substantiven mit oder ohne Ablautstufenwechsel. Aus ontologischen Gründen ist der Ansatz eines Nullmorphems, den vor allem Marchand vertreten hat (Literaturnachweise bei Olsen 1986: 140), eine contradictio in adiecto und wissenschaftlich nicht haltbar, weil ein Nicht-Seiendes nicht zugleich als Seiendes angenommen werden kann. Fleischer/Barz (1997: 51) bezeichnen als ‚implizite Derivation“ Prozesse deverbaler Derivation von Substantiven und deverbaler Derivation von Verben, die wie die Konversion ohne Verwendung von Affixen erfolgen. Im Unterschied zur Konversion sei diese Wortbildungsart mit einem Wechsel des Stammvokals verbunden. Die Derivation werde nicht durch die Zufügung morphologischer Substanz, also explizit, indiziert, sondern durch eine von Erben (1983: 27; 2006: 31) so genannte „Stammalternation“, also „implizit“. Beiden Arten der Derivation, der expliziten wie der impliziten, so Fleischer/Barz (1997: 51), sei „also ein Eingriff in die morphologische Struktur des Basisformativs gemeinsam, wodurch sie gleichzeitig von der Konversion abgehoben werden“. Fleischer/ Barz (1997: 51) bezeichnen die implizite Derivation als für die Gegenwartssprache unproduktiv. Die Vokalveränderungen hingen historisch mit Ablaut und Umlaut zusammen; jedoch seien im Wortschatz noch analysierbare Typen erhalten geblieben. Bei der impliziten Derivation von Substantiven lägen entweder simplizische Verben vor, so in werfen > Wurf, oder aber komplexe wie in entziehen > Entzug, fortschreiten > Fortschritt (Fleischer/ Barz 1997: 51). Bildungen wie Abflug, Anflug, Hinflug, Rückflug, die als implizite Derivate der Verben abfliegen, anfliegen, hinfliegen, (zu)rückfliegen anzusehen seien, machten deutlich, dass in Analogie zu fliegen > Flug durchaus neue Wörter entstehen könnten, obwohl das Grundmodell der impliziten Derivation heute nicht mehr produktiv sei (Fleischer/Barz 1997: 51). Zu einer kleinen Restgruppe impliziter verbaler Derivate gehöre Fleischer/Barz zufolge eine Ableitungsbeziehung wie in fallen > fällen (Fleischer/Barz 1997: 51). Bei fällen handelt es sich entwicklungsgeschichtlich gesehen aber um ein schwaches -jan-Verb germ. *falljan zum starken Verb ahd. fallan, in dem das germ. j einen Umlaut des Stammvokals

implizite Derivation zu ahd. fellen bewirkt hat. Das semantische Ableitungsverhältnis ist hier die kausative Aktionsart (‘fallen machen’) wie in trinken > tränken (germ. *drankjan > ahd. trenken ‘trinken machen’). Schwache Verben wie diese lassen sich aber analog zu den Verhältnissen bei den schwachen -ōn- und -ēn-Verben als explizite Derivationen mit germ. j auffassen, so dass der Begriff „implizite Derivation“ hier sachlich problematisch ist und nur aus einer adiachronen Perspektive späterer Sprachstufen des Deutschen heraus verwendet wird, in denen der Typus nicht mehr produktiv ist. Die hier referierte Definition des Terminus „implizite Derivation“ ist allerdings in der deutschen Wortbildungslehre nicht die einzige. Noch 1982 ordnet Fleischer (1982: 72) Substantivbildungen wie der Lauf zum Verb laufen in die „impliziten Ableitungen“ ein und unterscheidet sie von den expliziten, die durch ein Formationsmorphem erfolgten (Simmler 1998: 620). Fleischer zufolge ist eine implizite Ableitung „ein freies Morphem oder eine freie Morphemkonstruktion ohne Ableitungssuffix, das nicht durch zwei unmittelbare Konstituenten, sondern als Ganzes durch seine semantische und formale Beziehung auf ein anderes freies Morphem oder eine Morphemkonstruktion motiviert ist. Es liegt eine Transposition in eine andere Wortart vor“ (Fleischer 1982: 72). In die impliziten Ableitungen bezieht Fleischer (1982: 73f.) auch „Fälle wie Band, Bund < binden“ und solche wie „Bruch, Schuß, Wurf, Zug“ ein. Bei den erstgenannten Bildungen sei ein direkter ausdrucksseitiger und inhaltsseitiger Bezug zu einer Verbform (er band, er hat gebunden) möglich; bei letzteren scheide ein solcher aufgrund von Sprachwandelphänomenen gegenwartssprachlich aus. Doch ist für Fleischer (1982: 74) die „semantische Abhängigkeit der Substantive von den Verben [...] offensichtlich“. Fleischer (1982: 74f.) verdeutlicht die Eigenheiten der von ihm so genannten impliziten Ableitung auch in Abgrenzung zur Konversion. Bei der Konversion liege auch eine Bildung neuer Wörter vor, „aber im Unterschied zur impliziten Ableitung durch Überführung in eine andere Wortklasse ohne formale Veränderungen“. Unter Hinweis auf Henzen (1965: 245) übernimmt er dessen zusätzliche Bestimmung der Konversion als „Klassenwechsel von Wörtern in ihrer Normalform“,

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implizite Derivation 338

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wobei aber der Begriff „Normalform“ nicht näher erläutert wird (Simmler 1998: 621). Auch Erben (2006: 31f.) unterscheidet zwischen der impliziten Ableitung und der Konversion. Im Unterschied zu Fleischer legt er die implizite Ableitung auf Umsetzungen von Grundmorphemen in andere Wortarten fest, ohne dabei aber zwischen verbalen Grundmorphemen und Grundmorphemen anderer Wortarten als Ausgangsbasis zu unterscheiden. Insoweit fallen unter den Begriff „implizite Ableitung“ das Adjektiv ernst zum Substantiv der Ernst, das Substantiv das Tief zum Adjektiv tief, das Substantiv der Lärm zum Verb lärmen, die Substantive das Band, der Bund zum Verb binden und das Substantiv Wurf zum Verb werfen mit der als Basis dienenden verbalen Leitform wurfen 1. Pers. Pl. Ind. Prät. Diese Form wurde erst im Frnhd. durch den morphologischen Ausgleich der Grundmorpheme im Teilparadigma des Indikativ Präteritum zugunsten von warfen wie warf 1. 3. Pers. Sg. Ind. Prät. aufgegeben (Simmler 1998: 621). Von der impliziten Ableitung, definiert als paradigmatische Umsetzung eines Grundmorphems (eventuell einer Ablautvariante) mit fortwirkender semantischer Motiviertheit durch die Basis, hebt Erben (2006: 31) die sogenannte syntaktische Konversion ab, bei der auch Flexionsmorpheme der Ausgangsreihe beibehalten seien, wo also nur syntaktische „Konversion“ in die Satzrolle einer anderen Wortklasse vorliege. Hierher gehören Erben zufolge Substantivierungen von Infinitiven „mitsamt Infinitivmorphem“ wie treffen > das Treffen und Substantivierungen von Adjektivformen „mit Beibehaltung der Adjektivflexion“ wie der neue Wagen, das neue Auto, ein neuer Wagen, ein neues Auto zu (der, das) Neue und (ein) Neuer, Neues (Simmler 1998: 621). Simmler (1998: 622) bezeichnet aufgrund der Diskussion dieser und anderer Stimmen der Literatur, auch der Auffassung von Sandberg (1976: 54), der für Bildungen wie Lauf und Schau eine Ableitung mit Nullmorphem annimmt (vgl. Simmler 1998: 624f.), den Begriff der impliziten Ableitung als unnötig. Es lägen bei den behandelten Fällen (bis auf die von Barz genannte Gruppe der wortartgleichen Ableitungen wie fallen > fällen, die explizite Ableitungen mit einem im Althochdeutschen noch sichtbaren Formativ sind) jeweils Subgruppen der Konversion vor. Es fehlten spezi-

fische Formationsmorpheme, die eine Zuordnung dieser Bildungen zu den Derivationen begründen könnten. „Umsetzungen von GM [Grundmorphemen] sind keine Ableitungen, für sie ist eine terminologische Abgrenzung aufgrund einer klaren differentia specifica, Wortartwechsel ohne FM [Formationsmorphem], begründet. Ein Wortartwechsel ohne FM liegt auch bei den Umsetzungen von Infinitiven und Adjektivformen vor, so daß sich dadurch die Zuordnung zu den Konversionen ergibt“; dass in diesen Fällen als Ausgangsbasen verbales Grundmorphem + Relationsmorphem bzw. adjektivisches Grundmorphem + Relationsmorphem dienten, führe zu Subklassifizierungen der Konversion. Eckhard Meineke ≡ Ablautbildung; affixlose Bildung; implizite Ableitung; innere Wortbildung → § 27; Ablaut; Derivationsmorphem; Grundmorphem; Konversion; Morphemkonstruktion; Nullmorphem; Wortart; Wortbildungskonstruktion

🕮 Barz, I. [1988] Nomination durch Wortbildung. Leipzig ◾ Bergenholtz, H./ Mugdan, J. [2000] Nullelemente in der Morphologie. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 435–450 ◾ Don, J./ Trommelen, M./ Zonneveld, W. [2000] Conversion and category indeterminacy. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [eds.] Morphology (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 943–952 ◾ Eckert-Werner, E. [1973] Deutsche deverbale Substantive. Wortbildungsmuster und kommunikative Funktion. Diss., Universität Heidelberg ◾ Erben, J. [1983] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 2. Aufl. Berlin ◾ Eschenlohr, S. [1999] Vom Nomen zum Verb. Konversion, Präfigierung und Rückbildung im Deutschen. Hildesheim [etc.] ◾ Fleischer, W. [1982] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 5. Aufl. Tübingen ◾ Fleischer, W. [2000] Die Klassifikation von Wortbildungsprozessen. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 886–897 ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [1997] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Frisch, R. [1993] Substantivische Affixbildung im Frühneuhochdeutschen. ge-Präfigierungen und Ableitungen ohne explizites Suffix: ihre Morphologie und Semantik. Diss., Universität Würzburg ◾ Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Kastovsky, D. [1969] Wortbildung und Nullmorphem. In: LB 2: 1–13 ◾ Naumann, B./ Vogel, P.M. [2000] Derivation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 929–943 ◾ Naumann, B. [2000] Einführung in die Wortbildungslehre des Deutschen. 3. Aufl. Tübingen: 36–41 ◾ Olsen, S. [1986] Wortbildung im Deutschen. Eine Einführung in die Theorie der Wortstruktur. Stuttgart ◾ Ronneberger-Sibold, E. [2004] Deutsch (Indogermanisch: Germanisch). In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.2). Berlin [etc.]: 1267–1285 ◾ Sandberg, B. [1976] Die neutrale -(e)n-Ableitung der deutschen Gegenwartssprache. Zu dem Aspekt der Lexikalisierung bei den Verbalsubstantiven. Göteborg ◾ Vogel, P.M. [1996] Wortarten und Wortartenwechsel. Zu Konversion und verwandten Erscheinungen im Deutschen

339 inchoativ und in anderen Sprachen. Berlin [etc.] ◾ Wellmann, H. [1975] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 2. Hauptteil: Das Substantiv. Düsseldorf.

implizites Derivat

Wortbildungsprodukt, das der Wortbildungsart „implizite Derivation“ zugeordnet ist. ▲ implicit derivative: product of word-formation that belongs to the type of implicit derivation. Die für die dt. Wortbildungslehre charakteristischen Termini „implizite Derivation“ und „implizites Derivat“ werden nicht einheitlich verwendet und zum Teil auch abgelehnt. Bei Fleischer/Barz (1995: 51, 118, 349) werden als implizite Derivate sowohl deverbale Substantive als auch deverbale Verben klassifiziert, die ohne Affix gebildet sind, im Gegensatz zu Konversionen aber einen Wechsel des Stammvokals aufweisen (ebenso Elsen 2011: 102f., 223f.). Bei entsprechenden Substantiven handelt es sich vor allem um Ablautbildungen (z.B. greifen > Griff, finden > Fund), deren morphologische Verbbindung zum Teil nur historisch erkennbar ist (z.B. werfen − warf − warfen [mhd. wurfen] > Wurf), aber auch um anders motivierte Stammvokalveränderungen wie etwa bei treten > Tritt (Hebung) oder bei Substantiven, die von schwachen Verben abgeleitet sind (z.B. ersetzen > Ersatz mit Rückumlaut). Bei den Verben finden sich implizite Derivate „nur noch relikthaft, und zwar in dem Nebeneinander durativer und davon abgeleiteter kausativer Verben: trinken − tränken, fallen − fällen, sinken − senken. Diese Bildungsweise ist heute unproduktiv, bei zahlreichen Paaren ist die Motivationsbeziehung synchron nicht mehr ohne weiteres zu ermitteln, vgl. schwimmen − schwemmen“ (Fleischer/Barz 1995: 293). Sprachhistorisch gesehen ist die Bezeichnung entsprechender Kausativa als „implizite Derivate“ allerdings unbegründet, denn es handelt sich um ehemalige -jan-Verben, d.h. mit -j-Suffix gebildete, explizite Wortbildungen. Andere Wortbildungen, die ebenfalls ohne Affix gebildet sind und Stammvokalwechsel aufweisen, werden von Fleischer/Barz (1995: 305) hingegen nicht als implizite Derivate, sondern als Konversionen klassifiziert, wie etwa die desubstantivischen bzw. deadjektivischen Verben kämmen (< Kamm) und schwärzen (< schwarz) mit Basisumlaut. Von anderen Autoren werden dagegen auch

weitere Wortbildungen als implizite Derivate behandelt. So zählt etwa Erben (2000: 27ff.) auch Substantive (schauen > die Schau, tief > das Tief), Adjektive (Ernst > ernst, Angst > angst) und Verben (Lärm > lärmen, lahm > lahmen), die ohne Affix und ohne Stammvokalveränderung gebildet sind, zu den impliziten Derivaten. Einen im Vergleich mit Fleischer/Barz engeren Begriff „implizite Derivation“ verwendet dagegen Donalies (2007: 95), die lediglich verbale Kausativa (trinken > tränken, sitzen > setzen) − historisch unbegründet − als implizite Derivate betrachtet, deverbale Substantive wie Wurf oder Griff hingegen als Konvertate klassifiziert und damit der Wortbildungsart „Konversion“ zuordnet. Auch bei Autoren, die keine Wortbildungsart „implizite Derivation“ ansetzen, erfolgt eine Klassifikation entsprechender Substantive als „Konversion“ (z.B. Simmler 1998: 622, Barz 2005: 675). Für kausative Verben ist eine solche Zuordnung allerdings problematisch, weil Konversionen im Allgemeinen als Bildungen ohne Affix, aber mit Wortklassenwechsel verstanden werden. Aber auch eine Klassifikation von Kausativa als explizite Ableitungen (Simmler 1998: 622) ist unter synchronem Aspekt wenig befriedigend, da diese Bildungsweise heute nicht mehr morphologisch durchsichtig ist. Insofern sind Kausativa synchron auch als Simplizia klassifizierbar. Peter O. Müller

→ Ablaut; Basisumlaut; implizite Derivation; innere Ableitung; kausatives Verb; Konversion

🕮 Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Donalies, E. [2007] Basiswissen Deutsche Wortbildung. Tübingen [etc.] ◾ Elsen, H. [2011] Grundzüge der Morphologie des Deutschen. Berlin [etc.] ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [1995] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 2., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin.

inaktiv

≡ unproduktiv

inchoativ

Aktionsart von Verben, deren lexikalische Bedeutung einen hinsichtlich des Beginns spezifizierten Verlauf des bedeuteten Vorgangs beinhaltet. ▲ inchoative: aktionsart of verbs whose lexical

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Infinitiv 340 meaning implies a temporal course of the process signified by the verb which is specified in respect of its beginning.

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Das Verb erblühen bedeutet im Unterschied zu unspezifischem blühen den Beginn des Vorgangs des Blühens, das Verb verblühen das Ende des Vorgangs. Der zeitliche Verlauf des Prozesses wird also verschieden versprachlicht. Die drei Verben haben verschiedene Aktionsarten: ingressiv (erblühen), durativ (blühen) und egressiv (verblühen). Diese Phasenaktionsarten können in die beiden Gruppen „durativ“ und „terminativ/ nicht-durativ“ unterteilt werden. Die nicht-durative Aktionsart hat mehrere Untergruppen. Die inchoative („ingressive“, „inzeptive“, „initive“) Aktionsart bedeutet dabei einen Anfang, einen (allmählichen) Beginn, den Austritt aus einem alten Zustand und den Eintritt in einen neuen Zustand (entflammen, erblühen, loslaufen). Die Begriffe „inchoativ/inzeptiv“ und „ingressiv/initiv“ können differenziert werden, indem man mit den ersteren die Aktionsart des allmählichen Beginns und mit den letzteren die Aktionsart des plötzlichen Beginns meint (einschlafen vs. aufspritzen).

→ Aktionsart; durativ; ingressiv ⇀ inchoativ (SemPrag) ⇁ inchoative (Typol)

Eckhard Meineke

🕮 Nicolay, N. [2007] Aktionsarten im Deutschen. Prozessualität und Stativität. Tübingen ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin ◾ Tschirner, E. [1991] Aktionalitätsklassen im Neuhochdeutschen. New York [etc.] ◾ Tubino-Blanco, M. [2020] Causative/Inchoative. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 497–531.

Infinitiv

in manchen Sprachen vorkommende Form des Verbs, die in eingebetteten und/oder infiniten Kontexten auftritt, die oft nicht bezüglich Tempus, Aspekt und Modus spezifiziert ist, und die in den meisten Sprachen keine Person- und Numeruskongruenz aufweist. ▲ infinitive: form of the verb found in many languages which appears in embedded and/or non-finite contexts, is typically not specified with respect to tense, aspect and mood, and shows no person and number agreement with a subject. Im Deutschen werden Infinitive durch die Endung -(e)n und in gewissen Strukturen zusätzlich durch die Infinitivpartikel zu gekennzeichnet (Ich

muss gehen; Ich weigerte mich zu gehen). Etwa in germanischen und romanischen Sprachen sind Infinitivpartikel mit Präpositionen historisch verwandt, wobei der Infinitiv ursprünglich nominalen Charakter hatte und somit eine als Komplement der Präposition fungierende NP bildete. Dies ist auch in der in manchen Varietäten gebräuchlichen rheinischen Verlaufsform ersichtlich (wir sind am Arbeiten). Es ist schwierig, eine sprachübergreifende Definition für alle als Infinitive bezeichneten Elemente zu formulieren. Man kann allenfalls als notwendige Bedingung für den Status als Infinitiv angeben, dass die Verbform von der kanonischen Verwendung des Verbs im Matrixsatz in mindestens einem der folgenden Punkte abweicht: (i) sie tritt in eingebetteten (meist von anderen Verben selegierten) Sätzen auf; (ii) sie hat kein Subjekt, oder höchstens ein implizites Subjekt (vgl. Weglaufen wäre unklug); (iii) sie wird in Sprachen wie dem Deutschen als Zitierform des Verbs verwendet (Was bedeutet „kovariieren“?); (iv) sie weist in den meisten Sprachen weder Person- noch Numeruskongruenz auf; aber demgegenüber gibt es in manchen Sprachen sog. konjugierte Infinitive (Portugiesisch, Walisisch, Ungarisch; Miller 2004). Diese unterscheiden sich von Matrixverben dadurch, dass sie in eingebetteten Kontexten auftreten.

→ Infinitivmorphem; Infinitivstamm ⇀ Infinitiv (Gram-Formen; CG-Dt) ⇁ infinitive (CG-Engl; Typol)

Andrew McIntyre

🕮 Askedal, J.O. [1988] Über den Infinitiv als Subjekt im Deutschen. Eine empirische Untersuchung anhand des Erzählwerks von Thomas Mann. In: ZGL 16: 1–25 ◾ Bech, G. [1983] Studien über das deutsche Verbum infinitum. Tübingen ◾ Chierchia, G. [1984] Topics in the syntax and semantics of infinitives and gerunds. Diss., University of Massachusetts. Amherst, MA ◾ Haspelmath, M. [1989] From purposive to infinitive – a universal path of grammaticization. In: FoLHist 10: 287–310 ◾ Miller, D.G. [2004] The origin of the Welsh conjugated infinitive. In: Diachr 21/2: 329–350.

Infinitiv, substantivierter → substantivierter Infinitiv

Infinitivkonversion

in die Wortart Substantiv überführte Infinitivform eines Verbs. ▲ infinitive conversion: infinitive form of the verb that has been transferred into the class of nouns.

341 Infinitivkonversion Durch Wortartwechsel ohne formale Veränderung können Infinitive einfacher und komplexer Verben in die Wortart Substantiv überführt werden. Bereits Wilmanns (1899: 405) betrachtet dieses Verfahren als einfachstes Mittel, jedes Verbum zu substantivieren (nach Fleischer/ Barz 2012: 270). Je nach Auffassung werden die substantivierten Infinitive als Konversion, als Nullmorphemableitung oder als Suffixderivation dargestellt (dazu unten ausführlicher; zur Forschungs- und Begriffsgeschichte vgl. Vogel 1996: 6ff.). Nach der Unterscheidung von morphologischer und syntaktischer Konversion bei Eisenberg (2013: 280f.) und Erben (2006: 31) handelt es sich hier um syntaktische Konversion, da das Wortbildungsprodukt mit dem Infinitivmorphem ein Flexionselement seiner Basis beibehält. Die Konversion des Infinitivs (dt. Arbeiten, Vorkommen, engl. call ‘Anruf’, interchange ‘Austausch’, frz. parler ‘Sprechen’, ital. parlare ‘Sprechen’, span. saber ‘Wissen’) unterliegt kaum Restriktionen, führt aber seltener zu usuellen Bildungen. Fleischer/Barz (2012: 271) konstatieren eine deutliche Diskrepanz „zwischen der nahezu universellen Bildbarkeit und dem Gebrauch als Nominationseinheit“. (Zur Lexikalisierungspotenz vgl. auch Sandberg 1976 und Barz 1998.) Auch im Frz. und Span. z.B. sind lexikalisierte Infinitive als Nomination weitaus begrenzter im Vergleich zur grundsätzlich möglichen Substantivierung (vgl. Thiele 1981: 96 und Thiele 1992: 124). In einigen Fällen sind allerdings die substantivierten Infinitive die einzige Möglichkeit der Bildung eines Verbalsubstantivs (dt. das Umdenken, das Schwimmen). Wortbildungssemantisch dominieren bei Infinitivkonversionen nomina actionis (dt. Laufen, engl. play ‘Spiel’, frz. souvenir ‘Erinnerung’, ital. convivere ‘Zusammenleben’, span. cantar ‘Gesang’). Davon ausgehend ist häufig auch eine Lesart als nomen acti ausgeprägt (dt. Wissen, engl. desire ‘Wunsch’, reprint ‘Nachdruck’, frz. souvenir ‘Andenken’, span. deber ‘Pflicht’). Mitunter haben sich auch konkrete Sachbezeichnungen herausgebildet (dt. Schreiben ‘Schriftstück’, engl. cover ‘Einband, Hülle’, frz. souvenir ‘Erinnerungsstück’). Zur Breite der semantischen Muster im Engl. vgl. Schmid (2005: 192). Zur Konkurrenz von Infinitivkonversionen und -ung-Derivaten

im Dt. vgl. Fleischer/Barz (2012: 227f.) sowie (Iordăchioaia/Werner 2019) für Dt. und Engl. Reflexive Verben können das Reflexivum „vererben“ (dt. das Sichausweinen). In lexikalisierten Bildungen (dt. das Bemühen, das Räuspern) entfällt es in der Regel (Fleischer/Barz 2012: 271). Flexionsmorphologisch verfügen substantivierte Infinitive meist nicht über alle grammatischen Merkmale eines typischen Substantivs. So sind sie nicht pluralfähig (das Erzählen), von wenigen lexikalisierten Konkreta abgesehen (das/die Essen, Schreiben) (Barz 2009: 726). Nach Eisenberg (2013: 281) sind sie als Substantive peripher, die Bindung ans Verb bleibt stark. Strittig ist, ob es sich bei substantivierten Infinitiven überhaupt um ein Wortbildungsphänomen handelt. Fleischer/Barz (2012: 89) begründen ihre Auffassung als Wortbildungserscheinung vor allem mit dem Lexemstatus der Konversionen und mit der Übernahme morphosyntaktischer Eigenschaften des Substantivs (substantivische Flexion). Donalies (2005: 125) hebt besonders den Anteil an der Wortschatzerweiterung hervor. Olsen (1986: 112) ordnet die substantivierten Infinitive eher der Syntax als der Wortbildung zu. Auch Eisenberg (2013: 281) verweist auf syntaktische Überlappung mit dem Infinitiv als Verbform in mehreren syntaktischen Kontexten. Unterschiedliche Auffassungen bestehen auch in Bezug auf den Status des Infinitivmorphems -en im Dt. und die entsprechenden Konsequenzen für die Wortbildungsart. Betrachtet man -en als Flexionssuffix und damit als Bestandteil der Basis (wie z.B. Fleischer/Barz 2012: 89), handelt es sich um Konversion. Betrachtet man -en als Wortbildungsmorphem (wie z.B. Motsch 2004: 328f.), liegt Suffixderivation vor. Durch Hinzufügung des Suffixes -en an den Stamm eines Verbs wird nach Motsch ein semantisches Muster indiziert, das in diesem speziellen Fall nur eine syntaktische Umkategorisierung vornimmt. Für das Engl. gehen Hansen/Hansen/Neubert/ Schentke (1990: 124) im Anschluss an Marchand (1969: 359f.) von Nullableitung als Sonderfall der Suffigierung aus (zu dieser Auffassung vgl. auch Schmid 2005: 190ff.). Im Engl. wird zudem diachron durch den Wegfall der meisten Flexionsendungen der formale Zusammenfall von Nomina, Verben und Adjektiven begünstigt, so dass für viele Wortformen mehrfache Wortklassenzugehörigkeit an-

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Infinitivmorphem 342 zunehmen ist (Schmid 2005: 187ff.). Nicht immer lässt sich die Ableitungsrichtung klar entscheiden. Artikellose Sprachen, wie das Russ. und andere slaw. Sprachen (mit Ausnahme des Bulg. und Makedon.) und Litauisch, verfügen nicht über die Möglichkeit, den Infinitiv zu substantivieren, und nutzen dafür entsprechende Derivationsmodelle (vgl. Labanauskaité 2001: 87f.). Hannelore Poethe

→ § 27; nomen acti; nomen actionis; Nominalisierung; Nullmorphem; substantivierter Infinitiv; Verbalabstraktum; Verbalsubstantiv; Wortart

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🕮 Barz, I. [1998] Zur Lexikalisierungspotenz nominalisierter Infinitive. In: Barz, I./ Öhlschläger, G. [Hg.] Zwischen Grammatik und Lexikon. Tübingen: 57–68 ◾ Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Donalies, E. [2005] Die Wortbildung des Deutschen. Ein Überblick. 2., überarb. Aufl. Tübingen ◾ Eisenberg, P. [2013] Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 4., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart [etc.] ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Hansen, B./ Hansen, K./ Neubert, A./ Schentke, M. [1990] Englische Lexikologie. 3. Aufl. Leipzig ◾ Iordăchioaia, G./ Werner, M. [2019] Categorial shift via aspect and gender change in deverbal nouns. Language Sciences 73: 62–76 ◾ Labanauskaité, R. [2001] Der substantivierte Infinitiv als Nomen actionis im Deutschen und Italienischen im Vergleich zu den Nomina actionis im Litauischen und im Russischen. In: Žmogus ir žodis 3/3: 84–92 ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Olsen, S. [1986] Wortbildung im Deutschen. Eine Einführung in die Theorie der Wortstruktur. Stuttgart ◾ Sandberg, B. [1976] Die neutrale -(e)n-Ableitung der deutschen Gegenwartssprache. Zu dem Aspekt der Lexikalisierung bei den Verbalsubstantiven. Göteborg ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig ◾ Thiele, J. [1992] Wortbildung der spanischen Gegenwartssprache. Leipzig [etc.] ◾ Vogel, P.M. [1996] Wortarten und Wortartenwechsel. Zu Konversion und verwandten Erscheinungen im Deutschen und in anderen Sprachen. Berlin [etc.] ◾ Wilmanns, W. [1899] Deutsche Grammatik. Gotisch, Alt, Mittel- und Neuhochdeutsch. Zweite Abteilung: Wortbildung. 2. Aufl. Straßburg.

Infinitivmorphem

Morphem, das der Bildung der Infinitivform eines Verbs dient. ▲ infinitive morpheme: morpheme serving to form the infinitive form of a verb. Manche Sprachen haben ein speziell zur Bildung der Infinitivform des Verbs dienendes Morphem,

etwa -(e)n im Deutschen (lauf-en, bummel-n, tu-n, sei-n). In anderen Sprachen, etwa im Englischen, ist ein solches Morphem je nach Analyse entweder nicht vorhanden oder phonetisch leer. In der Regel gilt die Infinitivendung -(e)n als Flexiv (vgl. Fleischer/Barz 2012: 88), da sie nicht Teil des Wortstamms ist, sondern sich im verbalen Flexionsparadigma verändert. Daneben wird -(e)n aber auch als „Verbalisierungsmorphem“ charakterisiert (vgl. Kühnhold/Wellmann 1973: 20ff.) mit der Doppelfunktion der Wort- und Wortformenbildung. In diesem Fall werden denominale Bildungen wie häuten oder grünen nicht als Konversionen, sondern als Suffixderivate klassifiziert. Andrew McIntyre

→ § 18, 27; Infinitiv; Infinitivstamm; Morphem; Verbalisierungsmorphem

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Kühnhold, I./ Wellmann, H. [1973] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. Erster Hauptteil: Das Verb. Düsseldorf ◾ Lohde, M. [2006] Wortbildung des modernen Deutschen. Ein Lehr- und Übungsbuch. Tübingen ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin.

Infinitivstamm

Verbstamm, welcher der Bildung der Infinitivform eines Verbs dient. ▲ infinitive stem: verb stem used in the formation of the infinitive form of a verb.

Im Deutschen erhält man den Infinitivstamm eines Verbs, indem man das Infinitivsuffix -(e)n entfernt, vgl. geh(en), mög(en), tu(n), sei(n), bummel(n). In einer Sprache wie dem Englischen ist der Begriff „Infinitivstamm“ gleichzusetzen mit dem Begriff „Infinitivform“, da diese Form kein spezielles Flexionssuffix trägt, vgl. be, sing, go. Häufig dienen Infinitivstämme der Bildung anderer Flexionsformen eines Verbs. Im Deutschen werden die Formen des Konjuktiv I vom Infinitivstamm abgeleitet: sei(n) vs. sie sei da; mög(en) vs. sie möge kommen; dürf(en) vs. sie dürfe gehen. Analoges gilt im Englischen: It is important that you be there.

→ Infinitiv; Infinitivmorphem

Andrew McIntyre

🕮 Schpak-Dolt, N. [1992] Einführung in die französische Morphologie. Tübingen ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin.

343 Infix

Infix

Affix, das in seine Basis eingefügt wird. ▲ infix: affix which is inserted into its base.

Ein Infix ist ein Affix, das seine Basis durchbricht, also diskontinuierlich macht, z.B. im Kammu (Laos) /páam/ ‘Fallen stellen’ – /pŕnàam/ ‘Falle’, /‌tə́əm/ ‘singen’ – /tŕnə̀əm/ ‘Gesang’, /sɛ́ɛ/ ‘bohren’ – /sŕnɛ̀ɛ/ ‘Bohrer’ usw. (Überblicke geben u.a. Ultan 1975; Moravcsik 2000; Yu 2007; Blevins 2014). Ein Infix ist per Definition kontinuierlich; ein Affix, das die Basis durchbricht und diskontinuierlich ist, wird Transfix genannt (s. Mel’čuk 1982: 82–87; manche rechnen Transfixe jedoch zu den Infixen). Ein Infix besteht ferner aus mindestens einem Segment; bei der Einfügung von einzelnen Merkmalen (z.B. sekundären Artikulationen wie Nasalierung oder Palatalisierung) handelt es sich nicht um ein Infix, sondern um einen Typ von suprasegmentalem Morph oder Suprafix (vgl. Blevins 2014: 139). Eingefügte freie Elemente, z.B. ganze Wörter wie in engl. abso-blooming-lutely, sollten auch nicht zu den Infixen gezählt werden, da sie keine Affixe sind (s. Blevins 2014: 137f.). Zuweilen wird der Terminus Infix für ein Präfix oder Suffix verwendet, das näher an der Basis steht als andere, z.B. me- ‘perfekt’ und/oder ku- ‘2sg. objekt’ in der Swahili-Verbform nimekuuliza ‘ich habe dich gefragt’, wo sie der Basis -uliza ‘frag’ näher sind als das Präfix ni- ‘1Sg.Subjekt’. Infixe sind ferner von Interfixen zu unterscheiden, die zwischen den Gliedern eines Kompositums oder zwischen Stamm und Derivations- oder Flexionsaffix stehen (z.B. Schlichtungsversuch, ahnungslos, wobei man das -s in Ermangelung eines klaren Inhalts auch als Teil einer Stammvariante betrachten kann). Es wäre jedoch nicht richtig, solche Fälle dadurch auszuschließen, dass man die Basis für Infigierung auf Wurzeln beschränkt. Infixe können auch in andere Affixe eingefügt werden oder an einer Stelle stehen, die zufällig mit einer Morphemgrenze zusammenfällt (s. Blevins 2014: 138f.; Mugdan 2015: 266). Wesentlich ist, dass die Position eines Infixes phonologisch definiert ist, und zwar entweder mit Bezug auf einen Rand der Basis (Anfang oder Ende), z.B. nach dem ersten Konsonanten oder vor der letzten Silbe, oder seltener mit Bezug auf die Akzentstelle, z.B. vor der betonten Silbe (vgl. Ultan 1975: 164–168; Yu 2007: 47–135). Dabei kann

es sich manchmal ergeben, dass das Infix vor oder nach der Basis zu stehen kommt. So hat das Hoava (Salomonen) ein Nominalisierungsinfix /‌in/, das vor dem ersten Vokal der Basis steht, z.B. /ɣele/ ‘lang sein’ – /ɣinele/ ‘Länge’; beginnt die Basis mit einem Vokal, scheint /in/ aber ein Präfix zu sein, z.B. /edo/ ‘glücklich sein’ – /inedo/ ‘Glück’. Im Unterschied zu einem Ambifix, das relativ zur Basis an verschiedenen Stellen auftritt, nimmt /in/ aber stets dieselbe phonologisch definierte Position ein und sollte als Infix klassifiziert werden, auch wenn es die Basis nicht immer durchbricht (vgl. Blevins 2014: 137–139). Infixe sind in den Sprachen der Welt nicht so verbreitet wie Suffixe und Präfixe, und in Europa sind keine produktiven Wortbildungsmuster mit Infixen belegt; angebliche Beispiele genügen nicht der obigen Definition. Dagegen sind Infixe u.a. in austronesischen und austro-asiatischen Sprachen gebräuchlich, wobei sie z.T. eine hohe diachrone Stabilität aufweisen und sogar entlehnt werden können, und entgegen einer weit verbreiteten Annahme ist es nicht unmöglich, dass eine Sprache Infixe hat, ohne Prä- und/oder Suffixe zu besitzen (s. Blevins 2014: 146–153). Vor allem in der Optimalitätstheorie ist die These vertreten worden, Infixe seien zugrundeliegend Prä- oder Suffixe, die ein Stück weit in die Basis hineingeschoben werden, um eine in der betreffenden Sprache bevorzugte phonologische Struktur (z.B. offene Silben) zu schaffen, wobei in Kauf genommen wird, dass diskontinuierliche Morphologie weniger optimal ist. Es trifft jedoch keineswegs immer zu, dass Infigierung zu phonologisch günstigeren Ergebnissen führt als Präoder Suffigierung desselben Elements (s. Yu 2007: 27–31). Allerdings entstehen Infixe historisch typischerweise aus Prä- oder Suffixen (zu möglichen Wegen s. Ultan 1975: 175–185; Moravscik 2000: 549f.; Yu 2007: 137–180). Joachim Mugdan

→ Affix; Ambifix; Fugenelement; Optimalitätstheorie; Präfix; Suffix; Suprafix; suprasegmentales Morph; Transfix

⇀ Infix (Gram-Formen; CG-Dt) ⇁ infix (CG-Engl; Typol)

🕮 Blevins, J. [2014] Infixation. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Derivational Morphology. Oxford: 136–153 ◾ Mel’čuk, I.A. [1982] Towards a Language of Linguistics. A System of Formal Notions for Theoretical Morphology. München ◾ Moravcsik, E.A. [2000] Infixation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin

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ingressiv 344 [etc.]: 545–552 ◾ Mugdan, J. [2015] Units of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 235–301 ◾ Ultan, R. [1975] Infixes and their origins. In: Seiler, H. [ed.] Linguistic workshop III. Arbeiten des Kölner Universalienprojekts 1974. München: 157– 205 ◾ Yu, A.C.L. [2007] A Natural History of Infixation. Oxford.

ingressiv

Aktionsart von Verben, deren lexikalische Bedeutung einen hinsichtlich des Beginns spezifizierten Verlauf des bedeuteten Vorgangs beinhaltet. ▲ ingressive: aktionsart of verbs whose lexical meaning implies a temporal course of the process signified by the verb which is specified with respect to its beginning.

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Das Verb erblühen bedeutet im Unterschied zu unspezifischem blühen den Beginn des Vorgangs des Blühens, das Verb verblühen das Ende des Vorgangs. Der zeitliche Verlauf des Prozesses wird also verschieden versprachlicht. Die drei Verben haben verschiedene Aktionsarten: ingressiv (erblühen), durativ (blühen) und egressiv (verblühen). Diese Phasenaktionsarten können in die beiden Gruppen „durativ“ und „terminativ/nichtdurativ“ unterteilt werden. Eckhard Meineke

→ Aktionsart; durativ; inchoativ ⇀ ingressiv (Gram-Formen; SemPrag; HistSprw) ⇁ ingressive (Typol)

🕮 Nicolay, N. [2007] Aktionsarten im Deutschen. Prozessualität und Stativität. Tübingen ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin ◾ Tschirner, E. [1991] Aktionalitätsklassen im Neuhochdeutschen. New York [etc.].

inhaltbezogene Wortbildungslehre

auf die inhaltliche Seite von Wortbildungen gerichtete Betrachtung. ▲ content-based word-formation theory: study of word-formation that focuses on meaning. Aufbauend auf den Grundgedanken der Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts hatte es sich die inhaltbezogene Wortbildungslehre zur Aufgabe gemacht, den Übergang von einer lautbezogenen zu einer inhaltbezogenen Betrachtung sowohl methodisch zu bahnen als auch praktisch durchzuführen (Weisgerber 1962: 11ff. u. 212ff.). In der lautbzw. formbezogenen Wortbildungslehre, wie sie bis in die 50er Jahre des 20. Jh. vorherrschend war, dominierte „die Bestandsaufnahme der formalen

Möglichkeiten und des tatsächlichen Ausbaues von Wortableitung und Wortzusammensetzung“ (Weisgerber 1962: 213). Dabei zeigte sich, dass formal gleiche Ableitungstypen meist inhaltlich verschiedene Typen ausprägen. Den inhaltlichen Verhältnissen am nächsten kommt zunächst die Feststellung von Wortnischen als inhaltlich enger zusammengehörigen Gruppen im Rahmen eines Ableitungstyps (Weisgerber 1962: 215). Inhaltsverwandte Wortnischen verschiedener Ableitungstypen bilden dann weiter einen Wortstand. Diese inhaltsverwandten Nischen sind nicht bedeutungsgleich, sondern „voneinander abhängige Varianten einer Sehweise, die sich der formalen Ausprägung mehrerer Ableitungstypen bedienen kann“. Der Begriff des Wortstands in der Wortbildungslehre entspricht somit dem des Wortfeldes in der Wortlehre. „In beiden zeigt sich die geistige Geltung von Sprachmitteln gebunden an ein gliederndes Miteinander verschiedener Möglichkeiten“ (Weisgerber 1962: 223). So lassen sich z.B. mit -bar und -lich zu transitiven Verben Adjektive bilden, die „die Verwendbarkeit oder Geeignetheit oder Erreichbarkeit eines Gegenstandes für die betreffende Handlung feststellen“. Zwischen der -barNische und der -lich-Nische zeigen sich inhaltliche Differenzen: Mit -bar-Adjektiven werden Gegenstände als einer Handlung zugänglich, mit -lichAdjektiven als durch eine Handlung „bewältigbar“ vorgestellt, vgl. z.B. erklärbar – erklärlich, vernehmbar – vernehmlich (Weisgerber 1962: 221f.). In seinem Modell einer „vierstufigen Wortbildungslehre“ trennt Weisgerber (1964: 35ff.) me­ tho­disch eine gestaltbezogene, eine inhaltbezogene, eine leistungbezogene und eine wir­kung­be­zo­ge­ ne Sprachbetrachtung. Zur gestaltbezogenen Betrachtung gehört eine möglichst vollständige Bestandsaufnahme der in der Sprache vorhandenen Ableitungssilben, die Sammlung der entsprechenden üblichen Bildungen, deren Beurteilung nach dem formalen Verhältnis zum zugrunde liegenden Stammwort sowie eine lückenlose Aufteilung auf Wortnischen. Bei der inhaltbezogenen Betrachtung erfolgt die Sammlung und Ordnung der Ableitungen nicht mehr nach Ableitungstypen, sondern nach Wortständen. Die leistungbezogene Wortbildungslehre geht von der Einsicht aus, dass alle Spracherscheinungen „ihrem Wesen nach als Wirkungsformen menschlicher Sprachkraft zu verstehen sind“, Wortstände als „geistige

345 Inkorporation Zugriffe“ durchschaut werden müssen. Die wirkungbezogene Wortbildungslehre hat die Wirkung der Sprache auf die Sprachgemeinschaft im Blick, deren Handeln beim Ausbau der Muttersprache als „sinnlich-geistige Ganzheit“. Zur kritischen Betrachtung vgl. bereits Henzen (1957). Stepanowa/Fleischer (1985: 41) würdigen den von der inhaltbezogenen Grammatik ausgehenden „Impuls zur synchronischen Beschreibung der deutschen Gegenwartssprache, auch für die Wortbildung“ als Gewinn. Inzwischen ist in der Wortbildungsforschung unstrittig, dass die semantische Bestimmung unabdingbar ist. Hannelore Poethe

→ § 7; Wortbildungsgruppe; Wortfeld; Wortnische; Wortstand

🕮 Erben, J. [2015] Word-formation in inhaltbezogene Grammatik. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 66–79 ◾ Henzen, W. [1957] Inhaltbezogene Wortbildung. Betrachtungen über „Wortnischen“ und „Wortstände“. In: ArchStNeuSpLit 194/1: 1–23 ◾ Stepanowa, M.D./ Fleischer, W. [1985] Grundzüge der deutschen Wortbildung. Leipzig ◾ Weisgerber, L. [1962] Grundzüge der inhaltbezogenen Grammatik. Düsseldorf ◾ Weisgerber, L. [1964] Vierstufige Wortbildungslehre. In: Mutterspr 74: 33–43.

Initialabkürzung ≡ Akronym

Initialbildung ≡ Akronym

Initialkürzung ≡ Akronym

Initialkurzwort

≡ Buchstabenkurzwort

Initialwort

≡ Akronym ⇀ Initialwort (Schrling)

Inkorporation

Bildung eines komplexen Wortes, am häufigsten eines Verbs, das aus einem Verb und einem seiner Argumente oder Modifikatoren besteht. ▲ incorporation: formation of a complex word, most often a verb, consisting of a verb and one of its arguments or modifiers. Das bekannteste Beispiel von Inkorporation ist

Nomeninkorporation. Von Nomeninkorporation spricht man, wenn ein Verb und ein Nomen ein komplexes Verb bilden, in dem das Nomen einer vollwertigen syntaktischen Nominalphrase (meis­ tens einem direkten Objekt) entspricht. Ein Beispiel aus dem Nahuatl wäre ni-naca-qua ‘ichFleisch-esse’, vgl. Gerdts (1998: 85). Hier wurde das Objekt naca ins Verb inkorporiert, und bildet somit mit dem Verb eine morphologische Einheit. Dies ist zu vergleichen mit ni-c-qua in nacatl ‘iches-esse das Fleisch’, in dem das Objekt nicht inkorporiert ist, und zusammen mit einem Artikel eine Nominalphrase bildet. (In beiden Sätzen könnte man von Inkorporierung der Pronomina ins Verb sprechen, falls man Gründe sieht, von weithin anwendbaren Begriffen wie Verbalflexion oder phonologischer Klitisierung abzusehen.) Eine andere Art von Inkorporation ist die Präpositionsinkorporation, die zu Konstruktionen mit präpositionalen Präfixen wie ich umfuhr die Stadt führt, die je nach Analyse mit Konstruktionen mit normalen syntaktischen Präpositionalphrasen in Beziehung gesetzt werden können (ich fuhr um die Stadt). Verben können auch in andere Verben hinein inkorporiert werden. Typische Beispiele involvieren Kausativverben, vgl. Japanisch Taroo-ga Ziroo-o ik-ase-ta ‘Taroo Ziroo gehen-lassen-präteritum’, also ‘Taroo zwang Ziroo zu gehen’. Hier bildet ik ‘gehen’ ein morphologisches Wort mit -ase ‘lassen’. Man spricht hier übrigens von obligatorischer Inkorporation, da -ase im Gegensatz etwa zum deutschen lassen nicht frei vorkommt. In solchen Fällen wird bisweilen angenommen, dass der affixale Charakter des Kausativverbs den Inkorporationsvorgang auslöst. Der Terminus „Inkorporation“ wird bei manchen Autoren auf die Mehrheit der Wortbildungsphänomene angewandt. In Bezug auf ein Kompositum wie Musiklehrer ist oft von der Inkorporierung von Musik die Rede. Selbst in einem Fall von Konversion wie leeren spricht man von der Inkorporierung des Adjektivs leer ins Verb. Diese Redeweise setzt meistens die Annahme eines phonetisch leeren Kausativverbs (vgl. leermachen) voraus. Bei allen angeführten Inkorporationskonstruktionen herrschen in der Literatur (besonders seit Baker 1988) kontroverse Diskussionen darüber, ob die Inkorporation Ergebnis eines syntaktischen Prozesses (meistens Kopf-zu-KopfBewegung) ist, oder ob man besser von einer rein

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inkorporierende Morphologie 346 morphologischen bzw. lexikalischen Ableitung ausgehen sollte. Andrew McIntyre ≡ Inkorporierung → § 22; Affix; kausatives Verb; Komposition; Nomeninkorporation; Präpositionsinkorporation; Verbbildung ⇁ incorporation (Typol)

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🕮 Baker, M.C. [1988] Incorporation. A Theory of Grammatical Function Changing. Chicago, IL [etc.] ◾ Gerdts, D. [1998] Incorporation. In: Spencer, A./ Zwicky, A.M. [eds.] The Handbook of Morphology. Oxford: 84–100 ◾ Haugen, J.D. [2008] Morphology at the Interfaces. Reduplication and Noun Incorporation in Uto-Aztecan. Amsterdam [etc.] ◾ Haugen, J.D. [2015] Incorporation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 413–434 ◾ Miller, D.G. [1993] Complex Verb Formation. Amsterdam [etc.] ◾ Mithun, M. [1984] The Evolution of Noun Incorporation. In: Lg 60: 847–894.

inkorporierende Morphologie

Einschluss von syntaktisch regierten Stellen in das Wort. ▲ incorporating morphology: inclusion of syntactically governed elements into word structure. Inkorporierende Morphologie ist unterschiedlich beschrieben worden. So wird inkorporierende Morphologie insbesondere häufig für sogenannte polysynthetische Sprachen angenommen, auch wenn dies mit Comrie (1981: 42) nicht gleichzusetzen ist: In polysynthetischen Sprachen kombiniert ein lexikalisches Morphem mit mehreren grammatischen, während inkorporierend die Kombination von lexikalischen Morphemen meint, Inkorporation ist ein spezieller Fall von Polysynthese. Diese Bestimmung führt allerdings notwendigerweise zu einer Vermischung von Inkorporation und Komposition; nach Comrie zeichnen sich inkorporierende Sprachen durch die Quantität der Verbindungen mit lexikalischen Morphemen aus. Für Sprachen wie Engl. und Dt., die keine polysynthetischen Sprachen sind, aber jeweils eine ausgeprägte Komposition haben, hat sich ein anderer Begriff der inkorporierenden Strukturen herausgebildet: es geht um die Besetzung von Valenzstellen. So ist mountain-climbing im Engl. eine inkorporierende Struktur. Auch für das Dt. wurden inkorporierende Strukturen angenommen wie gasbeheizt (Wurzel 1998: 338), also häufig mit deverbalen Zweitgliedern; das Erstglied ist eine Ergänzung des Zweitgliedes. In Fuhrhop (2007: 23ff.) ist dies mit Präpositionen

durchgespielt (überstreichen, anstelle). Die Idee ist, dass in inkorporierenden Strukturen syntaktische Phänomene (vor allem die Valenz des Verbs) in morphologischen Strukturen besetzt werden. Denn die Diskussion ist geprägt durch einen Widerstreit von Morphologie und Syntax wie sie von Kroeber und Sapir durchgeführt wird, vgl. Leza (2001) für eine Zusammenfassung dieser Diskussion. Sie wird aber wesentlich über polysynthetische Sprachen geführt. Nanna Fuhrhop

→ Inkorporation; Komposition; nominales Rektionskompositum; polysynthetische Morphologie; Valenz

🕮 Comrie, B. [1981] Language Universals and Linguistic Typology. Chicago ◾ Fuhrhop, N. [2007] Zwischen Wort und Syntagma. Zur grammatischen Fundierung der Getrennt- und Zusammenschreibung. Tübingen ◾ Haugen, J.D. [2015] Incorporation. In: Müller, P./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 413–434 ◾ Leza, J.L.I. [2001] Inkorporation. In: Haspelmath, M./ König, E./ Österreicher, W./ Raible, W. [Hg.] Sprachtypologie und sprachliche Universalien (HSK 20.1). Berlin: 714–725 ◾ Mithun, M. [1998] The sequencing of grammaticization effects. In: Schmidt, M./ Austin, J./ Stein, D. [eds.] Historical Linguistics 1997. Amsterdam: 291–314 ◾ Mithun, M. [1999] The Languages of Native North America. Cambridge [etc.] ◾ Mithun, M. [2000] Incorporation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [eds.] Morphology (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 916–928 ◾ Wurzel, W.U. [1994] Inkorporierung und „Wortigkeit“ im Deutschen. In: Tonelle, L./ Dressler, W.U. [eds.] Natural Morphology. Wien: 109–125.

Inkorporierung ≡ Inkorporation

innere Ableitung

deverbale Bildung von Substantiven aus existierenden oder angenommenen starken Verben, bei der keine Suffixe verwendet werden, sondern bei der die beiden Grundmorpheme der in einem Ableitungsverhältnis stehenden Wörter im Hinblick auf den Wurzelvokal in einer Ablautbindung stehen. ▲ internal derivation: deverbal derivation of substantives from existing or supposed strong verbs without the use of suffixes, where the root vowels of the words involved stand in an ablaut relationship to one another. „Innere Ableitung“ (recte „innere Wortbildung“, s. dazu weiter unten) liegt vor bei Bildungen, die gegenüber dem Ausgangswort im Wurzelvokal eine Ablautrelation zeigen, die mit dem Wechsel des Stammvokals verbunden sein kann, wie das bei binden, Band, Bund, fliegen > Flug, trinken,

347 Trank, Trunk, zwingen > Zwang der Fall ist. Im Deutschen handelt es sich zumeist um Substantive zu starken Verben, die mit diesen in Ablautbindung stehen. Dabei muss aber das Ablautverhältnis keinen Wechsel des Stammvokals bedeuten, sondern starkes Verb und abgeleitetes Substantiv können die gleiche Ablautstufe aufweisen, wie das etwa bei nhd. laden/Lade (vgl. Grimm 1826, 10), ahd. stantan ‘stehen’/nhd. Stand (Grimm 1826: 11) oder ahd. slahan/nhd. schlagen/nhd. Schlag (vgl. Grimm 1826: 12) der Fall ist. Der Begriff „innere Ableitung“ geht auf Grimm zurück, ohne aber von ihm selbst gebraucht worden zu sein, denn er verwendet den Begriff „innere Wortbildung“. Im zweiten Teil seiner Deutschen Grammatik führt er aus: „Wortbildung geschieht entweder durch innere änderung oder durch äußere mehrung der wurzel. Innere wortbildung hebt die einfachheit des wortes nicht auf; ein wort, dem außen etwas hinzuwächst, ist kein einfaches mehr. Dieser zuwachs, nachdem er aus einer anderen deutlichen wurzel besteht, oder aus bloßen dunkelen buchstaben, heißt zusammensetzung oder ableitung“ (Grimm 1826: 1). Weiter heißt es: „Jede wurzel gründet sich auf vereinigung von consonanten und vocalen, die consonanz gestaltet, der vocal bestimmt und beleuchtet das wort. Durch wesentliche änderung ihrer consonanz würde die wurzel zerstört werden; unwesentliche consonanzübergänge (zumahl nach der abstufung verwandter lautreihen) [...] sind hiermit nicht gemeint, sie afficieren die echte form des worts, ohne sie aufzuheben, noch weniger vermögen sie das wort fortzubilden. Alle innere wortbildung kann demnach nur in dem vocalismus gesucht werden. Wieder aber kommen hier umlaute und andere unwesentliche vocalwechsel in keinen betracht, sondern innere wortbildung beruhet auf dem verhältnisse des lauts und ablauts. Die formeln starker conjugation gewähren uns nicht allein die vocalleiter, sondern auch den consonantenstand aller deutschen wurzeln“ (Grimm 1826: 1). Dementsprechend behandelt Grimm im zweiten Teil seiner Grammatik die von ihm so genannte „innere wortbildung“ als einen separaten Teil neben der von ihm „ableitung“ genannten Suffixableitung, der Zusammensetzung, der Bildung der Pronomen und der Partikeln, der Lehre vom Genus und der Motion, der Komparation, der Diminution und der Negation.

innere Ableitung Die innere Wortbildung beruht nach Grimm wesentlich auf dem starken Verb: „Verba scheinen die grundlage aller wörter. In der deutschen sprache tritt dieser ursprung oft noch handgreiflich vor augen, und daß der ablaut bis auf ihren grund und boden reicht, fließt schon aus einer einfachen beobachtung: ableitungen, zusammensetzungen nehmen zu, ja laßen sich nach nüchterner analogie fortsetzen, d.h. auf diesem wege neugeschaffene formen würden, wenn auch mislungen und lästig, doch an sich selbst verständlich sein. Die echten ablaute hingegen nehmen ab, neuerfundene würden fehlschlagen, weil sie geradezu niemand verstehn könnte“ (Grimm 1826: 5). [...] „Weil also die spätere sprache keine macht mehr über die ablaute hat, weil sie sie nur verlieren, nicht erweitern kann, eben deshalb müßen sie als ihr ältestes princip betrachtet werden“ (Grimm 1826: 5). „Die erörterung zerfällt in drei abtheilungen, insofern das ablautende verbum wirklich (sei es in einer einzelnen deutschen sprache, sei es in allen) vorhanden, oder das verlorne nur aus der wortbildung zu folgern ist, oder endlich die verwaiste wurzel keinen sichern schluß auf das verlorne verbum mehr gestattet“ (Grimm 1826: 8). Bildungen wie die eingangs genannten gehören laut Grimm zu den „verbliebenen“ starken Verben, also solchen, die in einer oder mehreren germanischen Einzelsprachen belegt sind. Daneben nimmt er, wie gesagt, Produkte innerer Wortbildung zu „verlorenen“ starken Verben an, das heißt solchen, die in keiner germanischen Einzelsprache nachweisbar sind: „das folgt im allgemeinen schon aus der erfahrung, daß die früheren mundarten mehr, die späteren weniger verba stark flectieren. Gleichwie demnach in den neueren vieles fehlt, was die älteren beseßen haben, so muß in noch höher hinaufreichender zeit die starke conjugation wiederum beträchtlicher gewesen sein, als sie in allen quellen erscheint, die uns zugänglich geblieben sind. Die vermuthung ist kräftig, sobald in den verglichenen wörtern laut und ablaut nebeneinander vorliegen. Ein a und ô weisen nothwendig auf die siebente conjugation; die achte, neunte, zehnte, zwölfte lautet zweimahl ab, die eilfte sogar dreimahl, in diesen fällen scheint es hinreichend, daß neben dem laut wenigstens ein ablaut oder ohne den laut zwei ablaute nachgewiesen werden, obgleich durch

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innere Wortbildung 348

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das dasein auch der übrigen das verhältnis noch sicherer begründet steht“ (Grimm 1826: 40f.). Solche Bildungen sind Grimm zufolge etwa ahd. tal ‘Tal’ zu einem Verb *dalan, dôl ‘deprimi’ (Grimm 1826: 41), got. dôms, ahd. tuom ‘Gericht, Macht’ zu einem Verb *daman, dôm (Grimm 1826: 41) oder ahd. hano ‘Hahn’ zu *hanan, hôn ‘canere’ (Grimm 1826: 42). Neben diesen beiden Gruppen von Wörtern setzt Grimm eine dritte an, die durch „verwaiste Wurzeln“ gestellt wird: „Es bleibt aber eine wo nicht gleiche, doch bedeutende masse von wörtern zurück, die auf ihren einfachen bestandtheil geführt, d.h. aller ableitungsbuchstaben entbunden, der vergleichenden untersuchung weiter keine verhältnisse des lauts oder ablauts darzubieten scheinen. Sie nenne ich verwaiste wurzeln. Nur nach dürrer, unsicherer analogie laßen sie sich in die ablautende conjugation einstellen, während bei den unter B angeführten wörtern einstimmige verwandtschaft mehrerer glieder eines geschlechts den schluß auf den untergegangenen stamm wahrscheinlich machte“ (Grimm 1826: 64). Gemeint sind Wörter wie ahd. swan ‘Schwan’ zu *swinan, swan oder *swanan, swôn (Grimm 1826: 64), got. stáins, ahd. stein zu *steinan, stáin, stinun (Grimm 1826: 65) oder ahd. aro ‘Adler’ zu *aíran, ar, êrun, aúrans (Grimm 1826: 66). Der Begriff „innere Ableitung“ entspricht wie gesagt insofern nicht den Ansichten Grimms, als dieser den Begriff „Ableitung“ nur für eine suffixale Wortbildung verwendete. Es wäre also wissenschaftshistorisch korrekter, von „innerer Wortbildung“ zu sprechen. Das Denotatfeld des Grimmschen Begriffs überschneidet sich teilweise mit dem, was später, mit signifikanten Verschiedenheiten bei den jeweiligen Autoren, als „implizite Ableitung“ aufgefasst wurde. Den forschungsgeschichtlichen Zusammenhang stellt Solms (2004: 1683, 1693f.) dar. Eckhard Meineke → § 27; Ablaut; Grundmorphem; implizite Derivation; Wurzel 🕮 Grimm, J. [1826] Deutsche Grammatik. Zweiter Theil. Göttingen ◾ Solms, H.-J. [2004] Vom Althochdeutschen zum Neuhochdeutschen. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (17.2). Berlin [etc.]: 1680–1697.

innere Wortbildung ≡ implizite Derivation

Institutionalisierung

Stufe im Lexikalisierungsprozess, auf der eine Bildung bekannt ist, aber auch durch produktive synchrone Regeln gebildet werden kann. ▲ institutionalization: step in the process of lexicalization at which a particular formation is item-familiar but could be formed by synchronically productive rules. Die obige Erklärung stammt von Bauer (1983). Alternativ wird eine Bildung dann als institutionalisiert bezeichnet, wenn sie weithin von der betreffenden Sprechergemeinschaft akzeptiert wird. Diese Definition wurde von Lipka (1990) eingeführt, wo beide Definitionen als identisch verstanden werden. Was sie gemeinsam haben, ist, dass sie eine Stufe im Lexikalisierungsprozess zwischen der Bildung eines Wortes (durch eine Regel) und dem Zeitpunkt, an dem das Wort opak wird, benennen. Auf dieser Zwischenstufe wird das Wort weithin anerkannt. Mitunter werden die Bezeichnungen „usuell“ (engl. received) und „erstarrt“ (engl. frozen) mit ähnlicher Bedeutung verwendet. Das relativ neue englische Wort t­ echie z.B. ist inzwischen in Wörterbüchern aufgeführt und muss deshalb als von der Sprechergemeinschaft weitgehend akzeptiert angenommen werden. Es ist semantisch beschränkt in dem Sinne, dass es nicht auf jede Art von Techniker referiert: Jemand, der Waschmaschinen repariert, ist wahrscheinlich kein techie, jemand, dessen Gebiet Computer oder Mobiltelefone sind, aber schon. Im Sinne Bauers ist techie institutionalisiert. Die Basis tech kann noch aus technician rekonstruiert werden, und das Suffix -ie kann mit gleicher Bedeutung affigiert werden. Im Sinne Lipkas (1990) ist techie allerdings auf dem Weg, eine unanalysierbare Einheit zu werden und muss deshalb als idiomatisiert oder lexikalisiert angenommen werden. Laurie Bauer

→ demotivierte Bildung; Lexikalisierung; motivierte Bildung; Speicherung; usuelles Wort

⇁ institutionalization (Woform)

🕮 Bauer, L. [2001] Morphological Productivity. Cambridge [etc.] ◾ Lipka, L. [1990] An Outline of English Lexicology. Tübingen.

instrumental

Wortbildungsbedeutung von Komposita, deren Bestimmungswort semantisch die Rolle des Mittels

349 instrumental oder des Verfahrens eines durch das Grundwort explizit oder implizit bezeichneten Vorgangs oder Geschehens vertritt. ▲ instrumental: wort-formational meaning of compounds whose determinative first element represents semantically the means or manner of the process or event denoted either explicitly or implicitly by the second element. Die instrumentale Beziehung gehört zu den semantischen Grundrelationen der Wortbildung (vgl. Fleischer/Barz 2012: 141f.). Instrumentale Bildungen sind in erster Linie Komposita des Typs Substantiv + Substantiv (dt. Benzinmotor, engl. car ride ʻAutofahrtʼ) sowie Komposita mit Adjektiv oder Partizip als zweiter Konstituente (dt. kerzenheller Raum, engl. water-cooled engine ʻwassergekühlter Motorʼ). Mitunter werden auch verbale Objektinkorporationen wie dt. Rad fahren, Schlitten fahren ungeachtet ihrer Getrenntschreibung als instrumentale Wortbildungen betrachtet (zur Abgrenzung solcher Inkorporationen von parallelen syntaktischen Strukturen im Deutschen vgl. u.a. Altmann/Kemmerling 2005: 92). In der Wortbildungsparaphrase von Komposita mit instrumentaler Wortbildungsbedeutung tauchen zumeist Präpositionen wie durch, mithilfe von oder mit auf, welche die instrumentale Beziehung kennzeichnen: Bootsfahrt ʻFahrt mit dem Bootʼ, batteriebetriebenes Spielzeug ʻdurch Batterie betriebenes Spielzeugʼ, wasserstoffblonde Haare ʻmithilfe von Wasserstoff blond gefärbte Haareʼ. In der Regel vertritt – sowohl bei den adjektivischen und partizipialen als auch bei den substantivischen Komposita – das Erstglied semantisch die Rolle des Mittels bzw. Verfahrens, das von einem im Kontext häufig nicht genannten, „aber logisch notwendigen Agens bewusst, d.h. intentional, ver- bzw. angewendet wird“ (Pümpel-Mader/ Gassner-Koch/Wellmann/Ortner 1992: 237). Vereinzelt kommen auch elliptische Formen vor: dt. solarbeheiztes Schwimmbad ʻSchwimmbad, das mit Solarstrom beheizt wirdʼ. Das Zweitglied bezeichnet zumeist den intendierten Vorgang oder dessen Resultat. Bei den substantivischen Komposita finden sich daher in der Rolle des Zweitglieds überwiegend nomina actionis oder nomina acti, vgl. dt. Zeichnung in Bleistiftzeichnung,

Arbeit in Handarbeit, Tritt in Fußtritt. Partizipiale Zweitglieder gehen in der Regel auf ein transitives Verb zurück (Pümpel-Mader/Gassner-Koch/ Wellmann 1992: 241): handgestrickter Pullover < stricken; gasbeheizter Warmwasserspeicher < beheizen. Das Merkmal der Intentionalität kann nach Pümpel-Mader/Gassner-Koch/Wellmann (1992: 154) „als konstitutives Element der 'instrumental'-Bildungen angesehen werden“. Während Lakoff (1968: 8) – bezogen auf instrumentale Adverbialbestimmungen – zwischen einem „purposive instrumental sense“ (intentional, vgl. engl. I sliced the salami with a knife) und einem „accidental sense“ (nichtintentional, vgl. engl. I cut my finger with a knife) unterscheidet, erscheint diese Differenzierung für die Wortbildung damit obsolet. Instrumentale Bildungen mit partizipialem Zweitglied kommen vor allem in der Fachsprache der Technik reihenhaft vor, vgl. dt. akku-, batterie-, erdöl-, gas-, hand-, solarbetrieben; computeranimiert, -generiert, -gesteuert, -gestützt, -unterstützt; engl. air-cooled, ice cooled, water-cooled etc. In der Werbesprache begegnen zahlreiche adjektivische Bildungen mit Eigennamen als Erstglied: prilweich, melitta-frisch, niveabraun, persilweiß (vgl. Pümpel-Mader/Gassner-Koch/Wellmann 1992: 156). Die Abgrenzung von anderen semantischen Grundrelationen erweist sich bei den instrumentalen Bildungen im Deutschen oft als schwierig. In vielen Fällen ist von Mehrfachmotivation auszugehen. Überschneidungen ergeben sich beispielsweise zu den Bildungen des Typs Nähmaschine, deren Wortbildungsbedeutung in der Regel als „final“ beschrieben wird (vgl. Fleischer/Barz 2012: 162). Lohde (2006: 314) ordnet Bildungen wie Kehrschaufel ʻSchaufel, mit der man kehrtʼ, Kühlmittel ʻMittel, mit dem man kühltʼ oder Stricknadel ʻNadel, mit der man stricktʼ jedoch den instrumentalen Bildungen zu. In einigen Fällen ist auch die Abgrenzung von kausalen oder von lokal-direktionalen bzw. lokalen Bildungen schwierig, vgl. dt. regennasse Fahrbahn ʻFahrbahn, die wegen des Regens nass istʼ (kausal) bzw. ʻdurch den Regen nasse Fahrbahnʼ (instrumental); expeditionserprobter Schlafsack ʻSchlafsack, der durch eine Expedition erprobt wurdeʼ (instrumental) bzw. ʻSchlafsack der auf einer Expedition erprobt wurdeʼ (lokal) (vgl. Pümpel-Mader/

I

Instrumentalbildung 350 Gassner-Koch/Wellmann 1992: 240). Klarer zu unterscheiden von der instrumentalen Wortbildungsbedeutung ist die Wortbildungsbedeutung „nomen instrumenti“: Während instrumentale Bildungen als Modifikation zu gelten haben, entstehen nomina instrumenti (dt. Blinker < blinken; engl. boiler ʻHeizkesselʼ < to boil ʻkochen, siedenʼ) durch Transposition. Anja Seiffert ≡ instrumentativ → final (1); Inkorporation; Kompositum; lokal; nomen acti; nomen actionis; nomen instrumenti; Wortbildungsbedeutung; Wortbildungsparaphrase ⇀ Instrumental (Gram-Formen; SemPrag)

I

🕮 Altmann, H./ Kemmerling, S. [2005] Wortbildung fürs Examen. 2., überarb. Aufl. Göttingen ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Lakoff, G. [1968] Instrumental Adverbs and the Concept of Deep Structure. In: FoLg 1968/4: 4–29 ◾ Lohde, M. [2006] Wortbildung des modernen Deutschen. Tübingen ◾ Pümpel-Mader, M./ Gassner-Koch, E./ Wellmann, H./ Ortner, L. [1992] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 5. Hauptteil: Adjektivkomposita und Partizipialbildungen. Berlin.

Instrumentalbildung ≡ nomen instrumenti

instrumentativ ≡ instrumental

Instrumentativum

≡ nomen instrumenti

intensivierendes Suffix ≡ Augmentativsuffix

Interferenzsuffix

Suffix, mit dem die Eingliederung und formale Anpassung von Fremdwörtern erfolgt. ▲ interference suffix: suffix used to incorporate and formally adapt foreign words. Für das Verfahren der Wortentlehnung sind im Verlauf der Sprachgeschichte mehrere Prinzipien nachweisbar, je nachdem, ob die Übernahme unverändert erfolgt (z.B. lat. luxus > Luxus), oder mit Kürzung (z.B. lat. elementum > Element) bzw. weiterer morphologischer Integration verbunden ist. Schon im Ahd. geschieht die Entlehnung zum Teil mit Interferenzsuffixen, „die bei der Übernahme von lexikalischen Einheiten einer bestimmten

Wortart aus einer fremden Sprache in Funktion treten, und zwar so, daß diesen durch sie in vereinheitlichender Weise ein gemeinsamer Platz im System der aufnehmenden Sprache und damit ihre einheitliche Flexionsweise zugewiesen wird“ (Kolb 1980: 282). Als Interferenzsuffixe fungieren sowohl indigene als auch exogene Morpheme. Im adjektivischen Bereich gilt dies schon ahd. für das native Suffix -isc (vgl. Decke 1993), das in zahlreichen Hybridbildungen nachweisbar ist, durch die lateinische Ausgangswörter mittels Suffixersatz und formaler Anpassung in das deutsche Sprachsystem übernommen wurden (z.B. lat. canin-us > ahd. kanin-isc ‘hündisch’, lat. sappir-in-us > ahd. saffirin-isc ‘saphirfarben’). Beispiele für solche Fälle, bei denen „im Augenblick der Wortbildung zugleich eine erstmalige Entlehnung von Wortmaterial erfolgt“ (Betz 1965: 23), finden sich auch im verbalen Bereich häufiger: im Althochdeutschen mit dem nativen Suffix -ôn (z.B. lat. temperare > ahd. temp(e)rôn ‘mischen’), seit dem Mittelhochdeutschen mit dem Fremdsuffix -ier, mit dem ebenfalls lateinische Verben in das deutsche Flexionsparadigma eingegliedert werden (z.B. lat. laxare > frnhd. laxieren ‘erleichtern, abführen’; lat. congelare > frühnhd. congelieren ‘gefrieren’; vgl. Habermann 1996: 26ff.). Solange solche Lexeme innerhalb der Nehmersprache morphologisch unmotiviert sind, können sie auch nicht als Fremdwortbildungen klassifiziert werden. So ist das Substantiv Stupidität im 17. Jahrhundert relatinisierend aus frz. stupidité entlehnt, ist aber erst nach Entlehnung des Adjektivs stupid innerhalb des Deutschen morphologisch als deadjektivische -ität-Bildung motivierbar, auch wenn es sich nicht um eine deutsche Fremdwortbildung handelt. Peter O. Müller

→ § 34; Fremdsuffix; Fremdwortbildung; Hybridbildung; Motivation

🕮 Betz, W. [1965] Deutsch und Lateinisch. Die Lehnbildungen der althochdeutschen Benediktinerregel. 2. Auflage. Bonn. ◾ Decke, A. [1965] Wortbildung im Dienst der Integration fremdsprachlicher Morpheme (am Beispiel der Adjektive auf -isc im Althochdeutschen). In: Wellmann, H. [Hg.] Synchrone und diachrone Aspekte der Wortbildung im Deutschen. Heidelberg: 105–112. ◾ Habermann, M. [1996] Latinismen in deutschen Fachtexten der frühen Neuzeit. In: Munske, H.H./ Kirkness, A. [Hg.] Eurolatein. Das griechische und lateinische Erbe in den europäischen Sprachen. Tübingen: 12–46. ◾ Kolb, H. [1980]

351

isolierende Morphologie

Über verbale Interferenzsuffixe. In: Bork, H.D./ Greive, A./ Woll, D. [Hg.] Romanica Europaea et Americana. Festschrift für Harri Meier. 8. Januar 1980. Bonn: 282–292..

Interfigierung

Einfügung von Fugenelementen. ▲ interfixation: insertion of linking morphemes. Mit Interfigierung nehmen Fleischer/Barz (1995: 148, 190f.) Bezug auf den Terminus Interfix, der dort anstelle von Fugenelement für „phonetische Einschübe ohne Zeichencharakter“ (Fleischer/ Barz 1995: 32) verwendet ist und sowohl Kompositionsfugen (z.B. Arbeit-s-anzug, Lieg-e-stuhl) als auch Derivationsfugen (z.B. will-ent-lich, afrika-nisch) umfasst.

→ Derivation; Fugenelement; Komposition

Peter O. Müller

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen.

Interfix

≡ Fugenelement

Interpretation, kontextfreie → kontextfreie Interpretation

inverse Ableitung ≡ Rückbildung

inverse Derivation ≡ Rückbildung

Inversionskompositum

Kompositum mit einer determinierten vor einer determinierenden Konstituente. ▲ inverted compound: compound with the order of determined constituent before determining constituent. Inversionskomposita unterscheiden sich von normalen Determinativkomposita durch die Reihenfolge ihrer Konstituenten: in inversen Komposita folgt die modifizierende Konstituente der modifizierten Konstituente. Davon gibt es verschiedene Typen. Henzen (1965: 19) nennt frühe Beispiele, bei denen die inverse Reihenfolge zusätzlich zu einer determinativen Form erscheint, vgl. Kirkpatrick von Patrickskirchen und Karlbruder von Bruder Karl. Zu den inversen Possessivkomposita (oder Bahuvrīhis) gehört Nashorn, das als ein

normales Determinativkompositum als ‘(hat) ein Horn mit einer Nase’ interpretiert werden würde, dessen tatsächliche Bedeutung aber ‘(hat) eine Nase mit einem Horn’ ist, vgl. Henzen (1965: 82). Das altengl. mōdglæd erscheint zusammen mit glædmōd ‘fröhlich’; ein Beispiel aus dem Altnordischen wäre beinstörr ‘starke Knochen’ und eins aus dem Ahd. hantstarch ‘starke Hände’. Inverse Satznamen oder Zusammenrückungen enthalten engl. hornblow und dt. Nichtweiß und Michdorst ‘thirst I’, vgl. Henzen (1965: 84). Simmlers (1998: 379) Beispiele beziehen sich hauptsächlich auf Eigennamen wie Berlin-Schöneberg, aber auch auf Bildungen wie Whiskysoda und Jahrhundert. Ortner/Ortner (1984: 61) schließen Radio-Ausland und AutobahnauffahrtSüd mit ein. Laut Marchand (1969: 81) haben die englischen Inversionskomposita über die juristische Terminologie des Französischen Eingang in die Sprache gefunden, vgl. consul general ‘Generalkonsul’, heir apparent ‘Thronanwärter’, obwohl knight errant ‘fahrender Ritter’ eine Ausnahme darstellt. Susan Olsen

→ § 22; Determinativkompositum; Kompositum; Possessivkompositum; Zusammenrückung

🕮 Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Ortner, H./ Ortner, L. [1984] Zur Theorie und Praxis der Kompositaforschung. Tübingen ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin.

isolierende Morphologie

Sprachtyp, bei dem die Wörter der Sprachen keine Morphologie aufweisen. ▲ isolating morphology: language type in which the words of the language are without morphology. Bei der isolierenden Morphologie ist eine theoretische Grenze der Morphologie erreicht. Isolierende Sprachen gelten als Sprachen ohne Morphologie, denn sie verwenden keine nichtselbständigen Morpheme. Besser ist es, den Begriff „isolierende Morphologie“ als Übergangsbegriff zu verstehen: So ist das heutige Engl. auf dem Weg zu einer isolierenden Sprache, wohinter sich ein Abbau der Morphologie verbirgt. Der Abbau von Morphologie ist zwar häufig, aber nicht immer mit dem Verschwinden der Elemente gleichzusetzen. So

I

isolierte Bildung 352

I

gibt es im Engl. ein Phänomen, in dem ein morphologischer Marker zu einem syntaktischen wird, also von einer Wortflexion zu einer Gruppenflexion (the King’s head – the King of England’s head). Der Begriff der „isolierenden“ Morphologie wird typischerweise für die Flexionsmorphologie benutzt, isolierende Sprachen haben dann keine Flexionsmorphologie im eigentlichen Sinn. Die entsprechenden grammatischen Bedeutungen werden typischerweise durch Funktionswörter oder durch die Wortstellung angezeigt. Die Einschränkung hat aber auch damit zu tun, dass die Flexionskategorien im Allgemeinen klarer sind, so ist zum Beispiel zu fragen, wie eine Sprache denn Plural kennzeichnet, wenn nicht durch Affixe. Entsprechend ist das auf die Wortbildung zu übertragen: 1. Isolierende Sprachen haben auch keine Derivationsaffixe. 2. Interessant ist aber die Frage nach der Komposition. Im Idealfall operiert die isolierende Morphologie nur mit Morphemen, die auch Wörter sind und jedes Wort besteht aus nur einem Morphem, folglich also auch ohne Komposita. Allerdings ist hier mit klaren Übergangsphänomenen zu rechnen zwischen Syntax und Morphologie. Flexionsmorphologisch ist das Engl. auf dem Weg zu einer isolierenden Sprache, derivationsmorphologisch nicht. Als typische isolierende Sprache gilt z.B. das klassische Chinesisch oder das Vietnamesische. Isolierende Morphologie wird häufig als analytisch beschrieben, die anderen Typen von Morphologie (agglutinierend, fusionierend/flektierend, polysynthetisch) sind dann synthetisch. Die ursprüngliche Sprachenunterscheidung kommt von Wilhelm von Humboldt und steht in einer Reihe mit den fusionierenden, agglutinierenden, inkorporierenden und polysynthetischen Sprachen, Sapir (1972) spricht eher von „isolierenden Prozessen“. Nanna Fuhrhop

→ agglutinierende Morphologie; Derivationsmorphem;

fusionierende Morphologie; Komposition; polysynthetische Morphologie; Wortbildungstypologie

🕮 Aronoff, M./ Fudeman, K. [2011] What is Morphology? 2nd ed. London [etc.] ◾ Bickford, J.A. [1998] Morphology and Syntax. Tools for Analyzing the World's Languages. Dallas ◾ Comrie, B. [1981] Language Universals and Linguistic Typology. Chicago ◾ Haspelmath, M./ Sims, A.D. [2010] Understanding Morphology. London [etc.] ◾ Lyons, J. [1995] Einführung in die

moderne Linguistik. 8. Aufl. München ◾ Sapir, E. [1972] Die Sprache. Eine Einführung in das Wesen der Sprache. 2. Aufl. München ◾ von Humboldt, W. [1836] Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. Berlin.

isolierte Bildung

≡ demotivierte Bildung

isoliertes Partizip

Partizip, das nur als Adjektiv gebraucht wird und keinen synchronen Zusammenhang zum Verb zeigt. ▲ isolated participle: participle which is only used as an adjective and shows no connection to its verb.

Der Verlust des Zusammenhangs eines Wortes mit seinen Bildungselementen wird als Isolierung bezeichnet. Im Dt. gibt es heute zahlreiche lexikalisierte und idiomatisierte Adjektive, die formal noch als Partizip zu erkennen sind, aber nicht mehr in einer transformationellen Beziehung zum Verb stehen, vgl. bedeutend ‘beachtlich, wichtig’ (zu bedeuten ‘auf etwas hindeuten, meinen’), reizend ‘anmutig, lieblich’ (zu reizen ‘provozieren, angreifen, herausfordern’), begabt (zu begaben, mhd. begāben ‘mit Gaben, Fähigkeiten ausstatten’), bekannt (zu mhd. bekennen ‘kennen’), bewusst (zu frnhd. bewissen ‘sich zurechtfinden’), verschmitzt (zu frnhd. verschmitzen ‘mit Ruten schlagen, beleidigen’), vertrackt (zu mhd. vertrecken ‘verziehen, verwirren’). Hierher gehören auch präfigierte Formen wie unentwegt (mhd. entwegen, Part. II entwegt ‘unruhig’), unverfroren (zu mnd. vorvēren ‘erschrecken’). Nicht als isolierte Partizipien gelten dagegen adjektivische Derivate mit substantivischer Basis oder Rückbildungen (Sekundärableitungen), die zwar nach der partizipialen Struktur aufgebaut sind, aber weder unter synchronen noch unter diachronen Gesichtspunkten als Partizip einem Verbalparadigma zugeordnet werden können, vgl. allgemeinbildend, benachbart, gastgebend, genarbt, gerippt. Gleichwohl dürften Bildungen wie genarbt oder gerippt nach dem Muster isolierter Partizipien, etwa geblümt (zu mhd. blüemen ‘mit Blumen schmücken’) oder gestreift (zu mhd. strīfen ‘mit Streifen versehen’), entstanden sein. Anja Seiffert

→ Demotivation; Idiomatisierung; Rückbildung; Verbaladjektiv

🕮 Bresson, D./ Dalmas, M. [Hg. 1994] Partizip und Partizipialgruppen im Deutschen. Tübingen ◾ Lenz, B. [1993] Probleme

353 Item-and-Process-Modell der Kategorisierung deutscher Partizipien. In: ZS 12: 39–76 ◾ Pümpel-Mader, M./ Gassner-Koch, E./ Wellmann, H. [1992] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 5. Hauptteil: Adjektivkomposita und Partizipialbildungen. Berlin ◾ Riecke, J. [1999] Pseudopartizipien im Althochdeutschen. Ein Beitrag zur Geschichte eines Wortbildungstyps. In: Sprw 24: 157–193.

Item-and-Arrangement-Modell

morphologische Theorien, die Morpheme nicht als Prozesse oder Operationen verstehen, sondern als grammatische Formen, die gemäß linearer Abfolge und hierarchischer Struktur angeordnet werden. ▲ item and arrangement model: framework of morphology that conceives of morphemes not as processes or operations, but rather as grammatical forms which are arranged into words according to linear order and hierarchical structure. Hockett (1954) beschreibt „Item-and-Arrangement“-Modelle der Wortbildung als solche Modelle, in denen Morpheme als „Dinge“ verstanden werden, die in bedeutungstragenden Mustern angeordnet werden können. Demnach erfahren Affixe in solchen Theorien die gleiche Behandlung wie Wurzeln und Stämme – anders als in „Itemand-Process“-Modellen, in denen ausschließlich Wurzeln als „Dinge“ gelten und jede weitere Morphologie durch Operationen, bzw. in modernerer Terminologie durch Regeln, geleistet wird. Laut Hockett (1954: 213) wird bei Strukturalisten wie Harris (1942), Bloch (1947) und Nida (1948) die morphologische Analyse häufig nach den Bedingungen der „Item-and-Arrangement“-Modelle formuliert. Von Beginn an wurden immer wieder Probleme mit den „Item-and-Arrangement“-Modellen der Morphologie angeführt: Unterschiedliche Typen von nicht-konkatenativer Morphologie wie Ablaut, Reduplikation, subtraktive Morphologie und „Root-and-Pattern-Morphology“ sind mit den Mitteln der „Item-and-Arrangement“Modelle schwerer zu erfassen als Affigierung. So weist Hockett z.B. darauf hin, dass irreguläre Past-Tense-Formen wie took von take in „Itemand-Arrangement“-Modellen eine gesonderte Behandlung erzwingen. In der Tat schlägt Nida (1948) replazive Morpheme zur Lösung dieses Problems vor: Die Past-Tense-Form von take wird durch das replazive Morphem e→ʊ repräsentiert. Das „Item-and-Arrangement“-Modell hat sich als durchgehend einflussreich für die generative

Morphologie erwiesen. Die Arbeiten von Lieber (1981, 1992), Selkirk (1982) und Williams (1981) nutzen Phrasenstrukturregeln zur Erzeugung von komplexen Wörtern aus gelisteten Morphemen und sind darin klar mit dem „Item-and-Arrangement“-Modell verwandt. Das Aufkommen der autosegmentalen und prosodischen Morphologie (McCarthy 1979) hat die Formulierung eines „Item-and-Arrangement“-Modells ermöglicht, das die Erfassung von Prozessen wie Reduplikation und „Root-and-Pattern“-Morphologie einschließt. Allerdings nehmen Theoretiker wie Anderson (1992) und Stump (2001) weiterhin an, dass „Itemand-Arrangement“-Modelle nicht in der Lage sind, das Phänomen der erweiterten Exponenz in Flexionssystemen zu erfassen. Rochelle Lieber

→ Ablaut; generative Morphologie; Item-and-Process-Modell; nicht-konkatenative Morphologie; prosodische Morphologie; Reduplikation; replacive morphology; Root-and-Pattern-Morphologie; subtraktive Morphologie; Wort-undParadigma-Modell; Wurzel ⇁ item and arrangement model (Woform)

🕮 Anderson, S.R. [1992] A-morphous Morphology. Cambridge [etc.] ◾ Bloch, B. [1947] English verb inflection. In: Lg 23: 399– 418 ◾ Harris, Z.S. [1942] Morpheme Alternants in Linguistic Analysis. In: Lg 18: 169–180 ◾ Hockett, C.F. [1954] Two Models of Grammatical Description. In: Word 10: 210–234 ◾ Lieber, R. [1981] The Organization of the Lexicon. Bloomington, IN ◾ Lieber, R. [1982] Allomorphy. In: LingAn 10: 27–52 ◾ McCarthy, J.J. [1985] Formal Problems in Semitic Phonology and Morphology. New York, NY ◾ Nida, E. [1948] The identification of morphemes. In: Lg 24: 414–441 ◾ Selkirk, E. [1982] The Syntax of Words. Cambridge, MA [etc.] ◾ Stump, G.T. [2001] Inflectional Morphology. A theory of paradigm structure. Cambridge ◾ Williams, E. [1981] On the Notions „Lexically Related“ and „Head of a Word“. In: LingInqu 12: 245–274.

Item-and-Process-Modell

morphologische Theorien, die aus einem Lexikon von Wurzeln sowie einer Menge von Operationen oder Prozessen bestehen, die ihrerseits Affigierung, Reduplikation, Ablaut und andere Arten von Wortbildung leisten. ▲ item and process model: framework of morphology that consists of a lexicon of roots together with a set of operations or processes that accomplish affixation, reduplication, ablaut, and other means of forming words. Von Hockett (1954) als eine Alternative zu vorherrschenden „Item-and-Arrangement“-Modellen vorgeschlagen, nehmen „Item-and-Process“-

I

Iteration 354

I

Modelle eine Liste von Wurzeln und eine Menge von Prozessen an, die ihrerseits Segmente hinzufügen können (und so unterschiedliche Formen von Affigierung ermöglichen), Segmente tilgen können (und so subtraktive Morphologie darstellen) oder interne Segmente verändern können (und so zum Ablaut oder zu Konsonantenmutation führen). Hockett setzt diese Prozesse mit mathematischen Operationen gleich. Innerhalb der generativen Morphologie kann Aronoffs (1976) Wortbildungstheorie insofern als ein Item-and-Process-Modell gelten, als Affixe durch Regeln wie die in (1) eingeführt werden und subtraktive Morphologie durch Regeln wie die in (2) bewirkt wird: (1) Rule of negative un# [X]Adj → [un#[X]Adj]Adj semantics (roughly) un#X = not X (2) Adverb + er Truncation Co V Co + ly + erAdv 1

2 3→

1

Ø 3

In einem Item-und-Process-Modell gibt es keine prinzipielle Unterscheidung zwischen der Regel in (1), die Segmente hinzufügt, und der Regel in (2), die Segmente subtrahiert. Rochelle Lieber

→ Ablaut; Affix; Item-and-Arrangement-Modell; Redupli-

kation; replacive morphology; subtraktive Morphologie; Trunkierung; Wurzel ⇁ item and process model (Woform)

🕮 Aronoff, M. [1976] Word Formation in Generative Grammar. Cambridge, MA [etc.] ◾ Hockett, C.F. [1954] Two Models of Grammatical Description. In: Word 10: 210–234.

Iteration

Verdopplung eines ganzen Wortes als Spezialfall der Reduplikation. ▲ iteration: duplication of a whole word as a special type of reduplication. Der auf lat. iterativus ‘wiederholend’ bzw. iteratio ‘Wiederholung’ zurückgehende Begriff, für den auch der Terminus „Wortverdopplung“ verwendet wird, bezeichnet einen speziellen Fall der Reduplikation, und zwar denjenigen, bei dem die Verdopplung eines ganzen Wortes vorgenommen

wird und dann als Lexikalisierung fest werden kann. Als Funktion dieses Verfahrens wird der Ausdruck größeren Nachdrucks genannt, etwa in neinnein, bittebitte, tagtäglich. Der Begriff wird auch auf onomatopoetische Wörter wie Kuckuck, Wauwau oder „ablautende“ Bildungen wie Bimbam, Singsang, Ticktack, Zickzack bezogen, ferner auf kindersprachliche Wörter wie auau, eiei, hamham, Pipi oder Wehweh. Die Auffassung, dass die Iteration zum Ausdruck des mehrfachen Vorhandenseins des bezeichneten Gegenstands herangezogen werde, so in lat. quidquid ‘was auch immer’ oder quisquis ‘wer auch immer’, ist nicht zutreffend; lat. quidquid und quisquis bezeichnen etwas/jemand Einzelnes/ Einzelnen, aber Unbestimmtes/Unbestimmten, das/der aus einer Menge möglicher Dinge/Menschen kommen kann. Frz. froufrou bezieht sich einerseits auf ein wenig qualitätvolles Kleidungsstück (‘Fummel’), auf der anderen Seite auf ein raschelndes Geräusch (‘Rauschen, Knistern, Rascheln’), wie das von Seide, so dass hier am ehesten an den Ausdruck der Iteration zu denken ist. Frz. bonbon und dt. Bonbon meinen ein einzelnes Bonbon; die Motivation des Ausdrucks stammt aus dem Bereich expressiver Gefühlsäußerung. In manchen Sprachen ist die Iteration zum Ausdruck des Plurals grammatikalisiert. Eckhard Meineke

→ § 26; Ablautkombination; Lexikalisierung; Onomatopoiie; Reduplikation

⇀ Iteration (Lexik; Sprachphil; Textling)

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [1997] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Schindler, W. [1991] Reduplizierende Wortbildung im Deutschen. In: ZPSK 44: 597–613 ◾ Schwaiger, T. [2015] Reduplication. In: Müller, P./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 467–484 ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin ◾ Ulrich, W. [2002] Wörterbuch Linguistische Grundbegriffe. 5., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.].

iterativ

Aktionsart von Verben, die einen hinsichtlich Beginn und Abschluss nicht spezifizierten Vorgang bedeuten, der auf ständigen oder regelmäßigen Wiederholungen des Geschehens beruht. ▲ iterative: aktionsart of verbs referring to a process which is not specified with respect to its beginning or end, consisting in permanent or periodical repetitions of that process.

355 iterativ Das Verb erblühen bedeutet im Unterschied zu unspezifischem blühen den Beginn des Vorgangs des Blühens, das Verb verblühen das Ende des Vorgangs. Der zeitliche Verlauf des Prozesses wird also verschieden versprachlicht. Die drei Verben haben verschiedene Aktionsarten: ingressiv (erblühen), durativ (blühen) und egressiv (verblühen). Durative Verben bedeuten die Vorgänge als solche, die hinsichtlich ihres Zeitablaufs unspezifiziert sind. Der Prozess wird als ein zeitlich nicht begrenzter dargestellt, der keinen Anfangspunkt und keinen Endpunkt hat (Tschirner 1991: 63). Durative Verben in diesem Sinne sind einerseits etwa wohnen und besitzen, andererseits etwa arbeiten oder lachen. Wohnen und besitzen sind in dem Sinne statisch, dass sie einen Zustand bedeuten. Arbeiten und lachen sind in dem Sinne dynamisch, dass sie einen Vorgang, den Ablauf

einer Tätigkeit oder eines Ereignisses bedeuten (Tschirner 1991: 64f.). Als Unterkategorie der dynamischen durativen Aktionsart lässt sich die iterative Aktionsart auffassen. Sie beinhaltet, dass sich etwas wiederholt, mehrmals (regelmäßig, gewöhnlich) geschieht, zum Beispiel bei sticheln ‘öfter stechen’. Allerdings ist sticheln zugleich auch mit dem Moment des Diminutiven verbunden, ebenso wie bei tröpfeln. Im Nhd. werden Iterativa typischerweise mit dem Suffix -l erzeugt.

→ Aktionsart; durativ; ingressiv ⇀ iterativ (SemPrag) ⇁ iterative (Phon-Engl)

Eckhard Meineke

🕮 Nicolay, N. [2007] Aktionsarten im Deutschen. Prozessualität und Stativität. Tübingen ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin ◾ Tschirner, E. [1991] Aktionalitätsklassen im Neuhochdeutschen. New York [etc.].

I

J jugendsprachliche Wortbildung

in der jugendsprachlichen Varietät geprägte Wortbildungen. ▲ youth language word-formation: word-formation characteristic of youth varieties. Jugendsprachliche Wortbildungen gehören zu den „Ausdrucksformen jugendlicher Lebensstile“ und haben die besondere „Funktion sozialer Distinktion, d.h. der Abgrenzung gegenüber der Außenwelt Erwachsener und der Identifikation in den Innenräumen jugendlicher Lebenswelten“ (Neuland 2007: 140). Wie Wörterbücher zur Jugendsprache (z.B. Pons 2008) belegen, ist die Herausbildung einer besonderen Sprechweise bei Jugendlichen ein internationales Phänomen. Nach Henne (1986: 155, 177) ist die Wortbildung das wichtigste Mittel zum Ausbau des Jugendwortschatzes. Zimmermann (2007: 180) betont, dass „die meisten Verfahren selbst nicht spezifisch jugendsprachlich sind, sondern dass es sich um Verfahren handelt, die in den jeweiligen Sprachen angelegt sind, seit alters her in Gebrauch und oftmals übereinzelsprachlich, wenn nicht universal sind. Jugendsprachlich spezifisch ist allein ihr Gebrauch und die Anwendung auf spezielle Lexeme und damit ist das Ergebnis der Anwendung des Verfahrens jugendsprachlich“. In synoptischer Darstellung werden die formalen und semantischen Verfahren der span., frz., port. und dt. Jugendsprache unter konfrontativem Aspekt gezeigt (Zimmermann 2007: 176ff.). Danach sind z.B. Suffigierungen (span. bocata, frz. fideliser, dt. hypermäßig, Schlaffi), Präfigierungen (span. amachinar ‘den Willen aufzwingen’, frz. hypergénial, dt. anmotzen), Kompositionen (span. cara-crater ‘Person mit vielen Pickeln’, dt. affengeil), Kürzungen (span. manifa < manifestación,

frz. ado < adolescents ‘Jugendliche’, dt. logo), Reduplikationen (frz. fanfan < enfant, leurleur < contrôleur) und Konversionen (span. la última, frz. il est canon, dt. null Bock) in allen verglichenen Sprachen produktiv. Viele Muster und Verfahren sind seit Langem für Nonstandard-Varietäten in den jeweiligen Einzelsprachen charakteristisch und werden in heutigen Jugendsprachen produktiv gehalten. So tritt das Verbpräfix ab- in seiner nicht-standardsprachlichen intensivierenden Bildungsbedeutung häufig an umgangs- und jugendsprachliche Verben, vgl. ablinken, abraffen, abschnallen, ablabern, abkiffen. Waren in der histor. Studentensprache Pseudo-Latinismen auf -us zu finden (Freundus), so finden sich heute Pseudo-Romanismen auf -o (geilo) oder Pseudo-Slawismen (tschüssikowski) (Androutsopoulos 1998: 12, 18f.). Solche Verfremdungstechniken, die dem Wort einen Anstrich von Andersartigkeit geben sollen, sind im Frz. die Suffigierung mit dem in dieser Sprache ungewöhnlichen -os oder im Span. die Suffigierungen mit -eta, -ota, -ata (Zimmermann 2007: 172). Auch aus verschiedenen kulturellen und medialen Bereichen werden sprachliche Elemente herausgelöst und mittels Stilbastelei („Bricolage“) in einen neuen sprachlichen und jugendkulturellen Kontext überführt (Neuland 2007: 140). Hannelore Poethe

→ Komposition; Konversion; Präfix; Reduplikation; Suffix; Wortkürzung

🕮 Androutsopoulos, J. [1998] Forschungsperspektiven auf Jugendsprache. Ein integrativer Überblick. In: Androutsopoulos, J./ Scholz, A. [Hg.] Jugendsprache – langue des jeunes – youth language. Linguistische und soziolinguistische Perspektiven. Frankfurt/Main [etc.]: 1–34 ◾ Henne, H. [1986] Jugend und ihre Sprache. Darstellung, Materialien, Kritik. Berlin [etc.] ◾ Neuland, E. [2007] Subkulturelle Sprachstile Jugendlicher heute. Tendenzen der Substandardisierung in der deutschen Gegen-

Juxtaposition 358 wartssprache. In: Neuland, E. [Hg.] Jugendsprache – Jugendliteratur – Jugendkultur. Interdisziplinäre Beiträge zu sprachkulturellen Ausdrucksformen Jugendlicher. Frankfurt/Main [etc.]: 131–148 ◾ Pons [2008] Wörterbuch der Jugendsprache. Mit Einträgen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz. Deutsch – Englisch/Französisch/Spanisch. Von Schülerinnen und Schülern aus ganz Deutschland, Österreich und der Schweiz. Stuttgart ◾ Zimmermann, K. [2007] Kontrastive Analyse der spanischen, französischen, portugiesischen und deutschen Jugendsprache. In: Neuland, E. [Hg.] Jugendsprache – Jugendliteratur – Jugendkultur. Interdisziplinäre Beiträge zu sprachkulturellen Ausdrucksformen Jugendlicher. Frankfurt/Main [etc.]: 169–182.

Juxtaposition

Univerbierung syntaktischer Konstruktionen. ▲ juxtaposition: univerbation of syntactic constructions.

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Der Terminus „Juxtaposition“ (lat. iūxtā ‘dicht daneben’, pōnere ‘legen’) hat sowohl eine syntaktische als auch eine morphologische Dimension und wird nicht einheitlich verwendet. In der historisch ausgerichteten traditionellen Wortbildungslehre bezeichnet er sog. uneigentliche („unechte“) Kasuskomposita („Zusammenrückungen“), also Komposita „mit einer morphotaktischen Kasusform“ im Vorderglied (Lindner 2018: 20), vgl. ahd. pfaffen-wīb, ōheimes-sun, hanen-zunga (Pflanzenname); ae. oxan-hyrde ‘Rinderhirte’, nunnan-mynster ‘Nonnenkloster’ (Beispiele bei Krahe/Meid 1967: 18). Infolge der späteren Reanalyse solcher Kompositionsflexive als Fugenelemente (z.B. frnhd. der ohr-en schmaus > der ohren-schmaus > der Ohr-en-schmaus; vgl. Kopf 2018) entstand ein neuer Typ verfugter Komposita, die nicht mehr aus Univerbierung resultieren, sondern ein produktives Wortbildungsmuster darstellen, so dass dafür die Bezeichnung als „Juxtaposition“ ungeeignet ist.

In linguistischen Wörterbüchern ist diese Bezeichnungstradition allerdings nicht kenntlich gemacht und es werden stattdessen andere Fälle von Univerbierung damit verbunden, nämlich die „Aneinanderreihung der Bestandteile eines Syntagmas zur Bildung eines komplexen Wortes, vgl. dt. Nimmersatt, Tunichtgut, Störenfried, Rührmichnichtan, engl. good-for-nothing, ne‘erdowell“ (Buẞmann 2008: 318) bzw. die „Komposition unflektierter Wortstämme durch Zusammenrückung der Wörter in einer syntakt. Fügung, z.B. Dreikäsehoch, frz. aujourd’hui >heute< < au jour d’hui >an dem Tage von heute Bauverlauf). Ist nur eine Konstituente wortfähig, handelt es sich um ein Derivat (lehr[en]- + -er > Lehrer). Zu Grenzen der Konstituentenanalyse in der deutschen Wortbildung, vgl. Fleischer (1968: 41ff.). Irmhild Barz

→ § 5; binäre Verzweigung; hierarchische Struktur; komplexes

Wort; Konstituente; Konstituentenstruktur; Kopf; Kopulativkompositum; unmittelbare Konstituente; Wortbildungsparaphrase ⇀ Konstituentenanalyse (Gram-Syntax)

⇁ constituent analysis (TheoMethods)

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Fleischer, W. [1968] Unmittelbare Konstituenten in der deutschen Wortbildung. In: Růžička, R. [Hg.] Probleme der strukturellen Grammatik und Semantik. Leipzig: 35–53 ◾ Müller, P.O. [Hg. 2005] Fremdwortbildung. Theorie und Praxis in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt/Main [etc.] ◾ Schippan, T. [2002] Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache. 2., unveränd. Aufl. Tübingen.

Konstituentenstruktur

hierarchischer Aufbau komplexer Wortbildungen. ▲ constituent structure: hierarchical make-up of complex word-formations. Der Terminus bezeichnet in der Wortbildungsmorphologie die binäre Gliederung komplexer Wortbildungen. Auf der ersten Segmentierungsebene lassen sich grundsätzlich zwei unmittelbare Konstituenten ermitteln, aus denen ein komplexes Wort am wahrscheinlichsten gebildet ist. Welche Segmente des Wortes als unmittelbare Konstituenten anzusehen sind, erschließt sich aus dessen morphologischer Transparenz und semantischer Motivation und wird durch die Konstituentenanalyse abgebildet. Komplexe Wortbildungen, die durch Konversion oder Rückbildung entstanden sind (Bezug, bergsteigen), weisen keine Konstituentenstruktur auf. Nach der Wortfähigkeit der unmittelbaren Konstituenten werden die Wortbildungsarten Komposition und Derivation unterschieden. Sind beide Konstituenten wortfähig (auch: frei, selbstständig, syntaktisch mobil), liegt ein Kompositum vor; ist eine der beiden ein Affix, handelt es sich im ein Derivat. Die Konstituentenstruktur einer Wortbildung kann als Strukturbaum oder durch Klammerung dargestellt werden, vgl. Beispiele (1) und (2). (1) Holzblasinstrument Blasinstrument

Holz

blas(en)

Instrument

(2) [Holz + [blas + Instrument]] Die Darstellung veranschaulicht das Verhältnis der Über- bzw. Unterordnung zwischen den

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Konstruktionsbedeutung 394 Konstituenten. Das Zweitglied ist der Kopf der Konstruktion, es bestimmt ihre Grammatik und ihre Bedeutung. Insofern kann die Reihenfolge der Konstituenten nicht verändert werden, nur bei Koordination wie in Dichterkomponist. Die unmittelbaren Konstituenten können, wie am Beispiel zu sehen, einfach oder komplex sein. Komplexe bestehen meist aus zwei bis drei einfachen oder derivierten Stämmen. Ist das Erstglied des Kompositums komplex, liegt Linksverzweigung vor (Schreibtisch|lampe). Bei Rechtsverzweigung ist das Zweitglied komplexer als das Erstglied (Teppich|fachgeschäft). Beidseitig verzweigte Kom­ po­ si­ ta kommen seltener vor (Edel­stahl|­wasser­ kocher). Solche hochkomplexen Komposita sind relativ schwer zu verstehen, deshalb bleiben sie im Allgemeinwortschatz eher ok­ka­sio­nell.

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Irmhild Barz

→ binäre Verzweigung; Derivation; komplexes Wort; Kompo-

situm; Konstituente; Konstituentenanalyse; Konversion; Kopf; Linksverzweigung; Rechtsverzweigung; Rückbildung; unmittelbare Konstituente ⇀ Konstituentenstruktur (Gram-Syntax)

🕮 Donalies, E. [2005] Die Wortbildung des Deutschen. Ein Überblick. 2., überarb. Aufl. Tübingen ◾ Fleischer, W./ Barz, I.[ 2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Fleischer, W. [1968] Unmittelbare Konstituenten in der deutschen Wortbildung. In:Růžička, R. [Hg.] Probleme der strukturellen Grammatik und Semantik. Leipzig: 35–53 ◾ Müller, P.O. [Hg. 2005] Fremdwortbildung. Theorie und Praxis in Geschichte und Gegenwart. Frankfurt/ Main [etc.] ◾ Ortner, L./ Müller-Bollhagen, E./ Ortner, H./ Wellmann, H./ Pümpel-Mader, M./ Gärtner, H. [1991] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 4. Hauptteil: Substantivkomposita. Berlin [etc.].

Konstruktionsbedeutung ≡ Motivationsbedeutung

Konstruktionsmorphologie

Theorie über die morphologische Struktur von Wörtern, wobei komplexe Wörter und morphologische Muster als Konstruktionen, d.h. systematische Korrespondenzen zwischen Form und Bedeutung dargestellt werden. ▲ construction morphology: theory of the morphological structure of words in which complex words and recurrent morphological patterns are seen as constructions, that is, systematic pairings of form and meaning. Konstruktionsmorphologie ist eine Theorie über

die Struktur von Wörtern, für die der aus der „Konstruktionsgrammatik“ (Goldberg 2006) übernommene und von Booij (2010) weiterentwickelte Begriff der „Konstruktion“ von zentraler Bedeutung ist (vgl. Masini/Audring 2019). Eine (syntaktische bzw. morphologische) Konstruktion ist eine Verbindung aus Form und Bedeutung. Das deutsche Kompositum Wortstruktur hat z.B. die Form eines rechtsköpfigen Nominalkompositums mit der Struktur [N N]N und die Bedeutung ‘Struktur von Wörtern’. Dieses lexikalisierte Wort ist eine Instantiierung der deutschen Konstruktion von Nomen+Nomen-Komposita, d.h. komplexen Wörtern, bei denen das linke Element das durch das rechte Element Bezeichnete näher charakterisiert. Die abstrakte Bedeutung dieser [N N]N‑​Konstruktion kann angegeben werden als ‘N2, das in einer bestimmten Relation zu N1 steht’. Dies ist eine Konstruktion, die in der kompositionsfreudigen deutschen Sprache sehr produktiv ist und mit hoher Frequenz zur Bildung neuer Komposita genutzt wird. Die Grundidee von Konstruktionsmorphologie ist, dass das Wissen um abstrakte Konstruktionen von Wortstrukturen auf der Aneignung und Speicherung einzelner komplexer Wörter basiert. Wenn z.B. Sprecher des Deutschen über den Gebrauch Wissen über N+N-Komposita erworben haben, sind sie in der Lage, daraus eine abstrakte Konstruktion der oben genannten Art zu erschließen. Dies impliziert, dass Morphologie wortbasiert ist: abstrakte morphologische Konstruktionen, d.h. morphologische Schemata, entstehen mit zunehmendem Wissen über komplexe Wörter. Die deutsche Konstruktion für N+N-Komposita kann durch das folgende konstruktionelle Schema dargestellt werden: (1) [Ni Nj]Nk ↔ [SEMj mit Relation R zu SEMi]SEMk Der Doppelpfeil steht für den wechselseitigen Bezug zwischen Form und Bedeutung. In diesem Schema wird angegeben, wie die Bedeutungen (SEM, für ‘Semantik’) der einzelnen Nomenkonstituenten zur Bedeutung des Kompositums als Ganzes beitragen, und zwar durch Ko-Indexierung der formalen Komponente und seiner Semantik. Die Semantik der Konstruktion als Ganzes ist auf der rechten Seite des Schemas spezifiziert. Die genaue semantische Relation R bleibt unspezifiziert, weil sie nicht von der Kompositionsstruk-

395 Kontamination tur, sondern enzyklopädischem bzw. kontextuellem Wissen abhängt. Konstruktionsschemata für Gruppen komplexer Wörter haben zwei Funktionen: Erstens geben sie Aufschluss über die Motiviertheit bestehender komplexer Wörter einer Sprache. Ein Wort ist motiviert, wenn die Beziehung zwischen seiner Form und seiner Bedeutung nicht völlig arbiträr ist. Arbiträr ist sie z.B. für das Wort Wort, aber nicht für das Kompositum Wortstruktur, so dass hier Motiviertheit vorliegt. Zweitens bieten diese Konstruktionsschemata Anleitungen für die Bildung neuer Wörter. Auf diese Weise geben sie Aufschluss über die Kreativität von Sprachbenutzern, die ihnen unbekannte neue Wörter bilden können. Konstruktionsschemata können für alle Typen von Wortbildung verwendet werden, etwa Komposition, Derivation oder Reduplikation (Booij 2010, 2015, 2016). Komplexe Wörter sind nicht immer von morphologisch einfacheren Wörtern gebildet und können stattdessen in Relation zu anderen komplexen Wörtern stehen. Ein Beispiel ist die folgende Zusammenstellung deutscher Wortpaare mit -ismus bzw. -ist: Tab. 1: Beispiel -ismus bzw. -ist Altru-ismus

Altru-ist

Aut-ismus

Aut-ist

Kommun-ismus

Kommun-ist

Pazif-ismus

Pazif-ist

Obwohl sie kein gemeinsames Basiswort haben, können die Bedeutungen der -ismus- und -ist-Bildungen gegenseitig motiviert werden. So kann die Bedeutung der -ist-Bildungen oft paraphrasiert werden mit ‘Person mit der Fähigkeit/Disposition/Ideologie, die durch die entsprechende -ismus-Bildung bezeichnet wird’. Daher kann die Wortbildung auf paradigmatischen Beziehungen zwischen Wörtern mit dem gleichen Grad an morphologischer Komplexität basieren. Für die zwei Schemata der -ismus- bzw. -ist-Bildungen kann folgende paradigmatische Relation angesetzt werden: (2) < [x-ismus]Ni ↔ SEMi > ≈ < [x-ist]Nj ↔ [Person mit Eigenschaft Y bezogen auf SEMi]j > Dabei markiert < > die Schemata und SEMi reprä-

sentiert den Bedeutungsrahmen {Fähigkeit, Disposition, Ideologie}. Das Symbol ≈ indiziert die paradigmatische Relation zwischen zwei Konstruktionsschemata. Eine Gruppe von zwei oder mehr Schemata mit paradigmatischer Relation ist ein Schema von Schemas, das auch als Schema zweiter Ordnung bezeichnet wird (Booij/Masini 2015). Das Konzept konstruktioneller Schemata mit paradigmatischer Relation ist auch für die Flexion relevant. Die Notwendigkeit solcher Schemata für den Bereich der Flexion wurde im sog. „Word and Paradigm Model“ [Wort-und-Paradigma-Modell] aufgezeigt (Blevins 2006). Dieser Ansatz geht davon aus, dass im Rahmen eines Flexionsparadigmas die Flexive nicht an einen abstrakten Stamm antreten, sondern an konkrete Formen. Ein Beispiel ist die Substantivflexion im Lateinischen: So wird z.B. der Nominativ Plural von rex ‘König’, reges, nach dem Vorbild des Genitiv Singular reg-is als Bezugsform gebildet, indem das Flexiv -is durch -es ersetzt wird. So bietet die Konstruktionsmorphologie sowohl für die Analyse der Wortbildung als auch der Flexion einen Rahmen. Geert Booij

→ § 7; Derivation; Komposition; motivierte Bildung; No-

men+Nomen-Kompositum; Reduplikation; Schema; Wortund-Paradigma-Modell

🕮 Blevins, J. [2006] Word-based morphology. In: Journal of Linguistics 42: 531–573 ◾ Booij, G./ Masini, F. [2015] The role of second order schemas in word formation. In: Bauer, L./ Kőrtvélyessy, L./ Štekauer, P. [eds.] Semantics of Complex Words. Cham [etc.]: 47–66 ◾ Booij, G. [2010] Construction Morphology. Oxford ◾ Booij, G. [2015] Word-formation in construction grammar. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1) Berlin [etc.]: 188–202 ◾ Booij, G. [2016] Construction Morphology. In: Hippisley, A./ Stump, G. T. [eds.] The Cambridge Handbook of Morphological Theory. Cambridge: 424–448 ◾ Goldberg, A. [2006] Constructions at Work. The nature of generalization in language. Oxford ◾ Masini, F./ Audring, J. [2019] Construction Morphology. In: Audring, J./ Masini, F. [eds.] OHMT. Oxford: 365–389 .

Kontamination

Vorgang und Ergebnis der Kreuzung bzw. Verschmelzung zweier Ausdrücke zu einem neuen Ausdruck. ▲ blend: process and result of the fusion of two words into a new word. Der auf lat. contaminatio ‘Berührung’ zu conta-

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Kontamination 396

K

minare ‘in Berührung bringen’ beruhende Begriff „Kontamination“, für den im Französischen contamination oder mot valise sowie im Englischen blending verwendet wird, bezeichnet in der Wortbildung den Vorgang und das Ergebnis der Kreuzung bzw. Verschmelzung zweier Ausdrücke zu einem neuen Ausdruck. Zumeist werden dabei im Gegensatz zur Komposition nur Teile zweier Wörter oder Wortstämme zu einem neuen Wort verschmolzen, doch ist das nicht die ausschließende Bedingung für das Vorliegen einer Kontamination. Diese ist vielmehr definiert dadurch, dass zuvor zwei eigenständige Wörter vorlagen, als deren Vermischung sich das entstehende Wort ergibt. Grundlage einer solchen Kontamination kann eine unbeabsichtigte Fehlprägung bei der Sprachplanung (Wiegand 1996) sein, wie sie etwa bei der Kreuzung von Opernglas und Feldstecher zu Opernstecher vorliegen würde, in der Kreuzung in dieser Vortragung aus Vortrag und Vorlesung oder in hintertückisch aus hinterhältig (hinterlistig) und heimtückisch. Kontaminationen kommen an wortgeographischen Grenzgebieten vor, etwa aus Erdbirne bzw. Erdapfel und Kartoffel die Kontamination Erdtoffel. Absichtliche Wortkreuzungen können aus sprachspielerischen, stilistischen oder sonstigen, etwa fachsprachlichen Gründen erfolgen, so z.B. Neutron für ‘elektrisch neutrale Analoga zu Elektron’ oder Queclarativ aus engl. question ‘Frage’ und declarative ‘Aussagesatz’, eine von Sadock im Rahmen der Generativen Semantik geprägte Kontamination für Sätze, die der Form nach interrogativ zu werten sind, ihrer pragmatischen Funktion nach jedoch im Allgemeinen (in den meisten Kontexten) als Assertiv fungieren, z.B. rhetorische Fragen. Hier wird der Regelverstoß sozusagen zur Ausweitung der Ausdrucksmöglichkeiten genutzt, wie es auch bei Kurlaub und jein der Fall ist. Der erste Typus der Wortkreuzung ist die haplologische oder vereinfachende Zusammenziehung. Bei dieser ist a) ein letztes Segment des ersten Wortes und ein erstes Segment des zweiten Wortes identisch, so dass sich aus Katzenjammer und Jammertal Katzenjammertal ergeben kann, aus Sparschwein und Schweinerei Sparschweinerei, aus Frivolität und Tätigkeitsbericht Frivolitätigkeitsbericht, aus Berlin und Linienbus Berlini-

enbus. Im Englischen entspricht dem slang/language > slanguage. Wie bereits die bisherigen Beispiele zeigen können, müssen diese Segmente keineswegs den Morphemen der beteiligten Wörter entsprechen, sondern allenfalls deren Silben. Solche Überschneidungen lediglich von Lautoder Silbenelementen zeigen auch Lolita × Litanei > Lolitanei, Kur × Urlaub > Kurlaub. Im Fall von tragisch × komisch > tragikomisch liegt b) der Fall vor, dass in beiden Wörtern eine auslautende Sequenz gleich ist, hier der Laut /ʃ/, so dass sich statt der denkbaren Komposition *tragischkomisch die Kontamination tragikomisch mit Ersparung der ersten der beiden gleichlautenden Sequenzen ergibt. Dieser letzte Fall lässt sich aber auch anders im Rahmen der Haplologie deuten: *tragicokomisch > tragikomisch. Der zweite Typ der Wortkreuzung wird durch aus Wortsplittern der beteiligten Lexeme erzeugte Neubildungen gestellt. Da hier der Vermischungsgrad höher ist, werden diese Bildungen als Kontaminationen im eigentlichen Sinn bezeichnet. Es handelt sich um Fälle wie Demokratie × Diktatur > Demokratur, Bullen × Polizisten > Bullizisten, Mediziner × Zyniker > Medizyniker, Stagnation × Inflation > Stagflation, ja × nein > jein. Im Englischen entspricht dem etwa emotion × icon > emoticon, timber × lumber > limber. Der dritte Typ der Wortkreuzung ist die analogische Bildung, die durch die Ersetzung des Grundworts einer Komposition mittels eines ähnlich klingenden oder semantisch verwandten Lexems erfolgt oder durch den Austausch eines Wortbeginns oder Wortendes, das kein Morphem sein braucht, durch ein ähnlich klingendes oder semantisch verwandtes Wort. Beispiele hierfür sind Postblatt × Correspondenzkarte > Postkarte, Phrasendrescher × Mäher > Phrasenmäher, hinterlistig × heimtückisch > hintertückisch oder Millionär × Narr > Millionarr. Im Englischen entspricht dem etwa stalker × paparazzi > stalkarazzi. Der vierte Typus der Kontamination beruht auf der Einkreuzung lautlich gleicher Wörter, was im Ergebnis nur am anderen Schriftbild der entstehenden Amalgame sichtbar ist. Das ist der Fall bei Schlawiner × Wiener > Schlawiener oder Bonzen × Bonn > Bonnzen. Der fünfte Typ der Kontamination entsteht formal durch das Fortlassen eines Lauts des Basiswortes; allerdings muss dann die Motivation

397 durch das assoziierte Einkreuzungswort möglich sein. Beispiel ist Nostalgie × Osten > Ostalgie. Im Gegensatz zu normalen Komposita, die auf der Kombination zweier Lexeme im Rahmen einer durch Weltwissen gestützten Motivation beruhen, oder zu Ableitungen, bei denen Grundmorpheme oder Wörter mit Derivationsaffixen bestimmter Derivationssemantik kombiniert werden, sind Kontaminationen infolge der engen Assoziation zweier Wörter in einer der beschriebenen Bahnen stets singulär geprägt und dürften im Allgemeinen nicht als Wortbildungsmuster weiterwirken. Von einer bestimmten Kontamination ausgehende Analogiebildungen erscheinen aber dadurch nicht ausgeschlossen, so etwa wäre ausgehend von Ostalgie auch *Westalgie möglich. Als Sprechfehler nicht ganz selten ist die bereits bei Paul in seinem Buch Prinzipien der Sprachgeschichte beschriebene syntaktisch-phraseologische Kontamination, etwa der Ausdruck hat sich eingebildet aus sich einbürgern und sich bilden. Dabei, so Paul, drängen sich zwei sinnverwandte Ausdrucksformen gleichzeitig in das Bewusstsein, so dass eine Mischung aus beiden entsteht. Ein Beispiel für eine solche Vermischung ist auch Das hilft ja wieder den Menschen, sich auch ganz darüber klar zu machen [statt werden], was es heißt (Rath 1979, zit. n. Lewandowski 1990: 594). Oder: eines Erachtens × meiner Meinung nach > meines Erachtens nach. Eckhard Meineke ≡ blending; haplologische Zusammensetzung; Kofferwort; Koppelwort; Portmanteauwort; Schachtelwort; Streckform; Teleskopwort; Verschmelzung; Wortkreuzung; Wortmischung; Wortverschmelzung; Wortverschränkung → § 25; Grundmorphem; Haplologie; Komposition; Wortbildungskonstruktion ⇀ Kontamination (Gram-Formen; Phon-Dt; Lexik; Dial) ⇁ blend (CG-Engl; Phon-Engl); blend (1) (Phon-Engl)

🕮 Beliaeva, N. [2020] Blending in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 873–890 ◾ Cannon, G. [2000] Blending. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [eds.] Morphology (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 952–956 ◾ Fradin, B. [2015] Blending. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] WordFormation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 386–413 ◾ Friedrich, C. [2008] Kontamination – Zur Form und Funktion eines Wortbildungstyps im Deutschen. Diss., Universität Erlangen-Nürnberg ◾ Lewandowski, T. [1990] Linguistisches Wörterbuch. 3 Bde. 5., überarb. Aufl. Heidelberg [etc.] ◾ Metcalf, A. [2002] Predicting New Words. The Secrets of Their Success. Boston, MA [etc.] ◾ Müller, P.O./ Friedrich, C. [2010] Kontamination. In: Elsen, H./ Michel, S. [Hg.] Wortbildung im Deutschen zwischen Sprachsystem und Sprachgebrauch. Stuttgart: 73–107 ◾ Ortner, L. [2010]

kontextfreie Interpretation „Blends“ und Mehrfachrepräsentation. Die Rolle von (typo)graphischen und piktoralen Komponenten in Wortbildungen. In: Michel, S./ Töth, J. [Hg.] Wortbildungssemantik zwischen Langue und Parole. Semantische Produktions- und Verarbeitungsprozesse komplexer Wörter. Stuttgart: 93–125 ◾ Paul, H. [1968] Prinzipien der Sprachgeschichte. 8. Aufl. Tübingen ◾ Rath, R. [1979] Kommunikationspraxis. Analysen zur Textbildung und Textgliederung im gesprochenen Deutsch. Göttingen ◾ Reischer, J. [2008] Die Wortkreuzung und verwandte Verfahren der Wortbildung. Eine korpusbasierte Analyse des Phänomens „Blending“ am Beispiel des Deutschen und Englischen. Hamburg ◾ Schmid, H.U. (2003) Zöllibazis Lustballon: Wortverschmelzungen in der deutschen Gegenwartssprache. In: Mutterspr 113: 265–278 ◾ Wiegand, D. [1996] Die Sprachplanung als modular organisierter Prozeß. Zur Berechnung von Kontaminationen. Frankfurt/Main.

kontextfreie Interpretation

vom sprachlichen und situationsspezifischen Kontext unabhängige Assoziation einer lexikalischen Einheit mit einer Bedeutung oder mehreren Bedeutungskomponenten. ▲ context-free interpretation: association of a lexical unit with meaning or multiple components of meaning which occurs independent of linguistic and situation-specific context. Eine kontextfreie Interpretation wird dann erforderlich, wenn ein Sprachbenutzer mit einem neuen, isoliert auftretenden Wort, das noch nicht im Lexikon gespeichert ist, konfrontiert wird und dessen Bedeutung erschließen muss. Als besonders komplex erweist sich der Prozess der kontextfreien Interpretation bei neuen, aus nominalen Konstituenten bestehenden Komposita sowie bei neuen Verben, die mittels Konversion aus Nomen gebildet wurden. Dies verdeutlichen die folgenden Beispiele von Wisniewski (1996: 434) bzw. Štekauer (2005: 162f.): (1) elephant tie (1a) a tie worn by circus elephants (1b) a tie with a picture of an elephant on it (1c) a very large tie (1d) a group of elephants tied together by their trunks and tails (2) to lion (2a) to have the power and rule as a lion (2b) to roar like a lion (2c) to behave/act like a lion (proud, lordly and/ or brave) (2d) to have a hair-cut that resembles a lion mane Wisniewski und Štekauer weisen darauf hin,

K

Kontextkompositum 398 dass weitere Interpretationen auch denkbar sind. Werden Bildungen dieser Art ohne Hinweise auf den syntaktischen Kontext, Textzusammenhang oder Diskurskontext präsentiert, so lassen sie grundsätzlich mehrere potentielle Lesarten zu und fordern sowohl das lexikalische als auch das außersprachliche Wissen des Hörers bzw. Lesers. Heike Baeskow

→ assoziative Bedeutung; außersprachliches Wissen; competition principle; Determinativkompositum; Nomen+NomenKompositum; onomasiologische Wortbildungstheorie; property mapping; relation linking

🕮 Štekauer, P. [2005] Meaning Predictability in Word Formation. Novel, context-free naming units. Amsterdam [etc.] ◾ Wisniewski, E.J. [1996] Construal and Similarity in Conceptual Combination. In: JMLg 35: 434–453.

Kontextkompositum

K

Kompositum, dessen Bedeutung aufgrund des Kontextes verstanden wird. ▲ context compound: compound whose meaning is understood by virtue of the context in which it occurs. Neue Determinativkomposita sind offen in der zwischen ihren Kopf- und Nicht-Kopf-Konstituenten implizit bestehenden Beziehung. Wenn die Verbindung auf der (möglicherweise vererbten) Argumentstruktur des Kopfes basiert, so wird die Interpretation „verbal“ genannt (vgl. street corner ‘Straßenecke’, horse rescuer, ‘Pferderetter’). Wenn dem nicht so ist, dann handelt es sich um ein so-genanntes „primary“ oder „root“Kompositum, bei dem eine angemessene Beziehung erschlossen werden muss. In diesem Fall ist die Interpretation des Kompositums ambig, weil prinzipiell mehr als eine Beziehung möglich ist (vgl. snow gun [Schneekanone] ‘Kanone, die aus Schnee gemacht ist/die Schnee schießt/ mit der Wild im Schnee geschossen wird’, etc.). Die nötige Inferenz kann auf der Basis von lexikalisch-semantischem, enzyklopädischem oder kontextuellem Wissen erschlossen werden. Kontextkomposita sind andererseits Komposita, deren Bedeutung vom (häufig linguistischen) Kontext verdeutlicht wird. In dem Mini-Kontext (1) Es war der Geburtstag des Poeten Heiner Müller. Der Produzent Hans Neuenfels sandte seinem Poeten-Freund eine Karte. muss das Kompositum Poeten-Freund in einer

kopulativen Interpretation (d.h. als ‘Freund und Poet’) und nicht in einer verbalen Interpretation (i.e. ‘Freund eines Poeten’) verstanden werden (vgl. Meyer 1993: 171). Der Begriff „Kontextkompositum“ stammt von Motsch (2004: 394), der diesen dem von Clark/Hecht (1982) genutzten Begriff „kontextuell“ vorzieht. Ein Beispiel für die extreme Kontextabhängigkeit einer Interpretation liefert das Kompositum Elchtest in (2), welches sich auf einen Kollisionstest des Fahrzeugs mit einem (simulierten) Elch bezieht. (2) Die A-Klasse hat den Elchtest nicht bestanden. Susan Olsen

→ außersprachliches Wissen; Determinativkompositum;

kataphorisches Kompositum; Kompositum; kontextfreie Interpretation; Neubildung; primary compound; verbal compound ⇁ context compound (Woform)

🕮 Clark, E./ Hecht, B. [1982] Learning to coin agent and instrument nouns. In: Cog 12: 1–24 ◾ Meyer, R. [1993] Compound comprehension in isolation and in context. The contribution of conceptual and discourse knowledge to the comprehension of German novel noun-noun compounds. Tübingen ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.].

Kontextwissen

1. in einer konkreten Gesprächssituation aus relevanten Begleitumständen abgeleitetes Wissen bezüglich des Zwecks, den der Gesprächspartner mit einer Äußerung verfolgt. ▲ contextual knowledge: knowledge of the communicative partner's intentions within a specific communicative situation inferred from relevant circumstances. 2. Fähigkeit, die Bedeutung eines neuen Wortes unter Einbeziehung des sprachlichen Kontexts, in dem es erscheint, zu erschließen. ▲ contextual knowledge: ability to infer the meaning of a novel word from the linguistic context in which it appears. Zu 1: In der Sprechakttheorie (z.B. van Dijk 1977, Faerch/Kasper 1984) ist das Kontextwissen neben dem sprachlichen Wissen, dem außersprachlichen Wissen und pragmatischen Aspekten ein Faktor, der zur adäquaten Interpretation von Äußerungen beiträgt. In einer Gesprächssituation konzentriert sich der Adressat einer Äußerung

399

kontradiktorische Negation

aufgrund seines Kontextwissens auf kontext-determinierende Merkmale, d.h. auf solche Merkmale der Situation, die für die Interpretation der Äußerung relevant sind. Vernimmt z.B. ein Bahnreisender die Worte May I see your ticket, please? [Darf ich bitte Ihre Fahrkarte sehen?], so wird er dieser Aufforderung nur dann folgen, wenn sie von einer Person geäußert wurde, die entweder eine Uniform trägt oder aufgrund anderer Merkmale als Schaffner identifizierbar ist. Die Haarfarbe des Schaffners oder sonstige Details sind hingegen für die kontextbezogene Interpretation der Äußerung irrelevant. Der kommunikative Kontext wird somit als theoretische und kognitive Abstraktion aus der tatsächlichen, physikalisch-biologischen Situation verstanden (van Dijk 1977: 217). Heike Baeskow

→ außersprachliches Wissen; kontextfreie Interpretation

🕮 Faerch, C./ Kasper, G. [1984] Pragmatic knowledge. Rules and procedures. In: AL 5/3: 214–225 ◾ van Dijk, T. [1977] Context and cognition: Knowledge frames and speech act comprehension. In: JPragm 1: 211–232.

Zu 2: Bei der Interpretation von Neologismen wird Kontextwissen benötigt, wenn das neue Wort in Isolation durch Ambiguität gekennzeichnet ist. Dies ist, wie z.B. die Arbeiten von Clark/ Clark (1979) und Meyer (1993) zeigen, insbesondere bei Produkten der Nomen-Verb-Konversion sowie bei neuen Nomen+Nomen-Komposita der Fall. Das engl. Verb to Houdini ist beispielsweise insofern ambig, als es verschiedene Aktivitäten, die mit dem Entfesselungskünstler Harry Houdini assoziiert werden, bezeichnen kann, nämlich ‘to escape by trickery’, ‘to dote on one’s mother’, ‘to unmask fraudulent mediums’ etc. (Clark/ Clark 1979: 796). Auch das deutsche Kompositum Mauertrauer ist ambig, wie die potentiellen Lesarten ‘Trauer über die Existenz der Mauer’, ‘Trauer über die an der Mauer stattfindenden Ereignisse’ oder ‘Trauer über den Abriss der Mauer’ zeigen (Meyer 1993: 3). In Fällen wie diesen trägt der Kontext, der sich hier auf den Satzzusammenhang bezieht, zur Disambiguierung bei. Die beiden folgenden Sätze sollen dies illustrieren: (1) He Houdini’d the fake palm reader. (2) … seitdem die Mauer in Stücke ging, gibt es in West-Berlin die Mauertrauer.

In (1) gibt das Komplement the fake palm reader ‘der vortäuschender Handleser’ Aufschluss darüber, dass das Verb to Houdini im Sinne von ‘to unmask a fraud’ zu interpretieren ist. Aufgrund ihrer Kontextabhängigkeit werden innovative denominale Verben von Clark/Clark (1979: 782) als contextuals bezeichnet. In dem Satz unter (2), den Meyer der Zeitung Die Zeit entnommen hat, wird die Lesart ‘Trauer über den Abriss der Mauer’ durch den Kontext begünstigt. Da der Satzzusammenhang verdeutlicht, dass die Mauer bereits gefallen ist, werden die anderen potentiellen Lesarten blockiert. Heike Baeskow

→ kontextfreie Interpretation; konzeptuelle Struktur; sprachliches Wissen

🕮 Clark, E.V./ Clark, H.H. [1979] When nouns surface as verbs. In: Lg 55: 767–811 ◾ Meyer, R. [1993] Compound comprehension in isolation and in context. The contribution of conceptual and discourse knowledge to the comprehension of German novel noun-noun compounds. Tübingen.

kontradiktorische Negation

semantische Kategorie der Verneinung, bei der die binären oppositiven Inhaltsstrukturen weder zusammen wahr noch zusammen falsch sein können, da die Existenz von Zwischengraden ausgeschlossen ist. ▲ contradictory negation: semantic category of negation in which binary opposites can neither be true together nor false together, as the existence of intermediate options is excluded. Das ursprünglich aus der Logik stammende Begriffspaar Kontradiktion und Kontrarität, das im Bereich der Logik zur Kennzeichnung logischer Gegensatzrelationen dient, wird von einigen Autoren auch im Zusammenhang mit natürlichsprachlicher Negation verwendet (Lyons 1980: 283, Lenz 1993: 34, Mollidor 1998: 12ff). Andere Autoren differenzieren terminologisch zwischen Logik und Sprache und bevorzugen für Letztere die Begriffspaare Komplementarität (= Kontradiktion) und Antonymie (i.e.S.) (= Kontrarität) bzw. Komplenymie und Antonymie (i.e.S.), vgl. Clarenz-Löhnert (2004: 66ff). Für die kontradiktorische Negation gilt das bereits von Aristoteles beschriebene Prinzip des tertium non datur, das Prinzip des ausgeschlossen Dritten: Es gilt entweder das eine oder das andere, eine dritte Möglichkeit existiert nicht. Kont-

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Kontraktion 400

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radiktorische Antonyme lassen demnach keine Zwischenstufen zu, vgl. dt. eheliches Kind – uneheliches Kind; Katholik – Akatholik; engl. published items ‘veröffentlichte Werke’ – unpublished items ‘unveröffentlichte Werke’; frz. nombre pair ‘gerade Zahl’ – nombre impair ‘ungerade Zahl’, russ. zamužnjaja ženščina ‘verheiratete Frau’ – nezamužnjaja ženščina ‘unverheiratete Frau’. Eine Negation ist somit kontradiktorisch, wenn sie eine Skala konstituiert und zusammen mit der dazugehörigen Affirmation den gesamten Skalenbereich vollständig abdeckt (Lenz 1993: 37). Eine Graduierung ist bei kontradiktorischen Antonymen in der Regel nicht möglich: *Das Werk ist veröffentlichter/unveröffentlichter; *Das Kind ist ehelicher/unehelicher. Ferner entspricht bei der kontradiktorischen Negation die doppelte Negation der affirmativen Proposition: Das Kind ist nicht unehelich = Das Kind ist ehelich; Die Zahl ist nicht ungerade = Die Zahl ist gerade. Dabei kann es freilich auf der pragmatischen Ebene zu einer Modifizierung der Bedeutung kommen, etwa in Form einer Abschwächung oder Verstärkung der Aussage, vgl. dt. unmissverständlich vs. verständlich (Steigerung der Aussage mit Hilfe der doppelten Negation), nicht unbesiegt vs. besiegt (Abschwächung der Aussage mit Hilfe der doppelten Negation), vgl. Clarenz-Löhnert (2004: 67), Mollidor (1998: 19). Anja Seiffert ≡ komplementäre Negation → konträre Negation; Negation; Negationsaffix; Negationspräfix; Wortbildungsantonymie

🕮 Clarenz-Löhnert, H. [2004] Negationspräfixe im Deutschen, Französischen und Spanischen. Ein Beitrag zur kontrastiven Linguistik. Aachen ◾ Curiel, M.M. [2015] Negation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1351–1359 ◾ De Clercq, K. [2020] Negation in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 620–639 ◾ Lenz, B. [1993] un-Affigierung. Tübingen ◾ Lyons, J. [1980] Opposition und Kontrast. In: Lyons, J. Semantik. Band I. München: 281–291 ◾ Mollidor, J. [1998] Negationspräfixe im heutigen Französisch. Tübingen ◾ Pavloviç, J. [2015] Negation in the Slavic and Germanic languages. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1360–1373.

Kontraktion

Zusammenziehung oder Verschmelzung zweier zuvor durch einen Konsonanten getrennter benachbarter Vokale zu einem Vokal ▲ contraction: contraction or fusion of two neigh-

boring vowels formerly separated by a consonant into one vowel. Der auf lat. contrahere ‘zusammenziehen’ bzw. lat. contractio ‘das Zusammenziehen’ beruhende Begriff bezeichnet speziell den Vorgang und das Ergebnis der Zusammenziehung oder Verschmelzung zweier zuvor durch einen Konsonanten getrennter benachbarter Vokale zu einem Vokal, der Lang-Monophthong oder Diphthong sein kann. Zu nennen ist etwa die im Mhd. häufige Kontraktion über die schwindenden Medien b, d, g, so in dem bereits im Ahd. belegten hān ‘haben’ neben habēn, in mhd. gereit neben geredet ‘geredet’, mhd. līt neben liget ‘liegt’ < ahd. ligit, ahd. sagēt > mhd. seit ‘sagt’, ahd. magad ‘Mädchen’, Gen. magadi > megidi > mhd. meid, ahd. gitragidi > mhd. getregede > nhd. Getreide. Speziell in der Gräzistik ist Kontraktion die Bezeichnung für das Resultat der Assimilation zweier Vokale im Wortinnern zu einem (langen) Vokal oder einem Diphthong, um den Binnenhiat zu vermeiden. In der Regel ist diese Kontraktion durch die Tilgung eines intervokalischen Konsonanten veranlasst. Verben, die einen derartigen Prozess durchlaufen haben, werden verba contracta genannt; hier sind zum Beispiel die Verben auf -αω zu nennen, etwa τιμα-ω (tima-ō) > τιμω (timō) ‘ich schätze, ehre’. Daneben wird der Begriff auch allgemein für jede Form sprachlicher Verkürzung verwendet, so zum Beispiel für die Entwicklung von proklitischen, schwachtonigen Elementen einer Phrase oder Konstruktion, so bei dt. in dem > im, engl. do not > don’t, franz. à le ‘zu dem’ > au, ital. in la casa > nella casa, portug. em a casa > na casa. Durch die Betonung auf dem Erstglied von Kompositionen oder Ableitungen können ganze Wortteile kontrahiert werden, etwa bei mhd. schúltheize > nhd. Schúlze.

Eckhard Meineke ≡ Synärese; Zusammenziehung → Apokope; Assimilation; Synkope ⇀ Kontraktion (Gram-Formen; HistSprw; Schrling) ⇁ contraction (Phon-Engl) 🕮 Dedenbach, B. [1987] Reduktions- und Verschmelzungsformen im Deutschen. Schwache Formen bei Artikeln und Pronomina. Frankfurt/Main [etc.].

konträre Negation

semantische Kategorie der Verneinung, bei der die binären oppositiven Inhaltsstrukturen gleichzeitig

401 Konversion falsch, aber nicht gleichzeitig wahr sein können, da die beiden gegensätzlichen Ausdrücke als Endpunkte einer Skala fungieren, die Zwischenstufen zulässt. ▲ contrary negation: semantic category of negation in which the binary opposites can be false together but not true together, as the contrasting expressions are the endpoints of a scale which allows intermediate options. Die Begriffe Kontrarität und Kontradiktion entstammen ursprünglich der Logik, werden aber häufig auf die natürlichsprachliche Negation bezogen (vgl. Lyons 1980: 283, Lenz 1993: 34, Mollidor 1998: 12ff.). Anstelle dieses Begriffspaares werden oft auch die Termini Antonymie (i.e.S.) (= Kontrarität) und Komplementarität (= Kontradiktion) zur Benennung der beiden natürlichsprachlichen Negationskategorien verwendet (vgl. Clarenz-Löhnert 2004: 66ff.). Für die konträre Negation gilt das Prinzip des tertium datur. Konträre Antonyme schließen sich zwar gegenseitig aus, lassen dabei aber Zwischenstufen zu: Zwei Aussagen wie Ich bin glücklich und Ich bin unglücklich können nicht gleichzeitig wahr sein, sie können jedoch gleichzeitig falsch sein, indem weder die eine noch die andere Aussage wahr ist, sondern eine dritte. Bei diesem tertium, dem „Dritten“, handelt es sich um eine Mitte zwischen zwei Polen. Eine Negation ist demnach konträr, wenn sie eine Skala konstituiert, bei der es einen Bereich gibt, den weder die Negation noch die dazugehörige Affirmation abdecken (Lenz 1993: 38). Konträre Adjektive sind in der Regel graduierbar: dt. Sie ist sehr unglücklich/Sie ist unglücklicher als Paul; frz. Elle est très malheureuse/Elle est plus malheureuse que Paul. Anders als bei der kontradiktorischen Negation entspricht die doppelte Negation hier nicht der affirmativen Proposition: Das ist nicht unschön impliziert nicht, dass es schön ist, sondern nur, dass es eine gewisse Schönheit aufweist, vgl. auch er ist nicht unglücklich (≠ er ist glücklich), er ist nicht unintelligent (≠ er ist intelligent), vgl. Mollidor (1998: 18). Anja Seiffert

→ kontradiktorische Negation; Negation; Negationsaffix; Negationspräfix; Wortbildungsantonymie

🕮 Clarenz-Löhnert, H. [2004] Negationspräfixe im Deutschen, Französischen und Spanischen. Ein Beitrag zur kontrastiven Linguistik. Aachen ◾ Curiel, M.M. [2015] Negation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation

(HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1351–1359 ◾ De Clercq, K. [2020] Negation in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol.1. New York: 620–639 ◾ Lenz, B. [1993] un-Affigierung. Tübingen ◾ Lyons, J. [1980] Opposition und Kontrast. In: Lyons, J. Semantik. Band I. München: 281–291 ◾ Mollidor, J. [1998] Negationspräfixe im heutigen Französisch. Tübingen ◾ Pavloviç, J. [2015] Negation in the Slavic and Germanic languages. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1360–1373.

Konversion

morphologischer Prozess, der eine lexikalische Einheit ohne Derivationsaffix in eine andere Wortart überführt. ▲ conversion: morphological process by which a lexical unit is transferred into a different lexical category without a derivational affix. Bei der Wortbildung durch Konversion wird eine lexikalische Einheit, die bestimmte kategoriale und semantische Merkmale aufweist, in eine orthographisch und phonetisch identische oder zumindest ähnliche Einheit mit anderen kategorialen und semantischen Merkmalen überführt. Konversionen sind für viele Sprachen konstitutiv, wie die Überblicke bei Vogel (1996), Don/Trommelen/Zonneveld (2000) und Valera (2015) sowie die Einzelsprachenportraits in den Bänden 4 und 5 des Handbuchs Word-Formation (Müller/Ohnheiser/Olsen/Rainer 2016) zeigen. Im Folgenden werden Konversionen am Beispiel des Deutschen und Englischen näher erläutert. Im Deutschen zählt die Konversion zu den zentralen Wortbildungsarten und ist für Substantive, Adjektive, Verben und Adverbien charakteristisch, vgl. die Überblicke bei Eschenlohr (1999), Fleischer/Barz (2012: 87–91, 267–276, 358–359, 371, 434–439) bzw. Barz (2016: 2404–2406). Dabei werden im Allgemeinen zwei Arten von Konversion unterschieden: die syntaktische Konversion, bei der beim Wortartwechsel Flexive beibehalten werden (z.B. Verb gehen > Substantiv das Gehen, Partizip II geliebt > Adjektiv der geliebte Hund), sowie die morphologische Konversion, bei der dies nicht der Fall ist (z.B. Substantiv Haus > Verb hausen, Pronomen du > Substantiv das Du). Substantiv: Hier stellen morphologische Konversionen vor allem Verbstammkonversionen dar, die von unterschiedlichen Formen aus und teils mit, teils ohne Stammvokalwechsel gebildet werden, vgl. fallen > Fall, werfen > Wurf, treten > Tritt,

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Konversion 402

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verbieten > Verbot, müssen > Muss. Konversionen mit Stammvokalwechsel, die ein sprachgeschichtliches Relikt darstellen, werden z.T. auch als „implizite Derivation“ (vgl. Fleischer/Barz 2012: 89) von der Konversion differenziert. Bei den Verbstammkonversionen ohne Stammvokalwechsel ist die Konversionsrichtung nicht immer eindeutig, wie etwa bei Ruf vs. rufen oder Lob vs. loben. Semantisch zeigt sich ein breites Spektrum von nomina actionis (Verlauf), nomina acti (Befehl), Sach- und Personenbezeichnungen (Vertrag, Besuch). Konversionen aus anderen Wortarten sind deutlich seltener, wie etwa zu Adjektiven (lexikalische Substantivierungen als Neutra mit substantivischer Flexion, vgl. das Hoch, das Gut), Adverbien (z.B. das Heute), Pronomina (das Ich) oder Präpositionen (z.B. das Für und Wider). Syntaktische Konversionen stellen in erster Linie Infinitivkonversionen dar (z.B. Essen, Vermögen, Lächeln), die v.a. als nomina actionis verwendet werden (zu einer Einstufung als Derivate mit Suffix -en vgl. Fleischer/Barz 2012: 89). Bei Konversionen von Adjektiven (syntaktische Substantivierungen mit Beibehaltung der adjektivischen Flexion) bzw. Partizipien überwiegen Personenbezeichnungen gegenüber anderen Bezeichnungsklassen (z.B. der/ die/das Junge, Neue, Berufstätige, Fehlende, Passende, Geliebte, Verstorbene). Syntaktische Konversionen werden z.T. nicht als Wortbildungen, sondern als syntaktisches Phänomen eingestuft (vgl. Olsen 1986: 112; Fleischer/Barz 2012: 88f.). Einen Sonderfall stellen Wortgruppen- bzw. Satzkonversionen dar (z.B. Nimmersatt, Gernegroß, Vergissmeinnicht, Tunichtgut, Kehraus, Menschlichsein), bei denen das letzte Element nicht der Wortart des Ganzen entspricht und die zum Teil auch als „Zusammenrückungen“ von Konversionen unterschieden werden (vgl. Fleischer/Barz 2012: 87f.). Adjektiv: Adjektivische Konversionen sind vor allem departizipial gebildet (z.B. lesende Schüler, gewebtes Tuch). Während diese syntaktischen Konversionen allgemein sehr produktiv sind, werden desubstantivische morphologische Konversionen vor allem von Einwohnerbezeichnungen auf -er (z.B. Nürnberger Lebkuchen, Kölner Dom; vgl. zum Wortbildungsstatus Fuhrhop 2003) sowie von Farbbezeichnungen (z.B. bordeaux, cognac, orange, sand) geprägt, die bei attributiver Verwendung mit -farben/farbig kombiniert (z.B.

cognacfarben) oder umgangssprachlich flektiert werden (z.B. ein rosanes/lilanes Tuch). Andere desubstantivische Konversionen (z.B. angst, feind, schuld, klasse) sind selten. Verb: In diesem Bereich begegnen lediglich morphologische Konversionen, die abgesehen von wenigen Ausnahmen (z.B. miauen, rülpsen als Onomatopoetika) von Substantiven oder Adjektiven gebildet sind. Beide Gruppen weisen ein vielfältiges semantisches Spektrum auf: Desubstantivisch: ornativ (ölen), agentiv (kellnern), privativ (köpfen), kausativ (narren), instrumentativ (hämmern), lokativ (wassern). Deadjektivisch: stativ (gleichen), ingressiv (faulen), kausativ (kürzen), agentiv (sündigen). Betrachtet man das Infinitivmorphem -en zugleich als Wortbildungsmorphem (vgl. Kühnhold/Wellmann 1973: 20f,), sind verbale Konversionen ausgeschlossen und entsprechende Bildungen werden den Suffixderivaten zugeordnet. Adverb: Adverbien gehen als Ergebnis einer Konversion nur selten auf Einzelsubstantive zurück (z.B. heim, weg). Es dominieren vielmehr Syntagmen als Basis mit unterschiedlichen Strukturen (Pronomen+Substantiv, Präposition+Substantiv, Präposition+Adjektiv etc.), z.B. derart, seinerzeit, überhaupt, zugunsten, bislang, zugleich. Auch im Englischen gehören Konversionen zum zentralen Bereich der Wortbildung (vgl. Marchand 1969: 359ff., Clark/Clark 1979, Karius 1985, Štekauer 1996, Baeskow 2006). Der Grund hierfür liegt insbesondere darin, dass das Engl. über eine Vielzahl denominaler Verben verfügt, die durch Konversion gebildet wurden. Analog zu „Konversion“ wird mitunter auch der Terminus „Nullableitung“ („zero-derivation“) verwendet. Vertreter von Ansätzen, die diesen Begriff bevorzugen (z.B. Marchand 1969, Kastovsky 2005), gehen davon aus, dass Konversionsprodukte mit Hilfe eines Nullmorphs bzw. Nullaffixes gebildet werden. Dieses phonetisch nicht realisierte ­Morph wird durch die Existenz funktional ähnlicher, overter Derivationssuffixe wie -ize, -ify oder -ate (z.B. alcohol > to alcoholize ‘prepare, treat with alcohol’ : paraffin > to paraffin ‘prepare, treat with paraffin’) motiviert. Die denominalen Verben des Engl. verfügen über ein breites Bedeutungsspektrum. Auf der Grundlage der Arbeiten von Clark/Clark (1979) und Karius (1985) lassen sich u.a. die folgenden

403 Konversion Verbklassen identifizieren: Lokationsverben (to house, to bottle, to bag), ornative Verben (to butter, to fringe, to fence), privative Verben (to weed, to milk, to gut), Agens-Verben (to author, to nurse, to Houdini), resultative Verben (to bundle, to calve, to widow) und Instrumentverben (to hammer, to bicycle, to fiddle). Etliche dieser Verben sind polysem, so dass eine Disambiguierung erst durch den sprachlichen Kontext ermöglicht wird. Dies zeigen z.B. die folgenden Sätze: (1a) John bottled the wine. (Lokationsverb) (1b) The hooligans bottled the spectators. (Instrumentverb) (2a) Jim milked the cow. (Privative Lesart) (2b) Miss Marple milked her coffee. (Ornative Lesart) (3a) Lady Hilda powdered her nose. (Ornative Lesart) Beispiele dieser Art lassen erkennen, dass unterschiedliche Faktoren an der Bildung und erfolgreichen Interpretation denominaler Konversionsprodukte beteiligt sind, nämlich insbesondere die kommunikative Situation, das sprachliche, außersprachliche und generische Wissen der Kommunikationspartner sowie der sprachliche Kontext. Das Zusammenspiel dieser Faktoren bildet den Inhalt der von Clark/Clark (1979: 787) formulierten „Innovative Denominal Verb Convention“: (4) The Innovative Denominal Verb Convention In using an innovative denominal verb sincerely, the speaker means to denote (a) the kind of situation (b) that he has good reason to believe (c) that on this occasion the listener can readily compute (d) uniquely (e) on the basis of their mutual knowledge (f) in such a way that the parent noun denotes one role in the situation, and the remaining surface arguments of the denominal verb denote other roles in the situation. Neben den zahlreichen denominalen Verben existiert im Engl. auch eine relativ begrenzte Anzahl deverbaler Nomina, die ebenfalls durch Konversion gebildet wurden. Begriffe wie „denominales Verb“ und „deverbales Nomen“ suggerieren, dass Konversion (ebenso wie Derivation) ein gerichteter Prozess ist, d.h. es gibt eine lexikalische Einheit, die als Basis für die Bildung eines neuen Wortes dient. Aufgrund der strukturellen

Identität des In- und Outputs ist die Ermittlung der Konversionsrichtung jedoch zumindest unter morpho-syntaktischem Aspekt nicht unproblematisch. Ein wesentliches phonologisches Kriterium zur Identifikation der Ausgangs- und Zielkategorie wurde von Kiparsky (1982: 140) postuliert. Kiparsky erkannte, dass sich das Akzentmuster nur bei der Verb-Nomen-Konversion ändert (z.B. torméntV > tórmèntN). Bei der Nomen-Verb-Konversion (z.B. pátternN > pátternV, *pattérnV) bleibt die Akzentuierung der Basis erhalten. Dieses Kriterium gilt zumindest für mehrsilbige Bildungen. Heike Baeskow, Peter O. Müller ≡ Nullableitung; Wortartwechsel; Wortklassenwechsel → § 27, 31, 35; außersprachliches Wissen; Derivationsrichtung; generisches Wissen; implizite Derivation; kontextfreie Interpretation; Nullmorphem; sprachliches Wissen; Wortart; Wortbildungskonstruktion; Zusammenrückung ⇀ Konversion (Gram-Formen; CG-Dt; Lexik; Sprachphil; Onom; HistSprw) ⇁ conversion (CG-Engl; Typol)

🕮 Baeskow, H. [2006] Reflections on noun-to-verb conversion in English. In: ZS 25: 205–237 ◾ Barz, I. [2016] German. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 2387–2410 ◾ Clark, E.V./ Clark, H.H. [1979] When nouns surface as verbs. In: Lg 55: 767–811 ◾ Don, J./ Trommelen, M./ Zonneveld, W. [2000] Conversion and category indeterminancy. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [eds.] Morphology (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 943–952 ◾ Eschenlohr, S. [2012] Vom Nomen zum Verb: Konversion, Präfigierung und Rückbildung im Deutschen. Hildesheim [etc.] ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Fuhrhop, N. [2003] „Berliner“ Luft und „Potsdamer“ Bürgermeister: Zur Grammatik der Stadtadjektive. In: Linguistische Berichte 193: 91–108 ◾ Karius, I. [1985] Die Ableitung der denominalen Verben mit Nullsuffigierung im Englischen. Tübingen ◾ Kastovsky, D. [2005] Conversion and/or zero: word-formation theory, historical linguistics, and typology. In: Bauer, L./ Valera, S. [eds.] Approaches to Conversion/Zero-Derivation. Münster [etc.] ◾ Kiparsky, P. [1982] From Cyclic Phonology to Lexical Phonology. In: van dr Hulst, H. / Smith, N. [eds.] The Structure of Phonological Representations. Part 1. Dordrecht: 131–175 ◾ Kühnhold, I./ Wellmann, H. [1973] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. Erster Hauptteil: Das Verb. Mit einer Einführung von Johannes Erben. Düsseldorf ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English WordFormation. 2. Aufl. München ◾ Martsa, S. [2020] Conversion in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 779–802 ◾ Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds. 2016] Word-Formation (HSK 40.4/5). Berlin [etc.] ◾ Olsen, S. [1986] Wortbildung im Deutschen. Eine Einführung in die Theorie der Wortstruktur. Stuttgart ◾ Štekauer, P. [1996] A Theory of Conversion in English. Frankfurt/Main ◾ Valera, S. [2015] Conversion. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 322–339 ◾ Vogel, P.M.

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Konzept, komplexes 404 [1996] Wortarten und Wortartenwechsel. Zu Konversion und verwandten Erscheinungen im Deutschen und in anderen Sprachen. Berlin [etc.].

Konzept, komplexes → komplexes Konzept

Konzeptkombination

Prozess der Erstellung eines komplexen Konzepts aus zwei oder mehreren miteinander interagierenden Einzelkonzepten. ▲ concept combination: process of constructing a complex concept on the basis of two or more interacting single concepts.

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Am Beispiel der Wortbildung durch Komposition wird deutlich, dass Sprachbenutzer die Fähigkeit besitzen, nicht nur einzelne, sondern auch komplexe Konzepte mental zu verarbeiten. Letztere involvieren zwei oder mehrere Einzelkonzepte, die in der Regel bereits bekannt und somit mental repräsentiert sind. In kognitiven Ansätzen zur Interpretation von Komposita wird die Konzeptkombination aus zwei verschiedenen Perspektiven beschrieben, indem einerseits die Relevanz des Kopfkonzepts und andererseits die Relevanz des modifizierenden Konzepts fokussiert wird. Bildet das Kopfkonzept den Ausgangspunkt für die Interpretation (z.B. Cohen/ Murphy 1984, Murphy 1988), so wird dieses als mehrdimensionales Schema aufgefasst, das über Slots zu spezifizieren ist. Eine Konzeptkombination erfolgt, indem das modifizierende Konzept unter Einbeziehung von Weltwissen in einen der im Schema des Kopfkonzepts befindlichen Slot eingelesen wird. Bildet das modifizierende Konzept den Ausgangspunkt für die Interpretation eines Kompositums (Gagné/ Shoben 1997), so werden abstrakte Relationen für dieses Konzept identifiziert, die Kompatibilitätsbeziehungen zu potentiellen Kopfkonzepten herstellen. Konzeptkombinationen, zu denen neben Komposita auch syntaktische Phrasen zählen, sind jedoch nicht ausschließlich über die involvierten Einzelkonzepte und die zwischen diesen bestehenden Kompatibilitätsbeziehungen interpretierbar. Nach Barsalou et al. (1993) wird die Interpretation häufig durch eine Situation oder einen spezifischen Referenten und dessen Merkmale determiniert. So kann z.B. die Phrase happy house in dem Satz Mary drove by the happy house entweder mit einem fröhlichen Ereignis, das in

dem besagten Haus stattgefunden hat, assoziiert werden oder auf ein dem Kommunikationspartner bekanntes Haus, dessen typisches Merkmal eine mit einem lächelnden Gesicht bemalte Fassade ist, Bezug nehmen. Heike Baeskow

→ komplexes Konzept; Nomen+Nomen-Kompositum; property mapping; relation linking; Schema; slot filling

🕮 ◾ Barsalou, L./ Yeh, W./ Luka, B./ Olseth, K./ Mix, K./ Wu, L. [eds.] [1993] Concepts and meaning. In: Chicago Linguistics Society 29: Papers from the parasession on conceptual representations. Chicago: 23–61 ◾ Cohen, B./ Murphy, G.L. [1984] Models of Concepts. In: CognSc 8: 27–58 ◾ Gagné, C.L./ Shoben, E.J. [1997] Influence of Thematic Relations on the Comprehension of Modifier-Noun Combinations. In: JEP-LMCog 23/1: 71–87 ◾ Gagné, C.L./ Spalding, T.L./ Ji, H. [2005). Re-examining evidence for the use of independent relational representations during conceptual combination. JMLg 53: 445–455. ◾ Gagné, C.L./ Spalding, T.L. [2004]. Effect of relation availability on the interpretation and access of familiar noun-noun compounds. BrainLg 90: 478–486. ◾ Gagné, C.L./ Spalding, T.L. [2006] Conceptual combination: Implications for the mental lexicon. In: Libben, G./ Jarema, G. [eds.] The Representation and Processing of Compound Words. Oxford: 145–168 ◾ Murphy, G.L. [1988] Comprehending complex concepts. In: CognSc 12: 529–562 ◾ Wisniewska, E. [1996] Construal and similarity in conceptual combination. In: JMLg 35: 434–453..

Konzeptualisierung

neurologischer Vorgang, der in der Verarbeitung von Wahrnehmungen besteht und durch die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke reflektiert wird. ▲ conceptualization: neurological processing of perceptive information reflecting the meaning of linguistic expressions. In der Kognitiven Grammatik wird eine direkte Verbindung zwischen Gegebenheiten der außersprachlichen Realität und sprachlichen Ausdrücken durch Konzeptualisierung hergestellt, so dass Konzeptualisierung hier mit Bedeutung gleichgesetzt wird (Langacker 1988a: 5f.). Konzeptualisierbar ist alles, was in den Bereich der menschlichen Wahrnehmung und Erfahrung fällt, z.B. Objekte, Situationen, Emotionen, Relationen etc. Konzeptualisierungen sind schematische Repräsentationen mit variierendem Abstraktheitsgrad, die sich in der Regel auf prototypische Merkmale beschränken. So erfolgt z.B. die Konzeptualisierung von Hund auf der Grundlage von Eigenschaften wie ‘ist ein Tier’, ‘hat vier Beine’, ‘hat einen Schwanz’, ‘kann bellen’ etc. (Schwarz 1996: 88), die alle Hunde un-

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konzeptuelle Struktur

abhängig von der individuell bevorzugten Rasse aufweisen. Gerechtfertigt wird die Unschärfe von Konzeptualisierungen nach Langacker (1987: 136) durch die Tatsache, dass auch die visuelle Wahrnehmung (z.B. aufgrund der Entfernung eines Objekts, der Sichtverhältnisse oder eines Tränenschleiers) mitunter an Präzision verliert und somit schematisch wird. Faktoren dieser Art können beispielsweise dazu beitragen, dass ein Objekt nicht mehr als Schäferhund oder Dogge, sondern lediglich als Hund identifizierbar ist. Konzeptualisierung ist ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Kommunikation. Der Sprecher konzeptualisiert eine Situation oder Szene, die er sprachlich kodieren muss, um sie dem Hörer mit einer bestimmten Intention zu vermitteln. Der Hörer muss wiederum zum Zwecke der Interpretation der Äußerung die durch den Sprecher konzeptualisierte Situation oder Szene rekonstruieren. Dieser Prozess reflektiert nach Langacker (1988a: 14) das Problem der Kodierung. Das Phänomen der Konzeptualisierung manifestiert sich auch im Bereich der Onomasiologischen Wortbildung (Štekauer 2005: 46f.). Wird ein Wort zur Benennung eines neuen Objekts (bzw. einer neuen Klasse von Objekten) benötigt, so geht dem Wortbildungsprozess eine konzeptuelle Verarbeitung dieses Objekts bzw. dieser Objektklasse voran. Heike Baeskow

→ Kognitive Grammatik; onomasiologische Umkategorisie-

rung; onomasiologische Wortbildungstheorie; Prototypikalität ⇀ Konzeptualisierung (Lexik; SemPrag; CG-Dt)

🕮 Langacker, R.W. [1987] Foundations of Cognitive Grammar. Vol. 1: Theoretical Prerequisites. Standford, CA ◾ Langacker, R.W. [1988] An Overview of Cognitive Grammar. In: Rudzka-Ostyn, B. [ed.] Topics in Cognitive Linguistics. Amsterdam [etc.]: 3–48 ◾ Langacker, R.W. [1988] A View of Linguistic Semantics. In: Rudzka-Ostyn, B. [ed.] Topics in Cognitive Linguistics. Amsterdam [etc.]: 49–90 ◾ Schwarz, M. [1996] Einführung in die Kognitive Linguistik. 2. Aufl. Tübingen [etc.] ◾ Štekauer, P. [2005] Meaning Predictability in Word Formation. Novel, context-free naming units. Amsterdam [etc.].

konzeptuelle Struktur

Repräsentation des ganzen Bedeutungsgehalts eines komplexen linguistischen Ausdrucks innerhalb von kognitiv orientierten Semantiktheorien. ▲ conceptual structure: representation within cognitively orientated semantic theories of the full meaning content of a linguistic expression.

Je nach Semantiktheorie hat der Begriff „Konzeptuelle Struktur“ eine etwas andere Bedeutung. In der Zwei-Ebenen-Theorie der Semantik, die von Bierwisch (1982), (1983), (2015) und Bierwisch/Lang (1987) vorgeschlagen und von Linguisten wie Wunderlich (1997) und Maienborn (1996), (2017) weiterentwickelt wurde, bezieht sich der Begriff auf die Repräsentation der Bedeutung eines linguistischen Ausdrucks im weiten Sinne, da die konzeptuelle Struktur sowohl alle echten linguistischen Bedeutungsaspekte als auch jegliche relevanten außerlinguistischen Bedeutungsaspekte umfasst, die anderen Wissensquellen als dem linguistischen System an sich entstammen können. Diese Quellen beinhalten verschiedene Arten von Bedeutungserweiterung, Schlussfolgerung und Inferenz sowie Elemente, die auf dem reinen konzeptuellen Wissen beruhen und in die Bedeutungsgestaltung eines linguistischen Ausdrucks Eingang finden, wenn sie von einem spezifischen Kontext ausgelöst werden. In den meisten Semantiktheorien mit einer kognitiven Orientierung ist die Bedeutung eines linguistischen Ausdrucks eine mentale Repräsentation. In der Zwei-Ebenen-Theorie der Semantik ist die „Konzeptuelle Struktur“ eine solche Repräsentation, die zwischen dem linguistischen System und dem Weltwissen vermittelt, welches in ein kompliziert strukturiertes ontologisches System von Konzepten, genannt „Konzeptuelles System“, organisiert ist. Die Idee dahinter ist, dass zwei Ebenen von semantischer Repräsentation an dieser Grenze involviert sind. Die erste ist die abstraktere Ebene der echten linguistischen Struktur, genannt „Semantische Form“, die nur die unveränderlichen, d.h. kontextunabhängigen, Bedeutungsaspekte enthält, welche für die Berechnung der kompositionellen Aspekte der Bedeutungsrepräsentation nötig sind. Um auf Produkte der Grammatik abgebildet zu werden, filtert die semantische Form im Wesentlichen die komplexeren Bedeutungsaspekte heraus, die aus dem außerlinguistischen Wissen resultieren und die in der komplexeren Ebene der konzeptuellen Struktur festgehalten werden. Diese interagiert direkt mit anderen nicht-linguistischen Wissensquellen wie dem visuellen, auditiven, episodischen und konzeptuellen Wissen und ist deshalb nicht so eng an rein linguistische Kategorien gebunden.

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konzeptuelle Struktur 406

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Andere einflussreiche Bedeutungstheorien, wie Jackendoff (1990) und Pustejovsky (1995), verzichten auf die Ebene der semantischen Form und lassen zu, dass ihre Semantiktheorien die syntaktischen Strukturen der Grammatik direkt auf die komplexen, in hohem Maße artikulierten und heterogenen Repräsentationen der konzeptuellen Ebene anwenden. Innerhalb der Zwei-Ebenen-Semantik sind die kombinatorischen Eigenschaften der lexikalischen Begriffe direkt in der dekompositionellen Repräsentation ihrer semantischen Formen in den lexikalischen Einträgen enkodiert und bilden die Grundlage für die kompositionelle Bedeutung der komplexen linguistischen Ausdrücke, von denen sie ein Teil sind. Variable Bedeutungsaspekte können einer semantischen Form hinzugefügt werden, während sie auf eine konzeptuelle Struktur abgebildet werden. Der Prozess der Bedeutungsanreicherung ist jedoch höchst beschränkt und gelenkt durch bestimmte Parameter, die bereits in der semantischen Form verankert sind. Dort können bestimmte Variablen ungebunden und bestimmte Prädikatskonstanten unterspezifiziert bleiben. Als solche fungieren sie als Platzhalter, die die Integration von weiterer Information auf der Ebene der konzeptuellen Struktur unterstützen, wo sie von spezifischerem konzeptuellem Wissen ausgedrückt werden. Man betrachte zum Beispiel die Repräsentation der deutschen Partikel ein in (1) im Vergleich zu der vollen Präposition in, mit der sie verwandt ist in (2), vgl. Witt (1998: 44): (1) λu BECOME(LOC(u, INT[v])) (2) λv λu BECOME(LOC(u, INT[v])) Die semantische Form der Präposition in (2) drückt aus, dass eine Entität u in der internen Region einer anderen Entität v lokalisiert wird. Die Variablen v und u sind von Lambda-Operatoren gebunden, die anzeigen, dass sie durch referenzielle Ausdrücke ersetzt werden können, wie in dem Satz (Er legte) die DVD in den Player. Im Vergleich mit der Präposition ist die interne Variable der Partikel v in (1) nicht von einem Lambda-Operator gebunden und erzeugt eine freie Variable in der semantischen Form. Diese Variable kann vom konzeptuellen Wissen gebunden werden, um die Bedeutung des Satzes Er legte die DVD ein hervorzubringen, in dem die interne Variable v die Bedeutung eines DVD-Players annimmt. Jedoch

kann die Erklärung der freien Variable v abhängig vom Kontext variieren. Nimmt man zum Beispiel den Satz Sie schließt ihre Tasche ein, so kann die implizite interne Region je nach Kontext als Safe, Schublade, ihr Büro, der Kofferraum ihres Autos etc. verstanden werden. Die Ausführung der vollen Satzbedeutung ist der Prozess, der typisch für die konzeptuelle Struktur ist. Ein anderes Gebiet der Wortbildung, auf dem konzeptuelle und nicht strikt linguistische Prozesse eine Rolle spielen, ist der Bereich der Komposition. Eine grundlegende Eigenschaft von „primary compounds“ ist ihre offene Interpretation. Das neue Kompositum snow gun/Schneewaffe hat bspw. mehrere plausible Interpretationen. Es kann neben vielen anderen Möglichkeiten auch als ‘gun made of snow/aus Schnee gemachte Waffe’, als ‘gun that shoots snow/Schnee schießende Waffe’, als ‘gun that shoots wild game in snow/ Waffe, die Wild im Schnee erschießt’ und als ‘white gun/weiße Waffe’ interpretiert werden. Grammatikalisch kann der Prozess der Komposition als die Kombination von zwei Lexemen definiert werden, bei dem das neugeformte komplexe Lexem die kategorialen Merkmale der zweiten Konstituente übernimmt, die als sein Kopf fungiert. Der einzige Hinweis, den ein Hörer zur intendierten Bedeutung von snow gun/Schneewaffe bekommt, kommt von den zwei explizit genannten Konzepten snow und Schnee bzw. gun und Waffe. Was nicht ausgedrückt wird, ist, wie diese Konzepte miteinander verbunden sind. Die semantische Form von snow gun/Schneewaffe würde diese implizite Information in Form einer unspezifischen Konstante festhalten, z.B. als „R“, das für eine allgemeine Relation steht, für die in der konzeptuellen Struktur eine spezifische Relation zur Verfügung gestellt wird abhängig vom Kontext oder der im Diskurs gegebenen konzeptuellen Information (vgl. Olsen 2012): (3) λx ∃y [GUN(x) & R(x,y) & SNOW(y)] Folglich legt die semantische Form in (3) fest, dass das Kompositum sich auf ein x bezieht, welches eine Waffe ist und auf irgendeine Art mit Schnee verbunden ist. Die unterspezifizierte Relation R kann je nach Gebrauchskontext und konzeptuellem Wissen als ‘schießen’, ‘gemacht aus’, ‘ähnelt’ etc. ausgedrückt werden. Diese Analyse hinsichtlich einer simplen unterspezifizierten semantischen Form, die von kontextuellem und/oder

407 Kopf konzeptuellem Wissen angereichert wird, nutzt den Rahmen der Zwei-Ebenen-Semantik, um eine Beobachtung explizit zu machen, die in verschiedenen Analysen in der Literatur zu finden ist, vgl. Bradley (1906: 81), Zimmer (1971: 14), Downing (1977: 829), Dowty (1979: 316), Selkirk (1982: 23) und Bauer (1978: 122). Susan Olsen

→ außersprachliches Wissen; Kopf; Lexikoneintrag (1);

Partikelverb; primary compound; semantische Form; sprachliches Wissen; variable R condition ⇁ conceptual structure (Woform; CG-Engl)

🕮 Bauer, L. [1978] The Grammar of Nominal Compounding. Odense ◾ Bierwisch, M./ Lang, E. [Hg. 1987] Grammatische und konzeptuelle Aspekte von Dimensionsadjektiven. Berlin ◾ Bierwisch, M. [1982] Formal and Lexical Semantics. In: LB 80: 3–17 ◾ Bierwisch, M. [1983] Semantische und konzeptuelle Repräsentation lexikalischer Einheiten. In: Růžička, R./ Motsch, W. [Hg.] Untersuchungen zur Semantik. Berlin: 61–99 ◾ Bierwisch, M. 2015. Word-formation and argument structure. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] WordFormation (HSK 40.3). Berlin [etc.] 1056–1099 ◾ Bradley, H. [1906] The Making of English. London ◾ Downing, P. [1977] On the creation and use of English compound nouns. In: Lg 53: 810–842 ◾ Dowty, D.R. [1979] Word Meaning and Montague Grammar. The Semantics of Verbs and Times in Generative Semantics and Montague’s PTQ. Dordrecht [etc.] ◾ Jackendoff, R. [1990] Semantic Structures. Cambridge, MA [etc.] ◾ Maienborn, C. [1996] Situation und Lokation. Die Bedeutung lokaler Adjunkte von Verbalprojektionen. Tübingen ◾ Maienborn, C. [2017] Konzeptuelle Semantik. In: Staffeldt, S./ Haegemann, J. [Hg.] Semantiktheorien: Lexikalische Analysen im Vergleich. Tübingen: 151–188 ◾ Olsen, S. [2004] The Case of Copulative Compounds. In: ter Meulen, A./ Abraham, W. [eds.] The Composition of Meaning. From Lexeme to Discourse. Amsterdam: 17–37 ◾ Olsen, S. [2012] The Semantics of Compounds. In: Maienborn, C./ Heusinger, K./ Portner, P. [eds.] Semantics (HSK 33.3). Berlin [etc.]: 2120–2150 ◾ Pustejovsky, J. [1995] The generative lexicon. Cambridge, MA ◾ Selkirk, E. [1982] The Syntax of Words. Cambridge, MA [etc.] ◾ Witt, J. [1998] Kompositionalität und Regularität im System der Partikelverben mit ein-. In: Olsen, S. [Hg.] Semantische und konzeptuelle Aspekte der Partikelverbbildung mit ein-. Tübingen: 27–103 ◾ Wunderlich, D. [1997] Cause and the Structure of Verbs. In: LingInqu 28: 27–68 ◾ Zimmer, K. [1971] Some General Observations about Nominal Compounds. In: WPLgU 5: C1-C21.

koordinatives Kompositum

≡ Dvandva; Ko-Kompositum; Kopulativkompositum

Kopf

Konstituente eines komplexen Wortes, deren kategoriale Merkmale diejenigen des gesamten Wortes bestimmen.

▲ head: constituent of a larger word whose cate-

gorial features determine those of the larger structure. In der X-Bar-Theorie der generativen Syntax ist der Kopf (engl. head) einer Phrase die Kategorie X im Baumdiagramm (1), deren Merkmale auf die gesamte Phrase übertragen werden und auf diese Weise eine direkte Projektionslinie zwischen der niedrigsten Ebene X und den phrasalen Ebenen X1 und XP mittels Merkmalsvererbung (engl. perkolation) herstellen (Chomsky 1981). (1) XP

Specifier

X' X

Complement

Das Konzept „Kopf“ wurde von Williams (1981) in die Wortsyntax eingeführt, um dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Struktur komplexer Wörter einem ähnlichen Prinzip folgt. Wortbildungsprozesse ergeben nicht unspezifische Kategorien, sondern übernehmen auf regelmäßige Weise die morphosyntaktischen Merkmale einer ihrer beiden unmittelbaren Bestandteile. Suffixe bestimmen die morphosyntaktischen Merkmale der mit ihnen abgeleiteten Wörter. Das Suffix -ung bspw. bildet aus Verben feminine Nomina mit einer Pluralform in -en (die Aufführung, -en), das Suffix -er maskuline Nomen ohne overte Pluralmarkierung (der Wähler, die Wähler) und die Suffixgruppe -heit/-keit/-igkeit Nomen aus Adjektiven mit der Pluralform -en (Klugheit, Klugheiten; Aufmerksamkeit, Aufmerksamkeiten). Verben und Nomen werden durch das Suffix -bar in Adjektive transponiert (trinkbar, fruchtbar), während -los aus Nomen Adjektive ableitet (mühelos). Die kategorialen Eigenschaften des in den germanischen Sprachen hochproduktiven Musters der N+N-Komposita gehen ebenso auf die zweite Konstituente zurück, vgl. das Genus der Bildungen die Autobahn, der Weltmeister, das Weihnachtspaket sowie auch die nominale Kategorie und das Genus der Komposita mit verbalem Erstglied (der Impfstoff, das Schweigegeld, die Waschmaschine) und mit adjektivischem Erstglied (der Magerquark, die Fernleitung) – selbst bei Pronomen, Numeralien, Präpositionen und

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Kopf 408

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Adverbien als Erstglied ist es das Zweitglied, das für die Merkmalstruktur des komplexen Nomens verantwortlich ist: das Ich-Gefühl, der Zweikampf, das Umfeld, die Soforthilfe. Die Erstglieder von Komposita zeigen also keine kategoriale Wirkung auf das Gesamtkompositum. Auch Präfixe haben in den germanischen Sprachen keinen Einfluss auf die Kategorie des mit ihnen abgeleiteten Derivats. Das abgeleitete Wort übernimmt vielmehr die Kategorie der in der zweiten Position vorkommenden Basis. Das Präfix un- verbindet sich mit einem Adjektiv in untreu und einem Nomen in Unruhe, in denen beide Präfigierungen die Kategorie ihrer Basis ererben. Ebenso übernehmen die ur-Präfigierungen Urwald und uralt die Kategorien Nomen bzw. Adjektiv ihrer Basen. Präfigierungen mit miss- verbinden sich durchweg mit Nomen und vererben die nominale Kategorie der Basis auf das Derivat (vgl. das Missverhältnis, die Missstimmung). Nach Fleischer/Barz (2012: 258) sind die Bildungen der Missgriff, der Missbrauch, der Misserfolg keine Gegenbeispiele dieser Regularität. Auch in diesen Fällen ist die Basis der miss-Präfigierung ein Nomen, das durch den deverbalen Konversionsprozess entsteht, obwohl die Verben greifen, brauchen, erfolgen daneben existieren. Ein weiteres Beispiel der Durchsichtigkeit eines Präfixes bezüglich der Kategorie seiner Basis ist das engl. Präfix counter-, wie die Bildungen counterproductive ‘kontraproduktiv’ als Adjektiv, countermeasure ‘Gegenmaßnahme’ als Nomen und countersign ‘gegenzeichnen’ als Verb zeigen (Williams 1981: 248). Auf Grund solcher Beobachtungen nahm Williams (1981) an, dass in komplexen Wortstrukturen die rechte Konstituente als Kopf des komplexen Wortes fungiert, und formulierte die angenommene Regularität als die „righthand head rule“, die er wie in (2) definierte, vgl. Williams (1981: 248): (2) Righthand Head Rule: In der Morphologie definieren wir den Kopf eines morphologisch komplexen Wortes als die am weitesten rechts stehende Konstituente des Wortes. Obwohl Williams' „righthand head rule“ ohne Zweifel eine wichtige Einsicht in die Struktur komplexer Wörter ermöglicht, sind potentielle Ausnahmen bekannt. Ein viel diskutiertes Beispiel sind die evaluativen Suffixe der romani-

schen Sprachen, sofern sie als Derivationssuffixe (und nicht als Flexive) klassifiziert werden. Das spanische Diminutivsuffix -itV wird an Adjektive, Nomen und Adverbien angehängt, ohne die Kategorie der Basis zu ändern, vgl. poquito < poco ‘klein’, chiquita < chica ‘Mädchen’, ahorita < ahora ‘jetzt’ (Di Sciullo/Williams 1987: 26). Beispiele aus dem Italienischen mit dem Diminutivsuffix -ino sind tavolino ‘kleiner Tisch’ < tavolo ‘Tisch’, benino ‘ziemlich gut’ < bene ‘gut’ und giallino ‘hellgelb’ < giallo (Scalise 1988: 233–235). Ein weiter möglicher Fall wären die denominalen und deadjektivischen Präfixverbbildungen des Deutschen wie befreunden, bedachen, entfremden, entfetten, ergrauen, verschrotten, vereinfachen (Fleischer/Barz 2012: 383ff.) und v.a. die sehr produktiven Partikelverbbildungen wie abmagern, absahnen, anfeuchten, anleinen, ausdünnen, ausmisten usw. (Fleischer/Barz 2012: 399ff.). Auch das Englische weist denominale Präfixverben auf (to declaw ‘entkrallen’, uncork ‘entkorken’, encode 'kodieren’). Für manche Linguisten fungiert das Präfix bzw. die Partikel in solchen Bildungen als Kopf der Struktur. Weil es allerdings auch zumindest aktive denominale und deadjektivische Wortbildungsprozesse gibt, die nicht verkettend sind (in erster Linie Konversion, vgl. hämmern < Hammer, ölen < Öl, gleichen < gleich, ebenen < eben), wäre es möglich, dass die Kategorie Verb in der denominalen und deadjektivischen Verbbildung auch mittels Konversion entsteht, wobei der Konversionsprozess gleichzeitig durch die Addition des Präfixes bzw. der Partikel unterstützt wird (vgl. Wunderlich 1987). Ähnliche Fälle finden sich bei den parasynthetischen Verben v.a. der romanischen Sprachen. Die produktiven Kompositionsmuster der romanischen Sprachen weisen Köpfe auf, die allerdings nicht der „righthand head rule“ konform rechts, sondern links stehen. Die Bildungen in (3) entstehen nach dem N+P+N-Muster. (3) span. botas de lluvia ‘Regenstiefel’, frz. frein à main ‘Handbremse’, ital. macchina da scrivere ‘Schreibmaschine' In (4) werden N+N-Bildungen aufgelistet: (4a) span. el cochemasccasafem ‘Wohnmobil’; frz. le chapeaumasc-clochefem ‘Glockenhut’ (4b) span. hombres rana ‘Taucher’; frz. timbres poste ‘Briefmarken’; ital. capistazione ‘Bahnhofsvorsteher’

409 Kopf Die romanischen Sprachen haben aus dem Spätlatein eine linksköpfige Syntax geerbt (vgl. Oniga 1992: 104 und Ricca 2015: 688). Die linken Konstituenten übernehmen auch in diesen lexikalischen Strukturen die Kopffunktion der komplexen Bildungen, d.h. sie bestimmen die Kategorie und das Genus des Nomens in (4a). Indem die linke Konstituente die Pluralflexive trägt, wie in (4b) gezeigt, verletzen diese Konstruktionen das grundlegendste Kriterium der Definition eines Wortes, nämlich seine Existenz als unteilbare Einheit. Sie sind aus reduzierten syntaktischen Phrasen entstanden, die sich als Wortbildungsmuster im Lexikon etabliert haben, im Gegensatz zu den freien Verbindungen der germanischen Kompositionsmuster. Insofern gelten diese Konstruktionen nicht als echte morphologische Bildungen („morphologische Objekte“ im Sinne von DiSciullo/Williams 1987), sondern werden als syntaxähnliche Konstruktionen betrachtet und als „syntagmatische“ Komposita (engl. „improper compounds“) bezeichnet, vgl. Rainer (2016: 2624). Die Frage, inwieweit der Begriff „Kopf“ eine Relevanz für die Wortbildung hat, ist umstritten, vgl. Bauer (2008), Scalise/Guevara (2006), Scalise/ Fábregas/Forza (2009) und Lieber (2009). Beispielsweise wird behauptet, dass Bildungen wie engl. hardhat ‘Bauarbeiter’, flatfoot ‘Plattfuß’ keinen Kopf besitzen, da sie keine subordinierenden Konzepte zum hyperonymischen Konzept im Zweitglied bilden, sondern auf ein externes Individuum mit der im Kompositum ausgedrückten salienten Eigenschaft referieren. Der Begriff „Kopf“ ist aber nur sinnvoll, wenn er im Sinne von Williams als struktureller Begriff verstanden und nicht semantisch aufgefasst wird, vgl. Olsen (2015: 371–374). Die germanischen Exozentrika enthalten einen rechtsseitigen Kopf, wie aus engl. flatfeet als Mehrzahl von flatfoot sowie aus dem Genus der Bildungen das Milchgesicht, die Rotznase und der Blondschopf ersichtlich ist. Die morphologischen Eigenschaften dieser „exozentrischen“ Komposita entstammen dem zweiten Nomen als Kopf der Struktur, vgl. auch die Pluralbildungen Großmäuler < Maul, Langohren < Ohr und Grünschnäbel < Schnabel. Der exozentrische Aspekt dieser Komposita ist in der Bedeutung zu suchen, nicht in der Struktur. Strukturell sind sie regelmäßige Determinativkomposita. Ihre Referenten entstehen aber über eine Bedeutungsver-

schiebung der Metonymie, vgl. Rotbart nicht als ‘roter Bart’ zu verstehen, sondern als ‘jemand mit einem roten Bart’. Nicht alle als „exozentrisch“ genannten Bildungen weisen allerdings einen strukturellen Kopf auf. Bildungen nach dem Muster der „exozentrischen Verb-Nomen-Komposita“ in den romanischen Sprachen sind Beispiele von komplexen Strukturen, die keinen strukturellen Kopf aufweisen. Diese Fälle sind daher strukturell wie semantisch exozentrisch. Die schlichte syntagmatische Struktur „Verbalprädikat plus Nomen“ in Strukturen wie span. cuentachistes ‘Witze-Erzähler; lit. erzähl+Witze’ weist keinen Kopf auf, da sie weder Verben noch Hyponyme des in der zweiten Position vorkommenden Nomen sind, vgl. die weiteren Beispiele in (5) aus Olsen (2012: 2140–2144). (5) span. cuidacoches ‘Park-Wächter’, tocadiscos ‘Plattenspieler’; frz. porte-drapeau ‘Fahnenträger’, essui-glace ‘Scheibenwischer’; ital. portalettere ‘Postbote’ stuzzica-denti ‘Zahnstocher’; engl. killjoy ‘Spielverderber’, turnkey ‘Gefängniswärter’, scofflaw ‘Gesetzesbrecher’ In diesem Zusammenhang werden manchmal Koordinativkomposita pauschal als strukturell exozentrisch identifiziert. Das Argument läuft darauf hinaus, dass bspw. die koordinierten Komposita Schriftsteller-Maler bzw. engl. entertainer-preacher weder auf einen Schriftsteller bzw. Entertainer noch auf einen Maler bzw. Prediger referieren. Es wird dabei übersehen, dass die koordinierten appositionellen Komposita der zentralen europäischen (engl. Standard Average European-)Region im Gegensatz zu den Ko-Komposita der in Ost- und Südostasien, Neuguinea und Mesoamerika vorkommenden Sprachen ein Hyponym des Zweitglieds bilden, denotieren also einen Maler, der auch Schriftsteller usw. ist. Der springende Punkt ist der, dass der Begriff „Kopf“ ein struktureller und kein semantischer Begriff ist. Die koordinierten appositionellen Komposita der SAE-Sprachen weisen in der Tat einen strukturellen Kopf auf, wie das Minimalpaar in (6) zeigt. (6a) dāo-qiāng ‘Waffen; lit. Schwert-Speer’ (6b) lanza-espada ‘etwas, das sowohl ein Schwert als auch ein Speer ist; lit. Speer-Schwert’ Das strukturell exozentrische Ko-Kompositum in (6a) aus dem Mandarin drückt eine Koordination

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Kopf, affixaler 410

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aus, die eine Kollektion von mehreren Gegenständen bezeichnet, also ein Hyperonym der Bestandteile, nämlich ‘Schwerte und Speere’ oder ‘Waffen’. Das appositionelle Kompositum des Spanischen in (6b), das ‒ wie für die romanischen Sprache typisch ‒ eine linksköpfige Struktur hat, denotiert demgegenüber ein einziges Objekt, ein Hyponym der Konstituenten in (6b), das sowohl ein Speer als auch ein Schwert ist, vgl. Wälchli (2005) und Arcodia/Grandi/Wälchli (2010). Aber auch das Germanische hat eine Reihe genuin kopfloser Wörter (im weiteren Sinne). Als solche sind die Zusammenrückungen in (7) zu verstehen, die durch Konversion eines Syntagmas zustandekommen. Das Kopfprinzip trägt also zur Abgrenzung echter Wortstrukturen (also morphologischer Objekte) von loseren Wortstrukturen (d.h. solchen Grenzfällen) ab, die eben nicht durch die zentralen Regularitäten der Wortbildungen zu erklären sind. (7) Dreikäsehoch, Gernegroß, Störenfried, Tunichtgut, Stelldichein, Wagehals, Taugenichts; engl. good-for-nothing, ne'erdowell, diehard ‘Sturschädel’ Bei einer möglichen Kritik am Kopfprinzip ist m.a.W. zu bedenken: Der Begriff „Kopf eines Wortes“ ist ein struktureller Begriff. Dieses Prinzip trifft auf komplexe Wortstrukturen zu, die als Produkte der regelmäßigen Regeln des morphologischen Systems entstehen. Susan Olsen

≡ Head → § 22; appositionelles Kompositum; exozentrisches Kompositum; exozentrisches Verb-Nomen-Kompositum; Ko-Kompositum; Konversion; Kopulativkompositum; linksköpfiges Kompositum; Partikelverb; Perkolation; Präfixverb; righthand head rule; Zusammenrückung ⇀ Kopf (Gram-Syntax; CG-Dt); Kopf (1) (Phon-Dt); Kopf (2) (PhonDt) ⇁ head (Woform; CG-Engl; Typol); head (1) (Phon-Engl); head (2) (Phon-Engl)

🕮 Arcodia, G./ Grandi, N./ Wälchli, B. [2010] Coordination in compounding. In: Scalise, S./ Vogel, I. [eds.] Cross-Disciplinary Issues in Compounding. Amsterdam [etc.]: 177–197 ◾ Bauer, L. [1990] Be-heading the word. In: JLing 1–31. ◾ Chomsky, N. [1970] Remarks on nominalization. In: Jacobs, R./ Rosenbaum, P. [eds.] Readings in English Transformational Grammar. Waltham, MA: 184–221 ◾ Di Sciullo, A.-M./ Williams, E. [1987] On the Definition of Word. Cambridge, MA [etc.] ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Lieber, R. [2009] A Lexical Semantic Approach to Compounding. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Compounding. Oxford: 78–104

◾ Melloni, C. [2020] Subordinate and Synthetic Compounds in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 700–726 ◾ Moskal, B./Smith, P.W. [2020] The Status of Heads in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 1099–1122 ◾ Olsen, S. [1990] Zum Begriff des morphologischen Heads. In: DS 18: 126–147 ◾ Olsen, S. [1991] Ge-Präfigierungen im heutigen Deutsch. Ausnahmen von der „Righthand Head Rule“? In: BGeschDtSprLit-T 113: 332–366 ◾ Olsen, S. [2012] Semantics of Compounds. In: Maienborn, C./ von Heusinger, K./ Portner, P. [eds.] Semantics. (HSK 33.3). Berlin [etc.]: 2120–2150 ◾ Olsen, S. [2015] Composition. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 364–386 ◾ Oniga, R. [1992] Compounding in Latin. In: RLing 4(1): 97–116. ◾ Rainer, F. [2016] Spanish. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.4). Berlin [etc.]: 2620–2640 ◾ Ricca, D. [2015] VN compounds in Romance. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-formation (40.1). Berlin [etc.]: 688–707 ◾ Scalise, S./ Fábregas, A./ Forza, F. [2009] Exocentricity in Compounding. In: Gengo Kenkyu 135: 49–84 ◾ Scalise, S./ Guevara, E. [2006] Exocentric Compounding in a Typological Framework. In: LinLin 2: 185–205 ◾ Scalise, S. [1988] The Notion of „Head“ in Morphology. In: Booij, G./ van Marle, J. [eds.] YbMo: 247–258 ◾ Wälchli, B. [2005] Co-compounds and Natural Coordination. Oxford ◾ Wälchli, B. [2015] Co-compounds. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 707–727 ◾ Williams, E. [1981] On the Notions „Lexically Related“ and „Head of a Word“. In: LingInqu 12: 245–274 ◾ Wunderlich, D. [1987] An investigation of lexical composition. The case of German be-verbs. In: Ling 25: 283–331.

Kopf, affixaler → affixaler Kopf

Kopf-Prozess

Regel, die direkt auf die Kopf-Konstituente einer Konstruktion angewandt wird. ▲ head operation: rule that applies directly to the head constituent of a construction. Die Diskussion über „Bracketing“-Paradoxe, von Williams (1981) ausgelöst, führte zu einem Dilemma für die Theorie der Wortbildung. Semantisch scheint das Wort ungrammaticality ‘Ungrammatikalität’ über Suffigierung mit dem Wort ungrammatical ‘ungrammatisch’ verwandt zu sein: es kann paraphrasiert werden als ‘der Status oder Zustand, ungrammatisch zu sein’. Jedoch spricht phonologische Evidenz für eine andere Analyse. Das Suffix -ity bildet mit einem Stamm eine schwache Grenze und muss deshalb eine engere phonologische Einheit mit der Basis bilden als das Präfix un-, welches eine starke Grenze bedingt. Diese Annahmen führen zu einer Struktur wie in (1):

411 Kopfwort (1) [un# [grammatical+ity]] Die fehlende Übereinstimmung zwischen der phonologischen und semantischen Analyse von Wörtern wie ungrammatical wurde von Williams anhand des Begriffs „Head“ [Kopf] erkärt. Williams (1981: 261) ging von der Idee einer „lexikalischen Verwandtschaft“ aus, den er folgendermaßen definierte: (2) X can be related to Y if X and Y differ only in a head position or in the nonhead position. [X kann mit Y verwandt sein, wenn X und Y sich nur in der Kopf-Position oder in der Nichtkopf-Postion unterscheiden.] Durch diese Definition kann ungrammaticality mit ungrammatical verbunden werden, weil sie sich nur in der Kopf-Position unterscheiden. Darüber hinaus kann ungrammaticality mit grammaticality verwandt sein, weil sie sich in der Nichtkopf-Position unterscheiden. Petsetsky (1985) schlug andererseits vor, die beiden Wörter mittels Affixanhebung miteinander in Verbindung zu setzen, die ähnlich dem Quantor­ anhebungsprozess in der Syntax konzipiert wurde. In seiner Analyse nimmt das Suffix -ity seine zugrundeliegende Position in der Einheit grammaticality ein und wird dann mittels α-Bewegung an das Gesamtwort adjungiert, vgl. (3), wo es Skopus über die Konstituente ungrammatical erhält. (3) N A

N

basen abgeleitet werden (Hoeksma 1985: 49). Das Verb understand/understood ‘verstehen/verstand’ wird für die Vergangenheit an seiner KopfKonstituente flektiert ebenso wie seine Basis stand/stood ‘stehen/stand’. Der Flexionsprozess der Vergangenheitsbildung bezieht sich direkt auf die Kopf-Konstituente. Rainer (1993: 114) diskutiert die Pluralisierung von linksköpfigen Komposita im Spanischen, bei denen das Plural-Suffix -s an den Kopf angefügt wird, sodass hombre rana ‘Froschmann’ im Plural die interne Flexion übernimmt, um zu hombres rana ‘Froschmänner’ zu werden. Jedoch können hochgradig lexikalisierte Komposita die Pluralflexion am gesamten Wort anzeigen, weil die interne Struktur undurchsichtig wurde, vgl. bocacalle ‘Straßenkreuzung’/bocacalles 'Straßenkreuzungen' < boca ‘Mund’ + calle ‘Straße’.

→ Kategorialgrammatik; Kopf; Linksköpfigkeit ⇁ head operation (Woform)

Susan Olsen

🕮 Hoeksema, J. [1985] Categorial morphology. New York ◾ Hoeksema, J. [1987] Relating Word Structure and Logical Form. In: LingInqu 18/1: 119–126 ◾ Pesetsky, D. [1985] Morphology and Logical Form. In: LingInqu 16: 193–246 ◾ Rainer, F. [1993] Headoperations in Spanish morphology. In: Booij, G./ van Marle, J. [eds.] YbMo 1992: 113–128 ◾ Williams, E. [1981] On the Notions „Lexically Related“ and „Head of a Word“. In: LingInqu 12: 245–274.

Kopf-Schwanz-Wort ≡ Klammerwort

Kopfwort

grammatical

unisegmentales Kurzwort, das aus dem ersten Teil einer bedeutungsgleichen längeren lexikalischen Einheit besteht. ▲ back clipping: unisegmental short form consisting of the first part of a longer lexical unit equivalent in meaning.

Aufgrund seiner Arbeit innerhalb des Bereichs der kategorialen Grammatik argumentiert Hoeksma (1985), dass die Analyse in (1) das Kompositionalitätsprinzip nicht widerlegt, solange morphologische Prozesse Affixe direkt an den lexikalischen Kopf einer Konstruktion anfügen. Kopf-Prozesse treffen laut Hoeksma auch auf Wörter zu, die durch nicht-verkettende Prozesse gebildet werden, wie die präfigierten Verben im Germanischen, die von unregelmäßigen Verb-

Man unterscheidet im Rahmen der Kurzwortbildung verschiedene Kürzungsprodukte; solche aus einem zusammenhängenden Teil der Vollform nennt man unisegmentale Kurzwörter. Wird für die Bildung eines unisegmentalen Kurzworts der hintere Teil der Vollform getilgt, wird der verbleibende vordere Teil als „Kopfwort“ bezeichnet. Bei der Bildung von Kopfwörtern handelt es sich um einen sehr produktiven, meist umgangssprachlich markierten Typ der Kurzwortbildung.

un

A A

ity t

K

Koppelwort 412

K

Viele Kopfwörter sind vorwiegend in der mündlichen oder in der an diese angelehnten Chat- und E-Mail-Kommunikation zu finden; in der Schriftsprache und in formaleren Kommunikationssituationen werden meist die entsprechenden Vollformen gebraucht: Chemo vs. ›Chemotherapie‹, Dino vs. ›Dinosaurier‹, Frust vs. ›Frustration‹, Perso vs. ›Personalausweis‹, Reha vs. ›Rehabilitationsmaßnahme‹. Allerdings sind einige Kopfwörter bereits so weit lexikalisiert, dass sie auch in die Standardsprache Eingang gefunden haben, z.T. sogar geläufiger als die Vollformen sind: App(lication), Auto(mobil), Cabrio(let), Ober(kellner), Zoo(logischer Garten). Im Engl. und Frz. finden sich ebenfalls viele Kopfwörter; auch hier ist dieser Typ der Kurzwortbildung sehr produktiv: z.B. engl. ad(vertisement) und advert(isement), doc(tor), exam(ination), gym(nastics), lab(oratory), math(ematics), memo(randum), pub(lic house) sowie bike für bicycle oder mike für microphone; frz.: ampli(ficateur), anar(chiste), bac(calauréat), croco(dile), mono(phonique), promo(tion), sténo(graphie), télé(vision). Auch in den skandinavischen Sprachen ist dieser Wortbildungstyp produktiv, stellvertretend seien genannt für das Schwed. arr(angemang) und el(ektricitet), für das Dän. kval(ifikasjonsrunde) und stud(erende), für das Norw. krim(inalroman) und perm(isjon); allein im Isl. sind Kopfwörter selten und spielen Endwörter eine wichtigere Rolle als diese. Im Dt. bilden Kopfwörter die mit Abstand größte Gruppe der unisegmentalen Kurzwörter; sie können aus Silben – Akku(mulator), Lok(omotive), Promi(nenter) – oder aus vollständigen Morphemen – Bund(eswehr), Hoch(druckgebiet), Ober(kellner) – bestehen. Einige lexikalisierte Kopfwörter bestehen aus fremdsprachigen Morphemen, die im Dt. sonst nicht als freie Morpheme existieren, sondern nur als Wortbildungselemente: etwa Auto und Kilo – in der lexikalisierten Form haben sie die entsprechend eingeengte Bedeutung ihrer Vollformen Automobil und Kilogramm (nicht etwa Kilometer); als gebundene Morpheme eine allgemeinere Bedeutung: auto- ‘selbst, eigen, persönlich, unmittelbar’, kilo- ‘das Tausendfache’. Kopfwörter aus fremdsprachigen Morphemen finden sich auch in der mündlichen Fachkommunikation, etwa Derma für ‘Dermatologie’, Ergo für

‘Ergotherapie’, Gyn für ‘Gynäkologie’, Neuro für ‘Neurologie’, Sono für ‘Sonographie’. Eine Untergruppe bilden Kopfwörter auf -i; bei einigen ist das -i Teil der Vollform – Assi(stent), Promi(nenter), Sani(täter), Touri(st) –, bei anderen tritt ein Suffix -i mithilfe der Kürzungssuffigierung an die Kopfform: Compi (Computer), Pulli (Pullover), Schlaffi (Schlaffer), Studi (Student/-in), engl. bookie für bookmaker oder telly für television. Anja Steinhauer

→ § 29; Fremdmorphem; Konfix; Kürzungssuffigierung;

Kurzwort; Kurzwortbildung; unisegmentales Kurzwort; Wortkürzung ⇀ Kopfwort (Lexik)

🕮 Balnat, V. [2011] Kurzwortbildung im Gegenwartsdeutschen. Hildesheim [etc.] ◾ Bär, J.A./ Roelcke, T./ Steinhauer, A. [Hg. 2007] Sprachliche Kürze. Konzeptuelle, strukturelle und pragmatische Aspekte. Berlin [etc.] ◾ Kobler-Trill, D. [1994] Das Kurzwort im Deutschen. Eine Untersuchung zu Definition, Typologie und Entwicklung. Tübingen ◾ Nübling, D./ Duke, J. [2007] Kürze im Wortschatz skandinavischer Sprachen. Kurzwörter im Schwedischen, Dänischen, Norwegischen und Isländischen. In: Bär, J.A./ Roelcke, T./ Steinhauer, A. [Hg.] Sprachliche Kürze. Konzeptuelle, strukturelle und pragmatische Aspekte. Berlin [etc.]: 227–263 ◾ Steinhauer, A. [2000] Sprachökonomie durch Kurzwörter. Bildung und Verwendung in der Fachkommunikation. Tübingen ◾ Steinhauer, A. [2015] Clipping. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 352–363.

Koppelwort

≡ Kontamination

Kopulativkompositum

Kompositum, das eine koordinative Beziehung zwischen den Bestandteilen aufweist. ▲ copulative compound: compound with a coordinative relation between the constituents. Der Terminus Kopulativkompositum stammt aus der traditionellen historischen Grammatik, wo die Klasse der Komposita meist in drei Unterklassen unterteilt wird: Determinativ-, Kopulativ- und Possessivkomposita, vgl. Paul (1920). Grundsätzlich können die Bestandteile eines endozentrischen Kompositums semantisch in einer modifizierenden Relation zueinander stehen und werden dann zu den Determinativkomposita gerechnet, oder sie kommen in einer koordinierten Relation zueinander vor und gelten als Kopulativkomposita. Erben spricht bei Kopulativkomposita von einer „parataktischen“ Zuordnung der beiden Kompositionsglieder zueinander, die

413 Kopulativkompositum „auf Größen beziehbar ist, denen jedes der beiden Kompositumsglieder als prädikative Bestimmung zukommt“ (Erben 1983: 57). Beispiele sind Schauspieler-Autor, Dichter-Präsident, Autor-Redakteur-Verleger. Marchand (1969: 40) definiert „copula compounds“ ähnlich, indem er sie durch die Formel ‘AB is A und AB is B’ erklärt. Allerdings umfasst Marchand mit dem Begriff „copula compound“ mehr als nur den Typus fighter-bomber und girlfriend. Darunter sind auch Subsumptivkomposita (oak tree ‘Eiche; lit. Eiche Baum’) und attributive Komposita wie blackbird erfasst. Kopulativkomposita können auch aus Adjektiven bestehen (süß-sauer, dummdreist) wie auch aus Verben, die allerdings seltener vorkommen, vgl. lobtadeln, fluchbeten. Die Gleichordnung der Bestandteile eines Kompositums zieht formale und semantische Einschränkungen mit sich, die typisch für Kopulativkomposita sind. Die koordinierten Lexeme müssen derselben lexikalischen Klasse angehören, also beide Nomina, Adjektiva oder Verben sein, und das gleiche lexikalisch-semantische Begriffsfeld vertreten. Historiker kann mit Biograf zu einem Kopulativkompositum Historiker-Biograf kombiniert werden, da beide Nomina menschlichen Berufstätigkeiten bezeichnen. Die Kombination von Historiker mit Haus ergäbe aber eine determinative Deutung: Historikerhaus. Die Bedeutung eines Kopulativkompositums ist paraphrasierbar durch ‘und’ (ein Pianist-Dirigent ist ‘jemand, der Pianist und Dirigent ist’). Sofern die Kombination nicht lexikalisiert ist, ist die Reihenfolge der Bestandteile umstellbar: Dirigent-Pianist ist ebenso möglich wie Pianist-Dirigent. Kopulativkomposita denotieren Hyponyme ihrer Bestandteile: Ein Radiowecker ist ein Wecker und Radio zugleich, also etwas, das spezifischer ist als ein Radio oder ein Wecker. Marchand (1969: 41) bezeichnet das Kopulativum Baden-Württemberg zwar als „additiv“, betont allerdings dabei, dass es sich um ein Individuum handelt – eine Einheit aus beiden Ländern. „Additiv“ ist also für ihn nicht zu verstehen als Gruppenbildung. „Kopulativ“, „koordinativ“, „additiv“ werden oft in diesem Sinne als Synonyme verstanden (neben Marchand vgl. Fleischer/Barz 2012: 150). Allerdings kommt bei Marchand und in anderen traditionellen Wortbildungslehren eine terminologische Verwirrung zustande, indem diese drei Bezeichnungen mit dem

Terminus Dvandva aus der Sanskrit-Grammatik gleichgesetzt werden (Henzen 1965: 75, Marchand 1969: 41, Plag 2003: 146). Der Terminus „Kopulativkompositum“ (engl. copulative compound) ist alt; er kommt bereits bei den altindischen Grammatikern vor. In seiner Sanskrit Grammar verwendet Whitney (1950: 485ff.) „copulative compounds“ als Überschrift für die Ausführungen zu den Sanskrit-Dvandvas. Auch Mayrhofer (1965: 101f.) geht in seiner Sanskrit-Grammatik von der Unterteilung in Kopulativ-, Determinativ- und Possessivkompositum aus. Das Problem dabei ist, dass die koordinierten Komposita des Sanskrit typologisch zu unterscheiden sind von koordinierten Komposita des Germanischen, obwohl beide Kompositatypen koordinierte Konstituenten aufweisen. Fanselow (1981: 116–123) wies bereits darauf hin, indem er für die germanischen Kopulativa wie Baden-Württemberg und engl. Rank-Xerox den Terminus „Schein-Dvandvas“ prägt, um sie von den genuinen Dvandvas aus dem Sanskrit klar abzugrenzen, die kein Hyponym ihrer Bestandteile, sondern eine Gruppenbildung zum Ausdruck bringen, also im echten Sinne „additiv“ sind, vgl. Sanskrit simhavyoa-ghra-u ‘der Löwe und der Leopard; lit. Löwe.Leopard-Dual’. Weiteren Aufschluss in dieser Hinsicht verdanken wir v.a. den Arbeiten von Wälchli (2005, 2015) und Arcodia/ Grandi/Wälchli (2010), die auf eine grundsätzliche Dichotomie zwischen den koordinativen Komposita der standardeuropäischen Sprachfamilien und denen der so genannten Ko-Komposita-Sprachen hinweisen. Ko-Komposita, die vornehmlich in den Sprachen Südostasiens, Mesoamerikas und Neuguineas vorkommen, aber nur randständig in Europa, denotieren keine subordinierten Begriffe wie die germanischen Kopulativkomposita, sondern superordinierte Begriffe, also Hyperonyme der Bestandteile. Dvandvas gehören zu den semantischen Untergruppen der Ko-Komposita, die eine additive (also gruppenbildende) und eine kollektive Bedeutung haben. Beispiele sind mordvinisch ponks.t-panar.t ‘Kleider; lit. Hose-Hemd’, georgisch da-szma ‘Geschwister; lit. SchwesterBruder’ und xel-p'exi ‘Glied; lit. Hand-Fuß’ sowie Avar ber.k'al 'Gesicht; lit. Auge-Mund’. Das Phänomen der koordinierten Komposita ist sehr komplex. Weitere Untersuchungen zu den germanischen Sprachen (vgl. v.a. Fanselow 1985)

K

korpusbasierte Wortbildungsforschung 414

K

haben gezeigt, dass die Deutung einer Gruppenbildung auch im Germanischen vorkommt – allerdings beschränkt auf die nicht-referentielle Stelle des Erstglieds eines Kompositums, vgl. SchmidtGenscher-Konflikt, Rhein-Main-Donau-Kanal (Fan­ se­low 1985: 302). Olsen (2004: 30f.) zeigt, dass ein koordinierter Modifikator in einem Determinativkompositum sogar ambig ist zwischen der Individuum- und Gruppenlesart. Beide Deutungen kommen bspw. in engl. educator-scientist commission vor, die sowohl eine Kommission aus DidaktikerWissenschaftlern bedeuten kann als auch eine Kommission aus Didaktikern und Wissenschaftlern. Als Modifikator in einer koordinativen (statt determinativen) Relation zum Kopf fällt aber die Interpretation als Gruppenbildung weg: engl. composer-pianist-singer kann nur ein Individuum sein, das alle drei Prädikate zugleich vereint, das also zugleich Komponist, Pianist und Sänger ist, nicht etwa ein Sänger zusammen mit einem Komponisten und einem Pianisten. Statt die missverständlichen Termini „Kopulativ“ und „Dvandva“ für koordinierte Komposita der verschiedenen Sprachtypen zu übernehmen, verwenden Arcodia/Grandi/Wälchli (2010) die unmissverständlichen Bezeichnungen „hyponymi­ sche“ und „hyperonymische“ koordinative Kom­ posita. Für weitere Diskussion vgl. Olsen (2014) wie auch Raffelsiefen (2022). Susan Olsen ≡ konjunktives Kompositum; koordinatives Kompositum → § 22; additives Ko-Kompositum; Determinans-Determinatum-Struktur; Determinativkompositum; Dvandva; endozentrisches Kompositum; Ko-Kompositum; Kompositum; Kopf; Possessivkompositum; subsumptives Kompositum ⇀ Kopulativkompositum (Lexik)

🕮 Arcodia, G./ Grandi, N./ Wälchli, B. [2010] Coordination in compounding. In: Scalise, S./ Vogel, I. [eds.] Cross-Disciplinary Issues in Compounding. Amsterdam [etc.]: 177–197 ◾ Erben, J. [1983] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 2. Aufl. Berlin ◾ Fanselow, G. [1981] Zur Syntax und Semantik der Nominalkomposition. Tübingen ◾ Fanselow, G. [1985] What is a possible complex word? In: Toman, J. [ed.] Studies in German Grammar. Dordrecht: 289–318 ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Lindner, T. [2011–2018] Indogermanische Grammatik. Band IV/1: Komposition. Band IV/2: Komposition im Aufriß. Heidelberg ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Mayrhofer, M. [1965] Sanskrit-Grammatik mit sprachvergleichenden Erläuterungen. Berlin ◾ Olsen, S. [2004] The Case of Copulative Compounds. In: ter Meulen, A./ Abraham, W. [eds.] The Composition of Meaning. From Lexeme

to Discourse. Amsterdam: 17–37 ◾ Olsen, S. [2014] Coordinative structures in morphology. In: Machicao y Priemer, A./ Nolda, A. / Sioupi, A. [eds.] Zwischen Kern und Peripherie . Berlin: 269–286 ◾ Paul, H. [1920] Deutsche Grammatik. Bd. V: Wortbildungslehre. Halle/Saale ◾ Raffelsiefen, R. [2022] Head alignment in German compounds: Implications for prosodic constituency and morphological parsing. In: Freywald, U./ Simon, H./ Müller, S. [eds.] Headedness and/or grammatical anarchy? Berlin: 211– 271 ◾ Ralli, A. [2020] Coordination in Compounds. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 726–742 ◾ Wälchli, B. [2005] Co-compounds and Natural Coordination. Oxford ◾ Wälchli, B. [2015] Co-compounds. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 707– 727 ◾ Whitney, W.D. [1950] Sanskrit Grammar. Cambridge, MA [https://en.wikisource.org/wiki/Sanskrit_Grammar_(Whitney)/ Chapter_XVIII; letzter Zugriff: 13.06.2021].

korpusbasierte Wortbildungsforschung

Wortbildungsforschung auf Basis der Auswertung von Textkorpora. ▲ corpus-based word-formation research: word-formation research based on the analysis of text corpora. Während für ältere Arbeiten zur Wortbildung das methodische Prinzip vor allen Dingen darin bestand, steinbruchartig Texte oder Wörterbücher auszuwerten bzw. die eigene Sprachkompetenz als Bewertungsmaßstab anzusetzen, ist es heute zum Standard geworden, Wortbildungsforschung auf der Basis von Textkorpora (vgl. dazu Heid 2015; Dal/Namer 2015) zu betreiben. Die ersten Arbeiten zur systematischen Darstellung der verbalen, substantivischen und adjektivischen Derivation der deutschen Gegenwartssprache anhand eines umfangreichen Textkorpus wurden in den 1970er Jahren publiziert (Kühnhold/Wellmann 1973; Wellmann 1975; Kühnhold/Putzer/Wellmann 1978). Schon bald danach wurde dieses Verfahren auch für sprachgeschichtliche Untersuchun­ gen zur mhd. und frnhd. Wortbildung ge­ nutzt (Überblick bei Müller 2015). Auch im Zusammenhang mit dem Aufschwung der Korpuslinguistik seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wurden weitere gegenwartssprachliche (z.B. das Deutsche Referenzkorpus als elektronisches Archiv von Text­ korpora des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache; das Kernkorpus des Digitalen Wörterbuchs der deutschen Sprache) und sprachgeschichtliche (z.B. die Referenzkorpora des Altd., Mhd. und Frnhd. sowie ‒ als umfangreichstes Korpus ‒ das Deutsche Textarchiv mit Texten vom 15. bis Anfang des 20. Jh.) Korpora erstellt bzw. ausgebaut (Überblick bei Lemnitzer/Zinsmeister 2015). Obwohl

415

korrelative Ableitung

die zumeist online verfügbaren Textkorpora hinsichtlich Umfang, Zeit, Raum, Textsorte und Sozialprofil der Autoren/Adressaten sehr heterogen und im Allgemeinen nicht wortbildungsmorphologisch annotiert sind, eröffnen sie der Wortbildungsforschung bei kritischer Nutzung (vgl. z.B. Ganslmayer/Müller 2021a, 2021b) neue Möglichkeiten, beispielsweise hinsichtlich Aussagen zur Produktivität von Wortbildungsarten und -morphemen. Neben der langue-orientierten formalen und funktionalen Beschreibung standardsprachlicher Wortbildungsstrukturen und -einheiten pro­fitieren von der Korpusausrichtung auch Forschungsansätze, die auf varietätenspezifische Verwendungsweisen und Funktionen von Wortbildungen ausgerichtet sind. Eine solche noch wenig elaborierte „sprachgebrauchsorientierte Wortbildungsforschung“ (vgl. z.B. Elsen/Michel 2012) steht im Spannungsfeld mit weiteren linguistischen Disziplinen wie Variationslinguistik, Textlinguistik, Soziolinguistik, Pragmatik und Kognitiver Linguistik. Korpusbasierte Wort­bil­dungs­for­schung kann dabei genauer zeigen, welche Textsortenspezifik Wortbildungen aufweisen und welchen Beitrag zur Textkonstitution sie erfüllen (vgl. Seifert 2015), welche Sprachvarietäten (z.B. Dialekt/Regiolekt, Fachsprache, Literatursprache, Werbesprache, Jugendsprache) vom Standard abweichende Wortbildungseigenheiten aufweisen (vgl. z.B. Gersbach/Graf 1984/85; Reinhardt/Köhler/Neubert 1992; Bozdĕchová 2015; Handler 2015; Ronneberger-Sibold 2015a, 2015b) und welche Rolle pragmatische bzw. kognitive Aspekte bei der Verwendung bestimmter Wortbildungsformen spielen (vgl. z.B. Libben 2015; Merlini Barbaresi 2015). So zeigt etwa Reckenthäler (2020) in einer korpusbasierten Untersuchung von possessiven und privativen Adjektivbildungen, „dass bestehende theoretische Modelle unvollständig sind und empirische Untersuchungen ein anderes Bild darstellen, […] neue und bestehenden Annahmen mitunter widersprechende Erkenntnisse gewonnen werden konnten“, wobei auch „feine Bedeutungsnuancen aufgedeckt und -unterschiede ausgemacht werden konnten“ (106). Zur Wortbildung als Baustein einer Korpusgrammatik des Deutschen vgl. Brandt (2020); Konopka (2020). Peter O. Müller

→ § 7, 38; jugendsprachliche Wortbildung; textorientierte Wortbildungslehre; Wortbildungslehre

🕮 Bozdĕchová, I. [2015]: Word-formation and technical languages. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 2251–2266 ◾ Brandt, P. [2020] Bau von und Umbau zu Adverbien: Präpositionen, Vergleiche und Flexion. In: Konopka, M./ Wöllstein, A./ Felder, E. [Hg.] Bausteine einer Korpusgrammatik des Deutschen. Bd. 1. Heidelberg: 65–98 ◾ Dal, G./ Namer, F. [2015]: Internet. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 2372–2385 ◾ Elsen, H./ Michel, S. [Hg. 2011] Wortbildung im Deutschen zwischen Sprachsystem und Sprachgebrauch. Perspektiven ‒ Analysen ‒ Anwendungen. Stuttgart ◾ Ganslmayer, C./ Müller, P.O. [2021a] Historische Fremdwortbildung: Forschungsstand und Perspektiven. In: Ganslmayer, C./ Schwarz, C. [Hg.] Historische Wortbildung. Theorien – Methoden – Perspektiven. Hildesheim [etc.]: 105–144 ◾ Ganslmayer, C./ Müller, P.O. [2021b] Diskurse im Spiegel der Wortbildung. -ismus und Ismen. In: Bär, J.A. [Hg.] Historische Text- und Diskurssemantik. Berlin [etc.]: 90–118 ◾ Gersbach, B./ Graf, R. [1984/85] Wortbildung in gesprochener Sprache. Die Substantiv-, Verb- und Adjektiv-Zusammensetzungen und -Ableitungen im „Häufigkeitswörterbuch gesprochener Sprache“. 2 Bde. Tübingen ◾ Handler, P. [2015]: Word-formation and literature. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 2266–2288 ◾ Heid, U. [2015]: Corpora. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 2354–2371 ◾ Konopka, M. [2020] Grundlegende Aspekte der Wortbildung. In: Konopka, M./ Wöllstein, A./ Felder, E. [Hg.] Bausteine einer Korpusgrammatik des Deutschen. Bd. 1. Heidelberg: 29–63 ◾ Kühnhold, I./ Putzer, O./ Wellmann, H. [1978] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 3. Hauptteil: Das Adjektiv. Düsseldorf ◾ Kühnhold, I./ Wellmann, H. [1973] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 1. Hauptteil: Das Verb. Düsseldorf ◾ Lemnitzer, L./ Zinsmeister, H. [2015] Korpuslinguistik. Eine Einführung. 3., überarb. u. erw. Aufl. Tübingen ◾ Libben. G. [2015]: Word-formation in psycholinguistics and neurocognitive research. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 203–217 ◾ Merlini Barbaresi, L. [2015]: The pragmatics of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1128–1142 ◾ Müller, P.O. [2015]: Historical word-formation in German. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1867–1914 ◾ Reckenthäler, S. [2020] Wortbildung korpuslinguistisch betrachtet ‒ Eine empirische Untersuchung possessiver und privativer komplexer Adjektive. Mannheim ◾ Reinhardt, W./ Köhler, C./ Neubert, G. [1992] Deutsche Fachsprache der Technik. Hildesheim [etc.] ◾ Ronneberger-Sibold, E. [2015a]: Word-creation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 485–500 ◾ Ronneberger-Sibold, E. [2015b]: Word-formation and brand names. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 2192–2210 ◾ Wellmann, H. [1973] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 2. Hauptteil: Das Substantiv. Düsseldorf..

korrelative Ableitung ≡ korrelative Derivation

K

korrelative Derivation 416

korrelative Derivation

Derivation mit Konfixbasis, die nach dem Muster eines bereits bestehenden Konfix-Ableitungspaars in proportionaler Analogie gebildet wurde. ▲ correlative derivation: derivative with a bound morpheme as base generated in proportional analogy to an already existing pair of derivations with bound morphemes as their bases.

K

Bei Wortpaaren wie engl. intricate – intricacy oder aggressive – aggression sowie bei Reihen wie special – specific – specify oder distal – distant – distance bestünden Analyseprobleme im Hinblick auf die Segmentierung von Basis und Suffix. Obwohl in diesen Fällen häufig auftretende Derivationssuffixe wie -ate, -ous, -ity und -ify anzutreffen sind, sei die Segmentierung problematisch, weil die verbleibenden Basen intric-, aggress-, spec- oder specif- sowie dist- keine freien Morpheme sind (Schmid 2005: 168f.). Die für diese Fälle von Schmid (2005: 169) erwogene Möglichkeit, „strikt der Definition der Suffigierung zu folgen und Lexeme dieses Typs mit Hinweis auf die Gebundenheit der vermeintlichen Wurzeln nicht weiter zu segmentieren und folglich als monomorphematische Lexeme aufzufassen“ (wogegen aber der Eindruck spreche, dass den potenziellen Basen durchaus eine Bedeutung zugeordnet werden könne, der derjenigen von freien lexikalischen Morphemen entspreche), erscheint nicht als überzeugend, weil es nicht zur Definition der Suffigierung gehört, dass die Basis unbedingt wortfähig sein muss; sie muss nur eine selbständige lexikalische Bedeutung tragen. Offenbar wird die in der germanistischen Wortbildungsliteratur seit längerem eingeführte morphologisch-semantische Einheit Konfix als „gebundenes Grundmorphem“ (Fleischer/Barz 2007: 25 nach Fischer 1985: 210; Benennung „Konfix“ bei Schmidt 1987: 50) in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt. Das aber ist nicht nachvollziehbar, weil Schmid das Konzept der in der anglistischen Sprachwissenschaft als „gebundene Wurzeln“ (engl. bound roots) bezeichneten Konfixe bereits zuvor eingeführt hatte (Schmid 2005: 41f.) und im Folgenden auch sogleich wieder heranzieht. Es handele sich bei diesen Formen in der Regel um lateinische oder griechische Wurzeln, die als Teile komplexer Lexeme oft in ganzen Wortfamilien aus dem Lateinischen oder Fran-

zösischen ins Englische entlehnt worden seien. Die Wurzeln aber seien als solche nicht entlehnt worden oder seien im Lauf der Sprachgeschichte außer Gebrauch geraten (Schmid 2005: 42). Drei Ansätze plädieren laut Schmid (2005: 196) bei solchen Fällen für eine Segmentierung von Basis und Suffix. Davon ist der erste für die Erklärung des Begriffs „korrelative Derivation“ einschlägig. Dieser Ansatz biete sich vor allem für Paare systematisch einander gegenüberstehender Suffixe wie -ate und -acy oder -ive und -ion an. Er geht von einer sogenannten korrelativen Derivation (engl. correlative derivation) aus und argumentiert historisch. Demnach sind der Ausgangspunkt solcher Korrelationen in der Regel Paare von Lehnwörtern, nach deren Muster im Englischen eine zweite Form gebildet wurde, auch wenn nur ein Teil eines potenziellen Paars entlehnt wurde. So sei das Adjektiv cautious in Analogie zu dem bereits bestehenden Ableitungspaar ambition – ambitious von dem zuvor entlehnten Nomen caution abgeleitet worden (Schmid 2005: 169 nach Hansen/Hansen/Neubert/Schentke 1990: 90f.). Implizite Voraussetzung für diese Art der Erklärung sei, dass ein Lehnwort zuvor den Prozess der „truncation“ (Kürzung) durchgemacht habe, durch den Teile eines Lexems wie echte oder vermeintliche Suffixe abgespalten würden, die dann durch andere Suffixe ersetzt würden (Schmid 2005: 169). Der zweite Ansatz geht ebenfalls von einer Kürzung aus; die fraglichen Lexeme werden durch eine Kombination der Kürzung mit der Stammallomorphie erklärt (Schmid 2005: 169 nach Aronoff 1976: 87ff.). Zum Dritten sei es möglich, und vor allem für Basen, die hochgradig reihenbildend seien, mit dem Konzept der gebundenen Wurzel (engl. bound root) zu arbeiten. Hierbei werde der semantischen Segmentierbarkeit Vorrang vor den Anforderungen an die Autonomie der Basis eingeräumt. Dabei sei daran zu erinnern, dass gebundene Wurzeln nur dann angesetzt werden dürften, wenn ihnen eine Bedeutung zugeordnet werden könne, die in allen Verwendungen erkennbar sei, wenn sie reihenbildend wirksam seien und der verbleibende Rest eindeutig als existierendes Suffix identifiziert werden könne (Schmid 2005: 169). Insgesamt ist die korrelative Derivation dieser Konzeption entsprechend also als eine analogische Ableitung von einem Konfix zu bestimmen,

417 Kunstwort bei der ein bereits bestehendes Konfix-Ableitungspaar das Vorbild für die zu verwendenden Suffixe bereitstellt und auch eine der beiden Ableitungen des neu entstehenden Paares bereits existiert. Aufgrund solcher Korrelationen erklärten sich etwa aus Substantiven abgeleitete Amerikanismen wie donate (a. 1845) oder orate (ca. 1860) (Marchand 1969: 395). Weiterhin wird der Begriff „korrelative Derivation“ für den Fall verwendet, dass es im Sprachgebrauch eine starke Konkurrenz zwischen syntaktischen Mustern und korrelativen Ableitungen gibt (reif werden – reifen; glatt werden – sich glätten; Kühnhold/Wellmann 1973: 121). Eckhard Meineke ≡ korrelative Ableitung → Derivationssuffix; Grundmorphem; Konfix; Segmentierung; Trunkierung; Wurzel

🕮 ◾ Aronoff, M. [1976] Word Formation in Generative Grammar. Cambridge, MA [etc.] ◾ Donalies, E. [2000] Das Konfix. Zur Definition einer zentralen Einheit der deutschen Wortbildung. In: DS 28: 144–159 ◾ Eins, W. [2008] Muster und Konstituenten der Lehnwortbildung. Das Konfix-Konzept und seine Grenzen. Hildesheim [etc.) ◾ Eins, W. [2015] Types of foreign word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1561–1579 ◾ Fischer, E. [1985] Das „gebundene Grundmorphem“ in der deutschen Sprache der Gegenwart. In: BEDtSpr 5: 210–224 ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Hansen, B./ Hansen, K./ Neubert, A./ Schentke, M. [1990] Englische Lexikologie. 3. Aufl. Leipzig ◾ Kühnhold, I./ Wellmann, H. [1973] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 1. Hauptteil: Das Verb. Düsseldorf ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin ◾ Schmidt, G.D. [1987] Das Kombinem. Vorschläge zur Erweiterung des Begriffsfeldes und der Terminologie für den Bereich der Lehnwortbildung. In: Hoppe, G./ Kirkness, A./ Link, E./ Nortmeyer, I./ Rettig, W./ Schmidt, G.D. [Hg.] Deutsche Lehnwortbildung. Beiträge zur Erforschung der Wortbildung mit entlehnten WB-Einheiten im Deutschen. Tübingen: 37–52.

Koseform

≡ Hypokoristikum

Kreativität

mitunter synonym zu Produktivität verwendeter Terminus. ▲ creativity: term sometimes used as a synonym of productivity. Wann immer Kreativität und Produktivität das sprachliche Konstruktionsmerkmal beschreiben,

eine unendliche Menge neuer Aussagen zu erzeugen (Hockett 1958), ist Kreativität als Synonym zu Produktivität zu verstehen. In Arbeiten zur Wortbildung unterscheiden sich Kreativität und Produktivität jedoch voneinander, und zwar üblicherweise darin, dass Produktivität als regelgeleitet, Kreativität dagegen als systemverändernd angesehen wird. Während die Bildung eines Wortes wie banana-like im Englischen Teil einer bereits etablierten Serie ist und also angenommen werden kann, dass es sich hier um eine regelbasierte Bildung handelt, war die erstmalige Bildung von cheeseburger nach dem Vorbild von hamburger kein Fall eines etablierten Musters. Es war nicht nur eine neue Bildung ohne Vorbild, sondern es wurde selbst zum Vorbild einer ganzen Serie von Bildungen wie beefburger, turkeyburger usw, d.h. die erstmalige Bildung von cheeseburger hatte einen systemverändernden Effekt auf die englische Sprache und ist damit ein Beispiel für Kreativität. Wörter, die durch Kreativität, wie sie hier verstanden wird, gebildet werden, umfassen motivationsfreie Bildungen (diese sind selten, und oft handelt es sich um Markennamen wie Exxon), Kontaminationen, Akronyme, Abkürzungen und eventuellen Fällen von Rückbildungen. Einige Theoretiker sehen keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Produktivität und Kreativität. Typischerweise werden dann alle Typen als Analogiebildungen verstanden (vgl. z.B. Becker 1990). Laurie Bauer

→ Abkürzung (1); Analogie; Kontamination; Produktivität; Rückbildung

⇁ creativity (Woform; Typol)

🕮 Bauer, L. [2001] Morphological Productivity. Cambridge [etc.] ◾ Becker, T. [1990] Analogie und morphologische Theorie. München ◾ Hockett, C.F. [1958] A Course in Modern Linguistics. New York.

Kunstwort

Worterfindung, bei der einer völlig neuen Lautfolge eine bestimmte Bedeutung zugewiesen wird, sodass ein sprachliches Zeichen entsteht. ▲ word coinage: creation of a word in which a completely new sound string is assigned a certain meaning so that a linguistic sign comes into being. Für die Bildung von Kunstwörtern (auch Wortoder Urschöpfung; Henzen 1965: 5) gibt es keine Regeln; es sind Wörter „ohne reguläre morphologische Struktur“ (Elsen 2011: 121), z.B. elmex

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Kurzform 418

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(Zahnpasta), Fa (Seife). Sie gelten als morphosemantisch unmotiviert; dennoch lassen sich mitunter Beziehungen der Kunstwörter zu anderen sprachlichen Segmenten ausmachen wie bei Schauma, Wella (Haarwaschmittel) zu Schaum bzw. Welle oder bei Yogurette (Schokoladenart) zu Joghurt und frz. -ette. Auch lautmalende Bildungen wie Maoam (Name für ein Kaubonbon, der das Geräusch des Kauens nachahmt; Ronneberger-Sibold 2015a: 488) gelten als Kunstwörter. Die Grenze zwischen Wortbildung, d.h. der Bildung neuer Wörter nach produktiven Regeln, und der Erfindung von Kunstwörtern ist fließend. Daher wird die Kategorie „Kunstwort“ meist vergleichsweise weit gefasst, indem auch Produkte der Kurzwortbildung und Kontamination einbezogen werden (Ronneberger-Sibold 2015: 485ff.). Ausschlaggebend für diese Zuordnung ist die relative Willkürlichkeit der entsprechenden Bildungen. Kunstwörter spielen für die Erweiterung des Allgemeinwortschatzes eine untergeordnete Rolle. Sie fungieren vorzugsweise als Firmen- oder Produktbezeichnungen, z.B. Adidas (Sportartikelhersteller), Teflon (Kunststoffbeschichtung); vgl. Ronneberger-Sibold (2015b). Zu Kunstwörtern in der Werbesprache vgl. Janich (2013: 68f.). Irmhild Barz

→ § 2; Kontamination; Kurzwortbildung; Segmentierung; Wortschöpfung

⇀ Kunstwort (Lexik); Kunstwort (1) (HistSprw); Kunstwort (2) (HistSprw)

🕮 Elsen, H. [2011] Grundzüge der Morphologie des Deutschen. Berlin [etc.] ◾ Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Janich, N. [2013] Werbesprache. 6., durchges. u. korrig. Aufl. Tübingen ◾ Ronneberger-Sibold, E. [2015a] Word-creation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 485–500 ◾ Ronneberger-Sibold, E. [2015b] Word-formation and brand names. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 2192–2210.

Kurzform

übergreifender Terminus für aus einer längeren und bedeutungsgleichen lexikalischen Einheit gekürzte Form, unabhängig von ihrer phonischen Realisierung. ▲ clipping: generic term for word forms reduced from longer lexical units equivalent in meaning, independent of their phonetic realization. Kurzformen entstehen, wenn längere Wortschatz-

einheiten durch Wortkürzung reduziert werden; diese Kürzungsprodukte können 1. Abkürzungen, 2. Kurzwörter und 3. verschiedene andere Kürzungsprodukte wie Wortkreuzungen (auch Wortverschränkung, Wortverschmelzung, Wortmischung, Kontamination, Kontraktion oder Blending genannt) sein. Abkürzungen sind als Kurzformen keine Wortbildungsprodukte, da mit ihrer Bildung keine neuen Lexikoneinheiten entstehen; ihnen fehlt der Wortcharakter, sie können nicht mit Artikel versehen werden und werden auch nicht flektiert (s. Steinhauer 2011: 9–12). Gesprochen werden diese Kurzformen nicht so, wie es ihrer Ausdrucksseite entspräche, sondern sie werden mündlich wie ihre Vollformen realisiert – Abkürzungen existieren demnach nur in der Schriftform. Es gibt allerdings auch Fälle, in denen Abkürzungen durch häufigen Gebrauch doch in der Kurzform in die mündliche Kommunikation dringen (a.D., km/h). Dies geschieht in der Regel zuerst in der Umgangssprache; diese Kurzformen existieren daher im Übergangsbereich von Abkürzungen zu Kurzwörtern. Die für die Wortbildung bedeutendsten Kurzformen sind Kurzwörter; sie werden gebildet, indem einzelne Segmente einer zugrunde liegenden Vollform ausgewählt und zu einem neuen Wort zusammengefügt werden – etwa Uni aus ›Universität‹ oder Lkw/LKW aus ›Lastkraftwagen‹. Weitere Kurzformen sind Wortkreuzungen – Bildungen wie Kurlaub (aus ›Kur + Urlaub‹) und Brunch (›breakfast + lunch‹). Auch in den Wissenschaften findet man Wortkreuzungen, denn sie eröffnen die Möglichkeit, in einem Namen zwei Dinge anklingen zu lassen: Stagflation (›Stagnation + Inflation‹) im wirtschaftlichen Kontext oder Liger, Liguar und Liard, Tigon, Tiguar und Tigard, Jaglion, Jager und Jagulep sowie Leopon, Leotig und Lepjag im zoologischen Bereich für Kreuzungen der Großkatzen Löwe, Tiger, Jaguar oder Leopard. Auch die Kürzungssuffigierung arbeitet mit Kurzformen, indem an reduzierte Stämme das Suffix -i oder das Suffix -o tritt (Knobi, Studi, Brutalo, Fascho).

Anja Steinhauer ≡ Kurzname ↔ Vollwort → Abkürzung (1); Kontamination; Kürzungssuffigierung; Kurzwort; Kurzwortbildung; Wortkürzung

419 Kurzwort

⇁ clipping (CG-Engl; Typol; Phon-Engl)

🕮 Balnat, V. [2011] Kurzwortbildung im Gegenwartsdeutschen. Hildesheim [etc.] ◾ Bellmann, G. [1980] Zur Variation im Lexikon. Kurzwort und Original. In: WW 30: 369–383 ◾ Duden [2011] Das Wörterbuch der Abkürzungen. Über 50.000 nationale und internationale Abkürzungen und Kurzwörter mit ihren Bedeutungen. 6., überarb. u. erw. Aufl. Mannheim [etc.] ◾ KoblerTrill, D. [1994] Das Kurzwort im Deutschen. Eine Untersuchung zu Definition, Typologie und Entwicklung. Tübingen ◾ Steinhauer, A. [2000] Sprachökonomie durch Kurzwörter. Bildung und Verwendung in der Fachkommunikation. Tübingen ◾ Steinhauer, A. [2015] Clipping. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 352–363.

Kurzname

≡ Kurzform ⇀ Kurzname (Onom)

Kürzungssuffigierung

Sonderfall der Wortkürzung, bei dem gleichzeitig mit der Kürzung eine Suffigierung vorgenommen wird, häufig mit dem Suffix -i. ▲ suffixal clipping: special case of word shortening in which the shortening occurs in connection with a suffixation, often involving the suffix -i.

Dieses produktive Wortbildungsmuster ist eng mit der Kurzwortbildung verwandt, da gleichzeitig bzw. direkt im Anschluss an die Kürzung einer längeren Vollform ein Suffix an das Kürzungsprodukt angehängt wird. Insbesondere in der Umgangssprache und manchen Varietäten (Jugendsprache, Sportsprache) ist dieses Verfahren zu beobachten. Häufig handelt es sich dabei um das Suffix -i, weshalb diese Produkte der Kürzungssuffigierung auch als „i-Wörter“ bezeichnet werden. Das Suffix -i ermöglicht eine oft liebevoll gemeinte, hypokoristische, manchmal auch leicht abschätzige, pejorative Differenzierung (Fundi zu ›Fundamentalist‹), das Suffix -o dagegen eine deutlich negative Konnotierung (Fascho für ›Faschist‹). Ob die Produkte der Kürzungssuffigierung zu den Kurzwörtern zu rechnen sind, ist umstritten – Greule (1983/84) sieht sie als solche an, sofern sie tatsächlich Dubletten zu ihren Vollformen bilden (Ami zu ›Amerikaner‹, Pulli zu ›Pullover‹) und nicht mit ihrer Bildung eine neue Bedeutung erhalten haben. Es gibt jedoch auch Fälle von i-Wörtern, bei denen keine (lexikalisierte) Vollform zur Verfügung steht: Ossi, Wessi, Sponti; diese sind nach der Definition keine echten Kurzwörter, da

ihnen die gleichbedeutende Vollform fehlt. Bei einigen i-Wörtern geht zudem gar keine Kürzung voraus: Brummi, Doofi, Grufti zu ›brummen‹, ›doof‹, ›Gruft‹. Die Produkte der Kürzungssuffigierung sind au­ ßerdem klar abzugrenzen von Kurzwörtern wie Abi, Promi, Schiri, Uni, Zivi, denn diese enden zwar ebenfalls auf -i; allerdings handelt es sich hier jeweils nicht um ein Suffix -i, sondern um einen Buchstaben aus der jeweiligen Vollform: ›Abitur‹, ›Prominenter‹, ›Schiedsrichter‹, ›Universität‹, ›Zivildienstleistender‹. Zur „Morphemhaftigkeit“ des -i, also der Frage, inwieweit das -i in verschiedenen Kurzformen als Derivationsmorphem anzusehen ist, vgl. ausführlich Köpcke (2002). Anja Steinhauer

→ § 29; Derivationsmorphem; Kopfwort; Kurzwort; Kurzwortbildung; Wortkürzung

🕮 Féry, C. [1997] Uni und Studis. Die besten Wörter des Deutschen. In: LB 172: 461–489 ◾ Greule, A. [1983/84] Abi, Krimi, Sponti. Substantive auf -i im heutigen Deutsch. In: Mutterspr 94: 207–217 ◾ Greule, A. [1986] Altes und Neues zu den i-Wörtern. In: Sprachdienst 30: 141–143 ◾ Köpcke, K.-M. [2002] Die sogenannte i-Derivation in der deutschen Gegenwartssprache. Ein Fall für outputorientierte Wortbildung. In: ZGL 30: 293–309.

Kurzwort

bedeutendstes Produkt der Wortkürzung, das − zumindest ursprünglich − parallel und bedeutungsgleich zur Vollform, aus der es gekürzt wurde, besteht. ▲ clipping: main result of clipping that, at least initially, exists beside the full form from which it was shortened in the same meaning. Diskutiert werden Kurzwörter in Bezug auf 1. ihre Definition und Typologisierung, 2. die Rechtschreibung, 3. die Grammatik und 4. kommunikative Aspekte. Definition und Typologie: Als Kurzwörter bezeichnet man im Dt. sehr verschiedenartige Kürzungsprodukte. Sie werden zunächst von den Abkürzungen (die nur auf der Schriftebene gekürzt sind und beim Sprechen in die Vollformen aufgelöst werden) unterschieden und weiter von anderen Produkten der Wortkürzung, die keine parallel existierende bedeutungsgleiche längere Form aufweisen, wie Wortkreuzungen („blendings“) oder Kunstwörter. Kurzwörter sind demnach eigenständige lexikalische Einheiten, die aus einer längeren Wortschatzeinheit durch Kürzung verschie-

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Kurzwort 420

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dener Elemente entstanden sind. Zum Zeitpunkt der Kürzung sind Kurzwörter gleichbedeutend mit ihren Vollformen; gelegentlich ersetzt das Kurzwort nach mehr oder weniger langer Zeit weitgehend die Vollform, wie bei ARD, Hi-Fi, UBoot, oder es entwickelt eine leicht abweichende Bedeutung (etwa wenn mit Bafög die Geldbezüge, nicht das ›Bundesausbildungsförderungsgesetz‹, gemeint sind). Zur Frage der Synonymie zwischen Kurzwort und Vollform s. Michel (2011). Für die Bildung eines Kurzworts gibt es verschiedene Möglichkeiten; es können einzelne Buchstaben (ZDF aus ›Zweites Deutsches Fernsehen‹), Silben bzw. Silbenreste (Schiri aus ›Schiedsrichter‹) oder ganze Morpheme (Gipfel aus ›Gipfelkonferenz‹) aus der Vollform das Kurzwort bilden oder es kommt zu einer Mischung dieser verschiedenen Elemente (Azubi aus ›Auszubildender‹). Seit wann Kurzwörter in der mündlichen Kommunikation nachzuweisen sind, ist schwer zu sagen, da es zwangsläufig keine schriftlichen Zeugnisse gibt; Greule (2007) führt die Entstehung der Kurzwortbildung auf die sehr früh belegte Kürzung von Vornamen zurück. Wissenschaftliche Untersuchungen zu Kurzwörtern als eigener Typ der Wortbildung begannen in der zweiten Hälfte des 20. Jh., nachdem es zuvor vorwiegend sprachkritische Abhandlungen gegeben hatte. Eine erste Kurzwortdefinition in Abgrenzung zu den nur in der Schriftsprache existierenden Abkürzungen legte in den 1950er Jahren Bergstrøm-Nielsen vor; eine erste Dissertation zum Thema wird 1978 von Vieregge verfasst, 1983 erscheint eine leicht aktualisierte Zusammenfassung seiner Ergebnisse. Weitere ausführlichere Untersuchungen mit Vorschlägen einer Typologie gibt es schließlich von Bellmann (1977 und besonders 1980) und daran angelehnt von Kobler-Trill (1994); eine leicht abweichende Terminologie stammt von Greule (1996), weiter ausgeführt und auf die Fachsprachen bezogen von Steinhauer (2000). Die beiden Letzteren gehen bei ihrer Einteilung vom Prozess der Kurzwort-Bildung aus und betrachten die Art der Segmente, die aus der Vollform entnommen sind und das Kurzwort konstituieren: Buchstaben, Silben bzw. Silbenreste oder ganze Wörter. Das ergibt eine erste Einteilung in 1. Buchstabenkurzwörter aus einzelnen Buchstaben der Vollform, 2. Silbenkurzwörter aus Silben

oder Silbenresten der Vollform, 3. Morphemkurzwörter aus vollständigen Morphemen der Vollform und 4. Mischtypen. In einem zweiten Schritt werden diese vier Haupttypen weiter differenziert nach der Anzahl der ausgewählten Segmente. So ergeben sich beispielsweise unisegmentale Morphemkurzwörter (wie Hoch aus ›Hochdruckgebiet‹), bisegmentale Silbenkurzwörter (wie Stasi aus ›Staatssicherheitsdienst‹), trisegmentale Mischkurzwörter (wie Azubi aus ›Auszubildender‹) oder viersegmentale Buchstabenkurzwörter (GmbH aus ›Gesellschaft mit beschränkter Haftung‹). Kobler-Trill (1994) orientiert sich dagegen an der Typologie Bellmanns, die zunächst die Anzahl der Segmente betrachtet, differenziert diese jedoch noch weiter. Sie legt ebenfalls die Opposition der Kurzformen zu den entsprechenden Vollformen zugrunde und kommt so zunächst zu einer Biklassifikation in 1. unisegmentale Kurzwörter, die – wie Akku für ›Akkumulator‹ – aus einem zusammenhängenden Teil der Vollform bestehen (unabhängig davon, ob es sich um Silben oder Morpheme handelt), und 2. „alle übrigen Kurzwörter“, die sich wiederum unterteilen in partielle Kurzwörter, bei denen nur ein Teil des „Originals“ gekürzt ist, und multisegmentale Kurzwörter, die aus mehreren Segmenten der Vollform bestehen (wiederum unabhängig davon, ob es sich um Buchstaben, Silben oder Morpheme handelt: Hapag aus ›Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actien-Gesellschaft‹, BAföG aus ›Bundesausbildungsförderungsgesetz‹, Kripo aus ›Kriminalpolizei‹). Zu allen Typen gibt es weitere Untertypen. So werden die unisegmentalen Kurzwörter nach der Stellung der Segmente in der Vollform weiter unterteilt in a) Kopfwörter (mit dem Typ Demo aus Morphemteilen und dem Typ Hoch, der aus freien Morphemen besteht), b) Endwörter (mit dem Typ Cello aus Morphemteilen und dem Typ Rad aus freien Morphemen) und c) Rumpfwörter aus Morphemteilen aus der Mitte der Vollform (wie Lisa aus Elisabeth). Die multisegmentalen Kurzwörter unterscheidet Kobler-Trill in die Regelfälle a) Initial-Kurzwörter (mit den Typen TÜV und LKW, je nach Aussprache des Kurzworts), b) Silben-Kurzwörter und c) Misch-Kurzwörter. Zudem gibt es eine Gruppe der „besonderen Kurz-

421 Kurzwort wörter“, die sich dadurch auszeichnen, dass ihre Segmente nicht vom Anfang bestimmter Morpheme der Vollform stammen, sondern an willkürlicher Stelle stehen: „Typ Tbc“ (›Tuberculose‹), „Typ Dax“ (›Deutscher Aktienindex‹) und „z.B. Btx“ (›Bildschirmtext‹). Für eine ausführliche Diskussion der Typologie Kobler-Trills (1994) und anderer terminologischer Einteilungen vgl. Steinhauer (2000) und Balnat (2011). Dass Kurzwörter kein Spezifikum der dt. Sprache sind, zeigen Untersuchungen zu verschiedenen europ. Sprachen, vgl. für das Engl., das Frz., das Ital., die skandinavischen Sprachen und das Ukrainische Busse/Schneider (2007), Schmitt (2007), Mayer/ Rovere (2007), Nübling/Duke (2007), Sandhop (2007), Steinhauer (2015). 2. Rechtschreibung von Kurzwörtern: Orthographische Fragen beziehen sich meist auf die Schreibung mit oder ohne Punkt, auf die Großund Kleinschreibung und auf die Schreibung mit Bindestrich. Kurzwörter im Dt. werden – im Gegensatz zu den Abkürzungen – generell ohne Punkte geschrieben (FSME = ›Frühsommer-Meningoenzephalitis‹), es sei denn, sie kommen aus fremden Sprachen und werden in der Originalform übernommen (R.A.F. = ›Royal Air Force‹). Die Groß- und Kleinschreibung innerhalb der Kurzwörter schwankt; ursprünglich kleingeschriebene Wörter behalten meist ihre Schreibung bei (GmbH = ›Gesellschaft mit beschränkter Haftung‹), die Anfangsbuchstaben von substantivischen Wortbestandteilen der Vollform können im Kurzwort aber auch großgeschrieben werden (BMW = ›Bayerische Motorenwerke‹, TÜV = ›Technischer Überwachungsverein‹). In den Fachsprachen gibt es häufig normierte Schreibungen von Kurzwörtern. In der Rechtssprache etwa ist relativ einheitlich geregelt, wie die Kurzformen für die Bezeichnungen von Gesetzen gebildet werden: Die Anfangsbuchstaben der einzelnen Wortbestandteile der Vollform sind jeweils großzuschreiben, und nur weitere Buchstaben, die zur Verdeutlichung, zur besseren Sprechbarkeit oder zur Unterscheidung von anderen Gesetzen zusätzlich aus der Vollform ausgewählt werden, werden kleingeschrieben (SGB = ›Sozialgesetzbuch‹ und StGB = ›Strafgesetzbuch‹). Die Schreibung eines Kurzworts kann sich auch ändern; bei häufigem Gebrauch in der Alltagssprache werden Kurzwörter oft der Schreibung „normaler“ Wör-

ter angepasst und dann nur noch am Wortanfang großgeschrieben. Dies betrifft hauptsächlich phonetisch gebunden gesprochene Kurzwörter: Aids, Bafög, Castor, Dax, Nato, aber auch einige buchstabiert gesprochene wie Kfz, Lkw, Pkw. In Zusammensetzungen mit anderen Wörtern werden Buchstabenkurzwörter mit Bindestrich angeschlossen, egal ob sie als rechte oder linke Komponente eines Kompositums erscheinen: Fußball-WM, Lkw-Maut. Die Verwendung des Bindestrichs bei Zusammensetzungen mit Silben- und Mischkurzwörtern schwankt je nach Usualisierungsgrad des Kurzworts (Busbahnhof, Diskobesuch, Zoodirektion, aber Rehamaßnahme/RehaMaßnahme, Stasimitarbeiter/Stasi-Mitarbeiter). In Ableitungen wird kein Bindestrich gesetzt, allerdings sind diese relativ selten (CDUler, SPDler). 3. Grammatik von Kurzwörtern: Auffällig ist bei vielen Kurzwörtern die eigene Pluralmarkierung mit -s (Kitas, Pkws/PKWs, Profs, Unis), auch wenn der Plural der Vollform davon abweicht (Kindertagesstätten, Personenkraftwagen, Professoren, Universitäten); selten findet man noch AGen neben AGs für Arbeitsgemeinschaften. Einen Sonderfall bildet das Kurzwort Castor (›cask for storage and transport of radioactive material‹). Hier hat sich die Pluralform Castoren etabliert, Castor wird nicht (mehr) als Kurzwort empfunden, so dass die Pluralmarkierung sich an ähnlich ausklingende Wörter anlehnt: Castoren wie Faktoren, Motoren, Sensoren, Vektoren. Ausführlich hat sich Ronneberger-Sibold (2007) mit der Flexion von Kurzwörtern beschäftigt; sie kommt zu dem Ergebnis, dass bestimmte Möglichkeiten des dt. Flexionssystems bei den Kurzwörtern kaum, andere dagegen übermäßig stark genutzt werden und stellt dabei einen funktionalen Zusammenhang zwischen der Lautgestalt vieler Kurzwörter und der Art ihrer Flexion fest. Komposita mit Kurzwörtern finden sich sehr häufig, selten dagegen sind Wortbildungsaktivitäten im Bereich der Derivation: aus Kurzwörtern gebildete Ableitungen kommen am häufigsten in der Umgangssprache vor, indem Suffixe wie -mäßig oder -haft auch an Kurzwörter angehängt werden: TÜV-mäßig ist das Auto in Ordnung, kripohaftes Verhalten. Die Suffixe -ler/in als Personenkennzeichnung sind allerdings schon länger produktiv (SPDler, CDUlerin). Von Kurzwörtern abgeleitete Verben, also verba-

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Kurzwort, multisegmentales 422

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le Konversionen, gibt es nur sehr wenige, in der Regel sind auch sie umgangssprachlich geprägt: Ein Auto kann getüvt werden, wer eine SMS verschickt, simst, aus dem gleichen Umfeld stammen auch mimsen zu MMS und wappen zu WAP. 4. Kommunikative Aspekte: Kurzwörter können sich im Laufe der Zeit mehr oder weniger von ihren Vollformen lösen. Das kann zu kommunikativen Problemen führen (Verschleierung von Seiten des Senders, Nichtverstehen auf Seiten des Empfängers), aber auch zu Erleichterungen. Im Vordergrund stehen die Erleichterungen, da Kurzwörter in bestimmten Kommunikationssituationen und daher meist kontextgebunden verwendet werden. Besonders auf dem wichtigen Gebiet der Fachkommunikation sind Kurzwörter unentbehrlich. Zu den wichtigsten produktiven Möglichkeiten, die Kurzwörter gegenüber ihren Vollformen bieten, gehören a) neue Wortbildungsmöglichkeiten (OECD-Studie vs. *Organization-for-Economic-Cooperation-and-Development-Studie, ADHS-mäßig vs. *Aufmerksamkeitsdefizit-und-Hyperaktivitätssyndrom-mäßig), b) geschlechtergerechte Formulierungen (der/die OB = ›Oberbürgermeister/-in‹, der/die Hiwi = ›Hilfswissenschaftler/-in‹, der/die Vize = ›Vizekanzler/-in‹ etc.) und c) Remotivierungen, wenn die ursprüngliche Vollform nicht mehr korrekt oder zeitgemäß erscheint oder aus anderen Gründen geändert werden soll (AEG = ›Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft‹ > „Aus Erfahrung gut“). Das Engl. unterscheidet definitorisch hauptsächlich zwischen „clippings“ und „acronyms“, wobei mit „clippings“ die unisegmentalen Kurzwörter gemeint sind, mit „acronyms“ (oder je nach Terminologie „initialisms“) vorwiegend Buchstabenkurzwörter, gelegentlich auch Silbenkurzwörter. Für einen detaillierten Überblick s. Kreidler (1979 und 2000) sowie López Rúa (2004). Anja Steinhauer ≡ Abbreviatur; gekürztes Wort; Stutzwort ↔ Vollwort → § 29; Abkürzung (1); Akronym; Konstituente; Konversion; Kürzungssuffigierung; Kurzwortbildung; Morphem; multisegmentales Kurzwort; partielles Kurzwort; Remotivation; unisegmentales Kurzwort; Wortbildungsaktivität; Wortbildungskonstruktion; Wortkürzung ⇀ Kurzwort (QL-Dt; CG-Dt; Lexik) ⇁ clipping (CG-Engl; Typol; Phon-Engl)

🕮 Balnat, V. [2011] Kurzwortbildung im Gegenwartsdeutschen. Hildesheim [etc.] ◾ Bellmann, G. [1980] Zur Variation im Lexi-

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Kurzwort, multisegmentales → multisegmentales Kurzwort

Kurzwort, partielles → partielles Kurzwort

423 Kurzwort-Wortbildung

Kurzwort, unisegmentales → unisegmentales Kurzwort

Kurzwortbildung

Bildung eines Wortes durch Kürzung einer bereits bestehenden längeren und bedeutungsgleichen lexikalischen Einheit. ▲ clipping: formation of a word by means of shortening an existing longer lexical unit that is equivalent in meaning.

Mit Kurzwortbildung wird ein Wortbildungsverfahren bezeichnet, das – anders als etwa die Komposition und die Derivation – auf Reduktion lexikalischer Einheiten beruht. Durch Kurzwortbildung werden (zunächst) synonyme Ausdrücke zu den entsprechenden Vollformen gebildet, die sich allerdings häufig verselbständigen und zumindest andere Konnotationen ermöglichen als die zugrunde liegenden längeren Vollformen. Die Produkte der Kurzwortbildung, die Kurzwörter, werden hauptsächlich unterschieden in 1. unisegmentale Kurzwörter, 2. multisegmentale Kurzwörter und 3. partielle Kurzwörter. 1. Unisegmentale Kurzwörter bestehen aus einem zusammenhängenden Segment der Vollform, das vom Beginn, vom Ende oder aus der Mitte der längeren Form stammt: Entsprechend werden diese als a) Kopfwörter (Uni[versität], app[lication]), b) Endwörter ([Violon]Cello, [tele]phone) oder c) Rumpfwörter ([in]flu[enza], [re]fridge[erator]) bezeichnet. 2. Bei der Kurzwortbildung multisegmentaler Kurzwörter werden mehrere Segmente der Vollform herangezogen, diese Kurzwortbildungsprodukte können daher sehr unterschiedlich sein: Bestehen sie aus einzelnen Buchstaben, werden sie häufig als Initial(kurz)wörter (auch als Akronyme) bezeichnet, da die aus der Vollform ausgewählten Buchstaben meistens die ersten Buchstaben der Konstituenten darstellen (ADG für ›Antidiskriminierungsgesetz‹, FAQ für ›frequently asked questions‹). Es gibt allerdings auch Kurzwörter aus einzelnen Buchstaben, die nicht vom Beginn der Konstituenten stammen wie Dax für ›Deutscher Aktienindex‹. Sind die Segmente mehrere Buchstaben lang, bilden sie oft Silben im Kurzwort, sodass in der Literatur häufig von

Silbenkurzwörtern gesprochen wird (Stasi aus ›Staatssicherheitsdienst‹), daneben gibt es Mischformen (Asta für ›Allgemeiner Studierendenausschuss‹, Azubi für ›Auszubildender‹). 3. Wird eine längere Wortschatzeinheit nur zum Teil gekürzt, dann wird das Kürzungsprodukt häufig als partielles Kurzwort bezeichnet (Bellmann 1980, Kobler-Trill 1994). Das betrifft z.B. Komposita, deren eine Konstituente gekürzt wird, während die zweite ungekürzt bleibt (E-Mail für ›Electronic Mail‹). Die Kurzwortbildung ist ein relativ junges Wortbildungsverfahren im Vergleich zu anderen, dafür aber ein in den letzten Jahrzehnten sehr produktives. Sie dient der ökonomischen Kommunikation, sowohl in schriftlichen Texten als auch im mündlichen Sprachgebrauch. Insbesondere in den Fachsprachen und anderen Varietäten finden sich zahlreiche Produkte der Kurzwortbildung, wovon die vielen Glossare und Spezialwörterbücher (oft „Abkürzungsverzeichnisse“ genannt) zeugen. Kurzwortbildung findet in verschiedensten Sprachen statt, s. hierzu besonders Kreidler (2000) und Steinhauer (2015) mit Beispielen aus diversen Sprachen. Anja Steinhauer ≡ Reduktion → § 4, 29, 35; Kürzungssuffigierung; Kurzwort; multisegmentales Kurzwort; partielles Kurzwort; unisegmentales Kurzwort; Wortkürzung ⇀ Kurzwortbildung (Phon-Dt) ⇁ clipping (CG-Engl; Typol; Phon-Engl)

🕮 Balnat, V. [2011] Kurzwortbildung im Gegenwartsdeutschen. Hildesheim [etc.] ◾ Bellmann, G. [1980] Zur Variation im Lexikon. Kurzwort und Original. In: WW 30: 369–383 ◾ Greule, A. [1996] Reduktion als Wortbildungsprozeß der deutschen Sprache. In: Mutterspr 106: 193–203 ◾ Kobler-Trill, D. [1994] Das Kurzwort im Deutschen. Eine Untersuchung zu Definition, Typologie und Entwicklung. Tübingen ◾ Kreidler, C.W. [2000] Clipping and acronymy. In: Booij, G.E./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc]: 956–963 ◾ Steinhauer, A. [2000] Sprachökonomie durch Kurzwörter. Bildung und Verwendung in der Fachkommunikation. Tübingen ◾ Steinhauer, A. [2015] Clipping. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 352–363.

Kurzwort-Wortbildung ≡ Kurzwortbildung

K

L Lauteinschaltung ≡ Epenthese

Lauteinschub ≡ Epenthese

Lautikonismus

≡ Onomatopoetikum

lautlicher Zusammenfall

Entwicklung, die zur lautlichen Identität früher verschiedener Wortformen oder Wörter führt. ▲ phonetic conflation: process leading to the phonetic identity of formerly different word forms or words. Der lautliche Zusammenfall kann erstens zwei ursprünglich verschieden ausgestattete Wortformen betreffen, die mit ihren jeweiligen Flexionsendungen verschiedene Akzidenzien (Erscheinungsformen) grammatischer Kategorien wie Genus, Numerus, Kasus, Person, Tempus, Modus repräsentierten. Dabei kann etwa im Germanisch-Deutschen die lautliche Identität a) dadurch entstehen, dass aufgrund des Grundmorphemakzents die unbetonten Flexionsendungen derart abgeschwächt werden, dass ehemals verschiedene Flexionsendungen zusammenfallen. So lautet der Genitiv Sg. von ahd. boto ‘Bote, Gesandter, Abgesandter; Apostel; Engel’ (Schützeichel 2012: 57) boten, der Akkusativ Sg. boton. Im Mhd. sind die beiden Wortformen zu boten zusammengefallen. Ein weiterer Weg zur lautlichen Identität liegt b) im paradigmatischen Ausgleich, d.h. der Übernahme einer Flexionsendung aus einer anderen Form. Im Aengl. und Altsächsischen werden die starken Verben im Pl. Präs. folgendermaßen flektiert (Bei-

spiel faran starkes Verb ‘fahren, gehen, reisen [usw.]’): 1. Pers. Pl. fara-ð ‘wir fahren’, 2. Pers. Pl. fara-ð ‘ihr fahrt’, 3. Pers. Pl. fara-ð ‘sie fahren’ (Hill 2007: 90). Damit unterscheiden sich diese identischen Formen signifikant vom älteren germanischen Zustand, wie er sich in den entsprechenden Formen des Got. zeigt: 1. Pers. Pl. fara-m, 2. Pers. Pl. fari-þ, 3. Pers. Pl. fara-nd (Hill 2007: 89). Im Ahd. entsprechen den got. Formen lautgesetzlich 1. Pers. Pl. faru-mēs (mit zu -mēs erweiterter Endung), 2. Pers. Pl. feri-t, 3. Pers. Pl. fara-nt (Hill 2007: 89). In der aengl. und altsächsischen Form 1. Pers. Pl. fara-ð ist also nicht nur die Stammform (vgl. ahd. faru-) nach der 3. Pers. Pl. fara-ð ausgeglichen worden wie bei der 2. Pers. Pl. fara-ð, sondern auch die alte Endung durch die Endung aengl., altsächsisch -ð der 3. Pers. Pl. ersetzt worden (Hill 2007: 90). Dabei spielt die proportionale Analogie (vgl. Paul 1975: 106–120; Becker 1990; Hock 1991: 210–237¸ Hill 2007, mit umfangreichen Literaturangaben) eine besondere Rolle, das heißt die Angleichung von Wortformen nach dem Muster eines anderen Paradigmas. So entwickelt sich die Nominativform mhd. boge (Dativ Akkusativ Sg. bogen) zu nhd. Bogen nach dem Muster eines Paradigmas wie Nominativ Sg. Wagen (Dativ Akkusativ Sg. Wagen) (Hill 2007: 95). Der lautliche Zusammenfall betrifft zweitens grundmorphemgleiche Wörter verschiedener Stammklassen oder Genera. So entwickeln sich die Grundformen von ahd. gebo schwaches Maskulinum ‘Geber, Spender’ (Schützeichel 2012: 124) und ahd. geba starkes Femininum ‘Gabe, Geschenk; Gnade’ (ebd.) aufgrund der Nebentonabschwächung für beide Wörter zu mhd. gebe. Das schwache Maskulinum gebe ist im Mhd. in Komposita wie rātgebe ‘Ratgeber’ und zinsgebe

lautlicher Zusammenfall 426

L

‘der Zins gibt, eine Abgabe bezahlt’ (Benecke/ Müller/Zarncke 1854–1866, Bd. 1: s. Lemmata) bezeugt; neben dem starken Femininum gebe ‘Gabe, Geschenk, Belohnung, Lohn, Geben, Gewähren, Schenken, Abgabe, Gebühr’ erscheint das feminine Pendant des nomen agentis ahd. gebo, nämlich das mhd. schwache (?) Femininum gebe ‘Geberin’ (Mittelhochdeutsches Wörterbuch online: s. die genannten Lemmata), das im Ahd. nicht belegt ist. Drittens betrifft der lautliche Zusammenfall mit verschiedenen Suffixen gebildete grundmorphemgleiche Wörter, insoweit diese in einer späteren Sprachstufe die gleiche Ausdrucksseite annehmen. So entwickeln sich ahd. diga starkes Femininum ‘Fürbitte’ (Schützeichel 2012: 71), das auf einer Stammbildung mit germ. -ō- beruht, und das mittels des Suffixes -ī abgeleitete digī̆ starkes Femininum ‘Bitte, (Bitt-) Gebet; Flehen; Gelübde’ (Schützeichel 2012: 72) zu mhd. dige ‘Bitte, Gebet’ (Mittelhochdeutsches Wörterbuch online). Soweit Flexionsformen ausdrucksseitig zusammenfallen, tendiert die Sprache dazu, die entstandene Signalundeutlichkeit durch kompensierende syntaktische Verfahren auszugleichen, so bei den Substantiven durch den Artikel. Fallen grundmorphemgleiche Wörter verschiedener Flexionsklassen oder Suffixbildung zusammen, kann (nicht muss) die Kompensation der Signalidentität darin bestehen, dass für eines der beteiligten Wörter eine andere Suffixbildung erzeugt wird. Eine solche Konkurrenzbildung besteht möglicherweise bereits in der betreffenden Sprachstufe. Dabei kann wie angedeutet einerseits die Homonymie (ausdrucksseitige Identität) erhalten bleiben. So sind im Ahd. die Grundformen von rīh(h)i1 starkes Neutrum ‘Herrschaft, Herrscher; Macht, Gewalt; Reich; Gegend, Land, Welt, Erde’ und rīh(h)i2 Adj., ‘reich, mächtig; hoch, prächtig; glücklich’ (Schützeichel 2012: 260) lautlich identisch. Nach der Endsilbenabschwächung ist diese Identität auch von mhd. rīche starkes Neutrum und mhd. rīche Adj. gegeben. Nun fällt aber auf, dass bereits für das ahd. Substantiv einige konkurrierende Suffixbildungen existieren, so rīhhida starkes Femininum ‘Herrschaft’, rīhhisōd starkes Neutrum ‘Herrschaft’ (Schützeichel 2012: 260) und rīhtuom starkes Maskulinum/Neutrum ‘Reichtum; Herrschaft, Macht; Herrschsucht’

(Schützeichel 2012: 261). Im Mhd. tritt neben rīche starkes Neutrum ‘Reich, König’ und dem aber nur selten bezeugten starken Femininum rīche ‘Reichtum, Reichsein’ vor allem das starke Femininum rīchheit ‘Macht, Reichtum, Kostbarkeit, Pracht’ sowie das starke Maskulinum rīchtuom ‘Reichtum’ auf (Benecke/Müller/Zarncke 1854–1866, Bd. 2, 1: s. die genannten Lemmata). Andererseits kann die Homonymie letztlich aufgegeben werden. Im Ahd. besteht das starke Neutrum bōsi ‘Geschwätz, gottloses Treiben, Schandtat’ (Schützeichel 2004, Bd. 1: 459), das Adj. bōsi ‘wertlos, schwach, haltlos (Schützeichel 2012: 56), feige, läppisch, nichtig, schwach (Schützeichel 2004, Bd. 1: 459)’, das starke Femininum bōsa ‘Härte’ (Schützeichel 2012: 56) und das starke Femininum bōsheit ‘Nichtiges, Nichtigkeit; nichtswürdiges, sündiges Treiben (Schützeichel 2012: 56), Eitelkeit, Torheit, Unwürdigkeit, Vergehen (Schützeichel 2004, Bd. 1: 459)’, ferner das einmal belegte starke Femininum bōsunga ‘unnützes Zeug’ (Schützeichel 2004, Bd. 1: 461). Das Adj. ahd. bōsi hält sich im Mhd. lange in der nicht umgelauteten Form bōse (Benecke/Müller/ Zarncke 1854–1866, Bd. 1: s. Lemma) und wird schließlich zu bœse. Die Kontinuante des ahd. starken Neutrums bōsi (mhd. bœse) erscheint dagegen im Mhd. ganz selten als Substantivierung des Adj. bœse (Lexer 1872–1878, Bd. 1: s. Lemma) und kann als solche bis zur Gegenwartssprache jederzeit gebildet werden (das Böse), woneben aber nur noch sehr selten das st. F. bœse ‘schlechte Beschaffenheit, Schlechtsein’ (Mittelhochdeutsches Wörterbuch online: s. Lemma) und das starke Maskulinum bōs ‘Bosheit’ (Mittelhochdeutsches Wörterbuch online: s. Lemma) belegt sind. Die Kontinuante des ahd. starken Femininums bōsa (mhd. * bōse) ist nicht überliefert, so dass das st. F. bōsheit (Mittelhochdeutsches Wörterbuch online: s. Lemma) zum normalen Vertreter der substantivischen Nomination wird. Das zeigt sich neben der Beleghäufigkeit auch an der semantischen Entfaltung: 1.1 ‘Verschlechterung’, 1.2 ‘ritterliche Untüchtigkeit, Feigheit’, 1.3 (unhöfischer) ‘Mangel an Freigiebigkeit’; 2.1 ‘Schädlichkeit’, 2.2 ‘Krankheit’, 2.3 ‘Schmutz, Gestank, Auswurf’, 2.4 ‘Verdorbenes, Kadaver, Leiche’, 2.5 ‘schlimme, üble, bösartige Handlung oder Eigenschaft, Sünde, Sündhaftigkeit’, 2.5.1 allgem., 2.5.2 besonders auf sexuellem Gebiet, ‘Unzucht’. Diese Bedeutungen

427 korrespondieren bis auf die letztgenannte mit denen des Adjektivs bœse (Mittelhochdeutsches Wörterbuch online: s. Lemma). Viertens betrifft der lautliche Zusammenfall (teilweise ehemals lautlich geschiedene) Lexeme mit verschiedenen Grundmorphemen und demgemäß verschiedener Bedeutung. Gründe für die Ähnlichkeit (Paronymie) oder Gleichheit (Homonymie; Wichter 1988) sind erstens sekundäre Lautentwicklungen, welche die beiden Wörter ähnlich oder gleich machen, zweitens die Lautgleichheit eines Lehnworts mit einem Erbwort und drittens die Zufallsgleichheit durch verschiedene Wortbildungen (Seebold 1981: 246). Dabei wird unter eigentlicher Homonymie der Fall verstanden, dass neben der Schreibung und der lautlichen Gestalt auch Flexion und Genus des Wortes übereinstimmen, wohingegen bei der uneigentlichen Homonymie eine Identität der Schreibweise und der Lautung, nicht aber der Flexion (Bsp.: Bank: Pl. Bänke vs. Banken) oder des Genus (Bsp.: der/die Kiefer) besteht (Harm 2015: 48f.; Wikipedia: Homonym). Die (vorhandene oder entstehende) Homonymie wird erstens ausgehalten (Toleranz), wenn die Denotatbereiche beider Wörter weit genug auseinanderliegen, so dass es in den Verwendungskontexten zu keinen Missverständnissen oder negativen Konnotationen kommen kann (vgl. Seebold 1981: 247). Das ist beispielsweise der Fall bei den beiden Wörtern Fuge. Fuge ‘Verbindungsstelle’ geht auf mhd. vuoge (ahd. fuoga Schützeichel 2012: 117) zurück, das zu vuogen ‘fügen’ gehört und die Stelle bezeichnet, an der zwei Stücke oder Teile zusammenstoßen. Fuge ‘Musikstück’ beruht auf lat. fuga ‘Flucht’, das später als Fachausdruck für den Wechselgesang verwendet wurde und sodann ein bestimmtes Musikstück bezeichnete. Das Wort lautete zunächst die Fuga, Pl. die Fugen; später wurde der Sg. an den Pl. angeglichen. Bei mhd. vuoge ‘Verbindungsstelle’ führte die lautliche Entwicklung über vuege und sodann die Monophthongierung zu Fuge, womit die beiden Wörter lautgleich wurden (Seebold 1981: 247). Weitere Beispiele für tolerierte Homonymie nach lautlichem Zusammenfall aufgrund getrennter Verwendungsbereiche sind Ball ‘Spielgerät’ (< ahd., mhd. bal) vs. Ball ‘Tanzfest’ (< 17. Jh. frz. bal zu baler ‘tanzen’; Pfeifer 2012: 91), Kiefer ‘gebisstragender Kopfknochen’ (< mhd. kiver; Pfeifer

lautlicher Zusammenfall 2012: 652) vs. Kiefer ‘Nadelbaum’ (< 16. Jh. frnhd. kiefer (Frühneuhochdeutsches Wörterbuch, s. Lemma) < 15. Jh. frnhd. kienfer (Kluge 2011: 489), kinfor (Pfeifer 2012: 652) < verdunkelt aus mhd. *kienvorha in mhd. kienvorhīn Adj. ‘von der Kienföhre’ (Lexer 1872–1878, Bd. 1: s. Lemma) < ahd. kienforaha ‘Kiefer’ (Schützeichel 2004, Bd. 5: 207; dagegen Annahme zweier zusammengeschriebener Glossen kin und uorha statt eines Kompositums bei Karg-Gasterstädt/Frings 1968ff., Bd. 5: Sp. 152; Pfeifer 2012: 652 für den Baum, aus dem wegen seines Harzreichtums Kienspäne für Fackeln usw. hergestellt wurden; Kluge 2011: 489) oder Strauß ‘Blumengebinde’ (< vgl. mhd. gestriuze, striuzach/strūzach ‘Buschwerk’) vs. Strauß (< mhd. strūz(e), ahd. strūz < spätlat. strūthiō; vgl. Pfeifer 2012: 1375f.). Zweitens wird die Homonymie toleriert, wenn sich die beiden lautgleich gewordenen Wörter in der Bedeutung so ähnlich sind, dass sie für dasselbe Wort gehalten werden. Das ist der Fall bei Spieß. Der Jagdspieß hieß im Mhd. spiez (ahd. spioz) und das Wort geht auf germanisch *speuta- zurück, das vielleicht mit *spreuta- ‘Stange’ verwandt ist; vgl. das ndt. Seemannswort Spriet ‘Mast, Segelstange’. Der Bratspieß hieß im Ahd. und Mhd. spiz; das Wort beruht auf germanisch *spita- und bedeutet eigentlich ‘Spitze’. Da die beiden Gegenstände als ‘Stangen’ mit ‘Spitze’ sich aber so ähnlich sind, konnten die sie bedeutenden Wörter nach ihrem lautlichen Zusammenfall ohne Weiteres als das gleiche Wort angesehen werden (Seebold 1981: 247). Das Wort Spieß ist zugleich ein Beispiel für den ersten Fall der Toleranz bei gleichlautenden Wörtern verschiedener Bedeutung, indem Spieß umgangssprachlich auch ‘Kompaniefeldwebel’ bedeuten kann. In diesem Fall ist die Homonymie durch eine inzwischen verblasste Metonymie (Verschiebungstrope) ‘Instrument für Agens’ (die Bezeichnung eines Werkzeugs tritt für den Verwender ein) entstanden. Der Soldat des alten Reichsheeres nannte den Feldwebel Spieß nach der Stangenwaffe, die dieser in der Linie führte, und mit ihr Soldaten niedermachte, die die Flinte ins Korn warfen, um Fahnenflucht zu begehen (Wikipedia: Kompaniefeldwebel). Wird eine Homonymie nicht toleriert, kann die Signalidentität erstens durch die sekundäre lautliche Auseinanderentwicklung behoben werden,

L

Lautmalerei 428

L

zweitens durch eine Neuableitung bei einem der beiden Wörter oder drittens durch den Untergang eines der beiden Wörter und den Gebrauch eines anderen Wortes (Homonymenflucht). Der erste Fall zeigt sich bei dem Wort Kissen, das auf frz. coussin zurückgeht. Das frz. Wort wird bereits im Frühmittelalter als ahd. kussīn (Schützeichel 2012: 187) übernommen und zeigt sich im Mhd. als starkes Neutrum küssen, küsse, küssīn. In der erstgenannten Variante ist es homonym mit dem starken Neutrum küssen ‘das Küssen’ (Benecke/Müller/Zarncke 1854–1866, Bd. 1: s. die genannten Lemmata). Das lädt zu Wortspielen geradezu ein, zumal mit küssen ‘Kissen’ das luxuriöse Federkissen gemeint war. Indem die Homonymie auf Dauer eher lästig wurde, bot sich für das Wort Kissen die Möglichkeit der Differenzierung durch die vor allem im Obdt. vorkommende Entrundung (Artikulation mit gespannten statt mit gerundeten Lippen) küssen > kissen an (Seebold 1981: 248f.). Der zweite Fall der Tilgung einer lästigen Homonymie (durch Neuableitung) ist etwa in englisch1 ‘engelhaft’ vs. englisch2 ‘aus England’ belegt, welches homonyme Paar durch engelhaft vs. englisch abgelöst wurde (Seebold 1981: 249). Der dritte Fall, Untergang eines der beiden Wörter, ist gegeben etwa mit schnur1 ‘Schwiegertochter’ (< ahd. snur, snora; mhd. snur, snor, snuor) vs. schnur2 ‘Schnur’ (ahd. snuor [in Kompositionen], mhd. snuor) (Schützeichel 2012: 301; Benecke/Müller/Zarncke 1854–1866, Bd. 2, 2), abgelöst durch Schwiegertochter vs. Schnur. Weitgehender Untergang eines der beteiligten Wörter abgesehen vom literarischen Register deutet sich z.B. an bei Strauß ‘Streit’ < mhd. strūz ‘Widerstand, Zwist, Streit, anmaßende Herausforderung, Reizrede, Gefecht’ (Pfeifer 2012: 1375) gegenüber dem oben angeführten Strauß ‘Blumengebinde’. Eckhard Meineke

→ Analogie; Grundmorphem; Wortbildungshomonymie

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Lautmalerei

≡ Onomatopoiie ⇀ Lautmalerei (HistSprw)

Lautsymbolik

≡ Onomatopoiie ⇀ Lautsymbolik (Phon-Dt; Lexik)

leeres Affix

Affix, das einen Ausdruck, aber keinen Inhalt hat. ▲ empty affix: affix which has an expression but no content. In einem Wort wie Neuigkeitswert werden die Elemente -ig- und -s- von manchen als leere Affixe betrachtet, d.h. ihnen wird der Status eines eigenständigen morphologischen Elements (eines Minimalzeichens) zugeschrieben, aber kein Inhalt. Es gibt auch die Meinung, dass leeres Affix und die weitgehend gleichbedeutende Bezeichnung Interfix ungünstig seien, weil es sich gerade nicht um Affixe mit einer Bedeutung handle; Fugenelement sei daher vorzuziehen (vgl. Donalies 2005: 44f.). Dabei kann man Kompositionfugenelemente wie -s- zwischen den Gliedern eines Kompositums und Derivationsfugenelemente wie -ig- zwischen

429 Stamm und Derivationssuffix unterscheiden. Zuweilen wird Interfix auf Derivationsfugenelemente beschränkt, sodass mit Fugenelement nur Kompositionsfugenelemente gemeint sind; die Unterschiede zwischen ihnen sind aber nicht so groß, als dass eine so starke terminologische Trennung angebracht wäre (vgl. Donalies 2005: 44). Zu der Annahme leerer Affixe gibt es drei Alternativen. Erstens kann man solche Elemente zu gewöhnlichen Minimalzeichen machen, indem man einen Inhalt wie fuge zulässt (vgl. Bergenholtz/ Mugdan 1979: 120–123, 173f.). Zweitens könnte man in Fällen wie Neuigkeit argumentieren, dass -igkeit und -keit Allomorphe desselben Morphems (Suffixvarianten) sind, deren Verteilung freilich kaum in Regeln zu fassen ist. Bei dieser Analyse ist allerdings -igkeit in Neuigkeit, Schnelligkeit, Geschwindigkeit usw. ein Minimalzeichen, während es in Farbigkeit, Freudigkeit, Traurigkeit usw. aus zwei Minimalzeichen besteht: dem Suffix -ig, das Adjektive bildet, und dem Suffix -keit, das abstrakte Substantive bildet. Außerdem lässt sich diese Lösung nicht auf Kompositionsfugen übertragen. Drittens bietet es sich an, neuig- als einen besonderen Derivationsstamm des Lexems NEU und Neuigkeits- als einen besonderen Kompositionsstamm des Lexems NEUIGKEIT zu betrachten (vgl. Fuhrhop 1998: 22–33 mit der nicht sehr glücklichen Bezeichnung Stammform statt Stamm). Auch hier gibt es einen Gegensatz zwischen segmentierbarem farb-ig und nicht segmentierbarem neuig-, der aber auch z.B. bei Bohr-er gegenüber Hammer besteht, unabhängig von der Annahme besonderer Kompositions- und Derivationsstämme. In einem Fall wie Amerikaner, amerikanisch kann man diskutieren, ob man Amerikan-er, amerikanisch oder Amerik-aner, Amerik-anisch segmentieren sollte (wobei das Lexem AMERIKA bei beiden Varianten einen besonderen Derivationsstamm hat) oder aber ob -n als leeres Suffix zwischen dem Stamm Amerika und dem Derivationssuffix -er oder -isch gelten soll. Synchron ist dabei unmaßgeblich, dass hier ein lateinisches Derivationssuffix -an[us] (mit dem Flexionssuffix -us nom.sg.m in der Zitierform) zugrundeliegt. Da die Verteilung von -n oder von -aner/-anisch keinen klaren Regeln folgen würde (vgl. Bermuda > Bermuder, bermudisch; Burma > Burmese, burmesisch; Europa > Europäer, europäisch usw.), er-

leeres Morph scheint es am sinnvollsten, die nicht vorhersagbaren Varianten bei dem Element anzusiedeln, von dem sie primär abhängen, nämlich dem Stamm. Derivationsstämme wie Amerikan-, Bermu-, Burmes-, Europä- usw. zeigen zudem, dass solche Stämme nicht notwendigerweise durch eine Erweiterung gebildet werden, sodass die bei der Wortbildung zu beobachtenden Stammvarianten nur zum Teil mit leeren Affixen oder Fugenelementen beschrieben werden können. Joachim Mugdan

→ § 20; Allomorph; Derivationsstammform; Fugenelement; leeres Morph; Segmentierung; Stamm; Stammvariante; Suffixvariante

🕮 Bergenholtz, H./ Mugdan, J. [1979] Einführung in die Morphologie. Stuttgart ◾ Donalies, E. [2005] Die Wortbildung des Deutschen. 2. Aufl. Tübingen ◾ Fuhrhop, N. [1998] Grenzfälle morphologischer Einheiten. Tübingen.

leeres Morph

Morph, d.h. Minimalzeichen, das einen Ausdruck, aber keinen Inhalt hat. ▲ empty morph: morph, i.e. minimal sign, which has an expression but no content. Ein leeres Morph, das einen Ausdruck, aber keinen Inhalt hat (s. jedoch Mel’čuk 1982: 69–71, wonach der Inhalt eine leere Menge von Merkmalen ist), ist das Gegenstück zu einem Nullmorph, das einen Inhalt, aber keinen Ausdruck hat; es wird aber manchmal damit verwechselt. Der Terminus leeres Morph, neben dem zuweilen die ungenaue Bezeichnung leeres Morphem anzutreffen ist, stammt aus dem amerikanischen Strukturalismus (s. Hockett 1947: 333–337). Aus der Annahme, dass ein leeres Morph keinerlei Inhalt hat, kann man folgern, dass es zu keinem Morphem gehört (während ein Portmanteaumorph zu zwei Morphemen zugleich gehört) – oder aber alle leeren Morphe gehören, da sie denselben Inhalt (nämlich keinen) haben, zu demselben Morphem (s. Hockett 1947: 342). Die erste Option ist für die morphologische Zerlegung eines Textes unbefriedigend (vgl. Nida 1948: 416f.), bei der zweiten ergäbe sich ein Morphem mit zahlreichen Allomorphen, deren Verteilung nicht in Regeln zu fassen ist. Obwohl es auch leere Wurzeln geben kann (s. Hockett 1947: 335f.), sind leere Morphe ganz überwiegend Affixe. Typische Kandidaten in der Flexion sind die Themavokale von Verben in diversen indoeuropäischen Sprachen, z.B. rumän.

L

Lehnbildung 430

L

aflăm ‘wir finden’, vedem ‘wir sehen’, dormim ‘wir schlafen’. In der Wortbildung werden leere Morphe dann angenommen, wenn zwischen den Gliedern eines Kompositums oder zwischen einem Stamm und einem Derivationsaffix ein Element auftritt, das in anderen komplexen Wörtern wiederkehrt, aber nichts zu ihrer Bedeutung beizutragen scheint, z.B. -s- in Freiheit-s-statue, -t- in wissen-t-lich. Eine Alternative besteht darin, Inhalte wie thema oder fuge zuzulassen (s. Bergenholtz/Mugdan 1979: 71 sowie implizit – trotz der Beschreibung der entsprechenden Morpheme als „leer“ – Mel’čuk 1982: 94). Eine andere Möglichkeit ist es, die „leeren“ Elemente als Teil des Stamms oder des ersten Kompositionsglieds aufzufassen. Das betreffende Lexem hat dann besondere Flexions-, Derivations- und Kompositionsstämme, die eine bestimmte Erweiterung aufweisen (also vede-, wissent-, Freiheits- usw.); die Annahme solcher Stämme, die auch durch Abwandlung oder Kürzung gebildet werden können, ist ohnedies naheliegend (vgl. Fuhrhop 1998: 22–27). Joachim Mugdan

↔ Nullmorphem → Affix; Allomorph; Derivationsstammform; Fuge; leeres Affix; Nullallomorph; Portmanteaumorph; Stamm; Stammalternation; Wurzel

🕮 Bergenholtz, H./ Mugdan, J. [1979] Einführung in die Morphologie. Stuttgart ◾ Fuhrhop, N. [1998] Grenzfälle morphologischer Einheiten. Tübingen ◾ Hockett, C.F. [1947] Problems of morphemic analysis. In: Lg 23: 321–343 ◾ Mel’čuk, I.A. [1982] Towards a Language of Linguistics. A System of Formal Notions for Theoretical Morphology. München ◾ Nida, E.A. [1948] The identification of morphemes. In: Lg 24: 414–441.

Lehnbildung

Bildung von heimischen Lexemen durch fremdsprachlichen Einfluss. ▲ loan formation: formation of native lexemes through foreign language influence. Bei Lehnbildung handelt es sich um einen von Betz (1936: 2–3, 1959: 128–130) geprägten Terminus der Lehnforschung, der zusammen mit der Lehnbedeutung zur Lehnprägung gehört, welche wiederum dem Lehnwort gegenübersteht und so die Trennung zwischen der Übernahme des „Wortmaterials an sich“ (= Lehnwort) einerseits und dem „Inhalt des Wortmaterials“ (= Lehnprägung) (Betz 1949: 27) andererseits markiert.

Unter Lehnbildung versteht Betz (1949: 27) „die Neubildung eines Wortes aus dem Stoff der eigenen Sprache, aber durch den Anstoß eines fremden Vorbildes“. Er untergliedert sie in Lehnformung, welche ihrerseits in Lehnübersetzung und Lehnübertragung zu separieren ist, sowie in Lehnschöpfung. Lehnübersetzung bezeichnet eine „genaue Gliedfür-Glied-Übersetzung des Vorbildes“ (Betz 1949: 27) (z.B. Kalter Krieg < engl. Cold War), während es sich bei Lehnübertragung um eine „freiere Teilübersetzung“ (Betz 1949: 27) handelt (z.B. Halbinsel < lat. paeninsula). Bei der Lehnschöpfung wird ein Wort zwar unter Einfluss eines fremdsprachlichen Wortes gebildet, aber ohne formale Anlehnung (z.B. Klimaanlage < engl. air conditioning). Scheler (1973: 22) kritisiert die Untergliederung der Lehnbildung: „Die bisher gebotenen Kriterien bei der Unterscheidung zwischen den einzelnen Klassen der Lehnbildungen gehen in erster Linie von morphologischen Gesichtspunkten aus und sind besonders bei der Lüs [Lehnübersetzung, SM] und Lüt [Lehnübertragung, SM] nicht klar genug bzw. nur allgemein gehalten.“ Winter (2005: 49) setzt an die Stelle der Lehnbildung die „Wortbildung“, welche sie mit Blick auf das fremdsprachliche Vorbild weiter unterteilt in „genaue Entsprechung“ (= Lehnübersetzung) und „keine genaue Entsprechung“ (= Lehnübertragung). Die Lehnschöpfung kommt hier nicht mehr vor. Sascha Michel

→ Fremdwortbildung; Lehnprägung; Lehnschöpfung; Lehnübersetzung; Lehnübertragung

⇀ Lehnbildung (HistSprw; Onom; Lexik)

🕮 Betz, W. [1936] Der Einfluss des Lateinischen auf den althochdeutschen Wortschatz. I. Der Abrogans. Heidelberg ◾ Betz, W. [1949] Deutsch und Lateinisch. Die Lehnbildungen der althochdeutschen Benediktinerregel. Bonn ◾ Betz, W. [1959] Lehnwörter und Lehnprägungen im Vor- und Frühdeutschen. In: Maurer, F./ Stroh, F. [Hg.] Deutsche Wortgeschichte. Berlin: 127–147 ◾ Scheler, M. [1973] Zur Struktur und Terminologie des sprachlichen Lehnguts. In: NeuSpr 72, 22: 19–26 ◾ Winter, E. [2005] Zum Verhältnis sprachkontaktinduzierter Innovationen, lexikalischer Entlehnungen und fremder Wörter – zugleich ein Beitrag zu „Lehnschöpfung“ und „Scheinentlehnung“. In: RJb 56: 31–62.

Lehnpräfix

≡ Fremdpräfix

431 Lehnprägung

Lehnprägung

Prozesse, die sich auf heimisches Wortmaterial unter fremdsprachlichen Einfluss beziehen. ▲ loan coinage: processes that relate to native word material under foreign-language influence. Unter Lehnprägung versteht Betz (1949: 27; vgl. auch 1959: 128–131) „[a]lle Einflüsse einer Sprache auf eine andere, die sich nicht auf das Lautliche, das Wortmaterial an sich, sondern auf Bildung und Bedeutung, auf Form und Inhalt des Wortmaterials erstrecken“. Damit stellt er die Lehnprägung, die sich auf das „innere Lehngut“ (Betz 1949: 15) bezieht, als direktes Pendant den Lehnwörtern gegenüber. Zur Lehnprägung zählt Betz die Lehnbildung sowie die Lehnbedeutung. Die Lehnbildung untergliedert sich in Lehnformung und Lehnschöpfung, wobei die Lehnformung die Prozesse Lehnübersetzung und Lehnübertragung umfasst. Die Annahme, dass Lehnsyntax und Lehnwendung ebenfalls zur Lehnprägung zählen (Betz 1949: 27), taucht in seinen späteren Arbeiten nicht mehr auf (vgl. Betz 1959: 128). Bei der Lehnbildung „wird nur die Bedeutung eines fremden Wortes für ein Wort der eigenen Sprache entlehnt“ (Betz 1959: 128) (z.B. Schmetterling nach engl. butterfly: 1. Insekt, 2. Schwimmstil). Die Lehnübersetzung stellt eine „genaue Glied-für-Glied-Übersetzung des Vorbildes“ (Betz 1949: 27) dar (z.B. Jungfernrede < engl. maiden speech), während es sich bei Lehnübertragung um eine „freiere Teilübersetzung“ (Betz 1949: 27) handelt (z.B. Halbinsel < lat. paeninsula). Unter Lehnschöpfung wird „die Neuschöpfung eines eigenen Wortes unter dem Eindruck des fremden verstanden, aber ohne jeden formalen Anklang an das Vorbild, weder in einzelnen Wortgliedern noch in der Wortbildung“ (Betz 1936: 2; z.B. Umwelt < frz. milieu). Ferner nimmt Betz (1959: 128–129) hier die weitere Unterscheidung zwischen „‘entwickelnder’ und ‘bereichernder’ Lehnprägung“ vor. Erstere liegt dann vor, wenn „man annehmen kann, daß sich diese Bedeutung auch ohne fremden Einfluß entwickelt hätte“, während bei letzterer „kaum anzunehmen ist, daß das deutsche Wort diese Bedeutung jemals allein aus sich heraus entwickelt hätte“ (Betz 1959: 129). Diese Unterscheidung wurde in der Forschung

kritisiert und hat „kaum Zustimmung gefunden“ (Betz 1959: 129; vgl. auch Jansen 2005: 7–8). Betz selbst hat sie als „etwas gewaltsam und zugleich etwas unsicher“ relativiert, denn sie „verlangt, wenn man übertreiben will, geradezu geschichtsphilosophische Entscheidungen und Kulturprognosen“ (Betz 1959: 129). Haugen (1950) lehnt sich weitgehend an die Betz’sche Typologie an, differenziert aber vor allem die Klasse der „semantic loans“ (= Lehnbedeutung) nach der Art der Bedeutungserweiterung (z.B. homolog, analog, homophon). Winter (2005: 49) fasst Lehnprägung als „Analogiebildung“ und ordnet sie in die Klasse „keine Übernahme von Ausdruckselementen“ ein. Die Untergliederung der Lehnprägung wird von Tesch (1978: 114) als asymmetrisch und inkongruent kritisiert: „Während er [Betz, SM] die Lbil [Lehnbildung, SM] fast überdifferenziert, unterläßt er bei Lbed [Lehnbedeutung, SM], Lwen [Lehnwendung] und Lsyn [Lehnsyntax, SM] jede weitere Unterscheidung.“ Auch Jansen (2005: 7) hält Betz vor, „nicht konsequent vorzugehen, da er auf jeder Ebene seines Modells unterschiedliche Analysekriterien verwendet“. Detjen (2017: 57) kritisiert, dass die Betz’sche „Klassifikation resultativ“ sei und „grundsätzlich von der zielsprachlichen Form“ ausgehe. „Den Prozess der Lehnwortintegration lässt sie indes vollkommen außer Acht.“ Sascha Michel

→ Lehnbildung; Lehnschöpfung; Lehnübersetzung; Lehnübertragung

⇀ Lehnprägung (HistSprw; Lexik)

🕮 Betz, W. [1936] Der Einfluss des Lateinischen auf den althochdeutschen Wortschatz. I. Der Abrogans. Heidelberg ◾ Betz, W. [1949] Deutsch und Lateinisch. Die Lehnbildungen der althochdeutschen Benediktinerregel. Bonn ◾ Betz, W. [1959] Lehnwörter und Lehnprägungen im Vor- und Frühdeutschen. In: Maurer, F./ Stroh, F. [Hg.] Deutsche Wortgeschichte. Berlin: 127–147 ◾ Detjen, H. [2017] Anglizismen in Hispanoamerika. Adoption und Integration, Nivellierung und Differenzierung. Berlin [etc.] ◾ Haugen, E. [1950] The analysis of linguistic borrowing. In: Lg 26: 210–231 ◾ Jansen, S. [2005] Sprachliches Lehngut im world wide web. Neologismen in der französischen und spanischen Internetterminologie. Tübingen ◾ Tesch, G. [1978] Linguale Interferenz – Theoretische, terminologische und methodische Grundfragen zu ihrer Erforschung. Tübingen ◾ Winter, E. [2005] Zum Verhältnis sprachkontaktinduzierter Innovationen, lexikalischer Entlehnungen und fremder Wörter – zugleich ein Beitrag zu „Lehnschöpfung“ und „Scheinentlehnung“. In: RJb 56: 31–62.

L

Lehnschöpfung 432

Lehnschöpfung

Bildung von Wörtern unter fremdsprachlichen Einfluss aber ohne lautliche oder strukturelle Anlehnung. ▲ loan creation: formation of words under a foreign influence but without borrowing of sound or structure.

L

Unter Lehnschöpfung versteht Betz (1936: 2, vgl. auch 1959: 128) „die Neuschöpfung eines eigenen Wortes unter dem Eindruck des fremden [...], aber ohne jeden formalen Anklang an das Vorbild, weder in einzelnen Wortgliedern noch in der Wortbildung“. Vielmehr werde das Wort eigensprachlich, aber „unter fremder Geburtshilfe“ gebildet. Beispiele für Lehnschöpfungen sind: Klapprechner < engl. Computer, Weinbrand < frz. Cognac, Umwelt < frz. Milieu. Lehnschöpfung stellt insofern eine problematische Kategorie dar, als „hier keinerlei formale Anzeichen als Gründe zur Verfügung stehen, nur das inhaltlich Neue“ (Betz 1936: 2). Es liegen also gewissermaßen Fälle semantisch-referenzieller Ersatzbildungen bzw. Konzeptübertragungen vor, bei denen „es sich nicht so sehr darum handelt, für eine Sache einen Namen zu finden, als vielmehr darum, für einen Namen, den die Sache schon hat, einen andern Namen zu finden, und zwar für einen fremdsprachlichen einen eigensprachlichen“ Betz (1949: 25). Insgesamt ist die Kategorie der Lehnschöpfung „umstritten“ (Tesch 1978: 115), denn „[n]icht immer kann [...] eine nicht durch Sprachkontakt angeregte, rein innersprachliche Entwicklung ausgeschlossen werden. Gerade hier braucht es damit besondere etymologische Belege, um die Annahme einer indirekten Entlehnung legitimieren zu können“ (Knospe 2014: 55). So versehen Carstensen/Busse (1993: 18f.) Zweifelsfälle mit den Zusätzen „wahrscheinlich“ oder „eventuell“, während Schumann (1965) die Lehnschöpfung komplett aus der Lehnbildung ausklammert. Andere Autoren nehmen Umkategorisierungen vor und etablieren alternative Termini, wie etwa Haugen (1950: 220f.), der die Belege als „native creations“ klassifiziert und den Entlehnungsformen gegenüberstellt, oder Coleman (1965: 74), die sie unter „Lehnwortersatz“ einordnet. Sascha Michel

→ Lehnbildung; Lehnprägung; Lehnübersetzung; Lehnübertragung

⇀ Lehnschöpfung (HistSprw; Lexik)

🕮 Betz, W. [1936] Der Einfluss des Lateinischen auf den althochdeutschen Wortschatz. I. Der Abrogans. Heidelberg ◾ Betz, W. [1949] Deutsch und Lateinisch. Die Lehnbildungen der althochdeutschen Benediktinerregel. Bonn ◾ Betz, W. [1959] Lehnwörter und Lehnprägungen im Vor- und Frühdeutschen. In: Maurer, F./ Stroh, F. [Hg.] Deutsche Wortgeschichte. Berlin: 127–147 ◾ Carstensen, B./ Busse, U. [1993] Anglizismen-Wörterbuch. Der Einfluß des Englischen auf den deutschen Wortschatz nach 1945. Berlin [etc.] ◾ Coleman, E.S. [1965] Zur Bestimmung und Klassifikation der Wortentlehnungen im Althochdeutschen. In: ZDS 21: 69–83 ◾ Haugen, E. [1950] The analysis of linguistic borrowing. In: Lg 26: 210–231 ◾ Knospe, S. [2014] Entlehnung oder Codeswitching? Sprachmischungen mit dem Englischen im deutschen Printjournalismus. Frankfurt/Main [etc.] ◾ Schumann, K. [1965] Zur Typologie und Gliederung der Lehnprägungen. In: ZfSlPh 32: 61–90 ◾ Tesch, G. [1978] Linguale Interferenz – Theoretische, terminologische und methodische Grundfragen zu ihrer Erforschung. Tübingen.

Lehnsuffix

≡ Fremdsuffix

Lehnübersetzung

formal und inhaltlich exakte Übersetzung eines fremdsprachlichen Wortes mit heimischem Sprachmaterial. ▲ loan translation: exact translation of a foreign language word in terms of form and content with native language material. Betz (1949: 27; vgl. auch 1936: 2–5; 1959: 128–130) definiert Lehnübersetzung als „die genaue Gliedfür-Glied-Übersetzung des Vorbildes“. Beispiele für Lehnübersetzungen sind: Dampfmaschine < eng. steam engine, Mitleid < lat. compassio, Großmutter < frz. grand-mère. Obwohl beide Arten zur Lehnformung gehören, grenzt sich Lehnübersetzung von einer eher freien oder partiellen Übersetzung, der Lehnübertragung, ab. Die Lehnübersetzung nimmt einen besonderen Stellenwert in der Gliederung des Lehnguts nach Betz ein, da sie „die häufigste Art zwischensprachlicher Beeinflussung“ (Betz 1936: 4) darstellt und da sich in ihr „die eindringlichste Verschmelzung zweier Sprachen [vollzieht]: eine fremde sprachliche Prägung wird mit eigensprachlichem Stoff nachgeformt [...]“ (Betz 1936: 3). Weiterhin nimmt Betz (1936: 3–4) explizit die Unterscheidung zwischen „echter“ und „unechter Lehnübersetzung“ vor, wobei er – mit Bezug auf die Beeinflussung des Althochdeutschen durch das Lateinische – folgende Definitionen anführt:

433 Lehnübertragung „1. Das Wort stellt eine Bereicherung der Ausdrucksmöglichkeiten dar und wurde im Augenblick der lateinischen Begegnung gebildet“ (= echte Lehnübersetzung) und „2. das Wort stellt zwar keine Bereicherung der Ausdrucksmöglichkeiten dar, wurde aber nach dem lateinischen Vorbild geprägt“ (= unechte Lehnübersetzung). Darüber hinaus unterscheidet Betz (1949: 27; vgl. auch 1959: 128–129) zwischen „entwickelnder Lehnübersetzung“ einerseits und „bereichernder Lehnübersetzung“ andererseits, je nachdem, ob das deutsche Wort die neue Bedeutung „allein aus sich heraus entwickelt hätte“ oder nicht. Diese Unterscheidung wird in der Forschung z.T. stark kritisiert, da sie kaum empirisch zu belegen ist (vgl. Jansen 2005: 7–8; Tesch 1978: 112–113). Tesch (1978: 114) kritisiert die Kategorie der Lehnübersetzung: „Der Terminus Lü [Lehnübersetzung, SM] ist äußerst problematisch, a. was seine Abgrenzung von der Lüt [Lehnübertragung, SM] angeht. [...] b. der Terminus Lü ist mit Schuld an der Verwirrung, die dadurch entstand, daß man Vorgang und Ergebnis des Lehnvorganges nicht streng trennte.“ Nach Winter (2005: 49) stellt die Lehnübersetzung eine „genaue Entsprechung“ der fremdsprachlichen Bezeichnung dar und sie zählt sie zusammen mit der Lehnübertragung zur Wortbildung. Sascha Michel

→ Lehnbildung; Lehnprägung; Lehnschöpfung; Lehnübertragung

⇀ Lehnübersetzung (HistSprw; Lexik)

🕮 Betz, W. [1936] Der Einfluss des Lateinischen auf den althochdeutschen Wortschatz. I. Der Abrogans. Heidelberg ◾ Betz, W. [1949] Deutsch und Lateinisch. Die Lehnbildungen der althochdeutschen Benediktinerregel. Bonn ◾ Betz, W. [1959] Lehnwörter und Lehnprägungen im Vor- und Frühdeutschen. In: Maurer, F./ Stroh, F. [Hg.] Deutsche Wortgeschichte. Berlin: 127–147 ◾ Jansen, S. [2005] Sprachliches Lehngut im world wide web. Neologismen in der französischen und spanischen Internetterminologie. Tübingen ◾ Tesch, G. [1978] Linguale Interferenz – Theoretische, terminologische und methodische Grundfragen zu ihrer Erforschung. Tübingen ◾ Winter, E. [2005] Zum Verhältnis sprachkontaktinduzierter Innovationen, lexikalischer Entlehnungen und fremder Wörter – zugleich ein Beitrag zu „Lehnschöpfung“ und „Scheinentlehnung“. In: RJb 56: 31–62.

Lehnübertragung

Teilübersetzung eines fremdsprachlichen Lexems mit heimischem Sprachmaterial. ▲ loan transfer: partial translation of a foreign language lexeme with native language material.

Betz (1949: 27; vgl. auch 1959: 128) versteht unter Lehnübertragung die „freiere Teilübertragung“ eines fremdsprachlichen Vorbilds und grenzt sie damit von der „Glied-für-Glied-Übersetzung“, die Lehnübersetzung, ab. Somit werden etwa bei fremdsprachlichen Komposita nur einzelne Morpheme direkt übersetzt, während andere semantisch freier interpretiert werden, z.B. Wolkenkratzer < engl. skyscraper, Halbinsel < lat. paeninsula, Untertreibung < engl. understatement. Zusammen mit der Lehnübersetzung stellt die Lehnübertragung eine Unterkategorie der Lehnformung dar, welche wiederum zur Lehnbildung gehört. Betz (1949: 27; vgl. auch 1959: 128–129) unterscheidet explizit zwischen „entwickelnder Lehnübertragung“ einerseits und „bereichernder Lehnübertragung“ andererseits, je nachdem, ob das deutsche Wort die neue Bedeutung „allein aus sich heraus entwickelt hätte“ oder nicht. Zur entwickelnden Lehnübertragung zählt er z.B. Vaterland < lat. patria, zur bereichernden Lehnübertragung Einsiedler < lat. eremita. Diese Unterscheidung wird in der Forschung z.T. stark kritisiert, da sie kaum empirisch zu belegen ist (vgl. Jansen 2005: 7–8; Tesch 1978: 112–113). Lauffer (1976: 31) nimmt je nach Art der Abweichung der Übertragung vom Original folgende Subkategorisierung vor: 1. variierend, 2. additiv, 3. defizient, 4. syntagmatisch. Tesch (1978: 114) kritisiert die fehlende Abgrenzungsmöglichkeit zwischen Lehnübertragung einerseits und Lehnübersetzung andererseits. Nach Winter (2005: 49) stellt die Lehnübertragung „keine genaue Entsprechung“ der fremdsprachlichen Bezeichnung dar und sie zählt sie zusammen mit der Lehnübersetzung zur Wortbildung. Sascha Michel

→ Lehnbildung; Lehnschöpfung; Lehnübersetzung ⇀ Lehnübertragung (HistSprw; Lexik)

🕮 Betz, W. [1949] Deutsch und Lateinisch. Die Lehnbildungen der althochdeutschen Benediktinerregel. Bonn ◾ Betz, W. [1959] Lehnwörter und Lehnprägungen im Vor- und Frühdeutschen. In: Maurer, F./ Stroh, F. [Hg.] Deutsche Wortgeschichte. Berlin: 127–147 ◾ Jansen, S. [2005] Sprachliches Lehngut im world wide web. Neologismen in der französischen und spanischen Internetterminologie. Tübingen ◾ Lauffer, H. [1976] Der Lehnwortschatz der althochdeutschen und altsächsischen Prudentiusglossen. München ◾ Tesch, G. [1978] Linguale Interfe-

L

Lehnwortbildung 434 renz – Theoretische, terminologische und methodische Grundfragen zu ihrer Erforschung. Tübingen ◾ Winter, E. [2005] Zum Verhältnis sprachkontaktinduzierter Innovationen, lexikalischer Entlehnungen und fremder Wörter – zugleich ein Beitrag zu ‘Lehnschöpfung’ und ‘Scheinentlehnung’. In: RJb 56: 31–62.

Lehnwortbildung

≡ Fremdwortbildung ⇀ Lehnwortbildung (HistSprw)

Lexem

Menge von grammatischen Wörtern mit derselben lexikalischen Bedeutung, aber unterschiedlichen morphosyntaktischen Eigenschaften. ▲ lexeme: set of grammatical words with the same lexical meaning but different morphosyntactic properties.

L

Der Terminus Lexem ist bei russischen Autoren seit den 1920er Jahren belegt und diente für diverse Zwecke, ehe er dazu benutzt wurde, die Mehrdeutigkeit von Wort hinsichtlich der Frage, wann dasselbe Wort vorliegt und wann verschiedene, aufzulösen (s. Lyons 1963: 11f.; Matthews 1974: 22; vgl. auch Bonami /Boyé/Dal/Giraudo/Namer 2018). Ein Lexem umfasst die grammatischen Wörter, die in ein bestimmtes Flexionsparadigma gehören, d.h. ein Raster, dessen Stellen durch bestimmte morphosyntaktische Kategorien und Eigenschaften (engl. morphosyntactic category/ property, s. Matthews 1974: 66, 136) definiert sind. Eine morphosyntaktische Kategorie ist eine Menge von zwei oder mehr morphosyntaktischen Eigenschaften, die sich gegenseitig ausschließen und von denen für jedes Wort einer bestimmten Klasse eine gewählt werden muss. Anstelle von morphosyntaktische Eigenschaft findet man auch Grammem (s. Mel’čuk 1982: 30; zu weiteren Termini s. Mugdan 2015: 253). So ist das Flexionsparadigma deutscher Substantive durch die Kategorie Kasus mit den Grammemen nominativ, genitiv, dativ und akkusativ sowie die Kategorie Numerus mit den Grammemen singular und plural definiert. Da alle Kombinationen möglich sind, hat das Paradigma 4∙2 = 8 Stellen, die mit acht grammatischen Wörtern besetzt sind; Tab. 1 zeigt ein Beispiel. Die Menge dieser acht grammatischen Wörter mit derselben lexikalischen Bedeutung ‘Herz’, aber unterschiedlichen Grammemen bildet das Lexem herz. Ein zugehöriges grammatisches Wort nennt

Tab. 1: Paradigma des Lexems herz herz

‘sg’

‘pl’

‘nom’

Herz

Herz-en

‘gen’

Herz-ens

Herz-en

‘dat’

Herz-en

Herz-en

‘akk’

Herz

Herz-en

man auch Flexionsform, Form (nicht zu verwechseln mit Wortform) oder Allolex des Lexems. Lexeme werden meist mit Kapitälchen oder Großbuchstaben notiert. Dabei gibt man die als Zitierform bezeichnete Flexionsform an, die eine bestimmte Stelle im Paradigma einnimmt, oder den Stamm der Zitierform. Bei deutschen Substantiven ist die Zitierform konventionell der Nominativ Singular, der mit dem Stamm übereinstimmt (sofern man nicht in Fällen wie Museum wegen des Plurals Museen den Stamm Muse‑ ansetzen will). Bei Verben ist die Zitierform der Infinitiv; man findet daher die Schreibweisen sprechen und sprech (oder sprechv mit einem Index für die Lexemklasse Verb). Wie bei Morphem/Allomorph wird auch das Verhältnis Lexem/Allolex oft als das zwischen einer abstrakten Einheit des Sprachsystems und ihrer konkreten „Realisierung“ beschrieben. Alle sprachlichen Einheiten sind jedoch Abstraktionen und können gleichermaßen als Elemente des Sprachsystems wie als Elemente von Texten betrachtet werden. Dass ein Lexem ein Zeichen sei (Aronoff 1994: 9f.), ist auch nicht korrekt, und ebensowenig die zuweilen anzutreffende Gleichsetzung des Lexems mit dem Stamm oder der Zitierform. Manche Autoren wollen Lexeme auf Substantive, Verben und Adjektive beschränken (s. Aronoff 1994: 9f.), übersehen dabei aber, dass es auch flektierte Präpositionen, Konjunktionen u.ä. gibt, z.B. Kymrisch genn-yf ‘mit mir’, genn-yt ‘mit dir’, gann-ddo ‘mit ihm’ usw. Andererseits ist es problematisch, Lexem auf idiomatische Phrasen wie engl. put off ‘aufschieben’ auszuweiten (z.B. Lyons 1977: 23) und sehr allgemein als „Einheit des Lexikons“ zu verstehen, denn das ist wegen der unterschiedlichen Modelle des Lexikons keine wohldefinierte Größe und könnte auch Affixe oder manche Flexionsformen einschließen. Joachim Mugdan

→ § 3; grammatisches Wort; Morphem; Stamm; Wort; Wortform

⇀ Lexem (Gram-Formen; Lexik)

435

⇁ lexeme (Typol)

🕮 Aronoff, M. [1994] Morphology by Itself. Cambridge, MA [etc.] ◾ Bonami, O. / Boyé, G./ Dal, G./ Giraudo, H./ Namer, F. [Hg. 2018] The lexeme in descriptive and theoretical morphology. Berlin ◾ Lyons, J. [1963] Structural Semantics. An Analysis of Part of the Vocabulary of Plato. Oxford ◾ Lyons, J. [1977] Semantics. Vol. 1. Cambridge [etc.] ◾ Matthews, P.H. [1974] Morphology. Cambridge [etc.] ◾ Mel’čuk, I.A. [1982] Towards a Language of Linguistics. A System of Formal Notions for Theoretical Morphology. München ◾ Mugdan, J. [2015] Units of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 235–301.

lexikalische Einsetzung

Regel, die eine lexikalische Einheit als Endknoten in einem syntaktischen Baum einsetzt. ▲ lexical insertion: rule which introduces a lexical item as the terminal node in a syntactic tree. Als Bestandteil von Chomskys (1965) Standardtheorie der Transformationsgrammatik in die Syntaxtheorie eingeführt, korreliert die lexikalische Einsetzung die Kategorie und andere Merkmale einer lexikalischen Einheit mit der Kategorie und anderen Merkmalen terminaler Knoten eines zugrundeliegenden Phrasenmarkierers und setzt die zugehörige lexikalische Einheit an der Stelle eines durch das Symbol Δ repräsentierten Platzhalters ein. Scalise (1984) weist darauf hin, dass, obwohl ihr Begriff älter ist als die generative Morphologie, die lexikalische Einsetzung die wachsende Bedeutung des Lexikons als einer Komponente der Grammatik reflektiert. Seit den Anfängen der generativen Morphologie Mitte der 1970er Jahre hat die Einsetzung lexikalischer Einheiten unterschiedliche Rollen in den unterschiedlichen Theorien gespielt. In streng lexikalistischen Theorien wie denen von Aronoff (1976) und Lieber (1981) weicht der Begriff der lexikalischen Einsetzung kaum von dem im Modell der Standardtheorie ab, aber in Andersons (1982) „split morphology hypothesis“ werden vollständig flektierte Formen nicht per se in zugrundeliegende Strukturen eingesetzt. Statt dessen setzen postsyntaktische Realisierungsregeln flexionsmorphologisches Material in bereits eingefügte Simplizia, abgeleitete bzw. zusammengesetzte Formen ein. Eine noch radikalere Fassung der lexikalischen Einsetzung findet sich in frühen Versionen der „distributed morphology“ (Halle/Marantz 1993), wo syntaktische Bäume lediglich aus morphosyntaktischen Merkmalen

lexikalisches Morphem bestehen und lexikalische und funktionale Morpheme postsyntaktisch eingesetzt werden, ein Prozess, der als „late insertion“ bezeichnet wird. Jüngere Versionen der „distributed morphology“ (Embick/Noyer 2007) ziehen sich auf eine Position ähnlich der von Anderson (1982) zurück, wo lexikalische Einheiten früh in der syntaktischen Derivation eingesetzt (oder, in der Terminologie der minimalistischen Syntax: „gemergt“) werden und sich Flexion in einer postsyntaktischen Komponente vollzieht. Rochelle Lieber

→ distributed morphology; generative Morphologie ⇁ lexical insertion (Woform)

🕮 Anderson, S.R. [1982] Where’s Morphology? In: LingInqu 13/4: 571–612 ◾ Aronoff, M. [1976] Word Formation in Generative Grammar . Cambridge, MA [etc.] ◾ Chomsky, N. [1965] Aspects of the Theory of Syntax. Cambridge, MA ◾ Embick, D./ Noyer, R. [2007] Distributed Morphology and the Syntax-Morphology Interface. In: Ramchand, G./ Reiss, C. [eds.] The Oxford Handbook of Linguistic Interfaces. Oxford: 289–324 ◾ Halle, M./ Marantz, A. [1993] Distributed Morphology and the Pieces of Inflection. In: Hale, K./ Keyser, S.J. [eds.] The View from Building 20. Cambridge, MA: 111–176 ◾ Lieber, R. [1981] The Organization of the Lexicon. Bloomington, IN ◾ Scalise, S. [1984] Morphology in Generative Grammar. Dordrecht.

lexikalische Lücke

≡ Benennungslücke ⇀ lexikalische Lücke (SemPrag)

lexikalische Repräsentation

≡ Lexikoneintrag (2) ⇀ lexikalische Repräsentation (Lexik)

lexikalisches Morphem

Morphem mit lexikalischer Bedeutung. ▲ lexical morpheme: morpheme with a lexical meaning. Lexikalische Bedeutungen werden meist als solche beschrieben, die sich auf Entitäten, Sachverhalte oder Eigenschaften beziehen. Diese Phänome sind in einer mentalen Welt angesiedelt, auf die wir die reale oder auch eine imaginäre außersprachliche Welt abbilden. Prototypische Entitäten sind physische Objekte wie Dinge, Tiere und Menschen, aber Wörter wie Ankunft, Hoffnung und Frage zeigen, dass auch viele andere Phänomene als Entitäten versprachlicht werden können (vgl. Mackenzie 2004). Sachverhalte umfassen Handlungen, Ereignisse, Vorgänge, Zu-

L

lexikalisches System 436

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stände usw. (vgl. Hengeveld 2004), und zu den Eigenschaften gehören grundlegende konkrete wie Größe, Form, Farbe und Qualität, aber auch recht spezifische oder abstrakte wie waschbar und großzügig (vgl. Thompson 2004). Lexikalische Bedeutungen werden von grammatischen auch mithilfe des Begriffspaars autosemantisch/ synsemantisch (s. Marty 1908: 205f.) abgegrenzt. Demnach haben lexikalische Morpheme unabhängig von anderen Morphemen eine Bedeutung, grammatische Morpheme jedoch nur in Verbindung mit anderen Morphemen. Ähnliche Unterscheidungen sind die zwischen Inhaltswörtern und Funktionswörtern sowie die zwischen „vollen“ und „leeren“ Wörtern in der chinesischen Tradition. In der französischen Linguistik werden für lexikalische und grammatische Morpheme die Termini Lexem bzw. Morphem benutzt (s. Martinet 1960: 20), die jedoch normalerweise andere Bedeutungen haben. Lexikalische Morpheme sind stets Wurzeln, weil Affixe per Definition grammatische Morpheme sind (es sei denn, man rechnet Derivationsaffixe zu den lexikalischen, wie das zuweilen geschieht). Ob Wurzeln auch immer lexikalische Morpheme sind, hängt insbesondere davon ab, ob man Partikeln, d.h. freie grammatische Morpheme wie und, bei, obwohl, als Wurzeln betrachtet oder als eine eigene Klasse (s. Croft 2000: 258). Diachron werden häufig Wurzeln zu Affixen (z.B. geht -tum auf ahd. tuom ‘Urteil’ zurück), und die gleiche Bedeutung kann in verschiedenen Sprachen oder sogar innerhalb derselben Sprache durch eine Wurzel oder durch ein Affix ausgedrückt werden (vgl. Alt-bürgermeister und ehemaliger Bürgermeister). Das zeigt, dass die Unterscheidung zwischen lexikalischen und grammatischen Morphemen nicht rein semantisch und von der Einzelsprache unabhängig getroffen werden kann. Letztlich wird man die nicht sehr große Klasse der grammatischen Morpheme einer Sprache durch Aufzählung definieren müssen (wobei ein universaler Katalog typischer grammatischer Bedeutungen hilfreich sein kann, s. Croft 2000: 260–262); alle anderen Morpheme gehören dann zu der offenen (z.B. durch Entlehnungen leicht erweiterbaren) Klasse der lexikalischen Morpheme.

↔ grammatisches Morphem

Joachim Mugdan

→ § 9; Affix; freies Morphem; Morphem; Partikel; Wurzel ⇀ lexikalisches Morphem (Gram-Formen; CG-Dt; Lexik) ⇁ lexical morpheme (CG-Engl; Typol)

🕮 Croft, W. [2000] Lexical and grammatical meaning. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 257–263 ◾ Hengeveld, K. [2004] State-of-affairs concepts. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.2). Berlin [etc.]: 1104–1111 ◾ Mackenzie, J.L. [2004] Entity concepts. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.2). Berlin [etc.]: 973–983 ◾ Martinet, A. [1960] Éléments de linguistique générale. Paris ◾ Marty, A. [1908] Untersuchungen zur Grundlegung der allgemeinen Grammatik und Sprachphilosophie. Erster Bd. Halle ◾ Thompson, S.A. [2004] Property concepts. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.2). Berlin [etc.]: 1111–1117.

lexikalisches System

abstraktes Wissenssystem, welches Sprecher über die Wörter und lexikalischen Prozesse ihrer Sprache besitzen. ▲ lexical system: abstract system of knowledge that speakers possesses of the words and lexical processes of their language. Laut Bierwisch (1989) ist das lexikalische System einer Sprache ein redundanzfreies, rechnerisches System, das das lexikalische Wissen eines Sprechers spezifiziert. Es enthält auf der einen Seite die idiosynkratischen lexikalischen Einträge der Sprache und auf der anderen Seite die Regeln und Prinzipien, die die Klasse der möglichen Wörter definieren. Die Menge der lexikalischen Einträge (LE) beinhaltet sowohl die Basiseinträge (BLE), die die einfachen Wurzeln und Affixe der Sprache enkodieren, als auch die komplexen lexikalischen Einträge (CLE), die die idiosynkratischen komplexen lexikalischen Elemente spezifizieren. Reguläre komplexe Wörter werden nicht als lexikalische Einträge repräsentiert, sondern werden als virtuelle lexikalische Einträge (VLE) betrachtet, da sie basierend auf den lexikalischen Einträgen (LE) und Regeln und Prinzipien des Systems vorhersagbar sind. Das lexikalische System als ein theoretisches Gebilde für die lexikalischen Aspekte der Grammatik kann vom mentalen Lexikon unterschieden werden, das lexikalisches Wissen im Gedächtnis implementiert und eine Rolle bei lexikalischem Zugriff und Erkennung spielt. Das mentale Lexikon weicht deshalb vom lexikalischen System ab, weil es Faktoren wie Frequenz und präferierte Interpretation mit berücksichtigt und ausdrücklich auch redundante

437 Lexikalisierung Informationen erfasst, wie die vollständig regulären komplexen Einträge (VLE), nachdem diese im Sprechervokabular etabliert wurden.

→ Lexikalismus; Lexikoneintrag (1) ⇁ lexical system (Woform)

Susan Olsen

🕮 Bierwisch, M. [1989] Event nominalizations. In: Motsch, W. [Hg.] Wortstruktur und Satzstruktur. Berlin: 1–73.

lexikalisierte Bildung

Wortbildung, die Bestandteil des Lexikons einer Sprache ist. ▲ lexicalized formation: word-formation which is an element of the lexicon of a language. Lexikalisierte Bildungen wie engl. cupboard, dt. Handtuch gehören zum lexikalischen Inventar einer Sprache. Im Unterschied zu den okkasionellen Bildungen, die spontan und aus einem momentanen Bedarf heraus nach vorhandenen Wortbildungsmodellen gebildet werden, sind lexikalisierte Bildungen als usuelle Bildungen im Lexikon gespeichert und werden bei Bedarf dort abgerufen. Okkasionelle Bildungen können, vor allem bei häufigem Gebrauch infolge eines überindividuellen Bedarfs an einer entsprechenden Benennung, zu Bestandteilen des Lexikons werden. Die Übergänge zwischen den beiden Kategorien sind daher fließend. Unter diachronem Aspekt hat Lexikalisierung häufig zwei Seiten: Speicherung und Demotivation. Mitunter gelten nur demotivierte Bildungen als lexikalisiert. Bildungen wie engl. grassgreen, dt. himmelblau wären danach als Bestandteile des Lexikons zwar usuell, nicht aber lexikalisiert (vgl. Sauer 2000, Bauer 1983). Als ein Indiz für die Lexikalisierung gilt gemeinhin die Kodifizierung im einsprachigen Bedeutungswörterbuch. Aus dem Fehlen eines entsprechenden Wörterbucheintrags folgt allerdings nicht zwangsläufig, dass die betreffende Bildung nicht lexikalisiert ist. Die morphologische Motiviertheit vieler Neubildungen und der mögliche Anschluss an ein existierendes Wortbildungsnest kann Lexikografen veranlassen, auf einen entsprechenden Eintrag zu verzichten. Anja Seiffert ≡ usuelle Bildung ↔ Ad-hoc-Bildung → demotivierte Bildung; Lexikalisierung; Speicherung; Wortbildungsnest 🕮 Bauer, L. [1983] English Word-Formation. Cambridge [etc.]

◾ Grimm, U. [1991] Lexikalisierung im heutigen Englisch am Beispiel der -er-Ableitungen. Tübingen ◾ Hilpert, M. [2020] Lexicalization in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 3. New York: 1721–1733 ◾ Hohenhaus, P. [1996] Ad-hoc-Wortbildung. Terminologie, Typologie und Theorie kreativer Wortbildung im Englischen. Frankfurt/Main ◾ Lipka, L. [1981] Zur Lexikalisierung im Deutschen und Englischen. In: Lipka, L./ Günther, H. [Hg.] Wortbildung. Darmstadt: 119–132 ◾ Sauer, H. [2004] Lexicalization and demotivation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.2). Berlin [etc.]: 1625–1636.

Lexikalisierung

Prozess der Aufnahme einer lexikalischen Einheit in das Lexikon einer Sprache. ▲ lexicalization: process of a lexical unit entering the lexicon of a language. Der Terminus wird in der Forschung nicht immer einheitlich verwendet. Häufig wird Lexikalisierung mit Demotivation oder Idiomatisierung gleichgesetzt (Sauer 2000). Mitunter gilt die Demotivation auch als notwendige Bedingung für die Lexikalisierung. Lexikalisierung hat danach zwei Seiten: Speicherung und Demotivation (Flei­scher/Barz 2007: 15f.). Die enge Bindung der Lexikalisierung an die Demotivation beruht auf der Vorstellung, dass das Lexikon einer Sprache neben den einfachen, simplizischen Einheiten nur unregelmäßige, idiosynkratische Bildungen enthält. Schließlich wird Lexikalisierung verstanden als Usualisierung. Lexikalisierung in diesem Sinne kann, muss aber nicht einhergehen mit Demotivation. Die entsprechenden lexikalischen Einheiten – Simplizia, komplexe Bildungen, syntaktische Phrasen (engl. How do you do?, dt. anonyme Geburt) – können als fester Bestandteil des Lexikons einer Sprache angesehen werden. Mit der Aufnahme ins Lexikon verbunden ist oft der Verlust der potentiellen Mehrdeutigkeit einer lexikalischen Einheit, vgl. engl. hacker (‘a person who hacks into computer systems’). Damit steht die Lexikalisierung im engen Zusammenhang mit der Idiomatisierung, mitunter werden beide Termini auch synonym verwendet. Grundsätzlich wird nur ein Bruchteil aller in Texten vorkommenden Wortbildungen lexikalisiert. Die Ursachen dafür sind sowohl sprachlicher als auch außersprachlicher Natur. Zu den außersprachlichen Gründen gehört mangelnder Bedarf an einer entsprechenden Benennung. Sind die durch die Bildungen bezeichneten Begriffe nicht von allgemeinem Interesse, haben die Bildungen

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Lexikalismus 438

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kaum eine Lexikalisierungschance, dies zeigen besonders kindersprachliche Bildungen wie Luftpumper oder Nebensitzer. Andererseits sind Lexikalisierung und häufiger Gebrauch nicht identisch. Es gibt Bildungen, die vergleichsweise selten vorkommen, aber als usuelle lexikalische Einheiten Eingang in das Lexikon einer Sprache gefunden haben. Neben den außersprachlichen Gründen hat vor allem der Wortbildungstyp Einfluss auf die Lexikalisierungspotenz. So verfügen hochgradig komplexe, polymorphemische Komposita oder Komposita mit einem Eigennamen als Erstglied (engl. Merkel visit, dt. Grass-Ehrung) nur über eine geringe Lexikalisierungsaffinität (Fleischer 1997, Hohenhaus 1996), (vgl. aber Riesterrente, Hartzkommission). Auch bei Wortbildungsmodellen, die in erster Linie der syntaktischen Transposition dienen, etwa bei der Infinitiv-Konversion (sprechen – das Sprechen), ist die Lexikalisierungsaffinität nur schwach ausgeprägt. Stark lexikalisierungshemmend wirken darüber hinaus Abweichungen von Bildungsmustern (Hohenhaus 1996), etwa bei dt. frischwärts (vgl. aber dt. unkaputtbar). Anja Seiffert ≡ Usualisierung ↔ Analysierbarkeit → § 4; Demotivation; Idiomatisierung; Institutionalisierung; lexikalisierte Bildung ⇀ Lexikalisierung (Gram-Formen; SemPrag; QL-Dt; Lexik; CG-Dt) ⇁ lexicalization (Typol; TheoMethods)

🕮 Feilke, H. [1996] Sprache als soziale Gestalt. Ausdruck, Prägung und die Ordnung der sprachlichen Typik. Frankfurt/Main ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Fleischer, W. [1997] Grundsatzfragen der Wortbildung aus germanistischer Sicht. In: Šimečkova, A./ Vachkova, M. [Hg.] Wortbildung – Theorie und Anwendung. Prag: 42–60 ◾ Hilpert, M. [2020] Lexicalization in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 3. New York: 1721‒1733 ◾ Hohenhaus, P. [1996] Ad-hoc-Wortbildung. Terminologie, Typologie und Theorie kreativer Wortbildung im Englischen. Frankfurt/Main ◾ Sauer, H. [2004] Lexicalization and demotivation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.2). Berlin [etc.]: 1625–1636.

Lexikalismus

theoretischer Ansatz, der im Zentrum der morphologischen Analyse das Lexikon ansiedelt. ▲ lexicalism: theoretical approach that places the lexicon at the center of morphological analysis. Im Lexikalismus wird als Zentrum der Morphologie ein Lexikon angenommen. In diesem Lexikon sind Lexeme oder Wörter aufgelistet. Die Wortbil-

dung ist eine eigene Komponente der Grammatik mit eigenen Regeln. Der Lexikalismus wendet sich gegen bestimmte transformationalistische Ansätze, die in der Morphologie lediglich eine Fortführung der Syntax auf Wortebene sehen und die versuchen, jede Wortbildung mit Mitteln der Syntax zu beschreiben. Im Lexikalismus sind Wortstrukturregeln in einer anderen Komponente (eben dem Lexikon) verankert als Phrasenstrukturregeln. Als frühe Arbeiten zum Lexikalismus gelten Jackendoff (1975) und Aronoff (1976). Jackendoff geht von einem „full entry“ aus, was besagt, dass alle Wörter – die einfachen und die komplexen – einer Sprache im Lexikon aufgenommen werden. Damit wird das Lexikon sehr umfangreich. Im Anschluss können in dem Lexikon Redundanzregeln erzeugt werden, die letztendlich zu einer Entlastung des Lexikons führen. Sein Ansatz nimmt von vorneherein an, dass völlig regelmäßige Wortbildungen eher die Ausnahme sind. Jackendoff kann in seinen Redundanzregeln unterschiedliche „Grade“ der Redundanz festhalten. Der Idee nach entspricht Jackendoffs Lexikon tatsächlich dem, was ein Sprecher wissen muss. Die Redundanzregeln sind zunächst passiv zu verstehen (für die Analyse des vorhandenen Wortschatzes), können aber auch für die Neubildung nach gegebenem Vorbild aktiviert werden. Wörter und Sätze werden nach deutlich anderen Regelsystemen analysiert und gebildet. Aronoff (1976) hingegen nimmt auch Lexikoneinträge für Affixe an, die sich von denen von Wörtern unterscheiden. In älteren Ansätzen werden zusätzlich morphologische Regeln aufgenommen, mit denen dann komplexe Wörter (Derivate und Komposita) gebildet werden können. Bei Aronoff steht also die Bildung neuer Wörter im Vordergrund. Mit Hilfe der Affixe werden Wortstrukturen erzeugt, die phonologisch, syntaktisch und semantisch vorhersagbar sind. Unregelmäßigkeiten ergeben sich erst bei Usualisierung von Wörtern, bei der Bildung verhalten sie sich den Regeln entsprechend. Die Wortstrukturen und die Regeln zur Wortstrukturerzeugung finden ausschließlich im Lexikon statt und sind unabhängig von syntaktischen Transformationsregeln. Die gebildeten Wörter werden ebenfalls im Lexikon gespeichert. Auch Williams (1981) und Selkirk (1982) behandeln Affixe und Lexeme als Einheiten des Lexi-

439 Lexikoneintrag kons, die mittels Wortbildungsregeln zu Wortstrukturen kombiniert werden. Lieber (1981) nimmt statt Wortstrukturregeln schlichte binärverzweigende Wortstrukturbäume an, in die Lexeme und Affixe des Lexikons eingesetzt werden und die durch Perkolationskonventionen ihre Merkmale auf die dominierenden Knoten übertragen. Wenn zuvor insbesondere betont wurde, dass die Morphologie eine eigene Komponente in der Grammatik braucht, so ging es wesentlich um Derivation mit (unselbständigen) Einheiten im Vergleich mit Phrasenstrukturregeln. Höhle (1982) und Reis (1983) übertragen dies auf einen Vergleich zwischen Komposition und Affigierung und zeigen hierbei Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Auch dieses zeigt indirekt klare Unterschiede zur Syntax und ist damit ein Plädoyer für eine besondere Behandlung der Affigierung, also der Wortbildung mit unselbständigen Einheiten. Der lexikalistische Ansatz ist für das Dt. von Olsen (1986) weitergeführt worden, die die Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich herausarbeitet. Olsen arbeitet mit Wortstrukturregeln und verbindet damit eine eher europäische Tradition, die Strukturen bis dahin erst in Ansätzen formal benannt hat, mit einer amerikanischen Tradition, die eher von einer theoretischen Seite gelenkt ist und nicht den Anspruch hat, ein konkretes Sprachsystem vollständig zu beschreiben. Die Entwicklung des Lexikalismus und die Diskussion um ihn fanden wesentlich in den 70er und 80er Jahren des 20 Jhs. statt. Viele der Grundideen der Auseinandersetzung wurden fortgeführt in der Diskussion der 90er Jahre um eine syntagmatische und eine paradigmatische Morphologie. Allerdings wurde insbesondere bei der Diskussion um Rektionskomposita auch in den 90er Jahren noch mit einem Vergleich zu Syntax gearbeitet. Der Lexikalismus ist zwar zunächst als Gegenbewegung zu einer transformationalistischen Sichtweise entstanden. Er hat aber wesentliche Erkenntnisse, die aufgrund der Übertragung von syntaktischen Prinzipien auf die Wortbildung gewonnen werden konnten, konsequent übernommen. Die Annahme von Wortstrukturregeln hat die theoretische Fundierung der Wortbildung weit vorangetrieben. Nanna Fuhrhop

→ lexikalisches System; Lexikalisierung; Lexikoneintrag (2); nominales Rektionskompositum; Perkolation; Wortbildungsregel; Wortstrukturregel

🕮 Aronoff, M. [1976] Word Formation in Generative Grammar. Cambridge, MA [etc.] ◾ Höhle, T. [1982] Über Komposition und Derivation. Zur Konstituentenstruktur von Wortbildungsprodukten. In: ZS 1: 76–112 ◾ Jackendoff, R. [1975] Morphological and Semantic Regularities in the Lexicon. In: Lg 51: 639–671 ◾ Lieber, R. [1981] The Organization of the Lexicon. Bloomington, IN ◾ Olsen, S. [1986] Wortbildung im Deutschen. Eine Einführung in die Theorie der Wortstruktur. Stuttgart ◾ Reis, M. [1983] Gegen die Kompositionstheorie der Affigierung. In: ZS 2: 110– 131 ◾ Selkirk, E. [1982] The Syntax of Words. Cambridge, MA [etc.] ◾ Williams, E. [1981] On the Notions „Lexically Related“ and „Head of a Word“. In: LingInqu 12: 245–274.

Lexikoneintrag

1. Repräsentation eines lexikalischen Elements im lexikalischen System einer Sprache. ▲ lexical entry: representation of a lexical element in the lexical system of a language. 2. in der generativen Morphologie die Gesamtheit der phonologischen, semantischen und morphosyntaktischen Informationen, die als Bestandteile der Repräsentation eines Lexems, oder allgemeiner: eines Morphems, angenommen werden. ▲ lexical entry: within frameworks of generative morphology, the sum total of phonological, semantic, and morphosyntactic information assumed to be part of the representation of a lexeme, or more generally, morpheme in the mental lexicon. Zu 1: Ein Lexikoneintrag spezifiziert die phonologischen, grammatikalischen, syntaktischen und semantischen Informationen, die mit einem lexikalischen Element im lexikalischen System einer Sprache verbunden sind. Beispiel-Repräsentationen für die deutschen lexikalischen Begriffe Sohn und rett- werden im Folgenden nach Bierwischs (1989, 2015) Auffassung gegeben: (1) /zo:n/; [+N, -V, +Masc]; λy λx [[ x CHILD-OF y ] ⋀ [ MALE x ]] (2) /rƐt/; [-N, +V]; λy λx λz [ z INST [ x RESCUE y ]] Jeder Eintrag hat eine phonologische Form, die in schrägen Klammern geschrieben wird. Sohn wird des Weiteren grammatikalisch als ein maskulines Nomen mit der Bedeutung ‘männliches Kind von y’ und rett- als ein Verbstamm charakterisiert, der eine Proposition ‘x rettet y’ erzeugen kann. Die offenen Variablen x, y, und z der semantischen Formen zu diesen Einträgen werden von Lambda-Operatoren gebunden, die den eckigen Klam-

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Lexikoneintrag 440

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mern vorausgehen. Der Lambda-Operator ermöglicht es, dass die von ihm gebundenen Variablen mithilfe von Lambda-Konversion durch individuelle Werte ersetzt werden, vgl. Max (= x) ist der Sohn von Howard (= y) oder Max (= x) rettet Howard (= y), und konstituiert somit die Argumentstruktur oder das Theta-Raster des lexikalischen Begriffs. Das Raster vermittelt zwischen der semantischen Form und der syntaktischen Struktur, in der der lexikalische Begriff erscheint. Jede gebundene Variable im Theta-Raster kann als Theta-Rolle verstanden werden, die in der vom Kopf projizierten X-Bar-Konfiguration einem Komplement zugeschrieben wird. Laut Bierwisch (1989: 6–7) sagen die allgemeinen Prinzipien des lexikalischen Systems voraus, dass eine Theta-Rolle im Theta-Raster entweder referenziell oder nicht-referenziell, extern oder intern, obligatorisch oder optional ist. Die unterste Theta-Rolle in den obigen Einträgen (= λy) ist das interne Argument von Sohn und rett-. Die internen Rollen von Nomen sind optional, während die von Verben obligatorisch sind, wenn sie nicht anders markiert werden (vgl. *Max rettet). Die höchste Theta-Rolle im Theta-Raster eines nominalen und eines verbalen Eintrags entspricht dem referenziellen Argument, d.h. dem Individuum (= x), auf das sich eine Phrase wie der Sohn von Howard bezieht, oder das Ereignis (= z), das die Proposition Max rettet Howard instantiiert. Im Gegensatz zu einem Nomen, bei dem das referenzielle Argument das externe Argument ist, sind die referenziellen und externen Argumente beim Verb unterschiedlich. In (2) ist das externe Argument nicht das höchste, sondern das zweithöchste Argument des ThetaRasters (= λx, in Max (= x) rettet Howard). Im von Bierwisch (1989: 8–14) skizzierten lexikalischen System sind die Prinzipien der regulären Derivation eine Folge der Eigenschaften der lexikalischen Einträgen. Affixe selbst gehören nicht zu einer lexikalischen Kategorie, sondern werden über ihre höchste Theta-Rolle mit einer Kategorie assoziiert. Sie werden mit der lexikalischen Kategorie, die mit ihrer höchsten Theta-Rolle verbunden ist, mithilfe von funktionaler Komposition kombiniert, die eine lexikalische Konstruktion schafft, in der die Affixe den Kopf bilden. Die Art der Kombination erlaubt die Vererbung von Argumenten von der Basis an die neu-gebildete Kategorie.

Das nominalisierende Suffix -ung in (3) (3) /-ung/; [-V, +N, +Fem] λx [x]

[+V, -N] wird beispielsweise mit einem Verb kombiniert, übernimmt das Theta-Raster des Verbs und bildet so das deverbale Nomen in (4). Als Nomen bezieht sich Rettung auf ein Ereignis ‘x rettet y’, vgl. (5): (4) /ret-ung/; [-V, +N, Fem]; λy λx l λz [z INST [x RESCUE y]]] (5) Peters Rettung der Passagiere Susan Olsen

→ Argumentstruktur; Argumentvererbung; funktionale Komposition; lexikalisches System

⇀ Lexikoneintrag (Lexik) ⇁ lexical entry (1) (Woform); lexical entry (2) (Woform)

🕮 Bierwisch, M. [1989] Event nominalizations. In: Motsch, W. [Hg.] Wortstruktur und Satzstruktur. Berlin: 1–73 ◾ Bierwisch, M. [2015] Word-formation and argument structure. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1056–1099.

Zu 2: Generative morphologische Theorien postulieren, dass jedes Lexem einen Eintrag in einem mentalen Lexikon hat, das alle Informationen über dieses Lexem enthält, darunter seine phonologische Repräsentation, seine semantische Repräsentation, seine syntaktische Kategorie und mitunter auch Subkategorie, seine Argumentstruktur oder thematisches Raster und alle anderen idiosynkratischen Informationen, die Teil des Sprecherwissens über dieses Lexem sind. Es gibt unterschiedliche Formalismen für Lexikoneinträge, eine gängige Repräsentation eines Lexikoneintrags ist aber das Auflisten von unterschiedlichen Typen von Informationen. Ein solcher Formalismus repräsentiert den Lexikoneintrag für das Verb put als: (1a) put [pʊt] (1b) V, [agent, theme, location] (1c) [x CAUSE [y BE [AT PLACE z]]] Morphologische Theorien unterscheiden sich darin, ob sie für Affixe ebenso wie für Wurzellexeme eigene Lexikoneinträge vorsehen. In morphembasierten Theorien wie der von Lieber (1981, 1992) haben Affixe eigene Lexikoneinträge, die sich von denen für Wurzeln nur darin unterscheiden, dass sie als Einträge für gebundene Elemente Angaben darüber enthalten müssen, mit

441 welcher Art von Elementen sich das jeweilige Affix verbinden kann. Das Suffix -ity z.B. verbindet sich nur mit Adjektiven lateinischen Ursprungs: (2a) -ity [ɪti] (2b) N, [[ ]Adjective, Latinate __ ] (2c) [QUALITY] Generative Modelle, die eher in den Rahmen von „Item-and-Process“- oder „Wort-und-Paradigma“Morphologien formuiert sind (wie z.B. Aronoff 1976, 1994 und Anderson 1992), vermeiden Lexikoneinträge für Affixe und argumentieren dafür, dass Affixe als Teile von Wortbildungsregeln hinzugefügt werden. Rochelle Lieber ≡ lexikalische Repräsentation → generative Morphologie; Item-and-Process-Modell; Wortbildungsregel; Wort-und-Paradigma-Modell ⇀ Lexikoneintrag (Lexik) ⇁ lexical entry (1) (Woform); lexical entry (2) (Woform)

🕮 Anderson, S.R. [1992] A-morphous Morphology. Cambridge [etc.] ◾ Aronoff, M. [1976] Word Formation in Generative Grammar. Cambridge, MA [etc.] ◾ Aronoff, M. [1994] Morphology by Itself. Cambridge, MA [etc.] ◾ Lieber, R. [1981] The Organization of the Lexicon. Bloomington, IN ◾ Lieber, R. [1992] Deconstructing Morphology. Word Formation in Syntactic Theory. Chicago, IL.

linguistisches template

Wortbildungsmuster, das auf der Grundlage konventionalisierter Wörter und der mit diesen Wörtern assoziierten Schemata konstruiert wird und als Vorlage für Neubildungen dient. ▲ linguistic template: word-formation pattern constructed on the basis of conventionalized words and schemas associated with these words which serves as a pattern for novel formations. Linguistische templates variieren in Bezug auf ihren Abstraktheitsgrad und werden entweder aus einem konventionalisierten Wort oder aus einer Menge konventionalisierter Wörter konstruiert. Wird z.B. water sock ‘Wassersocke’ [something shaped roughly like a sock that water can flow through or by, that indicates the speed and direction of the flow] analog zu wind sock ‘Windsack’ gebildet, so dient das konventionalisierte Kompositum wind sock als konkretes template. Abstraktere templates sind dadurch gekennzeichnet, dass sie sowohl Konstanten als auch Variablen beinhalten, z.B. (1) X + box = ‘a box intended to contain/store X’ (2) [[X]V er]N = ‘one who Vs’

linksköpfiges Kompositum Das unter (1) dargestellte, von Ryder (1994: 80) postulierte template wird aus der Menge etablierter Komposita, deren zweite Konstituente das Nomen box bildet, konstruiert (z.B. cigar box, matchbox, pillbox, letterbox, moneybox). Wird ein neues Kompositum dieses Typs gebildet, so ist die Variable X durch ein Nomen zu substituieren, das einen Slot in dem mit box assoziierten Schema füllt. Das template unter (2) wird von Booij (2005: 11) als Bauplan für Personenbezeichnungen, die das Suffix -er aufweisen, eingeführt. Dieses Wortbildungsmuster wird aus konventionalisierten Bildungen wie swimmer, driver, writer, singer etc. gewonnen. Noch abstraktere templates bilden nach Ryder (1994: 98) Konstruktionen, die lediglich eine allgemeine Relation zwischen zwei offenen Klassen von Konstituenten kodieren, z.B. Y + Location X = X in which Y is characteristically found wie durch apple orchard, cow shed, icehouse, shipyard, rose garden u.a. exemplifiziert. Heike Baeskow

→ Analogiebasis; cue reliability; Kognitive Grammatik; Schema

🕮 Booij, G. [2005] The Grammar of Words. An Introduction to Linguistic Morphology. Oxford [etc.] ◾ Ryder, M.E. [1994] Ordered Chaos. The Interpretation of English Noun-Noun Compounds. Berkeley [etc.] ◾ Štekauer, P. [2005] Meaning Predictability in Word Formation. Novel, context-free naming units. Amsterdam [etc.].

Linking, episodisches → episodisches Linking

linksköpfiges Kompositum

Determinativkompositum, dessen linker Bestandteil Kopf des Kompositums ist. ▲ left-headed compound: determinative compound whose left element is the head of the compound. Endozentrische Determinativkomposita sind im Germanischen strukturell gesehen in der Regel rechtsköpfig ‒ eine Generalisierung, die durch Williams' (1981) „righthand head rule“ erfasst wird (vgl. auch Allens (1978) „IS A condition“). Diese besagt, dass die zweite Konstituente den Kopf der Wortstruktur bildet und somit die lexikalische Kategorie zusammen mit den zugehörigen morphologischen Merkmalen (Genus, Kasus, Numerus) des komplexen Wortes bestimmt: Schrankwand ist ein feminines Nomen wie seine Kopf-Konstituente Wand und es heißt Straßendörfer in der Mehrzahl,

L

Linksköpfigkeit 442

L

weil Dorf als Kopf-Konstituente so flektiert. Da die Flexionsmarker des letzten Lexems bzw. Formativs im Wort erscheinen, garantiert die „righthand head rule“ die Kohäsion des Wortes. Dennoch folgen nicht alle Sprachen bzw. Sprachfamilien dieser Generalisierung. Das Hebräische und das Vietnamesische weisen bspw. Komposita auf, die scheinbar linksköpfig sind, vgl. hebr. beyt sefer ‘Schule; lit. Haus+Buch’ und gan xayot ‘Zoo; lit. Garten+Tiere’ (Borer 1988) bzw. vietn. nhà lịch sἰr ‘Historiker’; lit. nhà ‘Person’ lịch sἰr ‘Geschichte’ (Spencer 1991). Diese Bildungen geben häufig Anlass zur Diskussion, ob sie nicht eher als syntaktische Phrasen anzusehen sind. Linksköpfige Komposita sind allerdings auch ein typologisches Merkmal der romanischen Sprachen. Im Gegensatz zu den germanischen Komposita, die der „right hand head“-Regel konform sind, geht das maskuline Genus der Wörter in (1) auf den linken Kopf zurück und im Plural erscheint zudem der Pluralmarker am linken Kopf, d.h. mitten im Wort (años luz, timbres-poste und capistazione). (1a) Sp.: año luz ‘Lichtjahr’ (1b) Fr.: timbre-poste ‘Briefmarke’ (1c) It.: capostazione ‘Stationsvorsteher’ In den romanischen Sprachen ist das Muster der syntagmatischen Komposita noch produktiver als das Muster der Nomen+Nomen-Komposita in (1), das ebenfalls einen linken Kopf beinhaltet wie in den Bildungen in (2) zeigen.: (2a) Sp.: agente de seguridad ‘Sicherheitsoffizier’ (2b) Fr.: chemin de fer ‘Eisenbahn’ (2c) It.: mulino a vento ‘Windmühle’ Es sind deutliche Indizien vorhanden, dass es sich hierbei um ein lexikalisches Muster handelt: Sp. estrella de mar ‘Seestern’ müsste bspw. als syntaktische Phrase estrella del mar heißen mit einem Artikel vor dem singularen Nomen (vgl. Kornfeld 2009). Darüber hinaus denotieren solche Komposita konzeptuelle Einheiten und fungieren somit als Namen für Kategorien. Zudem zählen die relevanten Präpositionen (de, a) zu den neutralsten der romanischen Sprachen ohne selbständigen semantischen Inhalt. Nach Rainer (2016: 2621) waren die rechtsköpfigen Komposita im Latein zum größten Teil auf das literarische Genre beschränkt. Hinzu kommt, dass sie im Spätlatein infolge des Wandels von einer kopffinalen zu einer kopfinitialen syntaktischen

Wortfolge (also von SOV zu SVO) ihre Produktivität früh aufgaben, so dass das ursprüngliche Muster nicht auf die Tochtersprachen vererbt wurde. Dies hat zur Folge, dass sich die meisten Kompositionsmuster des Romanischen im Laufe der Geschichte der Einzelsprachen auf der Basis lexikalisierter Konstruktionen mit einer linksköpfigen Struktur entwickelten (Oniga 1992: 104; Ricca 2015). Susan Olsen

→ Determinativkompositum; Kompositum; Kopf; righthand head rule

🕮 Allen, M.R. [1978] Morphological Investigations. Diss. Storrs, CT ◾ Fradin, B. [2009] IE, Romance: French. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Compounding. Oxford: 417–435 ◾ Kornfeld, L.M. [2009] IE, Romance: Spanish. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Compounding. Oxford: 436–452 ◾ Melloni, C. [2020] Subordinate and Synthetic Compounds in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 700–726 ◾ Olsen, S. [2012] The Semantics of Compounds. In: Maienborn, C./ Heusinger, K./ Portner, P. [eds.] Semantics (HSK 33.3). Berlin [etc.]: 2120–2150 ◾ Olsen, S. [2015] Composition. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 364–386 ◾ Oneiga, R. [1992] Compounding in Latin In: RLing 4/1: 97–116 ◾ Rainer, F./ Varela, S. [1992] Compounding in Spanish. In: RLing 4/1: 117–142 ◾ Rainer, F. [2016] Spanish. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.4). Berlin [etc.]: 2620–2640 ◾ Ricca, D. [2015] Word-formation and argument structure. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 688– 707 ◾ Williams, E. [1981] On the Notions „Lexically Related“ and „Head of a Word“. In: LingInqu 12: 245–274.

Linksköpfigkeit

Eigenschaft von Komposita in bestimmten Sprachen, dass der Kopf des Kompositums die erste, d.h. ganz links stehende Konstituente ist. ▲ left-headedness: property of compound words in certain languages that the head of the compound is the first, i.e. left-most, constituent. Im Gegensatz zu Williams‘ (1981) „righthand head rule“ scheinen manche Sprachen über Komposita zu verfügen, deren Kopf linksseitig ist, z.B. Hebräisch (Lieber 1981), Vietnamesisch (Thompson 1965) und die romanischen Sprachen (Bauer 1978, Scalise 1984, Rainer/Varela 1992, Kornfeld 2009, Fradin 2009 sowie die Porträts der rom. Sprachen in Müller/Ohnheiser/Olsen/Rainer (2016). Weil Flexion am Kopf der Struktur markiert wird, resultieren linksköpfige Komposita in einer markierten Konstruktion, bei der flektierende Morpheme scheinbar in ein komplexes Wort eingefügt werden, vgl. ital. nave traghetto ‘Boot-Sg Fähre’/navi

443 Linksverzweigung traghetto ‘Boote-Pl Fähre’ und fondo assistenza ‘Fonds-Sg Assistenz’/fondi assistenza ‘Fonds-Pl Assistenz’ (Scalise 1984: 125) und franz. timbre poste ‘Briefmarke-Sg Post’/timbres poste ‘BriefmarkenPl Post’, rose thé ‘Rose-Sg Tee'/roses thé ‘Rosen-Pl Tee’ (Selkirk 1982: 21). Olsen (2012) diskutiert die Interpretation der linksköpfigen Komposita in den romanischen Sprachen und stellt sie formal in Bezug zu typischen rechtsköpfigen Wortstrukturen. Haider (2001) weist auf eine Einschränkung der linksköpfigen Determinativkomposita hin, die bewirkt, dass diese in ihrer Struktur ziemlich deutlich von regulären rechtsköpfigen Determinativkomposita abweichen: Während rechtsköpfige germanische Komposita normalerweise eine Rekursion wie in (1a) zulassen, gilt das französische Äquivalent in (1b) als falsch (Haider 2001: 166): (1a) baby cat fish ‘Babykatzenfisch’ (1b) *poisson chat bébé Allerdings gilt die Restriktion gegen Rekursivität offenbar nicht im gleichen Maße für exozentrische Verb-Nomen-Komposita, obwohl sie unüblich ist und die Usualisierung des eingebetteten V+Nomen voraussetzt (vgl. Ricca 2015: 698f.). (2a) Ital.: portastuzzicadenti ‘Zahnstocherhalter, lit. [trag-[stech-Zähne]]’ (2b) Franz.: porte-essuie-mains ‘Tuchhalter, lit. [trag-[trocken-Hände]]’ (2c) Sp.: limpiaparabrisas ‘Windschutzwischer, lit. [wisch-[schutz-Brisen]]’ Susan Olsen

→ § 22; binäre Verzweigung; Determinativkompositum; exo-

zentrisches Verb-Nomen-Kompositum; Kopulativkompositum; linksköpfiges Kompositum; Rekursivität ⇁ left-headedness (Woform)

🕮 Fradin, B. [2009] IE, Romance: French. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Compounding. Oxford: 417–435 ◾ Haider, H. [2001] Riesengratulationskompositum -*Kompositumgratulationsriesen or: Why there are no complex head-initial compounds. In: Schaner-Wolles, C./ Rennison, J./ Neubarth, F. [eds.] Naturally! Festschrift W.U. Dressler. Torino: 165–181 ◾ Kornfeld, L.M. [2009] IE, Romance: Spanish. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Compounding. Oxford: 436–452 ◾ Lieber, R. [1981] The Organization of the Lexicon. Bloomington, IN ◾ Melloni, C. [2020] Subordinate and Synthetic Compounds in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 700–726 ◾ Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds. 2016] Word-Formation (HSK 40.4). Berlin[etc.] ◾ Olsen, S. [2012] The Semantics of Compounds. In: Maienborn, C./ Heusinger, K./ Portner, P. [eds.] Semantics (HSK 33.3). Berlin [etc.]: 2120–2150 ◾ Olsen, S. [2015] Composition. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 364–386 ◾ Rainer, F./

Varela, S. [1992] Compounding in Spanish. In: RLing 4/1: 117–142 ◾ Scalise, S. [1984] Morphology in Generative Grammar. Dordrecht ◾ Selkirk, E. [1982] The Syntax of Words. Cambridge, MA [etc.] ◾ Thompson, L. [1965] A Vietnamese Grammar. Seattle ◾ Williams, E. [1981] On the Notions „Lexically Related“ and „Head of a Word“. In: LingInqu 12: 245–274.

Linksverzweigung

Auftreten einer komplexen unmittelbaren Konstituente links von einer anderen Konstituente. ▲ left-branching: occurrence of a complex immediate constituent to the left of another constituent. Eine zentrale Annahme von strukturalistischen Wortbildungstheorien ist, dass komplexe Wörter in Morphemgruppierungen von mittelbaren und unmittelbaren Konstituenten aufgeteilt werden können. Marchand (1969) sah Wortstrukturen bspw. als Grundeinheiten, die aus einem Determinans und einem Determinatum bestanden. Frühere generative Theorien wie Aronoff (1976) strukturierten Wörter ebenfalls in binäre Gruppen, die aus der Art und Weise der Anwendung von Wortbildungsregeln resultierten. Theorien der Wortsyntax, die Aronoff folgten (z.B. Williams 1981, Selkirk 1982, Toman 1983), modellierten Wortkonfigurationen anhand von parametrisierten Versionen der X-Bar-Theorie mit dem Resultat, dass die interne Struktur von Wörtern in hierarchischen Konfigurationen von binärer Verzweigung resultierte; eine Erkenntnis, die in der „binary branching Hypothese“ [Hypothese der binären Verzweigung] explizit gemacht wird. Wenn die unmittelbaren Konstituenten eines Wortes links von einer anderen Konstituente eingebettet werden, spricht man von einer linksverzweigten (oder links-rekursiven) Struktur. Barz (2015: 2390) weist darauf hin, dass in deutschen Komposita das Erstglied häufiger komplexer ist als das Zweitglied. Die Linksverzweigung ist m.a.W. häufiger als Rechtsverzweigung, vgl. (1): (1a) [[Beruf(s)+unfähigkeit(s)] versicherung], [[Schaden+ersatz] summe] (1b) [[Arbeit(s) los] igkeit], [[verständ nis] los] (1c) [[[[Krank(en) kasse] kosten] dämpfung(s)] gesetz] Susan Olsen

↔ Rechtsverzweigung → § 22; binäre Verzweigung; Determinans-DeterminatumStruktur; hierarchische Struktur; Rekursivität

⇀ Linksverzweigung (Gram-Syntax) ⇁ left-branching (Woform; Typol)

L

lokal 444 🕮 Aronoff, M. [1976] Word Formation in Generative Grammar. Cambridge, MA [etc.] ◾ Barz, I. [2016] German. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.4). Berlin [etc.]: 2387–2410 ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Selkirk, E. [1982] The Syntax of Words. Cambridge, MA [etc.] ◾ Toman, J. [1983] Wortsyntax. Tübingen ◾ Williams, E. [1981] On the Notions „Lexically Related“ and „Head of a Word“. In: LingInqu 12: 245–274.

lokal

semantische Grundrelation, bei der die beiden unmittelbaren Konstituenten einer Wortbildung in einer räumlichen Beziehung zueinander stehen. ▲ locative: semantic basic relation in which the two immediate constituents of a word-formation stand in a local relation to one another.

L

Die räumliche Beziehung zwischen den unmittelbaren Konstituenten einer Wortbildung gehört zu den Grundtypen der Wortbildungsbedeutung (vgl. Fleischer/Barz 2012: 141). Sie wird häufig in verschiedene Subtypen untergliedert (vgl. u.a. Eichinger 1989: 18f., 2015; Pümpel-Mader/GassnerKoch/Wellmann/Ortner 1992: 122, 271): 1) lokal-situativ (‘einen Ort angebend’; z.B. dt. Gartenbeet, engl. forest fire ‘Waldbrand’); 2) lokal-direktional (‘eine Richtung angebend’; z.B. dt. himmelstrebend); 3) lokal-dimensional (‘den Endpunkt einer Ausdehnung angebend’; dt. brusthoch); 4) lokal-relational (‘eine räumliche Beziehung zu etwas angebend’; z. B. dt. ankleben, frz. repousser ‘wegschieben’). Gerade für substantivische Komposita lässt sich die lokale Beziehung zwischen Erstglied (A) und Zweitglied (B) noch weiter subklassifizieren (vgl. Fleischer/Barz 2012: 141), z.B. für die lokal-situative Beziehung: ‘B befindet sich in A’ (dt. Stadtpark); ‘B vollzieht sich in A’ (dt. Gartenarbeit) oder für die lokal-direktionale Beziehung: ‘B stammt von A’ (dt. Dachlawine); ‘B führt zu A’ (dt. Kellertreppe). Da jedoch die Beziehung zwischen Erstund Zweitglied semantisch weitgehend offen ist, hat sich insbesondere bei Komposita eine Modellierung auf der mittleren Abstraktionsebene bewährt, sodass Beispiele wie dt. Gartenarbeit, Stadtpark, Bankguthaben, Meeresströmung alle unter die Wortbildungsbedeutung ‘lokal’ subsumiert werden können. Anja Seiffert

→ direktional; Lokativum; Wortbildungsbedeutung

⇁ locative (Typol)

🕮 Eichinger, L.M. [1989] Raum und Zeit im Verbwortschatz des Deutschen. Eine valenzgrammatische Studie. Tübingen ◾ Eichinger, L.M. [2015] Spatial and temporal relations in German word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1373– 1389 ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Pümpel-Mader, M./ Gassner-Koch, E./ Wellmann, H./ Ortner, L. [1992] Deutsche Wortbildung. 5. Hauptteil: Adjektivkomposita und Partizipialbildungen. Berlin.

Lokativbildung ≡ Lokativum

Lokativum

durch Transposition entstandene substantivische Wortbildung, die als Ortsbezeichnung fungiert. ▲ locative: substantive word-formation arising through transposition that functions as the name for a place. Lokativa bilden eine semantisch bestimmte Klasse durch Derivation oder durch Konversion entstandener Substantive. Die deverbalen oder desubstantivischen Bildungen bezeichnen Orte oder Einrichtungen a) nach einem dort ablaufenden Geschehen: dt. Versteck ‘Ort, an dem etwas versteckt ist oder versteckt werden kann’; engl. brewery ‘Brauerei’ (< to brew ‘brauen’) ‘Betrieb, in dem Bier gebraut wird’; frz. fonderie ‘Gießerei’ (< fondre ‘schmelzen, gießen’) ‘Fabrik, in der Metall gegossen wird’, b) nach dem dort hergestellten oder bearbeiteten Produkt: dt. Ziegelei ‘Fabrik, in der Ziegel hergestellt werden’; frz. crêperie ‘Restaurant, in dem Crêpes angeboten werden’ oder c) nach der dort arbeitenden Person: dt. Konditorei ‘Geschäft, in dem ein Konditor arbeitet’; frz. boulangerie ‘Bäckerei’ (< boulanger ‘Bäcker’). Nicht immer lässt sich synchron entscheiden, ob die Bildung durch ein Verb oder eine substantivische Personenbezeichnung motiviert ist (Wellmann 1975: 451), vgl. dt. Bäckerei (backen/Bäcker), Weberei (weben/Weber). Im Frz. sind die Modelle der Suffigierung mit -(er)ie besonders produktiv: blanchisserie, boucherie, boulangerie, brasserie, confiserie, crêperie, fonderie, friterie, imprimerie etc. Entlehnungen frz. Lokativa haben nach Öhmann (1966: 229) auch die Entwicklung des dt. Suffixes ‑(er)ei entscheidend beeinflusst und zur Produktivität

445

Lücke, lexikalische

entsprechender dt. Wortbildungsmodelle beigetragen, vgl. dt. Brauerei, Druckerei, Fleischerei, Käserei, Konditorei, Metzgerei, Molkerei, Wäscherei etc. Neben diesen Modellen existieren im Dt. zahlreiche durch Konversion entstandene deverbale Lokativa (Abzweig, Treff, Versteck) sowie vereinzelt deverbale Derivate auf -e (z.B. Bleibe, Schmiede und – ugs. – Tanke) oder desubstantivische Fremdwortbildungen auf -(i)at (z.B. Dekanat, Kommissariat, Konsulat, Rektorat). Recht häufig finden sich unter den dt. Lokativa zudem sekundäre Bildungen, die nicht direkt vom Basisverb abgeleitet wurden, sondern durch Bedeutungsbildung aus einem Verbalabstraktum entstanden sind. Dabei erhält die entsprechende Vorgangsbezeichnung zunächst okkasionell, dann auch usuell eine lokative Funktion (Wellmann 1975: 454; Erben 2006: 97), vgl. Ausleihe, Ausschank, Ausstieg, Biegung, Eingang, Einstieg, Niederlassung, Siedlung. ≡ Lokativbildung → Transposition ⇁ locative (Typol)

Anja Seiffert

🕮 Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Henjum, K. [2018] Registriererei, Forscherei und Hypothetisiererei – ei-Ableitungen im modernen Deutsch. Bildung, Semantik, Valenz. Mannheim ◾ Öhmann, E. [1966] Suffixstudien I. Die mhd. Suffixe -ie und -eie (-eia). In: NphMit 67: 225–234 ◾ Wellmann, H. [1975] Deutsche Wortbildung. 2. Hauptteil: Das Substantiv. Düsseldorf.

Lücke

Stelle im Vokabular einer Sprache, an der ein lexikalisches Element zu erwarten wäre, an der aber kein solches lexikalisches Element etabliert ist. ▲ gap: slot in a system of vocabulary items where a

lexical item would be expected to occur, but where no established lexical item is found. In der englischen Agrarterminologie gibt es spezialisierte Wörter für kastrierte männliche Haustiere, z.B. barrow für ein kastriertes männliches Schwein, gelding für ein kastriertes männliches Pferd, wether für ein kastriertes männliches Schaf. Ebenso gibt es Wörter für kastrierte Männer, je nach ihrer sozialen Funktion: eunuch, castrato. Es gibt aber kein spezialisiertes Wort für einen kastrierten männlichen Hund. Dies ist eine Lücke im System. Es kann unterschieden werden zwischen zufälligen Lücken, wie im Beispiel oben, wo es keinen ersichtlichen Grund für das Fehlen eines Wortes gibt, und systematischen Lücken, wo die betreffende Sprache keine lexikalischen Elemente hat. Eine systematische Lücke des Englischen ist die Nichtexistenz von spezialisierten Wörtern für sterilisierte weibliche Haustiere. Der Grund für diese systematische Lücke ist sozial (die bis vor kurzem nicht vorhandene Wertschätzung von sterilisierten Tieren machte Wörter, die auf sie referieren, nicht notwendig). In anderen Fällen gibt es solche offensichtlichen sozialen Gründe für systematische Lücken nicht.

→ Produktivität ⇀ Lücke (Phon-Dt) ⇁ gap (Phon-Engl; Woform)

Laurie Bauer

🕮 Bauer, L. [2001] Morphological Productivity. Cambridge [etc.] ◾ Kastovsky, D. [1982] Wortbildung und Semantik. Düsseldorf [etc.] ◾ Lipka, L. [1990] An Outline of English Lexicology. Tübingen.

Lücke, lexikalische → Benennungslücke

L

M Marker

Mittel zum Ausdruck einer grammatischen Bedeutung. ▲ marker: means of expressing a grammatical meaning. Jede Modifikation des Ausdrucks eines sprachlichen Zeichens kann genutzt werden, um dem Inhalt dieses Zeichens eine grammatische Bedeutung hinzuzufügen. Wird dieser Ausdruck als Folge von Segmenten (z.B. Phonemen oder Graphemen) dargestellt, so gibt es die in Tab. 1 dargestellten Möglichkeiten, diese Folge abzuwandeln.

geben kann (s. Wurzel 1984: 60; vgl. dagegen Mel’čuk 1982: 79f.). Während dieser Ansatz für die Flexionsmorphologie entwickelt wurde (wo „Marker“ weitgehend gleichbedeutend mit Exponent ist), wird der Begriff des Markers auch oft auf die Derivation angewendet, da dort dieselben Typen morphologischer Mittel zur Verfügung stehen. In diesem Fall muss die Definition allgemein auf grammatische Bedeutungen Bezug nehmen und nicht nur auf morphosyntaktische Kategorien. Joachim Mugdan

→ Affix; ersetzendes Morph; Nullallomorph; reduplikatives Morph; subtraktives Morph

Tab. 1: Typen von Markern Operation

Beispiel

Hinzufügung von Segmenten: Addition, d.h. Affigierung (inklusive Reduplikation)

standarddt. Hund – Hund-e

Ersetzung von Segmenten: baseldt. Hùnd – Hind Substitution, z.B. Ablaut, Umlaut Tilgung von Segmenten: Subtraktion

hessisch (Ebsdorf) /hond̥/ – /hon/

Umstellung von Segmenten: Metathese

[hypothetisch Hund – Hudn]

Keine Veränderung: Null

Pennsilfaanisch Hund – Hund

Für diese verschiedenen Mittel – Affixe ebenso wie nicht-additive morphologische Prozesse (vgl. Mel’čuk 2000) – dient Marker als Oberbegriff. Es gibt die Auffassung, dass die Ausprägungen morphosyntaktischer Kategorien wie Numerus, Kasus, Tempus usw. nicht nur durch morphologische Marker ausgedrückt werden können, sondern auch durch syntaktische, nämlich unter anderem grammatische Wörter wie Artikel, Pronomina und Auxiliarverben und ggf. deren Flexion; dabei wird vorausgesetzt, dass es für eine bestimmte Bedeutung mehrere Marker zugleich

⇀ Marker (SemPrag; Textling)

🕮 Mel’čuk, I. [2000] Morphological processes. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 523–535 ◾ Mel’čuk, I.A. [1982] Towards a Language of Linguistics. A System of Formal Notions for Theoretical Morphology. München ◾ Wurzel, W.U. [1984] Flexionsmorphologie und Natürlichkeit. Berlin.

Markiertheit

Auffälligkeit eines sprachlichen Phänomens im Sprachsystem aufgrund spezifischer Merkmale, welche die Gebrauchsbedingungen einschränken. ▲ markedness: non-default nature of a linguistic phenomenon within the linguistic system as a result of specific features that restrict the conditions of its use. Die Markiertheitstheorie geht zurück auf den Strukturalismus der Prager Schule. Roman Jakobson prägte den Begriff 1936 im Zusammenhang mit der Untersuchung des russischen Kasussystems (vgl. Jakobson 1936). Innerhalb der Markiertheitstheorie gilt ein sprachliches Phänomen als unmarkiert, wenn es – eine hohe Frequenz und eine weite Verbreitung in der Einzelsprache aufweist,

Markierung, onomasiologische 448

M

– in den Sprachen weltweit häufiger vertreten ist, – beim Spracherwerb relativ früh erworben wird, – durch relativ einfache Mittel ausgedrückt wird, – Ziel von Sprachwandelprozessen ist und/oder – von Störungen und Restriktionen weniger betroffen ist. (vgl. u.a. Mayerthaler 1980). Prinzipiell definiert man Markiertheit als „relative[n] Wertebegriff“ (Ideler 2001: 33). Genau genommen sind also „sprachliche Regeln und Strukturen [...] nicht als markiert oder unmarkiert, sondern als markierter oder weniger markiert zu bezeichnen“ (Ideler ebd.). Mitunter werden die Begriffe markiert vs. unmarkiert auch mit merkmalhaft (markiert) vs. merkmallos (unmarkiert) gleichgesetzt, was jedoch problematisch erscheint: So ist der Plural in engl. flowers durch das Pluralmorphem -s merkmalhaft, wohingegen fish als Pluralform merkmallos ist. Der s-Plural gilt jedoch im Englischen ohne Zweifel als die verbreitetere und damit unmarkierte Form. Das Konzept der Markiertheit kommt heute in unterschiedlichen linguistischen Teildisziplinen zur Anwendung, u.a. in der Phonologie, in der Flexionsmorphologie oder in der Syntax. Innerhalb der Wortschatzforschung, insbesondere in der Lexikographie, versteht man unter Markiertheit die recht heterogenen, zusätzlichen, „von lexikalischen Einheiten übermittelten und in allgemeinen einsprachigen Wörterbüchern zu erfassenden Informationen, die über die phonologisch-phonetischen, morphologisch-syntaktischen und unmittelbar semantischen Informationen hinausgehen“ (Ludwig 1991: 1). Sie repräsentieren die typischen Gebrauchsrestriktionen der entsprechenden lexikalischen Einheiten. Im einzelnen umfassen solche Markierungen den temporär begrenzten Gebrauch (dt. augenblicks, veraltend), den regional begrenzten Gebrauch (österr. Paradeiser ‘Tomate’), den fach- oder gruppenbegrenzten Gebrauch (span. el cole < colegio ‘Schule’, jugendsprachlich) und/oder den stilistisch begrenzten Gebrauch der lexikalischen Einheiten (frz. mamie ‘Omi’, familiär; ital. tirare le cuoia ‘sterben’, ugs.). Mit Blick auf die Wortbildung können zum einen die Verfahren selbst, die Wortbildungsmodelle, als markiert bzw. unmarkiert gelten. Unmarkiert

sind auf dieser Ebene diejenigen Modelle, die produktiver, regelhafter, weniger restringiert, strukturell weniger komplex und somit leichter dekodierbar sind. Im Deutschen wäre etwa die Movierung mit dem Suffix -in (vgl. Friseurin, Dompteurin) im Vergleich zur Movierung mit dem fremden Suffix -euse (vgl. Friseuse, Dompteuse) als unmarkiert einzustufen. Zum anderen bezieht sich Markiertheit auf die Ergebnisse dieser Wortbildungsprozesse. Wortbildungen gelten gegenüber ihren Ausgangseinheiten als markiert, da sie, verglichen mit diesen, über zusätzliche semantische Merkmale verfügen, die ihre Gebrauchsmöglichkeiten einschränken (vgl. Mayerthaler 1981: 14ff.): dt. Friseurin (markiert) vs. Friseur, Kindchen (markiert) vs. Kind etc. Anja Seiffert

→ Konnotation; Movierung; Wortbildungsmodell; Wortbildungsprozess

⇀ Markiertheit (HistSprw; Gram-Syntax; CG-Dt; Phon-Dt) ⇁ markedness (Phon-Engl; Typol)

🕮 Ideler, C. [2001] Markiertheitsphänomene im Zweitspracherwerb. Diss., TU Braunschweig ◾ Jakobson, R. [1936] Beitrag zur allgemeinen Kasuslehre. Gesamtbedeutungen der russischen Kasus. In: PLingCP 6: 240–288 ◾ Ludwig, K.-D. [1991] Markierungen im allgemeinen einsprachigen Wörterbuch des Deutschen. Tübingen ◾ Mayerthaler, W. [1980] Ikonismus in der Morphologie. In: ZS 2: 19–37 ◾ Mayerthaler, W. [1981] Morphologische Natürlichkeit. Wiesbaden ◾ Wurzel, W.U. [1984] Flexionsmorphologie und Natürlichkeit. Berlin.

Markierung, onomasiologische → onomasiologische Markierung

Mehrfachkompositum ≡ Dekompositum

Mehrfachmotivation

Möglichkeit, eine Bildung synchron betrachtet morphologisch und/oder semantisch plausibel auf verschiedene Weise zu modellieren. ▲ multiple motivation: possibility to analyze a word-formation synchronically in different morphologically and/or semantically plausible ways. Die Feststellung der Mehrfachmotivation ist eine Sache der Analyse, nicht der Synthese einer Bildung. Vor allem okkasionelle Bildungen ohne Kontext bieten häufig mehrere Möglichkeiten der morphologischen und/oder der semantischen Interpretation, vgl. dt. Fischfrau (‘Frau, die Fisch verkauft’ / ‘Frau, die im Sternbild der

449 Mehrfachverzweigung Fische geboren ist’ / ‘Frau, die wie ein Fisch aussieht’ etc.; Heringer 1984), Kanzlerfrage (‘Frage des Kanzlers’/‘Frage, wer Kanzler wird’). Usuelle Bildungen verlieren in der Regel ihre potentielle Vieldeutigkeit zugunsten einer festen, konventionalisierten Motivationsbedeutung. So bedeutet etwa engl. almsman ‘man who receives alms’ und nicht ‘man who gives alms’. Dennoch gibt es auch unter den usuellen Bildungen nicht wenige mehrfach motivierte Bildungen, vgl. engl. fireman ‘man who extinguishs fires’ oder ‘man who looks after the fire in a steam engine or furnace’, dt. Holzschuppen ‘Schuppen aus Holz’ (konstitutional) oder ‘Schuppen für Holz’ (final). Vor allem komplexe, mehrfach abgeleitete oder zusammengesetzte Bildungen können strukturell und/oder semantisch oft auf verschiedene Weise modelliert werden, z.B. engl. unluckiness: un-/luckiness (Präfixderivat) oder unlucky/-ness (Suffixderivat); dt. ungeduldig un-/geduldig (Präfixderivat) oder Ungeduld/-ig (Suffixderivat); Motorradfahrer: Motorrad/Fahrer (Kompositum) oder Motorrad fahr(en)/-er (Suffixderivat). Bei Fremdwortbildungen führt die Annahme additiver und/oder substituierender Ableitungstypen zu Mehrfachmotivation, vgl. engl. persistence ‘persisting’ (deverbal) oder ‘being persistent’ (deadjektivisch), resistance ‘resisting’ (deverbal) oder ‘being resistant’ (deadjektivisch), dt. Existenz ‘Existieren’ (deverbal) oder ‘Existent-Sein’ (deadjektivisch). Darüber hinaus gibt es vor allem im Dt. zahlreiche substantivische oder adjektivische Komposita, deren Erstglied formal und semantisch sowohl auf ein Substantiv als auch auf einen Verbstamm zu beziehen ist: Streikrecht (‘das Recht auf Streik’ oder ‘das Recht zu streiken’), reisefertig (‘fertig für die Reise’ oder ‘fertig, um zu reisen’). Als ursächlich für diese Art der Mehrfachmotivation gilt die formale Identität von Substantiv- und Verbstamm (Kienpointner 1985) und die Tatsache, dass das Erstglied im Kompositum seine grammatischen Merkmale aufgibt. Anja Seiffert ≡ Doppelmotivation → § 31, 39; Ad-hoc-Bildung; Motivation; usuelles Wort

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Heringer, H.J. [1984] Wortbildung. Sinn aus dem Chaos. In: DS 12/1984: 1–13 ◾ Kienpointner, A.M. [1985] Wortstrukturen mit Verbalstamm als Bestimmungsglied in der deutschen Sprache. Innsbruck ◾ Ne-

well, H. [2020] Bracketing Paradoxes in Morphology. In: Lieber, R [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 1202–1224.

Mehrfachverzweigung

flache Verzweigungsstruktur als eine Alternative zu einer hierarchischen Struktur mit binärer Verzweigung. ▲ flat-branching structure: flat-branching structure as an alternative to a hierarchical structure with binary branching. Eine Alternative zu einer binären Verzweigungsstruktur, die im Allgemeinen für reguläre produktive Wortbildungen angenommen wird, ist eine Struktur, die drei oder mehrere Kategorien unmittelbar dominiert. So eine Struktur ist weder hierarchisch noch rekursiv, d.h. sie ist nicht eine Projektion eines eindeutigen Kopfes und deshalb aus der Sicht der modernen generativen Theorienbildung ausgeschlossen. Dennoch werden manchmal flache Strukturen in der Wortbildung erwogen, bspw. für parasynthetische Verben, Zusammenbildungen und kopulative Komposita. Ein Beispiel für eine parasynthetische Bildung ist engl. to decaffeinate ‘entkoffeinieren’, für das weder decaffein noch caffeinate als mögliche Ableitungsbasen existieren. Plag (2003: 40) definiert Parasynthese als die parallele Anfügung verschiedener Affixe an einen Stamm. Dies würde für decaffeinate eine Verzweigungsstruktur voraussetzen, wie die Analyse in (1) zeigt: (1) V Af

N

Af

de

caffein

ate

Eine alternative Analyse zu einer solchen flachen Struktur ist die Annahme, dass das Verb caffeinate ein mögliches, aber im Sprachgebrauch nicht vorkommendes Verb ist, und davon auszugehen, dass solche möglichen Wörter als Basis für reguläre Präfigierungsprozesse zur Verfügung stehen. Dieser Ansatz würde auch für Wörter wie unthinkable ‘undenkbar’ und unknowable ‘nicht erkennbar’ gelten, die relativ üblich sind, obwohl ihre vermeintlichen Basen ?thinkable und ?knowable ungewöhnlich vorkommen (vgl. Schmid 2005: 210). Parasynthetische Verben kommen in den romanischen Sprachen vor, bei denen ein Präfix und ein Suffix (besser: ein transponierender Prozess)

M

Mehrfachverzweigung 450 scheinbar zusammen ein Adjektiv oder Nomen verbalisieren. Hier wiederum bildet weder ein präfigiertes Adjektiv eine mögliche Basis (vgl. die dritte Spalte in Beispiel (2)), noch kann das Adjektiv ohne das Präfix verbalisiert werden (wie in der vierten Spalte gezeigt), vgl. Bisetto/Melloni (2008: 2) und Scalise (1984: 149). (2) a) ingallire

‘vergilben’

*in+giallo

*giall(o)+ire

b) addolcire

‘versüßen’

*a+dolce

*dolc(e)+ire

c) invecchiare

‘veralten’

*in+vecchio

*vecch(i)+ire

Scalise (1984: 149) lehnt allerdings für solche Bildungen eine dreifache Verzweigung wie in (1) ab. Stattdessen nimmt er für Verben wie imbruttire ‘hässlich machen, verunstalten’ die binäre Struktur in (3) an. (3) V Präf

M

im-

V A

Suf

brutt(o)

-ire

Da sich das negative Präfix in- nicht mit Adjektiven verbindet, die eine negative Semantik aufweisen wie brutto ‘hässlich’, muss es sich bei diesen Verben um ein zweites Präfix in- handeln, das eine räumliche Bedeutung hat und sich produktiv mit Verben kombiniert, vgl. inrompere ‘einbrechen’, inmettere ‘einführen’, inporre ‘auferlegen’. Insofern ist eine binär verzweigende Struktur wie in (3) unproblematisch, in der ein deadjektivisches Verb präfigiert wird. Da das Ital. über das produktive Muster [A+Suf]V verfügt, kann davon ausgegangen werden – wie Schmid es für das Engl. tut –, dass es mögliche, aber nicht etablierte Verben wie ?giallire, ?dolcire und ?vecchire gibt, die als Basen für eine Präfigierung mit in-, ad- usw. fungieren. Partikelverben im Deutschen folgen diesem Muster auch, vgl. abkarten, eintonnen, abnudeln, loseisen, bei denen es keine etablierten verbalen Basen wie ?tonnen, ?nudeln usw. gibt. Booij (2010: 549) analysiert ähnliche Fälle im Rahmen der Konstruktionsmorphologie als Vereinigung zweier Wortbildungsschemata. Das Schema der deverbalen Adjektiva, die mit -baar suffigiert werden, kann – unabhängig davon, ob die produzierten Zwischenformen existierende Lexeme

sind – mit dem Schema des negativen Präfixes on- 'un-' unifiziert werden. So entstehen niederl. on-bedwing-baar 'unbezwingbar', on-bestel-baar 'unlieferbar' und on-blus-baar 'unlöschbar', die keine entsprechende nicht-negierte Form haben. Schemaunifikation ermöglicht m.a.W. die Herstellung einer Beziehung zwischen einem Basislexem und einer komplexen Wortstruktur, die zwei oder mehr Derivationsschritte von dem Basislexem entfernt ist. Ein verwandtes Problem besteht bei den Zusammenbildungen im Germanischen. Komplexe Bildungen wie Machthaber, Besenbinder, rotbärtig und langhaarig scheinen eine simultane Anwendung von Komposition und Derivation vorauszusetzen, da auf dem ersten Blick weder die Komposita Macht+Haber, rot+bärtig noch die Ableitungen Machthab+er, rotbart+ig plausible Analysen sind. Diese Frage wurde in der historischen Sprachwissenschaft lange Zeit diskutiert. Geht man hier wie in modernen Theorien von einem Prozess der Argumentvererbung aus, so bietet sich eine Erklärung für eine regelmäßige binär verzweigende Kompositionsstruktur an. Bestimmte Suffixe wie -er werden als Funktoren angesehen, die bei der Verbindung mit einem Verbstamm eine Änderung in der Argumentstruktur des Basisverbs dahingehend bewirken, dass sie das externe Argument (i.e. das Subjekt) des Verbs binden und die restliche Argumentstruktur auf das komplexe Wort vererben. So erhält bspw. Binder die Bedeutung ‘einer, der bindet’ und kann seinem Erstglied Besen die thematische Rolle des Objekts zuweisen, mit dem Ergebnis, dass das komplexe Wort als ‘einer, der Besen bindet’ interpretiert wird (vgl. Bierwisch 2015 und Olsen 2017). Die denominalen Zusammenbildungen lassen sich andererseits mit Hilfe des pragmatischen Prinzips der Relevanz als regelmäßige Kompositionsstrukturen auffassen. Haarig ist ein wohlgeformtes Adjektiv auf -ig. Da die meisten Menschen aber Haare haben, hat die Eigenschaft haarig allein wenig Aussagekraft. Das Erstglied lang engt den Denotatsbereich von haarig weiter ein mit dem Erfolg, dass dem Prinzip der Relevanz genüge getan wird und langhaarig einen sinnvollen Denotatsbereich hat, vgl. Leser (1990) und Olsen (2017). Schließlich haben Kopulativkomposita eine Debatte darüber ausgelöst, ob sie im selben Sin-

451 Mehrfachverzweigung ne binäre, rekursive (und somit hierarchische) Strukturen aufweisen wie Determinativkomposita. Plag (2016) für das Englische, Raffelsiefen (2022), Neef (2009) und Ortner/Ortner (1984) für das Deutsche und Arnaud (2015) für das Französische optieren für eine flache Struktur ohne einen eindeutigen Kopf (oder eventuell auch mit gleichwertigen Köpfen). Der Nachteil bei dieser Annahme ist, dass linguistische Strukturen im Allgemeinen (ob eine Silbe, ein komplexes Wort oder eine syntaktische Phrase) hierarchisch aufgebaut sind und es somit nicht eindeutig ist, warum für eine Klasse der Komposita eine solche Ausnahme angenommen werden sollte. Viele derzeitige syntaktische Abhandlungen sehen die Konjunkte in koordinierten Phrasen als Spezifizierer und Komplemente zu einem funktionalen Koordinator als Kopf, also als binäre hierarchische Projektionen eines funktionalen Kopfs (d.h. des Koordinators). Es muss zunächst klargestellt werden, dass neugebildete N+N-Komposita grundsätzlich zwischen mehreren Lesarten ambig sind. Darunter fällt die kopulative Lesart. Spieler-Trainer kann determinativ ‘Trainer von Spielern’ wie kopulativ ‘Spieler und zugleich Trainer’ verstanden werden wie Dichter-Freund auch, vgl. ‘Freund eines Dichters’ bzw. ‘(mein) Freund, der Dichter ist'. Die kopulative Deutung ist also nicht eine Funktion der Struktur. Zudem kommen Kopulativkomposita eingebettet in Determinativkomposita vor und umgekehrt, was die Annahme einer flachen Struktur für erstere bei einer hierarchischen Struktur für letztere wenig plausibel erscheinen lässt. Bspw. stehen in Jazzkomponist-ArrangeurBandleader die Konstituenten Jazzkomponist, Arrangeur und Bandleader in einer koordinativen Beziehung zueinander, während Jazz und Band jeweils eine determinative Beziehung zu Komponist und Leader aufweisen. Geht man von einer flachen Struktur für die kopulativen Elemente aus, so ergibt sich eine Mischstruktur wie in (4) und nicht eine regelmäßige binär verzweigende Struktur wie in (5). (4) N

N N Jazz

N Komponist

N Arrangeur

N Band

N N

N Jazz

N Komponist

N N Arrangeur N Band

N N Leader

Kopulativkomposita können sogar noch komplexer sein, wie das Engl. zeigt, das produktiv über die Bildung von Kopulativkomposita verfügt (vgl. Olsen 2004). Bei der Annahme einer flachen Struktur ergäbe die Analyse des komplexen Kompositums saxophonist-actor-songwriter-screenwriter auf der obersten Ebene eine vierfache flache Verzweigung, wobei die letzten zwei dieser Komponenten jeweils eine reguläre binäre Verzweigung aufweisen. Bei director-writer-star-cameraman-editor wür­de der oberste Knoten eine fünffache flache Struk­tur dominieren, wobei die vierte Komponente (ca­me­ra­ man) eine binäre Verzweigung beinhaltet. Auch umgekehrt kommt es vor, dass Kopulativkomposita in einer Determinativrelation eingebettet sind, vgl. (his) mayor-landlord-storekeeper responsibilities ‘(seine) Verantwortlichkeiten als Bürgermeister-Vermieter-Lagerhalter’, wobei storekeeper ‘Lagerhalter’ wiederum eine determinative Verbindung beinhaltet. Mit Blick auf solche Konstruktionen schein es wenig plausibel zu sein, dass das Sprachsystem auf systematische Weise strukturell zwischen den beiden Kompositumstypen unterscheidet, gerade weil eine normale binäre Verzweigung ohnehin ambig zwischen den beiden Lesarten ist. Unterläuft dem Rezipienten bei der Verarbeitung einer solchen komplexen Struktur eine falsche Annahme (d.h. nimmt er also eine hierarchische statt einer flachen Struktur an), so wäre beim Erkennen (etwa auf Grund des Kontextes) einer Fehlinterpretation eine zeitintensive Reanalyse erforderlich, die unter psycholinguistischer Perspektive wenig wahrscheinlich ist, weil sie einer Erklärung für das rapide Verständnisvermögen der Sprachteilhaber zuwiderläuft. Susan Olsen

N

N

(5)

N Leader

↔ hierarchische Struktur → binäre Verzweigung; Determinativkompositum; hierarchische Struktur; Konstruktionsmorphologie; Kopulativ­kompositum; mögliches Wort; Rekursivität; Zusammenbildung

M

Mehrwortkompositum 452

⇁ flat-branching structure (Woform)

M

🕮 Arnaud, P. [2015] Noun-noun compounds in French. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] WordFormation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 673–687 ◾ Bierwisch, M. [2015] Word-formation and argument structure. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1056–1099 ◾ Bisetto, A./ Melloni, C. [2008] Parasynthetic compounds. In LinLin 7/2: 1–27 ◾ Booij, G. [2010] Construction Morphology. In LgLingCmp 3/1: 543–555 ◾ Leser, M. [1990] Das Problem der Zusammenbildungen. Trier ◾ Neef, M. [2009] IE, Germanic: German. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Compounding. Oxford [etc.]: 386–399 ◾ Olsen, S. [2001] Copulative Compounds. In: Booij, G./ van Marle, J. [eds.] YbMo 2000. Dordrecht: 279–320 ◾ Olsen, S. [2004] The Case of Copulative Compounds. In: ter Meulen, A./ Abraham, W. [eds.] The Composition of Meaning. From Lexeme to Discourse. Amsterdam: 17–37 ◾ Olsen, S. [2017] Synthetic Compounds from a Lexicalist Perspective. In: ZWJW 1/1: 15–43 ◾ Ortner, H./ Ortner, L. [1984] Zur Theorie und Praxis der Kompositaforschung. Tübingen ◾ Plag, I. [2003] WordFormation in English. Cambridge ◾ Plag, I. [2016] English. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] WordFormation (HSK 40.4). Berlin [etc.]: 4211–2427 ◾ Raffelsiefen, R. [2022] Head alignment in German compounds: Implications for prosodic constituency and morphological parsing. In: Freywald, U./ Simon, H./ Müller, S. [eds.] Headedness and/or grammatical anarchy? Berlin: 211–271 ◾ Scalise, S. [1984] Generative Morphology. Dordrecht [etc.] ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin.

Mehrwortkompositum ≡ Dekompositum

meliorativ

semantische Eigenschaft von sprachlichen Ausdrücken, durch die der bezeichnete Gegenstand oder Sachverhalt implizit aufgewertet wird. ▲ meliorative: semantic property of linguistic expressions by which the denoted object or situation is implicitly enhanced.

Sprachliche Ausdrücke sind meliorativ, wenn sie den durch sie bezeichneten Gegenstand oder Sachverhalt emotiv aufwerten. Dies ist der Fall bei poetischen, bildungssprachlichen oder soziolektalen Prestigelexemen (Antlitz, Gemahlin) oder bei sogenannten Entzückungswörtern wie megacool, krass. Meliorative Lexeme entstehen unter anderem durch Wortbildung. Dabei übernehmen oft augmentative, diminutive oder hypokoristische Wortbildungsmittel eine meliorative Funktion, vgl. dt. Topmanager, topmodern, Mütterchen, Weinchen; russ. syniška ‘geliebter Sohn, Söhnchen’ < syn ‘Sohn’. Die meliorative Funktion kommt häufiger beim Diminutiv vor, für Augmentativa ist die pe-

jorative Lesart charakteristischer (Klimaszewska 1983: 11, Bakema/Geeraerts 2000: 1049). Auch zahlreiche reihenbildende Erstglieder wie aktiv-, bio-, echt-, mega-, öko-, Spitzen-, super-, top- haben eine emotiv-wertende Funktion. Sie werden daher gezielt zur Bildung von Ökonymen sowie in der Werbesprache verwendet.

Anja Seiffert

↔ pejorativ → Augmentation; Diminuierung; Hypokoristikum; Taxation ⇀ meliorativ (HistSprw; Lexik)

🕮 Bakema, P./ Geeraerts, D. [2000] Diminution and augmentation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J./ Skopeteas, S. [Hg.] Morphologie (HSK 17.2). Berlin [etc.]: 1045–1052 ◾ Klimaszewska, Z. [1983] Diminutive und augmentative Ausdrucksmöglichkeiten des Niederländischen, Deutschen und Polnischen. Wrocław.

Metaphernkompositum

Kompositum, das selbst eine Metapher ist oder in dem eine seiner Konstituenten als solche fungiert. ▲ metaphorical compound: compound which is itself a metaphor or in which one of the constituents functions as such.

Es gibt verschiedene Arten von Metaphernkomposita. Zunächst kann das gesamte Kompositum als Metapher fungieren, wie im Deutschen Augenblick oder Fuchsschwanz (Fleischer/Barz 1995: 99). Englische Beispiele sind ponytail ‘Pferdeschwanz’ als eine Art von Frisur, rabbit ears ‘Zimmerantenne’ sowie bottleneck ‘Flaschenhals’ und iron curtain ‘Eiserner Vorhang’. Ryder (1994: 14) nennt solche Konstruktionen „whole compound metaphors“ [‘Gesamtkompositummetaphern’]. Ortner/Ortner (1984: 59) bezeichnen sie als „Ein-Wort-Metaphern“. Es ist auch möglich, dass eine der zwei Konstituenten eines Metaphernkompositums metaphorisch verwendet ist: in Beifallssturm und Informationsflut ist es die zweite Konstituente; in Sackgasse ist es die erste. Weitere Beispiele aus dem Englischen sind ribcage ‘Brustkorb’, memory lane ‘in Erinnerung schwelgen’, chain reaction ‘Kettenreaktion’ und signature effect ‘Signatur-Effekt’. Fleischer/Barz (1995: 100) diskutieren dazu noch Fälle, in denen ein Metaphernkompositum eine Person mithilfe einer Tierbezeichnung benennt, vgl. Bücherwurm und Pechvogel; englische Beispiele wären shutterbug ‘Fotonarr’ und jailbird ‘Häftling’. Unter den sehr produktiven Mustern von verbalen und synthetischen Komposita im heutigen Englisch sind solche Metaphernkomposita ebenfalls dokumentiert. Tree hugger ‘wörtl. Baumum-

453 Metaphorisierung armer’ und bible thumper ‘wörtl. Bibel-Klopfer’ könnten ebenfalls als Ganz-Wort-Metaphernkomposita angesehen werden, die einen übereifrigen Umweltschützer oder religiösen Prediger bezeichnen. Smut blocker ‘wörtl. Dreckblockierer’ bezieht sich auf ein Computerprogramm, das Eltern installieren können, um den Zugang ihrer Kinder zu pornographischen Websites zu blockieren, und ein whistle blower ist nicht jemand, der eine Pfeife bläst, sondern eine Person, die einen Skandal aufgedeckt hat. In diesem Fall ist es die erste Konstituente, die metaphorisch ist. In skyscraper ‘Wolkenkratzer’ fungiert die zweite Konstituente metaphorisch, d.h. ein Gebäude ist so hoch, dass es scheinbar ‘den Himmel kratzt’.

→ Kompositum; Metaphorisierung ⇁ metaphorical compound (Woform)

Susan Olsen

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [1995] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 2., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Ortner, H./ Ortner, L. [1984] Zur Theorie und Praxis der Kompositaforschung. Tübingen ◾ Ryder, M.E. [1994] Ordered Chaos. The Interpretation of English Noun-Noun Compounds. Berkeley [etc.].

Metaphonie ≡ Umlaut

Metaphorisierung

semantisches Verfahren der Nominationsbildung, bei dem die Bedeutung der Ausgangseinheit durch Bedeutungsübertragung, und zwar aufgrund von Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen dem originalen und dem neuen Konzept, verändert wird, ohne dass dabei formativstrukturelle Veränderungen erfolgen müssen. ▲ metaphorization: semantic process in which the meaning of the source word is changed through transfer due to the similarity between it and the new concept without its formal structure necessarily being changed. Das Grundprinzip der Metaphorisierung ist die Bedeutungsübertragung: Ein Konzept wird durch ein Wort bezeichnet, dessen eigentliches, angestammtes Konzept einem ganz anderen Bereich des Weltwissens zuzuordnen ist. Der (Text-)Produzent legt bei dieser Bedeutungsübertragung „eine meist periphere, perzeptuelle oder funktionelle oder auch nur (inter)subjektiv empfundene Similarität der beiden Konzeptbereiche“ zugrun-

de: vgl. frz. le dos d'une montagne (‘der Rücken eines Berges’), span. las alas de un edificio (‘die Flügel eines Gebäudes’) (Blank 2001: 75). Solche Bedeutungsübertragungen betreffen häufig nur die Inhaltsseite des Wortes, während die Ausdrucksseite, die Morphologie des Wortes, unverändert bleibt. Daher zählen die semantischen Verfahren der Nominationsbildung, die Metaphorisierung ebenso wie die Metonymisierung, zumeist nicht zum Gegenstand der Wortbildung im engeren Sinne (vgl. z.B. Müller 2016). Gleichwohl gibt es vereinzelt Wortbildungstheorien, die ausdrücklich auch die zur Bildung „semantischer Neologismen“ führenden, rein semantischen Verfahren unter die Wortbildung subsumieren (vgl. u.a. Haensch/Lallemand-Rietkötter 1972: 10, 16). Zudem weisen Fleischer/Barz (2007: 6) darauf hin, dass mit der semantischen Veränderung durchaus formativstrukturelle Konsequenzen, insbesondere mit Blick auf Orthografie und Flexion, verbunden sein können. So bildet etwa dt. Netz in der Lesart ‘Internet’ im Gegensatz zu Netz ‘Maschengeflecht’ keinen Plural. Hinzu kommt, dass sich die Verfahren der Bedeutungsbildung und der Wortbildung nicht in jedem Fall strikt trennen lassen. Dies zeigt sich zum einen mit Blick auf Wortbildungsprozesse, die „systematisch von semantischen Veränderungen der Ausgangseinheiten begleitet werden“ (Fleischer/Barz 2012: 21), was beispielsweise bei der Bildung departizipialer Adjektive der Fall ist. Hier stellt die Bedeutungsveränderung der Ausgangseinheiten, die zumeist eine Metaphorisierung bedingt, die Ursache dar für die Bildung eines neuen Lexems, vgl. dt. aufgeweckt ‘geistig rege; von schneller Auffassungsgabe’. Zum anderen ist die Metapher – zumindest im Moment ihrer Entstehung – an einen Kontext gebunden. Dabei werden „Wörter, die aufgrund ihrer semantischen Merkmale nicht kompatibel sind, unter Verletzung der Selektionsregeln miteinander […] kombiniert“ (Schwarz/Chur 2007: 107). Dies kann in Form eines Syntagmas geschehen (dt. Balsam für die Seele; frz. tête de pipe ‘Pfeifenkopf’). Im Deutschen geschieht dies jedoch ebenso häufig innerhalb eines Wort- oder „Mikrokontext[es]“ (Ortner et al. 1991: 763), d.h. durch Wortbildung, in erster Linie durch Komposition: vgl. dt. Buch-/Bergrücken, Blitzeis, Lebensabend. In der Folge (oder parallel dazu) können sich aus

M

Metathese 454 diesen gebunden vorkommenden Metaphern auch Lesarten der entsprechenden frei vorkommenden Lexeme entwickeln: dt. Tochterfirma, Tochtergesellschaft, Tochterunternehmen > Tochter ‘Firma, die zu einer größeren Firmengesellschaft gehört’ (vgl. Fleischer/Barz 2012: 22). Anja Seiffert

→ § 4, 32; Komposition; Metaphernkompositum; Metonymisierung; Partizip

⇀ Metaphorisierung (Lexik; HistSprw)

M

🕮 Blank, A. [2001] Einführung in die lexikalische Semantik. Tübingen ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Haensch, G./ Lallemand-Rietkötter, A. [1972] Wortbildungslehre des modernen Französisch. München ◾ Müller, P.O. [2016] Wortbildungswandel oder Bedeutungsbildung? — Zur Entstehung und Interpretation sekundärer Wortbildungsbedeutungen. In: Kwekkeboom, S./ Waldenberger, S. [Hg.] PerspektivWechsel oder: Die Wiederentdeckung der Philologie. Bd. 1. Berlin: 309–332 ◾ Ortner, L./ Müller-Bollhagen, E. / Ortner, H./ Wellmann, H./ Pümpel-Mader, M./ Gärtner, H. [1991] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 4. Hauptteil: Substantivkomposita. Berlin [etc.] ◾ Schwarz, M./ Chur, J. [2007] Semantik. Tübingen.

Metathese

Vertauschung von Konsonanten innerhalb etymologisch verwandter Wörter. ▲ metathesis: permutation of consonants in etymologically related words.

Der auf der Grundlage von gr. metáthesis ‘Umstellung’ geprägte Begriff Metathese bezeichnet im Sprachwandel den Prozess und das Ergebnis der Vertauschung von Konsonanten innerhalb etymologisch verwandter Wörter, etwa bei Born im Vergleich zu Brunnen. Die Form born wurde um die Mitte des 9. Jh. ausgehend vom nördlichen (altsächsischen) Sprachgebiet nach Süden verbreitet und im 14. Jh. wieder etwa bis auf die Sprachgrenze zwischen dem Mitteldeutschen und Oberdeutschen zurückgedrängt. Weitere Beispiele sind ahd. hros ‘Pferd’ > nhd. Ross im Vergleich zu engl. horse, aengl. bridd > nengl. bird, aengl. brunna > nengl. bourne, engl. to burn : dt. brennen : dt. Bernstein; dt. durch : engl. through, lat. florus : russ. frol, lat. silvester : russ. seliverst, urslav. tort, tolt > poln. trot, tlot, bei Namen etwa Christian : Kirsten, Rudolf > Rudloff, Kaliningrad/Stargard. Häufig kommt Metathese bei der Entlehnung vor. Die Metathese betrifft am häufigsten die Laute l

und r, also die Liquida. So stehen Brett < ahd. bret und Bord < as. bord (ahd. bort) ‘Wandbrett’ (vgl. got. burda- N. ‘Brett’) in einer Ablautbeziehung und sind beide auf die Wurzel idg. *bher- ‘schneiden’ zurückzuführen (woraus sich die Grundbedeutung ‘Geschnittenes’ für die beiden Wörter ergeben könnte). Die Wörter Brunnen und Born wurden bereits erwähnt; die in diesem Zusammenhang in der Literatur genannten Paare forschen/fragen und Korb/Krippe gehören wohl nicht in diesen Zusammenhang. Die Vertauschung kann a) innerhalb einer Silbe erfolgen, wie das bei russ. tarelka ‘Teller’ aus talerka der Fall ist, oder b) von einer Silbe in eine andere, wie bei span. palabra aus lat. parabola. Abgesehen von solchen Einzelfällen werden auch quasi-reguläre Formen der Metathese angenommen. Für diese könnten vor allem silbenstrukturelle Gründe gelten im Sinne der Anpassung an universell bevorzugte Lautabfolgen in Silben. So tritt im Süd- und Westslawischen gegenüber dem Urslawischen regelmäßig Liquida-Metathese ein, zum Beispiel im Vergleich von urslaw. *berza ‘Birke’ mit altkirchenslawisch brĕza, serbokroatisch breza, polnisch brzoza, tschech. bříza. In der Versprecher-Linguistik werden zwei Arten der Metathese beobachtet. Bei der a) reziproken Metathese wird eine vom Prozess des Versprechens betroffene Einheit umgestellt. Dabei kann es sich um einzelne Vokale oder Konsonanten handeln, um Konsonanten-Cluster, um Morpheme und Wörter. Die b) einseitige Metathese zeigt sich auf zwei Arten. Entweder geschieht eine Antizipation mit unmittelbar folgender Elision derselben Einheit, wie das bei Krontolle statt recte Kontrolle der Fall ist. Oder es ereignet sich eine Elision mit späterem Nachholen der zuvor elidierten Einheit, so in Bigritte statt recte Brigitte. In den von der Versprecher-Linguistik untersuchten Äußerungen treten zwischen den vertauschten Lauten mitunter mehrere Silben auf; auf die Silbenanzahl zwischen den vertauschten Lauten bezieht sich der Begriff distant metathesis. Hierbei spielt die Merkspanne (engl. chunk) des Kurzzeitgedächtnisses eine Rolle. Die Metathese ist motiviert durch psychologische Antizipation oder durch bessere Sprechbarkeit durch Anlehnung an üblichere Lautfolgenmuster. Eckhard Meineke ≡ Konsonantenumsprung; Konsonantenumstellung

455 Metonymisierung

⇀ Metathese (Phon-Dt; Onom; HistSprw) ⇁ metathesis (Phon-Engl)

🕮 Becker, T. [2000] Metathesis. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 576–581 ◾ Kluge, F. [2002] Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24., durchges. und erw. Aufl. Bearb. von E. Seebold. CD-ROM-Version. Berlin [etc.] ◾ Lahti, I. [1935] La métathèse de l’r dans les idiomes romans. Helsinki ◾ Schopf, E. [1919] Die konsonantischen Fernwirkungen. Fern-Dissimilation, FernAssimilation und Metathesis. Ein Beitrag zur Beurteilung ihres Wesens und ihres Verlaufs und zur Kenntnis der Vulgärsprache in den lateinischen Inschriften der römischen Kaiserzeit. Göttingen ◾ Schützeichel, R. [2006] Althochdeutsches Wörterbuch. 6. Aufl. Tübingen.

Metonymisierung

semantisches Verfahren der Nominationsbildung, bei dem die Bedeutung der Ausgangseinheit durch Bedeutungsübertragung, und zwar aufgrund eines faktischen Zusammenhangs zwischen originalem und neuem Konzept, verändert wird, ohne dass dabei formativstrukturelle Veränderungen erfolgen müssen. ▲ metonymization: semantic process in which the meaning of a source word is used to name a new concept that stands in a salient relation to the original word without necessarily changing the formal structure of the original word. Wie die Metaphorisierung beruht auch die Metonymisierung auf einer Bedeutungsübertragung. Ihre assoziationspsychologische Grundlage ist aber – anders als bei der Metaphorisierung – eine Kontiguitätsbeziehung, d.h. eine tatsächliche, „zeitliche, räumliche oder anderweitige konzeptuelle Aufeinanderbezogenheit zweier Konzepte in unserem Weltwissen“ (Blank 2001: 79). Typische Kontiguitätsrelationen, nach denen in zahlreichen Sprachen systematisch Metonyme entstehen, sind etwa Teil-Ganzes-Beziehungen (dt. Kopf ‘Körperteil’ > ‘Person’; ital. tetto ‘Dach’ > ‘Haus’), instrumentale Beziehungen (dt. Stempel ‘Gerät’ > ‘mit dem Gerät erzeugter Abdruck’; russ. jazyk ‘Zunge’ > ‘Sprache’), lokale oder temporale Beziehungen (frz. bureau ‘Schreibtisch’ > ‘Arbeitszimmer’; ital. vendemmia ‘Weinlese’ > ‘Zeit der Weinlese’) (vgl. auch Blank 2001: 79–81). In diesen wie in den meisten Fällen verändert die Bedeutungsübertragung jedoch lediglich die Inhaltsseite des sprachlichen Zeichens, während die Ausdrucksseite keine Veränderung erfährt. Daher wird die Metonymisierung als rein seman-

tisches Verfahren in der Regel nicht zum Gegenstandsbereich der Wortbildung im engeren Sinne gezählt (vgl. Müller 2016; anders aber beispielsweise Haensch/Lallemand-Rietkötter 1972: 10, 16). Andererseits geht Janda davon aus, dass die Metonymisierung innerhalb der Wortbildung – etwa im Russischen und Tschechischen – eine weitaus größere Rolle spiele, als vielfach angenommen: „in many cases, the semantic relationships between stems, affixes, and the words they form can be analyzed in terms of metonymie“ (Janda 2011: 359). Danach seien vor allem Derivate und Konversionsprodukte als Metonymisierungen zu beschreiben, bspw. nach den Kontiguitätsrelationen teil – ganzes (tschech. břicháč ‘Person mit dickem Bauch’, zu tschech. břicho ‘Bauch’ + -áč), inhalt – behältnis (russ. sacharnica ‘Zuckerdose’, zu russ. sachar ‘Zucker’ + -nica), material – gegenstand (russ. žestjanka ‘Blechdose’, zu russ. žestjanoj ‘blechern’ + -ka) oder handlung – instrument (tschech. pec ‘Ofen’, zu tschech. péci ‘backen’) (vgl. Janda 2011: 369). Weitaus häufiger wird die Wortbildungsbedeutung solcher Bildungen jedoch nicht mit Kontiguitätsrelationen der Metonymie, sondern mit Termini wie nomen agentis oder nomen instrumenti beschrieben. Innerhalb der deutschen Wortbildung gibt es daneben aber einen Bildungstyp, der systematisch auf Metonymisierung beruht: die sogenannten Possessivkomposita (auch: exozentrische Komposita) (vgl. Fleischer/Barz 2012: 178–179). Bei ihnen bezeichnet das Zweitglied nicht das Hyperonym, unter dem sich das Denotat einordnen ließe. Vielmehr besteht zwischen beiden Konzepten eine metonymische Relation, die sich zumeist mit der Kontiguitätsrelation teil – ganzes beschreiben lässt: dt. Achtzylinder ‘Motor mit acht Zylindern’, Rotkehlchen ‘Vogel mit einer roten Kehle’, Schlafmütze ‘jemand, der (übertrieben) lange schläft’ oder ‘verschlafene, träge Person’, Dickkopf ‘eigensinniger, sturer Mensch’. Auch Komposita, die normalerweise keine Possessivkomposita sind, können in einem bestimmten Kontext als solche gebraucht werden (dt. Das Pilzomlett ist gegangen, ohne zu bezahlen; vgl. Blank 2001: 80) oder sich zu solchen entwickeln (dt. Sprachtelefon, Sorgentelefon, Zeugnistelefon ‘Einrichtung/Institution, die eine telefonische Beratung anbietet’; vgl. dazu auch Schu 1997: 61). Beispiele wie Schlafmütze oder Dickkopf machen

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Minimalzeichen 456 aufgrund ihrer figurativen Bedeutung schließlich deutlich, dass Metonymisierung und Metaphorisierung sich durchaus auch überlagern können und dass oft „gerade das Zusammenspiel der nur theoretisch – und das vielleicht nicht einmal eindeutig – auseinanderzuhaltenden Tropen [charakteristisch ist]“ (Schemann 2008: 262). Anja Seiffert

→ § 4, 32; Derivat; exozentrisches Kompositum; Konversion;

Metaphorisierung; nomen agentis; nomen instrumenti; Possessivkompositum; Wortbildungsbedeutung; Wortbildungshyperonymie ⇀ Metonymisierung (SemPrag)

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🕮 Blank, A. [2001] Einführung in die lexikalische Semantik. Tübingen ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Haensch, G./ Lallemand-Rietkötter, A. [1972] Wortbildungslehre des modernen Französisch. München ◾ Janda, L.A. [2011] Metonymy in Word-Formation. In: CognLing 22/2: 359–392 ◾ Müller, P.O. [2016] Wortbildungswandel oder Bedeutungsbildung? – Zur Entstehung und Interpretation sekundärer Wortbildungsbedeutungen. In: Kwekkeboom, S./ Waldenberger, S. [Hg.] PerspektivWechsel oder: Die Wiederentdeckung der Philologie. Bd. 1: Sprachdaten und Grundlagenforschung in der Historischen Linguistik. Berlin: 309–332 ◾ Schemann, H. [2008] Wortbildung und Idiomatik: Gemeinsamkeiten und Unterschiede. In: Eichinger, L.M./ Meliss, M./ Domínguez Vázquez, M.J. [Hg.] Wortbildung heute. Tendenzen und Kontraste in der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen: 257–270 ◾ Schu, J. [1997] -telefon. Lexikalischer Wandel durch Wortbildung. In: DS 25: 54–82.

Minimalzeichen

sprachliches Zeichen, das nicht in kleinere Zeichen zerlegt werden kann. ▲ minimal sign: linguistic sign that cannot be decomposed into smaller signs. Als Terminus, der sowohl Morph als auch Morphem gegenübersteht und damit gewisse Mehrdeutigkeiten vermeidet, ist Minimalzeichen seit den 1970er Jahren bei einigen Autoren anzutreffen (z.B. Bergenholtz/Mugdan 1979: 38–41). Daneben findet man auch Bezeichnungen wie Elementarzeichen, engl. elementary sign (z.B. Mel’čuk 1982: 47). Keinen nennenswerten Erfolg hatte der Versuch, Plerem als eine Alternative einzuführen, die kürzer ist und dem beliebtesten Wortbildungsmuster für linguistische Einheiten folgt. Häufiger treten Ausdrücke wie Minimalzeichen, minimales Zeichen, engl. minimal sign, russ. minimal’nyj znak usw. in Definitionen oder Beschreibungen auf, ohne den Status von Termini zu haben.

Weithin üblich ist es, Morphem als Bezeichnung für ein Minimalzeichen einzuführen, dann aber durch die Annahme von „Varianten“ zu einer Menge inhaltsgleicher Minimalzeichen umzudefinieren, ohne ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass damit die ursprüngliche Definition aufgegeben wird. Auch Morph kann als Teminus für Minimalzeichen dienen, doch wird aus der Definition und den Beispielen oft nicht hinreichend klar, ob es sich z.B. bei -er in schnell-er und -er in Schreiber um dasselbe Morph (= Menge ausdrucksgleicher Minimalzeichen) oder verschiedene Morphe (= Minimalzeichen) handelt. Um zu zeigen, dass ein Zeichen nicht minimal, sondern komplex ist und aus den kleineren Zeichen A und C besteht, sollte man idealerweise zwei weitere Zeichen B und D finden, sodass die Proportion AC : BC :: AD : BD auf der Ausdrucksund auf der Inhaltsseite gilt, z.B. Herb-heit : Mildheit :: herb-er : mild-er (s. Greenberg 1957: 19f.). Die Ausdrücke von A und C müssen also in anderen Kombinationen (oder auch allein) auftreten und müssen dort denselben Inhalt haben wie in AC. Ist eine dieser Bedingungen nicht erfüllt, z.B. bei dt. Brom- in Brom-beere (das nirgendwo sonst vorkommt) oder engl. per-ceive (wo es zwar pertain, per-sist, re-ceive, con-ceive usw. gibt, aber kein konstanter Inhalt von per- und -ceive auszumachen ist), kann man sich entscheiden, trotzdem zu segmentieren. Ein Element wie Brom- ist „defektiv segmentierbar“ (engl. defectively segmentable) und wird als unikal bezeichnet; ein Element vom Typ per- ist „bedingt segmentierbar“ (engl. „conditionally segmentable“) und wird Submorph oder Quasimorph genannt (vgl. Kubrjakova 2000). Es handelt sich dabei jedoch nicht um wohldefinierte Typen von sprachlichen Einheiten, sodass ein Text aus regulären Minimalzeichen, unikalen Minimalzeichen und Submorphen bestünde. Vielmehr sollten solche Benennungen lediglich als Hinweise auf Segmentierungsprobleme verstanden werden. Im konkreten Fall muss man einen Text restlos in Minimalzeichen zerlegen, also Brom-, per- usw. entweder als Minimalzeichen oder als Teile davon betrachten. Joachim Mugdan

→ Morph; Morphem; Plerem (2); Segmentierung; Submorph; unikales Morphem; Zeichen

🕮 Bergenholtz, H./ Mugdan, J. [1979] Einführung in die Morphologie. Stuttgart ◾ Greenberg, J.H. [1957] Essays in Linguis-

457 modal tics. Chicago, IL ◾ Kubrjakova, E.S. [2000] Submorphemische Einheiten. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 417–426.

Minusmorph

≡ subtraktives Morph

Mischbildung

≡ Hybridbildung

Mischform

≡ Hybridbildung

Mischkompositum

Kompositum, bei dem eines seiner Elemente ein Lehnwort und das andere ein muttersprachliches Wort ist. ▲ mixed compound: compound one of whose elements is a loan word while the other is a native word.

Mischkomposita sind Komposita, die eine native und eine nichtnative Konstituente enthalten. Eine Motivation zur Bildung von solchen Konstruktionen ist u.a. die Verdeutlichung der Bedeutung des nichtnativen Elements. In diesem Sinne ähneln Mischkomposita verdeutlichenden Komposita und/oder subsumierenden Komposita, vgl. Blazerjacke, Bermudahose, Monsunwind. Jedoch zeigen andere Beispiele, dass die Vermischung von Konstituenten aus verschiedenen Sprachen auch in normalen Determinativ-Komposita möglich ist, vgl. Drop-Out-Quote, Stunt-Piloten, Openend-Klavierabend. Susan Olsen

→ Determinativkompositum; Hybridbildung; Kompositum;

subsumptives Kompositum; verdeutlichendes Kompositum

⇁ mixed compound (Woform)

🕮 Dargiewicz, A. [2013] Fremde Elemente in Wortbildungen des Deutschen. Zu Hybridbildungen in der deutschen Gegenwartssprache am Beispiel einer raumgebundenen Untersuchung in der Universitäts- und Hansestadt Greifswald. Frankfurt/Main ◾ Munske, H.H. [2009] Was sind eigentlich „hybride“ Wortbildungen? In: Müller, P.O. [Hg.] Studien zur Fremdwortbildung. Hildesheim [etc.]: 223–260 ◾ Ortner, H./ Ortner, L. [1984] Zur Theorie und Praxis der Kompositaforschung. Tübingen.

Mobilia

≡ movierte Bildung

modal

semantische Grundrelation von Wortbildungen, bei denen das Determinans die Art und Weise, das Wie

eines Sachverhalts thematisiert, auf den das Determinatum Bezug nimmt. ▲ modal: basic semantic relation in word-formation in which the determinant refers to the manner in which a state of affairs applies to a determinatum. Die Bildungen mit modaler Wortbildungsbedeutung bieten – auch terminologisch – insgesamt ein eher heterogenes Bild. Ortner et al. (1991: 530) unterscheiden zunächst zwischen Substantiv-Substantiv-Komposita „zur Kennzeichnung von Modalverhältnissen“ und Komposita aus Adjektiv (seltener auch Adverb, Partizip, Numerale, Konjunktion oder adjektivischer Wortgruppe) und Substantiv, deren Wortbildungsbedeutung als „modal“ beschrieben wird (Ortner et al. 1991: 750). Zu ersteren zählen die Autoren (1) Modalitätskomposita wie dt. Etappenrennen mit im engeren Sinne modaler Wortbildungsbedeutung; (2) Entsprechungskomposita wie dt. Kurswert, deren Wortbildungsbedeutung sich als „kongruent“ beschreiben lässt und (3) Instrumentalkomposita wie dt. Benzinmotor, die eine (zumeist im Zweitglied genannte) Größe hinsichtlich des verwendeten Mittels kennzeichnen. Innerhalb der zweiten Gruppe werden Existenzmodalität (dt. Quertrakt), Habensmodalität (dt. Privatbesitz), Aktionsmodalität (dt. Schnellverfahren) und Verwendungsmodalität (dt. Mehrfachverpackung) unterschieden. Darüber hinaus zählt man mitunter auch Bildungen mit komparativer (auch: komparationaler) Wortbildungsbedeutung wie Beifallssturm, Samtpfote oder kirschgroß, die bei Ortner et al. (1991) einen eigenen Typ – die sogenannten Vergleichskomposita – bilden, zu den Modalbildungen (vgl. Eichinger 2000: 119). Andere Darstellungen wiederum sehen in den instrumentalen Bildungen vom Typ Benzinmotor einen eigenständigen, von den modalen Bildungen getrennten Funktionsstand (vgl. Pümpel-Mader et al. 1992). Bei Fleischer/Barz (2012: 141f. und 324) taucht der Typ „modal“ unter den substantivischen und adjektivischen Komposita mit semantischen Grundrelationen gar nicht auf. Und schließlich werden innerhalb der adjektivischen Wortbildung auch Bildungen wie dt. bezahlbar, verständlich, biegsam, engl. acceptable ʻakzeptabelʼ, wearable ʻtragbarʼ oder frz. audible ʻhörbarʼ, comparable ʻvergleichbarʼ als passivisch-modal sowie Bildungen wie dt. brennbar als aktivisch-modal

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Modell, analogiebasiertes 458

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bezeichnet, insofern als sie den durch die Basis bezeichneten Sachverhalt als potentiell möglich modifizieren: bezahlbar ʻkann bezahlt werdenʼ, brennbar ʻkann brennenʼ. Ähnlich heterogen wie die Bildungen selbst sind auch die Wortbildungsparaphrasen. Bei den im engeren Sinne modalen Komposita tritt in der Paraphrase häufiger die Präposition in auf: seriengefertigt ʻin Serie gefertigtʼ, Etappenrennen ʻRennen in Etappenʼ; seltener begegnet unter: zwangsrekrutiert ʻunter Zwang rekrutiertʼ (vgl. Pümpel-Mader et al. 1992: 235). Bildungen mit adjektivischem Erstglied lassen sich oft mittels adjektivischem Attribut umschreiben: Schnellimbiss ʻschneller Imbissʼ, Privatschule ʻprivate Schuleʼ, Spontanbeifall ʻspontaner Beifallʼ. Einige wenige Erstglieder kommen reihenhaft vor, z.B. Privatangelegenheit, Privatbank, Privatbesitz, Privateigentum, Privatstunde etc., Extrabeilage, Extrablatt, Extratour, Extrawunsch, Extrazimmer etc. (Ortner et al. 1991: 756). Überschneidungen treten – außer zu den komparativen sowie zu den instrumentalen Bildungen – auch zu finalen Komposita auf: dt. geschenkverpackt ʻals Geschenk verpacktʼ (vgl. Pümpel-Mader et al. 1992: 235). Anja Seiffert

→ final (1); instrumental; Vergleichsbildung; Wortbildungsbedeutung; Wortbildungsparaphrase

⇀ modal (Phon-Dt) ⇁ modal (Phon-Engl)

🕮 Eichinger, L.M. [2000] Deutsche Wortbildung. Tübingen ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Ortner, L./ müller-Bollhagen, E./ Ortner, H./ Wellmann, H./ Pümpel-Mader, M./ Gärtner, H. [1991] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 4. Hauptteil: Substantivkomposita. Berlin [etc.] ◾ Pümpel-Mader, M./ Gassner-Koch, E./ Wellmann, H./ Ortner, L. [1992] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 5. Hauptteil: Adjektivkomposita und Partizipialbildungen. Berlin.

Modell, analogiebasiertes → analogiebasiertes Modell

Modifikation

funktional-semantische Grundklasse, die alle Bildungen umfasst, deren lexikalische Bedeutung im Zuge des Wortbildungsprozesses semantisch nuanciert wird, wobei Wortart und Bezeichnungsklasse der Ausgangseinheit unverändert bleiben.

▲ modification: functional-semantic class that encompasses all formations whose lexical meaning is altered in nuance in the course of the word-formation process while the lexical category and meaning class of the original element remain unchanged.

Wortbildungsmodelle können aufgrund eines funktional-semantischen Vergleichs zwischen Ausgangseinheit (Input) und Wortbildungsprodukt (Output) auf einer ersten, eher allgemeinen Klassifikationsebene in Modifikationen und Transpositionen unterteilt werden (vgl. Fleischer/Barz 2012: 96). Als Modifikationen gelten Bildungen, deren Ausgangseinheiten semantisch subklassifiziert werden. Das im Zuge des Wortbildungsprozesses entstandene Wort weist dabei eine spezifischere Bedeutung auf, insofern als es gegenüber der jeweiligen Ausgangseinheit zusätzliche semantische Merkmale erhält: dt. Katze > Hauskatze (+ domestiziert), Kätzchen (+ diminutiv/hypokoristisch), Manager > Topmanager (+ augmentativ), Managerin (+ feminin). Bezeichnungsklasse und Wortart ändern sich nicht. Allerdings kann die Modifikation in einigen Fällen die Morphologie der Ausgangseinheiten durchaus beeinflussen, indem etwa bei modifizierenden Suffixderivaten das Genus der Derivationsbasis verändert wird: dt. die Katze > das Kätzchen, der Manager > die Managerin (vgl. Barz 2016: 686). Mit den Wortbildungsarten korrelieren die funktional-semantischen Grundklassen nur teilweise systematisch: Als typisch modifizierend gilt die Komposition (vgl. Eichinger 2000: 75, Barz/ Schröder 2001: 202). Darüber hinaus ergeben sich Modifikationen innerhalb der substantivischen und adjektivischen Wortbildung vor allem durch Präfixderivate sowie durch einige Suffixderivate. Innerhalb der verbalen Wortbildung verschwimmt dagegen die Grenze zwischen Modifikation und Transposition, da hier durch die Modifikation häufig syntaktische Veränderungen der Basisverben auftreten (vgl. Fleischer/Barz 2012: 97, Erben 2006: 50), sodass modifizierende Präfix- und Partikelverben mitunter sogar „ihre zentrale Funktion im Bereich grammatischer Kategorisierungen“ haben (Eichinger 2000: 223). Daher unterscheidet man innerhalb der verbalen Wortbildung zwischen semantischer und syntaktischer Modifikation (vgl. Erben 2006: 50), wobei

459 monomorphemisch beide Subklassen einander in ein und demselben Wortbildungsmodell überlagern können (Fleischer/Barz 2012: 378). Als wichtige Arten syntaktischer Modifikation nennen Erben (2006: 88f.) und Fleischer/Barz (2012: 378) Transitivierung (lügen > jmdn. belügen), Transitivierung mit Inkorporation (um etw. ringen > etw. erringen), Reflexivierung (laufen > sich verlaufen) und Inkorporation (etw. über etw./ jmdn. gießen > etw./jmdn. mit etw. übergießen). Bei der semantischen Modifikation lassen sich – wie bei der Transposition – hinsichtlich der unterschiedlichen Wortbildungsbedeutungen zahlreiche Subklassen unterscheiden, u.a. Augmentation (dt. topaktuell < aktuell, ital. casone ʻgroßes Hausʼ < casa ʻHausʼ), Diminuierung (dt. Häuschen < Haus, hüsteln < husten, frz. maison-ette ʻHäuschenʼ < maison ʻHausʼ), Movierung (engl. leopardess < leopard, russ. sekretarša ʻSekretärinʼ < sekretarʼ ʻSe­ kretärʼ) oder Negation (dt. unschön < schön, span. malsano ʻungesundʼ < sano ʻgesundʼ) (vgl. Fleischer/Barz 2012: 97, Barz 2016: 743f., 770). Anja Seiffert

→ § 31; Augmentation; Diminuierung; Diminutivsuffix; Kom-

position; Movierung; Mutation (2); Negation; Numerativbildung; Partikelverb; Präfixderivat; Präfixverb; Taxation; Transposition; Wortbildungsart; Wortbildungsbedeutung; Wortbildungsmodell; Wortbildungsprozess ⇀ Modifikation (Gram-Syntax; Lexik) ⇁ modification (Typol)

🕮 Barz, I./ Schröder, M. [2001] Grundzüge der Wortbildung. In: Fleischer, W./ Helbig, G./ Lerchner, G. [Hg.] Kleine Enzyklopädie – deutsche Sprache. Frankfurt/Main [etc.]: 178–217 ◾ Barz, I. [2016] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 9., vollst. überarb. u. aktual. Aufl. Berlin: 644–774 ◾ Eichinger, L.M. [2000] Deutsche Wortbildung. Tübingen ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.].

mögliches Wort

Wort, das durch Wortbildungs- oder Flexionsregeln generiert werden kann, aber nicht in Wörterbüchern verzeichnet oder anderweitig belegt ist. ▲ possible word: word which can be generated by rules of word-formation or inflection but which may not be recorded in dictionaries or attested in a demonstrable fashion. Die Unterscheidung zwischen tatsächlichen und möglichen Wörtern geht mindestens bis Aro-

noff (1976) zurück und ist hier eine Reaktion auf Halles (1973) Vorstellung, dass ein „Wörterbuch“ einen Teil der Wortbildungskomponente bilden sollte, in dem alle vorkommenden Wörter kodiert sein sollten. Mögliche Wörter sind Wörter, die, wenn auch nicht belegt, so doch nach den Regeln der Wortbildung wohlgeformt sind. Aronoff argumentiert, dass es das Ziel einer generativen Morphologie ist, alle und nur die möglichen Wörter einer Sprache zu spezifizieren. Ob ein bestimmtes Wort tatsächlich ein Wort ist, ist unklar und darüber hinaus für den Morphologen, anders als für den Lexikographen, auch uninteressant. Gewiss können etablierte Wörter – nämlich die, die in Wörterbüchern erscheinen, – aufgelistet werden, aber schon ein Blick über Wörterbücher hinaus auf Korpora macht deutlich, dass Wörter, die für manche Sprecher tatsächliche Wörter sind, es für andere nicht sind, in dem Sinne, dass sie sie noch nie gehört, gelesen oder gesagt haben.

Rochelle Lieber ≡ potentielles Wort → Institutionalisierung; Lexikalisierung; usuelles Wort ⇁ possible word (Woform)

🕮 Aronoff, M. [1976] Word Formation in Generative Grammar. Cambridge, MA [etc.] ◾ Halle, M. [1973] Prolegomena to a Theory of Word Formation. In: LingInqu 4: 3–16.

monomorphemisch

aus einem einzigen Morphem bestehend. ▲ monomorphemic: consisting of a single morpheme. Obwohl man „monomorphemisch“ auf grammatische Wörter beziehen könnte, sodass z.B. Buch monomorphemisch ist, aber der Genitiv Buch-es nicht, ist es zweckmäßiger, Stämme als monooder polymorphemisch zu beschreiben (z.B. Buch‑ gegenüber Buchung‑, Handbuch‑, Bucheinband‑, Buchhändler‑ usw.). Auf dieser Basis kann man ein Lexem mit monomorphemischem Stamm (Simplex) von Lexemen unterscheiden, deren Stämme infolge von Komposition und/ oder Derivation aus mehr als einem Morphem bestehen. Ferner gibt es Wortbildungsprozesse, die nicht mit komplexen Stämmen möglich sind. So werden im Deutschen native A+N-Komposita normalerweise nur mit monomorphemischen Adjektivstämmen gebildet (z.B. Schwarzmarkt, Rotwein, s. Hüning/Schlücker 2015: 459). Joachim Mugdan

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monomorphemisches Wort 460

→ Lexem; Simplex; Stamm

🕮 Hüning, M./ Schlücker, B. [2015] Multi-word expressions. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 450–467.

monomorphemisches Wort ≡ Simplex

Morph

Minimalzeichen oder Menge von Minimalzeichen mit demselben Ausdruck. ▲ morph: minimal sign or a set of minimal signs with the same form.

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Der Terminus Morphem wurde von Anfang an und wird auch heute noch unter anderem teils für ein Minimalzeichen (z.B. -e ‘plural’ wie in Zwecke gegenüber -en ‘plural’ wie in Flecken, -s ‘plural’ wie in Schecks, usw.), teils für eine Menge inhaltsgleicher Minimalzeichen (z.B. {plural}, d.h. {-e ‘plural’, -en ‘plural’, -s ‘plural’, ...}) verwendet. Nachdem diese Doppeldeutigkeit durch die Unterscheidung zwischen engl. morpheme alternant und morpheme unit aufgelöst worden war (Harris 1942: 170f.), schlug Hockett (1947: 322) vor, stattdessen morph bzw. morpheme zu verwenden. In seinen Schriften finden sich jedoch widersprüchliche Aussagen dazu, ob Homophone wie engl. /sɛl/ ‘sell’ und /sɛl/ ‘cell’ als verschiedene Morphe gelten sollen (so Hockett 1958: 272) oder aber einem einzigen Morph zuzuordnen sind (so Hockett 1961: 32). Im ersteren Fall sind Morphe bereits verschieden, wenn sie sich nur im Ausdruck (Bezeichnenden, frz. signifiant) unterscheiden, z.B. Stadt und Städtin Städtchen, oder nur im Inhalt (Bezeichneten, frz. signifié), z.B. -er ‘nominalisierer’ in Schreiber und -er ‘komparativ’ in schneller. Demnach ist mit Morph hier ein Minimalzeichen gemeint, und so wird der Terminus auch von manchen explizit definiert (z.B. Mel’čuk 1982: 63). Eine zusammenfassende Bezeichnung für /sɛl/ ‘sell’ und /sɛl/ ‘cell’ gibt es dann nicht. Im letzteren Fall ist die Gleichheit des Ausdrucks allein ausreichend, um ungeachtet der Unterschiede im Inhalt dasselbe Morph anzunehmen, und das ist äquivalent zu einer Definition von Morph als Menge von Minimalzeichen mit identischem Ausdruck (spiegelbildlich zu einer Definition von Morphem als Menge von Minimal-

zeichen mit identischem Inhalt, vgl. Arutjunova 1975: 203). Dabei ist jedoch z.B. das Morph -er in Schreiber und schneller nicht mit der Graphemfolge -er gleichzusetzen, die u.a. auch in Hammer auftritt, dort aber nicht zu dem Morph -er gehört, weil eine Zerlegung in zwei Minimalzeichen Hamm- und -er nicht plausibel ist. Eine Notation wie {} für das Morph gegenüber für die Graphemfolge könnte diesen Unterschied verdeutlichen, ist aber nicht üblich. Beide Bedeutungen von Morph sind bis heute gängig, und oft bleibt offen, welche gemeint ist. Zusätzliche Verwirrung stiften Versuche, den Unterschied zwischen Morph und Morphem über Dichotomien wie Substanz/Form, Text/Sprachsystem, parole/langue u.ä. zu erklären.

→ § 8; Minimalzeichen; Morphem ⇀ Morph (Gram-Formen; Lexik; QL-Dt)

Joachim Mugdan

🕮 Arutjunova, N.D. [1975] Die Grundeinheit der morphologischen Analyse. In: Serébrennikow, B.A. [Hg.] Allgemeine Sprachwissenschaft I. Die innere Struktur der Sprache. Berlin: 189–209 ◾ Harris, Z.S. [1942] Morpheme Alternants in Linguistic Analysis. In: Lg 18: 169–180 ◾ Hockett, C.F. [1947] Problems of morphemic analysis. In: Lg 23: 321–343 ◾ Hockett, C.F. [1958] A Course in Modern Linguistics. New York ◾ Hockett, C.F. [1961] Linguistic elements and their relations. In: Lg 37: 29–53 ◾ Mel’čuk, I.A. [1982] Towards a Language of Linguistics. A System of Formal Notions for Theoretical Morphology. München.

Morph, diskontinuierliches → diskontinuierliches Morph

Morph, ersetzendes → ersetzendes Morph

Morph, leeres

→ leeres Morph

Morph, reduplikatives → reduplikatives Morph

Morph, subtraktives → subtraktives Morph

Morph, suprasegmentales → suprasegmentales Morph

Morphem

Minimalzeichen oder Menge von Minimalzeichen mit demselben Inhalt, manchmal eingeschränkt auf

461 Morphem Elemente mit grammatischer Bedeutung oder mit weiteren Bedingungen bezüglich der Ähnlichkeit im Ausdruck. ▲ morpheme: minimal sign or set of minimal signs with the same content, sometimes restricted to elements with grammatical meaning or with further conditions concerning similarity in expression. Der Terminus Morphem ist erstmals 1880 in der russ. Form morfema bei dem poln. Sprachwissenschaftler Jan Baudouin de Courtenay belegt, als ein eingeklammerter und offenbar nachträglicher Zusatz zu morfologičeskaja čast’ ‘morphologischer Teil’ (Baudouin 1880: 437 u.ö.). Während Phonem, das als Bezeichnung eines einfachen lautlichen Elements ab Ende 1862 bei dem frz. Amateurphonetiker Antoni Dufriche-Desgenettes nachweisbar ist (s. Mugdan 2014), auf das griech. Wort phōnēma ‘[Klang einer] Stimme’ zurückgeht (s. Mugdan 2011: 96–101), war Morphem eine analoge Neubildung auf der Basis von griech. morphē ‘Form’, mit der das bis heute beliebte Bildungsmuster X-em für sprachliche Einheiten begründet wurde. Morphem diente als Oberbegriff für „Wurzel (radix), alle möglichen Affixe, wie Suffixe, Praefixe, als Exponenten syntaktischer Beziehungen dienende Endungen, u. s. w.“ (Baudouin 1895: 10, ohne die Sperrung im Original). Unklar blieb allerdings, ob in Fällen wie dt. /valt/, /vɛlt/, /vald/, /vɛld/ (in Waldweg, Wäldchen, Waldes, Wälder) mehrere „etymologisch verwandte Morpheme“ vorliegen (Baudouin 1895: 11) oder aber ein „mehrgestaltiges Morphem“ mit mehreren untereinander alternierenden „Modifikationen“ (Baudouin 1908:11), ob also unter Morphem ein Minimalzeichen zu verstehen ist (sodass bei jedem Unterschied im Inhalt oder im Ausdruck ein anderes Morphem vorliegt) oder aber eine Menge von Minimalzeichen mit demselben Inhalt, jedoch unterschiedlichem Ausdruck. Der neue Terminus wurde bald auch für andere Zwecke benutzt (vgl. Mugdan 1986: 31f.), und verschiedene Faktoren bewirkten, dass ein erhebliches Maß an Polysemie und Homonymie entstand (vgl. Mugdan 1990). Dass Antoine Meillet frz. morphème für die Übersetzung von Karl Brugmanns Formans wählte (Meillet 1905: V), führte dazu, dass der Terminus in der frz. Linguistik auf Minimalzeichen mit grammatischer oder relationaler Bedeutung

eingeschränkt wurde, während solche mit lexikalischer Bedeutung als Semantem bezeichnet wurden (Vendryes 1921: 86); später wurde Semantem durch Lexem ersetzt, mit Monem als neuem Oberbegriff (Martinet 1960: 20). In der Glossematik wurde die Unterscheidung zwischen Semantem (später Plerem) und Morphem nicht auf Zeichen, sondern auf Inhaltselemente bezogen (Hjelmslev 1928: 123–127; Holt 1964: 5, 8), sodass unter Morphem eine einzelne grammatische Bedeutung verstanden wurde. Dieser Sprachgebrauch ist zuweilen auch bei anderen Autoren anzutreffen, obwohl sie Morphem zunächst in Zusammenhang mit der Zerlegung von Wörtern in kleinere Bestandteile, also Minimalzeichen, eingeführt haben (z.B. Lyons 1968: 181, 191). Die unterschiedliche Terminologie wird dort deutlich, wo mehrere grammatische Bedeutungen zugleich ausgedrückt werden (kumulative Exponenz), wie im lat. Genitiv Singular domī ‘[des] Hauses’, wo ī sowohl ‘sg’ als auch ‘gen’ ausdrückt. Traditionell spricht man hier von einem nicht weiter zerlegbaren Morphem, wogegen in der Glossematik ‘sg’ und ‘gen’ als zwei getrennte Morpheme gelten. Die Beziehung zum Ausdruck ī wird dann nicht mehr mithilfe des Zeichenbegriffs beschrieben, sondern durch eine Relation zwischen Inhalts‑ und Ausdruckselementen, bei der mehrere Inhaltselemente („Morpheme“) auf ein Ausdruckselement („Morph“) abgebildet werden können (s. Lyons 1968: 183f., 191). Für Inhaltselemente wie ‘sg’ und ‘gen’ steht jedoch neben Ausdrücken wie morphosyntactic property (Matthews 1974: 136) auch der Terminus Grammem zur Verfügung (vgl. Melčuk 1982: 30f.; 2006: 23), sodass die Umwidmung von Morphem für diesen Zweck unnötig ist. Die klassische Definition des amerik. Strukturalismus beschreibt ein Morphem als „a linguistic form which bears no partial phonetic-semantic resemblance to any other form“ (Bloomfield 1933: 161). Dabei ist eine sprachliche Form als Phonemfolge definiert, die eine Bedeutung hat, sodass die Bedeutung nicht integraler Bestandteil des Morphems ist, sondern etwas außerhalb davon Liegendes, mit dem das Morphem lediglich assoziiert ist. Die Annahme, dass bei Homophonen wie engl. /pɛə/ – pair ‘Paar’ und pear ‘Birne’ – verschiedene Morpheme vorliegen, setzt jedoch zwangsläufig einen bilateralen Zeichenbegriff voraus, mit Ausdruck und Inhalt als gleichrangigen Bestandteilen.

M

Morphem 462

M

Wenn darüber hinaus z.B. duke ‘Herzog’ und duch‑ in duchess ‘Herzogin’ als „Alternanten“ desselben Morphems gelten (Bloomfield 1933: 164), ist sogar die Bedeutung für die Identität des Morphems entscheidend. Solche Diskrepanzen zwischen Definition und Gebrauch und stillschweigende Veränderungen der Definition im Laufe der Darstellung sind in zahlreichen linguistischen Lehrwerken zu beobachten. Die Bedingung „which bears no partial phonetic-semantic resemblance …“ ist die der Minimalität, was daraus hervorgeht, dass eine Form „which bears a phonetic-semantic resemblance to some other linguistic form“ als komplex bezeichnet wird (Bloomfield 1933: 160). „Partial phonetic-semantic resemblance“ zwischen zwei Formen liegt also dann vor, wenn sie einen Bestandteil enthalten, der in beiden Formen denselben Ausdruck und Inhalt hat. Die Unklarheit, ob unter Morphem ein Minimalzeichen oder eine Menge inhaltsgleicher Minimalzeichen zu verstehen ist, wurde zunächst durch das Gegensatzpaar morpheme alternant/morpheme unit beseitigt (Harris 1942: 170f.), und dann durch morph/morpheme (Hockett 1947: 322). Während sich damit die Definition von Morphem als Menge inhaltsgleicher Minimalzeichen durchsetzte (ohne dass sie so formuliert worden wäre), entstand bei Morph eine neue Unklarheit: Handelt es sich z.B. bei /-ər/ in schnell-er und in Bohr-er um dasselbe Morph oder um zwei verschiedene? Im letzteren Fall wird Morph als Minimalzeichen definiert (z.B. Mel’čuk 1982: 63; 2006: 24), im ersteren dagegen – spiegelbildlich zu Morphem – als Menge ausdrucksgleicher Minimalzeichen (z.B. Arutjunova 1975: 203). Dabei ist zu beachten, dass nicht bei jedem Vorkommen der Phonemfolge /-ər/ ein Morph vorliegt, z.B. in Wetter, wo /-ər/ kein Inhalt zugeschrieben werden kann. Ein Morphem wird üblicherweise in geschweiften Klammern {…} notiert, was man als Hinweis darauf auffassen kann, dass es sich um eine Menge handelt (vgl. Mel’čuk 2006: 388). In der Klammer sollte eigentlich das stehen, was allen Elementen der Menge gemeinsam ist, nämlich der Inhalt. Für Flexions- und Derivationsbedeutungen ist das mit gängigen grammatischen Termini oder den entsprechenden standardisierten Kürzeln (z.B. gemäß den „Leipzig Glossing Rules“) leicht möglich; sie werden meist mit Kapitälchen oder ersatzweise Versalien geschrieben, also {reflexiv}

oder {refl} usw. Bei lexikalischen Bedeutungen wird in der Regel einer der Ausdrücke genannt, und zwar typischerweise auch dann in gewöhnlicher Orthographie, wenn gesprochene Sprache gemeint ist, also z.B. {Wald} für die Menge der Minimalzeichen mit den Ausdrücken /valt/, /vɛlt/, /vald/, /vɛld/ und einem Inhalt, den man etwa als ‘mit Bäumen bestandene Fläche’ paraphrasieren oder durch ein fremdsprachliches Äquivalent wie engl. forest glossieren könnte. Die zu einem Morphem gehörenden Minimalzeichen bezeichnet man als seine Allomorphe, nach dem Vorbild von Allophon in der Phonologie (z.B. Nida 1948: 420 fn. 13), wobei im Grenzfall ein Morphem auch nur ein Allomorph haben kann (s. Mel’čuk 2006: 397; als Minimum zwei Allomorphe anzusetzen, wie Bonet/Harbour 2012: 218, ist ungewöhnlich). Ob ein Allomorph zugleich ein Morph ist, hängt davon ab, welche der beiden Definitionen von Morph gewählt wird. Die Verteilungen der Allomorphe eines Morphems, d.h. die Kontexte, in denen jedes von ihnen auftritt, müssen durch hinlänglich einfache und allgemeine Regeln beschreibbar sein. Das ist jedoch nicht ein zusätzliches Kriterium, das in die Definition aufgenommen werden sollte (wie bei Mel’čuk 1982: 88; 2006: 388–397), sondern dient dazu, Inhaltsgleichheit zu präzisieren und u.a. sicherzustellen, dass gewöhnliche Synonyme wie Anfang und Beginn nicht als Allomorphe desselben Morphems gelten. Das trifft ebenso auf die detaillierten Bestimmungsregeln des amerik. Strukturalismus zu (z.B. Nida 1948; 1949: 6–61), die insbesondere – wiederum analog zu den Allophonen eines Phonems – verlangen, dass die Allomorphe eines Morphems komplementär verteilt sein oder in freier Variation stehen müssen. Mehrere Elemente sind dann komplementär verteilt, wenn sie sich gegenseitig ausschließen, sodass in jeder Umgebung nur ein bestimmtes von ihnen auftreten kann. Freie Variation liegt vor, wenn die Elemente beliebig austauschbar sind; dabei gibt es aber oft stilistische Unterschiede oder unterschiedliche Präferenzen verschiedener Sprechergruppen (nach Region, Alter, sozialer Schicht usw.). Selbst wo solche Faktoren nicht erkennbar sind, unterscheiden sich in freier Variation stehende Allomorphe eines Morphems meist in ihrer Häufigkeit – und die Zahlenverhältnisse können von Lexem zu Lexem ohne offensichtlichen Grund an-

463 Morphem dere sein, beispielsweise bei -s oder -es im Genitiv Singular von dt. Maskulina und Neutra (Meder/ Mugdan 1990: 92–99). Generell wird angenommen, dass die Allomorphe eines Morphems sich im Ausdruck beliebig stark voneinander unterscheiden, also im Verhältnis der Suppletion stehen können (vgl. Nida 1949: 44 und schon Bloomfield 1933: 215). Allerdings ist man bei der Annahme von Suppletion in der Wortbildung meist zurückhaltender als in der Flexion, sowohl bei Wurzeln wie engl. king – roy(al) als auch bei Affixen wie frz. (Paris)ien – (Marseill)ais – (Brest)ois. Manche Autoren verlangen jedoch, dass die Allomorphe eines Morphems im Ausdruck ähnlich sein müssen (z.B. Bubenik 1999: 151) und sind dann gezwungen, im Dt. statt eines Morphems {pl} mehrere Morpheme mit dem Inhalt ‘pl’ anzusetzen, darunter {n-pl} mit den Allomorphen /ən/ und /n/ wie in Staaten bzw. Federn und {e-pl} mit den Allomorphen /ə/ und ∅ (Null, d.h. kein Ausdruck) wie in Tage bzw. ZetMorphem

{PL} |әn| /әn/

|ә| /n/

/ә/



tel. Die Gründe dafür sind oft nicht überzeugend (z.B. eine falsche Folgerung aus Bloomfields Morphem-Definition, s. Mugdan 1986: 34), aber eine solche terminologische Festlegung ist natürlich ebenso möglich wie die umgekehrte Konvention, dass Allomorphe gerade unähnlich sein müssen – oder vielmehr suppletiv (s. z.B. Booij 2002: 174). Es kommt nämlich nicht auf eine oberflächliche Ähnlichkeit an, sondern darauf, ob die Unterschiede im Ausdruck durch hinreichend allgemeine phonologische Regeln beschrieben werden können. So kann man im Dt. /ən/ ‘pl’ und /n/ ‘pl’ z.B. mithilfe einer zugrundeliegenden Repräsentation |ən| ‘pl’ und einer Regel, die /ə/ in Substantiv-Flexionssuffixen nach einer /ə/ enthaltenden Silbe tilgt, zusammenfassen: |frɑːɡǝ‑ǝn| ‘Frage-pl’ → /frɑːɡǝ‑n/, |feːdǝr‑ǝn| ‘Feder-pl’ → /‌feːdǝr‑n/. Dieselbe Tilgungsregel ist auf zugrundeliegendes |ə| ‘pl’ anwendbar: |tsɛtǝl‑ǝ| ‘Zettelpl’ → /tsɛtǝl/. An diesem Beispiel stellt Abb. 1 die verschiedenen Terminologien gegenüber. –

(zugrundeliegendes Morphem Allomorph) Allomorph Allomorph

Morphem Allomorph (Variante)

Abb. 1: Unterschiedliche Verwendungen von Morphem und Allomorph

Es ist zu beachten, dass eine reguläre „Ähnlichkeit“ zwischen Allomorphen nicht mit phonologischer Konditionierung einhergehen muss, denn auch die Verteilung von suppletiven Allomorphen kann von rein phonologischen Bedingungen abhängen (vgl. Carstairs 1988). Häufig wird das Verhältnis zwischen Morphem und (Allo-)Morph mit den Saussureschen Dichotomien langue/parole (z.B. Buẞmann 2008: 453f.) oder Form/Substanz (z.B. Lyons 1968: 184) identifiziert, und Morphe werden gern als konkrete Realisierungen eines abstrakten Morphems beschrieben. Tatsächlich sind alle sprachlichen Einheiten abstrakte Größen und nicht etwa physische Realitäten, und man kann sie ebensogut als Elemente des Sprachsystems betrachten wie als Elemente eines Textes. So umfasst eine Beschreibung des Systems einer Sprache zweifellos auch die Allomorphe seiner Morpheme, und ein Text

kann durchaus als Abfolge von Morphemen dargestellt werden (vgl. die „Leipzig Glossing Rules“). Ein X-em ist lediglich in dem Sinn abstrakter als ein Allo-X, als auf der Ebene der X-eme von gewissen Unterschieden abgesehen (abstrahiert) wird, die auf der Ebene der Allo-X-e berücksichtigt werden; somit ist das Verhältnis zwischen einem X-em und den zugehörigen Allo-X-en einfach das zwischen einer Menge und ihren Elementen (s. Mel’čuk 1982: 120f.). In einem Fall wie Zettel, wo der Plural mit dem Singular im Ausdruck übereinstimmt, ist es wünschenswert, in Analogie zu anderen Substantiven ein Allomorph des Morphems {pl} anzusetzen. Das ist möglich, wenn man als Ausdruck eine Phonem- oder Graphemfolge zulässt, die die Länge ( ) hat, also kein Phonem bzw. Graphem enthält. Ein solches Allomorph wird Nullallomorph genannt; als Nullmorphem bezeichnet man ein Morphem,

M

Morphem, affixartiges 464

M

das kein von Null verschiedenes Allomorph besitzt, wobei – in der Wortbildung mehr noch als in der Flexion – von solchen Nullelementen meist nur sehr zurückhaltend Gebrauch gemacht wird (s. Bergenholtz/Mugdan 2000). Pluralbildungen wie Daag ‘Tag’ – Dääg ‘Tage’, Hund ‘Hund’ – Hind ‘Hunde’ im Baseldeutschen oder /dɔːɡ̊/ ‘Tag’ – /‌dɔː/ ‘Tage’, /hond̥/ ‘Hund’ – /hon/ ‘Hunde’ im Dialekt von Ebsdorf (Mittelhessen) stellen eine größere Herausforderung dar, denn hier wird ‘pl’ offenbar (zumindest an der Oberfläche) durch eine Ersetzung oder eine Tilgung von Phonemen ausgedrückt. Manche sprechen in solchen Fällen von einem ersetzenden Morph oder substitutiven Morph bzw. einem subtraktiven Morph oder Minusmorph (vgl. Nida 1948: 427–429, 440f.). Andere sind der Meinung, dass man eine Operation wie Ersetzung nicht als Element, nämlich als Ausdruck eines sprachlichen Zeichens, betrachten solle. Aus diesen und anderen Gründen bevorzugen manche Linguisten ein Modell, das – jedenfalls in der Flexionsmorphologie – nicht versucht, alle Wörter als Verkettungen von Minimalzeichen zu beschreiben, und somit für die Begriffe „­Morph“ und „Morphem“ keinen Bedarf hat („a-morphous morphology“, s. z.B. Anderson 1992: 1f.). Sie gehen vielmehr davon aus, dass Bündel morphosyntaktischer Merkmale wie [+pl] bestimmte Veränderungen von Phonem- oder Graphemfolgen auslösen können, wobei die Addition von Segmenten nur eine Möglichkeit unter mehreren ist (s. auch Leu 2020 zum Status des Morphems in verschiedenen morphologischen Modellen). Viele Sprachen oder Teilsysteme von Sprachen lassen sich jedoch problemlos mithilfe von Morphemen und Allomorphen analysieren, und oft kann es für praktische Zwecke sinnvoll sein, sogar mit theoretisch fragwürdigen Elementen wie ersetzenden Morphen zu arbeiten. Joachim Mugdan

→ § 8; Affix; Allomorph; a-morphous morphology; Minimalzeichen; Morph; Nullmorphem; subtraktives Morph; Suppletion ⇀ Morphem (Lexik; Gram-Formen; CG-Dt; QL-Dt; Onom) ⇁ morpheme (CG-Engl)

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Morphem, affixartiges → Affixoid

Morphem, blockiertes → unikales Morphem

465

Morphem, exogenes → Fremdmorphem

Morphem, exophorisches → exophorisches Morphem

Morphem, exponierendes → Augmentativsuffix

Morphem, freies → freies Morphem

Morphem, gebundenes → gebundenes Morphem

Morphem, grammatisches → grammatisches Morphem

Morphem, homonymes → homonymes Morphem

Morphem, kombinatorisches → Zirkumfix

Morphem, lexikalisches → lexikalisches Morphem

Morphem, polyfunktionales → polyfunktionales Affix

Morphem, sekundärsprachliches → Fremdmorphem

Morphem, suprasegmentales → suprasegmentales Morph

Morphem, unikales → unikales Morphem

Morphemalternante ≡ Allomorph

Morphematik

≡ Morphologie

Morphematisierung

Reanalyse einer Phonem- oder Graphemfolge als morphologische Einheit ▲ morphematization: reanalysis of a sequence of phonemes or graphemes as a morphological unit.

morpheme structure condition Der Begriff der Morphematisierung wird fast ausschließlich auf die Umdeutung von Teilen nichtnativer, d.h. aus einer Fremsprache entlehnter Wörter bezogen (s. Fleischer 1972: 138; Erben 2006: 56, 149; Müller 2015: 1618). Ein Beispiel ist die Entstehung von -em als Suffix für Bezeichnungen sprachlicher Einheiten. Während das seit 1855 belegte Phonem aus griech. phōnēma ‘[Klang einer] Stimme’ übernommen wurde (s. Mugdan 2011: 96–101), war Morphem eine 25 Jahre jüngere analoge Neubildung ohne ein direktes griech. Vorbild (s. Mugdan 1986: 30), durch die -em zu einem neuen produktiven Affix wurde. Zwar war phōnēma im Griechischen ebenfalls ein Derivat (zu phōnē ‘Stimme’), aber das Suffix lautete -ma und hatte nicht die Bedeutung, die -em gegeben wurde. Als weiteres Beispiel wird -thek genannt. War griech. bibliothēkē ein Kompositum aus biblion ‘Buch’ und thēkē ‘Behälter’, so konnte man die deutsche Entlehnung Bibliothek morphologisch nicht überzeugend zerlegen, bis -thek durch Bildungen wie Phonothek, Mediothek usw. wiederum den Status eines morphologischen Elements bekam (je nach Meinung Suffix, Kompositionsglied oder Zwischending „Konfix“). Joachim Mugdan

→ § 34, 39; Fremdwortbildung; Kompositum; Konfix; Suffix

🕮 Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W. [1972] Tendenzen der deutschen Wortbildung. In: DaF 9: 132–140 ◾ Mugdan, J. [1986] Was ist eigentlich ein Morphem? In: ZPSK 89: 29–43 ◾ Mugdan, J. [2011] On the origins of the term phoneme. In: HL 38: 85–110 ◾ Müller, P.O. [2015] Foreign word-formation in German. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin (etc.): 1615–1637.

morpheme structure condition

Aussage über die Abfolge phonologischer Segmente, aus der ein mögliches Morphem in einer bestimmten Sprache bestehen kann. ▲ morpheme structure condition: statement of the sequences of phonological segments that may constitute a possible morpheme in a particular language. Aus einer Arbeit von Stanley (1967) hervorgegangen, sind Morphemstrukturbedingungen eine Weiterentwicklung von Halles (1959) Morphemstrukturregeln. Morphemstrukturregeln machen Angaben über mögliche Segmentabfolgen in den Morphemen einer bestimmten Sprache und können also entsprechend den Regeln einer klas-

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Morphemerweiterung 466

M

sischen generativen Phonologie geordnet sein. Im Gegensatz dazu sind Morphemstrukturbedingungen nicht Regeln, sondern Aussagen über Redundanz im Lexikon, wie z.B. die, dass, wenn ein Morphem mit einem Nasal beginnt, das darauf folgende Segment ein Vokal ist, oder die, dass, wenn ein Morphem mit drei Konsonanten beginnt, der erste ein Sibilant ist (diese beiden Morphemstrukturbedingungen gelten für das Engl.). Laut Stanley (1967) können Morphemstrukturbedingungen nicht geordnet sein und keine Merkmalswerte verändern. Shibatani (1973: 90) weist darauf hin, dass Morphemstrukturbedingungen in einer klassischen generativen Phonologie nicht notwendigerweise oberflächengetreue Generalisierungen sein müssen. So enthalten etwa im Quechua zugrundeliegende Morpheme ausschließlich die Vokale /i, u, a/, auf der Oberfläche erscheinen aber /e, o/ als Ergebnis einer phonologischen Regel, die im Kontext von post-velaren Konsonanten tiefere Vokale als Output hat. Obwohl die formale Version der Morphemstrukturbedingungen nicht mehr Teil phonologischer Theorie ist, ist die allgemeine Vorstellung, dass Sprecher unbewusstes Wissen über mögliche und unmögliche Morpheme ihrer Muttersprache haben, weiterhin relevant. Hay (2000) z.B. argumentiert, dass die Dekomponierbarkeit komplexer Wörter teilweise von phonotaktischen Signalen an Morphemgrenzen abhängt, d.h. von dem Wissen des Sprechers darüber, dass bestimmte Segmentabfolgen morphemintern unwahrscheinlich sind oder nicht existieren. Dies wiederum hängt von dem Wissen des Sprechers darüber ab, dass z.B. im Engl. die Abfolge pn nicht am Ende eines Morphems vorkommt und deshalb ein Wort wie dampness eine Morphemgrenze enthält. Rochelle Lieber

→ Morphem; Segmentierung ⇁ morpheme structure condition (Woform; Phon-Engl)

🕮 Halle, M. [1959] The Sound Pattern of Russian. The Hague ◾ Hay, J. [2000] Causes and consequences of word structure. Diss., Northwestern University. Evanston, IL ◾ Shibatani, M. [1973] The role of surface phonetic constraints in generative phonology. In: Lg 49/1: 87–106 ◾ Stanley, R. [1967] Redundancy rules in phonology. In: Lg 34/2: 393–436.

Morphemerweiterung ≡ Suffixerweiterung

morpheme-to-seme-assignment principle

Prinzip der Onomasiologischen Wortbildungstheorie, das auf der onomatologischen Ebene zur Anwendung kommt und den konzeptuell-semantischen Konstituenten der onomasiologischen Ebene lexikalische Einheiten zuordnet. ▲ morpheme-to-seme-assignment principle: principle in the theory of onomasiological word-formation that applies to the onomatological level and assigns lexical units to conceptual-semantic constituents. Das „morpheme-to-seme-assignment-principle“ ermöglicht nach Štekauer (2005) eine einheitliche Beschreibung von Wortbildungsprozessen und lässt somit traditionelle Begriffe wie Komposition, Derivation, Rückbildung etc. redundant werden. Es stellt eine Relation zwischen der onomasiologischen und der onomatologischen Ebene her, indem es den an der Benennung eines Konzepts beteiligten Semen lexikalische Einheiten, die mit diesen Semen semantisch kompatibel sind, zuweist. Das Sem „Agent“, das die Klasse von Menschen repräsentiert, die eine Handlung ausführen, kann z.B. durch die lexikalische Einheit man oder mit Hilfe diverser Suffixe wie -er, -ist, -ant oder -ian morphologisch realisiert werden. Diese Morpheme stellt das Lexikon bereit. Die folgende Darstellung zeigt zwei Möglichkeiten zur Benennung einer Klasse von Personen auf, die zum Zwecke des Transports ein Fahrzeug steuern. Tab. 1: Morpheme-to-Seme Konstituenten der SUBSTANCE2 ACTION onomasiologischen Ebene:

SUBSTANCE1

Relationen der Objekt onomasiologischen Ebene:

Action

Agent

drive

-er

Onomatologische Ebene:

truck truck

-er

Die morphologische Realisierung truck driver wird erzeugt, indem das „morpheme-to-semeassignment-prinziple“ jedem Sem der onomasiologischen Ebene ein Morphem zuordnet. Die Alternative trucker verdeutlicht, dass nicht jede Konstituente der onomasiologischen Ebene sprachlich realisiert werden muss. Hier ist es die determinierte Konstituente action bzw. „Action“ der onomasiologischen Markierung, die unter-

467 drückt wird. Nichtsdestoweniger ist die morphologische Sequenz trucker interpretierbar, da das die Handlung betreffende Sem auf der onomasiologischen Ebene repräsentiert wird und somit implizit vorhanden ist. Das obige Beispiel veranschaulicht ferner die Unifikation zweier traditioneller Wortbildungsprozesse – nämlich der synthetischen Komposition (truck driver) und der Derivation (trucker) – mit Hilfe des Prinzips (2005: 47ff.). Bei der Interpretation eines neuen komplexen Wortes (z.B. shoe lace tier ‘a person who does up shoes professionally’) wird die durch das „morpheme-to-seme-assignment-principle“ erzeugte Relation zwischen der onomatologischen und der onomasiologischen Ebene durch den Hörer bzw. Leser rekonstruiert. Heike Baeskow → Derivation; onomasiologische Ebene; onomasiologische Wortbildungstheorie; onomasiologischer Typ; Onomatologie (1); Sem; Suffix; synthetisches Kompositum 🕮 Štekauer, P. [2005] Meaning Predictability in Word Formation. Novel, context-free naming units. Amsterdam [etc.].

Morphemgefüge

≡ Morphemkombination

morphemic tier hypothesis

Hypothese, dass jedes Morphem eines Wortes eine eigene autosegmentale Schicht konstituiert. ▲ morphemic tier hypothesis: hypothesis that each morpheme of a word constitutes a separate autosegmental tier. Erstmals von McCarthy (1979) in seiner Analyse der arabischen Verbkonjugation vorgeschlagen, erlaubt die „morphemic tier hypothesis“ ‘morphemische Ebene-Hypothese’ eine elegante Lösung des Problems der Repräsentation von Morphemen, die diskontinuierlich sind (z.B. in der „Root-und-Pattern“-Morphologie) oder die aus Merkmalsbündeln bestehen, die für sich genommen keine vollständigen phonologischen Segmente konstituieren (z.B. bei Reduplikation, Ablaut oder Konsonantenveränderung, wie auch in der „Root-und-Pattern“-Morphologie). Für den Fall arabischer Verben schlägt McCarthy vor, dass Wörter sich zusammensetzen aus der lexikalischen Wurzel, die typischerweise eine Abfolge von drei Konsonanten ist, dem Skelett, bestehend aus einer Abfolge von konsonantischen

morphemic tier hypothesis und vokalischen Slots (ohne alle Merkmale, bis auf Oberklassenmerkmale), und aus einer vokalischen Melodie, die Genus Verbi und Aspekt des Verbs bestimmt. Auf einer eigenen morphemischen Schicht ist zusätzliches affixales Material möglich. Damit ergibt sich die folgende Repräsentation für das Binyan (aus dem Hebräischen Binyān, Pl. binyānîm) für die Form des Perfekt Aktiv VI mit vier morphemischen Schichten, jeweils mit μ gekennzeichnet – eine für die Wurzel, eine für das Skelett des Binyan VI, eine für das reflexive Affix t und eine für die vokalische Melodie a des Perfekt Aktiv: µ k t

b

CVCVVCVC t [refl]

a

µ

µ

µ

Abb. 1: morphemic tier hypothesis

Eine akkurate Repräsentation eines komplexen Wortes mithilfe der „morphemic tier hypothesis“ erfordert offensichtlich ein dreidimensionales Modell; die Illustration soll lediglich eine Vorstellung davon vermitteln, wie die betreffende arabische Verbform darzustellen ist. Zusätzliche Evidenz für die „morphemic tier hypothesis“ liefert McCarthy (1986) mit Belegen dafür, dass im Rotuman das „obligatory contour principle“ bei Abfolgen von Vokalen innerhalb eines Morphems greift, bei identischen Vokalen, die zu unterschiedlichen Morphemen gehören, aber nicht – vermutlich deshalb, weil sich diese Vokale auf unterschiedlichen morphemischen Schichten befinden. Zudem zeigt McCarthy, dass diese Annahme relativiert werden muss, da einige phonologische Regeln über Morphemgrenzen hinweg operieren – ein Effekt, der es nötig macht, „tier conflation“ ‘Schichtzusammenlegung’ zu postulieren. Deshalb ist die Evidenz für morphemische Schichten für Sprachen mit „Root-und-Pattern“Morphologie wie das Arabische überzeugend, weniger überzeugend für Sprachen mit konkatenativer Morphologie. Rochelle Lieber

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Morphemik 468

→ Ablaut; autosegmentale Morphologie; Binyan; konkatena-

tive Morphologie; nicht-konkatenative Morphologie; Reduplikation; Root-and-Pattern-Morphologie; tier conflation; Transfix ⇀ morphemic tier hypothesis (Phon-Dt) ⇁ morphemic tier hypothesis (Woform; Phon-Engl)

🕮 McCarthy, J.J. [1979] Formal Problems in Semitic Phonology and Morphology. Diss. Cambridge, MA ◾ McCarthy, J.J. [1985] Formal Problems in Semitic Phonology and Morphology. New York, NY ◾ McCarthy, J.J. [1986] OCP Effects. Gemination and Antigemination. In: LingInqu 17: 207–264.

Morphemik

≡ Morphologie

Morphemklasse

durch bestimmte Kriterien definierte Teilmenge von Morphemen. ▲ morpheme class: subset of morphemes defined by certain criteria.

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Die Gesamtmenge der Morpheme einer Sprache lässt sich nach verschiedenen Gesichtspunkten in Teilmengen oder Klassen aufteilen (s. Simmler 1998: 38–89; Mugdan 2015: 256f.). Besonders wichtig sind die in Tab. 1 dargestellten Dichotomien, die wiederum für die Unterscheidung zwischen den Klassen Grundmorphem (oder Wurzel) und Affix herangezogen werden. Tab. 1: Wichtige Morphemklassen Klasse 1

Klasse 2

Kriterium

(potentiell) frei

(obligatorisch) gebunden

kann allein als Wort auftreten

lexikalisch

grammatisch

hat allein Bedeutung

Daneben gibt es auch Einteilungen mit einer größeren Zahl von Klassen, die unter anderem für die Beschreibung der Struktur von Wörtern entwickelt wurden (s. z.B. Bergenholtz/Mugdan 1979: 118–121). Joachim Mugdan

→ Affix; freies Morphem; gebundenes Morphem; grammati-

sches Morphem; Grundmorphem; lexikalisches Morphem; Wurzel ⇀ Morphemklasse (Gram-Formen)

🕮 Bergenholtz, H./ Mugdan, J. [1979] Einführung in die Morphologie. Stuttgart ◾ Mugdan, J. [2015] Units of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 235–301 ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Berlin.

Morphemkombination

Kombination von Morphemen, die eine Wortform oder eine Wortbildungskonstruktion bilden. ▲ morpheme combination: combination of morphemes constituting a word form or a word-formation construction. Als Morphemkombination werden erstens die Wortformen bezeichnet (Lyons 1995: 206), zweitens aus mehr als einem Morphem aufgebaute Wortbildungsprodukte oder drittens aus mehr als einem Morphem bestehende unmittelbare Konstituenten eines Wortbildungsprodukts (vgl. Simmler 1998: 368). Viertens wird der Ausdruck (diskontinuierliche) Morphemkombination für Zirkumfixe verwendet, d.h. ausdrucksseitig getrennte Präfix-Suffix-Kombinationen, die zusammen ohne eine Zwischenstufe mit einem der beiden Affixe sogleich die zweite unmittelbare Konstituente einer Wortform oder Ableitung bilden, so in ge-mach-t oder ge-worf-en beim Partizip II, in der Substantivableitung in Ge-lauf-e und dergleichen, bei der Verbableitung etwa in be-herz-ig-en ‘sich zu Herzen nehmen, berücksichtigen’. Eckhard Meineke ≡ Morphemgefüge → Affix; Derivation; Partizip; unmittelbare Konstituente; Zirkumfix 🕮 Lyons, J. [1995] Einführung in die moderne Linguistik. 8. Aufl. München ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin.

Morphemkonstruktion

wortgebildetes Wort aus zwei oder mehreren Morphemen. ▲ morpheme construction: word-formation containing two or more morphemes. Als Morphemkonstruktion können die aus mehr als einem Morphem aufgebauten Wortbildungsprodukte bezeichnet werden, die auch Ausdruckserweiterungen genannt werden. Für das Deutsche unterscheidet Simmler (1998: 493) drei Arten der Ausdruckserweiterung. Der erste Typ ist die Komposition. Sie wird subklassifiziert in die Typen Grundmorphem + Grundmorphem (Haustür), Suppletivmorphem + Grundmorphem (Bestmarke, Ichmensch; Simmler 1998: 367), Pseudomorphem + Grundmorphem (Auerhahn, Freitag; Simmler 1998: 421f.) und Dekomposita

469 Morphologie (Polizei-Innendienst; Simmler 1998: 395–402). Der zweite Typ sind die kompositionsähnlichen Strukturen. Deren Unterarten sind die Zusammenrückungen (Dreikäsehoch, Vaterunser, Taugenichts, Fürchtegott; Simmler 1998: 403–407), die Zusammenbildungen (Feldmesser, Grablegung, Inangriffnahme, Liebhaber; Simmler 1998: 407– 411), Wortkreuzungen (Stagflation < Stagnation x Inflation; Simmler 1998: 425–427), die Reduplikationsbildungen (Klein-Klein, Heckmeck, Mischmasch, Hokuspokus; Simmler 1998: 427–429), Affixoid + Grundmorphem (Affenhitze) sowie Grund­ morphem + Affixoid (Grobzeug; Simmler 1998: 411–420). Der dritte Typus ist die Derivation, die Simmler in Präfixbildungen, Präfix-/Suffixbildungen und Suffixbildungen unterteilt. Eckhard Meineke

→ Affixoid; Dekompositum; Derivation; Grundmorphem;

Komposition; Kontamination; Pseudomorph; Reduplikation; Suppletion; Zusammenbildung; Zusammenrückung

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin.

Morphemvariante ≡ Allomorph

Morphologie

Teilgebiet der Linguistik, das sich mit der inneren Struktur von Wörtern befasst. ▲ morphology: subdiscipline of linguistics that deals with the internal structure of words. Der um die Wende vom 18. zum 19. Jh. in der Biologie aufgekommene Terminus Morphologie (zu griech. morphē ‘Form’) wurde 1859 von August Schleicher auf die sprachtypologische Betrachtung von Wortstrukturen übertragen und entwickelte sich dann zur Bezeichnung für das Gebiet, das in der traditionellen Grammatik als Formenlehre (engl. accidence) bekannt war, also die Beschreibung von Flexionssystemen; die Wortbildung wurde teils ein-, teils ausgeschlossen, und gelegentlich wurde die Syntax unter die Morphologie subsumiert (s. Salmon 2000). Auch wenn zuweilen noch Flexionsmorphologie und Syntax als „Grammatik“ zusammengefasst und der Wortbildung gegenübergestellt werden, ist es heute allgemein üblich, Morphologie als Oberbegriff für Flexion und Wortbildung zu ver-

wenden. (Allgemeine Überblicke bieten u.a. die Handbücher Booj/Lehmann/Mugdan 2000, 2004; Hippisley/Stump 2016, Audring/Masini 2019 und Lieber 2020; zu den wenigen deutschsprachigen Lehrbüchern gehören Bergenholtz/Mugdan 1979, Heringer 2009 und Elsen 2014; zum Engl. liegen u.a. die Einführungen von Schmid 2016, Carstairs-McCarthy 2018 und Lieber 2021 vor sowie das Handbuch von Bauer/Lieber/Plag 2013.) Dass sich die Morphologie mit der inneren Struktur von Wörtern befasst, unterscheidet sie von der Syntax, die deren äußere Verbindungen zu größeren Einheiten (Phrasen, Sätzen usw.) untersucht. Das Wort ist somit die größte Einheit der Morphologie; die kleinste ist das minimale sprachliche Zeichen (Minimalzeichen), für das oft der mehrdeutige Terminus Morphem benutzt wird. Wenn die Morphologie gelegentlich als Morphemik oder Morphematik bezeichnet wird, wird damit hervorgehoben, dass das Morphem die zentrale Einheit der Morphologie sei. Jedenfalls sind die grundlegenden Einheiten der Morphologie sprachliche Zeichen, in denen Ausdruck und Inhalt verbunden sind, wogegen die Phonologie und die Semantik die Ausdrucks‑ bzw. die Inhaltsseite der Sprache je für sich betrachten. In der traditionellen Grammatik und im Strukturalismus war die Morphologie eines der Kerngebiete, wogegen die amerikanische Generative Grammatik ihr wenig Aufmerksamkeit schenkte und ihre Aufgaben weitestgehend auf Phonologie und Syntax verteilte. Das hing auch damit zusammen, dass sie sich nicht mehr mit einer Vielzahl von Sprachen mit reichen morphologischen Systemen beschäftigte, sondern vorwiegend mit dem Englischen. Europäische Generativisten waren dagegen bestrebt, der Morphologie einen Platz zu geben (s. z.B. Kiefer 1975), und in den 1980er Jahren setzte auch in den USA eine Wiederentdeckung der Morphologie ein (s. insbesondere Anderson 1982). In der Folgezeit entstanden zahlreiche „Schulen“ (s. z.B. die Überblicke in Stewart 2016 sowie den Teilen „Morphological Frameworks“ in Hippisley/Stump 2016 und „Morphological Theories“ in Audring/Masini 2019 bzw. Lieber 2020). Sie unterscheiden sich in ihren Interessenschwerpunkten sowie unter anderem darin, inwieweit sie Flexion und Wortbildung trennen und in welchen Modulen des Sprachsystems sie sie ansiedeln, ob sie eher die Perspektive des Sprechers

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Morphologie, agglutinierende 470 (von Inhalt zu Ausdruck) oder die des Hörers (von Ausdruck zu Inhalt) einnehmen und wie sie das Verhältnis zwischen Listenwissen (Lexikon) und Regelwissen (Grammatik) sehen. Durch verschiedene Terminologien und Formalismen werden die Differenzen künstlich vergrößert und die substantiellen Meinungsverschiedenheiten schwerer erkennbar. Eine Überwindung dieser Fragmentierung ist nicht absehbar. Joachim Mugdan ≡ Formenlehre; Morphematik; Morphemik → § 6; Minimalzeichen; Morphem; Wort; Wortbildungslehre ⇀ Morphologie (Gram-Formen; CG-Dt; Onom) ⇁ morphology (Typol; CG-Engl; TheoMethods)

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🕮 Anderson, S.R. [1982] Where's Morphology? In: LingInqu 13: 571–612 ◾ Audring, J./ Masini, F. [eds. 2019] OHMT. Oxford ◾ Bauer, L. [2019] Rethinking Morphology. Edinburgh ◾ Bauer, L./ Lieber, R./ Plag, I. [2013] The Oxford Reference Guide to English Morphology. Oxford ◾ Bergenholtz, H./ Mugdan, J. [1979] Einführung in die Morphologie. Stuttgart ◾ Booj, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg. 2000, 2004] Morphologie (HSK 17.1/2). Berlin [etc.] ◾ Carstairs-McCarthy, A. [2018] An Introduction to English Morphology. 2nd ed. Edinburgh ◾ Elsen, H. [2014] Grundzüge der Morphologie des Deutschen. 2., aktualis. Aufl. Berlin (etc.) ◾ Heringer, H.J. [2009] Morphologie. Paderborn ◾ Hippisley, A./ Stump, G. [eds. 2016] The Cambridge Handbook of Morphology. Cambridge ◾ Kiefer, F. [Hg. 1975] Morphologie und generative Grammatik. Frankfurt/Main ◾ Lieber, R. [ed. 2020] OEM. 3 Vol. New York ◾ Lieber, R. [2021] Introducing Morphology. 3rd ed. Oxford ◾ Salmon, P. [2000] The term morphology. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 15–22 ◾ Schmid, H.-J. [2016] English morphology and word-formation. 3rd revised and enlarged ed. Berlin ◾ Stewart, T.W. [2016] Contemporary Morphological Theories. Edinburgh.

Morphologie, agglutinierende → agglutinierende Morphologie

Morphologie, autosegmentale → autosegmentale Morphologie

Morphologie, fusionierende → fusionierende Morphologie

Morphologie, generative → generative Morphologie

Morphologie, inkorporierende → inkorporierende Morphologie

Morphologie, isolierende → isolierende Morphologie

Morphologie, konkatenative → konkatenative Morphologie

Morphologie, natürliche → natürliche Morphologie

Morphologie, nicht-konkatenative → nicht-konkatenative Morphologie

Morphologie, nicht-lineare → nicht-lineare Morphologie

Morphologie, polysynthetische → polysynthetische Morphologie

Morphologie, prosodische → prosodische Morphologie

Morphologie, subtraktive → subtraktive Morphologie

Morphologie-Syntax-Schnittstelle

Bereich, in dem syntaktische und morphologische Phänomene interagieren. ▲ morphology-syntax interface: area in which syntactic and morphological phenomena interact. Die Morphologie-Syntax-Schnittstelle bezieht sich auf einen breiten Phänomenbereich, in dem morphologische und syntaktische Prozesse ineinandergreifen. Zu den Gebieten, die in diesen Grenzbereich fallen, gehören Kausative, Applikative, Passive und Antipassive, bei denen das Hinzufügen morphologischen Materials die Argumentstruktur des Verbs verändert, und Nomeninkorporation, bei der ein verbales Argument zu einem Teil eines kompositumartigen Wortes zu werden scheint (Baker 1988). Zu den Schnittstellenphänomenen werden zuweilen auch Klitisierung, phrasale Verben, trennbare Präfixverben und phrasale Komposita gezählt. Innerhalb der distributed morphology (Halle/Marantz 2003) wird der gesamte Bereich der Flexion als ein Schnittstellenphänomen betrachtet. Im Allgemeinen stellen die Phänomene an der Grenze zwischen Syntax und Morphologie die größte Herausforderung an die lexikalische Integrität dar. Rochelle Lieber

→ Applikativ; Argumentstruktur; distributed morphology;

kausatives Verb; Nomeninkorporation; Partikelverb; passivisches Adjektiv; phrasales Verb; Phrasenkompositum

471

⇁ morphology-syntax interface (Woform)

🕮 Baker, M.C. [1988] Incorporation. A Theory of Grammatical Function Changing. Chicago, IL [etc.] ◾ Halle, M./ Marantz, A. [1993] Distributed Morphology and the Pieces of Inflection. In: Hale, K./ Keyser, S.J. [eds.] The View from Building 20. Cambridge, MA: 111–176 ◾ Haugen, J.D. [2015] Incorporation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin (etc.): 413–434.

morphologische Asymmetrie

angenommene Entsprechung von „unmarkierten“ und „markierten“ Akzidenzien grammatischer Kategorien mit kürzeren oder längeren Flexionsmorphemen. ▲ morphological asymmetry: supposed analogy between „unmarked“ and „marked“ forms of grammatical categories and shorter or longer inflection morphemes. Mayerthaler (1981) geht in seinem Konzept der morphologischen Natürlichkeit von einer universell gefassten semantischen Markiertheit der grammatischen Kategorien aus, worunter verstanden wird, dass es innerhalb der Akzidenzien wie Singular/Plural beim Numerus oder Präsens/ Präteritum beim Tempus oder Indikativ/Konjunktiv beim Modus (usw.) jeweils um Paare kognitiv unmarkierter, dem Sprecher näherliegender, und kognitiv markierter, dem Sprecher fernerliegender Akzidenzien gehe. Die kognitive („semantische“) Asymmetrie zweier „Kategorien“ schlage sich in einer entsprechenden Asymmetrie der morphologischen Symbolisierung nieder („konstruktioneller Ikonismus“). Morphologische Natürlichkeit liege dann vor, wenn in diesem Sinne einem „semantischen“ Mehr auch ein konstruktionelles Mehr entspreche, das heißt eine morphologisch aufwändigere, längere Symbolisierung (Wurzel 2001: 75). Die Wortformen, welche die „markierte“ Kategorie symbolisierten, müssten demnach längere Flexionsmorpheme aufweisen, also Pluralformen länger sein als Singularformen, Präteritumformen länger als Präsensformen, Konjunktivformen länger als Indikativformen (usw.). Wurzel (2001) legt in seiner Studie dar, dass das Prinzip des konstruktionellen Ikonismus in den natürlichen Sprachen aber nicht die oberste Priorität hat, sondern andere Parameter bei der Formierung der Flexionsformen eine größere Rolle spielen (zum theoretischen Hintergrund Meineke 1989).

morphologische Asymmetrie In einer anderen Weise verwendet Schmidt (1989) den Begriff der morphologischen Asymmetrie, und zwar als eine der Unterarten der „asymmetrischen Flexion“ (Schmidt 1989: 142). Der Begriff „asymmetrische Flexion“ solle sich auf Leerstellen in bestimmten Lexemklassen beziehen, das heißt in Gruppen von Wörtern, die sonst durch gleiches syntaktisches Verhalten (Distribution) und gleiche kategoriale Unterschiede gekennzeichnet seien. – Gemeint sind offenbar Wortarten. – Die Verwendung dieses Begriffs setze voraus, dass die bestehenden „Lücken“ an vergleichbaren Stellen der betroffenen Klasse mit „sprachlich immanenten Mitteln“ gefüllt seien, dass nämlich in einem Subsystem oder einer Subklasse entsprechende Einheiten überhaupt existierten oder formal klar differenziert erscheinen würden. Die Lücke lasse sich also durch den Vergleich mit anderen Einheiten derselben Lexemklasse analysieren. Je nachdem, ob die Leerstelle bei dem „signifiant“ eines bestimmten Wortes oder im Fehlen eines ganzen „signe“ bestehe, ließen sich zwei Arten asymmetrischer Flexion unterscheiden (Schmidt 1989: 142). Eine von ihnen ist nach Schmidt die morphologische Asymmetrie. Lücken, die mit dem Begriff „morphologische Asymmetrie“ bezeichnet würden, seien in gewissen Lexemklassen bei kontext-isolierter Betrachtung einzelner Wörter feststellbar. Hierunter falle beispielsweise die in den romanischen Sprachen beobachtbare defektive Substantiv- und Adjektiv-Flexion, die zur Folge habe, dass das natürliche Geschlecht (im Gegensatz zum grammatischen Genus) bei „Namen zur Benennung von Lebewesen“ stellenweise an der Form nicht erkennbar sei bzw. dass aufgrund von fehlenden alternierenden adjektivischen Formen ein Genusaccord nicht möglich sei. Hierher gehörten auch Fälle von mangelnder Numerus-Markierung, wie sie das deutsche Wort Mädchen und das englische Wort sheep aufwiesen (Schmidt 1989: 143). Im Unterschied zu engl. the goat : the goats ist bei the sheep : the sheep der Kontrast zwischen Singular und Plural neutralisiert; insofern kommt hier eine morphologische Asymmetrie zu dem normalen Fall mit morphologisch signalisiertem Plural vor (vgl. Schmidt 1989: 143). Der Begriff „morphologische Asymmetrie“ solle also umfassen, was in der linguistischen Literatur auch als „Nullsignifikant“, „Gehalt ohne Träger“’,

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morphologische Konversion 472 „Nullmorphem“, „signe zéro“, „signe latent“, „signe implicite“ bekannt sei, jedoch nur bezogen auf einzelne Wörter in Lexemklassen. Unmarkiertheit formaler oder semantischer Art bei anderen Formen, u.a. bei grammatischen Morphemen in bestimmten Paradigmen und grammatischen Kategorien werde als Homophonie, Homonymie, Defektivität bzw. Neutralität bezeichnet (Schmidt 1995: 144).

→ Markiertheit; Nullmorphem

Eckhard Meineke

🕮 Luschützky, H.C. [2015] Word-formation in natural morphology. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin (etc.): 123–144 ◾ Mayerthaler, W. [1981] Morphologische Natürlichkeit. Wiesbaden ◾ Meineke, E. [1989] „Natürlichkeit“ und „Ökonomie“. Neuere Auffassungen des Sprachwandels. In: Sprw 14: 318–356 ◾ Schmidt, S. [1989] Theorie der sprachlichen Leerstelle und ihre Anwendung auf das Französische. Tübingen ◾ Wurzel, W.U. [2001] Flexionsmorphologie und Natürlichkeit. 2. Aufl. Berlin.

morphologische Konversion

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→ Konversion

morphologische Subkategorisierung

Kompatibilität eines Kopfs mit seiner syntaktischen Umgebung, die auch auf die Beschreibung der Wortstruktur übertragen wurde. ▲ morphological subcategorization: compatibility of a head with its syntactic environment that has also been carried over to the description of word structure. Lexikalische Köpfe besitzen als einen Teil ihrer lexikalischen semantischen Repräsentation eine Argumentstruktur (auch thematisches (Theta-) Raster genannt), welche die Anzahl und Art der Argumente spezifiziert, die sie in ihrer syntaktischen Umgebung erlauben oder benötigen. Verben können zum Beispiel verschiedenen Subkategorien zugeordnet werden, d.h. intransitiv, monotransitiv, ditransitiv etc., und somit nur ein externes, ein externes und internes oder auch ein externes und zwei interne Argumente, etc., verlangen. Nomen, Adjektive und Präpositionen werden ebenfalls anhand der Art ihrer Argumentstruktur subkategorisiert. In den frühen 1980er Jahren übertrug die Theorie der Wortstruktur (auch „Wortsyntax“ genannt) dieses Konzept auf die Struktur von komplexen Wörtern. Lieber (1981), Selkirk (1982), Höhle (1982), Toman (1983), DiSciullo/Williams (1987)

und andere betrachteten alle Morpheme, also Stämme und Affixe, als lexikalische Einheiten, die einen eigenen Eintrag im Lexikon besitzen und sich über Wortstrukturregeln miteinander verbinden. Lexeme können frei kombiniert werden, um Komposita wie car door ‘Autotür’, play ground ‘Spielplatz’ und smart phone zu produzieren. Affixe sind andererseits darauf spezialisiert, in bestimmten formalen Umgebungen zu erscheinen. So kann das englische Suffix -ness an Adjektive angehängt werden, um Nomen zu kreieren (new+ness ‘Neuheit’), während das Suffix -able eine verbale Basis verlangt (readable ‘lesbar’). Deshalb muss die Information darüber, mit welcher Art von Basis Suffixe erscheinen können, in ihren lexikalischen Einträgen als eine Subkategorisierung festgehalten werden. Lieber (1980) erfasste zum Beispiel die Subkategorisierungsinformation, dass -hood mit Nomen und Adjektiven (boyhood, falsehood) zur Bildung von abstrakten Nomen verbunden werden kann, auf folgende Weise (Spencer 1991: 202): (1) hood: [[[A], [N]] ___] [+abstract] Höhle charakterisierte die Umgebungen der deutschen Suffixe -ung und -bar wie in Tilgung und tilgbar wie in (2) und (3). Die Affixe -ung und -bar bilden Nomina bzw. Adjektiva und sind deshalb in ihrer kategoriale Kategorisierung (KC) für die Kategorien N bzw. A markiert. Beide Affixe verbinden sich beide mit der Wortart Verb (V) und bilden dabei ein Wort. d.h. eine Kategorie der Null (Wort-)Ebene (Höhle 1982: 82) (2) -ung [xo V [N __]] (3) -bar [xo V [A __]] Susan Olsen

→ Argumentstruktur; Lexikoneintrag (1); Wortstrukturregel; Wortstrukturtheorie

⇁ morphological subcategorization (Woform)

🕮 Di Sciullo, A.-M./ Williams, E. [1987] On the Definition of Word. Cambridge, MA [etc.] ◾ Höhle, T. [1982] Über Komposition und Derivation. Zur Konstituentenstruktur von Wortbildungsprodukten. In: ZS 1: 76–112 ◾ Lieber, R. [1981] The Organization of the Lexicon. Bloomington, IN ◾ Selkirk, E. [1982] The Syntax of Words. Cambridge, MA [etc.] ◾ Spencer, A. [1991] Morphological Theory. Oxford [etc.].

morphologische Wortbildungsanalyse

auf morphologische Eigenschaften von Wortbildungen bezogene Analyse. ▲ morphological word-formation analysis: analysis of the morphological properties of complex words.

473 „Die Analyse von Wortbildungen verfolgt das Ziel, Bildungstypen zu erkennen und auf diese Weise die Vielfalt der Bildungsmöglichkeiten in eine überschaubare Ordnung zu bringen.“ (Barz 2016: 661) Das geschieht, indem gemeinsame strukturelle, morphologische und semantische Eigenschaften der Wortbildungen einer Wortart ermittelt werden. Aus den ermittelten Invarianten werden Wortbildungen nach Wortbildungsarten und Wortbildungstypen geordnet. Wortbildungsarten ergeben sich aus strukturellen und morphologischen Eigenschaften von Wortbildungen und stellen Modellierungen auf einer sehr allgemeinen Ebene dar. Bei der morphologischen Wortbildungsanalyse sind der morphologische Status der Ausgangseinheiten sowie morphologische Merkmale und Bedingungen Gegenstand der Analyse. Als Ausgangseinheiten für neue Wörter fungieren einfache oder komplexe Wörter bzw. Wortstämme und Wortbildungsaffixe, auch Wortgruppen und gelegentlich Sätze sowie Konfixe. Fugenelemente, die als semantisch leere Segmente an der Nahtstelle zwischen den unmittelbaren Konstituenten von Komposita und Suffixderivaten auftreten können (Barz 2016: 662f.), werden im Allgemeinen bei der morphologischen Analyse mit erfasst. Nach Müller (1993: 33) ist eine „Strukturbeschreibung des Gesamtsystems der in einem Textkorpus nachweisbaren Wortbildungsmittel nach unterschiedlichen Prinzipien möglich, je nachdem, ob die Darstellung primär morphologischausdrucksseitig oder funktional-semantisch orientiert ist“. Das schließt nicht aus, dass die jeweils andere Sicht ebenfalls Berücksichtigung findet. So ist z.B. die Darstellung bei Fleischer/ Barz (2012) „der strukturell-morphologischen Betrachtungsweise verpflichtet, wobei die Wortbildungsbedeutung als Parameter der Modellierung grundsätzlich mit ermittelt, aber nicht zum Gliederungsprinzip erhoben wird (Fleischer/Barz 2012: 5). Barz (2016) gibt bei der Wortbildung von Verb, Substantiv und Adjektiv jeweils zunächst eine morphologische, dann eine semantische Charakteristik. Nachdem in der Wortbildungslehre zunächst überwiegend die morphologisch-formale Beschreibung von Wortbildungen im Vordergrund gestanden hatte, wurden zunehmend funktionalsemantische Aspekte in die Analyse einbezogen.

morphologisches template Diesen Ansatz verfolgt die Bestandsaufnahme verbaler, substantivischer und adjektivischer Wortbildungen des Instituts für deutsche Sprache mit dem Projekt „Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache“ (1973, 1975, 1978, 1991, 1992). Das funktional-semantische Prinzip dominiert auch bei Eichinger (2000), Motsch (2004), Erben (2006). Motsch (2004: 1) stellt Wortbildungsmuster „als Paare von semantisch-syntaktischen und phonologisch-morphologischen Beschreibungen“ mit ihren Regularitäten dar. Der phonologisch-morphologische Teil hat vor allem die Funktion, „das semantische Muster zu indizieren“, er kann semantische Strukturen „blockieren oder selegierend auf das semantische Muster zurückwirken“. Die phonologisch-morphologische Seite mit ihrem „spezifischen Anteil an dem Muster“ darf also ebenfalls nicht übergangen werden. Hannelore Poethe

→ § 5; Affix; Derivationssuffix; Fugenelement; Komposition;

Konfix; semantische Wortbildungsanalyse; Stamm; Wortbildungsart; Wortbildungsbedeutung; Wortbildungslehre; Wortbildungsmuster; Wortbildungstyp

🕮 Barz, I. [2016] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 9., vollst. überarb. u. aktual. Aufl. Berlin: 644–774 ◾ Eichinger, L.M. [2000] Deutsche Wortbildung. Tübingen ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Kühnhold, I./ Putzer, O./ Wellmann, H. [1978] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 3. Hauptteil: Das Adjektiv. Düsseldorf ◾ Kühnhold, I./ Wellmann, H. [1973] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 1. Hauptteil: Das Verb. Düsseldorf ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Müller, P.O. [1993] Substantiv-Derivation in den Schriften Albrecht Dürers. Ein Beitrag zur Methodik historisch-synchroner Wortbildungsanalysen. Berlin [etc.] ◾ Ortner, L./ Müller-Bollhagen, E./ Ortner, H./ Wellmann, H./ Pümpel-Mader, M./ Gärtner, H. [1991] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 4. Hauptteil: Substantivkomposita. Berlin [etc.] ◾ Pümpel-Mader, M./ Gassner-Koch, E./ Wellmann, H. / Ortner, L. [1992] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 5. Hauptteil: Adjektivkomposita und Partizipialbildungen. Berlin ◾ Wellmann, H. [1975] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 2. Hauptteil: Das Substantiv. Düsseldorf.

morphologisches template

Raster von Positionsklassen, die in einer festen Abfolge auftreten und der die Morpheme einer Sprache zugewiesen werden, um ihre Anordnung und

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morphology, distributed 474 diskontinuierliche Abhängigkeiten zwischen ihnen zu erfassen. ▲ morphological template: series of position classes occurring in a fixed order to which the morphemes of a language are assigned to account for their order and for discontinuous dependencies between them. Das morphologische template [dt. ‘Raster’] ist ein Element, das in der „templatic morphology“ dazu verwendet wird, um komplexe Abfolgen von Morphemen in der athapaskischen und einigen weiteren Sprachfamilien zu erfassen. Templates können Informationen über Grenzen zwischen Elementen und über diskontinuierliche Abhängigkeiten zwischen Morphemen kodieren. Der Verbstamm im Navaho, eine athapaskische Sprache aus New Mexico, weist bspw. eine Reihe von Präfixen auf, die sich nach dem Schema im folgenden template anordnen, vgl. Spencer (1991: 208f.). Tab. 1: Das Verb im Navaho I

M

II

III

IV

V

VI VII

VIII

IX S

TH ITER DIST DO SUBJ TH MODE/ASP SUBJ CL Stamm

Morpheme werden festen Positionen im template zugewiesen, und oft sind die Morpheme der jeweiligen Klassen komplementär. Die obligatorischen Positionen im obigen template sind: X (= Stamm), IX (= CL ‘Klassifizierer’), VIII (= SUBJ ‘Subjekt-Kongruenz-Marker’), und VII (= Modus). Bei einem transitiven Verb muss die Position IV (= Objekt-Marker) auch belegt sein. Der Ansatz eines morphologischen templates führt oft dazu, dass Nullaffixe angenommen werden müssen: Weil es nicht immer notwendig ist, dass jeder Slot des templates mit einem manifesten Affix besetzt sein muss, und weil in der „templatic morphology“ weithin angenommen wird, dass jeder Slot in irgendeiner Form besetzt sein muss, ist man gezwungen, Slots mit Nullmorphemen zu besetzen, wenn ein manifestes Affix fehlt. Dies gilt bspw. für die nicht-obligatorischen Positionen sowie auch für ein direktes Objekt in der 3.ps.sg. bei einigen Verben im Navaho. Dies ist ein Grund, warum nicht alle Theoretiker davon überzeugt sind, dass das morphologische template ein notwendiges theoretisches Element ist. Rice (2000) z.B. argumentiert, dass das Verb im Slavey, auch eine athapaskische Sprache, durch

eine hierarchisch strukturierte Repräsentation adäquater erfasst werden kann. Rochelle Lieber

→ hierarchische Struktur; Morphotaktik; Nullallomorph; Nullmorphem; templatische Morphologie

⇁ morphological template (Woform)

🕮 Rice, K. [2000] Morpheme Order and Semantic Scope. Cambridge ◾ Spencer, A. [1991] Morphological Theory. Oxford.

morphology, distributed → distributed morphology

morphology, replacive → replacive morphology

morphology, templatic

→ templatische Morphologie

Morphonemik

≡ Morphonologie

Morphonologie

Teilgebiet der Linguistik, das sich mit den phonologischen Beziehungen zwischen den Allomorphen eines Morphems befasst. ▲ morphonology: linguistic subdiscipline dealing with the phonological relationships between the allomorphs of morphemes. Die Bezeichnung Morphonologie (neben der auch Morphophonologie anzutreffen ist), stammt aus der Prager Schule (s. Trubetzkoy 1929), während Morphophonemik (oder auch Morphonemik) aus der amerikanischen Tradition kommt (s. Harris 1951: 219–242). Zentrales Anliegen dieser Teildisziplin ist es, für phonologisch verwandte Allomorphe eines Morphems eine einzige Repräsentation zu finden. Dafür gibt es im Wesentlichen zwei Ansätze, die am Beispiel des Morphems {Wald} mit den Allomorphen /valt/ (in Wald, Waldboden), /vald/ (in [des] Waldes), /vɛlt/ (in Wäldchen) und /vɛld/ (in Wälder) illustriert seien. Die Unterschiede zwischen diesen Allomorphen lassen sich auf zwei Alternationen (Wechsel) zwischen Phonemen zurückführen, /a/~/ɛ/ und /t/~/d/, die in den Allomorphen zahlreicher anderer deutscher Morpheme ebenfalls vorkommen, auch unabhängig voneinander (zu einer Typologie von Alternationen s. bereits Baudouin de Courtenay 1895). Der statische Ansatz, der für einige Richtungen des Strukturalismus typisch ist, führt besondere

475 Elemente ein, die diesen Alternationen entsprechen (s. Akamatsu 2000). Ein Element, das auf der Ebene der Phoneme angesiedelt ist, ist das Archiphonem (s. Jakobson 1929: 8f.; Akamatsu 2000: 492–494), ein Bündel phonologischer Merkmale, die zwei oder mehr Phonemen gemeinsam sind. Beispielsweise kann man das Archiphonem /D/ ansetzen, das die gemeinsamen Merkmale von /t/ und /d/ hat, aber nicht für die Stimmhaftigkeit spezifiziert ist, die die beiden Phoneme unterscheidet. Dann lassen sich /valt/ und /vald/ zu /‌valD/ zusammenfassen. Im Auslaut wird /D/ um das Merkmal [‑stimmhaft] zu /t/ ergänzt, sonst um [+stimmhaft] zu /d/. Ob eine solche Lösung auch für /a/~/ɛ/ möglich ist, hängt davon ab, mit welchen Merkmalen man das deutsche Vokalsystem beschreiben will. Dagegen kann ein Morphophonem eine beliebige Alternation repräsentieren; es steht auf einer eigenen Ebene „über“ der der Phoneme (s. Trubetzkoy 1929; Akamatsu 2000: 490– 492; vgl. auch Harris 1951: 219–242). So kann man die Morphophoneme //A//=/a/~/ɛ/ und //D//=/t/~/d/ definieren; zu nicht alternierenden Phonemen gibt es ebenfalls entsprechende Morphophoneme, z.B. //v//=/v/ und //l//=/l/. Damit lassen sich die vier Allomorphe von {Wald} auf der Morphophonem-Ebene zu //vAlD// zusammenfassen. Während Archiphoneme, Morphophoneme und dergleichen als theoretische Konstrukte keine breite Akzeptanz gefunden haben, werden Großbuchstaben verschiedentlich als praktische Kürzel für Alternationen (z.B. bei Vokalharmonie) genutzt. Der dynamische Ansatz wird in erster Linie von der Generativen Phonologie vertreten, hat aber ältere Wurzeln (vgl. Mugdan 1984: 61–79, 175–182 zu Jan Baudouin de Courtenay; Bloomfield 1933: 211f.). Er geht von einer zugrundeliegenden Repräsentation aus, die durch eine Reihe von Ersetzungsregeln verändert wird (s. Chomsky/ Halle 1968: 7–14; Gussmann 2000). Nimmt man beispielsweise für {Wald} die zugrundeliegende Repräsentation |vald| an, so kann man die anderen Allomorphe mit den Regeln /d/→/t/ und /a/→/ɛ/ herleiten, wobei erstere im Auslaut gilt und letztere u.a. vor /ər/ ‘plural’ (in Wälder) und /xən/ ‘diminutiv’ (in Wäldchen). Die Regeln können also sowohl an phonologische als auch an morphologische Bedingungen geknüpft sein. Welche Typen von Regeln man unterscheidet, hat Einfluss darauf, wie Phonologie und Morphologie

morphosemantische Motivation gegeneinander abgegrenzt werden und ob die Morphonologie als ein von beiden zu trennender dritter Bereich angesehen wird. Joachim Mugdan ≡ Morphonemik; Morphophonemik; Morphophonologie → Allomorph; Morphem ⇀ Morphonologie (Gram-Formen; Phon-Dt)

🕮 Akamatsu, T. [2000] Generalized representations. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 489–499 ◾ Baudouin de Courtenay, J. [1895] Versuch einer Theorie phonetischer Alternationen. Ein Capitel aus der Psychophonetik. Straßburg ◾ Bloomfield, L. [1933] Language. New York ◾ Chomsky, N./ Halle, M. [1968] The Sound Pattern of English. New York [etc.] ◾ Gussmann, E. [2000] Underlying representations. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 499–510 ◾ Harris, Z.S. [1951] Methods in Structural Linguistics. Chicago ◾ Jakobson, R. [1929] Remarques sur l’évolution phonologique du russe comparée à celle des autres langues slaves. Prague ◾ Mugdan, J. [1984] Jan Baudouin de Courtenay (1845–1929). Leben und Werk. München ◾ Troubetzkoy, N.S. [1929] Sur la „morphonologie“. In: Mélanges linguistiques dédiés au premier congrès des philologues slaves. Prague: 85–88.

Morphophonemik ≡ Morphonologie

Morphophonologie

≡ Morphonologie ⇀ Morphophonologie (Phon-Dt)

morphosemantische Motivation

Erschließbarkeit der lexikalischen Bedeutung einer Wortbildung aus der Bedeutung ihrer unmittelbaren Konstituenten und deren Beziehung zueinander bzw. – bei Konversionsprodukten – aus der Beziehung zur jeweiligen Basis und aus deren lexikalischer Bedeutung. ▲ morphosemantic motivation: analyzability of the lexical meaning of a word-formation based on the meaning of its immediate constituents and their relation to each other or – in conversions – based on the relation to the meaning of the base. Durch Wortbildung entstehen neue Wörter (Wortstämme) auf der Grundlage und mit Hilfe vorhandener Sprachzeichen. Dabei sind morphologisch motivierte Bildungen aufgrund der Benennungsmotive sowohl morphologisch als auch semantisch mit ihren Ausgangseinheiten verbunden: dt. Umweltverschmutzung ‘Verschmutzung der Umwelt’, Unglück ‘kein Glück’, Alleinstehender ‘jmd., der alleinstehend ist’, engl. unnecessary

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Morphotaktik 476

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‘not necessary’. Allerdings stimmen auch bei motivierten Bildungen lexikalische Bedeutung und Motivationsbedeutung selten überein, vgl. engl. pocket-book/dt. Taschenbuch: ‘ein relativ billiges Buch in einem kleinen Format und ohne festen Einband’ vs. ‘Buch für die Tasche’. Die Benennungsmotive vermitteln die lexikalische Bedeutung, sind jedoch nicht mit ihr identisch. Welche Eigenschaften des Benennungsobjektes als Benennungsmotive gewählt werden, hängt zudem von den jeweiligen kommunikativen Absichten ab, vgl. Fremdenführer vs. Gästeführer. Nach Schippan (2002: 100) müssen zwei Bedingungen gegeben sein, um von morphologischer Motivation sprechen zu können: 1. Das Benennungsmotiv muss in einer direkten Beziehung zur Gesamtbedeutung einer Bildung stehen, es muss relevante Merkmale des Begriffs verbalisieren. 2. Das Benennungsmotiv muss den Sprachbenutzern bewusst sein. Benennungsmotive können verblassen. Wortbildungen als Benennungseinheiten tendieren zu einer ganzheitlichen Semantik, die sich nicht mehr ohne weiteres aus der Bedeutung der Ausgangseinheiten ableiten lässt. Sie tendieren zur Demotivation. Anja Seiffert

→ Demotivation; Motivation; Motivationsgrad; motivierte Bildung

🕮 Bellmann, G. [1988] Motivation und Kommunikation. In: Munske, H.H./ von Polenz, P./ Reichmann, O./ Hildebrandt, R. [Hg.] Deutscher Wortschatz. Lexikologische Studien. Berlin [etc.]: 3–23 ◾ Fill, A. [1980] Wortdurchsichtigkeit im Englischen. Innsbruck ◾ Marzo, D. [2015] Motivation, compositionality, idiomatization. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin (etc.): 984–1001 ◾ Schippan, T. [2002] Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen ◾ Schröder, M. [1980] Zum Zusammenhang zwischen Benennungsmotiv, Motivbedeutung und Wortbedeutung. In: DaF 1980: 327–330.

Morphotaktik

Teilgebiet der Morphologie, das sich mit der Anordnung von Morphemen in Wörtern befasst. ▲ morphotactics: subdiscipline of morphology that deals with the order of morphemes in words. Der Teminus Morphotaktik stammt aus dem amerikanischen Strukturalismus (s. Hill 1958: 68, 115–137), in dem das „Item-and-Arrangement“Modell eine wichtige Rolle spielte. Es ging davon

aus, dass jede sprachliche Ebene durch ein Inventar von Elementen und die Gesetzmäßigkeiten ihrer Anordnung zu beschreiben ist, die morphologische Ebene also durch ein Inventar von Morphemen und Aussagen über ihre Kombinierbarkeit zu Wörtern. Eine Möglichkeit, den Aufbau von Wörtern einer bestimmten Klasse zu beschreiben, ist ein Raster (engl. template) mit einer bestimmten Anzahl von Positionen (engl. slots oder position classes) vor und/oder nach dem Stamm (s. z.B. Elson/Pickett 1983: 10–16; Lieber/Mugdan 2000: 412; Stump 2006; Rice 2011: 188–193). Jede Position kann mit einem Morphem gefüllt sein, das unter mehreren einander ausschließenden gewählt werden muss, oder auch leer bleiben kann. Dabei kann es Abhängigkeiten geben wie „Position j kann nur gefüllt sein, wenn auch Position i gefüllt ist“ oder „wenn Position i mit dem Element x gefüllt ist, kann Position j nicht mit dem Element y gefüllt sein“ usw. Dennoch werden die Positionen quasi gleichzeitig gefüllt und nicht in einer bestimmten Reihenfolge. Die Anordnung der Positionen ist zwar bis zu einem gewissen Grad willkürlich, folgt aber oft Prinzipien wie „Flexionsmorpheme stehen außerhalb von Derivationsmorphemen“ oder allgemeiner „Morpheme stehen umso näher am Stamm, je größer ihre Relevanz für die Bedeutung des Stamms ist“ (s. Bybee 1985: 33–35). Ein anderer Ansatz, der auf die Analyse in unmittelbare Konstituenten (engl. immediate constituents) zurückgeht (vgl. Bloomfield 1933: 209f.; Hockett 1958: 240f.), arbeitet mit hierarchischen Strukturen (s. z.B. Bergenholtz/Mugdan 1979: 116–125 für das Deutsche). Sie können durch Ersetzungsregeln erzeugt werden. So gilt für deutsche Adjektive, dass sie aus einem Stamm und einem Flexionssuffix bestehen: (1) Wort → Stamm + Flexionssuffix Der Stamm kann einfach sein, d.h. mit einer Wurzel übereinstimmen: (2) Stamm → Wurzel Es können aber auch durch rekursive Derivations- und/oder Kompositionsregeln komplexere Stämme erzeugt werden: (3) Stamm → Derivationspräfix + Stamm (4) Stamm → Stamm + Derivationssuffix (5) Stamm → Stamm + Stamm Abb. 1 zeigt die Struktur der Adjektivformen verunsicherte und unversicherte (z.B. in die ver-

477 Motivation unsicherte/unversicherte Kundin), bei denen die Regeln (3) und (4) in unterschiedlicher Reihenfol-

ge anzuwenden sind (die Bildung von Partizipien wird hier als Derivation eingestuft).

Wort

Wort

Stamm Stamm Derivationspräfix

Flexionssuffix

Stamm

Derivationssuffix

Stamm

Stamm

Derivationspräfix

un

sicher

Stamm

Derivationssuffix

Derivationspräfix Wurzel

Derivationspräfix Wurzel ver

Flexionssuffix

t

e

un

ver

sicher

t

e

Abb. 1: Baumdiagramme für verunsichert und unversichert

In diesem Fall entspricht die semantische Reichweite (engl. scope) der Negation un- der hierarchischen Struktur: In verunsichert modifiziert un- nur sicher, in unversichert dagegen versichert. Allerdings kommt es auch vor, dass Affixe in unterschiedlicher Reihenfolge auftreten, ohne dass sich die semantischen Interpretationen unterscheiden (s. Mugdan 2015: 250f. mit weiterer Literatur). Für manche sprachlichen Teilsysteme eignet sich eher das „flache“ Modell, für andere das hierarchische. Wortbildung ist generell hierarchisch, während Flexion oft am einfachsten mit einem Raster beschrieben werden kann. Joachim Mugdan

→ hierarchische Struktur; Item-and-Arrangement-Modell;

morphologisches template; Stamm; unmittelbare Konstituente; Wort ⇀ Morphotaktik (QL-Dt) ⇁ morphotactics (Typol)

🕮 Bergenholtz, H./ Mugdan, J. [1979] Einführung in die Morphologie. Stuttgart ◾ Bloomfield, L. [1933] Language. New York ◾ Bybee, J.L. [1985] Morphology. A Study of the Relation between Meaning and Form. Amsterdam [etc.] ◾ Elson, B./ Pickett, V. [1983] Beginning Morphology and Syntax. Dallas, TX ◾ Hill, A.A. [1958] Introduction to Linguistic Structures. New York [etc.] ◾ Hockett, C.F. [1958] A Course in Modern Linguistics. New York ◾ Mugdan, J. [2015] Units of word-formation. In: Müller, P. O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 235–301 ◾ Rice, K. [2011] Principles of affix ordering. In: WStr 4: 169–200 ◾ Stump, G.T. [2006] Template morphology. In: Brown, K. [ed.] Encyclopedia of Language and Linguistics. 2nd ed. Vol. 11. Amsterdam: 559–562.

Motionsmorphem

≡ Movierungsmorphem

Motivation

Beziehung zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem, bei der die Beschaffenheit der Bezeich-

nung durch Merkmale oder Eigenschaften des Bezeichnungsobjektes begründet ist. ▲ motivation: relationship between a designated object and its designation in which the nature of the designation is founded in the features or properties of the designated object. Die Frage nach dem Verhältnis von Arbitrarität einerseits und Konventionalität bzw. Motivation sprachlicher Zeichen andererseits hat eine lange Tradition (vgl. Coseriu 1967). Seit de Saussure gelten sprachliche Zeichen grundsätzlich als arbiträr. Die Verbindung zwischen der Laut- bzw. Buchstabenfolge [baum] und ihrer Bedeutung beruht auf einer Konvention, vgl. dt. Baum/engl. tree/frz. arbre/tsch. strom/russ. derevo. Zwischen der Ausdrucksseite (signifiant) und der Inhaltsseite (signifiè) sprachlicher Zeichen besteht in der Regel keine natürliche Beziehung. Das Prinzip der Arbitrarität sprachlicher Zeichen gilt freilich keineswegs uneingeschränkt, darauf hat bereits de Saussure hingewiesen. Es wird ergänzt durch das Prinzip der Motivation. Arbitrarität und Motivation sind eng miteinander verbunden und natürliche Sprachen kommen offenbar weder ohne das eine noch ohne das andere aus. Wir benennen Objekte nach Merkmalen und nutzen dabei vorhandenes sprachliches Material. Die Merkmale (Motive) ergeben sich aus kommunikativen und kognitiven Bedürfnissen der Sprachträger. Sie können mit der Zeit aus dem Bewusstsein der Sprachgemeinschaft verschwinden, Demotivation tritt ein. Es lassen sich verschiedene Arten der Motivation unterscheiden: 1. Phonetisch-phonemische Motivation. Bei einer vergleichsweise geringen Zahl von Wörtern, die in der Regel Laute oder Lautträger bezeichnen, besteht ein direkter, natürlicher Zusammenhang

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Motivation, figurative 478

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zwischen Laut(komplex) und Bedeutung. Es handelt sich dabei um schallnachahmende Wörter (Onomatopoetika) wie dt. miauen/engl. meow, dt. Kuckuck/engl. cuckoo, dt. Uhu/engl. to ring, to clink oder um Bildungen mit schallnachahmenden Affixen wie engl. -ash (vgl. crash, flash, dash), das eine schnelle, plötzlich endende Bewegung anzeigt (Marchand 1969). Die Motivation hat hier imitativen Charakter. Das Formativ erfasst jedoch nur bestimmte, typische Merkmale und ist geprägt durch die Phonematik der jeweiligen Sprache. Dies zeigt ein Vergleich onomatopoetischer Wörter verschiedener Sprachen, etwa dt. Kuckuck – engl. cuckoo – frz. coucou – russ. kukuška bzw. dt. wau-wau – engl. bow-bow – frz. oua-oua – russ. vaf-vaf. 2. Morphosemantische Motivation. Bei Wortbildungen bringen die Ausgangseinheiten – Wörter, Affixe und Konfixe – ihre Bedeutungen in die Struktur der Wortbedeutung ein (Frege-Prinzip). Aufgrund der Motivationsbedeutung lässt sich die lexikalische Bedeutung einer motivierten Bildung aus der Bedeutung ihrer umittelbaren Konstituenten und deren Beziehung zueinander bzw. – bei Konversionsprodukten – aus der Beziehung zur jeweiligen Basis erschließen: dt. Klimaschutz ‘Schutz des Klimas’, dt. uninteressant/engl. uninteresting ‘nicht interessant’, engl. retell ‘to tell again’. 3. Figurative Motivation. Von figurativer oder semantischer Motivation spricht man bei metaphorischer oder metonymischer Bedeutungsübertragung, wenn zwischen der primären und sekundären Bedeutung synchron eine Beziehung besteht, vgl. dt. am Fuß des Berges/engl. the foot of a mountain, dt. Esel/engl. ass ‘Dummkopf, Tölpel’. 4. Zeichenfeldmotivation. Die Zeichenfeldmotivation entsteht nach Bellmann (1988) durch die Zugehörigkeit eines Wortes zu einem Wortfeld. Das Wortfeld bestimmt die Bedeutung mit, es hat motivierende Kraft (vgl. Bally 1940). 5. Situative Motivation. Hier besteht die Motivation darin, „daß durch Sprachzeichen ein bestimmtes, besonders ausgeprägtes Millieu assoziiert wird, genauer: daß Sprachzeichen durch den außersprachlichen Bereich auf dem Wege über die entstehenden Texte eine spezifische Situationsprägung erhalten können, die auch außerhalb der originären Situation nachwirkt, und zwar mindestens dadurch, daß sie Angemessenheitsfragen aufwirft“ (Bellmann 1988: 6). Vor

allem Sozialschichten (engl. crumpet ‘Kopf’) und Funktionalstile (Appendizitis ‘Blinddarmentzündung’), aber auch Ideologien kommen als situativ motivierend in Betracht, vgl. dt. Kollektiv (vs. Team), das die noch immer wirksame Situierung „DDR-spezifisch“ besitzt. Anja Seiffert ≡ Motiviertheit; Motivierung ↔ Arbitrarität; Demotivation → Benennungsmotiv; figurative Motivation; Mehrfachmotivation; Metaphorisierung; Metonymisierung; morphosemantische Motivation; Motivationsbasis; Motivationsdichte; Motivationsgrad; motivierte Bildung; Onomatopoetikum; Remotivation; sekundäre Motivation; Unmotiviertheit ⇀ Motivation (Lexik; CG-Dt) ⇁ motivation (Typol)

🕮 Bally, C. [1940] L'arbitraire du signe. Valeur et signification. In: FrM 8: 193–206 ◾ Bellmann, G. [1988] Motivation und Kommunikation. In: Munske, H.H./ von Polenz, P./ Reichmann, O./ Hildebrandt, R. [Hg.] Deutscher Wortschatz. Lexikologische Studien. Berlin [etc.]: 3–23 ◾ Conrad, R. [1985] Zu den Beziehungen zwischen Arbitrarität und Motiviertheit in der Zeichenkonzeption Ferdinand de Saussures. In: ZPSK 38: 107–111 ◾ Coseriu, E. [1968] L’arbitraire du signe. Zur Spätgeschichte eines aristotelischen Begriffes. In: ArchStNeuSpLit 204: 81–112 ◾ de Saussure, F. [1967] Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. 2. Aufl. Berlin ◾ Fill, A. [1980] Wortdurchsichtigkeit im Englischen. Innsbruck ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Gauger, H.-M. [1971] Durchsichtige Wörter. Zur Theorie der Wortbildung. Heidelberg ◾ Käge, O. [1980] Motivation. Probleme des persuasiven Sprachgebrauchs, der Metapher und des Wortspiels. Göppingen ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Marzo, D. [2015] Motivation, compositionality, idiomatization. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin (etc.): 984–1001 ◾ Schippan, T. [2002] Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache. 2., unveränd. Aufl. Tübingen ◾ Schröder, M. [1982] Zur Durchschaubarkeit der Bedeutung motivierter Wortbildungskonstruktionen in der deutschen Gegenwartsprache. In: LingArber 36: 79–88 ◾ Shaw, J.H. [1979] Motivierte Komposita in der deutschen und englischen Gegenwartssprache. Tübingen.

Motivation, figurative → figurative Motivation

Motivation, morphosemantische → morphosemantische Motivation

Motivation, phonetisch-phonematische → Onomatopoiie

Motivation, sekundäre → sekundäre Motivation

479 Motivationsbedeutung

Motivation, semantische → figurative Motivation

Motivationsbasis

Ausgangseinheit für ein Derivat oder Konversionsprodukt, durch die die entsprechende Bildung synchron motiviert ist. ▲ motivated base: basic unit of a derivative or a conversion by which the formation is motivated synchronically. Als Motivationsbasis kommen strukturell verschiedene Einheiten in Betracht: Wörter (engl. happy für unhappy, happiness), syntaktische Fügungen (dt. zwei Silben für zweisilbig), Konfixe (dt. fanat- für fanatisch). Bei analog-holistischen Bildungen, die auf eine bereits vorhandene Wortbildung zurückgehen, bildet diese als individuelles Muster für eine analogische Neubildung die Motivationsbasis, vgl. dt. Nachtigall > Tagtigall, offensichtlich > offenhörlich. Anja Seiffert

→ Analogiebasis; Konfix; Motivation; Motivationsdichte

🕮 Wellmann, H. [1975] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 2. Hauptteil: Das Substantiv. Düsseldorf.

Motivationsbedeutung

Bedeutung einer Wortbildung, die sich aus der lexikalischen Bedeutung der Konstituenten und deren Beziehung zueinander bzw. bei Konversionsprodukten aus der lexikalischen Bedeutung der Basis und der Beziehung zwischen Basis und Wortbildung ergibt. ▲ motivated meaning: meaning of a word form that arises from the lexical meaning of the constituents and their relation to one another, or, with conversion pairs, from the lexical meaning of the base and the relation between the base and the word form. In der Motivationsbedeutung spiegelt sich die Beziehung zwischen Wortbildungsbedeutung und lexikalischer Bedeutung wider (Poethe 2014: 33). Während der Terminus „Wortbildungsbedeutung“ die verallgemeinerbare semantische Beziehung zwischen den unmittelbaren Konstituenten einer Wortbildung bzw. zwischen Basis und Wortbildung bezeichnet und mithin eine semantische Invariante entsprechender Bildungen bei mehr oder weniger variabler lexikalischer Auffüllung abbildet, ist die Motivationsbedeutung zusätzlich

an die lexikalische Bedeutung der Konstituenten gebunden. Die Motivationsbedeutung ergibt sich „aus den Konstituentenbedeutungen, der Reihenfolge der Konstituenten und der Wortbildungsbedeutung, bei nichtbinären Wortbildungen aus der Beziehung zur jeweiligen Basis“ (Fleischer/Barz 2012: 44). Die Wortbildungsbedeutung ist demnach Teil der Motivationsbedeutung, jedoch nicht mit ihr identisch. Wortbildungen wie dt. Leser, Sprecher, Zuschauer haben die gleiche Wortbildungsbedeutung (nomen agentis), unterscheiden sich aber in ihrer Motivationsbedeutung: Leser ‘jmd., der liest’; Sprecher ‘jmd., der spricht’; Zuschauer ‘jmd., der zuschaut’. Darüber hinaus ist die Motivationsbedeutung auch von der lexikalischen Bedeutung abzugrenzen, mit der sie nur im Ausnahmefall, bei vollständiger morphosemantischer Motivation, (nahezu) übereinstimmt. So lässt sich etwa die lexikalische Bedeutung von Nachrichtensprecher (‘jmd., der [in Funk oder Fernsehen] die Nachrichten spricht’) relativ eindeutig aus der Motivationsbedeutung (‘jmd., der die Nachrichten spricht’ bzw. ‘Sprecher der Nachrichten’) ableiten, wenngleich auch hier zusätzliches Welt- und Sachwissen einbezogen wird (vgl. ‘in Funk oder Fernsehen’). In der Regel weicht die lexikalische Bedeutung demnach von der Motivationsbedeutung mehr oder weniger deutlich ab (vgl. Poethe 2014: 33), mitunter korrespondieren beide nur noch entfernt miteinander, vgl. dt. Tischler (‘jmd., der beruflich Holz und andere Materialien verarbeitet und Gebrauchsgegenstände, vor allem Möbel, daraus herstellt, bearbeitet oder einbaut’). Durch die Motivationsbedeutung (‘jmd., der Tische herstellt’) wird hier allenfalls „ein eher unwesentlicher Teilaspekt der lexikalischen Bedeutung ‚angezeigt‘“ (Fleischer/Barz 2012: 45). Aus der Differenz zwischen Motivationsbedeutung und lexikalischer Bedeutung einer Bildung lässt sich deren Motivationsgrad ermitteln. Je stärker die lexikalische Bedeutung von der Motivationsbedeutung abweicht, desto geringer ist der Motivationsgrad einer Bildung. So ist etwa der Motivationsgrad von engl. holiday (‘holy day’ vs. ‘a day of festivity or recreation when no work is done’) geringer als der von birthday (‘the day of [a person's] birth’). Darüber hinaus lässt sich aus der Motivationsbedeutung von Wortneubildungen mitunter auf die Intention hinsichtlich

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Motivationsdichte 480 der Bewertung des bezeichneten Sachverhalts schließen, vor allem dann, wenn es konkurrierende Benennungen gibt, vgl. dt. Seniorenheim vs. Seniorenresidenz (vgl. hierzu auch Barz/Schröder 2001: 191). Als Hilfsmittel zur Bestimmung der Motivationsbedeutung dient die Wortbildungsparaphrase. Anja Seiffert ≡ Konstruktionsbedeutung → § 30; Motivationsgrad; Wortbildungsbedeutung; Wortbildungsparaphrase

🕮 Barz, I./ Schröder, M. [2001] Grundzüge der Wortbildung. In: Fleischer, W./ Helbig, G./ Lerchner, G. [Hg.] Kleine Enzyklopädie – deutsche Sprache. Frankfurt/Main [etc.]: 178–217 ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Poethe, H. [2014] Wortbildungen im Schnittpunkt von Wortartbedeutung, Wortbedeutung, Wortbildungsbedeutung und Motivationsbedeutung. In: Michel, S./ Tóth, J. [Hg.] Wortbildungssemantik zwischen Langue und Parole. Stuttgart: 23–38.

Motivationsdichte

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Raum-Zeit-Relation einer angenommenen Motivationsbeziehung zwischen Motivationsbasis und Wortbildungsprodukt in der sprachhistorisch-synchronen Wortbildungsforschung. ▲ Motivationsdichte: space-time relation in an assumed relation of motivation between a base and a word-formation product in the historical-synchronic study of word-formation. Für die Analyse der sprachhistorisch-synchronen Motiviertheit von Wortbildungen ist der Nachweis der Wortbildungsbasis von entscheidender Bedeutung. Als wesentliches Analyseinstrument dient dabei die Bestimmung der Raum-Zeit-Relation zwischen Wortbildung und Motivationsbasis, für die im Rahmen der Erforschung der frnhd. Wortbildung der Terminus „Motivationsdichte“ eingeführt worden ist (Habermann/Müller 1989). Mit Hilfe dieses Konzepts lässt sich der Grad der Motiviertheit von Wortbildungen bei Wortbildungsanalysen auf historisch-synchroner Basis feststellen. Eine enge (kon)textuelle Verbindung von Basis und Wortbildungsprodukt, etwa bei textinternem Basisnachweis, deutet auf einen hohen Motivationsgrad hin. Bei textexternem Basisnachweis kann nach dem Grad der räumlichen Distanz (Quellen derselben bzw. einer anderen Sprachlandschaft), nach der zeitlichen Distanz (Quellen derselben bzw. einer anderen Zeitstufe) und nach der Art der Quellen (objektsprachliche

oder metasprachliche Quellen) differenziert werden. Dagegen ist die Annahme einer synchronen Motivationsbeziehung grundsätzlich in Frage zu stellen, wenn eine Basis nicht oder nur noch diachron nachgewiesen werden kann (Müller 2002: 5). Letztlich kann es sich dabei jedoch immer nur um Plausibilitätsentscheidungen handeln, da aus heutiger Sicht in der Regel nicht mehr nachzuweisen ist, inwiefern die angenommene Motivationsbeziehung „eine textsynchron tatsächliche und nicht nur philologisch konstruierte ist“ (Solms 1998: 607). Anja Seiffert

→ Motivation; Motivationsbasis; Motivationsgrad; semantische Wortbildungsanalyse

🕮 Habermann, M./ Müller, P.O. [1989] Verbale Wortbildung im Nürnberger Frühneuhochdeutschen am Beispiel er-. In: Moser, H./ Wolf, N.R. [Hg.] Zur Wortbildung im Frühneuhochdeutschen. Innsbruck: 45–64 ◾ Habermann, M. [1994] Verbale Wortbildung um 1500. Eine historisch-synchrone Untersuchung anhand von Texten Albrecht Dürers, Heinrich Deichslers und Veit Dietrichs. Berlin [etc.] ◾ Müller, P.O. [1993] Substantiv-Derivation in den Schriften Albrecht Dürers. Ein Beitrag zur Methodik historisch-synchroner Wortbildungsanalysen. Berlin [etc.] ◾ Müller, P.O. [2002] Historische Wortbildung im Wandel. In: Habermann, M./ Müller, P.O./ Munske, H.H. [Hg.] Historische Wortbildung des Deutschen. Tübingen: 1–11 ◾ Solms, H.-J. [1998] Historische Wortbildung. In: Besch, W./ Betten, A./ Reichmann, O./ Sonderegger, S. [Hg.] Sprachgeschichte. 2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl. (HSK 2.1). Berlin [etc.]: 596–610.

Motivationsgrad

Grad der Abstufung der morphologischen Motivation. ▲ degree of motivation: degree of gradation of a morphological motivation. Unter synchronem Aspekt existiert zwischen den beiden Polen ausgeprägter Motivation einerseits und vollständiger Demotivation andererseits ein breites Übergangsfeld. Es gibt unterschiedliche Versuche, die graduelle Abstufung von vollmotiviert bis demotiviert zu beschreiben. Am häufigsten erfolgt die Darstellung der verschiedenen Grade morphologischer Motivation im Rahmen eines dreistufigen Modells mit den Fixpunkten (voll)motiviert (dt. unglücklich, engl. unfortunate), teilmotiviert (dt. Handtuch, engl. blackboard) und demotiviert (dt. Schmetterling, engl. butterfly). Abweichend vom Dreistufenmodell wird gelegentlich versucht, die unterschiedlichen Grade teilweiser Motivation terminologisch zu fixieren. So unterscheidet Püschel (1978) neben vollstän-

481

motivierte Bildung

diger Motivation und vollständiger Demotivation sechs Grade von Teilmotivation, etwa „voll motiviert mit idiomatischer Komponente“ (Haustür), „abgeschwächt motiviert mit idiomatischer Komponente“ (Eisbrecher) oder „teilweise motiviert mit durchscheinender Bedeutung“ (Großstadt) (Püschel 1978: 164). Der Prozess der Demotivation muss jedoch als allmählicher Übergang von vollständiger Motivation zur teilweisen oder vollständigen Demotivation betrachtet werden. Insofern existieren zwischen den verschiedenen Stufen der Motiviertheit natürlicherweise keine scharfen Grenzen. Da der Prozess der Demotivation mitunter schon bei der Bildung des Wortes einsetzt und zudem im Rahmen der Wortbildung immer nur wenige semantische Merkmale explizit gemacht werden können, sind nicht wenige Bildungen für den Rezipienten bereits zum Zeitpunkt ihrer Bildung nicht (mehr) vollständig motiviert. Dies führt mitunter dazu, dass nicht drei Grade der Motiviertheit unterschieden werden, (voll) motiviert, teilmotiviert und demotiviert, sondern nur zwei, nämlich teilmotiviert und demotiviert. Zu beachten ist jedoch, dass Motiviertheit nicht gleichzusetzen ist mit völliger Determiniertheit. Selbst bei vollmotivierten Bildungen ist die Motivationsbedeutung in der Regel nicht identisch mit der lexikalischen Bedeutung. Hinzu kommt, dass der Motivationsgrad nicht nur aus der Perspektive des Rezipienten und aus der Perspektive desjenigen, der eine vorhandene Bildung als Benennung auswählt, sondern auch aus der Perspektive des Produzenten, also desjenigen, der eine komplexe Benennung prägt, betrachtet werden kann. Aus der Perspektive des Produzenten ist eine Bildung zum Zeitpunkt ihrer Prägung stets vollmotiviert in dem Sinne, dass die Bestandteile der Bildung mit ihren Bedeutungen die aus der Sicht des Produzenten relevanten Merkmale des Gegenstandes und/oder seiner Beziehung zum Gegenstand ausdrücken (Fleischer/Barz 2007: 16). Anja Seiffert

→ § 30; Demotivation; demotivierte Bildung; Idiomatisierung;

Motivation; Motivationsdichte; motivierte Bildung; Unmotiviertheit

🕮 Fill, A. [1980] Wortdurchsichtigkeit im Englischen. Innsbruck ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Gauger, H.-M. [1971] Durchsichtige Wörter. Zur Theorie der Wortbildung. Heidelberg ◾ Marzo, D. [2015] Motivation, compositionality, idiomatization. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer,

F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin (etc.): 984–1001 ◾ Püschel, U. [1978] Wortbildung und Idiomatik. In: ZGL 6/1978: 151–167 ◾ Shaw, J.H. [1979] Motivierte Komposita in der deutschen und englischen Gegenwartssprache. Tübingen.

motivierte Bildung

Wortbildung, deren lexikalische Bedeutung sich aus der Bedeutung ihrer Ausgangseinheiten erschließen lässt. ▲ motivated formation: word-formation whose lexical meaning can be related to the meaning of its constituents. Neue Wortbildungen entstehen aus vorhandenen Sprachzeichen: engl. football + -er > footballer ‘Fußballer’; dt. Fußball + Weltmeister > Fußballweltmeister; niederl. voetbal > voetballen ‘Fußball spielen’. Motivierte Bildungen sind sowohl formal als auch semantisch auf ihre jeweiligen Ausgangseinheiten zu beziehen, ihre Bedeutung lässt sich aus der sogenannten Motivationsbedeutung erschließen. Diese wiederum ergibt sich bei binären Wortbildungen aus der Bedeutung der unmittelbaren Konstituenten, aus deren Reihenfolge und aus der Wortbildungsbedeutung (vgl. Fleischer/Barz 2012: 44): footballer ‘someone who plays football’ (Wortbildungsbedeutung: ‘nomen agentis’); Fußballfan ‘Fan des Fußballs’ (Wortbildungsbedeutung: ‘zugehörig’). Bei nichtbinären Bildungen ergibt sich die Motivationsbedeutung aus der Beziehung zur jeweiligen Basis: niederl. voetballen ‘voetbal spelen’. Zum Zeitpunkt ihrer Bildung sind Wortbildungen in der Regel motiviert, durch Sprachwandelprozesse kann die Motivation einer Bildung jedoch ganz oder teilweise verloren gehen. Zu bedenken ist dabei aber, dass die lexikalische Bedeutung auch bei einer motivierten Bildung in der Regel nicht absolut identisch ist mit der Motivationsbedeutung, sondern vielmehr „angereichert mit begrifflichen Merkmalen, die sich aus der Motivationsbedeutung nicht direkt ergeben“ (Fleischer/ Barz 2012: 44). So entspricht die Motivationsbedeutung von dt. Fußball (‘Ball, der mit dem Fuß gespielt wird’) nur annähernd der lexikalischen Bedeutung ‘mit Luft gefüllter Leder- oder Kunststoffball bestimmter Größe, mit dem Fußball gespielt wird’. Man unterscheidet daher in der Regel voll motivierte Bildungen (dt. Fußballfan), teilmotivierte Bildungen (dt. Torwart ‘Hüter des Tores’ zu mhd. wart/warte ‘Hüter, Wächter’) und

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Motiviertheit 482 demotivierte Bildungen (dt. Schiedsrichter ‘jmd., der einen Wettkampf, z.B. ein Fußballspiel, unparteiisch leitet und die Einhaltung der Regeln kontrolliert’) (vgl. Käge 1980: 12f.; Dillström 1999: 77). Die Beurteilung des Motivationsgrades von Bildungen mit starkem Motivationsverlust erfolgt in der Forschungsliteratur allerdings uneinheitlich (vgl. Fleischer/Barz 2012: 46). Mitunter werden Bildungen wie dt. Schiedsrichter auch als teilmotiviert bezeichnet: Zwar lässt sich bei ihnen aus der Wortstruktur keine Motivationsbedeutung mehr ermitteln, in ihrer Struktur sind sie aber transparent: Schied|s|richter (vgl. Wellmann 1998: 418; Erben 2006: 23). In anderen Arbeiten (z.B. Eichinger 2000: 144) gelten Bildungen dieser Art dagegen als demotiviert. Prinzipiell tut man mit Blick auf Wortbildungen wie Schiedsrichter, Torwart oder Fußball letztlich gut daran, voll motivierte, teilmotivierte und demotivierte Bildungen nicht als klar abgegrenzte Teilmengen, sondern als Kontinuum aufzufassen.

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Anja Seiffert ≡ durchsichtige Bildung; transparente Bildung ↔ demotivierte Bildung → morphosemantische Motivation; Motivation; Motivationsbedeutung; Motivationsgrad; Wortbildungsbedeutung ⇀ motivierte Bildung (Lexik)

🕮 Dillström, S. [1999] Motiviertheit in der Wortbildung entlehnter Einheiten. Uppsala ◾ Eichinger, L.M. [2000] Deutsche Wortbildung. Tübingen ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fill, A. [1980] Wortdurchsichtigkeit im Englischen. Innsbruck ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Käge, O. [1980] Motivation. Probleme des persuasiven Sprachgebrauchs, der Metapher und des Wortspiels. Göppingen ◾ Schippan, T. [2002] Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache. 2., unveränd. Aufl. Tübingen ◾ Schröder, M. [1982] Zur Durchschaubarkeit der Bedeutung motivierter Wortbildungskonstruktionen in der deutschen Gegenwartsprache. In: LingArber 36: 79–88 ◾ Wellmann, H. [1998] Die Wortbildung. In: Duden [1998] Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 6., neu bearb. Aufl. Mannheim [etc.]: 408–557.

Motiviertheit

≡ Durchsichtigkeit; Motivation ⇀ Motiviertheit (HistSprw)

Motivierung ≡ Motivation

⇀ Motivierung (Gram-Formen; Lexik)

movierte Bildung

abgeleitete, in der Regel weibliche, seltener auch männliche, sexusmarkierte Personen- oder Tierbezeichnung. ▲ gender-marked formation: feminine, seldom masculine, gender marked derivative which denominates a person or an animal. Als Derivationsbasen movierter Bildungen kommen einerseits sexusneutrale, generische Substantive mit maskulinem oder femininem Genus in Betracht (dt. der Bär – die Bärin, die Gans – der Ganter, engl. leopard – leopardess), andererseits entstehen movierte Bildungen zu sexusmarkierten Substantiven mit maskulinem oder femininem Genus (dt. die Witwe > der Witwer; russ. učenik ‘Schülerʼ > učenica ‘Schülerin’). Nicht selten ist die Derivationsbasis selbst eine Ableitung (dt. Leser – Leserin, Sportler – Sportlerin) oder eine Zusammensetzung (dt. Schneeleopard – Schneeleopardin, Landsmann – Landsmännin). Unter allen movierten Bildungen überwiegen die als ‘weiblich’ (Sexus) markierten, von einer Basis mit maskulinem Genus abgeleiteten Bildungen deutlich, es gibt nur wenige als ‘männlich’ (Sexus) markierte Bildungen, denen feminine Basen zugrunde liegen, vgl. dt. die Witwe – der Witwer, die Gans – der Ganter, die Ente – der Enterich (neben fachspr. Erpel). Eine auffällig große Gruppe bilden movierte Berufs- und Amtsbezeichnungen, dt. Apothekerin, Friseurin (neben Friseuse), Krankenpflegerin, Bürgermeisterin, Ministerin, Stadträtin, frz. directrice ‘Direktorin’, doctoresse ‘Ärztin’, russ. aktrisa ‘Schauspielerin’, učitel'nica ‘Lehrerin’. Im Dt. ist dieses Muster äußerst produktiv. Zahlreiche neue Bildungen entstehen in jüngster Zeit wohl auch deshalb, da immer mehr Frauen in traditionell männlich besetzten Berufsfeldern tätig sind, vgl. u.a. Bischöfin, Dirigentin, Pilotin, Soldatin, Bundeskanzlerin, Ministerpräsidentin, Staatssekretärin (vgl. Braun 1997: 74f.). Mitunter zählen movierte Bildungen auch zu den Flexionsformen, vgl. ital. ragazzo ‘Junge’ – ragazza ‘Mädchen’ (Plural: ragazzi; anders als bei den Derivationsaffixen bleibt das Affix im Plural nicht erhalten).

Anja Seiffert ≡ Mobilia → Derivationsbasis; Movierung; Movierungsmorphem; Movierungssuffix

483 Movierungsmorphem 🕮 Braun, P. [1997] Personenbezeichnungen. Der Mensch in der deutschen Sprache. Tübingen ◾ Doleschal, U. [1992] Movierung im Deutschen. Eine Darstellung der Bildung und Verwendung weiblicher Personenbezeichnungen. Unterschleissheim [etc.] ◾ Doleschal, U. [2015] Gender marking. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1159–1171 ◾ Plank, F. [1981] Morphologische (Ir-)Regularitäten. Tübingen.

Movierung

zur semantischen Grundklasse der Modifikation gehörendes Verfahren zur Bildung sexusmarkierter weiblicher, seltener auch männlicher Personenoder Tierbezeichnungen. ▲ gender marking: basic semantic process of modification which yields gender-marked feminine, more seldomly masculine, denominations of persons or animals. Durch Movierung (von lat. movere ‘bewegen’) werden Maskulina in Feminina oder – seltener – Feminina in Maskulina überführt. Meist geschieht dies durch Movierungssuffixe wie dt. -in, engl. -ess, russ. -ša. Im Ergebnis der Wortbildung entstehen sexusmarkierte, d.h. hinsichtlich des natürlichen Geschlechts bestimmte Bezeichnungen (dt. Arzt – Ärztin, engl. leopard– leopardess, russ. sekretarʼ ‘Sekretär’ – sekretarša ‘Sekretärin’). Da Sexusmarkierung nur bei Lebewesen relevant ist, erfasst die Movierung überwiegend Personen- und Tierbezeichnungen. Nicht zu dieser Bezeichnungsklasse gehörende Bildungen sind okkasionell, oft stilistisch markiert und in der Regel metaphorisch zu interpretieren: vgl. Glockentönin (Ch. Morgenstern). Bei den Tierbezeichnungen besteht in erster Linie bei Säugetieren (Hund – Hündin, Löwe – Löwin) ein Bedarf an Movierungen. Dies liegt einerseits daran, dass weibliche Säugetiere deutlich als Tiermütter in Erscheinung treten (vgl. Plank 1981: 97), wodurch das Geschlecht für den Sprachbenutzer an Bedeutung gewinnt, andererseits wohl auch daran, dass bei den Säugetieren das natürliche Geschlecht in der Regel leichter wahrnehmbar ist, vgl. dagegen Aal – *Aalin, Krokodil – *Krokodilin, Maikäfer – *Maikäferin. Ein weiteres Motiv für die Movierung ist offenbar die dauerhafte Bindung zwischen Paarungspartnern im Tierreich, vgl. dt. Storch – Störchin (Plank 1981: 100f.). Darüber hinaus besteht auch bei Tieren, die in Mythen und Märchen vorkommen oder die als Tierkreiszei-

chen von Bedeutung sind, ein Movierungsbedarf, vgl. dt. Igel – Igelin (mit Bezug auf das Märchen vom Wettlauf zwischen Hase und Igel), Skorpion – Skorpionin (Tierkreiszeichen) (Plank 1981: 98). Bei den Haus- und Nutztieren sowie bei den jagdbaren Wildtieren lässt sich – nicht nur im Dt. – statt morphologisch ausgedrückter Movierung eher die suppletivische Geschlechtsdifferenzierung durch Verwendung lexikalischer Ersatzformen beobachten: dt. Stute – Hengst, Keiler – Bache; engl. boar ‘Eber’ – sow ‘Sau’, buck ‘Bock’ – deer ‘Ricke’; frz. coq ‘Hahn’ – poule ‘Huhn’. Auch bei den Verwandtschaftsbezeichnungen treten häufig Suppletivformen auf: dt. Mutter – Vater, Onkel – Tante. In diesen Fällen ist die morphologische Movierung in der Regel blockiert, vgl. aber dt. Fuchs – Füchsin (neben fachspr. Fähe). Außer durch Movierung erfolgt Sexusmarkierung auch durch Komposition, vgl. dt. Adler – Adlerweibchen, Bürokaufmann – Bürokauffrau. Anders als im Dt. sind im Engl. Movierungssuffixe wie -ette und -ess – von bewusst sexistischen oder humoristischen Bildungen abgesehen – inzwischen praktisch unproduktiv (Schmid 2016: 174). Einen übereinzelsprachlichen Überblick zu Formen der Movierung sowie weiteren Verfahren der Sexusmarkierung bietet Doleschal (2015). Anja Seiffert ≡ Sexusdifferenzierung → Modifikation; movierte Bildung; Movierungsmorphem; Movierungssuffix; Suppletion ⇀ Movierung (Gram-Formen; Onom)

🕮 Braun, P. [1997] Personenbezeichnungen. Der Mensch in der deutschen Sprache. Tübingen ◾ Doleschal, U. [1992] Movierung im Deutschen. Eine Darstellung der Bildung und Verwendung weiblicher Personenbezeichnungen. Unterschleissheim [etc.] ◾ Doleschal, U. [2015] Gender marking. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1159–1171 ◾ Plank, F. [1981] Morphologische (Ir-)Regularitäten. Tübingen ◾ Pusch, L. [1980] Das Deutsche als Männersprache. In: LB 69/ 1980 ◾ Schmid, H.-J. [2016] English Morphology and Word-formation. 3rd revised and enlarged ed. Berlin.

Movierungsmorphem

meist gebundenes, seltener auch freies Morphem, das der Bildung sexusmarkierter Personen- oder Tierbezeichnungen dient. ▲ gender-marking morpheme: mostly a bound, seldom a free morpheme which yields gender marked denominations of persons or animals.

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Movierungssuffix 484 Movierungsmorpheme sind in erster Linie Wortbildungsmorpheme, v.a. Movierungssuffixe wie dt. -in (Leser – Leserin), frz. -esse (maître – maîtresse). Movierungspräfixe sind selten, vgl. aber im Woleaianischen, einer auf Woleai, einem Atoll im Pazifik, gesprochenen ozeanischen Sprache, la- (laigeriug ‘weiblicher Wal’; zu igeriug ‘Wal’) (Plank 1981: 98). Im Dt. fehlen Movierungspräfixe. Mitunter erfolgt die Markierung des natürlichen Geschlechts auch durch Flexionsmorpheme, vgl. frz. -e (cuisinier ‘Koch’ – cuisinère ‘Köchin’), ital. -a/-o (raggaza ‘Mädchen’ – raggazo ‘Junge’). Die Abgrenzung zwischen Wortbildungsmorphem und Flexionsmorphem und mithin zwischen Derivation und Flexion ist bei der Movierung ohnehin umstritten. So sieht Jobin (2004) Movierung eher als Flexion und die Entwicklung der Movierung mit -in im Dt. als Grammatikalisierungsprozess. An die Stelle des gebundenen Morphems -in tritt im Dt. mitunter auch ein freies Morphem, v.a. -frau/-mann: Kamerafrau – Kameramann, Bürokauffrau – Bürokaufmann.

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Anja Seiffert ≡ Motionsmorphem → movierte Bildung; Movierung; Movierungssuffix

🕮 Doleschal, U. [1992] Movierung im Deutschen. Eine Darstellung der Bildung und Verwendung weiblicher Personenbezeichnungen. Unterschleissheim [etc.] ◾ Doleschal, U. [2015] Gender marking. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin ]etc.]: 1159–1171 ◾ Jobin, B. [2004] Genus im Wandel. Studien zu Genus und Animatizität anhand von Personenbezeichnungen im heutigen Deutsch mit Kontrastierungen zum Schwedischen. Stockholm ◾ Plank, F. [1981] Morphologische (Ir-)Regularitäten. Tübingen.

Movierungssuffix

Suffix, das der Bildung sexusmarkierter Personenoder Tierbezeichnungen dient. ▲ gender marking suffix: suffix which yields gender marked denominations of persons or animals. Movierung erfolgt in den meisten Sprachen durch Movierungssuffixe vgl. dt. -in (Arzt – Ärztin), -euse (Friseur – Friseuse), -ine (Blondine), engl. -ess (prince – princess), frz. -esse (docteur – doctoresse), -euse (danseur ‘Tänzer’ – danseuse ‘Tänzerin’) -e (écolier ‘Schüler’ – écolière ‘Schülerin’), russ. -ica (sokol ‘Falke’ – sokolica ‘weiblicher Falke’), -icha (slon ‘Elefant’ – slonicha ‘Elefantenkuh’), -ka (sportsmen ‘Sportler’ – sportsmenka ‘Sportlerin’), -ša (sekretar ‘Sekretär’ – sekretarša ‘Sekretärin’).

Im Dt. ist das Suffix -in das produktivste Movierungssuffix. Andere Suffixe wie -euse oder -sche gelten oft als negativ konnotiert, vgl. Balletteuse, Doktorsche. In Bildungen wie Gottschedin, Karschin, Neuberin dient -in ebenso wie das – v.a. norddt. – -sche (Doktorsche, Müllersche) nicht der funktionellen, sondern der matrimoniellen Movierung: Doktorsche ‘Ehefrau des Doktors’; Müllersche ‘Frau Müller’. Entsprechende Bildungen spielen jedoch in der Gegenwartssprache kaum noch eine Rolle (vgl. Fleischer/Barz 2007: 182ff.; Werth 2021). Bildungsbeschränkungen für Movierungssuffixe haben in erster Linie pragmatische und/ oder semantische Ursachen. So fehlen movierte Bildungen dort, wo die Opposition ‘weiblich’ vs. ‘männlich’ durch lexikalische Mittel ausgedrückt wird: dt. Mutter – Vater (*Vaterin), Stute – Hengst (*Pferdin), vgl. auch engl. lady doctor ‘Ärztin’ (zu doctor ‘Arzt’), male cat ‘Kater’ (zu cat ‘Katze’); frz. femme peintre ‘Malerin’ (zu peintre ‘Maler’). Doch führen gespeicherte Synonyme nicht in jedem Fall zu Blockierungen, vgl. dt. Füchsin neben Fähe. Darüber hinaus lassen sich zahlreiche Blockierungen auf mangelnde begriffliche Relevanz zurückführen, vgl. Maikäfer – *Maikäferin. Bei Bedarf – etwa in der Dichtung – stehen die entsprechenden Bildungen aber zur Verfügung, vgl. die Päpstin. Andere Bildungsbeschränkungen haben strukturelle Ursachen. So kann das dt. Movierungssuffix -in in der Regel nicht an Derivate auf -ling treten: *Flüchtlingin, *Lehrlingin. Das engl. Movierungssuffix -ess tritt nur an einige wenige Nomina lat. Ursprungs: actor ‘Schauspieler’ – actress ‘Schauspielerin’, heir ‘Erbe’ – heiress ‘Erbin’. Etliche Movierungssuffixe gehören zum Typ der substituierenden Ableitung, vgl. dt. Fris-eur/​Friseuse, frz. dans-eur/dans-euse, ital. raggaz-a ‘Mädchen’/raggaz-o ‘Junge’, russ. učen-ik ‘Schüler’/učenica ‘Schülerin’. Anja Seiffert

→ movierte Bildung; Movierung; Movierungsmorphem ⇀ Movierungssuffix (Gram-Formen)

🕮 Braun, P. [1997] Personenbezeichnungen. Der Mensch in der deutschen Sprache. Tübingen ◾ Doleschal, U. [1992] Movierung im Deutschen. Eine Darstellung der Bildung und Verwendung weiblicher Personenbezeichnungen. Unterschleissheim [etc.] ◾ Doleschal, U. [2015] Gender marking. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1159–1171 ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Plank, F. [1981] Morphologische (Ir-)Regularitä-

485 Mutation ten. Tübingen ◾ Werth, A. [2021] Die onymische Movierung. Historische Wortbildung an der Schnittstelle von Sprache und Gesellschaft. In: Ganslmayer, C./ Schwarz, C. [Hg.] Historische Wortbildung. Theorien – Methoden – Perspektiven. Hildesheim [etc.]: 349–381.

multisegmentales Kurzwort

Kurzwort aus mindestens zwei Teilen einer bedeutungsgleichen längeren lexikalischen Einheit. ▲ multisegmental short form: short form consisting of at least two parts of a longer lexical unit equivalent in meaning. Der Terminus „multisegmentales Kurzwort“ geht auf Bellmann (v.a. 1980) zurück und wird seitdem in der Kurzwortforschung relativ einheitlich verwendet (vgl. vor allem Kobler-Trill 1994). Nach dieser Typologie der Kurzwortformen gibt es zunächst eine Einteilung der Kurzwörter in die Gruppen der „unisegmentalen Kurzwörter“ und der „multisegmentalen Kurzwörter“ mit einer weiteren besonderen Gruppe der „partiellen Kurzwörter“. Während unisegmentale Kurzwörter aus einem zusammenhängenden Teil der Vollform, einem Segment, bestehen, werden zur Bildung eines multisegmentalen Kurzworts mehrere Segmente aus der zugrunde liegenden Vollform ausgewählt. In der Kurzwortforschung hat sich diese Biklassifikation bis heute gehalten, wenn auch andere Typologien danebengetreten sind. Während die Unterteilung in unisegmentale und multisegmentale Kurzwörter von der Anzahl der Segmente aus der Vollform ausgeht, differenziert eine andere Typologie (erstmals ausführlicher Greule 1996, später weiter Steinhauer 2000, Balnat 2011) zunächst nach der Art der ausgewählten Segmente (Buchstaben, Silben, Morpheme) und erst dann nach der Anzahl. Nach beiden Ansätzen gibt es multisegmentale Kurzwörter aus Buchstaben, aus Silben und aus einer Mischung von beiden. 1. Buchstabenkurzwörter sind die häufigsten multisegmentalen Kurzwörter; solche mit zwei Segmenten (BH, EU) kommen relativ selten vor, die meisten bestehen aus drei Segmenten (ARD, DVD). Beispiele für viersegmentale Buchstabenkurzwörter sind GmbH oder StGB; vereinzelt gibt es solche aus fünf Buchstaben (Hapag). Da die meisten Buchstabenkurzwörter aus den Anfangsbuchstaben von Morphemen der Vollform bestehen, werden sie häufig auch als „Ini-

tialwörter“ oder „Initialkurzwörter“ bezeichnet, auch „Akronym“ ist ein gängiger, allerdings ebenfalls nicht einheitlich verwendeter Terminus. 2. Die meisten multisegmentalen Silbenkurzwörter bestehen aus zwei Segmenten (Kita für ›Kindertagesstätte‹), wenige aus dreien (Helaba für ›Hessische Landesbank‹). Viele Silbenkurzwörter sind vorwiegend in der mündlichen oder in der an diese angelehnten Chat- und E-Mail-Kommunikation zu finden; in der Schriftsprache und in formaleren Kommunikationssituationen finden sich meist die entsprechenden Vollformen (Schiri für ›Schiedsrichter‹). Einige Silbenkurzwörter sind derart lexikalisiert, dass sie auch in die formalere Alltagskommunikation Eingang gefunden und die Vollformen verdrängt haben (Hi-Fi, Mofa). 3. Die Mischkurzwörter bestehen meist aus Buchstaben und Silben bzw. Silbenresten; es gibt sie mit zwei Segmenten (Bit für ›binary digit‹), mit drei Segmenten (Azubi für ›Auszubildende[r]‹, EuGH für ›Europäischer Gerichtshof‹) und mit vier Segmenten (CeBIT für ›Centrum für Büround Informationstechnik‹), bis hin zu solchen mit sechs Segmenten (Degussa für ›Deutsche Gold- und Silber-Scheideanstalt‹). Eine Mischung aus Buchstaben und Morphemen findet sich bei Wörtern wie H-Milch, U-Boot, U-Haft, eine aus Silben und Morphemen bei Dispo-Kredit, Iso-Matte, Pauschbetrag, Politbüro. Diese Formen werden allerdings nicht einheitlich zu den multisegmentalen Kurzwörtern gezählt – da nur ein Teil der Vollform gekürzt ist und ein Teil ungekürzt übernommen wird, werden solche Belege auch „partielle Kurzwörter“ genannt. Anja Steinhauer

→ § 29; Akronym; Klammerwort; Kurzwort; Kurzwortbildung; orthoepische Aussprache; partielles Kurzwort

🕮 Balnat, V. [2011] Kurzwortbildung im Gegenwartssdeutschen. Hildesheim [etc.] ◾ Bellmann, G. [1980] Zur Variation im Lexikon. Kurzwort und Original. In: WW 30: 369–383 ◾ Greule, A. [1996] Reduktion als Wortbildungsprozeß der deutschen Sprache. In: MutterSpr 106: 193–203 ◾ Kobler-Trill, D. [1994] Das Kurzwort im Deutschen. Tübingen ◾ Steinhauer, A. [2000] Sprachökonomie durch Kurzwörter. Bildung und Verwendung in der Fachkommunikation. Tübingen ◾ Steinhauer, A. [2015] Clipping. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 352–363.

Mutation

1. Wortformenbildung mithilfe von regelmäßigem Lautwechsel in den Stammformen.

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Mutation 486 ▲ mutation: formation of a grammatical word by means of a regular sound change in the stem form.

2. semantische Grundklasse der Beziehung zwischen Determinans und Determinatum, bei der ein vorhandenes Wort in eine neue semantische Kategorie überführt wird. ▲ mutation: semantic class of the relation between determinans and determinatum in which a word is transferred into a new category.

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Zu 1: Der auf lat. mutatio beruhende Begriff bezeichnet den Prozess und das Ergebnis von Wortformenbildung durch Abwandlung der Stammformen durch regelmäßigen Lautwechsel. Dabei ist zu unterscheiden zwischen erstens der Vokalveränderung durch Ablaut wie in springen und sprang, zweitens der Vokalveränderung durch Umlaut wie in Buch vs. Bücher und drittens dem grammatischen Wechsel wie in schneiden und schnitt. Bloomfield (1933) unterscheidet folgende Typen der Alternation. Eine rein phonetische Alternation liegt zum Beispiel im Fall der dt. Auslautverhärtung, das heißt der Stimmloswerdung (im Inneren einer Wortform) stimmhafter Konsonanten im Auslaut, vor, so in binden – band [bant]. Ein weiteres Beispiel für diesen Fall ist laut Bloomfield der Wechsel zwischen ich- und ach-Laut. Der ach-Laut (API-Notation: [x] (velar), [χ] (uvular)) neben dem ich-Laut [ç] (palatal) ist im Deutschen allophonische Variante des stimmlosen dorsalen (hinteren) Frikativs /x/, in komplementärer Verteilung: [ç] steht nach Konsonanten und vorderen Vokalen sowie morpheminitial, [x] nach hohen und mittleren gespannten Hinterzungenvokalen, [χ] nach tiefen Hinterzungenvokalen. ≡ Mutierung → Ablaut; Umlaut ⇀ Mutation (Gram-Formen)

Eckhard Meineke

🕮 Bloomfield, L. [1933] Language. New York, NY [etc.].

Zu 2: Als Bezeichnung für eine der semantischen Grundklassen geht der Begriff Mutation auf Dokulil (1968) zurück. Abweichend von der heute geläufigeren binären Klassifikation der semantischen Grundklassen nach Modifikation und Transposition unterscheidet Dokulil drei Grundtypen onomasiologischer Kategorien: Modifikation, Transposition und Mutation. Dabei geht er

davon aus, dass sich letztlich alle morphosemantisch motivierten Bildungen auf einige wenige spezifische semantische Universalien und mithin auf einige wenige onomasiologische Kategorien zurückführen lassen. Diese seien „Ausdruck der sprachimmanenten Benennungsvorgänge“, welche darin bestehen, dass „die zu benennende außerlinguistische Erscheinung einer bestimmten Begriffsklasse zugeordnet und innerhalb derer spezifiziert wird“ (Huke 1977: 151). Die Struktur der onomasiologischen Kategorie wird demnach durch ein determiniertes und ein determinierendes Element konstituiert. Das determinierte Element, das die zu benennende außersprachliche Einheit begrifflich identifiziert, nennt Dokulil die „onomasiologische Basis“. Das determinierende Element ist das „onomasiologische Merkmal“ (vgl. Dokulil 1968: 207f.). Entsprechend dem Charakter der Beziehung zwischen onomasiologischer Basis und onomasiologischem Merkmal lassen sich nach Dokulil die drei Grundtypen onomasiologischer Kategorien unterscheiden: Kennzeichen des Modifikationstyps („modifikační typ“) ist „die Hinzufügung eines modifizierenden, bereichernden Merkmals zu einem bestimmten, bereits bestehenden Begriff, so daß dieser Begriff spezifisch modifiziert wird“ (Huke 1977: 158), etwa in dt. Hund > Hündin (+ Movierung), tschech. stul ʻTischʼ > stolek ʻkleiner Tischʼ > stoleček ʻTischleinʼ (+ Diminuierung). Das Wesen des Mutationstyps („mutační typ“) besteht darin, dass „die Erscheinung einer Begriffskategorie nach ihrer unmittelbaren oder auch mittelbaren Beziehung zu einem Element derselben oder auch einer anderen Begriffskategorie definiert wird“ (Dokulil 1968: 209), etwa ein Begriff aus der Kategorie der Substanz nach seiner Beziehung auf einen Begriff der Kategorie der Eigenschaft: tschech. černice ʻSchwarzerdeʼ/ʻetwas, das schwarz istʼ (zu tschech. černý ʻschwarzʼ) (vgl. Fleischer 1971: 62, Huke 1977: 157). Dabei wird die Ausgangseinheit černý ʻschwarzʼ in eine andere semantische Kategorie überführt, vgl. auch dt. Stadt > Städter, richten > Richter. Dagegen wird der Transpositionstyp („transpozič­ ní, abstrakční typ“) bei Dokulil „als eine sekundäre onomasiologische Kategorie betrachtet, da er von den in der Sprache bereits vorhandenen Begriffen ausgeht und sie nur von ihrem üblichen Kontext abhebt und als selbstständige Begriffe

487

mutiertes Kompositum

einem neuen Kontext zuweist“ (Huke 1977: 158). Bei der Transposition handelt es sich nach Dokulil demnach lediglich um eine syntaktische Umsetzung der Ausgangseinheit in eine andere Wortart: dt. Fall, Fallen < fallen, Schönheit < schön, engl. quickly < quick, tschech. dobrota ʻGüteʼ < dobrý ʻgutʼ (vgl. Fleischer 1971: 62; Huke 1977: 159). Beispiele wie dt. Schönheit und tschech. dobrota ʻGüteʼ machen jedoch deutlich, dass die Grenze zwischen Mutation und Transposition fließend verläuft, da die Umsetzung in eine andere Wortart in der Regel zugleich auch die Umsetzung in eine andere semantische Kategorie impliziert (vgl. dazu Barz 1982: 78). Anja Seiffert

→ Determinans; Determinans-Determinatum-Struktur;

Determinatum; Modifikation; onomasiologische Basis; onomasiologische Kategorie; Transposition; Wortart ⇀ Mutation (Gram-Formen)

🕮 Barz, I. [1982] Zum Zusammenhang zwischen Benennungsverfahren und Grundtypen onomasiologischer Kategorien am Beispiel der Benennungsparallelität. In: LingArber 36: 68–79 ◾ Dokulil, M. [1968] Zur Theorie der Wortbildungslehre. In: WZKMU 17: 203–211 ◾ Fleischer, W. [1971] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 2. Aufl. Leipzig ◾ Huke, I. [1977] Die Wortbildungstheorie von Miloš Dokulil. Gießen.

mutiertes Kompositum

Bezeichnung für ein Possessivkompositum aufgrund seiner angenommenen Entstehungsweise. ▲ mutated compound: designation of a possessive compound via its supposed source. Eine Theorie über die Genese der possessiven Komposita (auch Bahuvrīhi-Komposita genannt), die von europäischen Linguisten des 19. Jh. verfolgt wurde, bestand darin, dass sich die possessive Bedeutung von bspw. Goldhaar, das grundsätzlich auf goldene Haare referiert, aber im erweiterten Sinne als ‘goldene Haare habend’ verstanden werden konnte, aus der Bedeutung von vergleichbaren Determinativkomposita entwickelte, indem sie mit einem semantischen Mehrwert überlagert wurde. So wurde die exozentrische Bedeutung als eine höhere Art, als sekundär, als das Ergebnis von Metonymie betrachtet. Der Terminus „mutierte Komposita“ wurde von von Schröder (1874) eingeführt und auch von Wilmanns (1899: 419) gebraucht. Die Klassifizierung der possessiven Komposita des Sanskrits in der Grammatik von Whitney (1879)

zeugte zudem von dieser Ansicht, indem Whitney sie als „sekundäre adjektivische Komposita“ bezeichnete. Allerdings wurde auch eine andere Ansicht über die Entstehung der Possessiva vertreten (bspw. von Jakobi 1987), dass nämlich die Possessiva ihren Ursprung in den Epitheta der frühsten Dichtersprachen hatten. Obwohl von Schröder den Terminus „mutierte Komposita“ für sie verwendete, war er dennoch der Meinung, dass ihre erweitete Bedeutung aus dem Bildungsprozess selbst folgte und nicht aus einer Erweiterung einer determinativen Bedeutung. Auch anderen Linguisten war bekannt, dass in den frühesten indoeuropäischen Sprachen die Zahl der possessiven Komposita die der Determinativkomposita weit übertraf, so dass man annehmen kann, dass die Possessiva den älteren Bildungstyp darstellen. Die frühesten Texte enthalten neben den Possessiva auch vergleichbare relativsatzähnliche Strukturen ohne Relativpronomina und mit tempuslosen (d.h. generischen) Partizipien. Solche kopflosen satzähnliche Strukturen dienten vielleicht als Basis für die Reduktion, Juxtaposition, Hypostasierung und den daraus resultierenden Namensgebungsprozess, der zu den exozentrischen Strukturen führte (vgl. Henzen (1965: 84ff. und Lindner 2019). Marchand (1969: 387) und Lindner (2019: 22) führen die possessive Bedeutung der Bahuvrīhi-Komposita auf ihre ursprüngliche adjektivische Funktion zurück. Der Terminus „exozentrisch“ geht auf eine Dissertation von Aleksandrow (1888: 110) zurück, der ihn in Kontrast zu „esozentrisch“ (‘endozentrisch’) setzte. Nach Lindner (2019: 31) schloss sich auch Brugmann dieser Terminologie an und ersetzte in seinen Arbeiten nach (1905) den Terminus „Mutation“ durch den Terminus „exozentrisch“. Susan Olsen

→ Determinativkompositum; endozentrisches Kompositum;

exozentrisches Kompositum; Hypostasierung (1); Kompositum; Metonymisierung; Possessivkompositum ⇁ mutated compound (Woform)

🕮 Brugmann, K. [1889] Grundriß der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen. Straßburg ◾ Brugmann, K. [1905/06]. Zur Wortzusammensetzung in den idg. Sprachen. IdgF 18: 59–76. ◾ Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Jacobi, H. [1897] Kompositum und Nebensatz. Studien über die indogermanische Sprachentwicklung. Bonn ◾ Lindner, T. [2019] Historische Metalingu-

M

Mutierung 488 istik Bd. I: Indogermanische Kompositionslehre. Salzburg ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation, 2nd edition. Munich ◾ Whitney, W.D. [1950] Sanskrit Grammar. Cambridge, MA [Unter: https://en.wikisource.org/wiki/Sanskrit_ Grammar(Whitney). Letzter Zugriff: 13.06.2021] ◾ Wilmanns, W. [1899] Deutsche Grammatik. Go-

M

tisch, Alt-, Mittel- und Neuhochdeutsch. Zweite Abteilung: Wortbildung. 2. Aufl. Straßburg.

Mutierung

≡ Mutation (1)

N natürliche Morphologie

morphologische Theorie, die auf der Vorstellung beruht, dass morphologische Prozesse durch Markiertheitsprinzipien wie Ikonizität, Transparenz und Binarität motiviert sind. ▲ natural morphology: theory of morphology based on the idea that morphological processes are motivated by principles of markedness, including iconicity, transparency, and binarity. Am profiliertesten in den Arbeiten von Dressler (1985, 2000, 2005), Mayerthaler (1981) und Wurzel (1984) entwickelt, ist die natürliche Morphologie in Teilen ein Produkt der Prager Schule der Linguistik. Sie nimmt an, dass Flexion und Wortbildungsprozesse letztlich „cognitively simple, easily accessible (esp. to children), elementary and therefore universally preferred, i.e., derivable from human nature …“ sein sollte (Dressler 2005: 267). Morphologische Prozesse sollten daher durch einige Markiertheitsfaktoren motiviert sein, darunter: – Ikonizität: bezieht sich auf die direkte Ähnlichkeit von Signifikat und Signifikant, wie sie z.B. auftritt, wenn der Diminutiv durch einen hohen Vokal kodiert wird (cat – kitty), oder allgemeiner, wenn nicht etwa der Ablaut, sondern zusätzliche Morpheme zusätzliche Bedeutung ausdrücken; – Indexikalität: bezieht sich auf die Präferenz von Adjazenz, z.B. Affigierung unmittelbar am Stamm ohne verbindende Elemente; – Transparenz: schließt morphosemantische Transparenz oder die Kompositionalität von Bedeutung ein, eine Präferenz für Regeln, die keine Allomorphie, Suppletion oder unterschiedliche Formen nichtkonkatenativer Prozesse beinhalten;

– Eineindeutigkeit: die Präferenz einer eins-zueins-Beziehung von Form und Bedeutung; – Binarität: bezieht sich auf die Präferenz komplexer Formen, die binär aufgebaut sind, also immer mit zwei Elementen pro Komplexitätsstufe. Die These der natürlichen Morphologie ist, dass die am wenigsten markierten und universell am meisten präferierten Formen von Morphologie, nämlich Präfigierung, Suffigierung und Komposition, diejenigen sein müssten, die in der größten Anzahl von Sprachen vorkommen. Abweichungen von präferierten Mustern entstehen dort, wo optimale Präferenzen miteinander in Konflikt geraten. Da es unmöglich ist, dass eine Sprache im Hinblick auf alle Natürlichkeitsparameter unmarkiert ist, entwickelt Dressler auch einen Begriff von typologischer Adäquatheit, die Sprachen als „(alternative) sets of consistent responses to naturalness conflicts“ auffasst (Dressler 2000: 293) und ihre „language-specific, system-dependent naturalness“, d.h. ihr Natürlichkeitsmuster bewertet (Dressler 2000: 293). Rochelle Lieber

→ § 7; Allomorph; binäre Verzweigung; Ikonizität; Komposi-

tion; nicht-konkatenative Morphologie; Präfix; semantische Durchsichtigkeit; Suffix; Suppletion ⇀ Natürliche Morphologie (HistSprw; Gram-Formen) ⇁ Natural Morphology (Typol; Woform; TheoMethods)

🕮 Dressler, W.U. [1985] Morphonology. The Dynamics of Derivation. Ann Arbor, MI ◾ Dressler, W.U. [2000] Naturalness. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [eds.] Morphology (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 288–296 ◾ Dressler, W.U. [2005] Word formation in natural morphology. In: Štekauer, P./ Lieber, R. [eds.] Handbook of Word-Formation. Dordrecht [etc.]: 267–284 ◾ Gaeta, L. [2019] Natural morphology. In: Audring, J./ Masini, F. [eds.] OHMT. Oxford: 244–264 ◾ Luschützky, H.C. [2015] Word-formation in natural morphology. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 123–144 ◾ Mayerthaler, W. [1981] Morphologische Natürlich-

Negation 490 keit. Wiesbaden ◾ Wurzel, W.U. [1984] Flexionsmorphologie und Natürlichkeit. Berlin.

Negation

durch morphologische, lexikalische, syntaktische und/oder textlinguistische Mittel realisierte semantische Kategorie, welche die Nichtwahrheit oder die Nichtexistenz einer Eigenschaft oder einer Größe ausdrückt. ▲ negation: semantic category, realized by morphological, lexical, syntactic, and/or textual-linguistic means, which expresses the falsehood or the non-existence of a property or entity.

N

Negation ist ein vielseitiges Phänomen und als solches Gegenstand unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen wie der Linguistik, der Literaturtheorie, der Logik, der Philosophie, der Mathematik (Clarenz-Löhnert 2004: 47). Innerhalb der Linguistik wird zwischen der syntaktischen und der lexikalischen Dimension des Begriffs unterschieden. Unter syntaktischer Negation versteht man die Negation mithilfe freier Negationsträger wie dt. nicht, frz. ne ... pas. Syntaktische Negation kann sich auf den Satz beziehen (externe Negation; auch: Satznegation) oder auf einen Teil des Satzes (interne Negation; auch: Sonder-, Wort- oder Konstituentennegation). Die Unterscheidung kann vom Kontext abhängen, vgl. ich traf ihn nicht im Café (weil er verhindert war) vs. ich traf ihn nicht im Café (sondern auf der Straße), vgl. Heinemann (1983: 181). Gehen negierende Strukturen über die Satzgrenze hinaus, etwa bei ironischen Äußerungen, werden sie als textuelle Negation bezeichnet (Clarenz-Löhnert 2004: 49). Als lexikalische Negation bezeichnet man die Verneinung auf der Lexemebene (dt. ledig, frz. interdire ‘verbieten’). Erfolgt die lexikalische Negation durch morphologische Negationsträger, z.B. durch Affixe, wird sie morphologische Negation oder Wortbildungsnegation genannt (ClarenzLöhnert 2004: 49, Klosa 1996: 33). Für die morphologische Negation stehen zahlreiche native und fremde Wortbildungsmittel zur Verfügung. In erster Linie sind dies Negationsaffixe wie dt. un- (Unglück), -los (fehlerlos), a- (akatholisch), frz. mal- (malheureux ‘unglücklich’); ferner Kompositionsglieder wie dt. nicht (nichtwissenschaftlich), frz. non (non-nageur ‘Nichtschwimmer’). Wortbil-

dungsmittel wie pseudo- (pseudowissenschaftlich) können zu den Konfixen gezählt werden (anders dagegen Klosa 1996: 305). Als semantische Subklassen der Negation gelten Kontradiktion und Kontrarität. Mitunter wird auch die Privation (z.B. dt. entkernen) als semantische Subklasse der Negation betrachtet (vgl. Clarenz-Löhnert 2004: 66ff.; Mollidor 1998: 33ff.). Dagegen werden die Pejoration und die Falsifikation zumeist nicht dem Funktionsstand der Negation, sondern dem der Taxation zugeordnet, da sie ein weiteres semantisches Element aufweisen, das in erster Linie eine Wertung impliziert (Klosa 1996: 35). Gleichwohl lassen sich die Funktionsstände der Negation und der Taxation nicht strikt voneinander trennen, vielfach kommt es zu Überschneidungen. Zahlreiche Wortbildungsmittel gehören mehr als einem Funktionsstand an: dt. miss- (missachten – Negation; missdeuten – Taxation), span. mal- (malsano ‘nicht gesund’ – Negation; malhumorado ‘schlecht gelaunt’ – Taxation). Oft zeigt auch die Wortbildungsbedeutung ein und derselben Bildung eine Verflechtung von Negation und Wertungsumkehrung, vgl. missachten (‘nicht achten’/‘gering achten’). In der Verflechtung von Wertungsumkehrung und Negation kann Letztere zurücktreten. So dient pseudozwar auch der Negation (pseudowissenschaftlich ‘in Wirklichkeit nicht wissenschaftlich’), jedoch verbunden mit der Absicht aufzudecken, dass ein falscher Anspruch vorgetäuscht wird (‘nur dem Anschein nach wissenschaftlich’). Entsprechende Bildungen bewegen sich an der Peripherie des Funktionsstandes der Negation. Anja Seiffert ≡ Negierung; Verneinung → kontradiktorische Negation; konträre Negation; Negationsaffix; Negationspräfix; pejorativ; privativ; Taxation; Wortbildungsgruppe ⇀ Negation (Gram-Formen; HistSprw; Lexik; SemPrag; Sprachphil; CG-Dt; QL-Dt) ⇁ negation (Typol)

🕮 Clarenz-Löhnert, H. [2004] Negationspräfixe im Deutschen, Französischen und Spanischen. Aachen ◾ De Clercq, K. [2020] Negation in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol.1. New York: 620–639 ◾ Heinemann, W. [1983] Negation und Negierung. Leipzig ◾ Klosa, A. [1996] Negierende Lehnpräfixe des Gegenwartsdeutschen. Heidelberg ◾ Mollidor, J. [1998] Negationspräfixe im heutigen Französisch. Tübingen ◾ Montero Curiel, M. [2015] Negation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1351–1359 ◾ Pavlovi č , J. [2015] Negation in the Slavic

491 Negationspräfix and Germanic languages. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1360–1373.

Negation, komplementäre

Negationspräfix

Präfix, das die durch die Basis bezeichnete Entität als nicht wahr oder nicht existent charakterisiert. ▲ negative prefix: prefix which marks the entity denominated by the base as not true or non-existent.

→ kontradiktorische Negation

Negation, kontradiktorische → kontradiktorische Negation

Negation, konträre → konträre Negation

Negationsaffix

Affix, das die durch die Basis bezeichnete Entität als nicht wahr oder nicht existent kennzeichnet. ▲ negative affix: affix which marks the entity denominated by the base as not true or non-existent. Für die Negation adjektivischer, substantivischer und verbaler Basen steht eine Vielzahl von Affixen zur Verfügung. In quantitativer Hinsicht sind die Präfixe von besonderer Bedeutung, vgl. dt. un- (ungenau), miss- (missglücken), a- (atypisch), in- (inkompetent), dis- (Disharmonie), engl. un(unfortunately ‘unglücklich’), mis- (misfortune ‘Unglück’), frz. mal- (malpropre ‘unsauber’), russ. ne- (nesčastnyj ‘unglücklich’), span. des- (desgraciado ‘unglücklich’). Daneben existieren Negationssuffixe wie dt. -los (mutlos, ratlos), engl. -less (useless ‘nutzlos’, seamless ‘nahtlos’) oder Zirkumfixe, vgl. dt. un-...-bar (unverkennbar), un...-lich (unglaublich), un-...-sam (unliebsam). In Sprachen mit synthetischem Sprachbau dienen Negationsaffixe in erster Linie der externen Negation (Satznegation), vgl. türk. -maz bzw. -mez (okumaz ‘er liest nicht’ zu okur ‘er liest’), ägyptisch-arab. ma...š (andak ‘du hast’ – ma‛andakš ‘du hast nicht’), ähnlich auch im Chickasaw, einer nordamerikanischen Indianersprache, ik-...-o (chokma ‘er ist gut’ – ikchokmo ‘er ist nicht gut’). ≡ negierendes Affix → Negation; Negationspräfix; Zirkumfix

Gegenwartssprache. 2. Hauptteil: Das Substantiv (SdG 32). Düsseldorf.

Anja Seiffert

🕮 Clarenz-Löhnert, H. [2004] Negationspräfixe im Deutschen, Französischen und Spanischen. Aachen ◾ Klosa, A. [1996] Negierende Lehnpräfixe des Gegenwartsdeutschen. Heidelberg ◾ Kühnhold, I./ Putzer, O./ Wellmann, H. [1978] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 3. Hauptteil: Das Adjektiv. Düsseldorf ◾ Mollidor, J. [1998] Negationspräfixe im heutigen Französisch. Tübingen ◾ Wellmann, H. [1975] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der

Innerhalb des Funktionsstandes der Negation kommt den Negationspräfixen schon allein unter dem Gesichtspunkt der Quantität eine besondere Bedeutung zu; die Zahl der Negationspräfixe ist groß, vgl. etwa dt. un- (unglücklich), miss- (Misserfolg), engl. dis- (disagree ‘nicht zustimmen’), in- (incredible ‘unglaublich’), mis- (misfortune ‘Unglück’), un- (unfortunately ‘unglücklich’), frz. a- (asymétrique ‘asymmetrisch’), im- (improbable ‘unwahrscheinlich’), mal- (malpropre ‘unsauber’), russ. ne- (nesčastnyj ‘unglücklich’), bez- (bezopasnyj ‘ungefährlich’), span. des- (desfavorable ‘ungünstig’), in- (inseguro ‘unsicher’). Am weitesten ausgebaut ist die Negation im Bereich der Wortart Adj., wichtigster Negationsträger im Dt. ist das Negationspräfix un-, das zugleich die höchste Frequenz und die größte Produktivität aller Adjektivpräfixe aufweist (Kühnhold/Putzer/Wellmann 1978: 176, vgl. auch Lenz 1993). Neben den indigenen Affixen verfügt das Dt. über zahlreiche Fremdpräfixe wie a- (anormal), anti- (antiautoritär), de- (deaktivieren), dis- (disproportional), in- (inaktiv), kontra- (kontraproduktiv). Dabei ist das Inventar der Fremdpräfixe durch zahlreiche Affixvarianten gekennzeichnet, die zumeist auf den Lautgesetzen der Gebersprachen beruhen, vgl. a/an- (amusisch, anorganisch), de-/des- (dezentral, desorientiert), in-/il-/im-/ir- (inaktiv, illegal, immateriell, irregulär). Mit Blick auf die Basiswortarten erscheinen zum einen Präfixmuster, bei denen sowohl adjektivische und substantivische wie auch verbale Bildungen möglich sind (dt. deaktivieren, dezentral, Desinteresse; missbilligen, missliebig, Misserfolg; frz. maltraiter ‘misshandeln’, malhonnête ‘unehrlich’, malchance ‘Missgeschick’; span. desconocer ‘nicht kennen’, descolorido ‘farblos’, desdicha ‘Unglück’). Daneben existieren Präfixe, die nur an Adj. und Subst. treten können (dt. ungenau, Undank; russ. neženatyj ‘unverheiratet’, nepravda ‘Unwahrheit’) und solche, die ausschließlich auf

N

negierendes Affix 492 die Bildung von Verben beschränkt sind (dt. entfärben, entfetten), vgl. Klosa (1996: 398f.). Anja Seiffert ≡ negierendes Präfix → Negation; Negationsaffix; Präfix; Wortbildungsgruppe

🕮 Clarenz-Löhnert, H. [2004] Negationspräfixe im Deutschen, Französischen und Spanischen. Aachen ◾ Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Klosa, A. [1996] Negierende Lehnpräfixe des Gegenwartsdeutschen. Heidelberg ◾ Kühnhold, I./ Putzer, O./ Wellmann, H. [1978] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 3. Hauptteil: Das Adjektiv. Düsseldorf ◾ Lenz, B. [1993] un-Affigierung. Tübingen ◾ Mollidor, J. [1998] Negationspräfixe im heutigen Französisch. Tübingen.

negierendes Affix ≡ Negationsaffix

negierendes Präfix ≡ Negationspräfix

Negierung

≡ Negation ⇀ Negierung (Gram-Formen)

neoklassisches Kompositum

N

Kompositum mit gräkolateinischen Bausteinen, das in modernen Sprachen gebildet ist. ▲ neoclassical compound: compound formed in modern languages with Graeco-Latin building blocks. Der Terminus „neoklassisches Kompositum“ ist eine Übersetzung von „neoclassical compound“ und in der deutschen Wortbildungslehre nur randständig im Vergleich zu seinem englischen Pedant, das eine zentrale Kategorie der englischen Wortbildung darstellt (vgl. z.B. Bauer 1998; Bauer/Lieber/Plag 2013: 441f., 454–456; Eins 2015: 156f.; Lüdeling 2006; Plag 2003: 155–159; Schmid 2013: 129–131). Bei entsprechenden Bildungen handelt es sich um „forms in which lexemes of Latin or Greek origin are combined to form new combinations that are not attested in the original languages (hence the term NEOclassical)“ (Plag 2003: 155). Dazu folgende Beispiele, die verdeutlichen, dass neoklassische Komposita häufig Internationalismen darstellen mit einem Schwerpunkt in der Wissenschafts- bzw. Fachsprache: engl. astronaut, biotope, democrat, electron, gastronome, genocide, hydrogen, photograph, technophile, telephone; dt. anthropomorph, Automat, Gastroskop, Geograph,

gerontophil, Ökozid, Phonometer, Physiognom, Thermostat, xenophob. Wie diese Beispiele zeigen, gehen die altsprachlichen Lexeme allerdings nicht vollständig in die Bildungen ein, sondern in Form von Lexemsegmenten. Diese sind aus entlehnten griechischen bzw. lateinischen Wörtern, die als Leitformen fungieren, als Ergebnis einer Reanalyse herausgelöst und werden dann für Neubildungen verwendet. Charakteristisch für diese Segmente ist, dass sie in der Regel nur gebunden vorkommen ‒ Tendenzen der Lexematisierung wie bei bio oder öko sind Ausnahmen ‒, aber im Gegensatz zu Affixen lexikalische Bedeutung tragen. In der englischen Wortbildung werden diese Bausteine als „combining forms“ bzw. „bound roots“ bezeichnet. Diese unterscheiden sich von jenen dadurch, dass sie basisfähig sind und dementsprechend auch mit Affixen wortbildend wirken. So ist z.B. im Deutschen therm (< gr. thermós ‘warm’) mit anderen „bound roots“ wie phob oder „combining forms“ wie meter in neoklassischen Komposita durch die auf einen griechischen Kompositionsvokal zurückgehende Fuge -o- verbunden (z.B. therm-o-phob, Therm-o-meter), tritt aber zusammen mit Affixen auch in Derivaten auf (z.B. therm-al, Therm-ik). In der deutschen Wortbildung werden die Segmente neoklassischer Komposita in der Regel mit dem Terminus „Konfix“ bezeichnet, der in weiter Bedeutung ‒ d.h. ohne Differenzierung zwischen nichtbasisfähigen „Konfixen“ und basisfähigen „gebundenen Stämmen“ (wie z.B. bei Eisenberg 2012: 309ff.) ‒ die englischen Kategorien „combining form“ und „bound root“ zusammenfasst, weshalb im Deutschen die Bezeichnung „Konfixkompositum“ geläufiger ist, die allerdings nicht immer auf den Bereich neoklassischer Bildungen eingegrenzt ist. Das Attribut „neoklassisch“ bedingt dagegen eine diachrone Abgrenzung zwischen Wortentlehnung (aus der gräkolateinischen Tradition übernommen) und Lehnwortbildung (in modernen Sprachen mittels Reanalyse und Rekomposition gebildet). Besonders wegen der defizitären Dokumentation der neulateinischen Wortbildung ist eine solche Differenzierung allerdings nicht immer eindeutig möglich. Aber auch unabhängig davon werden in der englischen Wortbildung (vgl. z.B. Bauer/Lieber/Plag 2013: 454f.) im Rah-

493 Neubildung men der Darstellung neoklassischer Komposita auch immer wieder Beispiele genannt, die gar nicht „neoklassisch” sind (z.B. astrology: gr. astrología; bibliography: gr. bibliographía; biography: gr. biographía; telescope: mlat. telescopium). Peter O. Müller

→ § 34; Fremdwortbildung; Komposition; Kompositum; Konfix; Lehnbildung; Lexem

🕮 Bauer, L./ Lieber, R./ Plag, I. [eds. 2013] The Oxford Reference Guide to English Morphology. Oxford ◾ Bauer, L. [1998] Is there a class of neoclassical compounds, and if so is it productive? In: Ling 36(3): 403–422 ◾ Eins, W. [2015] Types of foreign wordformation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1561–1579 ◾ Eisenberg, P. [2012] Das Fremdwort im Deutschen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Lüdeling, A. [2006] Neoclassical compounding. In: Brown, K. [ed.] Encyclopedia of Language and Linguistics. 2nd ed. Vol. 8. Amsterdam [etc.]: 580–582 ◾ Plag, I. [2003] Word-Formation in English. Cambridge ◾ Schmid, H.-J. [2016] English morphology and word-formation. An introduction. 3rd, revised and enlarged edition. Berlin.

Neologismus

neu gebildetes Wort, das in den etablierten Wortschatz einer bestimmten Sprechergemeinschaft eingeht. ▲ neologism: newly formed word which enters the established vocabulary of a particular linguistic community. Ein Neologismus ist eine Neubildung, die in das Vokabular einer Sprechergemeinschaft aufgenommen wird. Psychologen und Psycholinguisten verwenden die Bezeichnung auch für erfundene Formen, die von Aphasikern in ansonsten normalen Phrasen oder Sätzen verwendet werden, vgl. Semenza/Mondini (2015). Manche Linguisten, insbesondere Lexikografen, unterscheiden insofern zwischen Neubildungen und Neologismen, als eine Neubildung im Gegensatz zu einem Neologismus nicht zu einem etablierten Wort der betreffenden Sprache wird (Crystal 2003). Wenn dies auch eine nützliche diachrone Beobachtung ist, gibt es für andere Linguisten keinen Statusunterschied zwischen Neubildungen und Neologismuen zum Zeitpunkt der Bildung, sondern diese Wörter werden alle als Neubildungen bezeichnet. Laurie Bauer ≡ Neubezeichnung; Neulexem; Neuprägung; Neuwort → § 4, 37; Ad-hoc-Bildung; usuelles Wort ⇀ Neologismus (Textling; HistSprw; SemPrag; Lexik) ⇁ neologism (Woform)

🕮 Bauer, L. [2001] Morphological Productivity. Cambridge [etc.] ◾ Crystal, D. [2003] A Dictionary of Linguistics and Phonetics. 5th ed. Oxford ◾ Elsen, H. [2022] Neologismen. Ein Studienbuch. Tübingen ◾ Plag, I. [1999] Morphological Productivity. Berlin [etc.] ◾ Semenza, C./ Mondini, S. [2015] Word-formation in aphasia. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 2154–2177.

Neubezeichnung ≡ Neologismus

Neubildung

Schaffung einer völlig neuen Kombination von Lexemen, die oft vorgenommen wird, um die interpretativen Möglichkeiten des Kompositionsprozesses zu untersuchen. ▲ novel formation: creation of a completely new combination of lexemes, often for the purpose of studying the interpretative possibilities of the composition process. Die Fähigkeit, völlig neue Kombinationen von Wortbildungseinheiten zu schaffen, gehört zur linguistischen Kompetenz der Sprecher einer Sprache. Solche Neubildungen lassen die Regelmäßigkeiten und Muster des Wortbildungssystems einer Sprache erkennen. Aus diesem Grund basieren auf Neubildungen viele theoretische Studien der Wortbildung zu Möglichkeiten und Grenzen der Wortbildungskompetenz der Sprecher. Dies gilt insbesondere für das Studium der Komposituminterpretation. Ein Beispiel ist Günther (1981), dessen Anspruch es war, die Restriktionen für die Kombination eines Nomens mit einem anderen Nomen im Deutschen zu testen. Downing (1977) nutzte die Neubildung einer Kombination von zwei Nomen als einen der Tests, der ihren Studienteilnehmern gegeben wurde, um die Interpretationsmuster zu untersuchen, auf dessen Grundlage solche neuen Kombinationen interpretiert werden. Genauso ging Ryder (1994) in ihrer Untersuchung von Kompositumtemplaten vor. Diese Strategie haben Bücking (2009, 2010), Štekauer (2005) und Härtl (2017) in ihren Studien zu Adjektiv-Nomen-Komposita ebenfalls angewendet, um den produktiven Kompositionsprozess explizit zu isolieren und jeglichen Einfluss von Lexikalisierung, die bei usualisierten Wörtern häufig gegeben ist, auszuschließen. Der Gebrauch von neuen, beliebig geformten Kombinationen ist besonders weit verbreitet in psycholinguistischen Studien

N

Neulexem 494

N

wie die von Wisniewski (1996), Gagné (2000), Gagné/Shoben (1997), Spalding (2010) und vielen anderen, die das Wissen der Teilnehmer über die impliziten Verbindungen, auf denen die Interpretationen von Nomen-Nomen-Kombinationen grundsätzlich basieren, testen. Libben/Derwing/ Almeida (1999) setzen mehrdeutige Neubildungen als Datenbasis für Experimente ein, die die Gültigkeit vorgeschlagener Zugriffsprozesse auf komplexe Wortstrukturen im mentalen Lexikon prüfen. Coolen/Jaarsveld/Schreuder (1991) diskutieren die Vorteile der Untersuchung der Komposituminterpretation innerhalb und außerhalb von Kontext und argumentieren für die Relevanz von völlig neuen Kombinationen folgendermaßen: „... novel compounds should be studied both in isolation and in context. By studying compounds in isolation, one may be able to determine the contribution of the semantic representations of the constituent nouns to the interpretation process. Moreover, empirical evidence about interpretation processes in isolation is essential for specifying the role of context in more detail. The role of the context will not be properly understood when the role of the semantic representations in the compound itself is left undetermined“ (vgl. Coolen/Jaarsveld/Schreuder 1991: 341). Susan Olsen

→ komplexes Konzept; Lexikalisierung; Neologismus; Nomen+Nomen-Kompositum; usuelles Wort

⇀ Neubildung (Lexik) ⇁ novel formation (Woform)

🕮 Bücking, S. [2010] German Nominal Compounds as Underspecified Names for Kinds. In: Olsen, S. [ed.] New Impulses in Word-Formation. Hamburg: 253–281 ◾ Coolen, R./ van Jaarsveld, H.J./ Schreuder, R. [1991] The interpretation of isolated novel nominal compounds. In: MemCog 19/4: 341–352 ◾ Downing, P. [1977] On the creation and use of English compound nouns. In: Lg 53: 810–842 ◾ Gagné, C.L./ Shoben, E.J. [1997] Influence of Thematic Relations on the Comprehension of Modifier-Noun Combinations. In: JEP-LMCog 23/1: 71–87 ◾ Gagné, C.L. [2000] Relation-based combinations versus property-based combinations. In: JMLg 42: 365–389 ◾ Günther, H. [1981] N + N. Untersuchungen zur Produktivität eines deutschen Wortbildungstyps. In: Lipka, L./ Günther, H. [Hg.] Wortbildung. Darmstadt: 258–280 ◾ Härtl, H. [2016] Normality at the boundary between word-formation and syntax. In: d'Avis, F./ Lohnstein, H. [eds.] Normalität in der Sprache. LB Sonderheft 22. Hamburg: 141–169 ◾ Libben, G./ Derwing, B./ Almeida, R. [1999] Ambiguous Novel Compounds and Models of Morphological Parsing. In: BrainLg 68: 378–386 ◾ Raffelsiefen, R. [2015]: Word-formation in optimality theory. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]:

158–187 ◾ Ryder, M.E. [1994] Ordered Chaos. The Interpretation of English Noun-Noun Compounds. Berkeley [etc.] ◾ Štekauer, P. [2005] Meaning Predictability in Word Formation. Amsterdam [etc.] ◾ Wisniewski, E.J. [1996] Construal and Similarity in Conceptual Combination. In: JMLg 35: 434–453.

Neulexem

≡ Neologismus

Neumotivation

≡ Remotivation; sekundäre Motivation

Neuprägung

≡ Neologismus

Neutralisierung

Aufhebung einer funktionalen Opposition. ▲ neutralization: suspension of a functional opposition. „Neutralisierung“ oder „Neutralisation“ ist ein Begriff aus der Terminologie Trubetzkoys (russ. Linguist, 1890–1938) und aus der Prager Schule der Linguistik (Schmidt 1989). Er bezeichnet die Aufhebung einer funktionalen Opposition in bestimmten (phonologischen) Positionen, die dann als Aufhebungsstellung bezeichnet werden. So lässt sich im Deutschen der Verlust des Unterschieds zwischen den Merkmalen „stimmhaft“ und „stimmlos“ bei den stimmhaften und den stimmlosen Verschlusslauten im Wortauslaut, indem dort alle stimmhaften Verschlusslaute ihren Stimmton verlieren, als Neutralisierung bezeichnen. Das Wort nhd. Tag, das in der Flexionsform Tages den stimmhaften Konsonant [g] aufweist, zeigt im Auslaut dessen stimmlose Variante, also eine stimmlose Lenis, zuweilen aber sogar den stimmlosen Fortislaut [kh] in [ta:kh] (Brockhaus 1995). Über diese Merkmale ist dort kein Aufbau von Minimalpaaren möglich. Die Laute /g/ (stimmhaft) und /k/ (stimmlos) kommen im Anlaut und im Inlaut vor, im Auslaut ist aber nur [k] existent. So sind die Initiallaute von Gasse [g] und Kasse [k] differenziert, die Auslaute von Sarg und Kork (beide [k]) aber nicht, und das Adverb bald [balt] sowie die Wortform ballt [balt] sind homonym, aber kein Minimalpaar. Aus dem amerikanischen Englisch stammt das Beispiel wedding – wetting; die beiden Wörter werden von vielen Sprechern gleich artikuliert, während die Laute d und t ansonsten in Opposition stehen.

495 Neutralisierung Der Begriff der Neutralisierung wurde etwa auch von den Autoren Hjelmslev, Jakobson, Cantineau, Kahn, Godel, Ruipérez, Lampach, Martinet, François, Trnka, Coseriu und Khlebnikova diskutiert und modifiziert (Schmidt 1989: 121–137). Grundlegend für die Entwicklung und Anwendung des Begriffs ist die Übertragung des Prager Neutralisierungsbegriffs aus dem Bereich der Phonologie in den Bereich der Grammatik (Schmidt 1989: 45–119). Außerhalb des Bereichs der phonologischen Oppositionen ist die Neutralisierung vor allem im Bereich des Genus diskutiert worden. In der Auseinandersetzung um die sog. geschlechtergerechte Sprache haben sich für das Dt. als geschlechtsspezifizierende Sprache vier Veränderungsstrategien herausgebildet, deren Durchsetzung abgewartet werden muss. Deren erste ist die Neutralisierung. Dazu zählt auch die Vermeidung von Geschlechtsspezifikation, z.B. durch Verwendung neutraler Wörter (Person), Pluralformen (Leute) und substantivierter Adjektive oder Partizipien (Beteiligte, Angehörige). Im letzteren Fall wird das Differentialgenus eingesetzt. Die Genusklassen sind im Dt. i.d.R. invariant. Ausnahmen mit Differentialgenus bilden von substantivierten Adjektiven und Partizipien abgeleitete Bezeichnungen, meist für Personen. Ihre Genusspezifikation erfolgt nicht lexeminhärent oder durch Movierung, sondern symmetrisch am Artikel und gegebenenfalls an Attributen, z.B. die/ der Erziehungsberechtigte, der die das Beschriebene, in Konstruktionen mit dem unbestimmten Artikel auch am substantivierten Wort selbst, z.B. eine Erziehungsberechtigte, ein Erziehungsberechtigter. Im Plural entfällt die Genusmarkierung: die Erziehungsberechtigten. Die Pluralformen sind deshalb im Dt. seltene Beispiele für Geschlechtsabstraktion und das wichtigste Mittel, um die von der feministischen Linguistik empfohlene sprachliche Gleichbehandlung von Frauen durch Neutralisierung zu praktizieren, wie sie vor allem für Gesetzes- und Verwaltungstexte typisch ist. Differentialgenus umfasst in einem weiteren Verständnis auch den systematischen Genuswechsel durch Movierung, wie es ihn in idg. Sprachen gibt. Im Lateinischen kommen syntaktische Neutralisierungen im AcI vor, und zwar etwa in Beispielen wie Video puerum puellam amare. Weiterhin wurde mit dem Begriff Neutralisierung die Am-

bivalenz eines Syntagmas wie amor patris eingeordnet, das sowohl als Genitivus subjectivus als auch als Genitivus objectivus aufgefasst werden kann. Insoweit ist Homonymie eine Form der Neutralisierung (vgl. Heupel 1973, 1978). Für das Frz. hat Schmidt (1989) die Fälle von Neutralisierung im Bereich jenseits der Phonologie zusammengestellt. Erstens lässt sich von morphologischer Asymmetrie dort sprechen, wo etwa bei den Substantiven, die im Singular auf -s, -x und -z enden, die Pluralmarkierung fehlt, so in l’époux, les époux; Vergleichbares ist bei Adjektiven zu beobachten, die im Singular auf -s oder -x enden (Schmidt 1989: 182f.). Zweitens gibt es den Fall der morpho-syntaktischen Asymmetrie (Schmidt 1989: 183f.). So haben etwa Substantive, die unzählbare Dinge bedeuten, soweit sie pluralia tantum oder singularia tantum sind, entweder nur eine Pluralform (les échecs ‘das Schachspiel’) oder eine Singularform (le blé). In diesem Zusammenhang kann auch das Fehlen entweder der femininen oder der maskulinen Form bei einigen Personen- und Tierbezeichnungen genannt werden, etwa in le diplomate, la connaissance, le crocodile, la mouche. Mit dem Begriff der morpho-syntaktischen Asymmetrie lässt sich auch die Erscheinung fassen, dass aus bestimmten Adjektiven, z.B. Farbadjektiven und solchen, die die Nationalität, Religion oder politische Zugehörigkeit angeben, keine Adverbien auf -ment ableitbar sind. Bei den sog. unpersönlichen Verben fehlen alle Personalformen bis auf die 3. Pers. Sg.; anderen „unvollständigen“ Verben fehlen bestimmte Personal- oder Tempusformen. So existiert advenir ‘geschehen’ nur im Infinitiv und in der 3. Pers., bei frire ‘braten, backen’ fehlt das Imperfekt, der Konjunktiv und das Partizip Präsens, im Präsens fehlen alle Personen des Plural, im Futur und Konditional die 1. und 2. Person Plural. Drittens tritt im Frz. paradigmatische Homonymie bei Verben, Personalpronomina und Interrogativpronomina auf (Schmidt 1989: 186f.). So ist etwa bei allen „regelmäßigen“ Verben der Imperativ der 1. und 2. Pers. Pl. und die 1. und 2. Pers. Pl. Indikativ Präsens formidentisch: portons! – nous portons, portez! – vous portez. Viertens kann von syntagmatischer Homonymie gesprochen werden, die beim Adjektiv, Numerale, Personalpronomen, Relativpronomen und Artikel beobachtet wird. So wird die 2. Pers. Pl. vous

N

Neuwort 496

N

in der Höflichkeitsform zum Anreden auch einer einzelnen Person gebraucht (Schmidt 1989: 190f.). Fünftens sind Fälle von semantischer Defektivität zu nennen (Schmidt 1989: 190f.). So sind etwa die Relativpronomina qui, que, quoi, dont, où im Gegensatz zu lequel, laquelle, lesquel(le)s genusund numerusindifferent oder anders gesagt sind sie unveränderlich, indem sie nur eine einzige Form für Maskulinum und Femininum im Singular und Plural besitzen. Die von Schmidt (1989: 192f.) als sechste Kategorie „Formenneutralität“ gebuchte Erscheinung ist vielleicht nur Ausdruck der umgekehrten Sichtweise auf die fünfte Erscheinung „semantische Defektivität“. Bei der Formenneutralität geht es darum, dass etwa das Personalpronomen on insoweit formenneutral ist, als es nicht die Merkmale enthält, die die frz. Subjektpronomina unterscheiden. Es neutralisiert die Oppositionen der drei Gesprächsrollen Sender vs. Empfänger vs. Referent, die damit verbundene Numerusopposition Singular vs. Plural und die ebenfalls (teilweise) damit verschmolzene Genus-Opposition Maskulin vs. Feminin. Ein Fall von Neutralität in Kategorien (Schmidt 1989: 194) ist siebtens etwa, dass die 1. und 2. Person im Gegensatz zur 3. Person genusneutral sind, weil sie jeweils nur eine Form für den Verweis auf männliche und weibliche Sprecher enthalten: je, tu, nous, vous – il(s), elle(s). Als achte Möglichkeit der Neutralisierug sieht Schmidt (1989: 195–200) Fälle von obligatorischer Neutralisierung an. Eines der vielen Beispiele für diese Erscheinung bei den Verben, Personalpronomina, Demonstrativpronomina, Relativpronomina, Artikeln und Indefinitpronomina ist etwa die NumerusNeutralisation bei Verben. Bei Extraposition des Subjekts, wenn also il nur grammatisches Subjekt ist, stimmt das Verb mit diesem im Numerus überein. Selbst wenn das Sinnsubjekt pluralisch ist, erhält das Verb in dieser Konstruktion die Singularform: Il vient des hommes. Neuntens treten Fälle von fakultativer Neutralisation bei Substantiven, Verben, Personalpronomina, Indefinita und Artikeln auf (Schmidt 1989: 201f.). So gibt es bei Aussagen über Tiere die Möglichkeit, die Opposition des natürlichen Geschlechts zu neutralisieren, wenn man anstelle der in Maskulinum und Femininum verschiedenen Tierbezeichnungen die übergeordnete geschlechtsneutrale Bezeichnung wählt: J’ai vu un cheval

‘ich habe ein Pferd gesehen’ statt un étalon/une jument. Als zehnten Punkt nennt Schmidt (1989: 202–205) Fälle von defektiver Distribution, also das Fehlen einer sprachlichen Einheit in einem bestimmten Kontext. Hier gibt es mehrere Untertypen. Eine unmögliche Morphemkombination liegt etwa vor, wenn chacun nicht direkt mit einem Relativpronomen kombiniert werden kann, also *Chacun qui travaille. Möglich ist nur Tous ceux qui travaillent. Komplementäre Verteilung kombinatorischer Varianten tritt etwa auf, wenn die Adverbien très, si, aussi nur vor Adjektiven vorkommen, während beaucoup, tant und autant nie Adjektive determinieren können. Vom Fehlen einer lexikalischen Einheit lässt sich sprechen, wenn etwa eine Reihe von Adverbien aufgrund ihres semantischen Gehalts bestimmte Adjektive nicht determinieren können. So sind tôt, tard, vite vor solchen Adjektiven ausgeschlossen, die keine zeitliche Komponente enthalten; man kann nicht sagen *Elle est tard belle. Das Fehlen einer Kategorie oder Morphemklasse (Schmidt 1989: 204) lässt sich beim Imperativ beobachten, bei dem grundsätzlich die Personalpronomina fehlen. So hat der Befehlssatz kein Subjekt bzw. ist der Nominativ inkompatibel mit dem Imperativ. „Einfaches“ Fehlen von Morphemen schließlich tritt etwa in dem Fall auf, dass bei transitiven Verben im Infinitiv quoi nicht zur Frage nach dem direkten Objekt stehen kann. So kann man zwar sagen Que/Quoi faire?, aber nur Que penser de tout cela? Eckhard Meineke

→ morphologische Asymmetrie; Movierung; Opposition ⇀ Neutralisierung (Phon-Dt) ⇁ neutralization (Phon-Engl; Typol)

🕮 Brockhaus, W. [1995] Final Devoicing in the Phonology of German. Tübingen ◾ Heupel, C. [1973] Taschenwörterbuch der Linguistik. München ◾ Heupel, C. [1978] Linguistisches Wörterbuch. 3., völlig neu bearb. Aufl. München ◾ Pei, M.A./ Gaynor, F. [1960] Dictionary of Linguistics. London ◾ Schmidt, S. [1989] Theorie der sprachlichen Leerstelle und ihre Anwendung auf das Französische. Tübingen ◾ van Lessen Kloeke, W. [1982] Deutsche Phonologie und Morphologie. Tübingen.

Neuwort

≡ Neologismus ⇀ Neuwort (Lexik)

nicht-kohärentes Suffix

Suffix, das ein eigenes phonologisches Wort bildet.

497

nicht-lineare Morphologie

▲ non-cohering suffix: suffix that forms a phonologi-

cal word separately from the stem.

Nicht-kohärente Suffixe bilden ein eigenes phonologisches Wort und verhalten sich damit phonologisch wie Komposita. Sie tragen immer zumindest einen Nebenakzent. Mit Booij (2002: 169) sind das im Niederländischen zum Beispiel -achtig, -baar, -dom, -heid, -ling. Daneben wird nicht-kohärentes Suffix auch im Sinne von „uneinheitliches Suffix“ gebraucht, insbesondere im Sinne von „semantisch uneinheitlich“ oder „prosodisch uneinheitlich“. Als prosodisch uneinheitlich gilt zum Beispiel das Suffix -ik¸das in Fabrik, Musik eher betont ist und eher einen gespannten Vokal enthält, während es in Graphik eher unbetont und mit einem ungespannten Vokal betont wird. So verwendet beispielsweise Paschke (2013) diesen Begriff. Semantische Inkohärenz findet sich möglicherweise bei -tum wie in Christentum vs. Reichtum; formal auch deutlich an den unterschiedlichen Genera (Neutrum vs. Maskulinum) ≡ wortwertiges Suffix ↔ kohärentes Suffix

Nanna Fuhrhop

🕮 Booij, G. [2002] The Morphology of Dutch. Oxford ◾ Paschke, P. [2013] Wortakzent im Spannungsfeld von L1 und L2. ZfInterkultFU 18(1): 93–131.

nicht-konkatenative Morphologie

Symbolisierung der Flexion und der Wortbildung durch direkte Modifikation des Wortstamms. ▲ non-concatenative morphology: symbolization of inflection and word-formation by direct modification of the word stem. In einigen Sprachen funktionieren Flexion und Wortbildung durch direkte Modifikation des Wortstammes; Stamm und Affix werden gleichzeitig realisiert. Diese Art der Morphologie wird als nicht-konkatenativ bezeichnet. Im Tohono O’Odham, einer uto-aztekischen Sprache Arizonas, wird der perfektive Aspekt eines Verbs durch Entfernen der letzten Silbe des Stammes gebildet. Es wird also kein zusätzliches sprachliches Material hinzugefügt, sondern subtrahiert: bidima > bidi ‘sich umdrehen’, huhaaga > huhaa ‘heulen’. Die Wurzelflexion der semitischen Sprachen, z.B. des Hebräischen, wird auch als eine Art von Nicht-konkatenativität aufgefasst. Die Derivation

und Flexion erfolgt nicht über ein lineares Affix, sondern durch die Kombination eines Konsonantenskeletts mit verschiedenen Vokalmustern. Das Skelett g-d-r ‘einschließen’ wird in Kombination mit dem Vokalmuster a-a ‘Aktiv’ zu gadar ‘er schloss ein’; in Kombination mit dem Vokalmuster u-a ‘Passiv’ wird es zu gudar ‘er wurde eingeschlossen’. Auch die Flexion und Wortbildung mittels Ton stellt eine Art der nicht-konkatenativen Morphologie dar. Semantische Ergebnisse, die überwiegend durch den Einsatz expliziter morphologischer Einheiten erzeugt werden, können nicht nur durch die verschiedenen Formen der expliziten kompositiven und derivativen Wortbildung erreicht werden, sondern auch teilweise ohne explizite Wortbildung, bspw. durch Konversion (grün > das Grün; Eschenlohr 1999; Vogel 1996) oder durch innere (implizite) Ableitung (lautliche Stammvariation: binden > Band, Bund, drücken > Druck, fliegen > Flug, trinken > Trank, Trunk, zwingen > Zwang), Rückbildung (Bauchlandung > bauchlanden) oder Kurzwortbildung (Schiedsrichter > Schiri). Eckhard Meineke

↔ konkatenative Morphologie → Ablaut; implizite Derivation; innere Ableitung; Konversion; Mutation (1); nicht-lineare Morphologie; Rückbildung; Stamm; Ton; Umlaut; Wurzel ⇁ non-concatenative morphology (Typol)

🕮 Comrie, B./ Thompson, S.A. [1985] Lexical nominalization. In: Shopen, T. [ed.] Language Typology and Semantic Description. Vol. III: Grammatical Categories and the Lexicon. Cambridge: 349–398 ◾ Eschenlohr, S. [1999] Vom Nomen zum Verb. Konversion, Präfigierung und Rückbildung im Deutschen. Hildesheim [etc.] ◾ McCarthy, J.J. [1994] Morphology, Concatenative. In: Asher, R.E./ Simpson, J.M.Y. [eds.] The Encyclopedia of Language and Linguistics. Oxford: 2598–2600 ◾ Vogel, P.M. [1996] Wortarten und Wortartenwechsel. Zu Konversion und verwandten Erscheinungen im Deutschen und in anderen Sprachen. Berlin [etc.].

nicht-lineare Morphologie

morphologische Operationen, die sich nicht für die Behandlung als Affigierung eignen, darunter „Rootund-Pattern“-Morphologie, Reduplikation, Ablaut und Konsonantenmutation. ▲ non-linear morphology: morphological operations that do not lend themselves to being treated as affixation, among them root and pattern morphology, reduplication, ablaut, and consonant mutation. Auch als nicht-konkatenative Morphologie be-

N

nicht-native Wortbildung 498

N

zeichnet, umfasst die nicht-lineare Morphologie eine Gruppe von Prozessen, die sich nicht in „Item-und-Arrangement“-Modellen behandeln lassen. Weil Prozesse wie „Root-and-Pattern-Morphologie“ – auch: „templatic morphology“ –, Reduplikation, Ablaut, Umlaut und andere Formen von Vokalalternation sowie Konsonantenmutation die Veränderung oder das Kopieren von Segmenten beinhalten, scheinen sie phonologischen Prozessen näherzustehen als klassisch morphologischen Prozessen der Affigierung und Komposition, lassen sich aber nicht durch klassische phonologische Regeln erfassen. Seit den 1980er Jahren bietet die autosegmentale Morphologie, die aus der wegweisenden Arbeit von McCarthy (1979) hervorgegangen ist, einen Ansatz, der viele Charakteristika dieser Prozesse erklären kann. An die Arbeit von McCarthy anschließend, die die Morphologie semitischer Sprachen mit autosegmentalen Schichten behandelt, haben andere Theoretiker in den 1980er und 1990er Jahren die autosegmentale Theorie auf andere nicht-lineare Prozesse angewendet, so z.B. auf Reduplikation (Marantz 1982) und Vokal- und Konsonantenmutation (Lieber 1984). Rochelle Lieber

→ Ablaut; autosegmentale Morphologie; Item-and-Arrangement-Modell; Mutation (1); nicht-konkatenative Morphologie; Reduplikation; Root-and-Pattern-Morphologie; templatische Morphologie; Umlaut

🕮 Lieber, R. [1984] Consonant Gradation in Fula. In: Aronoff, M./ Oehrle, R.T. [eds.] Language Sound Structure. Studies in Phonology Presented to Morris Halle by His Teacher and Students. Cambridge, MA [etc.]: 329–345 ◾ Marantz, A. [1982] Re Reduplication. In: LingInqu 13: 435–482 ◾ McCarthy, J.J. [1981] A prosodic theory of nonconcatentative morphology. In: LingInqu 12: 373–418 ◾ McCarthy, J.J. [1985] Formal Problems in Semitic Phonology and Morphology. New York, NY.

nicht-native Wortbildung ≡ Fremdwortbildung

nicht-natives Affix → Fremdwortbildung

nicht-usuelle Bildung ≡ Ad-hoc-Bildung

nicht-wortwertiges Suffix ≡ kohärentes Suffix

nomen acti

aus einem Verb abgeleitetes Substantiv zur Bezeichnung eines Zustandes als Folge bzw. Resultat des im Verb ausgedrückten Geschehens. ▲ action noun: substantive derived from a verb to express a state or a result of the activity expressed by the verb. Nomina acti (Sg.: nomen acti) als semantische Subklasse von Substantiven werden durch Suffixderivation (dt. Beschreibung, Erzeugnis, engl. disturbance ‘Störung’, frz. abondance ‘Überfluss’, ital. movimento ‘Bewegung’, span. representación ‘Vorstellung’, russ. vospalenie ‘Entzündung’, poln. zapalenie ‘Entzündung’) und Konversion (dt. Beleg, Einkommen, engl. check ‘Kontrolle’, frz. permis ‘Erlaubnisschein’, ital. parere ‘Meinung’, span. saber ‘Wissen’, poln. skok ‘Sprung’) gebildet. Viele der entsprechenden Bildungen haben zugleich eine Lesart als ‘Vorgang’ und gehören so zur Wortbildungsgruppe der nomina actionis (dt. Sendung, Stellungnahme, engl. isolation ‘Absonderung/Abgeschiedenheit’, frz. sortie ‘Ausgang/Hinausgehen’, ital. ricevimento ‘Empfang’, span. cantar ‘Gesang’). Produktive Suffixe sind im Dt. -ung (Sammlung); im Engl. -ance/-ence (acceptance ‘Zusage’), -tion (conviction ‘Überzeugung’, modification ‘Änderung’), -ment (excitement ‘Aufregung’); im Frz. -(e)ment (renouvellement ‘Erneuerung’), -ure (écriture ‘Schrift’), -ance (résistance ‘Widerstand’); im Ital. -mento (versamento ‘überwiesener Betrag’); im Span. -ación/-ición (reclamación ‘Einspruch, Beschwerde’). Hannelore Poethe ≡ Ergebnisbezeichnung; Resultatsbezeichnung → Derivationssuffix; Konversion; nomen actionis; nomen resultatis; Nominalisierung; Wortbildungsgruppe ⇀ nomen acti (Gram-Formen; Lexik) ⇁ action noun (Typol)

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Hansen, B./ Hansen, K./ Neubert, A./ Schentke, M. [1990] Englische Lexikologie. 3. Aufl. Leipzig ◾ Lieber, R. [2016] English Nouns: The Ecology of Nominalization. Cambridge ◾ Melloni, C. (2015) Result nouns. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1253–1268 ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig ◾ Thiele, J. [1992] Wortbildung der spanischen Gegenwartssprache. Leipzig [etc.].

nomen actionis

aus einem Verb abgeleitetes Substantiv zur Be-

499 zeichnung eines Geschehens/einer Tätigkeit/einer Handlung/eines Prozesses. ▲ action noun: substantive derived from a verb to express an event, activity, action or process. Nomina actionis (Sg.: nomen actionis) als semantische Subklasse von Substantiven bezeichnen ein Geschehen, eine Tätigkeit, eine Handlung oder einen Prozess als punktuelles Geschehen oder als Kontinuum. Sie können durch Suffixderivation (dt. Prüfung, Inbetriebnahme, engl. cleaning ‘Reinigung’, frz. terminaison ‘Beendigung’, lavage ‘Waschen’, ital. applicazione ‘Anwendung’, ricevimento ‘Empfang’, span. administración ‘Verwaltung’, russ. vospitanie ‘Erziehung’, poln. czytanie ‘Lesen’), Zirkumfixderivation (dt. Gesinge) und Konversion (dt. Lauf, das Laufen, engl. cry ‘Schrei’, frz. souvenir ‘Erinnerung’, pensée ‘Denken’, ital. convivere ‘Zusammenleben’, ritorno ‘Rückfahrt’, russ. vchod ‘das Eintreten’, poln. podróż ‘Reise’) gebildet werden. Als Basis fungieren Verben bzw. Verbformen und verbale Syntagmen. Bei Fremdsuffixen bilden meist Konfixe die Derivationsbasis. Nomina actionis haben daneben häufig auch eine Lesart als nomen acti ausgeprägt (dt. Sendung ‘gesandte Menge von Waren’, Stellungnahme ‘schriftlich oder mündlich bekundete Meinung’, engl. building ‘Gebäude’, frz. souvenir ‘Andenken’, pensée ‘Gedanke’, ital. costruzione ‘Bauwerk’, poln. nauczka ‘Lehre’). Seltener sind andere Lesarten wie nomen loci (dt. Eingang, frz. logement ‘Wohnung’, span. administración ‘Verwaltung’, russ. vchod ‘Eingang’). Entsprechend dem pragmatischen Bedarf an Benennungen für Tätigkeiten/Handlungen/Prozesse haben sich in dieser Wortbildungsgruppe vielfältige Wortbildungstypen herausgebildet, wie auch Übersichten in Wortbildungslehren der einzelnen Sprachen zeigen (vgl. z.B. Fleischer/ Barz 2012: 121ff., Schmid 2005: 173, Thiele 1981: 34ff., Thiele 1992. 23ff.). Produktive Suffixe sind im Dt. -ung (Bearbeitung, Grundsteinlegung) sowie das Fremdsuffix -(a)(t)ion (Distribution); im Engl. -(a)‌(t)ion (inspection ‘Prüfung’, presentation ‘Vorstellung’), -ing (building ‘Bauen’); im Frz. -age (nettoyage ‘Reinigen’), -ation (réalisation ‘Verwirklichung’)‚ -ement (stationnement ‘Stehenbleiben’); im Ital. -mento (movimento ‘Bewegung’), -zione (lavorazione ‘Bearbeitung’); im Span. -ación/-ición (urbanización ‘Verstädterung’, decisión

nomen actionis ‘Entscheidung’); im Russ. -ie (ispytanie ‘Prüfung’), -acija (modernizacija ‘Modernisierung’); im Poln. -nie/-cie (widzenie ‘Sehen’, szycie ‘Nähen’). Die Konversion des Infinitivs (dt. Arbeiten, engl. interchange ‘Austausch’, frz. parler ‘Sprechen’, ital. parlare ‘Sprechen’, span. saber ‘Wissen’) unterliegt kaum Restriktionen, führt aber seltener zu usuellen Bildungen. Fleischer/Barz (2012: 271) konstatieren eine deutliche Diskrepanz „zwischen der nahezu universellen Bildbarkeit und dem Gebrauch als Nominationseinheit“. Auch im Frz. und Span. z.B. sind lexikalisierte Infinitive als Nomination weitaus begrenzter im Vergleich zur grundsätzlich möglichen Substantivierung (vgl. Thiele 1981: 96 und Thiele 1992: 124). Am Beispiel des „vorgangsverdinglichenden“ englischen Suffixes -ing zeigt Schmid (2005: 173f.), wie sich innerhalb der Grundbedeutung ‘action/ process of V-ing’ durch metonymische Beziehungen ein breites semantisches Spektrum mit verschiedenen Bedeutungsvarianten entfaltet: instance of V-ing (z.B. transformation), state of V-ing/being V-ed (z.B. marriage), result of V-ing (z.B. achievement), product of V-ing (z.B. building). Vgl. Olsen (2020) für eine Diskussion der Ambiguität der Lesarten der engl. Nominalisierungen im Rahmen der lexikalischen Semantik. Dieser Beitrag bietet auch eine Erklärung für das Nebeneinander verschiedener Lesarten bei nomina actionis in anderen Sprachen. Für das Deutsche nomen actionis-Suffix -ung bietet Müller (2016) einen Überblick über die Entstehung und Interpretation sekundärer Wortbildungsbedeutungen. Hannelore Poethe ≡ Handlungsbezeichnung; Prozessbezeichnung; Tätigkeitsname; Tätigkeitsnomen; Vorgangsabstraktum; Vorgangsbezeichnung → Derivationssuffix; Infinitivkonversion; Konfix; Konversion; nomen acti; nomen loci; Nominalisierung; Verbalabstraktum; Verbalsubstantiv; Wortbildungstyp; Zirkumfix ⇀ nomen actionis (Gram-Formen; Lexik) ⇁ action noun (Typol)

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Gaeta, L. [2015] Action nouns in Romance. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1209–1229 ◾ Koptjevskaja-Tamm, M. [2015] Action nouns. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1195–1209 ◾ Lieber, R. [2016] English Nouns: The Ecology of Nominalization. Cambridge ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grund-

N

nomen agentis 500 zügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Müller, P.O. [2016] Wortbildungswandel oder Bedeutungsbildung? – Zur Entstehung und Interpretation sekundärer Wortbildungsbedeutungen. In: Kwekkeboom, S./ Waldenberger, S. [Hg.] PerspektivWechsel oder: Die Wiederentdeckung der Philologie. Bd. 1. Berlin: 309–332 ◾ Olsen, S. [2020] The Relatedness of Meaning in Derivational Patterns. Proceedings of Mediterranean Morphology Meetings, 2019, Vol. 12: 64–76 ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig ◾ Thiele, J. [1992] Wortbildung der spanischen Gegenwartssprache. Leipzig [etc.].

nomen agentis

meist aus einem Verb abgeleitetes Substantiv zur Bezeichnung des Trägers eines Geschehens/einer Tätigkeit/einer Handlung. ▲ agent noun: substantive usually derived from a verb to express the undertaker of an event, activity or action.

N

Nomina agentis (Sg.: nomen agentis) als semantische Subklasse von Substantiven können durch Suffixderivation (dt. Lehrer, Pendler, Flüchtling, Auftraggeber, engl. dancer ‘Tänzer’, frz. coiffeur/-euse ‘Friseur/in’, ital. fumatore/fumatrice ‘Raucher/in’, span. conquistador ‘Eroberer’, russ. pisatel‘ ‘Schriftsteller’, rabotnik ‘Arbeiter’, poln. przewodnik ‘Leiter’, serbokroat. učitelj ‘Lehrer’, ungar. szabász ‘Zuschneider’) und Konversion (dt. der/die Reisende, engl. coach ‘Trainer’, frz. étudiant/e ‘Student/in’, ital. supplente ‘Stellvertreter/ in’, span. comerciante ‘Händler/in’, russ. služaščij ‘Beamter’, poln. przewodniczacy ‘Vorsitzender’) gebildet werden. Als Basis fungieren Verben bzw. Verbformen und verbale Syntagmen. Produktive Suffixe sind im Dt. -er (Lehrer, Auftraggeber); im Engl. -er/-or (writer ‘Schreiber’, visitor ‘Besucher’), -ent/-ant (student ‘Student’, combatant ‘Kämpfer’), -ee (returnee ‘Rückkehrer’); im Frz. -eur (danseur ‘Tänzer’); im Ital. -atore/-itore (migratore ‘Wanderer’, mentitore ‘Lügner’), -ante/-ente (cantante ‘Sänger/in’, dirigente ‘Leiter/in’); im Span. -ador/​ ‑edor/-idor (fumador ‘Raucher’, corredor ‘Läufer’, servidor ‘Diener’); im Russ. -tel‘ (učitel‘ ‘Lehrer’); im Poln. -nik (užytkownik ‘Benutzer’). Die von Fleischer/Barz (2012: 201f.) für -er-Suffigierungen getroffene Differenzierung nach professioneller (Verkäufer), habitueller (Raucher) und okkasioneller (Gewinner) Ausübung der durch das Verb bezeichneten Tätigkeit lässt sich sinngemäß auch auf andere Modelle dieser Wortbildungsgruppe übertragen. Motsch (2004:

340f.) unterscheidet Bildungen zur Bezeichnung sozialer Rollen (Berufsbezeichnungen sowie Bezeichnungen von Funktionen und Rollen in sozialen Handlungsrahmen), Bildungen zur Bezeichnung von Personen mit einem markanten Verhalten (habituelle Interpretation) und Bildungen zur Bezeichnung des Agens-Aktanten eines raumzeitlich begrenzten Geschehens (partikuläre Interpretation). Als Basis nimmt Motsch (2004: 3) neben Verben auch Nomen an (dt. Kutscher; so auch frz. jardinier ‘Gärtner’, engl. miner ‘Bergmann’, ital. calciatore ‘Fußballer’, span. molinero ‘Müller’). „Die denominale Bildung setzt aber die Erschließung einer prominenten Tätigkeit des Nomens voraus.“ Bildungen, bei denen kein verbaler Bezug besteht, sind der allgemeineren semantischen Klasse der Personenbezeichnungen zuzuordnen. Diese enthält auch Benennungen von Personen nach anderen Merkmalen als der ausgeübten Tätigkeit, z.B. nach markanten Verhaltensweisen und Eigenschaften oder nach Gegenständen und Orten. Entsprechend der Motivationsbedeutung treten hier besonders Adjektive und Substantive als Basis auf (dt. Feigling, Dummchen, Fremde/r, Glaser, Stahlwerker). Einige Bildungen haben neben der Lesart als nomen agentis auch eine Lesart als nomen instrumenti (dt. Drucker, engl. receiver ‘Empfänger’/‘Empfangsgerät’, ital. calcolatore ‘Rechner’, span. soldedor ‘Schweißer’/‘Schweißgerät’). Nach Wellmann (1975: 436) können nur subjektbezogene Ableitungen aus Transitiva auch eine in­ strumentale Lesart aufweisen. Der enge kognitive Zusammenhang zwischen Handelnden und den von ihnen verwendeten Instrumenten lässt sich nach Schmid (2005: 175) auch als metonymische Übertragung, als Personifizierung der Instrumente verstehen. Auch Eisenberg (2013: 262) nimmt hier Bezeichnungsübertragung oder konzeptuelle Verschiebung an. „Das Gerät, mit dem man eine Tätigkeit vollzieht, wird perzeptiv und kognitiv leicht selbst in die Rolle des Tätigen gehoben.“ Die Arbeiten von Olsen (2019, 2020), auf Rainer (2015) basierend, argumentieren andererseits für affixale Homonymie im Falle von -er. Hannelore Poethe

↔ nomen patientis → Agensnominalisierung; Derivationssuffix; Konversion; nomen instrumenti; Nominalisierung

501

⇀ nomen agentis (Gram-Formen; Lexik)

🕮 Andreou, M. [2020] Personal/participant/inhabitant in morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 470–482 ◾ Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Eisenberg, P. [2013] Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 4., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart [etc.] ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Lieber, R. [2016] English Nouns: The Ecology of Nominalization. Cambridge ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Olsen, S. [2019] The instrument suffix -er. In: Brown, J.M.M./ Schmidt, A./ Wierzba, M. [eds.] Of Trees and Birds: A Festschrift in Honor of Gisbert Fanselow. Potsdam: 2–14 ◾ Olsen, S. [2020] The Relatedness of Meaning in Derivational Patterns. Proceedings of Mediterranean Morphology Meetings, 2019, Vol 12. Patras: 64–76. ◾ Rainer, F. [2015] Agent and instrument nouns. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1304–1316 ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin. ◾ Wellmann, H. [1975] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 2. Hauptteil: Das Substantiv. Düsseldorf.

nomen collectivum ≡ Kollektivum

nomen facti

aus einem Verb abgeleitetes Substantiv zur Bezeichnung der durch eine Tätigkeit geschaffenen Tatsache. ▲ result noun: substantiv derived from a verb to express a fact resulting from an activity.

Nomina facti (Sg.: nomen facti) als semantische Subklasse von Substantiven können durch Suffixderivation (dt. Bildung, russ. peredača ‘Sendung’, ital. versamento ‘überwiesener Betrag’) und Konversion (dt. Befund, das Ersparte, engl. copy ‘Exemplar’, frz. savoir ‘Wissen’) gebildet werden. Eine Abgrenzung gegenüber den nomina acti und nomina resultatis ist schwierig und wird oft gar nicht getroffen bzw. nicht thematisiert, vgl. aber Olsen (2020). Bei Motsch (2004: 346ff.) werden die entsprechenden Bildungen allgemein dem semantischen Muster „Die Referenten sind Thema eines Geschehens“ zugeordnet. Bei Erben (2006: 98) fallen sie, ohne dass sie ausdrücklich genannt werden, unter den Typ „Thematisierung des Objekts“. Fleischer/Barz (2012: 123) fassen nomina acti und nomina patientis für Personen, Dinge und abstrakte Gegenstände zusammen (nomina facti werden nicht gesondert erwähnt);

nomen instrumenti Referenten sind Resultat oder Betroffene eines Geschehens. Bei Barz (2009: 726ff.) erscheinen entsprechende Bildungen sowohl unter den Geschehens- und Zustandsbezeichnungen als auch unter den Gegenstandsbezeichnungen. Hannelore Poethe

→ Derivationssuffix; Konversion; nomen acti; nomen patientis; nomen resultatis; Nominalisierung

⇀ nomen facti (Gram-Formen)

🕮 Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Lieber, R. [2016] English Nouns: The Ecology of Nominalization. Cambridge ◾ Melloni, C. [2015] Result nouns. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] WordFormation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1253–1268 ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Olsen, S. [2020] The Relatedness of Meaning in Derivational Patterns. Proceedings of Mediterranean Morphology Meetings, 2019, Vol 12. Patras: 64–76.

nomen instrumenti

aus einem Verb abgeleitetes Substantiv zur Bezeichnung des Mittels eines Geschehens/einer Tätigkeit/einer Handlung. ▲ instrument noun: substantiv derived from a verb to express the means of an activity or an action. Nomina instrumenti (Sg.: nomen instrumenti) als semantische Subklasse von Substantiven „bezeichnen Gegenstände nach der Tätigkeit, die mithilfe dieser Gegenstände ausgeführt werden kann“ (Fleischer/Barz 2012: 124). Nach Motsch (2004: 343) kommt zur Angabe der Aktivität eine Zweckbestimmung als Merkmal aller Artefakte hinzu. Nomina instrumenti können durch Suffixderivation (dt. Schalter, Wagenheber, Bremse, Transformator, engl. printer ‘Drucker’, frz. interrupteur ‘Schalter’, fermoir ‘Verschluss’, rôtissoire ‘Bratpfanne’, ital. frullatore ‘Mixer’, span. lavadora ‘Waschmaschine’, russ. molotilka ‘Dreschmaschine‘, poln. licznik ‘Zähler’) und Konversion (dt. Griff, engl. drill ‘Bohrer’, breakwater ‘Wellenbrecher’, frz. tranchant ‘Schneide’, ital. stampante ‘Drucker’) gebildet werden. Als Basis fungieren Verben bzw. Verbformen und verbale Syntagmen. Produktive Suffixe sind im Dt. -er (Bohrer, Entsafter, Scheibenwischer); im Engl. -er (mower ‘Mäher’); im Frz. -eur (congélateur ‘Kühltruhe’); im Ital. -atrice/-itrice (lavatrice ‘Waschmaschine’)

N

nomen loci 502

N

und -atore/-itore (contatore ‘Zähler’); im Span. -dero/-dera (asidero ‘Griff’, regadera ‘Gießkanne’), -ador/-adora (secador ‘Trockner’, licuadora ‘Entsafter’); im Russ. -tel‘ (vyprjamitel’ ‘Gleichrichter’); im Poln. -nik (licznik ‘Zähler’). Für das Italienische hat Kremer (1996: 181) eine deutlich höhere Frequenz der Bildungen auf -atrice festgestellt, weil die „meisten modernen Werkzeuge kaum noch reine Handwerkzeuge, sondern Geräte oder Maschinen sind“. Das Nebeneinander von Bildungen wie levigatore (‘Schleifwerkzeug’) und levigatrice (‘Schleifmaschine’), aratro (‘von Hand oder Tier geführter Pflug’) und aratrice (‘Motorpflug’) macht den Unterschied zwischen herkömmlichen Handwerkzeugen und moderneren komplexen, elektrisch betriebenen Maschinen deutlich (Kremer 1996: 51; vgl. auch Crestiani 2010: 131f.). Im Deutschen sind für komplexe Maschinen reihenbildende Elemente wie -anlage (Rechenanlage), -maschine (Bohrmaschine), -gerät (Mixgerät) produktiv. Auch im Frz. hat sich nach Thiele (1981: 40) eine semantische Opposition zwischen industrieller und handwerklicher Produktion herausgebildet. Die Produktivität der Suffixe -oir und -ail/-aille ist in der Gegenwartssprache stark eingeschränkt zugunsten des Suffixes -eur, das gewöhnlich Geräte, Maschinen usw. bezeichnet, die die Handlung selbst ausführen. Einige Bildungen haben neben der Lesart als no­ men instrumenti auch eine Lesart als nomen agen­tis (dt. Drucker, engl. receiver ‘Empfangsgerät’/​‘Empfänger’, ital. calcolatore ‘Rechner’, span. soldedor ‘Schweißgerät’/‘Schweißer’). Rainer (2015) bietet eine ausführliche Diskussion dieser Nomina. Basierend auf seine Diskussion von nomina instrumenti, argumentiert Olsen (2019, 2020) für eine Behandlung von engl. -er als homonymes Affix. Hannelore Poethe ≡ Gerätebezeichnung; Instrumentalbildung; Instrumentativum; Werkzeugbezeichnung → Agensnominalisierung; Derivationssuffix; Konversion; nomen agentis; Nominalisierung ⇀ nomen instrumenti (Gram-Formen; Lexik)

🕮 Crestiani, V. [2010] Wortbildung und Wirtschaftssprachen. Vergleich deutscher und italienischer Texte. Bern [etc.] ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Kremer, R. [1996] Die Werkzeugbezeichnungen im Italienischen. Bonn ◾ Lieber, R. [2016] English Nouns: The Ecology of Nominalization. Cambridge ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung

in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Olsen, S. [2019] The instrument suffix -er. In: Brown, J.M.M./ Schmidt, A./ Wierzba, M. [eds.] Of Trees and Birds: A Festschrift in Honor of Gisbert Fanselow. Potsdam: 2–14 ◾ Olsen, S. [2020] The Relatedness of Meaning in Derivational Patterns. Proceedings of Mediterranean Morphology Meetings, 2019, Vol 12. Patras: 64–76. ◾ Rainer, F. [2015] Agent and instrument nouns. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] WordFormation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1304–1316 ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig ◾ Thiele, J. [1992] Wortbildung der spanischen Gegenwartssprache. Leipzig [etc.].

nomen loci

meist aus einem Verb abgeleitetes Substantiv zur Bezeichnung des Ortes eines Geschehens/einer Tätigkeit/einer Handlung. ▲ place noun: substantive usually derived from a verb to express the place of an event, activity or action.

Nomina loci (Sg.: nomen loci) als semantische Subklasse von Substantiven bezeichnen „Orte bzw. Einrichtungen nach dem in ihnen typischerweise ablaufenden Geschehen“ (Fleischer/Barz 2012: 124). Nach Motsch (2004: 351) schließt das konzeptuelle Schema der Institution auch Personen ein, die eine für die Institution typische Tätigkeit ausüben, sodass häufig Personen- und Ortsbezeichnung nebeneinander bestehen (dt. Brauer/ Brauerei, engl. baker/bakery, frz. boulanger/boulangerie ‘Bäcker/Bäckerei’, ital. trattore/trattoria ‘Gastwirt/Gasthaus’, span. carnicero/carnicería ‘Metzger/Metzgerei’). Nomina loci können durch Suffixderivation (dt. Bäckerei, Schmiede, engl. laundry ‘Wäscherei’, frz. imprimerie ‘Druckerei’, ital. fonderia ‘Gießerei’, spogliatoio ‘Umkleideraum’, span. aparcadero ‘Parkplatz’, russ. pekarnja ‘Bäckerei’, poln. sypialnia ‘Schlafkammer’) und Konversion (dt. Versteck, engl. dump ‘Müllhalde’, frz. entrée ‘Eingang’, russ. vchod ‘Eingang’) gebildet werden. Als Basis fungieren typischerweise Verben, Verbformen oder verbale Syntagmen. Daneben existieren aber auch zahlreiche „Bildungen zu Täterbezeichnungen, die nicht auf Verben zurückzuführen sind“ (Motsch 2004: 352), wie dt. Gärtnerei, Konditorei, frz. boucherie ‘Fleischerei’, ital. panificio ‘Bäckerei’, span. papelería ‘Schreibwarengeschäft’, russ. lesničestvo ‘Försterei’. Pro­ duktive Suffixe sind im Dt. -ei/-erei (Bügelei, Druckerei); im Engl. -ery (refinery ‘Raffinerie’); im Frz. -erie (blanchisserie ‘Wäscherei’); im Ital. -eria

503

nomen postverbalium

(gelateria ‘Eisdiele’, ricevitoria ‘Annahmestelle’); im Span. -dero (lavadero ‘Wäschküche’), -(er)ía (contaduría ‘Zahlstelle’). Nach Wellmann (1975: 452) wird die Suffixvariante -erei morphologisch durch Personenbezeichnungen gestützt. Ein Nacheinander der Bildung eines nomen agentis und eines nomen loci lässt sich auch für das italienische Suffix -eria annehmen (vgl. Crestiani 2010: 127), ebenso für die spanischen Suffixvarianten -aduría/-eduría/-iduría/​ ‑utoría (vgl. Thiele 1992: 39). Zur Konkurrenz der Suffixe -dero und -dera im Span. konstatiert Thiele (1992: 39) eine zunehmende Tendenz in der Gegenwartssprache, die feminine Form (-dera) für Instrumente und die maskuline (-dero) für die Kennzeichnung des Ortes zu spezialisieren. ≡ Ortsbezeichnung → lokal; Nominalisierung ⇀ nomen loci (Gram-Formen; Lexik)

Hannelore Poethe

🕮 Crestiani, V. [2010] Wortbildung und Wirtschaftssprachen. Vergleich deutscher und italienischer Texte. Bern [etc.] ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Lieber, R. [2016] English Nouns: The Ecology of Nominalization. Cambridge ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Szymanek, B. [2015] Place nouns. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1327–1339 ◾ Thiele, J. [1992] Wortbildung der spanischen Gegenwartssprache. Leipzig [etc.] ◾ Wellmann, H. [1975] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 2. Hauptteil: Das Substantiv. Düsseldorf.

nomen patientis

aus einem Verb bzw. einer Verbform abgeleitetes Substantiv zur Bezeichnung einer von einem Geschehen/einer Tätigkeit/einer Handlung betroffenen Person. ▲ patient noun: substantive derived from a verb or a verbal form for the expression of a person affected by an event, activity or process, expressed by the verb.

Nomina patientis (Sg.: nomen patientis) als semantische Subklasse von Substantiven bezeichnen die Person, an der eine Handlung vollzogen wird, thematisieren also das belebte Objekt eines Geschehens. Sie können durch Suffixderivation (dt. Prüfling, engl. examinee ‘Prüfling’, russ. vospitannik ‘Zögling’, serbokroat. ispitanik ‘Prüfling’) und Konversion (dt. der/die Verurteilte, der/die Auszubildende, engl. catch ‘Fang’, frz. accusé/e

‘Angeklagte/r’, ital. dipendente ‘Angestellte/r’, span. herido/-a ‘Verletzte/r’, russ. ispytuemyj ‘Prüfling’) gebildet werden. Besonders produktiv ist die Konversion von Partizipien II, die jeweils geschlechtsspezifische Benennungen ermöglicht. Nomina patientis werden nach Brdar/Brdar Szabó (1991) allgemein deutlich seltener gebildet als ihr agensbezogenes Pendant nomina agentis. In der Literatur zeigt sich kein einheitliches Bild in Bezug auf die Behandlung der traditionell als nomina patientis bezeichneten Bildungen. Beispielsweise werden bei Motsch (2004: 346ff.) Benennungen für Personen (Lehrling, Prüfling, Impfling, Anlernling) oder Pflanzen (Steckling, Setz­ ling) einem allgemeineren semantischen Mus­ter „Referenten sind Thema eines Geschehens“ zugeordnet. Damit werden Gegenstände i.w.S. als betroffene Aktanten in Geschehen charakterisiert. Unbelebte Objekte eines Geschehens werden bei Erben (2006: 98) als nomina rei actae gefasst (dt. Aufkleber, Mitbringsel), belebte Objekte als nomina patientis. Bei Fleischer/Barz (2012: 123) wiederum gehören die nomina rei actae zur Gruppe der nomina acti/patientis; als Referenten erscheinen Personen, Dinge und abstrakte Gegenstände. Barz (2009: 728f.) fasst Personenbezeichnungen zusammen und differenziert die entsprechenden Bildungen nach ihrer Rolle in einem Geschehen als Handelnde (Käufer) oder als von der Handlung Betroffene (Prüfling). Hannelore Poethe

↔ nomen agentis → Derivationssuffix; Konversion; nomen acti; nomen rei actae; Nominalisierung

⇀ nomen patientis (Gram-Formen; Lexik)

🕮 Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Brdar, M./ Brdar Szabó, R. [1991] Überlegungen zur Asymmetrie in der Produktivität von zwei Ableitungstypen. Nomina agentis und Nomina patientis. In: ZPSK 44/3: 351–356 ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Lieber, R. [2016] English Nouns: The Ecology of Nominalization. Cambridge ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Mühleisen, S. [2015] Patient nouns. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1316–1327.

nomen postverbalium ≡ Rückbildung

N

nomen qualitatis 504

nomen qualitatis

aus einem Adjektiv bzw. Partizip abgeleitetes Substantiv zur Bezeichnung einer Eigenschaft oder eines Zustands. ▲ quality noun: substantive derived from an adjective or a participle for the expression of property or a state.

N

Nomina qualitatis (Sg.: nomen qualitatis) als semantische Subklasse von Substantiven bezeichnen eine Eigenschaft oder einen Zustand und können durch Suffixderivation (dt. Klugheit, Gereiztheit, Höhe, engl. beauty ‘Schönheit’, richness ‘Reichtum’, frz. vérité ‘Wahrheit’, vraisemblance ‘Wahrscheinlichkeit’, tendresse ‘Zärtlichkeit’, ital. fertilitá ‘Fruchtbarkeit’, sicurezza ‘Sicherheit’, span. grandeza ‘Größe’, altanería ‘Höhe’, russ. skromnost‘ ‘Bescheidenheit’, poln. mądrość ‘Klugheit’) und Konversion (dt. das Schöne, das Neue, frz. nouveau ‘Neues’, passé ‘Vergangenheit’, ital. bello ‘Schönes’, span. negro ‘Schwarz’) gebildet werden. Als Basis fungieren Adjektive und Partizipien I und II. Produktive Suffixe sind im Dt. -heit/-keit/-igkeit (Schönheit, Fröhlichkeit, Hoffnungslosigkeit); im Engl. -ity (ability ‘Fähigkeit’); im Frz. -ité (possibilité ‘Möglichkeit’); im Ital. -ità (brevità ‘Kürze’), -ezza (durezza ‘Härte’); im Span. -eza (belleza ‘Schönheit’); im Russ. -ost‘ (mudrost‘ ‘Weisheit’); im Poln. -ość (parność ‘Schwüle’). In Wortbildungslehren wird nicht immer mit dem Begriff nomen qualitatis gearbeitet. Motsch (2004: 353ff.) verwendet für „Zustände, die besagen, dass einem Eigenschaftsträger eine Eigenschaft zukommt“, den Begriff „Adjektivabstrakta“. Eine Eigenschaft kann dabei „einem oder mehreren Eigenschaftsträgern in zeitlich fixierten Situationen tatsächlich zukommen oder zugesprochen werden, sie kann auch für spezifizierte Eigenschaftsträger habituell sein oder Klassen von Eigenschaftsträgern generell zugesprochen werden“. Schmid (2005: 175) spricht von „Verdinglichung von Eigenschaften“, Barz (2009: 726) ordnet die Adjektivabstrakta allgemeiner den Geschehens- und Zustandsbezeichnungen zu. Hannelore Poethe ≡ Adjektivabstraktum → deadjektivische Derivation; Deadjektivum; Nominalisierung ⇀ nomen qualitatis (Gram-Formen; Lexik)

🕮 Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Gramma-

tik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Rainer, F. [2015) Quality nouns. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1268–1284 ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin.

nomen rei actae

aus einem Verb abgeleitetes Substantiv zur Bezeichnung des durch eine Handlung Hervorgebrachten oder Betroffenen. ▲ object noun: substantiv derived from a verb to express that which was brought about by the verbal activity or the affected object.

Nomina rei actae (Sg.: nomen rei actae) als semantische Subklasse von Substantiven bezeichnen Gegenstände als durch ein Geschehen hervorgebracht (Geschreibsel), davon betroffen (Aufkleber) oder durch ein Geschehen bzw. eine bestimmte Eigenschaft charakterisiert (Illustrierte) (nach Barz 2009: 730, obwohl dort, wie in den meisten Wortbildungsdarstellungen, der Terminus nomen rei actae nicht verwendet, sondern von Gegenstandsbezeichnung gesprochen wird). Nomina rei actae thematisieren im Unterschied zu den nomina patientis das unbelebte Objekt eines Geschehens (vgl. Erben 2006: 98). Hansen/ Hansen/Neubert/Schentke (1990: 131) sprechen von Gegenständen als effiziertes (engl. produce ‘Erzeugnis’) bzw. affiziertes Objekt (engl. transplant ‘Transplantat’) einer Handlung. Nomina rei actae können durch Suffixderivation (dt. Aufkleber, Anhängsel, engl. invitation ‘Einladung’, frz. coiffure ‘Frisur’), Zirkumfixderivation (dt. Gelege) und Konversion (dt. Aushang, Schreiben, Illustrierte, engl. write-up ‘Bericht’, frz. imprimé ‘Drucksache’) gebildet werden. Die Abgrenzung zwischen nomina rei actae, nomina acti, nomina facti, nomina patientis, nomina resultatis ist schwierig und wird häufig gar nicht getroffen bzw. in Wortbildungslehren werden nicht alle semantischen Unterarten so detailliert angeführt (auch bei Buẞmann 2008 und Glück 2010 ist nomen rei actae nicht lemmatisiert). Hannelore Poethe ≡ Gegenstandsbezeichnung; Sachbezeichnnung → Derivationssuffix; Konversion; nomen acti; nomen facti; nomen patientis; nomen resultatis; Nominalisierung

🕮 Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Buẞmann, H. [Hg. 2008] Lexikon der Sprachwissenschaft. 4., durchges. u. erg.

505 Nomen+Nomen-Kompositum Aufl. Stuttgart ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Glück, H. [Hg. 2010] Metzler Lexikon Sprache. 4., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart [etc.] ◾ Hansen, B./ Hansen, K./ Neubert, A./ Schentke, M. [1990] Englische Lexikologie. 3. Aufl. Leipzig ◾ Melloni, C. [2015] Result nouns. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1253–1268.

nomen resultatis

aus einem Verb abgeleitetes Substantiv zur Bezeichnung der Folge/des Resultats eines im Verb ausgedrückten Geschehens/einer Tätigkeit/einer Handlung. ▲ result noun: substantive derived from a verb to express the result or consequence of a verbal event, activity or action. Nomina resultatis (Sg.: nomen resultatis) als semantische Subklasse von Substantiven bezeichnen die Folge, das Ergebnis eines Geschehens, einer Tätigkeit, einer Handlung. Sie können durch Suffixderivation (dt. Ordnung, engl. achievement ‘Erfolg’, frz. équipement ‘Ausrüstung’, span. desesperación ‘Verzweiflung’), Zirkumfixderivation (dt. Gesinge) und Konversion (dt. Ablauf, das Wissen, das Ersparte, frz. devoir ‘Pflicht’, résumée ‘Überblick’) gebildet werden. Viele der entsprechenden Bildungen haben zugleich eine Lesart als ‘Vorgang’ und gehören so zur Wortbildungsgruppe der nomina actionis (dt. Sendung, Stellungnahme, engl. declaration ‘Erklärung’, frz. sortie ‘Ausgang, Hinausgehen’). Im Unterschied zu den gängigen Begriffen nomen actionis, nomen agentis usw. wird in Wortbildungslehren und Grammatiken der Begriff nomen resultatis kaum verwendet. (Auch bei Buẞmann 2008 und Glück 2010 ist nomen resultatis nicht lemmatisiert.) Allerdings wird innerhalb allgemeinerer semantischer Muster von „Resultatsbezeichnungen“ (z.B. Thiele 1992: 25), „resultativer Bedeutung/resultativer Lesart“ (z.B. Motsch 2004: 347), „result of V-ing“ (z.B. Schmid (2005: 173f. bzw. Melloni 2015) gesprochen. Die entsprechenden Bildungen werden meist unter den nomina acti bzw. nomina actionis behandelt. Hannelore Poethe

→ Derivationssuffix; Konversion; nomen acti; nomen actionis; nomen agentis; Nominalisierung; Zirkumfigierung

🕮 Buẞmann, H. [Hg. 2008] Lexikon der Sprachwissenschaft. 4., durchges. u. erg. Aufl. Stuttgart ◾ Glück, H. [Hg. 2010] Metzler Lexikon Sprache. 4., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart [etc.] ◾

Lieber, R. [2016] English Nouns: The Ecology of Nominalization. Cambridge ◾ Melloni, C. [2015] Result nouns. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1253–1268 ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin ◾ Thiele, J. [1992] Wortbildung der spanischen Gegenwartssprache. Leipzig [etc.].

Nomen, verbales → Gerundium

Nomen+Nomen-Kompositum

am häufigsten auftretendes Muster von regulär gebildeten Komposita. ▲ noun-noun compound: most frequently attested pattern of regularly formed compounds. Komposition ist ein Wortbildungsprozess, bei dem zwei Lexeme kombiniert werden, um ein komplexes Lexem zu bilden. Wegen der Einfachheit des Prozesses ist sie in der Mehrheit der Sprachen eine produktive Quelle für neue Wörter. Im Gegensatz zur Derivation, bei der die Kombination eines Affixes mit einem Stamm verschiedenen Beschränkungen unterliegen kann (phonologischer, morphologischer, semantischer, pragmatischer Art), scheint die Kombination von zwei Stämmen in einem Kompositum auf den ersten Blick relativ frei. Bei einer genaueren Betrachtung wird jedoch schnell deutlich, dass der Kompositionsprozess auch auf bestimmte Weisen eingeschränkt ist. Die deutlichsten Beschränkungen betreffen die Kategorien der zu kombinierenden Lexeme. Funktionale Kategorien finden keinen Eingang in Komposita. Scheinbare Ausnahmen wie shegoat ‘Zicke’ und it-girl, die ein Personalpronomen als erste Konstituente haben, können durch eine Bedeutungserweiterung des Pronomens erklärt werden. Während Personalpronomen nur morphosyntaktische Merkmale wie Genus, Numerus und Person ohne weiteren lexikalischen Inhalt signalisieren, repräsentiert das Pronomen in shegoat die Bedeutung ‘weiblich’ und in it-girl ‘etwas Besonderes’, abgeleitet wohl vom Ausdruck she is really it. Weitere Beispiele von offensichtlichen funktionalen Kategorien in erster Position, wie die deutschen Komposita mit einem Modalverb oder mit einer Partikel (Kann-Bestimmung, NochKanzlerin) an erster Stelle, können in Einzelfällen

N

Nomen+Nomen-Kompositum 506

N

auftreten, sind aber nicht systematisch. Anders ausgedrückt: in allen regulären Fällen bestehen Komposita aus Lexemen, die den lexikalischen Kategorien entnommen wurden. Aber selbst diese allgemeine Feststellung bedarf noch näherer Erläuterung. Die Kopf-Konstituente wird auf mindestens zweierlei Weise stärker in ihrer Kategorie beschränkt als die Nicht-KopfKonstituente. Zunächst dienen Präpositionen und Verben nicht als Köpfe von produktiven endozentrischen Komposita. Die Klasse der Präpositionen ist keine offene Klasse im Lexikon, zu der neue komplexe Präpositionen hinzugefügt werden können, vgl. Fanselow (1988). Was komplexe Präpositionen zu sein scheinen, sind tatsächlich Lexikalisierungen von Juxtapositionen/Nebeneinanderstellungen wie aufgrund, deswegen und engl. into, without etc. Zweitens entstehen die scheinbar komplexen Verben in Wirklichkeit nicht durch Komposition, sondern sind Produkte von verschiedenen Wortbildungsprozessen wie die Konversionen von einem Kompositum zu einem Verb (to spotlight, to handcuff, to powerpoint < spotlight, handcuff, powerpoint) oder die Rückbildungen (to chainsmoke < chainsmoker; to ghost-write < ghostwriter). In nicht-polysynthetischen Sprachen müssen die Argumente von Verben syntaktisch ausgedrückt werden; es gibt keine echten Komposita vom Typ *to carwash, *to file-delete, vgl. Wunderlich (1986). Während die Kopf-Konstituente eines Kompositums immer eine lexikalische Kategorie ist, kann die erste Konstituente ein gebundener Stamm sein, dessen kategorialer Status unklar ist (baptism – bapt?; fanatic – fanat?), oder sie kann eine scheinbar phrasale Struktur haben (Trimm-Dich-Pfad, engl. last-hired-first-fired basis ‘zuletzt eingestellt, zuerst gefeurt-Basis’). Erste Formen mit Pluralmarkierung (Mitgliederkarte, engl. suggestions box) könnten eventuell hierher gehören. Das Resultat eines solchen Ausschlusses von Präpositionen und Verben aus der Kopf-Position von regulären, endozentrischen DeterminativKomposita ist, dass der Kopf normalerweise von einem Nomen oder einem Adjektiv vertreten wird. Und obwohl mehr Konstituententypen in der Nicht-Kopf-Position vorkommen, stellen Kombinationen eines Nomens mit einem Nomen (= Nomen+Nomen-Kompositum) das produktivste Muster der regulären Komposita dar. Aus diesem

Grund steht dieser Kompositumtyp im Zentrum der Literatur zur Interpretation von Komposita, z.B. bei Fragen nach möglichen semantischen Restriktionen der beteiligten Nomen (Downing 1977; Warren 1978) oder nach den potenziellen Interpretationen (Fanselow 1981; Meyer 1993; Ryder 1994; Olsen 2012). In letzter Zeit teilen Psycholinguisten, Psychologen und Kognitionswissenschaftler das Interesse von deskriptiven und theoretischen Linguisten an der Interpretation von Nomen+Nomen-Komposita. Dieses wachsende Interesse kann der Tatsache zugeschrieben werden, dass solche Komposita Kombinationen von Konzepten repräsentieren. Die Konzeptkombination veranschaulicht den Prozess, bei dem zwei unabhängige Konzepte zu einer innovativen Kombination zusammengefügt werden. Grundsätzlich werden Konzeptkombinationen nicht auf Komposita beschränkt, sondern sind die Grundlage für die semantische Interpretation von allen Phrasentypen. Jedoch werden die Konzepte in einem Kompositum, im Gegensatz zu einer Phrase, oft mit der Intention kombiniert, einen zumindest vorläufigen Namen für ein komplexes neues Konzept zu bilden. Dies geschieht im Kompositum ohne zusätzliche Informationen darüber, wie die zusammengefügten Konzepte zusammenhängen. Der primäre Grund für das Interesse der Psycholinguisten und Kognitionswissenschaftler an Konzeptkombination liegt vor allem im potentiellen Aufschluss darüber, wie einfache Konzepten strukturiert sind sowie welche Flexibilität gegeben ist bei ihrer Verbindung zu einem gesamten Konzept. Wenn zwei Konzepte miteinander kombiniert werden, enthält das komplexe Konzept meist mehr Information, als auf die Bedeutung der beiden einfachen Konzepten allein zurückgeht (dieses Phänomen wird als „emergent attributes“ bezeichnet, vgl. Hampton 1987; Murphy 1990). Zum Beispiel wird ein Holzlöffel typischerweise als ein größeres Objekt verstanden als das einfache Konzept „Löffel“. Folglich ist der Bereich der Konzeptkombination ein gutes Testfeld für Theorien, die versuchen, die Fragen nach der Struktur und der Repräsentation der Konzepte im menschlichen Geist zu beantworten. Außerdem können auch verschiedene Strategien wie „relation linking“ und „property mapping“ (vgl. Wisniewski 1996) auf ein und dasselbe Wort zutreffen und somit zur Erklärung der prinzipiel-

507 Nomeninkorporation len Interpretationsoffenheit, die charakteristisch für Nomen+Nomen-Komposita ist, beitragen, vgl. Schlangenvase ‘Vase, die Schlangen enthält’ (= „relation linking“) oder ‘Vase mit einer geschlängelten Form’ (= „property mapping“). Psycholinguistische Studien sind des Weiteren an den Möglichkeiten der impliziten Relation (Gagné 2001; Gagné/Shoben 1997, 2015; Spalding/Gagné/ Mullaly 2010) und wie auf diese im mentalen Lexikon zugegriffen wird (Libben/Derwing/Almeida 1999; Libben 2010, 2015) interessiert. Neurolinguistische Studien konzentrieren sich darauf, die Fähigkeit von Aphasikern, lexikalisierte und neue Nomen+Nomen-Komposita zu interpretieren, mit der von Nicht-Aphasikern zu vergleichen (Libben 1993; Libben/Buchanan/Colangelo 2003, 1993; McEwen/Westbury/Buchanan/Libben 2001; Semenza/Mondini 2010, 2015). Susan Olsen

→ § 22; concept elaboration; Kompositum; Konversion;

Konzeptkombination; Phrasenkompositum; Pluralkompositum; property mapping; relation linking; Restriktion; Rückbildung ⇁ noun-noun compound (Woform)

🕮 Downing, P. [1977] On the creation and use of English compound nouns. In: Lg 53: 810–842 ◾ Fanselow, G. [1981] Zur Syntax und Semantik der Nominalkomposition. Tübingen ◾ Fanselow, G. [1988] „Word Syntax“ and Semantic Principles. In: Booij, G./ van Marle J. [eds.] YbMo 1988. Dordrecht: 95–122 ◾ Gagné, C.L./ Shoben, E.J. [1997] Influence of Thematic Relations on the Comprehension of Modifier-Noun Combinations. In: JEPLMCog 23/1: 71–87 ◾ Gagné, C.L./ Spalding, T.L. [2015] Nounnoun compounds. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1143– 1159 ◾ Gagné, C.L. [2001] Relation and lexical priming during the interpretation of noun-noun combinations. In: JEP-LMCog 27/1: 236–254 ◾ Hampton, J.A. [1987] Inheritance of attributes in natural concept conjunctions. In: MemCog 15/1: 55–71 ◾ Libben, G./ Buchanan, L./ Colangelo, A. [2003] Morphology, Semantics and Aphasia. The Failure of Inhibition Hypothesis. In: LogosLg IV/4: 45–53 ◾ Libben, G./ Derwing, B./ Almeida, R. [1999] Ambiguous Novel Compounds and Models of Morphological Parsing. In: BrainLg 68: 378–386 ◾ Libben, G. [1993] A Case of Obligatory Access to Morphological Constituents. In: NJLing-C 16: 111–121 ◾ Libben, G. [2010] Compound Words, Semantic Transparency, and Morphological Transcendence. In: Olsen, S. [ed.] New Impulses in Word-Formation. Hamburg: 317–330 ◾ Libben, G. [2015] Word-formation in psycholinguistics and neurocognitive research. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 203–217 ◾ McEwen, S./ Westbury, C./ Buchanan, L./ Libben, G. [2001] Semantic information is used by a deep dyslexic to parse compounds. In: BrCog 46: 201–205 ◾ Meyer, R. [1993] Compound comprehension in isolation and in context. Tübingen ◾ Murphy, G.L. [1990] Noun phrase interpretation and conceptual combination. In:

JMLg 29: 259–288 ◾ Olsen, S. [2012] The Semantics of Compounds. In: Maienborn, C./ Heusinger, K./ Portner, P. [eds.] Semantics (HSK 33.3). Berlin [etc.]: 2120–2150 ◾ Ryder, M.E. [1994] Ordered Chaos. The Interpretation of English Noun-Noun Compounds. Berkeley [etc.] ◾ Semenza, C./ Mondini, S. [2010] Compound Word in Neuropsychology. In: Olsen, S. [ed.] New Impulses in Word-Formation. Hamburg: 331–348 ◾ Semenza, C./ Mondini, S. [2015] Word-formation in aphasia. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.], 2154–2177 ◾ Spalding, T.L./ Gagné, C.L./ Mullaly, A.C./ Ji, H. [2010] Relation-based interpretation of noun-noun phrases. In: Olsen, S. [ed.] New Impulses in WordFormation. Hamburg: 283–315 ◾ Warren, B. [1978] Semantic Patterns of Noun-Noun Compounds. Göteborg ◾ Wisniewski, E.J. [1996] Construal and Similarity in Conceptual Combination. In: JMLg 35: 434–453 ◾ Wunderlich, D. [1986] Probleme der Wortstruktur. In: ZS 2: 209–252.

Nomeninkorporation

Bildung eines komplexen Verbs, das aus einem Verb und einem Nomen besteht. ▲ noun incorporation: formation of a complex verb consisting of a noun and a verb. Von Nomeninkorporation spricht man, wenn ein Verb und ein Nomen ein komplexes Verb bilden, in dem das Nomen einer vollwertigen syntaktischen Nominalphrase (meistens ein direktes Objekt) entspricht. Ein Beispiel (Gerdts 1998) aus dem Nahuatl wäre ni-naca-qua ‘ich-Fleisch-esse’. Hier wurde das Objekt naca ins Verb inkorporiert und bildet somit mit dem Verb eine morphologische Einheit. Dies ist zu vergleichen mit ni-c-qua in nacatl ‘ich-es-esse das Fleisch’, in dem das Objekt nicht inkorporiert ist, und zusammen mit einem Artikel eine Nominalphrase bildet. Inkorporierte Nomen erhalten grundsätzlich keinen Kasus, was in gewissen Ergativsprachen dazu führen kann, dass ein Agens Absolutivkasus anstelle des sonst erwartbaren Ergativkasus erhält. Konstruktionen mit Nomeninkorporation sind sprachintern und sprachübergreifend nicht einheitlich. Manche Unterschiede zwischen Konstruktionen mit Nomeninkorporierung sind argumentstruktureller Art. (Zum Beispiel: Können inkorporierte Nomen und syntaktische direkte Objekte im selben Satz auftreten, oder sind sie in komplementärer Verteilung? Erlaubt eine Sprache nur die Inkorporierung direkter Objekte, oder können auch oblique Argumente, etwa Instrumente, inkorporiert werden?) Unterschiedlich sind auch die morphologischen und phonologischen Aspekte der Einheit zwischen Verb und

N

Nominalabstraktum 508 inkorporiertem Nomen. (Verhält sich die Struktur wie ein phonologisches Wort? Können Flexionsaffixe zwischen Verb und Nomen auftreten? Oder ist das einzige Zeichen für die Inkorporierung das Fehlen sonst obligatorischer Merkmale der Nominalphrase wie Artikel?) Die Produktivität der Inkorporierung ist auch je nach Sprache variabel. (Ist die Inkorporierung auf eine geschlossene Menge an Verben und/oder Nomen beschränkt?) Schließlich können Unterschiede darin bestehen, ob eine bestimmte Inkorporationskonstruktion in einer bestimmten Theorie als Ergebnis einer syntaktischen oder einer rein morphologischen bzw. lexikalischen Ableitung angesehen wird.

→ Inkorporation ⇁ noun incorporation (Typol)

N

Andrew McIntyre

🕮 Baker, M.C. [1988] Incorporation. A Theory of Grammatical Function Changing. Chicago, IL [etc.] ◾ Caballero, G. et al. [2008] Nonsyntactic ordering effects in noun incorporation. In: LingTyp 12: 383–421 ◾ Gerdts, D. [1998] Incorporation. In: Spencer, A./ Zwicky, A.M. [eds.] The Handbook of Morphology. Oxford: 84–100 ◾ Haugen, J.D. [2008] Morphology at the Interfaces. Reduplication and Noun Incorporation in Uto-Aztecan. Amsterdam [etc.] ◾ Haugen, J.D. [2015] Incorporation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 413–434 ◾ Mithun, M. [1984] The Evolution of Noun Incorporation. In: Lg 60: 847–894.

Nominalabstraktum

durch Wortbildung entstandenes desubstantivisches Substantiv zur Bezeichnung von etwas Nichtgegenständlichem. ▲ denominal abstract noun: denominal noun that has emerged by means of word formation that denotes an abstract meaning.

Nominalabstrakta benennen Zustände, Eigenschaften und Verhaltensweisen und werden auch als „status nouns“ bezeichnet (vgl. Luschützky 2015). Da kein Wortartwechsel, aber ein Begriffsklassenwechsel erfolgt, kommen für ihre Bildung nur transponierende Typen der Suffixderivation in Frage. Im Deutschen sind das die heimischen Suffixe -heit (Kindheit), -schaft (Vaterschaft, Freundschaft), -tum (Abenteurertum), -ei/-erei (Tyrannei, Lumperei) sowie das Fremdsuffix -ismus (Dilettantismus), im Engl. z.B. -hood (childhood ‘Kindheit’), -ism (symbolism ‘Symbolismus’), -ship (membership ‘Mitgliedschaft’), im Frz. -age (esclavage ‘Sklaverei’, veuvage ‘Witwenschaft’), -isme (marxisme ‘Marxismus’). Schmid (2005: 176) be-

trachtet die Abstraktion neben der Personalisierung als „die wichtigsten semantischen Effekte denominaler Nomensuffigierungen“. Als Fremdsuffix ohne native Entsprechung fungiert im Dt. -ismus mit recht zahlreichen Bildungen: Dadaismus, Darwinismus, Snobismus, Alkoholismus, Symbolismus, Aktionismus, Perfektionismus (Barz 2009: 726ff.). Eisenberg (2013: 276) spricht von „ismus-Abstraktum“. Diese Abstrakta bezeichnen „Syndrome von Verhaltensweisen und ihnen zugrunde liegende stereotype Anschauungen, die in unterschiedlicher, aber je bestimmbarer Weise auf die Bedeutung der Basis bezogen sind. Typisch sind Bezeichnungen für politische, wissenschaftliche, religiöse, künstlerische oder sonstwie gruppenrelevante ‚Richtungen’“. Die Basis ist in vielen Fällen „eine Personenbezeichnung oder ein Personenname: Barbarismus, Despotismus, Idiotismus, Patriotismus, Pedantismus, Zarismus; Bonapartismus, Darwinismus, Epikurismus, Trotzkismus, Kalvinismus, Buddhismus; mit spezifischer Derivationsstammform Hegelianismus, Kantianismus“ (Fleischer/Barz 2012: 246). Wellmann (1975: 296f., 306) verweist darauf, dass das Suffix -ismus häufig neben der substantivischen auch eine adjektivische Basis habe und dieser Doppelbezug für die Derivation mit -ismus konstitutiv sei. Auch Thiele (1981: 44) spricht von „adjektivisch-substantivischen Stämme[n], die sich mit diesem Suffix verbinden“. Die hohe Produktivität auch in anderen Sprachen erklärt sich daraus, dass die Bildungen über den politischen Wortschatz hinaus ihre Gebrauchssphäre wesentlich erweitert haben, z.B. auf die linguistische Begriffsbildung (vgl. Thiele 1981: 45, Schmid 2005: 176). Die entsprechenden Suffixe sind im Engl. -ism (Maoism ‘Maoismus’, behaviorism ‘Behaviorismus’), im Frz. -isme (colonialisme ‘Kolonialismus’, consonantisme ‘Konsonantismus’), im Span. -ismo (alcoholismo ‘Alkoholismus’, revanchismo ‘Revanchismus’), im Ital. -ismo (terrorismo ‘Terrorismus’, eroismo ‘Heldentum’), im Portugies. -ismo (budismo ‘Buddhismus’, impressionismo ‘Impressionismus’), im Russ. -izm (marksizm ‘Marxismus’, protekcionizm ‘Protektionismus’). Einen Überblick über die Entwicklungsgeschichte von -ismus im Deutschen mit europäischen Bezügen bieten Ganslmayer/ Müller (2021a, b). Hannelore Poethe

509 Nominalisierung ≡ Substantivabstraktum → Transposition; Verbalabstraktum; Wortart

🕮 ◾ Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Eisenberg, P. [2013] Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 4., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart [etc.] ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Ganslmayer, C./ Müller, P.O. [2021a] Historische Fremdwortbildung. Forschungsstand und Perspektiven. In: Ganslmayer, C./ Schwarz, C. [Hg.]: Historische Wortbildung. Theorien – Methoden – Perspektiven. Hildesheim [etc.]: 105–144 ◾ Ganslmayer, C./ Müller, P.O. [2021b] Diskurse im Spiegel der Wortbildung. -ismus und Ismen. In: Bär, J.A. [Hg.] Historische Text- und Diskurssemantik. Berlin [etc.]: 90–118 ◾ Hansen, B./ Hansen, K./ Neubert, A./ Schentke, M. [1990] Englische Lexikologie. 3. Aufl. Leipzig ◾ Luschützky, H.C. [2015] Status nouns. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1285–1304 ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin ◾ Schpak-Dolt, N. [2012] Einführung in die Morphologie des Spanischen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig ◾ Wellmann, H. [1975] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 2. Hauptteil: Das Substantiv. Düsseldorf.

nominales Rektionskompositum

Kompositum, dessen Interpretation semantisch von der Anwendung der in der nominalen Kopfkonstituente ausgedrückten Funktion auf die erste Konstituente abhängt. ▲ nominal governing compound: compound whose interpretation depends semantically on the application of the function expressed in the nominal head constituent to the first constituent. In der Literatur herrscht Konsens darüber, dass Komposita in zwei allgemeine semantische Gruppen eingeteilt werden können, die in der englischen Literatur als primäre („primary“ oder „root“) und verbale („verbal“) Komposita bekannt sind. Diese Gruppeneinteilung ist abhängig davon, ob die erste Konstituente als Modifikator oder als Argument zur Kopfkonstituente fungiert. Marchand (1969) nennt den Argument-Kopf-Typ „synthetic“ oder „verbal nexus compounds“. Historische Grammatiken benutzten den Begriff „Akkusativkompositum“, der allerdings einen engeren Umfang hat, indem er auf ein Erstglied restringiert ist, das in einer syntaktischen Konstruktion als Akkusativobjekt zum regierenden Verb vorkommen würde. Verschiedene formale Modelle wurden vorgeschlagen, die zu erklären versuchen, wie die erste Konstituente in Komposita wie Pferdezüchter, Zigarettenraucher, Kaffeetrinker, Betonmischer

usw. als das interne Argument des deverbalen Kopfes verstanden wird, vgl. u.a. Bierwisch (2015) und Jackendoff (2009). In seiner Untersuchung zur Semantik von nominalen Komposita weist Fanselow (1981: 81ff.) explizit darauf hin, dass rein nominale (zusätzlich zu deverbalen nominalen) Köpfe auch eine Argumentstruktur haben können und somit fähig sind, ihren ersten Konstituenten eine Argumentrolle zuzuweisen. Beispiele sind Professorensohn, SPD-Boss, Richterfreund. Fanselow nennt diese Komposita nominale Rektionskomposita und benutzt die semantische Operation der funktionalen Applikation, um ihre Semantik zu erklären. Susan Olsen

→ § 22; Akkusativkompositum; funktionale Applikation; Kompositum; primary compound; verbal compound

🕮 Bierwisch, M. [2015] Word-formation and argument structure. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1056–1099 ◾ Crestani, V. [2015] Busfahrer, Trasporto merci, meat-eater: Rektionskomposita im Deutschen, im Italienischen und im Englischen. In: Germanistische Kontexte 1(1): 29-49 ◾ Fanselow, G. [1981] Zur Syntax und Semantik der Nominalkomposition. Tübingen ◾ Jackendoff, R. [2009] Compounding in the Parallel Architecture and Conceptual Semantics. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Compounding. Oxford [etc.]: 105–128 ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of PresentDay English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Melloni, C. [2020] Subordinate and Synthetic Compounds in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 700–726.

Nominalisierung

Bildung eines Nomens aus einer nichtnominalen Basis. ▲ nominalization: formation of a noun from a nonnominal base. Die Nominalisierung ist ein Wortbildungsverfahren, dem Wörter aller Wortarten unterzogen werden können. Besonders viele Nominalisierungsmodelle gibt es für verbale und adjektivische Basen einschließlich entsprechender Syntagmen. Die übrigen Wortarten spielen als Basen für Nominalisierungen nur eine marginale Rolle (das Heute, ohne Wenn und Aber). Genutzt werden die Derivation sowie die morphologische und syntaktische Konversion. Bei der deverbalen Derivation sind die Bildungsmöglichkeiten für nomina actionis und nomina agentis differenziert ausgebaut. Nomina actionis, auch Verbalabstrakta genannt, entstehen mit -e

N

nuclear stress rule 510

N

(Suche, Inanspruchnahme), -ung (Begrüßung, Berichterstattung), -ei/-erei (Schmeichelei, Singerei, Rechthaberei), -at/-t/-ion (Kombination), seltener mit -s (Mucks) und -er (Seufzer); engl. mit -at/-t/​ ‑ion (declaration, projection), -ence/-ance (acceptance), -ing (beginning), -al (arrival); russ. mit -nie/-enie/-tie (pisanie, uveličenie, otkrytie), -stvo (rukovodstvo). Für die Bildung von nomina agentis werden v.a. die Suffixe -er (Maler), -ling (Lehrling) und umgangssprachlich -i (Knacki) genutzt; engl. -er/-or (teacher, actor), -ent/-ant (student, inhabitant); russ. -ec (prodavec), -nik (izmennik). Motsch (1999: 321) unterscheidet die Nominalisierungen semantisch. Er trennt nomina actionis als „reine Nominalisierung“ (Erziehung, das Erziehen) von „Nominalisierung mit zusätzlichen semantischen Veränderungen“ (Erzieher, Erzieherei). Zur „konzeptuellen Verschiebung“ zwischen nomina agentis und nomina instrumenti (Drucker; russ. bombardirovščik) sowie zwischen nomina actionis und nomina acti (Sendung; engl. frz. souvenir), vgl. Eisenberg (2013: 262). Bei der deverbalen Konversion ist die syntaktische Konversion des Infinitivs besonders produktiv, auch bei Syntagmen (das Lachen, Erzählen, Sichausweinen, Auf-der-faulen-Haut-Liegen). Morphologische Konversion liegt vor, wenn Präsens-, Präterital- oder Partizipialstamm des Verbs nominalisiert werden (Kauf, Trank, Trunk). Die letztgenannte Bildungsart wird auch als implizite Derivation (Erben 2006: 30f.) oder Derivation mit Nullmorphem (Marchand 1969: 359) bezeichnet. Deverbale Nomina übernehmen in der Regel die Argumentstruktur ihres Basisverbs. Die Argumente können beim Nomen syntaktisch oder als Kompositionsglied realisiert werden (Kinder erziehen – Erziehung der Kinder – Kindererziehung); dazu Olsen (1986: 75ff., 2017). Die Nominalisierung von Adjektiven und Partizipien erfolgt durch Derivation mit den Suffixen -e (Breite), -heit/-keit/-igkeit (Gereiztheit, Sauberkeit, Müdigkeit), -ling (Fremdling), außerdem durch syntaktische Konversion (der/die Alte, der/die Reisende, Angestellte). Bei Schmid (2005: 171) werden der Nominalisierung neben deverbalen und deadjektivischen Substantiven auch denominale Substantive zugeordnet. Zur Nominalisierung im Ungarischen vgl. Laczkó (2015). Irmhild Barz

→ § 31; Agensnominalisierung; implizite Derivation; Konver-

sion; nomen acti; nomen actionis; nomen agentis; nomen instrumenti; Nullmorphem; Substantivierung; Verbalsubstantiv ⇀ Nominalisierung (Gram-Formen; Lexik; HistSprw; CG-Dt) ⇁ nominalization (Typol)

🕮 Autorenk. [unter Leit. v. L. Wilske 1984] Die russische Sprache der Gegenwart. Bd. 4: Lexikologie. 2., unveränd. Aufl. Leipzig ◾ Eisenberg, P. [2013] Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 4., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart [etc.] ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Iordăchioaia, G./ Soare, E. [2020] Nominalization (ZWJW 4/2). Berlin ◾ Laczkó, L. [2015] Nominalization in Hungarian. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1241–1253 ◾ Lieber, R. [2020] Nominalization: General Overview and Theoretical Issues. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 443–456 ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Motsch, W. [1999] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. Berlin [etc.] ◾ Olsen, S. [1986] Wortbildung im Deutschen. Eine Einführung in die Theorie der Wortstruktur. Stuttgart ◾ Olsen, S. [2017] Synthetic Compounds from a Lexicalist Perspective. In: ZWJW 1/1: 15–43 ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin.

nuclear stress rule

Regel, die den Akzent einer phrasalen Kategorie ihrem rechten Bestandteil zuweist. ▲ nuclear stress rule: rule assigning stress to the rightmost element in a phrasal category. Die „nuclear stress rule“ wurde von Chomsky/Halle (1968) formuliert, um das Muster zu erfassen, dass der Hauptakzent phrasaler Kategorien wie grünes Licht oder sieht Sterne auf das am weitesten rechts stehende Element der Phrase fällt. Die „nuclear stress rule“ steht im Kontrast zur „compound stress rule“, die den Hauptakzent dem Erstglied eines Kompositums zuweist. Die „nuclear stress rule“ ist nicht kontrovers, es gibt aber kein hinlängliches Verständnis über die „compound stress rule“ in Komposita. Die Diskussionen in Olsen (2000), Giegerich (2004) und Plag (2013) umreißen die Problematik.

→ compound stress rule; Kompositum ⇀ nuclear stress rule (Phon-Dt) ⇁ nuclear stress rule (Phon-Engl; Woform)

Laurie Bauer

🕮 Chomsky, N./ Halle, M. [1968] The Sound Pattern of English. New York, NY ◾ Giegerich, H. [2004] Compound or phrase? English noun-plus-noun constructions and the stress criterion. In: EngLgLit 8(1): 1–24 ◾ Olsen, S. [2000] Compounding and Stress in English. In: LB 181: 55–69 ◾ Plag, I. [2003] Word-Formation in English. Cambridge: 137–141.

511 Nullallomorph

Nullableitung

≡ Konversion ⇀ Nullableitung (CG-Dt)

Nullallomorph

Allomorph, das einen Inhalt, aber keinen Ausdruck hat. ▲ zero allomorph: allomorph which has a content but no expression. Ein Nullallomorph gehört zu einem Morphem, das auch Allomorphe mit explizitem Ausdruck hat, und wird angesetzt, um eine strukturelle Analogie zu ihnen herzustellen. Ein klassisches Beispiel liefert das Tschechische, wo der Genitiv Plural der Substantive slunce ‘Sonne’, soudce ‘Richter’ und ulice ‘Straße’ (mit demselben Suffix -e ‘nom.sg’) sluncí, soudců bzw. ulic lautet. Da sich in sluncí und soudců die Allomorphe í ‘gen. pl’ bzw. ů ‘gen.pl’ identifizieren lassen, kann man, um auch ulic als Verkettung des Stamms mit dem Morphem {gen.pl} darstellen zu können, dort ein Allomorph ∅ ‘gen.pl’ annehmen. Die Idee, in solchen Fällen eine Null zu postulieren, findet sich seit den 1870er Jahren bei Baudouin de Courtenay sowie de Saussure und wurde unter anderem in der Prager Schule weiter ausgearbeitet (s. z.B. Jakobson 1939); davon sind Tilgungsoperationen zu unterscheiden, von denen bereits altindische Grammatiker rund tausend Jahre vor der Einführung der mathematischen Null Gebrauch machten (vgl. Bergenholtz/Mugdan 2000: 437f.). Um eine ausufernde Verwendung von Nullallomorphen zu verhindern, sind verschiedene Richtlinien vorgeschlagen worden, z.B. dass ein Inhalt nicht einem Nullallomorph zugeschrieben werden darf, wenn es einen offenen Ausdrucksunterschied gibt (sodass z.B. ∅ ‘pl’ bei dt. Nägel wegen des Umlauts unzulässig wäre) oder dass ein Nullallomorph erkennbar sein muss (was insbesondere einen Kontrast zwischen Null und nichts ausschließt, z.B. Plural Besen-∅ gegenüber Singular Besen). Es ist jedoch nicht hilfreich, daraus rigorose Regeln zu machen, da Nullallomorphe, die diese Bedingungen verletzen, manchmal im Rahmen des Gesamtsystems durchaus zu sinnvollen, ökonomischen und eleganten Lösungen führen können (s. Bergenholtz/Mugdan 2000: 440f.; andere Prinzipien vertritt z.B. Mel’čuk 2006: 469–516).

Während Nullallomorphe in Flexionsparadigmen oft leicht zu rechtfertigen sind, ist die Situation bei der Derivation erheblich schwieriger. Soll man z.B. bei Koch im Vergleich zu Dreher, Drucker usw. ein Nullallomorph annehmen, das zu demselben Morphem gehört wie -er? Das würde bedeuten, dass es im Deutschen eine Vielzahl von Nullallomorphen zu verschiedenen Derivationsmorphemen gibt. Außerdem ist nicht immer klar, ob die Bildungen mit und ohne explizites Affix tatsächlich gleichbedeutend sind, und in manchen Fällen kommen verschiedene explizite Affixe (z.B. ein Präfix und ein Suffix) als Analogon in Frage (vgl. Bergenholtz/Mugdan 2000: 444–446; Mugdan 2015: 271f.). Daher werden Nullelemente in der Derivation von manchen Linguisten völlig abgelehnt (z.B. Mel’čuk 2006: 504f.). Stattdessen nehmen sie einen Prozess der Konversion an, der z.B. die Verbwurzel koch- in eine Substantivwurzel umwandelt. (Dass das Substantiv gegenüber dem Verb eine engere Bedeutung hat, ist damit allerdings noch nicht erfasst.) Obwohl oft undifferenziert von „Nullableitung oder Konversion“ gesprochen wird, ist es konzeptionell ein wesentlicher Unterschied, ob ein sprachliches Element hinzugefügt wird oder ob Merkmale verändert werden. Ein dritter Ansatz geht davon aus, dass die Wurzel koch- entweder Verb- und Substantivwurzel zugleich ist oder gar keine Wortartmerkmale trägt, sodass es keine Ableitung in die eine oder andere Richtung gibt und sich somit auch Nullen erübrigen (vgl. Mugdan 2015: 272, 288f.; s. auch Bergenholtz/Mugdan 1979 sowie Don/ Trommelen/Zonneveld 2000). Joachim Mugdan ≡ Nullelement; Nullzeichen → Allomorph; Konversion; Nullmorphem; Nullsuffix; overt analogue criterion ⇀ Nullallomorph (Gram-Formen)

🕮 Bergenholtz, H./ Mugdan, J. [1979]. Ist Liebe primär? Über Ableitung und Wortarten. In: Braun, P. [Hg.] Deutsche Gegenwartssprache. Entwicklungen, Entwürfe, Diskussionen. München: 239–254. [Verbesserte Fassung unter: https://tinyurl. com/Ist-Liebe-primaer; letzter Zugriff: 07.05.2019] ◾ Bergenholtz, H./ Mugdan, J. [2000] Nullelemente in der Morphologie. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 435–450 ◾ Don, J./ Trommelen, M./ Zonneveld, W. [2000] Conversion and category indeterminacy. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 943–952 ◾ Jakobson, R. [1939], Signe zéro. In: Mélanges de linguistique offerts à Charles Bally. Genève: 143–152 ◾ Mel’čuk, I. [2006] Aspects of the Theory of Morphology. Berlin

N

Nullelement 512 [etc.] ◾ Mugdan, J. [2015] Units of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 235–301.

Nullelement

≡ Nullallomorph; Nullmorphem ⇀ Nullelement (Phon-Dt)

Nullfuge

→ Fuge, Fugenelement

Nullmorphem

Morphem, das keine Allomorphe mit einem Ausdruck hat. ▲ zero morpheme: morpheme which has no allomorphs with an expression.

N

Der Terminus Nullmorphem wird oft ungenau für ein Nullallomorph verwendet, neben dem es Allomorphe desselben Morphems mit einem expliziten Ausdruck gibt. Ein Nullmorphem im eigentlichen Sinn ist jedoch ein Morphem, das kein von Null verschiedenes Allomorph aufweist (s. schon Jakobson 1940: 220, wo diese Fälle unterschieden, aber beide als Nullmorphem bezeichnet werden; keine solche Unterscheidung trifft der Überblick Dahl/Fábregas 2020). Obwohl es in wenigen Fällen plausibel ist, Wurzeln ohne Ausdruck anzusetzen (s. Mel’čuk 2006: 472–475), werden vor allem Nullaffixe angenommen, um eine strukturelle Parallele herzustellen. Beispielsweise hat das Baschkirische wie andere Turksprachen (und das Deutsche) bei Substantiven keine formale Markierung von Singular und Nominativ, wie Tab. 1 zeigt. (Der Unterschied zwischen /dan/ und /ðan/ im Ablativ ist rein phonologisch bedingt.) Tab. 1: Teilparadigma eines baschkirischen Substantivs awɤl ‘Dorf’

Singular

Plural

Nominativ

/awɤl/

/awɤl-dar/

Ablativ

/awɤl-dan/

/awɤl-dar-ðan/

Da im Dativ Plural ein Numerus- und ein Kasussuffix auftritt, wollen manche durch die Annahme der Nullmorpheme {sg} und {nom} erreichen, dass das auch bei den anderen Flexionsformen so ist und dass jeder Ausprägung der betreffenden morphosyntaktischen Kategorien (hier also z.B. den beiden Ausprägungen ‘sg’ und ‘pl’ der Kategorie Numerus) ein Morphem entspricht. Diese Formen

werden dann als /awɤl-∅-dan/ ‘Dorf-sg-abl’, /awɤldar-∅/ ‘Dorf-pl-nom’ und /awɤl-∅-∅/ ‘Dorf-sg-nom’ interpretiert. Es gibt jedoch außerdem Possessivund Prädikativsuffixe, wie in /awɤl-dar-ɤbɤð-ðanhɤɣɤð/ ‘Dorf-pl-1pl.poss-abl-2pl.pred (ihr seid aus unseren Dörfern)’, sodass bei /awɤl/ vier Nullmorpheme angesetzt werden müssten – und in anderen Sprachen ist die Zahl der Affixe, die in einer Flexionsform auftreten können, noch weit größer. Oft lässt sich gegen Nullmorpheme ferner einwenden, dass die formal unmarkierten Flexionsformen auch semantisch unmarkiert sind. So wird im Baschkirischen in Verbindung mit Zahlwörtern der Singular verwendet, z.B. /dyrt awɤl/ ‘vier Dörfer’; er kann also gegenüber dem Plural als neutraler Pol gelten, sodass dem Fehlen eines Ausdrucks das Fehlen eines spezifischen Inhalts entspricht (vgl. schon Trubetzkoy 1939: 67 zu privativen Oppositionen in der Phonologie und Jakobson 1932 zur Merkmallosigkeit in der Morphologie). Ob solche Markiertheitsverhältnisse vorliegen, scheint einer von mehreren Faktoren zu sein, die die Bereitschaft zur Annahme von Nullmorphemen beeinflussen; viele Linguisten lehnen sie allerdings kategorisch ab (s. Bergenholtz/Mugdan 2000: 441–444). Statt mit Nullmorphemen kann man mit Positionen in einem Schema (engl. template) arbeiten, die mit bestimmten, sich gegenseitig ausschließenden Affixen gefüllt sein oder leer bleiben können (vgl. Stump 2006). Zuweilen mag es hilfreich sein, bei einem nicht allzu komplexen Paradigma solche leeren Positionen durch ein Platzhaltersymbol zu kennzeichnen – aber es sollte nicht eine Null sein, die als sprachliches Element zu verstehen ist. So könnte man z.B. /awɤl-( )-darðan-( )/ schreiben, um die Stellen anzudeuten, an denen weitere Affixe auftreten können. Bei der Derivation ist es im Gegensatz zur Flexion kaum möglich, solche Schemata aufzustellen, sofern man es nicht mit sehr regelmäßigen Mustern zu tun hat, die der Flexion nahekommen. Damit entfallen in der Wortbildung die Motive für die Annahme von Nullmorphemen weitestgehend. Joachim Mugdan ≡ Nullelement ↔ leeres Morph → § 27; Markiertheit; Morphem; Nullallomorph ⇀ Nullmorphem (CG-Dt) ⇁ zero morpheme (CG-Engl; Typol)

513 Numerativbildung 🕮 Bergenholtz, H./ Mugdan, J. [2000] Nullelemente in der Morphologie. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 435–450 ◾ Dahl, E./ Fábregas, A. [2020] Zero Morphemes. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 1225–1243 ◾ Jakobson, R. [1932] Zur Struktur des russischen Verbums. In: Charisteria Guilelmo Mathesio quinquagenario a discipulis et Circuli Linguistici Pragensis sodalibus oblata. Prag: 74–84 ◾ Jakobson, R. [1940] Das Nullzeichen. In: BullCLing-Cop 5: 12–14 ◾ Mel’čuk, I. [2006] Aspects of the Theory of Morphology. Berlin [etc.] ◾ Stump, G.T. [2006] Template morphology. In: Brown, K. [ed.] Encyclopedia of Language and Linguistics. 2nd ed. Vol. 11. Amsterdam: 559−562 ◾ Trubetzkoy, N.S. [1939] Grundzüge der Phonologie. Prague.

Nullsuffix

Suffix, das einen Inhalt, aber keinen Ausdruck hat. ▲ zero suffix: suffix which has a content but no expression. Im Bereich der Wortbildung nehmen manche Autoren ein Nullsuffix in Fällen an, wo eine Bildung ohne explizites Suffix dieselbe Funktion zu haben scheint wie eine Bildung mit Suffix, z.B. bei Koch-∅ gegenüber Bäck-er (vgl. Bloomfield 1933: 238f.; Marchand 1960: 359; s. auch Bergenholtz/ Mugdan 2000: 444–447). Hier ist das Nullsuffix ein Nullallomorph, das denselben Inhalt wie -er hat und zu demselben Morphem gehört. Demgegenüber hat ein Nullmorphem keine Allomorphe mit einem Ausdruck. Beispielsweise entsprechen mit Präfixen abgeleitete Verben wie ent-kern[-en], ent-gift[-en], ent-grät[-en] nicht der „right-hand head rule“, wonach bei Wortbildungen das rechte Element der Kopf ist, der unter anderem die Wortart bestimmt. Durch die Einführung eines Nullsuffixes mit dem Merkmal V[erb], also entkern-∅[-en] usw., zu dem es kein explizites Analogon gibt, kann dieses Problem gelöst werden. Ein solcher Kunstgriff ist jedoch fragwürdig, und generell wird die Annahme von Nullsuffixen in der Derivation mit Skepsis betrachtet, während sie in der Flexion weit eher zu rechtfertigen ist. Joachim Mugdan

→ § 27; Kopf; Nullallomorph; Nullmorphem; righthand head rule

⇀ Nullsuffix (Gram-Formen)

🕮 Bergenholtz, H./ Mugdan, J. [2000] Nullelemente in der Morphologie. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 435–450 ◾ Bloomfield, L. [1933] Language. New York ◾ Dahl, E./ Fábregas, A. [2020] Zero Morphemes. In: Lieber, R. [ed] OEM. Vol. 2. New York: 1225–1243 ◾ Marchand, H. [1960] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. Wiesbaden.

Nullzeichen

≡ Nullallomorph

Numerativbildung

abgeleitetes oder zusammengesetztes Wort, bei dem die durch die jeweilige Ausgangseinheit bezeichnete Entität hinsichtlich ihrer Zahl modifiziert wird. ▲ numerative formation: derivative or compound in which the entity denominated by the base is modified in terms of number.

Unter dem Begriff „Numerativbildung“ werden strukturell unterschiedliche Bildungen aufgrund einer semantischen Invariante, der als „numerativ“ zu beschreibenden Wortbildungsbedeutung, zusammengefasst (vgl. Fradin 2015): dt. Einehe, Zweikampf, Dreiklang, frz. bisannuel (zu annuel), ital. unilaterale, bilaterale (zu laterale). Die erste unmittelbare Konstituente gibt eine Zahl an. Neben Kardinalia kommen dabei z.B. auch Ordinalia (engl. first-born), Multiplikativa (dt. Einfachzucker), Bruchzahlen (russ. pol-litra ‘ein halber Liter’) sowie Erstglieder, die der Bezeichnung einer unbestimmten (Viel-)Zahl dienen (dt. Multimillionär, engl. multiform), vor. Mitunter werden zu den Numerativbildungen auch Bildungen wie dt. eineiig, einfarbig, zweiseitig oder vielstimmig gezählt (Kühnhold/Putzer/Wellmann 1978: 247ff.). Die dephrasalen Suffixderivate folgen jedoch keinem Modifikations-, sondern einem Transpositionsmuster und gehören damit – wie viele andere adjektivische -ig-Derivate – zur Wortbildungsgruppe der Ornativa (Seiffert 2008: 58f.). Nicht hierher gehören ferner dephrasale substantivische Derivate vom Typ Zweibeiner (Fleischer/Barz 2007: 115). Zahlreiche Numerativbildungen entstehen v.a. in wissenschaftlichen Fachsprachen unter Verwendung nichtnativer, griech. oder lat. Wortbildungseinheiten, vgl. mono- (monochrom), bi- (bivalent), di- (Dioxid), multi- (multifil), pluri- (pluriform), poly- (polyglott), semi- (Semivokal), vgl. Kühnhold/Putzer/ Wellmann (1978: 249). Anja Seiffert

→ Modifikation; Transposition; Wortbildungsbedeutung; Wortbildungsgruppe

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Fradin, B. [2015] Denumeral categories. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./

N

Numerativbildung 514 Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1515– 1528 ◾ Kühnhold, I./ Putzer, O./ Wellmann, H. [1978] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 3. Hauptteil: Das Adjektiv. Düsseldorf ◾ Seiffert, A. [2008] Auto-

N

nomie und Isonomie fremder und indigener Wortbildung am Beispiel ausgewählter numerativer Wortbildungseinheiten. Berlin ◾ Veselinova, L.N. [2020]: Numerals in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 654–681.

O objectified predictability rate

statistisch zu ermittelnder Wert, der die Vorhersagbarkeitsraten aller mit einer in Isolation präsentierten Neubildung assoziierten Lesarten in Beziehung zueinander setzt und somit die Vorhersagbarkeit bzw. den Akzeptabilitätsgrad einer jeden Lesart im Vergleich zu den anderen Lesarten anzeigt. ▲ objectified predictability rate: statistically determined value which compares the predictability rates of all interpretations associated with a novel compound presented in isolation and thus indicates the predictability or acceptability of each interpretation with respect to all other interpretations.

Zum Zwecke der Ermittlung der objectified predictability rate [der objektivierten Vorhersagbarkeitsrate] werden alle mit einer Neubildung assoziierten Interpretationsmöglichkeiten entsprechend ihrer individuellen Vorhersagbarkeitsrate hierarchisch angeordnet, wobei die Hierarchie von der wahrscheinlichsten Lesart bis zu den marginalen Lesarten reicht. Die objectified predictability rate (OPR) ergibt sich nach Štekauer (2005: 96f.) aus dem Abstand (predictability rate gap) zwischen der Vorhersagbarkeitsrate [predictability rate] der wahrscheinlichsten Lesart (PR top) und den Vorhersagbarkeitsraten der nachfolgenden, weniger akzeptablen Lesarten (PR top–1, PR top–2) nach folgender Formel (2005: 97): ܴܲ௧௢௣ ܱܴܲ ൌ ܴܲ௧௢௣ ൅ ܴܲ௧௢௣ିଵ ൅ ܴܲ௧௢௣ିଶ

Es handelt sich hierbei somit um einen graduellen Wert, der insofern das Prinzip des Wettbewerbs [competition principle] reflektiert, als er nur im Vergleich mit den anderen, potentiellen Lesarten derselben Neubildung ermittelt werden kann. Im Rahmen eines von Štekauer durchgeführten Experiments wurden z.B. der Neubildung baby

book die drei folgenden, zentralen Lesarten mit abnehmenden Vorhersagbarkeitsraten zugeordnet (2005: 105): Tab. 1: Predictability Rates ‘book for babies (fairy tales, rhymes, pictures; drawings)’

PR 0.727

‘book about babies and how to care for them’

PR 0.312

‘book with photos of one's bab(ies)/album; with records of baby's development ...’

PR 0.227

Setzt man die Vorhersagbarkeitsraten dieser drei Lesarten in die obige Formel ein, so ergibt sich für die Top-Lesart ‘book for babies (fairy tales, rhymes, pictures; drawings)’ die OPR 0.574. Zwischen der Vorhersagbarkeitsrate und der objektivierte Vorhersagarkeitsrate besteht keine proportionale Relation, da der individuelle Wahrscheinlichkeitsgrad einer Lesart durch die Einbeziehung weiterer, konkurrenzfähiger Lesarten relativiert werden kann. Aufgrund der objektivierte Vorhersagarkeitsrate lässt sich auch das Wettbewerbsverhalten von Lesarten unterschiedlicher Neubildungen untersuchen.

→ competition principle; predictability rate

Heike Baeskow

🕮 Štekauer, P. [2005] Meaning Predictability in Word Formation. Novel, context-free naming units. Amsterdam [etc.].

objektive Ausdrucksnotwendigkeit ≡ Erstbenennung

Objektumsprung

Diathese, bei der das normale direkte Objekt eines Verbs durch ein Objekt ersetzt wird, das sonst als Komplement einer Präposition erscheinen kann. ▲ object transfer: alternation in which the direct object usually selected by a verb is replaced by an

Objektverschiebung 516 object which can otherwise be realized as the complement of a preposition Im Deutschen wird Objektumsprung durch gewisse Verbpräfixe ausgelöst: die Wand (mit Farbe) besprühen (vgl. Farbe an die Wand sprühen), das Fleisch an die Hunde verfüttern (vgl. die Hunde mit dem Fleisch füttern). Objektumsprung lässt sich auch mit Verbpartikeln beobachten: den Eimer ausschütten (vgl. das Wasser (aus dem Eimer) ausschütten) oder das Bett abziehen (vgl. die Bettwäsche (vom Bett) abziehen). Objektumsprung ohne Präfix und Partikel ist im Deutschen selten (Wasser in den Eimer füllen vs. den Eimer mit Wasser füllen), tritt aber in anderen Sprachen häufiger auf; vgl. die lokative Alternation im Englischen (stuff the tube with paper vs. stuff paper into the tube). Andrew McIntyre ≡ Objektverschiebung; Objektvertauschung → Applikativ; Partikelverb; Präfixverb; Valenzänderung

🕮 Brinkmann, U. [1997] The Locative Alternation in German. Its Structure and Acquisition. Amsterdam ◾ Hundsnurscher, F. [1968] Das System der Partikelverben mit AUS in der Gegenwartssprache. Göppingen ◾ Lohde, M. [2006] Wortbildung des modernen Deutschen. Tübingen ◾ McIntyre, A. [2007] Particle Verbs and Argument Structure. In: LgLingCmp 1/4: 350–367 ◾ Wunderlich, D. [1987] An investigation of lexical composition. The case of German be-verbs. In: Ling 25: 283–331.

O

Objektverschiebung ≡ Objektumsprung

Objektvertauschung ≡ Objektumsprung

-o-Fuge

eingefügtes o an der Schnittstelle zweier morphologischer Einheiten, die zumindest kompositionsähnlich sind. ▲ -o-linking element: inserted o at the boundary between morphological constituents that are at least similar to compound constituents. Die -o-Fuge war ursprünglich ein Themavokal im Griech., der zum Teil in Fremdwörtern in verschiedenen Sprachen übernommen wurde (Bi-o-logie, Astr-o-nomie). Als spezielles Fugenelement wird es eingefügt in Wörtern wie Chem-o-therapie, Physi-o-therapeut usw. Häufig sind die vorangehenden Formen keine „Wörter“, sondern sogenannte Konfixe (chem-, physi-, therm-). Konfixe sind stammähnliche Einheiten, die nur gemeinsam mit

anderen morphologischen Einheiten auftreten; sie sind typisch für die sogenannte neoklassische Wortbildung, also für Einheiten, die ursprünglich aus dem Lat. oder Griech. kommen. Gemeinsam mit dem o bilden sie dann Kompositionsstammformen wie astro-, chemo-, neuro-, physio-, psycho, thermo-. Diese Kompositionsstammformen kombinieren dann entweder mit anderen Konfixen zu Konfixkomposita (Astronomie, Physiologie), mit anderen fremden Wörtern (Physiotherapie, Psychoanalyse) oder mit heimischen Wörtern (Astrowoche, Psychoberatung, Physioball). In eher künstlichen (also bewusst gesetzten) Wortbildungen findet sich auch Wahlomat, auch in der Schreibweise Wahl-O-Mat mit besonderer Hervorhebung der -o-Fuge, Postomat, Waschomat usw. Die Systematik der -o-Fuge ist für das Dt. noch nicht vollständig geklärt (s. Eisenberg 2012: 308). Es ist das einzige Fugenelement, das nicht gleichlautend mit einem Flexionssuffix ist. Typischerweise führt sein Anhängen zu Trochäen und schafft so optimale phonologische Wörter (Nübling/Szczepaniak 2008). Die Trochäen sind allerdings nicht kanonisch, sie enden nicht mit einer Schwa-Silbe, sondern mit unbetontem Vollvokal. Mitunter können sich die Kompositionsstammformen auch aus den Wörtern herauslösen wie bio, öko, Anarcho usw. Eine vergleichbare Beobachtung ist bei den anderen Fugenelementen nicht zu machen; die anderen Fugenelemente sind gleichlautend zu Flexionssuffixen und würden als solche reanalysiert werden (Gottesdienst – Gottes). Einige Beobachtungen zu -o- sind ähnlich auch in anderen Sprachen zu machen. So finden sich auch im Engl. Neubildungen wie physio room. Allerdings sind Fugenelemente nicht üblich im Engl., -o- muss hier in einem anderen Zusammenhang betrachtet werden. Aber auch im Dt. ist die Zwitterstellung deutlich geworden; es ist einerseits mit Fugenelementen zu vergleichen; es ist aber dann eher speziell eine Konfixfuge oder eine Konfixendung. Nanna Fuhrhop

→ § 35; Fugenelement; Konfix; neoklassisches Kompositum

🕮 Eisenberg, P. [2012] Das Fremdwort im Deutschen. 2., überarb. Aufl. Berlin ◾ Eisenberg, P. [2013] Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 4., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart [etc.] ◾ Nübling, D./ Szczepaniak, R. [2008] On the Way from Morphology to Phonology. German Linking Elements and the Role of the Phonological Word. In: Morph 18: 1–25.

517

onomasiologische Kategorie

→ onomasiologische Markierung; onomasiologische Struktur;

Okkasionalismus

onomasiologische Wortbildungstheorie; Sem

≡ Ad-hoc-Bildung ⇀ Okkasionalismus (Textling)

🕮 Fernández-Domínguez, J. [2020] The Onomasiological Approach. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 1049–1067 ◾ Štekauer, P. [2005a] Meaning Predictability in Word Formation. Novel, context-free naming units. Amsterdam [etc.] ◾ Štekauer, P. [2005b] Onomasiological Approach to Word-Formation. In: Štekauer, P./ Lieber, R. [eds.] Handbook of Word-Formation. Dordrecht [etc.]: 207–232.

okkasionelle Bildung ≡ Ad-hoc-Bildung

onomasiologische Basis

nicht-komplexe Konstituente der onomasiologischen Ebene, welche die Zugehörigkeit einer Klasse von Objekten zu einer konzeptuellen Kategorie semantisch repräsentiert und den Kopf einer onomasiologischen Struktur bildet. ▲ onomasiological base: non-complex constituent of the onomasiological level which represents semantically the membership of a class of objects in a conceptual category and forms the head of an onomasiological structure. Der Begriff der onomasiologischen Basis ist in etwa mit dem Begriff „Head“ (Kopf) der generativen Morphologie vergleichbar. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, dass es sich bei der onomasiologischen Basis nicht um eine konkrete lexikalische Einheit, sondern um ein Sem und somit um eine konzeptuell-semantische Konstituente der onomasiologischen Ebene handelt, das die Zugehörigkeit einer Klasse von Objekten der außersprachlichen Realität zu einer der vier grundlegenden konzeptuellen Kategorien substance, action, quality oder concomitant circumstance erkennen lässt. Die onomasiologische Struktur der durch blackberry bezeichneten Klasse von Objekten weist z.B. als onomasiologische Basis das Sem substance (sprachlich realisiert durch berry) auf, das alle Beeren als Substanz klassifiziert. Eine onomasiologische Basis ist niemals komplex. Sie kann jedoch, wie die sprachliche Realisierung blackberry erkennen lässt, durch eine onomasiologische Markierung – in diesem Falle durch quality (realisiert durch black) – spezifiziert werden. In der daraus resultierenden Struktur quality – substance ist substance die onomasiologische Basis. In der onomasiologischen Wortbildungstheorie Štekauers (2005a, b) determiniert die onomasiologische Basis die grammatischen und lexikalischen Eigenschaften neuer Wörter. Heike Baeskow

onomasiologische Ebene

Repräsentationsebene der onomasiologischen Wort­ bildungstheorie, welche die onomasiologischen Struk­ turen beherbergt und die Schnittstelle zwischen der konzeptuell-semantischen und der sprachlichen Ebene bildet. ▲ onomasiological level: level of representation in onomasiological word-formation theory which accommodates onomasiological structures and constitutes the interface between the conceptual-semantic and the linguistic level. Die onomasiologische Ebene nimmt innerhalb des onomasiologischen Wortbildungsmodells von Štekauer (2005a, b) eine zentrale Stellung ein. Hier werden die mit einer zu benennenden Entität assoziierten konzeptuell-semantischen Informationen in onomasiologische Strukturen überführt, welche die verschiedenen, morphologisch zu realisierenden Wortbildungsmuster determinieren. Auf der onomasiologischen Ebene wird die mentale Verarbeitung eines Wortbildungsprozesses abgeschlossen. Heike Baeskow

→ morpheme-to-seme-assignment principle; onomasiologi-

sche Kategorie; onomasiologische Struktur; onomasiologische Strukturregel; onomasiologische Wortbildungstheorie

🕮 Fernández-Domínguez, J. [2020] The Onomasiological Approach. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 1049–1067 ◾ Štekauer, P. [2005a] Meaning Predictability in Word Formation. Novel, context-free naming units. Amsterdam [etc.] ◾ Štekauer, P. [2005b] Onomasiological Approach to Word-Formation. In: Štekauer, P./ Lieber, R. [eds.] Handbook of Word-Formation. Dordrecht [etc.]: 207–232.

onomasiologische Kategorie

universale konzeptuelle Kategorie, die einen Ausschnitt der außersprachlichen Realität repräsentiert und in Form eines Sems auf die onomasiologische Ebene abgebildet wird. ▲ onomasiological category: universal conceptual category which represents part of extra-linguistic

O

onomasiologische Markierung 518 reality and is mapped onto the onomasiological level in the form of a seme.

O

Der Begriff der onomasiologischen Kategorie wurde von Dokulil (z.B. 1968) für die fundamentalen Umriss-Strukturen der Denkinhalte geprägt. Hierbei handelt es sich um Begriffsklassen bzw. konzeptuelle Kategorien, die ihren Ausdruck in sprachlichen Kategorien finden. In der onomasiologischen Wortbildungstheorie Štekauers (2001, 2005a, 2005b) wird davon ausgegangen, dass die außersprachliche Realität durch die vier grundlegenden konzeptuellen Kategorien substance, action (unterteilt in action proper, process und state), quality und concomitant circumstance („Place“, „Time“, „Manner“ usw.) geordnet wird. Klassen von Objekten (z.B. die Klasse der durch human bezeichneten Objekte, die Klasse der durch vehicle bezeichneten Objekte etc.) werden durch die konzeptuelle Kategorie substance repräsentiert. Die vier konzeptuellen Kategorien sind supralinguistische Einheiten, die eine Verbindung zwischen der außersprachlichen Realität und der sprachlichen Ebene herstellen. Innerhalb der Wortbildungskomponente der onomasiologischen Wortbildungstheorie werden sie durch semantische Einheiten, nämlich durch die gleichnamigen Level 1-Seme substance, action, quality und concomitant circumstance repräsentiert. Auf der onomasiologischen Ebene fungieren diese Seme als strukturbildende onomasiologische Kategorien, indem sie in Verbindung mit logischsemantischen Kategorien wie „Agent“, „Patient“, „Instrument“, „Temporal“ etc. die verschiedenen onomasiologischen Typen bzw. Wortbildungsmuster determinieren. Onomasiologische Kategorien bilden die mentale Grundlage für jeden Wortbildungsprozess. Auf der sprachlichen Ebene korrespondieren Wortklassen mit onomasiologischen Kategorien, wobei jedoch keine ein-eindeutige Relation zwischen einer onomasiologischen Kategorie und einer Wortklasse bestehen muss. So kann z.B. action sowohl durch Verben als auch durch Nomina zum Ausdruck gebracht werden. Ebenso korrespondiert quality gleichermaßen mit Adjektiven und Nomina. Heike Baeskow

→ onomasiologische Ebene; onomasiologische Struktur;

onomasiologische Umkategorisierung; onomasiologische Wortbildungstheorie; Sem

🕮 Dokulil, M. [1968] Zur Theorie der Wortbildungslehre. In: WZKMU 17: 203–211 ◾ Fernández-Domínguez, J. [2020] The Onomasiological Approach. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 1049–1067 ◾ Štekauer, P. [2001] Fundamental Principles of an Onomasiological Theory of English Word Formation. [Unter: https://digilib.phil.muni.cz/handle/11222.digilib/104495; letz­ter Zugriff: 06.07.2022] ◾ Štekauer, P. [2005a] Meaning Predictability in Word Formation. Novel, context-free naming units. Amsterdam [etc.] ◾ Štekauer, P. [2005b] Onomasiological Approach to Word-Formation. In: Štekauer, P./ Lieber, R. [eds.] Handbook of Word-Formation. Dordrecht [etc.]: 207–232.

onomasiologische Markierung

einfache oder komplexe Konstituente einer onomasiologischen Struktur, die eine konzeptuelle Kategorie semantisch repräsentiert und die onomasiologische Basis spezifiziert. ▲ onomasiological mark: simplex or complex constituent of an onomasiological structure which represents a conceptual category semantically and specifies the onomasiological base.

Ebenso wie die onomasiologische Basis ist auch die onomasiologische Markierung als Sem zu verstehen, welches eine der grundlegenden konzeptuellen Kategorien substance, action, quality oder concomitant circumstance semantisch repräsentiert. Innerhalb einer onomasiologischen Struktur geht sie der onomasiologischen Basis voran und spezifiziert die durch die Basis repräsentierte konzeptuelle Kategorie, indem sie die dieser Kategorie zugeordnete Objektklasse auf eine bestimmte Menge von Exemplaren beschränkt. Die onomasiologische Markierung kann sowohl einfach als auch komplex sein. Innerhalb der onomasiologischen Struktur quality – substance der durch blackberry bezeichneten Klasse von Objekten wird beispielsweise die onomasiologische Basis substance (sprachlich realisiert durch berry) durch die einfache onomasiologische Markierung quality (sprachlich realisiert durch black) spezifiziert. Dies führt zu einer Beschränkung der Klasse aller Beeren. Eine komplexe Markierung setzt sich aus einer determinierenden und einer determinierten Konstituente zusammen. Dies lässt sich z.B. anhand der onomasiologischen Struktur „substance2 – action – substance1" des mit der Personenbezeichnung truck driver assoziierten Konzepts illustrieren. Die der onomasiologischen Basis substance1 (realisiert durch das Suffix -er) vorangehende komplexe onomasiologische Markierung

519

onomasiologische Strukturregel

"substance2 – action“ besteht aus der determinierenden Konstituente substance2 (realisiert durch truck) und der durch substance2 determinierten Konstituente action (realisiert durch drive). Die determinierte Konstituente der onomasiologischen Markierung repräsentiert in der Regel die Kategorie action in einer ihrer drei Varianten action proper, process oder state. Ebenso wie die onomasiologische Basis sind auch die Konstituenten der onomasiologischen Markierung nicht mit sprachlich realisierten lexikalischen Einheiten zu verwechseln. In ihrer Eigenschaft als Seme, d.h. als semantische Repräsentanten konzeptueller Kategorien, die für Klassen von Objekten der außersprachlichen Realität stehen, sind sie Bestandteil der onomasiologischen Ebene. Heike Baeskow → onomasiologische Basis; onomasiologische Struktur; onomasiologische Wortbildungstheorie; Sem

🕮 Fernández-Domínguez, J. [2020] The Onomasiological Approach. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 1049–1067 ◾ Štekauer, P. [2005a] Meaning Predictability in Word Formation. Novel, context-free naming units. Amsterdam [etc.] ◾ Štekauer, P. [2005b] Onomasiological Approach to Word-Formation. In: Štekauer, P./ Lieber, R. [eds.] Handbook of Word-Formation. Dordrecht [etc.]: 207–232.

onomasiologische Struktur

konzeptuell-semantische Struktur, die durch die onomasiologische Basis und die onomasiologische Markierung gebildet wird und die zwischen diesen Konstituenten bestehenden logisch-semantischen Relationen zum Ausdruck bringt. ▲ onomasiological structure: conceptual-semantic structure which is constituted by the onomasiological base and the onomasiological mark and which expresses the logical-semantic relations between these constituents. Die onomasiologische Struktur besteht aus drei Konstituenten, deren Anordnung sich schematisch folgendermaßen repräsentieren lässt, vgl. Štekauer (2005a: 52): (1) determinierende Konstituente der onomasiologischen Markierung



determinierte Konstituente der onomasiologischen Markierung



onomasiologische Basis

komplexe onomasiologische Markierung

Obwohl diese drei Konstituenten auf der onomasiologischen Ebene stets präsent sind, muss nicht jede sprachlich realisiert werden. Die sprachliche

Realisierung richtet sich nach dem zum Zwecke der Wortbildung gewählten onomasiologischen Typ. Innerhalb einer onomasiologischen Struktur werden die zwischen den Konstituenten bestehenden Relationen in Form von logisch-semantischen Kategorien wie „Agent“, „Patient“, „Logical Object“, „Time“ „Place“, „Action“ usw. sichtbar gemacht. Das mit truck driver assoziierte Konzept aktiviert z.B. die unter (2a) dargestellte, vollständig spezifizierte onomasiologische Struktur (2005a: 50). Die drei involvierten Konstituenten bzw. Seme stehen in den unter (2b) aufgeführten logisch-semantischen Relationen zueinander (2005a: 47). (2) a.

b.

SUBSTANCE2

[(logical) Object

- ACTION ← Action

- SUBSTANCE1 Agent]

Die durch (2b) präzisierte Darstellung der onomasiologischen Struktur ist dahingehend zu interpretieren, dass die onomasiologische Basis substance1 (sprachlich realisiert durch -er) in der Relation des Agens zu der durch die determinierte Konstituente der onomasiologischen Markierung repräsentierten Handlung (sprachlich realisiert durch drive) steht und dass es sich bei der determinierenden Konstituente der onomasiologischen Markierung substance2 (sprachlich realisiert durch truck) um den Gegenstand bzw. das logische Objekt dieser Aktivität handelt. Die onomasiologische Struktur bildet die konzeptuell-semantische Basis für Wortbildungsprozesse. Heike Baeskow

→ onomasiologische Basis; onomasiologische Ebene; ono-

masiologische Kategorie; onomasiologische Markierung; onomasiologische Strukturregel; onomasiologische Wortbildungstheorie; onomasiologischer Typ; Onomatologie (1); Sem

🕮 Fernández-Domínguez, J. [2020] The Onomasiological Approach. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 1049–1067 ◾ Štekauer, P. [2005a] Meaning Predictability in Word Formation. Novel, context-free naming units. Amsterdam [etc.] ◾ Štekauer, P. [2005b] Onomasiological Approach to Word-Formation. In: Štekauer, P./ Lieber, R. [eds.] Handbook of Word-Formation. Dordrecht [etc.]: 207–232.

onomasiologische Strukturregel

auf der onomasiologischen Ebene applizierende Regel, welche die Positionen der konzeptuell-semantischen Konstituenten innerhalb einer onomasiologischen Struktur definiert und somit die Interpretationsmöglichkeiten neuer komplexer Wörter beschränkt.

O

onomasiologische Umkategorisierung 520 ▲ onomasiological structure rule: rule which applies

to the onomasiological level and defines the positions of the conceptual-semantic constituents within an onomasiological structure and thus constrains the possibilities of interpretation for novel complex words.

O

Die Anordnung der Konstituenten einer onomasiologischen Struktur in der Theorie von Štekauer (2005) ist nicht arbiträr, sondern unterliegt einer Reihe von Restriktionen, die mittels onomasiologischer Strukturregeln formuliert werden. Eine dieser Regeln besagt, dass die onomasiologische Basis englischer Komposita rechts von der onomasiologischen Markierung steht. Diese Regel blockiert beispielsweise die Interpretation von age bag als ‘a period when bags were/are popular’, da die onomasiologische Basis, die für ‘period’ steht und sprachlich durch age realisiert wird, der onomasiologischen Basis (realisiert durch bag) vorangeht. Die adäquate Bezeichnung für das exemplarische Konzept, d.h. für ein Zeitalter, in dem das Tragen von Taschen modern war bzw. ist, wäre bag age. Die onomasiologische Struktur dieser Bildung ist dadurch gekennzeichnet, dass die onomasiologische Basis gemäß der obigen Regel rechts steht und durch die onomasiologische Markierung spezifiziert wird. Eine weitere Regel verlangt, dass das „Object“Sem in einer onomasiologischen Struktur, die ein „Agent“-Sem enthält, links vom „Action“-Sem steht. Diese Regel erzeugt die onomasiologische Struktur [Object ← Action – Agent], die z.B. der Bildung piano-player die Lesart ‘a person who (professionally) plays a piano’ zuweist. Heike Baeskow

→ onomasiologische Ebene; onomasiologische Struktur; onomasiologische Wortbildungstheorie; Sem

🕮 Fernández-Domínguez, J. [2020] The Onomasiological Approach. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 1049–1067 ◾ Štekauer, P. [2005] Meaning Predictability in Word Formation. Novel, context-free naming units. Amsterdam [etc.].

onomasiologische Umkategorisierung

Überführung einer zu benennenden Entität aus ihrer ursprünglichen konzeptuellen Kategorie in eine andere konzeptuelle Kategorie. ▲ onomasiological recategorization: transfer of an entity which is to be denominated from its original conceptual category to a different conceptual category.

In der onomasiologischen Wortbildungstheorie Štekauers (1996, 2005) wird der traditionell als Konversion bzw. Nullableitung bezeichnete Wortbildungsprozess als onomasiologische Umkategorisierung verstanden. Hierbei handelt es sich um die prälexikalische Überführung einer zu benennenden Entität aus einer konzeptuellen Ausgangskategorie in eine ebenfalls konzeptuelle Zielkategorie. Der Referent von milk ist beispielsweise als substance klassifizierbar. Eine feinkörnigere Konzeptualisierung wird auf der Grundlage von logischen Prädikaten wie „It is material“, „It is inanimate“, „It is liquid“, „It comes from female mammals“, „It is a foodstuff“ usw., die eine Hierarchie mit zunehmendem Spezifiziertheitsgrad bilden, erzielt. Die Lesart ‘to obtain milk from a female mammal’ suggeriert jedoch, dass die Konzeptualisierung auch aus einer anderen Perspektive erfolgen kann, indem milk mit der Aktivität der Milchgewinnung assoziiert wird. Dies erfordert eine onomasiologische Umkategorisierung, d.h. eine Überführung des Konzepts von milk aus der Kategorie substance in die Kategorie action. Dieser mentale Prozess geht dem sprachlichen Prozess der Überführung von milk aus der lexikalischen Kategorie „Nomen“ in die lexikalische Kategorie „Verb“ voran. Bei der onomasiologischen Umkategorisierung handelt es sich um Typ 5 der onomasiologischen Wortbildungstheorie, dessen onomasiologische Ebene insofern unstrukturiert ist, als sie weder eine onomasiologische Basis noch eine onomasiologische Markierung aufweist (Štekauer 2005: 81). Im Zuge der onomasiologischen Umkategorisierung wird eine direkte Relation zwischen der konzeptuellen Ausgangsund Zielkategorie hergestellt. Heike Baeskow

→ Konzeptualisierung; onomasiologische Kategorie; onomasiologischer Typ

🕮 Fernández-Domínguez, J. [2020] The Onomasiological Approach. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 1049–1067 ◾ Štekauer, P. [1996] A Theory of Conversion in English. Frankfurt/ Main [etc.] ◾ Štekauer, P. [2005] Meaning Predictability in Word Formation. Novel, context-free naming units. Amsterdam [etc.].

onomasiologische Wortbildungstheorie

Forschungsrichtung, die sich mit der Benennung von Konzepten durch die in einer Sprache verfügbaren lexikalischen Einheiten befasst und die Wort-

521 bildung als aktiven, kognitiv relevanten Prozess betrachtet. ▲ onomasiological word-formation theory: line of research in linguistics concerned with the naming of concepts by means of the lexical items present in a language and the conception of word formation as an active, cognitively relevant process. Der Terminus Onomasiologie (griech. ónoma ‘Name’ + séma ‘Zeichen’) wurde von Zauner (1902) eingeführt und ist nicht nur für die Wortbildung (vgl. Grzega 2015), sondern auch für den Bereich der Lexikologie relevant. Nach Quadri (1952: 1) ist der Gegenstandsbereich der Onomasiologie die Benennung von Konzepten mit Hilfe der in einer gegebenen Sprache oder einem Dialekt verfügbaren sprachlichen Ausdrücke. Ein onomasiologischer Ansatz ist entweder synchronisch oder diachronisch ausgerichtet und zeigt die kognitiven und kulturspezifischen Faktoren auf, die einen Benennungsakt motivieren. Ein Beispiel für eine lexikologisch ausgerichtete onomasiologische Studie ist die Arbeit von Bammesberger/Grzega (2001), in der die mannigfaltigen Bezeichnungen für das Konzept young female person in der engl. Sprachgeschichte untersucht werden. Die Wurzeln der onomasiologischen Wortbildungstheorie liegen im osteurop. Sprachraum. Namhafte Vertreter sind Dokulil (1968a, 1968b, 1997), der ein Repräsentant der Prager Schule ist, Horecký (1994) und insbesondere Štekauer (1996, 1998, 2001, 2002, 2005a, 2005b), der auch den westlichen Sprachwissenschaftlern den Zugang zu diesem Ansatz ermöglicht hat. Im Gegensatz zu den meisten Modellen der generativen Morphologie, die Wortbildungsprozesse weitgehend unabhängig von den Bedürfnissen einer Sprechergemeinschaft beschreiben, rückt die onomasiologische Wortbildungstheorie die Notwendigkeit der Bildung neuer Wörter zum Zwecke des Benennens von Dingen und Sachverhalten der außersprachlichen Realität ins Zentrum der Diskussion. Es handelt sich somit um eine Wortbildungstheorie par excellence, welche die Entstehung eines neuen Wortes von der Konzeptualisierung der zu benennenden Entität über die semantische Repräsentation bis zur phonetischen Realisierung der gewählten lexikalischen Bausteine nachvollzieht. Wortbildung wird als dynamischer Prozess aufgefasst, der sowohl die

onomasiologische Wortbildungstheorie kognitiven als auch die sprachlichen Fähigkeiten der Sprachbenutzer aktiviert. Begründet wird diese Auffassung damit, dass Wörter niemals unabhängig von Gegebenheiten der außersprachlichen Realität (einschließlich neuer Entdeckungen) und von Faktoren wie Wissen, Erfahrung oder auch Phantasie zur Entstehung gebracht werden. Den linguistischen Komponenten des mehrschichtigen onomasiologischen Wortbildungsmodells ist dementsprechend eine supralinguistische Komponente vorgeschaltet, welche die Interaktion der Sprechergemeinschaft mit der außersprachlichen Realität auf eine konzeptuelle Ebene abbildet (Štekauer 2005b: 45). EXTRA-LINGUISTIC REALITY SPEECH COMMUNITY Conceptual level

Lexical Component

Word-Formation Component

Actual naming units

Semantic level

Affixes (including all relevant specifications)

Onomasiological level

Onomatological level

Syntactic Component

Phonological level

Abb. 1: Onomasiologisches WB-Modell

Den Ausgangspunkt für jeden Wortbildungsprozess bildet das Bedürfnis einer zunächst begrenzten Anzahl von Sprechern, zum Zwecke der Kommunikation ein Wort für ein noch unbenanntes Objekt bzw. eine noch unbenannte Klasse von Objekten der außersprachlichen Realität zu prägen, wobei „Objekt“ hier als metasprachlicher Begriff zu verstehen ist. In der Vergangenheit bestand z.B. die Notwendigkeit zur Benennung einer Person, die zum Zwecke des Transports von Gütern ein Fahrzeug steuert. Dem konkreten Benennungsakt (act of naming) geht der von Štekauer (2005a: 46) als intellektuelle Verarbeitung (intellectual processing) bezeichnete Vorgang voran. Dieser äußert sich darin, dass der Sprachbenutzer, der ein neues Wort prägen möchte, das zu benennende Objekt in Bezug auf relevante Eigen-

O

onomasiologische Wortbildungstheorie 522

O

schaften, die es von Objekten anderer Objektklassen unterscheidet, analysiert. Das Resultat dieses prälexikalischen Vorgangs ist ein logisches Spektrum, d.h. eine Wissensstruktur, die das Zusammenspiel der abstrahierten Eigenschaften in Form von logischen Prädikaten repräsentiert. Diese sind auf der konzeptuellen Ebene angesiedelt und beinhalten sowohl die vier grundlegenden konzeptuellen Kategorien substance, action (unterteilt in action proper, process und state), quality und concomitant circumstance (z.B. „Place“, „Time“, „Manner“, usw.) als auch repräsentative Merkmalmengen. Das logische Spektrum der exemplarischen Personenbezeichnung, die zum Zwecke des Transports von Gütern ein Fahrzeug steuert, gestaltet sich nach Štekauer (2005a: 47) folgendermaßen: (1) The motivating Object1 is substance1. substance1 is Human. The Human performs action. The action is the Human's Profession (= Agent). The Human is Agent. The action concerns substance2 (= Object of Action). The action is based on Operation of substance2. substance2 is a class of Vehicles. substance2 is an Object of Action performed by substance1. The Vehicles are designed for the Transportation of goods. Usw. Die konzeptuelle Ebene ist nicht als originalgetreue Abbildung der außersprachlichen Realität zu verstehen. Sie repräsentiert das zu benennende Objekt vielmehr so, wie es insbesondere aufgrund seiner prototypischen Merkmale von den Sprachbenutzern wahrgenommen wird und ist in ihrer Eigenschaft als supralinguistische Ebene an keine Sprache gebunden. Die sprachliche Ebene bilden in der onomasiologischen Wortbildungstheorie die lexikalische Komponente und die Wortbildungskomponente. Hält das Lexikon keine für die Benennung des Objekts geeigneten lexikalischen Einheiten bereit, so wird ein konkreter Wortbildungsprozess innerhalb der Wortbildungskomponente gestartet. Ein wesentliches Kriterium der onomasiologischen Wortbildungstheorie ist der von de Saus-

sure aufgezeigte bilaterale Charakter des sprachlichen Zeichens, der sich darin äußert, dass lexikalische Einheiten sowohl über eine Bedeutung (signifié) als auch über eine Form bzw. ein Lautbild (signifiant) verfügen (de Saussure 1974). Diese Dichotomie wird durch die Konzeption des onomasiologischen Wortbildungsmodells reflektiert. Der Aspekt der Bedeutung wird auf der semantischen und auf der onomasiologischen Repräsentationsebene verarbeitet. Die logischen Prädikate der konzeptuellen Ebene werden in Form von Semen auf die semantische Ebene abgebildet. Bezogen auf die Person, für die zum Zwecke der Illustration ein Wort geprägt werden soll, ergibt sich nach Štekauer (2005b: 49) die folgende semantische Struktur: (2) [+Material] [+Animate] [+Human] [+Adult] [+Profession] [+Agent]; [+Material] [-Animate] [+Vehicle] [+Transportation] [+Object of Operation] etc. Die zentrale Ebene der onomasiologischen Wortbildungstheorie ist die onomasiologische Ebene, welche die Schnittstelle zwischen der konzeptuell-semantischen und der sprachlichen Ebene bildet. Hier werden die onomasiologischen Strukturen erzeugt, die den verschiedenen Wortbildungsmustern einer Sprache zugrunde liegen. Auf der onomatologischen Ebene bildet sich dann die Form des sprachlichen Zeichens heraus. Mittels des „morpheme-to-seme-assignment“-Prinzips werden den Konstituenten der onomasiologischen Ebene konkrete lexikalische Einheiten zugeordnet. Beinhaltet z.B. die onomasiologische Struktur die konzeptuell-semantischen Informationen, dass eine Klasse von Personen („Agent“) eine Handlung („Action“) an einem zur Klasse der Transportfahrzeuge gehörigen Objekt („Object“) vornimmt, so stehen für die Realisierung dieser Seme jeweils mehrere Optionen zur Verfügung. So könnten z.B. „Object“ durch truck oder lorry, „Action“ durch drive, steer, operate etc. und „Agent“ durch man, -er, -ist, -ant oder -ian realisiert werden. Die gewählte Morphemsequenz – in diesem Falle hat sich truck driver durchgesetzt – wird schließlich an die phonologische Ebene weitergereicht. Ist eine Neubildung institutionalisiert, indem sie sich im Wortschatz einer Sprache etabliert hat, so geht sie in die lexikalische Komponente ein. Ein wesentlicher Vorteil des soeben skizzierten

523 onomasiologischen Wortbildungsmodells besteht darin, dass es das Problem der Übergenerierung komplexer Wörter, das die Vertreter generativer Ansätze der 1970er Jahren mittels zahlreicher Beschränkungen zu lösen versuchen, aufgrund der Fokussierung der Sprechergemeinschaft von vornherein ausschaltet. Ein neues Wort wird in diesem Modell nur dann gebildet, wenn es zur Benennung eines Ausschnitts der außersprachlichen Realität benötigt wird, d.h. wenn ein Bedarf vonseiten der Sprechergemeinschaft besteht. Somit wird neben der von Halle (1973) vorgenommenen Differenzierung zwischen „actual words“ und „possible words“ auch das von Allen (1978) speziell für potentielle Wörter konzipierte „Conditional Lexicon“ redundant. Ferner strebt die onomasiologische Wortbildungstheorie eine Unifizierung traditioneller Wortbildungsprozesse wie Derivation, Komposition, Rückbildung etc. an, indem sie fast alle onomasiologischen Typen (mit Ausnahme von Typ 5) über das morphemeto-seme-assignment-Prinzip erzeugt. Untrennbar mit der Wortbildung ist nach Štekauer (2005a: 43f.) die Interpretation von Wörtern verbunden. Angesichts der Tatsache, dass der linguistische Kontext nicht immer die zur Interpretation einer Neubildung benötigten Informationen bereithält (vgl. auch Wisniewski 1996, Renouf/Bauer 2000) und dass jedes Wort mit einer inhärenten, kontextunabhängigen Bedeutung geprägt wird, steht bei Štekauer (2005a: 43f., 55ff.) die kontextfreie Interpretation neuer Wörter im Vordergrund. Diese erfolgt, indem der Hörer bzw. Leser unter Einbeziehung seines Weltwissens und seiner Erfahrungen den Wortbildungsprozess, der zur Entstehung des zu interpretierenden Wortes geführt hat, schrittweise von der phonologischen Ebene über die onomasiologische Ebene bis hin zur konzeptuellen Ebene rekonstruiert. Dies führt in der Regel zur Herausbildung mehrerer potentieller Lesarten, die nicht unbedingt mit der intendierten Bedeutung kompatibel sein müssen und in Bezug auf Akzeptabilität konkurrieren. Statistisch betrachtet weist die wahrscheinlichste Lesart die höchste Vorhersagbarkeitsrate (predictability rate) auf. Hierbei handelt es sich um eine generalisierte bzw. idealisierte Lesart, die der Hörer/ Leser spontan mit einem neuen Wort assoziiert und die im nachhinein durchaus dem Kontext

onomasiologischer Typ entsprechend modifiziert werden kann, sofern dieser relevante Anhaltspunkte bietet. Die kontextfreie Interpretation einer Neubildung fordert die Kompetenz des Hörers/Lesers und ist somit Gegenstand des Sprachsystems (langue), während die kontextabhängige Interpretation auf die Ebene des Sprechens (parole) beschränkt ist. Heike Baeskow

→ § 7; Derivation; Komposition; kontextfreie Interpretation;

Konzeptualisierung; morpheme-to-seme-assignment principle; onomasiologische Basis; onomasiologische Ebene; onomasiologische Kategorie; onomasiologische Markierung; onomasiologische Struktur; onomasiologische Strukturregel; onomasiologischer Typ; Onomatologie (1); predictability rate; Rückbildung; Sem

🕮 Allen, M.R. [1978] Morphological Investigations. Diss. Storrs, CT ◾ Bammesberger, A./ Grzega, J. [2001] ModE girl and other terms for „young female person“ in English language history [Unter: https://www1.ku.de/SLF/EngluVglSW/bammesberger​1011.​ pdf; letzter Zugriff: 06.07.2022] ◾ de Saussure, F. [1974] Cours de Linguistique Générale. 3rd ed. Paris ◾ Dokulil, M. [1968] Zur Frage der Stelle der Wortbildung im Sprachsystem. In: SS 29: 9–16 ◾ Dokulil, M. [1968] Zur Theorie der Wortbildungslehre. In: WZKMU 17: 203–211 ◾ Dokulil, M. [1997] The Prague School’s Theoretical and Methodological Contribution to „Word formation“ (Derivology). In: Panevová, J. [ed.] Obsah – výraz – význam. Miloši Dokulilovi k 85. narozeninám. Praha: 179–210 ◾ Fernández-Domínguez, J. [2020] The Onomasiological Approach. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 1049–1067 ◾ Grzega, J. [2015] Word-formation in onomasiology. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 79–93 ◾ Halle, M. [1973] Prolegomena to a Theory of Word Formation. In: LingInqu 4: 3–16 ◾ Horecký, J. [1994] Semantics of Derived Words. Prešov ◾ Quadri, B. [1952] Aufgaben und Methoden der onomasiologischen Forschung. Bern ◾ Renouf, A./ Bauer, L. [2000] Contextual Clues to Word-Meaning. In: IJCorpL 2: 231–258 ◾ Štekauer, P. [1996] A Theory of Conversion in English. Frankfurt/Main [etc.] ◾ Štekauer, P. [1998] An Onomasiological Theory of English Word-Formation. Amsterdam [etc.] ◾ Štekauer, P. [2001] Fundamental Principles of an Onomasiological Theory of English Word Formation [Unter: https://digilib.phil.muni.cz/handle/11222.digilib/104495; letzter Zugriff: 06.07.2022] ◾ Štekauer, P. [2002] On the Theory of Neologisms and Nonce-formations. In: AuJLing 1: 97–112 ◾ Štekauer, P. [2005a] Meaning Predictability in Word Formation. Amsterdam [etc.] ◾ Štekauer, P. [2005b] Onomasiological Approach to Word-Formation. In: Štekauer, P./ Lieber, R. [eds.] Handbook of Word-Formation. Dordrecht [etc.]: 207–232 ◾ Wisniewski, E.J. [1996] Construal and Similarity in Conceptual Combination. In: JMLg 35: 434–453 ◾ Zauner, A. [1902] Die romanischen Namen der Körperteile. Eine onomasiologische Studie. Erlangen.

onomasiologischer Typ

Wortbildungsmuster, das durch die Sem-Konstellation der onomasiologischen Ebene und deren Realisierung auf der onomatologischen Ebene geprägt wird.

O

Onomatologie 524 ▲ onomasiological type: word-formation pattern

characterized by the constellation of semes on the onomasiological level and their realization on the onomatological level.

O

Die onomasiologische Wortbildungstheorie Štekauers (2005a, b) unterscheidet fünf onomasiologische Typen. Typ 1 ist dadurch gekennzeichnet, dass alle drei Konstituenten der onomasiologischen Ebene – die onomasiologische Basis, die determinierende Konstituente der onomasiologischen Markierung und die determinierte Konstituente der onomasiologischen Markierung – morphologisch realisiert werden (z.B. truck driver, brain-storming, photo-sensor). Typ 2 ergibt sich dadurch, dass die determinierende Konstituente der onomasiologischen Markierung nicht zum Ausdruck gebracht wird (z.B. teacher, spinning wheel, stop-watch). Diese ist jedoch mental, d.h. auf der onomasiologischen Ebene präsent und kann mit Hilfe des „morpheme-to-seme-assignment“-Prinzips aktiviert werden (z.B. language teacher). In diesem Fall wird das Muster des Typs 2 in das Muster des Typs 1 überführt. Wird die determinierte Konstituente der onomasiologischen Markierung morphologisch nicht realisiert, so liegt der onomasiologische Typ 3 vor (z.B. trucker, novelist, summer-house). Typ 4 ist durch eine einfache onomasiologische Markierung gekennzeichnet. Die onomasiologische Struktur der durch blue-eyed bezeichneten Eigenschaft weist z.B. lediglich die onomasiologische Basis (realisiert durch -ed) und die einfache onomasiologische Markierung blue eye auf. Die onomasiologische Ebene des Typs 5 ist völlig unstrukturiert, d.h. sie weist weder eine onomasiologische Basis noch eine onomasiologische Markierung auf. Dieser Typ repräsentiert die onomasiologische Umkategorisierung (z.B. milk → to milk).

Heike Baeskow → morpheme-to-seme-assignment principle; onomasiologische Struktur; onomasiologische Umkategorisierung; onomasiologische Wortbildungstheorie; Sem

🕮 Fernández-Domínguez, J. [2020] The Onomasiological Approach. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 1049–1067 ◾ Štekauer, P./ Chapman, D./ Tomaščíková, S./ Franko, Š. [2005] Word-Formation as Creativity within Productivity Constraints. Sociolinguistic Evidence [Unter: https://www1.ku.de/SLF/Eng​ luVglSW/stekauer1051.pdf; letzter Zugriff: 06.07.2022] ◾ Štekauer, P. [2005a] Meaning Predictability in Word Formation. Novel, context-free naming units. Amsterdam [etc.] ◾ Štekauer, P. [2005b] Onomasiological Approach to Word-Formation.

In: Štekauer, P./ Lieber, R. [eds.] Handbook of Word-Formation. Dordrecht [etc.]: 207–232.

Onomatologie

1. Teildisziplin der Linguistik, die sich mit der Benennung von Entitäten der außersprachlichen Realität durch komplexe Wörter befasst. ▲ onomatology: sub-discipline of linguistics concerned with the denomination of entities in extra-linguistic reality by means of complex words. 2. Komponente des onomasiologischen Wortbildungsmodells, die für die morphologische Realisierung konzeptuell-semantischer Strukturen zuständig ist. ▲ onomatology: component of the onomasiological word-formation model responsible for the morphological realization of conceptual-semantic structures. Zu 1: Der Terminus „Onomatologie“ wurde 1926 von Mathesius, dem Begründer des Prager Linguistenzirkels, in die Linguistik eingeführt. Mathesius differenzierte zwischen zwei sprachlichen Beschreibungsebenen. Die erste Ebene ist die der funktionalen Onomatologie. Hier werden „naming units“, d.h. die zur Benennung von Entitäten der außersprachlichen Realität benötigten komplexen Wörter untersucht. Die zweite Beschreibungsebene bildet die funktionale Syntax, welche die zwischen den „naming units“ bestehenden syntaktischen Relationen analysiert (Mathesius 1975: 16). Heike Baeskow

→ Benennung; onomasiologische Wortbildungstheorie

🕮 Mathesius, V. [1975] A Functional Analysis of Present Day English. The Hague.

Zu 2: In der onomasiologischen Wortbildungstheorie Štekauers (2001, 2005) findet auf der ono­matologischen Ebene die morphologische Realisierung der konzeptuell-semantischen onomasiologischen Strukturen statt. Das Inventar dieser Ebene bilden somit die im Lexikon gespeicherten Wortbildungselemente. Die von Štekauer vorgenommene Differenzierung zwischen Onomasiologie und Onomatologie reflektiert die Arbitrarität des sprachlichen Zeichens. Heike Baeskow

→ morpheme-to-seme-assignment principle; onomasiologische Ebene; onomasiologische Wortbildungstheorie

525 Onomatopoiie 🕮 Fernández-Domínguez, J. [2020] The Onomasiological Approach. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 1049–1067 ◾ Štekauer, P. [2001] Fundamental Principles of an Onomasiological Theory of English Word Formation [Unter: https:// digilib.phil.muni.cz/handle/11222.digilib/104495; letzter Zugriff: 06.07.2022] ◾ Štekauer, P. [2005] Meaning Predictability in Word Formation. Novel, context-free naming units. Amsterdam [etc.].

Onomatopoetikum

auf Lautnachahmung beruhende Wortschöpfung. ▲ onomatopoeic word: word creation based on sound imitation. Bei einem kleinen Teil von Wörtern besteht zwischen Lautkomplex und Bedeutung eine auf Lautimitation oder Lautassoziation beruhende direkte Beziehung. Diese phonetisch-phonemisch motivierten Wörter werden meist als eine Erscheinung von Wortschöpfung betrachtet (vgl. Fleischer/Barz 2012: 19, 42f.; Ronneberger-Sibold 2015). Wurzel (1984: 204) spricht von „Lautikonismus“. Onomatopoetika finden sich vor allem bei Benennungen für Tiere (dt. Kuckuck, engl. cuckoo, frz. coucou, russ. kukuška, finn. käki, ungar. kakuk) und in der kindersprachlichen Wortbildung (dt. Wauwau, engl. puff-puff ‘Lokomotive’, frz. teuf-teuf ‘Auto’). Lautmalerisch sind auch Verben für Geräusche und Bewegungen (dt. bimmeln, poltern, quieken, plumpsen, zischen, miauen). Allerdings sind onomatopoetische Wörter keine einfachen Abbildungen von natürlichen Lauten, sondern vermittelt durch die Struktur des jeweiligen Sprachsystems. Erben (2006: 20) merkt an, dass schallnachahmende Bildungen zwar lautlich motiviert sind, aber bereits das Lautsystem der jeweiligen Sprache voraussetzen. Donalies (2005: 18) verweist auf deutliche Wahrnehmungs- und Wiedergabeunterschiede zwischen Hörern und Sprechern verschiedener Sprachen. Auch können lautmalende Wörter dem Sprachwandel unterliegen, wie der german. onomatopoetische Stamm gauka- zeigt: Das lautmalende Gauch ‘Kuckuck’ (ahd. gauh, mhd. gouch) ist durch Kuckuck ersetzt worden und inzwischen veraltet (vgl. Wurzel 1984: 209). Eine stärkere einzelsprachliche Bindung zeigen Bildungen, die sich nicht auf Geräuschimitation beschränken und bei denen bestimmte Bedeutungselemente durch sprachspezifische phonologische Mittel wiedergegeben werden (nach Wurzel 1984: 205 „Lautsymbolismus“). So vermitteln

im Dt. Lexeme mit -tsch-, im Engl. mit sl- die Vorstellung von Feuchtem, Glitschigem (dt. lutschen, Matsch, Patsche, titschen, engl. slobber ‘Geifer, geifern’, slop ‘Pfütze’, sludge ‘Schlamm’, slush ‘Matsch’), vgl. Fleischer/Barz 2012: 43. Lautmalerei kann zugleich mit der ebenfalls lautassoziativ wirkenden Reduplikation verbunden sein (dt. Pingpong veralt. für ‘Tischtennis’, engl. bow-wow ‘Wauwau’, frz. le frou-frou ‘Rascheln’ [von Seide u.Ä.]‘. Onomatopoetika, wie sie vor allem in Comics zur Versprachlichung von Lauten vorkommen (ächz, bang, grrg, grumpf), bleiben meist auf okkasionellen Gebrauch beschränkt (Fleischer/Barz 2012: 19; vgl. dazu auch Fiedler 2003: bes. 58ff.). Hannelore Poethe ≡ Lautikonismus; Schallnachahmung; Schallwort → § 2; Motivation; Onomatopoiie; Reduplikation; Wortschöpfung

🕮 Donalies, E. [2005] Die Wortbildung des Deutschen. 2., überarb. Aufl. Tübingen ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fiedler, S. [2003] Sprachspiele im Comic. Das Profil der deutschen Comic-Zeitschrift MOSAIK. Leipzig ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Körtvélyessi, L./ Štekauer, P. [2020] Onomatopoeia: On the Crossroads of Sound Symbolism and Word Formation. In: Körtvélyessi, L./ Štekauer, P. [eds.] Complex Words. Advances in Morphology. Cambridge: 335–361 ◾ Ronneberger-Sibold, E. [2015] Word-creation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 485–500 ◾ Wurzel, W.U. [1984] Zur Dialektik im Sprachsystem. Widerspruch – Motiviertheit – Sprachveränderung. In: DaF 21/4: 202–211.

Onomatopoiie

auf Schallimitation oder Schallassoziation beruhende Erscheinung der Benennungsbildung. ▲ onomatopoeia: process of naming by means of sound imitation or sound association. Bei einem sehr begrenzten Teil des Gesamtwortschatzes besteht eine phonetisch-phonematisch motivierte Verknüpfung von Bedeutungs- und Lautstruktur. Wurzel (1984: 204) spricht von „Lautikonismus“ und primärer Motivation (im Unterschied zum stärker sprachspezifischen und sekundär motivierten „Lautsymbolismus“). Onomatopoetische Wörter scheinen der Auffassung zu widersprechen, dass sprachliche Zeichen generell symbolischer Art seien. Linke/Nussbaumer/Portmann (2004: 23) gehen auch hier von symbolischen Zeichen aus und begründen das

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onymische Wortbildung 526 u.a. damit, dass sich auch die onomatopoetischen Zeichen der Lautstruktur (und der Schreibung) der jeweiligen Sprache anpassen müssen. „Die Laute werden nicht einfach abgebildet, sondern vielmehr mit den lautlichen (und orthographischen) Mitteln der Sprache nachgebildet.“ Vgl. die Lautäußerungen von Hahn und Hund bzw. entsprechende kindersprachliche Bildungen (dt. Kikeriki, frz. cocorico, engl. cock-a-doodle-doo; dt. Wauwau, frz. vou-vou, engl. bow-wow). In ähnlicher Weise argumentieren auch Donalies (2005: 18) und Erben (2006: 20). Auch Sprachwandelphänomene stützen eher die These, dass es sich nicht um ein rein ikonisches Verhältnis handelt, vgl. den Wandel von frz. coquerycoq mit doppelter lautlicher und orthographischer Anspielung auf le coq ‘der Hahn’ zu cocorico (nach Linke/Nussbaumer/Portmann 2004: 23). Zu Erscheinungsformen und zur Funktion der Ono­matopoiie im Comic vgl. Fiedler (2003: bes. 58ff). Hannelore Poethe ≡ Klangmalerei; Lautmalerei; Lautsymbolik; phonetisch-phonematische Motivation → Motivation; Onomatopoetikum ⇀ Onomatopoiie (Textling; Lexik; Sprachphil)

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🕮 ◾ Donalies, E. [2005] Die Wortbildung des Deutschen 2., überarb. Aufl. Tübingen ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fiedler, S. [2003] Sprachspiele im Comic. Das Profil der deutschen Comic-Zeitschrift MOSAIK. Leipzig ◾ Körtvélyessi, L./ Štekauer, P. [2020] Onomatopoeia: On the Crossroads of Sound Symbolism and Word Formation. In: Körtvélyessi, L./ Štekauer, P. [eds.] Complex Words. Advances in Morphology. Cambridge: 335–361 ◾ Linke, A./ Nussbaumer, M./ Portmann, P. [2004] Studienbuch Linguistik. 5., erw. Aufl. Tübingen ◾ Ronneberger-Sibold, E. [2015] Word-formation and brand names. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 2192–2210 ◾ Wurzel, W.U. [1984] Zur Dialektik im Sprachsystem. Widerspruch – Motiviertheit – Sprachveränderung. In: DaF 21/4: 202–211.

onymische Wortbildung

Wortbildung von Eigennamen. ▲ onymic word-formation: word-formation of proper names. Die Wortbildung der Eigennamen (auch: Propria, Onyma), insbesondere der Personennamen und der Ortsnamen, in Synchronie und Diachronie kann Übereinstimmungen und Abweichungen von der Wortbildung der appellativischen Substantive zeigen. Sie bedient sich keiner grundsätz-

lich anderen Verfahren als die appellativische Wortbildung, also etwa Komposition, explizite Derivation, Zusammenrückung und Konversion. Das Auftreten dieser Wortbildungsarten in den verschiedenen Namenarten und ihrer Geschichte, etwa Rufnamen, Familiennamen, Siedlungsnamen, Flurnamen und Gewässernamen, hat aber eine onymische Spezifik, die sich im Einzelnen in diesem Zusammenhang jedoch nicht abbilden lässt. Einen guten Überblick über die Wortbildung von Eigennamen bietet das Handbuch von Eichler/Hilty/Löffler/Steger/Zgusta (1996, Bd. 2), das neben den im Folgenden angeführten Beiträgen zum Germanischen auch Darstellungen zur onymischen Wortbildung des Romanischen und Slavischen enthält. Eckhard Meineke

→ deonymische Wortbildung; Derivation; Komposition; Konversion; Zusammenrückung

🕮 Fahlbusch, F./ Heuer, R./ Nowak, J. [2012] Morphologie der Familiennamen. In: Kunze, K./ Nübling, D. [Hg.] Deutscher Familiennamenatlas. Bd. 3. Berlin [etc.] ◾ Greule, A. [1996a] Morphologie und Wortbildung der Vornamen: Germanisch. In: Eichler, E./ Hilty, G./ Löffler, H./ Steger, H./ Zgusta, L. [Hg.] Namenforschung (HSK 11.2). Berlin [etc.]: 1182–1187 ◾ Greule, A. [1996b] Gewässernamen. Morphologie, Benennungsmotive, Schichten. In: Eichler, E./ Hilty, G./ Löffler, H./ Steger, H./ Zgusta, L. [Hg.] Namenforschung (HSK 11.2). Berlin [etc.]: 1534–1539 ◾ Hartig, J. [1996] Morphologie und Wortbildung der Familiennamen: Germanisch. In: Eichler, E./ Hilty, G./ Löffler, H./ Steger, H./ Zgusta, L. [Hg.] Namenforschung (HSK 11.2). Berlin: 1259–1262 ◾ Laur, W. [1989] Der Name. Beiträge zur allgemeinen Namenkunde und ihrer Grundlegung. Heidelberg ◾ Laur, W. [1996] Morphologie und Wortbildung der Ortsnamen. In: Eichler, E./ Hilty, G./ Löffler, H./ Steger, H./ Zgusta, L. [Hg.] Namenforschung. (HSK 11.2). Berlin: 1370–1375 ◾ Tyroller, H. [1996] Morphologie und Wortbildung der Flurnamen: Germanisch. In: Eichler, E./ Hilty, G./ Löffler, H./ Steger, H./ Zgusta, L. [Hg.] Namenforschung (HSK 11.2) Berlin: 1430–1433.

opake Bildung

≡ demotivierte Bildung ⇀ opake Bildung (SemPrag)

Opakheit

≡ Undurchsichtigkeit ⇀ Opakheit (Sprachphil; Phon-Dt; SemPrag)

Operator-Operand-Struktur

≡ Determinans-Determinatum-Struktur

Opposition

Beziehung zwischen Wortbildungseinheiten mit un-

527 Oppositionsbildung terschiedlichen Funktionen und/oder Bedeutungen innerhalb eines gemeinsamen Bezugsrahmens. ▲ opposition: relation among word-formation units within a frame of reference which have differing functions and/or meanings. Der Begriff der Opposition (zu lat. oppositiō ‘Entgegensetzen’) wird von der Prager Schule (insbesondere von Trubetzkoy 1939) zunächst speziell für die Phonologie entwickelt. Zwei Phoneme stehen in einer phonologischen Opposition zueinander, wenn durch sie zwei im Übrigen phonologisch identische sprachliche Zeichen differenziert werden können: Die Lexeme Tisch und Fisch unterscheiden sich durch genau ein distinktives Merkmal, /t/ und /f/ im Anlaut (Minimalopposition). Das Prinzip der distinktiven Opposition ist auf andere linguistische Disziplinen, insbesondere auf die Semantik übertragen worden. So versucht die strukturalistische Semantik, Bedeutungen durch ein begrenztes Inventar distinktiver Merkmale (Seme) zu beschreiben. Die Lexembedeutungen zweier Lexeme wie Vater und Mutter unterscheiden sich danach durch mindestens ein semantisches Merkmal [- weiblich] bzw. [+weiblich]. Auch auf die Wortbildung wird das Prinzip der Opposition übertragen. Eine Wortbildungsopposition besteht zwischen funktional oder semantisch unterschiedlichen Wortbildungsmitteln, die über einen gemeinsamen Bezugsrahmen verfügen, vgl. die Suffixe -en und -ig in seiden ‘aus Seide’ (Wortbildungsbedeutung ‘material’) und seidig ‘wie Seide’ (Wortbildungsbedeutung ‘komparativ’), vgl. Fleischer/Barz (2007: 12). Kommt es dagegen zu Funktionsüberschneidungen, spricht man von Konkurrenz, vgl. dt. atypisch/untypisch. Konkurrenz und Opposition sind eng miteinander verbunden. Häufig entwickelt sich aus einer Konkurrenzsituation heraus eine Bedeutungsspezialisierung, in deren Folge die entsprechenden Einheiten in Opposition zueinander stehen, vgl. Hinderling (1982: 96). Dies gilt auch für indigene (heimische) und konkurrierende fremde Wortbildungsmittel. So sind indigene -ung-Derivate im Dt. häufig Handlungsbezeichnungen (nomina actionis), die konkurrierenden -(at)ion-Derivate tendieren eher zur Ausbildung von nomina acti, vgl. dt. Klassifizierung – Klassifikation, Delegierung – Delegation, vgl. Fleischer/Barz (2007: 174).

Mitunter spricht man – etwa in der roman. Wortbildungslehre – auch in Hinblick auf die Unterscheidung von Wortbildungsprodukt und Wortbildungsbasis von Opposition. Span. casita ‘Häuschen’ und casa ‘Haus’ stehen durch das Merkmal ‘Diminutivität’ in Opposition zueinander (Lüdtke 2007: 57ff.) In einem engeren Sinne bezeichnet Opposition eine Gegensatzrelation; dt. Glück – Unglück; engl. safe – unsafe. Mettinger (1987, 1988) wendet die Begriffe Opposition und Negation auf die Dichotomie Kontrarität (= Opposition) und Kontradiktion (= Negation) an. Anja Seiffert

→ kontradiktorische Negation; konträre Negation; Oppositionsbildung; Sem

⇀ Opposition (Phon-Dt; SemPrag) ⇁ opposition (Phon-Engl)

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Hinderling, R. [1982] Konkurrenz und Opposition in der verbalen Wortbildung. In: Eichinger, L.M. [Hg.] Tendenzen verbaler Wortbildung in der deutschen Gegenwartssprache. Hamburg: 81–106 ◾ Lüdtke, J. [2007] Romanische Wortbildung. Inhaltlich – diachronisch – synchronisch. Tübingen ◾ Lyons, J. [1980] Opposition und Kontrast. In: Lyons, J. [ed.] Semantik. Band I. München: 281–291 ◾ Mettinger, A. [1987] Sinn, Unsinn, Gegensinn oder Irrsinn? Un-Bildungen im Englischen. In: GrLSt 28: 67–79 ◾ Mettinger, A. [1988] Negativpräfixe im Englischen: Opposition oder Negation? In: Hyldgaard-Jensen, K./ Zettersten, A. [Hg.] Symposium in Lexicographie III. Proceedings of the Third International Symposium on Lexicographie May 14 – 16, 1986 at the Universität of Copenhagen. Tübingen: 485 –501 ◾ Trubetzkoy, N.S. [1939] Grundzüge der Phonologie. Prag.

Oppositionsbildung

Wortbildung, die zu einer im Wortschatz vorhandenen oder neu gebildeten, gleich strukturierten Bildung im Verhältnis der Komplementarität steht. ▲ opposite formation: word-formation product which is in a complementary relation to a structurally identical existing or novel formation. Neubildungen wie Digitalkamera machen mitunter eine präzisierende Bildung zur Bezeichnung des Gegensatzes erforderlich: Digitalkamera – Analogkamera, Fernstudium – Direktstudium, Fernsehfilm – Kinofilm. Solche Oppositionsbildungen unterscheiden sich von den Negationsbildungen dadurch, dass ihre Wortbildungsparaphrase keinen freien Negationsträger enthält. Es handelt sich nicht um einen Ausdruck der Nichtexistenz oder Nichtwahrheit – eine Analogkamera ist eine

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Optimalitätstheorie 528 Kamera. Durch Oppositionsbildungen entstehen vielmehr Kohyponyme, zu welchen die durch das jeweilige Zweitglied bezeichneten Begriffe als Hyperonyme fungieren: dt. Kamera – Digitalkamera – Analogkamera, engl. pressure – high-pressure – low-pressure. Oppositionsbildungen sind oft Analogiebildungen nach einem singulären Muster, vgl. Fernweh < Heimweh, lufttüchtig < seetüchtig (Fleischer 1983: 15). Daneben existieren – vor allem in den Fachsprachen – produktive Modelle, nach denen Reihen gleich strukturierter Wortbildungsprodukte gebildet werden, vgl. isomer – heteromer, isomorph – heteromorph, hochproduktiv – schwachproduktiv, hochradioaktiv – schwachradioaktiv, monomer – polymer, monogam – polygam, vgl. Kühnhold/Putzer/Wellmann (1978). Anja Seiffert

→ Negation; Opposition; Wortbildungshyponymie

🕮 Fleischer, W. [1983] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig ◾ Kühnhold, I./ Putzer, O./ Wellmann, H. [1978] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 3. Hauptteil: Das Adjektiv. Düsseldorf.

Optimalitätstheorie

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outputbasierte Theorie, nach der die Grammatik einer Sprache aus verletzbaren, gerankten „Constraints“ besteht, denen Formen, Kandidaten, zur Evaluierung zugeführt werden. ▲ optimality theory: output based theoretical framework in which the grammar of a language is postulated to consist of violable ranked constraints to which freely generated forms, called candidates, are submitted for evaluation. In den frühen 1990er Jahren entwickelt, hat die Optimalitätstheorie weiten Einfluss in generativer Phonologie, Morphologie und Syntax. Aus den Arbeiten von McCarthy/Prince (1993), Grimshaw (1997), McCarthy (2002), Prince/Smolensky (2004) und anderen hervorgegangen, nimmt die Optimalitätstheorie eine dreigliedrige Version der Universalgrammatik an. GEN generiert eine Vielzahl von Kandidaten für jede potentielle phonologische Form, jedes Wort oder jeden Satz, wobei jeder Kandidat eine potentielle Ableitung einer zugrundeliegenden Form ist. CON besteht aus einer Menge von universalen „Outputcon­ straints“ der beiden Typen „Treueconstraints“ und „Markiertheitsconstraints“. Treueconstraints sorgen dafür, dass die Outputformen den Inputformen so ähnlich wie möglich sind. Markiert-

heitsconstraints liefern Informationen über sprachliche Wohlgeformtheit, so z.B. dass Onsets präferiert oder Konsonantencluster verboten sind. Die Grammatiken von Einzelsprachen bestehen aus sprachspezifischen Rankings dieser vermutlich universalen Constraints. EVAL ist eine Komponente, die die Kandidaten evaluiert und die optimalen Kandidaten auswählt, d.h. diejenigen Kandidaten, die relativ zu den konkurrierenden Kandidaten die wenigsten und die am niedrigsten gerankten Constraints verletzen. Die Sprache Yawelmani wird oft zur Illustration herangezogen. Yawelmani präferiert CVC-Silben. Nehmen wir an, dass unsere Grammatik ein Treueconstraint dep beinhaltet, das Epenthese verhindert, und ein Markiertheitsconstraint *C, das unsilbifizierte Konsonanten verbietet, und dass in Yawelmani *C höhergerankt ist als dep. Bei einer morphologisch komplexen Form /ʔilkhin/ liefert GEN (unter anderen) Kandidaten wie [ʔi.lik.hin] und [ʔil.k.hin]. Wie im Tableau illustriert, verletzt jede Form eines der Constraints (* zeigt die Verletzung eines Constraints an, ! eine Constraintverletzung, die einen Kandidaten ausschließt (McCarthy 2007: 268): (1) *C DEP /ʔilk-hin/ *

a. → ʔi.lik.hin b.

ʔil.k.hin

*!

Da Kandidat (b) ein höher geranktes Constraint verletzt als Kandidat (a), ist Kandidat (a) der optimale Kandidat. Die Optimalitätstheorie ist auf Probleme der Morphologie, der Phonologie und der Syntax angewendet worden, speziell zur Wortbildung vgl. Raffelsiefen (2015). So postuliert Plag (1999) z.B. in dem Versuch, die phonologischen Beschränkungen bei der Affigierung von -ize im Englischen zu erklären, drei Constraints. Das Treueconstraint max-C gewährleistet, dass jeder Konsonant im Input auch im Output repräsentiert ist. In ähnlicher Weise gewährleistet max-V, dass jeder Vokal im Input auch im Output repräsentiert ist. Ein Markiertheitsconstraint, das er als R-Align-Head bezeichnet, drückt die Präferenz für Wortakzentplatzierung auf der letzten Silbe bei Verben aus. Entscheidend ist, dass max-C höher gerankt ist als R-Align Head und max-V niedriger gerankt ist als R-Align Head. Bei Kandidatenmengen wie in

ob-Satz

529 (2) und (3) bewirkt dieses Constraintranking die Auswahl von hospitalize und memorize als die optimalen Kandidaten (jede einzelne „non-primarystressed“-Silbe rechts von der akzenttragenden Silbe zählt als eine Verletzung von R-Align-Head) (Plag 1999: 171). (2) hospital-ize

Max-C

→ (hóspi)ta(lize) (hóspi)(tize)

R-Align Head

Max-V

*** *!

**

*

(3) memory-ize (mémo)ry(ize) → (mémo)(rize)

Max-C

R-Align Head

Max-V

***! **

* Rochelle Lieber

→ § 7; constraint; constraint ranking; faithfulness ⇀ Optimalitätstheorie (Gram-Syntax; Phon-Dt; QL-Dt) ⇁ optimality theory (Woform; Phon-Engl; TheoMethods; Typol)

🕮 Downing, L. [2019] Optimality theory and prosodic morphology. In: Audring, J./ Masini, F. [eds.] OHMT. Oxford: 187–211 ◾ Grimshaw, J. [1997] Projection, heads, and optimality. In: LingInqu 28: 373–422 ◾ McCarthy, J.J./ Prince, A.S. [1993] Prosodic morphology. Constraint interaction and satisfaction. New Brunswick, NJ ◾ McCarthy, J.J. [2002] A Thematic Guide to Optimality Theory. Cambridge, MA ◾ McCarthy, J.J. [2007] What is Optimality Theory? In: LgLingCmp 1: 260–291 ◾ Plag, I. [1999] Morphological Productivity. Structural Constraints on English Derivation. Berlin [etc.] ◾ Prince, A./ Smolensky, P. [2004] Optimality theory. Constraint interaction in generative grammar. Malden, MA [etc.] ◾ Raffelsiefen, R. [2015] Word-formation in optimality theory. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 158–187.

ornativ

semantische Eigenschaft von Wortbildungen, durch die ausgedrückt wird, dass eine durch die Wortbildung oder ein entsprechendes substantivisches Bezugswort bezeichnete Sache mit etwas versehen oder mit etwas ausgestattet ist. ▲ ornative: semantic property of word-formations which expresses that the object denoted by the complex word or its nominal reference word is equipped with something. Ornative Bildungen (zu lat. ōrnāre ‘schmücken, versehen mit’) sind in erster Linie transitive desubstantivische Verben, vgl. dt. etwas beschriften, etwas salzen, frz. émailler, bronzer. Den Ableitungen dieses Typs entsprechen Verbalkonstruktionen wie ‘etw. mit etw. versehen’. An den durch sie bezeichneten Handlungen sind drei Größen beteiligt: (1) ein Handelnder (in der Regel eine Person),

(2) der Gegenstand oder das Ziel der Tätigkeit und (3) ein (Teil-)Gegenstand, der hinzugefügt wird: jmd. versieht etw. mit Lack > jmd. lackiert etw. (Kühnhold/Wellmann 1973: 77). Alle ornativen Verben haben gemeinsam, dass die hinzugefügte Größe durch das Basissubstantiv bezeichnet wird. Über eine ornative Wortbildungsbedeutung verfügen ferner einige substantivische Komposita wie Deckelvase (‘Vase, die mit einem Deckel versehen ist’), Henkelkorb (‘Korb, der mit einem Henkel versehen ist’, vgl. Fleischer/Barz (2007: 99). Hier wird die hinzugefügte Größe durch das Erstglied bezeichnet.

↔ privativ → desubstantivische Derivation ⇀ Ornativ (SemPrag; Gram-Syntax)

Anja Seiffert

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Kühnhold, I./ Wellmann, H. [1973] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 1. Hauptteil: Das Verb (SdG 29). Düsseldorf.

Ornativbildung ≡ Ornativum

Ornativum

semantisch bestimmte Klasse abgeleiteter transitiver Verben, die ausdrücken, dass das zu ergänzende Akkusativobjekt mit der durch die Basis bezeichneten Größe ausgestattet wird. ▲ ornative verb: semantically determined class of transitive verbs which express that the accusative object is equipped with the entity denominated by the base.

Ornative Verben drücken ein „Versehen mit“ aus: das Essen salzen ‘mit Salz versehen’, ein Buch bebildern ‘mit Bildern versehen’. Sie bilden innerhalb der dt. Wortbildung unter den desubstantivischen Verben die größte Gruppe (Wellmann 1998: 474). Ornative Verben entstehen (a) durch Präfigierung, etwa dt. be- (beschriften), ein- (eincremen), ver- (vergolden), russ. za(zagrjaznjatʼ ‘beschmutzen’, zu grjazʼ ‘Schmutz’), ob- (obledenetʼ ‘vereisen, mit Eis bedecken’, zu lëd ‘Eis’), (b) durch Suffigierung, vgl. dt. -ieren (asphaltieren, lackieren), oder (c) durch Konversion, vgl. dt. fetten, ölen, engl. to water ‘wässern, bewässern’. Der Anteil ornativer Konversionen im Dt. bleibt hinter dem der Präfixderivate zurück,

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orthoepische Aussprache 530

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gleichwohl ist das entsprechende Muster gegenwartssprachlich noch schwach produktiv, dies belegen okkasionelle Bildungen wie etwas henkeln (‘mit einem Henkel versehen’). Als Basissubstantive kommen grundsätzlich alle Sachbezeichnungen in Betracht, die in ein partitives Verhältnis zu der im Akkusativobjekt genannten Sachbezeichnung treten können, vgl. Rahmen < Bild in das Bild rahmen (Kühnhold/Wellmann 1973: 77). Zu zahlreichen Ornativa existieren konträre Bildungen, sogenannte Privativa: dt. bewässern – entwässern, ölen – entölen, engl. cover ‘verhüllen’ – uncover ‘enthüllen’, frz. masquer ‘maskieren’ – démasquer ‘demaskieren’, russ. vooružit' ‘bewaffnen’ – obezoružit' ‘entwaffnen’. Der semantische Fokus liegt bei diesen Verben auf der Umkehrung, dem Rückgängigmachen der durch das ornative Verb bezeichneten Handlung, weshalb sie auch als reversive Verben bezeichnet werden. Andere Ornativa haben keine entsprechende reversive Bildung neben sich: bebildern (*entbildern), beschmutzen (*entschmutzen; vgl. hier aber säubern). Zu den Ornativa gehören auch Bildungen, die ausdrücken, dass einer (als Objekt fungierenden) Person etwas zugefügt oder gegeben wird: dt. jmdn. beglückwünschen, jmdn. loben, jmdn ohrfeigen (Wellmann 1998: 474). Mitunter bezieht sich der Terminus auch auf Nomina. Als nomina ornativa gelten dabei sub­ stantivische Bezeichnungen für sachliche oder persönliche Träger eines durch die Basis bezeichneten Merkmals, z.B. Bosheit ‘Handlung, die böse ist’, Gottheit ‘Wesen, das Gott genannt wird’, vgl. Doer­fert (1994: 184). Anja Seiffert ≡ Ornativbildung ↔ Privativum → desubstantivische Derivation; ornativ; privativ; reversativ ⇀ Ornativum (Lexik)

🕮 Doerfert, R. [1994] Die Substantivableitung mit -heit/-keit, -ida, -î im Frühneuhochdeutschen. Berlin [etc.] ◾ Kühnhold, I./ Wellmann, H. [1973] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 1. Hauptteil: Das Verb. Düsseldorf ◾ Wellmann, H. [1998] Die Wortbildung. In: Duden [1998] Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 6., neu bearb. Aufl. Mannheim [etc.]: 408–557.

orthoepische Aussprache

korrekte Aussprache gemäß der gültigen standardsprachlichen Norm.

▲ orthoepic pronunciation: pronunciation which is correct according to the standard linguistic norm.

Analog zur Orthographie regelt die Orthoepie (hergeleitet aus griech. ortho-épeia ‘richtige Aussprache’) die richtige, als Norm geltende Aussprache. Als erste Kodifizierung gilt das Aussprachewörterbuch „Deutsche Bühnenaussprache“ von Siebs, das 1898 erschien und zunächst nur für die Bühne gedacht war, bald aber auch für andere Bereiche maßgebend wurde. Weitere normierende Aussprachewörterbücher kamen im 20. Jh. hinzu wie das inzwischen weit verbreitete Aussprachewörterbuch des Dudenverlags. Im Bereich der Wortbildung fällt der Terminus „orthoepische Aussprache“ gelegentlich im Kontext der Aussprache von Kurzwörtern. Buchstabenkurzwörter aus einzelnen Buchstaben der Vollform können entweder buchstabiert ausgesprochen werden (DVD, GmbH) oder sie richten sich nach der orthoepischen Aussprache, der phonischen Realisierung „normaler“ Wörter (TÜV, Ufo), wie sie für das Deutsche gilt. Häufiger wird diese Art der Aussprache „silbische“ oder „gebundene Aussprache“ genannt. Die orthoepische, silbische Aussprache kann auch auf eine Vertrautheit mit dem Denotat hindeuten, wenn die ursprünglich gewählte Buchstabieraussprache aufgegeben wird zugunsten der gebundenen: Der Name der Lungenkrankheit SARS wurde beim Auftreten der ersten Fälle Anfang 2003 noch buchstabiert [es a er es] gesprochen (und so geschrieben), nach einer Weile starker Medienpräsenz setzte sich die orthoepische Aussprache durch [sars] und auch die Schreibung passte sich an (Sars). Heute existieren beide Schreibungen und beide Aussprachemöglichkeiten nebeneinander. Je nach Kommunikationssituation kann die Aussprache mancher Kurzwörter schwanken, wobei die orthoepische Aussprache in diesen Fällen die umgangssprachlichere Variante ist, die Aussprache nach dem Lautwert der Buchstaben dagegen die formellere und eigentlich für das entsprechende Kurzwort korrekte: Von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung spricht man gewöhnlich als der FAZ in Buchstabieraussprache [ef a zet], nur in weniger formellen Kommunikationssituationen wird die gebundene Aussprache [fatz] gewählt. In diesen Fällen ist der Ausdruck „orthoepisch“

531 für die gebundene, silbische Aussprache problematisch, da diese zwar den üblichen Ausspracheregeln deutscher Wörter folgt, aber im konkreten Fall gerade nicht die eigentlich „korrekte“, buchstabierte Aussprache ist. Schließlich kann die gebundene Aussprache auch gewählt werden, um sich bewusst von der üblichen Norm – der Buchstabieraussprache – abzuheben, so wenn im Falle des Buchstabenkurzworts USA nicht von [u: es a:], sondern von [usa] gesprochen wird. Auch hier ist diese gewollte Abweichung kaum als orthoepische Aussprache, also als gemäß der gültigen standardsprachlichen Norm, zu bezeichnen. Anja Steinhauer ≡ gebundene Aussprache; silbische Aussprache → § 29; Kurzwort; multisegmentales Kurzwort

🕮 Duden [2015] Das Aussprachewörterbuch. 7., komplett überarb. u. aktualis. Aufl. Bearb. v. S. Kleiner u. R. Knöbl. Berlin ◾ Siebs, T. [2000] Deutsche Aussprache. Reine und gemäßigte Hochlautung mit Aussprachewörterbuch. Hg. von H. de Boor. 19., umgearb. Aufl. Berlin ◾ Steinhauer, A. [2007] Kürze im deutschen Wortschatz. In: Bär, J.A./ Roelcke, T./ Steinhauer, A. [Hg.] Sprachliche Kürze. Konzeptuelle, strukturelle und pragmatische Aspekte. Berlin [etc.]: 131–158.

Ortsbezeichnung ≡ nomen loci

overt analogue criterion

Prinzip, nach dem ein Nullmorphem für eine Sprache nur dann postuliert werden darf, wenn es in dieser Sprache ein overtes Morphem mit der gleichen Funktion gibt. ▲ overt analogue criterion: principle that a zero morpheme may not be postulated in a language unless there is an overt morpheme that fulfills the same function. Obwohl die Vorstellung, die diesem Prinzip zugrundeliegt, mindestens auf die amerikanische

overt analogue criterion Strukturalismus-Tradition und vielleicht bis zu de Saussure zurückreicht, wurde die Bezeichnung dieses Prinzips von Sanders (1988) eingeführt. Das „overt analogue criterion“ stellt sicher, dass die Konversion eines Wortes von einer in eine andere Kategorie (z.B. coolA > coolV oder chairN > chairV) nur dann als Nullmorphem analysiert wird, wenn es overte Affixe gibt, die den gleichen Kategoriewechsel bewirken. Nach dem „overt analogue criterion“ ist für das Englische die Analyse mittels Nullaffigierung gerechtfertigt, weil die Suffixe -ize und -ify Verben von Adjektiven oder Nomina bilden (legalize, unionize, purify, personify). Für die Derivation des Verbs to out vom Partizip out wäre, wie Štekauer (2000: 77) argumentiert, ein Nullmorphem unzulässig, weil es im Englischen kein overtes Affix gibt, das Verben aus Partizipien bildet. In der Arbeit von Lieber (1981, 1992) ist das „overt analogue criterion“ strikter. Lieber argumentiert, dass das Postulieren einer Nullaffix-Analyse der Konversion nur dann gerechtfertigt ist, wenn das Nullaffix sich in der betreffenden Sprache so verhält wie ein overtes Affix. Wenn z.B. overte Derivationsaffixe in einer Sprache Genus, Konjugation oder Deklinationklasse anzeigen, kann kein Nullaffix postuliert werden, wenn nicht auch nullderivierte Einheiten gleiche Genera, Konjugationen oder Deklinationsklassen anzeigen.

→ Nullmorphem; relisting ⇁ overt analogue criterion (Woform)

Rochelle Lieber

🕮 Lieber, R. [1981] The Organization of the Lexicon. Bloomington, IN ◾ Lieber, R. [1992] Deconstructing Morphology. Word Formation in Syntactic Theory. Chicago, IL ◾ Sanders, G. [1988] Zero Derivation and the Overt Analogue Criterion. In: Hammond, M./ Noonan, M. [eds.] Theoretical Morphology. San Diego, CA [etc.]: 155–175 ◾ Štekauer, P. [2000] English Word Formation. A History of Research. Tübingen.

O

P Paarformel

≡ Binomiale ⇀ Paarformel (Lexik; HistSprw)

paradigm economy principle

Prinzip, nach dem die Anzahl der Flexionsklassen für eine bestimmte Kategorie, z.B. Nomen, nicht die höchste Anzahl von Allomorphen für eine einzelne morphosytaktische Kategorie überschreitet. ▲ paradigm economy principle: principle that the number of inflectional classes for a particular category, e.g. noun, will not exceed the largest number of allomorphs for a single morphosyntactic category. Von Carstairs (1983; 1987) vorgeschlagen, soll das Prinzip der Paradigmenökonomie die Beschränkung der Anzahl von Flexionsklassen (Deklinationen und Konjugationen) erklären, die in einer Sprache vorkommen können. Hierfür führt Carstairs (1983: 116) das folgende hypothetische Beispiel an: In einer Sprache, die sechs Kasus und zwei Numeri hat, gibt es nicht mehr als drei distinkte Deklinationsformen, wenn die höchste Anzahl von Allomorphen in einer dieser zwölf möglichen morphosyntaktischen Kategorien drei ist. (1) Prinzip der Paradigmenökonomie Kasus

Singular

Plural

1

-s, -m, -∅

-i:, -e:s, -a

2

-e, -m, -∅

-i:, -e:s, -a

3

-m, -∅

-e:s, -a

4

-i:, -is

-rum, -um

5

-i:, -o

-i:s, -ibus

6

-e, -o:

-i:s, -ibus

Carstairs merkt an, dass, wenn die Auswahl von Allomorphen für die zwölf morphosyntaktischen Kategorien für jedes beliebige Nomen unabhängig wäre, eine Sprache theoretisch bis zu 20.736

einzelne Deklinationsformen hätte, oder lediglich drei. Typischerweise bewegt sich die Anzahl von Flexionsklassen in den Einzelsprachen um das Minimum; in Sprachen mit Vokalharmonie wie dem Ungarischen z.B. können Flexionenformen wie -ok und -ök im Sinne des Prinzips der Paradigmenökonomie als eine einzige Flexion gelten, denn ihre Distribution ist phonologisch vorhersagbar. Wie Spencer (1991: 229) anmerkt, ist die Spekulation darüber, warum sich die Paradigmenökonomie erhält, interessant: Es ist nicht klar, ob der Grund dafür rein sprachlicher Natur ist oder mit Beschränkungen des Erwerbs oder der Perzeption zusammenhängt.

→ Allomorph; paradigm structure condition ⇁ paradigm economy principle (Woform)

Rochelle Lieber

🕮 Carstairs, A. [1983] Paradigm economy. In: JLing 19: 115–125 ◾ Carstairs, A. [1987] Allomorphy in Inflexion. London [etc.] ◾ Spencer, A. [1991] Morphological Theory. Oxford [etc.].

paradigm structure condition

Aussage über die Grammatik einer Sprache dahingehend, dass wenn ein Element in einem Paradigma eine bestimmte Form hat, ein anderes Element des Paradigmas dieselbe Form hat. ▲ paradigm structure condition: statement in the grammar to the effect that if one cell of a paradigm takes a particular form, another cell in the paradigm will take the same form. Vor allem in Arbeiten von Wurzel (1984, 1989) entwickelt, machen Paradigmenstrukturbedingungen Aussagen über implikative Beziehungen zwischen den Formen innerhalb eines Paradigmas. Spencer (1991: 226) führt als einfaches Beispiel die Beziehung zwischen den Formen des Partizip Perfekts und des Imperfekts im Englischen an: Wenn die Partizip Perfekt-Form unre-

paradigmatischer Ausgleich 534 gelmäßig ist, ist es die Imperfektform auch. Gaeta (1995: 409) schlägt ähnliche Paradigmenstrukturbedingungen für das Deutsche (und andere Sprachen) vor. (1) [+masc., -/e#/, +animated] → [-(e)n/gen.sing., -(e)n/plur. Wenn belebte maskuline Nomina auf -e enden (z.B. der Experte), dann enden seine Singular- und Pluralformen im Genitiv auf -en (des Experten, die Experten). Letztlich können Paradigmenstrukturbedingungen als konstitutiv verstanden werden; mit einer Anzahl von gegebenen implikativen Beziehungen können Paradigmen schrittweise durch Schließen von einer Paradigmenform auf die nächste aufgebaut werden. Rochelle Lieber → paradigm economy principle; Partizip; Wortbildungsparadigma ⇁ paradigm structure condition (Woform)

🕮 Gaeta, L. [1995] Italian Loan Words in the Inflexional Noun System of Modern German. In: FoL 29/3–4: 407–421 ◾ Spencer, A. [1991] Morphological Theory. Oxford [etc.] ◾ Wurzel, W.U. [1984] Flexionsmorphologie und Natürlichkeit. Berlin ◾ Wurzel, W.U. [1989] Inflectional Morphology and Naturalness. Dordrecht.

paradigmatischer Ausgleich

P

sekundäre Vereinheitlichung in Flexionsparadigmen. ▲ paradigmatic leveling: secondary unification in inflectional paradigms. Unter paradigmatischem Ausgleich versteht man die Angleichung vorher verschiedener Phoneme im Paradigma, einen Stammwechsel innerhalb von Paradigmen oder die Angleichung des Typus der Flexionsmorpheme, die dazu führen, dass das Paradigma in sich einheitlicher oder einheitlich wird. Beispiele sind etwa der Ablautausgleich bei den Präteritumformen starker Verben zwischen den Formen von Singular und Plural (ahd. ih reit – wir ritum/nhd. ich ritt – wir ritten), der Ausgleich des grammatischen Wechsels beim starken Verb (ahd. ih was – wir wārum/nhd. ich war – wir waren), die Angleichung des Stamms der 2. Pers. Sg. Prät. des starken Verbs der Klassen 1–5 an den Stamm der 1. und 3. Pers. Sg. Prät. (ahd. ih gab – du gābi – er gab/nhd. ich gab – du gabst – er gab) oder die Angleichung des Typs der Flexionsmorphematik (ahd. 2. Pers. Sg. Prät. du nāmi – 2. Pers. Pl. Prät. ir nāmut nhd. du nahmst – ihr nahmt).

Der paradigmatische Ausgleich beruht auf der Tendenz, die sich mit „gleichartige Funktion: gleichartige Gestalt“ umschreiben lässt. Alternanzen, die keine (wichtigen) Unterschiede in der Bedeutung symbolisieren, tendieren dazu, beseitigt zu werden.

→ Ablautausgleich; Stamm

Eckhard Meineke

🕮 Mayerthaler, W. [1977] Studien zur theoretischen und zur französischen Morphologie: Reduplikation, Echowörter, morphologische Natürlichkeit, Haplologie, Produktivität, Regeltelescoping, paradigmatischer Ausgleich. Tübingen ◾ Paul, H. [1975] Prinzipien der Sprachgeschichte. 9., unveränd. Aufl. Tübingen.

paradigmatisches Fugenelement

Fugenelement, das mit der vorangehenden Form eine mögliche Flexionsform ergibt. ▲ paradigmatic linking element: connecting element that has the form of a possible inflectional ending of the first constituent. Ein paradigmatisches (auch: paradigmisches) Fugenelement ist ein Fugenelement, das gemeinsam mit dem vorangehenden Stamm (theoretisch) eine mögliche Flexionsform bildet, z.B. Blumen-stiel (Blumen ist eine mögliche Wortform). Der Begriff „paradigmatisch“ referiert dabei auf das Flexionsparadigma, bei Grimm (1878: 934) heißen sie „flexivisch“ im Gegensatz zu den „unflexivischen“, bei Wilmanns (1899) „organisch“ im Gegensatz zu den „unorganischen“. Die paradigmatischen Fugenelemente zeigen, dass sich die Fugenelemente historisch generell auf Flexionssuffixe zurückführen lassen (vgl. Kopf 2018). Inwieweit synchron diese Beziehung noch sinnvoll zu ziehen ist, ist durchaus eine zentrale Forschungsfrage. Für das heutige Dt. ist festzuhalten, dass sich die Funktion der Fugenelemente, auch der paradigmatischen, weit von der Funktion der (entsprechenden) Flexionselemente entfernt hat. Als paradigmatische Fugenelemente gelten im Deutschen -e (Haltestelle, Schweinebraten), -n (Blumenstiel), -en (Frauenbewegung), -er (Kinderwagen), -es (Gottesdienst). Die -s-Fuge kommt auch paradigmatisch vor (Lieblingskleid), ist aber häufiger unparadigmatisch (Versicherungsvertreter). Bei den paradigmatischen Fugenelementen scheint es Reste von „Flexionsbedeutungen“ zu geben. Die paradigmatischen Fugenelemente

535 Parafix sind typischerweise entweder Genitiv-SingularEndungen (Gottesdienst) oder Pluralendungen (Blumenvase), wobei alte Stammendungen mitunter als Pluralendungen reanalysiert wurden, so geschehen bei Rind-er und Kind-er (vgl. Wegener 2005). Einige der Pluralformen scheinen so benutzt zu werden; so gibt es Sprachschulen neben Sprachenschulen und Arztpraxen neben Ärztepraxen. Dennoch scheint das keine systematische Funktion aller „pluralischen“ Fugenelemente zu sein, wie eben Blumenstiel usw. (s. Fuhrhop 1998: 210f.). Donalies (2005: 46f.) geht sogar so weit, dass paradigmatische Fugenelemente überhaupt keine Fugenelemente sind, sondern Flexionssuffixe und als solche interpretiert werden müssen. Ihr Hauptargument ist, dass diese Elemente durchaus im Sinne ihrer Flexionsfunktion (insbesondere Plural) interpretiert werden können. Ihr Beispiel ist Blumenvase, eine Vase nicht nur für eine Blume. Nur dann ließe sich die Beschreibung der Fugenelemente als „semantisch“ leer rechtfertigen. Bei der Betrachtung aller Fugenelemente (paradigmatisch und unparadigmatisch) zeigt sich aber gerade bei der häufigen -s-Fuge eine ähnliche Funktionalität. Nach Nübling/Szczepaniak (2011) breitet sich die -s-Fuge momentan weiter aus bei einer „ungünstigen“ prosodischen Wortstruktur. Typisch für das Dt. bei der Verfugung festzustellen sind entweder Einsilber oder kanonische Trochäen, also mit zweiter Schwa-Silbe. Bei allen anderen ist eine verstärkte Tendenz zur Fugensetzung bzw. eine Unsicherheit bei der Verfugung festzustellen: Merkmalsanalyse, ?Seminarsarbeit, ?Mehrwertssteuer (Nübling/Szczepaniak 2011). Bei dieser neuen Interpretation der Fugenelemente verhält sich das paradigmatische Fugen-s wie das unparadigmatische Fugen-s, nämlich Freundschaftsdienst, Bildungsausgaben usw.; auch hier handelt es sich um Mehrsilber, die nicht die Form kanonischer Trochäen haben; die Unterscheidung in paradigmatisch und unparadigmatisch hat dann für das System keine Funktkionalität mehr. Nanna Fuhrhop

→ § 20; Fuge; Fugenelement; Fugenvariation; uneigentliches Kompositum; unparadigmatisches Fugenelement

🕮 Donalies, E. [2005] Die Wortbildung des Deutschen. 2., überarb. Aufl. Tübingen ◾ Fuhrhop, N. [1998] Grenzfälle mor-

phologischer Einheiten. Tübingen ◾ Fuhrhop, N./ Kürschner, S. [2015] Linking Elements in Germanic. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 568–582 ◾ Grimm, J. [1878] Deutsche Grammatik 2. Hg. von W. Scherer. Hildesheim ◾ Kopf, K. [2018] Fugenelemente diachron. Eine Korpusuntersuchung zu Entstehung und Ausbreitung der verfugenden N+N-Komposita. Berlin [etc.] ◾ Nübling, D./ Szczepaniak, R. [2011] Merkmal(s?)analyse, Seminar(s?)arbeit und Essen(s?)ausgabe. Zweifelsfälle der Verfugung als Indikatoren für Sprachwandel. In: ZS 30: 45–73 ◾ Szczepaniak, R. [2020] Linking Elements in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 890–912 ◾ Wegener, H. [2005] Das Hühnerei vor der Hundehütte. Von der Notwendigkeit historischen Wissens in der Grammatikographie des Deutschen. In: Berner, E./ Böhm, M./ Voeste, A. [Hg.] Ein gross vnnd narhafft haffen. Festschrift für Joachim Gessinger. Potsdam: 175–188 ◾ Wilmanns, W. [1899] Deutsche Grammatik. Gotisch, Alt-, Mittelund Neuhochdeutsch. Zweite Abteilung: Wortbildung. 2. Aufl. Straßburg.

Parafix

Kombination eines Infixes mit einem anderen Affix, die nur als Ganze eine bestimmte Bedeutung hat. ▲ parafix: combination of an infix with another affix where only the combination as a whole has a certain meaning. Der Ausdruck Parafix wurde zunächst in autosegmentalen Analysen eingeführt, um ein parallel zur Basis angefügtes (z.B. reduplikatives) Affix zu bezeichnen, das erst in einem weiteren Schritt als Präfix, Infix oder Suffix linearisiert wird (Clements 1985: 47). Später wurde der Terminus für die Präfix+Infix-Kombination i- + -i- in der austronesischen Sprache Lethi verwendet, die z.B. in der Nominalisierung iniatu zu natu ‘schicken’ auftritt (Blevins 1999: 383f.). In Ermangelung einer Definition konnte man annehmen, dass Parafix alle Kombinationen umfassen sollte, die keine Zirkumfixe (Präfix+Suffix) sind, also auch Infix+Suffix und Infix+Infix (Velupillai 2012: 92) – oder sogar generell das gleichzeitige Auftreten verschiedener Typen von (einfachen) Affixen (Velupillai 2012: 466), womit Zirkumfixe eingeschlossen wären. Für Kombinationen eines Infixes mit einem anderen einfachen Affix (Präfix, Suffix oder Infix) gibt es allerdings bereits den Terminus Transfix, der alle diskontinuierlichen Affixe mit einer diskontinuierlichen Basis umfasst (s. Melčuk 1982: 87). Nur wenn man Transfix auf Infix+Infix beschränkt (vgl. Bauer 1988: 19, 22), gibt es Bedarf für Parafix, wie Tab. 1 zeigt:

P

Paraphrase 536 Tab. 1: Kombinationen von Präfix, Infix und Suffix Präfix

Infix

Infix

Parafix (Transfix)

Transfix (Parafix?)

Suffix

Zirkumfix (Parafix?)

Parafix (Transfix)

→ Affix; Infix; Transfix; Zirkumfix ⇀ Parafix (Phon-Dt) ⇁ parafix (Phon-Engl)

Joachim Mugdan

🕮 Bauer, L. [1988] A descriptive gap in morphology. In: YbMo 1988: 17–27 ◾ Blevins, J. [1999] Untangling Leti infixation. In: OceLing 38: 383–403 ◾ Clements, G.N. [1985] The Problem of Transfer in Nonlinear Morphology. In: CWPL 7: 38–73 ◾ Mel’čuk, I.A. [1982] Towards a Language of Linguistics. A System of Formal Notions for Theoretical Morphology. München ◾ Velupillai, V. [2012] An Introduction to Linguistic Typology. Amsterdam [etc.].

Paraphrase

umschreibende Wiedergabe einer sprachlichen Einheit durch eine andere sprachliche Einheit derselben Sprache. ▲ paraphrase: description of a linguistic unit by means of another linguistic unit of the same language.

P

Während der Terminus heute auch für Paraphrasierung gebraucht wird, im Sinne der erklärenden Umschreibung eines Textes oder Textauszugs zur Verdeutlichung oder zur Interpretation der kommunikativen Absicht, bezeichnet er im linguistischen Sinne ursprünglich eine Synonymiebeziehung zwischen Wörtern, Sätzen und/oder Aussagen. De Beaugrande/Dressler (1981: 62) definieren die Paraphrase als „die Rekurrenz von Inhalt mit einer Änderung des Ausdrucks“. Unterschieden wird in der Regel zwischen strukturellen syntaktischen Paraphrasen (dt. Die Zeitschrift erscheint einmal im Monat vs. Einmal im Monat erscheint die Zeitschrift), deiktischen Paraphrasen (Der Verlag wurde in Leipzig gegründet vs. Er wurde hier gegründet), logischen Paraphrasen (Anna ist kleiner als Marie vs. Marie ist größer als Anna), pragmatischen Paraphrasen (dt. Es zieht vs. Schließ bitte die Tür), stilistischen bzw. registerbezogenen Paraphrasen (jmdn. schlagen vs. jmdn. verdreschen) und lexikalischen Paraphrasen (Vierteljahresschrift vs. vierteljährlich erscheinende Zeitschrift), von letzteren werden mitunter noch die idiomatischen Paraphrasen abgegrenzt (jmdm. entkommen vs. jmdm. durch die Lappen gehen) (vgl. u.a. Wunderlich 1991:

81–87). Andere Darstellungen gliedern nach der Komplexität der paraphrasierten sprachlichen Einheiten in Paraphrasen auf der Wortebene (v.a. lexikalische Paraphrasen), Paraphrasen auf der Satzebene (syntaktische, deiktische und pragmatische Paraphrasen) und Paraphrasen auf der Textebene (vgl. Piškur 2010: 31–32). Piškur (2010: 32) zählt zu den Paraphrasen auf Textebene sogar Übersetzungen, was nach der oben genannten Begriffsbestimmung ausgeschlossen wäre. Innerhalb der Wortbildungsforschung versteht man unter Paraphrase a) die lexikalische Paraphrase oder Bedeutungsparaphrase (auch: Wörterbuchparaphrase, vgl. Müller 1993: 56): dt. Taschenbuch ‘preiswertes, broschiertes Buch in einem handlichen Format’; engl. polar bear ‘a large white bear that lives near the North Pole’ oder b) die Wortbildungsparaphrase: dt. Einkaufstasche ‘Tasche für den Einkauf’ Anja Seiffert

→ Wortbildungsparaphrase ⇀ Paraphrase (Gram-Syntax; CG-Dt; Textling; SemPrag; HistSprw; Lexik)

🕮 de Beaugrande, R./ Dressler, W.U. [1981] Einführung in die Textlinguistik. Tübingen ◾ Lang, E. [1977] Paraphrasenprobleme I. Über verschiedene Probleme von Paraphrasen beim Ausführen semantischer Analysen. In: LSt 42: 97–156 ◾ Milicevic, J. [2007] La paraphrase. Modélisation de la paraphrase langagière. Bern ◾ Müller, P.O. [1993] Substantiv-Derivation in den Schriften Albrecht Dürers. Ein Beitrag zur Methodik historisch-synchroner Wortbildungsanalysen. Berlin [etc.] ◾ Piškur, L. [2010] Wortbildungskonstruktionen als synthetische Strukturen und freie syntaktische Fügungen als ihre Entsprechungen. In: Vestnik za tuje jezike II/1–2: 25–42 ◾ Wunderlich, D. [1991] Arbeitsbuch Semantik. Königstein.

Parasynthese → Zirkumfix

Parasynthetum

≡ Dekompositum

partielle Verschmelzung ≡ verdunkeltes Kompositum

partielles Kurzwort

Sonderfall des multisegmentalen Kurzworts, bei dem nur ein Teil, in der Regel der erste, der Vollform gekürzt ist und der andere Teil ungekürzt im Kurzwort erscheint.

537 Partikelpräfixverb ▲ partial clipping: special case of a multisegmental short form in which only part of the full form, most often the first, is shortened and the other part occurs unshortened.

Bellmann (1980) sieht die partiellen Kurzwörter als einen Untertyp der multisegmentalen Kurzwörter an; Kobler-Trill (1994) rechnet die partiellen Kurzwörter nicht zu den eigentlichen multisegmentalen Kurzwörtern, sondern stellt sie neben diese, was allerdings zu terminologischen Unklarheiten führt (da partielle Kurzwörter zweifellos aus mehreren Segmenten der Vollform bestehen). In der Terminologie KoblerTrills haben partielle Kurzwörter (Determinativ-)Komposita oder „Wortgruppenlexeme“ als Langformen, deren letzte unmittelbare Konstituente ungekürzt bleibe. Die Kategorien der partiellen Kurzwörter bei Kobler-Trill lauten: Kurzwörter mit einer Initiale (U-Bahn – ›Untergrundbahn‹), Kurzwörter mit mehreren Initialen (NE-Metalle – ›Nichteisenmetalle‹), Kurzwörter mit silbenfähigen Elementen aus der Vollform (Schukostecker – ›Schutzkontaktstecker‹) und Kurzwörter mit einem größeren Element der Vollform (Pauschbetrag – ›Pauschalbetrag‹). Diskutiert und schließlich abgelehnt wird diese Terminologie bei Steinhauer (2000), dazu kritisch Balnat (2001: 60–67). Anja Steinhauer → § 29; Kurzwort; multisegmentales Kurzwort; Wortkürzung

🕮 Balnat, V. [2011] Kurzwortbildung im Gegenwartssdeutschen. Hildesheim [etc.] ◾ Bellmann, G. [1980] Zur Variation im Lexikon. Kurzwort und Original. In: WW 30: 369–383 ◾ KoblerTrill, D. [1994] Das Kurzwort im Deutschen. Tübingen ◾ Steinhauer, A. [2000] Sprachökonomie durch Kurzwörter. Bildung und Verwendung in der Fachkommunikation. Tübingen.

Partikel

unflektierbares Wort, besonders eines, das einer Zuordnung zu einer bekannten syntaktischen Kategorie widerstrebt. ▲ particle: word which cannot be inflected, especially one which resists classification in a known syntactic category. Man kann drei verschiedene Verwendungen des Terminus „Partikel“ ausmachen. Erstens dient er als Sammelbegriff für alle unflektierbaren Wörter, inklusive Konjunktionen, Komplementierer, Präpositionen, Adverbien, Negationswör-

ter, Inter­jektionen, Gradpartikeln, Abtönungspartikeln, Modalpartikeln, Verbpartikeln. Zweitens findet der Begriff Verwendung, wenn auf eine eindeutige Zuordnung eines (unflektierbaren) Wortes zu einer herkömmlichen syntaktischen Kategorie verzichtet wird, um eine Fehlklassifizierung zu vermeiden. Drittens kann mit dem Begriff „Partikel“ eine spezifische, relativ einheitliche Unterklasse von Partikeln (in den bereits definierten Verwendungen) gemeint sein. Er wird beispielsweise gelegentlich als Synonym für „Verbpartikel“ oder „Abtönungspartikel“ benutzt, was irreführend sein kann, wenn die damit gemeinte Untergruppe der Partikel nicht eindeutig identifiziert wurde. Andrew McIntyre

→ Doppelpartikel; Doppelpartikelverb; Partikelverb; Verbpartikel

⇀ Partikel (Gram-Formen; CG-Dt; Lexik; SemPrag) ⇁ particle (CG-Engl; Typol)

🕮 Hentschel, E./ Weydt, H. [1990] Handbuch der deutschen Grammatik. Berlin [etc.].

Partikelkompositum

≡ Partikelverb ⇀ Partikelkompositum (Lexik)

Partikelpräfixverb

1. komplexes Verb, das mit einer Partikel und einem Präfix gebildet wird. ▲ particle-prefix verb: complex verb formed with both a particle and a prefix.

2. Verb mit einem Präverb, das sich entweder wie ein Präfix oder wie eine Partikel verhält. ▲ particle-prefix verb: complex verb formed with a preverb which may behave either like a prefix or a particle. Zu 1: Beispiele für Partikelpräfixverben im Sinne von Verben mit einer Partikel und einem Präfix sind anberaumen, aberkennen, hinausbefördern. Wie erwartet sind die Partikeln in diesen Kombinationen abtrennbar (wir erkennen das nicht an), wobei für gewisse Sprecher eine sonst immer abtrennbare Partikel in diesen Konstruktionen nicht abgetrennt werden muss (vgl. wir anerkennen seine Verdienste). Andrew McIntyre

→ § 24; Partikelverb; Präfixverb; verbales Präfix; Verbpartikel

🕮 Altmann, H./ Kemmerling, S. [2005] Wortbildung fürs Exa-

P

Partikelverb 538 men. 2., überarb. Aufl. Göttingen ◾ Blom, C. [2005] Complex Predicates in Dutch. Utrecht ◾ Kühnhold, I. [1973] Präfixverben. In: Kühnhold, I./ Wellmann, H. [1973] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. Bd. 1: Das Verb. Düsseldorf: 141–362 ◾ Schreiter, G. [1985] Gibt es eine Entwicklung zum untrennbaren Verbzusatz? In: Stedje, A. [Hg.] Die Brüder Grimm. Erbe und Rezeption. Stockholmer Symposion 1984. Stockholm: 105–131.

Zu 2: Beispiele für Partikelpräfixverben im Sinne von Verben mit einem Element, das mal als Präfix, mal als Partikel verwendet wird, sind umgehen, durchfahren, übersetzen: (1) sie umgingen das Problem vs. dort gingen Gerüchte um (2) sie durchfuhren die Stadt vs. wir fahren hier durch (3) sie übersetzen Bücher vs. wir setzten mit der Fähre über Wie andere Präfixe im Deutschen sind die Präfixe in Partikelpräfixverben unbetont (eine Stadt umfáhren) im Gegensatz zu deren Verwendung als Partikel (jemanden úmfahren). Andrew McIntyre

→ § 24; doppelförmiges Verb; Partikelverb; Präfixverb; Verbpartikel

P

🕮 Blom, C. [2005] Complex Predicates in Dutch. Utrecht ◾ Kühnhold, I. [1973] Präfixverben. In: Kühnhold, I./ Wellmann, H. [1973] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. Bd. 1: Das Verb. Düsseldorf: 141–362 ◾ Wunderlich, D. [1983] On the compositionality of German prefix verbs. In: Bäuerle, R./ Schwarze, C./ von Stechow, A. [eds.] Meaning, Use, and Interpretation of Language. Berlin [etc.]: 452–465.

Partikelverb

Konstruktion, die aus einem Verb und einer Verbpartikel besteht. ▲ particle verb: construction consisting of a verb and a verb particle. Beispiele für Partikelverben sind aufsetzen, weglaufen, engl. put on, run away. Die in allen germanischen Sprachen vorkommenden Konstruktionen sind trennbar (ich setzte den Hut auf, I put my hat on) und sind somit von Verben mit (untrennbaren, echten, festen) Präfixen zu unterscheiden (übersehen, overlook). Partikelverben werden bisweilen als morphologische Konstruktionen angesehen, u.a. weil sie als Basis für Affigierungsprozesse dienen (unabtrennbar, Wegnahme, thrower-out-er) und weil englische Verbpartikeln die einzigen Elemente

sind, die zwischen einem Verb und einem (nichtextraponierten) direkten Objekt stehen können (I pushed out the car). Wegen solchen wortbildungsverdächtigen Eigenschaften wurden Verbpartikeln in der älteren deutschsprachigen Forschung bisweilen paradoxerweise als „trennbare Präfixe“ bezeichnet. Eine Alternative zur Analyse der Partikelverben als morphologische Konstruktionen wäre, Partikelverben als rein syntaktische Konstruktionen anzusehen. Aus dieser Sicht wird angenommen, dass entweder Partikel und Verb eine Konstituente bilden oder dass Partikel und Objekt eine Konstituente (oft als small clause bezeichnet) bilden. Die zweite Analyse ist attraktiv für resultative Partikeln, die eine Transitivierung des Verbs herbeiführen: die Schuld abarbeiten vs. *die Schuld arbeiten, ist aber nicht auf alle Konstruktionen anwendbar (vgl. den Ofen vorheizen; hier steht vor in keiner Prädikationsbeziehung zum Objekt). Partikelverben weisen unterschiedliche Grade an semantischer Kompositionalität auf; neben semantisch transparenten Konstruktionen (wegschwimmen) gibt es völlig idiomatisierte (aufhören) Kombinationen. In Fällen wie aufessen oder ausschlafen wird in der Literatur vielfach von einer „aspektuellen“ Semantik der Partikel ausgegangen. Andrew McIntyre ≡ Distanzkompositum; Partikelkompositum; unfeste Komposition → § 24, 31; Doppelpartikelverb; Partikelpräfixverb (1); Partikelpräfixverb (2); phrasales Verb; trennbares Verb; Verbpartikel ⇀ Partikelverb (Gram-Formen; CG-Dt; HistSprw)

🕮 Blom, C. [2005] Complex Predicates in Dutch. Utrecht ◾ Cappelle, B. [2005] Particle Patterns in English. A Comprehensive Coverage. Leuven ◾ Dehé, N./ Jackendoff, R./ McIntyre, A./ Urban, S. [eds. 2002] Verb Particle Explorations. Berlin [etc.] ◾ Dehé, N. [2015] Particle verbs in Germanic. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 611–626 ◾ Iacobini, C. [2015] Particle verbs in Romance. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 627–659 ◾ Ladányi, M. [2015] Particle verbs in Romance. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 660–672 ◾ Stiebels, B. [1996] Lexikalische Argumente und Adjunkte. Zum semantischen Beitrag von verbalen Präfixen und Partikeln. Berlin ◾ Zeller, J. [2001] Particle Verbs and Local Domains. Amsterdam [etc.].

Partikelverbbildung → Partikelverb

539 Partizipialkompositum

Partizip

infinite Form eines Verbs, die als Adjektiv oder in der Bildung zusammengesetzter Zeit- oder AspektFormen eines Verbs benutzt wird. ▲ participle: non-finite form of a verb, used either as an adjective or in the formation of analytic tenses or voices.

Partizipien sind infinite Formen eines Verbs, die hauptsächlich in zwei Bereichen Anwendung finden: (i) die Bildung analytischer Verbformen (etwa beim periphrastischen Passiv oder bei zusammengesetzten Zeitformen bzw. Aspektformen (das Passiv wird so gebildet; ich habe das gelesen; Englisch I am reading) und (ii) die Überführung eines Verbs in eine andere Wortart (zusammengesetzte Verbformen, tanzende Menschen). Die Unterscheidung zwischen den Funktionen (i) und (ii) entspricht im Wesentlichen der Unterscheidung zwischen verbalen und adjektivischen Partizipien, da es sich bei Funktion (i) um die Bildung der Formen eines Verbs handelt, und bei Funktion (ii) um die Verwendung des Partizips als Adjektiv. (Bisweilen spricht man ebenso von adverbialen und nominalen Verwendungen der Partizipien, vgl. seine Geliebte verließ den Saal tanzend, aber zumindest im Deutschen könnte man annehmen, dass solche Adverbien bzw. Nomina deadjektivisch sind, da auch nichtpartizipiale Adjektive in denselben Strukturen verwendbar sind: die Alte verließ den Saal sauer.) Die wichtigsten semantischen Fragestellungen bezüglich Partizipien betreffen den Aspekt. Adjektivische Partizipien können u.a. perfektiv (resultativ) sein, d.h. sie drücken aus, dass die Nominalphrase, über die das Partizip prädiziert, sich in einem Zustand befindet, der aus der vom Partizip genannten Verbalhandlung resultiert. (Ein korrigierter Aufsatz ist in einem Zustand, der sich aus einem Korrigieren-Ereignis ergibt.) Imperfektivische Partizipien drücken aus, dass der Referent der Nominalphrase an einem Ereignis teilnimmt, das noch im Gange ist: arbeitende Menschen. In Sprachen wie Deutsch und Englisch prädizieren perfektivische Partizipien meistens über interne Argumente, am häufigsten über Patiens-Argumente (ein gebissener Hund wurde gebissen, beißt aber nicht). Imperfektivische Partizipien prädizieren demgegenüber über externe Argumente (ein arbeitender Mensch). In der deut-

schen Grammatik ist es üblich, zwischen dem Partizip I (das auf -(e)nd endet: schreibend) und dem Partizip II (das meistens das Präfix ge- hat und auf -(e)n oder -t endet: gebrochen, geliebt) zu unterscheiden. Ein Partizip II ist als Adjektiv perfektiv und wird als verbales Partizip zur Bildung des Perfekts und des Passivs benutzt. Ein Partizip I wird nur als Adjektiv benutzt. Andrew McIntyre

→ Partizipialkompositum; Partizipialmorphem ⇀ Partizip (Gram-Formen; HistSprw; CG-Dt) ⇁ participle (CG-Engl; Typol)

🕮 Anagnostopoulou, E. [2003] Participles and voice. In: Alexiadou, A./ Rathert, M./ von Stechow, A. [eds.] Perfect Explorations. Berlin: 1–36 ◾ Embick, D. [2004] On the structure of resultative participles in English. In: LingInqu 35/3: 355–392 ◾ Haspelmath, M. [1994] Passive participles across languages. In: Fox, B./ Hopper, P.J. [eds.] Voice. Form and Function. Amsterdam: 151–177 ◾ Rapp, I. [1997] Partizipien und semantische Struktur. Zu passivischen Konstruktionen mit dem 3. Status. Tübingen.

Partizip, isoliertes → isoliertes Partizip

Partizipialkompositum

Kompositum, das ein Partizip als zweite Konstituente enthält. ▲ participial compound: compound that contains a participle as its second constituent. Partizipialkomposita sind adjektivische Wortbildungen mit einem Substantiv oder Adjektiv als Erstglied sowie einem Partizip als Zweitglied (vgl. Fleischer/Barz 2012: 320ff.; Smirnova 2021). Dazu zählen z.B. die Komposita preisgekrönt, rotgestreift, fächerübergreifend, weitreichend. Nicht alle Bildungen mit der Struktur Substantiv/ Adjektiv+Partizip sind allerdings durch Komposition entstanden. Davon abzugrenzen sind einerseits Rückbildungen (engl. „backformation“) wie etwa querschnittsgelähmt (< Querschnittslähmung), andererseits deverbale Konversionen wie etwa freigesprochen (z.B. freigesprochener (Angeklagter) < freisprechen). Semantisch handelt es sich bei Partizipialkomposita vor allem um „ornative-existentiale“ (z.B. schneebedeckt, efeuumrankt) bzw. „referentielle“ (z.B. steuerbegünstigt, gesundheitsbezogen) Bildungen (vgl. Pümpel-Mader/Gassner-Koch/ Wellmann/Ortner 1992: 170f.). Einige Partizipien sind dabei stark reihenbildend

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Partizipialmorphem 540 (z.B. -orientiert, -gebunden, -gerichtet), verbunden mit einer Verlagerung des Bedeutungsschwerpunkts auf das Erstelement, und entwickeln affixoide Züge. Peter O. Müller

→ § 22; Affixoid; Kompositum; Konversion; Partizip; Rückbildung

⇁ participial compound (Woform)

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2018] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Pümpel-Mader, M./ Gassner-Koch, E./ Wellmann, H./ Ortner, L. [1992] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der deutschen Gegenwartssprache. 5. Hauptteil: Adjektivkomposita und Partizipialbildungen. Berlin [etc.] ◾ Smirnova, E. [2021] Deutsche Partizipialkomposita aus diachroner Sicht. In: Gansl­ mayer, C./ Schwarz, C. [Hg.] Historische Wortbildung. Theorien – Methoden – Perspektiven. Hildesheim [etc.]: 383–415.

Partizipialmorphem

Morphem, das zur Bildung eines Partizips benutzt wird. ▲ participial morpheme: morpheme used in the formation of a participle

P

Ein Beispiel für ein Partizipialmorphem im Deutschen ist -end, das an einen Infinitivstamm zur Bildung des Partizips I angefügt wird: weinend, seiend. Beim Partizip II (gekauft, gekommen) könnte sich der Begriff „Partizipialmorphem“ auf entweder das Zirkumfix ge-t/ge-en als ganzes oder das Präfix ge- bzw. das Suffix -t/-en beziehen. Manchmal treten Partizipialmorpheme in Adjektiven und seltener Substantiven auf, obwohl es kein Verb gibt, worauf das Adjektiv/Substantiv synchron zurückgeführt werden kann, vgl. bescheuert, Gefreite oder englisch stonking ‘groß’.

→ Infinitivstamm; Partizip; Zirkumfix

Andrew McIntyre

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.].

passivisches Adjektiv

deverbales Adjektiv, das über ein internes Argument seines Basisverbs prädiziert. ▲ passive adjective: adjective which predicates over the internal argument of its base verb.

Beispiele für passivische Adjektive sind zusammenklappbar, löblich, anmeldepflichtig. Der Sinn des Terminus besteht darin, dass die Argumentstruktur des Adjektivs von der Passivform des Verbs abgeleitet worden zu sein scheint (zusam-

menklappbare Stühle können zusammengeklappt werden, löbliche Leistungen können/sollen gelobt werden, und anmeldepflichtige Geräte müssen angemeldet werden). Das Affixoid -fähig kann auch als passivisches Adjektiv verwendet werden (ein aufbaufähiges Programm), erlaubt aber auch aktivische Verwendungen (gehfähige Patienten, lernfähige Studierende). Andrew McIntyre

→ Affixoid; Argumentstruktur; Argumentvererbung

🕮 Lenz, M. [2006] Grammatik und Stil. Das Passiv als stilistisches Mittel. Diss. Berlin.

Pejoration

Ausdruck einer expliziten oder impliziten Abwertung des bezeichneten Gegenstands oder Sachverhalts. ▲ devaluation: expression of an implicit or explicit devaluation of the denominated object or situation. Der Terminus geht zurück auf lat. pēior Komparativ zu malus ‘schlecht’. Pejorativa beinhalten eine negative Konnotation, durch die eine wertende Stellungnahme des Sprechers zum Adressaten oder zum Sachverhalt geäußert wird. Damit gehört die Pejoration ebenso wie die Melioration, durch die eine implizite Aufwertung ausgedrückt wird, zur taxierenden Bewertung. Ein Vergleich pejorativer und meliorativer Lexik in den verschiedenen Sprachen zeigt, dass Pejorativa gegenüber den Meliorativa quantitativ dominieren (Havryliv 2003: 15). Pejoration erfolgt einerseits durch abwertende Prädikation, wobei das Referenzobjekt einem negativ bewerteten Begriff untergeordnet wird (dt. Dein Fahrrad ist vielleicht eine Möhre); andererseits durch lexikalische Mittel. Zu Letzteren gehören: (a) nicht abgeleitete pejorative Lexeme (dt. Köter, engl. fool ‘Dummkopf’); hierzu zählen insbesondere Vulgarismen (frz. merde ‘Scheiße’) und lektal stigmatisierte Lexeme (dt. Kaschemme ‘Lokal mit schlechtem Ruf’); (b) metonymische und metaphorische Bedeutungs­ übertragungen (dt. Eierkopf, span. cabrón ‘Ziegenbock’) ; (c) Wortbildungen (dt. Dichterling, Heulsuse). Pejorativa sind in erster Linie abwertende Personenbezeichnungen, darüber hinaus existieren Sachschelten (dt. Schrottkarre ‘altes Auto in schlechtem Zustand’) oder Flüche (engl. shit). Bei den Personenbezeichnungen unterscheidet man

541 pejorativ pejorative Lexeme, die sich auf Charaktereigenschaften (dt. Waschlappen ‘Feigling, Schwächling’), auf das Äußere (Lulatsch ‘großer Kerl’), oder das Alter des Adressaten (alte Schachtel ‘alte Frau’) beziehen, ferner pejorative Lexeme, die Einwohner benachbarter Regionen bezeichnen (dt. Ossi, Wessi, Saupreuße), Nationalschelten (auch Ethnophaulismen, vgl. dt. Kümmeltürke, frz. un bosch ‘Deutscher’, un rostbeef ‘Engländer’, engl. krauts ‘Deutsche’) oder Berufsschelten (dt. Paragraphenschuster, Tippse ‘Sekretärin’). Häufig gebrauchte Schimpfwörter sind oft einsilbig, vgl. dt. Sau, Depp, Aas, Mist; engl. shit, fool (Kiener 1983: 143). Daneben existieren freilich auch etliche gebräuchliche mehrsilbige Pejorativa, vgl. dt. Idiot, Trottel, engl. bastard (Havryliv 2003: 26). In einem engeren Sinne bezeichnet Pejoration den Bedeutungswandel eines sprachlichen Ausdrucks hin zu einer Bedeutungsverschlechterung (von Polenz 2000), etwa die Pejorisierung von dt. Weib (mhd. ‘Frau’; ohne pejorative Konnotation), Pfaffe (mhd. ‘Geistlicher, Priester’; ohne pejorative Konnotation) und Dirne (mhd. ‘Magd, Mädchen’, ohne pejorative Konnotation, vgl. noch heute ndt. Deern). ≡ Bedeutungsverschlechterung; Deterioration → Diminuierung; Privativum; Taxation ⇀ Pejoration (SemPrag; Lexik)

Anja Seiffert

🕮 Burgen, S. [1998] Bloody hell, verdammt noch mal! Eine europäische Schimpfkunde. München ◾ Dammel, A. [2011] Wie kommt es zu rumstudierenden Hinterbänklern und anderen Sonderlingen? Pfade zu pejorativen Wortbildungsbedeutungen. In: Riecke, J. [Hg.] Historische Semantik. Berlin [etc.]: 326–343 ◾ Dammel, A./ Quindt, O. [2016] How do evaluative derivational meanings arise? A bit of Geforsche and Forscherei. In: Finkbeiner, R./ Meibauer, J./ Wiese, H. [eds.] Pejoration. Amsterdam [etc.]: 41–74 ◾ Havryliv, O. [2003] Pejorative Lexik. Untersuchungen zu ihrem semantischen und kommunikativ-pragmatischen Aspekt am Beispiel moderner deutschsprachiger, besonders österreichischer Literatur. Frankfurt/Main [etc.] ◾ Kiener, F. [1983] Das Wort als Waffe. Zur Psychologie der verbalen Aggression. Göttingen ◾ Küpper, H. [Hg. 1966] Wörterbuch der deutschen Umgangssprache. Hamburg ◾ von Polenz, P. [2000] Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. 3. Bde. Berlin [etc.].

pejorativ

semantische Eigenschaft von sprachlichen Ausdrücken, durch die der bezeichnete Gegenstand oder Sachverhalt implizit abgewertet wird.

▲ pejorative: semantic property of linguistic expres-

sions by which the denominated object or situation is implicitly devaluated.

Sprachliche Ausdrücke gelten als pejorativ, wenn sie eine abwertende Stellungnahme des Sprechers zum Adressaten oder zum Sachverhalt beinhalten. Dies geschieht zum einen durch abwertende Prädikation. Das Referenzobjekt wird dabei unter einem Begriff subsumiert, der der positiveren Bewertung des Referenzobjekts entgegensteht, wodurch es implizit abgewertet wird. So kann ein neutraler Ausdruck wie Kiste pejorativ verwendet werden, wenn er auf ein üblicherweise höher bewertetes Referenzobjekt wie Auto oder Fernseher bezogen wird (Fahr deine Kiste weg! Du kannst die Kiste jetzt ausschalten.). Hierher gehören auch metaphorische Prädikationen, mit denen menschliche Verhaltensweisen oder Charakterzüge abschätzig dargestellt werden (Du bist vielleicht ein Kasper! Er ist ein richtiger ­Ochse.). Zum anderen gibt es Lexeme, deren pejorative Funktion kontextunabhängig besteht, vgl. dt. Köter, plärren, frz. canasson ‘Gaul’, pleurnicher ‘flennen, heulen’. Solche Pejorativa entstehen auch durch Wortbildungsprozesse, vor allem durch Affigierung, vgl. dt. Ge-...-e (Gesinge, Gehüpfe), -ei/-erei/-elei (Ferkelei, Lauferei, Liebelei), -ling (Schönling), -bold (Trunkenbold). Daneben existieren reihenbildende Komposita mit pejorativem Erstglied (vgl. dt. mist- in Mistwetter, Mistkerl), bzw. mit deonymischem Zweitglied (vgl. dt. -heini in Presseheini; -fritze in Fernsehfritze; -suse in Heulsuse). Im öffentlichen Sprachgebrauch werden Lexeme, die eine abschätzige Bedeutungskomponente beinhalten, teilweise durch meliorative oder politisch korrekte Zweitbenennungen ersetzt, vgl. dt. Ausländer – Migrant, Altenheim – Seniorenresidenz, Putzfrau – Raumpflegerin, engl. Indian ‘Indianer’ – native American, mentally handicapped ‘geistig behindert’ – mentally challenged ‘geistig herausgefordert’. Dabei kann die Zweitbenennung mit der Zeit die pejorative Bedeutungskomponente der ursprünglichen Benennung annehmen, was wiederum eine Neubenennung zur Folge haben kann. Auf diese Weise entstehen mitunter ganze Reihen von Ersatzformen, vgl. dt. Fremdarbeiter – Gastarbeiter – Arbeitsmigrant,

P

Pejorativbildung 542 engl. negro – black people – coloured – AfricanAmerican. Anja Seiffert

↔ meliorativ → Pejoration; Pejorativbildung; Pejorativpräfix; Pejorativsuffix; Taxation

⇀ pejorativ (Lexik; Textling; HistSprw)

🕮 Braun, P. [1997] Personenbezeichnungen. Der Mensch in der deutschen Sprache. Tübingen ◾ Dammel, A. [2011] Wie kommt es zu rumstudierenden Hinterbänklern und anderen Sonderlingen? Pfade zu pejorativen Wortbildungsbedeutungen. In: Riecke, J. [Hg.] Historische Semantik. Berlin [etc.]: 326–343 ◾ Dammel, A./ Quindt, O. [2016] How do evaluative derivational meanings arise? A bit of Geforsche and Forscherei. In: Finkbeiner, R./ Meibauer, J./ Wiese, H. [eds.] Pejoration. Amsterdam [etc.]: 41–74 ◾ Havryliv, O. [2003] Pejorative Lexik. Untersuchungen zu ihrem semantischen und kommunikativ-pragmatischen Aspekt am Beispiel moderner deutschsprachiger, besonders österreichischer Literatur. Frankfurt/Main [etc.].

Pejorativbildung

Wortbildung, die den bezeichneten Gegenstand oder Sachverhalt implizit abwertet. ▲ pejorative formation: word-formation which implicitly devaluates the denominated object or situation.

P

Pejorativbildungen entstehen vor allem durch Affigierung, zum einen durch Präfixe (dt. Missernte; engl. maladministration ‘Misswirtschaft’; russ. nepogoda ‘Unwetter’; span. destiempo ‘Unzeit’), zum anderen mit Hilfe von Suffixen wie dt. -isch (weibisch vs. weiblich, kindisch vs. kindlich), -ler (Umstürzler), -ling (Dichterling), frz. -aille (antiquaille ‘Plunder’), -asse (blondasse ‘stumpfes, glanzloses Blond’) oder mit Zirkumfix wie dt. Ge-...-e (Gesinge, Gerenne). Daneben existieren zusammengesetzte Pejorativa, oft umgangssprachlich markiert, mit reihenbildendem Erstglied (dt. Hunde-/hunde- in hundekalt, Hundemist, Hundewetter; Mist- in Mistkerl, Miststück, Mistvieh; Sau-/sau- in saukalt, Saukerl, Sauwetter) oder mit reihenbildendem – meist deonymischem Zweitglied (dt. -fritze in Filmfritze, Kleckerfritze; -hans in Faselhans, Prahlhans, -heini in Presseheini, Provinzheini; -suse in Heulsuse, Transuse; -tante in Kaffeetante, Märchentante). Die Häufigkeit der genannten Strukturtypen ist in den einzelnen Sprachen verschieden. Im Dt. überwiegen zusammengesetzte Pejorativa (Havryliv 2003: 40), darüber hinaus entstehen Pejorativbildungen im Dt. vor allem durch Suffigierung.

Mitunter werden usuelle pejorative Bildungen und okkasionelle pejorative Bildungen unterschieden. So versteht Lustenberger-Seidlova (1980: 26) unter einer usuellen Pejorativbildung eine Bildung, deren negative Konnotation kontextunabhängig besteht (vgl. frz. rosâtre ‘schmutzig rosa’). Dagegen können okkasionelle Pejorativbildungen in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext entweder negativ konnotiert oder nichtwertend sein (vgl. frz. mangeaille ‘Futter für die Tiere’, aber auch ‘Fraß’; zu manger ‘essen’). In der Regel gelten solche okkasionellen Pejorativa jedoch nicht als Pejorativbildungen, da ihre pejorative Bedeutung streng genommen nicht das Ergebnis einer Wortbildung ist, sondern durch metaphorische oder metonymische Bedeutungsübertragung hervorgerufen wird. Probleme bereitet mitunter die Abgrenzung von den Negationsbildungen wie auch von den Augmentations- und Diminutivbildungen. Bei den Pejorativbildungen erfolgt die Wortbildungsparaphrase in der Regel mit Hilfe der Adjektive falsch oder schlecht: Missernte ‘schlechte Ernte’, Unzeit ‘falsche Zeit’, Sauwetter ‘schlechtes Wetter’. Dennoch gibt es häufig keine binäre Opposition, sondern unscharfe Grenzen. So enthält saukalt neben der augmentativen (‘sehr kalt’) auch eine pejorative Komponente. Jüngelchen oder Bürschchen sind nicht vordergründig diminuierend (‘kleiner Junge’ bzw. ‘kleiner Bursche’), sondern abwertend. Und missverstehen lässt sich nicht nur pejorativ (‘falsch verstehen’) interpretieren, sondern drückt ebenso eine Negation aus (‘nicht verstehen’) (vgl. Clarenz-Löhnert 2004: 72). Anja Seiffert ≡ Deteriorativ → Augmentation; Diminuierung; Negation; Pejoration; Pejorativpräfix; Pejorativsuffix; Taxation

🕮 Braun, P. [1997] Personenbezeichnungen. Der Mensch in der deutschen Sprache. Tübingen ◾ Clarenz-Löhnert, H. [2004] Negationspräfixe im Deutschen, Französischen und Spanischen. Aachen ◾ Dammel, A. [2011] Wie kommt es zu rumstudierenden Hinterbänklern und anderen Sonderlingen? Pfade zu pejorativen Wortbildungsbedeutungen. In: Riecke, J. [Hg.] Historische Semantik. Berlin [etc.]: 326–343 ◾ Dammel, A./ Quindt, O. [2016] How do evaluative derivational meanings arise? A bit of Geforsche and Forscherei. In: Finkbeiner, R./ Meibauer, J./ Wiese, H. [eds.] Pejoration. Amsterdam [etc.]: 41–74 ◾ Havryliv, O. [2003] Pejorative Lexik. Untersuchungen zu ihrem semantischen und kommunikativ-pragmatischen Aspekt am Beispiel moderner deutschsprachiger, besonders österreichischer Literatur. Frankfurt/Main [etc.] ◾ Lustenberger-Seidlova, E. [1980] Einige pe-

543 Pejorativsuffix jorative Nominalsuffixe des Modernfranzösischen. -aille; -ard, -arde; -asse; -âtre; -aud (-aude), -aut; -ade. Zürich.

Pejorativpräfix

Präfix, das die in der Basis genannte Entität abwertet oder als falsch bzw. verfehlt einschätzt. ▲ pejorative prefix: prefix which devaluates the entity denominated by the base or marks it as false or failed.

Pejorativpräfixe sind weniger verbreitet als Pe­jo­ ra­tiv­suffixe. Dennoch gibt es unter den Pe­jo­ra­tiv­ bildungen in vielen Sprachen auch Prä­fi­gie­run­ gen: dt. Unmensch, Untat, Unwort, missgelaunt, Missgriff, Missklang; engl. maladministration ‘Miss­wirtschaft’, malpractice ‘falsche Behandlung’; russ. neurožaj ‘Missernte’, bes­cho­zjajst­ven­ nostʼ ‘Misswirtschaft’; span. destiempo ‘Unzeit’, mallhumorado ‘schlecht gelaunt’. Präfixe wie dt. un-, russ. ne-, bes- oder span. de- sind dabei polyfunktional, sie dienen weit häufiger der Negation: ungesund ‘nicht gesund’, nesčastnyj ‘nicht glücklich’, bessmyslennyj ‘ohne Sinn, sinnlos’, desconocer ‘nicht kennen’. Dagegen drückt dt. miss(eben­so wie engl. bzw. span. mal-) eher selten rei­ne Negation aus und dient in erster Linie der Pe­jo­ra­tion: missverstehen ‘falsch verstehen’, Miss­ernte ‘schlechte Ernte’, vgl. Fleischer/Barz (2007: 201f.). Mitunter werden auch reihenbildende Erstglieder wie hunde- und sau- (Hundewetter, Sauhaufen, Saukerl, Sauwirtschaft) zu den Pejorativpräfixen gezählt. So schreibt Erben (2006: 111) sau- die Tendenz zu, „eine Art Pejorativpräfix der Umgangssprache zu werden“. Hierfür spräche neben der Reihenbildung möglicherweise auch die Polyfunktionalität, da die genannten Erstglieder nicht nur der Pejoration, sondern auch der Augmentation dienen, vgl. etwa hundekalt ‘sehr kalt’, saublöd ‘sehr blöd’, Saupech ‘großes Pech’, saugut ‘sehr gut’. Anja Seiffert

→ Augmentation; Negation; Pejoration; Pejorativbildung; Pejorativsuffix; Taxation

🕮 Dammel, A. [2011] Wie kommt es zu rumstudierenden Hinterbänklern und anderen Sonderlingen? Pfade zu pejorativen Wortbildungsbedeutungen. In: Riecke, J. [Hg.] Historische Semantik. Berlin [etc.]: 326–343 ◾ Dammel, A./ Quindt, O. [2016] How do evaluative derivational meanings arise? A bit of Geforsche and Forscherei. In: Finkbeiner, R./ Meibauer, J./ Wiese, H. [eds.] Pejoration. Amsterdam [etc.]: 41–74 ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Ber-

lin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Havryliv, O. [2003] Pejorative Lexik. Untersuchungen zu ihrem semantischen und kommunikativ-pragmatischen Aspekt am Beispiel moderner deutschsprachiger, besonders österreichischer Literatur. Frankfurt/Main [etc.].

Pejorativsuffix

Suffix, das der Basisbedeutung eine abschätzige Bedeutungskomponente hinzufügt. ▲ pejorative suffix: suffix which adds a devaluating component to the meaning of the base.

Pejorativsuffixe gelten als besonders produktive Mittel zur Bildung pejorativer Lexeme, nicht nur in den slaw. Sprachen (vgl. Havryliv 2003:40) werden Pejorativa überwiegend durch Suffigierung gebildet. Unter den Pejorativsuffixen gibt es sowohl transponierende als auch modifizierende Suffixe. Transponierende Pejorativsuffixe sind solche, die die Basis in eine neue Wortart und/oder in eine neue semantische Klasse überführen, vgl. dt. -bold (Tugendbold), -ei/-elei/-erei (Ferkelei, Eifersüchtelei, Schmiererei), -isch (kindisch, zänkisch), -ler (Gewinnler), -ling (Schönling, Naivling), ferner Fremdsuffixe wie -aille (Journaille), -ast (Fantast), -itis (Telefonitis). Modifizierende Pejorativsuffixe wie dt. -chen in Jüngelchen, -el(n) in werkeln oder frz. -âtre in rosâtre (‘schmutzig rosa’) wirken semantisch subklassifizierend, semantische Grundklasse und Wortart der Basis bleiben im Zuge der Wortbildung erhalten. Pejorativsuffixe verbinden sich mit unterschiedlichen Basiswortarten, mit Substantiven (dt. Kinderei/frz. pataud ‘tollpatschig, klobig’; zu la patte ‘Pfote, Tatze’) ebenso wie mit Adjektiven (dt. Schönling/frz. antiquaille ‘Plunder’; zu antique ‘antik’) oder mit Verben, (dt. Versöhnler/frz. mangeaille ‘Fraß’; zu manger ʼessen’). Durch Suffigierung entstandene Pejorativbildungen sind vor allem Substantive; adjektivische oder verbale Bildungen sind seltener, vgl. aber französische Bildungen auf -âtre (rosâtre ‘schmutzig rosa’, grisâtre ‘gräulich’), -aud (pataud ‘tollpatschig, klobig’) oder -asse (blondasse ‘fahlblond’, hommasse ‘in der Art eines Mannweibes’), vgl. Lustenberger-Seidlova (1980). Einige Pejorativsuffixe lösen nicht nur evaluative (d.h. hier abwertende) Konnotationen aus, sondern auch indexikalische, in erster Linie soziolektale und/oder situative. So

P

Periphonie 544 sind Bildungen auf -i (Ossi, Wessi, Knacki) ebenso wie pejorative (oft hybride) Bildungen mit dem Fremdsuffix -itis (Aufschieberitis, Fußballeritis, Stadtfusionitis, Telefonitis) in der Regel umgangssprachlich markiert. Pejorativsuffixe können neben der pejorativen Funktion auf der Ebene der Denotation unterschiedliche semantische Funktionen haben: So dienen Suffixe wie -bold oder -ling zur Bildung von Personenbezeichnungen (Trunkenbold, Naivling). Suffixe wie -erei bilden Vorgangs- oder Resultatsbezeichnungen (Schmiererei), das französiche Suffix -aille bildet Kollektiva (antiquaille) und Pejorativsuffixe wie dt. -chen (Jüngelchen) und -lein (Häuflein) oder frz. -âtre (rosâtre) bewirken unter denotativem Aspekt eine Diminuierung der Basis. Anja Seiffert

→ Diminuierung; Modifikation; Pejoration; Pejorativbildung; Pejorativpräfix; Transposition

P

🕮 Braun, P. [1997] Personenbezeichnungen. Der Mensch in der deutschen Sprache. Tübingen ◾ Dammel, A. [2011] Wie kommt es zu rumstudierenden Hinterbänklern und anderen Sonderlingen? Pfade zu pejorativen Wortbildungsbedeutungen. In: Riecke, J. [Hg.] Historische Semantik. Berlin [etc.]: 326–343 ◾ Dammel, A./ Quindt, O. [2016] How do evaluative derivational meanings arise? A bit of Geforsche and Forscherei. In: Finkbeiner, R./ Meibauer, J./ Wiese, H. [eds.] Pejoration. Amsterdam [etc.]: 41–74 ◾ Havryliv, O. [2003] Pejorative Lexik. Untersuchungen zu ihrem semantischen und kommunikativ-pragmatischen Aspekt am Beispiel moderner deutschsprachiger, besonders österreichischer Literatur. Frankfurt/Main [etc.] ◾ Lustenberger-Seidlova, E. [1980] Einige pejorative Nominalsuffixe des Modernfranzösischen. -aille; -ard, -arde; -asse; -âtre; -aud (-aude), -aut; -ade. Zürich.

Periphonie ≡ Umlaut

Perkolation

formales Mittel, das sicherstellt, dass die Merkmale des Kopfes eines komplexen Wortes am gesamten Wort realisiert werden. ▲ percolation: formal device that ensures that the features of the head of a complex word are applied to the word as a whole. In den generativen Wortstrukturtheorien der frühen 1980er Jahre entstanden (Lieber 1981, Williams 1981, Selkirk 1982), regulierten die Konventionen der Merkmalsperkolation die Distribution morphosyntaktischer und manchmal auch diakritischer Merkmale über ein gesamtes

komplexes Wort. Auch wenn Beschreibungen zu Merkmalsperkolation sich in den Einzelarbeiten leicht voneinander unterscheiden, teilen alle die Grundidee, dass die Merkmale des Kopfes eines komplexen Wortes auf das gesamte Wort übertragen werden und darin mögliche gleiche Merkmale an nichtköpfigen Morphemen überschreiben. So übertragen die deutschen Diminutivaffixe -chen und -lein ihr Genusmerkmal (neutral) auf das gesamte Wort, sodass die Produkte der Diminutivbildung unabhängig vom Genus der Basen im Genus neutral sind. Williams (1981) und Di Sciullo/Williams (1987) integrieren das Konzept der Perkolation direkt in ihre Definition des Kopfbegriffs ein. Letztere argumentieren dabei, dass unterschiedliche Morpheme hinsichtlich verschiedener Merkmale in einem mehrfach flektierten Wort Kopf dieses Wortes sein können. Lieber (1992: 92) formalisiert diese Einsicht etwas anders, indem sie zwei Konventionen der Merkmalsperkolation vorschlägt. Kopf-Perkolation: morphosyntaktische Merkmale werden vom Kopfmorphem auf den Knoten übertragen, der den Kopf dominiert. Kopf-Perkolation propagiert die kategorielle Zugehörigkeit. Back-Up-Perkolation: Wenn der den Kopf dominierende Knoten nach der Kopf-Perkolation für ein bestimmtes Merkmal unmarkiert bleibt, wird der Wert für dieses Merkmal von einem unmittelbar dominierten Ast für dieses Merkmal perkoliert.

→ Kopf ⇀ Perkolation (Gram-Syntax) ⇁ percolation (Woform)

Rochelle Lieber

🕮 Di Sciullo, A.-M./ Williams, E. [1987] On the Definition of Word. Cambridge, MA [etc.] ◾ Lieber, R. [1981] The Organization of the Lexicon. Bloomington, IN ◾ Selkirk, E. [1982] The Syntax of Words. Cambridge, MA [etc.] ◾ Williams, E. [1981] On the Notions „Lexically Related“ and „Head of a Word“. In: LingInqu 12: 245–274.

Phonästhem

nichtmorphematische Lautfolge als Teil eines Wortes, der eine ikonische Bedeutungsfunktion zugeschrieben wird. ▲ phonestheme: non-morphological sound sequence as part of a word which may have an iconic function for the constitution of its meaning. Der Begriff Phonästhem wurde 1930 von dem englischen Sprachwissenschaftler Firth aus gr.

545 Phonästhem phone ‘Laut’ und aisthanomai ‘wahrnehmen’ gebildet, um das systematische Zusammentreffen von Ausdruck und Inhalt in einer Sprache zu benennen. Beispielsweise nimmt Samuels (1972: 48) als Phonästheme für das Engl. /æg/ für ‘slow, tired or tedious action’ an; das Phonästhem zeige sich in Wörtern wie drag, fag, flag, lag, nag. Einen vergleichbaren phonästhemischen Status nimmt Danchev (1995: 71) für engl. /ug/, später /ᴧg/ an, das beispielsweise in bug, flug/phlug ‘anything unpleasant’, fug ‘stuffy air’, mug, nug ‘to coite with’, plug (vgl. plug-only ‘a city tough, ruffian’), prugg(e) ‘female partner, doxy’, pug ‘courtesan, harlot’, scug ‘an untidy or ill-mannered boy’, shrug, slug, smug; dazu könne wahrscheinlich drug hinzugefügt werden, mit mehr oder weniger negativen Konnotationen. In einigen Fällen, so nug und pug, gibt es sowohl negative als auch positive Konnotationen. Die ursprüngliche semantische Motivation gehe vermutlich auf ugly zurück, das im 13. Jh. aus skand. uggligr ‘dreadful’ entlehnt und später durch Lehnwörter wie thug verstärkt worden sei. In diesem Zusammenhang sei auch die Interjektion ugh als ‘an exclamation of disgust, annoyance, or dislike’ zu erwähnen, die teilweise als /ᴧg/ ausgesprochen wird. Zu diesen Beispielen können allerdings Gegenbeispiele in Gestalt von hug mit positiver Expressivität genannt werden (Danchev 1995: 72) sowie die expressiv neutralen dug, jug und rug. Nicht jede Phonemsequenz fungiert in jedem Fall ihres Vorkommens als Phonästhem. So weisen die Wörter square and squadron keinen Zusammenhang mit der Denotation plötzlich eintretender misstönender Geräusche auf, mit denen die Lautfolge squin Wörtern wie squeal, squeak, squash, squirt, squawk, squabble, squall in Verbindung gebracht wurde. In diesem Zusammenhang sei gesagt, dass Phonästheme selten ohne Ausnahmen sind und in jedem Fall nur als Tendenzen angesehen werden sollten, nicht als ausnahmsloses Muster. Außerdem treten sie in jeder Sprache relativ selten auf. Das Phonästhem als Lautfolge ist eine von dem Morphem verschiedene Einheit, weil es das normale Kriterium der Zusammensetzbarkeit (Kompositionalität) nicht erfüllt. Mit den Begriffen der Peirceschen Zeichentheorie handelt es sich beim Phonästhem eher um ein Ikon (motiviertes, nichtarbiträres Zeichen) als um ein Symbol (nichtmotiviertes, arbiträres

Zeichen) oder um einen Index (spurenhaftes Anzeichen). Phonästheme stellen die klassische Theorie, nach der ein Wort aus Morphemen verschiedener Funktionsklassen (Grundmorphem, Formationsmorphem, Relationsmorphem) aufgebaut ist, insofern in Frage, als sie einen Fall darzustellen scheinen, bei dem in der inneren Struktur von Wörtern nichtkompositionelle Elemente aufzutauchen scheinen, d.h. ein Wort mit einem Phon­ ästhem hat eine nichtmorphematische Einheit in sich. Beispielsweise erscheint das engl. Phonästhem gl- in einer beträchtlichen Anzahl von Wörtern, die auf das Licht oder das Sehen bezogen sind, wie etwa glitter, glisten, glow, gleam, glare oder glint usw. Indessen ist der Rest jedes Wortes wie auch das Phonästhem selbst kein Morphem, d.h. eine bedeutungstragende Verbindung von Ausdruck und Inhalt. D.h., dass -isten, -ow und -eam keinen Beitrag zur Bedeutung von glisten, glow und gleam leisten. Angenommene Phonästheme wie glisten, glow und gleam wurden in zahlreichen Sprachen aus verschiedenen Sprachfamilien dokumentiert, darunter Engl., Schwed. und andere idg. Sprachen, austronesische Sprachen und Jap. Beispiele für Phonästheme im Engl. abgesehen von den eingangs genannten Beispielen sowie von gl- sind sn‑, bezogen auf den Bereich des Mundes oder der Nase, wie snarl, snout, snicker, snack usw., sowie sl-, das in Wörtern erscheint, die eine Bewegung ohne Reibung bedeuten, so slide, slick, sled usw. Phonästheme wurden meistens für den Beginn von Wörtern oder Silben angenommen, können aber auch andere Erscheinungsweisen haben. So gibt es gewisse Anzeichen dafür, dass Endungen wie -ash und -ack im Engl. ebenso als Phonästheme fungieren, indem sie in Wörtern auftreten, die kraftvollen, zerstörerischen Kontakt denotieren, so wie smash, crash, bash usw., oder plötzliche Berührung wie smack, whack, crack usw. Entscheidend für die Möglichkeit, Phonästheme zu ermitteln, sind der Gesichtspunkt der Distribution und der Motivation. Bei der Distribution geht es um die Gruppe der Wörter, in denen Phon­ästheme in einer Sprache erscheinen, und um das Ausmaß, in dem ihr Erscheinen in den betreffenden Wörtern statistisch verschieden von einer zufälligen Verteilung ist. Hinsichtlich der Motivation ist zu sagen, dass es in manchen Fäl-

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phonetisch-phonematische Motivation 546

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len gute Gründe auf der Ebene der Lautsymbolik zu geben scheint, warum Phonästheme in der betreffenden und keiner anderen Gestalt auftreten. Im Fall von -ack beispielsweise könnte man sich vorstellen, dass die Wörter, denen dieses Phonästhem gemeinsam ist, es aufweisen, weil sie Ereignisse bedeuten, die ein gleichartiges Geräusch verursachen. Dazu ist kritisch zu sagen, dass es viele Phonästheme gibt, für die keine lautsymbolische Basis angenommen werden kann, etwa für gl-, weil die Bedeutungen, mit denen sie verbunden zu sein scheinen, also etwa der Bezug auf Licht oder das Sehen, keine lautliche Grundlage beinhalten. In diesem Fall müsste die Motivation als ein psychologisch bedingtes Lautbild im Sinne der lautlichen Umsetzung eines geistigen Gehalts angenommen werden. Phonästheme können hauptsächlich auf dreierlei Weise als solche empirisch identifiziert werden. Die erste Methode ist eine Korpusuntersuchung. Dabei werden die Wörter einer Sprache statistisch ausgewertet, und es müsste sich zeigen, dass die spezifische Verbindung von Ausdrucksseite und Inhaltsseite in Gestalt eines angenommenen Phonästhemes ein statistisch nicht zu erwartendes Ausmaß im Wortschatz jenseits der Zufallsverteilung aufweist. Wenn also Wörter, die man mit einem bestimmten Phonästhem verbindet, etwa mutter, stutter, flutter, patter, titter, glitter, jitter, chatter, twitter, die sämtlich schnelle, unausgeglichene Bewegung denotieren, oder fly, flow, flood, flutter, flicker, flex, flourish, flee, fleet, float, flush, die sich auf fließende Bewegung beziehen, nichts mehr als arbiträre Symbole wären anstatt zumindest teilmotivierte Ikone, würde ihr völlig arbiträrer Charakter eine solche systematische Verbindung mit einer bestimmten Bedeutungskomponente ausschließen. Korpusstudien verschaffen einem Forscher Informationen über den jeweiligen Zustand des Lexikons, was als erster Schritt zur Ermittlung von Phonästhemen unerlässlich ist. Es ist aber wichtig festzuhalten, dass sie keinerlei Aufschluss darüber geben, ob überhaupt und wenn ja wie Phonästheme im Gehirn der Sprachteilhaber repräsentiert werden. Der zweite Weg zur Ermittlung von Phonästhemen macht sich die Tendenz zunutze, dass Phonästheme einen Anteil bei der Bildung und der semantischen Interpretation von Neubildun-

gen in einer Sprache aufweisen. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Sprachteilhaber, die aufgefordert wurden, neue Wörter zu bilden oder semantisch zu interpretieren, dazu tendieren, Mustern zu folgen, die sich unter Berücksichtigung der in ihrer Sprache vorhandenen Phonästheme voraussagen ließen. Dieser Ansatz zeigt die Lebenskraft phonästhemischer Muster, kann aber auch noch nichts darüber aussagen, ob oder wie Phonästheme in den Gehirnen der SprecherHörer repräsentiert werden. Der dritte Weg der Ermittlung verwendet die Methoden von Psycholinguisten, um exakt zu analysieren, wie Phonästheme an der Sprachproduktion Anteil nehmen. Eine dieser Methoden ist phonästhemisches Priming, verwandt mit morphologischem Priming, wodurch gezeigt werden kann, dass Menschen im Lexikon Phonästheme ebenso repräsentieren, wie das bei typischen Morphemen der Fall ist, trotz der Tatsache, dass Phonästheme nicht kompositionell sind. Zur Lautsymbolik und Phonästhemen im Deutschen und weiteren Sprachen vgl. Elsen (2016, 2017).

→ Grundmorphem; Morphem

Eckhard Meineke

🕮 Danchev, A. [1995] Notes on the history of word-final /g/ in English. In: Fisiak, J. [ed.] Linguistic Change under Contact Conditions. Berlin: 55–79 ◾ Elsen, H. [2016] Einführung in die Lautsymbolik. Berlin ◾ Elsen, H. [2017] Ist das Phonästhem eine morphologische oder eine lautsymbolische Erscheinung? In: ZWJW 1/2: 9–29 ◾ Firth, J.R. [1964 (1930, 1937)] The Tongues of Men, and Speech. London ◾ Marchand, H. [1959] Phonetic symbolism in English word-formation. In: IdgF 64: 146–168, 256–277 ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Samuels, M.L. [1972] Linguistic Evolution with Special Reference to English. Cambridge.

phonetisch-phonematische Motivation ≡ Onomatopoiie

phonologische Durchsichtigkeit

Grad der Identifizierbarkeit der lautlichen Struktur von Elementen, aus denen ein Wort besteht und die seine Bedeutung konstituieren. ▲ phonological transparency: degree to which the elements which make up the word, and which account for its meaning, are identifiable in their sound structure within the word. Unter der Annahme, dass das Wort saintly aus den Elementen saint und -ly besteht und dass das

547 Wort division aus den Elementen divide und -ion, sind saint und -ly in saintly phonologisch leicht identifizierbar, weil sich die Form von saint nicht verändert und sich die Form von -ly nicht von dem identischen Element in anderen Wörtern unterscheidet. Demgegenüber verändert sich von divide zu division der durch den Buchstaben repräsentierte Vokal, und das zweite [d] wird durch [ʒ] ersetzt. Diese Unterschiede sind nur zum Teil in der graphematischen Repräsentation sichtbar. Es ist aus phonologischer Sicht schwerer, divide in division zu identifizieren als saint in saintly. Saintly ist phonologisch transparenter als division. Für das Wort husband ist es ohne etymologische Kenntnis nicht möglich, die Elemente zu identifizieren, aus denen es besteht; es sind dies Elemente, die mit house und mit dem Element -bour in neighbour verwandt sind. Husband ist im heutigen Englisch phonologisch völlig intransparent. Laurie Bauer ≡ phonologische Kohärenz → Durchsichtigkeit; motivierte Bildung; Produktivität; semantische Durchsichtigkeit ⇁ phonological transparency (Woform)

🕮 Bauer, L. [2001] Morphological Productivity. Cambridge [etc.] ◾ Derwing, B. [1973] Transformational Grammar as a Theory of Language Acquisition. Cambridge.

phonologische Kohärenz

≡ phonologische Durchsichtigkeit

phrasale Basis

aus einer Phrase bestehende Basis eines Wortbildungsprodukts. ▲ phrasal base: base of a word-formation product that is made up of a phrase. Neben Wörtern bzw. Wortstämmen können auch Phrasen/syntaktische Fügungen/Syntagmen als Basis von substantivischen und adjektivischen Suffixderivaten sowie von substantivischen Konversionsprodukten fungieren. Für Präfigierungen und Zirkumfigierungen kommen Phrasen nicht in Frage, sondern nur Stämme. Als Phrasen treten sowohl freie als auch phraseologisch gebundene syntaktische Fügungen auf, selten auch ganze Sätze. Die häufigsten Strukturen phrasaler Basen stellen Verb + Substantiv (dt. Werkzeugmacher, Grundsteinlegung; engl. breakwater ‘Wellenbrecher’,

phrasale Basis pickpocket ‘Taschendieb’) und Adjektiv + Substantiv dar (dt. Viertürer, langbeinig; engl. two-seater ‘Zweisitzer’, short-sighted ‘kurzsichtig’, blacklist ‘auf die schwarze Liste setzen’; span. sietemesino ‘siebenmonatig’). Sätze kommen nur als Basis von Konversionen vor, dabei dominieren imperativische Sätze (dt. Stelldichein, engl. forget-me-not ‘Vergissmeinnicht’, frz. rendez-vous ‘Stelldichein’, cessez-le-feu ‘Feuereinstellung, Waffenruhe’). Spezialfälle phrasaler Basen sind phraseologisch gebundene Syntagmen (dt. Süßholz raspeln > Süßholzraspler, sich den Hals brechen > halsbrecherisch; engl. up to date ‘modern’ > up-to-dateness ‘Modernität’, to take one’s breath away ‘jmdm. den Atem verschlagen’ > breathtaking ‘atemberaubend’; russ. perelivat‘ iz pustogo v porošnee ‘leeres Stroh dreschen’ > pustoporošnij ‘nichtig, eitel, nutzlos’, s uma sšedšij ‘den Verstand verloren’ > sumasšedšij ‘Verrückter’). Die besondere Problematik phrasaler Basen zeigt sich auch in unterschiedlichen Auffassungen und unterschiedlicher Begrifflichkeit. So werden bei Motsch (2004: 328) Bildungen wie Den-Teufel-andie-Wand-malen, Den-Tag-vor-dem-Abend-loben als Verbalphrasennominalisierungen behandelt und von Nominalisierungen innerhalb eines Kompositums wie An-die-Tür-Klopfen abgegrenzt. In der historischen Wortbildung werden sub­ stan­tivische und adjektivische Suffixderivate mit phrasaler Basis als Zusammenbildung bezeichnet (dt. Arbeitnehmer, Langschläfer, Urbarmachung, viertürig, blauäugig). Die Konversion ganzer Sätze (dt. Vergissmeinnicht, Tunichtgut) wird häufig auch als Zusammenrückung gefasst (zu beiden Begriffen vgl. Fleischer/Barz 2012: 86ff., zur Zusammenbildung Leser 1990 und Meibauer/Vogel 2017)). Mit der Annahme phrasaler Basen kann auf beide Begriffe und die damit ausgedrückte Sonderstellung verzichtet werden (vgl. Fleischer/Barz 2007: 47, 49). Auf unscharfe Grenzen zwischen Derivation und Komposition verweisen Doppelmotivationen wie bei Olivenpflücker, Wasserverdrängung, die sich als Rektionskompositum oder auch als Suffixderivat mit syntaktischer Fügung als Basis analysieren lassen (vgl. dazu auch Barz 2009: 666f.). Lawrenz (2006: 75ff.) betrachtet Bildungen wie Gute-Laune-Macher, Dumme-Fragen-Steller, ImKreis-herum-Frager, Kreuz-und-quer-Denker als

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phrasales Verb 548 Phrasenderivate, im Unterschied zu Olsen (2017) und Lieber (1992), die eher von Rektionskomposita bzw. von synthetischen Komposita ausgehen. Wie die zahlreichen Beispiele bei Lawrenz (2006) zeigen, ist die phrasale Wortbildung sowohl im Deutschen als auch im Englischen ein sehr produktiver Wortbildungsprozess. Die Bildungen sind häufig stilistisch auffällig und bleiben auf okkasionellen Gebrauch besonders in medialen, fiktionalen und Werbetexten beschränkt. Mit zunehmendem Komplexitätsgrad verringern sich die Chancen auf Lexikalisierung, vgl. solche Beispiele wie die Ausschließlich-auf-Sprache-Angewiesenheit des Schreibens, kein Das-habenwir-schon-immer-so-gemacht. Lexikalisiert sind dagegen Suffixderivate von Funktionsverbgefügen wie Zurverfügungstellung, Inbetriebsetzung, Außerachtlassung, Inbesitznahme. Hannelore Poethe

→ Basis; dephraseologische Wortbildung; synthetisches

Kompositum; Zusammenbildung; Zusammenrückung

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🕮 Autorenk. [unter Leit. v. L. Wilske 1984] Die russische Sprache der Gegenwart. Bd. 4: Lexikologie. 2., unveränd. Aufl. Leipzig ◾ Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Hansen, B./ Hansen, K./ Neubert, A./ Schentke, M. [1990] Englische Lexikologie. 3. Aufl. Leipzig ◾ Lawrenz, B. [2006] Moderne deutsche Wortbildung. Phrasale Wortbildung im Deutschen: Linguistische Untersuchung und sprachdidaktische Behandlung. Hamburg ◾ Leser, M. [1990] Das Problem der „Zusammenbildungen“. Trier ◾ Lieber, R. [1992] Deconstructing Morphology. Word Formation in Syntactic Theory. Chicago, IL ◾ Meibauer, J./ Vogel, P.M. [Hg. 2017] Zusammenbildungen, In: ZWJW 1/1 ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Olsen, S. [2017] Synthetic compounds from a lexicalist perspective. In: ZWJW 1/1: 1–15 ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig.

phrasales Verb

englisches Partikelverb. ▲ phrasal verb: English particle verb. Der Terminus „phrasales Verb“ wird bisweilen als Übersetzung des englischen Begriffs „phrasal verb“ verwendet, das sich auf englische Partikelverben bezieht. Zu den Eigenschaften dieser Konstruktionen gehört, dass sie aus einem Verb und einer (meist präpositionalen) Partikel bestehen, wobei die Partikel typischerweise ent-

weder vor oder nach dem direkten Objekt stehen kann: I got out my wallet vs. I got my wallet out. Die Serialisierung Partikel-Objekt ist nicht möglich bei (unbetonten) Pronomina: I took it in vs. *I took in it. Phrasale Verben unterscheiden sich von Präpositionalverben („prepositional verbs“), bei denen die postverbale Nominalphrase Teil einer Präpositionalphrase ist und somit nicht vor der Präposition stehen kann: I rely on them vs. *I rely them on.

→ Partikelverb; Verbpartikel

Andrew McIntyre

🕮 Cappelle, B. [2005] Particle Patterns in English. Leuven ◾ Cowie, A.P./ Mackin, R. [1993] Oxford Dictionary of Phrasal Verbs. New ed. Oxford [etc.] ◾ Dehé, N./ Jackendoff, R./ McIntyre, A./ Urban, S. [eds. 2002] Verb Particle Explorations. Berlin [etc.].

Phrasenkompositum

Kompositum, das aus einem lexikalischen Kopf und einer phrasalen ersten Konstituente besteht. ▲ phrasal compound: compound made up of a lexical head and a phrasal first constituent. Während Komposita im unmarkierten Fall (vgl. bspw. Determinativkomposita) nur aus lexikalischen Stämmen bestehen, zeigen Phrasenkomposita eine Mischung aus einem lexikalischen Kopf und aus einer scheinbaren Phrasenkategorie als Nicht-Kopf-Konstituente. Somit stellen sie ein interessantes Phänomen an der Grenze zwischen Morphologie und Syntax dar. Auf der einen Seite scheinen sie zu zeigen, dass Wortstrukturen auf natürliche Weise mit Phrasenstrukturen interagieren können, wenn sie Phrasen unter ihren eigenen lexikalischen Köpfen einbetten. Auf der anderen Seite scheint diese Art von vermischter syntaktisch-morphologischer Kategoriekonfiguration ein eher marginales Phänomen zu sein im Vergleich zu der extrem großen und produktiven Klasse der rein morphologischen Komposita. Nichtsdestotrotz sind Phrasenkomposita von der Art in (1) ziemlich produktiv im Englischen und anderen Sprachen: (1a) ladies-that-lunch crowd (1b) everything-but-the-kitchen-sink topping (1c) all-in-one-room-at-the-same-time principle (1d) guaranteed-not-to-frizz hairstyle (1e) out-of-the-swamp Southern dialect (1f) stay-in-bed-and-read-or-watch-old-movies day

549 Phrasenkompositum (1g) choke-on-your-coffee funny (1i) we-can-whip-the-competition approach (1j) how-to-study-theater guides Folglich stellen Phrasenkomposita Linguisten vor ein Dilemma: sie scheinen konkrete Evidenz dafür zu liefern, dass morphologische und syntaktische Systeme ein Vokabular von kompatiblen Kategorien und kombinatorische Eigenschaften teilen, die die Grundlage für ihre Interaktion bilden. Lieber (1988) z.B. argumentiert, dass die ersten Konstituenten von Phrasenkomposita Produkte von generalisierten syntaktischen Prinzipien sind, die die Generierung von Phrasen innerhalb von Wortstrukturen zulassen. Liebers generalisierte Version der X-Bar-Theorie wird in (3) gezeigt. Im Vergleich zur Standard-Version der XBar-Theorie in (2) lässt Liebers Version es zu, dass eine Kopf-Kategorie des Levels Xn einen anderen Kopf auf derselben Ebene, i.e. Xn, direkt dominiert. Zweitens können sowohl minimale (= Yo) als auch maximale Kategorien vor und nach dem Xo-Kopf erscheinen, vgl. Lieber (1988: 208–209). (2) X-Bar-Theorie der Phrasenstruktur (2a) Xn → ... Xn–1 ... (2b) Maximale Phrasen (= YP) erscheinen vor und nach dem Kopf (= Xo). (3) Generalisierte X-Bar-Theorie der Phrasenstruktur nach Lieber (1988) (3a) Xn → ... Xn–1/n ... (3b) Minimale (= Yo) und maximale Phrasen (= YP) erscheinen vor und nach dem Kopf (= Xo). Der Vorteil des generalisierten X-Bar-Schemas in (3) ist nach Lieber, dass es sowohl Phrasenkonfigurationen als auch Wortstrukturen erklärt, ohne eine separate Menge an Prinzipien postulieren zu müssen, die ausschließlich für Wortstrukturen gelten, und dass es somit die Komplexität der Grammatik reduziert. Das modifizierte Schema generiert sowohl normale Wortstrukturen, die minimale lexikalische Stämme wie in (4) enthalten, als auch Strukturen wie in (5), die syntaktische Phrasen als erste Konstituenten aufweisen. (4) N° N°



theater

crowd

(5)

N° NP



ladies that lunch

crowd

In beiden Fällen kommt Rekursion der Kategorie No entlang der Head-Projektionslinie vor. Der Unterschied zwischen den zwei Konfigurationen liegt in der ersten Konstituente des Kompositums, die in (4) ein lexikalischer Stamm, aber in (5) eine Phrasenkategorie ist. Liebers Argumente überzeugten nicht alle Linguisten, dass Phrasenkomposita Evidenz gegen die lexikalistische These liefern. Wiese (1996) zum Beispiel schreibt, dass die erste Konstituente eines Kompositums zusätzlich zu einer Phrase ein graphisches Symbol, eine non-verbale Geste oder auch einen fremdsprachlichen Ausdruck enthalten kann (vgl. Wiese 1996: 186f.): (6a) the #-Taste (6b) his [non-verbal gesture]-attitude (6c) die No-future-Jugend Er schlägt deshalb vor, den Phrasenteil des Kompositums nicht als eine frei konstruierte syntaktische Phrase zu analysieren, sondern als ein Zitat, also ein Konzept, das Wiese in einem erweiterten Sinn versteht, damit es auf eine breite Datenmenge angewandt werden kann. Diese Analyse erlaubt es ihm, die lexikalistische These aufrechtzuhalten, dass Wortstrukturen ausschließlich aus lexikalischen Kategorien bestehen und dass sie nur die Xo-Ebene mit Phrasenstrukturen teilen. Wieses Vorschlag für die Struktur von Phrasenkomposita wird in (7) verdeutlicht: (7) N° Y° ”NP“ ladies that lunch



crowd

Die erste Konstituente ist eine Nominalphrase, die in Anführungszeichen gesetzt wird, um anzuzeigen, dass es sich um ein Zitat handelt. Die zitierte Konstituente ist unter eine unmarkierte lexikalische Kategorie Yo eingebettet, die ihren

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pleonastisches Wortbildungselement 550

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speziellen Status verdeutlicht, nämlich dass es sich um eine Phrase mit einer internen Struktur handelt, die aber in einen Stamm eingeschlossen ist, der für eine lexikalische Kategorie in der Nicht-Head-Position des Kompositums unmarkiert ist. Dessen interne Struktur ist deshalb von außen nicht mehr zugänglich. Etwas früher hat Gallmann (1990) eine ähnliche Analyse vorgeschlagen. Anstatt aber einen speziellen Status als Zitat für die erste Konstituente des Kompositums anzunehmen, betrachtete Gallmann sie als eine Nominalisierung eines beliebigen linguistischen Ausdrucks. Die Struktur des deutschen Kompositums Trimm-Dich-Pfad würde beispielsweise wie in (8) aussehen: Die VP-Sequenz „trimm dich“ wird über einen Nominalisierungsprozess in einen Nominalstamm umgewandelt, der dann an die erste Stelle der Kompositumstruktur eingefügt werden kann, vgl. Gallmann (1990: 88). (8) [VP trimm dich!] → Nominalisierung [N trimm dich] → Komposition [N [N Trimmdich] [N Pfad]] Ein letztes Argument gegen eine vereinigte Morphologie-Syntax-Grammatikkomponente kann in folgendem Umstand gesehen werden: Selbst wenn die erste Konstituente eines Phrasenkompositums die Form einer funktionalen Maximalprojektion wie in (9) hat, realisieren diese DPs, IPs und CPs niemals die typische Funktion ihrer Kategorie. Ein eigener Determinierer kann sky in (9a) nicht begleiten, die typischen INFL-Merkmale (z.B. Tempus, Aspekt) werden bei choke in (9b) nicht verstanden und das wh-Element im Beispiel (9c) löst keine Frage aus. (9a) a [sky-is-the-limit] attitude (9b) [choke-on-your-coffee] funny (9c) [how-to-study-theater] guides In diesen Beispielen können die Regeln und Prinzipien der Morphologie schlichtweg nicht auf die funktionalen Kategorien D, I und C zugreifen und die funktionalen Informationen, die sie enthalten, verarbeiten. Somit finden DP-, IP- und CPPhrasen, die scheinbar innerhalb von Phrasenkomposita auftauchen, Eingang in die relevanten Wortstrukturen nur eingebettet in einer lexikalischen Stammkategorie. Diese Kategorie (als Yo in (7) notiert) verwandelt bestimmte komplexe Sequenzen – Zitate von syntaktisch-phonologischen Reihungen, lexikalische Phrasen, Idiome,

Sprüche Witze etc. – in angemessene morphologische Formen für Wortstrukturen und legt dabei ihre interne Struktur lahm. Die unmarkierte lexikalische Kategorie Yo übernimmt Funktionen, die typisch für Wortstrukturen sind, für gewöhnlich als ein Modifizierer des Kopf-Nomens, obwohl die Kategorie auch als ein Argument fungieren kann, vgl. a-thousand-words-a-day contributor, sky's-the-limit forecast. Für deutsche Phrasenkomposita vgl. die empirischen Untersuchungen von Lawrenz (2006) und Hein (2015). Susan Olsen

→ § 22; Determinativkompositum; Kompositum; präpositionales Kompositum

⇁ phrasal compound (Woform; Typol)

🕮 Gallmann, P. [1990] Kategoriell komplexe Wortformen. Das Zusammenwirken von Morphologie und Syntax bei der Flexion von Nomen und Adjektiv. Tübingen ◾ Hein, K. [2015] Phrasenkomposita im Deutschen. Empirische Untersuchung und konstruktionsgrammatische Modellierung. Tübingen ◾ Lawrenz, B. [2006] Moderne deutsche Wortbildung. Phrasale Wortbildung im Deutschen. Hamburg ◾ Lieber, R. [1988] Phrasal Compounds in English and the Morphology-Syntax Interface. In: Brentari, D./ Larson, G./ MacLeod, L. [eds.] CLS-II 24. Papers from the Parasession on Agreement in Grammatical Theory. Chicago: 202–222 ◾ Lieber, R. [1992] Deconstructing Morphology. Word Formation in Syntactic Theory. Chicago, IL ◾ Meibauer, J. [2007] How marginal are phrasal compounds? Generalized insertion, expressivity and I/Q-interaction. In: Morph 17: 233–259 ◾ Particke, H.-J. [2015] Phrasenkomposita. Eine morphosyntaktische Beschreibung und Korpusstudie am Beispiel des Deutschen. Hamburg. ◾ Wiese, R. [1996] Phrasal Compounds and the Theory of Word Syntax. In: LingInqu 27/1: 183–193.

pleonastisches Wortbildungselement

semantisch redundantes Wortbildungselement. ▲ pleonastic formative: semantically redundant formative. Pleonastische Wortbildungselemente haben keine semantische Bedeutung, sie gelten als redundante, funktionslose Elemente. Derivate mit pleonastischem Affix stimmen „hinsichtlich ihrer syntaktischen Verwendungsweise und Bedeutung“ mit ihrer jeweiligen Basis überein (Thomas 2002: 75, 77). Pleonastische Wortbildungselemente treten vor allem auf, wenn funktionsgleiche Wortbildungselemente nicht mehr als solche erkennbar sind. So ist z.B. in Wörtern wie Bändel, Büschel, Bündel, Gürtel, Knöchel zwar die ursprüngliche Ableitungsbeziehung zu Band, Busch, Bund, Gurt, Knochen noch zu erkennen, sie spielt aber für den Gebrauch der Bildungen kaum eine

551 Plerem Rolle. Sie werden als Simplizia aufgefasst. Das Suffix -el fungiert hier nicht mehr als produktives Diminutivsuffix, so dass es zu pleonastischen Bildungen mit dem Diminutivsuffix -chen (Gürtelchen, Knöchelchen) kommt (Wellmann 1975: 125). Henzen (1965: 147) vermutet, dass sich die pleonastischen Bildungen auf -elchen auch an die zahlreichen Fälle mit ableitendem -el anlehnen (Beutelchen, Täfelchen, Mäntelchen, Zettelchen), vgl. dazu auch Fleischer/Barz (2012: 233f.). Beim Adjektiv verzeichnen Kühnhold/Putzer/Wellmann (1978: 409ff.) eine Reihe von Bildungen auf -(-ig)lich, -ig, -isch, -sam, -al/-ell, -haft als Bildungen „mit weglaßbarem Suffix“ (ernstlich, elendig, kolossalisch, gelehrsam, paradoxal, wahrhaft). Nach Henzen (1965: 154) erscheinen pleonastische Bildungen bereits im Ahd. (ahd. breckin neben brecka ‘Hündin’). Auch das Suffix -er tritt pleonastisch auf, vgl. z.B. im Mhd. köufelære neben köufel ‘Makler’ oder das bei Luther belegte Fremdlinger (160). Bei Adjektiven sind pleonastische Bildungen mit -ig wie lachhaftig, boshaftig, ekelhaftig zu finden (197). Für das Fnhd. hat Thomas (2002: 99ff.) bei den Suffixen -bar, -et, -haft, -ig, -isch, -lich, -sam, -selig pleonastische Bildungen ermittelt (z.B. offenbar, krumlet, warhaft, wahrhaftig, zweifelhaftig, parallelisch, frölich, wunderbarlich, gnugsam, armtselig). Besonders häufig sind im Korpus von Thomas Bildungen auf -lich belegt. Ihre Frequenz ist im Fnhd. deutlich höher als im Nhd. „Somit zeigt sich auch bei -lich in der diachronen Sprachentwicklung ein Abbau von Dubletten“ (Thomas 2002: 452). Kühnhold/Putzer/Wellmann (1978: 411) konstatieren, dass die Anzahl der Stichwörter „mit weglaßbarem Suffix“ im Falle der alten Suffixe -ig, -isch und -haft abzunehmen scheint. Einige ursprünglich pleonastische Bildungen haben sich mit spezifischer Funktion in der Gegenwartssprache erhalten (z.B. fröhlich, gänzlich, lieblich, reichlich, säuberlich, schwerlich). Neben der Charakterisierung entsprechender Wortbildungselemente als „pleonastisch“ sind auch die Bezeichnungen „idiofunktional“ (Müller 1993: 61, 467ff.) bzw. „isosemantisch“ (Klein/ Solms/Wegera 2009: 9) in Gebrauch.

→ Diminutivsuffix; Simplex

Hannelore Poethe

🕮 Fleischer, W./ Barz, I.[2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg.

Aufl. Tübingen ◾ Klein, T./ Solms, H.-J./ Wegera, K.-P. [2009] Mittelhochdeutsche Grammatik. Teil III: Wortbildung. Tübingen ◾ Kühnhold, I./ Putzer, O./ Wellmann, H. [1978] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 3. Hauptteil: Das Adjektiv. Düsseldorf ◾ Müller, P.O. [1993] Substantiv-Derivation in den Schriften Albrecht Dürers. Ein Beitrag zur Methodik historisch-synchroner Wortbildungsanalysen. Berlin [etc.] ◾ Thomas, B. [2002] Adjektivderivation im Nürnberger Frühneuhochdeutsch um 1500. Eine historisch-synchrone Analyse anhand von Texten Albrecht Dürers, Veit Dietrichs und Heinrich Deichslers. Berlin [etc.] ◾ Wellmann, H. [1975] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 2. Hauptteil: Das Substantiv. Düsseldorf.

Plerem

1. einzelne lexikalische Bedeutung, semantisches Merkmal im Gegensatz zu morphosyntaktischen Merkmalen. ▲ plereme: single lexical meaning, semantic feature in contrast to morpho-syntactic features. 2. Minimalzeichen. ▲ plereme: minimal linguistic sign. Zu 1: In der Glossematik ersetzt Plerem (frz. plérème, zu griech. plērēs ‘voll’) ab 1936 den von Vendryès (1921: 86) übernommenen Terminus Semantem (frz. sémantème) zur Bezeichnung einer einzelnen lexikalischen Bedeutung, z.B. ‘Rind’, ‘weiblich’, ‘erwachsen’. Eine einzelne grammatische Bedeutung, z.B. ‘3. Person’, ‘Singular’, ‘Präteritum’, wird weiterhin wie bei Vendryès Morphem (frz. morphème) genannt. Als Oberbegriff für beide Arten von Inhaltselementen dient Plerematem (frz. plérématème). Ein einzelnes Ausdruckselement heißt Kenematem (frz. cénématème, zu griech. kenos ‘leer’), wobei zwischen Kenem (segmental) und Prosodem (suprasegmental) getrennt wird (s. z.B. Hjelmslev 1938: 172–175). Bei all diesen Elementen handelt es sich um solche der Form, die durch ihre Beziehungen zueinander definiert sind und nicht durch die Substanz, in der sie realisiert werden, z.B. die der Gedanken auf der Inhaltsseite und die der Laute auf der Ausdrucksseite. Insofern werden Erläuterungen wie „lexikalische Bedeutung“ oder „begriffliche Bedeutung“ dem abstrakteren glossematischen Begriff des Plerems nicht ganz gerecht. In linguistischen Lexika und in Darstellungen der Glossematik wird der Unterschied zwischen Plerem und Plerematem sowie Kenem und Kenematem oft nicht beachtet, sodass Plerem und Kenem als generelle Bezeichnungen für Inhalts-

P

Pluralkompositum 552 bzw. Ausdruckelemente beschrieben werden. In einigen englischen sprachwissenschaftlichen Einführungswerken findet man plereme und keneme/ceneme für (a) die aus der chinesischen Grammatik übernommene Unterscheidung zwischen „vollen“ (autosemantischen) bzw. „leeren“ (synsemantischen) Wörtern (z.B. Wrenn 1949: 132); (b) den gesamten Inhalt bzw. Ausdruck eines sprachlichen Zeichens (Palmer 1972: 88); (c) Morpheme bzw. Phoneme im Sinne des amerikanischen Strukturalismus (Hockett 1958: 575).

→ Minimalzeichen; Morphem; Sem ⇀ Plerem (Gram-Formen; Lexik)

Joachim Mugdan

🕮 Hjelmslev, L. [1938/1968] Über die Beziehungen der Phonetik zur Sprachwissenschaft. In: Zwirner, E./ Ezawa, K. [Hg.] Phonometrie. 2. Teil: Allgemeine Theorie (Bibliotheca Phonetica 5). Basel [etc.]: 159–177 ◾ Hockett, C.F. [1958] A Course in Modern Linguistics. New York ◾ Palmer, L.R. [1972] Descriptive and Comparative Linguistics. London ◾ Vendryes, J. [1921] Le langage. Paris ◾ Wrenn, C.L. [1949] The English Language. Delhi [etc.].

P

Zu 2: In Deutschland wurde der Vorschlag, Plerem für ein minimales sprachliches Zeichen zu verwenden (Heringer 1968: 221), zwar in einem Handbuch der germanistischen Linguistik (Henne/Wiegand 1973: 133) und in einem Lehrbuch der Morphologie (Bergenholtz/Mugdan 1979: 39) aufgegriffen, konnte sich aber nicht durchsetzen und wurde auch von seinen ursprünglichen Befürwortern nicht aufrechterhalten. Stattdessen benutzen manche Linguisten den transparenten Terminus Minimalzeichen oder auch Elementarzeichen; die meisten verwenden Morphem sowohl für ein Minimalzeichen, z.B. dt. -st ‘Komparativ’ (wie in die schnellste), als auch für eine Menge von Minimalzeichen mit demselben Inhalt, z.B. {Komparativ} mit den „Varianten“ -st und -est (wie in der wildeste).

→ Minimalzeichen; Morphem ⇀ Plerem (Gram-Formen; Lexik)

Joachim Mugdan

🕮 Bergenholtz, H./ Mugdan, J. [1979] Einführung in die Morphologie. Stuttgart ◾ Henne, H./ Wiegand, H.E. [1973] Pleremik. Sprachzeichenbildung. In: Althaus, H.P./ Henne, H./ Wiegand, H.E. [Hg.] Lexikon der Germanistischen Linguistik. Tübingen: 132–144 ◾ Heringer, H.-J. [1968] „Tag“ und „Nacht“. Gedanken zu einer strukturellen Lexikologie. In: WW 18:17–231.

Pluralkompositum

Kompositum, dessen erstes Element für Plural markiert ist.

▲ plural compound: compound containing a first element that is marked for plural.

Die erste Konstituente von regulären Determinativkomposita wird für gewöhnlich nicht für reguläre Flexionskategorien wie Kasus oder Plural markiert. Was dem Anschein nach explizite Kasusoder Pluralendungen an der ersten Konstituente sind, funktioniert nicht in einem semantischen oder syntaktischen Sinne, sondern eher als ein rein formaler Inhalt, der eine Konstituentengrenze signalisiert, d.h. ein Fugenelement darstellt. Die semantische Kategorie des Plurals wird bei Abwesenheit einer expliziten Endung an der Nicht-KopfKonstituente verdeutlicht, vgl. engl. tooth brush ‘Zahnbürste’, consumer protection ‘Verbraucherschutz’, fossil hunter ‘Fossilienjäger’ mit den Bedeutungen ‘Instrument zum Zähneputzen’, ‘Schutz für Verbraucher’ und ‘Jäger von Fossilien’. Das gleiche gilt für die dt. Wörter Kartoffelsuppe und Briefträger. Bestimmte Modifikationen an der ersten Konstituente in dt. Komposita (die sogenannte Fugenvariation), die auf den ersten Blick Pluralmarkierer zu sein scheinen, tragen Singularbedeutung, vgl. Gänseleber, wo der Singular des ersten Nomens Gans ist. Ein Trend im modernen Engl. ist jedoch, dass erste Konstituenten, die als Plural verstanden werden, manchmal explit für Plural markiert werden, vgl. suggestions box ‘Vorschlagskiste’, parks commissioner ‘Grünflächenbeamter’, arms race ‘Rüstungswettbewerb’. Die Stammform einer ersten Konstituente im Dt. kann formal mit einem offenen Plural identisch sein, vgl. Schlüsselbrett, bei dem die Singularform des ersten Nomens ebenfalls Schlüssel ist. Die Semantik dieses Kompositums suggeriert jedoch die Pluralbedeutung Schlüssel. Dieselbe Ambiguität von Form-Bedeutung besteht bei modifizierten ersten Konstituenten, die die -er-Stammerweiterung der älteren -s-Stämme im Maskulinum und im Neutrum tragen. Die Erweiterung ging am Singularstamm verloren, sodass die -er-Endung die Funktion der Pluralflexion in der modernen Sprache übernommen hat. Somit kann ein Kompositum wie Kinderzimmer (basierend auf dem Nomen Sg. Kind/Pl. Kinder) als ein Raum für ein einzelnes oder auch mehrere Kinder verstanden werden. Manchmal ist die einzige plausible semantische Interpretation einer solchen modifizierten Form eine im Plural, vgl. Plätzezahl, bei

553

polyfunktionales Affix

dem der Singularstamm des Nomens Platz ist, und Motorenbau mit dem Singularstamm Motor. Die offensichtliche Pluralmarkierung in diesen Fällen mag dazu beigetragen haben, die Tendenz zur offenen Pluralmarkierung im Dt. zu fördern. Henzen (1965: 60) stellt fest, dass bestimmte neuere Formen, die sich von früheren Singularformen unterscheiden (wie in den Fällen von Mitgliederkarte gegenüber Mitgliedskarte und Minderheitenfrage gegenüber Minderheitsfrage), diesen Trend der offenen Pluralmarkierung an der ersten Konstituente eines Kompositums im modernen Deutschen ähnlich dokumentieren wie im Englischen. Für eine umfassendere Studie vgl. Johansson (1980). Susan Olsen

→ Determinativkompositum; Fugenvariation; Kompositionsfuge; Kompositum; paradigmatisches Fugenelement; uneigentliches Kompositum ⇁ plural compound (Woform)

🕮 Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Johansson, S. [1980] Plural attributive nouns in present-day English. Lund.

polyfunktionales Affix

Affix, das funktional mehrdeutig ist und somit verschiedene Funktionen ausüben kann. ▲ polyfunctional affix: affix which is functionally ambigous and thus can perform various functions. Aufgrund ihrer eher abstrakten Bedeutung und ihres beschränkten Inventars ist – einzelsprachenübergreifend betrachtet – die Mehrzahl der Affixe polyfunktional. In Bezug auf die Wortbildung bedeutet dies, dass ein und dasselbe Affix an der Ausprägung mehrerer unterschiedlicher Wortbildungsreihen beteiligt ist und somit unterschiedliche Wortbildungsbedeutungen konstituiert: dt. -er dient nicht nur der Bildung von Personenbezeichnungen (nomina agentis) wie in Musiker, Sänger, sondern auch der Bildung von Instrumentbezeichnungen (nomina instrumenti) wie in Schalter oder Handlungsbezeichnungen (nomina actionis) wie in Seufzer. Das russische Suffix -ka bildet Handlungsbezeichnungen (nomina actionis) wie in peregruppirovka ʻUmgruppierungʼ, aber auch Instrumentbezeichnungen (nomina instrumenti) wie in otvërtka ʻSchraubendreherʼ. Als schwierig erweist sich die Abgrenzung von homonymen Affixen. Unter diachronem Gesichtspunkt kann die gemeinsame etymologische Her-

kunft polyfunktionaler Affixe als Abgrenzungskriterium gelten. Das dt. Nominalsuffix -er ist polyfunktional, da seine unterschiedlichen morphosemantischen Funktionen, etwa in Betrachter (nomen agentis) und Behälter (nomen instrumenti), auf eine gemeinsame Wurzel, das Suffix -āri, zurückgehen, das im Ahd. der Bildung von nomina agentis dient, vgl. ahd. bitrahtāri ʻBetrachterʼ; bihaltāri urspr. ʻWächter, Bewahrerʼ. Das adjektivische Suffix -er in zwanziger Jahre verhält sich hingegen hierzu homonym, da es nicht auf das ahd. Suffix -āri zu beziehen ist. Unter synchronem Aspekt werden der Grad der Bedeutungsverschiedenheit und/oder die Verschiedenheit der Wortbildungsstruktur der entsprechenden Bildungen als Abgrenzungskriterien genannt. So führt Nikolaev (2000: 556) das russische Suffix -ka in artist-ka ʻKünstlerinʼ (Movierung), poljan-ka ʻkleine Wieseʼ (Diminuierung), peregruppirov-ka ʻUmgruppierungʼ (nomen actionis) und otvërt-ka ʻSchraubendreherʼ (nomen instrumenti) wegen des Mangels einer Beziehung zwischen den verschiedenen Funktionen und aufgrund der Verschiedenheit der Wortbildungsstruktur (desubstantivische vs. deverbale Struktur) als homonymes Affix an. Im Allgemeinen gelten jedoch Affixe, die sich mit Basen unterschiedlicher Wortart verbinden, wie dt. -ig in wolkig < Wolke und zappelig < zappeln nicht als homonym, sondern als polyfunktional (vgl. Fleischer/Barz 2012: 55). Einigkeit besteht darüber, dass Morpheme, die verschiedenen Morphemklassen angehören, wie dt. -er in Leser (Wortbildungsmorphem) und Kinder (Flexionsmorphem) oder -werk/Werk in Schuhwerk (Wortbildungsmorphem) und Kunstwerk (Grundmorphem), Homonyme sind. Anja Seiffert ≡ polysemes Affix ↔ homonymes Morphem → § 32, 41; Grundmorphem; Polyfunktionalität; Wortbildungsbedeutung; Wortbildungshomonymie; Wortbildungspolysemie; Wortbildungsreihe 🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Nikolaev, G.A. [2000] Wortbildungshomonymie. In: Jelitte, H./ Schindler, N. [Hg.] Handbuch zu den modernen Theorien der russischen Wortbildung. Frankfurt/Main: 555–561 ◾ Rainer, F. [1993] Spanische Wortbildungslehre. Tübingen ◾ Schippan, T. [2002] Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache. 2., unveränd. Aufl. Tübingen.

P

Polyfunktionalität 554

Polyfunktionalität

Eigenschaft eines sprachlichen Zeichens, das funktional mehrdeutig ist und somit verschiedene Funktionen ausüben kann. ▲ polyfunctionality: property of a linguistic sign to be functionally ambiguous and thus to be able to perform various functions.

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Eine lexikalische Einheit, die semantisch mehrdeutig ist, also über mehrere Lesarten verfügt, bezeichnet man als polysem. Der Begriff der Polysemie ist im Allgemeinen an das Vorhandensein einer lexikalisch-begrifflichen Bedeutung gebunden. Es gibt jedoch verschiedene Gruppen sprachlicher Zeichen, die keine lexikalisch-begriffliche Bedeutung tragen. So gelten vor allem Affixe, die im Rahmen der Wort- oder Formenbildung mehrere morphologische oder morphosemantische Funktionen übernehmen können, zumeist nicht als polysem, sondern als polyfunktional, unter den Flexionsmorphemen etwa dt. -er in Kind-er (Pl.) und klüg-er (Komparativ); engl. -s in it work-s (3. Pers. Sg. Präs.) und book-s (Pl.); mit Blick auf die Wortbildung beispielsweise das dt. Präfix un- in Unmenge (Augmentation) und Unglück (Negation). Auch Synsemantika werden als polyfunktional bezeichnet, wenn sie mehrere grammatische Funktionen erfüllen, vgl. dt. der/ die/das in der Funktion als Demonstrativ- oder Relativpronomen oder als bestimmter Artikel; engl. who in der Funktion als Interrogativ- oder Relativpronomen. Unter den Wortbildungsaffixen gibt es vereinzelt solche, die monofunktional sind, also nur genau eine Wortbildungsreihe ausprägen, beispielsweise dt. -in, das ausschließlich movierte Feminina bildet (Studentin, Ärztin) (vgl. Motsch 2000: 438f.). Die Mehrzahl der Affixe ist jedoch an mehreren Wortbildungstypen beteiligt und somit polyfunktional, vgl. engl. -ing in thinking (nomen actionis), wedding (nomen acti), clothing (nomen instrumenti), dt. -er in Lehrer (nomen agentis), Schalter (nomen instrumenti), Seufzer (nomen actionis). Zu manchen Wortbildungsaffixen existieren formgleiche Flexionsaffixe. Aufgrund des prinzipiellen Funktionsunterschiedes von Flexion und Wortbildung geht man in diesen Fällen aber nicht von Polyfunktionalität, sondern von Homonymie aus (Fleischer 1983: 42). Die zunehmende Polyfunktionalität vorhandener

Wortbildungsmittel im Sinne einer gesteigerten Ausnutzung vorhandener sprachlicher Mittel beruht letztlich auf dem Prinzip der Sprachökonomie: „Eine Sprache, in der für jede begriffliche Neuerung oder Differenzierung ein eigenes Zeichen eingeführt werden müßte, würde anstrengende Gedächtnisleistungen erfordern; so ist zunehmende Polysemie und Polyfunktionalität vorhandener Mittel sehr ökonomisch.“ (von Polenz 2000: 30). Anja Seiffert

→ § 32; Wortbildungshomonymie; Wortbildungspolysemie ⇀ Polyfunktionalität (Gram-Formen; Textling) ⇁ polyfunctionality (TheoMethods)

🕮 Fleischer, W. [1983] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ von Polenz, P. [2000] Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Bd. I. 2., überarb. u. erg. Aufl. Berlin [etc.].

polymorphemisches Kompositum ≡ Dekompositum

polymorphemisches Wort ≡ komplexes Wort

polysemes Affix

≡ polyfunktionales Affix

Polysemie

→ § 32; Wortbildungspolysemie ⇀ Polysemie (HistSprw; QL-Dt; Lexik; SemPrag; CGDt)

polysynthetische Morphologie

Typ der Morphologie, in der grammatische Morpheme gehäuft auftreten. ▲ polysynthetic morpholgy: type of morphology in which many morphemes occur together in a word. Polysynthetische Morphologie ist ein Typ der Morphologie, in dem viele grammatische Morpheme zu einem Wort zusammengefasst werden; hier entspricht ein Wort häufig einem ganzen Satz in anderen Sprachen. Viele sogenannte Eskimosprachen und Indianersprachen zeichnen sich durch polysynthetische Morphologie aus. Dabei werden Einheiten, die in anderen Sprachen analog zu Sätzen werden, als ein Wort gebildet. Polysynthetische Sprachen zeichnen sich durch eine große Anzahl von un-

555 Portmanteaumorph selbständigen grammatischen Morphemen aus und sind insbesondere im Gegensatz zu analytischen Sprachen zu sehen, in denen grammatische Strukturen durch Funktionswörter ausgedrückt werden. Sapir (1972: 120) macht deutlich, dass eine polysynthetische Sprache besonders synthetisch ist; hier erscheinen „keine Methoden, die nicht auch in den von uns vertrauten synthetischen Sprachen vertreten wären.“ Damit ist auch diese morphologische Einordnung eher qualitativ als quantitativ zu sehen. Im Dt. könnte in sog. Phrasenkomposita ein polysynthetischer Zug gesehen werden: das In-dieLuft-und-nicht-auf-den-Weg-Schauen.

→ Inkorporation; Phrasenkompositum

Nanna Fuhrhop

🕮 Aronoff, M./ Fudeman, K. [2011] What is Morphology? 2nd ed. London [etc.] ◾ Fortescue, M. [2007] The typological position and theoretical status of polysynthesis. In: Rijkhoff, J. [ed.] Linguistic Typology. Special Issue of Tidsskrift for Sprogforskning 5: 1–27 ◾ Haspelmath, M./ Sims, A.D. [2010] Understanding Morphology. London [etc.] ◾ Sapir, E. [1972] Die Sprache. Eine Einführung in das Wesen der Sprache. 2. Aufl. München.

Portmanteaumorph

Morph, d.h. Minimalzeichen, das einer Folge von zwei oder mehr Morphemen entspricht. ▲ portmanteau morph: morph, i.e. minimal sign, that corresponds to a sequence of two or more morphemes. Der Ausdruck Portmanteau(wort) wurde zunächst für den Wortbildungstyp Kontamination (engl. blend) benutzt und geht darauf zurück, dass Humpty Dumpty in Lewis Carrolls Through the Looking-Glass das Wort slithy als „lithe and slimy“ erklärt und hinzufügt: „You see it’s like a portmanteau – there are two meanings packed up into one word“ (Carroll 1872: 127). Dieser Vergleich ist unverständlich, wenn man als Quelle frz. portmanteau /pɔrtmãˈto/ in der modernen Bedeutung ‘Kleiderständer’ annimmt (so Eins 2016); im Englischen entwickelte sich jedoch portmanteau /pɔːtˈmæntəʊ/, ausgehend von der ursprünglichen Bedeutung ‘Satteltasche’, zu einer heute veralteten Bezeichnung für einen Koffer aus zwei gleichen, in der Mitte verbundenen Teilen. Portmanteaumorph wurde am Beispiel von frz. au /o/ eingeführt (Hockett 1947: 333), das auf der Ebene der Minimalzeichen nicht zerlegbar ist, wogegen man aufgrund der in Tab. 1 dargestell-

ten Kombinationen von Präpositionen und Artikeln auf der Ebene der Morpheme gerne die Folge {à} + {le} ansetzen möchte. Tab. 1: Französische Präpositionen und Artikel après la fin ‘nach dem Ende’ après le début ‘nach dem Anfang’ vers la fin ‘gegen Ende’

vers le début ‘gegen Anfang’

à la fin ‘am Ende’

au début ‘am Anfang’

à chaque fin ‘an jedem Ende’ à chaque début ‘an jedem Anfang’

Bei dt. am, zur, ins usw. ist die Situation insofern komplizierter, als daneben auch an dem, zu der, in das existiert und nicht in jedem Kontext mit am, zur, ins austauschbar ist. Dadurch ist es andererseits eher plausibel, eine phonologische Kontraktionsregel anzunehmen. Bei manchen anderen Beispielen bieten sich ebenfalls alternative Analysen an. So kann man in engl. men ein Portmanteaumorph sehen, das der Morphemfolge {man} + {plural} entspricht, oder aber mit Nullallomorphen oder ersetzenden Morphen arbeiten, also men ‘man’ + ∅ ‘plural’ oder man ‘man’ + a→e ‘plural’. Manche Autoren illustrieren Portmanteaumorph durch Beispiele wie lat. -i in anni ‘Jahre’, das ‘plural’ und ‘nominativ’ zugleich ausdrückt (z.B. Bauer 2003: 26). Dabei handelt es sich jedoch um ein anderes Phänomen, nämlich kumulative Exponenz, bei der morphosyntaktische Eigenschaften aus zwei oder mehr Kategorien systematisch und nicht nur ausnahmsweise gemeinsam ausgedrückt werden (s. Coates 2000: 619–622). Bei dem angeblichen Portmanteaumorph -s in engl. walks, das den Morphemen {präsens}, {3. person} und {singular} entsprechen soll (z.B. Katamba/Stonham 2006: 36f.), liegt nicht einmal kumulative Exponenz vor. Erstens ist das Präsens stets unmarkiert, sodass es im Englischen (wie im Deutschen) gar kein Morphem {präsens} gibt. Zweitens muss man dann, wenn Person/Numerus-Suffixe je nach Tempus variieren, nicht annehmen, dass das Tempus Teil ihres Inhalts ist; es handelt sich vielmehr um durch das Tempus bedingte Allomorphe. Drittens sind beim englischen (und deutschen) Verb Person und Numerus keine voneinander unabhängigen Kategorien, anders als der vom Sprecher wählbare Numerus und der von der Syntax zugewiesene Kasus bei lateinischen Substantiven. Somit hat -s lediglich

P

Portmanteauwort 556 den Inhalt ‘3sg’, eine von sechs Optionen bei der Person/Numerus-Kongruenz.

→ Allomorph; Morph; Morphem

Joachim Mugdan

🕮 Bauer, L. [2003] Introducing Linguistic Morphology. 2nd ed. Washington, DC ◾ Carroll, L. [1872] Through the Looking-Glass, and What Alice Found There. London ◾ Coates, R. [2000] Exponence. In: Booj, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 616–630 ◾ Eins, W. [2016] Portmanteaumorphem. In: Glück, H./ Rödel, M. [Hg.] Metzler Lexikon Sprache. 5., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart: 524 ◾ Hockett, C.F. [1947] Problems of morphemic analysis. In: Lg 23: 321–343 ◾ Katamba, F./ Stonham, J. [2006] Morphology. 2nd ed. Basingstoke [etc.].

Portmanteauwort ≡ Kontamination

Possessivkompositum

exozentrisches Kompositum, das das gleiche Determinativverhältnis zwischen seinen Konstituenten aufweist wie ein Determinativkompositum. ▲ possessive compound: exocentric compound that has the same determinative relation between its constituents as a determinative compound.

P

Possessivkomposita weisen die gleiche Determi­ nans-Determinatum-Beziehung zwischen ihren Konstituenten auf wie die Determinativkomposita. Sie heben sich aber von Determinativkomposita durch ihre exozentrische Verwendung ab. So kann das engl. Determinativkompositum hardhat, das einen Schutzhelm bezeichnet, der von Bauarbeitern auf Baustellen getragen wird, auch zur Bezeichnung der Bauarbeiter benutzt werden. Possessivkomposita denotieren m.a.W. kein Hypo­ nym des Kopfbegriffs wie die Determinativkomposita, sondern referieren auf ein externes Individuum, das in besonders charakteristischer Weise mit der Bedeutung des Kompositums in Verbindung steht. Die traditionelle Grammatik hat die Gruppe der Nominalkomposita in drei Hauptklassen unterteilt: Determinativ-, Kopulativ- und Possessivkomposita (vgl. u.a. Paul 1920, Whitney 1950, Mayrhofer 1965, Lindner 2011–2018). Die Unterscheidung zwischen Kopulativ- und Determinativkomposita wird anhand der Gleich- bzw. Unterordnung der Kompositaglieder gemacht, vgl. Maler-Schriftsteller vs. Urlaubsland. Die Possessivkomposita werden bezüglich einer anderen Dimension definiert: sie sind exozentrische

Strukturen, vgl. Plattfuß, Kleingeist, Graukopf, Blauhelm. In seiner Grammatik des Sanskrits versteht Whitney (1950: 501–502) die Klasse der Possessivkomposita als „secondary adjective compounds“, also als Determinativkomposita, die eine adjektivische Flexion angenommen und infolge dessen eine adjektivische Bedeutung übernommen haben. Er betrachtet sie also als Determinativkomposita, die adjektivisch verwendet werden, was ermöglicht, die von ihnen bezeichnete Eigenschaft über einen externen Referenten zu prädiziern, vgl. Skr. yajñakāmá ‘Willen zu Opfern’ > yajñákāma ‘(jmd.) mit dem Willen zu Opfern’ und áhasta ‘keine Hand’ > ahastá ‘(jmd.) ohne Hände’ (Whitney 1950: 501f.). Diese Klasse von Komposita trägt im Sanskrit auch den Namen Bahuvrīhi ‒ eine Bezeichnung aus der altindischen Grammatiktradition, die zugleich Beispiel für die Klasse ist, vgl. bahu ‘viel’ + vrīhi ‘Reis’, also ‘reich; lit. ‘viel Reis (besitzend)’, vgl. Mayrhofer (1965: 102). Beispiele aus anderen idg. Sprachen sind altgr. chrysokóme ‘goldenes Haar (besitzend)’ und lat. magnanimus ‘große Seele (besitzend)’. Nicht alle Linguisten sehen die Possessivkomposita allerdings als sekundäre Adjektive an, die auf der Basis von vergleichbaren Determinativkomposita entstanden sind. Eine konkurrierende Theorie geht davon aus, dass die adjektivischen Possessivkomposita sogar älter sind als die nominalen Determinativkomposita. In den ältesten lyrischen Texten des Idg. kommen sie nämlich häufiger vor als die Determinativkomposita. In diesen Texten werden sie als Appositionen zu Nomina verwendet, die auch oft getilgt wurden. Unter anderen vermuten Jacobi (1987), Kastovsky (2009) und Lindner (2019: 24ff.) ihren Ursprung in frühen relativsatzähnlichen Konstruktionen ohne Relativpronomina, die sich in univerbierter Form besonders gut als Epitheta und Anthroponyme in der frühen Literatur eigneten. Ihre possessive (attributive) Semantik erklärt sich aus der prädikativen Funktion solcher Konstruktionen. Bahuvrīhis kommen nach Marchand (1969: 386ff.) in den frühen Stadien der germanischen Sprachen hauptsächlich als Namen vor, vgl. ahd. Hartmuot. Die Typen N+N (wulf-heort ‘Wolf-Herz’) und A+N (baerfot ‘barfuß’) waren allerdings im Altenglischen selten. Erst seit dem 16. Jh. kommen sie vermehrt auf. Zur selben Zeit treten auch

557 andere exozentrische Muster hervor wie bspw. pickpocket, telltale, scarecrow, die aus dem Frz. entlehnt sind und eine Person oder ein Objekt ebenso wie die Bahuvrīhis nach einem hervorstechenden Merkmal benennen. Henzen (1965: 83) ordnet hier auch die deutschen Satznamen wie Gernegroß, Schlagetot ein. Zu solchen Bildungen besteht eine Verbindung der pejorativen Bedeutungsschattierungen der heutigen personenbezogenen Possessiva, die den ursprünglichen Bildungen fremd waren. Andererseits bewahren Tier- und Pflanzenbezeichnungen die herkömmliche neutrale Bedeutung, vgl. Silbermund (Schnecke), Grünschnabel (Vogel), Löwenzahn (Blume), was auch für die Objektbenennungen gilt, vgl. auch engl. whitecap (Welle), hardtop (Cabriolet), greenback (Dollar-Schein). Als Spitznamen für Menschen sind sie auch noch zu finden, vgl. Rotkäppchen, engl. Mad-Eye (bekannt als Figur in Harry Potter). Obwohl er Bildungen wie five-finger ‘fünf-Finger’ (Pflanzenname) zum Bahuvrīhi-Typus zählt, weist Marchand (1969: 387) auf ihren Ausnahmestatus hin: Sie stellen seiner Meinung nach eine Klasse von Lehnübersetzungen auf der Basis lateinischer Vorbilder dar (vgl. altengl. fīflēaf ‘quinquefolium’, ānhorn ‘unicorn’), die in den frühen Sprachstadien des Germanischen keine Entsprechungen unter den Determinativkomposita hatten. Sie waren die einzigen nominalen Possessiva, wo fast nur adjektivische Bildungen und Namen nach dem idg. Muster vorherrschten. Nach Whitney (1950: 505) kamen im Sanksrit Possessivkomposita mit Numerale als Erstglied nicht selten vor, vgl. ékapad ‘einfüßige (Ziege)’, aṣṭā́pad ‘achtfüßig’, návadvāra ‘neuntorig’. In den heutigen germanischen Sprachen sind einige Bildungen dieses Musters zu finden, vgl. Einrad, Dreieck, Fünfkampf, Siebenschritt; engl. three-act (tragedy) ‘Dreiakt-(Tragödie)’, five-star (hotel) ‘Fünfsterne(Hotel)’, während produktive Neubildungen heute als Zusammenbildungen mit explizitem Suffix entstehen (vgl. eintägig, sechsprozentig, vielstimmig, Einzeller, Beidhänder, Fünfachser; engl. four wheeler) bzw. als Erstglieder von Komposita wie Zweibettzimmer, Fünfachslastzug. Schon Henzen (1965: 78) hat auf Parallelen in der Bedeutung zwischen den Possessivkomposita und Zusammenbildungen hingewiesen, vgl. Langbein und langbeinig. In der modernen Sprachwissen-

potentiale Basis schaft ist man davon abgekommen, die Possessivkomposita als Bildungen mit einem Nullsuffix anzusehen (vgl. Bloomfield 1933; 231, 236; Marchand 1969: 386–389; Kastovsky 1992; und ten Hacken 2010). Ihre exozentrische Bedeutung wird meist durch einen semantischen Verschiebungsprozess der Metonymie erklärt, vgl. Booij (2002: 143f.), Fleischer/Barz (2012: 179) und Bierwisch (2015: 1125). Susan Olsen ≡ Bahuvrīhi ↔ endozentrisches Kompositum → § 22; Determinans-Determinatum-Struktur; Determinativkompositum; exozentrisches Kompositum; Kompositum; Kopulativkompositum; Zusammenbildung ⇀ Possessivkompositum (HistSprw) ⇁ possessive compound (Woform)

🕮 Bierwisch, M. [2015] Word-formation and metonymy. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] WordFormation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1099–1128 ◾ Bloomfield, L. [1933] Language. London ◾ Booij, G. [2002] The Morphology of Dutch. Oxford ◾ Erben, J. [1983] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 2. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Kastovsky, D. [2009] Diachronic perspectives. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Compounding. Oxford: 323–340 ◾ Lindner, T. [2011–2018] Indogermanische Grammatik. Band IV: Wortbildungslehre. Teilband 1: Komposition. Teilband 2: Komposition im Aufriß. Heidelberg ◾ Lindner, T. [2019] Historische Metalinguistik. Bd. I: Indogermanische Kompositionslehre. Salzburg [etc.] ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Mayrhofer, M. [1965] Sanskrit-Grammatik mit sprachvergleichenden Erläuterungen. Berlin ◾ Paul, H. [1920] Deutsche Grammatik. Bd. V: Wortbildungslehre. Halle/Saale ◾ ten Hacken, P. [2010] Synthetic and Exocentric Compounds in a Parallel Architecture. In: Olsen, S. [ed.] New Impulses in WordFormation. Hamburg: 233–251 ◾ Whitney, W.D. [1950] Sanskrit Grammar. Cambridge, MA [Unter: https://en.wikisource.org/ wiki/Sanskrit_Grammar_(Whitney). Letzter Zugriff 16.06.2021].

postpositiv ≡ final (2)

potentiale Basis

Element, das in einem morphologischen Prozess die Basis sein könnte. ▲ potential base: element which could be used as the base in a morphological process. Das engl. Wort koreanize ist nicht in Wörterbüchern wie dem Oxford English Dictionary verzeichnet, vermutlich deshalb, weil es keinen ge-

P

potentielles Wort 558 sellschaftlichen Bedarf nach einem Wort gibt, das einen solchen Prozess bezeichnen würde. Unabhängig davon, ob Koreanize ein tatsächliches Wort des Englischen ist, ist klar, dass Korean eine potentiale Basis einer Suffigierung mit -ize ist, und es gibt parallele tatsächliche Wörter wie Americanize, Normanize, organize.

→ Produktivität ⇁ potential base (Woform)

Laurie Bauer

🕮 Bauer, L. [2001] Morphological Productivity. Cambridge [etc.].

potentielles Wort ≡ mögliches Wort

Potenzierung

Umstand, dass ein Affix oder ein Prozess eine Basis erzeugen kann, die sich dann innerhalb der Domäne eines anderen Affixes oder eines anderes Prozesses befindet. ▲ potentiation: name for the circumstance that an affix or a process can create a base which falls in the domain of another affix or process.

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Die engl. Bezeichnung „potentiation“ (dt. Potentizierung) stammt von Williams (1981: 250), der u.a. englische Präfixverben mit en- diskutiert, die durch das Suffix -ment nominalisiert werden, vgl. endearment ‘Beliebtheit’, entombment ‘Beerdigung’, enactment ‘Erlassung’. Die trivialsten Fälle von Potenzierung stellen Affixe dar, die Verben bilden, die ihrerseits alle Verbalflexionen zeigen. Durch die Affigierung mit -ize wird aus dem Nomen hospital das Verb hospitalize, und dies potenziert die Suffigierung mit -(e)d, denn es kann daraus hospitalized gebildet werden. Interessantere Fälle, in denen ein Derivationsaffix ein anderes Affix potenziert, sind dagegen viel seltener. Ein klares Beispiel aus dem Englischen ist, dass das Suffix -able das Suffix -ity potenziert, d.h., dass jedes Adjektiv auf -able durch die Affigierung mit -ity nominalisiert werden kann, vgl. learnability ‘Learnbarkeit’, testability ‘Prüfbarkeit’, distinguishability ‘Unterscheidbarkeit’.

→ affixale Domäne; Produktivität ⇁ potentiation (Woform)

Laurie Bauer

🕮 Bauer, L. [2001] Morphological Productivity. Cambridge [etc.] ◾ Williams, E. [1981] On the Notions „Lexically Related“ and „Head of a Word“. In: LingInqu 12: 245–274.

Präfix

Affix, das vor seiner Basis steht. ▲ prefix: affix that precedes its base. Ein Präfix wird vorn an eine Basis angefügt, die einfach (monomorphemisch) oder komplex sein kann, z.B. un- in un-echt, un-brauchbar, un-vorteilhaft. Der Terminus Präfix tritt in der lat. Form praefixum seit dem frühen 17. Jh. in Beschreibungen semitischer Sprachen auf und wurde erst im 19. Jh. auf andere Sprachen übertragen (s. Lindner 2012: 146f.). In manchen Sprachen sind analoge Wortbildungen mit einheimischen Mitteln verbreitet, z.B. ndl. voor-voegsel, lett. prie-dēklis, finn. etuliite. Dt. Vorsilbe ist insofern irreführend, als der Ausdruck eines Affixes nicht mit einer phonologischen Silbe übereinstimmen muss (vgl. russ. s-pisat’ ‘ab-schreiben’ und pere-pisat’ ‘úm-schreiben’ neben pod-pisat’ ‘unter-schreiben’). Präfixe sind in den Sprachen der Welt weit weniger häufig als Suffixe, auch wenn es einzelne Sprachfamilien oder Sprachen gibt, in denen Präfixe dominieren (s. Hall 2000; Montermini 2008). In den europäischen Sprachen ist die Flexionsmorphologie ganz überwiegend suffigierend, während Präfixe oft eine wichtige Rolle in der Derivationsmorphologie spielen. Dabei gehört das Derivat häufig zu derselben Wortart wie die Basis, und manche Präfixe können auch mit Basen verschiedener Wortart verbunden werden. Wortartändernde Präfixe (vgl. katal. a- in a-jornar ‘vertagen’ zu jorn ‘Tag’, tschech. z- in z-většit ‘vergrößern’ zu větší ‘größer’) sind ein Problem für die right-hand head rule, nach der stets der rechte Teil eines komplexes Wortes als der Kopf fungiert, der seine Eigenschaften (unter anderem die Wortart) an das Wort als Ganzes weitergibt. In den slavischen Sprachen sind Präfixe das primäre Mittel zur Ableitung perfektiver Verben von imperfektiven (z.B. russ. na-pisat’ zu pisat’ ‘schreiben’), und im Deutschen werden – freilich weitaus weniger systematisch – Aktionsarten auf die gleiche Weise ausgedrückt (z.B. er-raten zu raten). Ferner dienen Verbpräfixe unter anderem zur Angabe von Ort oder Richtung (z.B. poln. wy-ciągnąć ‘heraus-ziehen’) sowie davon abgeleiteten übertragenen Bedeutungen (z.B. poln. wy-mazywać ‘auswischen’), doch ist die Bedeutung des Derivats in vielen Fällen nicht (mehr) aus den Bestandteilen

559 Präfixderivat vorhersagbar (z.B. unter-nehmen). Für germanische Sprachen und das Ungarische sind „trennbare Verbpräfixe“ typisch, die zwar mit ihrer Basis phonologisch ein Wort bilden, aber nicht grammatisch, z.B. um in man muss den Klotz úmfahren, er fährt den Klotz um, er hat den Klotz úmgefahren (gegenüber untrennbarem man muss den Klotz umfáhren, er umfährt den Klotz, er hat den Klotz umfáhren). Hier handelt es sich also nicht um wirkliche Präfixe, sondern um Präklitika, für die auch die Bezeichnung Präverb verwendet wird. Im nominalen Bereich dienen Derivationspräfixe vielfach zur Bildung von Antonymen (vgl. armen. an-havasar ‘un-gleich’, poln. nie-przyjaciel ‘un-Freund [Feind]’) sowie zur Gradation oder Intensivierung (vgl. isl. af-gamall ‘sehr-alt’, obersorb. naj-chud-š-i ‘sup-arm-komp-n.sg.m’, Superlativ zu chud-y ‘arm-n.sg.m’, westfries. troch-earlik ‘durch-ehrlich [durch und durch ehrlich]’). Sie können aber auch ein breites Spektrum anderer Bedeutungen ausdrücken (vgl. engl. ex-president, niederl. mede-werker ‘Mit-Arbeiter’, breton. gougleze ‘dim-Schwert [Dolch]’). Diachron entstehen Präfixe oft aus Partikeln (mit Klitika als Übergangsstadium) oder aus Kompositionsgliedern. Dabei gibt es unterschiedliche Meinungen dazu, ob z.B. Riesen- in Riesenerfolg, Riesenarbeit, Riesenhunger usw. noch ein Kompositionsglied ist oder bereits ein Präfix, oder ob es zu einer Zwischenkategorie Präfixoid gehört. Joachim Mugdan

↔ Suffix → § 14, 23; Affix; kategorieveränderndes Präfix; Partikel; Präfixoid; righthand head rule; verbales Präfix

⇀ Präfix (Gram-Formen; QL-Dt; CG-Dt) ⇁ prefix (Typol; CG-Engl)

🕮 Hall, C.J. [2000] Prefixation, suffixation and circumfixation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1) Berlin [etc.]: 535–545 ◾ Lindner, T. [2012] Indogermanische Grammatik. Bd. IV/1 Komposition, Lfg. 2. Heidelberg ◾ Montermini, F. [2008] Il lato sinistro della morfologia. La prefissazione in italiano e nelle lingue del mondo. Milano.

Präfix, kategorieveränderndes → kategorieveränderndes Präfix

Präfix, negierendes → Negationspräfix

Präfix, trennbares → Verbpartikel

Präfix, untrennbares → verbales Präfix

Präfix, verbales → verbales Präfix

Präfix, verdunkeltes → verdunkeltes Präfix

Präfixalternanz ≡ Präfixvariation

Präfixderivat

Ergebnis der Präfixderivation, bei der links an den Stamm ein Präfix angefügt wird. ▲ prefixation: result of prefixal derivation, in which a prefix is attached to the left of a stem. Präfixderivate sind komplexe Wörter, die aus einem Präfix und einem einfachen oder komplexen Stamm als Zweitglied bestehen (unsauber, Urgroßmutter). Zu unterscheiden sind nominale, adjektivische und verbale Präfixderivate. Nominale und adjektivische Präfixe verändern die Wortart ihrer Derivationsbasis nicht; sie modifizieren deren Bedeutung. Wie beim Kompositum bestimmt demnach auch in Präfixderivaten mit nominaler und adjektivischer Basis das Zweitglied, der Kopf, die morphosyntaktischen Eigenschaften des Derivats. Für beide Basiswortarten werden die gleichen Präfixe genutzt (Unsitte, unklar, Urvater, uralt). Verbale Präfixe modifizieren typischerweise Verben (begreifen, erringen), leiten aber darüber hinaus auch aus Nomen und Adjektiven Verben ab (entvölkern, befeuchten). Die wortbildungstheoretische Einordnung der denominalen und deadjektivischen Verben als Präfixderivate basiert auf der Auffassung, dass Präfixe in diesen Fällen die Verbalisierungsfunktion übernehmen (Olsen 1986: 102). Alternative Betrachtungsweisen diskutiert Donalies (2005: 121).

→ § 23; Derivat; Präfix; Stamm

Irmhild Barz

🕮 Donalies, E. [2002] Die Wortbildung des Deutschen. Tübingen ◾ Eisenberg, P. [2013] Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 4., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart [etc.] ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Olsen, S. [1986] Wortbildung im Deutschen. Eine Einführung in die Theo-

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Präfixderivation 560 rie der Wortstruktur. Stuttgart ◾ Stepanowa, M.D./ Fleischer, W. [1985] Grundzüge der deutschen Wortbildung. Leipzig.

Präfixderivation → Präfixderivat

Präfixkombination ≡ Doppelpräfix

Präfixkomposition

Prozess oder Ergebnis der Bildung eines komplexen Wortes aus Präfix und Wortstamm. ▲ prefix composition: process or result of the formation of a complex word consisting of a prefix and a word stem.

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Der Terminus Präfixkomposition entstammt der Wortbildungsforschung des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In der diachron-etymologischen Betrachtungsweise dieser Zeit wird Wortbildung mit Präfixen nach Grimm noch als Komposition aufgefasst. Begründet wird diese Sicht zum einen mit dem Wortstatus der Präfixe in älteren Sprachstufen, vgl. z.B. ver-, das aus den selbstständigen Präpositionen got. faur ‘vor, vorbei’, fra ‘weg’ und fair ‘heraus, hindurch’ hervorgegangen ist. Zum anderen wird postuliert, dass Präfixe ‒ anders als Suffixe ‒ nicht „die Fähigkeit besitzen, in andere Wortarten hinüberzuführen“ (Henzen 1965: 34). Da Präfixe wie auch Suffixe gebundene Morpheme mit modifizierender oder transponierender Funktion sind, ordnet man Präfixbildungen in der gegenwartssprachlichen Wortbildung der Wortbildungsart Derivation zu.

→ Modifikation; Transposition

Irmhild Barz

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [1997] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Grimm, J. [1826] Deutsche Grammatik. Zweiter Theil. Göttingen ◾ Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Paul, H. [1920] Deutsche Grammatik. Bd. V: Wortbildungslehre. Halle/Saale ◾ Stepanowa, M.D./ Fleischer, W. [1985] Grundzüge der deutschen Wortbildung. Leipzig.

Präfixkonversion

Bildung eines Präfixverbs, das aus einem Präfix und einem nichtverbalem Stamm besteht. ▲ prefix conversion: formation of a verb consisting of a prefix and a non-verbal stem. Beispiele für Präfixkonversion sind verblöden,

umarmen, entkernen, erbittern, überdachen. Da diese Verben von Nomen bzw. Adjektiven ohne Zuhilfenahme eines Suffixes abgeleitet wurden (verblöden < blöd; umarmen < Arm), scheint die Konversion eine Rolle zu spielen. Allerdings sind die Verben nicht durch Konversion des Adjektivs bzw. des Nomens zum Verb mit anschließender Präfigierung entstanden, da der erste Schritt ein Verb ergibt, das ohne Präfix nicht akzeptabel ist (sie verblödeten/*blödeten). Ein analoges Phänomen tritt bei Partikelverben auf (loseisen, einmotten, ausufern, aufmöbeln, hineingeheimnissen, anreichern; engl. wise up, pig out). Weil das Phänomen wenig bekannt ist, ist der Terminus „Partikelkonversion“ nicht üblich. Um dem Problem der Präfixkonversion beizukommen wird in einigen Werken entgegen der „righthand head rule“ das Präfix als Kopf der Konstruktion betrachtet, vgl. Donalies (2005: 121). Problematisch für diese Analyse ist die starke/unregelmäßige Flexion deverbaler Präfixverben (sie verschwanden), die gegen die Kopfanalyse des Präfixes spricht. In einer zweiten möglichen Analyse (vgl. Di Sciullo 1997) wird zuerst das Präfix mit dem Stamm kombiniert und erst dann ein Kategoriewechsel vorgenommen. Diese Analyse ist für eine Unterklasse von Präfix- und Partikelverben denkbar, in der Präverb und Stamm wie eine Präpositionalphrase interpretiert werden, vgl. übernachten (vs. über Nacht bleiben), unterjochen, umhalsen, aufbahren, anleinen, engl. encircle, entangle, emprison (en/em wäre in dieser Analyse eine gebundene Präposition mit der Bedeutung „in“). Eine dritte Analysemöglichkeit (s. Stiebels 1998) rekurriert auf sogenannte virtuelle Formen, also Formen, die in einer morphologischen Derivation benutzt werden, obwohl sie nicht als freistehende Formen verwendbar sind (vgl. Weichenstelle vs. *Steller oder einbeinig vs. *beinig). Eine vierte Analyse (die Stiebels für gewisse denominale Verben vertritt) besteht in der Annahme, dass das Präfix mit einer abstrakten verbalen Schablone kombiniert wird, die ein Nomen inkorporiert. Andrew McIntyre

→ § 23; Konversion; Partikelverb; Präfix; righthand head rule

🕮 Di Sciullo, A.M. [1997] Prefixed verbs and Adjunct Identification. In: Di Sciullo, A.M. [ed.] Projections and Interface Conditions. Oxford: 52–74 ◾ Donalies, E. [2005] Die Wortbildung des Deutschen. Ein Überblick. 2., überarb. Aufl. Tübingen ◾

561 Präfixvariation Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Stiebels, B. [1998] Complex denominal verbs in German and the morphology-semantics interface. In: Booij, G.E./ van Marle, J. [eds.] YbMo 1997. Dordrecht [etc.]: 265–302.

Präfixoid

Bestandteil eines Wortes, dessen Klassifikation als erstes Kompositionsglied oder als Präfix gewisse Schwierigkeiten bereitet. ▲ prefixoid; semi-prefix: part of a word that is somewhat difficult to classify as either a first member of a compound or as a prefix. Der Terminus Präfixoid, neben dem auch Halbpräfix (engl. semi-prefix, frz. demi-préfixe, russ. poluprefiks) gebräuchlich ist, ist in seiner ital. Form bei Bruno Migliorini (1935: 14) für Elemente wie aero-, moto- usw. belegt und wird im Englischen weiterhin für ein gebundenes Element benutzt, zu dem es kein entsprechendes Simplex gibt (auch combining form oder Konfix genannt), zuweilen mit der zusätzlichen Einschränkung, dass ein Präfixoid nur mit Elementen kombiniert wird, die ebenfalls gebunden sind, z.B. engl. philoin philology (s. Stein 1977: 146). Wohl unabhängig davon machten russische Autoren von dem Terminus Gebrauch, und darauf dürfte seine Verwendung durch Germanisten in der DDR (s. Fleischer 1972: 137) und bald auch anderen Ländern zurückgehen. So wurde es in deutschen Wortbildungslehren der 1970er und 1980er Jahre allgemein üblich, Präfixoide als Übergangskategorie zwischen ersten Kompositionsgliedern und Präfixen darzustellen, wobei als Standardbeispiele verstärkende und wertende Elemente wie Riesen- (in Riesenerfolg), Mist- (in Mistwetter), Spitzen- (in Spitzenergebnis) usw. dienten. Entscheidend für die Einstufung als Präfixoid waren vor allem die Reihenbildung (hohe Produktivität) und die vom entsprechenden Simplex abweichende Bedeutung. Der Grad der Produktivität ist jedoch kein überzeugendes Kriterium für die Unterscheidung zwischen Affix und Kompositionsglied, und grundsätzlich kann ein Kompositionsglied in nur einer der Bedeutungen des zugehörigen Simplex auftreten oder sogar in einer verwandten Bedeutung, die das Simplex nicht hat (s. z.B. Olsen 1988; 2014: 30–3). Daher können die genannten Fälle immer noch als Komposition gelten. Das bestä-

tigt auch die Wortbetonung auf dem Erstglied, im Unterschied zu dem Muster mìst Prǘfung ‘unangenehme, misslungene Prüfung’, wo mist als indeklinables Adjektiv fungiert (vgl. Grzega 2004). Andererseits kann man argumentieren, dass mit einer rein verstärkenden, von der Bedeutung des Simplex losgelösten Verwendung (vgl. niederl. reuze-jammer ‘riesen-schade’, was im Unterschied zu reuze-groot ‘riesen-groß’ nicht mehr mit wie ein Riese paraphrasierbar ist; schwed. svin-bra ‘schweine-gut’ mit positiver statt negativer Wertung) der Übergang zum Präfix schon vollzogen sei. Dagegen, bei Klassifikationsproblemen eine Zwischenkategorie für unklare Fälle einzuführen, spricht generell, dass damit eine doppelte Abgrenzung notwendig wird – hier zwischen Präfixoid und Präfix einerseits und Präfixoid und Kompositionsglied andererseits. Daher wird Präfixoid oft nicht als Bezeichnung einer eigenständigen Kategorie verstanden, sondern lediglich als Hinweis auf eine gewisse Abweichung vom prototypischen Kompositionsglied in Richtung Präfix. ≡ Halbpräfix → § 19; Affix; Affixoid; Konfix; Suffixoid ⇀ Präfixoid (HistSprw)

Joachim Mugdan

🕮 Fleischer, W. [1972] Tendenzen der deutschen Wortbildung. In: DaF 9: 132–140 ◾ Grzega, J. [2004] Ein Spítzenpolitiker ist nicht immer ein Spítzen-Polítiker. In: Mutterspr 114: 321–332 ◾ Migliorini, B. [1935] Il tipo radiodiffusione nell’italiano contemporaneo. In: ArchGlotIt 27: 13–39 ◾ Olsen, S. [1988] Flickzeug vs. abgasarm. Eine Studie zur Analogie in der Wortbildung. In: Gentry, F.G. [Hg.] Semper idem et novus. Festschrift for Frank Banta. Göppingen: 75–97 ◾ Olsen, S. [2014] Delineating Derivation and Compounding. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Derivational Morphology. Oxford: 26–49 ◾ Stein, G. [1977] English combining-forms. In: Ariste, P. et al. [Hg.] Linguistica IX (Tartu Riikliku Ülikooli Toimetised 437). Tartu: 140–148.

Präfix-Suffix-Derivation ≡ Zirkumfigierung

Präfixvariation

kontextabhängige formale Variante eines Präfixes. ▲ prefix allomorphy: contextually dependent formal variant of a prefix. Präfixvariationen sind komplementär verteilte unterschiedliche „Realisierungsformen eines Präfixes“ (Schmid 2005: 46). Sie sind das Ergeb-

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Präfixverb 562 nis einer Assimilierung des Präfixauslauts an den Anlaut der präfigierten Basis. Funktional und in Bezug auf die möglichen Basiswortarten unterscheiden sich Präfixvarianten nicht. Im Dt. kommen Präfixvarianten nur bei nicht nativen Präfixen vor, vgl. z.B. beim Adjektiv a-/​ an- (a|tonal, an|organisch), de-/des- (de|zentral, des|orientiert), in-/il-/im-/ir- (in|aktiv, il|legitim, im|materiell, ir|real), ko-/kol-/kon-/kor- (ko|operativ, kol|lateral, kon|genial, kor|relativ). Wie das Dt. kennen auch andere Sprachen bei Präfixen lat. Ursprungs Allomorphe: engl. insensitive, impossible, illegitimate, irrespective; ital. incoerente, impreciso, illegale, irrefutabile; frz. inactif, immobile, illogique, irréalisable. Im Russ. variieren z und s im Auslaut von Präfixen in Abhängigkeit von der Stimmhaftigkeit des Basisanlauts, vgl. raz-/ras- beim Adjektiv in razveselyj, rasprekrasnyj, ebenso vz-/vs- (vzvyt‘, vskružit‘) und voz-/vos- (vozvodit‘, voschodit‘) beim Verb. Phonologische, morphophonologische, morphologische und lexikalische Bedingungen der Allomorphie bei verschiedenen Morphemklassen erörtert Dressler (2016: 507ff.). ≡ Präfixalternanz → Präfix

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Irmhild Barz

🕮 Autorenk. [unter Leit. v. L. Wilske 1984] Die russische Sprache der Gegenwart. Bd. 4: Lexikologie. 2., unveränd. Aufl. Leipzig ◾ Dressler, W.U. [2015] Allomorphy. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 500–516 ◾ Eisenberg, P. [2012] Das Fremdwort im Deutschen. 2., überarb. Aufl. Berlin ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin ◾ Seewald, U. [1996] Morphologie des Italienischen. Tübingen ◾ Thiele, J. [1993] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Ein Abriß. 3., durchges. Aufl. Leipzig [etc.].

Präfixverb

mit einem Präfix versehenes Verb. ▲ prefix verb: verb containing a prefix.

Beispiele für Präfixverben sind bedecken, verstecken, entschwinden, zerreden, missverstehen; engl. offload, outdo, bestride. Eine Tradition in der deutschen Grammatikschreibung zählt auch Partikelverben wie ausgehen, wegbringen, hinzufügen trotz der Abtrennbarkeit der Partikel (ich bringe das weg) zu den Präfixverben. Die neuere Literatur lehnt demgegenüber mehrheitlich den widersprüchlichen Begriff eines „trennbaren

Präfixes“ ab. Bei Bedarf dient dann ein Begriff wie „Präverb“ oder „Verbzusatz“ als Oberbegriff für Präfixe und Partikel. In den germanischen Sprachen sind viele Verbpräfixe präpositionalen Ursprungs. Die Verbindung zu synchron vorhandenen freien Präpositionen ist in manchen Fällen nicht mehr erkennbar oder rein formaler Natur, sodass das die Semantik des Präfixes nicht mehr von der der Präposition (restlos) ableitbar ist (übergeben; engl. outlive, overturn). Ist aber eine klare synchrone Beziehung zu einer Präposition vorhanden, wie etwa in Präpositionsinkorporationsstrukturen wie wir überflogen/umsegelten die Insel, könnte man genauso gut von Komposition sprechen wie von Präfigierung. Andrew McIntyre

→ Präfix; Präpositionsinkorporation; trennbares Verb; Verbpartikel; Verbzusatz

⇀ Präfixverb (Gram-Formen; HistSprw)

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Kühnhold, I. [1973] Präfixverben. In: Kühnhold, I./ Wellmann, H. [1973] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. Bd. 1: Das Verb. Düsseldorf: 141–362 ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Miller, D.G. [1993] Complex Verb Formation. Amsterdam [etc.] ◾ Stiebels, B. [1996] Lexikalische Argumente und Adjunkte. Zum semantischen Beitrag von verbalen Präfixen und Partikeln. Berlin.

präpositionales Kompositum

lexikalische Einheit, deren Bestandteile durch eine Präposition verknüpft sind. ▲ prepositional compound: lexical item whose elements are linked by a preposition. „Präpositionales Kompositum“ ist eine Lehnübersetzung des französischen composé prépositionnel, das französische Wörter wie chemin de fer ‘Eisenbahn; lit. Strecke von Eisen’ oder fer à repasser ‘Bügeleisen; lit. Eisen zum Bügeln’ bezeichnet. Es ist in der Literatur kontrovers, ob solche Wörter als Komposita bezeichnet werden sollten oder nicht. Es handelt sich hier eindeutig um lexikalische Strukturen, aber dadurch, dass die gleichen Strukturen auch als syntaktische Einheiten auftreten können, könnten sie auch statt Komposita das Ergebnis von Univerbierung sein. Dennoch sind germanische Komposita und französische „composés prépositionnels“ oft Äquivalente, und aus der Sicht von germanischen Sprachen wirken sie wie Komposita: sac à main wird

563

predictability rate

im Deutschen als ‘Handtasche’ übersetzt, boîte à vitesses im Englischen als ‘gear box’ und conte de fée als ‘fairytale’. Englische Ausdrücke wie manat-arms, lady-in-waiting, man-of-war werden oft in gleicher Weise behandelt oder als Ausdrücke wie love of justice, piece of string or man of ideals, die syntaktisch identisch, aber weniger etabliert sind. Der entscheidende Faktor ist hier anscheinend die Geläufigkeit der jeweiligen Kombination.

war ursprünglich ein gebundenes Allomorph von bei) sowie auf die semantischen Parallelen zwischen ich befuhr die Straße und ich fuhr auf der Straße berufen. Eine solche Analyse ist freilich nicht die einzige Möglichkeit; man könnte dem Präfix jeglichen präpositionalen Status absprechen und es primär als Transitivierungspräfix analysieren. Ähnliche Fragen werden von Bakers (1988) Analyse von Applikativmorphemen als inkorporierte Präpositionen aufgeworfen.

→ Kompositum; linksköpfiges Kompositum; Univerbierung ⇁ prepositional compound (Woform)

→ Applikativ; Inkorporation; Präfixverb

Laurie Bauer

🕮 Bauer, L. [2001] Compounding. In: Haspelmath, M./ König, E./ Oesterreicher, W./ Raible, W. [eds.] Language Typology and Language Universals (HSK 20.1). Berlin [etc.]: 695–707 ◾ Fradin, B. [2009] IE, Romance: French. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Compounding. Oxford: 417–435 ◾ Kornfeld, L.M. [2009] IE, Romance: Spanish. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Compounding. Oxford: 436–452 ◾ Spence, N. [1969] Composé nominal, locution et syntagme libre. In: Linguistique 2: 5–26.

Präpositionsinkorporation

Bildung eines komplexen Verbs, das aus einem Verb und einer Präposition besteht. ▲ preposition incorporation: formation of a complex verb consisting of a verb and a preposition. Beispiele für Präpositionsinkorporation im Dt. sind Verben mit präpositionalen Präfixen wie in wir durchfuhren/umfuhren/überflogen die Stadt. Solche Sätze unterscheiden sich von den entsprechenden Sätzen mit vollwertigen Präpositionalphrasen darin, dass die Präposition eine morphologische Einheit mit dem Verb bildet. Der Begriff „Präpositionsinkorporation“ wird von manchen Autoren auf Konstruktionen ausgedehnt, die keine überzeugende Periphrase mit einer vollen Präpositionalphrase erlauben. In solchen Fällen spricht man von obligatorischer Inkorporation der Präposition. Das betrifft komplexe Verben mit idiomatischer Interpretation (das überstieg meine Erwartungen vs. *das stieg über meine Erwartungen), ebenso wie Präfixe, die zwar nicht (oder nicht mehr) als freistehende Präpositionen verwendet werden, aber trotzdem eine präpositionsähnliche Semantik zu haben scheinen. Beispielsweise könnte ein Linguist behaupten, dass das Präfix be- in ich befuhr die Straße eine inkorporierte Präposition ist, und sich dabei auf den diachronen Ursprung von be- als Präposition (be-

Andrew McIntyre

🕮 Baker, M.C. [1988] Incorporation. A Theory of Grammatical Function Changing. Chicago, IL [etc.] ◾ Haugen, J.D. [2015] Incorporation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 413–434 ◾ Miller, D.G. [1993] Complex Verb Formation. Amsterdam [etc.] ◾ Stiebels, B. [1996] Lexikalische Argumente und Adjunkte. Berlin ◾ Wunderlich, D. [1987] An investigation of lexical composition. The case of German be-verbs. In: Ling 25: 283–331.

Präverb

≡ Verbzusatz ⇀ Präverb (Gram-Formen)

predictability rate

statistisch zu ermittelnder Wert, der die Vorhersagbarkeit und somit den Akzeptabilitätsgrad einer jeden Lesart, die mit einer in Isolation präsentierten Neubildung assoziiert wird, anzeigt. ▲ predictability rate: statistically determined value which indicates the predictability and thus the acceptability of an interpretation associated with a novel compound presented in isolation. Mit Hilfe der predictability rate (Vorhersagbarkeitsrate) wird der Wahrscheinlichkeitsgrad, bis zu dem eine von mehreren potentiellen Lesarten einer Neubildung als zutreffend empfunden wird, berechnet. Die Berechnung erfolgt individuell für jede einzelne Lesart. Im Rahmen eines von Štekauer (2005) durchgeführten Experiments wurde beispielsweise u.a. die Bedeutungsvorhersagbarkeit der Neubildung baby book ermittelt. Von 40 Teilnehmern schrieben 38 dem Kompositum die Bedeutung ‘a book for babies (fairy tales, rhymes, pictures; drawings)’ zu, so dass diese 306 von insgesamt 400 Bewertungspunkten erhielt. Nach Štekauer (2005: 94f.) wird die predictability rate (PR) einer Lesart berechnet, indem man zunächst die

P

predictability rate, objectified 564 Anzahl der Teilnehmer, die sich für diese Lesart entschieden haben, durch die Anzahl aller Teilnehmer des Experiments dividiert. In einem zweiten Schritt wird die der Lesart zugewiesene Punktzahl durch die Gesamtpunktzahl dividiert. Die beiden durch diese Rechenschritte erzielten Ergebnisse werden dann miteinander multipliziert. Diese Schritt werden in der folgenden Formel festgehalten, vgl. (1): (1)

P

ܴܲ ൌ

‫ݎ‬ ‫݌‬ ൈ ܴ௠௔௫ ܲ௠௔௫

where r = the number of informants identifying a particular meaning as acceptable Rmax = the total number of informants p = the sum total of the points assigned to a given meaning by all informants (on a scale from 1 to 10, where 10 stands for the highest acceptability of the meaning) Pmax = the maximum possible number of points assignable by all informants Substituiert man nun die Variablen dieser Formel durch die oben spezifizierten Werte, so ergibt sich für die Lesart ‘a book for babies (fairy tales, rhymes, pictures; drawings)’ die hohe PR 0.727. Als weitere, ebenfalls relevante Lesarten wurden ‘a book about babies and how to take care of them’ (PR 0.312), ‘a book with photos of one's baby(ies)/ album; with records of baby's development (first steps, first word, …)’ (PR 0.227) und ‘a (very) small book’ (PR 0.157), die durch einen abnehmenden Akzeptabilitätsgrad gekennzeichnet sind, vorgeschlagen (2005: 105). Die Akzeptabilität einer Lesart und die damit korrelierende predictability rate werden durch die prototypischen Seme der durch eine Neubildung bezeichneten Klasse von Objekten beeinflusst. Das bedeutet, dass die Lesart einer Neubildung insbesondere dann akzeptabel ist, wenn sie aus prototypischen semantischen Komponenten konstruiert wird. Die mit baby book assoziierte Lesart ‘a book for babies (fairy tales, rhymes, pictures; drawings)’ verfügt z.B. über eine weitaus höhere predictability rate als die marginale Interpretation ‘a naïve, babyish book’. Der hohe Akzeptabilitätsgrad der ersten Lesart ist nach Štekauer darauf zurückzuführen, dass diese u.a. die prototypischen Seme [Listening Capacity ‘Hörkapazität]’ und [Perception by Watching ‘Wahrnehmung durch Beobachtung’] der mit

baby assoziierten Objektklasse sowie eines der prototypischen Seme der mit book assoziierten Objektklasse, nämlich [For Reading/Listening/ Perception by Watching ‘zum Lesen/Hören/Wahrnehmen durch Beobachtung’] aktiviert und dass die Seme dieser beiden Objektklassen kompatibel sind. Heike Baeskow

→ competition principle; objectified predictability rate; ono-

masiologische Wortbildungstheorie; Prototypikalität; Sem; Typikalität

🕮 Štekauer, P. [2005] Meaning Predictability in Word Formation. Novel, context-free naming units. Amsterdam [etc.].

predictability rate, objectified → objectified predictability rate

primary compound

endozentrisches Kompositum, dessen Interpretation nicht auf die Argumentstruktur der Kopf-Konstituente zurückgeführt werden kann. ▲ primary compound: endocentric compound whose interpretation is not entirely determined by its constituents. Obwohl der Terminus primary compound („primäres Kompositum“) im Deutschen nicht gebräuchlich ist, spielt er in der englischen Literatur eine nicht unbedeutende Rolle, indem er als Gegensatz zu Verbalkomposita (verbal compounds) verstanden wird. Primary compounds werden oft auch als root compounds bezeichnet, weil die Kerngruppe der primary compounds aus unabgeleiteten Bestandteilen, d.h. „roots“ (Wurzeln), besteht, wie bspw. Strandkleid, Bierkrug oder Haustier, deren Interpretation nicht auf die Relationalität eines der Bestandteile zurückzuführen ist, sondern grundsätzlich offen ist. So kann Holzschuppen sowohl als ‘Schuppen aus Holz’ als auch ‘Schuppen für Holz’ verstanden werden (vgl. Motsch 1970). Verantwortlich für die Ergänzung der impliziten Relation, die die zwei Bestandteile semantisch miteinander verbindet, ist die sogenannte Sachsteuerung. Allen (1978) spricht hier von einer variablen Relation (vgl. ihre „variable R condition“). Primary compounds werden in Kontrast zu den Verbal- oder synthetischen Komposita gesehen, deren Interpretation auf der Argumentstruktur der meist von einem Verb abgeleiteten Kopfkonstituente basiert. So

565 privativ erhalten selbst relativ ungeläufige Bildungen wie Klavier-Stimmer oder Beton-Wischer auf Anhieb eine eindeutige Deutung, die der Relationalität der Verben stimmen bzw. wischen entstammt. Die Annahme, dass es zwei voneinander getrennte Gruppen von Komposita ‒ „primary“ vs. „verbal“ ‒ gibt, die sich in ihrer Interpretation unterscheiden, ist dennoch irreführend. Grundsätzlich ist jedes endozentrische Kompositum offen in der Bedeutung und daher mehrdeutig, weil die Relation zwischen den Konstituenten in der Kon­ struk­tion nicht explizit zum Ausdruck kommt. Es kommen einerseits Komposita mit deverbalen Köpfen vor wie Unfallfahrer und Taschenrechner, deren Bedeutung nicht auf der Relationalität des zugrundeliegenden Verbs zurückgeht, sondern erschlossen werden muss: man fährt keinen Unfall und rechnet auch nicht Taschen. Die Relationen ‘(Unfall) bauen’ und ‘für (die Tasche)’ müssen ebenso wie bei den primary compounds anhand der Bedeutung der Bestandteile erschlossen werden. Andererseits finden sich Komposita, die zwar aus zwei nominalen Wurzeln bestehen, deren Interpretation dennoch eine Folge der Relationalität des nominalen Kopfs ist, vgl. Arztwitwe ‘Witwe des Arztes’, Dorfbürgermeister ‘Bürgermeister des Dorfs’ und Tischkante ‘Kante des Tisches’. Obwohl viele Darstellungen von der Distinktion „primary“ vs. „verbal“ ausgehen (z.B. Selkirk (1982), Spencer (1991) und Lieber (1994) u.v.m.), ist es besser anzunehmen, dass bei der Interpretation von Komposita eine Relation ergänzt werden muss, die prinzipiell mehrdeutig ist, aber durch gewisse Faktoren disambiguiert wird, wie bspw. die semantische Relationalität des Kopfs oder die Salienz der intendierten Relation im linguistischen oder situativen Kontext. Susan Olsen

↔ verbal compound → endozentrisches Kompositum; Komposition; Kopf; variable R condition

⇁ primary compound (Woform)

🕮 Allen, M.R. [1978] Morphological Investigations. Diss. Storrs, CT ◾ Lieber, R. [1994] Root Compounds and Synthetic Compounds. In: Asher, R.E./ Simpson, J.M.Y. [eds.] Encyclopedia of Language and Linguistics. Vol. VII. Oxford [etc.]: 3607–3610 ◾ Melloni, C. [2020] Subordinate and Synthetic Compounds in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 700–726 ◾ Motsch, W. [1970] Analyse von Komposita mit zwei nominalen Elementen. In: Bierwisch, M./ Heidolph, K.E. [eds.] Progress in Linguistics. The Hague [etc.]: 208–223 ◾ Olsen, S. [2012] The

Semantics of Compounds. In: Maienborn, C./ Heusinger, K./ Portner, P. [eds.] Semantics (HSK 33.3). Berlin [etc.]: 2120–2150 ◾ Selkirk, E. [1982] The Syntax of Words. Cambridge, MA [etc.] ◾ Spencer, A. [1991] Morphological Theory. Oxford [etc.].

privativ

semantische Eigenschaft von Wortbildungen, durch die das Entfernen oder Beseitigen, die vom Erwarteten abweichende Abwesenheit oder das Fehlen des durch die Basis bezeichneten Gegenstands ausgedrückt wird. ▲ privative: semantic property of word-formations by which the elimination or the unexpected absence or the lack of the entity denominated by the base is expressed. Neben der reinen Negation (‘nicht’) gibt es die Privation. Privative Bildungen drücken eine vom Normalen, vom Erwarteten abweichende Abwesenheit, ein Fehlen oder ein Entfernen von etwas aus: dt. den Fisch schuppen ‘die Schuppen entfernen’, engl. defrost the icebox ‘das Eis entfernen’. Beide Bedeutungen, Privation und Negation, können teilweise durch das gleiche Inventar an Wortbildungsmitteln ausgedrückt werden: dt. azentrisch ‘ohne Zentrum’ (Privation) – anormal ‘nicht normal’ (Negation); frz. décaféiné ‘entkoffeiniert’ (Privation) – défavorable ‘ungünstig’ (Negation). Obwohl die Privation schon bei Aristoteles Erwähnung findet, ist die Forschungslage bis heute uneinheitlich (Clarenz-Löhnert 2004: 69). Einerseits gilt die Privation als semantische Subklasse der Negation und steht als solche neben Kontradiktion und Kontrarität (vgl. Mollidor 1998: 33ff., Clarenz-Löhnert 2004: 69ff.), andererseits sieht man in ihr eine eigene Funktionsklasse außerhalb und neben der Negation (vgl. Klosa 1998: 34f.). Privative Bildungen sind in erster Linie Verben: dt. schälen, entkernen, entrahmen, entsteinen, aussteinen, engl. defrost, de-ice ‘enteisen’, decarbonize ‘entkohlen’. Daneben existieren vereinzelt substantivische oder adjektivische Bildungen mit privativer Wortbildungsbedeutung: dt. Disproportion, Disaffektation, atonische Muskulatur, vgl. Klosa (1996). Anja Seiffert

↔ ornativ → Negation; Privativum; reversativ; Wortbildungsbedeutung ⇀ privativ (Phon-Dt) ⇁ privative (Phon-Engl)

P

Privativum 566 🕮 Clarenz-Löhnert, H. [2004] Negationspräfixe im Deutschen, Französischen und Spanischen. Aachen ◾ Klosa, A. [1996] Negierende Lehnpräfixe des Gegenwartsdeutschen. Heidelberg ◾ Mollidor, J. [1998] Negationspräfixe im heutigen Französisch. Tübingen.

Privativum

semantisch bestimmte Gruppe von Wortbildungen, zumeist Verben, die ausdrücken, dass die durch die Basis bezeichnete Entität nicht oder nicht mehr vorhanden ist. ▲ privative formation: semantically determined set of word-formations, mostly verbs, which express that the entity denominated by the base is not or no longer present.

P

Privativa sind in erster Linie transitive Verben, dt. den Apfel schälen, den Fisch schuppen, engl. defrost the icebox. Sie drücken ein ‘Entfernen’ aus: schälen ‘die Schale entfernen’, de-ice ‘das Eis entfernen’. Unter den privativen Verben im Dt. gibt es zunächst einige desubstantivische Konversionen: häuten, köpfen, pellen, schälen, schuppen. Dieser Typ ist jedoch heute unproduktiv und wird ersetzt durch Ableitungen mit den Präfixen ab-, aus-, ent-: absahnen, ausmisten, entgräten (Wellmann 1998: 475). Uneinigkeit besteht hinsichtlich des Begriffsumfangs: In einem weiteren Sinne zählen zu den Privativa auch Bildungen wie dt. entrosten, entfristen, entwässern, frz. démasquer ‘demaskieren’, russ. obezoružit‛ ‘entwaffnen’, sogenannte Reversiva (Mollidor 1998: 7ff). Bildungen dieser Art bezeichnen einen aufhebenden Gegensatz (Henzen 1965: 106); die Umkehrung einer Handlung, das Rückgängigmachen eines Zustandes, der durch eine entsprechende oppositive ornative Bildung herbeigeführt wurde: dt. entrosten – verrosten; entfristen – befristen; frz. démasquer ‘demaskieren’ – masquer ‘maskieren‛, russ. obezoružit‛ ‘entwaffnen’ – vooružit‛ ‘bewaffnen’. In einem engeren Sinne bilden Reversiva und Privativa dagegen zwei distinktive semantische Klassen, wobei zu den Privativa (i.e.S.) keine Ornativa gebildet werden können (dt. entkernen – *bekernen, entgräten – *begräten). Für die meisten Privativa gilt zudem das Prinzip des tertium non datur: Kaffee ist entweder entkoffeiniert oder er enthält Koffein. Für Reversiva hat das Prinzip des tertium non datur zumeist keine Gültigkeit: X muss nicht entweder verrostet oder entrostet sein. Es besteht

auch die Möglichkeit, dass X nicht rostet. Es existiert demnach genau ein tertium (Mollidor 1998: 33ff., 54ff., Clarenz-Löhnert 2004: 69ff.).

Anja Seiffert

↔ Ornativum → Negation; Negationsaffix; Negationspräfix; reversativ; Wortbildungsantonymie

⇀ Privativum (Gram-Formen)

🕮 Clarenz-Löhnert, H. [2004] Negationspräfixe im Deutschen, Französischen und Spanischen. Aachen ◾ Eisenberg, P. [2006] Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3., durchges. Aufl. Stuttgart [etc.] ◾ Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Mollidor, J. [1998] Negationspräfixe im heutigen Französisch. Tübingen ◾ Wellmann, H. [1998] Die Wortbildung. In: Duden [1998] Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 6., neu bearb. Aufl. Mannheim [etc.]: 408–557.

produktiv

Eigenschaft eines Affix oder eines Wortbildungsprozesses, die zu einem bestimmten Zeitpunkt seine freie Nutzung in der Bildung neuer Wörter erlaubt. ▲ productive: property of an affix or word-formation process that allows it to be used freely in the coining of new words at a particular point in time. Obwohl die Bezeichnung „produktiv“ in der Literatur unterschiedlich verwendet wird, bevorzugen manche Theoretiker eine terminologische Unterscheidung zwischen dem Fall, in dem wir entscheiden, ob ein Affix oder ein Wortbildungsprozess verwendet werden kann, und dem Ausmaß, in dem es verwendet werden kann. Ersteres wird dann als die „Verfügbarkeit“ des Affixes oder des Wortbildungsprozesses bezeichnet. Kann das Suffix -ess im Englisch heute verwendet werden, um ein feminines Nomen zu bilden? Ja, es gibt Formen wie blokess ‘Kerl (Femininum)' und murdermongeress ‘Sensationsmörder (Femininum)'. -ess ist also auf dieser Sprachstufe verfügbar. Wenn wir allerdings akzeptieren, dass ein bestimmtes Affix oder ein bestimmter Wortbildungsprozess verfügbar ist, ist die Frage danach möglich, in welchem Umfang es auch genutzt wird – dies ist die Frage nach der Profitabilität des Affixes oder des Wortbildungsprozesses. Wir könnten also danach fragen, ob das Suffix -ette während der Zeit zwischen 1950 und 2000 mehr oder weniger profitabel ist als das Suffix -ess. Das Oxford English Dictionary legt nahe, dass -ette öfter an der Bildung neuer Wörter beteiligt ist als -ess, weil es hier mehr relevante Neubildungen auflistet. Die

567 Produktivität Evidenz hierfür ist die Liste von Wörtern wie diskette, jockette, ladette und sockette. Es gibt viele Fragen danach, wie Produktivität zu messen sei, welche Arten von Restriktionen die Produktivität beschränken und ob es Zwischenstufen auf der Skala von Profitabilität gibt (wie etwa solche, die als Semiproduktivität oder Aktivität etikettiert werden). Produktivität wird oft als die Erweiterung des Wortschatzes durch Regeln angesehen, Kreativität dagegen als eine Erweiterung des Wortschatzes auf unvorhersagbare Weise. Laurie Bauer

↔ unproduktiv → aktiv; Kreativität; Produktivität; Profitabilität; Verfügbarkeit ⇁ productive (Woform)

🕮 Bauer, L. [2001] Morphological Productivity. Cambridge [etc.] ◾ Corbin, D. [1987] Morphologie dérivationnelle et structuration du lexique. 2 vols. Tübingen ◾ Plag, I. [1999] Morphological Productivity. Structural Constraints on English Derivation. Berlin [etc.].

Produktivität

Potential eines Affixes oder eines Wortbildungsprozesses, zu einem bestimmten Zeitpunkt bei der Bildung neuer Wörter frei verwendet werden zu können. ▲ productivity: potential of an affix or a word-formation process to be used freely in the coining of new words at a particular point in time. Die Struktur von Wörtern ist in dem Sinne transparent, dass bestimmte Teilstrukturen mit Bedeutungen und Funktionen analysiert werden können. So kann engl. warmth in warm ‘warm’ und -th zerlegt werden (das die Funktion hat, ein Nomen zu bilden), wetness in wet ‘nass’ und -ness (das die Funktion hat, ein Nomen zu bilden) – beide sind transparent. Anders bei einem Beispiel wie engl. lord, das sich etymologisch von Elementen mit den Bedeutungen ‘loaf + ward’ (dt. ‘Laib + Aufseher’) herleiten lässt, aber für Sprecher des heutigen Englisch nicht mehr transparent ist. Die Struktur von lord ist opak, während die von warmth und wetness transparent sind. Warmth und wetness unterscheiden sich aber auf andere Weise. Während nach dem Muster von wetness neue Wörter gebildet werden können, können nach dem Muster von warmth keine neuen Wörter entstehen. Gäbe es ein semantisch mit warm nicht verwandtes Adjektiv thwarm, wäre die Bildung einer nominalisierten Form thwarmth sehr

unwahrscheinlich, die Bildung der Form thwarmness hingegen sehr wahrscheinlich. Das Suffix -ness ist im gegenwärtigen Englisch produktiv, -th hingegen ist es nicht. Diese Tatsache hat eine Reihe von Implikationen. Erstens sind wahrscheinlich alle Wörter im Englischen mit dem Suffix -th bekannt und könnten im Prinzip ausgezählt werden, während es grundsätzlich unmöglich ist, alle Wörter des gegenwärtigen Englisch mit dem Suffix -ness zu kennen. Zudem sind mehr Wörter mit -ness als mit -th zu erwarten, und die Wahrscheinlichkeit, ein neues deadjektivisches Nomen mit -ness zu finden, ist weitaus höher als für ein neues deadjektivisches Nomen mit -th. Für Korpuslinguisten bedeutet dies, dass ein Hapax legomenon mit -ness in einem umfangreichen Korpus wahrscheinlicher ist als ein Hapax legomenon mit -th (Baayen 1992, 1993). Auf den realen Sprachgebrauch übertragen heißt das, dass es für einen Sprecher wahrscheinlicher ist, als nächstem unbekannten Wort einer Bildung mit -ness als mit -th zu begegnen. An dieser Stelle wird als drittes Suffix -ity wie in nudity zu der Liste hinzugefügt. Trotz der Schreibweise sind nud- (engl. nude ‘nackt’) und -ity (mit der Funktion, ein Nomen zu bilden) erkennbar, so dass nudity analysierbar ist. Die Tatsache, dass Sprecher thwarmity nicht bilden würden, könnte vermuten lassen, dass -ity sich wie -th verhält. Allerdings unterscheiden sie sich darin, dass während sich kein Adjektiv finden lässt, das mit einem -th nominalisiert werden würde, ein Adjektiv thwarmable wahrscheinlich thwarmability gebildet werden würde. Thwarmableness zu bilden mag möglich sein, aber thwarmability scheint hier die wahrscheinlichere Bildung zu sein. Für das Suffix -able lässt sich feststellen, dass es die weitere Suffigierung mit -ity potenziert. Andererseits wäre für ein Adjektiv thwarmed (nach dem Muster von related ‘verwandt’ oder worried ‘besorgt’) die Bildung thwarmedness viel wahrscheinlicher als thwarmedity. Dies impliziert zweierlei. Erstens: Produktivität ist nicht unbedingt einfach der Umstand, dass ein morphologischer Prozess (wie die Suffigierung mit -ity) genutzt werden kann oder nicht. Diese schlichte Ja/Nein-Frage wird gegenwärtig manchmal mit dem Begriff der Verfügbarkeit (engl. availability, frz. disponsibilité) erfasst. Das Suffix -th ist, anders als -ity und -ness, im gegen-

P

Produktivität 568

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wärtigen Englisch nicht verfügbar. Es stellt sich darüber hinaus die Frage nach dem Grad der Produktivität eines bestimmten morphologischen Prozesses – seiner Profitabilität (engl. profitability, frz. rentabilité) (Corbin 1987). Zweitens kann die Profitabilität als eine Funktion der Domäne des morphologischen Prozesses variieren. Die Domäne ist normalerweise morphologisch definiert (das vorangehende Suffix ist -able oder -ed), könnte aber im Prinzip auch anders definiert sein (z.B. durch soziolinguistische Faktoren oder durch Register). So wird z.B. das Suffix -ie, das im Englischen Nomina wie doggie und piggie bildet (orthographisch häufig doggy und piggy), viel häufiger in der Kommunikation mit Kindern verwendet als mit Erwachsenen und das Suffix -ity eher in wissenschaftlicher als in alltäglicher Kommunikation. In der Literatur gibt es unterschiedliche Auffassungen zum unterschiedlichen Gebrauch morphologischer Prozesse. Einige Autoren sehen diesen unterschiedlichen Gebrauch nicht als grammatisches, sondern als pragmatisches Phänomen. Für andere ist das Phänomen eindeutig grammatisch und Profitabilität kein wirkliches Problem mehr, wenn man die Domänen nur genau genug beschreiben kann, denn alle potentialen Basen eines bestimmten morphologischen Prozesses haben das gleiche Verwendungspotential, und die Tatsache, dass manche Wortbildungsprodukte geläufig sind und andere nicht, ist nicht relevant, vgl. van Marle (1985). Wieder andere erfassen die unterschiedlichen Grade von Profitabilität dadurch, dass sie dort von Semi-Produktivität oder Aktivität sprechen, wo es große, nicht vorhersagbare Lücken in der Profitabilität eines bestimmten morphologischen Prozesses zu geben scheint. Und manche Autoren betrachten die Profitabilität eines bestimmten morphologischen Prozesses als festen Bestandteil des grammatischen Verhaltens dieses Prozesses. Insbesondere für diese letzte Gruppe ist es wichtig, Profitabilität zu messen, und es sind eben hierfür auch unterschiedliche Vorschläge gemacht worden. Für manche steht Produktivität im Kontrast zu Kreativität, die dann beobachtet werden kann, wenn neue, morphologisch nicht komplexe Wörter gebildet werden oder wenn neue Wörter im allgemeinen Sprachgebrauch nicht nach etablier-

ten Mustern gebildet werden, wie etwa Analogiebildungen. Es stellt sich die Frage, ob morphologische Produktivität ein eigenständiges fundamentales Konzept ist oder ob sie auf eine oder mehrere einfachere Konstrukte reduziert werden kann. Diese einfacheren Konstrukte sind Frequenz, Regelhaftigkeit, Markiertheit (oder Natürlichkeit als deren Gegenteil), (morphophonemische und morphosemantische) Transparenz und Parsability (die mit Transparenz verwandt ist). Wenn auch bekannt ist, dass alle diese Faktoren mit einigen Teilen der Produktivität korrelieren, gibt es bisher noch keinen überzeugenden Nachweis dafür, dass Produktivität auf diese grundlegenderen Begriffe (bzw. auf eine Kombination aus ihnen) zurückführbar ist, und Produktivität muss zumindest vorerst als eigenständiges fundamentales Konzept der Morphologie angenommen werden. Für die Messung von Produktivität wurden verschiedene Verfahren entwickelt, die kontrovers diskutiert werden. Einen Überblick über gängige Messverfahren und deren Vor- und Nachteile bietet Kempf (2016: 66–88; 2021). Zu Produktivität und Produktivitätswandel vgl. die Forschungsüberblicke von Gaeta/Ricca (2015) und Scherer (2015). Laurie Bauer

→ § 18, 35, 37, 41; aktiv; avoid synonymy principle; Frequenz; Kreativität; Lücke; phonologische Durchsichtigkeit; Potenzierung; Profitabilität; unproduktiv; usuelles Wort; Verfügbarkeit; Wortbildungsaktivität ⇀ Produktivität (Gram-Syntax; Gram-Formen; CG-Dt; HistSprw; QL-Dt) ⇁ productivity (CG-Engl; Typol)

🕮 Baayen, H./ Renouf, A. [1996] Chronicling the Times: Productive Lexical Innovations in an English Newspaper. In: Lg 72: 69–96 ◾ Baayen, H. [1992] Quantitative Aspects of Morphological Productivity. In: Booij, G./ van Marle, J. [eds.] YbMo 1991. Dordrecht [etc.]: 109–149 ◾ Baayen, H. [1993] On Frequency, Transparency and Productivity. In: Booij, G./ van Marle, J.[eds.] YbMo 1992. Dordrecht [etc.]: 181–208 ◾ Baayen, H. [2001] Word Frequency Distributions. Berlin ◾ Bauer, L. [1992] Scalar Productivity and -lily Adverbs. In: Booij, G./ van Marle, J. [eds.] YbMo 1991. Dordrecht [etc.]: 185–191 ◾ Bauer, L. [2001] Morphological Productivity. Cambridge [etc.] ◾ Corbin, D. [1987] Morphologie dérivationnelle et structuration du lexique. 2 vols. Tübingen ◾ Gaeta, L./ Ricca, D. [2015] Productivity. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 842–858 ◾ Hay, J./ Baayen, H. [2002] Parsing and Productivity. In: Booij, G./ van Marle, J. [eds.] YbMo 2001. Dordrecht [etc.]: 203–235 ◾ Hay, J. [2001] Lexical Frequency in Morphology. Is Everything Relative? In: Ling 39/4: 1041–1070 ◾ Kempf, L.

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Prosodische Morphologie

[2018] Adjektivsuffixe in Konkurrenz. Wortbildungswandel vom Frühneuhochdeutschen zum Neuhochdeutschen. Berlin [etc.] ◾ Kempf, L. [2021] Methoden der Produktivitätsmessung in diachronen Korpusstudien. In: Ganslmayer, C./ Schwarz, C. [Hg.] Historische Wortbildung. Theorien – Methoden – Perspektiven. Hildesheim [etc.]: 23–52 ◾ Olsen, S. [1995] Produktive Wortbildung im Englischen und Deutschen. In: Ahrens, R./ Bald, W.-D./ Hüllen, W. [Hg.] Handbuch Englisch als Fremdsprache . Berlin: 110–114 ◾ Plag, I. [1999] Morphological Productivity. Structural Constraints on English Derivation. Berlin [etc.] ◾ Plag, I. [2003] Word-Formation in English. Cambridge ◾ Scherer, C. [2015]: Change in productivity. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1781–1793 ◾ Spencer, A. [2020] The Nature of Productivity (Including Word Formation Versus Creative Coining. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 1184–1202 ◾ van Marle, J. [1985] On the Paradigmatic Dimension of Morphological Creativity. Dordrecht.

Profitabilität

Eigenschaft eines Prozesses, eine hohe Anzahl von neuen Wörtern bilden zu können. ▲ profitability: property of a morphological process that allows it to be used to form a large number of new words.

Der Terminus profitability, von Carstairs-McCar­ thy (1992) eingeführt und inzwischen im englischsprachigen Raum allgemein gebräuchlich, ist die Übersetzung des französischen rentabilité, das von Corbin (1987) geprägt wurde. Profitabilität ist eine von zwei Unterformen von Produktivität. Ein morphologischer Prozess ist dann profitabel, wenn er eine hohe Anzahl neuer Wörter bildet.

→ produktiv; Produktivität; Verfügbarkeit ⇁ profitability (Woform)

Laurie Bauer

🕮 Bauer, L. [2001] Morphological Productivity. Cambridge [etc.] ◾ Carstairs-McCarthy, A. [1992] Current Morphology. London [etc.] ◾ Corbin, D. [1987] Morphologie dérivationnelle et structuration du lexique. 2 vols. Tübingen.

property mapping

Strategie zur kontextfreien Interpretation von Komposita, die sich darin äußert, dass eine oder mehrere Eigenschaften des Modifikatorkonzepts auf das Kopfkonzept abgebildet werden. ▲ property mapping: strategy in the context-free interpretation of compounds by which one or more properties of the modifier concept are mapped onto the head concept. Lassen sich zwischen zwei zu einem komplexen Konzept zu verbindenden Konzepten Gemein-

samkeiten konstatieren, so besteht eine Möglichkeit der Interpretation des resultierenden Kompositums in der Abbildung von Eigenschaften des Modifikatorkonzepts auf das Kopfkonzept. Wird diese von Wisniewski (1996) als property mapping bezeichnete Strategie z.B. auf das Kompositum box clock angewandt, so führt dies mit hoher Wahrscheinlichkeit zu der Lesart ‘a square clock’, da eine saliente Eigenschaft des Konzepts box – nämlich dessen Form – auf das Konzept clock übertragen wird; vgl. auch Fanselow (1981: 188ff.) bezüglich einer ähnlichen Idee aus linguistisch-semantischer Sicht. Je größer die Ähnlichkeit zwischen zwei Konzepten, desto höher die Anzahl der abzubildenden Eigenschaften. In extremen Fällen führt property mapping nach Wisniewski zur Hybridisierung zweier Konzepte, indem das neue, komplexe Konzept die Eigenschaften beider Einzelkonzepte teilt. So denotiert z.B. das Kompositum moose elephant ein Tier, das gleichermaßen Eigenschaften eines Elchs und eines Elefanten aufweist (1996: 436). Im Gegensatz zu der von Wisniewski als relation linking bezeichneten Strategie zur kontextfreien Interpretation von Komposita wird property mapping nur dann ausgelöst, wenn das Modifikatorkonzept mindestens ein Merkmal aufweist, das auch auf das Kopfkonzept zutrifft. Heike Baeskow

→ concept elaboration; komplexes Konzept; Konzeptkombination; Nomen+Nomen-Kompositum; relation linking

🕮 Fanselow, G. [1981] Zur Syntax und Semantik der Nominalkomposition. Tübingen ◾ Wisniewski, E.J. [1996] Construal and Similarity in Conceptual Combination. In: JMLg 35: 434–453.

Prosodische Morphologie

sprachwissenschaftliche Theorie über mögliche prosodische Beschränkungen in morphologischen Regeln. ▲ prosodic morphology: linguistic theory concerning possible prosodic constraints on morphological rules. Die Prosodische Morphologie ist eine im Rahmen der Generativen Linguistik entwickelte Theorie, die auf die Beschreibung und Erklärung möglicher prosodischer Restriktionen in morphologischen Regeln zielt (McCarthy/Prince 1986/1996). Der Fokus der Theorie lag ursprünglich vor allem auf Erscheinungen wie Reduplikation, In-

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Prosodische Morphologie 570

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figierung und Wortkürzung, die sich nicht ohne weiteres in Form einer linearen Aneinanderreihung von Morphemen beschreiben lassen. Die Beobachtung, dass die relevanten Regeln nie auf eine bestimmte Anzahl von Segmenten Bezug nehmen (Moravcsik 1978), legte die Idee nahe, das Augenmerk auf die prosodische, statt die segmentale, Struktur zu richten. Die formale Umsetzung dieser Idee zielte in erster Linie auf die Spezifizierung sogenannter templates (‘Schablonen’), die Übereinstimmungen etwa in der Form von Reduplikationsaffixen ausdrücken sollen. Die wesentlichen Thesen der Prosodischen Morphologie wurden wie folgt zusammengefasst (McCarthy/Prince 1998): (i) Templates sind mit Bezug auf die authentischen Einheiten der Prosodie definiert: More (µ), Silbe (σ), Fuß (Σ), Phonologisches Wort (ω). (ii) Die Erfüllung von templatischen Beschränkungen ist obligatorisch und durch prosodische Prinzipien determiniert. (iii) Die für morphologische Prozesse relevanten Domänen können sowohl morphologisch als auch durch prosodische Umschreibung definiert sein. Die Annahmen hinsichtlich der „authentischen Einheiten der Prosodie“ sowie der „prosodischen Prinzipien“ sind eng an spezielle, im Rahmen der Prosodischen Phonologie entwickelten Vorstellungen und Repräsentationen angelehnt, die in Abschnitt 1 vorgestellt werden. Formalismen wie templates und Prosodische Umschreibung, die den Bezug auf prosodische Strukturen in morphologischen Regeln ausdrücken sollen, werden in Abschnitt 2 erläutert. Abschnitt 3 verweist auf seither erfolgte Reanalysen der relevanten Regularitäten im Rahmen der Optimalitätstheorie und spricht einige ungeklärte Fragen an. 1. Grundlegende Arbeiten auf dem Gebiet der Prosodischen Morphologie sind durch einen wesentlichen Bezug auf spezifische theoretische Annahmen hinsichtlich der Wortprosodie geprägt (Selkirk 1980a, b). Eine zentrale Annahme betrifft die sogenannte Prosodische Hierarchie, die Dominanzbeziehungen zwischen bestimmten Konstituenten postuliert (s. (1a)). Ausnahmslos geltende Dominanzbeziehungen determinieren die Präsenz spezifischer Kopfkonstituenten (z.B. ein phonologisches Wort muss mindestens einen Fuß dominieren). Silben dominieren sogenannte Moren, die als Maßeinheiten

(1) a) ω ”Phonologisches Wort“ Σ ”Fuβ“ σ ”Silbe“ µ

More“



b) Leicht σ µ p a c) Schwer σ µµ p

a

d) Schwer σ µµ p a t für das Silbengewicht fungieren. Wesentlich ist hierbei der Unterschied zwischen leichten (monomoraischen) und schweren (bimoraischen) Silben, durch den sich etwa ein Kontrast zwischen kurzen und langen Vokalen wie in (1b) versus (1c) repräsentieren lässt. Die für manche Sprachen charakteristische Äquivalenz zwischen einer offenen Silbe mit langem Vokal und einer geschlossenen Silbe kommt in (1c) versus (1d) zum Ausdruck: in beiden Fällen werden bimoraische Silben angenommen. Mögliche Sonderbedingungen gelten am rechten Rand des phonologischen Worts: hier besteht die Möglichkeit, dass Konsonanten nie oder nur in bestimmten Kontexten zum Silbengewicht beitragen. Die Generalisierung, dass Segmente im Ansatz das Silbengewicht gewöhnlich nicht beeinflussen, findet ihren Ausdruck durch deren Assoziation direkt mit dem Silbenknoten. Der Bezug auf das Silbengewicht ist relevant für die Beschreibung von unterschiedlichen Fußtypen. Eine Grundannahme ist hier, dass Sprachen jeweils auf einen bestimmten Fußtyp festgelegt sind. In trochäischen Sprachen wird die erste von

571

Prosodische Morphologie

zwei Silben innerhalb des Fußes betont, in jambischen Sprachen erscheint die betonte Silbe am Fußende. Nach der Typologie von Hayes (1995) gilt, dass in trochäischen Sprachen beide Silben leicht sein müssen oder deren jeweiliges Gewicht unwichtig ist. Für jambische Sprachen hingegen gelte, dass die betonte Silbe gewöhnlich schwer, die vorangehende unbetonte Silbe hingegen leicht sei. Die hier besprochenen Repräsentationen und Theorien beruhen auf phonologischen Studien, die etwa diverse Akzentmuster oder Domänen für phonologische Regeln (z.B. Vokalharmonie) betreffen. Die wesentliche Behauptung der Prosodischen Morphologie ist, dass genau jene unabhängig begründeten prosodischen Strukturen den möglichen Bezug morphologischer Regeln auf Lauteigenschaften bestimmen. 2. Die wesentliche Rolle der in Abschnitt 1 skizzierten Annahmen hinsichtlich prosodischer Struktur für die Theorie der Prosodischen Morphologie findet ihren Ausdruck in formalen Konzepten wie templates oder Prosodische Umschreibung. Die Annahme von templates ist generell durch segmentale Varianz bei gleichzeitiger prosodischer Invarianz in morphologischen Ableitungen motiviert. Diese Bedingungen lassen sich anhand der partiellen Reduplikation in der Pluralbildung im Ilokano, einer auf den Philippinen gesprochenen austronesischen Sprache, veranschaulichen. (2) Singular

Plural

kál.díŋ

kál-kál.díŋ

‘Ziege’

klá.se

klás-klá.se

‘Klasse‘

ró.ʔot

róo-ró.ʔot

‘Müll‘

Die Übereinstimmungen in der Form der Reduplikationspräfixe motivieren demnach die Annahme eines templates, das als Pluralmarker aufgefasst werden kann. (Von anderen Affixen unterscheidet sich dieses Morphem nur durch die fehlende Spezifizierung der Segmente, die erst durch eine Art Kopierregel mit Bezug auf die Basissegmente festgelegt werden.) Hier zeigt sich sprachübergreifend, dass eine Spezifikation solcher templates durch eine Folge von (teils optionalen) Konsonanten und Vokalen (z.B. [(K)(K) V(V)(K)]) nicht geeignet ist, obligatorische versus optionale Aspekte der fraglichen Formen zu erfassen (McCarthy/Prince 1986/1996). Der Bezug auf prosodische, insbesondere moraische Struk-

turen löst das Problem (Hyman 1985). Legt man die Berechnung des Silbengewichts in (1b, c, d) zugrunde, so ließe sich etwa ein einheitliches template für die Reduplikationspräfixe im Ilokano als bimoraische Silbe „[µµ]σ“ spezifizieren. (Die Assoziation eines Vokals mit zwei Moren wird auch im Folgenden alternativ durch die Verdoppelung des Vokalsymbols ausgedrückt (z.B. /roµµ/ oder, informell, /roo/). Die Form der Reduplikationspräfixe im australischen Diyari veranschaulicht ein weiteres template, das aus einem trochäischen Fuß mit leichter (offener) Zweitsilbe ([σσµ]Σ) besteht. (3) Singular

Plural

wi.la

wi.la-wi.la

‘Frau’

tjil.par.ku

tjil.pa-tjil.par.ku

‘Vogelart‘

Dasselbe template ließe sich durch die Form von Wortkürzungen im Deutschen motivieren. (4) Vollform

Kurzwort

/do.ku.mɛn.tɑ.ˈtsion/

/ˈdo.ku/

/ɪn.fɔʀ.mɑ.ˈtsion/ < Information>

/ˈɪn.fo/

/de.mɔn.stʀɑ.ˈtsion/

/ˈde.mo/

Der Bezug auf die „authentischen“ prosodischen Konstituenten Phonologisches Wort, Fuß, Silbe und More bestimmt nicht nur die mögliche Form von templates sondern auch mögliche Positionen für Infigierung. Die wesentliche Behauptung lautet hier, dass eine nicht mit Bezug auf Morphemgrenzen festgelegte Positionierung von Affixen immer auf prosodische Konstituenten Bezug nimmt. Die fraglichen Konstituenten werden durch eine als Prosodische Umschreibung bezeichnete Zweiteilung der Basis festgelegt, bei der ein prosodisch determinierter Kern (engl. ‘kernel’) vom Rest (engl. ‘residue’) getrennt wird. Die Generalisierung lässt sich anhand der in (5) gezeigten Daten aus dem Ulwa, einer in Nicaragua gesprochenen Misumalpa-Sprache, veranschaulichen. Die Akzentregeln dieser Sprache lassen auf die reguläre Präsenz eines bimoraischen Fußes am linken Wortrand schließen (s. (5a)). Die Berechnung der Moren folgt dabei den in (1b, c, d) gezeigten Vorgaben. Ist der erste Vokal mit zwei Moren assoziiert, so besteht der Fuß nur aus diesem Vokal und dem vorangehenden Ansatz (z.B. (kiµµ)Σ). Ist der erste Vokal mit nur

P

Prosodische Morphologie 572 einer More assoziiert, so ergibt sich die Form des Fußes durch die silbische Organisation des Folgekonsonanten. Bildet dieser (bedingt durch die Position am Wortende oder vor einem weiteren Konsonanten) eine Koda und ist somit moraisch, so ist der bimoraische Fuß komplett (z.B. (aµsµ)Σ). Erscheint der Folgekonsonant im Ansatz und ist somit nichtmoraisch, so wird noch der folgende Kurzvokal eingeschlossen (z.B. (siµwaµ)Σ). Die prosodische Umschreibung des hier beschriebenen bimoraischen Fußes bewirkt dann die Unterteilung des Wortes in eine Kernkonstituente „K“ gegenüber der Restkonstituente „R“ (s. (5b)). Die Kernkonstituente dient schließlich als Bezug für die Platzierung des maskulinen Possessivmarkers /ka/ ‘sein’. Besteht die Basis nur aus dem Kern, so erscheint dieser Marker als einfaches Suffix, andernfalls erscheint er als Infix (s. (5c)). (5) a) Basisform

(kii)Σ

(kii)K

(kii)K-ka

(bas)K

(bas)K-ka

‘sein Haar’

(saná)K-ka

‘sein Reh’

(suu)Σlu

(suu)K(lu)R

(as)Σna

(as)K(na)R

(siwá)Σnak

(siwá)K(nak)R

(bas)Σ

(saná)Σ

P

b) Pros. Um- c) Possessivschreibung form

(saná)K

(suu)K-ka-lu (as)K-ka-na

‘sein Stein’ ‘sein Hund’ ‘seine Kleidung’

(siwá)K-ka-nak ‘seine Wurzel’

Eine vielbeachtete Analyse, die sowohl die auf Eingabeformen zielende prosodische Umschreibung, wie auch auf Ausgabeformen zielende templates einbezieht, betrifft die sogenannten „Gebrochenen Pluralformen“ im Arabischen (McCarthy/Prince 1990). Die Akzentmuster im Singular deuten auf die gleiche Art der Bildung eines bimoraischen Fußes am linken Wortrand wie im Ulwa hin (s. (6a)). Die Annahme, dass dieser Fuß durch die prosodische Umschreibung als Kern herausgegriffen wird (s. (6b)), ist der Schlüssel für eine systematische Beschreibung der Pluralund Diminutivformen. In beiden Fällen wird der fragliche Kern auf ein jambisches Template abgebildet, das die Form „[σµσµµ]Σ“ aufweist (vgl. (6b) mit (6c) oder (6d)). (Der Plural ist zudem durch die Assoziation aller drei Moren mit dem Vokal /a/ gekennzeichnet. Im Diminutiv hingegen werden diese mit der Folge /u, a, i/ assoziiert, wobei /i/ die Koda bildet.) Der Rest hingegen bleibt prosodisch unverändert, nur der Vokal wird in beiden Fällen durch /i/ ersetzt.

(6)

a) Singular

b) Pros. Umschr.

(súl)Σt̥ aan

(sul)K(t̥ aan)R (salaa)Σt̥ iin

(jún)Σdub

(jun)K(dub)R (janaa)Σdib

(jáa)Σmuus (jaa)K(muus)R

(ʕiná)Σb

c) Plural

(ʕina)K(b)R

d) Diminutiv (sulai̯ )Σt̥ iin

(junai̯ )Σdib

‘Sultan’ ‘Heuschrecke’

(jawaa)Σmiis (juwai̯ )Σmiis ‘Büffel’ (ʕanaa)Σb

(ʕunai̯ )Σb

‘Weintraube’

Die Analyse veranschaulicht das spezifische Erklärungspotenzial der Prosodischen Morphologie, insbesondere die durch unabhängige Prinzipien begründete Form des templates. Allerdings ist anzumerken, dass die fraglichen Prinzipien umstritten sind und somit auch die Voraussagekraft der Theorie und die Möglichkeit der Falsifizierung beeinträchtigt sind. So ist etwa die Spezifikation der leichten Zweitsilbe in dem in (3) und (4) veranschaulichten templates problematisch, da sie nicht in die von Hayes (1985) vorgeschlagene Fußtypologie passt. Mit Blick auf die Prosodische Morphologie handelt es sich hier um eine rein empirische Frage. Bestätigt sich die konkurrierende Auffassung, dass auch quantitätssensitive trochäische Füße möglich sind (s. die Evidenz aus dem Altenglischen (Dresher/Lahiri 1991)), so wäre die Annahme der moraischen Spezifizierung des fraglichen templates zulässig. Andernfalls wäre sie unzulässig. 3. Im Zuge der verstärkten Forschung zur Prosodischen Morphologie ergaben sich neue Erkenntnisse, die eine Weiterentwicklung des oben beschriebenen Modells in die Optimalitätstheorie zur Folge hatten (Prince/Smolensky 1993, McCarthy/Prince 1993). Insbesondere wurde erkannt, dass sich sämtliche Regularitäten als sprachspezifische Lösungen eines fundamentalen Konflikts zwischen zwei Arten von Beschränkungen analysieren lassen: phonologische Markiertheitsbeschränkungen, die auf möglichst unmarkierte Ausgabeformen zielen und Korrespondenzbeschränkungen, die darauf zielen, die in den Eingabeformen (z.B. in der morphologischen Basis) gegebene phonologische Struktur in den Ausgabeformen zu bewahren. Die Theorie sagt somit voraus, dass Abweichungen von der phonologischen Form von Basisformen (z.B. in Reduplikationsaffixen oder Kurzwörtern) sowie von einer linearen Abfolge von Morphemen notwen-

573 digerweise mit einem Abbau von phonologischer Markiertheit einhergehen (McCarthy/Prince 1995). Der Grund ist, dass solche Abweichungen nur durch höherrangige Markiertheitsbeschränkungen bedingt sein können. Dieser Effekt ist als TETU (The Emergence of The Unmarked) bekannt und erklärt z.B. die Beobachtung, dass templates immer einheitlicher und weniger komplex sind als die entsprechenden Basisformen. So erklärt sich die Beschränkung auf trochäische Kurzwörter in Sprachen, in denen Finalakzent recht häufig vorkommt, wie im Hebräischen (Bat-El 2005) oder auch im Deutschen (s. 4). Auch die als Prosodische Umschreibung bezeichneten Erscheinungen lassen sich mit Bezug auf sogenannte Bündigkeitsbeschränkungen erfassen, die den systematischen Zusammenfall der Grenzen zweier spezifischer Konstituenten verlangen (McCarthy/Prince 1995, Kager 1999). Die Art der Regelhaftigkeit in den oben erwähnten gebrochenen Pluralformen im Arabischen deutet auf die Korrespondenz der relevanten Fußgrenzen im Singular und Plural hin, wobei der Fuß in der abgeleiteten Form eine maximal unmarkierte, einheitliche Form aufweist. Die außerhalb dieser Füße bestehende Struktur ist schlicht durch völlige prosodische Korrespondenz gekennzeichnet. Selbst exotisch anmutende Regeln wie die gebrochenen Pluralformen des Arabischen folgen somit den gleichen Prinzipien wie etwa Affigierungen im Englischen, wo interagierende Markiertheits- und Korrespondenzbeschränkungen Allomorphie und phonologisch bedingte Lücken bewirken (Raffelsiefen 1996). Die Behauptung, dass Abweichungen von Korrespondenz und Linearität in morphologischen Regeln immer durch einen Abbau von Markiertheit bedingt sind, ist von einigen Autoren mit dem Verweis auf angeblich eindeutig nichtoptimierende Fälle etwa von Infigierung zurückgewiesen worden (s. Blevins 1999, Yu 2007, Paster 2009, für eine Gegenanalyse s. Raffelsiefen 2015). Eine abschließende Beurteilung solcher Fälle setzt ein umfassendes Verständnis von phonologischer Markiertheit voraus, deren Erforschung derzeit aber noch in den Anfängen steckt. Auch die Frage, inwieweit die Beschaffenheit von templates vollständig mit Bezug auf Beschränkungen erfasst werden kann, ist offen. Tatsächlich findet sich auch in neueren Arbeiten von

Prosodische Morphologie Vertretern der Optimalitätstheorie gelegentlich noch ein Bezug auf templates, die allerdings im Gegensatz zu den frühen Arbeiten in der Prosodischen Morphologie auf genau zwei Formen begrenzt sind: die einfache Silbe und den einfachen Fuß (McCarthy/Kimper/Mullin 2012). Schließlich stellt sich noch die Frage nach der Erklärung einer der Kernaussagen der frühen Prosodischen Morphologie, nämlich der angeblich ausgeschlossene Bezug auf die Anzahl von Segmenten in morphologischen Regeln. Ein solcher Ausschluss ist in seiner Absolutheit wohl abzulehnen. Im Deutschen etwa gilt eine Beschränkung, dass Morpheme mindestens zwei Phoneme enthalten müssen, die nur in Interjektionen (z.B. Oh!, Ah!) und den Namen für Vokalbuchstaben (/e/ , /o/ ) verletzt ist. Die zwei Phoneme müssen aus unabhängigen Gründen (prosodische Organisierbarkeit) einen potentiellen Nukleus einschließen, sind aber im Übrigen unbeschränkt: (7) /ɪs/ /ɡe/ /tu/ /øl/ /as/ /au/ /tsi/ /zæ/ /zi/ /ai/ /ʀo/ /ʃu/ Die Wichtigkeit der segmentalen Binaritätsbeschränkung zeigt sich in den -lich-Suffigierungen in (8). Die systematische Tilgung von wortfinalem Schwa unterbleibt, um die Präsenz von mindestens zwei Stammsegmenten zu gewährleisten. (8) Basisform /lɪç/-Ableitung /eʀə/ /eʀ+lɪç/ /eə/ /eə+lɪç/ Diese Generalisierungen verlangen weitere Forschung zur Klärung der möglichen Zähleffekte in morphophonologischen Regeln sowie zu der genauen Spezifizierung und unabhängigen Begründung der relevanten Markiertheitsbeschränkungen. Renate Raffelsiefen

→ Allomorph; Diminutivum; Infix; Kopf; Markiertheit;

Optimalitätstheorie; Reduplikation; Segmentierung; Subtraktionsregel; Wortkürzung ⇀ prosodische Morphologie (Phon-Dt) ⇁ prosodic morphology (Phon-Engl)

🕮 Bat-El, O. [2005] The emergence of the trochaic foot in Hebrew hypocoristics. In: Phonology 22: 115–143 ◾ Blevens, J. [1999] Untangling Leti infixation. In: OceLing 38/2: 383–403 ◾ Dresher, E./ Lahiri, A. [1991] The Germanic foot: Metrical coherence in Old English. In: LingInqu 22: 251–286 ◾ Hayes, B. [1995] Metrical Stress Theory: Principles and Case Studies. Chicago, IL ◾ Hyman, L. [1985] A Theory of Phonological Weight.

P

Prothese 574 Dordrecht ◾ Kager, R. [1999] Optimality Theory. Cambridge ◾ McCarthy, J./ Kimper, W./ Mullin, K. [2012] Reduplication in Harmonic Serialism. In: Morph 22: 173–232 ◾ McCarthy, J./ Prince, A. [1986/1996] Prosodic morphology 1986 (Report no. RuCCS-TR–32). New Brunswick, NJ ◾ McCarthy, J./ Prince, A. [1990] Foot and Word in Prosodic Morphology: The Arabic broken plural. In: NLg&LingT 8: 209–283 ◾ McCarthy, J./ Prince, A. [1993] Prosodic Morphology I: Constraint Interaction and Satisfaction (Report no. RuCCS-TR–3). New Brunswick, NJ ◾ McCarthy, J./ Prince, A. [1995] Faithfulness & Reduplicative Identity. In: Beckmann, J./ Walsh Dickey, L./ Urbanczyk, S. [eds.] University of Massachusetts Occasional Papers in Linguistics 18. Amherst, MA: 249–384 ◾ McCarthy, J./ Prince, A. [1998] Prosodic Morphology. In: Spencer, A./ Zwicky, A.M. [eds.] The Handbook of Morphology. Oxford: 283– 305 ◾ Moravcski, E. [1978] Reduplicative constructions. In: Greenberg, J. [ed.] Universals of Human Language. Vol. 3. Stanford: 297–334 ◾ Paster, M. [2009] Explaining phonological conditions on affixation. Evidence from suppletive allomorphy and affix ordering. In: WStr 2/1: 18–37 ◾ Prince, A./ Smolensky, P. [1993] Optimality Theory: Constraint Interaction in Generative Grammar (Report no.RuCCS-TR–2). New Brunswick, NJ ◾ Raffelsiefen, R. [1996] Gaps in Word Formation. In: Kleinhenz, U. [ed.] Interfaces in phonology. Berlin: 194–209 ◾ Raffelsiefen, R. [2015] Word-formation in Optimality Theory. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S/ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 158–187 ◾ Selkirk, E. [1980a] Prosodic domains in phonology: Sanskrit revisited. In: Aronoff, M./ Kean, M.-L. [eds.] Juncture. Saratoga, CA: 107–129 ◾ Selkirk, E. [1980b] The role of prosodic categories in English word stress. In: LingInqu 11: 563–605 ◾ Yu, A.C.L. [2007] The phonology-morphology interface from the perspective of infixation. In: Bisang, W./ Hock, H.H./ Winter, W./ Miestamo, M./ Wälchli [eds.] New Challenges in Typology. Berlin: 35–54.

P

Prothese

Anfügung eines Lautes am Wortanfang. ▲ prosthesis: addition of a sound at the beginning of a word. Unter Prothese (auch Prosthese) nach gr. prósthesis ‘Anfügung’ bzw. lat. prothesis ‘Vorsatz’ versteht man die silbenstrukturell motivierte Anfügung eines Lautes, zumeist eines Vokals, am Wortanfang. Die Prothese kann Resultat falscher Abtrennung an der Wortgrenze sein, z.B. dt. dial. nast < ein Ast. Weitere Beispiele sind etwa der Ortsname Merlach < im Erlach oder Alarm < ital. all’ arme ‘zu den Waffen’. Insbesondere tritt die vokalische und konsonantische Prothese (bevorzugt mit [v], [j], [g]) aber aus silbenstrukturellen Gründen auf (a) bei wortinitialen Konsonantenclustern, etwa im Frz. und Span., sowie (b) bei vokalischem Anlaut, etwa in verschiedenen slaw. und roman. Sprachen und Dialekten, z.B. (a) die e-Prothese bei der Entwicklung vom Lat. zu den roman. Sprachen: lat. spiritus ‘Geist’, stel-

la ‘Stern’, schola ‘Schule’ > span. espíritu, estrella, escuela bzw. > frz. esprit, étoile, école, (b) russ. vosem' ‘acht’ < urslaw. osmь, ital. dial. vˏott ‘8’ < otto, tschech. jeden ‘eins’ < urslaw. edinь, rum. el [jel] ‘er’ < lat. ille.

→ Grundmorphem ⇀ Prothese (HistSprw; Phon-Dt)

Eckhard Meineke

🕮 Sampson, R. [2009] Vowel Prosthesis in Romance. Oxford.

Prototypikalität

Eigenschaft eines Vertreters einer kognitiven Kategorie, aufgrund der hohen Anzahl von kategorienrelevanten Merkmalen als bestes Exemplar und somit als Prototyp dieser Kategorie zu gelten. ▲ prototypicality: property of a member of a cognitive category to best represent this category by virtue of a high number of relevant category features and thus to be considered as its prototype. Der Begriff der Prototypikalität ist der Prototypentheorie, die seit den frühen 1970er Jahren von Rosch zunächst unter psychologischem Aspekt entwickelt wurde, zuzuordnen und basiert auf der Annahme, dass einige Exemplare einer kognitiven Kategorie bessere Vertreter dieser Kategorie sind als andere. Der beste Vertreter, d.h. der Prototyp, zeichnet sich dadurch aus, dass er eine hohe Anzahl kategorienrelevanter Merkmale aufweist. Evidenz für die psychologische Realität von Prototypikalität liefern zahlreiche Experimente, die von Rosch und deren Kollegen durchgeführt wurden. In einem Experiment wurde z.B. der Apfel als Prototyp und die Olive als schlechtester Vertreter der Kategorie Obst klassifiziert. Zwischen diesen beiden Extremen waren mit abnehmender Typikalität die Pflaume, die Ananas, die Erdbeere und die Feige angesiedelt. Dennoch teilen auch diese marginaleren Exemplare Eigenschaften der Kategorie Obst und reflektieren somit Familienähnlichkeit. Dieses Beispiel lässt zwei wesentliche Charakteristika der Prototypikalität erkennen. Zum einen ist Prototypikalität nicht universal, sondern kulturspezifisch. Würde das gleiche Experiment in südlichen Ländern Europas durchgeführt werden, so läge der Repräsentativitätsgrad der Olive mit großer Wahrscheinlichkeit über dem des Apfels. Zum zweiten wird deutlich, dass es sich bei den Vertretern einer kognitiven Kategorie – in diesem Falle der Kategorie Obst –

575 Pseudoaffix nicht um individuelle Entitäten handelt (z.B. um den Apfel, den ein Proband am Vortag gepflückt hat), sondern um Basisobjekte, die auf einer der zu repräsentierenden Kategorie untergeordneten Abstraktionsebene, nämlich der Basisebene, angesiedelt sind und über umfangreiche Merkmalmengen spezifiziert werden. Individuelle Entitäten sind für die Ermittlung von Prototypikalität insofern ungeeignet, als sie einer zu großen Variation unterworfen sind und ihre Einbeziehung zur Herausbildung unterschiedlichster individueller Prototypen führen würde. Dies hätte wiederum den Verlust der Stabilität des Prototypikalitätsbegriffs zur Folge. Für die Entstehung von Prototypen können verschiedene Faktoren verantwortlich sein, nämlich (a) perzeptuelle Salienz (z.B. einer Farbe oder einer Form), (b) das zeitlich primäre Erlernen von Kategorien über die besten Beispiele im Kindesalter, (c) Ökonomisierung des kognitiven Systems durch das Zentrieren der Informationsdichte einer Kategorie auf das beste Exemplar (funktionaler Effekt der Prototypen), (d) das Zugrundelegen von Durchschnittswerten (der prototypische Vogel hat z.B. eine durchschnittliche Größe) und (e) die relative Frequenz, mit der ein Vertreter einer Kategorie angetroffen wird. Der zuletzt genannte Faktor sollte jedoch nicht überbewertet werden, da er durch persönliche Erfahrungen beeinflusst wird und somit der nötigen Objektivität entbehrt. Die Effizienz der Prototypentheorie äußert sich darin, dass sie einerseits die Stabilität des kategorialen Systems in Bezug auf bekannte Konzepte gewährleistet, aber andererseits auch die für die mentale Verarbeitung neuer, ggf. marginaler Kategorien erforderliche Flexibilität bietet. In der Künstlichen Intelligenzforschung wird Prototypikalität durch Wissensstrukturen wie Schemata oder Frames reflektiert. Heike Baeskow

→ Frame; Konzeptualisierung; predictability rate; Salienz; Schema; Typikalität

⇀ Prototypikalität (Textling)

🕮 Geeraerts, D. [1988] Where Does Prototypicality Come From? In: Rudzka-Ostyn, B. [ed.] Topics in Cognitive Linguistics. Amsterdam [etc.]: 207–229 ◾ Kleiber, G. [1998] Prototypensemantik. Eine Einführung. Übersetzt von Michael Schreiber. 2., überarb. Aufl. Tübingen ◾ Mangasser-Wahl, M. [2000] Roschs Prototypentheorie – Eine Entwicklung in drei Phasen. In: Mangasser-Wahl, M. [Hg.] Prototypentheorie in der Linguistik. Tübingen: 15–31 ◾ Rosch, E.H. [1977] Human Categorization. In:

Warren, N. [ed.] Studies in Cross-cultural Psychology. Vol. I. London: 1–49 ◾ Taylor, J.R. [1989] Linguistic Categorization. Prototypes in Linguistic Theory. Oxford [etc.].

Prozessbezeichnung ≡ nomen actionis

Pseudoaffix

Teil eines Wortes, der wie ein Affix aussieht, aber keines ist. ▲ pseudo-affix: part of a word that looks like an affix but isn’t. Als Pseudoaffix oder auch Scheinaffix werden affixähnliche Elemente verschiedener Art bezeichnet, wobei man Pseudopräfixe am Wortanfang und Pseudosuffixe am Wortende unterscheidet. Bei einem ersten Typ stimmt das fragliche Element scheinbar in Ausdruck und Inhalt mit einem bekannten Affix überein. So könnte -er in Hammer und Messer dasselbe Affix zur Bildung von Instrumentbezeichnungen sein, das in Bohrer, Wecker usw. auftritt. Da aber Hamm- in keiner anderen Kombination vorkommt und Mess- nicht mit mess- in messen identifiziert werden kann, ist -er hier kein Affix, sondern Teil des Stamms (s. Eins 2016). Zweitens werden manchmal solche Wortteile als Pseudoaffixe eingestuft, die in Derivations- oder Kompositionsstämmen entfallen, z.B. -e in Kiste und -en in Streifen wegen Kist-chen und Streif-chen (s. Autorenk. 2017). Gemäß einem dritten Sprachgebrauch sind die auslautenden -e, -el, -en, -er deutscher Substantive generell Pseudoaffixe (z.B. auch in Ampel, wo -el weder einem Affix gleicht noch einer Tilgung unterliegt), weil sie ein Pluralsuffix ohne /ə/ erfordern (s. Wegener 1994: 268). Das ist allerdings eine rein phonologische Regel, sodass diese Elemente keinen morphologischen Status haben. Zuweilen wird Pseudoaffix für die charakteristischen Auslaute von Markennamen verwendet, z.B. -in in Aspirin, Backin usw. (s. Elsen 2014: 20, 100), oder mit Affixoid gleichgesetzt (s. Naumann/ Vogel 2000: 931), also auf Elemente wie -los in mühelos bezogen, deren Klassifikation als Affix oder Kompositionsglied Schwierigkeiten bereitet.

Joachim Mugdan ≡ Quasiaffix; Scheinaffix → Affix; Affixoid; Pseudopräfix; Pseudosuffix; Stamm ⇀ Pseudoaffix (Gram-Formen) 🕮 Autorenk. [unter Leit. v. C. Lang 2017] Pseudosuffix. In:

P

Pseudoderivat 576 Grammatisches Informationssystem grammis [Unter: https:// grammis.ids-mannheim.de/terminologie/213; letzter Zugriff 13.05.2021] ◾ Eins, W. [2016] Scheinaffix. In: Glück, H./ Rödel, M. [Hg.] Metzler Lexikon Sprache. 5., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart: 589 ◾ Elsen, H. [2014] Grundzüge der Morphologie des Deutschen. 2., aktual. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Naumann, B./ Vogel, P.M. [2000] Derivation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie. (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 929–943 ◾ Wegener, H. [1994] Variation in the Acquisition of German Plural Morphology by Second Language Learners. In: Tracy, R./ Lattey, E. [eds.] How Tolerant Is Universal Grammar? Essays on Language Learnability and Language Variation. Tübingen: 267–294.

Pseudoderivat

Wort, das wie ein Derivat aussieht, aber nicht durch Derivation gebildet wurde. ▲ pseudo-derivative: word that looks like a derivative but wasn’t formed by derivation. Als Beispiel für ein Pseudoderivat wird russ. zontik ‘Regen-/Sonnenschirm’ genannt (s. Fleischer 2000: 894). Es scheint mit dem Diminutivsuffix -ik gebildet zu sein (vgl. nos ‘Nase’ – nosik ‘Näschen’), geht aber auf älteres zondek zurück, eine Entlehung aus ndl. zonnedek ‘Sonnenschutz’. Die volksetymologische Umgestaltung zu zontik ermöglichte eine Rückbildung zont, sodass zontik heute als reguläres Derivat gelten kann.

→ Derivation; Volksetymologie

P

Joachim Mugdan

🕮 Fleischer, W. [2000] Die Klassifikation von Wortbildungsprozessen. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 886–897.

Pseudokompositum

Wort, das wie ein Kompositum aussieht, aber nicht durch Komposition gebildet wurde. ▲ pseudo-compound: word that looks like a compound but wasn’t formed by composition. Bildungen wie bergsteigen, frühstücken und kopfrechnen werden mit der Begründung als Pseudokomposita bezeichnet, dass sie nicht durch Komposition entstanden seien, sondern durch Rückbildung (Umkehr eines Derivationsprozesses) aus Bergsteiger, Konversion (Wortartänderung ohne Affigierung) aus Frühstück bzw. Univerbierung (Verbindung häufig benachbachter Wörter zu einem Wort) aus [im] Kopf rechnen (vgl. Åsdahl-Holmberg 1976; Eisenberg 2013: 223–225; Fortmann 2015; die Gleichsetzung von Rückbildung und Pseudokomposition, so Donalies 2005: 133, ist nicht korrekt).

Für eine synchrone Klassifikation sind allerdings nicht die Entstehungsgeschichten maßgeblich (die sich auch nicht immer klar ermitteln lassen), sondern einerseits die möglichen semantischen Beziehungen zwischen den Bestandteilen und andererseits die Festigkeit ihrer Verbindung. Während z.B. frühstück- ein untrennbarer Verbstamm ist (vgl. wir frühstücken, sie hat gefrühstückt usw.), ähnelt teilnehmen einem Verb wie abnehmen mit einer Partikel, die in grammatischer (aber nicht in phonologischer) Hinsicht ein eigenständiges Wort ist (vgl. wir nehmen teil/ab; sie hat teilgenommen/abgenommen). Bergsteigen wird nur in Sätzen verwendet, in denen das Verb an letzter Stelle steht (z.B. weil sie bergsteigt), sodass die Entscheidung, ob berg- in anderen Positionen abzutrennen ist (z.B. sie bergsteigt oder sie steigt berg), vermieden wird; andere Verben, z.B. kopfrechnen, haben gar keine finiten Formen. Diese und weitere formale Unterschiede sind für die Einschätzung von Regelungen zur Getrenntund Zusammenschreibung relevant (s. Eisenberg 2013: 317–327). Die verbalen Pseudokomposita des Deutschen sind verschiedentlich mit dem einfachsten Typ von Nominalinkorporation (s. Mithun 1984: 848– 856) verglichen worden, auch wenn sie diachron auf anderen Wortbildungsprozessen beruhen (s. z.B. Wurzel 1998).

Joachim Mugdan ≡ Scheinkompositum → § 28; Komposition; Kompositum; Konversion; mutiertes Kompositum; Rückbildung; Univerbierung ⇀ Pseudokompositum (Lexik)

🕮 Åsdahl-Holmberg, M. [1976] Studien zu den verbalen Pseudokomposita im Deutschen. Lund ◾ Donalies, E. [2005] Die Wortbildung des Deutschen. 2. Aufl. Tübingen ◾ Eisenberg, P. [2013] Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1. Das Wort. 4., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart [etc.] ◾ Fortmann, C. [2015] Verbal pseudo-compounds in German. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [Hg.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 594–610 ◾ Mithun, M. [1984] The Evolution of Noun Incorporation. In: Lg 60: 847–894 ◾ Wurzel, W.U. [1998] On the development of incorporating structures in German. In: Hogg, R./ van Bergen, L. [eds.] Historical Linguistics 1995. Vol. 2. Germanic Linguistics. Amsterdam [etc.]: 331–344.

Pseudomorph

Teil eines Wortes, der wie ein Morph aussieht, aber keines ist. ▲ pseudo-morph: part of a word that looks like a morph but isn’t.

577 Pseudopräfix Pseudomorph(em) wird zumeist für Elemente verwendet, für die auch unikales Morph(em) gebräuchlich ist (vgl. Simmler 2002: 76f. sowie Pseudoplerem bei von Polenz 1973: 148), z.B. Brom- in Brombeere. Da Brom- nirgendwo sonst wiederkehrt, ist eine der Bedingungen für die Segmentierung von Brombeere in die Minimalzeichen Brom- und -beere nicht erfüllt. Indem man Bromals unikales Morph(em) bezeichnet, impliziert man, dass es sich dennoch um ein Morph(em) handelt, wenn auch eines besonderer Art. Die Benennung Pseudomorph(em) sollte dagegen mit der Entscheidung verbunden sein, nicht zu segmentieren, da ja ein Pseudo-X gerade kein X ist. Der Sprachgebrauch ist in dieser Hinsicht jedoch nicht konsequent. Quasimorph(em) wird auch auf Elemente angewendet, deren Segmentierung aus anderen Gründen problematisch ist (s. Kubrjakova 2000: 419), und drückt weniger deutlich die Bevorzugung der einen oder der anderen Lösung aus. Wenn man Termini wie Pseudomorph(em) oder Quasimorph(em) wählt, ist allerdings zu beachten, dass sie keine wohldefinierten sprachlichen Einheiten bezeichnen, sondern lediglich als Hinweis auf Segementierungsprobleme verstanden werden sollten (s. Mugdan 2015: 238). Joachim Mugdan ≡ Quasimorphem → Minimalzeichen; Segmentierung; Submorph; unikales Morphem

🕮 Kubrjakova, E.S. [2000] Submorphemische Einheiten. In: Booj, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 417–426 ◾ Mugdan, J. [2015] Units of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [Hg.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 235–301 ◾ Simmler, F. [2002] Pseudomorpheme. Ermittlungsmethoden, Typologie und Sprachgeschichte. In: Habermann, M./ Müller, P.O./ Munske, H.H. [Hg.] Historische Wortbildung des Deutschen. Tübingen: 75–103 ◾ von Polenz, P. [1973] Synpleremik I. Wortbildung. In: Althaus, H.P./ Henne, H./ Wiegand, H.E. [Hg.] Lexikon der Germanistischen Linguistik. Tübingen: 145–163.

Pseudomotivierung

≡ sekundäre Motivation; Volksetymologie

Pseudopartizip

Adjektiv, das wie ein Partizip aussieht, aber keines ist. ▲ pseudo-participle: adjective that looks like a participle but isn’t. Zu den Beispielen, die für Pseudopartizipien ge-

nannt werden, gehören bebrillt, getigert, blendend und verlogen (vgl. Bernstein 1992; Kempf/ Hartmann 2018: 455–462). In manchen Fällen ist die semantische Beziehung zu dem zugrundeliegenden Verb verloren gegangen, wie bei blendend ‘ausgezeichnet’ und blenden ‘blind machen’. Auch verlogen hat sich von dem außer Gebrauch gekommenen verlügen ‘falsch darstellen’ entfernt, hat aber immer noch einen Bezug zu dem Ablautmuster lüg[en] – [ge]log[en]. Bei getigert, gepunktet, gestreift haben die Verben tigern, punkten, streifen völlig andere Bedeutungen, sodass eine direkte Ableitung aus den Substantiven Tiger, Punkt, Streifen mit dem Zirkumfix ge-…-t plausibler ist. Entsprechendes gilt für bebrillt, obwohl man es als Partizip eines möglichen, aber nicht üblichen Verbs bebrillen (analog zu bestuhlen, bedachen usw.) ansehen könnte. So bilden die Pseudopartizipien eine heterogene Gruppe von Wörtern, die teils als Wortbildungen (wenn auch nicht als Partizipien) analysiert werden können, teils synchron nicht segmentierbar sind. Joachim Mugdan ≡ Scheinpartizip → § 17, 23, 39; Ablaut; Partizip; Segmentierung; Zirkumfix

🕮 Bernstein, W.Z. [1992] Pseudopartizipien im deutschen Sprachgebrauch. Heidelberg ◾ Gante, C. [2018] Pseudopartizipien im Wandel der Zeit. In: Czajkowski, L./ Ulbrich-Bösch, S./ Waldvogel, C. [Hg.] Sprachwandel im Deutschen. Berlin [etc.]: 57–65 ◾ Kempf, L./ Hartmann, S. [2018] Schema Unification and Morphological Productivity. A Diachronic Perspective. In: Booij, G. [ed.] The Construction of Words. Advances in Construction Morphology. Cham: 441–472 ◾ Riecke, J. [1999] Pseudopartizipien im Althochdeutschen. Zur Geschichte eines Wortbildungstyps. In: Sprw 24: 157–193.

Pseudopräfix

Teil eines Wortes, der wie ein Präfix aussieht, aber keines ist. ▲ pseudo-prefix: part of a word which looks like a prefix but isn’t. Wie der Oberbegriff Pseudoaffix wird Pseudopräfix für unterschiedliche affixähnliche Elemente verwendet, von re- in reparieren, das auch hinsichtlich der Bedeutung ‘wieder’ mit dem Präfix in reorganisieren übereinstimmen könnte, bis zu re- in regieren, wo sich die Ähnlichkeit auf die Ausdrucksseite beschränkt. Recht häufig sind Fälle wie bekommen, in denen durch Bedeutungswandel der Bezug zum Simplex kommen nicht mehr erkennbar ist (vgl. Augst 2000: 8f.). In psy-

P

Pseudosuffix 578 cholinguistischen Experimenten ist untersucht worden, inwieweit sich die Verarbeitung von Wörtern mit echten Präfixen und Wörtern mit Pseudopräfixen unterscheidet (s. z.B. Smith 1995: 377–380). Zur Diachronie von Pseudopartizipien vgl. Riecke (1999) bzw. Gante (2018).

→ Präfix; Pseudoaffix; Pseudosuffix

Joachim Mugdan

🕮 Augst, G. [2000] Die Mächtigkeit der Wortfamilien. Quantitative Auswertungen zum „Wortfamilienwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“. In: Barz, I./ Schröder, M./ Fix, U. [Hg.] Praxis- und Integrationsfelder der Wortbildungsforschung. Heidelberg: 1–18 ◾ Gante, C. [2018] Pseudopartizipien im Wandel der Zeit. In: Czajkowski, L./ Ulbrich-Bösch, S./ Waldvogel, C. [Hg.] Sprachwandel im Deutschen. Berlin [etc.]: 57–65 ◾ Riecke, J. [1999] Pseudopartizipien im Althochdeutschen. Zur Geschichte eines Wortbildungstyps. In: Sprw 24: 157–193 ◾ Smith, P.T. [1995] Are Morphemes Really Necessary? In: Feldman, L.B. [ed.] Morphological Aspects of Language Processing. Hillsdale, NJ [etc.]: 365–382.

Pseudosuffix

Teil eines Wortes, der wie ein Suffix aussieht, aber keines ist. ▲ pseudo-suffix: part of a word which looks like a suffix but isn’t.

P

Wie der Oberbegriff Pseudoaffix wird Pseudosuffix für unterschiedliche affixähnliche Elemente verwendet, von -er in Hammer, das auch hinsichtlich der Bedeutung ‘Instrument’ mit dem Suffix in Bohrer übereinstimmen könnte, bis zu -er in Wetter, wo sich die Ähnlichkeit auf die Ausdrucksseite beschränkt (vgl. Eisenberg 2013: 137, 158, 203). Sogar charakteristische Wortausgänge, die keinem Suffix gleichen, z.B. -o in Auto und -ard in Bussard, werden zuweilen als Pseudosuffixe betrachtet (s. Augst 2000: 7–9).

→ Pseudoaffix; Pseudopräfix; Suffix ⇀ Pseudosuffix (Gram-Formen)

Joachim Mugdan

🕮 Augst, G. [2000] Die Mächtigkeit der Wortfamilien. Quantitative Auswertungen zum „Wortfamilienwörterbuch der deutschen Gegenwartssprache“. In: Barz, I./ Schröder, M./ Fix, U. [Hg.] Praxis- und Integrationsfelder der Wortbildungsforschung. Heidelberg: 1–18 ◾ Eisenberg, P. [2013] Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 4., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart [etc.].

Pseudowurzel

Teil eines Wortes, der wie eine Wurzel aussieht, aber keine ist. ▲ pseudo-root: part of a word that looks like a root but isn’t. Die Bezeichnung Pseudowurzel wird von manchen Autoren auf unikale wurzelähnliche Elemente angewendet. Beispielsweise scheint das hebräische Wort tarmil ‘Tornister’ die gleiche Struktur taXYiZ mit der konsonantischen Wurzel X‑Y‑Z zu haben wie taklit ‘Schallplatte’, targil ‘Übung’ usw. Während k‑l‑t und r‑g‑l auch in diversen anderen Wörtern auftreten, z.B. klita ‘Aufnahme’ und ragil ‘gewohnt’, kommt r‑m‑l aber sonst nicht vor und gilt daher nur als Pseudowurzel (s. Velan/Frost 2011: 147). Andere unterscheiden Pseudowurzeln von unikalen Restelementen und benutzen den Terminus für Bestandteile wie stud- in studieren, Studium, Student, die nur in Verbindung mit Derivationsaffixen auftreten (s. Stepanova/Černyševa 2003: 98, 101–103, 112f.). Das ist insofern nicht überzeugend, als Wurzeln grundsätzlich auch obligatorisch gebunden sein können. Joachim Mugdan ≡ Quasiwurzel → gebundenes Morphem; unikales Morphem; Wurzel

🕮 Stepanova, M.D./ Černyševa, I.I. [2003] Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache. Moskva ◾ Velan, H./ Frost, R. [2011] Words with and without internal structure: What determines the nature of orthographic and morphological processing? In: Cog 118: 141–156.

Q qualitatives Adjektiv

Adjektiv, mit dem die Eigenschaft einer Person oder Sache ausgedrückt wird. ▲ quality adjective: adjective expressing a property of a person or thing.

Qualitative Adjektive stellen neben relativen (auch: relationalen) und quantifizierenden eine semantische Subklasse der Wortart Adjektiv dar. Sie „drücken die Merkmale (Eigenschaften) eines Objekts der Realität direkt durch die eigentlich Bedeutung aus: das große Haus, das kluge Mädchen, die heilbare Krankheit, der konkrete Hinweis“ (Helbig/Buscha 2001: 281). Gallmann (2016: 342f.) spricht von „qualifizierenden Adjektiven“ und differenziert die einer Person oder Sache zugeordneten Eigenschaften genauer nach ästhetischem Wert (schön, hässlich, ekelhaft), moralischem Wert (gut, schlecht, böse, durchtrieben), äußerer oder innerer Beschaffenheit einer Sache (rau, glatt, hart; zerbrechlich, porös), äußeren oder inneren Eigenschaften einer Person (schmächtig; geduldig, klug, witzig), zeitlicher Dimension (früh, spät), räumlicher Dimension (hoch, breit, tief, dick, flach), Form (viereckig, rund, spitz), Farbe (schwarz, blau, hell), Gewicht (schwer, leicht), Ton (laut, leise, piepsig, schrill), Geschmack/Geruch (süß, sauer, bitter), Temperatur (kalt, warm, heiß), Wetterlage (dunstig, stürmisch). Oft existieren qualifizierende Adjektive als Gegensatzpaare (lang – kurz, hoch – niedrig) oder Gegensatzreihen (kalt – kühl – lau – warm – heiß), „die sich im Grad der jeweiligen Eigenschaft unterscheiden“. Hinsichtlich ihrer morphosyntaktischen Eigenschaften unterliegen qualitative bzw. qualifizierende Adjektive gewissen Einschränkungen. Zur Komparierbarkeit vgl. im Einzelnen Helbig/Bus-

cha (2001: 282f.). Farbadjektive sind gewöhnlich nur in übertragener Bedeutung komparierbar (die schwärzeste Nacht). Zahlreiche qualitative Adjektive erlauben z.B. keine Komparierung, da sie „Eigenschaften mit Alternativcharakter bezeichnen“ (fertig, gemeinsam, ledig, stimmhaft, tödlich). Barz (2016: 756f.) merkt an, dass auch Adjektivkomposita durch die Wortbildung spezifische Komparationseigenschaften erwerben können. Hinsichtlich ihrer Komparierbarkeit verhalten sie sich anders als ihre Zweitglieder im freien Gebrauch. Vor allem „Determinativkomposita mit graduierender oder vergleichender Wortbildungsbedeutung sowie Kopulativkomposita“ lassen sich meist nicht komparieren (*ein bitterkälterer Tag, *ein steinhärterer Werkstoff, *kniehöheres Gras, *süßsaurere Gurke). Durch adjektivische Erstglieder im Superlativ erhalten Adjektive eine superlativische Bedeutung und können daher nicht ein zweites Mal kompariert werden (*höchstmöglichste Quote). Attributiver, prädikativer und adverbialer sowie substantivierter Gebrauch sind meist möglich. Detaillierter vgl. dazu Gallmann (2016: 344ff.), Helbig/Buscha (2001: 282ff.). Die Zahl adjektivischer Simplizia liegt nach Wellmann (1998: 530) „nur bei einigen Hundert“. Wortbildungen haben somit einen Hauptanteil am adjektivischen Wortschatz. Für die Bildung qualitativer Adjektive kommen als Wortbildungsverfahren sowohl Modifikations- als auch Transpositionsarten der Derivation, Komposition und Konversion in Frage (vgl. Fleischer/Barz 2012: 297ff., Erben 2006: 108ff.). Sie erweitern die Möglichkeiten adjektivtypischer semantischer und morphosyntaktischer Ausdrucksmittel durch eine Vielzahl differenzierter Wortbildungsmodelle. Bei den Modifikationsarten sind vor allem die

Quasiaffix 580 Gradation und die Negation gut ausgebaut (uralt, rötlich, dunkelblau, hochmodern; unaufmerksam). Bei den Transpositionsarten sind deverbale Bildungen mit aktivisch-modaler und passivischmodaler Funktion (zänkisch, naschhaft; heilbar, begreiflich) und desubstantivische Bildungen mit komparativer und ornativer Funktion häufig (frühlingshaft, kugelförmig; bärtig, lustlos). Barz (2016: 753f.) hebt hervor, dass mit einer ganzen Reihe von Bildungstypen die im adjektivischen Primärwortschatz angelegten Möglichkeiten zum Ausdruck von Gegensätzlichkeit bereichert werden (klug – unklug, umstritten – unumstritten, typisch – atypisch, fehlerhaft – fehlerlos). Vergleichbare Wortbildungsmodelle zur Bildung qualitativer Adjektive finden sich auch in anderen Einzelsprachen, zum Engl. vgl. z.B. Hansen/ Hansen/Neubert/Schentke (1990), Schmid (2016), zum Franz. Thiele (1981), zum Span. SchpakDolt (2012), zum Ital. Seewald (1996), zum Russ. Autorenk. (1984). Hannelore Poethe → Derivation; Komparation; Kopulativkompositum; Modifikation; relatives Adjektiv; Transposition; Wortbildungs­ bedeutung

🕮 Autorenk. [unter Leit. v. L. Wilske 1984] Die russische Sprache der Gegenwart. Bd. 4: Lexikologie. 2., unveränd. Aufl. Leip-

Q

zig ◾ Barz, I. [2016] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 9., vollst. überarb. u. aktual. Aufl. Berlin: 644–774 ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Gallmann, P. [2016] Die flektierbaren Wortarten. In: Duden. Die Grammatik. 9., vollst. überarb. u. aktual. Aufl. Berlin: 149–394 ◾ Hansen, B./ Hansen, K./ Neubert, A./ Schentke, M. [1990] Englische Lexikologie. 3. Aufl. Leipzig ◾ Helbig, G./ Buscha, J. [2001] Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 20. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Schmid, H.-J. [2016] English morphology and word-formation. 3. revised and enlarged ed. Berlin ◾ Schpak-Dolt, N. [1992] Einführung in die französische Morphologie. Tübingen ◾ Seewald, U. [1996] Morphologie des Italienischen. Tübingen ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig ◾ Wellmann, H. [1998] Die Wortbildung. In: Duden [1998] Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 6., neu bearb. Aufl. Mannheim [etc.]: 408–557.

Quasiaffix

≡ Pseudoaffix

Quasimorphem

≡ Pseudomorph ⇀ Quasimorphem (Onom)

Quasiwurzel

≡ Pseudowurzel

R Reanalyse

→ Morphematisierung ⇀ Reanalyse (Gram-Syntax; HistSprw; CG-Dt)

Rechtsköpfigkeit

Eigenschaft von komplexen Wörtern, bei der die morphosyntaktischen Merkmale des ganzen Wortes von seiner am weitesten rechts stehenden Konstituente bestimmt werden. ▲ right-headedness: property of complex words by which the morphosyntactic features of the whole word are determined by its right-most constituent. Der Begriff „Kopf“ bezieht sich in der Syntax auf die Konstituente in einer Phrasenstrukturkonfiguration, die die formalen Eigenschaften der Phrase bestimmt. Williams (1981) schlug vor, das Konzept des Kopfes auch auf die Wortstruktur auszuweiten, um die Generalisierung festzuhalten, dass die am weitesten rechts stehende Konstituente in einem komplexen Wort die kategorialen Merkmale des Ganzen bestimmt und sie deshalb wie ein syntaktischer Kopf funktioniert. Im Gegensatz zur Syntax kann ein morphologischer Kopf aber nicht durch seine Konfiguration definiert werden. Williams beobachtete, dass Suffixe regelmäßig die morphosyntaktischen Eigenschaften ihrer komplexen Wörter prägen, während Präfixe nicht dieselbe Funktion haben. Darüber hinaus ist es in vielen Sprachen das am weitesten rechts stehende Lexem in einem Kompositum, das als Kopf des Kompositums fungiert. Deshalb definierte Williams den Begriff „Kopf eines Wortes“ als die am weitesten rechts stehende Kategorie im Wort. Diese Definition wurde als die „righthand head rule“ bekannt, vgl. Williams (1981: 248). Während Derivationen und Komposita allgemein

mit der righthand head rule übereinstimmen, gibt es einige Sprachen, deren Komposita linksköpfig sind, zum Beispiel Hebr. (Lieber 1981), Vietn. (Thompson 1965) und die roman. Sprachen. In ihren Diskussionen zu Komposita in den roman. Sprachen weisen Rainer/Varela (1992) und Kornfeld (2009) für Sp., Bauer (1978) und Fradin (2009) für Frz. und Scalise (1992) für Ital. daraufhin, dass das determinative Muster der Nomen+Nomen-Komposita, das in germ. Sprachen so verbreitet ist, in den roman. Sprachen höchst eingeschränkt ist. Entsprechende Bildungen haben die für Wörter atypische Eigenschaft, dass sie linksköpfig sind: (1a) Sp.: tren mercancías ‘Zug+Güter; Güterzug’ (1b) Frz.: timbre-poste ‘Marke+Brief; Briefmarke’ (1c) Ital.: capostazione ‘Vorsteher+Bahnhof; Bahnhofsvorsteher’ Die Pluralformen dieser Beispiele werden in (2) gegeben, bei denen das unterstrichene Pluralmorphem an die linke Konstituente angefügt wird und somit die Definition eines Wortes als eine untrennbare morphologische Einheit verletzt. (2a) trenes mercancías (2b) timbres-poste (2c) capistazione Als Kopf des Worts bestimmt die linke Konstituente das Genus dieser komplexen Wörter, wie die maskulinen Nomen span. año luz ‘Jahr+Licht = Lichtjahr’, frz. timbre-poste und ital. capostazione belegen, bei denen die zweite Konstituente feminin und die erste maskulin ist. Wie dieser Vergleich deutlich zeigt, ist feste Köpfigkeit eine allgemeine Regel in der Morphologie. Linksköpfige Komposita sind besonders markierte Wortstrukturen. Im Gegensatz dazu weisen rechtsköpfige Komposita alle Flexionsendungen an der am weitesten rechts stehenden Konstituen-

Rechtsverzweigung 582 te auf und brechen deshalb nicht die Wortstruktur auf. Außerdem ist es die rechte Konstituente, die die kategorialen und morphosyntaktischen Merkmale festlegt, wie die deutschen Beispiele in (3) zeigen. In (3a) ist das Genus von Dorfstraße feminin und die Pluralform stimmt mit der regulären Flexionsklasse des Kopfes Straße überein, während die Merkmale in (3b) mit den regulären Merkmalen des rechten Kopfes Dorf zusammenfallen: (3a) die Dorfstrasse – die Dorfstrassen (3b) das Strassendorf – die Strassendörfer Susan Olsen

→ § 22; Determinativkompositum; Kopf; Linksköpfigkeit;

righthand head rule ⇀ Rechtsköpfigkeit (1) (Gram-Syntax); Rechtsköpfigkeit (2) (Gram-Syntax) ⇁ right-headedness (Woform)

🕮 Bauer, L. [1978] The Grammar of Nominal Compounding. Odense ◾ Fradin, B. [2009] IE, Romance: French. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Compounding. Oxford: 417–435 ◾ Kornfeld, L.M. [2009] IE, Romance: Spanish. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Compounding. Oxford: 436–452 ◾ Lieber, R. [1981] The Organization of the Lexicon. Bloomington, IN ◾ Olsen, S. [2015] Composition. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 364–386 ◾ Rainer, F./ Varela, S. [1992] Compounding in Spanish. In: RLing 4/1: 117–142 ◾ Scalise, S. [ed. 1992] The Morphology of Compounding. In: RLing 4/1 ◾ Thompson, L. [1965] A Vietnamese Grammar. Seattle ◾ Williams, E. [1981] On the Notions „Lexically Related“ and „Head of a Word“. In: LingInqu 12: 245–274.

Rechtsverzweigung

R

Auftreten einer komplexen unmittelbaren Konstituente rechts von einer anderen Konstituente. ▲ right-branching: occurrence of a complex immediate constituent to the right of another constituent. Eine zentrale Annahme von strukturalistischen Theorien der Wortbildung war, dass sich komplexe Wörter in Morphemstrukturen aus unmittelbaren und mittelbaren Konstituenten analysieren lassen. Marchand (1969) sieht Wortstrukturen als die Grundeinheiten, die aus einem Determinans und einem Determinatum bestehen. Frühe generative Theorien wie die von Aronoff (1976) strukturieren komplexe Wörter ebenfalls in binäre Gruppen, die sich als Resultat der Anwendungsweise von Wortbildungsregeln erklären. Theorien zur Wortsyntax, die Aronoff folgten (z.B. Williams 1981, Selkirk 1982, Toman 1983), modellieren Wortkonfigurationen anhand von parametri-

sierten Versionen der syntaktischen X-Bar-Theorie mit dem Resultat, dass die interne Struktur von Wörtern in hierarchischen Konfigurationen von binären Verzweigungen widergegespiegelt wird. Diese Einsicht wird als die Binärverzweigungshypothese bezeichnet. Wenn die unmittelbare Konstituente eines komplexeren Wortes auf der rechten Seite in einer anderen Konstituente eingebettet ist, spricht man von einer rechtsverzweigten oder rechts-rekursiven Struktur, wie sie in den Beispielen in (1) illustriert wird: (1a) [Schnell [lade säule]], [Land(es) [haus halt]] (1b) [[un [wirk sam]] Susan Olsen

↔ Linksverzweigung → § 22; binäre Verzweigung; Determinans-DeterminatumStruktur; Rekursivität

⇀ Rechtsverzweigung (Gram-Syntax) ⇁ right-branching (Woform; Typol)

🕮 Aronoff, M. [1976] Word Formation in Generative Grammar. Cambridge, MA [etc.] ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Olsen, S. [2000] Compounding and Stress in English. In: LB 181: 55–69 ◾ Selkirk, E. [1982] The Syntax of Words. Cambridge, MA [etc.] ◾ Toman, J. [1983] Wortsyntax. Tübingen ◾ Williams, E. [1981] On the Notions „Lexically Related“ and „Head of a Word“. In: LingInqu 12: 245–274.

Reduktion

≡ Kurzwortbildung ⇀ Reduktion (Sprachphil; QL-Dt); Reduktion (1) (Phon-Dt); Reduktion (2) (Phon-Dt)

Reduplikation

Verdopplung von Teilen einer Wurzel oder eines Stammes. ▲ reduplication: repetition of parts of a root or a stem. Der Begriff Reduplikation, der auf lat. reduplicatio ‘Verdoppelung’ zurückgeht, bezeichnet die Verdoppelung von anlautenden oder auslautenden Teilen einer Wurzel oder eines Stammes, und zwar mit oder ohne lautliche Änderung. Diese Möglichkeit wird zum Ausdruck morphosyntaktischer Kategorien genutzt. So ist sie eine Methode zum Ausdruck des Tempus bei einer Reihe indogermanischer Verben (als Überrest des Ausdrucks iterativer Aktionsart), etwa lat. currō ‘ich laufe’, Perf. cucurrī, gr. δέδωκα (dédōka), lat. dedi ‘ich habe gegeben’, lat. fallō ‘ich täusche’, Perf. fefellī, lat. tangō ‘ich berühre’ – tetigī ‘ich berührte’, got.

583 Reduplikation haitan ‘heißen’ – haíhait (das Graphem bezeichnet kurzes [e]) ‘hieß’). Diese partielle Reduplikation herrscht im Idg. vor. In anderen Sprachen spielt die vollständige Reduplikation eine große Rolle, etwa in vietnamesisch đo ‘rot’ – đo đo ‘rötlich’. Die Unterscheidung von partieller und vollständiger Reduplikation ist nicht zu verwechseln mit der von Abbi (1992) vertretenen Differenzierung von morphologischer und lexikalischer Reduplikation. Unter morphologischer Reduplikation versteht Abbi (1992: 12f.) die Reduplikation mit Hilfe wiederholter Silben, bei der die Basis und der reduplizierte Teil als Gesamt ein einzelnes Morphem bilden, das dann auch die Grundlage eines einzigen Wortes wird, etwa in der Sprache Sora mel mel ‘prüfen’, didi ‘zählen’. Dieser Typus ist in den meisten ostasiatischen Sprachen verbreitet. Unter lexikalischer Reduplikation versteht Abbi (1992: 13) eine solche aus zwei identischen Wörtern, etwa Hindi baithe baithe ‘im Sitzen’. Wortbildungsprodukte dieses Typs sind im Unterschied zur morphologischen Reduplikation ohne völligen Bedeutungsverlust segmentierbar, weil bereits die Einzelteile lexikalische Bedeutung besitzen. Eine spezielle Domäne der Reduplikation sind Pidginsprachen, Kreolsprachen und andere Kontaktsprachen (Kouwenberg 2003). Neben der Wortreduplikation wird die syntaktische Reduplikation beobachtet (Ammann/Urdze 2007; Borrelli 2002; Lindström 1999). Die Funktionen der Reduplikation lassen sich mit Karl (1999: 3) in einerseits formenbildende Reduplikation und Wortbildungsreduplikation andererseits unterscheiden. Bei der formenbildenden Reduplikation versprachlicht das Reduplikat Äquivalente zu dem, was in den flektierenden und agglutinierenden Sprachen Wortformen genannt wird. Es entstehen also quasi-grammatische Wörter ein und desselben Lexems, welche bestimmte Erscheinungsweisen grammatischer Kategorien wie etwa Numerus oder Tempus ausdrücken. Bei der Wortbildungsreduplikation wird der semantische Wert der Ausgangseinheit verändert. Karl (1999: 3) unterscheidet folgende Möglichkeiten. Erstens kann die denotative Bedeutung durch Kategorialisierung oder Metaphorisierung geändert werden. Zweitens kann der Wortklassencharakter (einschließlich durch Subklassifizierung) geändert werden. Drittens

kann der kommunikativ-pragmatische Wert des Reduplikats gegenüber dem der Ausgangseinheit verschieden sein, und zwar hinsichtlich der Frage des mündlichen Gebrauchs, der dialektalen Verwendung u.ä. sowie der Abwertung des bezeichneten Denotats u.ä. Für das Chinesische stellt Karl (1999: 7–14) folgende durch die Wortbildungsreduplikation erzielten Wirkungen fest. Erstens wird der semantische Effekt „der Zustand von x“ erzielt; diese Spielart der von Karl (1999: 7) sogenannten kategorialen Semantik tritt bei lexikalischen Einheiten der Hauptwortarten Substantiv, Adjektiv und Verb auf. So bedeutet etwa dòngdòng den Zustand von ‘Höhle, Loch’, was sich als ‘höhlenhaft, höhlen-, abgrundtief’ wiedergeben lässt, und zwar in hēidōngdōng ‘höhlenhaft dunkel, abgrundtief schwarz’. Die zweite der sogenannten kategorialen Bedeutungen ist „das Andauern von x und das Andauern von x als Zustand“ (Karl 1999: 8–10). Diese Bedeutung tritt nur bei der Reduplikation einsilbiger Verben auf, wenn sie zugleich als Wortbildungskonstituente gemeinsam mit einem anderen Verbreduplikat in viersilbigen Einheiten VV1VV2 vorkommen. Beispiel hierfür ist jìnjìn ‘das Andauern von hineingehen’: ‘(immerfort) hineingehen’ und chūchū ‘das Andauern von hinausgehen’: ‘(immerfort) hinausgehen’ in jìnjìn-chūchū ‘ein- und ausgehen’. Bei dieser Art der Reduplikation entstehen sowohl verbale als auch adjektivische Reduplikate, die deutschen Partizipia Praesentis entsprechen, also etwa chӑochӑo ‘das Andauern von lärmen (als Zustand)’: ‘lärmend’ in chӑo­chӑo-nàonào ‘lärmen(d) und spektakeln(d), lärmend und lebhaft’. Die dritte der kategorialen Bedeutungen nach der Begrifflichkeit Karls (1999: 10f.) ist „die/eine Menge von x“, entspricht also einer Kollektivbildung. Diese findet sich bei Substantiven und deren Subklassen, den Zähleinheitswörtern, Zeitausdrücken und Positionswörtern. Beispiel ist etwa guànguàn ‘die/eine Menge von rundes (Ton-)Gefäß’: ‘(alle) Töpfe, (die) Krüge’. Vierte Kategorie ist „wenige/einzelne Exemplare von x als Zustand und kurze Abschnitte von x in Intervallen“ (Karl 1999: 12). Diese Bedeutungsentwicklung ist eng an die lexikalische Bedeutung des Reduplikanden gebunden, der als Substantiv kleine Gegenstände bezeichnet, weswegen sie sehr selten ist. Beispiel ist etwa diӑndiӑn ‘wenige/einzelne Exemplare von Punkt

R

Reduplikation 584

R

als Zustand’: ‘punktuell, vereinzelt’. Als fünfte Kategorie nennt Karl (1999: 12f.) „die Verniedlichung, die Entkonkretisierung und die semantische Umstrukturierung von x“. Dabei soll ‘Verniedlichung’ soviel bedeuten wie ‘durch Verkleinerung ansprechend machen’, etwa in bӑobӑo ‘Verniedlichung von Schatz’: ‘Schätzchen’ (als Kosebezeichnung für ein Kind). Entkonkretisierung soll besagen, dass durch Reduplikation das an sich konkrete Denotat in einen anderen, abstrakten Verwendungsbereich übertragen wird, so in quānquān ‘Entkonkretisierung von Kreis’: ‘(Aktions-)Kreis, (Tä­tig­keits-)Bereich’. Bei der semantischen Umstrukturierung von x geht es um die durch die Re­duplikation erzeugten kategorialen Bedeutungen „die Person/der Gegenstand, die/ der x“ und „das Produkt von x“, welche eine Umwandlung der semantischen Struktur bei Adjektiven und Verben bewirken. Beispiel ist etwa zhuànzhuàn ‘der Gegenstand, der sich drehen’: ‘Drehender, Rotierender’ in tiězhuànzhuàn ‘eiserner Rotor’: ‘Nähmaschine’. Die sechste semantische Entwicklung (Karl 1999: 13f.) sind Bewertungen und Lautbildungen. Hier geht es darum, dass zahlreiche reduplikative Wortbildungen Reduplikate oder Silbenverdopplungen enthalten, die in Wortbildungen eine Bewertung des mit der anderen Wortbildungskonstruktion bedeuteten Denotats vermitteln oder dessen Modifizierung veranlassen. Beispiel ist etwa bābā, das eine gewisse Verstärkung des mit der ersten Wortbildungskonstruktion bedeuteten Denotats und zugleich das Missfallen des Sprechers gegenüber diesem vermittelt, also als „verstärkend und negativ bewertend“ beschrieben werden kann, so in huángbābā ‘(ungesund) gelb’. Die durch Lautbildung gekennzeichneten Verdopplungen einsilbiger Onomatopoetika lassen sich semantisch durch das Stereotyp „lautbildend zum Ausdruck von/ein(-es, er)“ beschreiben. Beispiel ist etwa bāngbāng ‘lautbildend zum Ausdruck eines Klanges durch Schlagen auf eine Holzklapper’: ‘hölzern (klingend), hart’ in yingbāngbāng ‘knallend hart, knüppelhart’. Das von Karl (1999) für das Chinesische gezeichnete Bild wird ergänzt und modifiziert durch die Untersuchungen von Vuori (2000) über die Reduplikation in den Sprachen Ost- und Südostasiens. Im Deutschen ist die Reduplikation weitgehend auf die Kindersprache und bestimmte Jargons

bezogen, ohne dass hier eine weitergehende Systematik beobachtet werden könnte. Teilweise spielt bei diesen Bildungen auch die affektische Komponente eine gewisse Rolle. Zu nennen sind etwa Wörter wie Mama, Papa, Bonbon, Ticktack, Töfftöff, Wauwau, sodann Bildungen wie Bimbam, etwa in Ach du heiliger Bimbam!, nanu, das eigentlich eine Zusammenrückung aus na und nu sein dürfte, aber auch in diesen Zusammenhang gestellt werden kann, oder Schnickschnack, Pinkepinke, Kuddelmuddel, Singsang. Außerhalb der idg. Sprachen wird etwa in der Sprache Agta (Philippinen) durch Reduplikation der ersten Konsonant-Vokal-Konsonant-Folge der Plural gebildet: takki ‘Bein’ – taktakki ‘Beine’. Im Walpiri (Australien) wird zur Pluralbildung das gesamte Wort wiederholt: kamina ‘das Mädchen’ – kaminakamina ‘die Mädchen’. Ebenso im Indonesischen: orang ‘Mensch’ – orang-orang ‘Menschen’. Das Dakota (Nordamerika) bildet den Plural des Verbs durch Reduplikation der finalen (Konsonant-)Konsonant-Vokal-Folge: hąska ‘groß sein’ – hąskaska ‘groß sein’ (Plural). Das Türkische verwendet Reduplikation für die Bedeutung ‘und so weiter’ in Ali-Mali ‘Ali und die anderen’. Im Tagalog wird Reduplikation als Futurmarker verwendet: sulat ‘schreiben’ – Futur susulat. Die Sprache Chukot im Nordosten Sibiriens signalisiert den Absolutiv Singular durch Suffigierung der finalen Sequenz Konsonant-Vokal: nute – nutete ‘Erde Absolutiv Ag.’. Das Madurese auf Java fügt die auslautende Sequenz Konsonant-VokalKonsonant eines reduplizierenden Präfixes an den Stamm an: (bú)wáq + búwáq-an – wáq + búwáqán ‘Früchte’. In vielen kaukasischen Sprachen sind die Distributiva Reduplikationsbildungen auf Basis der Kardinalzahlen, etwa rutul. sa-sa ‘je einer’, georg. xut-xut-i ‘je fünf’. In den südkaukasischen Sprachen ist die Reduplikationsbildung ein wesentliches Verfahren bei der Nominalkomposition, z.B. georg. bind-bundi ‘Halbdunkel’ zu bindi ‘Dämmerung’. Das Malaische verwendet die Reduplikation für mehrere Zwecke. Ein Adverb wird durch Reduplikation aus dem Adjektiv gewonnen: baik ‘gut’ (Adjektiv) – baik-baik ‘gut’ (Adverb). Ein indefiniter Plural ist bunga-bunga ‘Blumen’ zu bunga ‘Blume’. Der Einsatz in der Wortbildung zeigt sich in mata ‘Auge’ – mata-mata oder memata ‘Polizist’. In der Wortbildung kann die Wiederholung von

585

reduplikatives Kompositum

Morphemen und Wörtern auch der Ausdrucksverstärkung dienen, wie es lat. quisquis ‘wer (auch immer)’, dt. Effeff, nana oder engl. goodiegoodie zeigen. Im Deutschen gehören hierzu etwa noch die mit Adjektivsuffix weitergebildeten Ableitungen tagtäglich und wortwörtlich. Das Japanische besitzt mehr als dreimal so viel lautmalerische Wörter wie das Deutsche oder Englische und verwendet sie für eine weit größere Bandbreite sprachlicher Unterscheidungen. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass dabei die beliebtesten Formen die Reduplikationen sind, die dementsprechend in Alltagsgesprächen nichts Ungewöhnliches darstellen. Dabei sind Lautnachahmungen (japan. gion-go) die Wörter gacha-gacha ‘klappern’, chirin-chirin ‘klirren’, kasa-kasa ‘rascheln’ und Nachahmungen der Art und Weise (Lautgebärden, japan. gitai-go) die Wörter tobu-tobu ‘zockeln’, fura-fura ‘herumziehen’, kira-kira ‘funkeln’, beta-beta ‘festkleben’ und dabu-dabu ‘ausgebeult, unförmig’. Insgesamt lässt sich sagen, dass in den Sprachen der Welt die Funktion der Reduplikation auf dem Gebiet der Symbolisierung der Akzidenzien grammatischer Kategorien, der Erzeugung anderer Wortarten, der Wortbildung, auf dem Gebiet des Ausdrucks von Emphase und dem des Ausdrucks von Intensität liegt. Eckhard Meineke

→ § 26; Ablautkombination; Iteration; Komposition; Onomatopoiie; Reimkombination; Wortbildungskonstruktion

⇀ Reduplikation (Gram-Formen; CG-Dt; HistSprw; Phon-Dt) ⇁ reduplication (Phon-Engl; Typol)

🕮 Abbi, A. [1992] Reduplication in South Asian Languages. An Areal, Typological and Historical Study. New Delhi [etc.] ◾ Ammann, A./ Urdze, A. [Hg. 2007] Wiederholung, Parallelismus, Reduplikation. Strategien der multiplen Strukturanwendung. Bochum ◾ Borrelli, D. [2002] Raddoppiamento Sintattico in Italian. A Synchronic and Diachronic Cross-Dialectical Study. New York [etc.] ◾ Coetsem, F. van [1990] Ablaut and Reduplication in the Germanic Verb. Heidelberg ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [1997] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Haugen, J.D. [2008] Morphology at the Interfaces. Reduplication and Noun Incorporation in Uto-Aztecan. Amsterdam [etc.] ◾ Karl, I. [1999] Chinesisch-deutsches Wörterbuch der Reduplikationen – mit einer Einführung in ihre Semantik und lexikalischen Strukturen. Heidelberg ◾ Kouwenberg, S. [ed. 2003] Twice as meaningful. Reduplication in Pidgins, Creoles, and other contact languages. London ◾ Lindström, J. [1999] Vackert, vackert! Syntaktisk reduplikation i svenskan. Helsingfors ◾ Meira, S. [2000] Reduplication in Tiriyó (Cariban). München ◾ Schindler, W. [1991] Reduplizierende Wortbildung im Deutschen. In: ZPSK 44: 597–613 ◾ Schwaiger, T. [2015] Reduplica-

tion. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 467–484 ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin ◾ Urbanczyk, S. [2020] Phonological and Morphological Aspects of Reduplication. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 802–822 ◾ Vuori, V.-J. [2000] Repetitive Structures in the Languages of East and South-east Asia. Helsinki ◾ Wiltshire, C./ Marantz, A. [2000] Reduplication. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 557–567.

reduplikatives Kompositum

Kompositum, das aus einer wiederholten Konstituente besteht. ▲ reduplicative compound: type of compound consisting of a repeated constituent. Reduplikative Komposita werden durch die Wiederholung einer Konstituente charakterisiert. Weil Reduplikation kein produktiver Prozess in der englischen Wortbildung ist, gehören reduplikative Komposita zur expressiven Sprache. Nach Marchand (1969: 83) sind solche Bildungen eher literarisch als umgangssprachlich, vgl. Beispiele wie the clump-clump of boots, the thump-thump of crutches ‘das clump-clump von Stiefeln, das thump-thump von Krücken’, die onomatopoetisch sind. Nicht-onomatopoetische Bildungen sind selten, vgl. goody-goody, girly-girly, buddy-buddy sowie das adjektivische hush-hush (Atmosphäre), never-never (Land), fifty-fifty (Chance). Fleischer/ Barz (2012: 94) führen das Beispiel im Klein-Klein des Alltags an. Andere Beispiele sind Tamtam, Effeff, Pinkepinke. Eine Variante der reduplikativen Komposita sind die Reim- und Ablaut-Kombinationen, vgl. für das Englische fuddy-duddy, helterskelter, hoity-toity, humdrum, razzle-dazzle und chitchat, dilly-dally, mish-mash, riffraff, zigzag (Marchand 1969: 432, 430) sowie für das Deutsche Schickimicki, Techtelmechtel und Tingeltangel. Reduplikative Komposita werden unterschieden von Selbstkomposita wie date-date und salad-­ salad, die in den folgenden Kontexten auftauchen: (1a) There was a bath in the guest house, well not a bath-bath rather a large sink. ‘Es gab ein Bad im Gästehaus; naja, nicht ein Bad-Bad, sondern eher ein großes Waschbecken.’ (1b) There's logic-logic and then there's 12-year old in love logic. ‘Es gibt Logik-Logik und dann gibt es die Logik der verliebten 12-Jährigen.’

R

reduplikatives Morph 586 (1c) She's shopping – well not shopping-shopping, but window browsing in the mall. ‘Sie ist beim Einkaufen – nicht Einkaufen-Einkaufen, sondern eher bei einer Schaufensterbummel im Einkaufszentrum.’ Die Funktion von Selbstkomposita besteht darin, einen realen oder prototypischen Fall der Denotation eines Kopfes zu benennen (vgl. Hohenhaus 2004, Ghomeshi/Jackendoff/Rosen/Russell 2004 und Olsen 2014), während reduplikative Komposita mithilfe der Wiederholung den Inhalt des Kopfes betonen, was meistens eine spielerische Wirkung hat wie in den alliterativen und sich reimenden Fällen. Susan Olsen

→ Ablaut; Kompositum; Onomatopoiie; Reduplikation; Selbstkompositum

⇁ reduplicative compound (Woform)

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Tübingen ◾ Ghomeshi, J./ Jackendoff, R./ Rosen, N./ Russell, K. [2004] Contrastive Focus Reduplication in English. In: NLg&LingT 22: 307– 357 ◾ Hohenhaus, P. [2004] Identical Constituent Compounds. In: FoL 38: 297–331 ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Olsen, S. [2014] Delineating Derivation and Composition. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Derivational Morphology. Oxford: 26–49 ◾ Schwaiger, T. [2015] Reduplication. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 467–484.

reduplikatives Morph

R

Morph, d.h. Minimalzeichen, dessen Ausdruck eine Reduplikationsoperation ist. ▲ reduplicative morph: morph, i.e. minimal sign, whose expression is an operation of reduplication. Für ein „Item-and-Arrangement“-Modell der Morphologie, das jede Äußerung vollständig und restlos als Verkettung von Minimalzeichen darstellen will, sind Fälle wie die in Tab. 1 dargestellten lateinischen Perfektformen eine Herausforderung. Tab. 1: Lateinische Perfektformen 3. Person Singular 3. Person Singular Bedeutung Präsens Perfekt /portat/

/portaːvit/

tragen

/komplet/

/kompleːvit/

füllen

/karpit/

/karpsit/

pflücken

/duːkit/

/duːksit/

leiten

/kurrit/

/kukurrit/

laufen

/poskit/

/poposkit/

fordern

Während in den ersten beiden Beispielpaaren die Suffixe /v/ ‘perfekt’ bzw. /s/ ‘perfekt’ erkennbar sind (der Status des nachfolgenden /i/ ist diskutierbar, hier aber nicht relevant), wird bei /kukurrit/ und /poposkit/ der Inhalt ‘perfekt’ nicht durch eine konstante Phonemfolge ausgedrückt, sondern offenbar durch eine Wiederholung von Phonemen der Basis. Die Bezeichnung reduplikatives Morph (oder ungenau reduplikatives Morphem) beruht auf der Annahme, dass eine solche Reduplikationsoperation als Ausdruck eines Minimalzeichens zulässig ist. Daneben findet sich auch der bildliche Ausdruck Chamäleon-Morph (Hockett 1950: 79), der die Abhängigkeit eines solchen Zeichens von seiner Umgebung hervorhebt. Reduplikation ist eine vollständige (totale) oder teilweise (partielle) Kopie der Reduplikationsbasis, d.h. der Segmentfolge, aus der kopiert wird (vgl. z.B. Wiltshire/Marantz 2000; Raimy 2011; Stolz/Stroh/Urdze 2011: 8–70; Inkelas 2014; Mugdan 2015: 273–275; Schwaiger 2015; Urbanczyk 2020 mit Überblicken über Phänomene, Terminologien und theoretische Ansätze). Dabei ist es durchaus möglich, dass Original und Kopie nicht nebeneinander stehen, dass die kopierten Segmente nicht benachbart sind (sei es im Original oder in der Kopie) oder dass die Kopie mit dem Original nicht völlig übereinstimmt. In all diesen Fällen kann man anstelle einer Operation oder Anweisung auch ein Affix annehmen, bei dem alle oder manche Segmente nur teilweise spezifiert sind und durch Segmente oder Merkmale der Basis vervollständigt werden. So könnte man im lateinischen Beispiel ein Präfix /CV‑/ ansetzen, das alle fehlenden Merkmale vom ersten Konsonanten und vom ersten Vokal der Basis erhält. (Tatsächlich sind die Verhältnisse etwas komplizierter, und angesichts der geringen Anzahl von Fällen stellt sich die Frage, ob man hier nicht schwach suppletive Perfektstämme annehmen sollte.) Auf diese Weise lässt sich Reduplikation als Unterform von Affigierung betrachten. Es ist allerdings fraglich, ob sie immer mithilfe von variablen Affixen dargestellt werden kann oder ob sie als ein nicht-additiver morphologischer Prozess eingestuft werden muss, der den nicht-kopierenden Modifikationen (Substitution, Subtraktion, Methathese) näher steht (s. Mel’čuk 2000: 527). Dementsprechend ist auch der Begriff

587 Reihenbildung des reduplikativen Morphs unterschiedlich zu verstehen. Er bezieht sich jedoch stets auf Reduplikation als Ausdruck einer grammatischen Bedeutung. Davon ist einerseits phonologische Reduplikation, die keine Bedeutung trägt (s. Inkelas 2014: 176–180), und andererseits syntaktische Reduplikation als Wiederholung von Wörtern (z.B. ein sehr, sehr teures Buch) zu unterscheiden.

ahd. Substantiv tuom (‘Urteil, Würde, Herrschaft, Stand’) entstanden. Für reihenbildende Kompositionsglieder der Gegenwartssprache (s.o.) ist der Abschluss eines Grammatikalisierungsprozesses allerdings nicht absehbar. Die Entwicklung stagniert allenfalls bei einer semantischen Entkonkretisierung, ohne dass der Gebrauch als freies Lexem aufgegeben wird.

Joachim Mugdan ≡ Chamäleon-Morph → Affix; Item-and-Arrangement-Modell; Metathese; Modifikation; Morph; Reduplikation; Segmentierung; Subtraktionsregel

→ Affixoid; Grammatikalisierung; Kompositum; Produktivität;

🕮 Hockett, C.F. [1950] Peiping morphophonemics. In: Lg 26: 63–85 ◾ Inkelas, S. [2014] Non-Concatenative Derivation. Reduplication. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Derivational Morphology. Oxford: 169–189 ◾ Mugdan, J. [2015] Units of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation. (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 235–301 ◾ Raimy, E. [2011] Reduplication. In: van Oostendorp, M./ Ewen, C.J./ Hume, E./ Rice, K. [eds.] The Blackwell Companion to Phonology. Vol. IV: Phonological Interfaces. Chichester: 2383–2413 ◾ Schwaiger, T. [2015] Reduplication. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 467–484 ◾ Stolz, T./ Stroh, C./ Urdze, A. [2011] Total Reduplication. The Areal Linguistics of a Potential Universal. Berlin ◾ Urbanczyk, S. [2020] Phonological and morphological aspects of reduplication. Lieber, R. [Hg.] OEM. Vol. 1. New York: 802–822 ◾ Wiltshire C./ Marantz, A. [2000] Reduplication. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie. (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 557–567.

reihenbildendes Kompositionsglied

Kompositionsglied, das immer wieder zur Bildung neuer Wörter verwendet wird. ▲ series-forming compound element: element in compounds which is used repeatedly in the formation of new words.

Die Bezeichnung reihenbildendes Kompositionsglied soll auf die Produktivität entsprechender Kompositionsglieder hinweisen, vgl. dt. Riesen(Riesenüberraschung, -erfolg, -skandal, -sauerei etc.), -voll (gefühlvoll, niveauvoll, kraftvoll, hoffnungsvoll etc.); engl. -friendly (user-friendly, consumer-friendly, environment-friendly, child-friendly usw.). Solche Elemente können in Folge einer semantischen Ausbleichung affixoide Züge annehmen und sich als Folge von Grammatikalisierungsprozessen zu Affixen entwickeln (vgl. Fleischer/Barz 2012; Habermann 2015). So ist z.B. das dt. Suffix -tum (z.B. Volkstum, Rittertum, Reichtum etc.), das mit engl. -dom verwandt ist, aus dem

Laurie Bauer

Reihenbildung

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Habermann, M. [2015] Grammaticalization in German wordformation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, Fr. (eds.), Word-Formation (40.3). Berlin [etc.]: 1794–1810 ◾ Olsen, S. [1988] Flickzeug vs. abgasarm. Eine Studie zur Analogie in der Wortbildung. In: Gentry, F. [ed.] Semper idem et novus. Festschrift für Frank Banta. Göppingen: 75–97 ◾ ten Hacken, P. [2000] Derivation and compounding. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 349–360.

Reihenbildung

Eigenschaft vor allem von Wortbildungsaffixen, an Basiswörtern derselben Wortart eine Vielzahl von Wortbildungen mit derselben Wortbildungsbedeutung auszuprägen. ▲ series-forming pattern: property of, primarily, word-formation affixes of generating from the same category a large number of formations with the same word-formational meaning. Die Fähigkeit zur Reihenbildung gilt als prototypische Eigenschaft von Wortbildungsaffixen. „Die relative Allgemeinheit der durch die Affixe bezeichneten Begriffe bewirkt die große Zahl ihrer möglichen Verbindungen mit anderen Begriffen, so daß die Reihenbildung als eine durch diese spezifische Art der Bedeutung kausal bedingte Eigenschaft der Affixe angesehen werden muß“ (Barz 1989: 322). Affixe bilden meist mehrere Wortbildungsreihen aus. Eine solche Reihe stellen im Dt. z.B. deverbale Substantive auf -er mit der Wortbildungsbedeutung nomen agentis dar (Leser, Maler, Lehrer, Verkäufer), eine weitere nomen instrumenti (Schalter, Bohrer, Leuchter), vgl. Fleischer/Barz (2012: 98). Auch kompositionelle Erst- und Zweitglieder können stark reihenbildend auftreten, ohne dass sie deshalb zu Affixen werden (Fleischer/Barz 2012: 133). Begünstigend für die Reihenbildung wirkt

R

Reimbildung 588

R

„eine sehr allgemeine Bedeutung und daher die Fähigkeit weiter semantischer Distribution“, z.B. bei -gut, -mittel, -stelle, -stoff, -zeug; haupt-, grund-. Noch stärker als beim Substantiv ist die Reihenbildung kompositioneller Zweitglieder wie -arm, -frei, -fremd in der adjektivischen Wortbildung ausgeprägt (vgl. dazu Fleischer/Barz 2012: 300ff.). Dennoch ist Reihenbildung nicht die Domäne der Komposition, sondern hier eher eine Randerscheinung (vgl. Barz 1989: 322). Um zwischen kompositionellen und derivationellen Wortbildungsverfahren zu unterscheiden, ist die Bestimmung des Status der jeweiligen Morpheme von grundlegender Bedeutung (Stein 2008: 179). Die Zwischenstellung zwischen Kompositionsglied und Affix wird häufig mit dem Begriff „Affixoid“ gefasst (vgl. Barz 2016: 759). Als wesentliches Kriterium wird neben semantischen Veränderungen der Zweitglieder im Kompositum im Vergleich zum freien Gebrauch die starke Tendenz zur Reihenbildung angeführt (vgl. dazu auch Barz 1989; Stein 2008: 191; Elsen 2009: 318f.). Hierzu merkt Stein (2008: 191) an, dass in der Wortbildungsforschung „jedoch allgemeingültige quantifizierbare Kriterien für das Vorliegen von Wortbildungsreihen [fehlen], die es auch im Hinblick auf den Affixoidstatus zu präzisieren erlaubten, ab welcher Größenordnung überhaupt von Reihenbildung gesprochen werden kann“. Barz (1989: 320) setzt die untere Grenze für Reihen „bei etwa fünf Exemplaren“ an. Barz (1989: 323) konstatiert, dass zwar „Reihenbildung als sekundäres Morphemmerkmal einerseits ein sicherer Indikator für einen relativ hohen Allgemeinheitsgrad der Bedeutung des betreffenden Morphems ist, daß aber Reihenbildung alleine nicht als hinreichendes Merkmal für einen spezifischen Status dieses Morphems angesehen werden kann, weil die Fähigkeit zur Ausprägung von Reihen sowohl Grundmorphemen als auch Affixen innewohnt.“ Hannelore Poethe

→ Affix; Affixoid; reihenbildendes Kompositionsglied; Wortbildungsbedeutung; Wortbildungsmodell; Wortbildungsreihe

⇀ Reihenbildung (Lexik)

🕮 Barz, I. [1989] Die Relevanz des Merkmals Reihenbildung für die Morphemklassifikation. In: Heimann, S./ Lerchner, G./ Müller, U. [Hg.] Soziokulturelle Kontexte der Sprach- und Literaturentwicklung. Stuttgart: 317–325 ◾ Elsen, H. [2009] Affixoide. Nur was benannt wird, kann auch verstanden werden. In: DS 37/4: 316–333 ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche

Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I.[2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Stein, S. [2008] Affixoide – Überlegungen aus semantischer und pragmatischer Perspektive zu einer umstrittenen Einheit der Wortbildung. In: Pohl, I. [Hg.] Semantik und Pragmatik – Schnittstellen. Frankfurt/Main: 179–216.

Reimbildung

≡ Reimkombination

Reimdoppelung

≡ Reimkombination

Reimkombination

reduplikationsähnliche Wortbildung, bei der die Konstituenten einen Endreim miteinander aufweisen. ▲ rhyming combination: product of word formation akin to reduplication whose constituents rhyme with each other. Die Reimkombination, auch als Reimdopplung oder Reimbildung bezeichnet, wird gemeinhin, wie die Ablautkombination, als eine Unterart der Reduplikation aufgefasst und beschrieben (vgl. Fleischer/Barz 2012: 94ff.), was sie aber strenggenommen nicht ist, da die Konstituenten eine verschiedene Gestalt haben und lediglich in Endreimbindung zueinander stehen. Gemeint sind Fälle wie Heckmeck ‘dummes Zeug, dummes Gerede’ und Picknick. Dabei kann bei auf frz. pique-nique beruhendem Picknick nur eine der beiden Konstituenten auf ein sprachwirkliches Grundmorphem zurückgeführt werden, nämlich frz. piqu- in piquer ‘aufspießen’. Bei Heckmeck ist die synchrone von der diachronen Perspektive zu trennen. Etymologisch dürfte die Grundlage des Wortes wohl in älterem Hackemack, Hack und Mack, liegen, eigentlich ‘Gehacktes und Durcheinandergemengtes’, dann auch ‘Plunder, Pöbel, zusammengelaufenes Gesindel, dummes Gerede’. In der Gegenwart könnte die Bildung eher als reimende Doppelbildung zu meckern, also ‘Gemecker’, aufgefasst werden (Kluge 2011: 402), doch wird auch der Anschluss an das Grundmorphem heck- in aushecken vorgeschlagen (Simmler 1998: 428). Die gleiche Trennung der beiden Sichtachsen ist bei Hokuspokus angezeigt, das auf der Zersprechung der lateinischen Messformel hoc est (enim) corpus (meum) beruhen könnte (Simmler

589

Rektionskompositum, nominales

1998: 429), aber mit der Bedeutung dieses Satzes in der gegenwärtigen Synchronie nichts zu tun hat und im übrigen auch im Unterschied zu Heckmeck nicht an eines oder zwei ansonsten bezeugte synchron belegte Grundmorpheme angeschlossen werden kann. Die für den Bereich der Adjektive angegebenen Beispiele doppelmoppel zum Adjektiv doppelt und etepetete zu westf. tēt ‘zart’ (Simmler 1998: 448f. nach Bzdęga 1965: 72) existieren entweder nicht – sprachüblich ist nur das Syntagma doppelt gemoppelt; Doppelmoppel ist Substantiv als nomen appellativum und nomen proprium – oder sind keine Reimbildungen im oben vorgestellten Sinn. Bei Doppelmoppel sind im übrigen beide Konstituenten Lexeme. Von den für den Adverbialbereich genannten Bildungen umedum(e) ‘um und um, ringsum, allenthalben’, holterdipolter ‘Hals über Kopf, drunter und drüber, eiligst, ohne Ordnung, unüberlegt, mit großem Lärm’, angelehnt an das Verb poltern sowie vielleicht das dialektale Verb holdern ‘Radau machen, mit starkem Geräusch gehen’ oder holtern ‘unordentlich, oberflächlich arbeiten’, sowie rutzebutz ‘ganz und gar, radikal’ zu Butze(n) ‘Kerngehäuse’ (Simmler 1998: 462f. nach Bzdęga 1965: 87, 116) sind österr. umadum und pfälzisch rutzebutz dialektale Varietäten. In holterdipolter tritt wie bei etepetete ein zusätzliches quasi-morphologisches Element auf. Im Bereich der Interjektionen werden die Beispiele rauzplauz und rumpump(el) genannt (Simmler 1998: 470f. nach Bzdęga 1965: 111, 127). Beide Beispiele erscheinen als überaus gesucht und kaum sprachüblich; Rumpumpel ist vor allem als Name eine Märchenfigur bezeugt. Dagegen ist das Verb rumpumpeln ‘rütteln und schütteln, rasseln’ belegt, während das in diesem Zusammenhang ebenfalls genannte stolterpoltern ‘Purzelbaum schlagen’ (Simmler 1965: 490 nach Bzdęga 1965: 127) nicht sprachüblich zu sein scheint. Das Verb rumpumpeln kann entweder dem Verb rumpeln oder dem Verb pumpeln zugeordnet werden. ≡ Reimbildung; Reimdoppelung

Eckhard Meineke

→ Ablautkombination; Iteration; Reduplikation; reduplikatives Kompositum

🕮 Bzdęga, A.Z. [1965] Reduplizierte Wortbildung im Deutschen. Poznan ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartsssprache. 4. völlig neu bearb. Auflage. Berlin

[etc.] ◾ Kluge, F. [2011] Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von E. Seebold. 25., durchges. und erw. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin.

Rektion

Relation zwischen einem Kopf und anderen Elementen innerhalb seiner Projektion. ▲ government: relation between a head and other elements inside its projection. In der traditionellen Grammatik beschreibt der Terminus Rektion die lexikalisch bestimmte Eigenschaft eines Wortes (vor allem eines Verbs oder einer Präposition), ein Komplement mit einem bestimmten Kasus an sich zu nehmen. Man sagt etwa, dass für eine Nominalphrase im Akkusativ regiert (für den Hund), während die Rektionseigenschaften von mit die Zuweisung des Dativs an sein Komplement verlangen (mit dem Hund). Der Terminus Rektionskompositum ergibt sich daraus, dass das Zweitglied des Kompositums von einem Verb abgeleitet ist, das in einer ähnlich interpretierten syntaktischen Konstruktion einen bestimmten Kasus regieren würde (vgl. das Apfelessen, Apfelesser, und einen Apfel essen). In der „Rektion-und-Bindungs“-Theorie wurde der Rektionsbegriff als Relation zwischen einem Kopf und einem Element in seiner Projektion verstanden, die nicht unbedingt auf Kasuszuweisung eingeschränkt war. Rektion spielte in dieser Theorie eine zentrale Rolle, etwa weil davon ausgegangen wurde, dass nur regierte Elemente bewegt werden können (das Prinzip der leeren Kategorien bzw. das empty category principle). Beispielsweise können in der Theorie von Baker (1988) nur die Wörter ins Verb inkorporiert werden, die vom Verb regiert sind. Andrew McIntyre

→ Argumentvererbung; Inkorporation; nominales Rektionskompositum; synthetisches Kompositum; Valenz

⇀ Rektion (Gram-Syntax; Phon-Dt) ⇁ government (Phon-Engl; Typol)

🕮 Baker, M. [1988] Incorporation. Chicago ◾ Eisenberg, P. [2013] Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 4., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart [etc.] ◾ Sternefeld, W. [2006] Syntax. Eine morphologisch motivierte generative Beschreibung des Deutschen. 2 Bde. Tübingen.

Rektionskompositum, nominales → nominales Rektionskompositum

R

Rekursivität 590

Rekursivität

formale Eigenschaft eines Regeltyps, der auf sich selbst angewendet werden kann und somit Einbettungen von gleichen Kategorien abbildet. ▲ recursion: formal property of a type of rule that can be applied to itself allowing embeddings of the same category.

R

Rekursion bezieht sich auf die Eigenschaft der Strukturen schaffenden Prozesse, die es erlaubt, dass eine Kategorie in die Domäne derselben Kategorie eingeführt wird. Eine syntaktische Struktur ist in dem Sinne rekursiv, dass eine Nominalphrase (= NP) innerhalb einer Nominalphrase erscheint (vgl. engl. my enemy’s enemy – [NP [NP my enemy’s] enemy]] ‘meines Feindes Feind’) oder dass sie als Komplement innerhalb einer Präpositionalphrase (= PP) erscheint, die wiederum eine Nominalphrase modifiziert, wie engl. the man with the knife (= [NP the man [PP with [NP a knife]]]) ‘der Mann mit dem Messer’. In beiden Beispielen erscheint die NP innerhalb einer anderen NP; die oberste NP ist deshalb rekursiv. Ein anderer typischer Fall tritt bei Verben ein, die Satzkomplemente subkategorisieren, wie engl. She said that Bill believes that the president will step down: [S She said [S that Bill believes [S that the president will step down]]] ‘Sie sagte, dass Bill glaubt, dass der Präsident zurücktreten wird’. In diesem Fall ist die Kategorie S (bzw. CP in moderneren syntaktischen Ansätzen) rekursiv. Wortstrukturen erlauben außerdem die rekursive Einbettung von Kategorien, wie in den Fällen von engl. homelessness ‘Obdachlosigkeit’ und dramatization ‘Dramatisierung’, bei denen die Kategorie Nomen (= N) rekursiv ist, was die Strukturen [N[A[N home][A less]][N ness]] and [N[V[N drama(t)][V iz(e)]][N ation]] zeigen. Die Rekursion von spezifischen Affixen ist jedoch ziemlich außergewöhnlich, obwohl man bestimmte präfixale Konstruktionen wie Ururgroßmutter oder engl. great-great-great-grandmother, post-postmoderism und re-reconsider findet. Oft reicht die phonologische Identität aus, um das Erscheinen von zwei Suffixen zusammen zu verhindern, selbst wenn sie verschiedene Morpheme repräsentieren. Zum Beispiel kann das engl. Adjektiv silly nicht mit dem Suffix -ly (vgl. *sillily) verbunden werden, das aus Adjektiven Adverbien bildet, wie in wisely ‘auf weise Art’. Selbst

das Wort monthly wie in monthly payment ‘monatliche Bezahlung’ kann nicht zum Adverb monthlyly erweitert werden, vgl. Bauer (2001: 132–133) und Raffelsiefen (2015). Ein möglicher Grund dafür, dass sich individuelle Suffixe selbst in Ausnahmefällen nicht zur Rekursion anbieten, ist ihre Funktion als Köpfe von Wörtern (vgl. Williams' 1981 „righthand head rule“), nicht als Modifikatoren der Kopfkonstituente. Folglich würde die Wiederholung eines Suffixes zu kompletter Redundanz führen (*weightless-less, *cleverness-ness). Eine zentrale Rolle für die Wortbildung spielt Rekursion im Bereich der nominalen Komposition. Rekursivität zeigt sich bei komplexen nominalen Komposita mit Links- bzw. Rechtsverzweigung bei komplexen nominalen Komposita mit mehr als zwei Konstituenten (auch Dekomposita genannt). Sowohl die erste als auch die zweite Konstituente von Komposita kann Rekursion aufweisen, vgl. engl. blood alcohol level ‘Blutalkoholspiegel’, bei dem die erste Konstituente rekursiv ist ([N[N[N blood][N alcohol]][N level]]), und Indian sign language ‘indische Zeichensprache’ mit einer rekursiven zweiten Konstituente ([N[N Indian][N[N sign][N language]]]). Eine Frage, die zur Diskussion führte, ist, ob koordinative (oder appositionelle) Komposita rekursiv und somit im selben Sinne hierarchisch sind wie determinative Komposita. Haben also Komposita der Form von engl. scientist-engineer-technician, singer-actress-producer-director und actor-director-producer-nightclub-performer-lecturer eher eine flache Struktur mit mehr als einem Kopf oder eine hierarchische Konfiguration mit nur einem Kopf. Der Nachteil der vielfach vertretenen Annahme einer flachen Struktur ist, dass linguistische Strukturen im Allgemeinen (ob nun eine Silbe, ein komplexes Wort oder eine syntaktische Phrase die betrachtete Einheit ist) hierarchisch sind. Es ist deswegen fraglich, warum eine so große Menge an Ausnahmen bestehen sollte. Viele aktuelle Abhandlungen zur Koordination in der Syntax gehen davon aus, dass die Konjunkte in einer koordinierten Phrase hierarchisch strukturiert sind, d.h. als Spezifizierer und Komplement zu einem funktionellen Koordinator als Kopf. Außerdem ist es die rechte Konstituente, die in koordinativen Komposita flektiert wird, vgl. die Pluralisierung scientist-engineers, und die folg-

591

relation linking

lich asymmetrisch als der Kopf der Konstruktion fungiert. Zudem erscheinen koordinative Komposita eingebettet in determinativen Komposita und umgekehrt, was die Annahme einer flachen Struktur für Erstere, aber einer hierarchischen Struktur für Letztere wenig plausibel macht. Zum Beispiel stehen in broker-dealer-investment banker-adviser die Konstituenten investment und banker in einer determinativen Beziehung zueinander, während investment banker als Ganzes eine koordinative Verbindung mit den anderen Konstituenten des komplexen Kompositums eingeht. Man betrachte auch scientist-engineer team ‘Wisenschaftler-Ingenieur-Team’ in der Bedeutung ‘Team von Wissenschaftler-Ingenieuren’, bei dem das koordinative Kompositum scientistingenieur in einer determinativen Beziehung zu seiner Kopf-Konstituente team steht. Susan Olsen

→ appositionelles Kompositum; binäre Verzweigung; De-

kompositum; Mehrfachverzweigung; righthand head rule

⇀ Rekursivität (Gram-Syntax) ⇁ recursion (Phon-Engl; CG-Engl; Woform; Typol)

🕮 Bauer, L. [2001] Morphological Productivity. Cambridge [etc.] ◾ Melloni, C. [2020] Subordinate and Synthetic Compounds in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 700–726 ◾ Olsen, S. [2000] Composition. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 897–916 ◾ Olsen, S. [2001] Copulative Compounds. In: Booij, G./ van Marle, J. [eds.] YbMo 2000. Dordrecht: 279–320 ◾ Olsen, S. [2004] The Case of Copulative Compounds. In: ter Meulen, A./ Abraham, W. [eds.] The Composition of Meaning. From Lexeme to Discourse. Amsterdam: 17–37 ◾ Plag, I. [2003] Word-Formation in English. Cambridge ◾ Raffelsiefen, R. [2015] Word-formation in optimality theory. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 894–917 ◾ Williams, E. [1981] On the Notions „Lexically Related“ and „Head of a Word“. In: LingInqu 12: 245–274.

relation linking

bei der kontextfreien Interpretation von Komposita angewandte Strategie zur Herstellung einer Kompatibilitätsbeziehung zwischen zwei Konzepten mittels semantischer Relationen. ▲ relation linking: strategy within the context-free interpretation of compounds by which a compatibility relation between two concepts is constructed by means of semantic relations. Die als relation linking bezeichnete Art der Interpretation von Komposita erfolgt nach Levi (1978) auf der Grundlage einer finiten Menge semantischer Relationen, die zwischen den mit den

Konstituenten assoziierten Konzepten bestehen. Das Inventar dieser Relationen umfasst abstrakte Prädikate wie cause (z.B. tear gas), have (z.B. picture book), in (z.B. field mouse) oder for (z.B. horse doctor). Prädikate dieser Art sind insofern abstrakt, als sie weder im Modifikatorkonzept noch im Kopfkonzept enthalten sind. Gagné/Shoben (1997) gehen jedoch davon aus, dass die Aktivierung bestimmter Relationen durch das Modifikatorkonzept begünstigt wird. In Komposita wie moutain cabin, mountain stream, mountain goat oder mountain cloud stellt das modifizierende, durch mountain bezeichnete Konzept typischerweise eine lokale in-Relation zu dem Kopfkonzept her. Eine made of-Relation (z.B. mountain range) ist hingegen im Kontext von mountain seltener zu verzeichnen und daher schwerer zu identifizieren. Motiviert wird das modifikatorgesteuerte relation linking im Englischen dadurch, dass der Modifikator in endozentrischen Komposita dem Kopf vorangeht und eine Instantiierung des Kopfkonzepts bewirkt. Durch mountain bird wird beispielsweise ein Vogel aus der Menge der Vögel bezeichnet, die sich zunächst aufgrund ihres Lebensraums (impliziert durch die in-Relation) von anderen Vogelarten unterscheiden. Spezifischere, mit diesem Lebensraum assoziierte Eigenschaften der Referenten von mountain bird werden über concept elaboration erschlossen. Relation linking ist somit als eine Art der ersten Annäherung an die Bedeutung eines Kompositums zu verstehen. Empirische Evidenz für relation linking findet sich in den Arbeiten von Coolen/ van Jaarsveld/Schreuder (1991) und Wisniewski (1996). Im Gegensatz zu der von ihm als property mapping bezeichneten Strategie zur kontextfreien Interpretation von Komposita kommt relation linking nach Wisniewski (1996) dann zur Anwendung, wenn das Modifikatorkonzept und das Kopfkonzept keine gemeinsamen Eigenschaften aufweisen. Heike Baeskow

→ concept elaboration; komplexes Konzept; kontextfreie

Interpretation; Konzeptkombination; Nomen+Nomen-Kompositum; property mapping

🕮 Coolen, R./ van Jaarsveld, H.J./ Schreuder, R. [1991] The interpretation of isolated novel nominal compounds. In: MemCog 19/4: 341–352 ◾ Gagné, C.L./ Shoben, E.J. [1997] Influence of Thematic Relations on the Comprehension of Modifier-Noun Combinations. In: JEP-LMCog 23/1: 71–87 ◾ Levi, J.N. [1978] The Syntax and Semantics of Complex Nominals. New York, NY [etc.]

R

relation, appropriately classificatory 592 ◾ Wisniewski, E.J. [1996] Construal and Similarity in Conceptual Combination. In: JMLg 35: 434–453.

relation, appropriately classificatory → appropriately classificatory relation

Relation, semantische → semantische Relation

relatives Adjektiv

Adjektiv, mit dem eine Beziehung oder Zugehörigkeit ausgedrückt wird. ▲ relational adjective: adjective expressing a relation or affiliation.

R

Relative Adjektive stellen neben qualitativen (auch: qualifizierenden) und quantifizierenden eine semantische Subklasse der Wortart Adjektiv dar. In Grammatiken und Wortbildungslehren werden sie auch als relationale Adjektive (Wellmann 1998, Gallmann 2016) oder Relationsadjektive (Thiele 1981) aufgeführt. Sie „drücken das Merkmal eines Objekts durch dessen Beziehung zu einem anderen Objekt bzw. Realitätsfaktor wie Raum, Zeit u.a. aus“. Durch sie „kann ein Objekt im Hinblick auf Besitz oder Herkunft, seine Lage oder den Bereich usw. beschrieben werden“ (Helbig/Buscha 2001: 281). Gallmann (2016: 343f.) differenziert die durch relationale Adjektive ausgedrückte Beziehung oder Zugehörigkeit genauer nach geografischer Herkunft oder Zugehörigkeit (afrikanisch, rheinisch, Berliner), gesellschaftlichem Bereich (städtisch), Religion (evangelisch), Zuordnung zu einem Sachbereich (wissenschaftlich), Zuordnung zu einer Person oder zu einem Beruf (schillersche Dramen, ärztlich), Stoff (hölzern), Epoche/Zeitabschnitt (mittelalterlich, romantisch), Zeitpunkt (gestrig), räumlicher Lage (dortig), Geltung/Wahrheitsgehalt (wahrscheinlich) sowie Adjektiven, die den Demonstrativa nahestehen (folgende, letztere). Noch in einem anderen Sinne wird von relativen Adjektiven gesprochen, wenn sich die Bedeutung eines Adjektivs danach bestimmt, welcher Vergleichsmaßstab angesetzt wird, z.B. hat ein breiter Graben eine andere Dimension als ein breiter Rand auf einer Schreibmaschinenseite. Relative Adjektive werden so im Gegensatz zu absoluten Adjektiven verstanden. Vgl. dazu Wellmann (1998: 258), Hentschel/Weydt (2003: 201).

Die semantische Subklasse hat auch Einfluss auf die morphosyntaktischen Eigenschaften der Adjektive. Relationale Adjektive sind im Allgemeinen nicht graduierbar. Hinsichtlich ihres attributiven, prädikativen oder adverbialen Gebrauchs unterliegen sie verschiedenen Einschränkungen. Viele relative Adjektive sind aufgrund ihrer Semantik auf attributiven Gebrauch beschränkt. Wenn sie qualifizierend zu verstehen sind, können sie auch prädikativ oder adverbial gebraucht werden (z.B. Er ist väterlich. Sie denkt europäisch.), vgl. Gallmann (2016: 360ff.) Unter Wortbildungsaspekten handelt es sich bei relativen Adjektiven vor allem um desubstantivische Derivate. Substantive werden „als adjektivisches Attribut verfügbar gemacht und können somit zu einem weiteren Substantiv in Beziehung gesetzt werden, vgl. Staat > staatlich in staatliche Aufgabe“ (Fleischer/Barz 2012: 307f.). Die Suffixe fungieren dabei gleichsam als „syntaktische Verbindungsstücke, die Bezugsnomen und Basiswort aufeinander beziehen“ (Wellmann 1998: 544). Nach Hansen/Hansen/Neubert/Schentke (1990: 112) ist bei solchen „transpositionellen“ Adjektiven die Transposition in eine andere Wortart primär und die Bedeutung daher nur sehr allgemein beschreibbar als ‘Zugehörigkeit/Beziehung zu jemand/etwas’. „Eine Spezifizierung der Bedeutung solcher Adjektive ergibt sich erst in Verbindung mit dem durch sie modifizierten Substantiv, zu dem sie in einer Beziehung stehen, die der zwischen den Konstituenten vergleichbarer Determinativkomposita entspricht (vgl. z.B. governmental act, governmental authority).“ Zur Konkurrenz im Gebrauch desubstantivischer Adjektive und Zusammensetzungen aus Substantiv + Substantiv (steuerliche Belastung vs. Steuerbelastung) vgl. auch Erben (2006: 131f.). Für die Bildung relativer Adjektive stehen in den Einzelsprachen zahlreiche Suffixe zur Verfügung. Im Dt. werden hauptsächlich die Suffixe -isch, -lich und -mäßig genutzt (schulisch, begrifflich, wettermäßig). Es entstehen vor allem „unspezifische relative Adjektive“, bei denen „Basissubstantiv und Bezugswort weitgehend ohne semantische Anreicherung“ aufeinander bezogen werden (Barz 2016: 768). Hochproduktiv ist dabei -mäßig, da es nahezu ohne Beschränkung mit indigenen und exogenen substantivischen Basen verbindbar ist (gefühlsmäßig, charaktermäßig) sowie mit Suffix-

593 Remotivation derivaten, die sich gegen eine Adjektivierung mit -lich oder -isch sperren (frühlingsmäßig, verhältnismäßig), vgl. Fleischer/Barz (2012: 308). In der deonymischen Derivation ist es vor allem das Suffix -isch, mit dem unspezifische relative Adjektive gebildet werden, die die „Zugehörigkeit zu dem durch den Eigennamen benannten Individuum bzw. Objekt“ ausdrücken und „Eigennamen adjektivisch-attributiv verfügbar“ machen (goethe­ sches/​Goethe’sches/goethisches Gedicht, isländisch, erzgebirgisch, homerisch), vgl. Fleischer/Barz (2012: 317ff.). Im Engl. ist das Suffix -al mit den Varianten -ical, -ial, -ual sehr produktiv (educational ‘erzieherisch’, mathematical ‘mathematisch’, editorial ‘redaktionell’, contractual ‘vertraglich’), ebenso -ic (biographic ‘biografisch’), -ly (worldly ‘weltlich’). Zur Ableitung von Namen dienen vor allem -ic (Icelandic ‘isländisch’) und -ish (Swedish ‘schwedisch’). Im Franz. sehr produktiv sind die Suffixe -aire, -al, -el, -(at)ique (tarifaire ‘tariflich’, automnal ‘herbstlich’, culturel ‘kulturell’, filmique ‘filmisch’, problématique ‘problematisch’). Der Adjektivierung von geografischen Bezeichnungen dienen z.B. -(a)in, -ais, -ien, -ois (africain ‘afrikanisch’, marseillais ‘Marseiller’, nigérien ‘nigerianisch’, viennois ‘Wiener’). Hannelore Poethe

→ deonymische Wortbildung; Derivationssuffix; Determinativkompositum; qualitatives Adjektiv; Transposition

⇀ relatives Adjektiv (Gram-Formen)

🕮 Barz, I. [2016] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 9., vollst. überarb. u. aktual. Aufl. Berlin: 644–774 ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I.[2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Gallmann, P. [2016] Die flektierbaren Wortarten. In: Duden. Die Grammatik. 9., vollst. überarb. u. aktual. Aufl. Berlin: 149–394 ◾ Hansen, B./ Hansen, K./ Neubert, A./ Schentke, M. [1990] Englische Lexikologie. 3. Aufl. Leipzig ◾ Helbig, G./ Buscha, J. [2001] Deutsche Grammatik. Ein Handbuch für den Ausländerunterricht. 20. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Hentschel, E./ Weydt, H. [2003] Handbuch der deutschen Grammatik. 3., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig ◾ Wellmann, H. [1998] Die Wortbildung. In: Duden [1998] Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 6., neu bearb. Aufl. Mannheim [etc.]: 408–557.

relisting

Analyse, die Konversion als die Wiederaufnahme in das mentale Lexikon versteht, nämlich die Wiederaufnahme eines Wortes einer bestimmten syntak-

tischen Kategorie in eine andere Kategorie ohne Beteiligung eines Null-Affixes oder zusätzlichen morphologischen Materials. ▲ relisting: analysis of conversion which takes conversion to involve the re-entry in the mental lexicon of a word of one syntactic category with another category, without the concomitant attachment of a zero affix and without the addition of any further morphological structure. Auf die Arbeit von Lieber (1981) zurückgehend, ist die Relisting-Analyse der Konversion eine Antwort auf diejenigen Konversionsanalysen, die mit Null-Affigierung arbeiten. Lieber (1981) argumentiert auf der Grundlage morphosyntaktischer Eigenschaften deutscher Konversionspaare, dass sich mutmaßliche Null-Affixe nicht verhalten wie overte Derivationsaffixe. Overte Derviationsaffixe haben, anders als sogenannte Null-Affixe, einheitliche Effekte auf die Genus- oder Pluralklasse ihres Outputs. Um diesen Unterschied zu erfassen, ist die Analyse mit Null-Affixen dazu gezwungen, eine Vielzahl von Null-Affixen zu postulieren. Demgegenüber macht die RelistingAnalyse keine Vorhersage über einheitliches morphosyntaktisches Verhalten. In späteren Arbeiten (Lieber 1992, 2004) sieht Lieber ein ähnliches Argument zugunsten des Relisting-Konzepts darin, dass bei der Derivation von Nomina zu Verben keine Einheitlichkeit in der Argumentstruktur von Prädikaten bzw. der lexikalisch-konzeptuellen Struktur gegeben ist. Rochelle Lieber

→ Konversion; Nullmorphem; overt analogue criterion ⇁ relisting (Woform)

🕮 Lieber, R. [1981] The Organization of the Lexicon. Bloomington, IN ◾ Lieber, R. [1992] Deconstructing Morphology. Word Formation in Syntactic Theory. Chicago, IL ◾ Lieber, R. [2004] Morphology and Lexical Semantics. Cambridge.

Remotivation

Reaktivierung der primären Motivationsbedeutung einer demotivierten Bildung. ▲ remotivation: reactivation of the primarily motivated meaning of a demotivated word-formation. Durch Demotivation können Benennungsmotive verblassen. Das komplexe Wort wird als semantische Einheit aufgefasst. Die Durchsichtigkeit der morphologischen Struktur demotivierter Bildungen ermöglicht jedoch ihre Remotivation. Remoti-

R

Remotivierung 594 vation ist eine Form der Neumotivierung, bei der der ursprüngliche Zustand der Motivation wieder hergestellt wird, z.B. dt. etwas erstehen ‘kaufen, indem man lange danach ansteht’; im 17. Jh. bezogen auf das lange Stehen bei Versteigerungen. Mitunter werden die Begriffe „Remotivation“ und „sekundäre Motivation“ synonym verwendet (vgl. u.a. Harnisch 2000). Streng genommen entsteht aber bei der Remotivation – anders als bei der sekundären Motivation – keine neue, von der primären Motivationsbedeutung abweichende Motivation. Vielmehr wird die eigentliche, konstruktionsexterne Bedeutung der beiden unmittelbaren Konstituenten (re-)aktualisiert (Fleischer 1969: 277) und die ursprüngliche Motivationsbedeutung reaktiviert. Der Prozess der Demotivation wird dabei bewusst gemacht. Durch die Verwendung eines Bindestrichs (dt. Schau-Spiel, Augen-Blick), aber auch durch bestimmte phonetisch-phonemische Merkmale kann dies besonders hervorgehoben werden, vgl. etwa dt. Hoch-Zeit [hɔx.tsait] > [ho:x. tsait], engl. forehead [fɔrid] > [fɔ:hed]. Durch Remotivation entsteht häufig eine expressive Wirkung. Dies erklärt, warum das Prinzip der Remotivation vor allem in literarischen und publizistischen Texten angewendet wird. Anja Seiffert ≡ Deidiomatisierung; Neumotivation; Remotivierung → Demotivation; Motivation; verdunkeltes Kompositum

R

🕮 Fleischer, W. [1969] Stilistische Aspekte der Wortbildung. In: DaF 6/1969: 276f ◾ Handler, P. [1993] Wortbildung und Literatur. Panorama einer Stilistik des komplexen Wortes. Frankfurt/Main ◾ Harnisch, R. [2000] Morphosemantische Remotivierung verdunkelter Nominalkomposita im Englischen und Deutschen. In: AAA 25: 71–88 ◾ Harnisch, R. [Hg. 2010] Prozesse sprachlicher Verstärkung. Typen formaler Resegmentierung und semantischer Remotivierung. Berlin [etc.] ◾ Käge, O. [1980] Motivation. Probleme des persuasiven Sprachgebrauchs, der Metapher und des Wortspiels. Göppingen.

Remotivierung

≡ Remotivation ⇀ Remotivierung (SemPrag)

repetitives Kompositum ≡ Āmreḍita

replacive morphology

Form der Morphologie, bei der ein oder mehrere Segmente gegen einen Teil der Wurzel ausgetauscht werden.

▲ replacive morphology: type of morphology in

which one or more segments are substituted for part of a root.

Im Strukturalismus (Nida 1949, Hockett 1954) wurden ersetzende (replazive) Morphe als Lösung für ein Problem der „Item-and-Arrangement“-Modelle vorgeschlagen. In „Item-and-Arrangement“Theorien müssen Morpheme als statische Assoziationen von Form und Bedeutung angenommen werden. Das reguläre Past Tense im Englischen kann damit gut erfasst werden, aber irreguläre Formen wie took als das Past Tense von take ergeben Analyseprobleme. Obwohl sie dieselbe morphosyntaktische Distinktion wie die regulären Past-Tense-Formen ausdrücken, weisen sie ein anderes Zeichen der Distinktion als den Unterschied in den Wurzelvokalen auf. Es ist nicht ersichtlich, wie der Vokal /ʊ/ ein Morphem sein sollte, das mit dem Past Tense assoziiert ist. Hockett (1954: 223) nimmt als einzige brauchbare Lösung ein „Morphem“ /u/ → /ey/ an, zu paraphrasieren als: ‘/u/ ersetzt /ey/’, mit dem took zu take in Beziehung zu setzen ist. Hockett weist durchaus darauf hin, dass, auch wenn die Idee eines replaziven Morphs zumindest scheinbar eine Lösung für das Problem des Ablauts bietet, sie den Vorstellungen der „Itemand-Arrangement“-Theorien widerspricht und schlägt deshalb das „Item-and-Process“-Modell als Alternative vor. Entsprechende Probleme in der Wortbildung werden z.B. bei Anderson (1992) „a-morphous morphology“ und Stumps (2001) „paradigm function morphology“ diskutiert. Obwohl autosegmentale Lösungen für das Problem denkbar wären, sind sie nicht vorgeschlagen worden, vermutlich deshalb, weil sie das Postulat diskontinuierlicher Wurzeln wie /tVk/ erfordern würden. Der unterspezifizierte Vokal dieser diskontinuierlichen Wurzel müsste mit autosegmentalen Merkmalen gefüllt werden, für das Present Tense mit dem mittleren vorderen gespannten Vokal [e] korrespondierend und für das Past Tense mit dem hohen ungespannten hinteren Vokal [ʊ]. Rochelle Lieber

→ Ablaut; a-morphous morphology; autosegmentale Morphologie; Item-and-Arrangement-Modell; Item-and-ProcessModell; nicht-konkatenative Morphologie ⇁ replacive morphology (Woform)

🕮 Anderson, S.R. [1992] A-morphous Morphology. Cambridge [etc.] ◾ Hockett, C.F. [1954] Two Models of Grammatical Description. In: Word 10: 210–234 ◾ Nida, E.A. [1949] Morphology.

595 reversativ The Descriptive Analysis of Words. 2nd, compl. new ed. Ann Arbor, MI ◾ Stump, G.T. [2001] Inflectional Morphology. A theory of paradigm structure. Cambridge.

Repräsentation, framebasierte → framebasierte Repräsentation

Repräsentation, lexikalische → Lexikoneintrag (2)

Restriktion

Faktor, der die Ausnutzung einer Menge von Basen für einen morphologischen Prozess beschränkt. ▲ restriction: factor which limits the exploitation of a set of bases for some morphological process. Restriktionen hinsichtlich der Wortbildungsproduktivität werden normalerweise als Restriktionen der Basen formuliert, die für bestimmte morphologische Prozesse zur Verfügung stehen, können aber auch anders formuliert werden, so z.B. in Bezug auf Domänen oder auf die Form des Outputs. Offensichtliche Restriktionen sind solche auf die Wortklasse der Basis. So kann im Englischen und Deutschen bspw. keine Personmarkierung (bspw. 2.Sg, 3.Pl) bei nominalen Basen erfolgen. In der Derivationsmorphologie ist dieses Prinzip als „unitary base hypothesis“ (Aronoff 1976:48) bezeichnet worden. Es besagt, dass die Wortklasse der Basen für jeden morphologischen Prozess einheitlich sein muss. So können manche Suffixe z.B. an Verben affigiert werden, aber nicht beliebig an Verben, Nomina, Adjektive, Adverbien, Präpositionen, Konjunktionen usw. Restriktionen der Basis können auch phonologisch, morphologisch oder semantisch sein (vgl. z.B. Raffelsiefen 2015; Peter 2015; Baeskow 2015). So wird z.B. oft darauf hingewiesen, dass das engl. Suffix -al, das Nomina wie arrival bildet, nur an Verben mit Finalakzent affigiert wird (natürlich werden aber nicht alle Verben mit Finalakzent mit -al affigiert, und es muss festgehalten werden, dass burial historisch gesehen nicht das gleiche Suffix enthält). Der deutsche Genusmarker -in kann in der Regel nicht an Wörter affigiert werden, die auf das Suffix -ling enden (Prüfer – Prüferin, aber nicht Prüfling – *Prüflingin). Das Fremdsuffix -ation ist zwar im Engl., aber nicht im Dt. mit nativen Basen kombinierbar (z.B. engl. starvation, aber nicht dt. *Sterbation).

Restriktionen sind diachron veränderbar. So werden gegenwartssprachlich – anders als noch frühnhd. – -ung-Derivate nicht mehr zu Basisverben mit durativer bzw. inchoativer Aktionsart gebildet (z.B. *Glaubung, *Erblühung). Laurie Bauer ≡ Bildungsbeschränkung → § 18, 41; affixale Domäne; Produktivität; Profitabilität ⇁ restriction (Woform)

🕮 Aronoff, M. [1976] Word Formation in Generative Grammar. Cambridge, MA [etc.] ◾ Baeskow, H. [2015] Semantic restrictions on word-formation: the English suffix -ee. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 932–944 ◾ Bauer, L. [2001] Morphological Productivity. Cambridge [etc.] ◾ Gaeta, L. [2015] Restrictions in word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds], Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 859–875 ◾ Peter, L. [2015] Morphological restrictions on English wordformation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 918–931 ◾ Plag, I. [1999] Morphological Productivity. Structural Constraints on English Derivation. Berlin [etc.] ◾ Raffelsiefen, R. [2015] Phonological restrictions on English word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 894–917.

Resultatsbezeichnung ≡ nomen acti

retrograde Ableitung ≡ Rückbildung

retrograde Derivation ≡ Rückbildung

retrograde Substantivableitung ≡ Rückbildung

reversativ

beschreibt ein komplexes Verb, das die Rückgängigmachung der vom Basisverb denotierten Handlung ausdrückt, oder einen Verbzusatz, der zur Bildung solcher Verben dient. ▲ reversative: describes a complex verb which expresses the reversal of the action denoted by the verbal action, or a preverb used in the formation of such a complex verb. Das Deutsche benutzt am häufigsten das Präfix ent- oder die Partikel ab- zur Bildung der reversativen Verben. Beispiele sind entradikalisieren, entfärben, eine Zeitung abbestellen, sich etwas abgewöhnen. Das Englische verwendet die Prä-

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reversible Wortbildungsbeziehung 596 fixe un- bzw. dis-/de- zu diesem Zweck: untie, denazify, disentangle. Die reversative Funktion der Verbzusätze könnte auf unabhängig benötigte Prinzipien zurückgeführt werden, wenn man sie als Negationsoperatoren behandelt, die lediglich den Resultatszustand des Basisverbs in ihren Skopus nehmen (Marchand 1969: 205, Dowty 1979: 257–260). Aus dieser Sicht hat die Gruppe entradikalisieren die Interpretation ʻbewirken, dass die Gruppe nicht radikal istʼ. In einigen Fällen scheint die Hinzufügung eines reversativen Verbzusatzes mit der Tilgung eines Verbzusatzes am Basisverb einherzugehen: abrüsten (vgl. aufrüsten), entwöhnen (vgl. gewöhnen), sich entlieben (vgl. sich verlieben), entschlüsseln (vgl. verschlüsseln). Eine weitere Komplikation tritt bei gewissen Verbpartikeln auf. Die Partikeln in auspacken, auseinanderbauen, losbinden scheinen eine reversative Interpretation zu haben (auspacken ist eine Reversativbildung zu packen oder vielleicht einpacken), aber in diesen Fällen scheint sich die reversative Funktion aus einem Widerspruch zwischen der (an sich weder reversativen noch negativen) Semantik der Partikel und der Bedeutung des Basisverbs zu ergeben. Für weitere Diskussion und Literaturangaben zu solchen „pseudoreversativen“ Verbpartikeln, s. McIntyre (2002). Andrew McIntyre

→ Negationspräfix; Präfix; Privativum; Verbpartikel

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🕮 Dowty, D.R. [1979] Word Meaning and Montague Grammar. The Semantics of Verbs and Times in Generative Semantics and Montague’s PTQ. Dordrecht [etc.] ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ McIntyre, A. [2002] Idiosyncrasy in Particle Verbs. In: Dehé, N./ Jackendoff, R./ McIntyre, A./ Urban, S. [eds.] Verb Particle Explorations. Berlin [etc.]: 97–118.

reversible Wortbildungsbeziehung

Wortbildungsbeziehung, bei der sich Wortbildungsbasis und Wortbildungsprodukt gegenseitig motivieren, sodass bei synchroner Betrachtung nicht zu entscheiden ist, in welche Richtung die Motivationsbeziehung verläuft. ▲ reversible motivation: word-formation relation in which the base of the word-formation and the result of the word-formation motivate each other so that in a synchronic description it is no longer possible to determine the direction of the motivation. Reversible, d.h. umkehrbare Wortbildungsbezie-

hungen können als ein Spezialfall der Mehrfachmotivation betrachtet werden. Ambig ist dabei die Ableitungsrichtung und mithin die Entscheidung, welches die motivierte und welches die motivierende Einheit ist: dt. Arbeit ↔ arbeiten, engl. cook ʻKochʼ ↔ to cook ʻkochenʼ, frz. danse ʻTanzʼ ↔ danser ʻtanzenʼ. Gegenüber einer strikt unidirektionalen Konzeption der morphosemantischen Motivation setzt ein solcher bidirektionaler Ansatz mit der Annahme reversibler Wortbildungsbeziehungen voraus, dass bei synchroner Analyse nicht in jedem Fall eindeutig zwischen motivierter und motivierender Einheit unterschieden werden kann (vgl. Umbreit 2015: 43). Dies trifft v.a. auf Bildungen zu, die nicht anhand ihrer Struktur, durch das Hinzutreten eines Wortbildungselements, als Wortbildungen zu erkennen sind. In diesen Fällen ergibt sich die Wortbildungsrichtung vor allem aus der Motivation des Bildungsprodukts: Normalerweise gilt diejenige lexikalische Einheit als sekundär, deren Bedeutung durch die Bedeutung der (gleichlautenden) anderen Einheit motiviert ist, z.B. dt. fischen ʻFische fangenʼ (vgl. Barz 2016: 678). Wo dieses Kriterium nicht greift (wie bei dt. loben ʻein Lob aussprechenʼ ↔ Lob ʻVorgang oder Ergebnis des Lobensʼ), werden oft weitere Kriterien wie die Anzahl der Lesarten oder die Gebrauchshäufigkeit herangezogen: Danach wäre das häufigere Wort bzw. das Wort mit der größeren Zahl an Lesarten das motivierende (vgl. Fleischer/Barz 2012: 269). Müller (1993: 54) betont jedoch, dass „der Versuch, als Basis das Lexem mit der größeren Gebrauchshäufigkeit bzw. dem größeren Bedeutungsspektrum zu bestimmen […], nicht in jedem Fall zu schlüssigen Ergebnissen [führt]“. Angemessener sei es daher, „auf eindeutige Lösungen zu verzichten, wenn für zwei Lexeme keine stringente Ableitungsrichtung angenommen werden kann, da die semantische Abhängigkeit wechselseitig motivierbar ist“ (Müller 1993: 54). Auch Fleischer/Barz (2012: 269) räumen ein: „Wo die Kriterien nicht greifen, […] muss die Entscheidung offenbleiben“. Besonders häufig treten reversible Wortbildungsbeziehungen innerhalb der Fremdwortbildung auf, und zwar vor allem bei substituierender Ableitung (vgl. Müller 2000; Seiffert 2008): So ist dt. polemisch morphosemantisch motiviert durch Polemik (polemisch: ʻin der Art einer Polemikʼ),

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ebenso kann aber auch das Adjektiv polemisch als die motivierende und Polemik als die motivierte Einheit aufgefasst werden (Polemik: ʻpolemischer Charakter [einer Äußerung o.ä.]ʼ) (vgl. Müller 2000: 121). Innerhalb der indigenen Wortbildung bleibt das Phänomen der Reversibilität der Wortbildungsbeziehung in der Regel auf bestimmte Wortbildungsarten beschränkt: in erster Linie auf die verbale bzw. deverbale Konversion, die im Deutschen oder auch im Englischen ein hochproduktives Verfahren zur Bildung neuer Wörter darstellt: dt. rufen ʻeinen Ruf aussendenʼ ↔ Ruf ʻVorgang oder Ergebnis des Rufensʼ; engl. to cook ʻto do the work of a cookʼ ↔ cook ʻone, who cooks foodsʼ. Auch einige Rückbildungen wie dt. Zwangsräumung – zwangsräumen zeigen bei synchroner Betrachtung vereinzelt reversible Wortbildungsbeziehungen. Mitunter wird sogar bei einzelnen Derivaten wie bei dt. Säge ʻGerät zum Sägenʼ ↔ sägen ʻmit der Säge hantierenʼ, Hacke ↔ hacken, Feile ↔ feilen etc. eine Umkehrbarkeit der Wortbildungsbeziehung angenommen (vgl. Wellmann 1975: 437f.). Für Müller (1993: 53) ist hingegen die Annahme eines reversiblen Motivationsbezugs für substantivische Derivate, die unter synchronisch-morphosemantischem Aspekt motiviert sind, „nicht notwendig bzw. nicht schlüssig“. Hier wäre demnach eher von einer unidirektionalen Wortbildungsbeziehung auszugehen. Dies gilt auch für Bildungen wie dt. Verkauf < verkaufen; engl. to document < document; frz. rappel ʻRückrufʼ < rappeler (ʻzurückrufenʼ), bei denen die interne Wortbildungsstruktur den entscheidenden Hinweis auf eine unidirektionale Beziehung liefert: Affixe wie dt. ver-, engl. -ment oder frz. re- sind wortartspezifisch und insofern auf Verben (ver-, re-) oder Substantive (-ment) beschränkt. Daher liegen hier keine reversiblen Beziehungen vor (vgl. Umbreit 2015: 42; Fleischer/ Barz 2012: 268f.). Anja Seiffert

→ § 31; Affixsubstitution; Derivationsrichtung; Fremdwortbildung; Mehrfachmotivation; Motivation; Rückbildung

🕮 Barz, I. [2016] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 9., vollst. überarb. u. aktual. Aufl. Berlin: 644–774 ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Müller, P.O. [1993] Substantiv-Derivation in den Schriften Albrecht Dürers. Ein Beitrag zur Methodik historisch-synchroner Wortbildungsanalysen. Berlin [etc.] ◾ Müller, P.O. [2000] Deutsche Fremdwortbildung. Probleme der Analyse und der Kategorisierung.

In: Habermann, M./ Müller, P.O./ Naumann, B. [Hg.] Wortschatz und Orthographie in Geschichte und Gegenwart. Festschrift für Horst Haider Munske zum 65. Geburtstag. Tübingen: 115–134 ◾ Seiffert, A. [2008] Autonomie und Isonomie fremder und indigener Wortbildung am Beispiel ausgewählter numerativer Wortbildungseinheiten. Berlin ◾ Umbreit, B. [2015] Zur Direktionalität der lexikalischen Motivation. Motiviertheit und Gerichtetheit von französischen und italienischen Wortpaaren auf der Basis von Sprecherbefragung. Tübingen ◾ Wellmann, H. [1975] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 2. Hauptteil: Das Substantiv. Düsseldorf.

righthand head rule

Regel, die vorhersagt, dass Suffixe und zweite Konstituenten von Komposita, aber nicht Präfixe als Köpfe von komplexen Wörtern fungieren. ▲ righthand head rule: rule predicting that suffixes and second constituents of compounds function as heads of complex words while prefixes do not. Der Begriff des Kopfs in der Syntax bezieht sich auf die Konstituente einer Phrasenstruktur, die die kategorialen Eigenschaften der Phrase bestimmt. Frühe Versionen der X-Bar-Theorie wurden formuliert, um die Ansicht festzuhalten, dass alle Arten von lexikalischen Phrasen dieselbe hierarchische Konfiguration zeigen – ein Kopf X zusammen mit seinen Komplementen, die auf eine Zwischenebene X’ projiziert werden, mit der ein Spezifizierer verbunden werden kann, um eine Maximalprojektion XP zu erhalten. Die Variable X steht für jede der lexikalischen Kategorien. In der Government-and-Binding-Theorie von Chomsky (1981) wurde X erweitert, um die funktionalen Kategorien INFL und COMP einzubeziehen, und in späteren Versionen der Theorie repräsentierte es alle Null-Level Kategorien der Syntax, sowohl die lexikalische als auch die funktionelle. Williams (1981) erweiterte dieses strukturelle Konzept des Kopfs auf die Konfigurationen von komplexen Wörtern in der Morphologie. Weil er erkannte, dass in der Morphologie der Kopf eines Wortes nicht strukturell definiert werden kann wie in der Syntax, definierte Williams sie positionell wie in (1), vgl. Williams (1981: 248). Diese Definition wurde als die „righthand head rule“ bekannt: (1) Righthand Head Rule In der Morphologie definieren wir den Kopf eines morphologisch komplexen Wortes als das am weitesten rechts stehende Element. [In morphology, we define the head of a

R

rival affix 598 morphologically complex word to be the righthand member of that word.] Die „righthand head rule“ hält die Generalisierung fest, dass derivationelle Suffixe wie in (2) die Kategorie (und somit die Distribution) des Wortes bestimmen und Präfixe nicht, vgl. (3), Williams (1981: 248): (2) Suffixe X-ism → N

X-ize → V

V-ist → N

X-ify → V

X-ish → A

V-er → N A-ness → N

(3) Präfixe counter+revolutionN

is a N

counter-productiveA

is a A

is a V

In Übereinstimmung mit der „righthand head rule“ fungiert die zweite Konstituente eines Kompositums ebenso als Kopf des Worts (1981: 249): (4)

a.

offP

R

A

b.

whiteA

dryA

N

c.

dockN

→ § 22, 23; Kopf; Perkolation; Potenzierung ⇁ righthand head rule (Woform)

Susan Olsen

🕮 Chomsky, N. [1981] Lectures on Government and Binding. Dordrecht. ◾ Melloni, C. [2020] Subordinate and Synthetic Compounds in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 700–726 ◾ Olsen, S. [1991] Ge-Präfigierungen im heutigen Deutsch. Ausnahmen von der “Righthand Head Rule“? In: BGeschDtSpLit-T 113: 332–366 ◾ Williams, E. [1981] On the Notions „Lexically Related“ and „Head of a Word“. In: LingInqu 12: 245–274 ◾ Wunderlich, D. [1987] An investigation of lexical composition. The case of German be-verbs. In: Ling 25: 283–331.

V-ion → N

counter+sinkV

von der Syntax interpretiert werden können. Williams (1981: 251) geht davon aus, dass, wenn solche Merkmale von einem Affix realisiert werden, das Affix sich dann wie ein Suffix verhält. Folglich kann Kasus an die Wortebene weitergereicht werden, solange das Affix die Kopfposition in einem Wort einnimmt.

V

barN

tendV

Williams räumt ein, dass es Ausnahmen zu der „righthand head rule“ gibt. Bspw. betrachtet er das engl. Präfix en- als eine solche Ausnahme, weil es die Kategorie der Basis von einem Nomen oder Adjektiv in ein Verb ändert (vgl. rageN > enrageV und dearA > endearV). Das Präfix en- potenziert dazu die Suffigierung von -ment (enragement, endearment), was normalerweise eine Eigenschaft des Kopfes ist. Andere systematische Ausnahmen sind die von ihm benannten „exozentrischen Komposita“ wie die in (5), vgl. (1981: 250): (5a) [pushV upP]N (5b) [runV downP]N Zusammen mit seiner Atom-Bedingung betrachtet Williams die „righthand head rule“ als ein Argument für die starke lexikalistische Hypothese, welche annimmt, dass Morphologie und Syntax getrennte Komponenten der Grammatik mit getrennten Regeln und eigenem Vokabular sind. Das Konzept Kopf erlaubt es ihm, diese Ansicht beizubehalten und trotzdem die Tatsache zu erklären, dass Merkmale, die von Flexionsaffixen wie „Kasus“ oder „Tempus“ getragen werden,

rival affix

→ affixale Domäne; Affixkonvergenz

Romance compound

≡ exozentrisches Verb-Nomen-Kompositum

root compound

≡ primary compound

root, triliteral → triliteral root

Root-and-Pattern-Morphologie

nicht-konkatenativer morphologischer Prozess, bei dem Wörter von Wurzeln deriviert werden, die lexikalische Bedeutung tragen und in die bedeutungstragenden Muster von Konsonanten und Vokalen eingefügt werden. ▲ root-and-pattern morphology: nonconcatenative morphological process in which words are derived using roots bearing lexical meaning that are intercalated with meaningful patterns of consonants and vowels. Auch als „templatic morphology“ bekannt, werden in der „Root-and-Pattern“-Morphologie lexikalische Wurzeln mit templates (d.h. Schablonen) kombiniert, die aus festen Mustern aus Konsonanten und Vokalen bestehen. In den semitischen Sprachen Arabisch und Hebräisch, die die prominentesten Beispiele für Sprachen mit

599 Rückbildung „Root-and-Pattern“-Morphologie sind, bestehen Wurzeln meistens aus drei Konsonanten, die nach bedeutungstragenden Mustern von Konsonanten und Vokalen diskontinuierlich auftreten, was in der traditionellen hebräischen Grammatik als Binyānîm (Sg. Binyān) bezeichnet wird. So nimmt die lexikalische Wurzel ktb ‘schreiben’ im Arabischen Binyānîm I-III die folgenden Formen an (McCarthy 1979: 244): Tab. 1: Root-and-Pattern-Morphologie perfective active perfective passive I

katab

kutib

‘write’

II

kattab

kuttib

‘cause to write’

III

kaatab

kuutib

‘correspond’

In der arabischen Verbkonjugation können die Muster aus Konsonanten und Vokalen grammatische oder lexikalische Bedeutung tragen, die spezifischen Vokale kodieren u.a. Informationen über Modus und Aspekt. Eine „Root-and-Pattern“-Morphologie tritt, wenn auch selten, auch in nicht-semitischen Sprachen auf. So wird z.B. in der uto-aztektischen Sprache Cupeño (McCarthy 1984) die habilitative Verbform gebildet, indem eine Wurzel wie téw ‘sehen’ in ein template CVʔVʔVC eingefügt wird, mit der Form téʔeʔew ‘sehen können’ als Ergebnis. Die Wurzeln und die templates können, wie im Cupeño, festen Konsonantismus oder Vokalismus aufweisen. Rochelle Lieber

→ Binyan; morphemic tier hypothesis; nicht-konkatenative

Morphologie; templatische Morphologie; Transfigierung; triliteral root

🕮 McCarthy, J.J. [1979] Formal Problems in Semitic Phonology and Morphology. Diss. Cambridge, MA ◾ McCarthy, J.J. [1981] A prosodic theory of nonconcentative morphology. In: LingInqu 12: 373–418 ◾ McCarthy, J.J. [1984] Prosodic Organizationin Morphology. In: Aronoff, M./ Oehrle, R. [eds.] Language Sound Structure. Cambridge, MA: 299–317 ◾ McCarthy, J.J. [1985] Formal Problems in Semitic Phonology and Morphology. New York, NY.

Rückbildung

Erzeugung neuer kürzerer Ableitungen aus bereits bestehenden längeren Ableitungen. ▲ back-formation: formation of a new shorter deri­ vation from an already existing longer derivation. Unter Rückbildung (frz. dérivation régressive oder rétrograde) versteht man den Vorgang und

das Ergebnis eines Wortbildungsprozesses, bei dem aus bereits wortgebildeten, also „längeren“, Lexemen als Basis neue „kürzere“ Wortbildungen entstehen, so etwa notlanden aus Notlandung. Der diachrone Weg zu dieser Bildung ist Land > landen > Landung > Notlandung > notlanden, nicht aber *notlanden > Notlandung. Der Vorgang ist also, jedenfalls bei diesem Beispiel, mit Suffixtilgung verbunden. Die Rückbildung setzt voraus, dass in der betreffenden Synchronie die faktische Basis als Ableitung analysiert werden kann, also hier Notlandung als (Not)Land-ung, worauf sich zu einer solchen Basis, nämlich der als Basis aufgefassten faktischen Ableitung, eine neue Ableitung ergeben kann (vgl. Fleischer/Barz 1992: 51; Marchand 1969: 391; Štekauer 2015). Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die Rückbildung historisch später in den Wortschatz gelangt ist als das Wort, von dem es nach formalen Kriterien gesehen abgeleitet zu sein scheint. Die rückgebildeten Wörter sind nicht als Verkettungen aus morphologischen Einheiten zu beschreiben, weil sie durch die zum Teil längeren Ausgangswörter motiviert und nur aus ihnen zu erklären sind. Die für das Zustandekommen der Rückbildung notwendige Reanalyse einer faktischen Ableitung als Basis für die Rückbildung kann mit Plank (1981: 212) als Abduktion bezeichnet werden (Eschenlohr 1999: 143). Dementsprechend werden Bildungen wie notlanden, die im heutigen Deutsch sehr produktiv sind, wenngleich die meisten von ihnen nicht in den usuellen Wortschatz gelangen, als verbale Pseudokomposita bezeichnet (Marchand 1969; Eschenlohr 1999: 145). Sie sind der Form nach Komposita, verdanken ihre Existenz aber nicht einer Kompositionsregel, sondern sind Rückbildungen aus substantivischen Komposita, deren Grundwort eine abstrakte „Ereignis“- oder „Täter“-Bedeutung besitzen kann und damit die abduktive Erzeugung eines Verbs ermöglicht (vgl. Eschenlohr 1999: 144). Die Rückbildung ist eine der Spielarten der Konversion. Ein weiteres Beispiel für die Rückbildung ist etwa Häme aus älterem hämisch. Nicht etwa Häme ist die Basis von hämisch, sondern vielmehr stellt sich hämisch, das zuerst aus dem späten Mhd. als hemisch bezeugt ist, zu dem Substantiv ahd. hamo ‘Hülle, Decke, Kleid’, bedeutet also zunächst ‘verhüllt, dunkel, heimlich’ (Grimm/Grimm 1877: Sp. 308). Es geht also bei der diachronen Betrach-

R

Rückbildung 600

R

tung um das Nebeneinander zweier Wörter, von denen eines die Ableitung aus dem anderen sein könnte, wenn man formal nach dem morphologischen Bestand urteilt, bei dem aber das (teilweise morphologisch längere) scheinbar abgeleitete Wort älter ist als das kürzere Wort, die vermeintliche Basis. Eine vom Vorgang her mit dem erstgenannten Beispiel vergleichbare Rückbildung ist schutzimpfen zu Schutzimpfung (impfen > Impfung > Schutzimpfung > schutzimpfen) oder staubsaugen aus Staubsauger (saugen > Sauger > Staubsauger > staubsaugen). Dabei wäre allerdings beim letzten Pseudokompositum auch der Weg Staub saugen > Staubsauger möglich; in diesem Fall wäre Staubsauger eine Zusammenbildung, das heißt eine explizite (mit einem Morphem erzeugte) Ableitung aus einem Syntagma. Der Nachweis, dass es sich um eine Rückbildung handelt, wäre hier mangels semantischer Kriterien nur über die Chronologie der Beleglage zu führen, was äußerst schwierig sein dürfte. Eine gerade nicht retrograde Ableitung kann zum Muster für tatsächliche Rückbildungen werden. So ist aus Hochmut regulär das Adjektiv hochmütig abgeleitet worden (ahd. hōhmuot > ahd. hōhmuotīg ‘Hochmut habend’). Danach würden ausgehend von Hochmut zu Adjektiven wie freimütig, missmutig oder wehmütig die Pseudo-Basen Freimut, Missmut oder Wehmut gebildet. Bei diesen von der Literatur genannten Beispielen ist allerdings nicht immer sicher, ob die für sie angenommene Ableitungsrichtung der Realität entspricht. So sind die Wörter vrīmuot und vrīmüetec beide im Mhd. belegt, ohne dass man aus ihrem Bedeutungsverhältnis die retrograde Ableitungsrichtung herauslesen könnte. Und wēmuot ist bereits im Spätmhd. belegt, während die Existenz von wēmüetec nur aus der Ableitung wēmüetecheit hervorgeht. Bei den verbalen Pseudokomposita entsteht eine besondere, auch auf die bisher vorgestellte Definition der Rückbildung durchschlagende Schwierigkeit dadurch, dass die Grundwörter der Basiskomposita nicht nur explizite Derivationen sein können wie in Notlandung, sondern auch anderen Wortbildungstypen angehören, wenn man denn solche Fälle hierher stellen möchte. Diese „Kopfkonstituenten“ der Rückbildungsbasen, also die Grundwörter, lassen sich nämlich

unterscheiden in erstens die bereits genannten Nominalisierungen, die durch deverbale Derivationssuffixe abgeleitet wurden (Notlandung), zweitens substantivierte Infinitive (Seilspringen, Eislaufen), drittens Ablautnominalisierungen (als Teilgruppe der inneren Ableitungen) wie Kopfstand (zu ahd. stantan ‘stehen’) und viertens Partizipien (aluminiumbeschichtet, pfannengerührt). Das Beispiel Schichtarbeit, das von Eschenlohr (1999: 144) bei der dritten Gruppe als Vertreter der Konversionsnominalisierungen (als Teilgruppe der Konversionen wie bauen > Bau) genannt wird, von denen aus auch Abduktionen möglich seien, enthält nun aber ein Grundwort, das durch ein Suffix gebildet wurde (germ. *arb-ǣ-ja- ‘Waise sein, Diener sein’ und dazu als t-Bildung germ. *arb-ǣi-þi- ‘Mühsal, Arbeit’; Kluge 2002). Dieses Grundwort Arbeit ist also eine Ableitung wie Landung, aber keine Konversion. Insofern wäre es in die erste Gruppe möglicher Rückbildungsbasen zu stellen. Diese müsste dann dementsprechend in Basen mit gegenwärtig ohne weiteres reanalysierbaren Grundwörtern (Land-ung) und Basen mit gegenwärtig nur aufgrund sprachhistorischen Wissens reanalysierbaren Grundwörtern (arbei-t) unterteilt werden. Da aber das sprachhistorische Wissen für die Motivation gegenwärtiger Wortbildung keine Rolle zu spielen pflegt, müsste Arbeit (fälschlich, aber für das Sprachbewusstsein der gegenwärtigen Sprecher des Deutschen möglich) als Konversionsnominalisierung aus arbeiten aufgefasst werden. Aus der ausgehend von dem Substantiv Arbeit gebildeten Komposition Schichtarbeit wäre dann wieder als „Rückbildung“ das Verb schichtarbeiten entstanden. Bezieht man die verbalen Pseudokomposita der Typen 2 bis 4 (Seilspringen > seilspringen, Kopfstand > kopfstehen, aluminiumbeschichtet > aluminiumbeschichten) in die Betrachtung der Rückbildung ein, würde bei der Rückbildung nicht gefordert sein, dass die Basis morphologisch aufwändiger, also faktisch „länger“ ist als die Rückbildung. Damit verbunden wäre, dass auch eine Suffixtilgung oder Suffixersetzung nicht notwendigerweise vorgenommen werden muss. Die Bedingung wäre allein, dass es ein zur Rückbildung konverses, in diesem Fall ein deverbales Wortbildungsmuster geben muss, das dem Sprachträger die Abduktion ermöglicht (Eschenlohr 1999: 145). Eckhard Meineke

601 Rumpfwort ≡ inverse Ableitung; inverse Derivation; nomen postverbalium; retrograde Ableitung; retrograde Derivation; retrograde Substantivableitung; Subtraktionsbildung; Subtraktionsform; Tilgungskonversion → § 28, 35; Konversion; Pseudokompositum; Wortbildungskonstruktion ⇀ Rückbildung (CG-Dt; Lexik; Gram-Formen; HistSprw) ⇁ back-formation (Typol)

🕮 Åsdahl-Holmberg, M. [1976] Studien zu den verbalen Pseudokomposita im Deutschen. Lund ◾ Becker, Th. [1993] Backformation, crossformation, and „bracketing paradoxes“ in paradigmatic morphology. In: Booij, G./ van Marle, J. [eds.] YbMo 1993. Dordrecht [etc.]: 1–25 ◾ Conrad, R. [Hg. 1985] Lexikon sprachwissenschaftlicher Termini. Leipzig ◾ Don, J. [1993] Morphological conversion. Utrecht ◾ Dressler, W.U. [2000] Subtraction. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 581–587 ◾ Erben, J. [1983] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 2. Aufl. Berlin ◾ Erben, J. [2003] Zur Frage der „Rückbildung“ (retrograden Ableitung) als Möglichkeit der Wortbildung. In: ZfdPh 122: 93–100 ◾ Eschenlohr, S. [1999] Vom Nomen zum Verb. Konversion, Präfigierung und Rückbildung im Deutschen. Hildesheim [etc.] ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [1992] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen ◾ Grimm, J./ Grimm, W. [1877] Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bände in 32 Teilbänden 1854–1961. Quellenverzeichnis 1971. Band X. Leipzig ◾ Kluge, F. [2002] Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 24., durchges. und erw. Aufl. Bearb. von E. Seebold. CD-ROMVersion. Berlin [etc.] ◾ Marchand, H. [1964] Die Ableitung desubstantivischer Verben mit Nullmorphem im Englischen, Französischen und Deutschen. In: NeuSp 10: 105–118 ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Nichtenhauser, D. [1920] Rückbildungen im Neuhochdeutschen. Diss. Freiburg i. Br. ◾ Plank, F. [1981] Morphologische (Ir-)Regularitäten. Tübingen ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin ◾ Štekauer, P. [2015] Backformation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 340–352 ◾ ten Hacken, P./ Panocová, R. [2022] The Suffix -ation in English. In: AAA 47/1: 29‒57.

Rückbildung, grammatische → grammatische Rückbildung

Rumpfwort

unisegmentales Kurzwort, das aus dem mittleren Teil einer bedeutungsgleichen längeren lexikalischen Einheit besteht. ▲ middle clipping: unisegmental short form consisting of the middle part of a longer lexical unit equivalent in meaning. Man unterscheidet im Rahmen der Kurzwortbildung verschiedene Kürzungsprodukte; solche aus einem zusammenhängenden Teil der Vollform nennt man unisegmentale Kurzwörter. Werden für die Bildung eines unisegmentalen Kurzworts sowohl der vordere als auch der hintere Teil der Vollform getilgt, dann wird der verbleibende mittlere Teil als „Rumpfwort“ oder „Rumpfform“ bezeichnet. Die Rumpfwörter bilden eine sehr kleine Gruppe der unisegmentalen Kurzwörter; nach Kobler-Trill werden Rumpfwörter im Dt. nur von Personennamen gebildet (Lisa für Elisabeth, Basti für Sebastian). Im Engl. (flu für ›influenza‹, fridge für ›refrigerator‹) und auch in anderen europ. Sprachen sind Rumpfwörter etwas häufiger anzutreffen, bilden jedoch ebenfalls nur eine kleine Gruppe der Kurzwörter, vgl. Steinhauer (2015). Anja Steinhauer

→ § 29; Kurzwort; Kurzwortbildung; unisegmentales Kurzwort; Wortkürzung

🕮 Balnat, V. [2011] Kurzwortbildung im Gegenwartssdeutschen. Hildesheim [etc.] ◾ Bär, J.A./ Roelcke, T./ Steinhauer, A. [Hg. 2007] Sprachliche Kürze. Konzeptuelle, strukturelle und pragmatische Aspekte. Berlin [etc.] ◾ Kobler-Trill, D. [1994] Das Kurzwort im Deutschen. Eine Untersuchung zu Definition, Typologie und Entwicklung. Tübingen ◾ Steinhauer, A. [2015] Clipping. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 352–363.

R

S Sachbezeichnnung ≡ nomen rei actae

Salienz

Grad, bis zu dem ein Objekt, ein Merkmal eines Objekts, eine Situation etc. in einem gegebenen Kontext signifikant ist. ▲ salience: extent to which an object, a property of an object, a situation, etc. is significant in a given context. Der aus dem Engl. übernommene Begriff Salienz ist eng mit der dt. Wendung der springende Punkt verwandt, die wiederum auf die mittelalterliche lat. Bildung punctum saliens zurückgeht (von Heusinger 1997: 19). Salienz ist eine graduelle Eigenschaft von Wahrnehmungsgegenständen (z.B. von Objekten, Slotwerten, Situationen etc.), die nur unter Einbeziehung vergleichbarer Wahrnehmungsgegenstände bewertet werden kann. Dies soll im Folgenden anhand von Beispielen, die sich auf die drei exemplarischen Wahrnehmungsgegenstände „Objekt“, „Slotwert“ und „Situation“ beziehen, illustriert werden. Aufgrund von Salienz lässt sich nach von Heusinger (1997: 83f.) die Referenz von definiten Nominalphrasen determinieren. Erscheint z.B. in einem Buch über die Bodenseeinseln die definite Nominalphrase (NP) die Insel, so referiert diese (im Gegensatz zu Phrasen wie die Sonne, die Erde etc.) nicht auf ein als einzigartig klassifiziertes Objekt, sondern auf eine Insel aus der Menge der Bodenseeinseln, nämlich Reichenau, Lindau oder Mainau. Die Salienzhierarchie dieser Objekte wird durch den Textzusammenhang determiniert. Erscheint im Kontext der definiten NP eine Äußerung von Graf Bernadotte über „die vielen dienstbaren Geister, die sich seit Jahrtausenden

um die Insel bemühen“ (von Heusinger 1997: 84), so ist Mainau die saliente Insel bzw. das erste Objekt in einer durch den Textzusammenhang determinierten Salienzhierarchie gleicher Objekte. Ein Beispiel für einen salienten Slotwert bietet das von Smith/Osherson/Rips/Keane (1988) analysierte Apfelkonzept. Das Schema des mit dem Nomen apple assoziierten Konzepts beinhaltet u.a. die Attribute bzw. Slots color, shape und texture, die mit Default-Werten wie „red“, „round“ und „smooth“ gefüllt sind und das Weltwissen der Sprachbenutzer in Bezug auf Äpfel reflektieren. Obwohl Äpfel auch grün oder braun sein können, suggerieren die Ergebnisse psycholinguistischer Experimente, dass der prototypische Apfel mit der Farbe Rot assoziiert wird. Smith/Osherson/ Rips/Keane (1988: 489) führen diesen Sachverhalt darauf zurück, dass rote Äpfel häufiger auftreten als grüne oder braune (frequency). Der Slotwert „red“ des Attributs color ist somit salient – aber nur in Bezug auf das Apfelkonzept. Der graduelle Charakter der Salienz von „red“ äußert sich in diesem Beispiel zum einen darin, dass das Rot eines Apfels auffälliger als das Rot eines Ziegelsteins, aber weniger markant als das Rot eines Feuerlöschers ist (perceptibility). Zum anderen ist der Grad der Salienz durch adjektivische Modifikatoren veränderbar. Wird das Nomen apple durch das Adjektiv red modifiziert, so erhöht sich die Salienz des Slotwertes „red“. Eine weitere Steigerung lässt sich durch eine Erweiterung der Phrase red apple zu very red apple erzielen. Saliente Situationen kristallisieren sich nach Clark/Clark (1979: 787f.) bei der Interpretation von Verben, die durch Konversion aus Nomen gebildet wurden, heraus. Aus der Menge von Situationen, mit denen z.B. die Äußerung The boy porched the newspaper assoziiert werden kann,

Sammelname 604 ist nur diejenige salient, in der die Referenten von the boy, porch und the newspaper unter Einbeziehung von Weltwissen in eine sinnvolle und daher für den Gesprächspartner nachvollziehbare Relation zueinander gesetzt werden. Diese Situation ist dadurch gekennzeichnet, dass der Zeitungsjunge die Zeitung auf eine in den USA übliche Weise zustellt, indem er sie auf die Veranda wirft. Die drei obigen Beispiele offenbaren nicht nur den graduellen Charakter von Salienz, sondern verdeutlichen ferner das Postulat von Heusingers (1997: 83), dass eine Salienzhierarchie sowohl durch den sprachlichen Kontext (z.B. die Insel, red apple) als auch durch außersprachliche Faktoren (z.B. das Weltwissen über den Besitzer der Insel Mainau, über Äpfel oder über die Art der Zustellung von Zeitungen in den USA) determiniert wird. Heike Baeskow

→ außersprachliches Wissen; Kognitive Grammatik; Prototypikalität; Schema; slot; slot filling

⇀ Salienz (Gram-Syntax; SemPrag; Dial; CG-Dt) ⇁ salience (Typol; CG-Engl)

🕮 Clark, E.V./ Clark, H.H. [1979] When nouns surface as verbs. In: Lg 55: 767–811 ◾ Smith, E.E./ Osherson, D.N./ Rips, L.J./ Keane, M. [1988] Combining Prototypes. A Selective Modification Model. In: CognSc 12: 485–527 ◾ von Heusinger, K. [1997] Salienz und Referenz. Berlin.

Sammelname

≡ Kollektivum ⇀ Sammelname (Onom)

Sammelwort

S

≡ Kollektivum

Satzname

≡ Zusammenrückung ⇀ Satzname (HistSprw; Onom)

Schachtelwort

≡ Kontamination

Schallnachahmung ≡ Onomatopoetikum

Schallwort

≡ Onomatopoetikum

Scheinaffix

≡ Pseudoaffix

⇀ Scheinaffix (HistSprw)

Scheindvandva

Begriff, der benutzt wird, um kopulative Komposita in den germanischen Sprachen zu kennzeichnen, indem er betont, dass sie sich von der traditionellen Klasse der koordinierenden Komposita im Sanskrit, genannt Dvandva, unterscheiden. ▲ pseudo-dvandva: term used to designate copulative compounds in the Germanic languages that emphasizes their difference from the traditional class of coordinative compounds in Sanskrit called dvandva. Der Begriff dvandva (‘Paar; lit. zwei+zwei’) stammt aus der Sanskrit-Grammatik, um eine von mehreren Kompositaklassen zu definieren. Dvandvas im Sanskrit kombinieren zwei oder mehr Konzepte auf einer gleichen (oder koordinativen) Basis und weisen entweder eine duale oder plurale Flexionsendung im finalen Lexem auf. Sie repräsentieren dementsprechend eine Gruppe von Entitäten mit zwei oder mehreren Mitgliedern (Whitney 1950: 485ff.): (1a) hastyaçvāu: Elefant (hastin) + Pferd (açva_ Dual) ‘der Elefant und das Pferd’ (1b) hastyaçvās: Elefant (hastin) + Pferd (açva_ Plural) ‘Elefanten und Pferde’ (1c) índrāváruṇāu ‘Dual: Indra und Varuna’ (1d) devagandharvamānuṣoragarakṣasās ‘Götter und Gandharvas und Männer und Schlangen und Dämonen’ Über die Jahre wurde der Begriff dvandva auch eingesetzt, um eine umfangreichere Gruppe von koordinativen Kompositumtypen zu bezeichnen als ursprünglich vorgesehen. Besonders Fanselow (1981: 116ff.) stellte fest, dass nicht-eingebettete koordinative Komposita im Germanischen entweder fusionierend (Baden-Württemberg ‘kleinste Entität, die die Staaten Baden und Württemberg enthält’) oder appositionell (Opfer-Zeuge; engl. geologist-astronomer) waren, aber niemals Sammelbegriffe wie die Sanskrit-Dvandvas. Im Gegensatz zu den Dvandvas im Sanskrit bezeichnen die appositionellen Komposita im Germanischen durchweg ein einzelnes Individuum. Die Komposita Maler-Schriftsteller, Dichter-Komponist; engl. novelist-screenwriter, artist-painter bspw. denotieren ein Individuum, das durch die im Kompositum genannten Eigenschaften identi-

605 Schema fiziert wird. Um die unterschiedliche Bedeutung der koordinativen Komposita in seiner Untersuchung zu den deutschen Nominalkomposita zu unterstreichen, prägte Fanselow den Begriff „Scheindvandva“. Interessanterweise kommt die ursprüngliche Bedeutung der Dvandvas in eingebetteten Positionen im Deutschen und Englischen vor, d.h. als die erste Konstituente eines Kompositums wie Vater-Tochter-Tanz und engl. parent-teacher association, die als einen Tanz mit einem Vater und seiner Tochter bzw. eine Assoziation mit Eltern und Lehrer verstanden werden. Fanselow (1985) versteht die Möglichkeit einer Gruppenlesart in dieser Position als eine Folge der grammatischen Abkapselung des Stamms in der Nichtkopf-Position eines Kompositums. Ein morphologisch unmarkierter Stamm ist weder für den Singular noch für den Plural markiert. Aus der mangelnden Spezifizierung folgt, dass die Interpretation offen ist, d.h. beide Möglichkeiten erlaubt sind, vgl. Apfelbaum mit der Interpretation eines Plurals und Apfelkern mit der Interpretation eines Singulars. Olsen (2004) andererseits sieht die Beschränkung der nicht-eingebetteten appositionellen Komposita auf eine individuelle Lesart als das Resultat des allgemeinen Prinzips in (2): (2) Principle of Ontological Coherence ‘Prinzip der ontologischen Kohärenz’ Ein komplexes Konzept wie die Denotation eines morphologischen Objektes greift ein kohärentes Individuum aus einer der Domänen von Individuen heraus. Das Kompositum Maler-Schriftsteller ist ein komplexes endozentrisches Nomen; d.h. es referiert wie das einfache Kopfnomen auf ein Individuum, d.h. auf einen Schriftsteller. Eine Interpretation als Gruppe ist nicht gegeben, weil eine Gruppe kein kohärentes Individuum ist. Das Prinzip trifft jedoch nicht auf die eingebettete Position eines Kompositums zu, da diese keine referenzielle Position ist; sie unterliegt also aus diesem Grund keiner solchen Einschränkung. An dieser Stelle im komplexen Wort kommen also beide Interpretationen – sowohl die Dvandva- als auch die appositionelle Lesart – vor, wie die Beispiele in (3) zeigen: (3) scientist-engineer team ‘Wissenschaftler-Ingenieur-Team’

(3a) team of scientists and engineers ‘ein Team aus Wissenschaftlern und Ingenieuren’ (3b) team of scientist-engineers ‘ein Team aus Wissenschaftlern-Ingenieuren’ Susan Olsen

→ appositionelles Kompositum; Dvandva; Ko-Kompositum; Kopulativkompositum

🕮 Fanselow, G. [1981] Zur Syntax und Semantik der Nominalkomposition. Tübingen ◾ Fanselow, G. [1985] What is a possible complex word? In: Toman, J. [ed.] Studies in German Grammar. Dordrecht: 289–318 ◾ Olsen, S. [2001] Coordination in syntax and morphology. The case of copulative compounds. In: van der Meer, G./ ter Meulen, A. [eds.] Making Sense. From Lexeme to Discourse. Festschrift for Werner Abraham. Groningen: 87–101 ◾ Olsen, S. [2004] The Case of Copulative Compounds. In: ter Meulen, A./ Abraham, W. [eds.] The Composition of Meaning. From Lexeme to Discourse. Amsterdam: 17–37 ◾ Whitney, W. [1950] Sanskrit Grammar. Cambridge, MA [https://en.wikisource.org/wiki/Sanskrit_Grammar_(Whitney)/Chapter_XVIII; letzter Zugriff 11.06.2021].

Scheinkompositum ≡ Pseudokompositum

Scheinpartizip

≡ Pseudopartizip

Schema

abstrakte, auf Wissen basierende Datenstruktur, die zur Repräsentation von Konzepten dient und bei der mentalen Verarbeitung von Informationen aus dem Gedächtnis abgerufen wird. ▲ schema: abstract, knowledge-based data structure which represents concepts and is retrieved from memory during mental processing. Die in Form von Schemata repräsentierten Konzepte reflektieren das Wissen, das der Mensch aufgrund seines Wahrnehmungsvermögens in Bezug auf Objekte und Vorgänge in der Welt erworben hat. Bei der täglich stattfindenden Verarbeitung von Informationen, Situationen, Eindrücken und Emotionen kann auf dieses strukturierte und mental repräsentierte Wissen zurückgegriffen werden. Der Aspekt der Aktivierung und auch der permanenten Weiterentwicklung gespeicherten Wissens wurde erstmals von Bartlett (1932) durch den Begriff des Schemas zum Ausdruck gebracht. Schemata sind insofern mit Frames vergleichbar, als sie Konzepte als Netzwerke von Attributen und Relationen beschreiben, die über slot filling

S

schließendes Suffix 606

S

zu spezifizieren sind. Das mit dem Verb to buy assoziierte Transaktionsschema beteiligt z.B. typischerweise zwei Personen, einen Kaufgegenstand sowie ein Tauschmittel. Diese Entitäten, die in bestimmten Relationen zueinander stehen (z.B. der Käufer muss über das Tauschmittel und der Verkäufer über den Kaufgegenstand verfügen; beide Personen führen eine Verhandlung, bevor der Besitzwechsel stattfindet etc.), werden in Form von Slots wie purchaser, seller, bargaining, merchandise und payment repräsentiert. Tritt eine konkrete Kaufsituation ein, so wird das Transaktionsschema aktiviert und jeder Slot mit einem Wert gefüllt. Der Verkäufer kann ein Autohändler oder ein Bäcker sein, bei der Ware kann es sich entsprechend um ein großes oder ein kleineres Objekt handeln, und auch die Art der Verhandlung ist variabel. Konstant bleiben hingegen stets die oben angegebenen Attribute und Relationen. Die konkrete Kaufsituation ist eine Instantiierung des mit to buy assoziierten Schemas. Charakteristisch für Schemata ist, dass sie durch Sprache aktiviert werden und somit die Interpretation von Äußerungen bzw. Texten steuern. In einem Diskursverlauf werden nicht explizit vorhandene Informationen über Default-Werte ergänzt. Berichtet z.B. jemand von einem Autokauf, so verzichtet er auf die detaillierten Informationen, dass es sich bei dem Verkäufer um ein menschliches Wesen und bei dem Tauschmittel um Geld gehandelt hat. Dennoch kann der Kommunikationspartner diese Details über das entsprechende Schema konstruieren, da die Slots seller und payment mit den auf Erfahrung beruhenden Default-Werten „human being“ bzw. „money“ gefüllt sind. Bei der Interpretation von Texten erfolgt die Aktivierung von Schemata über Schlüsselwörter. Bietet ein Text (z.B. eine Gebrauchsanweisung) nicht genügend Anhaltspunkte für die Aktivierung von Schemata, so führt dies zu einer Fehlinterpretation. Schemata sind auch für den Bereich der Wortbildung relevant. In den psychologischen Ansätzen von Cohen/Murphy (1984) und Murphy (1988) werden Schemata zum Zwecke der Repräsentation der mit Nomen+Nomen-Komposita assoziierten komplexen Konzepte eingesetzt. In der von Ryder (1994) konzipierten Theorie zur Interpretation von Nomen+Nomen-Komposita stellen semantic information schemas das mit den nomina-

len Konstituenten assoziierte außersprachliche Wissen bereit. Heike Baeskow

→ Akkommodation; außersprachliches Wissen; Frame; Kognitive Grammatik; komplexes Konzept; Konzeptkombination; linguistisches template; Prototypikalität; Salienz; semantic information schema; slot filling; Wissensrepräsentation ⇀ Schema (Textling; Gram-Syntax; Sprachphil; CG-Dt; Phon-Dt; SemPrag) ⇁ schema (CG-Engl; Media)

🕮 Anderson, R.C./ Pearson, P.D. [1988] A schema-theoretic view of basic processes in reading comprehension. In: Carrell, P.L./ Devine, J./ Eskey, D.E. [eds.] Interactive Approaches to Second Language Reading. Cambridge [etc.]: 37–55 ◾ Bartlett, F.C. [1932] Remembering. Cambridge ◾ Cohen, B./ Murphy, G.L. [1984] Models of Concepts. In: CognSc 8: 27–58 ◾ Murphy, G.L. [1988] Comprehending complex concepts. In: CognSc 12: 529– 562 ◾ Rumelhart, D.E. [1980] Schemata. The Building Blocks of Cognition. In: Spiro, R.J./ Bruce, B.C./ Brewer, W.F. [eds.] Theoretical issues in reading comprehension. Hillsdale, NJ: 33–58 ◾ Ryder, M.E. [1994] Ordered Chaos. The Interpretation of English Noun-Noun Compounds. Berkeley [etc.].

schließendes Suffix

≡ abschließendes Suffix

Schwanzform ≡ Endwort

Schwanzwort

≡ Endwort ⇀ Schwanzwort (Lexik)

Segmentation

≡ Segmentierung

Segmentierung

Zerlegung einer Wortbildungskonstruktion in unmittelbare und mittelbare Konstituenten. ▲ segmentation: analysis of a word-formation construction into immediate and mediate constituents. Die Segmentierung, also Abtrennung und Unterscheidung der ein Wort bildenden morphologischen Einheiten ist sowohl bei der Segmentierung von flektierten Wortformen als auch von Wortbildungsprodukten die Aufgabe des analytischen Zugriffs der Sprachwissenschaft. Bei der semantischen Paraphrase einer Ableitung oder einer Determinativkomposition ergeben sich auf der ersten Stufe zwei semantische Paraphrasebestandteile, von denen aus sich auf die unmittelbaren Konstituenten einer Wortbil-

607 dungskonstruktion schließen lässt. So lässt sich die Ableitung Verfasser als ‘jemand, der etwas (Geschriebenes) verfasst’ paraphrasieren, woraus erhellt, dass die unmittelbaren Konstituenten des Wortes verfass- als verbale Basis sowie semantisches Determinans und -er als Ableitungsmorphem und semantisches Determinatum sind. Das präfigierte Verb verfass- lässt sich sodann auf der zweiten Analyseebene in das Basisverb fassund das Präfix ver- segmentieren. Bei der Determinativkomposition Kurzgeschichtenverfasser ‘Verfasser von Kurzgeschichten’ sind die beiden unmittelbaren Konstituenten das Grundwort oder Determinatum Verfasser sowie das Bestimmungswort oder Determinans Kurzgeschichten; beide Konstituenten können auf der zweiten Ebene in sich wieder in jeweils zwei Konstituenten zerlegt werden. Bei den Wortbildungsprodukten führt die Segmentierung mit einem Begriff von Fleischer/​ Barz (2007: 54f.) zur Feststellung des „Wortbildungstyps“. Dieser ist ihnen zufolge ein morphologisch-syntaktisch und lexikalisch-semantisch bestimmtes Strukturschema, das sich bei der Analyse gleichstrukturierter Wortbildungskonstruktionen ermitteln lasse. Bei der praktischen Analyse eines Wortbildungsprodukts und der Klassifizierung nach einem Bildungstyp kommen Fleischer/Barz (2007: 55) zufolge folgende Segmentierungsschritte vor: a. Feststellung der Grund- oder Normalform. b. Ermittlung der unmittelbaren Konstituenten nach formalen und semantischen Kriterien: 1. Fünf­tage-woche, 2. Voll-erwerbslos(er), 3. sprachwissenschaft-lich, 4. be-anspruch-(en). c. Weitere Spezifizierung der unmittelbaren Kon­ stituenten nach ihrem Status als Wort, Wortgruppe, Affix usw., dazu gegebenenfalls die Ermittlung der Wortart. d. In Abhängigkeit von den unmittelbaren Konstituenten Bestimmung der Wortbildungsart. Bei den unter b. genannten Beispielen ergibt sich für 1. Fünftagewoche Kompositum aus substantivischer Wortgruppe + Substantiv, insgesamt Substantiv, 2. Vollerwerbslos(er) deadjektivische Konversion, Substantiv, keine Unmittelbare-Konstituenten-Struktur, 3. sprachwissenschaft-lich desubstantivisches explizites Derivat, Suffigierung, Adjektiv, 4. be-anspruch(en) desubstantivisches

sekundäre Motivation explizites Derivat, kombinatorische Derivation (Präfix + Konversion), Verb. Eckhard Meineke ≡ Segmentation → Derivation; Determinans; Determinatum; Komposition; unmittelbare Konstituente; Wortbildungstyp ⇀ Segmentierung (Gram-Formen; Phon-Dt) ⇁ segmentation (TheoMethods; Phon-Engl) 🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen.

sekundäre Motivation

formale und/oder semantische Angleichung einer nicht mehr durchsichtigen, demotivierten oder idiomatisierten Bildung oder einer Entlehnung an ein durchsichtiges Wort, wobei eine neue, von der primären Motivationsbedeutung abweichende Motivation entsteht. ▲ secondary motivation: formal and/or semantic assimilation of a no longer transparent, demotivated, idiomatized or borrowed formation to a transparent word which yields a new motivation different from the primarily motivated meaning. Unter dem Begriff der sekundären Motivation werden zum Teil unterschiedliche Arten der Neumotivierung gefasst: Reinterpretation (frz. jour ouvrable zu lat. operari ‘arbeiten’; reinterpretiert zu frz. ouvrir ‘öffnen’), Reanalyse (engl. hamburger > ham-burger), Remotivation (dt. Hoch-Zeit), Pseudomotivation bzw. Volksetymologie (dt. Leinwand < mhd. līnwāt ‘Leinengewebe’). Der Gebrauch der Termini ist insgesamt als uneinheitlich zu charakterisieren. In einem engeren Sinne verstanden ist die sekundäre Motivation eine Form der Neumotivierung, bei der etablierte Bildungen oder nicht-native Wörter umgedeutet bzw. neu gedeutet werden, so dass eine neue, sekundäre Motivation entsteht, z.B. dt. Sündflut (mhd., ahd. sin(t)fluot zu mhd. sin[e]-, ahd. sin[a]- ‘immerwährend, groß, gewaltig’), engl. belfry (zu bell ‘Glocke’ < altfrz. berfray < mhd. ber(c)-vrit). Die sekundäre Motivation kann – in Unkenntnis der Etymologie des betreffenden Wortes – infolge subjektiv oder objektiv verloren gegangener Transparenz aus dem Bedürfnis nach Deutlichkeit und Motivation heraus erwachsen. Sie kann jedoch auch Ergebnis einer bewussten, kreativen Um- oder Neudeutung der semantischen Beziehung zwischen den unmittelbaren Konstituenten sein, vgl. Der Herr Foto-Graf

S

sekundärsprachliches Morphem 608

S

haben sich einen Schnappschuß gestattet, was? (Botho Strauẞ: Trilogie des Wiedersehens). Auch Bildungen, deren Wortbildungsstruktur nur noch historisch-etymologisch zu erhellen ist, oder nicht-kompositionelle Entlehnungen können auf diese Weise spielerisch segmentiert werden, vgl. Werwolf – Weswolf (Christian Morgenstern 1972: 208), Kakadu – Kakasie (Hans Arp 1963: 84). Wortspiele wie Kunst-Licht oder Morgenland (eigentlich: ‘Land im Osten’, das umgedeutet wird zu ‘Land, wie es morgen sein wird’) beruhen auf der Ambiguität der beteiligten unmittelbaren Konstituenten. Käge (1980: 101ff.) bezeichnet solche Wortspiele als transmotivierend. Vielfach begegnet die sekundäre Motivation auch in der Phase des frühkindlichen Spracherwerbs. Sie erleichtert den Aufbau eines differenzierten, umfassenden Wortschatzes durch die Herstellung semantischer Beziehungen zwischen bereits bekannten Wörtern und Wörtern, die neu erworben werden: vgl. engl. breakfast (zu fast ‘schnell’, because you have to eat it fast when you rush to school), dt. Hagelbutte (für Hagebutte, eigentlich zu Hag ‘Dorngebüsch, Buschwerk’); Getreidefelsen (für Kreidefelsen, nach den auf den Felsen wachsenden Gräsern). Dagegen handelt es sich bei Pfefferling (für Pfifferling) genau genommen nicht um sekundäre Motivation, sondern um Remotivation, da der ursprüngliche Zustand der Motivation durch das Kind – wenn auch unbewusst – wiederhergestellt wird: mhd. phefferlinc, phifferlinc < Pfeffer (nach dem etwas scharfen, pfefferähnlichen Geschmack). Als Voraussetzung für den Aufbau einer sekundären Motivation gilt das Vorhandensein morphologisch-lexikalischer Ersatzeinheiten, die sowohl lautlich als auch semantisch zu den Ausgangseinheiten passen. Als gestaltprägende lautliche Merkmale für das Dt. gelten nach RonnebergerSibold (2002) insbesondere a) die rhythmische Kontur, definiert durch Silbenzahl und Hauptakzent (vgl. Sündflut < Sintflut), b) der Tonvokal (vgl. Getreidefelsen < Kreidefelsen) sowie c) der konsonantische Anlaut (vgl. belfry < bercvrit). Anja Seiffert ≡ Neumotivation; Pseudomotivierung → Demotivation; Motivation; verdunkeltes Kompositum; Volksetymologie

🕮 Andresen, K.G. [1919] Über deutsche Volksetymologie. Leipzig ◾ Arp, H. [1963] Gesammelte Gedichte 1903–1939. Wiesba-

den ◾ Fill, A. [1980] Wortdurchsichtigkeit im Englischen. Innsbruck ◾ Käge, O. [1980] Motivation. Probleme des persuasiven Sprachgebrauchs, der Metapher und des Wortspiels. Göppingen ◾ Mayer, E. [1962] Sekundäre Motivation. Untersuchungen zur Volksetymologie und verwandten Erscheinungen im Englischen. Köln ◾ Morgenstern, Ch. [1972] Gesammelte Werke. München. ◾ Olschansky, H. [1996] Volksetymologie. Tübingen ◾ Ronneberger-Sibold, E. [2002] Volksetymologie und Paronomasie als lautnachahmende Wortschöpfung. In: Habermann, M./ Müller, P.O./ Munske, H.H. [Hg.] Historische Wortbildung des Deutschen. Tübingen: 105–127.

sekundärsprachliches Morphem ≡ Fremdmorphem

Sekundärsuffix

≡ Suffixverschmelzung ⇀ Sekundärsuffix (Gram-Formen)

Selbstkompositum

Kompositum, in dem dasselbe Wort als Erst- und Zweitglied erscheint. ▲ identical constituent compound: compound in which the same word makes up both elements of the compound. Anders als reduplikative Komposita, die im Germanischen nur selten und dann nur in expressiver Bedeutung vorkommen (vgl. im Klein-Klein des Alltags sowie engl. goody-goody ‘übertrieben frommer Mensch’, never-never land ‘Traumwelt; lit. niemals-niemals-Land’), kann ein und dasselbe Element als Erst- und Zweitglied in einer Konstruktion erscheinen, von der nicht klar ist, wie sie einzuordnen ist ‒ ob es sich um ein Kompositum handelt oder eine Reduplikation. Ghomeshi/Jackendoff/ Rosen/Russell (2004) bezeichnen sie als „contrastive reduplication“, während Hohenhaus (2004) von „identical constituent compounding“ ausgeht. Ähnlich wie ein Determinativkompositum eine Untermenge der Elemente, die in der Denotation der Kopfkonstituente erfasst sind, herausgreift, identifiziert das Selbstkompositum auch eine untergeordnete Menge der Denotation des Kopfs, indem es sich auf die prototypischen Exemplare des Kopfkonzepts bezieht. So referieren engl. jobjob, date-date, logic-logic immer auf den Prototyp des Konzepts Job, Verabredung, Logik. Dt. Mädchen-Mädchen nimmt Bezug auf ein typisches Mädchen und das Gleiche gilt für Sp. casa-casa ‘wirkliches Haus (und keine Hütte)’, rus. zheltyjzheltyj ‘wahres Gelb’, usw.

609 Sem Problematisch ist dennoch, dass die Konstruktion flektierte Bestandteile aufweist, vgl. engl. fansfans, talked-talked ‘sprach-sprach’ und phrasale Konstituenten wie know-him-know-him erlaubt ‘kennt-ihn-kennt-ihn’. Andererseits kommt das Selbstkompositum auch als Erstglied eines mehrgliedrigen Kompositums vor, wo es ‒ wie bei echten Komposita auch ‒ die Wortbetonung trägt: wórk-work day. Susan Olsen

→ § 26; Determinativkompositum; Reduplikation; reduplikatives Kompositum

⇁ identical constituent compound (Woform)

🕮 Ghomeshi, J./ Jackendoff, R./ Rosen, N./ Russell, K. [2004] Contrastive Focus Reduplication in English. In: NLg&LingT 22: 307–357 ◾ Hohenhaus, P. [2004] Identical Constituent Compounds. In: FoL 38: 297–331.

Selektionsrestriktion

Restriktion, die die semantische Kompatibilität zwischen einem Kopf und seiner Komplemente festhält. ▲ selectional restriction: restriction that captures the semantic compatibility relation between a head and its complement. Der Begriff Selektionsrestriktion stammt von Choms­ky (1965), wo er sich auf die semantische Kompatibilität zwischen einem Kopf und seinem Komplement bezieht. Das psychologische Verb fürchten verlangt z.B. von seinem Subjekt, dass dieses imstande ist, einen psychologischen Angstzustand erfahren zu können, vgl. *Das Schlüsselloch fürchtete den Schlüssel. Das dt. Verb aussterben und sein engl. Äquivalent to become extinct verlangen einen Artenbegriff in ihrer Subjektposition. Folglich sind sie mit einem indefiniten Ausdruck in dieser Position ungrammatisch, vgl. das wohlgeformte Dinosaurs became extinct/Die Dinosaurier starben aus im Gegensatz zum abweichenden *A dinosaur became extinct/Ein Dinosaurier starb aus. Transitive Verben, die eine Vervollständigung durch ein Argument verlangen, legen ihren Argumenten im selben Sinne mehr oder weniger starre Beschränkungen auf. Die Argumentlesart tritt in komplexen Wörtern auf, die relationale Köpfe aufweisen wie bspw. Komposita mit deverbalen Nomina als Kopf, vgl. to install windows ‘Fenster montieren’ > window installer ‘Fenstermonteur’. Auch relationale Adj. (curious about the outcome

‘neugierig auf das Ende’ > curiosity about the outcome ‘Neugierde auf das Ende’) und relationale Nomina (mayor of the town ‘Bürgermeister der Stadt’ > town mayor ‘Stadtbürgermeister’) präferieren eine Argumentlesart. Somit ist das Kompositum stamp collector ‘Briefmarkensammler’ leicht interpretierbar, aber *peace collector *‘Friedenssammler’ nicht, weil man konkrete Objekte wie Briefmarken, aber keine abstrakten Objekte wie Frieden sammeln kann. In die gleiche Richtung ist das abgeleitete Adj. washable ‘waschbar’ mit dem Wort fabric ‘Stoff’, aber nicht mit speech ‘Rede’ konstruierbar: washable fabric ‘waschbarer Stoff’, aber *washable speech *‘waschbare Rede’.

→ Argumentstruktur; Argumentvererbung; Kopf ⇀ Selektionsrestriktion (SemPrag; CG-Dt; QL-Dt) ⇁ selectional restriction (Woform)

Susan Olsen

🕮 Chomsky, N. [1965] Aspects of the Theory of Syntax. Cambridge, MA.

Sem

metalinguistischer Terminus für die kleinste distinktive Bedeutungskomponente eines Lexems. ▲ seme: metalinguistic term referring to the smallest distinctive component of meaning within a lexeme. Der Begriff Sem (griech. séma ‘Zeichen’, ‘Merkmal’) wurde von Greimas, einem Vertreter der Strukturalen Semantik, geprägt. Greimas (1971: 28f.) geht davon aus, dass die Bedeutung eines Lexems durch positiv und negativ spezifizierte Bedeutungskomponenten, die er als Seme bezeichnet, determiniert wird. Die folgende, von Pottier (1978: 404) erstellte semantische Repräsentation von Lexemen aus dem Wortfeld „Sitzgelegenheit“ ist ein klassisches Beispiel für das Zusammenspiel von Semen.

Tab. 1: Relevante Seme (Sitzgelegenheit) (relevante) Seme Signifikant Zum Lexem Sitzen

Auf Füßen

Für 1 Mit Rücken- Mit ArmPerson lehne lehnen

Kanapee

+

+

-

(+)

(+)

Sessel

+

+

+

+

+

Stuhl

+

+

+

+

-

Hocker

+

+

+

-

-

Die positiven bzw. negativen Werte signalisieren die An- bzw. Abwesenheit von Semen und ma-

S

semantic information schema 610

S

chen die zwischen den Lexemen bestehenden Gemeinsamkeiten und Unterschiede sichtbar. Die Lexeme Stuhl und Hocker werden z.B. gleichermaßen durch die Anwesenheit der Seme „Zum Sitzen“, „Auf Füßen“ und „Für eine Person“ sowie durch die Abwesenheit des Sems „Mit Armlehnen“ charakterisiert. Bezüglich der Bedeutungskomponente „Mit Rückenlehne“ ist hingegen eine Sem-Opposition zu verzeichnen, die eine Disjunktion zwischen diesen beiden Lexemen bewirkt. Mit der Klassifikation von Lexemen als Bündel von Semen folgten die strukturalen Semantiker der Tradition der Prager Schule, deren Vertreter Phoneme als Bündel distinktiver Lautmerkmale beschreiben. Eine subtile Sem-Klassifikation liegt der Onomasiologischen Wortbildungstheorie Štekauers (2005) zugrunde. Hier werden die mit einer zu benennenden Entität assoziierten außersprachlichen und somit konzeptuellen Informationen in Form von Semen auf die onomasiologische Repräsentationsebene abgebildet. Die Seme sind Bestandteil der Wortbildungskomponente des onomasiologischen Wortbildungsmodells und werden auf fünf Sem-Ebenen hierarchisch angeordnet. Die Sem-Hierarchie ist durch einen zunehmenden Spezifiziertheitsgrad gekennzeichnet, d.h. sie reicht von den auf der ersten Ebene angesiedelten abstrakten Semen substance, action, quality und concomitant circumstance, die strukturbildende onomasiologische Kategorien darstellen, bis zu den idiosynkratischen und somit hochspezifischen Semen der Ebene 5 (z. B. „Tall“, „Red-haired“, „Gentleman“). Auf der zweiten Ebene befinden sich klassifizierende Seme wie „Animate“, „Abstract“, „Tangible“ etc., während auf der dritten Ebene die identifizierenden Seme (z.B. „Human“, „Material“, „Color“) angesiedelt sind. Die für die Bildung und Interpretation neuer Wörter wichtigste Ebene ist die vierte Ebene, welche prototypische Seme wie „Adult“, „Male“, „Female“, „Characteristic State of Material (Solid, Liquid, Gaseous), Characteristic Application/Function/Purpose of Tool“ etc. beherbergt und somit die salienten Eigenschaften der zu benennenden Klassen von Objekten der außersprachlichen Realität spezifiziert. Heike Baeskow

→ Lexem; onomasiologische Basis; onomasiologische

Kategorie; onomasiologische Struktur; onomasiologische

Strukturregel; onomasiologische Wortbildungstheorie; predictability rate; Salienz ⇀ Sem (Lexik; SemPrag; Sprachphil)

🕮 Greimas, A.J. [1971] Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen. Braunschweig ◾ Pottier, B. [1978] Die semantische Definition in Wörterbüchern. In: Geckeler, H. [Hg.] Strukturelle Bedeutungslehre. Darmstadt: 402–411 ◾ Štekauer, P. [2005] Meaning Predictability in Word Formation. Amsterdam [etc.].

semantic information schema

Ausschnitt aus einem Netzwerk semantischer Informationen, der einem von drei grundlegenden Schematypen – dem event schema, dem entity schema oder dem feature schema – zuzuordnen ist und eine Teilmenge des mit einer Entität assoziierten außersprachlichen Wissens repräsentiert. ▲ semantic information schema: section of a network of semantic information which is identifiable as one of the three basic schema types – event schema, entity schema or feature schema – and which represents a subset of the extra-linguistic knowledge associated with an entity. Semantic information schemas dienen dazu, das vielschichtige, mit dem Referenten einer lexikalischen Einheit assoziierte Wissen nach bestimmten Aspekten zu strukturieren. Eine durch einen nominalen Ausdruck bezeichnete Entität wird z.B. mit einer Menge von Ereignissen mit weitgehend konstant bleibenden Eigenschaften sowie mit distinktiven Merkmalen assoziiert. Dementsprechend lässt sich eine Einteilung der semantic information schemas in die drei Schematypen event schema, entity schema und feature schema vornehmen. Das Nomen doctor aktiviert z.B. nach Ryder (1994: 71) zentrale event schemas wie patient visiting the doctor, doctor performing surgical operation oder doctor doing research. Darüber hinaus kann der Referent von doctor aber auch mit marginalen Ereignissen wie driving a car oder owning a house assoziiert werden. Während die event schemas in hohem Maße dynamisch sind, repräsentieren entity schemas Attribute, die unabhängig von dem jeweils aktivierten event schema relativ konstant bleiben. Bezogen auf das Beispiel doctor ist das entity schema als Konstellation von Attributen wie „being an adult“, „habitually dressed in a white coat“, „having a stethoscope in his pocket or around his neck“, „being intelligent“ etc. zu verstehen. Sche-

611

semantische Dekomposition

mata des dritten Typs, nämlich feature schemas, repräsentieren Attribute, die aus entity schemas und event schemas abstrahiert werden, wie beispielsweise adult oder intelligent. Nach Ryder (1994: 90f.) werden feature schemas bei der Interpretation neuer Nomen+NomenKomposita eingesetzt, wenn kein anderes zentrales Schema verfügbar ist. Feature schemas offenbaren objektiv wahrnehmbare Eigenschaften der Referenten (z.B. Form, Farbe, Größe, Material) und führen zur Herstellung einer Ähnlichkeitsrelation (similarity relation), die eine defaultInterpretation des Kompositums ermöglicht. Dem Kompositum apple-cushion kann z.B. aufgrund einer Ähnlichkeitsrelation die Lesart „a cushion that is red and round (like an apple)“ zugeordnet werden. Obwohl feature schemas nicht immer die zentralen Attribute von Entitäten reflektieren, sind sie leicht zugänglich und erlauben eine vergleichende Betrachtung der Referenten der an einem Nomen+Nomen-Kompositum beteiligten Konstituenten. Die Merkmalkonstellation “red“ und “round“ ist z.B. weder für den Referenten von apple noch für den Referenten von cushion obligatorisch und wird zudem von zahlreichen anderen Entitäten geteilt. Nichtsdestoweniger trägt sie (mangels spezifischerer semantic information schemas) zum Aufbau einer default-Interpretation bei. Heike Baeskow

→ Akkommodation; außersprachliches Wissen; Nomen+Nomen-Kompositum; Schema

🕮 Ryder, M.E. [1994] Ordered Chaos. The Interpretation of English Noun-Noun Compounds. Berkeley [etc.].

semantische Dekomposition

Zerlegung der Bedeutung eines Wortes, einer Phrase oder eines Satzes in nicht weiter reduzierbare Bedeutungsbestandteile. ▲ semantic decomposition: breaking down of the meaning of a word, phrase, or sentence into irreducible primes of meaning. Semantische Dekomposition war lange Bestandteil der formalen Logik, bevor sie erstmals innerhalb der generativen Tradition in den Arbeiten generativer Semantiker auftrat, die bestrebt waren, Oberflächenstrukturen von Sätzen von semantischen Primitiven abzuleiten. So schlug z.B. McCawley (1973) in einem berühmten Papier vor,

einen Satz wie Max killed the cockroach ‘Max tötete die Kakerlake’ von einer zugrundeliegenden Struktur [Max [CAUSE [BECOME [NEG [cockroach [ALIVE]]]]]] abzuleiten. Diese Art Derivation wurde Mitte der 1970er Jahre zwar verworfen, dennoch ist die semantische Dekomposition in der generativen Tradtion der Arbeit von Jackendoff (1990) und in der Tradition der modeltheoretischen Semantik (Dowty 1979) erhalten geblieben. Semantische Dekomposition wird häufig in der formalen und informalen Analyse von Verbbedeutungen verwendet. So zeigt Talmy (1985) z.B., dass die einzelnen Bedeutungskomponenten von Verbbedeutungen in unterschiedlichen Sprachen unterschiedlich „verpackt“ werden. Im Englischen z.B. enthalten Verben häufig eine Bedeutungskomponente, die „manner of motion“ (Art der Bewegung) ausdrücken (vgl. roll, slide, float), spanische Verben kodieren typischerweise eher Direktionalität als die Art der Bewegung (entrar, descender). Auch Theoretiker wie Levin/Rappa­ port Hovav (1995) und Verkuyl (1972, 1993) haben verbale Merkmale wie „Unakkusativität“ und „Telizität“ analysiert. Die vielleicht umfassendste Anwendung von semantischer Dekomposition auf Wortbildung findet sich in Lieber (2004), die ein System der lexikalisch-semantischen Dekomposition unter Nutzung eines Merkmalssystems der Dekomposition zur Erfassung der Polysemie von Derivationsaffixen und anderer Form-Bedeutungs-Asymmetrien in der Wortbildung entwickelt hat. Ein beständiges Problem der Theorien semantischer Dekomposition besteht in der Frage, wie viele und welche semantische Primitiva (Basiseinheiten) anzusetzen sind. Rochelle Lieber → konzeptuelle Struktur; semantische Form ⇀ semantische Dekomposition (SemPrag) ⇁ semantic decomposition (TheoMethods); semantic decomposition (1) (Woform)

🕮 Dowty, D.R. [1979] Word Meaning and Montague Grammar. The Semantics of Verbs and Times in Generative Semantics and Montague’s PTQ. Dordrecht [etc.] ◾ Jackendoff, R. [1990] Semantic Structures. Cambridge, MA [etc.] ◾ Levin, B./ Rappa­ port Hovav, M. [1995] Unaccusativity. Cambridge, MA ◾ Lieber, R. [2004] Morphology and Lexical Semantics. Cambridge ◾ McCawley, J.D. [1973] Syntactic and logical arguments for semantic structures. In: Fujimura, O. [ed.] Three Dimensions of Linguistic Theory. Tokyo: 259–376 ◾ Talmy, L. [1985] Lexicalization patterns. Semantic structure in lexical forms. In: Shopen, T. [ed.] Language Typology and Syntactic Description. Vol. III: Grammatical Categories and the Lexicon. Cambridge: 57–149 ◾

S

semantische Durchsichtigkeit 612 Verkuyl, H. [1972] On the Compositional Nature of the Aspects. Dordrecht ◾ Verkuyl, H. [1993] A Theory of Aspectuality. Cambridge.

semantische Durchsichtigkeit

Grad der Identifizierbarkeit von Komponenten, aus denen ein Wort gebildet ist und die seine Bedeutung ausmachen. ▲ semantic transparency: degree to which the elements which make up the word, and which account for its meaning are identifiable.

Das Wort saintly ‘heilig’ besteht aus den Komponenten saint und -ly, und analog zu friendly, womanly und anderen Beispielen, ist es offensichtlich, wie diese beiden Komponenten die Bedeutung von saintly konstituieren. Demgegenüber ist für das Wort stealth ‘verstohlen’, obwohl die Orthografie nahelegt, dass es aus den Komponenten steal und th besteht, nicht unmittelbar klar, inwiefern diese Komponenten seine Bedeutung ausmachen. Erst unter Hinweis darauf, dass steal auch ‘heimlich kommen oder gehen’ bedeuten kann und dass stealth die Qualität ist, in der das geschehen kann, erschließt sich die Derivation. Stealth ist semantisch weniger transparent als saintly. Auf der anderen Seite ist es selbst mit dem Wissen, dass bei birth die Komponente bir mit bear verwandt ist, schwierig zu erkennen, wie sich die Bedeutung von birth konstituiert. Birth ist inzwischen semantisch opak. Obwohl klar ist, dass es unterschiedliche Grade semantischer Transparenz gibt, herrscht keine Einigkeit darüber, wie sie objektiv gemessen werden ­könnte.

S

Laurie Bauer ≡ semantische Kohärenz; semantische Transparenz → Durchsichtigkeit; motivierte Bildung; phonologische Durchsichtigkeit; Produktivität ⇁ semantic transparency (Woform)

🕮 Bauer, L. [2001] Morphological Productivity. Cambridge [etc.] ◾ Marzo, D. [2015] Motivation, compositionality, idiomatization. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 984–1001 ◾ Plag, I. [1999] Morphological Productivity. Structural Constraints on English Derivation. Berlin [etc.].

semantische Form

linguistisch-orientierte Ebene eines Zwei-EbenenSystems der Bedeutungsrepräsentation, die zwischen dem linguistischen System und dem System des konzeptuellen Wissens vermittelt.

▲ semantic form: linguistically-oriented level of a two-level system of meaning representation that mediates between the linguistic system and the system of conceptual knowledge.

„Semantische Form“ ist ein Begriff der Zwei-Ebenen-Theorie der Semantik, die ursprünglich von Bierwisch (1982), (1983) und Bierwisch/Lang (1987) entworfen und von weiteren Linguisten wie Wunderlich (1997), Maienborn (1996, 2001, 2017), Olsen (2004, 2012) und Bücking (2009, 2010) übernommen wurde, vgl. dazu auch Bierwisch (2015a, 2015b). In der Zwei-Ebenen-Theorie der Semantik ist die Bedeutung einer linguistischen Äußerung eine mentale Repräsentation, die zwischen dem linguistischen System und dem außersprachlichen Wissen eines Sprechers vermittelt. Die grundsätzliche Annahme der Zwei-EbenenSemantik ist, dass die Bedeutung eines linguistischen Ausdrucks ein komplexes Phänomen ist, in dem zwei Ebenen involviert sind. Die abstraktere Ebene wird „semantische Form“ genannt. Sie enthält die unveränderlichen, kontext-unabhängigen Bedeutungsaspekte, die für die Berechnung der kompositionellen Aspekte der Bedeutung benötigt wird. Die semantische Form korreliert mit den syntaktischen Strukturen der Grammatik und wird auf sie direkt abgebildet. Sie ist eine genuin linguistische Ebene der Repräsentation, die im Wesentlichen die komplexeren Aspekte der Bedeutung herausfiltert, die außerhalb der Grammatik ihren Ursprung haben, d.h. außerlinguistischen Wissensquellen entstammen. Gemeint sind die verschiedenen Arten der Bedeutungserweiterungen, Schlussfolgerungen und Inferenzen, die auf konzeptuellem Wissen bzw. auf Wissen über den spezifischen Kontext einer Äußerung basieren. Die semantische Form ist also auf die rein linguistisch-semantischen Eigenschaften einer Äußerung beschränkt und wird in der Dekompositionsstruktur der lexikalischen Einheit in Form von Prädikatkonstanten mit ihren abhängigen Variablen ausgedrückt. Diese aus der Prädikatenlogik stammende Notationsweise garantiert, dass die kombinatorischen Eigenschaften der lexikalischen Einheiten direkt aus ihren lexikalischen Repräsentationen ablesbar sind. Bedeutungsaspekte, die über die Einheiten der se­man­tischen Form hinausgehen, d.h. von außer­lin­gu­istischer Natur sind, werden auf der Ebene der konzeptu-

613 ellen Struktur hinzugefügt. Der Prozess der Bedeutungsanreicherung ist jedoch höchst eingeschränkt und wird durch bestimmte Parameter gesteuert, die bereits in der semantischen Form in Form von freien Variablen und unterspezifizierten Konstanten verankert sind. Somit wird die Anreicherung der schlichten semantischen Form durch weitere Bedeutungskomponenten wie konzeptuelle, episodische oder kontextuelle Wissensaspekten ermöglicht. Als ein Beispiel betrachte man die Repräsentation der deutschen Präposition in laut Witt (1998: 44). Die semantische Form in (1) drückt aus, dass eine Entität u in der internen Region einer anderen Entität v lokalisiert wird. Die Variablen v und u werden von Lambda-Operatoren gebunden, die anzeigen, dass sie von referenziellen Ausdrücken ersetzt werden sollen, wie in der syntaktischen Phrase (Er legte) die DVD in den Spieler. (1) λv λu BECOME(LOC(u, INT[v])) Die Partikel ein als Teil des Partikelverbs einlegen hat die verwandte semantische Form in (2). Sie unterscheidet sich von der Präposition insofern, dass ihre interne Variable v nicht von einem Lambda-Operator gebunden, sondern frei ist. Damit wird angezeigt, dass diese Position nicht durch einen referentiellen Ausdruck zu füllen ist, vgl. er legte die DVD ein. (2) λu BECOME(LOC(u, INT[v])) Die Variable v ist ein offener Parameter in der semantischen Form, der mit konzeptuellem Wissen auf der Ebene der konzeptuellen Struktur weiter spezifiziert wird. Sprecher verfügen anhand der Gestalt des gewählten direkten Objekts (hier die DVD) über ihr konzeptuelles Wissen, welche interne Region relevant ist (höchstwahrscheinlich der eines DVD-Players), weswegen diese prototypische Information nicht im linguistischen Ausdruck expliziert werden muss. Ein anderer Bereich der Wortbildung, bei dem das Zusammenspiel zwischen einer unterspezifizierten semantischen Form und ihrer angereicherten konzeptuellen Struktur Licht auf die Beschaffenheit der linguistischen und nicht-linguistischen Aspekte der Bedeutung der Konstruktion wirft, sind die „primary compounds“. Eine der Grundeigenschaften des Kompositionsprozesses ist aus semantischer Perspektive, dass er Strukturen produziert, die grundsätzlich in ihrer Interpretation offen sind. Das neue Kompositum snow

semantische Form gun ‘Schneewaffe’ hat zum Beispiel verschiedene plausible Interpretationen. Es kann interpretiert werden als ‘eine aus Schnee gemachte Waffe’, ‘eine Schnee schießende Waffe’, ‘eine Waffe, die im Schnee lebendes Wild schießt’, ‘eine weiße Waffe’, neben anderen Möglichkeiten. Grammatisch kann der Kompositionsprozess laut Olsen (2004, 2012) mittels der simplen Schablone (engl. template) (3a) formalisiert werden, die die Kombination von zwei Lexemen zulässt, wobei das neu geformte komplexe Lexem die kategorialen Merkmale der zweiten Konstituente übernimmt, die als sein Kopf fungiert. (3a) [Y X]X (3b) λQ λP λx [P(x) & R(x,y) & Q(y)] Das semantische Gegenstück wird in (3b) als ein template angegeben, verbunden mit der Annahme, dass eine unspezifizierte Relation R zwischen den externen Argumenten der zwei involvierten Prädikate P und Q besteht. Angewandt auf snow gun (3b) ergibt sich (4): (4) λx [GUN (x) & R(x,y) & SNOW(y)] Die Relation R kann abhängig vom Gebrauchskontext als ‘schießen’, ‘gemacht aus’, ‘ähnelt’ usw. ausgedrückt werden. Diese unterspezifizierte semantischen Form, die durch kontextuelles und konzeptuelles Wissen bereichert wird, macht eine Beobachtung explizit, die auch in anderen Ansätzen thematisiert wird. Dowty (1979: 316) benutzt zum Beispiel eine ähnliche Repräsentation für die semantische Struktur von Komposita, in der eine unterspezifizierte Variable für die implizite Relation charakterisiert wird als appropriately classificatory, ein Konzept, das auf Bradley (1906: 81) und Zimmer (1971: 14) zurückgeht und das auch von Downing (1977: 829) übernommen wurde. Selkirk (1982: 23) nimmt an, dass die grammatische Analyse von primären Komposita an dieser Stelle endet und stellt fest: „it would seem that virtually any relation between head and nonhead is possible – within pragmatic limits [...]“. Für eine tiefergehende Diskussion zur semantischen Form bei der Interpretation von Komposita vgl. Bierwisch (2015a). Susan Olsen

→ appropriately classificatory relation; außersprachliches

Wissen; Kategorialgrammatik; konzeptuelle Struktur; Kopf; Lexikoneintrag (1); Partikelverb; primary compound; sprachliches Wissen ⇀ semantische Form (SemPrag) ⇁ semantic form (Woform)

S

semantische Kohärenz 614 🕮 Bauer, L. [1978] The Grammar of Nominal Compounding. Odense ◾ Bierwisch, M./ Lang, E. [Hg. 1987] Grammatische und konzeptuelle Aspekte von Dimensionsadjektiven. Berlin ◾ Bierwisch, M. [1982] Formal and Lexical Semantics. In: LB 80: 3–17 ◾ Bierwisch, M. [1983] Semantische und konzeptuelle Repräsentation lexikalischer Einheiten. In: Růžička, R./ Motsch, W. [Hg.] Untersuchungen zur Semantik. Berlin: 61–99 ◾ Bierwisch, M. [2015a] Word-formation and argument structure. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1056–1099 ◾ Bierwisch, M. [2015b] Word-formation and metonymy. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1099–1128 ◾ Bradley, H. [1906] The Making of English. London ◾ Bücking, S. [2010] German Nominal Compounds as Underspecified Names for Kinds. In: Olsen, S. [ed.] New Impulses in Word-Formation. Hamburg: 253–281 ◾ Dowty, D.R. [1979] Word Meaning and Montague Grammar. The Semantics of Verbs and Times in Generative Semantics and Montague’s PTQ. Dordrecht [etc.] ◾ Maienborn, C. [1996] Situation und Lokation. Die Bedeutung lokaler Adjunkte von Verbalprojektionen. Tübingen ◾ Maienborn, C. [2001] On the Position and Interpretation of Locative Modifiers. In: NLgSem 9/2: 191–240 ◾ Maienborn, C. [2017] Konzeptuelle Semantik. In: Staffeldt, S./ Haegemann, J. [Hg.] Semantiktheorien: Lexikalische Analysen im Vergleich. Tübingen: 151–188 ◾ Olsen, S. [2004] The Case of Copulative Compounds. In: Meulen, A. ter/ Abraham, W. [eds.] The Composition of Meaning. From Lexeme to Discourse. Amsterdam: 17–37 ◾ Olsen, S. [2012] The Semantics of Compounds. In: Maienborn, C./ Heusinger, K./ Portner, P. [eds.] Semantics (HSK 33.3). Berlin [etc.]: 2120–2150 ◾ Selkirk, E. [1982] The Syntax of Words. Cambridge, MA [etc.] ◾ Witt, J. [1998] Kompositionalität und Regularität im System der Partikelverben mit ein-. In: Olsen, S. [Hg.] Semantische und konzeptuelle Aspekte der Partikelverbbildung mit ein-. Tübingen: 27–103 ◾ Wunderlich, D. [1997] Cause and the Structure of Verbs. In: LingInqu 28: 27–68 ◾ Zimmer, K. [1971] Some General Observations about Nominal Compounds. In: WPLgU 5: C1-C21.

semantische Kohärenz

S

≡ semantische Durchsichtigkeit ⇀ semantische Kohärenz (Textling)

semantische Motivation ≡ figurative Motivation

⇀ semantische Motivation (Lexik)

semantische Relation

Oberbegriff für alle intensionalen semantischen Beziehungen, die zwischen Sememen verschiedener lexikalischer Einheiten einer natürlichen Sprache bestehen. ▲ semantic relation: generic term for all intensional semantic relations between sememes of different lexical units in a natural language. Unterschieden werden paradigmatische semanti-

sche Relationen und syntagmatische semantische Relationen. Paradigmatische Relationen bestehen zwischen Sememen verschiedener lexikalischer Einheiten derselben Wortart. Die entsprechenden lexikalischen Einheiten können aufgrund gemeinsamer semantischer Merkmale die gleiche Position innerhalb eines Syntagmas einnehmen. Paradigmatische Gruppen sind umso größer, je weniger gemeinsame Bedeutungsmerkmale vorhanden sind, vgl. die Wortbildungsgruppen der nomina actionis oder der nomina agentis. Zu den paradigmatischen „Sinnrelationen“ (Lyons 1977) gehören vor allem Beziehungen der Bedeutungsähnlichkeit bzw. -gleichheit (Synonymie: dt. Abendbrot – Abendessen, frz. pigeon – colombe ‘Taube’), Beziehungen der Über- und Unterordnung (Hyperonymie und Hyponymie: dt. Möbel – Tisch, frz. siège – chaise; Meronymie: engl. hand – finger; dt. Baum – Wurzel, Stamm, Krone), Inkompatibilitätsbeziehungen (Kohyponymie: dt. Roggen – Weizen – Gerste – Hafer, frz. chaise – canapè – fauteuil – pouf, engl. red – blue – green – yellow) und Beziehungen des Gegensatzes (Antonymie/Kontrarität: dt. hell – dunkel, engl. warm – cold, russ. staryj – novyj; Komplementarität/Kon­ tra­diktion: dt. anwesend – abwesend, engl. married – unmarried, frz. mort – vivant; Konversivität: dt. kaufen – verkaufen, frz. donner – prendre). Eine jeweils spezifische Form der Synonymie/Antonymie ist die Wortbildungssynonymie/-antonymie, bei der die Bedeutungsähnlichkeit oder -gleichheit bzw. der Bedeutungsgegensatz mit Hilfe der Wortbildung ausgedrückt wird: dt. fehlerlos – fehlerfrei, engl. fortunate – unfortunate, frz. fleurir – défleurir. Syntagmatische semantische Relationen verbinden die Elemente im Satz. Porzig (1934) und Coseriu (1967) beschreiben syntagmatische semantische Relationen als bevorzugte Kollokationen, vgl. dt. blond > Haar, frz. rance > beurre, graisse. Lexikalische Einheiten verfügen danach in ihrer Bedeutungsstruktur über Eigenschaften, auf denen ihre Kompatibilität beruht. Die semantisch begründete Verbindbarkeit bezeichnet man als semantische Valenz oder semantische Kongruenz. Coseriu (1967) spricht von lexikalischen Solidaritäten. Semantische Unverträglichkeiten beruhen unter anderem auf der Unvereinbarkeit der semantischen Merkmale (*Bäume fliegen), auf dem Vorhandensein präsuppositiver semanti-

615 scher Merkmale (dt. *etwas mit der Nase riechen), auf sprachspezifischen Gebrauchsbedingungen (dt. blond > Haar), einander widersprechenden Wertungen oder gegensätzlichen kommunikativen Rahmenbedingungen (dt. *bezaubernde Visage, *jemandem ins Antlitz hauen). Dies schließt jedoch nicht aus, dass eine inkompatible Verbindung bewusst hergestellt werden kann. Anja Seiffert ≡ Bedeutungsbeziehung; Sinnrelation → Wortbildungsantonymie; Wortbildungsgruppe; Wortbildungshyperonymie; Wortbildungshyponymie; Wortbildungssynonymie ⇀ semantische Relation (Lexik)

🕮 Agricola, E. [1969] Semantische Relationen im Text und im System. Halle ◾ Blank, A. [2001] Einführung in die lexikalische Semantik. Tübingen ◾ Coseriu, E. [1967] Lexikalische Solidaritäten. In: Poet-A 1: 293–303 ◾ Lutzeier, P.R. [1985] Linguistische Semantik. Stuttgart ◾ Lyons, J. [1977] Semantics. 2 vols. Cambridge [etc.] ◾ Porzig, W. [1934] Wesenhafte Bedeutungsbeziehungen. In: BGeschDtSpLit-H 58: 70–97.

semantische Transparenz

≡ semantische Durchsichtigkeit

semantische Wortbildungsanalyse

auf semantische Prozesse und Muster gerichtete Analyse von Wortbildungen. ▲ semantic word-formation analysis: word-formation analysis aimed at semantic processes and semantic patterns. Nachdem in der Wortbildungslehre zunächst überwiegend die morphologisch-formale Beschreibung von Wortbildungen im Vordergrund gestanden hatte, wurden zunehmend semantisch-funktionale Aspekte in die Analyse einbezogen. Eine umfassende Bestandsaufnahme verbaler, substantivischer und adjektivischer Wortbildungen auch in semantischer Hinsicht hatte z.B. die Forschungsstelle Innsbruck des Instituts für deutsche Sprache mit den ersten drei Bänden der „Deutschen Wortbildung“ (1973, 1975, 1978) geleistet. Dennoch sieht Putschke (1988) noch Ende der 80er Jahre des 20. Jh. „eine semantisch orientierte Bearbeitung der Wortbildung“ – ungeachtet einzelner satzsemantischer und inhaltsbezogener Ansätze – als ein Desiderat in der Wortbildungsforschung. Je nach theoretischem und methodischem Ansatz sowie nach Wortart- und Wortbildungsartspezifik unterscheiden sich semantische Wortbildungs-

semantische Wortbildungsanalyse analysen methodisch und begrifflich zum Teil erheblich voneinander. Putschke (1988) legt in einer „Skizze eines semantischen Wortbildungsmodells“ Ziele und Methoden einer Konzentrierung auf die semantische Komponente dar. Am Beispiel von Komposita beschreibt er, wie sich mittels syntaktischer Paraphrasierung und syntaktischer und semantischer Konnektorenanalyse die Begriffsstruktur der Wortbildung ermitteln lässt. Motsch (2004: 1ff.) betrachtet Wortbildungsmuster als „Paare von semantisch-syntaktischen und phonologisch-morphologischen Beschreibungen“ und beschreibt semantische Muster als Prädikat-Argument-Strukturen. Barz (2009: 673) spricht bei der „semantischen Prägung, die ein sekundäres Wort zusätzlich zu den Bedeutungen seiner Konstituenten durch die Wortbildung gewinnt“, von Wortbildungsbedeutung und charakterisiert Wortbildungstypen sowohl morphologisch als auch semantisch. Die semantische Prägung und deren Beschreibung hängt dabei von der Wortbildungsart und von den an der Wortbildung beteiligten Mitteln ab. Als allgemein­ ste Art der semantischen Wortbildungsanalyse lässt sich die Differenzierung nach den beiden Grundklassen Modifikation und Transposition betrachten (Barz 2009: 674). Umstritten ist die Frage, ob Wortbildungsaffixe selbst eine Bedeutung tragen oder ob man ihnen eher eine bedeutungsindizierende (Motsch 2004: 17), eine bedeutungssignalisierende (Barz 2005: 656) oder eine morphosemantische Funktion (Eisenberg 2006: 225) zuschreiben soll. Auch Erben (2006: 29) spricht von einem „mehr grammatischen als semantischen Signalwert“, obwohl auch inhaltliche Merkmale signalisiert werden können. Der Affixbestand ist semantisch in sich sehr heterogen und weist ein breites Spektrum zwischen bedeutungsreicheren Affixen wie dt. -in (Köchin) und bedeutungsärmeren wie dt. -ig (dortig) auf. Das Grundproblem semantischer Wortbildungsanalysen besteht wie bei allen semantischen Analysen darin, dass das Beschreibungsobjekt „Bedeutung“ direkter Beobachtung nicht zugänglich ist und theoretisch und methodisch verschiedene Beschreibungsansätze miteinander konkurrieren. Hannelore Poethe

→ § 5; Affix; Modifikation; Transposition; Wortbildungs-

bedeutung; Wortbildungsmodell; Wortbildungsmuster; Wortbildungstyp

S

Sexusdifferenzierung 616 🕮 Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Eisenberg, P. [2006] Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3., durchges. Aufl. Stuttgart [etc.] ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Kühnhold, I./ Putzer, O./ Wellmann, H. [1978] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 3. Hauptteil: Das Adjektiv. Düsseldorf ◾ Kühnhold, I./ Wellmann, H. [1973] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 1. Hauptteil: Das Verb. Düsseldorf ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Putschke, W. [1988] Skizze eines semantischen Wortbildungsmodells. In: Munske, H.H./ von Polenz, P./ Reichmann, O./ Hildebrandt, R. [Hg.] Deutscher Wortschatz. Lexikologische Studien. Berlin [etc.]: 75–92 ◾ Wellmann, H. [1975] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 2. Hauptteil: Das Substantiv. Düsseldorf.

Sexusdifferenzierung

≡ Movierung ⇀ Sexusdifferenzierung (Onom)

Silbenkurzwort

Kurzwort, das aus zwei oder mehr Silben besteht, die jeweils einem eigenen Morphem der relevanten Vollform entsprechen. ▲ syllable short word: shortening consisting of two or more syllables, each of which corresponds to a separate morpheme in the respective full form.

S

Die Begriffe „Silbenkurzwort“, „Silbenwort“, „Silbeninitialwort“ bezeichnen unterschiedslos eine besondere Art der Kürzung im Deutschen, wobei Morpheme in gegebenen Vollformen durch Silben in den entsprechenden Kurzformen vertreten sind. Da die Verwendungsweise der Begriffe uneinheitlich und nicht immer eindeutig ist, wird in Abschnitt 1 zunächst erläutert, welche Erscheinungen im Deutschen ausnahmslos darunterfallen und wie diese sich von anderen Kurzworttypen unterscheiden. Abschnitt 2 gibt einen

kurzen Überblick über die Behandlung der Silbenkurzwörter in der Literatur und stellt einige weiter gefasste Verwendungsweisen der Begriffe vor. In Abschnitt 3 werden linguistisch signifikante Eigenschaften der Silbenkurzwörter erörtert, wobei auch diverse Gemeinsamkeiten mit den anderen Kurzworttypen zur Sprache kommen. 1. Übereinstimmend anerkannte Fälle von Silbenkurzwörtern wie in (1) setzen morphologisch komplexe Vollformen voraus und zeichnen sich dadurch aus, dass mindestens zwei der Morpheme durch einzelne offene Silben vertreten sind, die auf jeweils linke Morphemgrenzen Bezug nehmen (Kobler-Trill 1994, Fleischer/Barz 2012). Die Frage, ob die entsprechenden Silben in den Vollformen offen oder geschlossen sind, ist dabei unerheblich. Die aneinandergereihten Silben im Kurzwort bilden ein phonologisches Wort, d.h. eine einzelne Domäne für die Silbifizierung (Gruppierung von Phonemen zu Silben) und für die Pedifizierung (Gruppierung von Silben zu Füßen). Die Reihenfolge der Silben im Silbenkurzwort entspricht immer der Reihenfolge der jeweiligen Fragmente in den Vollformen. Der morphologische Kopf der Vollform, in (1) durch Fettdruck markiert, bestimmt die Kategorie des Kurzworts einschließlich dessen Genus. Die Vollform und das entsprechende Silbenkurzwort haben im Wesentlichen dieselbe Bedeutung (z.B. Langer Donnerstag/LaDo ‘Donnerstag an dem Ämter/Geschäfte längere Öffnungszeiten haben’). Die Silbenkurzwortbildung setzt demnach zunächst lediglich das Erkennen der relevanten linken Morphemgrenzen in den Vollformen sowie des nachfolgenden ersten silbischen Vokals voraus. Eine Kürzung wie Erythropoietin zu Epo weist daher auf ein Wissen um die Morphemgrenze in der Vollform hin (vgl. Griechisch er-

(1) Vollform

Kurzwort

Prosodische Organisation

Langer Donnerstag

[LaDo]N-MASK

(ˈlɑ.do)ω

Kindertagesstätte

[Kita]N-FEM

(ˈki.tɑ)ω

Schnitzel mit Pommes und Salat

[Schniposa]N-NEUT

(∫ni.ˈpo.zɑ)ω (∼(ˈ∫ni.ˈpoˌzɑ)ω)

Hans-Josef

[Hajo]N-MASK

(ˈhɑ.io)ω

(2)

Kurzwort

Prosodische Organisation

a) Steuerfahndung

Vollform

[Steufa]N-FEM

( ˈ∫ tɔi.fɑ)ω

b) Deutsche Nachrichtenagentur

[DENA]N-FEM

( ˈde.nɑ)ω

617 Silbenkurzwort ythro ‘rot’). (Dieser Schluss betrifft natürlich nicht nachfolgende Verwendungen der Kurzform.) Variation ergibt sich lediglich bei den Diphthongen EI und EU (s. (2)), wobei die Variante in (2b) notwendig auf die Schriftform Bezug nimmt: Enthält die Vollform nur zwei Stammformen, sind beide im Silbenkurzwort vertreten. Für komplexere Komposita gilt, dass die Repräsentation eines Stamms die Repräsentation der jeweiligen weniger tief eingebetteten Konstituenten voraussetzt (s. (3)). Der Kopf der Vollform ist gewöhnlich ein Substantiv und auch die entsprechenden Silbenkurzwörter treten gewöhnlich als freistehende Substantive auf. Gelegentlich erscheint ein Silbenkurzwort als gebundenes Erstglied eines Kompositums (z.B. Schuko-Stecker < Schutzkontakt-Stecker); auch komplexe Adjektive oder Adverbien treten in gekürzter Form als Erstglieder auf (Stino-Pommes < stinknormale Pommes). Fälle, in denen freistehende Silbenkurzwörter keinen nominalen Kopf aufweisen, gehen möglicherweise immer auf elliptische Verwendungen solcher gebundenen Formen zurück (z.B. Stino von Stino-Mann in der speziellen Verwendung als abwertende Bezeichnung für einen heterosexuellen Mann). Die nominale Kategorie und das Genus (z.B. der Stino, die/der Vokuhila) der Silbenkurzwörter sind dann durch jene nicht-elliptischen Ausgangsformen bestimmt (s. (4)).

Unterschiede zu anderen Kurzworttypen betreffen diverse Eigenschaften der jeweils korrespondierenden Segmente. Der Unterschied von Silbenkurzwörtern zu den sogenannten Kopfwörtern in (5a) besteht darin, dass in letzteren sämtliche Segmente des Kurzworts eine zusammenhängende Folge bilden, die einer eben solchen Folge in der Vollform entspricht. Kopfwörter können daher auch einsilbig sein und geschlossene Silben enthalten. Der Unterschied zu den Initialkurzwörtern in (5b) besteht darin, dass in letzteren gewöhnlich nur der erste Buchstabe eines Morphems repräsentiert ist. Die sogenannten Mischkurzwörter in (5c) bilden eine Art Mischung aus Silben- und Initialkurzwörtern: manche Morpheme sind nur durch den Anfangsbuchstaben vertreten, andere durch eine Sequenz, die einen Anfangsbuchstaben sowie den folgenden silbischen Vokal umfasst. Deutlichere Unterschiede zeigen sich zu den Kurzworttypen in (6), die aus mehreren Morphemen bestehen und entsprechend komplexe prosodische Organisationen aufweisen. Das Kurzwort in (6a) besteht ausschließlich aus Stammformen, die den mit den jeweiligen Initialen assoziierten Buchstabennamen entsprechen (z.B. C = [tse], H = [hɑ], Z = [tsɛt]), und wird daher als Kopulativkompositum mit Hauptakzent auf dem Letztglied organisiert. (Das Subskript „Hd" markiert den prosodischen Kopf des Kompositums.) Eine sol-

(3) Arbeiter

wohl

fahrt

Awo, *Afa, *Wofa

Uber

kommando

S

fall

Üko, *Üfa, *Fako

(4) Vollform

Elliptisches Kurzwort

Prosodische Organisation

stinknormaler Mann]N-MASK

[Stino]N-MASK (< [Stino- Mann]N-MASK)

( ˈ∫ ti.no)ω

Vorne kurz, hinten lang

[Vokuhila]N-MASK ~ N-FEM

(fo.ku ˈhi.lɑ)ω

Haarschnitt]N-MASK /Frisur]N-FEM

(< Vokuhila-Haarschnitt]N-MASK ~ (Vokuhila-Frisur]N-FEM

(5)

Kurzwort

Prosodische Organisation

[Perso]N-MASK

( ˈ pεr.zo)ω

[Lok]N-FEM

(lɔk)ω

b) Umwelt##bundes##amt

[UBA]N-NEUT

( ˈ u.bɑ)ω

c) Jugend##kultur##zentrum

[Jukuz]N-NEUT

( ˈ i .k ts)ω

Lokomotive

Ω Ω

Vollform

a) Personal##ausweis

Silbenkurzwort 618

S

che Kürzung erscheint in sogenannten „partiellen Kurzwörtern“ als gebundenes Erstglied eines Determinativkompositums, innerhalb dessen es den prosodischen Kopf bildet (s. (6b)). (Diese prosodische Organisation kennzeichnet auch die oben besprochenen Fällen mit betontem gebundenem Erstglied (Schuko-Stecker, Stino-Mann). Während alle bisher veranschaulichten Kurzworttypen durch Übereinstimmung der morphosyntaktischen Kategorien sowie der referenziellen Eigenschaften zwischen Voll- und Kurzform gekennzeichnet waren, gilt dies nicht für Kürzungen im Zusammenhang mit der Bildung von Markennamen (s. (7); Zumthor 1951). In diesen sogenannten „Kunstwörtern“ bestehen die Vollformen nicht unbedingt unabhängig, sondern werden eigens zu Kürzungszwecken zusammengestellt (z.B. die Verbindung der Neutra Perborat und Silikat, beides Fachbegriffe für chemische Substanzen, als Basis der Kurzform Persil, die eine Waschmittelmarke bezeichnet). Zwar finden sich unter diesen Kunstwörtern regelhaft geformte Silbenkurzwörter (s. (7a)). Die meisten Bildungen zeigen jedoch Abweichungen, etwa in Form von geschlossenen Silben oder zweier einem Morphem zugeordneter Silben, die durch den Vergleich mit den jeweiligen hypothetischen Silbenkurzwörtern deutlich werden (s. (7b)). Keines der Kürzungsverfahren in (7b) findet sich in Kurzwörtern, die durch eine Übereinstimmung der Kategorien und der referenziellen Eigenschaften geprägt sind. So ist Adrema ein möglicher Firmenname, aber kein mögliches auf Adressiermaschine beruhendes Kurzwort. Das Kompositum Isoliermatte etwa lässt sich zu Isomatte kürzen, mit einem Kopfwort als gebundenem Erstglied, aber nicht zu einem Silbenkurzwort *Isoma. Das Kurzwort Lado in (1) ist wohlgeformt, aber *Lan(6)

Kurzwort

Prosodische Organisation

a) Deutsche Bahn

[[de][be]]N-FEM

((de)ω ˈ(be)ωHd)KOP-KOMP

b) Stadtbahn

[[εs]-Bahn]N-FEM

( ˈ (εs)ωHd(bɑn)ω)DET-KOMP

(7)

Vollform

don, mit geschlossenen Silben, wäre ungrammatisch im Deutschen (vgl. dagegen die Präferenz für geschlossene Silben in Englisch (ˈhæzˌmæt)ω hazmat (< hazardous material), (ˈstɹætˌmæn)ω stratman (< strategic management)). 2. Der Begriff „Silbenkurzwort" geht auf Wellander (1923) zurück, der diesen Kürzungstyp dem Initialkurzwort (s. (5b)) gegenüberstellt und wie folgt beschreibt: „es wird ein Teil des Wortes, etwa die erste Silbe, die zwei ersten Silben, oder, bei Zusammensetzungen, die ersten Silben beider Glieder als Vertreter des ganzen Wortes gebraucht, in der Schrift und in der Aussprache“ (1923: 44). Für Wellander umfasst der Begriff somit gleichzeitig Kopfwörter (s. (5a)) und die in (7) aufgeführten Kunstwörter. Die Einzigartigkeit der in (1) – (4) gezeigten Bildungen im Deutschen, wo einzelne offene Silben erscheinen, bleibt hier unbemerkt: „Ganz neu ist im Deutschen ein zweiter Typus des Silbenkurzwortes, der auch nach fremdem Muster geschaffen worden ist. Es ist der Typus engl. Turmac für Turkish-Macedonian Tobacco Company, frz. Boul’Mich für Boulevard St. Michel, deutsch Metoula für Methode ToussaintLangenscheidt, der jetzt ganz besonders modern zu sein scheint“ (Wellander 1923: 46). Der wohl erste Beleg für einen eigenen Begriff „Aküspra“, der ausschließlich auf die in (1) – (4) veranschaulichten Silbenkurzwörter Bezug nimmt, findet sich bei Müller (1930) (Apo < Abstimmungspolizei, Sipo < Sittenpolizei, Schupo < Schutzpolizei): „Solche Wortscheusale, auf die das Wort vom neuzeitlichen Verkürzungsrappel gemünzt ist, mögen für den Verkehr der Geschäftsstellen untereinander ihre Vorteile haben, die Allgemeinheit aber kann sie nicht verdauen. Soll aus unserer Muttersprache eine Aküspra werden? Dieses wunderbare Wort ist so recht bezeichnend

Vollform

Tatsächliches Kurzwort

Hypothetisches Silbenkurzwort

a) Hans Riegel, Bonn

Haribo

(ˈ ha.ri ˌ bo)ω

( ˈha.riˌbo)ω)

b) Perborat und Silikat

Persil

(pεr ˈ zil)ω

( ˈpe.zi)ω )

Adi Dassler

Adidas

(ˈ a.diˌ das)ω

( ˈɑ.dɑ)ω )

Adressiermaschine

Adrema

(ɑ ˈ dre.mɑ)ω

( ˈɑ.mɑ)ω )

619 Silbenkurzwort für die Abkürzungssprache, die heute ihr Unwesen sogar in Büchern treibt. In den Zeitungen begegnen wir täglich der Apo, Sipo und Schupo; werden sie nicht auch in die minder vergängliche Welt der Bücher eindringen?“ (Müller 1930: 34). Die Zitate sind charakteristisch für die Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jh. dahingehend, dass sie lediglich Aufschluss geben über die starke Produktivität von Silbenkurzwörtern im Deutschen sowie über die vorherrschende Haltung der deutschen Akademiker. In deren Beiträgen geht es vor allem um Wertung, bis zu nationalistisch verbrämten Beschimpfungen („Unwürdig der deutschen Sprache sind viele Reklamenamen kindischen Klanges wie Aküdo, Emibu“ Becker 1933: 22; Aküdo < Akademische Übersetzungszentrale mit Dolmetscherdienst; Emibu < Einkaufsgenossenschaft der Milch- und Butterhändler, vgl. auch Dunger 1909). Die harsche Verunglimpfung der Bildungen aufgrund ihres vermeintlich ausländischen Ursprungs als „hässlichste Blüte der Sprachverkümmerung“ (Briegleb 1918: 344) verkennt dabei, dass es sich insbesondere bei den oben beschriebenen Silbenkurzwörtern um eine Besonderheit des Deutschen handelt. Ein gänzlich anderer Geist herrscht in Skandinavien, wo die Kurzwortbildung im Deutschen Neugierde erweckt („Eine eingehende Untersuchung dieser verschiedenen Typen von Kurzwörtern mit besonderer Rücksicht auf die Zeit des ersten Vorkommens und die Zeit des kräftigsten Blühens innerhalb der verschiedenen Sondersprachen wäre sehr wünschenswert.“ Wellander 1923: 47). Dort gibt es auch Überlegungen zu den phonologischen Bedingungen, unter denen Silbenkurzwörter im Deutschen entstehen: Bergstrøm-Nielsen (1952) beobachtet, dass hier Vollformen zugrundeliegen, in denen sich die den jeweiligen Anfangsbuchstaben entsprechenden Lautfolgen nicht als ein Wort aussprechen lassen. Gelöst werde dieses Problem durch die Hinzunahme des nachfolgenden Vokals (z.B. Technische Nothilfe wird zu Teno gekürzt, statt zu TN). Derlei Reflexionen stehen im Kontrast zu dem offensichtlichen Desinteresse in der ersten Behandlung von Silbenkurzwörtern in einer Wortbildungslehre des Deutschen („Ganz neue Wörter entstehen auch aus künstlich-willkürlicher Einschränkung auf Anfangsbuchstaben oder -silben“ Henzen 1947: 268; 1965: 264). Fleischer (1969: 211) prägt den Begriff „Silbenwort“,

den er in einem kurzen Abschnitt mit einigen Beispielen erläutert. Diese Beispiele umfassen sowohl Silbenkurzwörter, wie in Abschnitt 1 abgegrenzt (z.B. Spowa < Sportwarenhaus), aber auch Kunstwörter (z.B. Persil und der Firmenname Textima < Textilmaschinen). Die Besonderheit der Silbenkurzwörter im Deutschen bleibt auch hier unerkannt; deren Einordnung als Übergangsform zwischen Initialwörtern (s. (5b)) und Kopfwörtern (s. (5a)) wird nicht näher erläutert. Seither findet sich ein Bezug auf Silbenkurzwörter vor allem im Zusammenhang mit der Erstellung umfassender Kurzwort-Taxonomien (Bellmann 1980; Wellmann 1984; Kobler-Trill 1994; Greule 1996; Balnat 2011). Kobler-Trill (1994) bietet einen umfassenden Überblick über die oft sehr unterschiedliche Verwendungsweise der einzelnen Begriffe. Selbst grenzt sie den Begriff Silbenkurzwort dahingehend ein, dass Morpheme durch je eine Silbe vertreten werden (Kobler-Trill 1994: 22). Die von Greule (1996) vorgeschlagene Verwendungsweise dieses Begriffs hingegen stimmt mit der ursprünglichen von Wellander eingeführten vollkommen überein, ohne auf ihn zu verweisen. Weitere sprachvergleichende Arbeiten zur Phonologie von Kurzwörtern lassen einen gesonderten Bezug auf Silbenkurzwörter vermissen (Ronneberger-Sibold 1992), mit der Ausnahme von Nübling (2001: 173), wo allerdings das relevante Beispiel für ein Silbenkurzwort aus dem Schwedischen geschlossene Silben aufweist. Ergiebiger sind die Arbeiten zu semantischen Besonderheiten der Silbenkurzwörter, wo vor allem auf die pragmatisch-situative Differenzierung zwischen Vollform und Kurzwort aufmerksam gemacht wird. Mit einem Verweis auf Beobachtungen Klemperers (1947) geht Bellmann (1980: 377) in seiner Diskussion des Silbenkurzworts Kita (s. (1)) auf die identitätsstiftende Funktion dieser Ausdrucksweise ein („Sie erlauben über die Dinge anders zu reden als diejenigen, von denen man sich absetzen will“). Hier wäre es von Interesse, genauer zu erforschen, ob dieser Effekt in besonderem Maße bei Silbenkurzwörtern eintritt, eventuell im Unterschied etwa zu Buchstabenkomposita oder partiellen Kurzwörtern (z.B. Straba < Straßenbahn versus DB, S-Bahn (s. (6)). 3. Wirkliche Fortschritte in der formalen Analyse von Silbenkurzwörtern werden vor allem durch optimalitätstheoretische Konzepte ermöglicht

S

Silbenkurzwort 620 (Prince/Smolensky 1993, Kager 1999). In einem Modell, wo Grammatik als Interaktion von Korrespondenz- und Markiertheitsbeschränkungen beschrieben wird, lässt sich das Wesen von Kurzwörtern konzise auf den Punkt bringen. Eine Markiertheitsbeschränkung *Struktur, die sich als Verbot jeglicher Struktur (Silben, Phoneme, Grapheme) auffassen lässt und der Aufwandsminimierung dient, wird von Korrespondenzbeschränkungen dominiert, die die Repräsentation spezifischer Elemente der Vollformen verlangen. Insbesondere der Begriff der Korrespondenz erlaubt eine differenzierte Beschreibung der formalen Besonderheiten diverser Kürzungen in Form spezifischer Übereinstimmungen zwischen Symbolen auf der phonologischen wie auch graphemischen Ebene in Kurz- versus Vollformen. Der Bezug auf spezifische in (8) aufgeführte Korrespondenzbeschränkungen wie die sogenannte Linksverankerung, Linearität und Kontiguität (McCarthy/Prince 1995, 1999) stellt einen Zusammenhang her, sowohl der verschiedenen Kurzworttypen untereinander, als auch zu anderen Wortbildungsregeln wie gewöhnlicher Affigierung und Reduplikation (hier wäre lediglich der Begriff „Vollform“ durch „Basis“ und „Kurzform“ durch „Ableitung“ zu ersetzen). Die Besonderheit von Silbenkurzwörtern lässt

sich durch die spezifische Variante der Linksverankerung-S in (8b) erfassen, die linke Morphem- mit linken Silbenrändern in Beziehung setzt. Im Zusammenwirken mit den übrigen hier besprochenen Beschränkungen ergibt sich die für diese Kurzwörter charakteristische spezifische Wahl von Segmenten aus Vollformen. Das heißt, für jede beliebige Vollform bewirken die dominierenden Korrespondenzbeschränkungen die Einengung auf wenige Kandidaten, unter denen dann der kürzeste ausgewählt wird (d.h. derjenige mit den wenigsten *Struktur-Verletzungen). Auf diese Weise ergeben sich die für Silbenkurzwörter charakteristischen offenen Silben, ohne dass hierfür eine besondere Markiertheitsbeschränkung (z.B. ein Verbot von Silbenkodas) anzunehmen wäre. Die genaue Rolle der einzelnen Beschränkungen wird in Tableau (9) anhand des Silbenkurzworts Schniposa veranschaulicht. (Die Sequenz /tse/ in (9a) ist nicht initial im Wort Schnitzel und verletzt daher Linksverankerung-S. Die Reihenfolge der Sequenzen /po/ und /ʃni/ in (9b) weicht von derjenigen in der Vollform ab und verletzt somit Linearität. Die Adjazenz der Phoneme /ʃ/ und /i/ in (9c) ist im entsprechenden Morphem der Vollform nicht gegeben und verletzt somit Kontiguität. Sämtliche Kodakonsonanten in Schnipomsal

(8) a) LINKSVERANKERUNG: Das Element am linken Rand einer jeden ”geeigneten“

Konstituente der Vollform hat einen Korrespondenten in der Kurzform.

b)

LINKSVERANKERUNG-S: Das Element am linken Rand einer jeden ”geeigneten“ Konstituente der Vollform hat einen Korrespondenten an einem linken

S

Silbenrand in der Kurzform. c)

LINEARITÄT: Die Sequenz der Elemente in den Kurzformen entspricht der Sequenz

d)

KONTIGUITÄT: Jedes morpheminterne Fragment der Vollform, das eine

der entsprechenden Elemente in den Vollformen. Korrespondenz mit dem Kurzwort aufweist, bildet eine zusammenhängende Folge von Elementen, die im entsprechenden Fragment des Kurzworts abgebildet ist. (9) Schnitzel mit Pommes und Salat a) b) c) d) e)

(tse. ˈ po.zɑ)ω

(po ˈ ∫ni.zɑ)ω (∫ i. ˈ po.zɑ)ω

(∫ ni. ˈ pɔm.zɑl)ω (∫ni. ˈ po.zɑ)ω

LINKSV-S LINEARITÄT KONTIGUITÄT *STRUKTUR *!

*! *! *********! *******

621 Silbenkurzwort in (9d) sind überflüssig, da durch keine der übergeordneten Korrespondenzbeschränkungen gefordert. Optimal ist daher der spezifische „linksverankerte“ Kandidat mit ausschließlich offenen Silben in (9e).) Im Gegensatz zu früheren Konzeptualisierungen von Kurzwortbildungen in Form von Segmentierungen der Vollformen („Es wird zerschlagen und neu zusammengesetzt" Eroms 2002: 22; „Kurzwörter [...] bestehen aus einzelnen Segmenten ihrer Vollform“ Fleischer/Barz 2012: 91) eröffnen sich hier neue Einsichten in regelhafte Zusammenhänge. Der gleichzeitige Bezug der Korrespondenzen auf phonemische und graphemische Strukturen in Voll- und Kurzformen erlaubt etwa die Feststellung, dass die Behandlung von Diphthongen in Silbenkurzwörtern von der prosodischen Position in der Kurzform abhängt. In fußinitialer Position, selbst wenn es sich um einen Nebenakzent handelt, finden sich meist für beide Glieder eines Diphthongs Korrespondenzen (s. (10a, b)). In anderen Positionen bleibt gewöhnlich nur ein Vokal erhalten (s. (10c)). Für ein gibt es oft keine Entsprechung in der finalen Position der Kurzform (*Taze), wohl um den Reduktionsvokal /ə/ zu vermeiden (s. (10d)). Die Begrenzung markierter Strukturen auf bestimmte prominente Positionen ist eine bekannte Erscheinung in der Phonologie (sog. „Relevanzpositionen" bei Trubetzkoy 1939, „Positionelle Treue“ bei Beckman 1997), die sich in der Bildung von Silbenkurzwörtern widerspiegelt. Das Beispiel taz macht auf weitere wichtige Zusammenhänge zwischen Silbenkurzwörtern und

den Mischkurzwörtern aufmerksam. Letztere entstehen vor allem, wenn regulär geformte Silbenkurzwörter phonologisch markierte Strukturen aufweisen (z.B. Diphthonge, markierte Vokale wie /æ/, /ø/, /ə/, Hiatus, komplexe Ansätze). Zur Erfüllung der relevanten Markiertheitsbeschränkungen werden solche Strukturen in Mehrsilblern meist vermieden (s. die mit Fettdruck markierten Segmente in der rechten Spalte in (11)) und die fraglichen Kurzwörter werden auf Trochäen reduziert. Die durch Markiertheit gekennzeichneten Silben fallen jedoch nicht vollständig weg, sondern die einfache Linksverankerung, die den Erhalt der Initialen gewährleistet, setzt sich durch. (Hypothetische „reine" Silbenkurzwörter sind durch die strikte Übereinstimmung mit der Beschränkung LinksverankerungS gekennzeichnet, s. die Formen in der rechten Spalte in (11).) Markiertheitsbeschränkungen bewirken nicht nur besondere Kürzungen, sondern auch den Einschluss weiterer Phoneme zwecks Hiatusvermeidung (12a) oder zur Vermeidung von Füßen, die nur ein Phonem enthalten (12b). Die Auswahl der Segmente ist stets durch die Beschränkung kontiguität festgelegt. Die hier gezeigten Generalisierungen deuten auf eine bestimmte Rangfolge der fraglichen Markiertheitsbeschränkungen innerhalb der in (9) veranschaulichten Grammatik hin. Reine Silbenkurzwörter und die sogenannten Mischkurzwörter in (11) und (12), in denen initiale CV-Silben und einfache Initialen sowie offene und geschlossene Silben scheinbar willkürlich nebeneinanderste-

(10) a) Leitz-Camera

Leica

( ˈlai.kɑ)ω

b) Gemeinschaft für Sozialtouristik und Reisesparen

Gesorei

( ˈge.zo ˌrai)ω

c) Vereinigung der Seifen-, Parfüm- und

SEPAWA

(ze ˈpɑ.vɑ)ω

taz

(tats)ω

Waschmittelfachleute d) Tageszeitung (11)

Vollform

Tatsächliches Kurzwort

Hypothetisches

Degesch

( ˈde.ɡε∫ )ω

”reines“ Silbenkurzwort (de.ɡe.∫æ)ω

b) Bundesfreiwilligendienstleistender

Bufdi

( ˈb f.di)ω

(bu.fre.di)ω

c) Scheiβ Langer Donnerstag

SchLaDo

( ˈ∫ lɑ.do)ω

(∫ai.lɑ.do)ω

d) Bundesausbildungsförderungsgesetz

BAföG

( ˈbɑ.fœk)ω

(bu.ɑ.fØ.ɡә)ω

a) Deutsche Gesellschaft für Schädlingsbekämpfung

S



Silbenkurzwort 622 (12) Vollform

Tatsächliches Kurzwort

Hypothetisches

a) Gepäckabfertigung

Gepa

(ɡe.pɑ)ω

”reines“ Silbenkurzwort (ɡe.ɑ)ω

b) Groβwindanlage

GROWIAN

( ˈɡro.vi ˌan)ω

( ˈɡro.vi ˌ a)ω

(13) Vollform

Tatsächliche SIMS-Form

a) Muss mit dir reden

MUMIDIRE

(mu.mi ˈ di.rә)ω

”Erwartet“ (mu.mi ˈ di.rә)ω

b) Ruf mich an!

RUMIAN

( ˈru.mi ˌ an)ω

(ru.mi.ɑ)ω

Kein Schwein ruft mich an.

S

KESCHRUMIAN

hen, werden dann durch dieselbe Grammatik generiert. Der Unterschied liegt in den relevanten Vollformen: das markierte /æ/ als erster (nichtinitialer) Vokal in Schädling (11a) resultiert in einem Mischkurzwort Degesch, das unmarkierte /ɑ/ als erster (nichtinitialer) Vokal in Salat ergibt ein reines Silbenkurzwort Schniposa. Der Bezug auf Markiertheitsbeschränkungen erlaubt nicht nur die Feststellung spezifischer Zusammenhänge zwischen einzelnen Kurzwortbildungen im Sinne von Bergstrøm-Nielsen (1952), sondern weist auf die Funktion von Kurzwörtern als ein Fenster auf unmarkierte Strukturen hin. So zeigt sich etwa, dass zweisilbige Kurzwörter, die ein einzelnes phonologisches Wort bilden, fast immer als Trochäus erscheinen, es sei denn, sie enden auf einen der Sonoranten {ʀ, l, n} (Für detaillierte Beschreibungen vgl. Raffelsiefen 2021: 88–91). Abschließend sei noch kurz auf Übereinstimmungen zwischen Silbenkurzwörtern und Strukturen des sogenannten SIMS-Deutsch verwiesen, womit die im Deutschen etablierten Konventionen zur Kürzung von Äußerungen in Textnachrichten, die per SMS verschickt werden, gemeint sind (Classen/Reins 2007, Balnat 2011). Auch hier bestehen die relevanten Übereinstimmungen zwischen der Vollform und der Kurzform hinsichtlich der syntaktischen Kategorie und der referenziellen Eigenschaften. Interessanterweise finden sich nicht nur die für reine Silbenkurzwörter erwarteten Muster (s. (13a)), sondern auch dieselben Bedingungen für Abweichungen, die sich bei der Bildung von Mischkurzwörtern zeigen (s. (13b)). Auch diese Formen gewähren wertvolle Einbli-

(ke ˈ ∫ ru.mi ˌ an)ω

(kai.∫vai.ru.mi.ɑ)ω

cke in unmarkierte prosodische Strukturen des Deutschen, wobei der Grad der Übereinstimmung zwischen der Grammatik der Kurzwörter und der Grammatik des SIMS-Deutsch noch im Detail zu untersuchen wäre. Renate Raffelsiefen ≡ Silbenwort → § 29; Akronym; Kopf; Kopfwort; Kunstwort; Kurzwort; Kurzwortbildung; Optimalitätstheorie; partielles Kurzwort; Wortkürzung 🕮 Balnat, V. [2011] Kurzwortbildung im Gegenwartsdeutschen. Hildesheim [etc.] ◾ Becker, H. [1933] Das deutsche Neuwort. Eine Wortbildungslehre. Leipzig ◾ Beckman, J. [1998] Positional Faithfulness. Diss. Amherst, MA ◾ Bellmann, G. [1980] Zur Variation im Lexikon: Kurzwort und Original. In: WW 30: 369–383 ◾ Bergstrøm-Nielsen H. [1952] Die Kurzwörter im heutigen Deutsch. In: MSpr 46: 2–22 ◾ Briegleb, O. [1918] Wortverkürzung und Sprachverstümmelung. In: Deutsches Volkstum 20: 341–345 ◾ Classen, V./ Reins A. [2007] Deutsch für Inländer. Frankfurt/Main ◾ Dunger, H. [1909] Engländerei in der deutschen Sprache, 2. Aufl. Berlin ◾ Eroms, H.W. [2002] Kurzwörter und Kunstwörter. In: Takahashi, Y. [Hg.] Neue Beiträge zur Germanistik. Im Auftrag der Japanischen Gesellschaft für Germanistik. Ikubundo: 20–36 ◾ Fleischer, W. [1969] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache, 4. Aufl. Tübingen ◾ Greule, A. [1996] Reduktion als Wortbildungsprozeß der deutschen Sprache. In Mutterspr 106: 193–203 ◾ Henzen, W. [1947] Deutsche Wortbildung, 1. Aufl. Halle/Saale ◾ Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung, 3. Aufl. Tübingen ◾ Kager, R. [1999] Optimality Theory. Cambridge ◾ Klemperer, V. [1947] LTI Notizbuch eines Philologen. Berlin ◾ Kobler-Trill, D. [1994] Das Kurzwort im Deutschen: Eine Untersuchung zu Definition, Typologie und Entwicklung. Tübingen ◾ McCarthy, J./ Prince, A. [1995] Faithfulness and reduplicative identity. In: Beckman, J./ Dickey, L.W./ Urbanczyk, S. [eds.], Papers in Optimality Theory. University of Massachusetts Occasional Papers 18. Amherst, MA: 2249–2384 ◾ McCarthy, J./ Prince, A. [1999] Faithfulness and identity in Prosodic Morphology. In: Kager, R./ van Hulst, H./ Zonneveld, W. [eds.], The Prosody-Morpho-

623 Sinnrelation logy Interface: 218–309 ◾ Müller, K. [1930] Wortkürzung. In: WBZADSpver. Siebente Reihe H. 45: 30–61 ◾ Nübling, D. [2001] Auto − bil, Reha − rehab, Mikro − mick, Alki − alkis: Kurzwörter im Deutschen und Schwedischen. In: Skand 31/2: 167–199 ◾ Prince, A./ Smolensky, P. [1993] Optimality Theory: Constraint Interaction in Generative Grammar. Rutgers University Center for Cognitive Science Technical Report 2. New Brunswick, NJ ◾ Raffelsiefen, R. [2021] Shortening as a window on phonological grammar. In: Noel Aziz Hanna, P./ Smith, L. [eds.] Linguistic Preferences. Berlin [etc]: 71–108. ◾ Ronneberger-Sibold, E. [1992] Die Lautgestalt neuer Wurzeln. Kürzungen und Kunstwörter im Deutschen und Französischen. Habilitationsschrift. AlbertLudwigs-Universität Freiburg im Breisgau ◾ Trubetzkoy, N.S. [1939] Grundzüge der Phonologie. Prag ◾ Wellander, E. [1923] Studien zum Bedeutungswandel im Deutschen. Teil II. Uppsala: A.-B. Lundequista Bokhandeln ◾ Wellmann, H. [1984] Die Wortbildung. In: Drosdowski, G. [Hg.] Duden. Grammatik der deutschen Gegenwartssprache, 4. Aufl. Mannheim: 386–558 ◾ Zumthor, P. [1951] Abréviations composées. Afdeling Letterkunde Niuwe Reeksdeel L VII. Amsterdam.

Silbenschichtung ≡ Haplologie

Silbenwort

≡ Silbenkurzwort

silbische Aussprache

≡ orthoepische Aussprache

Simplex

Lexem, dessen Stamm aus einem einzigen Morphem besteht. ▲ simplex: lexeme with a stem that consists of a single morpheme. Simplizia sind Lexeme mit einem einfachen, aus nur einem Morphem bestehenden Stamm (z.B. Haus-), im Gegensatz zu Komposita und Derivata, die einen komplexen Stamm haben (z.B. Haustür-, Ferien-haus-, häus-lich-, be-haus-). Dabei darf das Lexem als Menge von grammatischen Wörtern (Flexionsformen) nicht mit seinem Stamm verwechselt werden. Obwohl der Stamm eines Simplex mit einem Grundmorphem übereinstimmt, ist es daher nicht korrekt, ein Simplex als Grundmorphem zu bezeichnen, und es trifft auch nicht generell zu, dass das Grundmorphem, aus dem der Stamm besteht, frei ist, d.h. allein als Wort vorkommt (so Elsen 2014: 3; Eins 2016). Häufig tritt nämlich der Stamm nie ohne ein Flexionsaffix auf (so auch bei deutschen Verben wie rechn[en], die keinen suffixlosen Impera-

tiv haben). Wenn man den Begriff des Simplex sinnvollerweise nur auf Lexeme anwendet (was bei der Bezeichnung monomorphemisches Wort nicht hinreichend klar wird), erübrigt sich auch die Frage, ob Simplizia Flexionsaffixe enthalten können (vgl. die Beschreibung eines Simplex als „Verbindung von Stamm und Flexionsendung“, Elsen 2014: 55): Per Definition können Flexionsaffixe nicht in Lexemen enthalten sein, sondern nur in den zugehörigen grammatischen Wörtern. Das Kriterium, dass der Stamm eines Simplex morphologisch nicht weiter zerlegbar ist, ist in den Fällen problematisch, in denen nach gängiger Darstellung der Stamm gegenüber der Wurzel um ein stammbildendes Affix erweitert ist (vgl. Elsen 2014: 55 zu älteren Stufen des Deutschen). Das betrifft u.a. die Verben in romanischen Sprachen, die einen Themavokal aufweisen, wie die in Tab. 1 dargestellten Formen der 1. Person Plural im Spanischen: Tab. 1: Spanische Verbformen mit Themavokal ‘singen’

‘trinken’

‘leben’

Präsens Indikativ

cantamos

bebemos

vivimos

Perfekt Indikativ

cantamos

bebimos

vivimos

Präsens Konjunktiv

cantemos

bebamos

vivamos

Betrachtet man den Themavokal als ein Affix, das Teil des Stamms ist, so ist letzterer nicht monomorphemisch. Um diese Verben dennoch, wie allgemein üblich, als Simplizia einstufen zu können, muss man entweder die Themavokale als Flexionssuffixe analysieren, sodass die Stämme cant-, beb- und viv- lauten, oder morphologisch nicht weiter zerlegbare Stämme canta-, bebe-, vivi‑ (mit den Varianten cante- usw.) ansetzen oder aber stammbildende Affixe explizit in die Definition von Simplex aufnehmen. Joachim Mugdan ≡ monomorphemisches Wort → § 3; Derivation; Grundmorphem; Komposition; Lexem; Stamm; Stammwort ⇀ Simplex (Gram-Formen; Lexik)

🕮 Eins, W. [2016] Simplex. In: Glück, H./ Rödel, M. [Hg.] Metzler Lexikon Sprache. 5., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart: 619 ◾ Elsen, H. [2014] Grundzüge der Morphologie des Deutschen. 2., aktual. Aufl. Berlin [etc.].

Sinnrelation

≡ semantische Relation

S

slot 624

slot

aus der Künstlichen Intelligenzforschung stammender Begriff zur Bezeichnung eines Parameters in der Wissensstruktur eines Konzepts, der mit einem Wert zu füllen ist. ▲ slot: term used in artificial intelligence research for a parameter within the knowledge structure of a concept to which a value is assigned.

S

Strukturen der Wissensrepräsentation wie Frames oder Schemata sind dadurch gekennzeichnet, dass sie Konzepte der außersprachlichen Realität unter bestimmten Aspekten definieren. Diese Aspekte werden durch eine Vielfalt von Attributen zum Ausdruck gebracht. Ein physikalisches Objekt lässt sich z.B. über abstrakte Attribute wie shape, color, material, weight etc. definieren, während für Ereignisse Attribute wie location, time oder goal relevant sein können. Darüber hinaus existieren konkrete Attribute wie z.B. engine, transmission oder wheels, die Teile eines durch car bezeichneten Objekts repräsentieren (Barsalou 1992: 30f.). Sowohl abstrakte als auch konkrete Attribute sind als Slots, d.h. als Parameter zu verstehen, die durch Werte zu vervollständigen sind. Helbig (2006: 67f.) illustriert dies anhand des mit tooth assoziierten Konzepts. Ein durch tooth bezeichnetes Objekt weist bspw. in seiner Wissensstruktur den Slot color auf, der den farblichen Aspekt eines solchen Objekts fokussiert. Da Zähne in der Regel weiß sind, wird der color-Slot durch den Slotwert „white“ gefüllt. Hierbei handelt es sich um einen Default-Wert, dessen Zuweisung auf der Grundlage von generischem Wissen erfolgt. Nun existieren aber auch schwarze und gelbe Zähne, so dass die Allgemeingültigkeit des Slotwertes „white“ scheinbar in Frage gestellt wird. Da „white“ jedoch in seiner Eigenschaft als Default-Wert variabel ist, kann er im Einzelfall durch „black“ bzw. „yellow“ substituiert werden. Ebenso ist der Default-Wert „standard“, der den Slot transmission in dem Frame von car füllt, durch „automatic“ substituierbar. Reimer (1991: 164ff.) differenziert zwischen terminalen und nicht-terminalen Slots. Terminale Slots sind einwertig, d.h. der Wert eines solchen Slots ist eine Zeichenkette, die eine Eigenschaft bezeichnet und selbst über keinen eigenen Frame verfügt. Bezogen auf das exemplarische Zahnkonzept ist color ein terminaler Slot, dessen Wert

„white“ nicht weiter analysierbar ist. Terminale Slots bilden somit die Endpunkte eines Frames. Slots, deren Werte auf Konzepte referieren und somit ihrerseits über Frames verfügen, werden hingegen als nicht-terminale Slots klassifiziert. Dies gilt für die Slots engine, transmission und wheels des exemplarischen Autokonzepts, deren Werte (z.B. „4 cylinder“, „standard“, „steel“) ebenfalls in Form von Frames repräsentiert werden können. Allen (1978: 91ff.) geht davon aus, dass auch die Kopfkonstituenten von Nomen+Nomen-Komposita über Slots verfügen. Diese sind hier als Platzhalter in der semantischen Merkmalhierarchie der Kopfkonstituenten zu verstehen, die durch kompatible semantische Informationen der Modifikatorkonstituenten gefüllt werden. Dieser als slot filling bezeichnete Vorgang, der auch für psychologische Ansätze zur Beschreibung komplexer Konzepte (z.B. Cohen/Murphy 1984; Murphy 1988) richtungsweisend wurde, trägt zur Interpretation von Nomen+Nomen-Komposita bei. Heike Baeskow

→ Akkommodation; Frame; generisches Wissen; komplexes Konzept; Nomen+Nomen-Kompositum; Salienz; Schema; slot filling; Wissensrepräsentation ⇀ slot (Lexik; Schrling)

🕮 Allen, M.R. [1978] Morphological Investigations. Diss. Storrs, CT ◾ Barsalou, L.W. [1992] Frames, concepts and conceptual fields. In: Kittay, E./ Lehrer A. [eds.] Frames, fields, and contrasts: New essays in semantic and lexical organization. Hillsdale, NJ: 21–74 ◾ Cohen, B./ Murphy, G.L. [1984] Models of Concepts. In: CognSc 8: 27–58 ◾ Helbig, H. [2006] Knowledge Representation and the Semantics of Natural Language. Berlin [etc.] ◾ Murphy, G.L. [1988] Comprehending complex concepts. In: CognSc 12: 529–562 ◾ Reimer, U. [1991] Einführung in die Wissensrepräsentation. Netzartige und schema-basierte Repräsentationsformate. Stuttgart.

slot filling

Füllen eines Platzhalters in der semantischen oder konzeptuellen Repräsentation einer lexikalischen Einheit durch einen mit dieser Repräsentation kompatiblen Wert. ▲ slot filling: filling of a placeholder in the semantic or conceptual representation of a lexical unit with a value compatible with this representation. In der Wortbildung wurde das Prinzip des „slot filling“ erstmals von Allen (1978) zur Beschreibung der potentiellen Lesarten von „root (oder: primary) compounds“ angewandt. Ein „primary

625 Soziation compound“ wie water mill ist dadurch gekennzeichnet, dass es nicht auf eine Lesart beschränkt ist, sondern unterschiedliche Relationen, die zwischen den beiden Konstituenten bestehen können, zum Ausdruck bringt; so z.B. ‘mill powered by water’, ‘mill which produces water’, ‘mill located near the water’, ‘mill for analyzing the content of water’ etc. Jede dieser Relationen ist eine Variable R. Allen geht davon aus, dass jede Konstituente eines Kompositums über ein semantisches Merkmalbündel verfügt. Die darin enthaltenen Merkmale sind hierarchisch angeordnet und stellen eine Reihe möglicher (und nicht möglicher) Bedeutungen für das Kompositum bereit. Die Merkmalhierarchie der Kopfkonstituente enthält Slots, die gemäß einer als „variable R condition“ bezeichneten Bedingung durch Merkmale der Modifikatorkonstituente gefüllt werden dürfen. Die Voraussetzung für ein erfolgreiches „slot filling“ besteht darin, dass die semantischen Merkmale der beiden Konstituenten kompatibel sind. Die wahrscheinlichsten Lesarten eines „primary compounds“ wie water mill werden durch die Interaktion der salienten und somit in der Hierarchie dominierenden Merkmale der beiden Konstituenten erzeugt. Die Semantik des Nomens mill wird z.B. durch Merkmale wie [powered by ___ ], [production of ___ ], [location ___ ] etc. determiniert. Wird dieses Nomen durch einen Modifikator ergänzt, so entsteht nur dann ein wohlgeformtes Kompositum, wenn dieser sich in einen der in der Merkmalhierarchie von mill geöffneten Slots fügt. Das Nomen water ist beispielsweise ebenso wie wind oder steam mit dem Merkmal [powered by ___ ] von mill kompatibel und kann in den entsprechenden Slot eingelesen werden. Durch „slot filling“ entsteht somit die Lesart ‘mill powered by water/wind/steam’. Die Wahrscheinlichkeit, dass watermill die Lesart ‘mill located near the water’ induziert, ist insofern gering, als [location ___ ] kein salientes Merkmal von mill darstellt und somit im unteren Bereich der semantischen Merkmalhierarchie dieses Nomens angesiedelt ist. Dennoch ist diese Interpretation denkbar. Eine Interpretation im Sinne von ‘mill which grinds water’ wird hingegen blockiert, da water aufgrund seines salienten Merkmals [liquid] nicht gemahlen werden kann. Nomina wie steel, paper, flour oder cotton werden mit großer Wahrscheinlichkeit in den Slot [production of ___ ] eingelesen.

Das Prinzip des slot filling hat eine Reihe psychologischer Ansätze zur Beschreibung komplexer Konzepte (z.B. Cohen/Murphy 1984; Murphy 1988; Smith/Osherson/Rips/Keane 1988) entscheidend geprägt. In diesen Ansätzen werden Komposita jedoch nicht als Bündel interagierender semantischer Merkmale, sondern als komplexe Konzepte aufgefasst. Die zu füllenden Slots sind hier somit Bestandteile außersprachlicher Wissensstruk­ turen. Heike Baeskow

→ concept elaboration; framebasierte Repräsentation; kom-

plexes Konzept; Konzeptkombination; primary compound; Salienz; Schema; slot; variable R condition

🕮 Allen, M.R. [1978] Morphological Investigations. Diss. Storrs, CT ◾ Cohen, B./ Murphy, G.L. [1984] Models of Concepts. In: CognSc 8: 27–58 ◾ Murphy, G.L. [1988] Comprehending complex concepts. In: CognSc 12: 529–562 ◾ Smith, E.E./ Osherson, D.N./ Rips, L.J./ Keane, M. [1988] Combining Prototypes. A Selective Modification Model. In: CognSc 12: 485–527.

Soziation

zur semantischen Grundklasse der Modifikation gehörendes Verfahren zur Bildung von Soziativa. ▲ sociation: process of forming sociatives that belongs to the basic semantic class of modification. Soziation bezeichnet das Verfahren der desubstantivischen (mitunter auch der deverbalen) Ableitung zur Kennzeichnung des Einzelnen nach seiner Beziehung zu einem Anderen: dt. Ko-Kommentator, engl. co-author ʻKoautorʼ, poln. współwłaściciel ʻMiteigentümerʼ. Durch Soziation entstandene Bildungen besitzen eine zusätzliche Beziehungskomponente, die sich mit ʻPartner vonʼ bzw. ʻzusammen mitʼ umschreiben lässt: x ist Mitschüler von y bedeutet so viel wie x ist zusammen mit y Schüler [einer bestimmten Klasse oder Schule]. Die Soziation zählt – verglichen mit den Verfahren der Movierung, der Diminution, Augmentation oder Negation – zu den seltener auftretenden Arten der Modifikation von Basissubstantiven. Ihr Formeninventar ist im Deutschen ebenso wie in den meisten anderen europäischen Sprachen eher gering (vgl. Welllmann 1998: 508). Zwar gibt es im Wortschatz des Deutschen „eine ganze Reihe von Substantiven, die eine Person semantisch einer anderen zuordnen“ (Wellmann 1975: 189), vgl. dt. Nachbar, Partner, Genosse, Mitspieler. Allerdings handelt es sich bei diesen nur zum Teil um Wortbildungen, die durch Soziation ent-

S

Soziativum 626 standen sind. Zum einen sind etliche soziative Personenbezeichnungen lexikalisierte, morphosemantisch nicht (mehr) motivierte und damit bei synchroner Betrachtung als Simplizia zu interpretierende Substantive: dt. Genosse, Geselle, Nachbar. Zum anderen können soziative Personenbezeichnungen auch durch Transposition aus entsprechenden Verben gebildet werden. So sind Bildungen wie Mitspieler oder Mitarbeiter nicht als Komposita mit dem Erstglied mit (Mit|arbeiter, Mit|spieler) zu erklären, sondern strukturell betrachtet viel eher auf ein Verb zu beziehen: mitarbeiten > Mitarbeit|er (ʻjmd., der [z.B. in einer Firma, an einem Projekt] mitarbeitetʼ), mitspielen > Mitspiel|er (ʻjmd., der mitspieltʼ). Bildungen dieser Art gehören damit nicht zur funktional-semantischen Klasse der Soziation, sondern zu den nomina agentis. Die als Basis fungierenden Partikelverben mitarbeiten, mitspielen, mitfahren etc. ließen sich aufgrund des semantischen Merkmals ʻgemeinsamʼ durchaus der funktional-semantischen Klasse der Soziativa zuordnen (vgl. Elsen 2011: 230). Weitaus häufiger bleibt der Begriff Soziation jedoch auf die substantivische Wortbildung beschränkt (vgl. Erben 2006: 81, 92f.). Anja Seiffert

→ Augmentativum; Diminuierung; Modifikation; Movierung;

Negation; nomen agentis; Partikelverb; Soziativum; Transposition ⇁ sociation (Typol)

S

🕮 Bzdega, A.Z. [1986] Soziativa im Deutschen und Polnischen. In: StGermP XV: 3–17 ◾ Elsen, H. [2011] Grundzüge der Morphologie des Deutschen. Berlin [etc.] ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Wellmann, H. [1975] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 2. Hauptteil: Das Substantiv. Düsseldorf ◾ Wellmann, H. [1998] Die Wortbildung. In: Duden [1998] Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 6., neu bearb. Mannheim [etc.]: 408–557.

Soziativum

semantisch bestimmte Klasse von Benennungseinheiten, i.e.S. Wortbildungen, mit denen der oder das Einzelne nach seiner Beziehung zu einem oder mehreren Anderen benannt wird. ▲ sociative formation: specific semantic class of designations in the narrow sense of word-formation in which a single individual is named according to its association with another individual or individuals. Innerhalb der Soziolinguistik wird der Terminus soziativ oft als übergeordnete Bezeichnung für

alle sprachlichen Mittel verwendet, in denen die soziale Selbsteinschätzung eines Sprechers und/ oder die soziale Einschätzung anderer Beteiligter durch diesen Sprecher zum Ausdruck kommt. Nach diesem Begriffsverständnis fungiert der Terminus Soziativum als Hyperonym zu Honorativum sowie zu anderen soziativen Ausdrucksmöglichkeiten wie Verbindlichkeit, Herablassung und Geringschätzung (vgl. Eschbach-Szabo 2009: 68). In der Wortbildungsforschung bezieht sich der Terminus dagegen i.e.S. auf Wortbildungen, die ihrer Wortbildungsbedeutung nach eine Person als Partner einer anderen Person kennzeichnen (vgl. Wellmann 1998: 508), etwa in dt. Mitschüler, Koautor, engl. co-pilot ʻKopilotʼ, poln. współobywatel ʻMitbürgerʼ (Bzdega 1986: 7), oder – seltener – einen (abstrakten) Gegenstand in seiner Beziehung zu einem anderen Gegenstand, um Systembeziehungen zu verdeutlichen, vgl. dt. Kohyponym, engl. co-constituent ʻKo-Konstituenteʼ (Wellmann 1975: 190). Soziativa bilden somit ein Pendant zu den Kollektiva, die ebenfalls die Zusammengehörigkeit einer Menge von Individuen in einer Gruppe kennzeichnen. Gleichwohl unterscheiden sich die beiden funktional-semantischen Klassen deutlich durch die jeweils unterschiedlichen Blickwinkel auf die Beziehung zwischen Individuum und Menge: Während Kollektiva eine Menge als Einheit kennzeichnen (dt. Schülerschaft ʻGesamtheit der Schülerinnen und Schüler [einer Schule]ʼ), drücken Soziativa die Zugehörigkeit eines Einzelelements, eines Individuums, zu einer Gruppe aus: dt. Mitschüler ʻeinzelner Schüler, der mit anderen Schülern zusammen der gleichen Klasse oder Schule angehörtʼ. Wellmann (1975: 189) zählt die Soziativa aufgrund dessen, dass sie Individuen bezeichnen, zu den Individuativa, wohingegen Erben (2006: 92) sie – ebenso wie die Kollektiva – den Sammelnamen zuordnet. Als produktive Wortbildungsmittel für die Bildung von Soziativa stehen im Deutschen vor allem das indigene Erstglied mit (dt. Mitautor, Mitangeklagter, Mitbewohner) und das Fremdpräfix ko- (dt. Koreferent, Koregisseur) zur Verfügung. Mitunter werden auch Bildungen mit bei (Beifahrer, Beisatz) und neben (Nebenwirkung) zu den Soziativa gezählt (Bzdega 1986: 4). Soziative Bildungen mit dem Präfix ge- folgen in der deutschen Gegenwartssprache keinem produktiven

627 Speicherung Modell mehr und sind zudem oft demotiviert: dt. Geselle, Gefährte, Gehilfe. Andere europäische Sprachen wie das Polnische verfügen über noch weniger synthetische Ausdrucksformen für die Bildung von Soziativa (vgl. Bzdega 1986: 5), stattdessen finden sich oft (feste) Syntagmen wie poln. drugi pilot ʻKopilotʼ, drugi recenzent ʻKoreferentʼ (vgl. Bzdega 1986: 9). Mitunter werden auch verbale Bildungen wie dt. mitentscheiden, mitunterzeichnen, kooperieren, poln. współdecydować ʻmitbestimmenʼ, współ­ pra­co­wać ʻmitarbeitenʼ zu den Soziativa gezählt (vgl. Bzdega 1986: 6; Elsen 2011: 230). Darüber hinaus existiert im Verbalparadigma der westkaukasischen Sprachen eine durch Affixe markierte Kategorie der Soziativität bzw. Komitativität (russ. sojuznost'). Diese zumeist der Flexionsmor­ phologie zugeordnete Verbalkategorie drückt aus, dass die durch den Verbstamm bezeichnete Handlung mit einer oder mehreren anderen Personen gemeinsam ausgeführt wird. In einigen Sprachen, etwa im Abchasischen, hat sich das entsprechende Affix in ein produktives Wortbildungsmittel gewandelt: abchasisch ackra ʻetwas mit jemandem zusammen haltenʼ, abgeleitet mithilfe des Affixes -c- von abchasisch akra ʻfangen, in der Hand haltenʼ (vgl. Klimov 1994: 70f.). Anja Seiffert

↔ Kollektivum → demotivierte Bildung; Honorativ; Soziation; Wortbildungsbedeutung

🕮 Bzdega, A.Z. [1986] Soziativa im Deutschen und Polnischen. In: StGermP XV: 3–17 ◾ Elsen, H. [2011] Grundzüge der Morphologie des Deutschen. Berlin [etc.] ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Eschbach-Szabo, V. [2009] Personen und Namen im Japanischen. Berlin ◾ Klimov, G. [1994] Einführung in die kaukasische Sprachwissenschaft. Hamburg ◾ Wellmann, H. [1975] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 2. Hauptteil: Das Substantiv. Düsseldorf ◾ Wellmann, H. [1998] Die Wortbildung. In: Duden [1998] Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 6., neu bearb. Aufl. Mannheim [etc.]: 408–557.

Speicherung

Vorhandensein eines Wortes im Geist bzw. im mentalen Lexikon eines einzelnen Sprechers einer Sprache. ▲ storage: existence of a word in the mind, resp. in the mental lexicon, of an individual speaker of a language. Ein Wort gilt als im Geist eines Sprechers gespei-

chert, wenn dieser Sprecher das Wort kennt und es nicht bilden muss. Speicherung ist der abstrakte Vorgang, der dies ermöglicht. Allgemeiner: Der Geist speichert sprachliche Einheiten in irgendeiner Form, um uns Kommunikation zu erlauben, aber es ist nicht immer klar, welche Aspekte dieser Einheiten Teil eines eigenständigen „Wörterbucheintrags“ sind, d.h. was eigentlich der Geist speichert. Die Frage nach Speicherung ist also auch mit dieser weitergreifenden Frage verknüpft. Ad-hoc-Bildungen sind Wörter, die spontan gebildet werden und die noch nie verwendet wurden. Institutionalisierte Wörter sind Wörter, die der Sprechergemeinschaft geläufig sind und deshalb in Standard-Wörterbüchern aufgeführt werden, unabhängig davon, ob sie dem individuellen Sprecher geläufig sind. So ist praeternaturalism, unabhängig davon, wie wenig frequent es in seinem Gebrauch ist, institutionalisiert – dass es im Concise Oxford Dictionary gelistet ist, ist Evidenz dafür. Neben diesen sind Ausdrücke nötig, die dem einzelnen Sprecher unabhängig von seinem Status in der Gemeinschaft bekannt sind. Solche Wörter werden mitunter als „item-familiar“ bezeichnet, vgl. Meys (1975). „Item-familiar“ ist ein Wort dann, wenn es vom einzelnen Sprecher wiedererkannt wird. Einige Theorien zur Verarbeitung morphologischer Konstruktionen nehmen einen „dual-route-Modus“ des lexikalischen Zugriffs an, der implementiert wird, wenn ein einzelner Sprecher ein Wort hört: Einerseits kann das Wort morphologisch analysiert werden, um herauszufinden, welches seine Komponenten sind; auf der anderen Seite kann „nachgeschlagen“ werden, ob es unter den gespeicherten Wörtern ist. Je frequenter das Wort im Sprachvernehmen der Sprechers ist, desto wahrscheinlicher wird die Variante des Nachschlagens und wird dann der ökonomischere Weg mit dem betreffenden Wort umzugehen. Dies gilt für geläufige flektierte wie für geläufige derivierte Formen. Während solche Dinge für Sprechergemeinschaften generalisiert werden, ist klar, dass die grundsätzliche Vorstellung die von der Verarbeitung durch einen Einzelsprecher und von den psychologischen Prozessen im Geist des Einzelsprechers ist. Um einzelne Wörter wie praeternaturalism oder disgruntlement ‘verärgert sein’ im Geist des Sprechers oder Hörers zu speichern, muss der Geist über eine Speichereinrichtung für

S

sprachliches Wissen 628

S

komplexe Wörter verfügen, die den Prozess der Etablierung und Lexikalisierung in der Sprechergemeinschaft reflektiert. Es liegt nahe, dass nicht nur hochfrequente, sondern auch irreguläre Einheiten gespeichert werden müssen (wobei auch irreguläre Einheiten häufig frequent sind). Die Tatsache, dass ging als die Imperfektform von gehen nicht durch allgemeine Prinzipien vorhersagbar ist, zeigt an, dass sie gespeichert sein muss. Es gibt Theorien, die diesen Unterschied in der Vorhersagbarkeit nicht berücksichtigen (z.B. Rumel­ hart/McClelland 1986), sondern unabhängig von Regularität und Vorhersagbarkeit Inputbasen direkt mit Imperfektformen im Output verknüpfen. Solche Theorien haben offensichtlich eine andere Auffassung darüber, was gespeichert wird, als solche – wie „dual-route“-Modelle – für die Vorhersagbarkeit eine relevante Eigenschaft ist. Allgemeiner könnte man sich fragen, was in einem Sprecher gespeichert ist, der mit einem Wort wie parasites ‘Schädlinge’ konfrontiert ist. Ist es die ganze Wortform parasites oder das Lexem parasite und zusätzlich die Regeln zur Pluralbildung von Nomina? Welche Komponenten sind, unter der Annahme, dass es nicht geläufig genug ist, um als Ganzes gespeichert zu werden, bei einem Wort wie decentralize ‘dezentralisieren’ im Sprecher oder Hörer gespeichert? Ist es eine frequente Komponente des Wortes (vielleicht central) und einige der Affixe, ist es die Wurzel (centre) und alle Affixe, ist es das randständigste Affix (de-) und das übrige Wort? Anders gesagt: Inwiefern ist die Vorstellung einer Einheit ähnlich dem klassischen Morphembegriff nötig, um zu erklären, was eigentlich gespeichert ist? Generell nimmt die psycholinguistische Literatur an, dass etwas dem klassischen Morphem Ähnliches die Einheit der Speicherung ist. Marslen-Wilson/Tyler/Waksler/Older (1994) geben hierzu einen guten Überblick, wenn auch vermittelt durch Fragen nach der Transparenz morphologischer Strukturen und der Produktivität der beteiligten Prozesse. Laurie Bauer

→ Ad-hoc-Bildung; Affix; Durchsichtigkeit; Institutionalisie-

rung; Lexikalisierung; Morphem; Neologismus; Produktivität; Wurzel ⇁ storage (Woform)

🕮 Marslen-Wilson, W./ Tyler, L./ Waksler, R./ Older, L. [1994] Morphology and Meaning in the English Mental Lexicon. In: PsyRev 101: 3–33 ◾ Meys, W. [1975] Compound Adjectives in

English and the Ideal Speaker-Listener. Amsterdam [etc.] ◾ Rumelhart, D.E./ McClelland, J.L. [1986] On learning the past tenses of English verbs. In: Rumelhart, D.E./ McClelland, J.L. [eds.] Parallel distributed processing. Vol. 2: Psychological and biological models. Cambridge, MA: 127–271.

sprachliches Wissen

von den Gegebenheiten der außersprachlichen Realität und von der Kommunikationssituation unabhängiges Wissen bezüglich der orthographischen, lautlichen, grammatischen und bedeutungsspezifischen Eigenschaften sprachlicher Bausteine. ▲ linguistic knowledge: knowledge of the orthographic, phonological, grammatical, and semantic properties of basic linguistic units independent of the facts of extra-linguistic reality. Im Gegensatz zum außersprachlichen Wissen bezieht sich das sprachliche Wissen ausschließlich auf die zur Bildung wohlgeformter Sätze notwendigen Informationen lexikalischer Einheiten. Aufgrund ihrer sprachlichen Kompetenz wissen z.B. die Sprecher des Englischen, dass es sich bei der lexikalischen Einheit car, die lautlich als /kɑː/ realisiert wird, um ein konkretes, zählbares Nomen handelt. Aufgrund seiner Zählbarkeit kann es im Plural verwendet werden (car-s). In Sprachen mit grammatischem Genus gehören auch die Angaben ‘Maskulinum’, ‘Femininum’ und ‘Neutrum’ zum sprachlichen Wissen (z.B. span. el coche, frz. la voiture, dt. das Auto). Bezüglich der Bedeutung sprachlicher Ausdrücke ist bis heute umstritten, ob die Differenzierung zwischen außersprachlichem und sprachlichem Wissen die Postulierung zweier separater Repräsentationsebenen erforderlich macht. Befürworter der Zwei-Ebenen-Theorie (z.B. Bierwisch 1983, 2015; Maienborn 2017) gehen davon aus, dass bedeutungsspezifische Informationen auf zwei Repräsentationsebenen verarbeitet werden. Auf der konzeptuellen bzw. begrifflichen Ebene, die mit anderen kognitiven Systemen (z.B. mit dem visuellen, dem auditiven und dem motorischen System) interagiert und nicht Bestandteil des Lexikons ist, werden sprachliche Ausdrücke unter Einbeziehung von Fakten der außersprachlichen Realität und unter Berücksichtigung der Kommunikationssituation interpretiert. Zum Lexikon gehört hingegen die Ebene der semantischen Repräsentation, die durch rein sprachliche Faktoren, nämlich durch konkrete syntaktische

629 Stamm Strukturen bzw. durch die idiosynkratischen lexikalischen Eigenschaften der an diesen Strukturen beteiligten Bausteine determiniert wird. In Modellen, die nicht zwischen (sprachlichen) semantischen und (außersprachlichen) konzeptuellen Informationen differenzieren (z.B. Jackendoff 1990, Pustejovsky 1996), werden syntaktische Strukturen direkt auf die Ebene der konzeptuellen Repräsentation abgebildet. Dieser Ansatz ist jedoch insofern problematisch, als konzeptuelle und semantische Repräsentationen nicht immer isomorph sind (Rauh 1988: 346ff.). Da z.B. das Verb write ein Ereignis bezeichnet, an dem typischerweise zwei Entitäten beteiligt sind (nämlich ein Text und der Verfasser des Textes), wird es auf der Ebene der konzeptuellen Repräsentation als Funktion mit zwei Argumentstellen dargestellt. Gäbe es nur diese eine bedeutungsspezifische Beschreibungsebene, so wäre zu erwarten, dass beide Argumente stets syntaktisch realisiert werden. Dies ist jedoch nicht unbedingt der Fall, wie der Satz unter (1b) zeigt: (1a) Bill was writing a letter. (1b) Bill was writing. Da write die lexikalische Information trägt, dass es sowohl transitiv als auch intransitiv verwendet werden kann, ist die syntaktische Realisierung des internen Arguments nicht obligatorisch. Die konzeptuelle Ebene schafft also eine Argumentposition, die auf syntaktischer Ebene nicht immer eine Entsprechung findet. Durch die Zwischenschaltung einer semantischen Ebene lässt sich das interne Argument als implizites Argument repräsentieren, das existentiell gebunden ist und somit nicht gesättigt werden muss. Die semantische Ebene fungiert als Vermittlungsinstanz zwischen der Syntax und der konzeptuellen Repräsentationsebene, indem sie verschiedene sprachliche Realisierungen einer konzeptuellen Repräsentation beschreibt. Heike Baeskow

↔ außersprachliches Wissen → Kontextwissen (1); Kontextwissen (2); konzeptuelle Struktur; semantische Form

⇀ sprachliches Wissen (Sprachdid)

🕮 Bierwisch, M. [1983] Semantische und konzeptuelle Repräsentation lexikalischer Einheiten. In: Růžička, R./ Motsch, W. [Hg.] Untersuchungen zur Semantik. Berlin: 61–99 ◾ Bierwisch, M. [2015] Word-formation and metonymy. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1099–1128 ◾ Maienborn, C. [2017] Konzeptuelle Se-

mantik. In: Staffeldt, S./ Haegemann, J. [Hg.] Semantiktheorien: Lexikalische Analysen im Vergleich. Tübingen: 151–188.

Stamm

Teil eines Wortes, der als Basis für die Anfügung von Affixen dient. ▲ stem: part of a word which serves as the base for the addition of affixes. Gemäß einer Definition, die im 19. Jh. aufkam (s. Lindner 2012: 135–137) und bis heute verbreitet ist (z.B. Lieber 2010: 35) bezeichnet Stamm oder Wortstamm den Teil eines Wortes, der übrig bleibt, wenn alle Flexionsaffixe entfernt werden. Demnach hat Feld-er-n mit den Flexionssuffixen -er ‘pl’ und -n ‘dat’ den Stamm Feld-. Modifiziert man die Vorschrift zu „wenn alle etwaigen Flexionssuffixe entfernt werden“, so hat jedes Wort einen Stamm, auch wenn es keine Flexionsaffixe aufweist, wie z.B. der Nominativ Singular Feld. Oft wird jedoch erklärt, ein Stamm sei etwas, woran Flexionsaffixe angefügt werden können (z.B. Bauer 2004: 96). Dann haben manche Wörter keinen Stamm (nämlich die unflektierten wie und), andere dagegen mehrere: In Feld-er-n ist nicht nur Feld- ein Stamm, weil -er ‘pl’ angefügt werden kann, sondern auch Felder-, weil -n ‘dat’ angefügt werden kann. Nach dieser Definition ist „Stamm“ also eine rekursive Kategorie, d.h. ein Stamm kann einen Stamm enthalten. Es liegt nahe, das auf die Wortbildung zu übertragen, sodass z.B. das Derivationssuffix -chen ‘dim’ aus dem Stamm Feld- den Stamm Feldchen- bildet, an den wiederum Flexionsaffixe treten können, z.B. -s ‘gen’; ebenso kann man Komposition als Verknüpfung zweier Stämme zu einem neuen (z.B. Weizen-feld-) betrachten. Es gibt jedoch auch die Auffassung, dass die Basis, an die Affixe antreten, entweder ein Stamm oder ein Wort sein kann, wie auch die Ansicht, dass der Begriff des Stamms entbehrlich sei (s. Kiparsky 2020). Will man an der ersten Definition festhalten, nach der in Feldchen-s nur Feldchen- Stamm ist, aber nicht Feld-, so muss man für Letzteres eine andere rekursive Kategorie einführen (vgl. Stammteil in Bergenholtz/Mugdan 1979b: 123). Eine viel diskutierte Frage ist die, ob Stämme (und Wurzeln) wortartgebunden sind oder aber polyfunktional oder polykategorial (vgl. den Überblick in Mugdan 2015: 271f., 286–289; zur Terminologie

S

Stamm 630

S

s. Libert 2018). Gibt es also z.B. drei verschiedene, wenn auch homonyme Stämme grün-, einen Substantivstamm grün-N (z.B. in das Sprießen des ersten Grüns), einen Verbstamm grün-V (z.B. in Alles grünt und blüht) und einen Adjektivstamm grün-A (z.B. in mit grünem Tee)? Welche Derivationsbeziehungen bestehen dann zwischen diesen Stämmen, und werden sie mit einem Nullsuffix abgeleitet oder durch einen besonderen Wortbildungsprozess der Konversion umgewandelt? Oder sind Stämme bezüglich der Wortart grundsätzlich neutral, sodass es einen einzigen Stamm grün- gibt, der wahlweise mit Substantiv-, Verb- oder Adjektiv-Flexionssuffixen verbunden werden kann? (In radikaler Form ist diese Position in Bergenholtz/Mugdan 1979a vertreten worden.) Oder können Stämme für eine oder mehrere Wortarten spezifiziert (oder bei Annahme geeigneter Merkmale partiell spezifiziert) sein, z.B. specht- für Substantiv, besuch- für Substantiv und Verb, und grün- für Substantiv, Verb und Adjektiv? Da bei den beiden letzten Optionen keine Wortbildungsprozesse angenommen werden, bleibt zu klären, wie dann die häufig bestehenden semantischen Unterschiede zwischen den Lexemen erfasst werden können. Ferner spielen bei diesen theoretischen Problemen die empirischen Gegebenheiten eine wesentliche Rolle, die noch genauer zu untersuchen sind (vgl. z.B. Vap­ narsky/Veneziano 2017): Wie verbreitet ist Polykategorialität in einer gegebenen Sprache? Wie stark unterscheiden sich Sprachen in dieser Hinsicht? Korreliert das Ausmaß von Polykategorialität mit anderen typologischen Parametern? Wie die lettischen Substantivformen in Tab. 1 zeigen, ist es nicht immer leicht, die Grenze zwischen Stamm und Affix zu bestimmen (vgl. Spencer 2012: 92–96). Im Lokativ Singular sowie im Nominativ und Lokativ Plural scheinen die Stämme /maːsa/, /maːte/ bzw. /sirdi/ zu sein, mit /ː/ ‘lok.sg’, /s/ ‘nom.pl’ und /ːs/ ‘lok.pl’ als Affixen. Betrachtet man dagegen den Nominativ und Akkusativ Singular, gelangt man zu den Stämmen /maːs/, /maːt/ und /sird/ ohne auslautenden Vokal. Eine mögliche Lösung ist es, zugrundeliegende Formen mit Vokal anzunehmen (ob man ihn nun als Teil des Stamms oder als separates Element betrachtet) und diesen Vokal gegebenenfalls zu verändern oder zu tilgen (vgl. Halle 1992). Dann ist der Stamm aber nicht mehr durch einfaches Weglassen der Flexionsaffixe ermittelbar.

Tab. 1: Ausschnitt aus lettischen Substantivparadigmen nom.sg

‘Schwester’

‘Mutter’

‘Herz’

maːsa

maːte

sirds

gen.sg

maːsas

maːtes

sirds

akk.sg

maːsu

maːti

sirdi

lok.sg

maːsaː

maːteː

sirdiː

nom.pl

maːsas

maːtes

sirdis

gen.pl

maːsu

maːʃu

sirʒu

lok.pl

maːsaːs

maːteːs

sirdiːs

Ein weiteres Problem zeigt sich im Genitiv Plural, denn die Abtrennung des Suffixes /u/ ‘gen. pl’ führt zu /maːʃ/ und /sirʒ/ anstelle von /maːt/ und /sird/. Während es hier möglich ist, mit geeigneten Regeln von zugrundeliegenden |maːteu| und |sirdi-u| über |maːtj-u| und |sirdj-u| zu /‌maːʃ-u/ und /sirʒ-u/ zu gelangen, kann man nicht immer für alle Flexionsformen eines Lexems einen einheitlichen zugrundeliegenden Stamm ansetzen (vgl. Spencer 2012: 97). Das gilt zum Beispiel für die in Tab. 2 dargestellten Formen der Verblexeme wäärfe im Baseldeutschen und werfen im Standarddeutschen. Manche betrachten werf-, wirf- und warf- als verschiedene Stämme (vgl. Stump 2001: 33), andere als Varianten eines Stammes, für die unter anderem die Benennungen Stammalternante (engl. stem alternant, Halle 1953: 46) und Allostamm (engl. allostem, Koutsoudas 1962: 47) anzutreffen sind. Weniger glücklich ist Stammform (Fuhrhop 1998: 22–27), weil so schon die Flexionsformen eines Lexems bezeichnet werden, aus denen sich alle anderen vorhersagen lassen. (Beispielsweise werden in vielen deutschen Wörterbüchern bei Substantiven zusätzlich zum Nominativ Singular, der als Lemma dient, der Genitiv Singular und der Nominativ Plural angegeben, weil diese drei Kasusformen genügen, um die restlichen zu ermitteln; s. jedoch Mugdan 1983: 186–203.) Es mag auch sinnvoll sein, den Terminus Allostamm auf solche Varianten zu beschränken, die sich wie lett. /maːʃ/ ~ /maːt/ mit morphophonemischen Regeln beschreiben lassen, sodass ein Lexem grundsätzlich mehrere Stämme haben kann, die wiederum mehrere Allostämme haben können (Spencer 2012: 98); diese Unterscheidung wäre aber noch zu präzisieren. Ohne einer dieser Auffassungen den Vorzug zu geben, soll im Folgenden der Kürze halber von verschiedenen Stämmen eines Lexems die Rede sein.

631 Stamm Tab. 2: Ausschnitt aus Verbparadigmen in zwei deutschen Varietäten Baseldeutsch Standarddeutsch Standarddeutsch 1sg

präsens

präsens

präteritum

wiirf

werf-e

warf

2sg

wiirf-sch

wirf-st

warf-st

3sg

wiirf-t

wirf-t

warf

1pl

wäärf-e

werf-en

warf-en

2pl

wäärf-e

werf-t

warf-t

3pl

wäärf-e

werf-en

warf-en

Eine Typologie von Stammvariation muss ferner den Informationsgehalt und die Verteilung der Stämme berücksichtigen. So sind im Baseldeutschen die Verbformen im Präsens durch Suffixe (und das Fehlen eines Suffixes in der 1. Person Singular) eindeutig gekennzeichnet, sodass das Auftreten von wiirf- statt wäärf- im Singular keine zusätzliche Information liefert. Im Standarddeutschen haben dagegen die 3. Person Singular und die 2. Person Plural das gleiche Suffix -t und unterscheiden sich nur durch die Stämme wirfund werf-. In Anbetracht der großen Mehrheit regulärer Verben, die gar keinen Unterschied aufweisen (z.B. er/ihr erb-t, merk-t usw.), kann man dennoch die Variation im Stamm als einen Nebeneffekt betrachten, der keine Bedeutung trägt. Dagegen wird das Präteritum primär durch den Stamm warf- signalisiert. Es ist daher vorgeschlagen worden, warf‑ mit dem Inhalt ‘werf, [+prät]’ ins Lexikon aufzunehmen und bei der Erzeugung der Flexionsformen des Lexems werfen dann einzusetzen, wenn sie das Merkmal [+prät] aufweisen; dabei muss verhindert werden, dass [+prät] wie bei regulären Verben die Anfügung des Suffixes ‑t (wie in merk-t-e usw.) auslöst (vgl. Anderson 1992: 133f.). In Anlehnung an Portmanteaumorph ist ein Stamm wie warf-, dessen Inhalt neben der lexikalischen Bedeutung bestimmte

morphosyntaktische Eigenschaften umfasst, Portmanteaustamm genannt worden (Stump 2001: 208–211). Ein anderer Ansatz verbietet es jedoch generell, morphosyntaktische Eigenschaften in den Inhalt eines Stammes aufzunehmen (Spencer 2012: 89, 98f.). Die Stellen im Flexionsparadigma, in denen ein bestimmter Stamm vorkommt, bilden oft eine sogenannte natürliche Klasse, d.h. sie lassen sich mit einem bestimmten Bündel morphosyntaktischer Merkmale beschreiben, das genau ihnen gemeinsam ist. Beispielsweise tritt warf- in den Stellen auf, die das Merkmal [+prät] haben, und wenn man die drei Ausprägungen der Kategorie Person mit den binären Merkmalen [±ich] und [±du] darstellt, kann man das Auftreten von wirf‑ durch [-ich, -pl, -prät] angeben. Das kommt in traditionellen Bezeichnungen wie Präteritumstamm zum Ausdruck, die allerdings auch auf reguläre Bildungen (z.B. merkt- usw.) übertragen werden können. Oft lässt sich aber kaum ein gemeinsamer Nenner für alle Vorkommen eines bestimmten Stamms finden. So hat im Burjat-Mongolischen eine Klasse von Substantiven einen Stamm auf /-n/, der mit dem Nominativ übereinstimmt, z.B. /morin/ ‘Pferd’, und einen zweiten Stamm ohne /-n/, der mit dem Akkusativ übereinstimmt, z.B. /mori/. Manche Kasusformen werden vom ersten Stamm gebildet (z.B. /morinoi/ ‘des Pferdes’), andere vom zweiten, und manche Suffixe können mit beiden Stämmen verbunden werden, wobei es einen Bedeutungsunterschied gibt, z.B. /morinoor/ ‘mit einem Pferd zusammen’ (erster Stamm) – /morʲoor/ ‘mithilfe eines Pferdes’ (zweiter Stamm). Die Fälle, in denen ein Stamm in Stellen im Paradigma auftritt, die keine natürliche Klasse bilden, haben besonderes Interesse gefunden, und es ist Mode geworden, solche Stämme morphomisch

Tab. 3: Auftreten erweiterter Verbstämme in drei romanischen Sprachen Französisch

Französisch

Italienisch

Italienisch

indikativ

konjunktiv

indikativ

konjunktiv

Oberengadinisch Oberengadinisch indikativ

konjunktiv

1sg

un-is

uniss-e

unisc-o

unisc-a

unesch

unesch-a

2sg

un-is

uniss-es

unisc-i

unisc-a

unesch-ast

unesch-ast

3sg

un-it

uniss-e

unisc-e

unisc-a

unesch-a

unesch-a

1pl

uniss-ons

uniss-ions

un-iamo

un-iamo

un-ins

unesch-ans

2pl

uniss-ez

uniss-iez

un-ite

un-iate

un-is

unesch-as

3pl

uniss-ent

uniss-ent

unisc-ono

unisc-ano

unesch-an

unesch-an

S

Stamm 632

S

zu nennen (Aronoff 1994: 25). Ein klassisches Beispiel sind die in Tab. 3 am Beispiel des Verbs ‘vereinen’ dargestellten erweiterten Stämme im Französischen (-iss), im Italienischen (-isc) und im oberengadinischen Rätoromanisch (-esch). In jeder der drei Sprachen sind sie anders verteilt, aber stets „morphomisch“. Fragwürdig ist es jedoch, z.B. bei engl. they have broken the agreement und the agreement was broken deshalb einen „morphomischen“ Stamm broken anzunehmen, weil „Perfekt“ und „Passiv“ keine natürliche Klasse bilden (vgl. Aronoff 1994: 23–25). Da kein englisches Verb in diesen Konstruktionen verschiedene Formen aufweist, haben wir es mit einer einzigen Flexionsform zu tun, deren Inhalt man nach Belieben als ‘partizip perfekt’, ‘partizip passiv’ o.ä. angeben kann, ohne dass damit sämtliche Verwendungen erfasst werden müssten. Dass Verbindungen dieses Partizips mit den Hilfsverben have und be die idiomatischen, d.h. nicht aus den Bestandteilen herleitbaren Bedeutungen „Perfekt“ bzw. „Passiv“ haben, ist keine Angelegenheit der Morphologie. Dass im Lateinischen der Stamm vict‑ sowohl im Partizip Passiv victus ‘besiegt’ als auch in der Nominalisierung victor ‘Sieger’ auftritt (vgl. Aronoff 1994: 37f.), erfordert ebenfalls keine „morphomische“ Analyse, wenn man z.B. zulässt, dass das Nominalisierungssuffix -or das Inhaltsmerkmal ‘passiv’ tilgt (vgl. Mel’čuk 2006: 293f.). Während lat. vict-or vom Stamm vict‑ abgeleitet ist, gibt es auch die Ableitung vinc-ibilis ‘leicht besiegbar’ vom Präsensstamm vinc- (wie in vinco ‘ich besiege’). Wenn ein Lexem mehrere Stämme aufweist, ist es also möglich, dass mehr als ein Stamm als Derivationsbasis dient (und daher unter bestimmten theoretischen Prämissen ins Lexikon aufgenommen werden muss, s. Lieber 1980: 28). Derivation und Komposition müssen aber nicht immer von Stämmen ausgehen, die in Flexionsformen vorkommen (vgl. Fuhrhop 1998: 22–26). So haben die deutschen Lexeme tag und freiheit unter anderem den Derivationsstamm täg- wie in täg-lich bzw. den Kompositionsstamm freiheits- wie in Freiheitsdrang. Wenn ohnedies solche Stämme angenommen werden müssen, ist es naheliegend, auch dort, wo der Input für einen Wortbildungsprozess wie eine Flexionsform aussieht, einen damit gleichlautenden Wortbildungsstamm anzusetzen. Damit kann man eine theo-

retisch problematische Interaktion von Flexion und Wortbildung vermeiden, die man zulassen müsste, wenn z.B. das Erstglied von Tageszeit der Genitiv Singular Tages wäre, und muss auch nicht -s- in Freiheitsdrang und -es- in Tageszeit als ein Fugenelement oder Interfix betrachten, dem zum Status eines sprachlichen Zeichens der Inhalt fehlt (s. Mugdan 2015: 268–270, 282–284). Die gleiche Lösung bietet sich in Fällen wie lat. victor an: Hier tritt nicht ein Flexionsstamm auf, dessen morphosyntaktische Eigenschaft ‘passiv’ im Inhalt von victor nicht wiederkehrt, sondern ein Derivationsstamm mit demselben Ausdruck. Schließlich kann man noch einen Schritt weitergehen und die Stämme in der Wortbildung generell von denen in der Flexion trennen. Alle Flexions‑, Derivations‑ und Kompositionsstämme eines Lexems bilden somit ein Netzwerk, in dem manche Beziehungen im Normalfall vorhersagbar sind (s. Stammparadigma bei Fuhrhop 1998: 22f.; vgl. auch – nur auf Flexion bezogen – stem space und stem graph bei Montermini/Bonami 2013 und implikative Paradigmenstrukturbedingungen bei Wurzel 1984: 116–124). Beispielsweise haben starke deutsche Verben im Konjunktiv Präteritum einen Stamm, der in der Regel gegenüber dem Indikativ Umlaut aufweist, z.B. [wir] trüg[en] gegenüber [wir] trug[en]. Manchmal muss jedoch der Konjunktiv-Präteritum-Stamm besonders spezifiziert werden, wie bei [wir] würf[en] gegenüber [wir] warf[en]. Stämme können sich auch in suprasegmentalen Merkmalen unterscheiden. So haben im Serbokroatischen die Formen von selo ‘Dorf’ im Singular steigenden und im Plural fallenden Tonakzent auf dem Stammvokal (z.B. /´sel-a/ ‘Dorf-gen. sg’, /`sel-a/ ‘Dorf-nom.pl’; der Anstieg /´/ oder Fall /`/ der Tonhöhe findet von der betonten Silbe zur nächsten statt). Dagegen hat polje ‘Feld’ umgekehrt im Singular fallenden und im Plural steigenden Tonakzent, und žena ‘Frau’ weist im Vokativ Singular und Plural fallenden Tonakzent auf, sonst überall steigenden. Daneben gibt es noch diverse andere Tonakzentmuster, und es bietet sich an, sie von der segmentalen Stammvariation (z.B. /`kɲiɡ-a/ ‘Buch-nom.sg’ – /`kɲiz-i/ ‘Buch-dat.sg’) zu trennen. Stammvariation kann also recht komplex sein, und es bleibt – auch für praktische Zwecke wie die grammatischen Angaben in Wörterbüchern

633 Stammalternation (vgl. Mugdan 1983; 1989) – eine Herausforderung, sie umfassend und zugleich möglichst ökonomisch zu beschreiben.

Wie das poln. Beispiel in Tab. 1 zeigt, haben manche Lexeme in ihren Flexionsformen unterschiedliche Stämme.

Joachim Mugdan ≡ Stammform → § 3; Affix; Derivation; Fugenelement; Komposition; Konversion; Lexem; Nullsuffix; Portmanteaumorph; Stammalternation; Suprafix; Ton; Wort; Wortart; Wurzel ⇀ Stamm (Gram-Formen; HistSprw; CG-Dt) ⇁ stem (Typol)

Tab. 1: Ausschnitt aus polnischen Substantivparadigmen

🕮 Anderson, S.R. [1992] A-Morphous Morphology. Cambridge ◾ Aronoff, M. [1994] Morphology by Itself. Stems and Inflectional Classes. Cambridge, MA [etc.] ◾ Bauer, L. [2004] A Glossary of Morphology. Washington, DC ◾ Bergenholtz, H./ Mugdan, J. [1979a]. Ist Liebe primär? Über Ableitung und Wortarten. In: Braun, P. [Hg.] Deutsche Gegenwartssprache. Entwicklungen, Entwürfe, Diskussionen. München: 239–254. [Verbesserte Fassung unter: https://tinyurl.com/Ist-Liebe-primaer; letzter Zugriff: 18.05.2021] ◾ Bergenholtz, H./ Mugdan, J. [1979b] Einführung in die Morphologie. Stuttgart ◾ Fuhrhop, N. [1998] Grenzfälle morphologischer Einheiten. Tübingen ◾ Halle, M. [1953] The German conjugation. In: Word 9: 45–53 ◾ Halle, M. [1992] The Latvian declension. In: YbMo 1991: 33–47 ◾ Kiparsky, P. [2020] Morphological units. Stems. In: Lieber, R. [Hg.] OEM. Vol. 1. New York: 33–52 ◾ Koutsoudas, A. [1962] Verb Morphology of Modern Greek. Bloomington, IN ◾ Libert, A.R. [2018] Hypersynonymy for Polyfunctionality. In: LEARN Journal 11:2: 155–162. [Auch unter: https://tci-thaijo.org/index.php/LEARN/ article/download/161636/116573/; letzter Zugriff: 18.05.2021] ◾ Lieber, R. [1980] On the Organization of the Lexicon. Diss. Cambridge, MA ◾ Lieber, R. [2010] Introducing Morphology. Cambridge [etc.] ◾ Lindner, T. [2012] Indogermanische Grammatik. Bd. IV/1 Komposition, Lfg. 2. Heidelberg ◾ Mel’čuk, I. [2006] Aspects of the Theory of Morphology. Berlin [etc.] ◾ Montermini, F./ Bonami, O. [2013] Stem spaces and predictability in verbal inflection. In: LinLin 12: 171–190 ◾ Mugdan, J. [1983] Grammatik im Wörterbuch: Flexion. In: Wiegand, H.E. [Hg.] Studien zur neuhochdeutschen Lexikographie III. Hildesheim [etc.]: 179–237 ◾ Mugdan, J. [1989] Information on Inflectional Morphology in the General Monolingual Dictionary. In: Hausmann, F.J./ Reichmann, O./ Wiegand, H.E./ Zgusta, L. [Hg.] Wörterbücher (HSK 5.1). Berlin [etc.]: 518–525 ◾ Mugdan, J. [2015] Units of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] WordFormation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 235–301 ◾ Spencer, A. [2012] Identifying stems. In: WStr 5: 88–108 ◾ Stump, G.T. [2001] Inflectional Morphology. A Theory of Paradigm Structure. Cambridge ◾ Vapnarsky, V./ Veneziano, E. [Hg. 2017] Lexical Polycategoriality. Cross-linguistic, cross-theoretical and language acquisition approaches. Amsterdam [etc.] ◾ Wurzel, W.U. [1984] Flexionsmorphologie und Natürlichkeit. Berlin.

Stammalternation

Wechsel zwischen verschiedenen Stämmen eines Lexems bei Flexion oder Wortbildung. ▲ stem alternation: alternation between different stems of a lexeme in inflection or word-formation.

‘Weg’

‘Spiel’

nom.sg

drog-a

gr-a

‘Hand’ reŋk-a

gen.sg

droɟ-i

gr-i

reɲc-i

dat.sg

droʣ-e

gʒ-e

renʦ-e

gen.pl

druk-∅

ɟer-∅

roŋk-∅

Ferner können bei der Derivation und Komposition weitere Stämme auftreten, die im Flexionsparadigma nicht vorkommen, z.B. bei Straße > Sträß-chen oder Geburt > Geburts-tag. Einen Wechsel zwischen verschiedenen Stämmen in der Flexion oder Wortbildung bezeichnet man als Stammalternation (s. die Überblicke Lieber 2000 und Stewart 2020). Manche sprechen in solchen Fällen von verschiedenen Stämmen (vgl. Stump 2001: 33), andere benutzen Termini wie Stammvariante, Stammalternante (engl. stem alternant, Halle 1953: 46), Allostamm (engl. allostem, Koutsoudas 1962: 47) oder auch Stammform (Fuhrhop 1998: 22–27; so werden aber bereits die Flexionsformen eines Lexems bezeichnet, aus denen sich alle anderen vorhersagen lassen, z.B. fliegen – flog – geflogen). In dem poln. Beispiel sind die Flexionsformen durch ein Suffix (einschließlich des Nullsuffixes -∅ im Genitiv Plural) eindeutig gekennzeichnet, sodass die Unterschiede im Stamm, die zudem mittels allgemeiner phonologischer Regeln beschrieben werden können, als eine Begleiterscheinung gelten dürfen, die keine Bedeutung trägt. Dagegen werden z.B. bei [wir] flieg-en – flogen – flög-en die Inhalte ‘indikativ.präteritum’ und ‘konjunktiv.präteritum’ gerade durch einen anderen Stamm ausgedrückt. Im Vergleich mit [wir] spiel-en – spiel-t-en hat also der morphologische Prozess der Ersetzung (Substitution) des Stammvokals die gleiche Funktion wie die Hinzufügung (Addition) eines Affixes (vgl. Lieber 2000). Einige Autoren benutzen Stammalternation als Bezeichnung dieses Prozesses und sprechen z.B. davon, dass das Präteritum „durch Stammalternation gebildet“ wird. Die oben erwähnten Stammalternationen können zwar mit phonologischen Regeln beschrieben werden, sind aber an morphologische Be-

S

Stammbildungselement 634 dingungen geknüpft. Manche Unterschiede zwischen Stämmen ergeben sich hingegen aus rein phonologischen Regularitäten, wie bei Tag / taːk/ – Tage /taːɡ-ə/, wo der Wechsel zwischen /k/ und /ɡ/ auf die generelle Regel der Auslautverhärtung zurückzuführen ist. Am anderen Ende der Skala stehen Fälle, bei denen die Stämme suppletiv sind, d.h. in keiner regelhaften Beziehung zueinander stehen. Ein extremes Beispiel ist das italienische Verb andare ‘gehen’, das im Präsens den Stamm and‑ nur in der 1. und 2. Person Plural aufweist, z.B. in andate ‘ihr geht’, in den übrigen Formen jedoch einen ganz anderen Stamm va‑, z.B. in vai ‘du gehst’, vanno ‘sie gehen’. Aber auch das Verhältnis zwischen den Stämmen dic‑, di‑, diss‑ usw. des Verbs dire ‘sagen’ (in dico ‘[ich] sage’, dirò ‘[ich] werde sagen’, dissi ‘[ich] sagte’) ist trotz einer gewissen Ähnlichkeit suppletiv, weil unregelmäßig. Die Bezeichnung Stammalternation kann auf dieses ganze Spektrum von Stammunterschieden angewendet, aber auch auf regelmäßigen morphologisch bedingten Wechsel beschränkt werden.

/baːd-əs/, Bäd-er /bɛːd-ər/, und in Derivata und Komposita können andere Stämme auftreten als in den Flexionsformen, z.B. Gegenwart > gegenwärt-ig, Gegenwarts-sprache. Statt in solchen Fällen von verschiedenen Stämmen zu sprechen (so auch Stump 2001: 33), benutzen andere Autoren Bezeichnungen wie Stammvariante, Stammalternante (engl. stem alternant, Halle 1953: 46), Allostamm (engl. allostem, Koutsoudas 1962: 47) oder Stammform (Fuhrhop 1998: 22–27). Letzteres ist insofern bedenklich, als Stammform bereits für die Flexionsformen eines Lexems in Gebrauch ist, die genügen, um alle anderen zu ermitteln, z.B. Nominativ Singular, Genitiv Singular und Nominativ Plural bei deutschen Substantiven. Während man in den obigen deutschen Beispielen die Unterschiede in den Stämmen als eine Begleiterscheinung betrachten kann, die keine zusätzliche Information liefert, sind es in anderen Fällen, wie Tab. 1 zeigt, gerade die verschiedenen Stämme, an denen bestimmte grammatische Bedeutungen erkennbar sind.

→ Lexem; Stamm; Stammvariante; Suppletion ⇀ Stammalternation (Gram-Formen)

‘Katze’

sg

pl

nom

kʰatʰ

kʰaʧ

gen

kʰaʧ

xatʰ

vok

xaʧ

xatʰ-a

Joachim Mugdan

S

🕮 Fuhrhop, N. [1998] Grenzfälle morphologischer Einheiten. Tübingen ◾ Halle, M. [1953] The German conjugation. In: Word 9: 45–53 ◾ Koutsoudas, A. [1962] Verb Morphology of Modern Greek. Bloomington, IN ◾ Lieber, R. [2000] Substitution of segments and features. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie. (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 567–576 ◾ Stewart, T.W. [2020] Stem change (apophony and consonant mutation) in morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 841–855 ◾ Stump, G.T. [2001] Inflectional Morphology. A Theory of Paradigm Structure. Cambridge.

Tab. 1: Ausschnitt aus einem schottisch-gälischen Substantivparadigma

Stammbildungselement

Eine allgemein akzeptierte terminologische Unterscheidung zwischen diesen beiden Typen von Wechsel (Alternation) im Stamm gibt es nicht, aber Stammvariante eignet sich sicher besser für den ersten Typ, insbesondere dann, wenn die Unterschiede im Ausdruck gering sind.

Stammform

→ Lexem; Stamm; Stammalternation

≡ Fugenelement

≡ Stamm ⇀ Stammform (Gram-Formen; HistSprw)

Stammvariante

einer von mehreren Stämmen eines Lexems, die bei Flexion oder Wortbildung auftreten. ▲ stem alternant: one of several stems of a lexeme that occur in inflection or word-formation. Lexeme können in ihren Flexionsformen unterschiedliche Stämme haben, z.B. Bad /ba:t/, Bad-es

Joachim Mugdan

🕮 Fuhrhop, N. [1998] Grenzfälle morphologischer Einheiten. Tübingen ◾ Halle, M. [1953] The German conjugation. In: Word 9: 45–53 ◾ Koutsoudas, A. [1962] Verb Morphology of Modern Greek. Bloomington, IN ◾ Stump, G.T. [2001] Inflectional Morphology. A Theory of Paradigm Structure. Cambridge.

Stammwort

Lexem, aus dem andere Lexeme einer Wortfamilie durch Derivation und Komposition gebildet sind. ▲ stem word: lexeme from which other lexemes in a word family are formed by derivation or composition.

635 Steigerungspräfix Im Kontext von Bestrebungen, den Reichtum der deutschen Sprache nachzuweisen, kam der Ausdruck Stammwort im 17. Jh. bei Mitgliedern der Fruchtbringenden Gesellschaft auf. Er bezeichnete ein einfaches Wort (Simplex), aus dem durch Ableitung oder Komposition („Verdoppelung“) weitere Wörter gebildet werden können (s. Schottel 1641: 74–138; 1663: 49–103; vgl. Gützlaff 1989: 33–49). Allerdings wurde Stammwort oft mit Wurzel gleichgesetzt (vgl. die modernisierende Identifikation mit Grundmorphem bei Gützlaff 1989: 40). So nahm man an, „daß in Teutscher Sprache in den Verbis der Modus Imperativus das Stammwort oder die Wurtzel sey“ (Schottel 1641: 89; 1663: 61), und führte daher in Listen von Stammwörtern z.B. brechen unter brich auf (Harsdörffer 1855: 390f.; Schottel 1663: 1274, 1293). Gemäß einem 1647 entworfenen Plan für ein Wörterbuch sollten Wortfamilien in Nischen unter dem Stammwort dargestellt werden (Harsdörffer 1855), und in der Folgezeit spielte dieses Stammwortprinzip in der deutschen Lexikographie eine wichtige Rolle, bis sich das alphabetische Prinzip durchsetzte (s. z.B. Hundsnurscher 2002: 675–677). Im 20. und 21. Jh. wird Stammwort kaum noch verwendet.

→ Grundmorphem; Lexem; Simplex; Wurzel ⇀ Stammwort (HistSprw)

Joachim Mugdan

🕮 Gützlaff, K. [1989] Von der Fügung Teutscher Stammwörter. Die Wortbildung in J. G. Schottelius’ „Ausführlicher Arbeit von der Teutschen HaubtSprache“. Hildesheim [etc.] ◾ Harsdörffer, G.P. [1855] Des Spielenden Unvergreiffliches wolgemeintes Bedencken, Wie ein Teutsches Dictionarium oder wortbuch Zuverabfassen [verfasst 1647]. In: Krause, G. [Hg.] Der Fruchtbringenden Gesellschaft ältester Ertzschrein. Leipzig: 387–392 ◾ Hundsnurscher, F. [2002] Das Wortfamilienproblem in der Forschungsdiskussion. In: Cruse, D.A./ Hundsnurscher, F./ Job, M./ Lutzeier, P.R. [Hg.] Lexikologie (HSK 21.1). Berlin [etc.]: 675– 680 ◾ Schottel = Schottelius, J.G. [1641] Teutsche Sprachkunst. Braunschweig ◾ Schottel = Schottelius, J.G. [1663] Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache. Braunschweig.

Steigerung

≡ Komparation

Steigerungsbildung ≡ Augmentativum

Steigerungspräfix

Präfix mit steigernder – augmentativer/hyperbolischer/superlativischer – Funktion.

▲ intensifying prefix: prefix expressing a degree of – augmentative, hyperbolic, superlative – intensification.

In der adjektivischen und substantivischen Wortbildung hat sich ein reiches Inventar an Mitteln zum Ausdruck der Graduierung entwickelt. Anstöße dazu kommen vor allem aus der Werbesprache, in der ein besonderer Bedarf an steigernden Benennungen – meist mit positiver Bewertung – besteht. Ein gut ausgebauter Bereich sind die Steigerungspräfixe, die sich häufig sowohl mit adjektivischen als auch mit substantivischen Basen verbinden (dt. Erzrivale, erzkonservativ, span. archisuperior ‘allerhöchst’, archibribón ‘Erzgauner’). Beim Adjektiv können Steigerungspräfixe die flexionsmorphologische Graduierung ergänzen. „Wortbildungen graduieren die durch die Ausgangseinheiten bezeichneten Eigenschaften differenzierter als die Komparation, indem sie der Abstufung zusätzliche semantische Nuancierungen und emotional wertende Komponenten hinzufügen.“ (Barz 2009: 743) Beim Substantiv dienen Steigerungspräfixe dem Ausdruck einer stark positiv oder negativ wertenden Hervorhebung. Präfixe lateinischer und griechischer Herkunft finden sich in verschiedenen Sprachen in vergleichbarer Weise. Sie werden vielfach auch zur Bildung fachsprachlicher Benennungen genutzt (z.B. dt. Ultrakurzwelle, engl. hyperventilation ‘Hyperventilation’, frz. hyperacidité ‘Übersäuerung’, ital. supersonico ‘Überschall-’). Produktive Präfixe zur augmentativen Modifizierung adjektivischer und substantivischer Basen sind dt. Haupt- (Hauptproblem), ur- (urgemütlich), hyper- (hyperkorrekt), super-/Super- (supermodern, Superangebot), ultra-/Ultra- (ultrakonservativ, Ultraschall); engl. hyper- (hyperaccurate ‘übergenau’, hyperconservatism ‘gesteigerter Konservatismus’), super- (superdigestible ‘bes. bekömmlich’, superpower ‘Supermacht’), ultra- (ultra-ambitious ‘bes. ehrgeizig’); frz. hyper- (hypernerveux ‘übernervös’, hypermarché ‘großer Supermarkt’, hyperfréquence ‘Höchstfrequenz’), super- (supermarché ‘Supermarkt’), extra- (extra-fin ‘extrafein’), ultra- (ultramoderne ‘hochmodern’); ital. super- (superdotato ‘hochbegabt’, supercarburante ‘Superbenzin’), iper- (iperattivo ‘hyperaktiv’, ipertensione ‘Hochdruck’), extra- (extrafino ‘extrafein’, ultra- (ultraleggero ‘superleicht’, ultraconservatore ‘ultra­

S

Steigerungssuffix 636 konservativ’); span. super- (superautomático ‘voll­automatisch’, superequipo ‘Spitzenmannschaft’), sobre- (sobresaliente ‘überragend’, sobrepeso ‘Übergewicht’), hiper- (ipersensible ‘über­ empfindlich’, ipermercado ‘großer Supermarkt’), ultra- (ultramoderno ‘ultramodern’, ultrasonido ‘Ultraschall’), archi- (archicapitalista ‘Erzkapitalist’, archiestúpido ‘bes. dumm’). Als konkurrierende Wortbildungsmittel haben sich in der adjektivischen und substantivischen Wortbildung reihenbildende Kompositionsglieder bzw. Präfixoide entwickelt (dt. riesen-/Riesen-, Spitzen-, grund-/Grund-, hoch-/Hoch-, über-/Über-). Abgrenzungsprobleme können in Bezug auf den Status der Elemente als Präfix/Präfixoid/Kompositionsglied bestehen (z.B. im Dt. bei super-/Super-, top-/Top-, im Engl. bei over-). In der verbalen Wortbildung sind Präfixe mit steigernder oder intensivierender Funktion in geringerem Umfang vertreten. Die Bedeutung besteht meist im Überschreiten eines Maßes oder einer angenommenen Norm, wie bei dt. über- (sich überarbeiten); engl. over- (overcharge ‘überladen, überfordern’); frz. sur- (surévaluer ‘überbewerten’), ital. sopra- (sopravvalutare ‘überschätzen’), sur- (surgelare ‘tiefgefrieren’); span. super- (supervalorar ‘überbewerten’), sobre- (sobreproteger ‘überbehüten’). Hannelore Poethe

→ Augmentation; Augmentativum; Graduierung; Komparation; Präfixoid

S

🕮 Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Ruf, B. [1996] Augmentativbildungen mit Lehnpräfixen. Eine Untersuchung zur Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Heidelberg ◾ Schpak-Dolt, N. [2012] Einführung in die Morphologie des Spanischen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Schwarze, C. [1995] Grammatik der italienischen Sprache. 2., verbess. Aufl. Tübingen ◾ Widdig, W. [1982] Archi-, ultra-, maxi- und andere Steigerungspräfixe im heutigen Französisch. Geneve ◾ Wiegand, H.E. [2001] Augmentation in Printwörterbüchern der deutschen Gegenwartssprache. In: Korhonen, J. [Hg.] Von der mono- zur bilingualen Lexikografie für das Deutsche. Frankfurt/ Main: 101–137.

Steigerungssuffix

≡ Augmentativsuffix

Streckform

≡ Kontamination ⇀ Streckform (Gram-Syntax)

Struktur, hierarchische → hierarchische Struktur

Struktur, konzeptuelle → konzeptuelle Struktur

Struktur, onomasiologische → onomasiologische Struktur

strukturalistische Wortbildungslehre

Forschungsrichtung mit dem Ziel, strikte Operationen für die Zerlegung von Wörtern in ihre Morpheme zu entwickeln. ▲ structuralist morphology: body of work characterized by the goal of developing strict procedures for analyzing words into their component morphemes. In den Arbeiten von Sapir (1921) und Bloomfield (1933) entstanden, erlebte die strukturalistische Morphologie in den USA ihre Blütezeit in den späten 1940er und den 1950er Jahren. Wie alle strukturalistischen Theorien war die strukturalistische Morphologie in dem Sinne als „wissenschafltich“ intendiert, dass sie eine Menge von Operationen umfasste, die auf Datensätze jeder beliebigen Sprache angewandt werden konnten und damit die Zerlegung eines Wortes in Morpheme erlaubte. Eine wirklich strukturalistische morphologische Analyse konnte erst beginnen, nachdem die phonemische Analyse der jeweiligen Sprache etabliert war. Dann konnten die phonemisch analysierten Daten weiter analysiert werden, unter Verwendung von Prinzipien wie den folgenden: Prinzip 1: Formen, die in allen ihren Vorkommen eine gemeinsame semantische Distinktheit und eine identische phonemische Form haben, konstituieren ein einzelnes Morphem (Nida 1949: 7). Prinzip 2: Formen, die eine gemeinsame semantische Distinktheit haben, sich aber in ihrer phonemischen Form unterscheiden (etwa in ihren Phonemen oder in der Abfolge der Phoneme) können ein Morphem konstituieren, sofern die Distribution der formalen Unterschiede phonologisch definierbar ist (Nida 1949: 14). Weitere Prinzipien wurden für die Etablierung der komplementären Distribution von Allomorphen und zur Bestimmung der Bedeutung von Morphemen vorgeschlagen. Letzteres wurde nach Bloomfield durch die Anforderung erschwert, dass Bedeutung in irgendeiner Form be-

637 Strukturbaum obachtbar sein muss: Die Bedeutung eines Morphems konnte nur als die Umgebung beschrieben werden, in der es auftrat. Im Prinzip sollte von einem strukturalistischen Standpunkt aus die morphologische Analyse jeder beliebigen Sprache unabhängig von der Analyse anderer Sprachen sein. Strukturalistische Morphologen hatten nicht den Anspruch, morphologische Ähnlichkeiten mit anderen Sprachen bzw. Universalien aufzudecken. Hinsichtlich Sprachtheorie und Methodik unterscheidet sich die strukturalistische Wortbildungslehre von der generativen Morphologie grundlegend. Im Deutschen bildet sie noch heute das Fundament für systematische Untersuchungen zur Wortbildung sowie für viele Handbücher und Einführungen zur Wortbildung. Zu verschiedenen strukturalistischen Schulen sowie Wortbildungstheorien vgl. Motsch (2015). Zu diesem Vermächtnis gehört auch die Unterscheidung zwischen „Item-and-Arrangement“- und „Item-and Process“-Ansätzen in der Morphologie (Hockett 1954), die auch im 21. Jh. für die Charakterisierung von Wortbildungstheorien von Bedeutung ist. Rochelle Lieber

→ § 7; generative Morphologie; Item-and-Arrangement-Modell; Item-and-Process-Modell; Morphem; Nullmorphem; replacive morphology; subtraktive Morphologie; Wortbildungslehre ⇁ structuralist morphology (Woform)

🕮 Anderson, S. [2019] A short history of morphological theory. In: Audring, J./ Masini, F. [eds.] OHMT. Oxford: 19–33 ◾ Bloch, B. [1947] English verb inflection. In: Lg 23: 399–418 ◾ Bloomfield, L. [1933] Language. New York, NY [etc.] ◾ Hockett, C.F. [1947] Problems of morphemic analysis. In: Lg 23: 321–343 ◾ Hockett, C.F. [1954] Two Models of Grammatical Description. In: Word 10: 210–234 ◾ Motsch, W. [2015] Word-formation in structuralism. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 52–66 ◾ Nida, E.A. [1948] The identification of morphemes. In: Lg 24: 414–441 ◾ Nida, E.A. [1949] Morphology. The Descriptive Analysis of Words. 2nd, compl. new ed. Ann Arbor, MI ◾ Sapir, E. [1921] Language: An Introduction to the Study of Speech. New York, NY ◾ Stewart, T. [2019] Structuralism. In: Audring, J./ Masini, F. [eds.] OHMT. Oxford: 85–104.

Strukturbaum

visuelles Mittel, um die hierarchische Struktur komplexer linguistischer Ausdrücke zu veranschaulichen, in erster Line von syntaktischen Phrasen, aber auch von derivierten und komponierten Wortstrukturen. ▲ tree diagram: visual means of illustrating the hi-

erarchical structure assumed to characterized the internal structure of complex linguistic expressions, primarily syntactic phrases, but also of affixed and compounded word structures. Baumdiagramme werden in den frühesten Arbeiten der generativen Grammatik verwendet, um die hierarchischen Strukturen syntaktischer Phrasen explizit zu machen, die von den Phrasenstrukturregeln der Grammatik generiert werden, vgl. Chomsky (1965). In der Standardtheorie der Transformationsgrammatik enthält die Grundkomponente der Grammatik kontextfreie Phrasenstrukturregeln, die abstrakte Tiefenstrukturen generieren. Diese werden durch Transformationsregeln in Oberflächenstrukturen überführt, die ebenfalls als Baumdiagramme repräsentiert werden. Die generative Grammatik wurde ursprünglich als eine Syntaxtheorie konzipiert. In The Grammar of English Nominalisations hat Lees (1960) den Fokus der Standardtheorie erweitert, indem er das grundlegende generative Rahmenkonzept auf eine Reihe von Nominalisierungen, u.a. Relativsätze, Nominalphrasen mit attributiven Adjektiv- und präpositionalen Phrasen sowie abgeleitete und komponierte Wortstrukturen, angewandt hat. In seiner Abhandlung werden solche Nominalisierungen aus satzartigen Tiefenstrukturen schrittweise durch Reduktionstransformationen abgeleitet (vgl. Sie fertigten den Schuppen aus Holz > ein Schuppen, der aus Holz gefertigt wird > ein Schuppen aus Holz gefertigt > ein Schuppen aus Holz > ein hölzerner Schuppen > ein Holzschuppen). Der Ansatz von Lees (1960) wurde von Kürschner (1974) auf die Analyse deutscher Komposita übertragen. So gelangt bspw. Putzfrau aus der zugrundeliegenden Satzstruktur in (1) durch eine Folge von Reduk(1)

NP

SPEZ

N

SATZ

[...]

Frau

S

NP

VP

SPEZ

N

HV

AUX

[...]

Frau

VB

[+präs]

putz

S

Strukturbaum 638 tionstransformationen, die über Zwischenstufen wie Frau, die putzt und putzende Frau führen, zu der Struktur in (2): (2) N

S

V

N

Putz

frau

Marchand übernahm ebenfalls die Idee, dass verbale Komposita reduzierte Satzstrukturen sind, während den „primary compounds“ syntaktische Relationen implizit enthalten, vgl. Marchand (1969: 18), allerdings ohne seine Analyse in Form von Baumdiagrammen darzustellen. In seinen Remarks on Nominalization von (1970) kam Chomsky von der Vorstellung einer transformationellen Derivation von Nominalisierungen ab und argumentierte gegen eine Behandlung von bspw. proof of the theorem ‘Beweis des Theorems’ aus einer zugrundeliegenden Satzstruktur wie prove the theorem. Während die Gerundien englischer Verben (vgl. John's proving the theorem) als reguläre Ergebnisse der Affigierung von -ing an Verben angesehen werden können, verbinden sich die nicht-gerundiven Nominalisierungen auf höchst idiosynkratische Weise nur mit bestimmten Suffixen, vgl. reduction ‘Verringerung’, entertainment ‘Unterhaltung’, coverage ‘Berichterstattung’, removal ‘Entfernung’ usw. Zudem verfügen sie oft über semantisch idiosynkratische Eigenschaften, die durch Transformationsregeln nicht erklärt werden können, vgl. transmission ‘Getriebe’, interview ‘Vorstellungsgespräch’, department ‘Abteilung’. Transformationen sind so restringiert, dass sie die semantischen Eigenschaften der Konstituenten der Tiefenstrukturen nicht ändern dürfen – also ihnen weder zusätzliche Bedeutungsaspekte hinzufügen noch bedeutungshaltige Elemente entfernen. Chomskys Einwände gegen eine transformationelle Ableitung von derivierten Nominalisierungen leiteten eine neue Phase der generativen Grammatik ein, den Lexikalismus, die von einem eigenständigen, von der syntaktischen Komponente getrennten Lexikon geprägt ist. Der in Chomsky (1981) eingeführte „Prinzipienund-Parameter“-Ansatz änderte auf recht radikale Weise das Grammatikkonzept der Syntax,

das auf einer Menge sprachspezifischer Regeln basierte, zu einem System von abstrakten und mit universalen Eigenschaften ausgestatteten Prinzipien, die parametrisiert werden, um wohlgeformte Oberflächenstrukturen zu produzieren. In Folge dieses neuen Ansatzes schlugen einige Linguisten vor, die Prinzipien der X-Bar-Theorie zusammen mit den ebenfalls aus der Syntax stammenden Konzepten „Head“ (Kopf) und „Projektion“ usw. in die Theorie der Wortbildung zu integrieren (vgl. Williams 1981, Selkirk 1982, Toman 1983). Die Wortsyntax, wie dieser neue Ansatz genannt wurde, generiert Wortstrukturen mithilfe einer Menge an kontextfreien Phrasenstrukturregeln, die modifiziert werden, um die lexikalischen Kategorien der Wort-Ebene wie Stämme und Affixe (= Af) zu enthalten. Stämme und Affixe werden als lexikalische Einheiten betrachtet, die in wortsyntaktische – in Form von Baumdiagrammen dargestellte – Strukturen eingefügt werden. Die Baumstruktur in (3) illustriert nach Selkirk (1982: 67) die hierarchische Strukturierung eines komplexen Wortes wie foolishness ([[[fool]N -ish]A -ess]N: (3) N Naf

A N

Aaf

Δ

Δ

Δ

Die Analyse der internen Wortstruktur von komplexen Wörtern mittels eines Baumdiagramms, die auch in nicht-generativen Wortbildungsdarstellungen gängig ist, ist allerdings nicht für alle Sprachen gleichermaßen geeignet. Es gibt Sprachen, deren Morphologie nicht durch die freie Konkatenation (Kombination von Stämmen mit Stämmen und Affixen) charakterisierbar ist, sondern durch templates (Schablonen), die eine Linearisierung von festen Positionen festlegen, in die Morpheme eingesetzt werden, die über die entsprechenden Eigenschaften und Merkmale verfügen. Susan Olsen

→ § 41; hierarchische Struktur; linguistisches template; nicht-

konkatenative Morphologie; primary compound; Rekursivität; templatische Morphologie; verbal compound ⇀ Strukturbaum (Gram-Syntax) ⇁ tree diagram (Woform)

639 🕮 Chomsky, N. [1965] Aspects of the Theory of Syntax. Cambridge, MA ◾ Chomsky, N. [1970] Remarks on nominalization. In: Jacobs, R./ Rosenbaum, P. [eds.] Readings in English Transformational Grammar. Waltham, MA: 184–221 ◾ Chomsky, N. [1981] Lectures on Government and Binding. Berlin ◾ Kürschner, W. [1974] Zur syntaktischen Beschreibung deutscher Nominalkomposita. Tübingen ◾ Lees, R.B. [1960] The Grammar of English Nominalizations. Bloomington, IN [etc.] ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Selkirk, E. [1982] The Syntax of Words. Cambridge, MA [etc.] ◾ Toman, J. [1983] Wortsyntax. Tübingen ◾ Williams, E. [1981] On the Notions „Lexically Related“ and „Head of a Word“. In: LingInqu 12: 245–274.

Strukturregel, onomasiologische → onomasiologische Strukturregel

Stutzwort

≡ Kurzwort

subjektive Ausdrucksnotwendigkeit ≡ Zweitbenennung

Subkategorisierung, morphologische → morphologische Subkategorisierung

Submorph

zeichenähnliches Element, das die Kriterien für ein Morph, d.h. Minimalzeichen, nur teilweise erfüllt, insbesondere ein wiederkehrendes Element, das keinen klaren und konstanten Inhalt hat. ▲ submorph: sign-like element that only partially meets the criteria for a morph, i.e. a minimal sign; in particular, a recurrent element that lacks a clear and constant content. Eine Voraussetzung für die Zerlegung eines sprachlichen Zeichens in zwei kleinere Zeichen ist es, dass beide Teile in den anderen Kombinationen, in denen sie auftreten, denselben Inhalt haben, wobei der Inhalt des Ganzen auf die Inhalte der Teile zurückgeführt werden kann. So ist z.B. eine Zerlegung von Kammer in Kamm- und -er nicht statthaft, weil Kamm- und -er keine klaren Inhalte haben, aus denen sich der von Kammer ergäbe; insbesondere liegt nicht derselbe Inhalt vor wie in Kamm, Kammgarn usw. In einem Fall wie engl. receive treten die Teile zwar in vielen anderen Kombinationen auf, z.B. remit, retain und conceive, perceive usw., aber es lassen sich ihnen keine klaren Inhalte zuschreiben. Dennoch spricht für eine Segmentierung, dass einem Verb

substantivierter Infinitiv auf -ceive systematisch ein Substantiv auf -ception (vgl. reception, conception, perception usw.) entspricht; es ist daher naheliegend, ein Morphem mit den Allomorphen -ceive und -cep- anzusetzen. Indem man re- und -ceive als Submorphe bezeichnet oder receive als „bedingt segmentierbar“, kann man hervorheben, dass es sich nicht um vollgültige Minimalzeichen handelt, doch wird man sich letztlich entscheiden müssen, diese Elemente als Minimalzeichen anzuerkennen oder aber receive als morphologisch unzerlegbar zu betrachten (s. Kubrjakova 2000). Verschiedentlich werden die Bezeichnungen Submorph(em) und submorphemisch für Elemente benutzt, bei denen nicht in Frage gestellt wird, dass sie lediglich Teil eines Morphs sind. Das betrifft z.B. Wortbestandteile, die an Wortbildungsprozessen wie Kontamination (Blending) beteiligt sind (z.B. Mo- und -tel in Motel; s. Fandrych 2008), oder Phonästheme, die in einer Reihe von Wörtern mit einer bestimmten Bedeutungskomponente assoziiert sind (z.B. gl- in engl. glare, glimmer, glow usw. mit Licht; s. Bottineau 2008; Wanka 2013). Joachim Mugdan

→ Allomorph; Kontamination; Minimalzeichen; Morph; Morphem; Phonästhem; Segmentierung

⇀ Submorph (Gram-Formen)

🕮 Bottineau, D. [2008] The submorphemic conjecture in English: towards a distributed model of the cognitive dynamics of submorphemes. In: Lexis - Journal in English Lexicology 2. [Unter: https://doi.org/10.4000/lexis.688; letzter Zugriff: 25.05.2022] ◾ Fandrych, I. [2008] Submorphemic elements in the formation of acronyms, blends and clippings. In: Lexis – Journal in English Lexicology 2: 103–121 [Unter: https://doi. org/10.4000/lexis.713; letzter Zugriff: 17.05.2022] ◾ Kubrjakova, E.S. [2000] Submorphemische Einheiten. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 417– 426 ◾ Wanka, N. [2013] Phonästhetische Submorpheme – im Allgemeinen und unter besonderer Berücksichtigung des Englischen, Diplomarbeit. Wien. [Auch unter: http://othes.univie. ac.at/29202/; letzter Zugriff 18.05.2021].

Substantivableitung, retrograde → Rückbildung

Substantivabstraktum

≡ Nominalabstraktum ⇀ Substantivabstraktum (Gram-Formen)

substantivierter Infinitiv

als Substantiv verwendete Infinitivform eines Verbs.

S

substantivierter Infinitiv 640 ▲ nominalized infinitive: infinitive form of the verb

used as a substantive.

S

Durch Wortartwechsel ohne formale Veränderung können Infinitive einfacher und komplexer Verben in die Wortart Substantiv überführt werden. Bereits Wilmanns (1899: 405) betrachtet dieses Verfahren als einfachstes Mittel, jedes Verbum zu substantivieren. Je nach Auffassung werden die substantivierten Infinitive als Konversion, als Nullmorphemableitung oder als Suffixderivation dargestellt (dazu unten ausführlicher). Nach der Unterscheidung von morphologischer und syntaktischer Konversion bei Eisenberg (2013: 280f.) und Erben (2006: 31) handelt es sich hier um syntaktische Konversion, da das Wortbildungsprodukt mit dem Infinitivmorphem ein Flexionselement seiner Basis beibehält. Die Konversion des Infinitivs (dt. Arbeiten, engl. call ‘Anruf’, interchange ‘Austausch’, frz. parler ‘Sprechen’, ital. parlare ‘Sprechen’, span. saber ‘Wissen’) unterliegt kaum Restriktionen, führt aber seltener zu usuellen Bildungen. Fleischer/ Barz (2012: 271) konstatieren eine deutliche Diskrepanz „zwischen der nahezu universellen Bildbarkeit und dem Gebrauch als Nominationseinheit“. (Zur Lexikalisierungspotenz vgl. auch Barz 1998.) Auch im Frz. und Span. z.B. sind lexikalisierte Infinitive als Nomination weitaus begrenzter im Vergleich zur grundsätzlich möglichen Substantivierung (vgl. Thiele 1981: 96; 1992: 124). In einigen Fällen sind allerdings die substantivierten Infinitive die einzige Möglichkeit der Bildung eines Verbalsubstantivs (dt. das Umdenken, das Schwimmen). Wortbildungssemantisch dominieren bei sub­ stan­tivierten Infinitiven nomina actionis (dt. Laufen, engl. play ‘Spiel’, frz. souvenir ‘Erinnerung’, ital. convivere ‘Zusammenleben’, span. cantar ‘Gesang’). Davon ausgehend ist häufig auch eine Lesart als nomen acti ausgeprägt (dt. Wissen, engl. desire ‘Wunsch’, reprint ‘Nachdruck’, frz. souvenir ‘Andenken’, span. deber ‘Pflicht’). Mitunter haben sich auch konkrete Sachbezeichnungen herausgebildet (dt. Schreiben ‘Schriftstück’, engl. cover ‘Einband, Hülle’, frz. souvenir ‘Erinnerungsstück’). Zur Breite der semantischen Muster im Engl. vgl. Schmid (2005: 192). Reflexive Verben können das Reflexivum „vererben“ (dt. das Sichausweinen). In lexikalisierten

Bildungen (dt. das Bemühen, das Räuspern) entfällt es in der Regel (Fleischer/Barz 2012: 271). Flexionsmorphologisch verfügen substantivierte Infinitive meist nicht über alle grammatischen Merkmale eines typischen Substantivs. So sind sie nicht pluralfähig (das Erzählen), von wenigen lexikalisierten Konkreta abgesehen (das/die Essen, Schreiben) (Barz 2009: 726). Nach Eisenberg (2013: 281) sind sie als Substantive peripher, die Bindung ans Verb bleibt stark. Strittig ist, ob es sich bei substantivierten Infinitiven überhaupt um ein Wortbildungsphänomen handelt. Fleischer/Barz (2012: 89) begründen ihre Auffassung als Wortbildungserscheinung vor allem mit dem Lexemstatus der Konversionen und mit der Übernahme morphosyntaktischer Eigenschaften des Substantivs (substantivische Flexion). Donalies (2005: 125) hebt besonders den Anteil an der Wortschatzerweiterung hervor. Olsen (1986: 112) ordnet die substantivierten Infinitive eher der Syntax als der Wortbildung zu. Auch Eisenberg (2013: 281) verweist auf syntaktische Überlappung mit dem Infinitiv als Verbform in mehreren syntaktischen Kontexten. Unterschiedliche Auffassungen bestehen auch in Bezug auf den Status des Infinitivmorphems -en im Deutschen und die entsprechenden Konsequenzen für die Wortbildungsart. Betrachtet man -en als Flexionssuffix und damit als Bestandteil der Basis (wie z.B. Fleischer/Barz 2012: 89), handelt es sich um Konversion. Betrachtet man -en als Wortbildungsmorphem (wie z.B. Motsch 2004: 328f.), liegt Suffixderivation vor. Durch Hinzufügung des Suffixes -en an den Stamm eines Verbs wird nach Motsch ein semantisches Musters indiziert, das in diesem speziellen Fall nur eine syntaktische Umkategorisierung vornimmt. Für das Englische gehen Hansen/Hansen/Neubert/Schentke (1990: 124) im Anschluss an Marchand (1969: 359f.) von Nullableitung als Sonderfall der Suffigierung aus (zu dieser Auffassung vgl. auch Schmid 2005: 190ff.). Im Engl. wird zudem diachron durch den Wegfall der meisten Flexionsendungen der formale Zusammenfall von Nomina, Verben und Adjektiven begünstigt, so dass für viele Wortformen mehrfache Wortklassenzugehörigkeit anzunehmen ist (Schmid 2005: 187ff.). Nicht immer lässt sich die Ableitungsrichtung klar entscheiden. Artikellose Sprachen, wie das Russ. und ande-

641

substantiviertes Adjektiv

re slaw. Sprachen (mit Ausnahme des Bulg. und Makedon.) und Litauisch, verfügen nicht über die Möglichkeit, den Infinitiv zu substantivieren, und nutzen dafür entsprechende Derivationsmodelle (vgl. Labanauskaité 2001: 87f.). Hannelore Poethe

→ Derivationsrichtung; Infinitivkonversion; Konversion;

nomen acti; nomen actionis; Nominalisierung; Nullmorphem; usuelles Wort; Verbalabstraktum; Verbalsubstantiv; Wortart; Wortbildungsart ⇀ substantivierter Infinitiv (Gram-Formen)

🕮 Barz, I. [1998] Zur Lexikalisierungspotenz nominalisierter Infinitive. In: Barz, I./ Öhlschläger, G. [Hg.] Zwischen Grammatik und Lexikon. Tübingen: 57–68 ◾ Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Donalies, E. [2005] Die Wortbildung des Deutschen. Ein Überblick. 2., überarb. Aufl. Tübingen ◾ Eisenberg, P. [2013] Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 4., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart [etc.] ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Hansen, B./ Hansen, K./ Neubert, A./ Schentke, M. [1990] Englische Lexikologie. 3. Aufl. Leipzig ◾ Labanauskaité, R. [2001] Der substantivierte Infinitiv als Nomen actionis im Deutschen und Italienischen im Vergleich zu den Nomina actionis im Litauischen und im Russischen. In: Žmogus ir žodis 3/3: 84–92 ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Olsen, S. [1986] Wortbildung im Deutschen. Eine Einführung in die Theorie der Wortstruktur. Stuttgart ◾ Schmid, H.J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Eine Einführung. Berlin ◾ Thiele, J. [1981] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Leipzig ◾ Thiele, J. [1992] Wortbildung der spanischen Gegenwartssprache. Leipzig [etc.] ◾ Wilmanns, W. [1899] Deutsche Grammatik. Gotisch, Alt-, Mittel- und Neuhochdeutsch. Zweite Abteilung: Wortbildung. 2. Aufl. Straßburg.

substantiviertes Adjektiv

in die syntaktische Wortart Substantiv überführtes Adjektiv. ▲ nominalized adjective: adjective that has been transposed into the syntactic class noun. Die Umkategorisierung vom Adjektiv zum Substantiv erfolgt durch den Wortbildungsprozess der Konversion. Als Basis kommen die unflektierte Grundform (dt. grün > das Grün, engl. green > the green, frz. vert > le vert, ital. verde > il verde, span. verde > el verde, russ. zele‘n > zele‘n) oder eine flektierte Wortform in Frage (der/die/das Grüne/ ein Grüner/etwas Grünes, der/die/das Jugendliche/ ein Jugendlicher, frz. un/une adolescent/e ‘ein/e Jugendliche/r’, span. el adulto/la adulta ‘der/die

Erwachsene’, russ. zelënyj ‘das Grüne’, prošloje ‘Vergangenheit’). Barz (2009: 667f., 725f.) unterscheidet zwischen paradigmatischer Umsetzung (morphologischer Konversion nach Eisenberg 2006: 297), bei der ein phonologisch gleicher Stamm in verschiedenen Wortarten verfügbar ist, und syntaktischer Konversion, bei der ein Flexionselement der Basis beibehalten wird. Diese syntaktischen Substantivierungen (Gallmann 2009: 348ff.) haben kein festes Genus und behalten die adjektivische Flexion bei (wie das auch bei substantivierten flektierten Partizipien I und II der Fall ist). Als Basis können auch Komparationsformen fungieren, vgl. dt. der/die Jüngste, engl. the worst ‘der/die/das Schlimmste’, frz. la plus belle ‘die Schönste’, ital. il massimo ‘das Höchste’, span. lo más íntimo ‘das Innerste’. Semantisch beziehen sich Maskulina im Allgemeinen auf Personen (meist spezifisch auf Männer, zuweilen auch auf Personen beiderlei Geschlechts), Feminina auf weibliche Personen. Bei Pluralformen bestehen im Dt. beispielsweise keine Genusunterscheidungen, sie können sich semantisch auf Personen beiderlei Geschlechts beziehen. Durch die Genusvariabilität erfüllen deadjektivische bzw. departizipiale Substantive sehr effektiv das gesellschaftliche Bedürfnis nach geschlechtsspezifischen und geschlechtsneutralen Personenbezeichnungen, vgl. dt. der/die Jugendliche, die Jugendlichen, frz. l’étudiant/e ‘Student/in’, ital. il povero/la povera ‘der/die Arme’, span. el adulto/la adulta ‘der/die Erwachsene’, russ. bol‘noj/ bol‘naja ‘der/die Kranke’. Die Neutrumform bezieht sich meist auf Unbelebtes aller Art und ist nicht pluralfähig (Gallmann 2009: 349f.), in Sprachen ohne Neutrum wird Abstraktes durch die maskuline Form bezeichnet (frz. le possible ‘das Mögliche’, ital. il vero ‘das Wahre’). Ansonsten richtet sich das Genus nach dem hinzuzudenkenden elliptischen Bezugswort, vgl. dt. das Helle (Bier), der Rote (Wein), die Diagonale (Linie), frz. le (train) rapide ‘Schnellzug’, la (machine) dépanneuse ‘Abschleppwagen’, ital. l’atomica nach la bomba atomica ‘Atombombe’, russ. ital’janskij (jazyk) ‘Italienisch(e Sprache)’. Im Russ. gehören viele substantivierte Adjektive auf die feminine Endung -aja der Gruppe der Ortsbezeichnungen (nomina loci) an: stolovaja ‘Speiseraum’, master­ skaja ‘Werkstatt‘, operacionnaja ‘Operationssaal’, učitel’skaja ‘Lehrerzimmer’ (vgl. Autorenk. 1984:

S

Substantivierung 642 152). Unflektierte und flektierte Adjektive bilden die Basis v.a. für Farb- und Sprachbezeichnungen, vgl. dt. das Blau, das Blaue, das Spanisch, das Spanische, engl. red ‘Rot’, Spanish ‘Spanisch’, frz. rouge ‘Rot’, allemand ‘Deutsch’, ital. rosso ‘Rot’, inglese ‘Englisch’, span. azul ‘Blau’, alemán ‘Deutsch’, russ. ital’janskij ‘Italienisch’. Nach Auffassung von Olsen (1988), Motsch (2004) u.a. handelt es sich bei der Substantivierung flektierter Adjektive nicht um einen Wortbildungsprozess, sondern um eine syntaktische Erscheinung. So betrachtet Motsch (2004: 328, 355) „die sogenannten substantivierten Adjektive“ der Typen Hilfsbedürftige, Obdachlose, Sechzigjährige; Schwerverletzte, Neugeborene, Hinterbliebene; Reisende, Trauernde, Auszubildende; Verdächtiges, Unvorhersehbares, Kluges; das Vergessene, das Gesagte, das Versäumte; Irritierendes, Bedeutendes) „nicht als Umkategorisierungen, sondern als Nominalphrasen mit einem phonologisch leeren Nomen“. Auch Donalies (2007: 90) versteht aufgrund der für ein Substantiv untypischen adjektivischen Flexion die Bildungen nicht als Konvertate, sondern eher als Ellipsen. Hannelore Poethe

→ Konversion; Nominalisierung; Substantivierung ⇀ substantiviertes Adjektiv (Gram-Formen)

S

🕮 Autorenk. [unter Leit. v. L. Wilske 1984] Die russische Sprache der Gegenwart. Bd. 4: Lexikologie. 2., unveränd. Aufl. Leipzig ◾ Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Donalies, E. [2007] Basiswissen Deutsche Wortbildung. Tübingen [etc.] ◾ Eisenberg, P. [2006] Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 3., durchges. Aufl. Stuttgart [etc.] ◾ Gallmann, P. [2009] Was ist ein Wort? In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 132–138 ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Olsen, S. [1988] Das „substantivierte“ Adjektiv im Deutschen und Englischen. Attribuierung vs. syntaktische „Substantivierung“. In: FoL 22: 337–372 ◾ Seewald, U. [1996] Morphologie des Italienischen. Tübingen ◾ Thiele, J. [1993] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Ein Abriß. 3., durchges. Aufl. Leipzig [etc.].

Substantivierung

Bildung eines Substantivs aus einem Wort einer anderen Wortart. ▲ nominalization: formation of a noun out of a word of a different lexical category. Im weiteren Sinn kann Substantivierung als Bildung eines Substantivs aus einem Wort einer anderen Wortart mittels Derivation oder Konver-

sion gefasst werden. Entsprechend dem hohen Bedarf an substantivischen Benennungen stehen dafür vielfältige Wortbildungsmodelle zur Verfügung. Am aktivsten sind dabei verbale und adjektivische Basen, vgl. dt. Laufen, Gelaufe, Nutzung, Lesbarkeit, engl. filling ‘Füllung’, abolition ‘Abschaffung’, equality ‘Gleichheit’, frz. changement ‘Veränderung’, distribution ‘Verteilung’, richesse ‘Reichtum’. Im engeren Sinn wird der Begriff häufig für die usuelle und okkasionelle Überführung eines lexikalischen Wortes in die syntaktische Wortart Substantiv durch Konversion gebraucht (Barz 2009: 725ff.; Gallmann 2009: 133f., 138). Nahezu jede lexikalische Wortart kann so substantiviert werden: Verb (dt. Wissen, engl. promise ‘Versprechen’, frz. déjeuner ‘Mittagessen’), Adjektiv bzw. Partizip (dt. das Grün, der/die/das Grüne, engl. red ‘Rot’, frz. émigré/e, ‘Emigrant/in’), Pronomen (dt. Ich, engl. self ‘Selbst’, frz. moi ‘Ich’), Adverb (dt. Heute, engl. today ‘Gegenwart’, frz. trop ‘Zuviel’), Konjunktion/Subjunktion (dt. Wenn und Aber, engl. ifs and buts ‘Wenn und Aber’, frz. mais ‘Aber’), Präposition (dt. Auf und Ab, engl. ups and downs ‘Höhen und Tiefen’, frz. le pour et le contre ‘Für und Wider’), Interjektion (dt. Ach, engl. hello ‘Hallo’, frz. chut ‘Pst!’), Partikel (dt. Nein, engl. no ‘Nein’, frz. oui ‘das Ja[wort]’). Auch syntaktische Fügungen können substantivischen Status erlangen, vgl. dt. Auswendiglernen, Stelldichein, engl. forget-me-not ‘Vergissmeinnicht’, frz. qu’endira-t-on ‘Gerede der Leute’. Hauptsächlich werden aber Verben und Adjektive bzw. Partizipien I und II morphologisch und syntaktisch durch Konversion in die Wortart Substantiv überführt. „Die durch syntaktische Konversion entstehenden Substantive verfügen meist nicht über alle grammatischen Merkmale eines typischen Substantivs. So sind die substantivierten Infinitive nicht pluralfähig (das Erzählen), von wenigen lexikalisierten Konkreta abgesehen (das/die Essen, Schreiben). Noch weniger typisch sind die Substantive aus flektierten Adjektiven und Partizipien. Sie behalten die adjektivische Flexion und haben kein festes Genus (der/die/das Alte; ein Alter/eine Alte)“ (Barz 2009: 726). Semantisch bezeichnen Substantivierungen meist Vorgänge, Personen oder Gegenstände sowie Abstraktes. Hannelore Poethe

643 Subtraktionsregel

→ § 31; Derivation; Konversion; substantiviertes Adjektiv; Wortart; Wortbildungsmodell ⇀ Substantivierung (Gram-Formen) ⇁ nominalization (Typol)

🕮 Barz, I. [2009] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 634–762 ◾ Gallmann, P. [2009] Was ist ein Wort? In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 132–138 ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin ◾ Thiele, J. [1993] Wortbildung der französischen Gegenwartssprache. Ein Abriß. 3., durchges. Aufl. Leipzig [etc.].

Substitutionsprobe

≡ Wortbildungsparaphrase

subsumptives Kompositum

Kompositum, bei dem das erste Element ein Hyponym des zweiten Elements ist. ▲ subsumptive compound: compound in which the first element is a hyponym of the second. Das Konzept, das von der ersten Konstituente eines subsumptiven Kompositums ausgedrückt wird, ist unter dem vom Kopf ausgedrückten Konzept zusammengefasst, d.h. es ist ein Hyponym des Kopfes. Folglich verletzt ein subsumptives Kompositum das pragmatische Prinzip der Informativität und wäre an sich selten zu erwarten. In der Tat kommen solche Bildungen selten vor. Ein tuna ‘Thunfisch’ ist bspw. eine Art von Fisch und deshalb ist der komplexere Ausdruck tuna fish ‘Thunfisch’ nicht informativer als die einfache Form tuna. Jedoch funktioniert ein subsumptives Kompositum ähnlich wie ein verdeutlichendes Kompositum, vgl. hierzu Fleischer/Barz (2012: 146–148). Marchand (1969: 62) hebt hervor, dass ein subsumptives Kompositum eine „genus proximum – differentia specifica“-Beziehung ausdrückt und in diesem Sinne spezifischer ist als verdeutlichende Komposita. Weitere Beispiele sind elm-tree ‘Ulme’, pebble stone ‘Kieselstein’, pussy cat ‘Miezekatze’, sowie die deutschen Komposita Eichbaum und Walfisch. Susan Olsen → Kompositum; verdeutlichendes Kompositum; Wortbildungshyponymie ⇁ subsumptive compound (Woform)

🕮 Benczes, R. [2014] Repetitions which are not repetitions: The non-redundant nature of tautological compounds. In: EngLgLin 18: 431–447 ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin

[etc.] ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München.

Subtraktionsbildung ≡ Rückbildung

Subtraktionsform ≡ Rückbildung

Subtraktionsregel

Regel, die eine morphologische oder morphosyntaktische Distinktion durch Tilgung eines Teils des Wurzelmorphems anzeigt. ▲ subtractive rule: rule that signals a morphological or morphosyntactic distinction by deleting part of a root morpheme. Nach Anderson (1992) stellen Subtraktionsregeln potentiell Probleme für solche Theorien dar, die nach dem „Item-and-Arrangement“-Modell oder morphembasiert arbeiten, weil in Subtraktionsregeln morphologische Distinktionen nicht durch das Hinzufügen, sondern durch die Abwesenheit von Segmenten angezeigt werden. Anderson argumentiert statt dessen für die Analyse solcher Regeln innerhalb eines prozessbasierten Modells. Allerdings ist es manchmal innerhalb der prosodischen Morphologie möglich, prozessbasierte Subtraktionsregeln als Assoziationen von Wurzeln mit prosodischen templates (Schablonen) umzuformulieren, die die entsprechende morphologische Kategorien signalisieren (Lieber 1992). Die Assoziation einer Wurzel mit einem template, das kürzer ist als sie selbst, hat die augenscheinliche Subtraktion von Material der Wurzel zur Folge. So wird z.B. im hessischen Dialekt, wenn ein constraint, das auf Sonoranten endende Plurale verlangt, niedriger gerankt ist als ein Epentheseverbot, der optimale Kandidat für einen Input /hond/ nicht [hond] oder [hondə], sondern [hon] sein (Golston/Wiese 1996). Rochelle Lieber

→ Item-and-Arrangement-Modell; Item-and-Process-Modell;

Optimalitätstheorie; prosodische Morphologie; subtraktive Morphologie; Wurzel ⇁ subtractive rule (Woform)

🕮 Anderson, S.R. [1992] A-morphous Morphology. Cambridge [etc.] ◾ Golston, C./ Wiese, R. [1996] Zero Morphology and Constraint Interaction. Subtraction and Epenthesis in German Dialects. In: Booij, G./ van Marle, J. [eds.] YbMo 1995. Dordrecht [etc.]: 143–159 ◾ Lieber, R. [1992] Deconstructing Morphology. Word Formation in Syntactic Theory. Chicago, IL.

S

subtraktive Morphologie 644

subtraktive Morphologie

morphologische Prozesse, die Wurzeln oder zugrundeliegende Formen durch Tilgung von Segmenten verändern. ▲ subtractive morphology: morphological processes that alter roots or underlying forms by removing or eliminating segments. Wenn sie auch selten ist, so ist doch dafür argumentiert worden, dass subtraktive Morphologie in Sprachen wie Koasati (Kimball 1991, Martin 1998) und anderen südlichen Muskogee-Sprachen (Broadwell 1996), im hessischen Dialekt des Deutschen (Golston/Wiese 1996) und im Tohono O’odham (Golston 1996) vorkommt. Im Koasati scheint die Pluralform eines Verbs von der Singularform deriviert zu werden, indem der finale Reim bzw. die finale Koda der Wurzelsilbe getilgt wird (-li und -ka sind Auxiliarmorpheme, -n zeigt den Infinitiv des Verbs an): (1) Singular

Plural

atakaalin

ataklin

‘(etwas) hängen’

latafkan

latkan

‘(etwas) treten’

laboslin

laboolin

‘löschen’

tabatkan

tabaakan

‘fangen’

Golston/Wiese (1996) argumentieren dafür, dass eine Klasse von Pluralnomina in einem hessischen Dialekt durch Tilgung der finalen Konsonanten der Singularstämme gebildet wird: (2)

S

Singular

Plural

froind

froin

‘Freund’

doək

doə

‘Tag’

bɛrk

bɛr

‘Berg’

Im Tohono O’odham kann die Perfektform eines Verbs durch Tilgung der finalen Silbe des Verbstamms deriviert werden: (3) Stamm

Perfektiv

cikapana

cikapa

‘arbeitete’

bisiceka

bisice

‘nieste’

Subtraktive Morphologie stellt potentiell Probleme für Item-and-Arrangement-Theorien dar, anders als für Item-and-Process-Modelle. Allerdings

haben in den letzten Jahren viele Morphologen Subtraktion als eine Folge entweder von prosodischen Beschränkungen oder, innerhalb der Optimalitätstheorie, von Constraint-Interaktionen analysiert. Rochelle Lieber

→ Item-and-Arrangement-Modell; Item-and-Process-Modell;

Optimalitätstheorie; Subtraktionsregel; subtraktives Morph

⇁ subtractive morphology (Woform)

🕮 Broadwell, G.A. [1996] Subtractive morphology in Southern Muskogean. In: IJALing-Balt 59/4: 416–29 ◾ Golston, C./ Wiese, R. [1996] Zero Morphology and Constraint Interaction. Subtraction and Epenthesis in German Dialects. In: Booij, G./ van Marle, J. [eds.] YbMo 1995. Dordrecht [etc.]: 143–159 ◾ Golston, C. [1996] Direct Optimality Theory. Representation as pure markedness. In: Lg 72/4: 713–748 ◾ Kimball, J. [1991] Koasati Grammar. Lincoln, NE ◾ Manova, S. [2020] Subtraction in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 912–923 ◾ Martin, J. [1998] Subtractive morphology as dissociation. In: Borer, H. [ed.] Proceedings of the the Seventh West Coast Conference on Formal Linguistics. Stanford, CA: 229–240.

subtraktives Morph

Minimalzeichen, dessen Ausdruck eine Tilgungsoperation ist. ▲ subtractive morph: minimal sign, whose expression is an operation of deletion. Für ein „Item-and-Arrangement“-Modell der Morphologie, das jede Äußerung vollständig und restlos als Verkettung von Minimalzeichen darstellen will, sind Fälle wie die in Tab. 1 dargestellten Plurale im hessischen Dialekt von Ebsdorf (s. Haas 1988) eine Herausforderung. Tab. 1: Plurale im Dialekt von Ebsdorf Singular

Plural

Bedeutung

/beɡ̊ s/

/beɡ̊ sə/

Büchse

/sob̥/

/sob̥ə/

Suppe

/mɛːd̥/

/mɛːd̥ər/

Markt

/baɪl/

/baɪlər/

Beil

/keənd̥/

/keən/

Kind

/dɔːɡ̊ /

/dɔː/

Tag

Während in den ersten beiden Beispielpaaren die Suffixe /ə/ ‘plural’ bzw. /ər/ ‘plural’ erkennbar sind, wird bei /keən/ und /dɔː/ der Inhalt ‘plural’ nicht durch eine hinzugefügte Phonemfolge ausgedrückt, sondern anscheinend durch die Tilgung des letzten Konsonanten der Basis. Die Bezeichnung subtraktives Morph (oder ungenau subtraktives Morphem) beruht auf der Annahme,

645 Suffix dass eine solche Tilgungsoperation als Ausdruck eines Minimalzeichens zulässig ist (vgl. subtractive morpheme bei Nida 1948: 441 sowie minus morpheme bei Harris 1942: 170f. und schon minus feature bei Bloomfield 1933: 217). Zuweilen wird subtraktives Morph[em] oder Minusmorph[em] irrtümlich auf das bezogen, was „subtrahiert“ wird. Was die betreffende grammatische Bedeutung ausdrückt, ist jedoch der Prozess der Tilgung und nicht das getilgte Material, das zudem kein Morph (Minimalzeichen) ist. Da Subtraktion als morphologischer Prozess kontra-ikonisch ist (einem Mehr an Inhalt entspricht ein Weniger an Ausdruck), steht zu erwarten, dass sie sehr selten vorkommt (s. Manova 2020 mit einem Überblick und Kurisu 2020 zu theoretischen Fragen). In der Tat sind überzeugende Beispiele für Subtraktion als Ausdruck einer grammatischen Bedeutung kaum zu finden (vgl. Dressler 2000; Mugdan 2015: 276–278), und es ist wohl immer eine andere Analyse möglich – so auch bei den hessischen Pluralen. Abgesehen davon, dass man diese Fälle wegen ihrer Seltenheit als schwache Suppletion einstufen sollte, kann man ein zugrundeliegendes Suffix /ə/ ‘plural’ und phonologische Regeln annehmen, die eher zufällig zu einer kürzeren Pluralform führen (vgl. Haas 1988: 47). In der Derivation sind verschiedene tatsächliche oder scheinbare Kürzungsprozesse von der Subtraktion zu unterscheiden (vgl. Dressler 2000: 583; Mugdan 2015: 277f.): Rückbildung ist ein diachroner Wandel, der für die synchronen Verhältnisse nicht relevant ist. Kurzwortbildungen, die zu Ausdrücken mit einer bestimmten phonologischen Struktur führen, haben einen anderen Charakter als Subtraktion, die durch das zu tilgende Material definiert ist. Wenn das Vorhandensein eines Suffixes mit dem Fehlen eines Suffixes (oder einem Null-Suffix) kontrastiert (wie bei pòrta ‘Tür’ – pòrt ‘Türen’ im ital. Dialekt von Mailand), liegt ebenfalls keine Subtraktion vor, und wenn ein Suffix bei der Anfügung eines weiteren Suffixes entfällt, kann es sich deshalb nicht um Subtraktion handeln, da bei ihr phonologische und nicht morphologische Elemente getilgt werden. Als Begleiterscheinung von Affigierung ist die Tilgung von Phonemen häufiger anzutreffen. So entfällt im Deutschen vor den Diminutivsuffixen -chen und -lein auslautendes -e oder -en regel-

mäßig, z.B. Katze > Kätz-chen, Kätz-lein; Garten > Gärt-chen, Gärt-lein. Tilgung kann ferner ein rein phonologischer Prozess sein, wenn auch zuweilen mit morphologischen Bedingungen. Beispielsweise wird im Deutschen in Substantivformen das zweite von zwei aufeinanderfolgenden /ə/ getilgt (*Feder-en → Feder-n), während in Adjektivformen mehrere /ə/ nacheinander möglich sind (heiterere). Joachim Mugdan ≡ Minusmorph → Kurzwortbildung; Morph; Morphem; Nullsuffix; Subtraktionsregel; subtraktive Morphologie; Tilgung

🕮 Bloomfield, L. [1933] Language. New York ◾ Dressler, W.U. [2000] Subtraction. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 581–587 ◾ Haas, W. [1988] Zur Morphologie der Mundart von Ebsdorf im Landkreis Marburg-Biedenkopf. Hildesheim [etc.] ◾ Harris, Z.S. [1942] Morpheme Alternants in Linguistic Analysis. In: Lg 18: 169–180 ◾ Kurisu, K. [2020] The nature of subtractive processes in morphology. In: Lieber, R. [Hg.] OEM. Vol. 2. New York: 1243–1265 ◾ Manova, S. [2020] Subtraction in morphology. In: Lieber, R. [Hg.] OEM. Vol. 2. New York: 912–923 ◾ Mugdan, J. [2015] Units of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [Hg.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 235–301 ◾ Nida, E.A. [1948] The identification of morphemes. In: Lg 24: 414–441.

Suffix

Affix, das nach seiner Basis steht. ▲ suffix: affix that comes after its base. Ein Suffix wird hinten an eine Basis angefügt, die einfach (monomorphemisch) oder komplex sein kann, z.B. -er in Zeichn-er, Unterzeichn-er, Schauspiel-er. Der Terminus Suffix ist in der lat. Form suffixum seit 1580 in der Semitistik belegt und wurde vor dem 19. Jh. kaum auf andere Sprachen übertragen (s. Lindner 2012: 146f.). Obwohl eine Bildung mit post- ‘nach’ passender wäre als mit sub- ‘unter’, konnte sich Postfix gegenüber Suffix nicht durchsetzen und wird nur von wenigen Autoren bevorzugt. Vor allem in der Slawistik wird ein Unterschied zwischen Suffix und Postfix gemacht, wobei Letzteres für Derivationsaffixe dient, die auf Flexionssuffixe folgen. Für Derivationsaffixe, die Flexionspräfixen vorangehen, wurde Antefix vorgeschlagen, mit Extrafix als Oberbegriff für Ante- und Postfixe (s. Haspelmath 1990: 63). In manchen Sprachen sind analoge Wortbildungen mit einheimischen Mitteln geläufig, z.B. niederl.

S

Suffix, abschließendes 646

S

achter-voegsel, lett. pie-dēklis, finn. jälki-liite. Dt. Nachsilbe ist deshalb unglücklich, weil der Ausdruck eines Suffixes größer oder kleiner als eine phonologische Silbe sein kann (vgl. niederl. blauw-achtig ‘bläu-lich’, buitenland-s ‘ausländisch’). Dt. Endung, engl. ending, frz. désinence, russ. okončanie usw. werden häufig anstelle von Suffix benutzt, können aber auch eine Lautfolge am Wortende unabhängig von ihrem morphologischen Status bezeichnen. Manchmal wird Suffix auf Derivationssuffixe beschränkt, während Endung für Flexionssuffixe (oder auch die Kette aller Flexionssuffixe in einem Wort) verwendet wird. In den Sprachen der Welt sind Suffixe weit häufiger als Präfixe, was teils sprachhistorisch, teils psycholinguistisch erklärt worden ist (s. Hall 2000; Stump 2001). Diachron entwickeln sich Suffixe oft aus Partikeln (mit Enklitika als Zwischenstadium) oder aus zweiten Kompositionsgliedern. Dabei ist insbesondere die Abgrenzung zwischen Kompositionsglied und Suffix oft schwierig, wird aber durch die Einführung einer dritten Kategorie, wie Suffixoid für -frei in gluten-frei, nicht einfacher. Die mit einem bestimmten Derivationssuffix gebildeten Wörter haben in der Regel Merkmale wie Wortart, Genus und Flexionsklasse gemeinsam (unitary output hypothesis). So sind z.B. Bildungen mit -ist (Flötist, Extremist usw.) maskuline Substantive mit Pl. -en. Das Derivationssuffix gilt daher als Kopf (head) des Derivats, der bestimmte Eigenschaften an das komplexe Wort „vererbt“. Es gibt jedoch auch „transparente“ Suffixe, die solche Eigenschaften nicht beeinflussen, z.B. das kaschubische Diminutivsuffix -k in główk-a zu głow-a ‘Kopf-nom.sg’ (feminines Substantiv), nic-k zu nic ‘nichts’ (Pronomen), rób-k-ac zu rob-ic ‘arbeit-inf’ (Verb). Dieses Beispiel zeigt auch, dass ein Derivationssuffix nicht notwendigerweise nur an Basen angefügt werden kann, die hinsichtlich der Wortart einheitlich sind (unitary base hypothesis; s. z.B. Scalise 1984: 137). Joachim Mugdan

↔ Präfix → § 16; Affix; Derivationssuffix; Diminutivsuffix; Kopf; Partikel; Suffixoid; Wortart ⇀ Suffix (Gram-Formen; Onom; CG-Dt) ⇁ suffix (CG-Engl; Typol)

🕮 Hall, C.J. [2000] Prefixation, suffixation and circumfixation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1) Berlin [etc.]: 535–545 ◾ Haspelmath, M. [1990] The grammaticization of passive morphology. In: StLg 14: 25–72. ◾

Lindner, T. [2012] Indogermanische Grammatik, Band IV/1 Komposition, Lieferung 2. Heidelberg ◾ Mugdan, J. (2015): Units of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 235–301 ◾ Scalise, S. [1984] Morphology in Generative Grammar. Dordrecht ◾ Stump, G.T. [2001] Affix position. In: Haspelmath, M./ König, E./ Oesterreicher, W./ Raible, W. [eds.] Language Typology and Language Universals (HSK 20.1) Berlin [etc.]: 708–714.

Suffix, abschließendes → abschließendes Suffix

Suffix, erweitertes → Suffixvariante

Suffix, intensivierendes → Augmentativsuffix

Suffix, kohärentes → kohärentes Suffix

Suffix, leeres → leeres Affix

Suffix, nicht-kohärentes → nicht-kohärentes Suffix

Suffix, nicht-wortwertiges → kohärentes Suffix

Suffix, schließendes

→ abschließendes Suffix

Suffix, verdunkeltes → verdunkeltes Suffix

Suffix, versteinertes → verdunkeltes Suffix

Suffix, wortwertiges

→ nicht-kohärentes Suffix

Suffixallomorphie ≡ Suffixvariation

Suffixalternanz ≡ Suffixvariation

Suffixderivation

→ Derivationssuffix

647 Suffixentstehung

Suffixentstehung

Herausbildung neuer Derivationssuffixe. ▲ suffix emergence: development of new derivational suffixes. Die Entstehung von Suffixen erfolgt auf verschiedene Art und Weise und mit Unterschieden in den einzelnen Sprachen. Die folgende Übersicht schließt an die Darstellungen von Stein (1970), Heidermanns (2004), Rainer (2015), Pharies (2015) und Müller (2015) an, wobei der Hinweis wichtig ist, dass es eine allgemein akzeptierte Klassifikation und Terminologie nicht gibt. (a) Grammatikalisierung: Für die Erweiterung des Affixbestands spielt die Grammatikalisierung von Kompositionsgliedern in Sprachen wie dem Englischen oder Deutschen eine zentrale Rolle. Auf diese Weise entstehen schon im Ae. und Ahd. Bildungen mit nominalen „Kompositionssuffixen” sowie verbale „Präfixkomposita“ (Krahe/Meid 1967: 36, 218). Die entsprechenden Wortbildungselemente stehen mit mehr oder weniger deutlich entkonkretisierter Bedeutung neben den Substantiven, Adjektiven, Adverbien bzw. Präpositionen, aus denen sie entstanden sind. Dies gilt im Ahd. etwa für substantivisches -tům (< tům ‘Urteil, Würde, Herrschaft, Stand’), -scaf(t) (< scaf ‘Ordnung’, scaft ‘Schöpfung’) und -heit (< heit ‘Person, Geschlecht, Stand, Art’), für adjektivisches -līh (< līh ‘Körper, Leichnam, Gestalt’), -sam (< sama/samo ‘ebenso, derselbe’), -haft (< haft (Verbaladjektiv) ‘behaftet, gebunden’), -lōs (< lōs ‘los, von, außerhalb von’) und -bāri (< bāri (Verbaladjektiv zu beran ‘hervorbringen, tragen’). Während in diesen Fällen der Grammatikalisierungsprozess seit dem Spätmhd. in der Regel abgeschlossen ist und neben diesen Suffixen (vgl. nhd. Irr-tum, Herr-schaft, Schönheit, glück-lich, bedeut-sam, lach-haft, würde-los, mach-bar) kein freies Lexem mehr steht, führt die spätere, (fr)nhd. Grammatikalisierung nicht mehr zur Aufgabe der Ausgangslexeme, wie etwa bei den substantivischen Kollektivsuffixen -werk (< Werk ‘Arbeit, Tätigkeit, Erzeugnis’; z.B. Laubwerk ‘Gesamtheit der Blätter eines Baumes/Strauches’) und -wesen (< Wesen ‘Lebewesen, Eigenart/ Charakter von jmdm./etw.’; z.B. Schul-wesen ‘alles, was mit der Schule zusammenhängt’), dem relationalen adjektivischen Suffix -mäßig (< mäßig ‘relativ gering, mittelmäßig’; z.B. vorschrifts-mäßig ‘der Vorschrift entsprechend’) oder dem

adverbialen Suffix -weise (< Weise ‘Art, Form’; z.B. gruppe-n-weise ‘in Form von Gruppen’). Aus diesem Grund werden entsprechende Elemente zum Teil als Affixoide (Suffixoide) bezeichnet und von den nur gebunden auftretenden Affixen begrifflich unterschieden. In der Romania spielt die Entstehung von Suffixen aus Grammatikalisierungsprozessen dagegen keine Rolle. Nur das Adverbsuffix -mente (z.B. span. claramente), das auf absolute Ablative im Lateinischen (z.B. clara mente ‘mit klarem Geist’) zurückgeht, kann als Beispiel für Grammatikalisierung gelten. (b) Homonymisierung: Lautwandel hat großen Einfluss auf die Wortbildung und kann auch zur Entstehung neuer Suffixe führen. So erweisen sich im Deutschen Bildungen mit dem substantivischen Suffix -e etymologisch einerseits als durch Deklinationstypen (Stammbildungssuffixe) bestimmte Wortbildungen wie etwa Sprache (ehemaliger -ō-Stamm), andererseits aber auch als mit unterschiedlichen Wortbildungsmorphemen gebildete Lexeme, wie etwa Glaube (ehemaliges deverbales -ni-Derivat zu glauben) oder Länge (ehemaliges -ī-Derivat zu lang), es handelt sich also um einen Fall von Suffixhomonymisierung. Ein weiteres Beispiel ist die Homonymisierung des germanischen Bildungselements *-warja (‘bewohnend’) mit dem Lehnsuffix -āri (< lat. -ārius) im Ahd. Dadurch erhält das nomen agentis-Suffix -āri die zusätzliche, produktive Wortbildungsbedeutung ‘Person, die aus … stammt/in … wohnt’ (z.B. ahd. burgāri ‘Burgbewohner’, romāri ‘Römer’) mit Toponymen als Wortbildungsbasis. (c) Reanalyse: Eine weitere Form der Ausbildung neuer Sufixe besteht in einer Reanalyse der Morphemfuge, wobei zwei unterschiedliche Fälle – Suffixübertragung und Suffixverschmelzung – zu unterscheiden sind. Ein Beispiel für „Suffixübertragung“ (Henzen 1965: 114) stellt die Entstehung des verbalen Suffixes -ig dar. Es ist aus desubstantivischen -ig-Adjektiven entstanden, die durch Konversion verbalisiert wurden (z.B. Kraft < kräft-ig < kräftig-en). Während noch im Ahd. entsprechende Verben in der Regel zu -igAdjektiven gebildet sind (nicht aber zum Beispiel krūz-ig-ōn ‘kreuzigen’ < krūzi ‘Kreuz’), entstehen schon mhd. mehrere Verben mit reanalysiertem verbalem Suffix -ig, die nicht deadjektivisch, sondern desubstantivisch gebildet sind, also keine

S

Suffixentstehung 648

S

Konversionen, sondern Suffixderivate darstellen. So entsteht zu mhd. pīn ‘Strafe, Qual’ das Suffixderivat pīn-ig-en ‘strafen, quälen’, das zum Nhd. hin die ältere, durch Nebensilbenabschwächung undeutlich gewordene Konkurrenzbildung mhd. pīn-en (< ahd. pīn-ō-n) verdrängt. Während mit der Entstehung des verbalen Wortbildungsmorphems -ig ein Wandel der Wortbildungsart verbunden ist, gilt dies für „Suffixverschmelzung“ (Henzen 1965: 113f.) nicht. Hier wird durch Reanalyse die (Sprechsilben-)Grenze zwischen Wortbildungsbasis und Suffix so verschoben, dass das Suffix um Endelemente des Basisworts erweitert wird. Auf diese Weise entstehen neue Suffixe bzw. Suffixallomorphe. Dazu zählen folgende Beispiele: – Suffix -ling aus Derivaten mit Suffix -ing (z.B. ahd. edil-ing ‘Edelmann’ < edili ‘von adeliger Herkunft’ > Reanalyse: edi-ling); danach auch mhd. vrisch-linc (neben vrisch-inc) ‘junges Tier’ < vrisch ‘jung’; nhd. Roh-ling ‘roher Mensch, Werkstück, das noch weiter bearbeitet werden muss’ < roh ‘derb, verletzend, nicht verarbeitet’); – Suffix -ner aus Derivaten mit Suffix -er (z.B. mhd. wagen-er ‘Wagenmacher, Fuhrmann’ < wagen ‘Wagen’ > Reanalyse: wage-ner > Wagner; danach auch nhd. Glöck-ner ‘jmd., der für das Läuten der Glocken zuständig ist’ < Glocke; Rent-ner < Rente); – Suffix -ler aus Derivaten mit Suffix -er (z.B. mhd. gürtel-er ‘Handwerker, der u.a. Gürtel mit Verzierungen herstellt’ < gürtel ‘Gürtel’ > Reanalyse: gürte-ler > Gürtler; danach auch nhd. Sport-ler < Sport; Künst-ler < Kunst); – Suffix(allomorph) -keit aus Derivaten mit Suffix -heit (z.B. mhd. üppec-heit ‘Überfluss, Vergänglichkeit, Übermut’ < üppec ‘unnütz, nichtig, leichtfertig, übermütig’ > Reanalyse: üppe-cheit > üppe-keit > nhd. Üppig-keit mit Restituierung der Adjektivendung -ig; danach auch nhd. Wirksam-keit < wirksam; Betulich-keit < betulich bzw. Dreist-igkeit < dreist; Genau-igkeit < genau). Henzen (1965: 114, 159, 200) spricht in solchen Fällen auch von „Sekundärsuffixen“ bzw. „Wuchersuffixen“. (d) Wortbildungsmorpheme aus Flexiven: Die Enstehung von Derivationssuffixen aus Flexiven (engl. deinflectionalization), teils der „Degrammatikalisierung“ subsumiert (vgl. Rainer 2015: 1769), ist im Allgemeinen wenig ausgeprägt. Von den deutschen Wortbildungsmorphemen, die

auch gegenwartssprachlich noch in Gebrauch sind, haben nur das Adverbsuffix -s sowie die adjektivischen Zirkumfixe ge-…-t und be-…-t eine flexivische Grundlage. Das adverbiale Suffix -s entwickelte sich aus der Genitiv-Singular-Form starker Maskulina/ Neutra, die schon ahd. auch in adverbialer Verwendung nachweisbar sind (vgl. des abends > abends ‘abends’). -s wurde dann als Adverbsuffix reanalysiert und steht schon ahd. flexivisch unberechtigt auch bei Feminina (naht-es > nacht-s ‘nachts’). Es entwickelte sich dann zu einem Adverbmarker, der in Kombination mit anderen Letztgliedern von Adverbien auch eigene Suffixe ausbildete (z.B. nhd. -mals in nie-mals). Auch die adjektivischen Zirkumfixbildungen mit ge-…-t und be-…-t (z.B. nhd. ge-blüm-t ‘mit Blumenmuster versehen’, be-brill-t ‘mit einer Brille versehen’) sind aus dem Muster des Partizip II schwacher Verben reanalysiert. Formal wirken sie wie departizipiale Konversionen, doch lassen sie sich keinem Verbparadigma zuordnen. Man bezeichnet sie deshalb auch als Pseudopartizipien. Sie stellen ornative desubstantivische Zirkumfixbildungen dar. Ein weiteres Beispiel ist das schwedische Suffix -er, das sich von einer Flexionsendung (Nom. Sg. Mask.) zu einem semantisch angereicherten Derivationssuffix zur Bildung deadjektivischer Sub­ stantive in der Bedeutung ‘Person mit der Eigenschaft x’ (z.B. en dummer ‘eine dumme Person’) gewandelt hat (vgl. Rainer 2015: 1769). (e) Ellipse: Auch durch Ellipse von Bezeichnungen mit Wortgruppenstruktur können neue Suffixe entstehen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist die Entstehung des lateinischen nomen-agentisSuffixes -ārius: Ausgangspunkt ist das adjektivische Suffix -ārius zur Bildung desubstantivischer Relationsadjektive, vgl. lat. ferr-ārius ‘zum Eisen gehörig’ (< ferrum ‘Eisen’), das in Verbindung mit dem Substantiv faber die Handwerksbezeichnung faber ferrārius ‘Schmied’ bildet. Durch Ellipse des Substantivs und Übergang („Absorption“, vgl. Rainer 2015: 1773) von dessen Bedeutung auf das Suffix entsteht durch Reanalyse das substantivische Suffix -ārius, das sich dann zu einem sehr produktiven und auch an viele europäische Sprachen weitervererbten Lehnsuffix entwickelt hat. Während Ellipse für die Suffixentstehung in der

649 Suffixerweiterung Romania große Bedeutung hat, ist sie in der Germania unbedeutend. (f) Entlehnung: Sprachkontakt spielt für die Suffixentstehung eine zentrale Rolle, wobei das gräkolateinische Erbe dominiert. So liegen die Anfänge der deutschen Fremdwortbildung mit dem Fremdsuffix ahd. -āri (< lat. -ārius) schon im Frühmittelalter und im 12./13. Jh. kommen weitere Suffixe französischer bzw. lateinischer Herkunft hinzu (mhd. -(er)īe: voget-īe ‘Amtssitz eines Vogts’; -ier-: kurz-ier-en ‘kürzen’). Seit der Frühen Neuzeit setzt dann eine differenziertere Ausformung der Fremdwortbildung ein. Substantivische Suffixe gehen voran (vgl. -ismus, -ist, -ant), adjektivische folgen im 18. Jh. (vgl. -abel/ibel, -iv, -ös/-os). Hinsichtlich ihrer Produktivität unterscheiden sich die Fremdsuffixe allerdings deutlich: Viele sind im Rahmen von Fremdwortbildungen im Deutschen zwar analysierbar, haben aber keinen Modellcharakter (z.B. Baronesse, Doktor-and, atom-ar), während die Anzahl an Fremdmorphemen mit signifikant hoher Produktivität eher gering ist (z.B. die substantivischen Suffixe -ismus, -ist, -ität und -ion, verbales -(is)‌ier). Peter O. Müller

→ § 39; Degrammatikalisierung; Derivationssuffix; Fremd-

wortbildung; Grammatikalisierung; homonymes Morphem; Pseudopartizip; Suffixkombination; Suffixverschmelzung; Tilgung; Wortbildungsbedeutung; Wortbildungshomonymie; Zirkumfix ⇀ Suffixentstehung (HistSprw; Gram-Formen)

🕮 Habermann, M. [2015] Grammaticalization in German wordformation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1794–1810 ◾ Heidermanns, F. [2004] Zur Typologie der Suffixentstehung. In: IdgF 109: 1–20 ◾ Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3. durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Krahe, H./ Meid, W. [1967] Germanische Sprachwissenschaft. III. Wortbildungslehre. Berlin ◾ Müller, P.O. [2015] Historical word-formation in German. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1867–1914 ◾ Pharies, D. [2015] The origin of suffixes in Romance. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1854–1866 ◾ Rainer, F. [2015] Mechanisms and motives of change in word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1761–1781 ◾ Stein, G. [1970] Zur Typologie der Suffixentstehung (Französisch, Englisch, Deutsch). In: IdgF 75: 131–165.

Suffixerweiterung

in ihrer Distribution beschränkte Elemente, die in

Abhängigkeit von der Lautstruktur von Basis und Suffix vor bestimmten Suffixen auftreten. ▲ morpheme extension: distributionally restricted formatives that appear before certain suffixes depending on the phonetic structure of both base and suffix. Als Suffixerweiterung werden in synchroner Sicht vor allem bei substantivischen und adjektivischen Derivaten zwischen Basis und Suffix vorkommende Elemente bezeichnet, die distributiv wesentlich stärker beschränkt sind als die bei den Kompositionen vorkommenden Fugenelemente und häufig an ganz bestimmte Basen oder Suffixe gebunden sind wie -n- bei Afrika-n-er, -es- in vietnam-es-isch oder -er- in läch-er-lich (Fleischer/ Barz 2007: 32). Der Terminus Suffixerweiterung bzw. Suffixvariante (Kühnhold/Wellmann 1973: 21f.; Kühnhold/Putzer/Wellmann 1978: 27ff.) suggeriert dabei eine engere Zugehörigkeit zum Suffix, was aber zweifelhaft ist. Entsprechende Elemente sind wohl weder der ersten noch der zweiten Konstituente einer Wortbildungskonstruktion zuzuordnen, also als Fugenelemente zu betrachten. Diese Loslösung von einer engeren Verbundenheit mit dem Suffix hat den Vorteil, dass nicht ein ausgeufertes Inventar der Wortbildungsmorpheme des Deutschen angenommen werden muss, was bereits allein die Variantenfülle bei den -ischDerivaten mit fremdsprachlicher Basis verdeutlicht: lexik-al-isch, tabell-ar-isch, marokk-an-isch, problem-at-isch, pythagor-e-isch, theor-et-isch, chin-es-isch, kongo-les-isch, dalmat-in-isch, folklor-ist-isch, heid-n-isch, illus-or-isch (Fleischer/ Barz 2007: 33 nach Gumirowa 1981: 99). Eine weitere Sichtweise (vgl. Fuhrhop 1998) geht davon aus, dass entsprechende Elemente zur Derivationsstammform gehören, also Basisallomorphie vorliegt (z.B. Derivationsstammform amerikan- + Suffix -isch > amerikanisch). Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von suffixerweiternden Elementen ist bei einheimischen und fremdsprachigen Konstituenten bei ihrer Kombination unterschiedlich groß, ebenso bei den Wortbildungsarten Komposition und Derivation. Sie sind semantisch leer (Fleischer/Barz 2007: 33). ≡ Morphemerweiterung

Eckhard Meineke

S

Suffixkombination 650

→ Derivationsbasis; Derivationsstammform; Fremdwortbildung; Fugenelement; Suffix ⇀ Suffixerweiterung (Gram-Formen)

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Fuhrhop, N. [1998] Grenzfälle morphologischer Einheiten. Tübingen ◾ Gumirowa, L. [1981] Probleme der Morphonologie in der deutschen Wortbildung (dargestellt an den Adjektivderivaten auf -ig, -isch und -lich). Diss., Universität Leipzig ◾ Kühnhold, I./ Putzer, O./ Wellmann, H. [1978] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 3. Hauptteil: Das Adjektiv. Düsseldorf ◾ Seiffert, A. [2009] Inform-ieren, Informat-ion, Info-thek. Probleme der morphologischen Analyse fremder Wortbildungen im Deutschen. In: Müller, P.O. [Hg.] Studien zur Fremdwortbildung. Hildesheim [etc.]: 19–40 ◾ Wellmann, H. [1973] Verbbildung durch Suffixe. In: Kühnhold, I./ Wellmann, H. [1973] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 1. Hauptteil: Das Verb. Düsseldorf: 17–140.

Suffixkombination

Die Entstehung von Suffixkomplexen durch Reanalyse, Kombination oder Erweiterung. ▲ suffix combination: emergence of suffix complexes through reanalysis, combination or extension.

S

Suffixkombination entsteht zum einen dadurch, dass suffigierte Wortstämme/-basen als Teile von Suffixen reanalysiert und resegmentiert werden, also eine Suffixerweiterung vorliegt. Diese Resegmentierung erfolgt meist ohne Berücksichtigung von Morphemgrenzen. Zum anderen bezieht sich Suffixkombination auf die Verknüpfung von Suffixen, die unabhängig voneinander existieren. Beim Substantiv gibt es z.B. folgende Suffixkombinationen: -ler und -ner wie in Bettler oder Wagner (< mhd. betel-er, wagen-er) (Fleischer 1982: 144f.; Fleischer/Barz 2012: 201); -chen < mhd. -chīn (< mhd. -ch- + -īn) (Fleischer/Barz 2012: 232); -igkeit (< mhd. -ekeit bei Adjektiven auf -ig: trūrec > trūrekeit) wie in Genauigkeit oder Gerechtigkeit (vgl. Henzen 1965: 111, 113–114; Erben 2000: 138). Folgende Suffixkombinationen lassen sich beispielsweise beim Adjektiv belegen: -arisch (solid-ar-isch, prolet-ar-isch) wie in dokumentarisch, disziplinarisch (vgl. Fleischer 1982: 265–266); -erlich wie in fürchterlich, leserlich (< mhd. -e(n)-lich) (vgl. Fleischer 1982: 271); -iell wie in finanziell, intellektuell (< bakteri-ell, materi-ell) (vgl. Fleischer 1982: 285). Beim Verb treten u.a. folgende Suffixkombinationen auf: -eln und -ern (< -el, -er) wie in hüsteln und steigern (vgl. Fleischer 1982: 321f.); -ieren (< frz. Verben auf -er) wie in buchstabieren, hofieren (vgl.

Henzen 1965: 228f.; Fleischer 1982: 322f.); -igen (< fertig-en; heilig-en) wie in endigen, reinigen (vgl. Henzen 1965: 225f.; Fleischer 1982: 324). Gerade im Dialekt sind Suffixkombinationen mitunter verbreitet. So werden in Teilen des Westmitteldeutschen einfache Diminutivsuffixe (Kindchen) durch kombinierte Suffixe (Kind-el-chen) ersetzt (vgl. Bellmann/Herrgen/Schmidt 2002). Henzen (1965: 147) vermutet, dass diese Formen „durch das ganze Mittelalter hindurch üblich“ waren. Hier zeigt sich, dass Suffixkombination auch der semantischen Verdeutlichung/Verstärkung dienen kann. Bei Suffixkombination durch morphologische Reanalyse handelt es sich häufig um einen diachronen Prozess, d.h. er ist auf bestimmte Sprachstufen beschränkt und von daher heute kaum noch transparent bzw. produktiv. Beispielsweise ist mhd. -eclīch(e) entstanden durch die Verknüpfung von -līch und Wortstämmen auf -ec wie in inneclīch, gemeineclīch oder worteclīch (vgl. Henzen 1965: 203). Die Kombinierbarkeit von Basis und Suffix sowie von unabhängig voneinander produktiven Suffixen kann durch phonologische, morphologische, semantische oder syntaktische Eigenschaften der Basis oder der beteiligten Suffixe restringiert sein. So tritt im Englischen beispielsweise das Suffix -ify nur an endbetonte Basen (test > testify), während sich das Suffix -ation nur an die verbalen Suffixe -ize, -ify und -ate heftet (vgl. Bauer/ Lieber/Plag 2013: 494). Die Kombinierbarkeit von Suffixen ist hierarchisch geprägt in dem Sinne „that a suffix occurring inside another suffix cannot occur outside that suffix“ (Bauer/Lieber/Plag 2013: 495). Dies wiederum ist von der Trennbarkeit von Affixen abhängig, denn Affixe, die leichter trennbar sind, treten außerhalb von weniger trennbaren Affixen auf. Erklärende Faktoren sind hier (a) Frequenz und (b) Produktivität: Je weniger frequent Bildungen mit einem Affix sind, desto höher ist die Trennbarkeit dieses Affixes. Niedrigfrequenz geht dabei mit hoher Produktivität einher, so dass Suffixe, die hierarchisch näher an der Basis stehen, weniger produktiv und weniger leicht trennbar sind als Suffixe, die hierarchisch weiter weg von der Basis stehen (und somit produktiv und weniger leicht trennbar sind) (Bauer/ Lieber/Plag 2013: 496f.). Aronoff/Fuhrhop (2002) zeigen, dass geschlos-

651 Suffixoid sene Suffixe weitere Ableitungsprozesse verhindern. Geschlossene Suffixe sind solche, für die keine Ableitungen mittels Wortbildungssuffixen belegt sind, obwohl sie aus unterschiedlichen strukturellen Gründen erwartbar wären. Hierzu gehören im Deutschen -e, -heit/-keit/-igkeit, -in, -isch, -ling und -ung (vgl. Aronoff/Fuhrhop 2002: 460f.). Diese geschlossenen Suffixe können im Deutschen durch Fugenelemente geöffnet und so Gegenstand von Kompositionen werden: Schönheit+s+königin, Sicherung+s+verwahrung etc. Das Englische dagegen weist keine Fugenelemente und – bis auf -ity – geschlossenen Suffixe auf (vgl. Aronoff/Fuhrhop 2002: 476f., 488). Die Suffixkombination ist hier davon abhängig, ob es sich um lateinische oder germanische Suffixe handelt: „Latinate suffixes do not attach frequently to free monomorphemic stems, while Germanic suffixes, for the most part, do (this is the monosuffix constraint). Latinate suffixes attach frequently to free polymorphemic stems, while Germanic suffixes (except -ness) do not. So, the two types of suffixes are largely in complementary distribution“ (Aronoff/Fuhrhop 2002: 476). Sascha Michel

→ Diminuierung; Fugenelement; Produktivität; Suffix; Suffixentstehung; Suffixerweiterung; Suffixverschmelzung

⇀ Suffixkombination (Gram-Formen)

🕮 Aronoff, M./ Fuhrhop, N. [2002] Restricting Suffix Combinations in German and English: Closing Suffixes and the Monosuffix Constraint. In: NLg&LingT 20(3): 451–490 ◾ Bauer, L./ Lieber, R./ Plag, I. [2013] The Oxford Reference Guide to English Morphology. Oxford ◾ Bellmann, G./ Herrgen, J./ Schmidt, J. E. [2002] Mittelrheinischer Sprachatlas (MRhSA). Band 5. Morphologie. Forschungsstand. Strukturgrenzen. Morphologische Karten. Register. Tübingen ◾ Erben, J. [2000] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 4., akt. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W. [1982] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Auflage. Tübingen.

Suffixoid

Bestandteil eines Wortes, dessen Klassifikation als zweites Kompositionsglied oder als Suffix gewisse Schwierigkeiten bereitet. ▲ suffixoid; semi-suffix: part of a word that is somewhat difficult to classify as either a second member of a compound or as a suffix. Der Terminus Suffixoid, neben dem auch Halbsuffix (engl. semi-suffix, frz. demi-suffixe, russ. po-

lusuffiks) gebräuchlich ist, ist in seiner ital. Form bei Migliorini (1939: 258) für Elemente wie -fero in aurifero ‘goldhaltig’ belegt. Er wurde von Malkiel (1966: 322f.) für Wortausgänge wie -er in engl. hammer übernommen, die wie Suffixe aussehen, sich aber nicht morphologisch als solche analysieren lassen. Im Englischen kommt „suffixoid“ allerdings auch als Bezeichnung für ein gebundenes Element vor, zu dem es kein entsprechendes Simplex gibt (auch „combining form“ oder „Konfix“ genannt), insbesondere, wenn es nur mit ebenfalls gebundenen Elementen kombiniert wird, z.B. engl. -logy in philology (s. Stein 1977: 146). In die Germanistik – zunächst in der DDR (s. Fleischer 1972: 137) und bald darauf in anderen Ländern – fand Suffixoid offenbar unter dem Einfluss russischer Autoren Eingang, unter denen der Terminus wohl unabhängig von den Romanisten aufkam. So wurde es in deutschen Wortbildungslehren der 1970er und 1980er Jahre allgemein üblich, Suffixoide als Übergangskategorie zwischen zweiten Kompositionsgliedern und Suffixen anzusetzen. Zu den gängigen Beispielen zählten -frei in glutenfrei und -zeug in Schwimmzeug, wobei vor allem die Reihenbildung (hohe Produktivität) und die vom entsprechenden Simplex abweichende Bedeutung für die Einordnung als Suffixoid maßgeblich waren. Der Grad der Produktivität ist jedoch kein überzeugendes Kriterium für die Unterscheidung zwischen Affix und Kompositionsglied, und grundsätzlich kann ein Kompositionsglied in nur einer der Bedeutungen des zugehörigen Simplex auftreten oder sogar in einer verwandten Bedeutung, die das Simplex nicht hat. Daher kann man die genannten Fälle durchaus als Komposition einstufen, zumal sich X-frei regelmäßig als frei von X paraphrasieren lässt und Schwimmzeug ‘Dinge zum Schwimmen’ semantisch die gleiche Zweckrelation aufweist wie die eindeutigen Komposita Schwimmweste ‘Weste zum Schwimmen’ oder Schwimmsachen ‘Sachen zum Schwimmen’ (vgl. Olsen 1988). Dagegen, bei Klassifikationsproblemen eine Zwischenkategorie für unklare Fälle einzuführen, spricht generell, dass damit eine doppelte Abgrenzung notwendig wird – hier zwischen Suffixoid und Suffix einerseits und Suffixoid und Kompositionsglied andererseits. Daher wird Suffixoid

S

Suffixvariante 652 oft nicht als Bezeichnung einer eigenständigen Kategorie verstanden, sondern lediglich als Hinweis auf eine gewisse Abweichung vom prototypischen Kompositionsglied in Richtung Suffix. Joachim Mugdan ≡ Halbsuffix → § 19; Affix; Affixoid; Grammatikalisierung; Konfix; Präfixoid ⇀ Suffixoid (Gram-Formen; HistSprw)

🕮 Fleischer, W. [1972] Tendenzen der deutschen Wortbildung. In: DaF 9: 132–140 ◾ Malkiel, J. [1966] Genetic analysis of word formation. In: Sebeok, T.A./Ferguson, C.A./ Valdman, A. [eds.] Current Trends in Linguistics 3: Theoretical Foundations. The Hague [etc.]: 305–364 ◾ Migliorini, B. [1939] Note sugli aggettivi derivati da sostantivi. In: Sechehaye, A. et al. [Hg.] Mélanges de linguistique offerts à Charles Bally. Genève: 251–262 ◾ Olsen, S. [1988] Flickzeug vs. abgasarm. Eine Studie zur Analogie in der Wortbildung. In: Gentry, F.G. [Hg.] Semper idem et novus. Festschrift for Frank Banta. Göppingen: 75–97 ◾ Stein, G. [1977] English combining-forms. In: Ariste, P. et al. [Hg.] Linguistica IX. Tartu: 140–148.

Suffixvariante

Allomorph eines Derivationssuffixes. ▲ suffix variant: allomorph of a derivational suffix.

S

Als Beispiele für Suffixvarianten im Deutschen werden u.a. -er in Schreib-er und -ler in Künstler sowie ier[en] in telefon-ieren und -isier[en] in monopol-isieren genannt (das eingeklammerte -en ist das Infinitivsuffix, das in der Zitierform auftritt, aber nicht Teil des Derivationssuffixes ist). Es sind also insbesondere solche Fälle gemeint, in denen die eine Variante gegenüber der anderen um einen zusätzlichen Ausdruck erweitert ist, der keinen klaren Inhalt hat, z.B. -is- in -isier-. Um hier jeweils Allomorphe desselben Morphems annehmen zu können, ist nicht die Ähnlichkeit im Ausdruck ausschlaggebend (auch wenn manche sie als zusätzliche Bedingung fordern), sondern die Frage, ob die Allomorphe komplementär verteilt sind, d.h. sich gegenseitig ausschließen (oder in freier Variation stehen, d.h. beliebig austauschbar sind). Im einfachsten Fall lässt sich die Verteilung aufgrund von phonologischen Eigenschaften der Basis beschreiben; beispielsweise tritt im Niederländischen (mit Ausnahmen) das Nominalisierungssuffix -aar nach /əl/, /ən/, /ər/ auf (z.B. luister-aar ‘Zuhörer’), -der nach Vollvokal + /r/ (z.B. bestuur-der ‘Lenker, Verwalter’) und -er sonst (z.B. et-er ‘Esser’). Manchmal ist ein morphosyntaktisches Merkmal relevant, das ohnedies benötigt wird. So werden im Albanischen

Diminutive von maskulinen Substantiven mit -th gebildet, von femininen mit -z; das inhärente Genusmarkmal der Substantive bestimmt unter anderem wie im Deutschen die Form begleitender Adjektive. Oft ist es jedoch notwendig, die Basen, die ein bestimmtes Allomorph verlangen, mit einem besonderen Merkmal zu versehen, was einer Aufzählung gleichkommt. Das ist in der Flexion allgemein akzeptiert, sodass z.B. im Lexikon Fett für -e ‘plural’ spezifiert wird, Bett für -en ‘plural’ und Brett für -er ‘plural’. Ob man analog dazu bezüglich der Wortbildung z.B. Telefon für -ier[en] und Monopol für -sier[en] spezifizieren sollte, ist weniger klar, zumal es Dubletten mit gleicher oder verschiedener Bedeutung gibt (z.B. nasalieren/nasalisieren, schablonieren ‘mit/nach einer Schablone bearbeiten’/schablonisieren ‘in eine Schablone pressen [bildlich]’). Bei Ansätzen wie der „Construction Morphology“, die für alle etablierten Wortbildungen einen Eintrag im Lexikon vorsehen und darüber Regularitäten verschiedenen Abstraktionsgrads formulieren, die auch als Muster für Neubildungen dienen können, muss nicht entschieden werden, wo Allomorphe vorliegen und wo verschiedene Morpheme. So kann es z.B. neben den vorherrschenden Mustern „Verb + -er“ und „Substantiv + -ler“ auch Bildungen wie Bratscher und Versöhnler geben, die allgemeineren, nicht auf eine bestimmte Wortart eingeschränkten Schemata genügen. Jedenfalls empfiehlt es sich, den Begriff der Suffixvariante in der Derivation auf Fälle zu beschränken, in denen es eine klare und ausnahmslose Verteilung gibt. Häufig bieten sich auch andere Analysen an; z.B. ist es möglich, Erweiterungen wie -is- in -isier- als leere Affixe (Interfixe) zu betrachten oder die Variation dem Stamm und nicht dem Suffix zuzuschreiben (vgl. z.B. Donalies 2005: 32; Dressler 2015: 503–506; Roché 2015: 555–557). So kann man bei Afrikaner und afrikanisch statt Suffixvarianten -er/-aner und -isch/-anisch einen besonderen Derivationsstamm Afrikan-annehmen, an den die gewöhnlichen Suffixe -er und -isch antreten (vgl. Fuhrhop 1998: 22–33). Joachim Mugdan ≡ erweitertes Suffix → Allomorph; Derivationsstammform; leeres Affix; Suffixvariation ⇀ Suffixvariante (Gram-Formen)

653 Suffixverschmelzung 🕮 Donalies, E. [2005] Die Wortbildung des Deutschen. 2. Aufl. Tübingen ◾ Dressler, W.U. [2015] Allomorphy. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 500–516 ◾ Fuhrhop, N. [1998] Grenzfälle morphologischer Einheiten. Tübingen ◾ Roché, M. [2015] Interfixes in Romance. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 551–568.

Suffixvariation

kontextabhängige formale Variante eines Suffixes. ▲ suffix allomorphy: contextually dependent variant of a suffix.

Suffixvariationen sind komplementär verteilte unterschiedliche Realisierungsformen eines Suffixes. Sie unterscheiden sich „nur in ihrer phonologischen Substanz“ (Fuhrhop 1998: 8), wobei in der Regel eine gewisse phonologische Ähnlichkeit besteht (-heit/-keit/-igkeit). Funktional bzw. semantisch differieren sie typischerweise nicht. Die Distribution der Suffixvarianten hängt von bestimmten Eigenschaften der Derivationsbasis ab, bei -heit/-keit/-igkeit beispielsweise von deren Morphemstruktur und von ihrem Wortbildungstyp (Fleischer/Barz 2012: 214). Simplizische Basen werden mit -heit kombiniert (Derb-, Trockenheit), komplexere mit -keit oder -igkeit (Flüssig-, Ergebnislosigkeit). Adjektive mit den Suffixen -bar, -ig, -isch, -lich, -mäßig und -sam verbinden sich mit -keit (Tragbar-, Behutsamkeit), solche auf -haft und -los mit -igkeit (Boshaft-, Ruhelosigkeit). Inwiefern verschiedene Suffixformen in der Gegenwartssprache als eigenständige Suffixe oder als Suffixvarianten anzusehen sind, wird v.a. davon bestimmt, ob die verschiedenen Formen funktionale Unterschiede aufweisen oder in Bezug auf ihre mögliche Basiswortart spezialisiert sind. Danach gelten -heit/-keit/-igkeit als Allomorphe, da sie funktional und bezüglich der Basiswortart nicht variieren. Die Formen -er und -ler hingegen werden als zwei verschiedene Suffixe aufgefasst. Während -er vornehmlich an verbale Basen tritt (Maler), bevorzugt -ler nominale Basen (Sportler). Die Verbindung mit der jeweils anderen Basiswortart ist jedoch bei beiden Suffixen nicht ausgeschlossen (Glaser, Versöhnler). Eine Bestimmung alternierender Formen als Allomorphe oder verschiedene Suffixe ist nicht in allen Fällen eindeutig möglich, so etwa nicht bei -ier/-isier/-ifizier zur Bildung von Verbstämmen (Eisenberg 2012: 291).

Allomorphiebeziehungen werden mitunter auch zwischen nativen und nicht nativen Formen angenommen, obwohl in diesen Fällen keine phonologische Ähnlichkeit besteht. So betrachtet Fuhrhop (1998: 100) -ität (Genialität, Homogenität) als Allomorph zu -heit/-keit. Phonologische, morphophonologische, morphologische und lexikalische Bedingungen der Allomorphie bei verschiedenen Morphemklassen erörtert Dressler (2015: 507ff.). Zur Genese von Suffixvarianten durch die Reanalyse von Morphemgrenzen vgl. Scherer (2005: 54). Irmhild Barz ≡ Suffixallomorphie; Suffixalternanz → § 41; Allomorph; Präfixvariation; Suffixentstehung; Suffixvariante

🕮 Dressler, W.U. [2015] Allomorphy. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 500–516 ◾ Eisenberg, P. [2012] Das Fremdwort im Deutschen. 2., überarb. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Fuhrhop, N. [1998] Grenzfälle morphologischer Einheiten. Tübingen ◾ Scherer, C. [2005] Wortbildungswandel und Produktivität. Eine empirische Studie zur nominalen -er-Derivation im Deutschen. Tübingen.

Suffixverschmelzung

Verschmelzung eines Suffixes mit dem Auslaut der Wortbildungsbasis. ▲ suffix fusion: fusion of a suffix with the final sound of its base.

Suffixverschmelzung ist das Ergebnis einer Reanalyse, bei der die (Sprechsilben-)Grenze zwischen Wortbildungsbasis und Suffix so verschoben wird, dass das Suffix um Endelemente des Basisworts erweitert wird. Auf diese Weise entstehen neue Suffixe bzw. Suffixallomorphe. Aus dem Bereich der deutschen Wortbildung gehören dazu folgende Beispiele: Suffix -ling aus Derivaten mit Suffix -ing (z.B. ahd. edil-ing ‘Edelmann’ < edili ‘von adliger Herkunft’ → Reanalyse: ediling; danach auch Frisch-ling < frisch, Rohling < roh etc.), Suffix -ner aus Derivaten mit Suffix -er (z.B. mhd. wagen-er < wagen → Reanalyse: wag(e)ner; danach auch Schuld-ner < Schuld, Rent-ner < Rente etc.), Suffix -ler aus Derivaten mit Suffix -er (z.B. mhd. betel-er < betel ‘das Betteln’ → Reanalyse: bete-ler; danach auch Sport-ler < Sport, Künst-ler < Kunst etc.), Suffix(allomorph) -keit aus Derivaten mit Suffix -heit (z.B. mhd. üppec-heit < üppec → Reanalyse: üppe-cheit > üppe-keit > Üp-

S

Superfix 654 pigkeit mit Restituierung der Adjektivendung -ig; danach auch Beispiele wie Wirksam-keit < wirksam, Betulich-keit < betulich bzw. Dreist-igkeit < dreist, Genau-igkeit < genau). Entsprechende Suffixe bezeichnet Henzen (1965: 114, 159, 200) auch als Sekundärsuffixe bzw. Wuchersuffixe. Peter O. Müller ≡ Sekundärsuffix; Wuchersuffix → § 39; Allomorph; Suffix; Suffixentstehung; Suffixkombination

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Wilmanns, W. [1899] Deutsche Grammatik. Gotisch, Alt-, Mittelund Neuhochdeutsch. Zweite Abteilung: Wortbildung. 2. Aufl. Straßburg.

Superfix

suprasegmentales Affix, das sich über mehrere Segmente der Basis erstreckt. ▲ superfix: suprasegmental affix which extends over several segments of the base.

S

Der Terminus „Superfix“ wurde ursprünglich für ein Betonungsmuster verwendet, das als „besondere Art von Affix“ (Trager 1948: 157) oder „Morphem der Wortbildung“ (Trager 1958: 227) die Morpheme in einem Wort (Wurzel, Präfixe und Suffixe) zu einem Ganzen vereint. Gemäß dieser Analyse enthält jedes Wort ein solches Superfix (und ebenso jede morphologische Phrase, s. Trager/Smith 1951: 56f.). Während die Idee, dass die Betonungsmuster von Wörtern immer morphologischen Status haben, auf eine Phase im amerikanischen Strukturalismus beschränkt blieb, wurde „Superfix“ beibehalten und einerseits auf suprasegmentale Merkmale jeder Art (also neben Akzent auch Ton oder sekundäre Artikulation wie Nasalierung, Palatalisierung usw.) ausgeweitet, andererseits auf Fälle beschränkt, in denen diese Merkmale Flexions- oder Derivationsbedeutungen im üblichen Sinn ausdrücken. Somit ist „Superfix“ mit „Suprafix“ synonym geworden. Die zuweilen anzutreffende Gleichsetzung mit suprasegmentalen Merkmalen unabhängig von ihrer etwaigen grammatischen Funktion (z.B. Crystal 1980: 340) passt nicht dazu, dass ein X-fix eine Art von Affix, also ein sprachliches Zeichen, sein sollte. Joachim Mugdan

→ Affix; Akzent; Suprafix; suprasegmentales Morph; Ton

🕮 Crystal, D. [1980] A Dictionary of Linguistics and Phonetics. Oxford ◾ Trager, G.L. [1948] Taos I: A Language Revisited. In: Lg 14: 155–160 ◾ Trager, G.L. [1958] French Morphology: Personal Pronouns and the „Definite Article“. In: Lg 34: 225–231 ◾ Trager, G.L./ Smith, H.L. [1951] Outline of English Structure. Norman, OK.

Superlativ

≡ Superlativform ⇀ Superlativ (Gram-Formen; CG-Dt; Lexik)

Superlativform

Wortform zum Ausdruck der höchsten Steigerungsstufe innerhalb der morphologischen Kategorie Komparation. ▲ superlative: word form expressing the highest degree within the morphological category of comparison. Mit Superlativformen wird in Vergleichskonstruktionen der höchste Grad ausgedrückt (Susanne ist die älteste der drei Schwestern.). Eine besondere Verwendungsweise des Superlativs ist der Gebrauch als Elativ. Dabei wird der Superlativ in einer absoluten Bedeutung gebraucht und drückt nicht den höchsten Grad, sondern nur einen vergleichsweise sehr hohen Grad aus (bei bester Gesundheit, mit den herzlichsten Grüßen). Durch Vorsetzen von aller-, alleraller-, weitaus, bei Weitem, denkbar kann der Superlativ im Dt. verstärkt werden (allergrößte, allerallerschönste, weitaus beste, bei Weitem der schönste, in denkbar kürzester Frist), vgl. Gallmann (2009: 374f.). Der Superlativ von Adjektiven, seltener von Adverbien, wird einzelsprachlich unterschiedlich realisiert. Prinzipiell können die Formen synthetisch durch Flexionsformen oder analytisch durch Steigerungspartikel gebildet werden. Bildungsrestriktionen sind durch die Semantik der Adjektive begründet. In Sprachen, in denen die Komparation synthetisch erfolgt, wird der Superlativ mit Hilfe von Flexionssuffixen gebildet (dt. groß – größte, kurz – kürzeste, engl. clean – cleanest ‘sauberste’, happy – happiest ‘glücklichste’). Im Engl. finden sich daneben auch periphrastische Konstruktionen mit der Steigerungspartikel most (most beautiful ‘schönste’). Die Wahl zwischen den beiden Möglichkeiten wird dabei durch die Länge des Adjektivs bestimmt (vgl. Schmid 2005: 57). In den romanischen Sprachen überwiegen analytische

655 Superlativmorphem Formen (frz. le/la plus rapide‘ ‘schnellste’, ital. il più bello ‘schönste’, span. el más caro‘ ‘teuerste’). Einige Adjektive haben lateinische synthetische Komparativformen bewahrt, die auch zur Superlativbildung herangezogen werden (z.B. frz. bon/bonne ‘gut’ – meilleur/e – le/la meilleur/e, ital. grande ‘groß’ – maggiore – il maggiore, span. malo ‘schlecht’ – peor – el peor). In einigen Fällen ergänzen Suppletivformen defektive Paradigmen (dt. gut – beste, engl. good – best ‘beste’, frz. bon/ bonne – le/la meilleur/meilleure ‘beste’). Die enge Berührung von flexions- und wortbildungsmorphologischer Graduierung zeigt sich am Beispiel der Wortbildungssuffixe zur Bildung des Elativs in den romanischen Sprachen, die sich vom lateinischen Superlativsuffix herleiten: ital. -issim-: bellissimo ‘wunderschön’, span. -ísim-: hermosísimo ‘sehr schön’, frz. -issime: rarissime ‘äußerst selten’ (vgl. Seewald 1996: 17, SchpakDolt 2012: 41; Thiele 1981: 118). Rainer (1993: 41) rechnet die Elativbildung zu den Wortbildungsverfahren und argumentiert u.a. damit, dass dem Elativsuffix das Derivationssuffix zur Adverbbildung folgen kann (span. -mente). Von der generellen Regel, dass in der Binnenstruktur von Wortbildungen keine flexionsmorphologischen Einheiten auftreten, weichen Superlativ- wie auch Komparativformen ab. Als „Einheiten, denen eine semantische Repräsentation zugeordnet ist“, sind sie auch wortbildungsaktiv, z.B. dt. Höchstleistung, Schwerstarbeit, Tiefstwert (vgl. Motsch 2004: 8f.). Insgesamt hat sich in den Einzelsprachen neben der flexionsmorphologischen Möglichkeit der Komparation ein reiches und differenziertes Inventar von Wortbildungsmustern zum Ausdruck der Graduierung von Adjektiven herausgebildet. Dabei graduieren die Wortbildungen „die durch die Ausgangseinheiten bezeichneten Eigenschaften differenzierter als die Komparation, indem sie der Abstufung zusätzliche semantische Nuancierungen und emotional wertende Komponenten hinzufügen. Graduiert werden durch Wortbildung auch solche Adjektive, die sich der flexionsmorphologischen Graduierung normalerweise entziehen, wie z.B. Farbadjektive.“ (Barz 2009: 743) Daneben kann die Graduierung in vielen Sprachen, vor allem in der mündlichen Kommunikation, auch durch lexikalische Mittel ausgedrückt werden (dt. sehr, furchtbar, schrecklich,

total, engl. very ‘sehr’, terribly ‘schrecklich’, ital. straordinariamente ‘außergewöhnlich’), vgl. dazu auch Cuzzolin/Lehmann (2004: 1217). Hannelore Poethe

→ Elativ; Graduierung; Komparation; Steigerungspräfix; Superlativmorphem

⇁ superlative (CG-Engl; Typol)

🕮 Cuzzolin, P./ Lehmann, C. [2004] Comparison and gradation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.2). Berlin [etc.]: 1212–1220 ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Gallmann, P. [2009] Die flektierbaren Wortarten. In: Duden. Die Grammatik. 8., überarb. Aufl. Mannheim [etc.]: 145–388 ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Rainer, F. [1993] Spanische Wortbildungslehre. Tübingen ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin ◾ Schpak-Dolt, N. [2012] Einführung in die Morphologie des Spanischen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Schwarze, C. [1995] Grammatik der italienischen Sprache. 2., verbess. Aufl. Tübingen ◾ Seewald, U. [1996] Morphologie des Italienischen. Tübingen.

Superlativmorphem

grammatisches Morphem zur Bildung der Superlativform eines Adjektivs, seltener eines Adverbs. ▲ superlative morpheme: grammatical form for the formation of the superlative of an adjective, or more seldom of an adverb. In Sprachen, in denen die Komparation synthetisch erfolgt, wird die Superlativform durch grammatische Morpheme realisiert. In den meisten Grammatiken wird die Komparation inzwischen als flexionsmorphologische Erscheinung betrachtet, entsprechend sind die Steigerungssuffixe Flexionsmorpheme (vgl. dazu Eisenberg 2013: 176f.). Im Dt. wird der Superlativ mit den Flexionssuffixen -st oder -est (kleinst, kürzest) gebildet, im Engl. mit -est (cleanest). Im Engl. konkurriert das Superlativmorphem -est mit der periphrastischen Konstruktion mit der Steigerungspartikel most (most difficult ‘schwierigste’), vgl. Schmid (2005: 57). Suppletivformen können defektive Paradigmen ergänzen (dt. gut – beste, engl. good – best ‘beste’, bad – worst ‘schlimmste’). Die enge Berührung von flexions- und wortbildungsmorphologischer Graduierung zeigt sich am Beispiel der Wortbildungssuffixe zur Bildung des Elativs in den romanischen Sprachen, die sich vom lateinischen Superlativsuffix -issim- (brevissimus/brevissima/brevissimum ‘kürzeste’) herlei-

S

Suppletion 656 ten (ital. -issim-: bellissimo ‘wunderschön’, span. -ísim-: hermosísimo ‘sehr schön’, frz. -issime: rarissime ‘äußerst selten’). Rainer (1993: 41) rechnet die Elativbildung zu den Wortbildungsverfahren und argumentiert u.a. damit, dass dem Elativsuffix das Derivationssuffix zur Adverbbildung folgen kann (span. -mente). Hannelore Poethe

→ Elativ; Graduierung; Komparation; Superlativform

🕮 Eisenberg, P. [2013] Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 2: Der Satz. 4., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart [etc.] ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Rainer, F. [1993] Spanische Wortbildungslehre. Tübingen ◾ Schmid, H.-J. [2005] Englische Morphologie und Wortbildung. Berlin ◾ Seewald, U. [1996] Morphologie des Italienischen. Tübingen.

Suppletion

unregelmäßige phonologische Beziehung zwischen den Ausdrücken semantisch verwandter sprachlicher Zeichen, die normalerweise in einer regelmäßigen phonologischen Beziehung zueinander stehen. ▲ suppletion: irregular phonological relationship between the expressions of semantically related linguistic signs that are normally in a regular phonological relationship.

S

In dem Beispiel gut – bess- (in bess-er) besteht die Beziehung der Suppletion zwischen Allomorphen desselben Morphems, wobei die meisten vergleichbaren Morpheme im Positiv und im Komparativ entweder dasselbe Allomorph aufweisen (vgl. schlecht – schlecht-er) oder Allomorphe, die sich phonologisch in regelmäßiger Weise unterscheiden (vgl. kalt – kält-er; dass der Umlaut im Komparativ nicht automatisch auftritt, vgl. flach – flach-er, ist nicht eine Unregelmäßigkeit im Verhältnis zwischen den Allomorphen selbst). Allomorphe, die sich regulär unterscheiden, können oberflächlich sehr unähnlich sein, z.B. poln. /cew/ ‘Eckzahn’ mit dem Lokativ /kl-e/, wo aber jede der Alternationen /c/~/k/, /e/~0 und /w/~/l/ systematisch ist. Andererseits kann trotz unverkennbarer Ähnlichkeit ein suppletives Verhältnis vorliegen, z.B. bei sechs – sech-zig, wo der Wechsel zwischen /ks/ und /x/ keine Parallele hat. In einem solchen Fall spricht man von schwacher Suppletion im Gegensatz zu starker Suppletion bei völliger Unähnlichkeit (wie gut – bess-). Die Auswahl zwischen suppletiven Allomorphen hängt oft von

morphologischen Faktoren ab, kann aber auch phonologisch konditioniert sein (s. Carstairs 1988). Ein zweiter Typ von Suppletion liegt in engl. bad – worse vor, wo die in einem suppletiven Verhältnis stehenden Ausdrücke einen Inhaltsunterschied aufweisen, der normalerweise durch einen morphologischen Prozess wie die Anfügung eines Affixes (hier -er wie in old – old-er) ausgedrückt wird. Da man worse als ein PortmanteauMorph betrachten kann, das der Morphemfolge {bad}+{komparativ} entspricht, wird dieser Typ gelegentlich „Portmanteau-Suppletion“ genannt. Es handelt sich dabei jedoch nicht um einen morphologischen Prozess wie Affigierung, Reduplikation, Substitution usw., sondern ebenso wie bei der „allomorphischen Suppletion“ um eine Relation. Starke Suppletion entsteht nicht notwendigerweise dadurch, dass das Paradigma eines Lexems defektiv ist, d.h. Lücken aufweist, die dann durch Formen eines anderen Lexems gefüllt werden. Dennoch wird Suppletion verschiedentlich in diesem engen Sinn definiert und somit auch auf Flexion beschränkt. Schon der Schöpfer des Terminus suppletiv hat ihn aber weiter gefasst (Osthoff 1899), und heute wird Suppletion meist unabhängig von den diachronen Beziehungen zwischen den beteiligten Zeichen definiert (theoretische und empirische Überblicke geben Mel’čuk 2000 und Veselinova 2020). Suppletion in der Wortbildung wird nicht nur von denen angenommen, die z.B. Komparation als Derivation und nicht als Flexion einstufen. Oft genannte Beispiele sind Einwohnerbezeichnungen wie frz. Pau – Palois und Valentigney – Boroillot neben regelmäßigem Colmar – Colmarien, Marseille – Marseill-ais usw., Bezeichnungen weiblicher Lebewesen, z.B. Widder – Schaf neben regelmäßigem Bär – Bär-in und Substantiv-Adjektiv-Paare wie engl. father – patern-al (s. auch Dressler 1985). Typische Probleme sind jedoch das Fehlen eines hinreichend regelmäßigen Derivationsmusters, von dem sich die suppletiven Fälle als seltene Ausnahme abheben würden, mangelnde semantische Parallelität (z.B. ist Schaf nicht mit Bärin vergleichbar, da es zugleich als geschlechtsneutraler Oberbegriff dient) oder die Existenz einer regulären Bildung neben dem suppletiven Paar (z.B. father-ly). So ist es fraglich,

657 Suprafix ob in solchen Fällen tatsächlich morphologische Beziehungen in einem Paradigma und nicht nur semantische Beziehungen in einem Wortfeld vorliegen. Joachim Mugdan

→ Allomorph; Portmanteaumorph ⇀ Suppletion (Gram-Formen; HistSprw; CG-Dt) ⇁ suppletion (Typol)

🕮 Carstairs, A. [1988] Some Implications of Phonologically Conditioned Suppletion. In: Booij, G./ van Marle, J. [eds.] YbMo 1988. Dordrecht [etc.]: 67–94 ◾ Dressler, W.U. [1985] Suppletion in word-formation. In: Fisiak, J. [ed.] Historical semantics, historical word-formation. Berlin: 97–112 ◾ Mel’čuk, I.A. [2000] Suppletion. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 510–522 ◾ Osthoff, H. [1899] Vom Suppletivwesen der indogermanischen Sprachen. Heidelberg ◾ Veselinova, L.N. [2020] Suppletion. In: Lieber, R. [Hg.] OEM. Vol. 1. New York: 318–350.

Suprafix

suprasegmentales Affix, das sich über mehrere Segmente der Basis erstreckt. ▲ suprafix: suprasegmental affix which extends over several segments of the base. Ein Suprafix ist ein Affix, dessen Ausdruck aus suprasegmentalen Merkmalen besteht, die der diesbezüglich neutralen Basis hinzugefügt werden (Nida 1949: 69; Beck 2017: 338–340). Es handelt sich dabei insbesondere um Akzent‑ oder Tonmuster und sekundäre Artikulationen wie Nasalierung, Palatalisierung, Labialisierung usw. Diese Merkmale erstrecken sich über mehrere Segmente der Basis und überlagern sie somit ganz oder teilweise. Trotz des Einwandes, dass sie nicht „über“ den Segmenten angeordnet sind, sondern gleichzeitig mit ihnen, sodass Simulfix ein passenderer Terminus wäre (Hockett 1954: 212), wurden Suprafix und das meist dazu synonym verwendete Superfix beibehalten, während Simulfix diversen anderen Zwecken diente (vgl. Mugdan 2015: 270f.). Eines der häufig zitierten Beispiele stammt aus dem Ngbaka (DR Kongo), wo tonal neutrale Verbwurzeln mit verschiedenen Tonmustern verbunden werden, um unterschiedliche Tempus/ Aspekt-Bedeutungen auszudrücken. Wie Tab. 1 zeigt, spielen aber auch Veränderungen im Ton des Subjektpronomens (hier mittel → hoch bei /‌mī/ ‘ich’) und den Vokalen des Verbs (hier /o…o/ → /u…a/) sowie nachgestellte Partikeln eine Rolle.

Tab. 1: Tonale Suprafixe im Ngbaka Tempus/Aspekt

Ton des Verbs

‘zurückkehren’ (1.sg)

Imperfektiv

hoch

mī kpóló

Perfektiv

mittel

mí kpūlā

fernes Futur

tief

mí kpòlò sɛ̄

nahes Futur

tief-hoch

mí kpòló nɛ̄

Bei englischen Verb/Substantiv-Paaren, die sich nur in der Betonung unterscheiden, z.B. condúct/ cónduct, kann man entweder wortartneutrale Basen ansetzen, die mit den Suprafixen – –́ ‘v’ bzw. –́ – ‘n’ verknüpft werden, oder aber die Substantive aus den Verben durch eine Veränderung des Betonungsmusters von – –́ zu –́ – ableiten. Man könnte daher Suprafix in einem weiteren Sinn verwenden und neben additiven auch substitutive Suprafixe annehmen (vgl. Nida 1949: 69). Manche halten jedoch daran fest, dass Suprafixe additiv sind, während sie suprasegmentale Veränderungen mit segmentalen zusammenfassen (z.B. Beck 2017: 338); andere definieren Suprafixe nur als substitutiv (z.B. Bauer 2004: 98). In manchen Fällen gibt es unterschiedliche Meinungen darüber, ob ein additives und ein substitutives Suprafix vorliegt. Beispielsweise zeigt Tab. 2, dass im Chalcatongo-Mixtekischen einige von Substantiven abgeleitete Adjektive durchgängig Hochton aufweisen, unabhängig vom Tonmuster des Substantivs. Tab. 2: Derivation von Adjektiven im Chalcatongo-Mixtekischen Substantiv

Tonmuster

Adjektiv

/bíkò/ ‘Wolke’

hoch-tief

/bíkó/ ‘wolkig’

/káʔbā/ ‘Dreck’

hoch-mittel

/káʔbá/ ‘dreckig’

/ʒūù/ ‘Stein’

mittel-tief

/ʒúú/ ‘hart’

Hier kann man ein substitutives Suprafix ansetzen, das alle Töne der Basis durch Hochton ersetzt, oder aber ein additives Hochton-Suprafix, das die Töne der Basis verdrängt (so Beck 2017: 338–340, 348–350, wo substitutive Suprafixe nur angenommen werden, wenn die Ergebnisse der Suprafigierung uneinheitlich sind). Eine weitere Möglichkeit ist es, mit einer anderen Art von suprasegmentalem Morph zu arbeiten, nämlich einem Präfix, dessen Ausdruck ein freischwebender hoher Ton (engl. floating tone) ist. Dieser Ton muss nun mit geeigneten Segmenten der Basis assoziiert werden und breitet sich in diesem Fall

S

suprasegmentales Morph 658 auf die gesamte Basis aus. Insbesondere dann, wenn sich das suprasegmentale Merkmal nur auf einen Teil der Basis erstreckt, ist eine solche Analyse oft plausibler als ein Suprafix.

→ Affix; Superfix; suprasegmentales Morph ⇁ suprafix (Typol)

Joachim Mugdan

🕮 Bauer, L. [2004] A Glossary of Morphology. Washington, DC ◾ Beck, D. [2017] The Typology of Morphological Processes. Form and Function. In: Aikhenvald, A.Y./ Dixon, R.M.W. [eds.] The Cambridge Handbook of Linguistic Typology. Cambridge: 325–360 ◾ Hockett, C.F. [1954] Two models of grammatical description. In: Word 10: 210–234 ◾ Mugdan, J. [2015] Units of word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 235–301 ◾ Nida, E.A. [1949] Morphology. The Descriptive Analysis of Words. 2nd ed. Ann Arbor MI.

suprasegmentales Morph

Minimalzeichen, dessen Ausdruck aus suprasegmentalen Merkmalen besteht. ▲ suprasegmental morph: minimal sign, with an expression that consists of suprasegmental features.

S

Der Ausdruck eines Minimalzeichens kann aus einem oder mehreren suprasegmentalen Merkmalen bestehen, insbesondere Akzent, Ton oder sekundärer Artikulation wie Nasalierung, Palatalisierung, Labialisierung usw. (s. Hyman/Leben 2000; Akinlabi 2011; Palancar/Léonard 2016; Monich 2020). Dafür werden häufiger Beispiele aus der Flexion als aus der Derivation genannt; sie stammen oft (aber nicht nur) aus afrikanischen und amerikanischen Sprachen. Grundsätzlich lassen sich zwei Arten von suprasegmentalen Morphen unterscheiden, auch wenn manchmal beide Interpretationen möglich sind: (a) Bei einem Suprafix (auch Superfix genannt) überlagern suprasegmentale Merkmale die Basis, sind also nicht vor oder nach ihr angeordnet, sondern gleichzeitig und gehören somit zur nicht-konkatenativen Morphologie. Ein Beispiel sind unterschiedliche Tonverläufe, die mit einem bezüglich Ton neutralen Verbstamm verbunden werden, um unterschiedliche Tempus/Aspekt/ Modus-Bedeutungen auszudrücken. (b) Suprasegmentale Präfixe und Suffixe (für die ebenfalls manchmal der Terminus Suprafix oder Superfix benutzt wird), Klitika oder Partikeln fügen sich dagegen in eine lineare Abfolge von Minimalzeichen ein, äußern sich aber nur durch die Auswirkungen, die sie auf ihre Umgebung haben.

Zum Beispiel haben im Bambara (Mali) Wörter entweder hohen oder tiefen Ton (hier durch ˊ bzw. ˋ auf allen Silben angezeigt). Das Zusammentreffen bestimmter Töne hat gewisse Änderungen zur Folge (Ton-Sandhi, engl. auch tone perturbation). Unter anderem ist bei der Abfolge hochtief-hoch der zweite Hochton etwas niedriger als der erste (hier durch ! angezeigt), z.B. /‌jírí/ ‘Baum’ + /fìlà/ ‘zwei’ + /tɛ́/ ‘es ist/sind nicht’ → /jírí fìlà ! tɛ́/. Definitheit wird durch einen Tiefton ausgedrückt, der nicht als solcher in Erscheinung tritt, sich aber am Ton-Sandhi zeigt, z.B. /jírí !tɛ́/ ‘es ist nicht der Baum’ gegenüber /jírí tɛ́/ ‘es ist nicht ein Baum’ (vgl. Bird 1966). Während hier das suprasegmentale Morph als Partikel betrachtet werden kann, sind suprasegmentale Präfixe oder Suffixe daran erkennbar, dass sich das betreffende „freischwebende“ suprasegmentale Merkmal in einer bestimmten Richtung, von vorn nach hinten oder von hinten nach vorn, mit der Basis verbindet oder sie beeinflusst. So assoziiert sich das suprasegmentale Merkmal in manchen Fällen mit dem ersten geeigneten Segment der Basis, aber nicht mit den restlichen; in anderen breitet es sich so lange aus, bis es durch eine bestimmte Art von Segment aufgehalten wird (s. Akinlabi 2011: 1948–1952, 1957–1963). Zuweilen lässt sich durch Vergleiche mit verwandten Sprachen nachweisen, wie solche suprasegmentalen Morphe entstanden sind, z.B. dadurch, dass ein Suffix /-u/ zu dem Labialisierung bewirkenden Merkmal [+rund] reduziert wurde oder dass von einem Affix nur der Ton übriggeblieben ist. Ein Minimalzeichen, dessen Ausdruck nicht in der Hinzufügung, sondern der Ersetzung suprasegmentaler Merkmale besteht (z.B. einer bestimmten Änderung des Tonmusters), kann entweder als Subtyp von ersetzenden Morphen oder von suprasegmentalen Morphen klassifiziert werden. Auch dafür ist bei manchen Autoren die Bezeichnung Suprafix oder Superfix anzutreffen. Die Ersetzung von Segmenten könnte man auch mithilfe „freischwebender“ suprasegmentaler Merkmale darstellen. Es ist z.B. vorgeschlagen worden, bei deutschen Pluralen wie Vögel und Brüder ein Pluralsuffix [‑hinten] anzusetzen, das das Merkmal [+hinten] in Vogel und Bruder verdrängt (s. Davis/ Tsujimura 2014: 213). Abgesehen davon, dass es zu einfach ist, den Umlaut als Veränderung von

659 Synaffix [+hinten] zu [‑hinten] zu beschreiben, spricht jedoch viel dafür, ein zugrundeliegendes segmentales Suffix /ə/ ‘pl’ und eine Tilgung von /ə/ nach /ə/ (wie auch bei Kartoffel-n, Schüssel-n gegenüber Bank-en, Arznei-en) anzunehmen, sodass der Umlaut lediglich eine Begleiterscheinung ist (wie auch bei Vögel-chen, brüder-lich usw.). Außer rein suprasegmentalen Minimalzeichen gibt es auch solche, deren Ausdruck teils segmental, teils suprasegmental ist. So sind im Wanano oder Kotiria (Kolumbien/Brasilien) manche Minimalzeichen (darunter alle Wurzeln) als [+nasal] oder [-nasal] gekennzeichnet, während andere (darunter viele Suffixe) neutral sind. Ist ein Minimalzeichen [+nasal], so werden nicht nur seine eigenen stimmhaften Phoneme nasaliert, sondern auch die nachfolgender neutraler Minimalzeichen innerhalb des phonologischen Worts; ebenso wird [‑nasal] übertragen. Wenn z.B. /badu/[+nasal] ‘Ehemann’ und /die/[‑nasal] ‘Hund’ mit dem neutralen Suffix /ro/ ‘sg.belebt’ verbunden werden, ergibt sich [mãnũr̃õ] bzw. [diero] (s. Stenzel 2007: 340–345). Vokalharmonie in Sprachen wie Ungarisch oder Türkisch könnte man ähnlich analysieren. Joachim Mugdan

→ Minimalzeichen; Morph; nicht-konkatenative Morphologie; Superfix; Suprafix

🕮 Akinlabi, A. [2011] Featural affixes. In: Oostendorp, M. van/ Ewen, C.J./ Hume, E./ Rice, K. [eds.] The Blackwell Companion to Phonology. Vol. IV: Phonological Interfaces. Chichester: 1945– 1971 ◾ Bird, C.S. [1966] Determination in Bambara. In: JWAfrLg 3/1: 5–11 ◾ Davis, S./ Tsujimura, N. [2014] Non-Concatenative Derivation. Other Processes. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Derivational Morphology. Oxford: 190–218 ◾ Hyman, L.M./ Leben, W.R. [2000] Suprasegmental processes. In: Booj, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 587–594 ◾ Monich, I. [2020] Morphology and tone. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 1652–1674 ◾ Palancar, E.L./ Léonard, J.L. [eds. 2016] Tone and Inflection. Berlin [etc.] ◾ Stenzel, K. [2007] Glottalization and Other Suprasegmental Features in Wanano. In: IJAL-Chic 73: 331–366.

suprasegmentales Morphem

→ suprasegmentales Morph ⇀ suprasegmentales Morphem (CG-Dt)

Svarabhakti ≡ Epenthese

Synaffix

Kombination von Affixen und/oder inneren Modifi-

kationen, wobei nur die Kombination als Ganze eine bestimmte Bedeutung ausdrückt. ▲ synaffix: combination of affixes and/or internal modifications such that only the combination as a whole expresses a certain meaning. Der Terminus Synaffix wurde als Sammelbezeichnung für alle Fälle geschaffen, in denen eine grammatische Bedeutung durch eine Kombination von zwei oder mehr Markern der Typen Affix und innere Modifikation (Ablaut, Umlaut usw.) ausgedrückt wird, wobei es nicht möglich ist, den einzelnen Markern getrennte Bedeutungen zuzuschreiben (Bauer 1988: 23). Wenn man Reduplikation als eine Art von Affigierung betrachtet, fallen auch Kombinationen von Reduplikation mit Affigierung oder innerer Modifikation unter diesen Begriff (Bauer 1988: 23), und man könnte ihn wohl auf Marker aller Art, einschließlich Subtraktion (Tilgung) und Metathese (Umstellung), ausweiten, wofür aber auch die Bezeichnung Multifix existiert (Hoeksema/Janda 1988: 216). Die mit Synaffix bezeichneten Fälle lassen sich in drei Gruppen unterteilen, für die es unterschiedliche alternative Analysen gibt. 1. Wenn zwei oder mehr Präfixe oder zwei oder mehr Suffixe vorzuliegen scheinen, sie aber nur gemeinsam eine bestimmte Bedeutung ausdrücken, kann man ein einziges Präfix bzw. Suffix ansetzen. Beispielsweise kommen im Deutschen -ist und -isch unabhängig voneinander vor (in Flöt-ist und polit-isch) und können auch zusammen auftreten (in ego-ist-isch); in charakter-istisch ist in Ermangelung von *Charakterist eine Trennung der beiden Teile jedoch nicht möglich (vgl. Bauer 1988: 18 zu analogen englischen Beispielen). Statt hier von einer Kombination zweier Suffixe zu sprechen, kann man -istisch als ein einziges Suffix auffassen (das möglicherweise zu demselben Morphem gehört wie -isch). Das gilt ebenso für -igkeit in Schnelligkeit und hinaus- in hinaustragen. 2. Wenn einem Bedeutungsunterschied gleichzeitig eine Affigierung und eine innere Modifikation entsprechen, wie die Suffigierung von -e und der Umlaut a → ä bei dem Plural Städte zu Stadt, bietet es sich an, die betreffende Bedeutung lediglich dem Affix zuzuschreiben und die innere Modifikation als eine Begleiterscheinung zu betrachten, die keine Bedeutung trägt („principle of a single morphological process“, Mel’čuk 1982: 79). Dann sind

S

Synärese 660 Stadt und Städt- Varianten desselben Stamms (und Allomorphe desselben Morphems). Generell wird man die Bedeutung dem Marker zuschreiben, der (a) in der Hierarchie Affix > Modifikation > Subtraktion/Metathese höher steht und/oder (b) in der größeren Zahl von Fällen auftritt. Beispielsweise weisen die Diminutive Brettchen, Öhrchen, Tütchen, Läppchen, Löchelchen und Wägelchen durchweg das Suffix -chen auf, während Umlaut, Tilgung von -e oder -en sowie Einfügung von -el nur unter bestimmten Bedingungen auftreten, sodass beide Erwägungen dafür sprechen, dass nur das Suffix den Inhalt ‘diminutiv’ trägt, während Öhr-, Tüt-, Läpp-, Löchel- und Wägel- Stammvarianten sind. 3. Für die nun noch verbleibenden Kombinationen von Präfixen, Infixen und Suffixen stehen bereits andere Termini zur Verfügung, nämlich Zirkumfix für Präfix+Suffix und Transfix für alle Kombinationen eines Infixes mit einem anderen Affix (oder nur für Infix+Infix, wobei Parafix für Präfix+Infix und Infix+Suffix dient). Dabei werden Zirkumfix und Transfix neben Präfix/Suffix und Infix als Grundtypen von Affixen betrachtet, die danach klassifiziert sind, ob sie ihre Basis durchbrechen (diskontinuierlich machen) und ob sie selbst durchbrochen (diskontinuierlich) sind (s. Mel’čuk 1982: 82–87). Joachim Mugdan

→ Ablaut; Affix; Allomorph; Infix; Marker; Metathese;

Modifikation; Parafix; Reduplikation; Subtraktionsregel; subtraktives Morph; Transfix; Umlaut; Zirkumfix ⇀ Synaffix (Gram-Formen)

S

🕮 Bauer, L. [1988] A descriptive gap in morphology. In: Booij, G./ van Marle, J. [eds]. YbMo 1988: 17–27 ◾ Hoeksema, J./ Janda, R.D. [1988] Implications of process-morphology for categorial grammar. In: Oehrle, R.T./ Bach, E./ Wheeler, D. [eds.] Categorial Grammars and Natural Language Structures. Dordrecht: 199–247 ◾ Mel’čuk, I.A. [1982] Towards a Language of Linguistics. A System of Formal Notions for Theoretical Morphology. München.

Synärese

≡ Kontraktion ⇀ Synärese (Phon-Dt)

synchrone Wortbildung

Darstellung und Beschreibung der Wortbildung als ein in einem bestimmten Zeitabschnitt funktionierendes System. ▲ synchronic word-formation: treatment and description of word-formation as a system functioning in a particular interval of time.

Entsprechend der Auffassung de Saussures von Sprache als „System, dessen Teile in ihrer synchronischen Wechselbeziehung betrachtet werden können und müssen“ (1967: 103) beschreibt die synchrone Wortbildungslehre den jeweiligen Sprachzustand des Wortbildungssystems, in dem der Wert (‘valeur’) eines Elements in seinen Beziehungen zu den anderen Elementen des Systems bestimmt wird. Nachdem lange Zeit eine historische, diachrone Ausrichtung vorherrschend war, ist die „Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache“ (Fleischer, 1. Auflage 1969) die erste synchrone Gesamtdarstellung der „Wortbildungsmuster und Worttypen der deutschen Sprache der Gegenwart“ (Vorwort). Ebenfalls primär synchron ausgerichtet ist die Neufassung „Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache“ von Fleischer/ Barz 2012 (1. Auflage 1992), wobei es in beiden Darstellungen nicht darum geht, „diachrone Aspekte völlig aus der synchronen Beschreibung zu verbannen“. „Die diachrone Beschreibung steht allerdings im Dienste der synchronen Erklärung des gegenwärtigen Wortbildungssystems, indem entweder gewisse Entwicklungstendenzen skizziert oder heute verdeckte Beziehungen historisch aufgehellt werden.“ (2012: 4) Für eine Darstellung der deutschen Wortbildung in synchroner und diachroner Sicht plädiert Erben (2006: 7, 57) und belegt, dass schon Paul (1896) beide Aspekte betont, wenn es in dessen Sonderstudie „Über die Aufgaben der Wortbildung“ heißt, dass bei jeder einzelnen Funktion zu prüfen sei, welche „lautlichen Ausdrucksformen dafür neben einander zur Verfügung stehen und nach einander aufkommen oder untergehen“ (nach Erben 2006: 12f.). Eine umfassende synchrone Darstellung des Wortbildungssystems der deutschen Gegenwartssprache liegt mit dem fünfbändigen Werk „Deutsche Wortbildung: Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache“ der Forschungsstelle Innsbruck des IDS (1973–1992) vor. Innerhalb einer synchronen Wortbildungslehre lassen sich – je nach zugrunde gelegter Wortbildungstheorie und je nach Beschreibungszielen – verschiedene Ansätze unterscheiden. So widmet sich Olsen entsprechend dem lexikalistischen Ansatz in der generativen Grammatik „einer modellhaften Charakterisierung des linguistisch de-

661 Synkretismus terminierten kreativen Wortbildungsvermögens der Sprecher einer Sprache“ (Olsen 1986: 17), d.h. denjenigen Regularitäten des Sprachsystems, die die produktive Bildung neuer Wörter ermöglichen. Für Olsen muss somit die synchrone Fragestellung der Wortbildung lauten: „Wie entstehen neue Wörter?“ (Olsen 1986: 18) Für Motsch (2004: 3), der ebenfalls einem lexikalistischen Ansatz folgt, ist das zentrale Ziel der Beschreibung der Grundzüge der deutschen Wortbildung „ein möglichst umfassender Überblick über die semantischen Grundlagen“ von Wortbildungsregularitäten, wobei auch die phonologisch-morphologische Seite mit ihrem spezifischen Anteil am Wortbildungsmuster nicht übergangen wird. Fleischer/Barz vermittelt eine Gesamtdarstellung der „Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache“, bei der die strukturell-morphologische Betrachtungsweise dominiert, der semantisch-funktionale Aspekt aber grundsätzlich mit im Blick ist (Fleischer/Barz 2012: 5). Da unter synchroner Beschreibung meist die Beschreibung des gegenwartssprachlichen Systems verstanden wird, ist für die synchrone Beschreibung älterer Sprachzustände die Bezeichnung „historisch-synchron“ üblich geworden (vgl. z.B. Müller 1993). Hannelore Poethe

→ § 5; historische Wortbildung (1); historische Wortbildung

(2); historisch-synchrone Wortbildung; Wortbildungslehre

🕮 de Saussure, F. [1916/1967] Grundfragen der Allgemeinen Sprachwissenschaft. 2. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Fleischer, W. [1969] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Leipzig ◾ Kühnhold, I./ Putzer, O./ Wellmann, H. [1978] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 3. Hauptteil: Das Adjektiv. Düsseldorf ◾ Kühnhold, I./ Wellmann, H. [1973] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 1. Hauptteil: Das Verb. Düsseldorf ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Müller, P.O. [1993] Substantiv-Derivation in den Schriften Albrecht Dürers. Ein Beitrag zur Methodik historisch-synchroner Wortbildungsanalysen. Berlin [etc.] ◾ Olsen, S. [1986] Wortbildung im Deutschen. Eine Einführung in die Theorie der Wortstruktur. Stuttgart ◾ Ortner, L./ Müller-Bollhagen, E./ Ortner, H./ Wellmann, H./ Pümpel-Mader, M./ Gärtner, H. [1991] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 4. Hauptteil: Substantivkomposita (Komposita und kompositionsähnliche Strukturen 1). Berlin [etc.] ◾ Pümpel-Mader, M./

Gassner-Koch, E./ Wellmann, H./ Ortner, L. [1992] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 5. Hauptteil: Adjektivkomposita und Partizipialbildungen. Berlin [etc.] ◾ Wellmann, H. [1975] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 2. Hauptteil: Das Substantiv. Düsseldorf.

Synharmonismus ≡ Vokalharmonie

Synkope

Ausfall eines unbetonten Vokals im Wortinneren. ▲ syncopation: loss of an unstressed vowel inside of a word. Unter Synkope, das sich von gr. synkopein ‘zerschlagen, zerstören’ bzw. synkopḗ ‘das Zusammenstoßen, Ausstoßen’ herleitet, versteht man den Vorgang und das Ergebnis des Ausfalls eines unbetonten Vokals im Wortinneren, besonders in den unbetonten Vor- und Endsilben, die sich in der Sprachgeschichte des Dt. aufgrund der Betonung auf der Stammsilbe vielfach beobachten lässt, so etwa in der Entwicklung von mhd. ambet > nhd. Amt, mhd. angest > nhd. Angst, ahd. firezzan > nhd. fressen, ahd. gilouba > nhd. Glaube, mhd. gelücke > nhd. Glück, mhd. obest > nhd. Obst oder von laufet > lauft. Eckhard Meineke

→ Apokope; Stamm ⇀ Synkope (Gram-Formen; Onom; Phon-Dt; Textling; HistSprw)

🕮 Löhken, S.C. [1997] Deutsche Wortprosodie. Abschwächungs- und Tilgungsvorgänge. Tübingen.

Synkretismus

formaler Zusammenfall von Formen innerhalb eines Paradigmas oder verschiedener Paradigmen. ▲ syncretism: formal convergence of forms within a paradigm or among different paradigms. Der Begriff leitet sich aus gr. synkrētismós ‘das Zusammengehen zweier streitender Gruppen gegen einen Dritten nach Art der Kreter’ her. In der Sprachwissenschaft wird damit der in der Sprachgeschichte zu beobachtende formale Zusammenfall in oder von Flexionsparadigmen bezeichnet, der dazu führt, dass ursprünglich durch verschiedene Flexionsmorpheme eines Paradigmas oder durch verschiedene Paradigmen symbolisierte unterschiedene grammatische Funktionen nicht mehr ausgedrückt werden können (systematische Homonymie von Endun-

S

Synonym 662

S

gen, Fehlen einer morphosyntaktisch relevanten Unterscheidung). Es wird also innerparadigmatischer und transparadigmatischer Synkretismus unterschieden. Der innerparadigmatische Synkretismus zeigt sich etwa im deutschen schwachen Adjektivparadigma nach bestimmtem Artikel der gut-e Wein, des gut-en Weines, dem gut-en Wein, den gut-en Wein. Drei der Formen sind synkretistisch. Der Mangel an formaler Differenzierung im Adjektivparadigma wird durch die differenzierten Formen des bestimmten Artikels sowie durch die Wortform Weines im Genitiv Singular ausgeglichen, so dass keines der vier Syntagmen einem der anderen formal gleich ist. Unterstützend für den morphologischen Ausdruck der funktionalen Differenzierung wirkt ferner die Satztopologie für die betreffenden Syntagmen und bei dem Nominativ-Akkusativ-Synkretismus das Weltwissen (Die Parkuhr schlägt die Frau.). Der transparadigmatische Synkretismus ist deutlich etwa im Kasussystem verschiedener indogermanischer Sprachen zu beobachten. Bestimmte Formen fallen im Laufe der Sprachentwicklung zusammen: idg. Vokativ → agr. Nominativ, idg. Ablativ → agr. Dativ, während im Lateinischen beide Kasus erhalten sind. Dem griechischen Dativ entsprechen in anderen indogermanischen Sprachen der Ablativ, der Lokativ und der Instrumental, dem lateinischen Ablativ die Funktionen des Instrumentals und teilweise des Lokativs. Im Deutschen hat der Nominativ die Funktionen des Vokativs übernommen. Innerparadigmatischer Synkretismus zeigt sich auch in den Flexionsparadigmen des Substantivs und des Verbs. Im Germanisch-Deutschen wird der innerparadigmatische Synkretismus vor allem durch das Prinzip der Betonung des Vokals des Grundmorphems gefördert, das zur Abschwächung und zum lautlichen Verfall oder Fortfall von Nebentonsilben im Bereich der Flexive führt. So waren beispielsweise die schwachen Formen Maskulinum des Adjektivs im Althochdeutschen durch verschiedene Endvokale differenzierter als im Neuhochdeutschen: Nom. Sg. guoto, Gen. Sg. guoten, Dat. Sg. guoten, Akk. Sg. guoton, so dass hier nur zwei gleiche Formen auftreten. Der Dativ Singular von Haus ist in der Gegenwartssprache mit dem Nominativ Singular identisch, wohingegen er in ahd. hūse die Endung -e zeigt. Die 1.

Person Plural von reiten, wir reiten, ist mit der 3. Person Plural sie reiten identisch, wohingegen die betreffenden Formen im Althochdeutschen rītemēs bzw. rītent lauten. Indem sich hier im Sprachwandel Auswirkungen prosodischer Regularitäten und teilweise auch analogischer Prozesse auf die Struktur morphologischer Einheiten zeigen und damit auf der Ebene der Morphologie funktionale Defekte erzeugen, die sich funktional durch den Einsatz von anderen Symbolisierungsmodi ausgleichen lassen, erscheinen aus sprachhistorischer Sicht Versuche als verfehlt, in diesen morphologisch defekten Paradigmen Gesetze ausmachen zu wollen, nach denen sie doch in irgendeiner Weise funktional sinnvoll sein sollen.

→ § 39; paradigmatischer Ausgleich ⇀ Synkretismus (Gram-Formen; Lexik) ⇁ syncretism (Typol)

Eckhard Meineke

🕮 Blevins, J.P. [1995] Syncretism and paradigmatic opposition. In: LingPhil 18: 113–152 ◾ Müller, G. [2004] A Distributed Morphology Approach to Syncretism in Russian Noun Inflection. In: Formal Approaches to Slavic Linguistics 12: 353–373 ◾ Müller, G. [2011] Syncretism without underspecification: The role of leading forms. In: WStr4: 53–103 ◾ Wiese, B. [1999] Unterspezifizierte Paradigmen. Form und Funktion in der pronominalen Deklination. In: Linguistik-onl 4/3. [Unter: https://bop.unibe.ch/ linguistik-online/article/view/1034; letzter Zugriff: 19.05.2021] .

Synonym

sprachlicher Ausdruck, der zu einem anderen, formal verschiedenen sprachlichen Ausdruck in einer Beziehung der Bedeutungsgleichheit oder der Bedeutungsähnlichkeit steht. ▲ synonym: linguistic expression which is in a relation of equivalence or similarity in meaning to another formally different linguistic expression. Im Allgemeinen gelten zwei sprachliche Ausdrücke als synonym, wenn sie formal verschieden, aber bedeutungsgleich und damit in einem gegebenen Kontext ohne Sinnänderung untereinander substituierbar sind. Tatsächlich ist totale Synonymie jedoch die Ausnahme, widerspräche sie doch dem Prinzip der Sprachökonomie. So verfügen Synonyme mitunter über minimale denotative Differenzen: dt. erwachsen vs. volljährig (Blank 2001: 29f.). Andere Synonyme weisen verschiedene Selektionsbeschränkungen auf, insofern als sie über unterschiedliche kombinatorische Restriktionen verfügen: dt. trächtige

663 Stute vs. schwangere Frau (*trächtige Frau); frz. beurre rance ʻranzige Butterʼ vs. un œuf pourri ʻein verdorbenes Eiʼ (*un œuf rance). Vor allem aber unterscheiden sich Synonyme häufig in ihrer konnotativen Bedeutung, differieren also in ihren Gebrauchsbedingungen. So können Synonyme verschiedene diastratische (schichtoder gruppenspezifische) oder diaphasische (stilistische) Varietäten charakterisieren: dt. chillen (Jugendsprache) vs. ausruhen (Standard); Antlitz (gehoben) vs. Gesicht (Standard); ital. prendere ʻnehmenʼ (Standard) vs. pigliare (familiär). Regional verschiedene lexikalische Einheiten, die sich auf das gleiche Denotat beziehen, gelten dagegen als Heteronyme (auch: territoriale Dubletten): dt. Tomate (Deutschland)/Paradeiser (Österreich); frz. quattre-vingts ʻachtzigʼ (Frankreich)/ huitante (Schweiz). Da der Synonymbegriff auf das System einer Sprache bezogen wird, werden diese Fälle von Bedeutungsgleichheit in regional verschiedenen Sprachsystemen nicht den Synonymen zugeordnet (Fleischer/Helbig/Lerchner 2001: 86; anders dagegen Blank 2001: 30). Heteronyme können aber zu Synonymen werden, wenn sie auch außerhalb ihres ursprünglichen regionalen Geltungsbereichs verwendet werden: dt. Sonnabend (urspr. norddt.)/Samstag (urspr. süddt.). Als Sonderfall der lexikalischen Synonymie gilt die Wortbildungssynonymie. Die synonymen sprachlichen Ausdrücke gehören hier zu ein und derselben Wortfamilie, da sie über ein identisches Grundmorphem verfügen. Insofern stimmen sie formal teilweise überein: dt. fehler-los/fehler-frei; russ. vy-gnat‘ ʻhinausjagenʼ/iz-gnat‘ ʻvertreibenʼ. Anja Seiffert → avoid synonymy principle; Grundmorphem; Wortbildungsantonymie; Wortbildungshyponymie; Wortbildungssynonymie ⇀ Synonym (Lexik)

🕮 Blank, A. [2001] Einführung in die lexikalische Semantik. Tübingen ◾ Fleischer, W./ Helbig, G./ Lerchner, G. [Hg. 2001] Kleine Enzyklopädie Deutsche Sprache. Frankfurt/Main ◾ Markova, V. [2012] Synonyme unter dem Mikroskop. Eine korpuslinguistische Studie. Tübingen ◾ Murphy, M.L. [2003] Semantic Relations and the Lexicon. Antonymy, Synonymy, and other Paradigms. Cambridge ◾ Schippan, T. [2002] Lexikologie der deutschen Gegenwartssprache. 2., unveränd. Aufl. Tübingen.

Synonymie

→ Wortbildungssynonymie

syntaxnaher Bildungstyp

⇀ Synonymie (Lexik; SemPrag; Textling; CG-Dt; Sprachphil; QL-Dt)

syntaktische Konversion → Konversion

Syntax, autolexikalische → autolexikalische Syntax

syntaxnaher Bildungstyp

Wortbildungstyp, bei dem die Basis ein Syntagma ist. ▲ syntax-like word-formation: word-formation type in which the base is a syntagma. Ungeachtet der Frage, ob man Wortbildungsprodukte mit aus der Syntax bezogenen Beschreibungskriterien erfassen kann (Selkirk 1982; Toman 1983), lässt sich sagen, dass es Wortbildungskonstruktionen gibt, deren Basis oder Vorstufe ein Syntagma ist. Bei den Kompositionen betrifft das vor allem die Wortbildungsprodukte mit Genitivattribut im Erstglied vom Typus Gottesbote (ahd. gotesboto), Tageslicht oder Sonnentag (ahd. sunnūntag mit dem Genitiv Singular von sunna), die sich als Zusammenrückungen von Syntagmen auffassen lassen und von J.Grimm im Gegensatz zu den Stammkomposita, die er als „eigentliche Komposita“ bezeichnete, als „uneigentliche Komposita“ angesehen wurden (vgl. Fleischer/Barz 2007: 136). Insoweit sie auf wirklichen Vorgängersyntagmen beruhen, lassen sie sich als Konversionen aus ihnen auffassen (vgl. Fleischer/Barz 2007: 48). Im Mhd. zeigen sich Syntagmen wie der sanges meister, bei dem der Artikel nicht mehr auf das Genitivattribut (*des sanges meister), sondern auf das Grundwort bezogen ist, was den Übergang vom Syntagma zur Komposition verdeutlicht (Wilmanns 1899: 523). Allerdings beruhen nicht alle Kompositionen mit einem Erstglied im Genitiv auf einem tatsächlichen Vorgängersyntagma, sondern sind analoge Bildungen, die ohne syntaktische Zwischenstufe nach dem Muster der uneigentlichen Komposition erzeugt wurden, etwa Bundestag nach dem Vorbild von Reichstag. Das Erstglied kann dabei auch im Genitiv Plural auftreten wie in Bücherkiste, Gänsefleisch, Weiberkram oder Männersachen, wobei aufgrund

S

synthetisches Kompositum 664

S

der Homonymie des Nominativs Plural, des Genitivs Plural und des Akkusativs Plural bei den genannten Beispielen eine Analyse als uneigentliche Komposition (oder eine Komposition zumindest nach deren Muster) nicht sicher ist. Neben den uneigentlichen Kompositionen mit Substantiv im Genitiv im Erstglied gibt es Zusammenrückungen aus vorangestelltem Adjektiv und Substantiv wie das Hohelied, der Hohepriester/die Hohepriesterin oder Langeweile. Die Nähe zur Wortgruppe zeigt sich bei den als Beispiel genannten Wörtern auch daran, dass in den obliquen Kasus die Adjektive zwar nicht mit flektiert werden müssen, aber können (des Hohenpriesters, der Hohenpriesterin, der Langenweile). Das ist aber die Ausnahme. Weitere Zusammenrückungen mit erhaltenen Kasusflexiven des vorangestellten Adjektivs sind der Bösewicht mit schwacher Endung im Nominativ, zu dem nur im früheren Neuhochdeutsch der Genitiv des Bösenwichtes möglich war, und Mitternacht mit alter Dativendung des Adjektivs (ahd. mitteru) im Femininum (Wilmanns 1899: 537). Da in älterer Zeit das attributive Adjektiv nicht notwendigerweise eine Flexionsendung aufweisen musste, sind möglicherweise auch Komposita mit endungslosem Adjektiv im Erstglied als Zusammenrückungen aus Syntagmen auffassbar, so etwa Biedermann, Oberarm, Gleichgewicht, Großvater, Jungfrau, Leichtsinn, Edelmann, Hochzeit, Deutschland (Wilmanns 1899: 539). Bei den Derivationen tritt der Typ der Zusammenbildung auf, bei dem die Basis ein Syntagma darstellt (vgl. für das Folgende Fleischer/Barz 2007: 46f.). Dabei kann die Basis auf einem verbalen Syntagma beruhen wie in Farbe geben > Farbgebung oder auf einem substantivischen Syntagma wie in breite Schultern (haben) > breitschultrig. Zuweilen lässt sich bei diesem Typus nicht klar entscheiden, ob man es mit einer Zusammenbildung oder einer Komposition zu tun hat, und zwar dann, wenn das „Grundwort“ auch separat vorkommt. So wäre Wasserverdrängung einerseits als Zusammenbildung aus Wasserverdrängen + -ung und andererseits als Kompositum aus Wasser + Verdrängung auffassbar, entsprechend bei Fußballspieler (Fußballspielen + -er/Fußball + Spieler). Dagegen ist bei Arbeitnehmer aufgrund der Unüblichkeit von Nehmer eher eine Analyse Arbeitnehmen + -er angezeigt. Bei der Zusammenbildung können als Basen

auch Phraseologismen auftreten, so in Inbetriebsetzung oder Dünnbrettbohrer. Bei den nicht kompositionsanalogen Zusammenrückungen, also den Konversionen zuzuordnenden Univerbierungen (für das Folgende vgl. Fleischer/Barz 2007: 48f.), sind Wortgruppen wie Auto fahren > das Autofahren, eine Hand voll > eine Handvoll, drei Käse hoch > Dreikäsehoch oder Sätze wie Tu nicht gut > Tunichtgut, Stell’ Dich ein > Stelldichein die Grundlage. Hierhin gehören auch Eigennamen wie Schauinsland. Eckhard Meineke

→ eigentliches Kompositum; Genitivkompositum; Komposi-

tion; Konversion; Pluralkompositum; uneigentliches Kompositum; Univerbierung; Zusammenbildung; Zusammenrückung

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Heinle, E.-M. [1993] Die Zusammenrückung. In: Wellmann, H. [Hg.] Synchrone und diachrone Aspekte der Wortbildung im Deutschen. Heidelberg: 65–78 ◾ Selkirk, E. [1982] The Syntax of Words. Cambridge, MA [etc.] ◾ Toman, J. [1983] Wortsyntax. Tübingen ◾ Wilmanns, W. [1909] Deutsche Grammatik. Gotisch, Alt-, Mittel- und Neuhochdeutsch. Zweite Abteilung: Wortbildung. 2. Aufl. Straßburg.

synthetisches Kompositum

Kompositum mit einem deverbalen Kopf, dessen Argumentstruktur die Bedeutung bestimmt. ▲ synthetic compound: compound with a deverbal head whose argument structure determines the meaning of the compound. Mit folgendem Zitat aus Schroeder (1874: 206) weist Neef (2015: 583) auf die ursprüngliche Prägung des Begriffs synthetisches Kompositum (engl. synthetic compound) hin: „Da nun hier eine doppelte Synthese sprachlicher Elemente vorliegt, indem nicht nur das 1. und 2. Glied der Composition zusammenzusetzen sind, sondern dies 2. Glied erst noch aus Verbalstamm + Suffix geschaffen wird, so schlagen wir für diese Composita die pleonastische Bezeichnung synthetische Composita vor.“ Beschrieben werden hier Bildungen wie Machthaber und Besenbinder, die offenbar durch eine Synthese zweier Wortbildungsprozesse entstehen. Weder Haber noch machthab- existieren als Wörter im Deutschen. Schroeder versteht ihre Synthese offenbar so, dass die Ableitung des nicht existierenden [hab+-er] der Komposition zu [Macht+[hab+-er]] vorausgeht und nennt sie dementsprechend „synthetische Composita“.

665 Nach ten Hacken (2010: 23) ist der Terminus „synthetic compound“ erstmals in der englischen Literatur bei Bloomfield (1933: 231f.) belegt, wo er allerdings in einer anderen Bedeutung verwendet wird. Bloomfield verweist damit auf denominale adjektivische Bildungen wie longtailed, hardhearted, deren dt. Entsprechungen (vgl. breitschuldrig, langbeinig) Wilmanns (1896) als „Zusammenbildungen“ bezeichnet. Deverbale nominale Bildungen wie Machthaber oder engl. meat eater, auf die sich Schroeder bezieht, werden von Bloomfield „semi-synthetic compounds“ genannt. In der gegenwärtigen Wortbildungsliteratur zum Englischen wird der Begriff synthetisches Kompositum hauptsächlich im ursprünglichen Sinne von Schroeder gebraucht, indem er auf die Klasse der Verbalkomposita referiert. Allerdings wird er dabei nicht auf diejenigen Komposita beschränkt, deren deverbale Zweitglieder nicht selbständig vorkommen. Der Begriff synthetisches Kompositum (oft auch „verbales Kompositum“, engl. verbal compound, genannt) wird vielmehr im Gegensatz zu „primary“ oder „root compound“ gebraucht, also generell verstanden als ein Kompositum, dessen Zweitglied von einem Verb abgeleitet ist und dessen Bedeutung durch die Argumentstruktur des zugrundeliegenden Verbs determiniert wird. Synthetische Komposita weisen im Gegensatz zu den semantisch offenen „primary“ oder „root compounds“ eine eindeutige Interpretation auf, bei der die erste Konstituente als Objekt des verbalen Kopfs verstanden wird. So ist der Gebrauch in Marchand (1969), Roeper/Siegel (1978), Selkirk (1982), Spencer (1991), Lieber (1994) und vielen anderen Werken. Beispiele sind Fensterputzer, Zigarettenraucher, Steuerzahler, Rauchmelder, Stromschlucker, Bibelübersetzung, Autoproduktion sowie engl. gum chewer ‘Kaugummi-Kauer’, milk steamer ‘MilchAufschäumer’, oil production ‘Öl-Produktion’, anger management ‘Agressionsbewältigung’. Dennoch stellt sich in der theoretischen Diskussion um synthetische Komposita die Frage, die übrigens auch in der Diskussion der Zusammenbildungen eine zentrale Rolle spielt, nämlich ob sie als Komposita (= (1)) oder Derivate (vgl. (2)) zu erklären sind: (1) [Fenster + [putz + er]] (2) [[Fenster + putz-] + er]

synthetisches Kompositum Marchand (1969: 16) und Allen (1978) analysieren sie als genuine Komposita bestehend aus N+N wie in (1). Lieber (1983) vertritt dagegen die Struktur in (2), welche ihre charakteristische Objekt-Verb-Interpretation direkt widerspiegelt. Booij (1988: 67) weist allerdings auf zwei Probleme für diese Annahme hin: Zum einen ist das Muster [N+V]V im Germanischen nicht produktiv, obwohl die Bildungen, in denen solche Kombinationen vorkommen, außerordentlich produktiv sind. Zum anderen diskutiert er den Fall des ndl. aardappelgevreet ‘Erdapfelgefresse’, bei dem aard­appel keine Konstituente mit dem Verbstamm vreet bildet. Das Problem dabei besteht darin, dass vreet mit ge- präfigiert wird, bevor gevreet mit dem Erstglied komponiert wird. Die Affigierung findet m.a.W. vor der Komposition statt wie in (1) dargestellt. Die Präfigierung statt Suffigierung bringt offenbar die korrekte Abfolge der Wortbildungsprozesse ans Licht. Unterstützt durch die Annahme der Argumentvererbung gewinnt die Struktur in (1) für viele Linguisten an Attraktivität gegenüber (2), vgl. Allen (1978), Selkirk (1982), Booij (1988, 2002), Lieber (2004) und Jackendoff (2009). Das deverbale Nomen Putzer weist bspw. dem Erstglied Fenster die von seiner verbalen Basis ererbte Objektrolle zu. Da interne Argumente von Nomen grundsätzlich fakultativ realisierbar sind, bleiben sie oft weg, vgl. Bürgermeister (der Stadt), Mutter (des Kindes). Die Relationalität eines von einem transitiven Verb abgeleiteten Nomens ist andererseits oft so stark, dass das Vorkommen des Objekts den grammatischen Status des Nomens bessert, vgl. ?Putzer vs. Fensterputzer. Dies erklärt den scheinbar gebundenen Status von Ableitungen wie ?Haber (vs. Machthaber), ?Binder (vs. Besenbinder), ?Macher (vs. Stimmungsmacher), ?Geber (vs. Gesetzgeber) und engl. ?turner (vs. page turner ‘Blattwender’), ?pleaser (vs. crowd pleaser ‘Mengen-Gefaller’), vgl. Olsen (2014). Für eine ausführliche Diskussion vgl. Meibauer/ Vogel (2017). Susan Olsen

→ § 22, 23; Argumentvererbung; Derivation; Kompositum;

primary compound; verbal compound; Zusammenbildung

⇁ synthetic compound (Woform)

🕮 Allen, M.R. [1978] Morphological Investigations. Diss. Storrs, CT ◾ Bloomfield, L. [1933] Language. New York, NY [etc.] ◾ Booij, G. [1988] The relation between inheritance and argument

S

System, lexikalisches 666 linking. Deverbal nouns in Dutch. In: Everaert, M./ Evers, A. [eds.] Morphology and Modularity. In Honour of Henk Schultink. Dortrecht: 57–73 ◾ Gaeta, L. [2010] Synthetic compounds. With special reference to German. In: Scalise, S./ Vogel, I. [eds.] Cross-Disciplinary Issues in Compounding. Amsterdam: 219–236 ◾ Iordăchioaia, G./ Alexiadou, A./ Pairamidis, A. [2017] Morphosyntactic sources for nominal synthetic compounds in English and Greek. In: ZWJW 1/1: 45–72 ◾ Jackendoff, R. [2009] Compounding in the Parallel Architecture and Conceptual Semantics. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Compounding. Oxford: 105–128 ◾ Lieber, R. [1983] Argument Linking and Compounding in English. In: LingInqu 14: 251–285 ◾ Lieber, R. [1994] Root Compounds and Synthetic Compounds. In: Asher, R.E./ Simpson, J.M.Y. [eds.] Encyclopedia of Language and Linguistics. Vol. VII. Oxford [etc.]: 3607–3610 ◾ Lieber, R. [2004] Morphology and Lexical Semantics. Cambridge ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Meibauer, J./ Vogel, P. [Hg. 2017] Zusammenbildungen / Synthetic Compounds. ZWJW Vol. 1/1 ◾ Melloni, C. [2020] Subordinate and Synthetic Compounds in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 700–726 ◾ Neef, M. [2015] Synthetic compounds in Ger-

S

man. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 582–593 ◾ Olsen, S. [2014] Delineating Derivation and Composition. In: Lieber, R./ Štekauer, P. [eds.] The Oxford Handbook of Derivational Morphology. Oxford: 26–49 ◾ Olsen, S. [2017] Synthetic compounds from a lexicalist perspective. In: ZWJW 1/1: 15–44 ◾ Roeper, T./ Siegel, M. [1978] A Lexical Transformation for Verbal Compounds. In: LingInqu 9: 199–260 ◾ Schroeder, L. [1874] Über die formelle Unterscheidung der Redetheile im Griechischen und Lateinischen mit besonderer Berücksichtigung der Nominalcomposita. Leipzig ◾ Selkirk, E. [1982] The Syntax of Words. Cambridge, MA [etc.] ◾ Spencer, A. [1991] Morphological Theory. Oxford [etc.] ◾ ten Hacken, P. [2010] Synthetic and Exocentric Compounds in a Parallel Architecture. In: Olsen, S. [ed.] New Impulses in Word-Formation. Hamburg: 233–251 ◾ Werner, M. [2017] Zur Entwicklung der synthetischen Komposition in der Geschichte des Deutschen. In: ZWJW 1/1: 73–92 ◾ Wilmanns, W. [1896] Deutsche Grammatik. Zweite Abteilung: Wortbildung. Strassburg.

System, lexikalisches → lexikalisches System

T Tätigkeitsname

≡ nomen actionis

Tätigkeitsnomen ≡ nomen actionis

Tatpuruṣa

Determinativkompositum im Sanskrit, bei dem die erste Konstituente in einem Kasus-Verhältnis zur Kopfkonstituente steht, sodass das gesamte Kompositum ein Hyponym der zweiten Konstituente denotiert. ▲ tatpuruṣa: determinative compound in Sanskrit in which the initial constituent stands in a case relationship to the head constituent, so that the compound as a whole denotes a hyponym of the head constituent. Im Sanskrit bilden die Determinativkomposita die größte Klasse der Kompositionstypen, die auch in allen indogermanischen Tochtersprachen vorkommt. Determinativkomposita weisen eine nominale oder adjektivische Kopfkonstituente auf, die durch ihre Erstkonstituente determiniert (qualifiziert) wird. Je nach Modus der Determination haben die Hindi-Grammatiker zwischen dependenten und deskriptiven Determinativkomposita unterschieden. Dependente Determinativkomposita wurden von den Grammatikern Tatpuruṣa genannt ‒ ein Terminus, der ‘dessen Mann’ bedeutet und zugleich ein Beispiel der Bildungsweise dieser Klasse darstellt. Das nominale Erstglied steht in einem Kasus-Verhältnis zum Zweitglied, vgl. die Beispiele rājendra ‘Könighäuptling’ (Genitiv), pādodaka ‘Wasser für die Füße’ (Dativ), dhānyārtha ‘Reichtum durch Getreide’ (Instrumental), grāmavāsa ‘Wohnsitz im Dorf’ (Lokativ) und nagaragama-

na ‘Gang in die Stadt’ (Akkusativ), vgl. Whitney (1950: 489–494). Als Kopf kann auch ein deverbales Nomen fungieren, das einen Akkusativ als Erstglied regiert wie bspw. in hastagrābhá ‘Hand-Greifen’ und devahéḍana ‘Götterhass’. Eine kleine Untergruppe der Tatpuruṣas weist in der Kopfposition ein Adjektiv (vgl. sthālīpakva ‘in einem Topf gekocht’; Lokativ) bzw. ein Partizip (vgl. vedavíd ‘Veda-Kennen’; Akkusativ) auf, vgl. Whitney (1950: 489–494). Deskriptive Determinativkomposita gehörten zur Klasse der Karmadhārayas, die nicht durch eine Kasusrelation zwischen den Bestandteilen charakterisiert sind, sondern durch Modifikation. Die erste Konstituente ‒ meist ein Adjektiv ‒ modifiziert oder qualifiziert die Kopfkonstituente. Beispiele sind nīlotpala ‘blauer Lotus’, mahādhaná ‘großer Reichtum’ (Whitney 1950: 494–495). Whitney konzediert allerdings, dass es z.T. schwierig ist, eine klare Grenze zwischen den Kompositionstypen Tatpuruṣa und Karmadhāraya zu ziehen. Als erste Konstituenten von Karmadhārayas kommen auch Nomina vor, die wie Adjektive das Kopfnomen qualifizieren. Dies ist wohl der Grund, warum die beiden Untertypen zu einer umfangreicheren Klasse der Determinativkomposita zusammengezogen wurden, vgl. Whitney (1950: 495). Susan Olsen

→ Determinativkompositum; Karmadhāraya; Kopf; Modifikation

🕮 Bauer, L. [2001] Compounding. In: Haspelmath, M./ König, E./ Oesterreicher, W./ Raible, W. [eds.] Language Typology and Language Universals (HSK 20.1). Berlin [etc.]: 695–707 ◾ Lindner, T. [2011–2018] Indogermanische Grammatik. Band IV: Wortbildungslehre. Teilband 1: Komposition. Teilband 2: Komposition im Aufriß. Heidelberg ◾ Lindner, T. [2019] Historische Metalinguistik I: Indogermanische Kompositionslehre. Salzburg [etc.] ◾ Stelzer, A.F. [2003] Elementarbuch der Sanskrit-Sprache. 19., durchges. u. verb. Aufl. v. A. Wezler. Berlin [etc.] ◾

tautologisches Kompositum 668 Whitney, W.D. [1950] Sanskrit grammar. Cambridge, MA [etc.] [https://en.wikisource.org/wiki/Sanskrit_Grammar_(Whitney)/ Chapter_XVIII; letzter Zugriff am 08.06.2021].

tautologisches Kompositum

Kompositum, in dem zwei synonyme Konzepte kombiniert werden. ▲ tautological compound: compound in which two synonymous concepts are combined. Ein tautologisches Kompositum vereinigt zwei synonyme Konzepte und unterscheidet sich damit vom determinativen Muster, das eine modifizierende und eine modifizierte Komponente enthält. Es handelt sich um eine Untergruppe von Kopulativkomposita. Henzen (1965: 77f.) nennt als Beispiele ahd. gom-man ‘Mann (Mensch)’, mhd. kintbarn ‘kleines Kind’, diub-stale, nhd. Schalk-narr, Zeit-alter, Streif-zug, engl. sledge-hammer ‘Vorschlaghammer’, path-way ‘Pfad’, court-yard ‘Vorplatz’. Marchand (1969: 62) nennt auch altenglische Kombinationen wie holt-wudu ‘Holz-Wald’, mægen-cræft ‘Kraft’, word-cwide ‘Rede’ und verweist auf Carr (1939: 334–337), der tautologische Komposita in altenglischer alliterativer Dichtung diskutiert. Einen Überblick über deutsche und anderssprachige „semantisch doppelnde“ Komposita bietet Schuppener (2019). Susan Olsen

→ Determinativkompositum; Kompositum; Kopulativkompositum

⇁ tautological compound (Woform)

T

🕮 Benczes, R. [2014] Repetitions which are not repetitions: The non-redundant nature of tautological compounds. In: EngLgLin 18: 431–447 ◾ Carr, C. [1939] Nominal Compounds in Germanic. London ◾ Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Marchand, H. [1969] The Categories and Types of Present-Day English Word-Formation. 2. Aufl. München ◾ Schuppener, G. [2019] Doppelt gemoppelt. Semantisch doppelnde Komposita im Deutschen. Wien.

Taxation

zur semantischen Grundklasse der Modifikation gehörendes Verfahren zur Bildung komplexer Wörter, mit denen der Sprecher eine wertende Einschätzung zum Ausdruck bringt. ▲ taxation: basic semantic process of modification which yields complex words with which the speaker expresses an evaluative judgment. Taxationsbildungen drücken eine positive oder negative Wertung, eine Einschätzung, eine besondere Wichtigkeit oder Bedeutung der durch

die jeweilige Ausgangseinheit bezeichneten Entität aus, ohne dass damit – wie bei der Augmentation oder Diminuierung – eine besondere Größe bezeichnet wird. Zur Taxation gehören unterschiedliche Verfahren und Bildungsmuster wie die Präfixderivation (dt. Untat, ndl. wangedrag ‘schlechtes Benehmen’ < gedrag ‘Behmen’), die Suffixderivation (dt. Dichterling) und die Komposition (dt. Staranwalt, ndl. topprestatie ‘Spitzenleistung’). Gebildet werden vor allem Subst. und Adj. (engl. maladministration ‘Misswirtschaft’, malcontent ‘schlecht gelaunt, missvergnügt’), seltener Verben (engl. maltreat ‘misshandeln’ zu treat ‘behandeln’). Taxationsbildungen können sowohl Pejorativbildungen (dt. Dichterling ‘schlechter, unbegabter Dichter’) als auch Meliorativbildungen sein (dt. Dichterfürst ‘alle anderen überragender Dichter’). Daneben gibt es wertneutrale Einstufungen, durch die Wichtiges und Unwichtiges voneinander abgehoben werden (dt. Hauptberuf, Nebenberuf). Erben (2006: 93) unterscheidet fünf Untergruppen der Taxation: a) „falsch, verfehlt“ (z.B. Fehl-, Miss-); b) „nur stellvertretend“ (z.B. Vize-); c) „ehemalig, nicht mehr“ (z.B. Alt-, Ex-); d) „besonders, zusätzlich“ (z.B. Extra-, Sonder-); e) „gegensätzlich, gegnerisch" (z.B. Anti-). Ruf (1996: 336) ergänzt vier weitere Untergruppen: f) „sehr gut, hervorragend“ (z.B. Top-, Ideal-, Premium-); g) „wichtig(st)es, bedeutend(st)es“ (z.B. General-, Kapital-, Haupt-); h) „völlig, ganz“ (z.B. Total-, General-); i) „viele, vielfach“ (z.B. Poly-, Multi-), letztere gelten häufig auch als Numerativbildungen. Vielen dieser Wortbildungseinheiten ist nicht nur eine Funktion zuzuordnen, sondern sie haben mehrere, unterschiedliche Funktionen: so dient das dt. Präfix un- neben der Taxation (z.B. in Untat ‘verachtenswerte, verwerfliche Tat’) vor allem der Negation (Unglück ‘kein Glück’), top- bildet ebenso Augmentativa (Topmodel, Topmanager vs. topsecret, topmodern). Auch innerhalb der Taxation kann ein und dieselbe Wortbildungseinheit unterschiedliche Wertungen ausdrücken, positive (dt. Schulbeispiel ‘typisches Beispiel’) wie negative (dt. Schulweisheit ‘nur angelerntes Wissen’), vgl. Fleischer/Barz (2007: 102). Für das Dt. existieren zahlreiche als umgangssprachlich markierte Modelle, die eine negativ wertende Einschätzung vermitteln, vgl. Dreck(Dreckarbeit, Drecknest), Mist- (Mistkerl, Mist-

669 temporal hund), Sau- (Sauwetter, Sauhaufen), -fritze (Zeitungsfritze, Filmfritze), -suse (Heulsuse, Transuse). Anja Seiffert ≡ taxierende Bewertung → Augmentation; Diminuierung; meliorativ; Modifikation; Negation; Pejoration

🕮 Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen ◾ Grandi, N. [2020] Evaluatives in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 1. New York: 607–619 ◾ Ruf, B. [1996] Augmentativbildungen mit Lehnpräfixen. Heidelberg ◾ Wellmann, H. [1998] Die Wortbildung. In: Duden [1998] Grammatik der deutschen Gegenwartssprache. 6., neu bearb. Aufl. Mannheim [etc.]: 408–557.

taxierende Bewertung ≡ Taxation

Teleskopwort

≡ Kontamination

template, linguistisches → linguistisches template

template, morphologisches → morphologisches template

templatische Morphologie

Morphologie, in der komplexe Wörter nach streng geordneten Positionsklassen von Morphemen organisiert sind. ▲ templatic morphology: kind of morphology in which complex words are organized according to strictly ordered position classes of morphemes. Während konkatenative Morphologie hierarchisch und nicht-konkatenative Morphologie in Schichten organisiert ist, ist templatische Morphologie in morphologischen templates (dt. Schablonen) organisiert, die eine Reihe von Positionsklassen in fester Abfolge definieren. In einem „templatischen“ System sind Feststellungen diskontinuierlicher Abhängigkeiten zwischen Morphemen möglich. Anders als in Systemen mit hierarchischer Ordnung von Morphemen ist es in templatischen Morphologien möglich, dass ein inneres Morphem auf der Grundlage eines äußeren Morphems selegiert wird, eine Eigenschaft, die Simpson/Withgott (1986) als „Lookahead“ ‘Vorausschauen’ bezeichnen. Zudem ist es in vielen Fällen nötig, Nullaffixe zu postulieren, wenn kein overtes Affix vorliegt. Templatische Morphologie ist zur Beschreibung

der Wortbildung in athapaskischen Sprachen Nord-Amerikas und der Morphologien vieler weiterer Sprachen verwendet worden (Rice 2000). Rochelle Lieber

↔ hierarchische Struktur → morphologisches template; nicht-konkatenative Morphologie; Root-and-Pattern-Morphologie

⇁ templatic morphology (Woform; Typol)

🕮 Rice, K. [2000] Morpheme Order and Semantic Scope. Cambridge ◾ Simpson, J./ Withgott, M. [1986] Pronominal Clitic Clusters and Templates. In: Borer, H. [ed.] The Syntax of Pronominal Clitics. New York, NY: 149–174.

temporal

semantische Grundrelation von Wortbildungen, bei denen das Determinans einen Zeitpunkt oder einen Zeitraum angibt, auf den das Determinatum Bezug nimmt. ▲ temporal: basic semantic relation in word-formation in which the determinans denotes a point in time or an interval of time to which the determinatum refers. Die Kategorie der Zeit ist aus der menschlichen Wahrnehmung und Erkenntnis – und damit auch aus der Sprache des Menschen – kaum wegzudenken. Dies gilt auch für die Wortbildung. Bildungen mit temporaler Wortbildungsbedeutung sind in zahlreichen, nicht nur in wortbildungsaffinen Spra­chen wie dem Deutschen oder Englischen belegt, vgl. etwa frz. prépublication ʻVorabdruckʼ, ital. preannunziare ʻvorankündigenʼ, zu an­nun­ciare ʻbe­kannt gebenʼ, tsch. dopoledne ʻVormittagʼ, zu poledne ʻMittagʼ, poln. poporodowy ʻnachgeburtlichʼ, zu porodowy ʻgeburtlich, die Entbindung be­tref­ fendʼ; griech. προαίσθημα ʻVorgefühlʼ, zu αίσ­θη­ μα ʻGefühlʼ, finn. alkuruoka ʻVorspeiseʼ zu ruoka ʻessenʼ. Ihrer Wortbildungsstruktur nach lassen sich Temporalkomposita (dt. Nachtwanderung) von De­ri­va­ten mit temporaler Wortbildungsbedeutung (frz. prélavage ʻVorwäscheʼ, zu lavage ʻWä­ scheʼ) abgrenzen. Erstere kommen besonders im Deutschen häufig vor. Das Bestimmungswort gehört in der Regel zur Bezeichnungsklasse ʻZeitʼ. Temporalabstrakta wie dt. Abend, Mittag, Morgen, Nacht, Sommer, Winter, Stunde, Woche sind als Erstglieder reihenhaft ausgeprägt, dies belegt etwa die Vielzahl deutscher Komposita mit Morgen: Morgenandacht, -ausgabe, -dunst, -kälte, -kreis, -licht, -luft, -magazin, -muffel, -nebel, -sonne,

T

temporal 670

T

-spaziergang, -stern, -tau etc. (vgl. Eichinger 2015: 1383). Auch andere germanische Sprachen kennen solche substantivischen Komposita, vgl. engl. night life ʻNachtlebenʼ, night-nurse ʻNachtschwes­ terʼ, night-watch ʻNachtwacheʼ, nightwork ʻNacht­ dienstʼ; ndl. avonddienst ʻSpät­dienstʼ, avondeten ʻAbendessenʼ, avondgebet ʻAbend­andachtʼ, avond­ les ʻAbendunterrichtʼ etc. Reihenhaft als Erstglieder entwickelt sind ferner temporale Präposi­ tionen: dt. Vorabend, Vorfreude, Vorschule; Nach­ feier, Nachmittag, Nachsaison etc. Unter den Temporalkomposita finden sich neben substantivischen auch adjektivische Komposita: dt. altersweise, frühjahrsmüde, nachtaktiv; ndl. nachtblind ʻnachtblindʼ, winterhard ʻwinterhartʼ. Auch hier kommen temporale Präpositionen als Erstglieder vor: dt. vorweihnachtlich, vorwissenschaftlich, nachwinterlich, wobei sich die Präpositionen vor und nach nicht selten mit demselben Zweitglied verbinden und auf diese Weise Wortbildungsantonyme hervorbringen: vgl. dt. vorgeburtlich/nachgeburtlich, vorklassisch/nachklassisch, vorweihnachtlich/nachweihnachtlich. Verbale Temporalkomposita sind selten, vgl. ndl. nachtbraken ʻsich die Nacht um die Ohren schlagen, nachts arbeitenʼ. Häufiger belegt sind temporale Partikelverben wie dt. nacharbeiten, überdauern, vordatieren (vgl. Barz 2016: 714). Hier wird durch die Partikel die temporale Konstitution der Basisverben verändert, indem die Handlung des Basisverbs zu der des Partikelverbs auf einer (gedachten) Zeitachse in Beziehung gesetzt wird (vorkeimen ʻvor dem eigentlichen Keimprozess keimenʼ, nachbestellen ʻnach dem eigentlichen Bestellvorgang bestellenʼ) oder in ihrem zeitlichen Ablauf als zukünftig dargestellt wird (dt. vorkochen ʻim Voraus kochenʼ) (vgl. Fleischer/Barz 2012: 397). Neben oder anstelle von Temporalkomposita kennen die meisten Sprachen temporale Präfigierungen: dt. Präexistenz, prähistorisch; engl. preregister ʻregister before the normal registration periodʼ, preboard ʻboard a plan before most other passengersʼ (vgl. Lehrer 1995: 141); frz. postcure ʻNachkurʼ (zu frz. cure ʻKurʼ), préindustriel(le) ʻvor­industriellʼ, resonner ʻnachklingenʼ (zu frz. sonner ʻklingenʼ) etc. Ähnlich wie dt. vor und nach bilden auch pre-/pré-/prä- und post- häufig Wortbildungsantonyme, vgl. dt. präoperativ/postoperativ; engl. prewar/postwar, predate/postdate; frz.

pré­industriel(le)/postindustriel(le), prénatal(e)/post­ natal(e). Unter semantischem Aspekt ist eine Subklassifikation der Temporalbildungen in temporal-punktuelle und temporal-durative Bildungen sinnvoll (vgl. Pümpel-Mader/Gassner-Koch/Wellmann/ Ortner 1992: 129–133, 208–201). Zu den temporal-punktuellen Bildungen gehören jene, deren Determinans einen Zeitpunkt angibt, auf den sich das Determinatum bezieht. Dabei lassen sich die temporal-punktuellen Bildungen noch einmal subklassifizieren in solche, bei denen das Determinans auf einen konkreten Zeitpunkt referiert (dt. nachtaktiv), und solche, bei denen es einen Zeitpunkt bezeichnet, der relativ zu einem Normwert einzuordnen ist (dt. frühreif). Als temporal-durativ werden Bildungen beschrieben, deren Determinans statt eines Zeitpunktes eine zeitliche Dauer kennzeichnet, vgl. dt. Wochenbericht, Wochenplan, Wochenumsatz, Wochenpensum (vgl. Eichinger 2015: 1383f.). Nicht zu den temporalen Bildungen gezählt werden gemeinhin iterative oder frequentative Bildungen wie dt. blinkern, sticheln, da sie genau betrachtet keine Zeitdauer, sondern vielmehr die Häufigkeit kennzeichnen, mit der etwas (über einen bestimmten Zeitraum hinweg) geschieht. Zu Überschneidungen kommt es vor allem mit kausalen und finalen Bildungen. Adjektive wie dt. saisonmüde, frühjahrsmüde, altersmorsch, altersweise lassen sich nicht nur temporal, sondern oft auch kausal interpretieren, insofern als das Erstglied den Grund für den durch das Zweitglied bezeichneten physischen Zustand angibt: ʻmüde, weil Frühjahr istʼ, ʻmorsch wegen des (hohen) Altersʼ, ʻweise aufgrund des Altersʼ (vgl. Pümpel-Mader/Gassner-Koch/Wellmann/ Ortner 1992: 130). Eher als finale Bildungen zu beschreiben sind Komposita wie dt. Sommerkleid ʻKleid für den Sommerʼ, sommerleichte (Schuhe) ʻleicht für den Sommerʼ oder niederl. zomerband ʻSommerreifenʼ, insofern als das Erstglied hier eher einen Zweck angibt (ʻist geeignet fürʼ). Ausgeschlossen wäre eine temporale Interpretation freilich nicht, vgl. etwa die Paraphrase ʻKleid, das man im Sommer trägtʼ. Hier zeigt sich der für die Komposition typische Interpretationsspielraum in Bezug auf die Wortbildungsbedeutung. Anja Seiffert

→ Determinans; Determinatum; durativ; final (1); Frequenta-

671 tivum; iterativ; Wortbildungsantonymie; Wortbildungsbedeutung ⇁ temporal (Typol)

🕮 Barz, I. [2016] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 9., vollst. überarb. u. aktual. Berlin: 644–774 ◾ Eichinger, L.M. [2015] Spatial and temporal relations in German word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1373–1389 ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Lehrer, A. [1995] Prefixes in English Word Formation. In: FoL XXIX/1–2: 133–148 ◾ Pümpel-Mader, M./ Gassner-Koch, E./ Wellmann, H./ Ortner, L. [1992] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 5. Hauptteil: Adjektivkomposita und Partizipialbildungen. Berlin [etc.].

textorientierte Wortbildungslehre

auf die Leistungen der Wortbildung bei der Produktion und Verarbeitung von Texten gerichtete Betrachtung. ▲ text-oriented word-formation: study of the output of word-formation in the production and processing of texts. Mit der Herausbildung und Weiterentwicklung der Disziplin Textlinguistik rückten auch in der Wortbildungslehre die textuellen Funktionen von Wortbildungsprodukten in allgemeinen und in spezielleren Arbeiten stärker in den Blick. Dazu gehören Beschreibungen der textkonstitutiven (kohäsionsbildenden, textstrukturierenden, textverflechtenden) und textdifferenzierenden (stilistischen, textsortendifferenzierenden) Potenzen sowie der kognitionslinguistischen Prozesse beim Verstehen, Akzeptieren und Bewerten von Wortbildungsprodukten im Text (vgl. Seiffert 2015). Einen guten Einblick bietet der Sammelband von Barz/Schröder/Fix (2000: 131–238) mit einem Themenschwerpunkt „Wortbildung und Text“, einem Forschungsüberblick von Barz (2000: 303) und einer Bibliographie zu diesem Thema von Barz/Schröder (2000: 328–330). Eine durchgehend textorientierte Darstellung, die wesentliche Einsichten in die Leistung der Wortbildung für Text- und Stilgestaltung vermittelt, stellt Eichinger (2000) dar. Dem Zusammenhang von Wortneubildung und Textkonstitution geht Peschel (2002) nach. Eine umfassende „Untersuchung textverknüpfender Wortbildungselemente“ liegt mit Schlienz (2004) vor. In der Textlinguistik selbst wird der Wortbildung unterschiedliche Beachtung geschenkt. Weinrich

textverflechtende Wortbildung (2005) widmet innerhalb der „Textgrammatik der deutschen Sprache“ ein Kapitel der Wortbildung. Darin werden die nominale, adjektivische und verbale Wortbildung sowie die jeweils spezifischen Leistungen der Wortbildungsarten und Wortbildungsmittel im Kontext beschrieben. Insgesamt ist aber die Feststellung Wolfs (1996: 242), dass „in Darstellungen der Textlinguistik die Wortbildung als relevanter Gegenstand weitestgehend zu fehlen scheint“, immer noch aktuell. Hannelore Poethe

→ kohäsionsbildende Wortbildung; textverflechtende Wortbildung

🕮 Barz, I./ Schröder, M./ Fix, U. [Hg. 2000] Praxis- und Integrationsfelder der Wortbildungsforschung. Heidelberg ◾ Eichinger, L.M. [2000] Deutsche Wortbildung. Tübingen ◾ Peschel, C. [2002] Zum Zusammenhang von Wortneubildung und Textkonstitution. Tübingen ◾ Schlienz, M. [2004] Wortbildung und Text. Eine Untersuchung textverknüpfender Wortbildungselemente. Erlangen [etc.] ◾ Seiffert, A. [2015] Word-formation and text. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 2178–2191 ◾ Stumpf, S. [2018] Textsortenorientierte Wortbildungsforschung. Desiderate, Perspektiven und Beispielanalysen. In: ZWJW 2/1: 165–194 ◾ Weinrich, H. [2005] Textgrammatik der deutschen Sprache. 3., rev. Aufl. Hildesheim [etc.] ◾ Wolf, N.R. [1996] Wortbildung und Text. In: Sprw 21/3: 241–261.

textverflechtende Wortbildung

Herstellung inhaltlich-semantischer Beziehungen im Text mittels Wortbildung. ▲ text-linking word-formation: establishing of semantic relations within a text by means of word-formation. Die textverflechtenden (textkonstitutiven) Leistungen der Wortbildung werden im Allgemeinen in der Wortbildungslehre im Zusammenhang mit den textuellen Funktionen der Wortbildung dargestellt. Neben den aus textgrammatischen Ansätzen stammenden Begriffen textverflechtend oder textverknüpfend wird im Zusammenhang mit der Differenzierung der textzentrierten Merkmale nach Kohäsion und Kohärenz (vgl. das Textmodell von de Beaugrande/Dressler 1981) weitgehend gleichbedeutend auch kohäsionsbildend verwendet. Aufgrund ihrer Stellung an der Schnittstelle zwischen Grammatik und Semantik erweist sich die Wortbildung als ideales Verflechtungsmittel. Die ausdrucksseitige Wiederaufnahme eines lexikalischen Morphems bzw. einer Konstituente, vor

T

Thetamarkierung 672 allem in Gliedern eines Wortbildungsnestes bzw. einer Wortfamilie sowie in Wortbildungssynonymen, -antonymen, -hyperonymen/-hyponymen/kohyponymen, unterstützt explizit die inhaltsseitige, thematische Wiederaufnahme im Text, d.h. die Textkohärenz. Textverknüpfend können unter bestimmten Kontextbedingungen auch Affixe wirken (vgl. Schlienz 2004: 289ff.). Ein markantes Beispiel für eine sowohl textverflechtende als auch stilistische Wirkung eines Suffixes, das zugleich zum Substantiv transponiert wird, zeigt der Flyer einer Theatergruppe: „Hier vereinen sich ‚...lose’ – also arbeits-, obdach-, heimat-, lust-, hoffnungs-, hemmungs- und andere ‚...lose’ – mit Schülern und Menschen im Berufsleben, um sowohl für ‚...lose’ als auch für ‚Nicht-lose’ zu spielen“ (Poethe 2002: 38). Hannelore Poethe

→ kohäsionsbildende Wortbildung; textorientierte Wort-

bildungslehre; Wortbildungsantonymie; Wortbildungshyperonymie; Wortbildungshyponymie; Wortbildungsnest; Wortbildungssynonymie; Wortfamilie

🕮 de Beaugrande, R./ Dressler, W.U. [1981] Einführung in die Textlinguistik. 2., durchges. Aufl. Tübingen ◾ Poethe, H. [2002] Wort(bildungs)spiele. In: Barz, I./ Fix, U./ Lerchner, G. [Hg.] Das Wort in Text und Wörterbuch. Stuttgart [etc.]: 23–40 ◾ Schlienz, M. [2004] Wortbildung und Text. Eine Untersuchung textverknüpfender Wortbildungselemente. Erlangen [etc.] ◾ Schröder, M. [1978] Über textverflechtende Wortbildungselemente. In: DaF 15: 85–92 ◾ Seiffert, A. [2015] Word-formation and text. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] WordFormation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 2178–2191 ◾ Wolf, N.R. [1996] Wortbildung und Text. In: Sprw 21/3: 241–261.

Thetamarkierung

Vergabe einer semantischen Rolle an ein Argument. ▲ theta marking: assignment of a semantic role to an argument.

T

Thetamarkierung wurde in der Government and Binding-Version von Chomskys (1981) Syntaxtheorie als ein Mittel eingeführt, um die thematischen (oder Theta-)Rollen in der lexikalisch-semantischen Repräsentation eines Prädikats mit ihren syntaktischen Realisationen in einer Phrasenstruktur, die das relevante Prädikat als Kopf hat, zu verbinden. Higginbotham (1985) schlägt drei Wege vor, um eine Thetarolle zu vergeben und somit das Komplement oder das Adjunkt von einem Kopf zu „thetamarkieren“, nämlich Thetazuweisung, Thetabindung und Thetaidentifzierung. Die Interpretation der Subjekt- und Objektargu-

mente eines transitiven Verbs wie treffen in Max trifft den Ball wird zum Beispiel erreicht, indem die externen und internen Argumente der VP mit treffen als Kopf jeweils als Agens bzw. Thema markiert werden. Weil die Thetarollen Teil der lexikalisch-semantischen Charakterisierung eines Prädikats sind, spielen sie auch eine Rolle bei der Interpretation von komplexen Wortstrukturen, die auf der Basis solcher relationalen Prädikate gebildet werden. Diese Phänomene wurde in der Wortstrukturtheorie (oder auch Wortsyntax) als Argumentvererbung beschrieben. Viele verschiedene Mittel zur Markierung oder Verbindung der Argumente eines Prädikats wurden vorgeschlagen, zum Beispiel Liebers (1983) „Argument linking Principle“, Sproats (1985) „Cross-Categorial Theta Grid Percolation Convention“, Selkirks (1982) „First Order Projection Condition“, Roeper/Siegels (1978) „First Sister Prinzip“ oder auch Bierwischs (1989) Gebrauch der logischen Operation von funktionaler Komposition. Diese Mechanismen garantieren, dass alle verwandten Phrasen und komplexen Wörter wie die in (1)–(3) eine parallele Interpretation erhalten. (1) Schafscherer – Schafe scheren (2) Belästigung von Studenten – Studenten belästigen (3) vermeidbare Konsequenzen – die Konsequenzen vermeiden Susan Olsen

→ argument linking principle; Argumentstruktur; Argumentvererbung; funktionale Komposition

⇁ theta marking (Woform)

🕮 Bierwisch, M. [1989] Event nominalizations. In: Motsch, W. [Hg.] Wortstruktur und Satzstruktur. Berlin: 1–73 ◾ Chomsky, N. [1981] Lectures on Government and Binding. Dordrecht ◾ Higginbotham, J. [1985] On Semantics. In: LingInqu 16: 547–593 ◾ Lieber, R. [1983] Argument Linking and Compounding in English. In: LingInqu 14: 251–285 ◾ Roeper, T./ Siegel, M. [1978] A Lexical Transformation for Verbal Compounds. In: LingInqu 9: 199–260 ◾ Selkirk, E. [1982] The Syntax of Words. Cambridge, MA [etc.] ◾ Sproat, R. [1985] On Deriving the Lexicon. Diss. Cambridge, MA.

tier

→ autosegmental tier

tier conflation

Prozess in der autosegmentalen Morphologie, bei dem getrennte morphemische Schichten zu einer

673 Tilgung einzigen linearen phonologischen Repräsentation zusammengelegt werden. ▲ tier conflation: process in autosegmental morphology by which separate morphemic tiers are folded together into a single linear phonological representation. Der Begriff der tier conflation ‘Schichtzusammenlegung’ wurde im Detail von McCarthy (1986) entwickelt, allerdings schreibt dieser die ursprüngliche Idee einer unveröffentlichten Arbeit von Younes (1983) zu. Die Hypothese, dass jedes Morphem eine eigene, für andere Morpheme unsichtbare autosegmentale Schicht konstituiert, erklärt, dass in Sprachen wie dem Rotuman phonologische Regeln nicht über Morphemgrenzen hinweg operieren dürften. Diese Aussage ist aber falsch. Deshalb schlägt McCarthy vor, dass an irgendeiner Stelle der phonologischen Derivation die Schichten eliminiert werden und alles phonologische Material in eine einzige Schicht linearisiert wird. An dieser Stelle können phonologische Regeln ansetzen. Zudem macht McCarthy den Versuch, tier conflation mit dem Begriff der „bracket erasure“ ‘Klammertilgung’ gleichzusetzen; wenn jedes Morphem eine eigene Schicht konstituiert und die einzelnen Schichten an irgendeiner Stelle in der Derivation zusammengelegt werden, dann wird dort das Wissen um die interne Struktur des Wortes gelöscht, und die ursprüngliche Struktur ist für alle weiteren phonologischen oder morphologischen Prozesse nicht mehr zugänglich. Bat El (1998) argumentiert allerdings, dass tier conflation nicht mit „bracket erasure“ gleichgesetzt werden kann, weil Morphemgrenzen im Modernen Hebräischen sichtbar sein müssen, nachdem tier conflation stattgefunden hat, damit eine für diese Sprache typische MetatheseRegel operieren kann. Rochelle Lieber

→ autosegmental tier; autosegmentale Morphologie; mor-

phemic tier hypothesis; nicht-konkatenative Morphologie

⇀ tier conflation (Phon-Dt) ⇁ tier conflation (Phon-Engl; Woform)

🕮 Bat-El, O. [1988] Remarks on Tier Conflation. In: LingInqu 19: 477–485 ◾ McCarthy, J.J. [1986] OCP Effects. Gemination and Antigemination. In: LingInqu 17: 207–264.

tier, autosegmental → autosegmental tier

Tilgung

Fortlassen eines oder mehrerer meist unbetonter Laute oder einer Silbe im Wort. ▲ elision: omission of one or several usually unaccented sounds or of a syllable in a word. Mit dem Begriff Tilgung oder Elision wird das Fortlassen eines oder mehrerer meist unbetonter Laute bezeichnet. Die Einzelheiten werden teilweise unter Synkope, Apokope und Haplologie behandelt. Über das dort Dargestellte hinaus bezieht sich der Begriff Tilgung im Bereich der Phonetik/Phonologie auch auf den Umstand, dass in der gesprochenen Sprache, etwa dem gesprochenen Deutschen, aus sprachökonomischen Gründen teilweise ganze Silben fortgelassen werden, etwa in [ei]’ne. Der Wortrest wird in dem betreffenden Kontext wie das Wort selbst verstanden. Daneben zeigt sich Tilgung in normalen Varianten von Morphemen bzw. Morphemsequenzen eines Wortes. So kommen bei Verben wie sammeln, handeln und klingeln, die mit dem Formationsmorphem -(e)l gebildet sind, zwei Varianten des Wortstamms vor, neben bspw. sammel- die aus Gründen der leichteren Aussprache gekürzte Variante samml- in den Formen der 1. Pers. Sg. Ind. Präs. ich sammle, in den Formen der 1. und 3. Pers. Sg. Konj. Präs. ich sammle und er/sie/es sammle und im Imperativ Sg. sammle! Für den Gesichtspunkt der nichtkonkatenativen Morphologie ist dabei wesentlich, dass aufgrund der distributionellen Beschränkung die Wortstammvariante samml- sekundär auch einen Hinweis auf die Tempusakzidenz Präsens und die Numerusakzidenz Singular gibt (vgl. Simmler 1998:104). Während es sich bei den vorgestellten Alternationen um „langue“-Varianten der Standardhochsprache handelt, sind die Varianten rudr-, ändr- und klettr- zu rudern, ändern und klettern als umgangssprachlich zu bewerten (Simmler 1998: 104). Eine weitere Art der Tilgung tritt in seltenen Fällen wie Rechenbuch auf (Simmler 1998: 374f.), dessen Erstglied zum Verb rechnen gehört. Das Verb rechnen geht auf die ahd. Vorstufe rechen-ōn ‘ordnen, lenken’ zurück, deren Basis ein Adjektiv ist. Über mhd. rechenen wird das Verb ins Nhd. tradiert, wo es zwei grundlegenden Sprachwandelerscheinungen unterliegt. Zum einen entsteht durch die Synkope des zweiten e die Variante

T

Tilgungskonversion 674

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rechnen. Zum anderen wird das Relationsmorphem -en des Infinitivs getilgt, so dass sich die Infinitivvariante rechen- ergibt. Das Grundmorphem rechn- wird in der Verbalflexion und in Ableitungen wie Rechnung verwendet. Die andere Infinitivvariante kann als Erstglied von Komposita wie Rechenbuch verwendet werden. Ähnliche Entwicklungen liegen bei zeichnen (Zeichenbuch), atmen (Atemgerät) und trocknen (Trockenhaube) vor. Dabei werden die diachronen Zusammenhänge synchron dadurch verundeutlicht, dass die Varianten ohne n ausdrucksseitig den nominalen Mitgliedern der Wortfamilie, d.h. den Substantiven Zeichen und Atem sowie dem Adjektiv trocken, gleichen. Bei Komposita mit einem substantivischen Erstglied und einem substantivischen Zweitglied tritt in Wörtern wie Mühlrad, Rebstock und Wettbüro Tilgung des auslautenden -e der Wörter Mühle, Rebe oder Wette auf. Dieser Vorgang ist auf Feminina beschränkt, die im Nominativ einen Ausgang auf -e aufweisen; stimmloser Konsonant vor dem -e, wie von Fleischer/Barz angenommen (1992: 128), ist nicht Bedingung (vgl. Simmler 1998: 371). Bei Hetzjagd (ebenda) liegt eine verbale Basis näher, wie sie auch durch das Grimm’sche Wörterbuch angenommen wird. Tilgung des auslautenden -e bei einer adjektivischen Basis lässt sich bei Ableitungen auf -igkeit beobachten, so bei Müdigkeit zu müde (Simmler 1998: 515 nach Fleischer/Barz 1992: 159). Entsprechendes gilt für Ableitungen mit dem Suffix -heit, etwa Weisheit (Simmler 1998: 517). Substantivische Basen auf -e erfahren dessen Tilgung bei der Ableitung mit dem Movierungssuffix -in, so in Botin zu Bote, Löwin zu Löwe und Äffin zu Affe (Simmler 1998: 522). Als Tilgung lässt sich auch die Haplologie in Zauberin statt eigentlich Zaubererin auffassen (ebenda). Weitere Tilgungen kommen vor bei Diminutivbildungen auf -lein (Zicke – Zicklein, Faden – Fädlein) (Simmler 1998: 522), -chen (Tantchen – Tante, Löckchen – Locke, Bröckchen – Brocken, Leutchen – Leute) (Simmler 1998: 526) und -el (Krümel – Krume) (Simmler 1998: 531). Aufgrund des Nebeneinanders von Wortbildungen wie Drucker und Druckerei neben dem Verb drucken und dem Substantiv Druck oder von Schäfer zu Schaf und Schäferei zu Schäfer konnte die Sequenz -erei als eigenes Suffix für die Ableitung von substantivischen Basen aufgefasst wer-

den. Angewandt wird es beispielsweise in Lumperei zu Lump oder Mosterei zu Most. Insoweit muss davon ausgegangen werden, dass bei auf -e auslautenden Basen dieser Auslaut bei Antritt des Suffixes -erei getilgt wird, also Käse > Käs-erei, Schurke > Schurk-erei (Simmler 1998: 530). Gleichfalls wird vor dem Suffix -erich das auslautende -e von Basen getilgt, so in Enterich zu Ente, Täuberich zu Taube, ferner das auslautende -en bei Knöterich zu Knoten (Simmler 1998: 531), falls bei dieser Bildung des 18. Jh. nicht noch die ältere Variante Knote zugrundelag. Eckhard Meineke ≡ Elision → Apokope; Diminutivum; Grundmorphem; Haplologie; Movierungssuffix; Synkope ⇀ Tilgung (Gram-Syntax; Phon-Dt) ⇁ elision (Phon-Engl)

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [1992] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen ◾ Lindgren, K.B. [1953] Die Apokope des mittelhochdeutschen -e in seinen verschiedenen Funktionen. Helsinki ◾ Löhken, S.C. [1997] Deutsche Wortprosodie. Abschwächungs- und Tilgungsvorgänge. Tübingen ◾ Lüttel, V. [1981] Kάς und καί. Dialektale und chronologische Probleme im Zusammenhang mit Dissimilation und Apokope. Göttingen ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin ◾ van Lessen Kloeke, W. [1982] Deutsche Phonologie und Morphologie. Tübingen.

Tilgungskonversion ≡ Rückbildung

Tmesis

Auseinandertrennung eines Wortes, meist als Stilmittel. ▲ tmesis: separation of a word into two or more parts, mostly as a stylistic device. Es gibt zwei Hauptanwendungen des Terminus Tmesis (Griechisch für ‘das Schneiden’). Die erste (eher seltene) Verwendung bezieht sich auf eine von Grammatikregeln geforderte/erlaubte Trennung der Bestandteile eines angeblichen Kompositums, etwa bei sie hören bald auf und da hab ich nichts gegen (wobei aufhören und dagegen angeblich aufgespaltet werden). Die zweite Verwendung des Terminus bezieht sich auf die (oft eigentlich ungrammatische) Trennung eines Wortes, um bestimmte stilistische bzw. rhetorische Effekte zu erzielen. Ein Beispiel wäre die Trennung des lateinischen Wortes cerebrum ‘Schädel’ in saxo cere comminuit brum ‘er spaltete

675

traditionelle Wortbildungslehre

seinen Schädel auf’ (Ennius; Annales 609). Hier liegt ein Fall von Ikonizität vor, in dem die Spaltung des Wortes die Spaltung des bezeichneten Gegenstandes symbolisiert. Ein anderes Beispiel wäre das Phänomen der sog. expletive infixation im umgangssprachlichen Englisch (fan-bloodytastic, abso-blooming-lutely). Hier bewirkt die Tmesis eine Steigerung und Emotionalisierung der getrennten Wörter fantastic und absolutely. Andrew McIntyre

→ Infix; Partikelverb; trennbares Verb ⇀ Tmesis (Gram-Formen; HistSprw; Phon-Dt; Lexik) ⇁ tmesis (Phon-Engl)

🕮 Hajna, I. [2004] Die Tmesis bei Homer und auf den mykenischen Linear B-Tafeln. In: Penney, J.H.W. [ed.] Indo-European Perspectives. Oxford: 146–178 ◾ Hammond, M. [1999] The Phonology of English. A Prosodic Optimality Theoretic Approach. Oxford.

Ton

auf das Morphem oder Wort bezogener semantisch distinktiver Tonhöheverlauf. ▲ tone: semantically distinctive curve of pitch on morphemes or words. Unter Ton versteht man auf morphologisch definierte Einheiten wie das Morphem oder das Wort bezogene Erscheinungen des Tonhöheverlaufs, sofern ein unterschiedlicher Tonhöheverlauf in einer Sprache semantisch distinktiv ist, wie das in den Tonsprachen der Fall ist. Analog zu dem Terminus Phonem spricht man von einem Tonem, wenn die phonetischen Töne distinktiv sind. Zur Notation des Verlaufs der Töne wird bisweilen ein fünfstufiges Bezugssystem mit 1 für die tiefste und 5 für die höchste Tonhöhe verwendet. Im Südchinesischen und Vietnamesischen unterscheidet man sechs Töne, das heißt, ein mit den gleichen Phonemen erzeugtes Wort kann je nach Tonhöhe sechs verschiedene Bedeutungen haben. Im Punu, einer Miao-Yao-Sprache, werden acht Töne voneinander unterschieden, die durch die folgenden Wörter repräsentiert werden: cu33 ‘zusammen’, cu22 ‘das Allerletzte’, cu12 ‘Brücke’, cu43 ‘Wein, Alkohol’, cu42 ‘befehlen’, cu31 ‘Haken’, cu21 ‘gerade eben’, cu231‘Trockenheit’. Für das Schwedische und Serbokroatische wird dem Wortton ein bedeutungsdifferenzierender Wert zugesprochen, z.B. in schwed. Komma ‘Komma’/komma ‘komme’ (Heupel 1973), was aber vielleicht eher in den Bereich des Tonhöheakzents gehören könnte, der

wie der Druckakzent ebenfalls zur Bedeutungsunterscheidung bei Homonymen dient.

→ Akzent ⇀ Ton (1) (Phon-Dt); Ton (2) (Phon-Dt) ⇁ tone (1) (Phon-Engl); tone (2) (Phon-Engl)

Eckhard Meineke

🕮 Haacke, W.H.G. [1999] The Tonology of Khoekhoe (Nama/ Damara). Köln ◾ Halme, R. [2004] A Tonal Grammar of Kwanyama. Köln ◾ Heupel, C. [1973] Taschenwörterbuch der Linguistik. München ◾ Kimenyi, A. [2002] A Tonal Grammar of Kinyarwanda. An Autosegmental and Metrical Analysis. Lewiston [etc.] ◾ van de Velde, M.L.O. [1976] A Grammar of Eton. Berlin [etc.] ◾ Wängler, H.-H. [1963] Zur Tonologie des Hausa. Berlin.

traditionelle Wortbildungslehre

analytische morphologisch-semantische Beschreibung der Wortbildung in Diachronie und Synchronie. ▲ traditional word-formation theory: analytic morphological-semantic description of word-formation in diachrony and synchrony. Diese Art der Erforschung der Wortbildung hat eine Tradition bis in die Anfänge der neuzeitlichen Sprachwissenschaft. Der Begriff Wortbildung erscheint erst im letzten Drittel des 18. Jh.; gängige Bezeichnungen des 17. und 18. Jh. sind Bildung oder Formierung von Wörtern oder Etymologia. Schottelius spricht a. 1663 bereits von der Ableitung; die Zusammensetzung nennt er Verdoppelung, bevor dann Longolius a. 1715 dafür den Ausdruck Compositum verwendet (Haẞler/ Neis 2009: 1470f.). Den Beginn der wissenschaftlichen Wortbildungs­ forschung verbindet man im Allg. mit dem Wortbildungsband der „Deutschen Grammatik“ von Grimm (1878). Diese Tradition einer sprachgeschichtlichen Wortbildungslehre wurde dann durch Wilmanns im zweiten Band seiner „Deutschen Grammatik“ (Wilmanns 1896) und danach durch Henzen (Henzen 1965) weitergeführt. Im 20. Jh. gesellten sich zu den sprachgeschichtlich basierten Wortbildungslehren vorwiegend synchron arbeitende analytische Wortbildungslehren, so die von Erben (Erben 2006), Fleischer/ Barz (Fleischer/Barz 2012) und Simmler (Simmler 1998). Korpuslinguistische Werke dieser Tradition sind die Arbeiten der Innsbrucker Arbeitsgruppe zur Substantivderivation, Verbderivation, Adjektivderivation, Substantivkomposition und Adjektivkom-

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traditionelle Wortbildungslehre 676

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position/Partizipialbildung (Deutsche Wortbildung 1973–1992). Dazu kommen korpuslinguistische Arbeiten zur Sprachgeschichte des Deutschen (Überblick bei Müller 2015), etwa die Arbeiten zum Frühneuhochdeutschen von Müller (1993), Habermann (1994) und Thomas (2002). Für den Bereich des Mittelhochdeutschen erschienen sodann der Wortbildungsband der Mittelhochdeutschen Grammatik von Klein/Solms/Wegera (2009) sowie die Arbeiten zur Substantiv- und Adjektivderivation in der mhd. Urkundensprache von Ring (2008) bzw. Ganslmayer (2012). Für den Bereich der Substantivkomposition des Mittelhochdeutschen, der in Klein/Solms/Wegera (2009) – wie die anderen Bereiche – aus Platzgründen nur ohne Quellenbelege dargestellt werden konnte, legte Meineke (2016) eine Monographie vor. Eine etwas ältere Einschätzung der systembezogenen analytischen Wortbildungsforschung als „traditionell“ stammt aus der transformationellen Grammatik, in der eine generative Wortbildungsforschung propagiert wurde, wobei die Prinzipien der Wortbildung mit denen der Syntaxerzeugung vergleichbar sein könnten („Wortsyntax“; Toman 1983), es aber auch eine eigene Wortbildungskomponente (lexikalistischer Ansatz) geben könne oder aber Übergänge zwischen Wortbildung und Syntax („gemischte Ansätze“ Meibauer 2003: 186) denkbar seien. Dabei geht es um üblich gebildete Wortbildungsprodukte, aber auch um Phrasenkomposita wie Ein-Kerl-wie-ichVisage oder Abgerechnet-wird-am-Schluss-Taktik, welche im Erstglied ein erstarrtes Syntagma oder einen erstarrten Satz („lexikalisierte Konstruktionen“ Meibauer 2003: 186) aufweisen. „Geht man davon aus, dass Syntax und Wortbildung getrennte Module der menschlichen Sprachkompetenz sind, wie etwa Anhänger der lexikalistischen Wortbildungstheorie annehmen, dann sollten grundsätzlich keine Phrasen innerhalb von X°-Kategorien vorkommen [...]. Geht man aber davon aus, dass die Wortbildung syntaktischen Prinzipien folgt, dann sollten Phrasenkomposita prinzipiell möglich sein. Da Phrasenkomposita [zumindest] im Deutschen, Englischen, Niederländischen und Afrikaans [...] existieren, wäre dies ein Argument für eine syntaktische Theorie der Wortbildung [...].“ (Meibauer 2003: 154; der Autor plädiert für einen gemischten Ansatz) Einen Übergang von Syntagmen zu Wortbildungs-

produkten nimmt die traditionelle Wortbildungslehre bei den uneigentlichen Komposita nach der Begrifflichkeit J.Grimms an. Das sind Komposita mit einer flektierten Wortform, vor allem dem Genitiv, im Bestimmungswort, wie etwa ahd. sunnūnāband ‘Sonnabend’, als deren Vorstufe man sich ein Syntagma mit vorangestellter Apposition dera sunnūn āband vorstellen kann, wie es in den älteren Sprachstufen im Gegensatz zur Gegenwartssprache ohne Weiteres möglich war. Später ist dann dieser Bildungstyp zum Muster geworden, nach dem vergleichbare Kompositionen auf dem Wege der Analogie auch ohne syntaktische Zwischenstufe gebildet werden konnten, etwa Bundestag. Die eigentliche Komposition oder Stammkomposition, die im Erstglied im Germanischen nur einen flexivlosen Stamm (z.B. germ. *đaǥ-a-laun-a-z > ahd. tag-a-lōn > nhd. Tagelohn) aufweist und ab dem Ahd. bis auf Reste das Grundmorphem beziehungsweise die Lexikonform zeigt, etwa Glasflasche, ist nach einer nichtsyntaktischen Wortbildungsregel gebildet. Das trifft auch für die Derivation zu. Beide Muster sind gleichfalls über Analogie Grundlage für weitere Bildungen dieser Art. Die oben erwähnten Phrasenkomposita bildet der Sprachträger des Deutschen beispielsweise analog mit der aus der eigentlichen Determinativkomposition bezogenen Regelvariante „setze ein Syntagma an die Stelle des Bestimmungsglieds“ (Laufstrecke/​Trimm-dich-Strecke). Eine jüngere Qualifizierung der systembezogenen analytischen Wortbildungslehre als „traditionell“ stammt von einer laut eigener Aussage stärker am Sprachgebrauch (parole) orientierten Wortbildungsforschung, nicht nur, aber auch im Kontext der Konstruktionsgrammatik: – Bisherige Wortbildungstheorien lassen Problemfälle, Sonderkategorien oder sprachliche Zweifelsfälle vielfach außer Acht und beziehen sich schwerpunktmäßig auf den Kernbestand (zur langue gehörend) an Wortbildungseinheiten und -arten. Wie oben bereits erläutert sollte eine Theorie der Wortbildung auch den Sprachgebrauch in allen Facetten berücksichtigen (vgl. Elsen/Michel 2007, 2009, 2011) (Michel 2014: 142). Die in diesem Zusammenhang propagierte Auffassung, dass die traditionelle Wortbildungsforschung auf die langue (das System) der Sprache bezogen sei (Elsen/Michel 2007; Elsen/Michel 2011; Michel/Tóth 2014; Hein 2015), trifft zumin-

677 dest für den diachronen Zweig der traditionellen Wortbildungsforschung nicht zu, weil dieser als empirisch-analytische Methode zum Zweck der Ermittlung systematischer Funktionalität alle in der parole vorfindlichen Wortbildungsprodukte beschreibt, auch Hapax legomena, ob sie der Norm und dem System entsprechen oder nicht. Ungrammatikalität kann ja gerade für vergangene Sprachstufen in Ermangelung des Votums von native speakers nicht ohne Weiteres behauptet werden, so dass dort a priori nur Daten der parole zur Verfügung stehen. Die Konstruktionsgrammatik wurde in der amerikanischen Linguistik als nicht-generative, nicht-transformationelle und nicht-deduktive Gegenbewegung zur generativen Transformationsgrammatik formuliert und wird zur Zeit in Deutschland verstärkt rezipiert. Sie beruht offenbar auf einer Vulgatversion der Prinzipien de Saussures, aber auf weitestgehender Unkenntnis der nichtgenerativistischen Forschung, zumal des europäischen Strukturalismus. Faktisch ist sie ein strukturalistischer Ansatz. Zunächst arbeitet sich Wortbildungsforschung innerhalb der Konstruktionsgrammatik an der generativen Wortbildungstheorie ab: – Sowohl transformationalistische als auch lexikalistische Theorien nehmen eine unbefriedigende Verortung der Wortbildung vor. Eine strikte Modularisierung der Grammatik und Trennung der Komponenten Lexikon und Syntax wird der Komplexität der Vorgänge ebenso wenig gerecht wie eine Submodularisierung der einen durch die andere Komponente (z.B. die Erweiterung der Phrasenstrukturregel durch eine lexikalische Komponente) oder eine auf Regeln basierende Interaktion. Die Submodularisierung ist – genauso wie die beschriebenen Regeln – mehrheitlich unpräzise und empirisch nicht ausreichend gestützt. – Beide Theoriekomplexe können den Status unterschiedlicher an der Bildung komplexer Wörter beteiligter Morpheme nicht endgültig darlegen. Ob Affixe Komponenten des Lexikons sind oder eigene Kategorien darstellen und wie sie sich von freien Morphemen (Wörtern) unterscheiden, bleibt schließlich unbeantwortet (Michel 2014: 142). Die Konstruktionsgrammatik schätzt ihren Ansatz beziehungsweise die angenommenen Konstruktionen als kognitiv, dynamisch und empirisch ein: – Konstruktionen sind dynamisch. Im Gegensatz

traditionelle Wortbildungslehre zu statischen Darstellungen wie den Zirkumfixen verdeutlicht die Notation von Konstruktionen, welche – im Falle der Verschmelzung von Konstruktionen – unabhängig voneinander produktiven Konstruktionen inkorporiert sind, wie die Struktur komplexer Konstruktionen hierarchisch beschaffen ist. – Konstruktionen sind kognitive Größen. Sie gehören zum Sprachwissen der Sprecher und bilden präzise ab, wie dieses aufgebaut ist. Während traditionelle Wortbildungsmuster relativ isoliert als „fertige“ übergeordnete Muster zur Bildung von Wörtern beschrieben werden und somit kaum Aussagen über die kognitive Realität zulassen, bildet die Konstruktionsgrammatik ein strukturiertes Inventar von sehr abstrakten bis hin zu sehr konkreten Konstruktionen ab. Dadurch wird deutlich, dass Konstruktionen unterschiedlicher Komplexität und Abstraktheit/Spezifizierung miteinander verbunden und dass Sprecher in der Lage sind, aus konkreten, ähnlich strukturierten Bildungen abstrakte Konstruktionen zu extrahieren. – Konstruktionen sind empirische d.h. soziale Größen und damit sprachrealitätsnah. Hier besteht ein wesentlicher Unterschied sowohl zu jenen Theorien, die virtuelle, nicht belegbare Zwischenformen postulieren, als auch zu solchen, die Zwischen- und Sonderkategorien für Problemfälle, die in etablierte Kategorien nicht eingeordnet werden können, annehmen. Da sie auf unterschiedlich produktiven Konstruktionen (Mustern) basieren, die Teil von komplexen Konstruktionen sind, ist es unwesentlich, ob sie außerhalb dieser Konstruktionen als freie Bildungen belegt sind. Die komplexe Konstruktion stellt ein formal und semantisch eigenständiges Gebilde dar, d.h. ein Muster, das Sprecher aus der Vielzahl ähnlicher Belege abstrahiert und kognitiv verankert haben. Sie nehmen also – was das Wortbildungswissen der Sprecher anbelangt – keinen Sonderstatus ein, sondern gehören ebenso zur Kompetenz wie Konstruktionen für nominale Determinativkomposita (Michel 2014: 152f.). Was die Konstruktionsgrammatik als Wortbildungskonstruktion bezeichnet, soll sich von der Wortbildungskonstruktion der klassischen Wortbildungslehre unterscheiden: – Die Basisannahme der Konstruktionsgrammatik, die ein strukturiertes Inventar von Konstruktionen unterschiedlicher Komplexität beinhaltet,

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traditionelle Wortbildungslehre 678

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ist in Motschs Ansatz nicht ersichtlich. Anders als in der Konstruktionsgrammatik werden konkrete Belege nicht als eigenständige Konstruktionen (= Instantiierungen abstrakter Konstruktionen) betrachtet, die in ein hierarchisch geordnetes Gefüge integriert sind, sondern lediglich als mehr oder weniger separate Illustrationen von Wortbildungsmustern (Michel 2014, 145). Im Gegensatz zu dieser Behauptung ist das Wortbildungsmuster der traditionellen Wortbildungslehre ein Wortbildungs- und Bedeutungsmuster, das aus einer konkreten Bildung abstrahiert wird, und die konkrete Bildung die „Instantiierung“ des Wortbildungsmusters. Dieses ist kognitiv, weil es die Bedeutungsebene betrifft, es ist dynamisch, weil es eine historische, an den Menschen und seine sprachliche Tätigkeit gebundene Größe ist, es ist empirisch, weil sich das Wortbildungsmuster in der konkreten Bildung manifestiert und aus ihr induktiv abstrahiert werden muss, und man kann mit ihm auch Kontaminationen von Wortbildungsmustern erklären. Natürlich hat auch die nichtkonstruktionsgrammatische Wortbildungsforschung die Einsichten aus der „pragmatischen“ und „kognitiven Wende“ aufgenommen. In der Arbeit von Hein (2015) zu den Phrasenkomposita, die hier als Beispiel für die Anwendung der Konstruktionsgrammatik auf die Wortbildung genannt sei, wird die Beschreibungstheorie volatil aus je nach Bedarf ausgewählten Versionen konstruktionsgrammatischer Theoriebildung oder deren ad hoc für die Zwecke der Untersuchung modifizierten Annahmen zusammengestellt. Grundsätzlich andere Ergebnisse als durch die „traditionelle“ Wortbildungsforschung werden dabei aber nicht erzielt, denn aus den aktuellen Bedeutungen der Belege werden übergreifende Wortbildungsbedeutungen ermittelt, die zusammen mit den morphologischen Strukturen der ermittelten Typen zu einem konstruktionsgrammatisch formulierten Gesamtbild (Konstruktikon) für das Kompositionsparadigma vereinigt werden. Dabei ist das Ausgehen von den morphologisch-wortbildungssemantischen Strukturen der Kompositionsgrundwörter durchaus methodisch problematisch, sofern es bei der semantischen Analyse von Komposita um die durch die Bestimmungswörter – hier Bestimmungssyntagmen – vermittelten differenziert beschreibbaren Determinationsunterschiede gehen

soll. Teile der vorgängigen Forschung sind nicht bekannt, werden nicht zitiert oder allenfalls kontrafaktisch zu ihrer wissenschaftlichen Bedeutung kurz erwähnt, wohingegen triviale Einführungen Referenzwerkstatus erhalten. Eckhard Meineke

→ § 7; Derivation; Determinativkompositum; eigentliches

Kompositum; generative Morphologie; Kompositum; Konstruktionsmorphologie; Phrasenkompositum; synchrone Wortbildung; uneigentliches Kompositum; Wortbildungsbedeutung; Wortbildungslehre; Wortbildungsmuster

🕮 Elsen, H./ Michel, S. [2007] Wortbildung im Sprachgebrauch. Desiderate und Perspektiven einer etablierten Forschungsrichtung. In: Mutterspr 1/2007: 1–16 ◾ Elsen, H./ Michel, S. [2009] Beispiel Wortbildung – Die Erhebung und Interpretation von Daten. In: ZS 28: 163–168 ◾ Elsen, H./ Michel, S. [2011] Wortbildung im Deutschen zwischen Sprachsystem und Sprachgebrauch. Perspektiven – Analysen – Anwendungen. Stuttgart ◾ Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Ganslmayer, C. [2012] Adjektivderivation in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts. Eine historisch-synchrone Untersuchung anhand der ältesten deutschsprachigen Originalurkunden. Berlin [etc.] ◾ Grimm, J. [1878] Deutsche Grammatik. Bd. 2. Hg. v. W. Scherer. Berlin ◾ Habermann, M. [1994] Verbale Wortbildung um 1500. Eine historisch-synchrone Untersuchung anhand von Texten Albrecht Dürers, Heinrich Deichslers und Veit Dietrichs. Berlin [etc.] ◾ Haẞler, G./ Neis, C. [2009] Lexikon sprachtheoretischer Grundbegriffe des 17. und 18. Jahrhunderts. 2 Bde. Berlin [etc.] ◾ Hein, K. [2015] Phrasenkomposita im Deutschen. Empirische Untersuchung und konstruktionsgrammatische Modellierung. Tübingen ◾ Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Klein, T./ Solms, H.-J./ Wegera, K.-P. [2009] Mittelhochdeutsche Grammatik. Teil III. Wortbildung. Tübingen ◾ Kühnhold, I./ Putzer, O./ Wellmann, H.[1978] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 3. Hauptteil: Das Adjektiv. Düsseldorf ◾ Kühnhold, I./ Wellmann, H. [1973] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 1. Hauptteil: Das Verb. Düsseldorf ◾ Meibauer, J. [2003] Phrasenkomposita zwischen Wortsyntax und Lexikon. In: ZS 22/2: 153–188 ◾ Meineke, E. [1996] Das Substantiv in der deutschen Gegenwartssprache. Heidelberg ◾ Meineke, E. [2016] Substantivkomposita des Mittelhochdeutschen. Eine korpuslinguistische Untersuchung. Frankfurt/Main ◾ Michel, S. [2014] Konstruktionsgrammatik und Wortbildung: theoretische Reflexionen und praktische Anwendungen am Beispiel der Verschmelzung von Konstruktionen. In: Lasch, A./ Ziem, A. [Hg.] Grammatik als Netzwerk von Konstruktionen. Sprachwissen im Fokus der Konstruktionsgrammatik. Berlin: 139–156 ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin (etc.) ◾ Müller, P.O. [1993] Substantiv-Derivation in den Schriften Albrecht Dürers. Ein Beitrag zur Methodik historisch-synchroner Wortbildungsanalysen. Berlin [etc.] ◾ Müller, P.O. [2015] Historical word-formation in German. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1867–1914 ◾ Ortner, L./ Müller-Bollhagen, E./ Ortner, H./ Wellmann, H./ Pümpel-Ma-

679 Transfix der, M./ Gärtner, H. [1991] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 4. Hauptteil: Substantivkomposita. Berlin [etc.] ◾ Particke, H.-J. [2015] Phrasenkomposita. Eine morphosyntaktische Beschreibung und Korpusstudie am Beispiel des Deutschen. Hamburg ◾ Pümpel-Mader, M./ Gassner-Koch, E./ Wellmann, H./ Ortner, L. [1992] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 5. Hauptteil: Adjektivkomposita und Partizipialbildungen. Berlin ◾ Ring, U. [2008] Substantivderivation in der Urkundensprache des 13. Jahrhunderts. Eine historisch-synchrone Untersuchung anhand der ältesten deutschsprachigen Originalurkunden. Berlin [etc.] ◾ Simmler, F. [1998] Morphologie des Deutschen. Flexions- und Wortbildungsmorphologie. Berlin ◾ Thomas, B. [2002] Adjektivderivation im Nürnberger Frühneuhochdeutsch um 1500. Eine historisch-synchrone Analyse anhand von Texten Albrecht Dürers, Veit Dietrichs und Heinrich Deichslers. Berlin [etc.] ◾ Toman, J. [1983] Wortsyntax. Tübingen ◾ Wellmann, H. [1975] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 2. Hauptteil: Das Substantiv. Düsseldorf ◾ Wilmanns, W. [1896] Deutsche Grammatik. Zweite Abteilung: Wortbildung. Straßburg.

Transfigierung

Form der Wortbildung, bei der ein diskontinuierliches Affix mit einer diskontinuierlichen Basis verbunden wird. ▲ transfixation: type of word-formation in which a discontinuous affix is interspersed with a discontinuous base. Der klarste Fall von Transfigierung findet sich in semitischen Sprachen wie Arabisch und Hebräisch, wo Wörter dadurch gebildet werden können, dass eine spezifische Abfolge von Vokalen (das Transfix) zwischen die Bestandteile der Wurzel, typischerweise bestehend aus drei Konsonanten, eingefügt wird. Dieser Prozess folgt einem bestimmten Muster, das bei Verben als Binyan (pl. Binyanim) bezeichnet wird. So haben die Wörter im Arabischen, die mit der Wurzel ktb gebildet werden, mit dem Konzept ‘Schreiben’ zu tun, vgl. katab ‘er schreibt’, tattib ‘er veranlasste zu schreiben’, kaatib ‘Schreiber’, maktaba ‘Bibliothek’, vgl. Broselow (2000: 554). Bauer (2003: 30) gibt an, dass Transfigierung ausschließlich in semitischen Sprachen vorkommt, Broselow (2000: 552ff.) allerdings betrachtet mehrere mögliche Fälle von Transfigierung in anderen Sprachen. Für eine weitere Diskussion zur Transfigierung vgl. die Theorie der autosegmentalen Morphologie sowie die „morphemic tier“-Hypothese. Rochelle Lieber

→ autosegmentale Morphologie; Binyan; morphemic tier hypothesis; nicht-lineare Morphologie; Transfix; triliteral root

⇁ transfixation (Woform)

🕮 Bauer, L. [2003] Introducing Linguistic Morphology. 2nd ed. Washington, DC ◾ Broselow, E. [2000] Transfixation. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 552–557.

Transfix

diskontinuierliches Affix, das mit einer diskontinuierlichen Basis verzahnt ist. ▲ transfix: discontinuous affix that is interlinked with a discontinuous base. Wenn man Affixe danach klassifiziert, ob sie die Basis, mit der sie verbunden werden, durchbrechen (diskontinuierlich machen) und ob sie selbst durchbrochen (diskontinuierlich) sind, gibt es neben den bekannteren Typen Präfix/Suffix (weder durchbrechend noch durchbrochen), Infix (durchbrechend, aber nicht durchbrochen) und Zirkumfix (durchbrochen, aber nicht durchbrechend) auch Affixe, die sowohl selbst diskontinuierlich sind als auch eine diskontinuierliche Basis haben. Für sie wurde der Terminus Transfix eingeführt (Mel’čuk 1963: 33–37; dt. 1976: 270–276). Das Paradebeispiel sind Vokalmuster in semitischen Sprachen, die mit einer nur aus Konsonanten bestehenden Wurzel verbunden werden, um bestimmte Flexions- und Derivationsbedeutungen auszudrücken. Tab. 1 zeigt einige Transfixe, mit denen im modernen Hebräisch die Wurzel /l‑v‑ʃ/ ‘anziehen’ verbunden werden kann: Tab. 1: Hebräische Transfixe Transfix

Ausdruck

-a-a-

lavaʃ

Inhalt ‘[er] zog an’

-o-e-

loveʃ

‘[er] zieht an’

-ə-a-

ləvaʃ

‘zieh an! [m.sg]’

-a-u-

lavuʃ

‘angezogen [m.sg]’

-a-i-

laviʃ

‘zum Anziehen geeignet [m.sg]’

-ə-u-

ləvuʃ

‘Kleidung’

Hier befindet sich das Transfix vollständig innerhalb der Basis, und zuweilen wird der Terminus auf solche Fälle beschränkt, sodass für diskontinuierliche Affixe mit einem infigierten und einem prä- oder suffigierten Teil ein anderer Terminus, z.B. Parafix, erforderlich wird. Maltesische Singular-Plural-Paare wie die in Tab. 2 sprechen jedoch für die allgemeinere Definition (vgl. Mel’čuk 1997: 176 mit hebr. Beispielen).

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Transformationsprobe 680 Tab. 2: Maltesische Transfixe

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Singular

Plural

Inhalt

qanfud

qniefed

‘Igel’

baqra

baqar

‘Kuh’

tabib

tobba

‘Arzt’

ġifen

iġfna

‘Schiff’

xemx

xmux

‘Sonne’

ktieb

kotba

‘Buch’

Die letzten beiden Beispiele in Tab. 2 enthalten Vokalmuster mit nur einem Segment, also eigentlich Infixe. Das Gesamtbild legt es jedoch nahe, sie als Grenzfall von Transfixen zu betrachten, sofern man nicht zu umstrittenen Nullen greifen will, z.B. -e-∅- in xemx (vgl. Mel’čuk 1997: 175). Zu einer Analyse mit Transfixen gibt es mehrere Alternativen (s. Broselow 2000; Rubba 2001). Eine Möglichkeit ist es, einen bestimmten Stamm, z.B. im Hebräischen den mit -a-a-, zugrundezulegen und die anderen durch mehrfache Substitution der Vokale daraus abzuleiten. Der Ansatz der autosegmentalen Morphologie setzt für die Konsonantengerüste und Vokalmuster unterschiedliche Ebenen (engl. tier) an. Sie werden nach bestimmten Prinzipien mit einer Schablone (engl. template) verknüpft, die aus lediglich als Vokal (V) oder Konsonant (C) spezifizierten Positionen (engl. slot) besteht. So müssen z.B. in maltes. qniefed die Konsonanten q, n, f, d und die Vokale ie, e mit dem CV-Skelett CCVCVC assoziiert werden. Dieses Modell gestattet es leicht, auch Gemination (Konsonantenverdoppelung) wie bei għażeb ‘Junggeselle’, Plural għożżieb darzustellen: Bei der Assoziation der drei Konsonanten għ, ż, b mit den vier C-Positionen in CVCCVC wird ż mit den beiden mittleren C verbunden. Durch die Aufnahme voll spezifizierter Segmente in das CV-Skelett, z.B. CCVjjVC, können Fälle wie ħrafa ‘Junggeselle’, Plural ħrejjef berücksichtigt werden. Solche Schablonen eignen sich auch für andere Sprachen, sodass sich die semitische Morphologie als Teil eines allgemeineren Phänomens erweist. Joachim Mugdan

→ Affix; morphemic tier hypothesis; Root-and-Pattern-Morphologie; Transfigierung; triliteral root

⇀ Transfix (Gram-Formen) ⇁ transfix (Typol)

🕮 Broselow, E. [2000] Transfixation. In: Booj, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]:

552–557 ◾ Mel’čuk, I.A. [1963] O «vnutrennej fleksii» v indoevropejskich i semitskich jazykach. In: VJa 12/4: 27–40 ◾ Mel’čuk, I.A. [1976] Zur „inneren Flexion“ in den indoeuropäischen und semitischen Sprachen. In: Mel’čuk, I.A. [Biedermann, J., Hg.] Das Wort. Zwischen Inhalt und Ausdruck. München: 258–287 ◾ Mel’čuk, I.A. [1997] Cours de morphologie générale (théorique et descriptive). Vol. IV. Cinquième partie. Signes morphologiques. Montréal [etc.] ◾ Rubba, J. [2001] Introflection. In: Haspelmath, M./ König, E./ Oesterreicher, W./ Raible, W. [eds.] Language Typology and Language Universals (HSK 20.1). Berlin [etc.]: 678−694.

Transformationsprobe

≡ Wortbildungsparaphrase

Transitivierung

Ableitung eines transitiven Verbs aus einem intransitiven Verb. ▲ transitivization: derivation of a transitive verb from an intransitive verb. Eine Transitivierung kann auf verschiedene Art und Weise entstehen, etwa (a) durch Affigierung (sie beweinen den Toten; sie erbetteln Geld), (b) durch Kausativierung der Verbbedeutung (ich schmelze das Wachs), (c) durch Verwendung des Verbs in der Resultativkonstruktion bzw. in Partikelverbkonstruktionen (er arbeitete sich müde; sie funktionierten das Gebäude um), (d) durch Verwendung in der cognate object-Konstruktion (sie träumte einen schönen Traum; sie gingen einen Gang hinunter). Andrew McIntyre

→ Akkusativierung; kausatives Verb; Partikelverb; Valenzänderung

⇀ Transitivierung (Gram-Syntax; HistSprw) ⇁ transitivization (Typol)

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [1992] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen.

transparente Bildung ≡ motivierte Bildung

Transparenz

≡ Durchsichtigkeit ⇀ Transparenz (HistSprw; Phon-Dt; SemPrag)

Transparenz, phonologische

→ phonologische Durchsichtigkeit

Transparenz, semantische

→ semantische Durchsichtigkeit

681 Transposition

Transposition

funktional-semantische Grundklasse, die alle Bildungen umfasst, deren Ausgangseinheiten im Zuge des Wortbildungsprozesses in eine neue Bezeichnungsklasse überführt werden, wobei sich die Wortart ändert oder – bei substantivischen Bildungen – auch erhalten bleiben kann. ▲ transposition: functional-semantic class that encompasses all formations in which the input element is taken over into another meaning class in the course of the derivation with a change in category or, in the case of substantive formations, under preservation of the original category. Wortbildungen werden in funktional-semantischer Hinsicht auf einer sehr allgemeinen Ebene in Modifikationen und Transpositionen unterteilt. Grundlage dieser Klassifikation ist ein semantischer Vergleich zwischen Input und Output bezüglich der Art der funktional-semantischen Prägung, die die Ausgangseinheit im Bildungsprozess erfährt (vgl. Fleischer/Barz 2012: 96). Unter dem Begriff der Transposition werden Bildungen subsumiert, die – bezogen auf die jeweilige Ausgangseinheit – in eine neue Bezeichnungsklasse wechseln: dt. bohren ʻProzessʼ > Bohrer ʻInstrumentʼ; engl. to teach (ʻlehrenʼ) ʻProzessʼ > teacher (ʻLehrerʼ) ʻPersonʼ; franz. rire (ʻlachenʼ) ʻProzessʼ > risible (ʻlachhaft, komischʼ) ʻEigenschaftʼ; slowak. stavat' (ʻbauenʼ) ʻProzessʼ > stavba (ʻBauʼ) ʻArtefakt; Geschehen als Resultatʼ. Man kann transponierende Lexeme noch einmal unterteilen in solche, bei denen ein Wortartwechsel eingetreten ist (dt. jugendlich ʻEigenschaftʼ, Adjektiv > Jugendlicher ʻPersonʼ, Substantiv), und – ausschließlich substantivische – Transpositionen ohne Wortartwechsel: dt. Buch ʻGegenstandʼ Substantiv > Bücherei ʻOrtʼ Substantiv; engl. child (ʻKindʼ) ʻPersonʼ, Substantiv > childhood (ʻKindheitʼ) ʻZustandʼ, Substantiv. Kommt es zu einem Wortartwechsel, dann übernehmen die transponierenden Lexeme die morphosyntaktischen Eigenschaften ihrer Zielwortart mitunter nicht vollständig, „sodass untypische Vertreter der Zielwortart entstehen können“ (Barz 2016: 686). So werden im Deutschen deadjektivische Bildungen wie Fremder oder Jugendlicher nicht nach dem Muster der substantivischen Deklination, sondern wie ihre Ausgangseinheiten adjektivisch flektiert.

Die funktional-semantischen Grundklassen korrelieren mit den Wortbildungsarten nur teilweise systematisch: Bei Komposition und Konversion laufen Wortbildungsart und funktional-semantische Grundklasse weitgehend parallel (vgl. Eichinger 2000: 75), insofern als Konversionen – sieht man einmal von der älteren Klassifikation der semantischen Grundklassen nach Modifikation, Transposition und Mutation bei Dokulil (1968) ab – stets der Transposition dienen, während Komposita grundsätzlich keine Transposition bewirken können und damit der Modifikation zuzuordnen sind. In Hinblick auf die De­ri­va­tion konfligieren dagegen die beiden Be­schrei­bungs­ ebenen, und zwar nicht nur bezüglich der Unterscheidung zwischen Präfix- und Suffixderivation, sondern selbst innerhalb dieser beiden Subklassen. So sind zwar die meisten Suffixderivate als Transpositionen zu bestimmen (vgl. dt. lesen > Leser, ital. bello ʻschönʼ > bellezza ʻSchönheitʼ; slowak. liečit' ʻheilenʼ > liečivo ʻMedizinʼ), eine Reihe von Suffixen dienen aber auch der Modifikation (dt. Sportler > Sportlerin, rot > rötlich; tschech. stolek ʻ[kleiner] Tischʼ > stoleček ʻTischleinʼ). Kurzwörter lassen sich – da sie sich semantisch von ihren Vollformen üblicherweise nicht unterscheiden – keiner der beiden funktional-semantischen Grundklassen zuordnen (vgl. Fleischer/ Barz 2012: 97). Wie bei der Modifikation lassen sich auch bei der Transposition zahlreiche Transpositionsarten unterscheiden, etwa nomina agentis (dt. Fußball > Fußballer, engl. to write > writer, slowak. slepý ʻblindʼ > slepec ʻBlinderʼ), nomina qualitatis (dt. klug > Klugheit, ital. triste ʻtraurigʼ > tristezza ʻTraurigkeitʼ, slowak. biely ʻweißʼ > bieloba ʻWeißeʼ) oder nomina instrumenti (dt. drucken > Drucker, ital. lavare ʻwaschenʼ > lavatrice ʻWaschmaschineʼ) (vgl. auch Barz 2016: 737–743, 765–770). Anja Seiffert

→ § 31; Komposition; Konversion; Kurzwortbildung; Modi-

fikation; Mutation (2); nomen agentis; nomen instrumenti; Wortart; Wortbildungsart ⇀ Transposition (Schrling; HistSprw)

🕮 Barz, I. [2016] Die Wortbildung. In: Duden. Die Grammatik. 9., vollst. überarb. u. aktual. Aufl. Berlin: 644–774 ◾ Dokulil, M. [1968] Zur Theorie der Wortbildungslehre. In: WZKMU 17: 203–211 ◾ Eichinger, L.M. [2000] Deutsche Wortbildung. Tübingen ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾

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trennbares Verb 682 Tláskal, J. [2000] La transposition en francais contemporain – contribution a l´étude du probleme. Prag.

trennbares Verb

Verb mit einem morphologisch und syntaktisch trennbaren Erstglied. ▲ separable verb: complex verb whose subconstituents can be separated from each other in syntax and morphology. Die in Verb-zweit-Sätzen und in zu-Infinitiven gegebene Trennung der Bestandteile eines Partikelverbs wie aufhören (das hört nie auf; aufzuhören) steht im Gegensatz zum Verhalten von (untrennbaren, echten) Präfixverben wie verändern (das verändert sich ständig; zu verändern). Der Terminus „trennbares Verb“ impliziert, dass ein Wort (bzw. eine X°-Kategorie) in der Syntax aufgespalten wird. Da nicht jede Analyse die Möglichkeit der syntaktischen Trennung eines Wortes annimmt, wird auf den Terminus „trennbares Verb“ zugunsten des neutralen Begriffs „Partikelverb“ verzichtet. Dennoch erweist sich der Terminus „trennbares Verb“ als nützlich, wenn ein Autor den Terminus „Partikelverb“ für Konstruktionen mit präpositionalen Elementen vorbehalten will und andere Konstruktionen behandeln will, welche die eingangs erwähnte syntaktische Trennung aufweisen. Ein Beispiel hierfür wären gewisse durch Rückbildung entstandene Verben (wir essen um 12.30 mittag; vgl. das Mittagessen). ≡ unfeste Zusammensetzung ↔ untrennbares Verb → Partikelverb; Präfixverb; Verbpartikel ⇀ trennbares Verb (Gram-Formen)

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Andrew McIntyre

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [1992] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen.

Trikompositum

Kompositum, dessen erste Konstituente aus einem zweiteiligen Kompositum besteht. ▲ tricompound: compound whose first constituent consists of a two-part compound. Als Trikomposita bezeichnet Henzen (1965: 48) dreigliedrige Determinativkomposita mit einem zweiteiligen Kompositum als Determinans, also Beispiele wie Zahnrad-bahn, Unterdruck-kammer oder Dreimächte-bund. Im Ahd. bzw. Altengl. sind solche Trikomposita noch selten (z.B. hazalnuz-kerno ‘Haselnusskern’,

deofolgyld-hus ‘Ungläubigentempel’), im weiteren Verlauf der Sprachgeschichte nehmen sie aber immer mehr zu. Sie spiegeln damit den allgemeinen Entwicklungsprozess der Zunahme des Komplexitätsgrades von N+N-Komposita wider, der über Trikomposita weit hinausgeht, vgl. dt. Eierschalensollbruchstellenverursacher, engl. bath­room towel rack designer training. Im Gegensatz zum Begriff Trikompositum bezieht sich der Begriff Dekompositum im Allgemeinen auf die Erweiterung eines Kompositums mithilfe von Derivation, vgl. Gotisch fullaweisjan ‘überreden’ über das Suffix -jan von fullaweis ‘vollkommen weise’, oder auf weitergebildete Komposita wie Reichstagsmitglied, vgl. Henzen (1965: 238). Susan Olsen

→ Dekompositum; Derivation; Determinativkompositum; Kompositum

⇀ Trikompositum (Lexik) ⇁ tricompound (Woform)

🕮 Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen.

triliteral root

Abfolge von drei Konsonanten, die in semitischen Sprachen wie Hebräisch und Arabisch die lexikalische Kernbedeutung trägen. ▲ triliteral root: sequence of three consonants that carries the central lexical meaning in Semitic languages such as Hebrew and Arabic. In semitischen Sprachen wie Hebräisch und Arabisch bestehen Wörter aus Wurzeln mit drei, gelegentlich auch zwei bzw. vier Konsonanten, die die entscheidende lexikalische Bedeutung tragen. So bildet die Konsonantenabfolge ktb im Arabischen den lexikalischen Kern von Wörtern aus dem Wortfeld schreiben, die Konsonantenabfolge smm den von Wörtern aus dem Wortfeld vergiften. Solche Wurzeln treten mit nach unterschiedlichen Mustern eingefügten Vokalen auf (bei Verbalformen als Binyanim, Sing. Binyan bezeichnet), wobei die Vokale die Bedeutungskomponenten Genus Verbi (Aktiv/Passiv) und Aspekt (Perfekt/Imperfekt) tragen. Rochelle Lieber

→ autosegmentale Morphologie; Binyan; nicht-lineare Morphologie; Transfigierung; Transfix; Wurzel

⇁ triliteral root (Woform)

🕮 McCarthy, J.J. [1985] Formal Problems in Semitic Phonology and Morphology. New York, NY.

683 Typikalität

Trunkierung

morphologische Operation, bei der ein Affix die strukturelle Position eines anderen Affixes einnimmt, in der Weise, dass die beiden Affixe nicht zusammen auftreten können. ▲ truncation: morphological operation by which one affix takes the structural position of another affix with the consequence that the two affixes in question cannot co-occur.

Trunkierung (engl. truncation) ist eine Alternative zur Affixsubstitution. So wird das englische Suffix -ee an transitive Verben angefügt (employ ‘jemanden beschäftigen’: employee ‘jemand, der beschäftigt wird’, pay ‘(jemanden) bezahlen’: payee ‘jemand, der bezahlt wird’). Obwohl bei Paaren wie nomin-at-e ‘jemanden als Kandidaten aufstellen’ : nomin-ee ‘jemand, der als Kandidat aufgestellt wurde’ oder evacu-at-e ‘evakuieren’ : evacu-ee ‘Evakuierter’ eine semantische Ableitungsbeziehung besteht, beispielsweise also das abgeleitete Substantiv nominee das Basisverb nominate voraussetzt, weisen die auf -ee endenden Substantive das Verbalsuffix -at nicht auf (*nomin-at-ee). Sofern also angenommen wird, dass Wortbildungsregeln nur von Wörtern als Basis für die Ableitung ausgehen können, sind diese Konstruktionen problematisch. Verwandte Fälle werden unter Apokope, Haplologie, Synkope und vor allem Tilgung behandelt. Insoweit versucht wird, dieses Phänomen in Wortbildungsregeln zu fassen, sind einerseits Trunkierungsregeln formuliert worden (Aronoff 1976). Die Trunkierung ist eine morphologische Operation, durch die ein Morphem getilgt wird, wenn es als Bestandteil der Ableitungsbasis sozusagen die Voraussetzung für ein anderes Suffix ist, das durch sein Auftreten bereits auf diese Ableitungsbeziehung verweist. Die allgemeine Regel sieht folgendermaßen aus, vgl. (1): (1) [[Basis + A]X + B]Y 1 2 3 > 1 0 3 Dabei sind X and Y Hauptwortarten und A und B Affixe. Infolge dieser Operation können die beiden fraglichen Affixe nicht zusammen erscheinen. Trunkierung ist eine Alternative zur Affixsubstitution und wird aufgrund der gleichen Gründe vorgeschlagen. Beide Operationstypen sind in

einer wortbasierten Morphologie notwendig, da oft regulär abgeleitete Wörter angetroffen werden, die semantisch durchsichtig sind und mit produktiven Affixen erzeugt wurden, obwohl sie in der Oberflächenstruktur scheinbar nicht von Wörtern abgeleitet wurden, sondern von Morphemen. Im Fall des vorliegenden Beispiels würde also mit Aronoff (1976: 88f.) eine Trunkierungsregel angenommen werden, die beim Aufeinandertreffen von -at und -ee das -at tilgt. Andererseits haben andere Sprachwissenschaftler das Problem angegangen, indem sie Regeln formulieren, die eine Affixsubstitution zulassen. Aufgrund einer solchen Regel nimmt im vorliegenden Beispiel -ee die strukturelle Position von -at ein oder umgekehrt. Eckhard Meineke

→ Affixsubstitution; Apokope; Haplologie; Synkope; Tilgung; Wortart

⇀ Trunkierung (CG-Dt) ⇁ truncation (1) (Phon-Engl); truncation (2) (Phon-Engl); truncation (3) (Phon-Engl)

🕮 Aronoff, M. [1976] Word Formation in Generative Grammar. Cambridge, MA [etc.] ◾ Mutz, K. [2008] „Regelmäßigkeit“ und „Unregelmäßigkeit“ in Derivation und Flexion. In: Stroh, C./ Urdze, A. [Hg.] Morphologische Irregularität. Neue Ansätze, Sichtweisen und Daten. Bochum: 49–89 ◾ van Marle, J. [1985] On the Paradigmatic Dimension of Morphological Creativity. Dordrecht.

Typ, onomasiologischer → onomasiologischer Typ

Typikalität

Grad, bis zu dem sich ein Vertreter einer kognitiven Kategorie aufgrund der Anzahl der für diese Kategorie typischen Merkmale dem Prototypenstatus nähert. ▲ typicality: extent to which a member of a cognitive category approximates the status of a prototype on the basis of the number of properties typical of this category. Typikalität ist ein zentraler Begriff der Prototypentheorie, welche Kategorienzugehörigkeit nicht als absolute, sondern als graduelle Eigenschaft auffasst. Objekte der außersprachlichen Realität werden durch Kategorisierung mental geordnet. Rotkehlchen, Tauben und Kolibris lassen sich z.B. der Kategorie Vogel, Tisch, Sofa und Schrank der Kategorie Möbel und Apfel, Pflaume

T

Typikalität 684

T

und Olive der Kategorie Obst zuordnen. Jede Kategorie wird über eine Menge von Merkmalen definiert. Zu den typischen Merkmalen von Vögeln gehören beispielsweise die Flügel, das Federkleid, der Schnabel, die Fähigkeit zu fliegen etc. Da jedoch nicht jeder Vogel das gesamte Merkmalinventar seiner Kategorie aufweist, sind einige Exemplare typischere Vertreter der Kategorie Vogel als andere. Singvögel wie das Rotkehlchen, die Amsel oder die Drossel vertreten z.B. ihre Kategorie mit einem hohen Typikalitätsgrad, da sie über alle kategorienrelevanten Merkmale verfügen. Der Strauß ist hingegen ein weniger typisches Exemplar, da er eine zentrale Eigenschaft der Kategorie Vogel – nämlich das Flugvermögen – verloren hat. Noch geringer ist die Typikalität des Pinguins, der ebenfalls nicht zu fliegen vermag. Seine Flügel haben sich zu flossenähnlichen Rudern umgebildet, und sein Körper ist nicht mit Federn, sondern mit Fell bedeckt. Der Grad der Typikalität richtet sich also nach der Anzahl der kategorienrelevanten Merkmale, die ein Exemplar aufweist. Je höher die Anzahl der Merkmale, d.h. je höher die Typikalität, desto mehr erfüllt das Exemplar den Prototypenstatus. Exemplare mit wenigen kategorienrelevanten Merkmalen sind marginale Vertreter ihrer Kategorie. Diese Art des Ordnens der außersprachlichen Realität basiert auf der Annahme der Prototypentheorie, dass Kategorien eine innere Struktur sowie unscharfe Grenzen („fuzzy boundaries“) aufweisen. Die innere Struktur wird durch die Rangfolge der Vertreter, die sich vom besten bis zu den weniger guten Exemplaren erstreckt, determiniert. Im Bereich der Wortbildung durch Komposition ist nach Štekauer (2005: 91ff.) zu beachten, dass die Typikalität eines neuen komplexen Wortes nicht über das mit einer einzelnen Konstituente assoziierte Konzept, sondern über das durch die Kombination der involvierten Konstituenten entstehende komplexe Konzept zu ermitteln ist. Als Beispiel für dieses Postulat dient das Nomen+Nomen-Kompositum lion pet. Erfolgte die Ermittlung der Typikalität hier ausschließlich über das durch die Kopfkonstituente ausgedrückte Konzept pet, so würde lion pet im unteren Bereich der Typikalitätsskala rangieren, da es einen atypischen Vertreter der Klasse aller Haustiere, die gemein-

hin mit prototypischen Vertretern wie cat oder dog assoziiert wird, bezeichnet. Betrachtet man jedoch anstelle eines individuellen Konzepts das komplexe Konzept lion pet, das über die prototypischen Merkmale von lion und pet konstruiert wird, so entsteht ein völlig neues und durchaus vorstellbares Bild – nämlich das eines gezähmten Löwen, der in der Nähe von Menschen lebt. Wird also anstelle der Klasse der durch pet bezeichneten Objekte die Klasse der durch lion pet bezeichneten Objekte fokussiert, so ist das Postulat, dass Löwen in der Regel nicht als Haustiere gehalten werden, irrelevant. Die Typikalität dieses neuen und komplexen Konzepts richtet sich nach der Anzahl vorhandener, prototypischer Eigenschaften wie z.B. "(relative) smallness", "(relative) obedience", "(relative) peacefulness", "(relative) attachment", "domestication" oder "an animal kept for pleasure" (Štekauer 2005: 93). Zu beachten ist ferner, dass die Bedeutungsvorhersagbarkeit eines neuen komplexen Wortes von der Typikalität des durch dieses Wort bezeichneten Konzepts unabhängig ist. Ungeachtet der Tatsache, dass Löwen eher marginale Vertreter der Klasse aller Haustiere sind, verfügt die mit lion pet assoziierte Lesart ‘a lion which is a pet’ über eine hohe predictability rate ‘Vorhersagbarkeitsrate’. Der Grund hierfür liegt darin, dass sie im Vergleich zu anderen, ebenfalls möglichen Lesarten wie ‘a pet that guards lions’, ‘a pet that eats lions’, ‘a pet that is used for lion hunting’ etc. noch im Bereich des Vorstellbaren liegt (Štekauer 2005: 94). Heike Baeskow

→ komplexes Konzept; Nomen+Nomen-Kompositum; predictability rate; Prototypikalität

⇀ Typikalität (CG-Dt; SemPrag) ⇁ typicality (CG-Engl)

🕮 Cohen, B./ Murphy, G.L. [1984] Models of Concepts. In: CognSc 8: 27–58 ◾ Kleiber, G. [1998] Prototypensemantik. Übersetzt von Michael Schreiber. 2., überarb. Aufl. Tübingen ◾ Rosch, E.H. [1975] Cognitive Representations of Semantic Categories. In: JEP-Gen 104/3: 192–233 ◾ Schmid, H.-J. [2000] Methodik der Prototypentheorie. In: Mangasser-Wahl, M. [Hg.] Prototypentheorie in der Linguistik. Anwendungsbeispiele – Methodenreflexion – Perspektiven. Tübingen: 33–53 ◾ Smith, E.E./ Osherson, D.N./ Rips, L.J./ Keane, M. [1988] Combining Prototypes. A Selective Modification Model. In: CognSc 12: 485–527 ◾ Štekauer, P. [2005] Meaning Predictability in Word Formation. Novel, context-free naming units. Amsterdam [etc.].

U Umbenennungshandlung ≡ Zweitbenennung

Umformprobe

≡ Wortbildungsparaphrase

Umkategorisierung, onomasiologische → onomasiologische Umkategorisierung

Umlaut

teilweise oder völlige Assimilation des Vokals der Haupttonsilbe an den Vokal oder Halbvokal j der folgenden, minderbetonten Silbe. ▲ umlaut: partial or complete assimilation of the vowel of the main stressed syllable to the vowel or semi-vowel j of the following weakly stressed syllable. Der Begriff Umlaut wurde durch J.Grimm (1785– 1863) eingebürgert und bezeichnet den Vorgang und das Ergebnis der vorwegnehmenden Angleichung im Sinne einer teilweisen oder völligen Assimilation des Vokals der Haupttonsilbe an den Vokal oder Halbvokal (j) der folgenden, minderbetonten Silbe. Es handelt sich also um einen kombinatorischen Lautwandel. Da die Assimilation von dem im Abstand folgenden Vokal ausgeht und sozusagen nach hinten wirkt, wird auch von einer regressiven Fernassimilation gesprochen, und zwar im Gegensatz zu einer progressiven Assimilation, wie sie bei der Vokalharmonie auftritt. Assimilationen wie der Umlaut lassen sich mit dem unbewussten Bestreben verbinden, zu große Unterschiede in den Bewegungsamplituden bei der Erzeugung der Sprachlaute durch die Sprechorgane (Lindner 1975) zu vermeiden, sind also Ergebnis sprachökonomischen Verhaltens. Zu unterscheiden sind Palatalisierung (engl.

fronting), Velarisierung (engl. backing), Hebung (engl. raising) und Senkung (engl. lowering). Vermutlich einer frühen Umlautschicht gehört die nordwestgermanische Hebung von urgerm. ë zu i vor einem i-Laut der Folgesilbe an, wie er sich im Vergleich von ahd. gëban ‘geben’/gibis 2. Pers. Sg. Präs. zeigt. Die Hebung von ë zu i erfolgt im Westgermanischen auch vor u der Folgesilbe: gibu 1. Pers. Sg. Präs. ‘ich gebe’. Gesenkt wurde germ. i zu e und germ. u zu o vor a, e, o der Folgesilbe außer vor Nasal + Konsonant. Der a-Umlaut wird in der älteren Literatur auch mit dem Begriff Brechung bezeichnet, während man neuerdings unter „Brechung“ nur die Diphthongierungen versteht, wofür der Begriff auch besser geeignet zu sein scheint. Das vielleicht bekannteste Beispiel ist der in den germanischen Sprachen mit Ausnahme des Gotischen eintretende i-Umlaut des germ. a, wobei, was das Gotische betrifft, das Problem der schriftlichen Wiedergabe lautlicher Verhältnisse zu bedenken wäre. Das i, ī oder j der Folgesilbe bewirkte bei germ. a die Hebung zum Laut e, der als in der Graphie erscheint: ahd. gast ‘Gast’ Nom. Sg. – gesti ‘Gäste’ Nom. Pl., ahd. kraft ‘Kraft’ – ahd. kreftīg ‘kräftig’. Über das Ziel hinaus schießt die Interpretation, dass der durch die Teilassimilation entstehende Laut e von den Schreibern als Allophon von e, nicht von a, vor i interpretiert worden sei und folglich als geschrieben wurde. Eine „Interpretation“ mit einer solchen sprachwissenschaftlichen Abwägung des Allophonstatus („zu e oder zu a?“) ist unwahrscheinlich. Die Schreiber geben lediglich einen gehörten Laut [e] mit dem Schriftzeichen wieder, weil er offenbar dem nicht durch Umlaut entstandenen alten Laut germ. ë ähnelt und sie das Schriftzeichen zur Wie-

Umlaut 686

U

dergabe dieses Eindrucks besitzen. Im übrigen ist der durch den Umlaut entstandene Vokal [e] in der Stammsilbe ohnehin a priori kein Allophon von /a/, sondern immer von /e/. Dass durch die beiden Morpheme mit verschiedenen Grundmorphemvokalen keine Bedeutungsdifferenzierung erzielt werden kann, macht die in ihnen vorhandenen Vokale noch nicht zu Allophonen eines Vokals, denn dann müssten auch die verschiedenen Ablautvokale im Verbalparadigma, etwa in sing-e, sang, ge-sung-en, als Allophone eines Phonems interpretiert werden. Vielmehr ist dieses Phänomen so zu sehen, dass es Lexeme mit Vokalvariation geben kann, die deren lexikalische Bedeutung nicht betreffen. Das Verfahren zur Ermittlung verschiedener Phoneme durch die Minimalpaarprobe greift nur dort, wo auch verschiedene lexikalische Bedeutungen der beiden verglichenen ausdrucksseitig minimal verschiedenen Wörter vorliegen, also etwa bei Wein [ae] und Wahn [a:], nicht aber bei Gast und Gäst-e. Den Umlaut von germ. a zu e bezeichnet man wegen der Frühe seines Auftretens oder jedenfalls Erscheinens in der Schrift als Primärumlaut. Der Primärumlaut tritt, soweit er durch schriftliche Wiedergabe belegt ist, nicht ein, wenn zwischen dem kurzen a der Tonsilbe und den umlautauslösenden i, ī oder j der Folgesilbe eine weitere unbetonte Silbe stand. Umlautverhindernd wirken ferner die Konsonantenverbindungen ht, hs, rw, rh, lh, wie etwa ahd. maht st. F. Nom. Sg. ‘Vermögen, Kraft, Gewalt’ – mahti Nom. Pl. zeigt. Der ahd. Primärumlaut unterbleibt auf dem gesamten hochdeutschen Gebiet vor den Konsonantenverbindungen ht, hs und Konsonant + w, im Oberdeutschen außerdem vor l + Konsonant und hh, ch (aus germ. k), meist auch vor r + Konsonant und germ. h. Während die gesamt-ahd. Fälle später noch umgelautet werden, bleiben in den oberdeutschen Dialekten viele Formen ohne Umlaut erhalten. Von einigen wird angenommen, dass das a in diesen Fällen lediglich palatalisiert wurde, d.h. dass sich seine Aussprache etwas nach vorn im Mundraum in Richtung des Artikulationsortes des e verschob, ohne sich aber diesem Artikulationsort so weit zu nähern, dass sich die Empfindung eines anderen Lautes ergab, welche sich wiederum in der Graphie hätte niederschlagen können. Dabei ist allerdings auffällig, dass die Graphie

des Mhd. in diesen Fällen eine Umlautschreibung kennt, etwa in mhd. maht st. F. ‘Vermögen, Kraft, Gewalt’ – Pl. mehte, daneben mahte. Im Mhd. kann nicht nur in dem gezeigten Fall des kurzen a vor Konsonantenverbindungen mit ht, hs, rw, rh, lh eine umlautanzeigende Schreibung auftreten, sondern auch für die ahd. o, u, ā, ō, ū, ou und uo, die vor ahd. i, ī und j als ö, ü, ǟ, ȫ, ǖ, öu und üe erscheinen. Beispiele dafür sind etwa von ā > æ (nāmi > næme), u > ü (sungin > süngen), ō > œ (hōhiro > hœher), uo > üe (guoti > güete). Auch hier geben die Handschriften diesen Umlaut nur teilweise wieder. Wegen ihres späten schriftlichen Erscheinens werden diese Umlaute als Sekundärumlaute bezeichnet. Es wird auch die Unterscheidung des Umlauts von ä als später bezeugter Umlaut von a in den Fällen, in denen im Ahd. noch umlautverhindernde Faktoren wirkten, als „Sekundärumlaut“ und der anderen Umlaute als „Restumlaut“ gemacht. Der „Sekundärumlaut“ muss bereits im Ahd. eingetreten sein, da die umlautbewirkenden Faktoren im Mhd. bereits nicht mehr existieren, da sie dort zu [ə] abgeschwächt oder geschwunden sind. Das späte Auftreten der Umlautschreibungen für alle anderen Vokale als a vor nicht umlauthindernden Konsonantenverbindungen wird so erklärt, dass die Teilassimilationen der Laute an die folgenden Umlautfaktoren als Allophone ihrer Basisphoneme a, o, u, ā, ō, ū, ou und uo interpretiert wurden. Durch den Schwund der umlautbewirkenden i, ī, j bzw. durch deren Neutralisierung zu tonlosem e [ǝ] seien die palatalisierten Haupttonvokale phonemisiert worden, was deren Wiedergabe mittels Umlautschreibung in der Orthographie des Mhd. bedinge. Diese Erklärung beruht offenbar auf einem unzutreffenden Verständnis dessen, was das Phonemsystem einer Sprache ist, und erscheint als logisch und sachlich nicht nachvollziehbar, zumal die Handschriften des Mhd., wie erwähnt, ein durchaus uneinheitliches Bild in Bezug auf die Wiedergabe der umgelauteten Vokale zeigen und für die Wiedergabe des gleichen Lautes auch verschiedene Möglichkeiten belegt sind. Vielmehr dürfte davon auszugehen sein, dass im Schriftsystem erst allmählich graphische Möglichkeiten für die Wiedergabe der genannten Umlautvokale entwickelt wurden, die noch im Frnhd. ein äußerst buntes Bild der handschriftlichen Überlieferung ver-

687 Umlaut mitteln. Dementsprechend problematisch ist vor diesem Hintergrund auch der Versuch von Forester (1999), in frnhd. Texten einen möglichen Bezug der Nichtumlaut-Umlaut-Unterscheidung zu 25 grammatischen, semantischen und pragmatischen Kategorien zu ermitteln. Da nun der Wechsel zwischen dem nicht umgelauteten Grundmorphemvokal und dem umgelauteten Grundmorphemvokal häufig mit Wortformen verbunden war, die verschiedene Ak­zi­ den­ zien (Erscheinungsformen) grammatischer Kategorien innerhalb des Paradigmas des Wortes ausdrückten, wurde der Umlaut offenbar bereits früh als Mittel zur Erzielung quasi-morphologischer Effekte interpretiert bzw. umgekehrt ausgedrückt es wurden diejenigen Akzidenzien morphologisch symbolisierter grammatischer Kategorien, die im Ahd. mit Hilfe i-haltiger Flexive (gast – gesti) bzw. Formative (ahd. lang Adj. ‘lang’ – Komp. lengiro ‘länger’) ausgedrückt wurden, mit dem Umlautphänomen in Verbindung gebracht und seit dem Mhd. als umlautbedingende Faktoren angesehen. Für das Frühmhd. ist dieser Vorgang exemplarisch untersucht worden (Forester 1999). Das führte in der Folge zur analogischen Übertragung von Umlauten in Paradigmen, denen dieser Umlaut kraft der phonetischen Ausstattung der Wortformen genuin nicht zukam, so etwa in Vater – Väter (ahd. fater – fatera Pl.) oder in Wort – Wörter (ahd. wort – wort Pl.). Im letztgenannten Beispiel ist zusätzlich das Flexiv aus den alten -iz-Stämmen (ahd. kalb ‘das Kalb’ – kelbir ‘die Kälber’) in das Paradigma eingetragen worden. Im heutigen Deutsch signalisiert Umlaut neben den bereits gezeigten Unterschieden Singular/Plural und Positiv/Komparativ/Superlativ allein oder unterstützend auch die Differenzierung zwischen Positiv/Diminutiv (Haus – Häuschen) und Indikativ/Konjunktiv (konnte – könnte). Dazu kommen die Gebiete der Substantivableitung (Tanz – Tänzer, Land – Ländler), der Adjektivableitung (blass – blässlich, Jahr – jährlich, Form – unförmig) sowie der Verbableitung (fädeln, hüsteln, häufeln, sächseln, lächeln) (Eschenlohr 1999: 91; vgl. auch Donalies 2018). Es ist allerdings fraglich, ob der Umlaut als solcher jemals ein produktives quasi-derivationsmorphologisches Mittel war. Wenngleich der Umlaut aus der Gruppe der schwachen Verben der 1. Klasse im Mhd. auch vereinzelt auf Verben

der 2. und 3. Klasse übertragen wurde, so in ahd. lastarōn > mhd. lastern > lestern > nhd. lästern, so ist diese Entwicklung jedenfalls im Nhd. zum Erliegen gekommen. Entsprechende Neubildungen wie etwa schlank > *schlänken sind nicht möglich (Eschenlohr 1999: 91). Beispiele für den als grammatikalisiert auffassbaren Umlaut aus dem Englischen sind mouse – mice oder tooth – teeth. Metaphonie ist der in der Romanistik allgemein übliche Begriff für eine in den romanischen Sprachen verbreitete Form des Umlauts. Es handelt sich dabei dem Ursprung nach um eine regressive Fernassimilation, bei der sich ein vorangehender mittlerer Vokal durch einen nachfolgenden geschlossenen Vokal (meist lateinisches -i oder -u) verändert hat. In den italienischen Dialekten ist die Metaphonie besonders häufig. Sie erscheint fast überall, außer im Toskanischen. So wird etwa im Lombardischen quest ‘dieser’ zu quist ‘diese’, nachdem ein später ausgefallenes -i das vorhergehende e umgelautet hat: questi > quisti > quist. Die funktionale Auswirkung der Metaphonie zeigt sich daran, dass im Süditalienischen Singular- von Pluralformen häufig nur durch den Umlaut unterschieden werden können, so etwa pedi ‘Fuß’ – pidi ‘Füße’ im Sizilianischen. Im Spanischen spielt die Metaphonie eine erhebliche Rolle in der Verbalflexion. So wird aus lateinischem metio span. mido ‘ich messe’. Hier ist das i im Grundmorphem durch das nachfolgende -i aus e umgelautet worden. Analog wird lat. dormivit ‘er schlief‘ zu spanisch durmió, hier wird das ursprüngliche o zu u, weil ein i folgte. Im Rumänischen spielt die Metaphonie eine erhebliche Rolle bei der Pluralbildung, so etwa rumän. pară ‘Birne‘/pere ‘Birnen’, masă (< lat. mensa ‘Tisch’)/mese ‘Tische’. Eckhard Meineke ≡ Metaphonie → Adjektivierung; Assimilation; Derivationsparadigma; Diminutivum; Grundmorphem; Komparativform; Superlativform ⇀ Umlaut (HistSprw; Gram-Formen); Umlaut (1) (Phon-Dt); Umlaut (2) (Phon-Dt) ⇁ umlaut (1) (Phon-Engl); umlaut (2) (Phon-Engl)

🕮 Antonsen, E.H. [1964] Zum Umlaut im Deutschen. In: BGeschDtSpLit-T 86: 177–196 ◾ Antonsen, E.H. [1969] Zur Umlautfeindlichkeit des Oberdeutschen. In: ZDL 36: 201–207 ◾ Donalies, E. [2018] Nuss und nussig, aber Fluss und flüssig. Wortbildung und Umlaut. Heidelberg ◾ Eschenlohr, S. [1999] Vom Nomen zum Verb. Konversion, Präfigierung und Rückbil-

U

undurchsichtige Bildung 688 dung im Deutschen. Hildesheim [etc.] ◾ Féry, C. [2000–2001] Phonologie des Deutschen. Eine optimalitätstheoretische Einführung. Potsdam ◾ Forester, L. [1999] Umlaut Phenomena in Early New High German Discourse. A Pragmatic Approach. New York [etc.] ◾ Götz, U. [1996] Zum analogen Umlaut im Bairischen. In: Sprw 21: 18–36 ◾ Holtzmann, A. [1977] Über den Ablaut. Zwei Abhandlungen, and Über den Umlaut. New ed. with an introductory article by W. A. Benware. Amsterdam ◾ Ising, E. [1956] Die Begriffe „Umlaut“ und „Ablaut“ in der Terminologie der frühen deutschsprachigen Grammatik. In: Hiersche, R./ Ising, E./ Ginschel, G. [Hg.] Aus der Arbeit an einem historischen Wörterbuch der sprachwissenschaftlichen Terminologie. Berlin: 21–45 ◾ Iverson, G.K./ Salmons, J.C. [1996] The primacy of primary umlaut. In: BGeschDtSpLit 118: 69–86 ◾ Kim, H.-S. [2003] The Lexical and Phonological Diffusion of Umlaut in Korean Dialects. In: Lee, S.-O./ Kim, H.-S./ Eom, I.-S. [eds.] The Lexical Diffusion of Sound Change in Korean and Sino-Korean. Berkeley, CA: 97–173 ◾ Klein, T.B. [2000] „Umlaut“ in optimality theory. A comparative analysis of German and Chamorro. Tübingen ◾ Kyes, R.L. [1967] The evidence for i-umlaut in Old Low Franconian. In: Lg 43: 666–673 ◾ Kylstra, A.D. [1983] Zum Alter des „älteren“ Umlauts im Germanischen. In: ABÄG 19: 1–6 ◾ Leonard, C.S. [1978] Umlaut in romance. Grossen-Linden ◾ Lindner, G. [1975] Der Sprechbewegungsablauf. Eine phonetische Studie des Deutschen. Berlin ◾ Löfstedt, I. [1944] Zum Sekundärumlaut von germ. a im Bairischen. Lund [etc.] ◾ Penzl, H. [1949] Umlaut and Secondary Umlaut in Old High German. In: Lg 25/3: 223–240 ◾ Russ, C.V.J. [1977] Die Entwicklung des Umlauts im Deutschen im Spiegel verschiedener linguistischer Theorien. In: BGeschDtSpLit-T 99: 213–240 ◾ Russ, C.V.J. [1996] Umlaut in Frisian and the Germanic Languages. Some Thoughts on its Genesis and Development. In: NOWELgEv 28/29: 501–512 ◾ Russo, M. [2007] La metafonia napoletana: evoluzione e funzionamento sincronico. Presentazioni di M. Pfister e P. Sauzet. Bern [etc.] ◾ Schulte, M. [1998] Grundfragen der Umlautphonemisierung. Eine strukturelle Analyse des nordgermanischen i/j-Umlauts unter Berücksichtigung der älteren Runeninschriften. Berlin ◾ Sonderegger, S. [1959] Die Umlautfrage in den germanischen Sprachen (Forschungsbericht). In: Krat 4: 1–12 ◾ Stårck, J. [1912] Studien zur Geschichte des Rückumlauts. Ein Beitrag zur historischen Formenlehre. Uppsala ◾ Trask, R.L. [1993] A Dictionary of Grammatical Terms in Linguistics. London [etc.] ◾ Voyles, J.B. [1977] Old High German Umlaut. In: ZfvglSpf 90: 271–289.

undurchsichtige Bildung

U

≡ demotivierte Bildung

Undurchsichtigkeit

mangelnde Erschließbarkeit der Bedeutung eines sprachlichen Zeichens aus seiner Form. ▲ opacity: lack of ability to infer the meaning of a linguistic expression from its form. In der aktuellen Forschungsdiskussion wird der Terminus oft als Synonym für Demotiviertheit verwendet. Der ursprünglichen Bestimmung des Begriffs bei Gauger (1971) wird dies jedoch nur

zum Teil gerecht. Als undurchsichtig bezeichnet Gauger Wörter wie dt. Garten oder frz. la lune. Diese grenzt er von durchsichtigen Wörtern wie frz. le pommier ab. Die lexikalische Bedeutung durchsichtiger Wörter kann der Sprachbenutzer aus ihrer morphosemantischen Struktur erklären, er kann gewissermaßen durch sie hindurch auf die Ausgangsbestandteile blicken. Jeder Sprecher des Französischen weiß, dass le pommier von pomme abgeleitet ist und dass sich aus dieser Beziehung die Bedeutung von le pommier erschließen lässt: „le pommier s'appelle pommier parce qu'il porte des pommes“ (‘Der Apfelbaum heißt Apfelbaum, weil er Äpfel trägt’) (Gauger 1971: 12f.). Der Unterschied zwischen dem durchsichtigen und dem undurchsichtigen Wort besteht nach Gauger darin, „daß das durchsichtige Wort nicht – wie das undurchsichtige – kraft seiner selbst, sondern kraft eines oder mehrerer anderer Wörter in der Sprache existiert“ (1971: 13). Während das durchsichtige Wort also von sich weg weist und als abhängig, d.h. durch ein anderes Wort vermittelt gelten kann, verweist das undurchsichtige Wort nur auf sich selbst – es ist unabhängig und mithin zeichenhafter als das durchsichtige Wort (vgl. Gauger 1992: 51). „Warum“ der Mond im Französischen als la lune bezeichnet wird, kann der Sprachbenutzer nicht aus der Bezeichnung la lune erschließen, die Bezeichnung la lune ist undurchsichtig, willkürlich. Damit rückt der Begriff Undurchsichtigkeit in die Nähe des Begriffs der Arbitrarität, wobei Arbitrarität nach Gauger die Perspektive des „abständigen Betrachters“, des Sprachwissenschaftlers markiere, während der Begriff der Undurchsichtigkeit auf das Bewusstsein des „normalen Sprechers“ bezogen sei (Gauger 1992: 48). Undurchsichtig sind – in Anwendung der Begriffsbestimmung Gaugers – zunächst einmal alle primären Simplizia einer Sprache (dt. Katze, engl. cat, frz. chat). Undurchsichtig sind jedoch auch verdunkelte Bildungen wie engl. lady < ae. hlæfdīge < ae. hlāf ‘Brot’ + dæge ‘Kneterin des (Brot)teigs, Bäckerin’, dann ‘Herrin, deren Brot einer isst’ oder dt. Welt < ahd. weralt ‘Menschenalter’ sowie vollständig demotivierte Bildungen wie dt. Wiedehopf oder Hagebutte. Mit Blick auf die zuletzt genannten Beispiele ließen sich die beiden Termini Undurchsichtigkeit und Demotiviertheit tatsächlich synonym verwenden: Die lexikalische Bedeutung

689 von Hagebutte kann der Sprachbenutzer ohne spezielles sprachhistorisches Wissen aus den beiden unikalen Morphemen nicht erschließen; Hagebutte ist undurchsichtig, da die ursprüngliche Motivation (bzw. Durchsichtigkeit) der Bildung im Bewusstsein der Sprachbenutzer verloren gegangen ist. Demotiviert sein können gleichwohl nur Wortbildungen, die zuvor motiviert waren. Der Begriff „Undurchsichtigkeit“ setzt – im Unterschied dazu – die Motivation einer Bildung nicht notwendig voraus und verfügt insofern über die größere Extension. Als Synonym zu Demotiviertheit wird Undurchsichtigkeit in der Phraseologie verwendet, und zwar für Phraseologismen wie dt. bei jmdm einen Stein im Brett haben oder engl. to kick the bucket (‘sterben’), bei denen „die semantischen Basen fehlen und ein motivierter Zusammenhang zwischen wörtlichen Komponentenbedeutungen und der phraseologischen Bedeutung – vom synchronen Standpunkt aus – nicht hergestellt werden kann“ (Stöckl 2004: 165). Anja Seiffert ≡ Demotiviertheit; Opakheit ↔ Durchsichtigkeit → § 40; Analysierbarkeit; Demotivation; Motivation; motivierte Bildung ⇀ Undurchsichtigkeit (Onom; Sprachphil) ⇁ opacity (Phon-Engl)

🕮 Erben, J. [2006] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 5., durchges. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Gauger, H.-M. [1971] Durchsichtige Wörter. Zur Theorie der Wortbildung. Heidelberg ◾ Gauger, H.-M. [1992] Zum richtigen Ansatz in der Wortbildung. In: Ágel, V. [Hg.] Offene Fragen, offene Antworten in der Sprachgermanistik. Tübingen: 45–52 ◾ Stöckl, H. [2004] Die Sprache im Bild – Das Bild in der Sprache. Zur Verknüpfung von Sprache und Bild im massenmedialen Text. Berlin.

unechte Zusammensetzung ≡ uneigentliches Kompositum

uneigentliches Kompositum

Kompositum, dessen Erstglied ein Fugenelement aufweist, das auf eine frühere Kasusendung zurückgeht. ▲ artificial compound: compound whose first constituent contains a linking element that can be traced back to a case ending. Eine große Bedeutung kommt im Verlauf der deutschen Sprachgeschichte der Univerbierung von syntaktischen Gruppen zu Wortbildungen zu.

uneigentliches Kompositum Dass das Deutsche heute eine besonders kompositionsfreudige Sprache ist, resultiert zum großen Teil aus der Entstehung von Komposita aus Wortgruppen, durch die neue Wortbildungsmodelle entstanden sind. Eine besondere Rolle spielen dabei entsprechende Veränderungen im Bereich substantivischer N+N-Komposita: Schon seit dem Ahd. gibt es zwei, aus dem (Indo-)Germanischen ererbte Kompositionstypen (vgl. Lindner 2011–18, Bd. 1: 15ff., 50ff.), Stammkomposita (traditionell: „eigentliche“ bzw. „echte“ Komposita; vgl. Grimm 1826: 407f.) und Kasuskomposita (traditionell: „uneigentliche“ bzw. „unechte“ Komposita; vgl. Grimm 1826: 407f.). Bei den Stammkomposita, die als sprachgeschichtlich älter gelten, ist das determinierende Erstglied ein Nominalstamm (z.B. ahd. hunt-fliaga ‘Hundfliege’). Zum Teil sind Erstund Zweitglied durch einen Fugenvokal (ahd. -a-, -e-, -i‑, -o-, -u-) verbunden, bei dem es sich historisch um ein stammbildendes Suffix handelt (z.B. ahd. tag-a-lioht ‘Taglicht’, spil-i-hūs ‘Spielhaus, Theater’). Teils sind diese germanischen Stammbildungssuffixe bereits ahd. aufgegeben bzw. erscheinen in Abhängigkeit von Quantität und Qualität des Nominalstamms, aber auch zeitlich, sprachräumlich oder wortspezifisch bedingt in veränderter Form und in Varianten (z.B. neben spil-i-hūs auch spil-o-hūs, spil-e-hūs und spil-hūs; Überblick bei Gröger 1911). Zum Mhd. hin werden sie zu -e- abgeschwächt und (später) zum Teil auch aufgegeben (z.B. ahd. bot-a-scaf > mhd. bote-schaft > nhd. Bot-schaft). Nur wenige der nhd. Komposita mit -e-Fuge lassen sich auf ahd. Bildungen mit Fugenvokal zurückführen (z.B. Tag-ewerk), so dass die Entstehung von Fugenelementen aus stammbildenden Suffixen im Deutschen unbedeutend ist (vgl. Nübling/Szczepaniak 2013: 69–72). Die Stammkomposita überwiegen im Ahd. und Mhd. noch deutlich im Vergleich mit dem zweiten Typ sog. Kasuskomposita (Grimms „uneigentliche“ Komposita), bei denen das Erstglied ein Genitivflexiv aufweist (z.B. ahd. tages-zīt ‘Tageszeit’, sunnūn-tag ‘Sonntag’) und die sich im Dt. erst seit der Frühen Neuzeit zu einem produktiven Kompositionsmuster entwickelten (vgl. Kopf 2018). Die Abgrenzung zwischen Kasuskomposita und Syntagmen ist aufgrund vielfacher Getrenntschreibung allerdings oft nicht eindeutig möglich, so dass sich eine strukturelle Ambigui-

U

unfeste Komposition 690

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tät ergibt (z.B. ahd. huntes zunga ‘Zunge eines Hundes/Hundezunge’ als Nominalphrase mit pränominalem Genitivattribut [[huntes] zunga] oder als Genitivkompositum [huntes zunga]; Beispiel nach Nübling/Szczepaniak 2013: 73). Auch eine Differenzierung zwischen Stammkompositum und Kasuskompositum ist nicht immer eindeutig möglich (vgl. ahd. hell-e-wazer ‘Fluss der Unterwelt’ mit Genitiv-e oder abgeschwächtem Stammvokal -i; Beispiel nach Splett 2000: 1214). Erst im Frnhd., seit dem 16./17. Jh. (vg. Demske 1999: 151), steigt die Frequenz von Kasuskomposita stark an und führt zur Herausbildung eines sehr produktiven Kompositionsmodells. Dies steht im Zusammenhang mit einem im Frnhd. wirksam werdenden syntaktischen Wandel, der Umstrukturierung von pränuklearen zu postnuklearen Genitivattributen (z.B. der sunnen schein > der Schein der Sonne). Im Zuge dieses Wandels wurden die Grenzen zwischen Syntagma und Kompositum fließend – Pavlov (1983) spricht hier von „Halbkomposita“ –, und lexikalisierte syntaktische Verbindungen (Nominalphrasen) konnten als Komposita reanalysiert werden (vgl. [[der tohter] man]NP > [der [tohter man]]KOMP ‘Schwiegersohn’), wobei die Genitivflexive als Fugenlemente umfunktionalisiert (grammatikalisiert) und dann auch unparadigmatisch verwendet werden konnten (vgl. nhd. Geburt-s-tag, obwohl Geburt kein -s-Flexiv aufweist). Durch Analogiebildung, d.h. nach dem Muster uneigentlicher Komposita, aber ohne Genitivsyntagma als Ausgangsform, entstanden zahlreiche neue, auch mehrgliedrige Kasuskomposita, deren Status als Kompositum zunächst graphisch unterschiedlich markiert wurde (z.B. Sündenrichter, RechtsSachen, Haushaltungs=Bücher=Fach). Die Termini „eigentliches“ vs. „uneigentliches“ Kompositum beziehen sich auf die unterschiedliche Genese von N+N-Komposita. Unter synchronem Aspekt sind beide Typen aber nicht mehr zu unterscheiden, denn beide überschneiden sich insofern, als es in beiden historischen Gruppen sowohl Komposita mit Fuge („eigentlich“: z.B. Tag-e-lohn; „uneigentlich“: z.B. Krieg-s-heer, Apparat-e-medizin) als auch ohne Fuge („eigentlich“: z.B. Burg-∅-graf; „uneigentlich“: z.B. Stadt-∅mauer) gibt (Beispiele aus Kopf 2018: 16). In der Gegenwartssprache ist der Anteil an Komposita ohne Fuge („Nullfuge“) mit rund 70% deutlich hö-

her (vgl. Ortner et al. 1991: 54; Fuhrhop/Kürschner 2015: 569) als der von verfugten Komposita. Peter O. Müller ≡ unechte Zusammensetzung ↔ eigentliches Kompositum → § 22, 39; Einfügung; Fugenelement; Fugenvariation; Genitivkompositum; Kompositionsfuge; Kompositum; paradigmatisches Fugenelement; syntaxnaher Bildungstyp; Univerbierung; unparadigmatisches Fugenelement; Wortbildungsmodell ⇁ artificial compound (Woform)

🕮 Demske, U. [1999] Case Compounds in the History of German. In: Butt, M./ Fuhrhop, N. [Hg.] Variation und Stabilität in der Wortstruktur. Untersuchungen zu Entwicklung, Erwerb und Varietäten des Deutschen und anderer Sprachen. Hildesheim [etc.]: 150–176 ◾ Fuhrhop, N./ Kürschner, S. [2015] Linking elements in Germanic. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 568–582 ◾ Grimm, J. [1826] Deutsche Grammatik. Zweiter Theil. Göttingen ◾ Gröger, O. [1911] Die althochdeutsche und altsächsische Kompositionsfuge mit Verzeichnis der althochdeutschen und altsächsischen Composita. Zürich ◾ Kopf, K. [2018] Fugenelemente diachron. Eine Korpusuntersuchung zu Entstehung und Ausbreitung der verfugenden N+N-Komposita. Berlin [etc.] ◾ Kopf, K. [2021] Eine Heuristik zur Erkennung von N+N-Komposita im Frühneuhochdeutschen. In: Ganslmayer, C./ Schwarz, C. [Hg.] Historische Wortbildung. Theorien – Methoden – Perspektiven. Hildesheim [etc.]: 187–223 ◾ Lindner, T. [2011–2018] Indogermanische Grammatik. Band IV: Wortbildungslehre. Teilband 1: Komposition. Teilband 2: Komposition im Aufriß. Heidelberg ◾ Nübling, D./ Szczepaniak, R. [2013] Linking elements in German: Origin, Change, Functionalization. In: Morphology 23: 67–89 ◾ Ortner, L./ Müller-Bollhagen, E./ Ortner, H./ Wellmann, H./ Pümpel-Mader, M./ Gärtner, H. [1991] Deutsche Wortbildung. Typen und Tendenzen in der Gegenwartssprache. 4 Hauptteil: Substantivkomposita. Berlin [etc.] ◾ Pavlov, V.M. [1983] Zur Ausbildung der Norm der deutschen Literatursprache (1470–1730). Von der Wortgruppe zur substantivischen Zusammensetzung. Berlin ◾ Splett, J. [2000] Wortbildung des Althochdeutschen. In: Besch, W./ Betten, A./ Reichmann, O./ Sonderegger, S. [Hg.] Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2. Aufl. Teilbd. 2. Berlin [etc.]: 1213–1222 ◾ Szczepaniak, R. [2020] Linking Elements in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 890–912.

unfeste Komposition ≡ Partikelverb

unfeste Zusammensetzung ≡ trennbares Verb

unikales Morphem

Morphem, das nur in Kombination mit einem bestimmten anderen Morphem vorkommt. ▲ unique morpheme: morpheme which occurs only in combination with one other specific morpheme.

691 Mit Bezug auf morphologische Elemente dient unikal zur Übersetzung des im amerikanischen Strukturalismus gängigen Terminus unique (s. z.B. Bloomfield 1933: 160). Das engl. Paradebeispiel cranberry hat Anlass zu der Bezeichnung cranberry morph(eme) gegeben; als dt. Entsprechung wurde Himbeermorphem gebildet. Gelegentlich finden sich auch die Termini Restmorph(em) (vgl. engl. residue bei Bolinger 1948: 21) und blockiertes Morph(em). Eine Voraussetzung für die Zerlegung eines sprachlichen Zeichens in zwei kleinere Zeichen ist es, dass beide Bestandteile auch in anderen Kombinationen oder frei vorkommen. So kann man z.B. Erdbeere in Erd- und -beere zerlegen, weil es Erdrutsch und Blaubeere usw. gibt. Die Bedeutung des Ganzen lässt sich auch leicht mithilfe der Teile beschreiben, z.B. ‘nahe an der Erde wachsende Beere’. Bei Brombeere, Himbeere usw. scheint -beere dasselbe Minimalzeichen zu sein wie im Simplex Beere und im Kompositum Erdbeere, aber der verbleibende Teil Brom- tritt nirgendwo sonst auf. Wenn man trotzdem segmentiert, ist Brom- ein unikales Minimalzeichen. Da das Morphem {Brom-}, zu dem es gehört, keine anderen Allomorphe hat, ist auch dieses Morphem unikal. Dagegen gibt es z.B. bei zwan- in zwanzig und -ßig in dreißig jeweils ein anderes Allomorph (zwei in zweifach bzw. -zig in vierzig usw.), sodass zwar die Allomorphe zwan- und -ßig unikal sind, nicht aber die Morpheme {zwei} und {-zig}, zu denen sie gehören. Wenn man von unikalen morphologischen Elementen spricht, hat man sich bereits für eine Segmentierung entschieden. Um anzudeuten, dass die Segmentierung problematisch ist, weil ein Bestandteil nicht anderswo vorkommt, kann man Zeichen wie Brombeere „defektiv segmentierbar“ nennen (vgl. Kubrjakova 2000); letztlich muss man aber entweder eine Segmentierung vornehmen oder darauf verzichten. Während bei Brombeere der zweite Teil -beere die Bedingungen für eine Segmentierung klar erfüllt, sodass es naheliegt, auch dem ersten Teil Brom- den Status eines Minimalzeichens zu geben, ist eine Zerlegung weit weniger überzeugend, wenn semantische Probleme hinzukommen. Das gilt z.B. für Schornstein, weil ein Schornstein kaum als eine Art von Stein beschrieben werden kann, und für vergess[en], wo das Submorph ver- keine klare

unisegmentales Kurzwort Bedeutung hat. Bei Wörtern wie Hammer spricht eine andere Erwägung dagegen, -er mit dem Derivationssuffix für Instrumentbezeichnungen wie in Bohrer zu identifizieren und folglich Hammals unikales Minimalzeichen anzusetzen: Es gibt im Deutschen zahlreiche Substantive auf -er, bei denen eine Zerlegung unplausibel ist (z.B. Körper, Sommer, Vater), sodass anders als bei Brombeere keine ungewöhnlichen Minimalzeichen resultieren, wenn man Hammer unsegmentiert lässt. Es ist eine verbreitete Annahme, dass ein unikales Morphem stets gebunden ist, also nur als Teil eines Kompositums oder Basis einer Ableitung vorkommt. Beispiele wie engl. kith and kin ‘Freunde und Verwandte’ (vgl. Hockett 1958: 127), der einzigen Kombination, in der kith heute begegnet, zeigen jedoch, dass auch Bestandteile fester Wortverbindungen unikal sein können. Häufig wird ein Morphem dadurch unikal, dass alle anderen Verwendungen außer Gebrauch kommen. So ist Brom- im heutigen Dt. unikal, weil das noch im Mhd. belegte Simplex brame ‘Dornstrauch’ im Laufe der Zeit verloren gegangen ist; im Engl. sind die Verwendungen des Substantivs kith außerhalb des Idioms kith and kin wie auch zugehörige Ableitungen, z.B. kithless ‘ohne Bekannte’, und das Verb kith ‘vertraut machen’ unüblich geworden. Es kommt auch vor, dass ein Bestandteil eines entlehnten Kompositums oder eines volksetymologisch reanalysierten Worts (tatsächlich oder vermeintlich) mit einem einheimischen Minimalzeichen übereinstimmt, während der Rest unikal ist, z.B. hinter- in engl. hinterland und Leu- in an Mund angelehntem Leumund. Joachim Mugdan ≡ blockiertes Morphem; cranberry morpheme; Himbeermorphem → § 10; Allomorph; gebundenes Morphem; Minimalzeichen; Morphem; Segmentierung; Submorph ⇀ unikales Morphem (Lexik; Gram-Formen; HistSprw; CG-Dt)

🕮 Bloomfield, L. [1933] Language. New York ◾ Bolinger, D. [1948] On defining the morpheme. In: Word 4: 18–23 ◾ Hockett, C.F. [1958] A Course in Modern Linguistics. New York ◾ Kubrjakova, E.S. [2000] Submorphemische Einheiten. In: Booij, G./ Lehmann, C./ Mugdan, J. [Hg.] Morphologie (HSK 17.1). Berlin [etc.]: 417–426.

unisegmentales Kurzwort

Kurzwort aus einem zusammenhängenden Teil einer bedeutungsgleichen längeren lexikalischen Einheit.

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unpersönliches es 692 ▲ monosegmental clipping: short form consisting of a coherent part of a longer lexical unit equivalent in meaning.

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Der Terminus unisegmentales Kurzwort geht auf Bellmann (besonders 1980) zurück und wird seitdem in der Kurzwortforschung relativ einheitlich verwendet (vgl. v.a. Kobler-Trill 1994; Balnat 2011). Nach dieser Typologie der Kurzwortformen gibt es zunächst eine Einteilung der Kurzwörter in die Gruppen der „unisegmentalen Kurzwörter“ und der „multisegmentalen Kurzwörter“ (mit einer weiteren besonderen Gruppe der „partiellen Kurzwörter“). Während multisegmentale Kurzwörter aus mehreren Segmenten, also zusammenhängenden Teilen der zugrunde liegenden Vollform bestehen, wird für ein unisegmentales Kurzwort lediglich ein zusammenhängender Teil der Vollform, also ein Segment ausgewählt. In der Kurzwortforschung hat sich diese Biklassifikation bis heute gehalten, wenn auch andere Typologien danebengetreten sind (vgl. v.a. Steinhauer 2000). Die Gruppe der unisegmentalen Kurzwörter kann weiter differenziert werden nach der Position des ausgewählten Segments, welches dieses in der Vollform einnimmt. Besteht das Kurzwort aus dem Anfang der Vollform (Akku zu ›Akkumulator‹), wird es als „Kopfwort“ oder als „initiales Kurzwort“ bezeichnet, Kurzwörter aus dem Ende der Vollform (Bus zu ›Omnibus‹) sind entsprechend „Endwörter“ oder „finale Kurzwörter“. Die kleine Gruppe der unisegmentalen Kurzwörter aus der Mitte einer Vollform wird meist als „Rumpfwörter“ oder „mediale Kurzwörter“ bezeichnet; im Dt. finden sich diese vorwiegend bei Eigennamen wie Lisa zu Elisabeth; im Engl. etwas häufiger: etwa flu zu ›influenza‹, fridge zu ›refridgerator‹. Außer nach der Stellung des Segments in der Vollform kann man die unisegmentalen Kurzwörter auch nach der Art, der Qualität des Segments unterteilen: Es gibt unisegmentale Buchstaben-, Silben- und Morphemkurzwörter, je nachdem, was für ein Segment aus der Vollform ausgewählt wurde. Wenn der zusammenhängende Teil der Vollform als komplettes Morphem übernommen worden ist (z.B. Hoch zu ›Hochdruckgebiet‹ oder Ober zu ›Oberkellner‹), handelt es sich um ein unisegmentales Morphemkurzwort. Unisegmentale Silbenkurzwörter, die aus einem

beliebig zusammenhängenden Teil der Vollform bestehen, finden sich am häufigsten. Auch wenn über die Bezeichnung „Kurzwort“ bis heute keine Einigkeit herrscht, werden unisegmentale Silbenkurzwörter wie App(lication) übereinstimmend als „Kurzwörter“ bezeichnet, wozu die an die Orthographie normaler Wörter angelehnte Schreibung mit großen Anfangsbuchstaben beiträgt. Häufig nicht beachtet werden – weil sie in der Alltagskommunikation relativ selten vorkommen – die unisegmentalen Buchstabenkurzwörter. Belege wie A3 oder B3 für ›Autobahn 3‹ bzw. ›Bundesstraße 3‹ zählen hierzu (vgl. Bellmann 1980: 373, Greule 1996: 198) – das der Vollform entnommene Segment ist hier A bzw. B. Dass in der Alltagskommunikation unisegmentale Buchstabenkurzwörter kaum vorkommen, liegt an ihrer extrem hohen Undurchsichtigkeit. In den Fachsprachen spielen unisegmentale Buchstabenkurzwörter dagegen eine größere Rolle (vgl. Steinhauer 2000), hier ist der Kontext jeweils klar definiert. Es gibt sie bei physikalischen Größen (s für Strecke, v für die Geschwindigkeit kommt vom lat. velocitas, auch mit Index: die maximale Geschwindigkeit vmax); in der Rechtswissenschaft findet sich etwa V für Verkäufer und K für Käufer. Unisegmentale Kurzwörter sind häufig umgangssprachlich markiert, weshalb sie vorwiegend in der mündlichen oder informellen Kommunikation zu finden sind. Anja Steinhauer

→ § 29; Endwort; Kopfwort; Kurzwort; Kurzwortbildung; Rumpfwort

🕮 Balnat, V. [2011] Kurzwortbildung im Gegenwartsdeutschen. Hildesheim [etc.] ◾ Bellmann, G. [1980] Zur Variation im Lexikon. Kurzwort und Original. In: WW 30: 369–383 ◾ Greule, A. [1996] Reduktion als Wortbildungsprozeß der deutschen Sprache. In: Mutterspr 106: 193–203 ◾ Kobler-Trill, D. [1994] Das Kurzwort im Deutschen. Tübingen ◾ Steinhauer, A. [2000] Sprachökonomie durch Kurzwörter. Bildung und Verwendung in der Fachkommunikation. Tübingen ◾ Steinhauer, A. [2015] Clipping. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 352–363.

Univerbierung

Verbindung mindestens zweier syntaktisch benachbarter Wörter zu einem neuen Wort, oft mit neuer Wortartmarkierung. ▲ univerbation: combination of at least two syntactically neighboring words into a new word, often with a change of word class.

693 Der Terminus Univerbierung bezeichnet in der Regel den Prozess der ausdrucksseitigen Verknüpfung benachbarter Elemente, der sich entweder im Rahmen gängiger Wortbildungsarten vollziehen kann oder eine eigenständige Wortbildungsart, häufig als „Zusammenrückung“ bezeichnet, darstellt (vgl. Donalies 2018). Beispiele sind etwa Gottesbote, zurückziehen, Langeweile, grundlegend, demgemäß, keineswegs, nachdem. Den Terminus Inkorporation mit Bezug auf Univerbierung führt Eichinger (2000: 31, 61) ein, der besonders die Schnittstelle zwischen Wortbildung und Syntax betont: „Er [Inkorporation, SM] überdeckt als ein leitendes Prinzip eine Reihe von Wortbildungsarten, die sich vom zentralen Bereich der Komposition und Derivation in Richtung auf das syntaktische Ende der Wortbildung hin erstrecken.“ Hierunter zählt er beim Substantiv vor allem Rektionskomposita, beim Verb vor allem Partikelverben und beim Adjektiv die Bildungen mit Partizip als Zweitglied (vgl. Eichinger 2000: 72–73). Motsch (2004: 49) betont den historischen Aspekt der Univerbierung: „eine syntaktische Fügung wächst in einem historischen Prozess zu einer Wort(ähnlichen)-Einheit zusammen.“ Bei N+VVerbindungen spricht Motsch (2004: 49) dabei ebenfalls von Inkorporation: „Ein Verbstamm inkorporiert in einem historischen Prozess den Stamm eines Nomens als morphologischen Bestandteil. Am Ende des Prozesses ist das Nomen ein fester Bestandteil des Verbs (gewährleisten)“. Erben (2000: 22–23) fokussiert die Nominationsfunktion von Univerbierung und versteht darunter „das Bestreben, statt einer umständlichen, mehrgliedrigen Zeichenkette ein einziges komplexes Wort als grammatischen Baustein im Satz und als Benennung der bezeichneten Sache zu gewinnen“. Die Tatsache, dass „bei der Umformung zum Wort zahlreiche Elemente getilgt“ werden, betrachtet er als Beleg dafür, dass die „syntaktischen Außenbeziehungen“ zwischen den Wörtern zugunsten von „innenstrukturellen Beziehungen“ (2000: 23) im Wort aufgegeben werden. Erben betrachtet – was heute als überholt gilt – Abkürzungen und Kurzwörter als das Ergebnis von Univerbierungsprozessen. Nach Elsen (2011: 107, 111–112, 117) ist Univerbierung auch Teil der Konversion von Wortgruppen, was üblicherweise als „Zusammenrückung“ be-

unmittelbare Konstituente zeichnet wird. Belege wie Naserümpfen oder Dreikäsehoch weichen etwa in der Betonung und der fehlenden determinativen bzw. kopulativen semantischen Relation der zugrunde liegenden Konstituenten von Komposita ab. Auch Fleischer/Barz (2012: 87) diskutieren Univerbierung bei Konversion, „wenn Syntagmen und Sätze die Ausgangseinheiten sind“. Sie stellen bei der Wortbildung des Substantivs die pragmatische („[...] entspricht in der Regel den Bedürfnissen nach handlicher Kürzung für den Alltagsgebrauch“, 2014: 131), textuelle („zusammenfassende Wiederaufnahme des vorangehenden Satzinhalts in Folgesätzen“, 2012: 131–132) sowie stilistische („[...] stilistischer Ausdrucksverbesserung“, 2012: 132) Funktion von Univerbierung heraus. Eisenberg (1998: 224f.) betrachtet Univerbierung als Prozess, der sich vor allem außerhalb typischer Wortbildungsregularitäten vollzieht, wie etwa bei der Bildung von Präpositionen (z.B. aufgrund), Adverbien (z.B. infrage) oder Verben (z.B. kennenlernen). Für ihn stellt die Bildung komplexer Präpositionen „einen typischen Grammatikalisierungsprozeß“ (1998: 24) dar. Sascha Michel

→ § 22, 27, 39; Grammatikalisierung; Inkorporation; Juxta-

position; Konversion; nominales Rektionskompositum; Partikelverb; syntaxnaher Bildungstyp; Wortbildungsart; Zusammenrückung ⇀ Univerbierung (Gram-Formen; Lexik; HistSprw)

🕮 Baché, N. [2012] Der Weg von syntaktischer Fügung zum Wort – Eine Analyse deutscher substantivischer Univerbierungen unter synchroner, diachroner und sprachvergleichender Perspektive. Frankfurt/M. [etc.] ◾ Donalies, E. [2018] Wetterbeobachter, Zeitlang, wahrsagen, zartfühlend, kurzerhand, dergestalt. Handbuch zur Univerbierung. Heidelberg ◾ Eichinger, L.M. [2000] Deutsche Wortbildung. Eine Einführung. Tübingen ◾ Eisenberg, P. [1998] Grundriss der deutschen Grammatik. Band 1: Das Wort. Stuttgart [etc.] ◾ Elsen, H. [2011] Grundzüge der Morphologie des Deutschen. Berlin [etc.] ◾ Erben, J. [2000] Einführung in die deutsche Wortbildungslehre. 4., aktual. u. erg. Aufl. Berlin ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 4., völlig neu bearb. Aufl. Berlin [etc.] ◾ Henzen, W. [1965] Deutsche Wortbildung. 3., durchges. u. erg. Aufl. Tübingen ◾ Motsch, W. [2004] Deutsche Wortbildung in Grundzügen. 2., überarb. Aufl. Berlin [etc.].

unmittelbare Konstituente

Konstituente einer Wortbildungskonstruktion, die sich auf der ersten Stufe der Bedeutungsparaphase ergibt. ▲ immediate constituent: constituent of a word-for-

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Unmotiviertheit 694 mation construction at the first level of the semantic paraphrase. Bei der semantischen Paraphrase einer Ableitung oder einer Determinativkomposition ergeben sich auf der ersten Stufe zwei semantische Paraphrasebestandteile, von denen aus sich auf die unmittelbaren Konstituenten einer Wortbildungskonstruktion schließen lässt. So lässt sich die Ableitung Verfasser als ‘jemand, der etwas (Geschriebenes) verfasst’ paraphrasieren, woraus erhellt, dass die unmittelbaren Konstituenten des Wortes verfassals verbale Basis sowie semantisches Determinans und -er als Ableitungsmorphem und semantisches Determinatum sind. Das präfigierte Verb verfass- lässt sich sodann auf der zweiten Analyseebene in das Basisverb fass- und das Präfix versegmentieren. Bei der Determinativkomposition Kurzgeschichtenverfasser ‘Verfasser von Kurzgeschichten’ sind die beiden unmittelbaren Konstituenten das Grundwort oder Determinatum Verfasser sowie das Bestimmungswort oder Deter­ minans Kurzgeschichten; beide Konstituenten kön­nen auf der zweiten Ebene in sich wieder in jeweils zwei Konstituenten zerlegt werden. Eckhard Meineke

→ Determinans; Determinativkompositum; Determinatum; Paraphrase

⇀ unmittelbare Konstituente (Gram-Syntax) ⇁ immediate constituent (Typol)

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [2007] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. 3. Aufl. Tübingen.

Unmotiviertheit

Fehlen einer natürlichen Beziehung zwischen Ausdrucks- und Inhaltsseite eines sprachlichen Zeichens. ▲ opacity: absence of a natural relation between the meaning and the form of a linguistic sign.

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Während der Prozess des allmählichen Verlusts der morphologischen, semantischen oder situativen Motivation als Demotivation bezeichnet wird, bezieht sich Unmotiviertheit zumeist auf den Zustand fehlender Motivation sprachlicher Zeichen. Als unmotiviert gelten daher nicht nur Wortbildungen, die im Laufe der Zeit einen Motivationsverlust erlitten haben, wie dt. Veilchen (zu lat. viola, mhd. vīol/vīole, nhd. Veiel), engl. daisy (‘Gänseblümchen‛ – zu ae. dæges ‘Tages-’ und ēage ‘Auge’) oder ursprünglich semantisch moti-

vierte Bedeutungsübertragungen (dt. Fuchs für ‘Abzugskanal einer Feuerung zum Schornstein’), sondern auch Bildungen wie dt. Gipfeltreffen (‘internationale Zusammenkunft der Regierungen bes. von führenden, einflussreichen Staaten’; nicht: ‘Treffen auf dem Gipfel’), die schon zum Zeitpunkt ihrer Prägung nicht (vollständig) motiviert sind, und primäre Simplizia (Naumann 2000: 36; Käge 1980: 28). Nach de Saussure sind elementare, d.h. einfache, nichtabgeleitete oder -zusammengesetzte Sprachzeichen grundsätzlich nicht motiviert (immotivé). Die phonologische Motivation sogenannter Onomatopoetika wie dt. Kuckuck – engl. cuckoo – frz. coucou – ital. cuculo – bulgar. kukuvica – russ. kukuška relativiert diese Aussage, ist jedoch insgesamt mit Blick auf das Sprachsystem eine eher periphere Erscheinung. Gelegentlich wird der Terminus Unmotiviertheit auch im Sinne von Demotivation gebraucht. Anja Seiffert ≡ Idiomatizität; Idiosynkrasie; Willkürlichkeit ↔ Durchsichtigkeit → Arbitrarität; Demotivation; Motivation; Motivationsgrad ⇁ opacity (Phon-Engl)

🕮 de Saussure, F.[1916] Cours de Linguistique Générale. Paris ◾ Käge, O. [1980] Motivation. Probleme des persuasiven Sprachgebrauchs, der Metapher und des Wortspiels. Göppingen ◾ Naumann, B. [2000] Einführung in die Wortbildungslehre des Deutschen. 3. Aufl. Tübingen ◾ Wiese, H. [2003] Sprachliche Arbitrarität als Schnittstellenphänomen. Berlin.

unparadigmatisches Fugenelement

Fugenelement, das mit der vorangehenden Form keine mögliche Flexionsform ergibt. ▲ non-paradigmatic linking element: connecting element that is not a possible inflectional ending of the preceding form. Das unparadigmatische (auch: unparadigmische) Fugenelement ist ein Fugenelement, das gemeinsam mit dem vorangehenden Stamm (auch theoretisch) keine mögliche Flexionsform bildet, z.B. Versicherung-s-vertreter (Versicherungs ist keine mögliche Wortform des Dt.). Der Begriff „paradigmatisch“ referiert dabei auf das Flexionsparadigma, bei Grimm (1878: 934) heißen sie „unflexivisch“, bei Wilmanns (1899) „unorganisch“. Die unparadigmatischen Fugenelemente waren immer von besonderem Interesse für die Forschung, weil an ihnen deutlich zu erkennen ist,

695 dass sie losgelöst von der Flexion eine eigene Systematik entwickeln, also faktisch, dass es sinnvoll ist, Fugenelemente als eine eigene Klasse anzunehmen. So bezeichnet z.B. Donalies (2005) ausschließlich die unparadigmatischen Fugenelemente überhaupt als Fugenelemente. Im Dt. kommt insbesondere s unparadigmatisch vor; dieses ist recht systematisch, da es nach bestimmten Suffixen, die feminine Substantive bilden, gesetzt wird: Freundschaft-s-dienst, Versicherung-s-vertreter, Freiheit-s-grad usw. Auch die -o-Fuge ist nicht paradigmatisch, das liegt daran, dass die Stämme typischerweise gar nicht selbständig vorkommen (*physi, physio-). Andere unparadigmatische Fugenelemente sind häufig konservierte Reste alter Flexionsformen, so war Hahn ein schwaches Maskulinen und die Form Hahnen in Hahnenfuß ist hier die konservierte Flexionsform. So einleuchtend die grundsätzliche Einteilung in paradigmatische und unparadigmatische Fugenelemente ist, hat die Forschung inzwischen gezeigt, dass sie offenbar der Systematik der Fugenelemente nicht gerecht wird. So hängt die Systematik der -s-Fuge an der prosodischen Struktur der Wörter und weniger an den Flexionsformen. Erste Ansätze wurden hier bereits gezeigt mit der Feststellung, dass -ling sich ansonsten wie die femininen Suffixe verhält, obwohl bei -ling die -s-Fuge paradigmatisch ist (Fuhrhop 1998). Diese Sichtweise wurde von Eisenberg (2013) festgeschrieben und findet ihre Bestätigung in den Untersuchungen von Nübling/Szczepaniak (2011). Nanna Fuhrhop → § 20; Fugenelement; -o-Fuge; paradigmatisches Fugenelement; uneigentliches Kompositum

🕮 Donalies, E. [2005] Die Wortbildung des Deutschen. 2., überarb. Aufl. Tübingen ◾ Eisenberg, P. [2013] Grundriss der deutschen Grammatik. Bd. 1: Das Wort. 4., aktual. u. überarb. Aufl. Stuttgart [etc.] ◾ Fuhrhop, N./ Kürschner, S. [2015] Linking elements in Germanic. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.1). Berlin [etc.]: 568–582 ◾ Fuhrhop, N. [1998] Grenzfälle morphologischer Einheiten. Tübingen ◾ Grimm, J. [1878] Deutsche Grammatik 2. Hg. von W. Scherer. Hildesheim ◾ Nübling, D./ Szczepaniak, R. [2011] Merkmal(s?)analyse, Seminar(s?)arbeit und Essen(s?)ausgabe. Zweifelsfälle der Verfugung als Indikatoren für Sprachwandel. In: ZS 30: 45–73 ◾ Wilmanns, W. [1899] Deutsche Grammatik. Gotisch, Alt-, Mittel- und Neuhochdeutsch. Zweite Abteilung: Wortbildung. 2. Aufl. Straßburg.

untrennbares Verb

unproduktiv

Unfähigkeit eines Affixes oder eines morphologischen Prozesses, an der Bildung neuer Wörter beteiligt zu sein. ▲ unproductive: inability of an affix or morphological process to be used in the creation of new words. Obwohl es englische Komposita wie pick-pocket und dread-nought gibt, die aus einem Verb und dem direkten Objekt dieses Verbs bestehen und jemand oder etwas denotiert, der/das die verbale Handlung in Bezug auf das direkte Objekt ausführt, können nicht neue Wörter nach diesem Muster gebildet werden: *fear-all, *steal-wallet, *drive-car sind nicht mögliche Nomina des Englischen. Dieses Muster ist im heutigen Englisch unproduktiv. Ein Beispiel für ein unproduktives Affix ist das deutsche Suffix -t in Wörtern wie Fahr-t, Nah-t. ≡ inaktiv ↔ produktiv → § 40; aktiv; Produktivität ⇁ unproductive (Woform)

Laurie Bauer

🕮 Bauer, L. [2001] Morphological Productivity. Cambridge [etc.] ◾ Gaeta, L./ Ricca, D. [2015] Productivity. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, Fr. [eds.], Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 842–858 ◾ Plag, I. [1999] Morphological Productivity. Structural Constraints on English Derivation. Berlin [etc.].

untrennbares Präfix ≡ verbales Präfix

untrennbares Verb

komplexes Verb, dessen Bestandteile nicht trennbar sind. ▲ inseparable verb: complex verb whose constituents can never be separated from each other. Der Terminus wird häufig als Synonym für Verben mit (echten, untrennbaren, festen) Präfixen wie entwürdigen, verschieben, beraten verwendet. Allerdings ist der Terminus nicht nur in diesem Bereich nützlich. Manche durch Rückbildung entstandene Verben sind trennbar (wir essen jetzt mittag; vgl. das Mittagessen), manche nicht (sie wollen das Stück uraufführen vs. *sie führen das Stück urauf; vgl. die Uraufführung). Da mittag und urauf nicht systematisch in der Bildung von Verben auftreten, ist es nicht ohne Weiteres sinnvoll, sie mit verbalen Präfixen bzw. Partikeln

U

Urschöpfung 696 gleichzusetzen. Demgegenüber ist es sinnvoll zu fragen, wann Rückbildung untrennbare Verben bzw. trennbare Verben erzeugt.

↔ trennbares Verb → Präfixverb; Rückbildung ⇀ untrennbares Verb (Gram-Formen)

Andrew McIntyre

🕮 Fleischer, W./ Barz, I. [1992] Wortbildung der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen.

Urschöpfung

≡ Wortschöpfung

Usualisierung

≡ Lexikalisierung

usuelle Bildung

≡ lexikalisierte Bildung; usuelles Wort ⇀ usuelle Bildung (Lexik)

usuelles Wort

Wort, das den Mitgliedern einer bestimmten Sprechergemeinschaft geläufig ist. ▲ actual word: word which is familiar to members of the relevant speech community. Die Betrachtung morphologischer Produktivität macht gewöhnlich Kenntnis darüber notwendig, welche Wörter neu sind (nonce words oder Neologismen), und dies wiederum impliziert Kenntnis darüber, welche Wörter bereits existieren. Während dies unkompliziert scheint und in vielen Fällen offensichtlich sein mag, ob ein Wort existiert oder nicht, gibt es eine große Grauzone, wo jede Entscheidung schwierig ist. StandardWörterbücher listen Wörter auf, die nicht nur existieren, sondern die zum Zeitpunkt der Erstel-

U

lung als geläufig bewertet wurden. Dies können gewöhnliche Wörter wie cat ‘Katze’ sein oder seltenere wie primogenitary ‘Erstgeborensein’. Solche Wörter können als „etabliert“ bezeichnet werden. Viele Wörter sind innerhalb der Sprechergemeinschaft in Umlauf, werden aber nicht als geläufig bewertet oder sind Teil eines Registers, das normalerweise nicht in einem StandardWörterbuch erfasst wird (umgangssprachliche oder sehr technische Ausdrücke usw.). Ebenso ist weithin bekannt, dass Standard-Wörterbücher tendenziell die Anzahl der Wörter in Sprechergemeinschaften mit sehr produktiven Affixen unterschätzen, weil hier Wörter so automatisch gebildet werden, dass sie „familiar“ (bekannt) wirken, aber neu sind. Solche Wörter sind streng genommen nicht „item-familiar“, sondern „type-familiar“ (siehe Meys 1975). Wörter, die nur einem kleinen Teil oder sogar nur einigen Mitgliedern der betreffenden Sprechergemeinschaft geläufig sind, sind für die Theorie problematisch, ebenso wie Wörter, die neu und noch nicht allgemein gebräuchlich sind. Es ist unklar, zu welchem Zeitpunkt von der „Existenz“ solcher Wörter innerhalb der Sprechergemeinschaft die Rede sein kann. ≡ aktuelles Wort; usuelle Bildung → Ad-hoc-Bildung; Neologismus; Produktivität ⇁ actual word (Woform)

Laurie Bauer

🕮 Aronoff, M. [1976] Word Formation in Generative Grammar. Cambridge, MA [etc.] ◾ Bauer, L. [2001] Morphological Productivity. Cambridge [etc.] ◾ Meys, W. [1975] Compound Adjectives in English and the Ideal Speaker-Listener. Amsterdam [etc.] ◾ Plag, I. [1999] Morphological Productivity. Structural Constraints on English Derivation. Berlin [etc.].

V Valenz

grammatische Eigenschaft von Lexemen, bestimmte Mitspieler, Ergänzungen bzw. Argumente, obligatorisch oder fakultativ an sich zu binden. ▲ valency: grammatical property of lexemes which allows or requires them to appear with certain complements or modifiers. Der aus der Chemie stammende Terminus Valenz ist mit dem in der linguistischen Literatur häufig verwendeten Terminus Argumentstruktur weitestgehend äquivalent. Beide Begriffe bezeichnen die grammatische Eigenschaft von Wörtern, bestimmte Mitspieler, Ergänzungen bzw. Argumente zu verlangen oder zu erlauben. Valenz ist eine wichtige Eigenschaft von Verben. Es gibt intransitive Verben, die nur ein Argument bzw. einen Mitspieler haben (sie tanzt), transitive Verben, die zwei Nominalphrasen im Nominativ bzw. Akkusativ erfordern (der Ausschuss erfasst einen Bericht), Verben mit präpositionalem Komplement (die Industrie wettet auf die Zukunft) und Verben mit Infinitivkomplement (sie versucht zu entkommen). Auch andere Kategorien, z.B. Substantive, Adjektive und Präpositionen, besitzen eine Valenz, d.h. auch sie können Argumente erlauben bzw. verlangen, vgl. die Seite des Schranks; bereit zu helfen; mit einem Rucksack. Bei gewissen derivationellen Prozessen wie der Nominalisierung kann die Valenz des Basisworts auf das abgeleitete Wort übergehen, vgl. die Erfassung des Berichts durch den Ausschuss bzw. der Versuch des Räubers zu entkommen. Die Vererbung der Argumente des Basisworts an das Gesamtwort kann auch in abgeleiteter Form erfolgen, bspw. wenn das Subjekt-Argument durch das ableitende Affix realisiert wird wie bei den nomina agentis (Raucher der Pfeife, Lackierer des

Autos). Argumentvererbung kann auch in Komposita erfolgen. Beispielsweise wird durch die Erstglieder der Komposita Autolackierung und Autolackierer das Objekt des Verbs lackieren realisiert. Ein wichtiger Gegenstand der Valenzforschung sind sogenannte Diathesen bzw. Alternationen, bei denen ein Wort mit unterschiedlichen Argumentstrukturen auftreten kann. Beispielsweise kann das Verb schreiben u.a. intransitiv, transitiv oder mit PP-Argument verwendet werden (Sie schreibt; Sie schrieb einen Brief; Sie schrieb ans Ministerium). In vielen Wortbildungskonstruktionen kommt es zu solchen Valenzveränderungen, d.h. ein abgeleitetes Wort hat eine andere Argumentstruktur als das Basiswort. Beispielsweise drücken mit ent- präfigierte intransitive Bewegungsverben das Präpositionalobjekt des Basisverbs durch ein Dativobjekt aus, vgl. Wasser strömt aus der Leitung/Wasser entströmt der Leitung. Bei transitiven Verben bewirkt das Präfix ent- eine Applikativalternation, wobei das Präpositionalobjekt des Basisverbs zum direkten Objekt und das direkte Objekt zum Präpositionalobjekt des präfigierten Verbs wird, vgl. Schadstoffe aus der Luft ziehen/der Luft Schadstoffe entziehen. Diese Alternation tritt auch bei be-Präfigierungen auf, vgl. Farbe auf die Wand spritzen/die Wand mit Farbe bespritzen. Das be-Präfix kann die Valenz des zugrundeliegenden Verbs erhöhen, indem ein intransitives Verb transitiviert wird, vgl. lächeln/den Mann belächeln. Die Präfigierung mit er- bewirkt dabei eine semantische Modifikation, die den logischen Typ des direkten Objekts ändert, vgl. Möbel kaufen/Loyalität erkaufen, eine Frau heiraten/ein Vermögen erheiraten. Präfigierung mit ver- kann die Valenz eines intransitiven Basisverbs transitivieren (lachen/jemanden verlachen, trödeln/die

Valenzänderung 698 Zeit vertrödeln), ein zugrundeliegendes Dativobjekt in ein Akkusativobjekt ändern (jemandem folgen/jemanden verfolgen) und sogar – mit einer einhergehenden semantischen Modifikation – ein transitives Basisverb reflexivieren, vgl. sich verplaudern, sich verzählen, sich verschreiben. Partikelverben bewirken oft eine Valenzreduktion des Basisverbs dahingehend, dass das Präpositionalobjekt inkorporiert wird, vgl. den Film einlegen/ den Film in die Kamera legen, den Knopf annähen/ den Knopf an das Kleid nähen, ein Stück abschneiden/ein Stück vom Kuchen schneiden. Andrew McIntyre, Susan Olsen

→ § 31; Argumentstruktur; Argumentvererbung; nomen

agentis; nominales Rektionskompositum; Partikelverb; Präfixverb; synthetisches Kompositum ⇀ Valenz (Gram-Syntax; SemPrag; CG-Dt; QL-Dt) ⇁ valency (TheoMethods)

🕮 Bierwisch, M. [2015] Word-formation and argument structure. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1056–1099 ◾ Fleischer, W./ Barz, I. [2012] Wortbildung der deutschen Gegenwartsssprache. 4. völlig neu bearb. Auflage. Berlin [etc.] ◾ Günther, H. [1974] Das System der Verben mit BE- in der deutschen Sprache der Gegenwart. Tübingen ◾ Hundsnurscher, F. [1968] Das System der Partikelverben mit „aus“ in der Gegenwartssprache. Göppingen ◾ McIntyre, A. [2015] Particle verbs and argument structure. In: LgLingCmp 1(4): 350–397 ◾ Olsen, S. [1995] Preposition-Dative Alternation in German. In: Önnerfors, O. [Hg.] S & P Sprache und Pragmatik Arbeitsberichte, Sonderheft. Lund: 47–77 ◾ Olsen, S. [1996] Über Präfix- und Partikelverbsysteme. In: Simecková, A./ Vachková, M. [Hg.] Wortbildung – Theorie und Anwendung. Prag: 111–137 ◾ Olsen, S. [Hg. 1998] Semantische und konzeptuelle Aspekte der Partikelverbbildung mit ein-. Tübingen ◾ Stiebels, B. [1996] Lexikalische Argumente und Adjunkte. Berlin. ◾ Wunderlich, D. [1987] An investigation of lexical composition: the case of Geman be-verbs. In: Ling 25: 283–331. ◾ Wunderlich, D. [2015] Valency-changing wordformation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1424–1466.

Valenzänderung

V

Änderung der lexikalischen, semantischen und/ oder syntaktischen Eigenschaften eines Wortes, die dazu führt, dass das Wort mehr, weniger oder andere Argumente bzw. Ergänzungen hat als in seiner Grundverwendung. ▲ valency change: change in the lexical, semantic and/or syntactic properties of a word which leads to a change in the number or nature of arguments the word takes compared to its basic use. Zwei wichtige Kategorien von Valenzänderung sind Valenzerhöhung (Hinzufügung eines Argu-

ments, etwa bei Kausativierung oder gewissen Applikativkonstruktionen) und Valenzreduktion (Unterdrückung eines Arguments, wie bei Passivsätzen und Sätzen mit impliziten Argumenten). Eine Valenzänderung kann auch die Art von Argumenten eines Wortes betreffen, ohne dass die Anzahl an Argumenten betroffen wäre. Dies lässt sich bei zahlreichen Diathesen bzw. Alternationen beobachten, etwa bei der Lokativalternation (das Glas mit Wasser füllen vs. Wasser ins Glas füllen) oder der Dativalternation (sie schickte es mir vs. sie schickte es an mich). In vielen Sprachen werden Valenzänderungsvorgänge wie Passivierung, Transitivierung, Kausativierung, Dekausativierung durch Affixe am Verb markiert. Der Begriff der Valenzänderung wird am häufigsten in Verbindung mit Verben erörtert, ist aber im Prinzip auf andere Kategorien anwendbar. Man denke an die verschiedenen Möglichkeiten der (Nicht-)Realisierung der Partizipanten bei Nominalisierungen (die Zerstörung (der Stadt) (durch die Römer)) oder die Tatsache, dass gewisse Präpositionen mit oder ohne ihre Komplemente auftreten können und bei fehlendem Komplement manchmal morphologisch markiert werden (hinter der Mauer – dahinter). Andrew McIntyre, Susan Olsen

→ § 31; Akkusativierung; Applikativ; kausatives Verb; Objektumsprung; Transitivierung

🕮 ◾ Beckmann, F./ Eschenlohr, S. [2005] Neuere Arbeiten zur Diathesenforschung. Tübingen ◾ Levin, B. [1993] English Verb Classes and Alternations. Cambridge, MA ◾ Pylkkänen, L. [2002] Introducing Arguments. Cambridge, MA ◾ Wunderlich, D. [2015] Valency-changing word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1424–1466.

variable R condition

Umstand, dass die semantische Relation zwischen den Komponenten eines Kompositums des Typs Nomen + Nomen variabel ist. ▲ variable R condition: fact that the semantic relationship between the elements of a noun + noun compound is variable. Die Bezeichnung stammt von Allen (1978). Die Folge der offenen semantischen Relation zwischen den Komponenten eines Kompositums ist, dass manche Komposita ambig sein können: the London train kann nach London fahren oder aus London kommen; bei sea-sickness pill verhindert die Pille die Seekrankheit, bei oestrogen pill wird

699 Verbalabstraktum Östrogen nicht verhindert, sondern ist in der Pille enthalten. Manche Autoren argumentieren dafür, dass alle unterschiedlichen Bedeutungen auf „N2 steht in Beziehung zu N1“ reduziert werden können, cf. Bauer (1987: 122), Selkirk (1982: 23) and Olsen (2012). Laurie Bauer

→ appropriately classificatory relation; primary compound; slot filling

🕮 Allen, M.R. [1978] Morphological Investigations. Diss. Storrs, CT ◾ Bauer, L. [1978] The Grammar of Nominal Compounding. Odense ◾ Olsen, S. [2012] The Semantics of Compounds. In: Maienborn, C./ Heusinger, K./ Portner, P. [eds.] Semantics (HSK 33.3). Berlin [etc.]: 2120–2150 ◾ Selkirk, E. [1982] The Syntax of Words. Cambridge, MA [etc.].

Variante

≡ Allomorph ⇀ Variante (Dial; Lexik; HistSprw; Textling)

Veranlassungsverb ≡ kausatives Verb

Verb, doppelförmiges → doppelförmiges Verb

Verb, effizierendes → effizierendes Verb

Verb, faktitives → faktitives Verb

Verb, kausatives → kausatives Verb

Verb, komparatives → komparatives Verb

Verb, phrasales → phrasales Verb

Verb, trennbares → trennbares Verb

Verb, untrennbares → untrennbares Verb

verbal compound

Kompositum, bei dem die modifizierende Konstituente als ein Argument des Verbs im Kopfelement interpretiert wird.

▲ verbal compound: compound in which the modify-

ing constituent is interpreted as an argument of the verb in the head element.

Beispiele für verbal compounds ‘Komposita mit einem deverbalen Kopf’ sind Kinobesitzer, Fensterputzer, Milchaufschäumer, bei denen Kino, Fenster und Milch direkte Objekte der Verben besitzen, putzen und aufschäumen sind. Beispiele für andere gemeinhin angenommene Typen verbaler Komposita sind Buchbestellung, Geldersparnis, Autopflege, Farbvariation usw. Allerdings ist die Grenze zwischen verbale compounds und primary compounds in der Theorie unscharf. Sonntagsfahrer ist nicht als verbales Kompositum anzusehen, weil Sonntag kein Argument des Verbs fahren ist im Vergleich zu den Erstgliedern in Taxi-Fahrer, Motorrad-Fahrer, Bus-Fahrer usw. Es ist auch nicht klar, ob hand in handgefertigt ein Argument des Verbs fertigen ist. Während Konsens darüber herrscht, dass sehr produktive Affixe wie -er und -ing verbal compounds bilden, sind die Verhältnisse bei anderen deverbalen Köpfen weniger klar, so dass der Status von Müllabwurf und Steuerbescheid ohne overtes Suffix oder Autoverkehr, Semesterbeginn (wo die modifizierenden Erstglieder nicht das Objekt, sondern das Subjekt des Verbs sättigen) unklar ist. Umso mehr, als die Frage, ob sogenannte Komposita in den romanischen Sprachen wie das frz. gratteciel ‘kratz-Himmel = Wolkenkratzer’ als verbal compounds zu klassifizieren sind. Laurie Bauer

↔ primary compound → argument linking principle; exozentrisches Verb-NomenKompositum; Komposition; Kompositum; nominales Rektionskompositum; synthetisches Kompositum ⇁ verbal compound (Typol; Woform)

🕮 Bisetto, A./ Scalise, S. [2005] Classification of Compounds. In: LinLin 4: 319–332 ◾ Lieber, R. [1994] Root Compounds and Synthetic Compounds. In: Asher, R.E./ Simpson, J.M.Y. [eds.] Encyclopedia of Language and Linguistics. Vol. VII. Oxford [etc.]: 3607–3610 ◾ Spencer, A. [1991] Morphological Theory. Oxford [etc.].

Verbalabstraktum

von einem Verb abgeleitetes Nomen mit einer abstrakten Bedeutung. ▲ deverbal abstract noun: deverbal noun with an abstract meaning. Beispiele für Verbalabstrakta sind Erlaubnis (
span. claramente ‘klar, deutlich’), vgl. Detges (2015). [...]

C

F

Grammatikalisation

≡ Grammatikalisierung

G

Einzel- oder Synopse­ artikel in WSK 2

Synopseartikel

A

englisches Äquivalentzugriffsregister

Verweisartikel

Peter O. Müller ≡ Grammatikalisation ↔ Degrammatikalisierung → § 39; Affixoid; Analogie; gebundenes Morphem; Partikelverb; Partizip; Präfixoid; Präfixverb; Suffixentstehung; Suffixoid; Verbpartikel; Wortbildungsbedeutung ⇀ Grammatikalisierung (Gram-Syntax; CG-Dt; Sprachdid; HistSprw; SemPrag) ⇁ grammaticalization (CG-Engl; TheoMethods; Typol)

🕮 Amiot, D. [2015] The grammaticalization of prepositions in French word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1811–1824 ◾ Amiot, D./ Dugas, E. [2020] Combining Forms and Affixoids in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 855–873 ◾ [...]

B

Lemma

Verweis(e) auf das graphemgleiche Lemma in einem deutschsprachigen WSK-Band

Systematische Einführung § 39 Entstehung von Wortbildungsmodellen Verweisposition am Ende von § 39

WSK 2: Affixoid; eigentliches Kompositum; Grammatikalisierung; Konkurrenzbildung; Mehrfach­ motivation; Morphematisierung; Pseudopartizip; Suffixentstehung; Suffixverschmelzung; Synkretis­ mus; uneigentliches Kompositum; Univerbierung

F

Einzelartikel

weiterführende Erklärungen als Angabetext

Verweis(e) auf das Lemma in einem englischsprachigen WSK-Band, das graphemgleich mit dem englischen Äquivalent ist

grammaticalization Grammatikalisierung […] […] possessive compound Possessivkompositum

Synonym(en)angabe Antonym(en)angabe

Literaturangaben

Possessivkompositum

exozentrisches Kompositum, das das gleiche Determinativverhältnis zwischen seinen Konstituenten aufweist wie ein Determinativkompositum. ▲ possessive compound: exocentric compound that has the same determinative relation between its constituents as a determinative compound.

deutsche Definiensangabe englische Äquivalentangabe englische Definiensangabe

Possessivkomposita weisen die gleiche Determi­ nans-Determinatum-Beziehung zwischen ihren Kon­stituenten auf wie die Determinativkomposita. Sie heben sich aber von Determinativkomposita durch ihre exozentrische Verwendung ab. So kann das engl. Determinativkompositum hardhat, das einen Schutzhelm bezeichnet, der von Bauarbeitern auf Baustellen getragen wird, auch zur Bezeichnung der Bauarbeiter benutzt werden. Possessivkomposita denotieren m.a.W. kein Hypo­ nym des Kopfbegriffs wie die Determinativkomposita, sondern referieren auf ein externes Individuum, das in besonders charakteristischer Weise mit der Bedeutung des Kompositums in Verbindung steht. Die traditionelle Grammatik hat die Gruppe der Nominalkomposita in drei Hauptklassen unterteilt: Determinativ-, Kopulativ- und Possessivkomposita (vgl. u.a. Paul 1920, Whitney 1950, Mayrhofer 1965, Lindner 2011–2018). [...] ≡ Bahuvrīhi

Beispielangabe

Angabe des Autorennamens

Susan Olsen

↔ endozentrisches Kompositum → § 22; Determinans-Determinatum-Struktur; Determinativkompositum; exozentrisches Kompositum; Kompositum; Kopulativkompositum; Zusammenbildung ⇀ Possessivkompositum (HistSprw) ⇁ possessive compound (Woform)

🕮 Bierwisch, M. [2015] Word-formation and metonymy. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] WordFormation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1099–1128 ◾ Bloomfield, L. [1933] Language. London ◾ [...]

Verweise auf Lemmata in WSK 2

D E

Einzel- und Synopseartikel Determinans-Determina­ tum-Struktur Determinativkompositum exozentrisches Kompositum Kompositum Kopulativkompositum Zusammenbildung

Outer access routes, internal cross-reference routes and article structure in WSK 2

A from the Systematic Introduction to a synopsis article E from a single article to a single article B from a synopsis article to single articles or synopsis articles F from the English-German register to a single article or C from a synopsis article to the Systematic Introduction synopsis article D from a single article to a synopsis article G from a cross-reference article to a single article or synopsis article

Grammatikalisierung

Affixoid Analogie gebundenes Morphem Partikelverb Partizip Präfixoid Präfixverb Suffixentstehung Suffixoid Verbpartikel Wortbildungsbedeutung

Sprachwandelprozess, in dessen Verlauf sich eine lexikalische Einheit zu einer grammatischen Einheit entwickelt. ▲ grammaticalization: process of language change in the course of which a lexical unit becomes a grammatical one. Der von Meillet (1912) geprägte, aber uneinheitlich verwendete Terminus (vgl. Lindström 2004) beschreibt im Kontext der Wortbildung (vgl. Rainer 2015, Wischer 2011) die Entstehung von Wortbildungsmorphemen aus Lexemen. Ausgangspunkt sind z.T. Lexeme in syntaktischen Konstruktionen wie etwa im Fall des romanischen Adverbsuffixes -mente, das aus lateinischen Ablativkonstruktionen mit dem Substantiv mēns ‘Geist, Verstand’ entstanden ist (z.B. lat. in clarā mente ‘bei klarem Verstand’ > span. claramente ‘klar, deutlich’), vgl. Detges (2015). [...]

A

C

F

Grammatikalisation

≡ Grammatikalisierung

single article or synopsis article in WSK 2

synopsis article

Peter O. Müller ≡ Grammatikalisation ↔ Degrammatikalisierung → § 39; Affixoid; Analogie; gebundenes Morphem; Partikelverb; Partizip; Präfixoid; Präfixverb; Suffixentstehung; Suffixoid; Verbpartikel; Wortbildungsbedeutung ⇀ Grammatikalisierung (Gram-Syntax; CG-Dt; Sprachdid; HistSprw; SemPrag) ⇁ grammaticalization (CG-Engl; TheoMethods; Typol)

🕮 Amiot, D. [2015] The grammaticalization of prepositions in French word-formation. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] Word-Formation (HSK 40.3). Berlin [etc.]: 1811–1824 ◾ Amiot, D./ Dugas, E. [2020] Combining Forms and Affixoids in Morphology. In: Lieber, R. [ed.] OEM. Vol. 2. New York: 855–873 ◾ [...]

lemma

cross-reference(s) to the grapheme-like lemma in a German language WSK volume cross-reference(s) to the lemma in an English language WSK volume that is grapheme-like with the English equivalent

Systematic Introduction § 39 Entstehung von Wortbildungsmodellen cross-reference position at the end of § 39

WSK 2: Affixoid; eigentliches Kompositum; Grammatikalisierung; Konkurrenzbildung; Mehrfach­ motivation; Morphematisierung; Pseudopartizip; Suffixentstehung; Suffixverschmelzung; Synkretis­ mus; uneigentliches Kompositum; Univerbierung

G

grammaticalization Grammatikalisierung […] […] possessive compound Possessivkompositum

F

single article

further explanations as item text

B

English-German access register

cross-reference article

item giving a synonym item giving an antonym

item giving bibliographic references

Possessivkompositum

exozentrisches Kompositum, das das gleiche Determinativverhältnis zwischen seinen Konstituenten aufweist wie ein Determinativkompositum. ▲ possessive compound: exocentric compound that has the same determinative relation between its constituents as a determinative compound.

item giving the German definiens item giving the English equivalent item giving the English definiens

Possessivkomposita weisen die gleiche Determi­ nans-Determinatum-Beziehung zwischen ihren Kon­stituenten auf wie die Determinativkomposita. Sie heben sich aber von Determinativkomposita durch ihre exozentrische Verwendung ab. So kann das engl. Determinativkompositum hardhat, das einen Schutzhelm bezeichnet, der von Bauarbeitern auf Baustellen getragen wird, auch zur Bezeichnung der Bauarbeiter benutzt werden. Possessivkomposita denotieren m.a.W. kein Hypo­ nym des Kopfbegriffs wie die Determinativkomposita, sondern referieren auf ein externes Individuum, das in besonders charakteristischer Weise mit der Bedeutung des Kompositums in Verbindung steht. Die traditionelle Grammatik hat die Gruppe der Nominalkomposita in drei Hauptklassen unterteilt: Determinativ-, Kopulativ- und Possessivkomposita (vgl. u.a. Paul 1920, Whitney 1950, Mayrhofer 1965, Lindner 2011–2018). [...]

Susan Olsen ≡ Bahuvrīhi ↔ endozentrisches Kompositum → § 22; Determinans-Determinatum-Struktur; Determinativkompositum; exozentrisches Kompositum; Kompositum; Kopulativkompositum; Zusammenbildung ⇀ Possessivkompositum (HistSprw) ⇁ possessive compound (Woform)

🕮 Bierwisch, M. [2015] Word-formation and metonymy. In: Müller, P.O./ Ohnheiser, I./ Olsen, S./ Rainer, F. [eds.] WordFormation (HSK 40.2). Berlin [etc.]: 1099–1128 ◾ Bloomfield, L. [1933] Language. London ◾ [...]

item giving an example

item giving the name of the author(s) cross-references to lemmata in WSK 2

D E

single articles and synopsis articles Determinans-Determina­ tum-Struktur Determinativkompositum exozentrisches Kompositum Kompositum Kopulativkompositum Zusammenbildung