Wolfsprojektionen: Wer säugt wen?: Von der Ankunft der Wölfe in der Technoscience [1. Aufl.] 9783839407356

Wölfe überqueren Grenzen, ebenso die entlegener Alpenpässe wie die zu Großstädten nach Brasov, Rom oder Berlin. Ihre Spu

198 74 105MB

German Pages 314 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Einleitung
WÖLFE IN DER TECHNOSCIENCE?
Auf der Suche, die unian/geeigneten Anderen präsent zu machen
Wort und Schrift als wesentliche Aspekte der Mensch-Wolf-Differenz
Sprache als Medium der Annäherung?
Das Geschlecht der Natur und Wölfe
Reisebericht durch Wolfsland
Methodische Fragen
Der Blick nach Anderswo
Emanzipation verschiedener Ordnung
VOM WISSEN ÜBER WöLFE
Fadenspiel
Spuren der Differenz zwischen Menschen und anderen Tieren
Trickster oder Von menschlichen und nicht-menschlichen Akteurinnen
Zur wissenschaftlichen Beschäftigung mit Wölfen
WOLFS-BLICKE_1. GENESE EINER BEGEGNUNG
Mammalia: Wer säugt wen?
Verfolgung des Wölfischen
Biosphärenkämpfe: Wiederkehr des Wölfischen
WOLFS-BLICKE_2. STRUKTURELLE MOMENTE EINER BEGEGNUNG
Mimetische Angleichung zwischen Mythos und Wahrheit
Okzidentale Stereotypen
Kulturhistorischer Exkurs: Antigone - Opfer Werwölfin?
Werwölfe und ihre fatale Nähe zu Tyrannen
Die Tragödie im Sittlichen
Wolfsmenschen
WOLFS-BLICKE_3. EIN ANDERER, BIOAlSTHETISCHER BLICK
Das Parlament der Dinge und die Versammlung der Tiere
Vom Labor zum Hundetrainingsplatz und zum Bannwald
Cyborgisierung
ars memoriae_ l: Von Wölfen und Cyborgs
ars memoriae_2: Wolf-Werden, Maruligfaltig-Werden, Intensiv-Werden
Ausblick: Metaplasma
Literatur/Filme
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Wolfsprojektionen: Wer säugt wen?: Von der Ankunft der Wölfe in der Technoscience [1. Aufl.]
 9783839407356

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Marion Mangelsdorf Wolfsprojektionen: Wer säugt wen?

Marion Mangelsdorf (Dr. phil.) ist Lehrbeauftragte und Referentin an der Abteilung Gender Studies der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Mensch-Tier-Beziehungen in der Technoscience sowie Geschlechterstudien in Naturwissenschafts- und Technikforschung.

MARION MANGELSDORF

Wolfsprojektionen: Wer säugt wen? Von der Ankunft der Wölfe in der Technoscience

[transcript]

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/ jdnb.ddb.de abrufbar.

© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für VervieWi.ltigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Julie Weinkauf: >>Wolfgartenl< hinzugefügt, so verkürzt das die Problematik des Geschlechterdiskurses, zudem lässt sich stilistisch darüber streiten. So habe ich mich von Fall zu Fall für eine unterschiedliche Schreibweise entschieden. Die Einfügung eines großen >l< markiert einen fließenden Übergang, die Niederschrift der weiblichen und männlichen Form betont hingegen die Wichtigkeit und mögliche Differenz beider Positionen. Dabei sind mir die sprachästhetischen Hemmungen, von denen Gesa Lindemann spricht und die sich bei ihr gegenüber dem großen >l< aufgebaut haben, keineswegs fremd. Dennoch habe ich mich dagegen entschieden, ihrer ironischen Art zu folgen und in lockerer Folge sowohl das generalisierte Maskulinum oder auch das generalisierte Femininum zu gebrauchen. Wodurch, wie sie schreibt:

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Die Übersetzerinnen des Textes Grenzereignis von der vietnamesischen Künstlerin Trinh T. Minh-ha im Katalog zur Ausstellung 2001 in der Wiener Secession betonen in einer Fußnote, dass sie der Übersetzung des englisch/us-amerikanischen Begriffs >race< ins Deutsche wieder mehr Aufwand zu kommen ließen. Denn obwohl Einverständnis über die Problematik des Begriffs bestünde, werde >race< zumeist mit >Rasse< übersetzt. Sie schreiben dem entgegen: »Wir sind jedoch der Meinung, dass die Anführungszeichen hier nicht ausreichen. Darüber hinaus ist >Rasse< völlig ungeeignet als Entsprechung für den englischen/us-amerikanischen Begriff race, den mittlerweile eine jahrzehntelange Geschichte der politischen und theoretischen Wiederaneignung und Umarbeitung ethnischer, rassistischer Sprecherinnen markiert. Wir haben uns daher entschieden, in unserer Übersetzung einen Begriff zu wählen, der in zeitgenössischen deutschsprachigen rassismuskritischen Texten verwendet wird - den Begriff der Rassisierung. Dieser verweist auf den produktiven Charakter des Konzepts race, da seine grammatische Form Handlungsanweisungen also ein Tun - impliziert, und damit die Denaturalisierung vermeintlich natürlicher Klassifizierungen unterstützt.« Trinh T. Minh-ha: Trinh T. Minh-ha. Texte/Texts, Wien: Secession 2001, S. 15.

WöLFE IN DER TECHNOSCIENCE?

»In dieser Diktion Niklas Luhmann zu den wichtigsten Soziologinnen gerechnet werden [kann], genauso wie wir es seit Jahrzehnten gewohnt sind, Harrnah Arendt zu den großen Philosophen zu zählen« 5.

Dennoch ist auch in dieser Arbeit Ironie ein wichtiges Instrumentarium wie ebenfalls in etlichen dekonstruktivistischen und feministischen Texten der vergangeneo Jahre. Denn »Ironie«, wie Haraway im Cyborg Manifesto schreibt, »handelt von Widersprüchen, die sich - nicht einmal dialektisch - in ein größeres Ganzes auflösen lassen, und von der Spannung, unvereinbare Dinge beieinander zu halten, weil beide oder alle notwendig und wahr sind.«6 Zudem, bemerkt Haraway, handelt Ironie von Humor und ernsthaftem Spiel, ist eine rhetorische Strategie und eine politische Methode. Eine Methode, die einen ebenso besorgten, kritischen wie auch visionär-utopischen Impetus mit sich führt und die keineswegs unschuldige wissenschaftliche Schreib- und Denkarbeit als Einmischung in bestehende Diskurse und Praktiken verstanden wissen möchte. Es geht darum: »to leam to remernher that we might have been otherwise, and might yet be.«7 Dies sei nicht nur ein poetischer Gedanke betont Haraway im Gespräch mit Thyrza Nichols Goodeve, das 2000 in der Interviewsammlung How like a leaf veröffentlicht wurde, sondern auch ein technowissenschaftlicher Fakt. Auf diese Weise verstanden, wird Wissenschaft zum »Grenzereignis«8, das sich in den Widersprüchen verstrickt, Differenzen einerseits aufheben und sie andererseits nicht verharmlosen zu wollen: die Differenzen zwischen den Geschlechtern, zwischen den Ethnien, zwischen den Spezies. Zugleich ist das auch der Versuch der oder dem Anderen, die im wissenschaftlichen Feld der Betrachtung in Augenschein genommen und einer Untersuchung unterzogen werden, eine aktive Beteiligung am Prozess der Wissensproduktion einzuräumen und damit die eigene Position immer wieder kritisch zu beleuchten. Die vietnamesische Filmemacherin

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Gesa Lindemann: Die Grenzen des Sozialen. Zur sozio-technischen Konstruktion von Leben und Tod in der Intensivmedizin, Frankfurt/Main: Fink 2002, S. 18. D. J. Haraway: Monströse Versprechen, S. 33. Donna J. Haraway: How like a leaf: an interview with Thyrza Nichols Goodeve/Donna Haraway, London, New York: Routledge 2000, S. 171 / 172. Mit Grenzereignis (eng!.: Boundary Event) ist ein Aufsatz von Trinh T. Minh-ha betitelt, in dem sie über sich und ihre Arbeit schreibt. Grenzereignisse sind es die Minh-ha in ihren Filmen an die Grenzen des Kinos, der Poesie und der Politik treiben. (Vgl. T. Minh-ha: Trinh T. Minh-ha. Texte/Texts, S. 11-15). Grenzereignisse sind es, die mich in dieser Arbeit an die Grenze der Wissenschaft, Kunst und Politik getrieben haben.

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WOLFSPROJEKTIONEN: WER SÄUGT WEN?

und feministische Kulturtheoretikerirr Trinh T. Minh-ha, auf die sich auch Haraway in ihren Schriften ausdrücklich bezieht, hat in diesem Kontext in den 1980er Jahren den Begriff »inappropriate/d other« eingeführt, der im deutschen mit »die unian/geeigneten Anderen« übersetzt werden kann. Minh-ha hat diesen Begriff im Gespräch mit Matina Grizini Mauhier erläutert: »Der Ausdruck >inappropriate/d other< ist auf beide Weisen zu verstehen: als jemand, den man nicht vereinnahmen (appropriate) kann, und als jemand unangepasster (inappropriate). Nicht eindeutig anders und nicht eindeutig gleich.«9 Minh-ha geht es darum, Werkzeuge anzubieten, die »von allen, die von dem gesellschaftlichen Standard der >Normalität< marginalisiert worden sind, aufgegriffen und eigenständig benutzt werden [können]. Man kann nicht alles explizit berücksichtigen, man kann nur über bestimmte spezifische Themen sprechen, aber man kann mit den Ohren anderer marginalisierter Gruppen hören.« 10 In dieser Arbeit geht es um eine Gruppe, die sich selber nicht zu Wort melden kann, dennoch engstens, wie gezeigt werden soll, mit der menschlichen Sozietät verbunden ist: um Wölfe. Obwohl sie wichtige Begleiterinnen und Begleiter der Menschen waren, wurden sie an den Rand menschlicher Gemeinschaft gedrängt, ausgerottet, domestiziert, und doch blieben sie die unangepassten Anderen, die sich, gleichsam ihrer wilden Natur gemäß, einer vollständigen Vereinnahmung verwehrten. Sie im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Arbeit >zu Wort kommen zu lassenlch bin wie du< bei einem gleichzeitigen Beharren auf der eigenen Differenz, und mit der Behauptung >Ich bin anders< bei einem gleichzeitigen Infragestellen aller gegebenen Definitionen und Praktiken des Anderssein. [... ] Wenn man [unter Differenz] nur einen Unterschied zwischen Kulturen oder zwischen verschiedenen Menschen versteht, kommt man damit nicht sehr weit. Aber wenn man diese Differenz zugleich auch als eine innere Differenz begreift, dann eröffnen sich Möglichkeiten. lnnen und Außen werden dadurch gleichermaßen erweitert; in jedem Subjekt liegt ein weites Feld und in jedem Ich besteht eine Mannigfaltigkeit.« 11 Im Sinne des eingangs zitierten Chicana, Chicano Slogan heißt das: Die Grenzen der Menschen zu den Wölfen verlaufen nicht außerhalb ihrer selbst, sondern mitten durch sie hindurch. Wer sich dessen bewusst wird, beginnt die komplexen, äußerst differenzierten Beziehungsstrukturen zu der und dem Anderen wahrzunehmen. Als unian/geeignet kann dann nicht nur das fremde Andere begriffen und akzeptiert werden, sondern auch das anscheinend immer schon vertraute Eigene.

11 T. Minh-ha: Trinh T. Minh-ha. Texte/Texts, S. 52.

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WOLFSPROJEKTIONEN: WER SÄUGT WEN?

Wort und Schrift als wesentliche Aspekte der Mensch-Wolf-Differenz Jede Erzählung, die von einer ursprünglichen Unschuld ausgeht und die letztendliche Rückkehr zur Ganzheit zum Ziel erklärt, imaginiert das Drama des Lebens als Individuation, Seperation, Geburt des Selbst, Tragödie der Autonomie, Sündenfall des Schreibens und Entfremdung, d.h. als Krieg, besänftigt nur durch die imaginierte Ruhe im Schoß des Anderen. 12

Bei der Re- und Dekonstruktion der Differenz zwischen Menschen und Wölfen ergibt sich sogleich eine Problematik: Gerade durch den Akt des Schreibens und der Fixierung durch die Schrift wurde und wird die Differenz evoziert und immer wieder aufs neue manifestiert. Bereits in der Bezeichnung der Tiere als Tiere kommt die Selbstüberschätzung und Selbsterhöhung der Menschen zum Ausdruck. Dies macht Manuela Linnemann, die Herausgeberirr der Anthologie Brüder, Bestien, Automaten. Das Tier im abendländischen Denken in ihrer Vorbemerkung deutlich. Mit Günther Anders weist sie darauf hin, dass der Mensch als Einzelspezies eine Vielzahl unterschiedlichster Tiergattungen und -arten, die disparater nicht sein könnten, unter einem Sammelbegriff fasst. Mit Sicherheit steht uns der Wolf näher als dem Wolf die Amöbe. Dennoch subsumiert der Mensch im »anthropozentrischen Größenwahn« 13 alle Tierarten unter eine einzige Kategorie. Durch die Bezeichnung der Wölfe als Wölfe und der Hunde als Hunde wurde die Aufspaltung der Spezies, die Spaltung gegenüber anderen Tieren und den Menschen, ihre Entfremdung voneinander benannt. Durch die Bezeichnung der Wölfe als Wolf- als böser Wolf- wurden die Tiere schließlich als moralische Wesen begriffen, vermenschlicht im Sinne eines Rechtssubjekts, separiert von ihrer Gruppe, verurteilt und getötet. So lässt sich das Wirken des schwedischen Naturforschers Carl von Linne, dem Vater der wissenschaftlichen Systematik, dem Ordnungshüter über die Pflanzen, Mineralien und Tiere, als eine scheidende Gewalt bezeichnen, die seinen taxonomischen Klassifikationen innewohnt. Zumindest begreift Hans Magnus Enzensberger in einer von siebenunddreißig Balladen aus der Geschichte des Fortschritts, seinem Mausoleum, das Schaffen Linnes als eine solche Gewalt. Durch Linne erhielten Wölfe ihren Platz innerhalb einer bis heute geltenden Systema12 D. J. Haraway: Die Neuerfindung der Natur, S. 66. 13 Zitiert nach Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, München: Beck 1994, S. 327, Anm. 33.

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WöLFE IN DER TECHNOSCIENCE?

tik des Lebendigen. Seit dem 18. Jahrhundert gilt: Canis Iupus gehört der Klasse der Säugetiere (Mammalia), der Ordnung der Hundeartigen (Canidae) und Raubtiere (Canivera) sowie der Unterordnung der Landraubtiere (Fissipestia) an. Weiter spezifizieren lässt sich die Art durch die europäische Unterart Canis Iupus Iupus, die in dieser Arbeit besondere Beachtung findet. Doch nicht erst seit Linne tragen die Tiere ihre Namen, ihre Namensgebung geht bis in die Frühgeschichte zurück. Eine etymologische Spurensuche führt zu den Wurzeln der indogermanischen Sprachen: ulko-s, der Wolf, ist eine Erweiterung von uel-, was »an sich reißen, rauben, ritzen, verwunden und töten« bedeutet. Das heißt, der Wolfwurde als Reißer, Räuber oder Mörder benannt. Der Stammwurzel uel- sind zudem die Begriffe Walstatt und Walküre angehörig. Walstatt bedeutet »KampfPlatz, Schlachtfeld«, und Walküre ist die »Botin Wotans«, die die Gefallenen laut germanischer Mythologie nach Walhall, der Halle der in der Schlacht Gefallenen, geleitet. 14 Die eschatologischdämonischen Anklänge, die in der Bezeichnung Wolf mit dem Christentum schließlich eindeutig negative Konnotationen annehmen, klingen somit schon im indogermanischen Wortursprung an. Gustave Flaubert schreibt, dass Menschen tätowierte Wilde seien 15 , dies gilt nicht weniger für andere Tiere. Nutztiere werden bis heute im wörtlichsten Sinne des Wortes tätowiert, gebrandmarkt, gezeichnet als Eigentum der Menschen. Damit entspricht der Rechtsstatus von Nutzund Haustieren exakt dem, was Aristoteles in der griechischen Polis unter einem Sklaven begriff: Sklaven waren »beseeltes Eigentum«. Nach diesem Verständnis stehen Wildtiere auf der gleichen Ebene wie diejenigen, die sich gegen ihren Sklavenstatus auflehnen. Mit ihnen könne laut Aristoteles wie folgt verfahren werden: »Die Kriegskunst [muss man] anwenden sowohl gegen die wilden Tiere als auch gegen diejenigen Menschen, welche durch die Natur zum Regiertwerden (archesthai) bestimmt sind und dies doch nicht wollen, so dass diese Art von Krieg gerecht ist.« 16 Ganz nach diesem Grundsatz wurde schließlich mit Wölfen verfahren. Es ist diese Geschichte der als Wölfe und Menschen Bezeichneten, die sich tief ins Verhalten beider Spezies eingeprägt hat: Die Wölfe >wissen