Wohnen Zeigen: Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur [1. Aufl.] 9783839424551

Mit der Moderne ist Wohnen zu einem umkämpften Schauplatz gesellschaftlichen Handelns geworden, in dessen Mitte die Verh

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German Pages 366 [360] Year 2014

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Wohnen Zeigen: Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur [1. Aufl.]
 9783839424551

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Irene Nierhaus, Andreas Nierhaus (Hg.)

Wohnen Zeigen

wohnen  +/−  ausstellen Schriftenreihe

Herausgegeben von Irene Nierhaus und Kathrin Heinz

wohnen   +/−   ausstellen Schriftenreihe, Band 1 Herausgegeben von Irene Nierhaus und Kathrin Heinz http://www.mariann-steegmann-institut.de/publikationen

Forschungsfeld wohnen   +/−   ausstellen Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik Universität Bremen Institut für Kunstwissenschaft Kunstpädagogik

Dieser Band entstand in Zusammenarbeit mit dem Wien Museum.

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept, Gestaltung und Satz: Christian Heinz Redaktion und Lektorat: Johanna Hartmann Korrektorat: Ulf Heidel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN: 978-3-8376-2455-7

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Irene Nierhaus Andreas Nierhaus (Hg.) Redaktion: Johanna Hartmann

WOHNEN Modelle und Akteure des Wohnens in Architektur und visueller Kultur

wohnen +/−  ausstellen

IN

Wohnen Zeigen

9

Schau_Plätze des Wohnwissens Irene Nierhaus, Andreas Nierhaus

MODELLRÄUME Möbel, Pläne, Körper

39

Lehrstücke des Wohnens in den 1950er Jahren Johanna Hartmann

Das „ausgestellte“ Haus und seine politische Rolle im Kalten Krieg in Deutschland

57

Greg Castillo

Das Wohnhaus als Puppenhaus

81

Der Blick von oben in US-amerikanische Wohnarchitekturen in Printmedien um die Mitte des 20. Jahrhunderts Manfredo di Robilant

„Spuren im Schnee“

101

Wohnbedürfnisforschung, Bewohnerkonstrukte und Bewohnererziehung in Deutschland und Schweden, 1920er bis 1950er Jahre David Kuchenbuch

Stahlrohrmöbel, Selbstmordziffer und die „wirkliche Wohnung“

119

Zur Didaktik von Bau- und Wohnausstellungen um 1930 am Beispiel der „Neuen Zeit“ in Köln und der Wiener Werkbundsiedlung Andreas Nierhaus

1:1 Populäre Wohnerziehung im Fertighauspark Michael Zinganel

143

WOHNKULTUREN Störrisches Wohnen

163

Kollisionen von Innenraum und Bewohnerschaft in Kommentaren zum Neuen Bauen um 1930 Irene Nierhaus

Wohnen unter Dingen, die uns um(b)ringen

183

Zum Horrorfilm als Explikation des Gewohnten und Einübung ins Un-Heim Drehli Robnik

Politische Privatheit

203

Zu einem anti-essenzialistischen Konzept am Beispiel von Laura Horellis Videoarbeit „The Terrace“ Angelika Bartl

Im wirklichen Leben ankommen

223

Alison und Peter Smithsons Upper Lawn Pavilion in Fonthill und das Vorführen der „Kunst des Bewohnens“ Christiane Keim

99 mal Wohnen

245

Eine literarische Raumkonstruktion von Georges Perec Bernadette Fülscher

BEWOHNERMODELLE Historische Wohnräume im Wien Museum

263

Vom Personenkult zum Wohnbild Eva-Maria Orosz

Ein Roman als Ausstellungsparcours in der sozialistischen Tschechoslowakei Fiktion, Wirklichkeit und Interieurs im „Großmuttertal“ Cathleen M. Giustino

287

Ausschlüsse des Unerwarteten

303

„Das deutsche Wohnzimmer“ – ein Fotobuch von Herlinde Koelbl Christina Threuter

Von aufgeschlagenen Lektüren und vergessenen Teetassen

323

Auf den Spuren der „Wohnlichkeits-Attrappen“ in Hand- und Warenbüchern sowie in Bauausstellungen der 1920er und 1930er Jahre Theres Sophie Rohde

Auftritt Mensch

339

Die Bedingungen der humanen Präsenz im fotografischen Architekturbild Andreas K. Vetter

Autor_innen

359

WOHNEN

Irene Nierhaus, Andreas Nierhaus

Wohnen Zeigen Schau_Plätze des Wohnwissens

Wohnen im Sinn eines häuslich eingerichteten Seins ist nicht natürlich gegeben, sondern immer diskursiv vermittelt, worauf der Titel Wohnen Zeigen verweist. Während der private, persönliche, ja intime Charakter des ‚individuellen‘ Wohnens generell die Vorstellung von einem scheinbar ‚harmlosen‘ Handlungskomplex produziert, ist Wohnen mit der Moderne jedoch zu einem vielumkämpften Schau_Platz gesellschaftlichen und gesellschaftspolitischen Handelns geworden – in dessen Mitte die Verhandlung des Subjekts bzw. Subjektivierungsprozesse stehen. Positionen des Wohnens werden dabei wesentlich durch Modelle von Raum- und Bewohner_innen(an)ordnungen in verschiedenen Medien realisiert. Wohnen Zeigen fokussiert damit jene Akteur_innen, Instanzen und Institutionen, die im ‚mächtigen‘ Zeigen eines ‚richtigen‘ (Be-)Wohnens durch ‚richtig‘ agierende Bewohner_innen die gesellschaftspolitische Dimension des Wohnens verdeutlichen. Im Zeigen wird ein Wohnwissen erzeugt, das an der Organisation der Wohnbauten und Wohnräume wie des Wohnhandelns teilhat, ebenso wie an den Bildwelten des Wohnens und an den Vorstellungen über Bewohner und Bewohnerinnen. Wohnen ist ein Argumentationsnetzwerk, das eine Fülle von Bewertungen, Bedingungen und Artikulationen bereithält und das auf Äußerung und Darstellung drängt. D.  h., Wohnen ist ein Schau_Platz, an dem sich das Subjekt zeigt und an dem ihm gezeigt wird. Der Schau_Platz Wohnen ist ein Gefüge aus Medienverbünden (Wohnbauarchitektur, Innenraumausstattung, Design, Wohnausstellungen, Interieurbilder, Filme, illustrierte Zeitschriften, TV-Sendeformate, Internetportale etc.), daher ist die Verknüpfung von Fragen zu Architektur und visueller Kultur im vorliegenden Band eine Grundvoraussetzung für eine kulturwissenschaftlich motivierte Wohnforschung. Der Band untersucht Wohnen bzw. seine Repräsentationen, Politiken, Erzählungen als Beziehungen zwischen modellhaftem Wohnen, seinen medialen Bildern

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Wohnen Zeigen und Vorstellungen von Wohnakteur_innen. Und diese Beziehungen sind in der Spanne zwischen Handlungsanleitung und Handlungseinspruch als wechselseitige Übertragungen gedacht. Die historischen und theoretischen Ansätze und Fragen der Beiträge kommen aus den Forschungsbereichen der Kunst-, Architektur- und Filmwissenschaften, der visuellen Kultur sowie aus den Geschichtswissenschaften. Der zeitliche Bogen spannt sich von der Zwischenkriegszeit bis zur Gegenwart. Der historisch reflektierende Standpunkt wurde gewählt, da sich vom 19. Jahrhundert ausgehend im 20. Jahrhundert der Wohnbau zur zentralen Bauaufgabe der Städte durchsetzte und Wohnen bzw. Wohnhandeln zu einem wesentlichen sozialen Schnittpunkt zwischen Gesellschaft, Ökonomie, Kultur und Politik wurde. Ausgangspunkt dieses Bandes war die Tagung „Wie wohnen? Beziehungen zwischen Wohnmodellen, Vorbildern und BewohnerInnen“, die im Rahmen der Ausstellung „Werkbundsiedlung Wien 1932. Ein Manifest des Neuen Wohnens“ (Nierhaus, A./Orosz 2012) im Wien Museum stattfand.1 Damit fußt dieser Band selbst auf einem Zeigemodus, sogar auf einem dreifachen: einer Museumsausstellung, einer historischen Wohnausstellung und einer Tagung. Fragestellungen, die in diesem Band erörtert werden, haben auch das Ausstellungsprojekt des Wien Museums begleitet, das zunächst unter dem Arbeitstitel „Wohnen im Modell“ entwickelt worden war, um ein für das Verständnis der Werkbundsiedlung – sowie anderer Wohnausstellungen der Moderne – zentrales Anliegen zu formulieren. Es ist das die Rezeption dieses ‚Architekturereignisses‘ bestimmende Spannungsverhältnis zwischen dem modellhaften, ‚fiktiven‘ Charakter und seiner nachfolgenden ‚faktischen‘ Bewohnung. Die Ausstellung von 1932 zeigte 70 vollständig eingerichtete Musterhäuser, die nach dem Ende der Ausstellung ausgeräumt, anschließend tatsächlich bewohnt und zudem in einer Weise eingerichtet wurden, die den im Werkbund vorherrschenden Vorstellungen vom – hier vergleichsweise offen formulierten – ‚richtigen‘ Wohnen wohl nur bedingt folgte. Die Wiener

1  Die Tagung fand Ende November 2012 statt und war eine Zusammenarbeit des Wien Museums mit dem Forschungsfeld wohnen  +/− ausstellen (Kooperation des Instituts für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik der Universität Bremen mit dem Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender). Durch die Verortung der Tagung innerhalb der Ausstellung zur Werkbundsiedlung (September 2012 – Januar 2013) bezog sich der Tagungshaupttitel „Wie Wohnen?“ auf die gleichlautende Frage, die die berühmte Vorläuferin der Wiener Werkbundsiedlung 1927 in Stuttgart gestellt hatte.

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Irene Nierhaus, Andreas Nierhaus Werkbundsiedlung, darauf wies schon ihr Konzepteur, der Architekt Josef Frank, hin, war primär keine Wohnanlage, sondern eine Ausstellung.2 Die fundamentalen funktionalen und medialen Verschiebungen, die mit dem Wandel von der Ausstellung zur Wohnanlage verbunden waren, sollten in der Ausstellung im Wien Museum in den Vordergrund gerückt werden. Nicht etwa das Experiment mit neuen Bautechnologien oder die serielle Produktion von Wohnraum standen im Mittelpunkt der Wiener Werkbundsiedlung, sondern das durch praktikable Grundrisslösungen und Raumerschließungen optimierte, sparsam und doch formal anspruchsvolle, auf keinen Fall jedoch seriell oder normierend eingerichtete Kleinwohnhaus mit Garten. Wohnen bildete für Josef Frank den grundsätzlichen Mittelpunkt des menschlichen Lebens; die Wohnung, und gerade nicht die Fabrik – gemeint ist ihre Spiegelung in den „maschinenbegeisterten“ Interieurs der architektonischen Avantgarde – sei der wichtigste Aufenthaltsort des modernen Menschen: „Der pathetisch tätige Mensch, der die sentimentale Umgebung braucht, will sich zu Hause von seinem Beruf ausruhen und das Bewußtsein haben, daß sich hier jemand um ihn gekümmert hat; ein Bewußtsein, das beim Staubwischen beginnt und bei reicher Ornamentik endet. Diese bedeutet unbedingt für uns Ruhe, da sie eine über das Notwendige hinausgehende, überflüssig spielerische Beschäftigung voraussetzt. Je reicher etwas geschmückt ist, desto ruhiger wirkt es, vorausgesetzt, daß wir es lange genug anschauen können [...]. Ein Wartesaal muß dem Durchlaufenden klar werden, einen persischen Teppich sieht man nie zu Ende.“ (Frank 1927, S. 51) In der Ausstellung von 1932 wollte man keine unerreichbaren Idealbilder, sondern die „wirkliche Wohnung“ (Neurath 1932, S. 208) präsentieren, deren Einrichtung von den imaginierten künftigen Bewohner_innen nicht nur benutzt, sondern auch jederzeit verändert, ergänzt und damit eigentlich erst hergestellt werden sollte. Damit wurde die aktive Einbeziehung der Bewohner_innen in der Zurichtung des Wohnraums (bei gleichzeitigem Zurückdrängen des Architekten als professionellen Gestalters) betont – diese Nutzer_innenorientiertheit wurde erst nach 1945 allmählich zum Standardrepertoire zeitgenössischer Wohndiskurse. Dass Wohnen als Handlungskomplex in der Moderne aber nicht nur Bewohner_innen imaginiert und projiziert, sondern auch verstärkt medial konstruiert

2  So wird Frank zitiert bei Johannes Ilg: Die neue Lainzer Werkbund-Stadt, in: Wiener Allgemeine Zeitung, 5. Juni 1932.

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Wohnen Zeigen wurde, lässt sich ebenfalls am Wiener Beispiel festmachen: Die bildliche Übersetzung und Vervielfältigung der gezeigten Häuser und Wohnräume hatte durch das Medium Fotografie über das Festhalten des temporären, situativen Charakters der Ausstellung hinaus und unabhängig von einem Besuch vor Ort die Funktion einer weiteren Distribution. Den Bauten und Interieurs wurde durch das fotografische Bild eine visuelle Permanenz zuteil, die Rezeption und Interpretation – wie bei zahlreichen anderen Bauten der Moderne auch – maßgeblich bestimmt, ohne in jedem Fall reflektiert oder gar selbst zum Thema gemacht zu werden. Die zwar von Menschen verlassenen, dafür aber von Wohn-Dingen bevölkerten Räume der Fotografien sind für Besucher_innen und Fotograf_innen eingerichtete Bilder, die vorgeben, realen Wohnungen zu gleichen – und immer wieder werden beim Betrachten Bewohner_innen und eine Bewohnung imaginiert, die de facto nie existiert haben.

Domizil und Domestikation Welche Räume, welche Ausstattung, welche Gruppierungen welcher Dinge enthält eine Wohnung und wie werden sie gebraucht? Wie verhält sich wer in welchen Räumen? Was ist ins und im Wohnen eingeschlossen, was ausgeschlossen? Durch die eigenen Alltagspraktiken meint man selbstverständlich zu wissen, was zum Wohnen gehört, nicht gehört oder gehören könnte. Doch dieses natürliche Wissen ist selbst schon Ergebnis eines historisch langen gesellschaftlichen Prozesses, in dem sich heutiges Wohnen als Anordnungsgefüge aus sozialen, gesellschaftspolitischen, kulturellen und ästhetischen Diskurspolitiken und Repräsentationsstrategien formiert hat und weiter formiert. Modernes Wohnen basiert auf Grundlagen und Vorstellungen, die sich mit gesellschaftlichen Veränderungen und der Herausbildung der modernen Gesellschaft seit dem 19. Jahrhundert entwickelt haben. So setzte sich z.  B. der Haushalt der Kernfamilie erst allmählich im 19. Jahrhundert und zuerst nur für bürgerliche Schichten als Modell durch. Dieses Modell als soziale und ökonomische Einheit von Aufenthalt, Domestikation und Reproduktion wurde im Zusammenhang der Entwicklung der Großstädte als Gegenüber zur Sphäre der Produktion und Öffentlichkeit angelegt. In den sozial(planerisch)en Bewegungen des 20. Jahrhunderts wurde für die Durchsetzung und Ermöglichung

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Irene Nierhaus, Andreas Nierhaus dieses Modells auch für proletarische Schichten gekämpft. Die dabei seltenen alternativen Abzweigungen blieben folgenlos, wie das Einküchenhaus – das Hausarbeit in der Nahrungsherstellung kollektivieren sollte – oder seine bürgerliche Variante, das Boardinghaus. So hatte die „erste Wiener sozialistische Arbeiterdelegation“ in den 1920er Jahren die in der Sowjetunion vorgefundenen Gemeinschaftsküchen als unpassend für eine österreichische sozialistische Zukunft klassifiziert. Im Wohnbau nach 1945 wird die kleinfamiliäre Einheit zur dominanten Struktur, die als organische ‚Keimzelle‘ des Staates naturalisiert und als primäres Marktziel der Warenkonsumption historisch erstmals gesellschaftsübergreifend im Wohnen und Wohnbau realisiert wurde. Der gesamte Prozess wurde von den Akteur_innen der Deutungs- und Experteneliten der Wohnbauplanung, der Innenausstattung, der Sozialpolitik, der Gesetzgebung, der Warenproduktion, der Medien und Kultur begleitet und modelliert, womit ein umfassendes Argumentationsnetzwerk zu Wohnen und Wohnhandeln ausgelegt wurde. Dieses Netzwerk formiert ein manifestes und latentes Wohnwissen, das sich historisch von den Aussagen des alten ständischen Wohnwissens am Beginn der Moderne um 1800 bis zur postfordistischen Gesellschaft heute permanent transformiert. Und mehr noch: Das Argumentationsnetzwerk des Wohnwissens ist nicht ‚Ausdruck‘ des Gesellschaftlichen, sondern ist dieses selbst und macht seine Anforderungen und Bewertungsmuster alltagstauglich. Beispielsweise in Körperhygiene, Sexualität, Gesundheit: Wie und wo wäscht man sich? Wie oft, wo, wie, und mit wem machen es die Deutschen, Engländer_innen oder Französ_innen? Im Bett, auf dem Küchentisch, nur samstagnachmittags oder dreimal die Woche, mit der Ehefrau oder dem Geliebten? Was sollen wir wie und wann richtig essen? Was essen und wie sporteln wir, um fitte Player zu sein oder zumindest ‚junge Alte‘ zu bleiben und möglichst spät zu Arbeitgeber_innen migrantischer Pflegearbeit zu werden? Das private Wohnen ist in seinen Domestikationsvorgängen auch eine öffentliche Normierungs- und Normalisierungsinstanz, die uns ‚per Du‘ anspricht und Wohnen und Gewohnheit zu verschweißen weiß. In der Moderne ist das Häusliche erster Raum der Grundierung des Einzelnen als soziales Subjekt, das Zuschreibungen von Subjektpositionen (geschlechtlich, schichtspezifisch, arbeitsteilig, sexuell, altersbezogen etc.) hier erlernt und erprobt. Die Vermittlungsinstanzen des Sozialen sind, neben der explizit verordnenden Rede, insbesondere auch impli-

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Wohnen Zeigen zit integrativ Gesprochenes, wie z.    B.: Wohn- und Ausstattungsformen, Raumfunktionen, Konstellationen von Dingen und Personen, die hier verorteten Medien (Zeitschrift, Radio, TV, Internet etc.) und die auf Wohnhandeln und Subjekt bezogenen Kulturen (Romane, Innenraumbilder, Familienfilme, Produktwerbung etc.). Die Ein_Richtung des Subjekts und des Wohnens als Raum der Reproduktion, Gesundheit und Krankheit, Geburtenkontrolle, Einübung von Körper- und Sexualverhalten, medizinischer und ambientaler Hygiene, Fitness etc. vollzieht sich seit dem frühen 19. Jahrhundert und ist biopolitische Grundstruktur moderner Regulierungsmacht und Sicherungstechnologie. Im biopolitischen Bevölkerungsprinzip und seinen Differenzbildungen und Homogenisierungen in Geburten- oder Sterberaten, Alter, Geschlechternormen, Erblichkeit etc. wird das ältere disziplinartechnische Zurichten des individuellen Körpers durch die biologischen Gesamtprozesse einer Bevölkerung ersetzt (vgl. Foucault 2010). Wobei Sexualität die beiden Herrschaftstechniken von Körper/Disziplin und Bevölkerung/Regulierung verschaltet. Historisch lässt sich das an den Brüchen und Kontinuitäten der Sexualpolitiken an entsprechende Familien- und Eheparadigmen (vgl. dazu Herzog 2005) als Kern der Domestikation nachzeichnen. Der bauwirtschaftlich pragmatisch orientierte Wohnbau nach 1945 ist eine Anordnungsform der biopolitischen Masse. Diese Verschränkung zwischen Wohnbau und biopolitischer Masse wird in ästhetischen und kulturellen Bildfindungen zu Heim, Familie und Kind produziert (vgl. Nierhaus, I. 2011), in Variationen wiederholt und wiederholt und wiederholt und erzeugt damit Wohnen und Wohnhandeln als Gewohnheit. Zudem versuchte eine umfassende Wohndidaktik (z.    B. Wohnratgeber, Wohnausstellungen, Benimmbücher, illustrierte Zeitschriften) Verhaltensmuster in Körper als sozialchoreografisch orchestrierte Beziehung von Gegenständen und Subjekten einzuarbeiten (vgl. den Beitrag von Johanna Hartmann).

Domizivile Artikulation und Wohnwissen Wohnen und Privatheit sind Transferzentren der Logistik des Sozialen und ihrer Regulatur und somit ist die Flucht aus dem Privaten geboten. Hinaus aus dem Schauergemach! (Abb. 1) Dieses Das-Haus-verlassen-Müssen ist ein immer wiederkehrendes Motiv in Philosophie, Politik,

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Irene Nierhaus, Andreas Nierhaus

Abb. 1  Home is for the heartless.

Kultur und Kritik. Es ist Teil der Wohnkritik, die in unterschiedlichen Aspekten das Mythensystem des Privaten decouvrieren wollte und will – z.  B. im „Das-Private-ist-Politisch“ der Bewegungen der 1960er und 70er Jahre, insbesondere auch der Frauenbewegung und von Teilen der feministischen Diskurse.3 Arbeiten von Künstler_innen wie Birgit Jürgenssen, Martha Rosler, Vito Acconci, Filme wie „Rosemaries Baby“ (Roman Polanski, USA 1968) oder „Themroc“ (Claude Farraldo, F 1972) markieren Stationen solcher Kritik. Zudem ist die Herstellungsgeschichte des modernen Wohnens seit Anbeginn von einem Sprechen über Störungen, Irritationen, Unfälle, Missgeschicke und das Hereingleiten eines Unbewussten und Nichtkontrollierbaren in den mühsam geordneten Raum begleitet, wie es etwa im Horror- oder Kriminalgenre (vgl. den Beitrag von Drehli Robnik) oder bei den Surrealisten formuliert worden ist.

3  Hier ist nicht zu vergessen, dass es innerhalb der feministischen Bewegungen auch ‚prohäusliche‘ Orientierungen gegeben hat, die die weibliche Sozialisierung auf das Häusliche und die damit verbundenen Tätigkeiten als spezifische Kompetenzen im Sinn politischer Ziele aufgewertet wissen wollten.

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Wohnen Zeigen Die Wucht des Gesellschaftlichen dreht und kippt in der paradoxalen Dopplung des Häuslichen als zugleich Privatem. Dieses Private ist zuerst selbst Effekt des Gesellschaftlichen – und im gesellschaftlich Imaginären jenes Andere des Öffentlichen und des gesellschaftlich Allgemeinen. Als Raum der Entwicklung von Subjektformen samt deren Vernunft-, Affekt- und Gefühlsökonomien und -kulturen ist Wohnen eine „komplexe Geografie von Intimitäten“ (Barbey 1993, S. 89), die im Austausch mit den Dingen hervorgebracht und vorgeführt wird. Diese zu Erzählungen erweiterten Dinge bedeuten „Erlebnis“ und werden zu einer „Verknotung von Eigenschaften“ und zu einem „Identitätsprinzip“ (Merleau-Ponty 1994, S. 312). Diese Erlebnisqualität lässt den Wohninnenraum als latentes Außen des Subjekts verstehen. Damit wird die Privatsphäre als Raum der Präsenz, des Individuellen, der Freiheit eines Eigenen und eines Abstands vom gesellschaftlichen Regelwerk projektiert, der zugleich nur aufgrund dieses Regelwerks zustande kommt. Das bildet das Paradoxon des Privaten und Häuslichen. Es ist ein hoch politisierter Raum, der jedoch als privater Raum des Individuums versprochen und in Momenten als solcher auch realisierbar wird. Wohnen ist also ein potenzieller Raum, der auch die „Fähigkeit“ bezeichnet, den „Spielraum des Subjekts, sich selbst in Verwebungen des einen mit dem anderen als ein buchstäbliches Da-zwischen-Sein zur Geltung zu bringen“.4 Das Häusliche ist auch Schutzraum des Einzelnen (zugleich jedoch ebenso ein unbemerkter, weil privatisierter Ort der Übergriffe). Das Domizil als Zufluchtsort, der Kleidung, ein Pappkarton, ein eigenes Zimmer, eine eigene Wohnung oder ein iPod mit Kopfhörer sein kann. Die Flucht aus dem Haus kehrt sich zur Zu-Flucht mutierend um und sucht zumindest stationäre oder temporäre Häuslichkeiten. ‚Ruhe‘ ist eine Begrifflichkeit, die in den meisten Beschreibungen des Wohnens als sein Synonym auftritt: Ruhe, Ausruhen, Ruhe von der äußeren Welt (ihr Gegenstück, die Hausarbeit taucht nur bei funktionalen Beschreibungen von Haushalt auf und in Wohnfibeln der 1950er Jahre wird die Hausfrau angehalten, ihren sich ausruhenden Ehemann nicht mit Hausarbeit zu stören). „Die Ruhe auf der Flucht“ ist ein stehendes Motiv der Erzählung der heiligen Vorzeigefamilie Jesus, Maria und Josef. Sie flieht nach Ägypten, ist

4  Kappelhoff bezieht sich hier auf die Zuschauer_innenposition im Kino, wobei er auf Überlegungen von Donald W. Winnicott rekurriert (vgl. Kappelhoff 2007, S. 110).

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Irene Nierhaus, Andreas Nierhaus unterwegs und in jedem Fall unbehaust, findet nur provisorisch und temporär in Ställen oder Ruinen Unterschlupf. Die Geburt des ‚Erlösers‘ als Fundament des Christlichen hat kein Domizil. Und auch die abendländische Philosophie verwirft das merkwürdige Refugium des Subjekts, in dem es sich frei von Staat und Gesellschaft wähnt. Es ist ein dem Logos der Politik verpflichtetes Paradigma, jenseits von Domizil und ‚kleinem‘ Alltag den Ort des Politischen, des Fortschritts und der Wahrheit zu suchen – verfasst zumeist aus einem versorgten und komfortablen Wohnen heraus. In der politischen Philosophie lässt sich wohl kaum eine Abhandlung finden, die glaubhaft versichern wollte, im Haus sei Freiheit zu machen (außer in der Vorstellung von ‚innerer Emigration‘ – wenn aus Gründen politischer Verfolgung Äußerungen nicht im Öffentlichen artikuliert werden können; doch auch das wäre nur ein beschnittener Diskurs von Freiheit). Freiheit bleibt an das Öffentliche gekoppelt – wie eben auch bei Hannah Arendt das fundamentalisierte Private, der Oikos, das dunkle Gemach ist, aus dem der Bürger der „Vita Activa“ (von der Bürgerin ist meist nicht die Rede) in die strahlende politische und kulturelle Öffentlichkeit der Polis emigrieren muss – jene Raumkonstellation, in der sich ‚Freiheit‘ gesellschaftlich legitimiert herstellen lässt (Arendt 1981). Die „so bequem“ herangezogene Unterscheidung zwischen öffentlichem und häuslichem Raum schreibt Letzterem nur vorsprachliche Äußerungsfähigkeit zu, aber keine „Rede, die eine gemeinsame aisthesis kundgibt“ (Rancière 2008, S. 35). Das politische Handeln bringt einen „Erscheinungsraum“ hervor, der jenseits des Domiziliaren verortet wird, um „zu verhindern, dass sich seine Wirklichkeit wie eine Fata Morgana in der Zerstreuung der Heimkehr auflöse“ (Arendt 1981, S. 249).5 Die Erfahrung nationalistischer Politiken, faschistischer und nationalsozialistischer Diktaturen und der Shoah – die Mord und Vertreibung aufgrund von (Nicht-)Zugehörigkeit zu Heimat legitimierten – ließ Heim in der Kritik umso mehr (wieder) zum Ausgangspunkt der Flucht werden.

5  Arendt spricht hier von den aus Troja heimkehrenden Griechen, die metaphorisch gesprochen aus der Ferne das Prinzip der Polis mitbrachten. Wobei Polis bei Arendt nicht an den physischen Ort der Stadt gebunden ist, sondern ein „räumliches Zwischen“ ist, das an „keinen heimatlichen Boden gebunden ist und sich überall in der bewohnten Welt neu ansiedeln kann“ (Arendt 1981, S. 250). In diesem Konzept des „räumlichen Zwischen“ kann auch das Domizil (als bewohnte Welt) zur Polis werden, wie es sich aus einer Reihe von politischen Widerstandsgeschichten z.  B. mit der Küche als Ort zeigen lässt.

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Wohnen Zeigen Doch der idiotes (griech. Privatmann) ist nicht einfach Idiot 6 und Jacques Rancière problematisiert den gängigen Entwurf eines politischen Subjekts „entgegengesetzt zur Welt des Privaten oder Häuslichen der Bedürfnisse und Interessen. [...] Man setzt als Fundament der Politik diese Aufteilung, die in Wirklichkeit ihr Gegenstand ist.“ (Rancière 2008, S. 9) Das Haus bleibt zurück als Ort der an den Bedürfnissen entlangschrammenden Existenzen, über den eher Disziplinen wie Psychologie denn Philosophie nachdenken. Dieser Status des Wohnens charakterisiert die Forschung: So ist die Debatte um Wohnen, Wohnbau und Design gegenüber der Auseinandersetzung um Stadt, Städtebau und Urbanität in kunst- und architekturgeschichtlicher wie -theoretischer Hinsicht deutlich nachgeordnet. Die Beschäftigung mit Stadt als das dem gesellschaftlich Allgemeinen Zugeordnete ‚adelt‘ die Forschenden selbst noch immer mehr als jegliche Beschäftigung mit dem Wohnen (außer es ist Teil eines Meisterdiskurses oder lässt sich als Meisterwerk klassifizieren). Forschung zeigt sich also einmal mehr von den Wertigkeiten ihres Gegenstandes mitbestimmt. Doch die kunsthistorische Wohnforschung produziert die Reklusion ihres Gegenstandes in weiten Teilen selbst mit, da sie die notwendige Grundlagenarbeit oft kaum überschreitet und keine Fragen im Zusammenhang zur „bewohnten Welt“ (Arendt 1981, S. 250) zu stellen vermag und mag.7 Der Gegensatz zwischen Haus und Stadt ist eine Konstruktion von Differenz, die in Aussagen, Texten und Bildern in unendlichen Dichotomieketten (öffentlich-privat, männlich-weiblich, Gesellschaft-Individuum etc.) als Teil des Wohnwissens ständig wiederholt, umgeschrieben und in Lebenszusammenhänge übersetzt wird. Diese Differenzdeklinationen schlicht aufheben zu wollen, wäre eine mechanistische Politik einfacher

6  Idiot: „[…] denn dieses Wort, welches ursprünglich einen Privatmann (als Gegensatz des öffentlichen Beamten) bezeichnet, bedeutet jetzt gewöhnlich einen gemeinen und unwissenden Menschen, einen Ignoranten“ (Trauttgott-Krug 1827, S. 439). In der genannten Kritik an der Trennung von öffentlich und privat der 1970er Jahre taucht die Formulierung auch auf,  s. beispielsweise: „Der Privatmann ist ein Idiot“ (Interview mit den Regisseuren Bernhard Sinkel und Alf Brustellin), Die Zeit, Nr. 2, 2. Januar 1976, S. 26 (http://www.zeit.de/1976/02/der-privatmann-ist-ein-idiot, zuletzt 20.8.2013), die den „Privatmann“ als jemanden verstehen, der sich ausschließlich um Privates kümmert. Die Debatte wird aktuell belebt, z.  B. von Hans-Christian Dany, der eine produktive, kreiselnde Kritik zum politischen Handeln zwischen öffentlich und privat formuliert (vgl. Dany 2013). 7  Einen aktuellen Versuch einer solchen Überschreitung im Bereich der Tapetenforschung stellt das Projekt zu gesellschaftlich und kulturwissenschaftlich orientierten Lektüren von Tapetenräumen dar (vgl. Eck/Schönhagen 2014).

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Irene Nierhaus, Andreas Nierhaus Wahrheiten, denn sie enthalten nicht nur affirmative Lebensmöglichkeiten, sondern ermöglichen auch widerständige, widersprüchliche, nachlässige und auslassende Leerläufe und Interventionen als domizivile Artikulationen (zur differenzierten Sicht des Privaten vgl. den Beitrag von Angelika Bartl). Wohnwissen meint einen formellen wie informellen Komplex von Repräsentationen und Diskursverschränkungen, der Zuschreibungen, Anforderungen und Begehrensstrukturen von Subjekten bzw. Subjektformen und ihre sozialen Positionen im Feld des Häuslichen und Domiziliaren aufeinander bezieht. Es differenziert, trennt, schließt aus und ein, lässt erleiden und teilhaben. Es ist ein gesellschafts- und subjektpolitisches, verschiedenen Medien verpflichtetes Geflecht, in dem ästhetischen Prozessen eine wesentliche, auch habituell vermittelnde Artikulation zukommt. Wohnwissen ist zudem kein fest umrissener, einem Logos verpflichteter Apparat, sondern ein latentes, fluides, sich vielfach verzweigendes und nach Lagen und Fragen sich anpassendes und modifizierbares Gefüge. Es ist „das polizeiliche Prinzip im Herzen staatlicher Praxis“ (Rancière 2008, S. 32)8 und ist zugleich nicht nur Vollzug und Übereinstimmung, sondern birgt auch Unterbrechung, Überschuss, Ent-Leerung, Intervention in das Sag- und Sichtbare des Wohnwissens von demjenigen, „der nicht zählt, der keine zu vernehmende Sprache hat[,] [...] der an etwas teilnimmt, woran er keinen Anteil hat“ (ebd., S. 20f). Ein Beispiel für solche Artikulationspraktiken sind die „Seven lucky Episodes regarding Resistance“ der serbischen Regisseurin und Performerin Sanja Mitrovic aus dem Jahr 2012. Sie erzählt ihrem neugeborenen Sohn von alltäglichen Interventionen in den Kriegsalltag während des Jugoslawienkrieges als Gute-Nacht-Geschichten. So erzählt sie von der Praxis, bei kriegspropagandistischen Auftritten von Milosevic im TV auf Kochtöpfen auf dem Balkon Lärm geschlagen zu haben, der von den Nachbarbalkonen vervielfältigt zum Trommelwirbel wurde. Oder sie erzählt, dass ihre Familie bei Fliegeralarm irgendwann nicht mehr in den Bunker gehen wollte, stattdessen in der Wohnung Musik auf volle Lautstärke drehte und wilde Partys feierte. D.  h., die Unterbrechung und

8  Das polizeiliche Prinzip verlangt die gänzliche Übereinstimmung von Funktionen, Plätzen und Seinsweisen von Gruppen, die voneinander unterschieden sind, und es ist weder „Leere“ noch Störung zugelassen. Es gehört zur „Aufteilung des Sinnlichen“ als „Zuschneiden der Welt und der Welten, das nemein, über das sich das nomoi der Gesellschaft gründet“ (Rancière 2008, S. 31).

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Wohnen Zeigen das momentane Herausnehmen aus dem Vorgesehenen verlangt nicht nur eine bereits von Politik legitimierte Geste, sondern kann ebenso in vorläufigen Artikulationen des Ausweichens, des Umwege-Suchens, der Nachlässigkeit, der Übertreibung bzw. eines Affektiven zustande kommen (vgl. den Beitrag von Irene Nierhaus). Das Affektive enthält „einen exzessiven ‚stetig körperlichen Rest‘ an potenzieller Neuheit, eine sich ‚unmittelbar im Wandel‘ befindende ‚Körperbewegung‘, die ‚zur Ausführung‘ kommt. In diesem Sinne werden in einer Politik der Affektionen, in der es darum geht, mit Einschränkungen zu leben und zu spielen, statt sie zu vermeiden, Freiheitsräume durch unvorhergesehene Wendungen erschaffen“ (Panagiotidis 2012, S. 184).9 Doch selbstbestimmtes Wohnhandeln ist nicht nur eine Widerspruchskultur, denn das bürgerliche Konzept des Häuslichen und Privaten verlangt Teilnahme, Handlungsfähigkeit und Selbsttätigkeit des Subjektes, fordert zum ‚richtigen‘ Handeln und Ausloten von Spielräumen auf. Darin liegt schlussendlich die Bedingung für ein als gelungen angesehenes Wohnen und ein als gelungen angesehenes Subjekt im Sinn bürgerliche Individualität. Bildung beispielsweise gehört von Anbeginn ganz zentral zur Gestaltung und Erfahrung des Privatraums und zu den Artikulationspotenzialen des Subjekts. So schreibt Rousseau 1782 in seinen „Bekenntnissen“: „Ich weiß nicht, was ich bis zu meinem fünften oder sechsten Jahre tat. Ich weiß nicht, wie ich lesen lernte; ich erinnere mich nur meiner ersten Lektüre und ihrer Wirkung auf mich. Von dieser Zeit an datiere ich ohne Unterbrechung das Bewusstsein meiner selbst. Meine Mutter hat Romane hinterlassen. Mein Vater und ich begannen sie nach unseren Abendmahlzeiten zu lesen.“ (Rousseau zit. nach Starobinski 1993, S. 384) Rousseau datiert demnach das Bewusstsein seiner selbst in häusliche Praktiken, in eine mütterliche Kultur der Schrift, die vom Vater und ihm selbst vollzogen wurde. Die Ökonomie des Subjekts reguliert und organisiert eine Fülle von Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Handlungskompetenzen, die im Innenraum vermittelt (z.  B. durch bestimmte Dinge, die Erinnerung, Freundschaft oder auch Besitz anzeigen) und dargestellt werden sollen.

9  Panagiotidis bezieht sich in ihrem Konzept der Politik der Affektivität auf Konzepte von Jacques Rancière, Donna Haraway und Brian Massumi, von dem die Zitate innerhalb des Zitats stammen (Brian Massumi: Ontomacht: Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen, Berlin 2010).

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Irene Nierhaus, Andreas Nierhaus Schau_Platz Domizil Wohnen ist nicht nur Raum der innenorientiert verstandenen modernen Subjektivität, sondern auch ihr gesellschaftlicher Schau_Platz, an dem sie sich fortwährend veräußert, ausstellt und ausstellen muss. Anders gesagt: Das in das Display des Wohnens eingestellte Subjekt macht es zugleich zu seinem Schau_Platz (vgl. die Beiträge von Christiane Keim und Christina Threuter). Mit dem 19. Jahrhundert wird die Ein_Richtung der Wohnung zum Bezugssystem der Ein_Richtung des modernen Bürgers – womit zwischen Innenraum des Wohnens und Innenleben der Subjekte ein Netz aus Aussagen zu Identifikation, Analogie und Differenz gebildet worden war. Der diesen Sachverhalt auf den Punkt bringende Satz seit 1900 „Zeig mir Deine Wohnung und ich sag Dir, wer Du bist“10 zeigt die moderne ‚Wohngerechtheit‘ (in Analogie zur Material- und Werkgerechtheit der Architektur der Avantgarde seit dem späten 19. Jahrhundert). Die Verschränkung von Wohnen und Subjekt enthält damit im Wohnwissen Prozesse der Naturalisierung, Zuschreibung und Darstellung z.  B. von Formen als ‚feminin‘ oder ‚maskulin‘ (zum spielerischen Umgang mit Zuschreibungen vgl. den Beitrag von Bernadette Fülscher). Solcherart Gesprochenes ‚ist‘ nicht, sondern muss durch Prozesse des Zu-Sehen-Gebens und Zeigens erst in Erscheinung treten. Das Zu-Sehen-Geben als repräsentationskritische Kategorie meint Anordnungen des gesellschaftlich Sicht- und Sagbaren. Wohnen ist grundsätzlich ein solches Zeigesystem des Sozialen. Das Forschungsfeld „wohnen   +/−   ausstellen“11 und seine Schriftenreihe, dessen erster Band mit dieser Publikation vorgelegt wird, beschäftigt sich in einer sehr weit gefassten Spanne mit Fragen des Wohnens und Zeigens. Wohnen ist also ein Raum des Ausstellens und zum Zeigen des Wohnens gehört explizit auch das Medium der Ausstellung, dem in diesem Band ein zentraler Stellenwert zukommt, zumal damit Vorstellungen von Wohnen und Bewohnen als ästhetische und soziale Ideale formuliert wurden (vgl. die Beiträge von Greg Castillo und Andreas Nierhaus). Ausstellen/Ausstellung und Wohnen/Wohnung sind sowohl in Geschichte wie Gegenwart miteinander verknüpft, z.  B. in Wohn- und Bau-

10  Der Spruch wandelt die Formel „Zeige Dich in Deiner Wohnung wie Du bist!“ ab (Gebot Nr. 2.; Avenarius 1900, S. 341). 11  Zum Forschungsfeld siehe www.mariann-steegmann-institut.de/forschung und Nierhaus, I./Heinz/Keim 2013.

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Wohnen Zeigen ausstellungen, im Ausstellen historischer Wohnräume oder in Kunstausstellungen innerhalb von Privatwohnungen – ein prominentes Beispiel der zeitgenössischen Kunst dafür ist die von Jan Hoet kuratierte Ausstellung „Chambres d'amis“ in Gent 1986 (solche Ausstellungspraktiken haben seit den späten 1990er Jahren deutlich zugenommen). Die Beziehung von Ausstellung und Wohnraum, die ihre Voraussetzung im repräsentativen Wohnen der höfischen bzw. aristokratischen Kultur der Frühen Neuzeit hat, kulminiert in der Moderne erstmals Ende des 19. Jahrhunderts. Die Verschränkung des Domiziliaren mit dem Expositorischen (vgl. Nierhaus, I. 2006) hat vielfältige Schau_Plätze: So wurde in der gläsernen Vitrine, die schon im Biedermeier einen festen Platz im Wohnraum hatte, Gesammeltes, wie Freundschaftsgaben und Souvenir, ausgestellt. Schließlich wurde Wohnen selbst zum Ausstellungsthema, wie in den hier behandelten Bau- und Wohnausstellungen mit ihren Gesamtpräsentationen von idealen Wohnkonzepten. Und im Zuge der Nationalstaatenbildung wurden vermehrt Ausstellungen von Wohnräumen berühmter, zumeist auf nationaler Ebene als vorbildlich verstandener historischer Bewohner_innen eingerichtet, z.  B. von Künstler_innen- und Musiker_innenwohnungen (vgl. die Beiträge von Eva-Maria Orosz und Cathleen M. Giustino). Zudem haben Architekt_innen ihre eigenen Wohnhäuser zur Veranschaulichung ihrer Wohnideen genutzt – so öffnete Peter Behrens sein Wohnhaus dem Publikumsbesuch oder publizierte Adolf Loos „Das Schlafzimmer meiner Frau“ mit Foto in einer Zeitschrift. Loos hatte damit den intimsten seiner Privaträume veröffentlicht und Wohnen als Bewohntes ausgestellt. Das entsprach einer Tendenz, die Wohnen als ‚Ganzes‘ und als Totalität erscheinendes Arrangement vorführt, das unmittelbar bewohnbar ist oder bewohnt wirkt. Eine der ersten Ausstellungen dieser Art war die „Wiener Kunstgewerbeausstellung“ 1877, und einige Jahre später wurden in der „Wiener Elektrischen Ausstellung“ 1883 verschiedene ganzheitlich ausgestattete Interieurs in der Abfolge eines bürgerlichen Wohnzusammenhangs (Bibliotheks-, Damenschlafzimmer, Salon etc.) gezeigt. So gab es auch den Ratschlag, Wohnräume durch das zufällig wirkende Einstreuen von gerade in Gebrauch befindlichen Gegenständen (abgelegter Hut, liegen gelassenes Handarbeitszeug, aufgeschlagenes Buch) mit Effekten des Bewohnten zu beleben. Bis heute wird dieses Prinzip in Darstellungen von Möbel- und Innenausstattungen – neben den weitgehend menschenleeren Wohnraumbildern (vgl. den Beitrag von Andreas K. Vetter) – als Modus von Wohnbildern in Produktwerbung und

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Irene Nierhaus, Andreas Nierhaus Möbelkatalogen eingesetzt (vgl. den Beitrag von Theres Sophie Rohde). Damit erhält die Darstellung des Wohnens einen Realitätseffekt, der die Lust am Hineinblicken, das potenzielle Eindringen des Betrachters animiert. Bis um 1900 wurden Kunstausstellungen und Museumsräume mit Elementen von Wohnausstattungen durchsetzt oder überhaupt als Wohnraum vorgestellt, wie bei den Pariser Impressionisten ab den 1880er Jahren oder in den didaktisch verstandenen „demonstrations“ von James McNeill Whistler, die er – wie die „Peacock-Ausstellung“ 1877 – als Interieursituationen entwickelt hatte. D.  h., in Kunst- wie Wohnausstellungen wurde Bewohnbarkeit simuliert, und dieser Gestus des Bewohnbaren deutet auf potenzielle Bewohner_innen und Betrachter_innen – die sich historisch zunächst in das bildähnliche Gesamtensemble einpassen sollten. So hatte Whistler in der weitgehend in Gelb und Weiß gestalteten Ausstellung 1883 sogar die Kleidung des Personals farblich angepasst und trug selbst zur schwarzen Kleidung gelbe Strümpfe. Der Wiener Kunstgewerbetheoretiker Jakob von Falke forderte Ende des 19. Jahrhunderts die Abstimmung von Kleidung und Interieur, um in der Harmonie des Wohnbildes keine Störung zu erzeugen. Wohnen und Wohnhandeln ist mit der Moderne zu einem gesamtgesellschaftlichen, Objekte und Subjekte in Beziehung setzenden, weitreichenden Zeigesystem geworden, das medial in bildlichen, räumlichen wie textlichen Formaten des Zu-Sehen-Gebens das Wohnwissen realisiert. Mit einer Vielfalt von Medien und medialen Möglichkeiten werden implizit oder explizit andauernd Reden übers Domizil geführt. In Fotografien, Filmen, TV, Internet, Publikumszeitschriften, illustrierten Zeitschriften, Produktwerbungen, Gewerbekatalogen, Reportagen, bildender Kunst und Literatur etc. wird der Schau_Platz seit dem 19. Jahrhundert ständig produziert, reproduziert und modifiziert. In Society- und Lifestylemagazinen, Romanen, TV-Serien werden Geschichten vom glücklichen oder falschen Wohnen, guten oder schlechten Bewohner_innen freigesetzt. Mit der Warenwerbung und Katalogen wandern Produkte und die an sie geknüpften Erwartungen ins Haus. Auf dem seit dem 19. Jahrhundert bestehenden und seit den 1980er Jahren schier explodierenden Wohnzeitschriftenmarkt werden Modelle und Ideale des Wohnens und Bewohnens vorgeführt und heizen Begehrlichkeiten an. Computerspiele wie „SIMS“ oder Sendeformate wie solche, die auf dem Prinzip des 1999 erstmals ausgestrahlten „Big Brother“ fußen, oder weitere Sendeformate zum Privat-

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Wohnen Zeigen leben („Frauentausch“, „Promi-Dinner“ etc.) sind Freizeitvergnügen und vervielfältigen die Lust am Hineinäugen, die als Begehren die Differenz von öffentlich und privat mitproduziert. Und in Fotos, Videos und social networks stellen Bewohner_innen Wohnen selbst aus. Innerhalb der fleißigen Rede des Wohnwissens gibt es eine spezifische an die Bewohner_innen gerichtete Anrede der Wohnpädagogik bzw. Wohndidaktik, zu deren Vorläufern die Puppenhäuser gehörten. Wie sollen welche Räume und Dinge beschaffen sein und wie Personen damit umgehen? In Wohn- und Einrichtungsratgebern wie Benimmfibeln wurden solche Themen verhandelt, die Wohnen Zeigen als Erziehungsauftrag hatten (vgl. Manske 2004). Als Kolumnen und Bildstrecken wurden und werden solche Textsorten in Wohn-, Mode- und Frauen- und Männermagazine12 integriert. Ein besonders wirksames Medium der Wohnerziehung sind die oben genannten Wohn- und Bauausstellungen, die als Medienverbünde von Bild, Text, Objekten und Raum begehbare Modelle (vgl. Nierhaus, A. 2012) sind, die die Betrachter_innen in eine Wohnsituation versetzen, in der Wohnvorstellungen realistisch inszeniert und imaginiert werden können. In den medialen Praktiken der Wohndidaktik wurden auch spezifische Modi von Wahrnehmungs- und Darstellungsstrategien bevorzugt, wie beispielsweise der ‚Blick von oben‘ (vgl. den Beitrag von Manfredo di Robilant). Ein massiver Schub der Wohnpädagogik setzte im späten 19. Jahrhundert (weitere sollten dann in den 1920er und 50er Jahren folgen) in Zusammenhang mit steigender Industrialisierung, Warenproduktion und dem Ausbau der Städte mit einer hohen Zahl von Wohnbauten ein. Aus ästhetischen, planerischen und kulturpolitischen Elitegruppen (Architekt_innen, Kunstgewerbetheoretiker_innen etc.) bildeten sich Vermittlungsinstanzen wie die der Werkbünde. Sie entwarfen mit ethisch und moralisch aufgeladenen Bewertungen Positionen zu Geschmack und ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Gegenständen und zu einem entsprechenden ‚guten‘ oder ‚schlechten‘ Wohnen. Dabei ging man zumeist davon aus, dass Bewoh-

12  Durch die geschlechtertrennende und -arbeitsteilige Zuordnung und Zuschreibung des Wohnens an das weibliche Geschlecht (vgl. Nierhaus, I. 1999; Keim 2012) ist die Verhandlung von Wohnthemen in den auf weibliche Publika orientierten Medien zum gleichsam ‚natürlichen‘ Bestand geworden, insofern bietet die Untersuchung von Beatriz Preciado zur Darstellung von Wohnen im „Playboy“ eine relationale Ergänzung (vgl. Preciado 2012).

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Irene Nierhaus, Andreas Nierhaus ner_innen erst zu einem vernünftigen und ästhetisch entsprechenden Wohnen erzogen werden müssten, bzw. wurde dem nichtgelenkten Wohnhandeln der Bewohner_innen misstraut. Pädagogik ist immer auch Normierungs- und Normalisierungsinstanz, die bio-, sozial- und kulturpolitische Anforderungen in ein Differenzsystem des guten Funktionierens übersetzt und gesellschaftliches Regelwerk auch über die Auswahl und Form der Gegenstände ins Wohnen einsetzt. Im Rahmen dieser Bemühungen gab es unterschiedliche Konzepte der Wahrnehmung von Bewohner_innenbedürfnissen (vgl. den Beitrag von David Kuchenbuch) und verschiedene Grade von pädagogischen Strategien zwischen Gebot und Vorschlag, sodass in der Klassifikation des ‚Befähigens‘ eine Spanne jeweils auszulotender Möglichkeiten existiert. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wandelt sich die Wohndidaktik in den Selbstbezeichnungen der Wohnlehrer_innen zur bewohner_innenorientierten Unterstützung. Wobei weiter ethisch argumentiert wird, so im 1979 vom Deutschen Werkbund herausgegebenen Buch „Lernbereich Wohnen“: „Dieses Buch berät, ohne verkaufen zu wollen. Es geht vom Anspruch auf anständiges Wohnen aus. Aber es geht auch vom Recht und von der Fähigkeit jedes Menschen aus, selber zu definieren, was dieses anständige, angemessene und richtige Wohnen sei.“ (Andritzky/Selle, 1987, Geleitwort)13 Wohndidaktische Absichten sind von Anfang an von einer Kritik an der Warenästhetik angetrieben, die jenseits der als ‚sachlich‘, ‚funktional‘, ‚einfach‘, ‚gut‘ oder ‚anständig‘ konstatierten Prinzipien stand, wie sie die Werkbünde vertraten. Die Warenproduktion samt Produktwerbung und ihrer Verbreitung in den verschiedenen Medien war und ist zugleich jedoch die Kraft mit der größeren Reichweite. So ist die Erziehung zum Wohnen vom Möbelkatalog über den Baumarkt bis zum Fertigteilhausmarkt vorwiegend gewerblicher Herkunft (vgl. den Beitrag von Michael Zinganel) und korrespondiert mit dem Unterhaltungssektor z.  B. in dem angewachsenen Markt von Wohn- und Lifestylemagazinen oder in TV-Sendeformaten wie „Besser wohnen“, in denen ein „Dekoteam“ Wohnprobleme vor Ort löst.

13  Das „Anständige“ greift hier einen berühmt gewordenen Satz von Theodor Heuss auf. Heuss, Bundespräsident und früherer Geschäftsführer des Deutschen Werkbunds fragt, in einer Rede 1951 in Stuttgart: „Was ist Qualität?“, und antwortet selbst: „Qualität ist das Anständige“ (vgl. den Beitrag von Johanna Hartmann, Anm. 5). Solche und ähnliche ethische und moralisierende Bewertungen basieren jedoch auf Aussagen, die seit dem späten 19. Jahrhundert in Abwandlungen und mit unterschiedlichen Gewichtungen wieder und wieder (re-)formuliert worden waren.

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Wohnen Zeigen Wir haben also eine ganze Reihe von Lehrmeister_innen als Mitbewohner_innen. Und sie sind wenn auch nicht immer Freund_innen, so doch keineswegs Fremde.

Modellräume, Wohnkulturen, Bewohner_innenmodelle Das Modell, hier das Wohnmodell, zeigt als Repräsentation stets auf ein Anderes – eine Medialisierung, die konstitutiv ist für die Wirkung des solcherart Dargestellten bzw. Modellierten. Denn das Modell ist nicht ein Ausschnitt von Wirklichkeit en miniature, sondern hebt als Zeigemittel mit didaktischer Absicht besondere Eigenschaften des Dargestellten hervor, während es andere in den Hintergrund rückt. Modelle des Wohnens dienen dazu, eine richtige, gesellschaftlich sanktionierte, vorbildliche Wohnweise – von der Art der Behausung über die Einrichtung und ihre Handhabung bis zum Verhalten der Bewohner_innen und ihrer Repräsentation durch das Wohnen – vorzustellen, zu verbreiten, durchzusetzen. Kinder sollen durch das historisch tradierte Wohnmodell Puppenhaus persönlich und sozial ein_gerichtet werden und anhand von oftmals idealisierten Raumzuschreibungen und Möblierungen lernen, geschlechternormativen Rollenbildern zu entsprechen und sich durch das modellhafte Wohnen ihrer Position in der Familie und der Gesellschaft bewusst zu werden; das Kind soll sich im Spiel mit den variablen Möbeln aber auch zugleich selbst einrichten, wird also zum_zur Akteur_in im Wohnen. Wohnen ist keine starre Vorgabe, sondern ein Komplex von Handlungen, und nur im – vermeintlich selbstbestimmten – Interagieren, in der Auseinandersetzung mit den Dingen des Wohnens, werden Wohnmodelle wirksam. Die Ein_Richtung, wie sie das Wohnmodell Puppenhaus und Puppenküche für das Kind initiiert, wird später, in der Welt der ‚Erwachsenen‘, in anderen Medien fortgesetzt und differenziert, Modelle des Wohnens werden in Büchern und Zeitschriften, Filmen und Ausstellungen, Bildern und Texten verbreitet, und in medialer Übertragung lebt das Wohnmodell Puppenhaus mit all seinen didaktischen Fingerzeigen, Ausrufe- und Ge- und Verbotszeichen – von seiner Vergrößerung in den 1:1-Modellwelten der Einrichtungshäuser abgesehen – fort in der mittlerweile unüberblickbaren Menge an Wohnformaten in audiovisuellen wie Printmedien, die vermeintlich höchst individuelle Konsumbedürfnisse im Bereich des Wohnens zugleich produzieren und befriedigen. Dass

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Irene Nierhaus, Andreas Nierhaus Wohnen rund um das Subjekt angeordnet ist und dass sich das Subjekt im Wohnen artikulieren soll, lernt das Kind im Puppenhaus durch die steifen Puppen, die als Modell-Akteur_innen auf die notwendige Aktivierung der angesammelten Wohn-Dinge durch die Bewohner_innen hindeuten und ihr Agieren innerhalb dieser Anordnung vorführen. Akteur_innen des Wohnens sind jedoch nicht nur Bewohner_innen, sondern insbesondere auch jene, die einzelne Bestandteile des Wohnens oder gar ganze Wohnmodelle herstellen, vorführen, verbreiten: Produzent_innen im Wohnsektor (Architekt_innen, Designer_innen, Handwerker_innen, Firmen) ebenso wie Vermittler_innen (Politiker_innen, Journalist_innen, Theoretiker_innen) sind Handelnde im Wohnen, durch ihr Herstellen und ihre Rede wird Wohnen gezeigt und Wohnwissen erzeugt. Die Kapitel des Buches, „Modellräume“, „Wohnkulturen“, „Bewohnermodelle“, bilden keine strikten Zuschreibungen, sondern dienen dazu, die Beiträge lose zu gruppieren, die in ihrem jeweiligen Wohnen Zeigen jedoch vielfältige Beziehungen untereinander eingehen.

Modellräume Das Kapitel „Modellräume“ behandelt Fragen der Wohnerziehung und der Herstellung eines spezifischen ‚Wohnbegehrens‘ durch Modelle des Wohnens bzw. Wohnideale, die vorwiegend in Wohn- und Bauausstellungen entwickelt und vermittelt werden. Das Kapitel zeigt die mediale Bandbreite der Konstruktion von Wohnmodellen auf. Sie reicht hier vom aktualisierten Einsatz traditioneller Medien wie der Architekturzeichnung über die in der Zwischen- und Nachkriegszeit für die Vermittlung von Wohnvorstellungen und Wohnpolitik besonders wichtigen Ausstellungen und Lehrfilme bis hin zum Versuch einer objektivierenden Wohnbedürfnisforschung und der Modellierung von Wohnen als Konsumgut in der Gegenwart. Johanna Hartmann setzt sich in ihrem Beitrag mit ‚Lehrstücken‘ des Wohnens auseinander, die im Sinne eines didaktischen Aufführens von Wohnen und Zuschauer_innenschaft in Ausstellungen, Büchern und Lehrfilmen den gesellschaftlichen Wiederaufbau nach 1945 mitmodellierten. Sie zeigt dabei u.  a. auf, dass die formal, gesellschaftlich und geschlechterpolitisch geordnete Wohnung als ‚Plan‘ in unmittelbarer Beziehung zu der zeitgleichen Neuordnung der Städte stand, und macht

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Wohnen Zeigen dadurch die untersuchten ‚Wohnlehrmedien‘ als Bestandteile einer Biopolitik in der postfaschistischen Gesellschaft lesbar. Greg Castillo widmet sich den unterschiedlichen Präsentationsformen und Funktionen von Wohnausstellungen in den beiden deutschen Staaten während des Kalten Krieges, als moderne Konsumgüter als ‚Waffen‘ eingesetzt wurden und der ‚American Way of Life‘ – vermittelt nicht zuletzt durch das Vorbild des amerikanischen Vorstadthauses – insbesondere in der BRD als Modell für das Europa der Nachkriegszeit propagiert wurde. Am Wohnen, das nun auf beiden Seiten verstärkt als erstrebenswertes Konsumgut inszeniert wurde, bzw. am Beispiel ‚alltäglicher‘ Dinge und Verrichtungen ließen sich ideologische Unterschiede zwischen West und Ost besonders wirkungsvoll darstellen. Manfredo di Robilant rückt den ‚Blick von oben‘, der auch in den Beiträgen von Hartmann und Castillo eine wichtige Rolle spielt, als visuelle Repräsentation und Vermittlungsinstrument von Wohnen in Printmedien und Werbung um die Mitte des 20. Jahrhunderts in den Mittelpunkt. Durch den ‚Blick von oben‘, als Übersetzungsmodus einer abstrakt gewordenen modernen Architektur aus Architekturdarstellungen der Avantgarde der 1920er Jahre ableitbar, wird das Haus, Schauplatz des gesellschaftlichen Status seiner Bewohner_innen, als Ort von Konsum und individualisierter Gestaltung erschlossen. Den ‚Blick von oben‘ sieht di Robilant in eine Dialektik von Kontrollangebot an die Bewohner_innen und deren Kontrollierbarkeit eingespannt. David Kuchenbuch analysiert anhand von Beispielen aus Deutschland und Schweden in den 1920er bis 50er Jahren die Modellierung ‚richtiger‘ und ‚falscher‘ Wohnbedürfnisse im Kontext einer wissenschaftlich-verobjektivierenden Wohnforschung, die dazu dienen sollte, Bewohner_innen zum richtigen Wohnhandeln zu führen. Für die Evaluierung von Wohnbedürfnissen wurden ‚Idealbewohner‘ hergestellt, und Normung sollte Normalität gewährleisten: „Eine funktionalistische Fiktion wurde am konkreten Bewohner geprüft, wobei dessen Urteil letztlich nur bedingt von Gewicht war.“ Wie beim ‚Blick von oben‘ führte auch die zunehmende Nutzer_innenorientiertheit zu einer schleichenden Entmachtung der Architekt_innen. Andreas Nierhaus beschäftigt sich mit unterschiedlichen Arten der Vermittlung von Wohnen in Bau- und Wohnausstellungen um 1930, die wiederum auf divergierenden Konzepten des Nachdenkens über Aufgaben und Funktionen des Wohnens in der Moderne basierten. Als Binde-

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Irene Nierhaus, Andreas Nierhaus glied zwischen dem ‚Idealismus‘ des Ausstellungsprojekts „Die Neue Zeit“ in Köln und der explizit auf den ‚Realismus‘ der ‚wirklichen Wohnung‘ ausgerichteten Wiener Werkbundsiedlung fungiert der Wissensvermittler Otto Neurath, der Wohnen stets im gesellschaftspolitischen Kontext betrachtete und jeglichen Formalismus, von dem auch die zeitgenössischen Debatten um ein ‚richtiges‘ Wohnen nicht unberührt blieben, ablehnte. Michael Zinganel beschreibt und analysiert am Beispiel einer permanenten Ausstellung von Fertigteilhäusern im Süden Wiens die Mechanismen kommerzieller Wohnausstellungen und skizziert den sozioökonomischen Kontext des Einfamilienhausmarktes. Hauskauf und Hausbau werden als soziales Feld, Habitus und kulturelles Handeln deutlich gemacht, wobei der Reiz von Settings wie der „Blauen Lagune“, einer Art Open-Air-Shopping-Mall für Wohnen, auch in der Potenzialität des Wohnens liegt: „Viele spielen nur Käufer_innen, posieren vielmehr in ihren potenziellen zukünftigen Häusern, ‚bekleiden‘ sich kurzfristig damit und testen dabei unverbindlich verschiedene Identitäten und Familienrituale.“

Wohnkulturen Das Kapitel „Wohnkulturen“ behandelt Narrative und Medien des Wohnens insbesondere in Bild- und Textmedien (Film, Foto, Fotobuch, Fotoalbum, Video und Essay), die im Wohnen Zeigen eine zentrale Rolle bei der Diffusion von Wohnvorstellungen in unterschiedliche Schichten des Alltäglichen spielen und zugleich auch nichthegemoniale Perspektiven formulieren können. Die Vermittlung des Wohnens artikuliert sich aufgrund ihrer Medien und deren Genres oft auf implizite, integrative und emphatische Weise in Stimmungen, Affekten und Gefühlen, die auf diesem Wege Wohnwerte mit dem Erlebnis und somit dem Erleben des Subjekts und als Subjekt verknüpfen. Irene Nierhaus untersucht anhand von Abhandlungen, Essays und Berichten zum Neuen Wohnen aus dem deutschsprachigen Feuilleton die Vorstellungen vom modernen Wohnen und die Kritik an der Modernität von Seiten der „befürwortenden Teilnehmenden am Umbau“. Sichtbar wird die Kritik an einer zur Formangelegenheit gewordenen Moderne und ihrer ‚Oberfläche‘, am Unbehagen an Totalitätsansprüchen, aber auch an Formen von Anti-Häuslichkeit. Der Brecht-Text „Nordseekrabben“, der Wohnen in

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Wohnen Zeigen die Opposition von Vorbild und Abschreckung setzt, „spricht von Widerständigkeit und wendet sich gegen eine als totalitär verstandene Stilordnung, die das Leben der Bewohner kontrolliere und homolog normiere.“ Drehli Robnik widmet sich der lehrreichen ‚Explikation‘ von wohnlichen Situationen im Horrorfilm und macht damit auf „filmische Erfahrungen von Schrecken und Unheimlichkeit, die nah am gewohnten Alltag ansetzen“, aufmerksam. Wenn Film – jenes Medium, das, nach Siegfried Kracauer, erlaubt „uns in unserer Geschichtlichkeit zu erfahren, indem es uns hilft, durch die Dinge zu denken anstatt über ihnen“ – ein umfassendes Wohnen, ein Habitat, ein ‚In-der-Welt-Sein‘ erzeugt, dann liegt es nahe, Horrorfilm und Wohnen miteinander in Beziehung zu setzen. Der Fokus liegt auf dem Wie des „Wohnen-Lernens“, wobei zwischen Lehren und Lernen differenziert wird: Denn das Wohnen macht etwas mit uns, indem wir es ausüben. Im Horrorfilm, wo das Gewohnheitsmäßige fragwürdig gemacht wird, ist das Wohnen-Lernen ein Schockartiges. Angelika Bartl geht dem Verhältnis von Politischem und Privatem nach und macht dabei zwei unterschiedliche historische Ansätze fest: Während der eine – auch im Sinne einer radikalen feministischen Zurückweisung des Privaten – gegen die Trennung von Privatem und Politischem argumentiert, bemüht sich der andere um die Aufwertung des Privaten. Für einen politischen Begriff des Privaten, so Bartl, sei das Konzept eines „umfassenden, von ideologischen Verflechtungen befreiten Privatheitsbegriffs“ allerdings nicht notwendig. Privatheit, das zeigt eine Videoarbeit von Laura Horelli, kann auch als gemeinschaftlicher Raum der (selbst-)kritischen „Auseinandersetzung mit (privaten und öffentlichen) Gesellschaftsräumen“ verstanden werden. Christiane Keim nähert sich dem von Alison und Peter Smithson errichteten „Upper Lawn Pavilion“ in Fonthill über die medialen Brechungen eines Bildbands, mit dem das Architekt_innenpaar am Beispiel dieses Bauwerks und seiner Benutzung die „Kunst des Bewohnens“ durch eine Künstler_innenfamilie vermitteln wollte. Der kleine Bau übersetzte die Ausstellung „Patio and Pavilion“ in ein Wohnhaus, das als ländlicher Rückzugsort gedacht war, sich durch den Ortsbezug in die britische Architekturgeschichte einschrieb und repräsentative Funktionen erfüllen sollte: „Vom Experimentierstadium der Ausstellungssituation [...] war die Idee einer exemplarischen Lebens- und Wohnstätte nun offenbar in alltägliche Gebrauchszusammenhänge, in den Worten der Smithsons ‚into real life‘ übertragen worden.“

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Irene Nierhaus, Andreas Nierhaus Bernadette Fülscher erkennt im Roman „Das Leben Gebrauchsanweisung“ von Georges Perec, in dem die Beschreibung der Wohnungen eines Pariser Wohnhauses der 1970er Jahre mit der Konstruktion von Bewohner_innen bzw. Bewohner_innenmilieus verbunden wird, Parallelen zwischen der „Erzählstruktur und der räumlichen und sozialen Struktur des porträtierten Hauses“. In der Konstruktion des Wohnhauses spiegelt sich die Konstruktion des Romans, der einem Planspiel gleicht und dem trotz exzessiver Konstruiertheit glaubwürdige Beobachtungen der zeitgenössischen Pariser Gesellschaft gelingen – einer Gesellschaft mit stark individualisierten Wohnvorstellungen und einer Vielfalt an Wohnformen und Lebensstilen, die in der minutiösen Beschreibung zum Ausweis von Persönlichkeit dienen.

Bewohnermodelle Das Kapitel „Bewohnermodelle“ widmet sich der Modellierung von Akteur_innen des Wohnens anhand großteils idealisierter Repräsentationen von Wohnen und den Vorstellungen über und Konstruktionen von Bewohner_innen – wobei Bewohner_innenschaft hier stets als wechselseitig und nicht als einfache Opposition von Idealem und Faktischem verstanden wird. Die Beiträge machen deutlich, dass in Wohnmodelle auch entsprechende imaginäre Bewohner_innen eingesetzt sind, dass historische ebenso wie fiktive Bewohner_innen durch Repräsentationen und Rekonstruktionen persönlicher Wohnsettings nicht nur angerufen, sondern förmlich materialisiert werden können. Schließlich kann die Modellhaftigkeit bestimmter Wohnvorstellungen und ihr Verweisen auf das Subjekt des oder der Wohnenden oft erst durch die Einbeziehung ebenso modellhafter Bewohner_innen – selbst im Fall ihrer Absenz – adäquat realisiert werden. Eva-Maria Orosz behandelt die museale Repräsentation von Wohnen und ihre museologischen, politischen und historischen Prämissen am Beispiel der „Period Rooms“ in der Schausammlung des Wien Museums. In der mehrfach auf unterschiedliche Weise reinszenierten biedermeierlichen Wohnung des Dichters Franz Grillparzer wird die wechselnde politische Instrumentalisierung einer prominenten Persönlichkeit und ihrer materiellen Hinterlassenschaften ebenso sichtbar wie die Interpretation des Biedermeiers als vorbildliches Wohnmodell in der Nachkriegs-

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Wohnen Zeigen zeit. Dieser musealen Wohn-Gedenkstätte wird die zu Beginn der 1960er Jahre als „herausragendes Beispiel Wiener Wohnkultur“ rekonstruierte Wohnung des Architekten Adolf Loos gegenübergestellt. Cathleen M. Giustino spürt der Inszenierung von Schauplätzen des Romans „Babička“ in Schloss Ratibořitz in der Tschechoslowakei der frühen 1950er Jahre nach, in der Fiktion und Wirklichkeit miteinander verschmelzen. Im Auftrag der Regierung in Prag verwandelten Kunsthistoriker das beschlagnahmte böhmische Schloss unter Verwendung ebenfalls konfiszierter Möbel in den fiktiven Schauplatz eines Romans, der seit seinem Erscheinen 1855 und auch noch während des Kommunismus die nationale Mythologie befeuerte. Die räumliche Rekonstruktion des Romans nivellierte den Unterschied zwischen Romanfiguren und historischen Figuren, ließ Geschichte zum Mythos werden und gab zugleich dem Roman den Anschein historischer materieller Tatsächlichkeit. Christina Threuter analysiert Herlinde Koelbls Fotobuch „Das deutsche Wohnzimmer“ von 1980, in dem durch die Aufnahmen von Wohnräumen und ihrer Bewohner_innen „das Individuelle mit dem Nationalen“ verknüpft wurde. Threuter kritisiert dabei die suggerierte ‚Authentizität‘ und ‚Alltäglichkeit‘ ebenso wie den quasi-dokumentarischen Charakter der Bilder und zerlegt ihre ästhetischen Strukturen: Wie die Bewohner_innen in den Raum gesetzt sind, welche Posen sie einnehmen, welche Bildtexte beigegeben sind, wie soziale Zuordnungen vorgenommen und schließlich Stereotype des Wohnens, der Bewohner_innen, der Geschlechter gebildet werden – all das zeigt, dass „die Fotografien das bestätigen, was sie zu sehen geben wollen, nämlich kurz gesagt: das Milieu als Porträt“. Theres Sophie Rohde widmet sich den fingierten Spuren vermeintlicher Benutzung in Fotografien von Wohnräumen und Möbeln als „Verfahren des Exponierens“, wodurch gleichsam Handlungsreste in das statische Wohnbild gebracht werden. Solche „Wohnlichkeits-Attrappen“ wurden im Wohnen des 19. Jahrhunderts hervorgebracht und verbreitet, im 20. Jahrhundert füllen sie die Leerstelle, die die auf Bauausstellungen ‚fehlenden‘ Bewohner_innen hinterlassen: „Wohnen wird hier zu simulieren versucht, sodass trotz der Absenz von Personen eine Form der Präsenz menschlichen Lebens mittels Wohndingen in einem prägnanten Moment des Gebrauchs erzeugt wird.“ Andreas K. Vetter schließlich untersucht die Präsenz des Menschen in der Architekturfotografie. In den 1920er Jahren war der in der Produkt-

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Irene Nierhaus, Andreas Nierhaus fotografie entwickelte Standard des perfekt ausgeleuchteten Objekts auf die Architektur übertragen und dadurch der Mensch aus dem Architekturbild verdrängt worden; durch die Integration des Menschen verliert Architektur an alleiniger Dominanz – „das wollte der moderne Architekt verständlicherweise verhindern“. Den menschenleeren, ganz auf die formalen Charakteristika des Objekts und weniger auf seinen Gebrauch fokussierten Architekturfotografien der klassischen Moderne werden die Aufnahmen von Julius Shulman gegenübergestellt, der vermeintliche Bewohner_innen bzw. das Bewohnen in Aktion zeigt und dessen Bildanordnung – wie auch bei neueren Architekturfotograf_innen – ein empathisches Sich-Einfühlen in die gegebene Situation ermöglicht. Wir bedanken uns bei Wolfgang Kos und Kathrin Heinz für ihr Engagement für das Zustandekommen dieses Projektes. Johanna Hartmann danken wir für ihre immer motivierenden Vorschläge und ihre umsichtige Redaktion und die Betreuung der Autor_innen. Für das Denken im Layout danken wir Christian Heinz. Die Publikation wurde vom Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender, vom Wien Museum und vom Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik der Universität Bremen gefördert. Die Publikation ist der erste Band der Schriftenreihe des Forschungsfeldes wohnen   +/−   ausstellen, in dem das Prinzip des Einrichtens und Ausstellens in verschiedenen Formaten des Zu-Sehen-Gebens untersucht wird. Bremen und Wien im Juli und August 2013

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Johanna Hartmann

Möbel, Pläne, Körper Lehr stücke des Wohnens in den 1950er Jahren

Wohnausstellungen sind bekanntlich zwar kein genuines Phänomen der Nachkriegszeit, sondern hatten ihre Hochphase in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Dennoch waren die 1950er Jahre eine Zeit, in der eine besonders intensive Beschäftigung mit dem häuslichen Raum im Zentrum gesellschaftspolitischer Debatten stand. Liest man die Texte von Architekten, Stadtplanern und Politikern aus dieser Zeit, wird schnell deutlich, dass Wiederaufbau keineswegs nur heißen sollte, genügend Wohnungen für alle zu bauen. Ebenso wichtig schien es zu sein, Stadt- und Wohnraum zu schaffen, der es vermochte, durch seine Raumordnungen und die Formgestaltung seiner Einrichtungsgegenstände auch der Gesellschaft neue Form und Ordnung zu verleihen. In Artikeln, Vorträgen, Ratgebern, Zeitschriften, Filmen und Ausstellungen, die in großer Zahl parallel zu den diversen Wohnungsbauprojekten entstanden, wurden Idealentwürfe eines „besseren“ Wohnens „von morgen“ vorgestellt, das offenbar sowohl bezüglich seiner Räume und Dinge als auch seiner Bedeutungen erklärt und anschaulich gemacht werden musste. Wohnausstellungen inszenierten scheinbar Alltägliches und führten dieses Alltägliche gleichzeitig als etwas vor, das man lehren und lernen müsse, da das Publikum sich nicht oder nicht ausreichend gut damit auskenne. Die vielen Publikationen wie Ausstellungskataloge und Warenbücher, Einrichtungsratgeber und Zeitschriftenartikel artikulierten die Programmatiken der Ausstellungen und doppelten die gezeigten Räume und Dinge mit einem Reichtum an visuellem Material wie Zeichnungen, Fotografien, Grundrissen und Plänen. Dabei befassten sich diese Lehrstücke bei Weitem nicht nur mit Einrichtungsgegenständen und Raumaufteilungen, vielmehr erweisen sich die Installationen, Bilder und Texte, die das „richtige“ Wohnen und die „gute Form“ der Alltagsdinge zum Thema machten, als zentrale

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Möbel, Pläne, Körper Konstruktionsräume einer sich als modern und demokratisch definierenden Nachkriegsgesellschaft.1 In meiner Untersuchung einzelner medialer Residuen dieser Wohnlehre der 1950er Jahre möchte ich – jenen feministischen Kunst- und Architekturwissenschaftlerinnen folgend, die die enge Verzahnung von Bau und Bild moderner Architektur theoretisieren (u.  a. Colomina 1996; Keim 1999; Nierhaus 2004) – dafür argumentieren, die Bilder und Texte der Wohnlehrmedien nicht als bloße Beschreibungen und Illustrationen eines viel diskutierten Themas zu verstehen, sondern als zentralen Baustein eines Diskurses, in dem die Räume, Dinge, Subjekte und Praktiken des Wohnens neu geordnet wurden. Es geht mir also darum, diese Medien selbst in ihren Aussagen zentral zu setzen, das heißt, nicht nur herauszufinden, was sie dokumentieren, sondern auch, welche Bedeutungen sie produzieren, sie also dezidiert als Produzenten eines gelehrten und zu lernenden Wohnens zu verstehen.

Möbel Ich beginne meine Betrachtungen bei einer Schwarzweißfotografie von 1949, auf der eine unter freiem Himmel aufgebaute Installation aus Grundrisslinien und Möbelstücken zu sehen ist. (Abb. 1) Bekannt ist weder der Zweck des Fotos, noch, was darauf eigentlich genau festgehalten wurde,2 es ist dennoch exemplarisch. Neben der Frage, was

1  Genau genommen beginnen die Wohnausstellungen nach dem Zweiten Weltkrieg bereits 1949 mit der Werkbundausstellung „neues wohnen“ in Köln. Dieser folgten viele weitere, sowohl große, international bekannt gewordene Ausstellungen als auch kleine regionale Schauen, bevor in den 1960er Jahren der normativ erzieherische Impetus um das Thema Wohnen abnahm und die Frage „Wie wohnen?“ stärker als eine des individuellen Geschmacks interpretiert wurde. Mein Fokus auf westdeutsche Projekte des Wohnen-Zeigens soll nicht übersehen lassen, dass Wohnausstellungen in der Zeit des Kalten Kriegs wichtige international wahrgenommene Bühnen für die wirtschaftliche, kulturelle und politische Selbstdarstellung der verschiedenen Nationen waren (vgl. dazu den Beitrag von Greg Castillo in diesem Band). 2  Ich entnehme die Fotografie einem Buch über Reformmöbelproduktion in Deutschland (Wichmann 1978, S. 306). Dort wird das Abgebildete als Wohnausstellung in einer nicht namentlich genannten westdeutschen Stadt beschrieben. Es ist davon auszugehen, dass es keine in größerem Ausmaß bekannt gewordene Ausstellung war, da sich ansonsten Hinweise dazu in Bau-, Wohn-, Möbel- oder Architekturzeitschriften aus dem Jahr 1949 finden lassen würden. Es ist sogar möglich, dass die auf dem Bild festgehaltene Inszenierung nur für den Zweck dieser Fotografie aufgebaut wurde und nie als Ausstellung zu besichtigen

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Johanna Hartmann hier fotografiert wurde, frage ich vor allem danach, was hier wie zu sehen gegeben wurde. Auf einem unbebauten Grundstück stehen in einem auf den Boden aufgemalten Grundriss Möbel, die die Szenerie trotz des Fehlens der Zimmerwände zu einem dreidimensionalen Raumgebilde werden lassen. Das Arrangement mit ein paar Teppichen und weiteren Textilien führt eine Dreizimmerwohnung für eine Familie mit zwei Kindern vor. Gezeigt wurde ein Plan, dessen Bedeutungsfelder mit Möbelstücken markiert sind.

Abb. 1  „Wohnkultur-Sozialwerk-Möbel“, 1949.

Es sind „Wohnkultur-Sozialwerk-Möbel“,3 genauer die von Otto Beringer entworfene Linie WKS 1, die besonders zierlich dimensioniert war, um

war. Diese Vermutung äußerte der Oberkonservator der Neuen Sammlung München, wo sich das WK-Archiv befindet, in dem die Fotografie aber nicht gefunden werden konnte (E-Mail von Josef Strasser an die Verfasserin, 20.10.2010). 3  Es handelt sich dabei um ein sogenanntes Anbaumöbelprogramm, entwickelt und produziert von der „Neuen Gemeinschaft für Wohnkultur e.  V.“ (WK) in Kooperation mit dem „Sozialwerk für Möbel und Hausrat“ (vgl. zur Verbandsgeschichte Wichmann 1978; Oestereich 2000, S. 346f.).

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Möbel, Pläne, Körper gut in die vergleichsweise kleinen Räume der ersten Sozialwohnungen nach dem Krieg zu passen. Die Präsentation der Wohnungseinrichtung als System einzelner beweglicher und verschieden kombinierbarer Teile, mit denen man das Wohnen Stück für Stück lernen konnte, war auf den Wohnausstellungen der 1950er Jahre ein wichtiges Thema. 4 Es waren eher günstige Stücke, die aber nicht lediglich als „Behelfsmöbel“ verstanden werden sollten, wie in einem Artikel der „Allgemeinen Zeitung“ von 1951 erklärt wurde. Darin heißt es außerdem, die „raumgeschickten“ Möbel der WK-Produktionen sollten dazu dienen, „der breiten Schicht der Habenichtse aus den Kreisen der Ausgebombten, der Flüchtlinge, der Werktätigen und des intellektuellen Proletariats, die bekanntlich die Hauptlast der Kriegsfolgen zu tragen haben, [...] in spärlichen Räumen trotzdem wieder das Gefühl einer eigenen Sphäre zu geben“ (o.  V. 1951). Solche Formulierungen sind bezeichnend für das Sprechen über das Wohnen in der frühen BRD. Die Verklärung des Kriegs als eine über die Deutschen gekommene Katastrophe, die viele von ihnen zu Wohnungslosen machte, und die Formulierung des Wunschs nach einem eigenen Heim, mag es auch noch lange nicht perfekt und durchaus etwas spärlich sein, ziehen sich durch unzählige Texte dieser Zeit. Begriffe wie „einfach“ und „bescheiden“ spielen dabei eine große Rolle. Sie wurden keineswegs nur dazu verwendet, kriegsbedingte Mängel zu beschreiben, sondern waren vor allem ein wichtiges Element im Topos des „Schlichten“ und gleichsam „Guten“, „Funktionalen“ und vor allem „Ehrlichen“, mit dem Design mit Moral verbunden wurde.5 Das bezog sich nicht nur auf Möbel, sondern umfassender auf die Gebrauchsgegenstände des Alltags. Für ein „neues Wohnen“ schien der

4  Otto Beringers Linie WKS 1 war u.  a. auf der Werkbundausstellung „neues wohnen“ 1949 in Köln zu sehen. Weitere Serien wurden auf der Wohnungsschau „Die heutige Wohnung“ der Bauausstellung Constructa 1951 in Hannover und im Rahmen der deutschen Beteiligung an der Weltausstellung in Brüssel 1958 ausgestellt (vgl. Wichmann 1978, S. 153ff.). Einige der WKS-Möbel wurden im Modellmaßstab 1:5 als Unterrichtsmaterialien für Schulen hergestellt, weitere außerdem als noch kleinere Spielzeugmöbel, mit denen bereits Kinder die Möbelformen kennenlernen sollten (vgl. Sozialwerk für Wohnung und Hausrat 1954, S. 1). 5  „Ehrlich“ fungierte als Äquivalent für „gut funktionierend“ und eine über bestimmte Geschmacksnormierungen definierte Formensprache. Gerne wurde auf den Satz einer Rede verwiesen, die Theodor Heuss, Bundespräsident und früherer Geschäftsführer des Deutschen Werkbunds, 1951 in Stuttgart gehalten hatte. Er stellte seinem Vortrag die Frage voran, „Was ist Qualität?“ und beendete seine Ausführungen mit der Feststellung: „Qualität ist das Anständige“ (vgl. Heuss 1956, S. 1).

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Johanna Hartmann alltägliche Umgang mit „gut geformten“ Dingen unerlässlich (vgl. Betts 2004; Oestereich 2000). Sowohl über die Dinge als auch über das richtige Tun mit ihnen klärte 1952 das Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht mit dem elfminütigen Film „Der schön gedeckte Tisch“ auf. Die Kamera folgt den Händen einer weiblichen Figur, die in mehreren kurzen Szenen verschiedene Tische deckt. (Abb. 2 und 3)

Abb. 2 und 3  „Der schön gedeckte Tisch“, 1952.

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Möbel, Pläne, Körper Nach der chronologischen Ordnung des Tagesablaufs folgen Tische für besondere Anlässe, die den Zyklus eines Familienlebens markieren: das Sonntagsmahl, ein Geburtstagsfest im Garten, der nachmittägliche Teetisch am Sofa und als letzte Szene und Höhepunkt des Films eine Hochzeitstafel. Die tischdeckende Gestalt, die selbst stumm bleibt, wird angeleitet und kommentiert von einer männlichen Stimme, zu der kein Körper zu sehen ist: „Das junge Mädchen nimmt eine hellblaue Leinendecke. Die Größe ist richtig – etwa zwei Handbreit soll sie ringsum herunterhängen. [...] Die Teller dürfen nicht am Rand des Tisches überstehen. Sie müssen entweder mit der Tischkante abschließen, oder zwei Fingerbreit davon entfernt sein. Rechts oberhalb vom Teller steht die Tasse, der Henkel zeigt nach rechts, parallel zum Henkel liegt der Löffel.“ („Der schön gedeckte Tisch“, 00‘45‘‘) Diesen Anordnungen folgend arrangiert die Frau Tischdecke, Teller, Tassen, Schüsseln, Kannen, Besteck, Gläser und Servietten zu einem bis ins Detail festgelegten Gefüge. Das Decken des Tisches folgt einem genauen Plan. Die Kamera verweilt immer wieder für einen Moment auf den Geschirrstücken und gleitet dann über sie hinweg. Die Stimme des Kommentators gibt an, wie das Gezeigte zu verstehen ist: „Das Porzellan ist in seiner Form vollendet, zweckmäßig und durchdacht für den täglichen Gebrauch. Es hat keine Ecken, keine Schnörkel, keine Rillen. Die Suppenschüssel ist rund und glatt. Sie lässt sich leicht bis zum letzten Tropfen ausschöpfen. Und ebenso einfach im heißen Wasser abspülen.“ „Keine vorgetäuschte Pracht lenkt das Auge ab. Die Schönheit liegt einzig und allein in der schlichten, einfachen Form. Man hat den Eindruck, als könne sie nur so und nicht anders sein.“ („Der schön gedeckte Tisch“, 02‘58‘‘ und 07‘10‘‘) Schlichtheit und Schnörkellosigkeit werden als Qualitätsmerkmale des Geschirrs betont. Was aber genau die „gute Form“ ausmacht, bleibt abgesehen von fehlenden Schnörkeln oder Rillen relativ vage. Die Formen der Geschirrstücke werden beschrieben als aus sich selbst heraus logisch und so quasi natürlich richtig und gut. Das „Einfache“ und „Schlichte“ wird gleichsam zum „Schönen“ wie auch zum „Richtigen“, das für jeden, der sich mit so geformten Dingen umgebe und sie verwende, verständlich, mehr noch selbstverständlich werde. Der Sprecher konstatiert ein Formwissen, das über die alltägliche Verwendung der richtigen Dinge zu schulen sei, wobei er die „Richtigkeit“ bestimmter Formen gegenüber anderen naturalisiert. In dieser stetig wiederholten Anrufung der im Werkbund schon seit seiner Gründung zu Beginn des 20. Jahrhunderts propagierten „klaren“,

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Johanna Hartmann „schlichten“ und „guten“ Form, wie sie im Tischdeck-Film und diversen anderen Wohnlehrmedien der 1950er Jahre unternommen wurde, verschränkten sich mehrere Diskursstränge. Es war zum einen ein hoch vergeschlechtlichtes Reden, in dem nicht nur weibliche Bewohnerinnen ohne ausreichendes Raum- und Formverständnis von einer männlich imaginierten Riege an Architekten und Formgestaltern über das „richtige Wohnen“ und die „gute Form“ unterrichtet werden sollten, sondern in dem das Verzierte und Schnörkelhafte selbst Teil einer weiblichen Wesenhaftigkeit wurde.6 Die Lobpreisung des Schnörkellosen ermöglichte zum anderen auch einen Anschluss an die Formdiskurse des Neuen Bauens der 1920er Jahre, wenn auch der Neue Mensch der 1920er Jahre in den Wohnvorstellungen der 1950er längst der Kernfamilie und den maßgeblich über sie definierten Werten wie Heim und Nation Platz gemacht hatte. Dennoch war der Anschluss an diesen Diskurs nicht nur in gestalterischer, sondern vor allem auch in politischer Hinsicht wichtig. Mit dem Ziel, Deutschlands Formgestaltung in einem internationalen Kanon wieder zu Anerkennung zu verhelfen, wurde ein Narrativ voller Auslassungen geschaffen. Die gerade erst Vergangenheit gewordene Wirklichkeit von Faschismus, Krieg und Niederlage wurde in den Debatten um das Wohnen kaum je explizit benannt. Wenn, dann finden sich – auch bis weit in die 1950er Jahre hinein – Formulierungen wie die von Heinrich König, einem Werkbündler, der 1945 bei der Neugründungssitzung des Deutschen Werkbunds konstatierte: „Eine Zeit des falschen Scheins liegt jetzt in Trümmern. Wir stehen vor einer tabula rasa und damit vor völlig neuen Anfängen.“ (König zit.  n. Durth 2007, S. 234) In die große Erzählung eines absoluten Neuanfangs ab 1945 passen viele von den Arbeitsbiografien der in den Wohnlehrmedien gepriesenen Formgestalter nicht. Hermann Gretsch, der die im Tischdeck-Film vorgeführten Geschirrserien entworfen hat (vgl. Hager 2004, S. 93), war 1933 in die NSDAP eingetreten, hatte als Gestalter mit zahlreichen Aufgaben in kulturellen Organisationen des Nazi-Regimes Karriere gemacht und konnte nach 1945 problemlos weiter als tonangebender Designer tätig sein (vgl.

6  „Für den Einsichtigen ist es ja immer wieder schwer verständlich, weshalb die Hausfrauen die unpraktischen, kreuz und quer furnierten, hochglanzpolierten und mit aufgeleimten Verzierungen versehen, aber ganz unpraktisch eingerichteten Küchenbüffetts [sic] an Stelle einer Kücheneinrichtung bevorzugen, in der sie alles handlich und griffbereit finden und bequeme Arbeitsflächen haben.“ (König 1950, S. 18)

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Möbel, Pläne, Körper Zentek 2009, S. 317ff.). Otto Beringer, der Designer der WKS-1-Serie von 1949, hatte ein paar Jahre zuvor mit seiner Firma „Die Einrichtung“ das Mobiliar für ein „Berghaus“ der SS im oberbayerischen Sudelberg gestaltet (vgl. o.  V. 1941, S. 128ff.). Solche Zusammenhänge, die eher die Regel als die Ausnahme waren, blieben ungenannt und werden auch in heutigen Geschichtsrückblicken der Design-Verbände kaum je erwähnt.

Pläne Diese Gleichzeitigkeiten von bestehenden Kontinuitäten und formuliertem Neubeginn erwiesen sich auch auf der Ebene der baulichen Strukturen des versuchten Neuanfangs als bedeutsam. Die alte Figur der ordnungslosen Stadt, die es von Grund auf neu zu planen gelte, hatte mit den Kriegszerstörungen eine deutliche Verstärkung erfahren und tauchte in vielen Medien der Wohnlehre auf. In Zeichnungen und Plänen wurden gänzlich neu geordnete Städte entworfen, in die das neue Wohnen visioniert wurde. Ungeachtet der Tatsache, das umfassende Stadtneubebauungsideen weit über das hinausgingen, was realisierbar war (vgl. Durth/Gutschow 1988), wurden die Zerstörungen von vielen derjenigen, die sich in planerischem Interesse mit dem Stadtaufbau befassten, nicht als Verlust, sondern als Chance verstanden, die „geordnete“ Stadt „von morgen“ so zu planen, „daß sie zur ordnenden Lebenshülle wird, in der der einzelne, die Familie und die nachbarliche Gemeinschaft schützende und formende Lebensbedingungen erhalten“ (Otto 1959, S. 39). Wie diese „Lebensordnungen unserer Gesellschaft“ durch entsprechende Raumstrukturen in Form zu bringen seien, wird beispielsweise mit den Karikaturen demonstriert, die bei der Internationalen Bauausstellung „Interbau Berlin 1957“ ausgestellt waren und auch als Büchlein erschienen sind (Oswin 1957). Die bisherige Stadt, die dringend einer grundlegenden Neugestaltung bedürfe, ist auf diesen Strichzeichnungen ein steinernes, immer weiter in die Höhe wachsendes, labyrinthisches und völlig unüberschaubares Gebilde, in dem ein Leben kaum mehr möglich erscheint. In der Stadt „von morgen“, die es zu planen gelte, sind die Häuser auseinandergerückt und zwischen den Bauten haben Wiesen und Felder und ein mäandernder Fluss Platz gefunden. Von einer weit gespannten Brücke im Vordergrund des Bildes schaut die Betrachterin zusammen mit einigen der glücklichen Städter der Zukunft auf eine weite Ebene hinunter,

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Johanna Hartmann die mit kleinen Siedlungen im Grünen und einzelnen Hochhäusern am Horizont das Idealbild der „aufgelockerten“, „gegliederten“ und „durchgrünten“ Stadtlandschaft darstellt. Es erscheint mir bedeutsam, dass da, wo das Wohnen in dieser Stadt „von morgen“ aus der Nähe gezeigt wird, sich dieses nicht in einem der neuen Hochhäuser abspielt, sondern die entsprechende Zeichnung das familiäre Leben im „grünen Zimmer“ eines kleinen Atriumhauses illustriert. (Abb. 4)

Abb. 4  Wohnen in der Stadt „von morgen“, 1957.

Betont werden die grüne Wiese als Verbindung mit der Natur und das frei stehende Einfamilienhaus als Maxime des guten Wohnens. Obwohl kein ländliches, sondern ein urbanes Leben vorgestellt wird,7 werden die Wohnbauten zu Elementen einer Landschaft. Die Stadt als Landschaft und die scheinbare Naturhaftigkeit dieser Landschaft werden zum

7  „Die Grünfläche ist sowohl Gerüst als auch Mittelpunkt der Stadt“, heißt es in den „Grundsätzen“ für die Interbau-Sonderschau „stadt von morgen“ (vgl. o.  V. 1957, S. 2).

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Möbel, Pläne, Körper Hintergrund, vor dem nicht nur die Figur des Hauses als Urform des Wohnens, sondern auch die in dieses Wohnen hineingeplanten Subjekte naturalisiert werden.8 Das Bild des in sich abgeschlossenen Häuschens taucht auffällig oft und gerade auch dort auf, wo eigentlich keine Einfamilienhäuser, sondern explizit Wohnungen als Bestandteil größerer Geschossbauten präsentiert wurden. Ein kleines Satteldachhaus ziert die Titelseite des Katalogs der Werkbundausstellung „neues wohnen“ 1949 in Köln. (Abb. 5)

Abb. 5  Katalogtitelseite der Werkbundausstellung „neues wohnen“ 1949 in Köln.

Zentrales Exponat der Ausstellung war eine „Einraumwohnung für das Existenzminimum“, eine pavillonartige, eher fragmentarische Andeutung des Wohnens, mit der das Häuschen auf dem Katalogtitel nicht viel gemein hat. Bei dieser einzigen Abbildung des gesamten Katalogs9 fällt

8  Dazu genereller Irene Nierhaus: „Die ubiquitäre Grünfläche als Figur von Naturalität wird zur homogenisierenden ‚Seinslandschaft‘ der Nachkriegsgesellschaft“ (Nierhaus 2010, S. 35). 9  Eigentlich war geplant gewesen, im Katalog die in der Ausstellung gezeigten Möbelstücke auf Fotos festzuhalten und mit Bestellnummern und einem Firmenverzeichnis zu versehen, sodass der Katalog nach dem Ausstellungsbesuch dazu hätte

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Johanna Hartmann als Erstes das Kürzel des Deutschen Werkbunds ins Auge, das sich wie eine Alphabetisierungsübung über die Titelseite zieht. Buchstabiert wird das „neue wohnen“, das nach sieben roten und blauen Zeilen, die von den symmetrischen Lettern „dwb“ gefüllt werden, in Weiß den Titel der Ausstellung vorgibt. Über die Buchstabenreihen gelegt, lassen sich zwei ineinanderliegende weiße Liniengebilde ausmachen: das Häuschen mit Satteldach und Kamin und darin ein Stuhl, genauer ein Freischwinger. Die weißen Linien, die auf dunklem Grund das Wohnen umreißen, schaffen eine Ähnlichkeit zu der Fotografie des auf den Boden gemalten und mit Möbeln bestückten Grundrisses. Wie dort ist auch hier das Mobiliar in die wie mit Kreide gezeichneten Umrisslinien des Hauses eingefügt, allerdings scheint auf dem Katalogtitelblatt ein einziges Möbelstück zur Versicherung einer Einrichtung auszureichen. Wo das Satteldachhäuschen allerdings kaum dem entspricht, was man unter dem in moderner Kleinschreibung aufgerufenen „neuen wohnen“ vermuten würde, und auch ein völlig anderes Raumkonzept formuliert als die in der Ausstellung gezeigte „Einraumwohnung für das Existenzminimum“, fungiert der Freischwinger in dem traditionsgebundenen Häuschen als Platzhalter für das „Moderne“. Das neue Wohnen der 1950er Jahre ist eines, das sich trotz aller angerufenen Modernität im Spitzdachhäuschen der Familie abspielen soll.10 Es ist eine merkwürdige Gleichzeitigkeit scheinbar gegensätzlicher Anrufungen, die sich in den Wohnmedien der 1950er Jahre immer wieder finden lässt und die auch die oben genannte Fotografie der WK-Möbelausstellung unter freiem Himmel strukturiert. Der direkt auf den Erdboden aufgezeichnete Wohnungsgrundriss und die ebenfalls direkt auf der Erde platzierten Möbelstücke auf einem von Trümmern freigeräumten Grundstück rufen das Bild eines kleinen Einfamilienhauses

verwendet werden können, die „durch die Ausstellung angeregten Wünsche mittelbar, unmittelbar oder später beim Einzelhandel zu erfüllen“ (Deutscher Werkbund 1949a). Jedoch konnte diese Planung nicht umgesetzt werden. Die in der Ausstellung gezeigten Exponate sind im Katalog zwar nach Kategorien und Herstellern aufgelistet, der Katalog beinhaltet aber abgesehen von der Titelseite keine einzige Abbildung (Deutscher Werkbund 1949b). 10  Außerdem lassen sich die beiden ineinandergezeichneten Liniengebilde, die offenbar als eine gemeinsame Aussage gelesen werden sollten, möglicherweise auch als ein Versuch der Versöhnung zwischen den reformerischen und den konservativen Formgestaltern und Architekten lesen, deren unterschiedliche Ansichten darüber, was guter Wohnbau sei, in der Zwischenkriegszeit beispielsweise in den Projekten Weißenhofsiedlung und Kochenhofsiedlung ihren Ausdruck fanden.

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Möbel, Pläne, Körper auf. Tatsächlich entsprach die Größe des auf den Boden aufgetragenen Grundrisses aber den Vorgaben einer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus des sozialen Wohnungsbaus. Gezeigt wird hier die Struktur einer sogenannten Geschosswohnung – inszeniert als freistehendes und in sich abgeschlossenes Haus für eine Familie. Nicht nur das Ausstellungsarrangement selbst, sondern auch die fotografische Inszenierung spielt mit dieser Illusion des Einfamilienhäuschens. Um den Grundriss herum ist etwas Platz, ein Garten ist denkbar. Direkt am Grundstück parkt ein VW Käfer, der Teil des zu sehen gegebenen Settings ist. Auch wenn dieses Auto das Budget der BewohnerInnen der Sozialwohnung wohl weit überstiegen hätte, vervollständigt er dennoch das Imaginäre einer nachkriegsdeutschen Familienidylle. Auch hier findet sich der Plan wieder: Die Perspektive von schräg oben ermöglicht einen Überblick über die Szenerie, präsentiert die dachlose Wohnung als offen einsehbares Interieur und macht die Raumstruktur in ihrer Gänze erfassbar. Die Wohnung als Plan ist Teil einer umfassenden visuellen Anordnung, die sich in zahlreichen Wohnpräsentationen wiederholte, sowohl in Schauräumen als auch in den Fotografien davon. Auf vielen dieser Fotografien wird der Blick an den temporären Zimmerwänden entlanggeführt und von oben durch die Verstrebungen der Ausstellungsarchitekturen in die möblierten Zimmer gelenkt. Mindestens ebenso wichtig, wie die „gut“ geformten Dinge des Wohnens zu kennen, war es offenbar, die Ordnungen des Wohnens offenzulegen und sichtbar zu machen, um sie lesen lernen zu können.11

Körper Die Fotografien der Schauwohnräume sind bis auf Ausnahmen menschenleer.12 Vielleicht würden Körper die „Schlichtheit“ und „Ehr-

11  In der Beschäftigung mit den Präsentationen dachloser Wohnungen erscheint es mir außerdem wichtig, bestimmte visuelle Erfahrungen der BetrachterInnen nach dem Krieg mitzudenken. Der Blick von oben in die ausgestellten Wohnräume knüpft an die Luftaufnahmen zerbombter Städte und an ein entsprechend geschultes „Lesen“ von Wohnraum an. Fotografische Aufnahmen der Städte von oben, die die „Häuser-Massen“ der „labyrinthischen“ Stadt bzw. die Ruinen zerbombter Häuser zeigten, sowie diverse Planzeichnungen, die eine geordnete, gegliederte zukünftige Stadt imaginierten, bildeten wichtiges visuelles Material der letzten Kriegs- und ersten Nachkriegsjahre (vgl. Hartmann 2010 sowie den Beitrag von Manfredo di Robilant in diesem Band). 12  Diese Ausnahmen sind jene Bilder, auf denen die BetrachterInnen selbst mit ins Bild gesetzt wurden, um vorzuführen,

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Johanna Hartmann lichkeit“ der Räume und Dinge stören. Die Anordnungen der Dinge in den ausgestellten Wohnräumen spielen zwar immer wieder, ähnlich wie es Andreas K. Vetter für die Fotografien des Neuen Bauens der 1920er Jahre beschreibt (Vetter 2005, S. 49ff., vgl. auch Theres Sophie Rohde in diesem Band), mit dem Schein tatsächlich bewohnter Räume, deren BewohnerInnen nur gerade aus dem Sichtfeld der Kamera hinausgetreten sind und in Form eines aufgeschlagenen Buchs oder Ähnlichem eine Spur ihrer Anwesenheit hinterlassen haben. Tatsächlich sichtbar werden die Körper jedoch nicht, abgesehen von jenen der AusstellungsbesucherInnen, die auf einigen Bildern beim Beschauen der ausgestellten Wohnräume zu sehen sind. Jedoch sowohl in Zeichnungen wie auch in Textpassagen der vielen Begleitmedien bevölkern diverse BeispielbewohnerInnen die präsentierten Wohnräume. Über die Beschreibungen ihrer Tätigkeiten zu Hause und über die Illustrationen, die sie etwa als Familie um den Esstisch sitzend zeigen, vermitteln die Bilder und Texte, was man wo und wie im Wohnen tut. Die Identifikationsangebote, die diese Medien ihrem Publikum machten, waren dem geschlechterpolitischen Diskurs (wenn auch nicht unbedingt der Realität) der westdeutschen 1950er Jahre entsprechend vor allem Familienmodelle mit einem erwerbstätigen Vater und einer sich um Haushalt und Kinder kümmernden Mutter. Neben der Neubestimmung der männlichen Rolle, die vom kämpfenden Soldaten zum liebevollen Vater umgedeutet wurde, war es insbesondere die Rolle der Frau, die nach den Veränderungen während der Kriegszeit in die restaurative Familieninszenierung und ins Innere des häuslichen Raums eingepasst werden musste. Dieses Einfügen der Frauenfiguren, das über die Bilder, vor allem aber über die Texte der Wohnlehre unternommen wurde, wurde mit einer Wesenhaftigkeit der Frau begründet, deren Kern man in einer spezifisch weiblichen Körperlichkeit verortete. In einer Diskussionsrunde, in der 1955 die Interbau-Sonderschau zum Leben in der Stadt „von morgen“ vorbereitet wurde, ging es unter anderem auch darum, ob man bezogen auf den Wohnalltag der Zukunft eine Erwerbstätigkeit der

wie das Wohnenlernen vonstattengeht. Auf der oben beschriebenen Karikatur schauen wir zusammen mit anderen von der Brücke hinunter auf die Stadt „von morgen“; ebenso existieren Fotografien, die AusstellungsbesucherInnen dabei zeigen, wie sie in Schauwohnungen hineinschauen oder in Wohnberatungsstellen anhand von Wohnungsmodellen, in die man wie in Puppenhäuser hineingreifen kann, die Ordnungen des Wohnens erfahren (vgl. die Abbildungen zu den Beiträgen von Greg Castillo und Manfredo di Robilant in diesem Band).

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Möbel, Pläne, Körper Frauen befürworten könne oder nicht. Mehrere GesprächsteilnehmerInnen betonten, wie wichtig es für den Zusammenhalt der Familie sei, dass die Frau, die immer als Mutter gedacht wurde, zu Hause bleibe. Der Mediziner Paul Vogler warnte gar vor „Zivilisationsschäden bei den Frauen“, wenn sie in ihren „wertvollen, biologisch so außerordentlich wechselvollen Jahren“ berufstätig seien und so „über den Menstruationszyklus hinweggehen“ (1. Arbeitsgespräch 1955, S. 23f.). Der weibliche Körper, als dessen vorrangige Aufgabe definiert wurde, schützender Mutterleib für die nächste Generation einer sich im Neuentstehen begreifenden Nation zu sein, schien selbst eine schützende Hülle am meisten zu benötigen. Abgesehen vom mütterlichen Körper wurden mit Verweis auf den „Frauenüberschuss“ nach dem Krieg bei einigen Wohnausstellungen auch alleinstehende Frauen (und diese als erwerbstätig) mitbedacht. Unter den Schauwohnungen der Bauausstellung Constructa 1951 in Hannover wurde die Beispielwohnung eines Hauses präsentiert, das „Einzimmerwohnungen für alleinstehende Frauen, zumeist Postangestellte und Beamtinnen“, enthalten sollte; in der begleitenden Broschüre der Ausstellung wird die Bewohnerin „Frl. C.“ vorgestellt. Der Text betont die Notwendigkeit, sich neben der idealen Familienwohnung auch mit Wohnungslösungen für ledige und verwitwete Frauen zu befassen, da von ihnen „die Öffentlichkeit [...] in der Berufsausübung und im Verkehr mit Menschen frauliche Einfühlsamkeit und Wärme erwartet“ (Niedersächsisches Sozialministerium 1951, S. 15). Zur Entwicklung dieser Qualitäten schien die Wohnung von zentraler Bedeutung: „Viele alleinstehende Frauen, die für die vaterlose Familie sorgen, und die unverheirateten Berufstätigen würden durch einen eigenen Raum, in dem sie ihre fraulichen Wünsche und weiblichen Talente als Heimgestalterin entwickeln können, Glück und Kraft finden, ihr nicht leichtes Schicksal zu bewältigen.“ (Ebd. S. 15f.) Neben der kleinen Zeichnung, die „Frl. C.“ in ihrer Wohnung zeigt, visualisiert ein Ganglinienplan, der weiter hinten in derselben Broschüre die ökonomischste Küchenorganisation vorführt, Wohnraum und weiblichen Körper noch deutlicher als ineinandergefügte Funktionseinheiten. Mit den in den Grundriss der Küche eingezeichneten Linien, die zwischen Herd und Spüle hin- und herführen, ist ein normierter weiblicher Körper gemeint. Dieser belehrte und darum funktionierende Haushaltskörper ist es auch, der im Film zum schön gedeckten Tisch ausschnitthaft dabei zu sehen ist, wie er geübt vollzieht, was die von ihm separate Stimme anordnet. Während das weiße Porzellangeschirr und die glänzenden Besteck-

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Johanna Hartmann teile sich deutlich von den vielen textilen Oberflächen in den gefilmten Räumlichkeiten abheben, verschmilzt die Figur in Kleid und Schürze optisch fast mit den Tischdecken, Vorhängen und Teppichen; die Hände der Frau streichen am Tischtuch wie am eigenen Kleid hinunter. (Abb. 2) Ihr Körper erscheint immer nur für Momente und immer fragmentiert zwischen den Dingen des Wohnens; es ist ein Körper, der im Auflegen der Geschirre nur so viel Platz im Bild erhält, wie diese ihm lassen. Es ist ein unablässiges Zurechtrücken, Ausrichten, Anordnen, das sowohl die Dinge als auch die Subjekte des Wohnens meint. Gemeinsam mit den Bildern, die die Wohnung ähnlich der Stadt als Plan erfahrbar machten, lieferten die Wohnlehrmedien beispielhafte Skripte von Raumordnungen und Subjektbeziehungen. Das Einfügen der BetrachterInnen in die zur Schau gestellten Wohnungen, sowohl in den Ausstellungen als auch den Bildern und Texten davon, war ein deutlich körperlich gedachtes Einfügen, bei dem es nicht nur darum ging, die moderne Wohnung mit modernen Möbeln zu füllen, sondern auch mit modernen Wohnsubjekten und ebensolchen Körpern, die sich zurechtfanden in den Ordnungen dieser Wohnungen, im Umgang mit den Möbeln, Dingen und Geräten. Die präsentierten Pläne enthielten „aufgelockerte“ Städte, „durchdachte“ Wohnungen, „zweckmäßige“ Möbel, „formschönes“ Geschirr und zugleich immer auch das soziale Gefüge und die Biopolitik der hineingeplanten BewohnerInnen.

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Greg Castillo

Das „ausgestellte“ Haus und seine politische Rolle im Kalten Krieg in Deutschland In einer 1951 von dem Soziologen David Riesman veröffentlichten fiktiven Komödie kommt es zu amerikanischen Luftangriffen, bei denen keine Bomben vom Himmel fallen, sondern Konsumgüter. Als er zum Auftakt die UdSSR mit Nylonstrümpfen bombardieren lässt, sprechen die von Riesman ebenfalls frei erfundenen Reporter nur noch vom „Nylonkrieg“. Die Strategie war genial und hinterhältig zugleich; dem ersten Luftangriff am 1. Juni gingen jahrelange geheime und komplizierte Vorbereitungen voraus, die sich allerdings auf eine Idee von entwaffnender Einfachheit stützten: Versetzte man das russische Volk in die Lage, die Reichtümer Amerikas zu testen, würde es ein Regime, das ihm anstelle von Staubsaugern und Schönheitssalons Panzer und Spitzel vorsetzte, nicht lange dulden. Wollten sich die russischen Machthaber also nicht den wachsenden Unmut der Bevölkerung zuziehen, bliebe ihnen auf Dauer nichts anderes übrig als Konsumgüter zu produzieren. Riesman lässt den Krieg mit einer neuen Sowjetpolitik enden, die die staatlichen Ressourcen strapaziert, um den BürgerInnen zu ermöglichen, sich als VerbraucherInnen zu emanzipieren. „[T]he Russian people, without saying so in as many words, are now putting a price on their collaboration with the regime. The price – ‚goods instead of guns‘.“ (Riesman 1964, S. 67–73) Nicht einmal zehn Jahre später sollte sich zeigen, dass Riesmans Satire fast schon prophetischen Charakter hatte. Im Spätsommer 1959 konnte sich die russische Öffentlichkeit bei der „Amerikanischen Nationalausstellung“ in Moskau erstmals ein Bild vom berühmten „American Way of Life“ machen. Die Auswahl von Exponaten US-amerikanischer Hochkultur ging in einer spektakulären Flut von Kosmetika, Kleidungsstücken, Fernsehapparaten, Küchen, Reihenhäusern, Limonaden, Versandhauskatalogen, Fertiggerichten, Kanus, Segelbooten und Automobilen unter. Als der sowjetische Ministerpräsident Nikita Chruschtschow die Ausstellung

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Das „ausgestellte“ Haus und seine politische Rolle im Kalten Krieg in Deutschland am Eröffnungstag besuchte und sich vor laufender Kamera einer Debatte mit seinem Gastgeber, dem Vizepräsidenten der USA Richard Nixon, stellte, wirkte er sichtlich gereizt. Chruschtschow erklärte, dass Amerika keinen Exklusivanspruch auf fortschrittliche Haushaltstechnologien habe. „In sieben Jahren sind wir auf dem gleichen Niveau wie Amerika. Sobald wir euch eingeholt haben, werden wir an euch vorbeiziehen und euch winken.“ (Chruschtschow zit.  n. Taubman 1993, S. 427) Vollends die Fassung verlor der sowjetische Ministerpräsident, als er mit einer vollelektrischen, zitronengelben Küche von General Electrics konfrontiert wurde. Sie provozierte ihn zu der grotesken Behauptung, dass „alle Wohnungen bei uns so ausgestattet sind“.1 Die amerikanischen Hochglanzgeräte stellten ganz offensichtlich mehr dar als nur häusliche Annehmlichkeiten: Sie waren auch ideologisch besetzt und dienten der Beweisführung in einem Disput der Supermächte über Bürgerrechte, Hausarbeit und Gleichstellung der Geschlechter sowie über die Ökonomie des Massenkonsums und geplanten Produktverschleißes. Ein sowjetischer Besucher schrieb ins Gästebuch: „Ein solches Haus würde ich bei erster Gelegenheit kaufen.“ (Zit.  n. Hixson 1998, S. 167) Unter den Zetteln, die die BesucherInnen den Russisch sprechenden amerikanischen MuseumsführerInnen zusteckten, fand sich der folgende: „Wenn die Ausstellung den ‚American Way of Life‘ darstellt, dann sollten wir die amerikanische Lebensweise übernehmen.“ (Zit.  n. ebd., S. 198) In einer offiziellen Verlautbarung erklärte die US-Regierung die Moskauer Ausstellung zum „most productive single psychological [warfare] effort ever launched by the US army in any communist country“ (ebd., S. 179, 198–210). Auch wenn die HistorikerInnen den Beginn der Kalten Kriegsführung mit Haushaltsgegenständen üblicherweise mit der Moskauer Küchendebatte von 1959 ansetzen, waren Vorstadthäuser und ihre Ausstattung im geteilten Deutschland schon viel früher in das amerikanische Propagandaarsenal eingegangen. So bestand der Zweck der seit 1950 in Westberlin veranstalteten Wohnausstellungen darin, BürgerInnen beider deutscher Staaten mit dem Gesellschaftsvertrag des US-Marshallplans

1  Hans N. Tuch weist darauf hin, dass keine wortwörtliche Aufnahme des Gesprächs zwischen Chruschtschow und Nixon existiert und Zitate wie dieses das wiedergeben, was Journalisten bezüglich des gedolmetschten Gesprächs mitgeschrieben haben (vgl. Tuch 1990, S. 63). Der Autor zitiert hier aus den englischen Übersetzungen der Zitate, die für diesen Text ins Deutsche übersetzt wurden.

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Greg Castillo zu konfrontieren, für den ein steigender Privatkonsum gleichbedeutend war mit einer effektiven Nachkriegsregierung. Die Traumwohnungen, die im Kalten Krieg von den Behörden des US-Außenministeriums in Deutschland ausgestellt wurden, waren Versuchslabore für die Propagandastrategien, die knapp zehn Jahre später in Moskau zur Anwendung gelangen sollten. In Nachkriegsdeutschland führte die amerikanische Besatzungsmacht ihren Kulturkampf an zwei Fronten. Europäische Intellektuelle sahen in den Vereinigten Staaten die Quelle „[of] a primitive, vulgar, trashy Massenkultur, which was in effect an Unkultur, whose importation into postwar Europe had to be resisted“, so der Historiker Volker Berghahn (Berghahn 2001, S. xvii). Die sowjetische Propaganda, die zweite Front des kulturellen Kalten Kriegs Amerikas, stellte die USA als ein militärisches, von Parvenüs regiertes Imperium dar und bediente damit ihrerseits die Vorurteile der europäischen Intellektuellen. Auf dem Spiel stand freilich viel mehr als bloßer Nationalstolz. Die Verachtung der amerikanischen Konsumkultur unterwanderte den im Marshallplan vorgesehenen Wiederaufbau Nachkriegseuropas, der sich auf die fordistische Verknüpfung einer emanzipierten industriellen Arbeiterschaft mit einer hochentwickelten Massenanfertigung und dem Anreizsystem eines bezahlbaren Massenkonsums stützte. Oder wie es Paul G. Hoffman, der frühere Aufsichtsratsvorsitzende des Studebaker-Konzerns und Leiter des europäischen Wiederaufbaus im Rahmen des Marshallplans formulierte: „Today’s contest between freedom and despotism is a contest between the American assembly line and the Communist Party line.“ (Hoffman 1951, S. 87) Die dem Marshallplan zugrunde liegende Intention, einen europäischen Konsumwunsch zu entfesseln, führte zu einer grundlegenden Neudefinition von Franklin D. Roosevelts „Vier Freiheiten“, indem aus der „Freiheit von Not“ (freedom from want) die „Freiheit, haben zu wollen“, (freedom to want) wurde. In einem Bericht des amerikanischen Militärgeheimdiensts aus dem Jahr 1947, der sich eingehend mit der sowjetischen Propaganda und ihrer Verhöhnung des „American Way of Life“ befasste, empfahlen die Militärexperten den USA eine Gegenkampagne, in deren Mittelpunkt die Themen „American living standards“ und „try it our way“ stehen sollten (o.  V. 1947). Im Frühjahr 1948 unternahm die amerikanische Militärverwaltung in Frankfurt einen ersten Versuch, amerikanisches Konsumverhalten mit Antikommunismus zu verknüpfen. Mit der Gestaltung der

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Das „ausgestellte“ Haus und seine politische Rolle im Kalten Krieg in Deutschland Schau wurde Peter Harnden beauftragt, der Leiter des Ausstellungsprogramms der höchsten Verwaltungsbehörde OMGUS (Office of Military Government, United States). Harnden hatte in Yale Architektur studiert und sich während des Kriegs für eine Karriere beim Militärgeheimdienst entschieden. Joost Schmidt, ein ehemaliger Bauhauslehrer, wurde zum Chefdesigner der OMGUS-Ausstellungen ernannt und präsentierte Fotografien von Architekturklassen aus Harvard, von der Columbia University und vom MIT auf großflächigen Wandtafeln. „So wohnt Amerika“ wurde im August 1949 in Frankfurt eröffnet. Doch trotz eines Staraufgebots an gestalterischem Talent fielen die Besucherzahlen bescheiden aus. Mit Fotografien und maßstabgetreuen Modellen der Häuser ließ sich die deutsche Öffentlichkeit nicht ködern. Donald W. Muntz, Direktor des U.S. Information Center in Frankfurt, erkannte das Problem: „If real honest-to-god electric stoves, refrigerators and deep-freeze units had been on hand, the general attendance figures would have been astronomic.“ (Muntz 1949) Der nächste Schritt in der immer massiver betriebenen Wohnpropaganda sollte ein vollständig eingerichtetes Vorstadthaus sein, um den amerikanischen Wohlstandsstil anschaulich zu machen. Im Oktober 1950, als in der DDR die ersten Wahlen zur Volkskammer abgehalten wurden, eröffnete in Westberlin auf der ersten „Deutschen Industrie-Ausstellung“ „Amerika zu Hause“. Die von Harnden kuratierte Ausstellung im George-Marshall-Haus, einem mit US-Mitteln erbauten ständigen Messepavillon, pries die Zusammenarbeit zwischen amerikanischen Gewerkschaften und Industriekaufleuten und ihre mit vereinten Kräften erreichte Produktivitätssteigerung. Die Früchte dieser Zusammenarbeit waren neben dem Marshall-Haus zu sehen: Ein Einfamilienhaus, dessen Fertigteile eigens aus Minneapolis nach Berlin verschifft und von deutschen Tischlern, die rund um die Uhr in Schichten gearbeitet hatten, in nur fünf Tagen zusammengebaut worden waren – eine Leistung, die demonstrieren sollte, wie sich Amerikas Produktivität und harmonische Arbeitsbeziehungen auch zum Vorteil der EuropäerInnen auswirken könnten. Das kleine amerikanische Heim hatte kaum seine Pforten geöffnet, als es von den BesucherInnen gestürmt wurde. Der Andrang war so groß, dass die Polizei an der Vorder- und Hintertür Wachposten aufstellte und nur noch Gruppen von jeweils zehn Personen eingelassen wurden, um die Fußbodenbalken nicht übermäßig zu belasten. Die Inneneinrichtung wurde von Bernard Wagner zusammengestellt, einem Deutsch sprechenden Architekten der U.   S. Home and Housing

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Greg Castillo Financing Agency (amerikanische Wohnbaufinanzierungsbehörde) und Sohn von Harvardprofessor Martin Wagner, der im Berlin der Weimarer Republik als Stadtbaurat Berühmtheit erlangt hatte. Die Führungen erfolgten durch junge Amerikanistikstudentinnen der neuen Westberliner Freien Universität, die Informationen über „Haushaltswunder wie die elektrische Waschmaschine, den beleuchteten E-Herd, den Staubsauger, den Mixer, den Toaster usw.“ (Shinkman 1950) weitergaben. Während der zweiwöchigen Dauer der Ausstellung wurden 43.000 BesucherInnen gezählt – ein Drittel davon aus Ostberlin. Die Anzahl der TouristInnen aus dem Osten überraschte bei den US-Behörden niemanden: Sie war von Anfang an Teil der Ausstellungsstrategie gewesen. Bis zum Bau der Mauer 1961 war Berlin eine offene Stadt; die Marshallplan-Beamten hatten die Eröffnung der Schau terminlich so angesetzt, dass sie mit den Wahlen in der DDR und dadurch mit einem arbeitsfreien Tag zusammenfiel. Außerdem lieferten die für BesucherInnen aus der DDR ermäßigten Eintrittskarten nicht nur einen Anreiz, sondern ermöglichten dem State Department auch, ihren zahlenmäßigen Anteil nachzuvollziehen. Es beschrieb „Amerika zu Hause“ als „a gratifying demonstration of what can be accomplished in selling the American democratic way of life from the Berlin ‚showcase‘ behind the iron curtain“ (ebd.). Als finalen PR-Gag wollte der amerikanische Hochkommissar John McCloy am letzten Tag der „Deutschen Industrie-Ausstellung“ eine Tombola veranstalten, bei der das Modellhaus verlost werden sollte. In Washington fürchtete der amtierende Außenminister jedoch „[the] possibility [of the] house falling into undesirable hands“ (Webb 1950). Anstatt das Haus als „living monument to American life in Berlin“ an einen neuen Standort zu verlegen, wurde es von den US-Behörden abgerissen (McCloy 1950). Das Traumheim war also in das Arsenal der Kalten Kriegsführung eingegangen und musste wie jede andere strategische Waffe vor unbefugtem Einsatz bewahrt werden. Der ideologisch umkämpfte Markt im geteilten Berlin prägte Amerikas bislang ehrgeizigste Wohnausstellung „Wir bauen ein besseres Leben“, die im September 1952 von der Mutual Security Agency (MSA), einer Nachfolgebehörde des Marshallplans, im Westberliner Marshall-Haus präsentiert wurde. Thematisch widmete sie sich dem höheren Lebensstandard, der sich durch eine steigende industrielle Produktivität und die wirtschaftliche Integration „der Völker der Atlantischen Gemeinschaft“ erreichen ließe. Der Titel war eine bewusste Anspielung

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Das „ausgestellte“ Haus und seine politische Rolle im Kalten Krieg in Deutschland auf das DDR-Mantra „Mehr produzieren – besser leben“, den offiziellen Slogan, mit dem „die Arbeitsaktivisten“ motiviert werden sollten, durch die Übernahme der in der UdSSR entwickelten Hochgeschwindigkeitstechniken die Produktivität zu steigern. Die Parteifunktionäre versprachen, dass mit freiwilliger Überproduktion und Akkordlöhnen kollektiver Überfluss geschaffen werden könne. Auf der „Deutschen Industrie-Ausstellung“ von 1952 versuchte die amerikanische Präsentation, diese Wirtschaftslogik zu widerlegen. Die Hauptattraktion von „Wir bauen ein besseres Leben“ war ein Haus in einem Haus: ein Einfamilienhaus, das sich im Inneren des Marshall-Haus-Messepavillons befand. (Abb. 1)

Abb. 1  Das wie beiläufig vor der Haustür des Modellheims von „Wir bauen ein besseres Leben“   abgestellte Kajak war nur eines von vielen Artefakten, die einen Eindruck vom künftigen Lebensstil der   westeuropäischen VerbraucherInnen vermitteln sollten.

Ebenfalls von Harnden kuratiert, war das Vorstadtheim von der Kücheneinrichtung bis hin zu den Gartengeräten vollständig ausgestattet, verfügte jedoch über kein Dach. Die gesamte Einrichtung entsprach einem

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Greg Castillo modernistischen Design und war in den Mitgliedsländern des Marshallplans hergestellt und großteils von Knoll International geliefert worden; damit sollte demonstriert werden, dass „zweckmäßig gestaltete Produkte aus den unterschiedlichen Ländern der Atlantischen Gemeinschaft auf harmonische Weise kombiniert werden können“ und „sich auch die Nationen wie diese Gegenstände, die sich zu einem homogenen Ganzen zusammenfügen, zu einer homogenen Gemeinschaft vereinen können“ 2 (o.  V. 1952). Vor dem Modellheim parkten ein Fahrrad, ein Motorrad, ein Motorroller und ein Volkswagen (er wurde aufgrund seines „Appells an den Lokalstolz“3 ausgewählt). Ein Memorandum des State Department räumte ein, dass „viele der im Haus gezeigten Gegenstände (Kühlschrank, automatischer Geschirrspüler, Fernsehapparat usw.) für den deutschen Durchschnittshaushalt nach wie vor unerschwinglich sind“4 (Lyon 1952). Und obwohl „die Skeptiker unter den Besuchern das Gefühl hatten, sie durchschritten einen nicht realisierbaren utopischen Raum“, so die BeobachterInnen der MSA, „wirkten gerade die jungen Leute am enthusiastischsten, da sie offenbar ahnten, dass eine solche Atlantische Gemeinschaft noch im Laufe ihres Lebens Wirklichkeit werden könnte“5 (HICOG 1953). Das Modellheim, ein Bühnenbild für das häusliche Leben „eines durchschnittlichen Facharbeiters und seiner Familie“, wurde von einer Modellfamilie bewohnt – und zwar buchstäblich. Die Hausfrau, ihr Ehemann und die beiden Kinder wurden von SchauspielerInnen und professionellen Models dargestellt, die eigens dafür engagiert waren, die im Haushalt anfallenden Arbeiten zu verrichten und die Freizeitrituale eines Verbraucherwunderlands aufzuführen. Auf einem Schild neben der Eingangstür stand: „Die Gegenstände in diesem Haus sind Industrieprodukte. Sie kommen aus vielen Ländern der Atlantischen Gemeinschaft.

2  Im englischen Original: „[…] rationally designed products from different countries in the Atlantic community can be combined harmoniously“, und „just as these items from the various countries combine to form a homogeneous whole, so the nations themselves can combine to form a homogeneous community“ (o.  V. 1952). 3  Im englischen Original: „direct appeal to local pride“ (Lyon 1952). 4  Im englischen Original: „[…] many of the items in the house (refrigerator, automatic dishwasher, television set, etc.) are still beyond the average German budget.” (Lyon 1952). 5  Im englischen Original: „[…] skeptical persons felt that they were wandering through an unrealizable utopian realm”, und „[…] young people seemed the most enthusiastic, since apparently they felt that the possibility of such an Atlantic Community might still be within the bounds of their life span” (HICOG 1953).

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Das „ausgestellte“ Haus und seine politische Rolle im Kalten Krieg in Deutschland Dank technischer Kenntnisse, Erhöhter Produktivität, Wirtschaftlicher Zusammenarbeit, Freiem Unternehmertum stehen die Gegenstände in diesem Haus unserer westlichen Zivilisation zur Verfügung.“ In einem Ausguck über dem Modellheim saß ein ganz in Weiß gekleideter Erzähler, der das Zusammenspiel der Familie mit ihrer häuslichen Einrichtung beschrieb. Die BesucherInnen wurden zu VoyeurInnen, die durch die Fenster oder von einem erhöhten Laufsteg aus zusahen, wie mit modernen Objekten neue Nachkriegssubjekte konstruiert wurden. Unter Hinweis auf die Eröffnungsansprache eines MSA-Beamten schrieb der Sekretär des Deutschen Werkbunds Heinrich König in der Zeitschrift „Architektur und Wohnform“, dass dieses Heim eines durchschnittlichen Verbrauchers für manche BesucherInnen fälschlicherweise amerikanisch anmuten würde, obwohl sich in Wirklichkeit sowohl ein John Smith als auch ein Hans Schmidt in solches Haus leisten könne, sobald die Voraussetzungen einer Atlantischen Gemeinschaft – insbesondere die Abschaffung der Zollgebühren und eine gesteigerte Industrieproduktion, die höhere Löhne und niedrigere Preise bringen sollte – Wirklichkeit geworden seien (König 1952, S. 87). Zu einem Zeitpunkt, als noch rund ein Drittel der 15 Millionen Haushalte des Landes von Witwen oder geschiedenen Frauen geführt wurden, entsprach das Modellheim einer spekulativen Sozialfiktion, die über die Dreiecksverbindung von suburbanem Wohnbau, Konsumgütern und Kernfamilie eine westliche Nachkriegszukunft skizzierte (Moeller 1997, S. 112). Den Abschluss der Ausstellung bildete eine Möbelgalerie, auf die mit dem fast lebensgroßen Foto eines männlichen Arbeiters mit der Aufschrift „Dieser Mann ist Arbeiter und gleichzeitig Verbraucher“ hingewiesen wurde. (Abb.   2) Bedenkt man die Geschlechterkonventionen der 1950er Jahre, wonach die Gestaltung des Heims nach wie vor Aufgabe der Frauen war, machte die Tafel die BesucherInnen auf ein für Männer und Frauen gleichermaßen wichtiges Thema der Ausstellung aufmerksam und erinnerte zugleich daran, dass den ArbeiterInnen in einer stalinistischen Arbeitsökonomie dieser materielle Lohn verwehrt blieb. In diesem letzten Bereich konnten alle im Modellheim ausgestellten Einrichtungsgegenstände aus nächster Nähe und wie mit den Augen von KäuferInnen betrachtet werden. Jeder Gegenstand war mit einem kleinen Schild versehen, auf dem das Herkunftsland, sein Einzelhandelspreis und die Anzahl der – am Lohn eines Facharbeiters gemessenen und für den Kauf des Produkts erforderlichen – Arbeitsstunden angegeben waren.

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Greg Castillo

Abb. 2  Die zweite Galerie in „Wir bauen ein besseres Leben“ mit modularen Regalen von Eames, Butterfly-   Stühlen von Jorge Ferrari-Hardoy um einen Tisch von Florence Knoll, Polsterstühlen von   Hans Wegner und einem Schlafzimmerschrank von Florence Knoll. Tafeln mit der Aufschrift „Wir besitzen   die höchste Lebenshaltung der Welt“ und „Wir besitzen umfassendes Wissen und Können“ wiesen   auf die Marshallplan-Gemeinschaft hin.

Diese scheinbar arglose Berechnung der Kaufkraft griff in Wirklichkeit einen wesentlichen kommunistischen Grundsatz an: Marx hatte anhand des Begriffs vom Wert der Arbeitskraft die kapitalistische Produktion und Umverteilung als Ausbeutung definiert. Der Profit, so seine These, ist der unbezahlte Wert der Arbeit, den sich die Unternehmer aneignen, sobald die Produkte im Einzelhandel verkauft werden. Ein Jahrhundert später definierten die amerikanischen Ausstellungsplaner den Wert der Arbeit auf radikale Weise neu, indem sie ihn als die Menge an Arbeit bezeichneten, die nötig war, um ein Produkt erwerben zu können (und nicht, um es herzustellen), und wandelten das, was als Beweis für Ausbeutung gegolten hatte, in einen Maßstab des kapitalistischen Anreizsystems um. Zu einer Zeit, als Haushalte in der BRD 58 Prozent ihres Einkommens und damit mehr als das Doppelte des durchschnittlichen US-Haushalts für Nahrungsmittel ausgaben, wurde mit „Wir bauen ein besseres Leben“ eine entscheidende Maxime der Kalten Kriegspropaganda der USA vorangetrieben: Im Unterschied zum sozialistischen Osten sei der kapitalistische Westen demnächst in der Lage, eine Kultur des Massenkonsums zu schaffen (Gries 2007, S. 310).

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Das „ausgestellte“ Haus und seine politische Rolle im Kalten Krieg in Deutschland Die Offensive der USA mit dem Modellheim in Westberlin stachelte die Führung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in Ostberlin dazu an, in Aktion zu treten. Am 17. November 1953, auf den Tag genau fünf Monate nach dem Aufstand des 17. Juni, der die Hauptstadt lahmgelegt und die SED in arge Bedrängnis gebracht hatte, widmeten sich der Generalsekretär der Partei Walter Ulbricht und die Deutsche Bauakademie der drängenden Frage des sozialistischen Innendesigns. Im Haus der Ministerien, vor dem sich die aufgebrachten ArbeiterInnen versammelt und den Rücktritt des Regimes gefordert hatten, fand parallel zur Ausstellung „Besser leben – schöner wohnen!“ eine nationale Konferenz statt, die sich mit den „großen Aufgaben der Innenarchitektur beim Kampf um eine neue deutsche Kultur“ (Ulbricht 1952) befassen sollte. Der Öffentlichkeit, so die Bauakademie, sollte vermittelt werden, dass „die Maschinenmöbel im Bauhausstil der Feind Nummer Eins“ seien, unmittelbar gefolgt von „Eklektizismus“ und „Kitsch“, dem „Feind Nummer Zwei“ (Deutsche Bauakademie 1953a). Unterteilt in drei didaktische Installationen und in einem vorübergehend auf dem Ostberliner Alexanderplatz errichteten Pavillon untergebracht, enthielt „Besser leben – schöner wohnen!“ eine Installation zum Thema „kulturelles Erbe“, die sich aus antiquarischen Möbeln im Stil der Gotik, der Renaissance, des Barock und des Neoklassizismus zusammensetzte. (Abb. 3)

Abb. 3  Zur Veranschaulichung des Konzepts „Schreckenskammer“ im Ausstellungskatalog von „Besser leben – schöner wohnen!“ verwendete die Deutsche Bauakademie dieses Foto vom Gästezimmer einer westdeutschen   Privatwohnung, das ursprünglich im westdeutschen Magazin „Architektur und Wohnform“ erschienen war.

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Greg Castillo Ein zweiter Abschnitt, in dem 30 Möbelgarnituren im neo-traditionellen Stil ausgestellt waren, sollte die stilistischen Kontinuitäten zu den Objekten des „kulturellen Erbes“ herstellen. Und schließlich leitete ein Schild, auf dem zu lesen war, dass Formalismus und Kitsch nur den menschenfeindlichen Interessen und den „Kriegshetzen“ des Imperialismus dienten, einen dritten Bereich ein, der in den Planungsunterlagen der Akademie als die „Schreckenskammer“ figurierte (ebd.). Mit ihrer Sammlung aus „reaktionären“ modernistischen Objekten sollten der Stellenwert realsozialistischer häuslicher Schönheit hervorgehoben und die in die Irre geführten AnhängerInnen der Marshallplan-Moderne und des Bauhausdesigns auf den rechten Weg zurückgeführt werden. Im Ausstellungskatalog von „Besser leben – schöner wohnen!“ wird das Konzept der Schreckenskammer mithilfe mehrerer Fotografien veranschaulicht. Auf einem ist ein mit Stahlrohrmöbeln von Mart Stam gestalteter Wohnraum der Stuttgarter Weißenhof-Ausstellung von 1927 zu sehen. Zwei weitere zeigen Beispiele zeitgenössischer moderner Interieurs: Ein Werbeplakat, auf dem der Schauraum von Knoll International in Manhattan abgebildet ist (fälschlicherweise als „New Yorker Wohnzimmer“ bezeichnet) und ein Foto von einem mit Möbeln von Hans Knoll und seinem amerikanischen Hauptkonkurrenten Herman Miller eingerichteten modischen westdeutschen Heim (Liebknecht 1954, S. 7). Das zweite Bild war ursprünglich in der westdeutschen Zeitschrift „Architektur und Wohnform“ erschienen und gehörte zu einem Fotoessay, mit dem ein Leitartikel über die Westberliner Ausstellung „Wir bauen ein besseres Leben“ illustriert worden war. Die Propagandisten in der DDR kannten ihre Gegenspieler auf der anderen Seite der Grenze also nicht nur, sondern sie traten auch in einen direkten Dialog mit ihnen (Holder 1952/53, S. 86). In einer öffentlichen Stellungnahme bedankte sich die Bauakademie für die „großzügige Unterstützung der Regierung der UdSSR“ (Liebknecht 1954), um „Besser leben – schöner wohnen!“ in die Tat umzusetzen. Die Schreckenskammer hatte mit der sowjetischen Ausstellungspraxis der Nachkriegszeit freilich wenig zu tun. Im Fahrwasser der sogenannten Schdanowschtschina, einer von dem hochrangigen Politbüromitglied Andrei Schdanow 1947 initiierten repressiven Kulturpolitik, die sich gegen jede Form des kulturellen Abweichlertums richtete, ließen sowjetische KuratorInnen Objekte, die den realsozialistischen ästhetischen Normen zuwiderliefen, lieber für immer im Depot verschwinden. Aus den Augen, aus dem Sinn, lautete in den 1950er Jahren die goldene

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Das „ausgestellte“ Haus und seine politische Rolle im Kalten Krieg in Deutschland Regel der sowjetischen Museen. Die Schreckenskammer der Ostberliner Bauakademie hatte jedoch zahlreiche Vorläufer. 1933 stellte der von den Nazis „gleichgeschaltete“ Deutsche Werkbund zwei Wohnzimmer nebeneinander aus: Das eine bestand aus einem Sammelsurium aus Möbeln und billigem politischen Devotionalientand, während das andere den spärlich und würdevoll eingerichteten Hort „germanischen“ Gepräges repräsentierte (Betts 2004, S. 32ff.). Auf diese Zurschaustellung häuslicher Gegensätze folgte vier Jahre später die Münchner Ausstellung „Entartete Kunst“, die den Begriff „Schreckenskammer“ als Naziphänomen in die Kunstgeschichte der Nachkriegszeit eingehen ließ. Eine mögliche Erklärung für diese unappetitliche Verquickung einer vor und nach dem Krieg postulierten Antimoderne könnte das von der Bauakademie intern publizierte Magazin „Studienmaterial“ sein, in dem Übersetzungen russischer Texte zur „marxistisch-leninistischen Ästhetik“ erschienen: In einem 1953 veröffentlichten Artikel der Bildhauerin und Stalinpreisträgerin Wera Muchina wird die amerikanische Kunstszene als ein „Gangstertum, dem alles erlaubt ist“, beschrieben. Die Überschrift wurde mit „Entartete amerikanische Kunst“ übersetzt (Muchina 1953, S. 23f.). Möglicherweise hatte eine vermeintliche sowjetische Billigung der bildlichen Darstellung kultureller Degeneration die Veranstalter dazu inspiriert, die Schreckenskammer wiederzubeleben und als Abwehrtaktik gegen eine drohende kulturelle Kontaminierung mit der Marshallplan-Moderne einzusetzen. Unter Hitler wurde der angeblich vergiftende Einfluss der Moderne als jüdisch bzw. bolschewistisch denunziert. 15 Jahre später, in der stalinistischen DDR, war er amerikanisch und kapitalistisch geworden. Westdeutsche BesucherInnen von „Besser leben – schöner wohnen!“ dürften die Kennzeichen sozialistischen Wohnens – aufeinander abgestimmte Furniere, applizierte Rosetten und Anstriche mit Hochglanzlack – erstaunlich bürgerlich gefunden haben. (Abb. 4) Es war aber gerade dieser Sprung vom bürgerlichen zum proletarischen Gebrauch, der das stalinistische häusliche Ideal prägte. In den 1930er Jahren ging das russische Wort „kul'turnost'“, bzw. „Kultiviertheit“, in den allgemeinen Sprachgebrauch über, um „the complex of behaviors, attitudes and knowledge that ‚cultured‘ people had, and ‚backward‘ people lacked“ zu bezeichnen (Fitzpatrick 2000, S. 79f.). Vorhänge, Lampenschirme und Tischtücher galten als totemistische „kul'turnost'“-Artefakte, welche die Umwandlung grobschlächtiger Bauern in geschliffene und disziplinierte Arbeiter markierten (Dunham 1976, S. 41–54). Die im Stalinismus erfolgte Reha-

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Greg Castillo bilitierung von Objekten und Verhaltensweisen, die einst als „bürgerlich“ gegolten hatten, sorgte allerdings auch dafür, dass die Vorlieben für die Moderne und das ruppige Benehmen der ersten Generation bolschewistischer Revolutionäre nicht nur als obsolet, sondern auch als aufrührerisch angesehen wurden. Ulbricht und sein Umfeld aus deutschen KommunistInnen hatten den Begriff „kul'turnost'“ im sowjetischen Exil assimiliert. Auf Deutschland übertragen, ließ sich „kul'turnost'“ problemlos mit dem Begriff Bildung verbinden und folglich mit intellektueller und kultureller Entwicklung konnotieren. Ulbrichts Biografen machten aus seinem Leben eine Fallstudie dieser Verlagerung. Zwar schweigen sich die offiziellen Biografien über Ulbrichts Tischlerlehre aus, doch sobald von seiner in jungen Jahren unternommenen Italienreise die Rede ist, schwingen sie sich zu lyrischen Höhenflügen auf. Die Autoreise des künftigen Parteivorsitzenden wird als proletarischer Bildungsroman erzählt und spart nicht mit Hinweisen auf Goethes Mittelmeerreise (Thomas/Vieillard/ Berger 1958, S. 14). Insofern waren die in „Besser leben – schöner wohnen!“ ausgestellten Inneneinrichtungen Ausdruck einer ähnlichen von Bildung und „kul'turnost'“ eingegangenen Synthese und beschworen ein Leben herauf, das vom Ritual des Abendessens im Kreis der Familie und einer schicklich mit stiller Lektüre und Weiterbildung verbrach-

Abb. 4  Die Studierecke des sozialistischen Traumheims wurde mit neuen neo-klassizistischen   Prototypen eines Designkollektivs der VVB Sachsenholz eingerichtet und war 1953 in der Ausstellung   „Besser leben – schöner wohnen!“ zu sehen.

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Das „ausgestellte“ Haus und seine politische Rolle im Kalten Krieg in Deutschland ten Freizeit bestimmt war – Lebensstilideale, wie sie in der UdSSR in den 1930er Jahren zelebriert worden waren. Mit der realsozialistischen Wohnungseinrichtung konnten sich die BürgerInnen der DDR in die von der SED vorgenommene Kolonisierung des Alltags ‚einkaufen‘; sie war eine Form des von oben geleiteten Konsums und trug durch die Durchdringung der Privatsphäre mit Schablonen vom idealen Verhalten zur stalinistischen Identitätspolitik bei (Kelly/Volkov 1998, S. 300). Der Traum von der mit neoklassizistischer Schönheit überfrachteten Arbeiterklassewohnung in der DDR sollte jedoch eine Fata Morgana des Ausstellungspavillons bleiben. In der „Berliner Zeitung“ war damals zu lesen: „3375 Mark wird die Mehrzahl der Werktätigen nicht ausgeben können, wenn ihnen das von der Deutschen Bauakademie entworfene Schlafzimmer [...] noch so gut gefällt.“ (o.  V. 1953) Bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen einer vierköpfigen Familie von rund 390 Mark war die realsozialistische Schönheit in der Tat ein Luxus, den sich nur wenige in der DDR leisten konnten. Ob sie diese Art von Luxus überhaupt wollten, stand ohnehin auf einem anderen Blatt. Den insgesamt 67.727 BesucherInnen der Ausstellung wurde ein Fragebogen ausgehändigt, den knapp 5 Prozent beantworteten. Um sich zusätzlich zu den Umfragedaten ein Bild zu machen, wanderten die Mitglieder der Bauakademie durch die Räumlichkeiten und hörten heimlich den Gesprächen der BesucherInnen zu. Das Ergebnis war entmutigend. Aus den Antworten auf den Fragebögen und den belauschten Gesprächen ging deutlich hervor, dass die Schreckenskammer zum Bumerang geworden war. Anstatt auf die „formalistischen“ Interieurs mit Abscheu zu reagieren, gefielen sie sieben von acht Befragten am besten. Schlimmer noch, die Hauptkritik an den „degenerierten“ Objekten bezog sich auf ihre limitierte Verfügbarkeit im Einzelhandel. Die Funktionäre der Bauakademie bemühten sich, die unerwünschten Rückmeldungen damit abzutun, dass BürgerInnen der DDR beim Anblick moderner Lampen und modularer Schrankbausysteme nur deren funktionelle Nützlichkeit in Betracht zögen (Deutsche Bauakademie 1953b). Die positiven Reaktionen wurden auf die beengten Wohnverhältnisse der Nachkriegszeit zurückgeführt, eine Situation, die behoben wäre, sobald größere Wohnungen zur Verfügung stünden – so wurde jedenfalls behauptet. Nach Stalins Tod im Jahr 1953 führten die sozialistischen Staatswirtschaften in ganz Osteuropa ein „neues ökonomisches System der

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Greg Castillo Planung und Leitung“ ein und versprachen radikale Verbesserungen im Wohnbau und bei der Versorgung mit Konsumgütern: Bedingungen, die von Chruschtschow bald darauf als Voraussetzungen für die Realisierung des Kommunismus genannt wurden. Tatsächlich übernahm er den im Marshallplan postulierten Gesellschaftsvertrag, der mittels eines staatlich gestützten Programms der Verbraucheranreize den BürgerInnen Rechte als KonsumentInnen zugestand. In den ersten Jahren des „Tauwetters“ gab es auch wirklich erste Anzeichen für einen poststalinistischen Bürger – den sozialistischen Massenkonsumenten. Dieser neue Typus sozialistischer Subjektivität war jedoch nicht einfach das Produkt einer ‚von oben‘ verordneten Revolution, sondern vielmehr ein Werk des gesamten Ostblocks. Ein frühes Beispiel, von dem im DDR-Werbemagazin „Neue Werbung“ berichtet wurde, ereignete sich im damals tschechoslowakischen Pilsen/Plzeň – wo wie in Ostberlin im Juni 1953 gegen die Sparmaßnahmen protestiert worden war. Vier Jahre danach inszenierte ein im Zentrum der Stadt gelegenes Kaufhaus eine ‚Schaufensterpantomime‘ mit dem Titel „Ein Tag daheim“. Diese „neue Formen der sozialistischen Werbung“ setzten echte Menschen ein, um „eine reale Schilderung eines Tagesablaufs im Haushalt mit gleichzeitiger Vorführung eines umfangreichen Warensortiments während der unterhaltenden Szenenfolge“ (o. V. 1957b, S. 22f.) vorzuführen. Ein männliches Model, zwei Schauspielerinnen einer regionalen Bühne und drei Kinder spielten eine moderne Verbraucherfamilie, die hinter dem Schaufenster wohnte. Die PassantInnen sahen von der Straße aus zu, wie die Modellfamilie in den Kulissen einer außergewöhnlich gut ausgestatteten Wohnung die neuen Gerätschaften vorführte. Aus dem Off pries ein Erzähler die arbeitssparenden Geräte an. Sein Monolog wurde über Lautsprecher nach draußen übertragen. „Diese neue Werbeform wurde vom Publikum mit größtem Interesse aufgenommen“, berichtete das Werbemagazin (ebd.). Die amerikanischen Propagandisten hatten fünf Jahre vorher eine verblüffend ähnliche Ausstellung organisiert, allerdings mit dem Ziel, die BürgerInnen der DDR gegen die zentrale Planwirtschaft der Entbehrung aufzubringen. Die auffälligste Parallele zwischen Westberlins „Wir bauen ein besseres Leben“ und Pilsens „Ein Tag daheim“ war die von beiden gleichermaßen verfolgte Strategie, nicht nur Konsumgüter, sondern auch die mit ihnen verbundenen Konsumpraktiken und -subjektivitäten zu vermarkten, wie die Historikerin Kathrine Pence schreibt (Pence 1997, S. 110). „Ein Tag daheim“ war jedoch der Vorbote einer Gesellschaft, in

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Das „ausgestellte“ Haus und seine politische Rolle im Kalten Krieg in Deutschland der das „real existierende“ sozialistische Heim durch den Mangel an den gewünschten Gegenständen geprägt sein würde und nicht durch eine auf sozialen Aufstieg bedachte Kultur. 1957 häuften sich in den Schauräumen und Zeitungsberichten – wenn auch nicht in den Schaufenstern der Läden – die Anzeichen einer auf halber Strecke erfolgten Korrektur des DDR-Haushaltsdesigns. Zu den neuen Möbelprototypen, die für die Leipziger Frühjahrsmesse zugelassen wurden, gehörten Stühle und Tische aus glattem Schichtholz und ein Schranksystem, dessen Module als „komplettierungsfähige Einzelmöbel“ bezeichnet wurden, um den Begriff „Anbaumöbel“ und seine Assoziation mit der „formalistischen“ Ästhetik der westdeutschen Moderne zu vermeiden (Hirdina 1988, S. 51). Das moderne Heim wurde von einem neuen Magazin bekannt gemacht, das sich „Kultur im Heim“ nannte. Seine HerausgeberInnen versprachen, das Feedback der KäuferInnen an die sozialistischen HerstellerInnen weiterzuleiten, um endlich den Teufelskreis im Einzelhandel der DDR zu sprengen – Regale, die mit unerwünschten Produkten voll geräumt waren, deren DesignerInnen die Bedürfnisse der KonsumentInnen ignorierten, die sich ihrerseits vom Warenangebot abwandten und dafür sorgten, dass die Regale voll geräumt blieben mit den unerwünschten Produkten. „Wenn das richtig funktioniert, wird es nicht lange dauern und Ihre Wünsche sind erfüllt“, gelobten die HerausgeberInnen des Magazins (o.  V. 1957a, S. 1). Ende der 1950er Jahre waren sämtliche Pläne, den wohlhabenden sozialistischen Massenkonsumenten heranzuziehen, auf Grund gelaufen. Eine 1961 durchgeführte Umfrage ergab, dass ein Drittel der Wohnungen der DDR nicht über fließendes Wasser verfügte, ein ebenso hoher Prozentsatz die Toilette mit anderen Wohnungen teilte und eines von zehn Wohnhäusern wegen massiver Baufälligkeit abgerissen gehörte. Eine andere Statistik war noch alarmierender: 1960 war die Zahl der Menschen, die sich Monat für Monat aufmachten, um im Westen ein neues Leben zu beginnen, gegenüber den Vergleichszeiträumen von 1959 um über 100 Prozent gestiegen (Palutzki 2000, S. 139, 192ff.). Die DDR blutete ihr Proletariat aus, genauer gesagt, ihre FacharbeiterInnen und Spitzenkräfte, denen die Abwanderung angesichts der boomenden Wirtschaft und des unersättlichen Arbeitsmarkts in der BRD relativ leicht fiel. Am 3. August 1961 flog Walter Ulbricht zu einer geheimen Sitzung nach Moskau. Chruschtschow stimmte widerwillig einem Plan zu, der das Grenzproblem der DDR lösen, der SED aber vollends die Unterstützung

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Greg Castillo der Bevölkerung entziehen würde. In der Nacht vom 12. auf den 13. August 1961 wurden die Befehlshaber von Armee und Polizei angewiesen, ihre Truppen an die Grenze zu verlegen. Die erste Berliner Mauer bestand aus Soldaten und Polizisten, die im Abstand von zwei Metern und mit dem Rücken zum Osten in einer Reihe Aufstellung nahmen. Binnen Stunden wurde die menschliche Mauer durch Pfosten und Stacheldraht ersetzt, drei Tage später wurde mit dem Bau einer Betonwand begonnen. Ulbrichts „antifaschistischer Schutzwall“ setzte dem spontanen Verlassen der DDR ein Ende. Damit war die letzte Chance der SED, eine von hoher Produktivität, moderner Technologie und Massenkonsum gekennzeichnete Gesellschaft aufzubauen, vertan. Zwei Monate nachdem die Mauer die DDR in ein in sich geschlossenes sozialistisches Ökosystem verwandelt hatte, nahm ein Designkollektiv der Bauakademie die Revolutionierung des Massenwohnbaus in Angriff. Mit dem Plattenwohnbau war bereits drei Jahre vorher begonnen worden, am archaischen Grundriss, also der vom fensterlosen Flur ausgehenden Raumaufteilung, hatte sich jedoch nichts geändert. (Abb. 5)

Abb. 5  Das Interieur der Modellwohnung nach einem Entwurf von Horst Michels Designkollektiv an der Deutschen Bauakademie für die Ausstellung „neues leben – neues wohnen“ von 1962. Das Kollektiv, das damit beauftragt war, für die Wohnungskrise eine kostengünstige Lösung zu finden, schlug mit dem „P2“ einen neuen Prototyp vor, der die für einen Vierpersonenhaushalt vorgesehene Zweieinhalb-

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Das „ausgestellte“ Haus und seine politische Rolle im Kalten Krieg in Deutschland zimmerwohnung auf 55 Quadratmeter verkleinerte. Die Fertigstellung des ersten P2-Prototyps im Ostberliner Bezirk Lichtenberg war der Auslöser für eine weitere Ausstellung und Konferenz zum Thema Wohnen und häusliches Design. Die Ausstellung „neues leben – neues wohnen“ brüstete sich mit ihrer Modernität – beginnend mit der Kleinschreibung des Titels bis hin zu den 15 Schauwohnungen und dem Augenmerk auf Offenheit und Helligkeit und Ausstattungen, „die dem internationalen Niveau entsprechen“ (Könitzer/Jordan 1962, S. 523). Die Musterwohnungen zählten über 32.000 BesucherInnen, darunter auch eine Handvoll aus Westberlin. Ein Prozent der BesucherInnen hinterließ seinen Eindruck im Gästebuch der Schau. Die meisten fanden die „Wohnungen der Zukunft“ bezaubernd: „Ich würde sofort in eine dieser schönen Wohnungen ziehen.“ Einbauschränke und Schubladen warfen aber auch Fragen auf: „Was machen die Familien mit kompletten Schlafzimmern, also mit Schränken, wenn sie in eine solche Wohnung einziehen?“ Die häufigste Kritik bezog sich jedoch schlicht und einfach auf die unerfüllten Bedürfnisse. „Endlich ein sichtbarer Fortschritt! Herzlichen Glückwunsch! Doch wie immer die gleiche Frage: Wann und wo werden die neuen Modelle produziert und gehandelt?“ „Wann werden die Funktionäre der Industrie und des Handels die Wünsche und den Geschmack der Kunden berücksichtigen?“ „Wir wollen endlich einmal nicht mehr nur von Ausstellungen gesättigt werden. Wir wollen modern und vernünftig leben, wie es uns gebührt.“ (o.  V. 1962, S. 543–546) Das Vorhaben, mittels Wohnausstellungen ein aufgeklärtes Proletariat zu kultivieren, war in Wirklichkeit zu einer Benimmschule für die Entrechteten geworden. In den frühen 1970er Jahren verbesserte sich der Lebensstandard in der DDR deutlich und brachte ihr im gesamten Sowjetblock den Ruf ein, eine Konsumoase zu sein. Zwischen 1965 und 1970 stieg der Haushaltskonsum um fast 25 Prozent. Von 1960 bis 1970 wuchs der Anteil der Haushalte, die im Besitz eines Kühlschranks waren, von 6 auf 56 Prozent; und jener, die über einen Fernsehapparat verfügten, von 16 auf 69 Prozent (Taylor 2006, S. 348). In den späten 1970er Jahren kam das „Planwunder“ jedoch zum Stillstand. Als der Wirtschaftsmotor ins Stottern geriet, konnte selbst die teilweise Erfüllung eines konsumorientierten Gesellschaftsvertrags nur noch über die Anzapfung von Mitteln erreicht werden, die für Industrieinvestitionen vorgesehen waren, bzw. über eine Erhöhung der Auslandsverschuldung. Spätestens in den 1980er Jahren war der Lebensstandard in der DDR zur bloßen Fassade geworden, hinter

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Greg Castillo der sich wirtschaftlicher Stillstand verbarg. Ein 1989 vom Ministerium für Staatssicherheit vorgelegter Bericht informierte die Parteiführung (mit 40-jähriger Verspätung), dass Konsumartikel „[were] increasingly becoming the basic criterion for the assessment of the attractiveness of socialism in comparison to capitalism“ (Zaitlin 1997, S. 358). Auf einer Krisensitzung des Politbüros, die zu einem Zeitpunkt stattfand, als die Grenzübergänge in der Tschechoslowakei, in Ungarn und Polen bereits offen waren und von DDR-BürgerInnen gestürmt wurden, teilte der Vorsitzende der Staatlichen Plankommission Gerhard Schürer den führenden Genossen mit, dass, wenn man lediglich einen Anstieg der Staatsschulden zu verhindern suche, sich der Lebensstandard für das Jahr 1990 deutlich verschlechtern würde, wodurch die DDR unregierbar werden würde (vgl. Taylor 2006, S. 415). Schürer wies außerdem darauf hin, dass es bereits ärmere Länder als die DDR geschafft hätten, ein wesentlich reicheres Warenangebot in ihren Geschäften bereitzuhalten, und dass Menschen, die über Geld verfügten, aber nicht kaufen könnten, was sie wollten, schließlich den Sozialismus verfluchen würden (vgl. Kopstein 1997, S. 192) Die beständige Steigerung der Verbraucherwünsche, angespornt durch den Vergleich mit dem westlichen Lebensstil – und von der SED-Führung mitunter auch noch ausdrücklich gefördert –, hatte also so, wie es Riesman in seinem fiktiven „Nylonkrieg“ vorhergesehen hatte (Riesman 1964), den Staatssozialismus in den Bankrott geführt (vgl. Maier 1997, S. 89–97). In der Image-Ökonomie des Kalten Kriegs – der „iconomy“, wie der Kunsthistoriker Terry Smith den Umgang mit Mediensymbolen bezeichnet (Smith 2006, S. 15) – definierten die in Berlin zum Thema Wohnen veranstalteten Designspektakel sowohl den Osten wie auch den Westen laufend neu, indem sie sich stets auf das antithetische Andere bezogen. Betrachtet man die konkurrierenden Spektakel nebeneinander, stellten sie mehr als nur eine Propagandaschlacht dar. Sie dienten als Kommunikationsschiene für miteinander korrespondierende Stellungnahmen zum sozialen und wirtschaftlichen Wiederaufbau und zu transnationalen Zugehörigkeiten und für die Forderung nach Reaktionen auf Deutschlands erschütternde jüngste Vergangenheit. Die „Traumhäuser“ der Nachkriegszeit erwiesen sich als das ideale Medium, um diese Botschaften zu vermitteln. Künstlich inszenierte häusliche Umgebungen verliehen abstrakten ideologischen Konzepten eine sowohl physische wie auch emotionale Unmittelbarkeit. Die Modellwohnungen luden die BesucherInnen

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Das „ausgestellte“ Haus und seine politische Rolle im Kalten Krieg in Deutschland ein, sich vorzustellen, wie das tägliche Leben in einer kapitalistischen bzw. in einer sozialistischen Zukunft aussehen könnte, und ermöglichten ihnen, sich in unterschiedliche Konsumszenarien zu versetzen, die zu dem Zeitpunkt noch „im Aufbau“ waren. Zugleich verschleierte die heimelige Intimität dieser simulierten Privatsphäre die Mechanismen einer von staatlicher Hand gesteuerten Pädagogik. Somit waren die konkurrierenden Systeme des Haushaltskonsums der Nachkriegszeit – kapitalistischer und sozialistischer Prägung – keine bloßen Nebenerscheinungen eines bestimmten Ansatzes für den wirtschaftlichen Wiederaufbau, sondern waren Ansatzpunkte für genau überlegte Indoktrinierungskampagnen, die – bis 1989 – die Kommunikationsstrategien des ausgestellten Heims unter den neuen historischen Unabwägbarkeiten des Kalten Kriegs vorantrieben. Aus dem Englischen übersetzt von Jacqueline Csuss

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Abbildungsnachweise Abb. 1 und 2: US National Archives, Still Pictures Division, RG286 MP GER 2221 und RG286 MP GEN 1974. Abb. 3 und 4: Deutsche Bauakademie, „Besser leben –  schöner wohnen!“ Leipzig: VEB Graphische Werkstätten 1954. Abb. 5: SLUB/Deutsche Fotothek, Fotograf: Friedrich Weimer, 1962 SLUB/DF 320995.

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Das Wohnhaus als Puppenhaus Der Blick von oben in US-amerikanische Wohnarchitekturen in Printmedien um die Mitte des 20. Jahrhunder ts

Die Mechanismen des Marktes haben dazu beigetragen, dass zwischen 1900 und 1950 die Moderne in US-amerikanischen Wohnhäusern Einzug hielt. In dieser Periode florierte nicht nur der Wohnbausektor,1 es war auch die Blütezeit der Wohnjournale, mochten sie nun periodisch oder unregelmäßig erscheinen. Auch die großen Firmen im Bereich des Wohnungsbaus und damit verbundener Produkte brachten Kataloge und Magazine heraus, die die Überzeugung propagierten, frei stehende Einfamilienhäuser in Privatbesitz seien ein Kernstück amerikanischer Wesensart.2 Mit dem Ziel, das Wachstum der Firma sowie der gesamten Branche zu fördern, wandten sich diese Publikationen an ein breites Publikum. Dabei befanden sie sich teils in Konkurrenz, teils in Symbiose mit den unabhängigen Wohnjournalen, zu denen überregional erscheinende Monatsmagazine wie „House Beautiful“ und „House & Garden“ zählten. Aber auch Zeitschriften, die sich an das Fachpublikum der Architekten3 richteten, verloren die PrivatkundInnenschaft nie aus den Augen, kam

1  Von 1900 bis 1941 wurden in den USA geschätzte 12.779.000 Wohnbauten errichtet (vgl. o.  V. 1949a, S. 364, Tabelle 10: Number of New Residential Units Built in the Nonfarm Area Classified by Urban and Rural Nonfarm [Anzahl der neu errichteten Wohnbauten im nicht landwirtschaftlich genutzten Gebiet, unterteilt in städtische und ländliche nicht-landwirtschaftliche Gebiete]). 2  Der moralische Wert des Wohneigentums kam in jedem Katalog mit Wohnprodukten mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck. Den Höhepunkt diesbezüglich stellen die Publikationen der Verbrauchervereinigungen dar: „Das HAUS ist der wesentliche Grundstein der amerikanischen Kultur […]“ (o.  V. 1937a, S. 3). 3  In diesem Artikel wird versucht, über die Verwendung des Binnen-I eine möglichst geschlechtergerechte Sprache zu erreichen. Um jedoch in diesem Bemühen kein falsches Bild von der Realität des Architekturberufs in der Mitte des 20. Jahrhunderts zu zeichnen – 1950 waren in den USA unter den promovierten ArchitektInnen weniger als 0,05 Prozent Frauen, 1958 übte in den USA nur eine von vier studierten Architektinnen diesen Beruf auch aus – wird nur die männliche Form ‚Architekt’ verwendet. Zu den Zahlen vgl. Adams 2012.

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Das Wohnhaus als Puppenhaus dieser doch mit der Auftragsvergabe eine wichtig Rolle in den Bemühungen um die Durchsetzung einer modernen Architektur zu. In einer Zeit, in der Printmedien die wichtigste Quelle für das Fachwissen von ExpertInnen wie für interessierte LaiInnen waren, hatten Wohnpublikationen eine zentrale Bedeutung in der Vermittlung und Definition von disziplinären und ideologischen Ab- und Eingrenzungen sowie für die Darstellung von neusten Entwicklungen im Bereich der Wohnbauplanung. Im Zusammenhang mit der Weiterentwicklung der Drucktechnik kam den Illustrationen in diesen Medien eine besonders große Bedeutung zu. Illustrierte Anzeigen waren bereits im frühen 20. Jahrhundert bei der LeserInnenschaft auf ein positives Echo gestoßen (vgl. Jackson 1994, S. 211), und ab Ende der 1920er Jahre erschienen in Firmenkatalogen ganzseitige Farbillustrationen.4 (Abb. 1) Begünstigt durch geringer werdende Kosten für halb- oder ganzseitige Illustrationen nahm Bildwerbung in den unabhängigen Zeitschriften zunehmend mehr Platz ein. Große Unternehmen konzipierten ganze Anzeigenkampagnen, in denen Illustrationen zu entscheidenden Bedeutungsträgern wurden. Die Verbreitung einer Kultur des Wohnens bzw. eines Planens des Wohnens sowie die Verhandlung von professionellem wie halbprofessionellem Wissen darüber basierten also auf einem Zusammenspiel von Text und Bild, wobei die visuelle Vermittlung durch Bilder stetig zunahm. Neben sachbezogenen Informationen und praktischen Tipps – für die Suche nach einem geeigneten Baugrundstück, die Wahl kostengünstiger Baumaterialien oder den Schutz des Hauses vor Feuer – wurden mittels der Kategorie Stil auch ästhetische Kriterien verhandelt. In Firmenkatalogen und Anzeigenkampagnen für Baumaterialien und Wohnprodukte bemühte man sich, die potenzielle KundInnenschaft nicht nur durch utilitaristische Argumente wie Kosten und Langlebigkeit, sondern

4  Die beiden wichtigsten Publikationen mit Farbabbildungen, die in der Sammlung nordamerikanischer Firmenkataloge des Canadian Centre of Architecture archiviert sind, sind jene der United States Gypsum Company und der Armstrong Cork Company, obwohl beide Firmen erst nach dem Zweiten Weltkrieg einen eigenen Katalog in Farbe publizierten. Was den Einsatz von Farbabbildungen betrifft, sind die Meilensteine in der grafischen Geschichte dieser beiden Firmen eine Publikation zur feuerfesten Trockenbauwand der Gypsum-Marke Sheetrock, von deren 50 Seiten nur drei in schwarz-weiß gehalten waren (o.  V. 1937b), siehe Abb. 1, eine farbige Doppelseite aus dieser Publikation, sowie eine 40-seitige Broschüre der Designerin Hazel Brown Dell über die von ihr für die Armstrong Cork Company entworfenen Bodenbelägen aus dem Jahr 1929 mit insgesamt 31 Farbdruck-Seiten (Brown Dell 1929).

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Abb. 1  Wohnen von oben in einer Präsentation von Texolite Wandfarbe in einem Katalog der   United States Gypsum Company aus dem Jahr 1937.

auch mit der ‚Schönheit‘ der Waren zu überzeugen. Unabhängige Magazine wie „House Beautiful“ und „House & Garden“ legten allein schon deswegen großen Wert auf die ästhetischen Aspekte der Wohnhausplanung und Innenausstattung, weil ihre primäre Mission ja darin bestand, guten Geschmack zu verbreiten, jedenfalls bei jenen Schichten, die sich ein eigenes Haus leisten konnten. Obwohl die Unternehmen des Wohnbausektors freilich daran interessiert waren, ihre Produkte einem möglichst großen KundInnenkreis nahezubringen, blieb Wohneigentum für die ArbeiterInnenklasse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zumeist unerreichbar.5 Somit war auch das Publikum der Wohnpublikationen eher der Ober- und Mittelschicht zuzurechnen und wohl vorwiegend weiblich. Die Rolle der Frauen bei der Planung des Wohnens war keineswegs auf ästhetische Belange beschränkt, sondern umfasste Fragen des Gebrauchs und der Funktion. Gerade weil berufstätige Frauen in der Ober- und Mittelschicht bis zum Zweiten Welt-

5  Wohneigentum blieb in den großen Städten auf die Oberschicht beschränkt, in kleineren Städten war es auch für die untere Mittelschicht bezahlbar. Außerdem lag der Anteil der WohneigentümerInnen zwischen 1900 und 1949 aufgrund der geografischen Mobilität bei einem geschätzten Durchschnitt von nur 23,3 Prozent der Bevölkerung (vgl. o.  V. 1949a, S. 423, Tabelle 43: Trend of Home Ownership in Selected Types of Cities [Entwicklung des Wohneigentums in ausgewählten Stadttypen]).

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Das Wohnhaus als Puppenhaus krieg eine Minderheit bildeten,6 verschaffte ihnen ihre Spezialisierung als Hausfrauen ein Quasi-Monopol in allen Fragen der Wohnplanung. Damit wurde eine Tradition verfestigt, die sich auf Bücher der Lehrerin und Aktivistin Catherine Beecher aus der Mitte des 19. Jahrhunderts zurückführen lässt, die aber auch mit der vor allem in der bürgerlichen Oberschicht verbreiteten Vorstellung von der Ehefrau als Unterstützerin der Karriere ihres Mannes in Zusammenhang steht. Und tatsächlich begann man in der Ober- und Mittelschicht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das eigene Heim nicht mehr nur als Refugium der glücklichen Familie, sondern auch als soziale Bühne für die Selbstinszenierung eines erfolgreichen Ehepaares zu betrachten. Bei Planung und Einrichtung des eigenen Heims guten Geschmack zu beweisen, wurde somit zu einem wichtigen Kriterium für den Charakter des modernen Wohnens in den USA, selbst wenn der Aufstieg auf der sozialen Leiter aufgrund der immer kostspieligeren Einrichtungen teuer erkauft war. Guter Geschmack im Wohnen war und ist nicht zuletzt eine Frage der visuellen Ästhetik und basiert daher zumeist auf Bildern, sodass es kaum verwundert, wenn er von den illustrierten Anzeigen in den führenden Wohnmagazinen wesentlich mitbestimmt wurde.7 Die Illustrationen der Anzeigen übersetzten das Produkt nicht nur in eine visuell erfassbare Form, sondern formulierten üblicherweise auch dessen sozialen Kontext.8 Die Geschichte der Werbung zeigt, dass Waren generell einen bestimmten sozialen Status markieren sollen, im Bereich der Wohnausstattung und Innendekoration jedoch waren Geschmacksbildung und gesellschaftliche Modelle bzw. Ideale in besonderem Maß miteinander verquickt. Das eigene Heim war die Bühne des Alltags und beeinflusste somit die Selbstwahrnehmung der BewohnerInnen, wie auch die Fremdwahrnehmung durch die gelegentlichen oder regelmäßigen BesucherInnen.

6  Der Anteil der berufstätigen Frauen stieg während des Zweiten Weltkriegs von 25 auf 36 Prozent (Baxandall/Gordon 1995, S. 193, 245), was eine anhaltende Diskussion auslöste (ebd., S. 238–241). 7  Gutes Betragen war untrennbar mit gutem Geschmack verbunden; ein Beispiel lieferte eine Anzeige von Mersman Tables in „House Beautiful“ (o.  V. 1950, S. 167). 8  Waren die ProtagonistInnen der Anzeigen in Magazinen und Zeitungen im frühen 20. Jahrhundert noch von einem „physiologischen Perfektionismus“ inspiriert, verlagerte sich der Schwerpunkt in den 1920er bis 30er Jahren zum „psychologischen Perfektionismus“, wobei Letzterer mehr mit sozialer Anerkennung verknüpft war als Ersterer (vgl. Jackson 1994, S. 164–183).

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Manfredo di Robilant Werbung verknüpfte guten Geschmack beim Planen und Ausstatten des eigenen Heims zumeist mit drei sozialen Modellen: dem erfolgreichen jungen Paar,9 der glücklichen Familie10 und der fleißigen Hausfrau.11 Das erste Modell war für gewöhnlich mit einer Vorstellung von Ästhetik verbunden, die idealerweise über das Mittelmaß hinausging, aber keinesfalls allzu vornehm wirken durfte. Das zweite Modell war meist an der Idee von Komfort und Behaglichkeit festgemacht, das dritte an Konzepten von Funktionalität und Hygiene. Letzteres war noch dazu das einzige Modell, das eine Einzelperson adressierte – ein Beleg für die große Bedeutung der Frauen als Kundinnen im Wohnsektor.12 Um diese drei Modelle ins Bild zu bringen, bediente man sich unterschiedlicher visueller Verfahren und Techniken, die sich an den jeweiligen grafischen Trends in der Werbebranche orientierten. Wie bei allen anderen Warenkategorien erschließt sich dem geschulten Auge die Entstehungszeit einer Anzeige zum Thema Wohnen nicht nur anhand der charakteristischen Merkmale eines Produktes, sondern zuallererst durch die Art und Weise seiner visuellen Präsentation. In den Vereinigten Staaten und in Kanada gab es in der Werbeästhetik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine rasante Entwicklung, die von drei wesentlichen Faktoren beeinflusst wurde: den neuen drucktechnischen Möglichkeiten (Einsatz von Farbe, immer größere Dimensionen der Anzeigen), den Einflüssen der bildenden Kunst, insbesondere der Malerei, und schließlich den Wünschen und Vorgaben der Marketingabteilungen der Firmen, die das potenzielle Zielpublikum definierten. Bei Anzeigen ist die Blickrichtung, aus der die beworbenen Produkte ins Bild gesetzt werden, also die räumlich-visuelle Projektion, ein wichtiges ästhetisches Kriterium. Ob ein bestimmtes Produkt von unten oder von oben, aus nächster Nähe oder größerer Entfernung, perspektivisch oder axonometrisch dargestellt wird, muss somit die erste Entscheidung bei der grafischen Gestaltung und Illustration einer Anzeige sein. In den in den USA am weitesten verbreiteten Wohnjournalen – den 9  Vgl. etwa The Gentle Art of Lounging [Die sanfte Art des Faulenzens]: Hammacher Schlemmer, in: „House & Garden“, März 1941, Anzeigenteil. 10  Vgl. etwa Capture the Sun [Fang die Sonne]: Bell & Gosset Company, in: „Progressive Architecture“, Mai 1948, S. 22. 11  Vgl. etwa Life is lived … in kitchens too! [Das Leben findet auch in Küchen statt]: Crane Company, in: „Pencil Points“, Januar 1939, S. 9. 12  Die fleißige Hausfrau in den Anzeigen der 1930er Jahre ist auch ein Gegenentwurf zu der andernorts üblichen Darstellung der Frauen als „Bonbon Girls“ (vgl. Jackson 1994, S. 187f.).

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Das Wohnhaus als Puppenhaus Publikumsmagazinen „House & Garden“ und „House Beautiful“ sowie den Fachmagazinen „Architectural Record“, „Architectural Review“ und „Pencil Points“ (das sich ab 1946 „Progressive Architecture“ nannte) – wurden Wohnräume von den späten 1930er Jahren bis in die Mitte der 1950er Jahre überwiegend von einem erhöhten Standpunkt aus gezeigt.13 Diese Art der Darstellung setzte ein Weglassen von Zimmerdecken und Dächern voraus, das die potenzielle KundInnenschaft einlud, das häusliche Leben aus einer Perspektive zu betrachten, die im alltäglichen Leben unmöglich war. (Abb. 2)

Abb. 2  Eine Waschküche planen, Anzeige in „House Beautiful“ aus dem Jahr 1944.

Egal, ob Waschmaschinen, Badezimmerzubehör, Küchen, Dekorationsstoffe, Bodenbeläge, Dämmstoffe, Imprägniermittel oder andere Wohnprodukte und Materialien beworben wurden, die LeserInnen wurden

13  Zum Blick von oben in den Bildern des Wohnens in den 1950ern in Westdeutschland vgl. Hartmann 2010.

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Manfredo di Robilant eingeladen, auf mehr oder weniger abstrakte Weise über das eigene Heim nachzudenken. Oft wohnten auch Miniaturmenschen in den nicht überdachten Häusern, oder riesige Personen hantierten mit ganzen Gebäuden.14 (Abb. 3)

Abb. 3  Anzeige für den Isolationsbeton „Zonolite“ in „Progressive Architecture“ aus dem Jahr 1951.

Stets vermittelte jedoch die einfache Tatsache, dass die Innenräume von oben gezeigt wurden, den LeserInnen die Illusion völliger Kontrolle. In gewisser Weise wurden Häuser wie Puppenstuben ins Bild gesetzt, und die visuelle Ordnung der Anzeigen forderte dazu auf, die Bühne des häuslichen Lebens mit den Augen eines Kindes zu betrachten. Da also eine Rückkehr zur Kindheit impliziert wurde und sich diese Anzeigen vor

14  Richard Surrey, eine bekannte Persönlichkeit im Bereich der Werbung, empfahl den WerbedesignerInnen: „Schaut durch die Wände eines Hauses und übertragt, was ihr dort seht.” (Zit.  n. Jackson 1994, S. 323)

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Das Wohnhaus als Puppenhaus allem an Frauen richteten,15 wurden sie auch eher mit den Augen kleiner Mädchen als kleiner Jungen betrachtet. Frauen, zumeist junge Ehefrauen, die mit der Planung des Wohnens beschäftigt waren, wurden somit als die erwachsene Version von kleinen Mädchen präsentiert, die mit Puppenhäusern spielten. Auch wenn Puppenhäuser das Hausinnere traditionellerweise durch eine vertikale Schnittdarstellung und nicht durch einen Blick von oben zeigen, so existieren doch deutliche Parallelen zwischen den dachlosen Innenräumen der Werbung und dem Vertikalschnitt der Puppenhäuser, allerdings weniger im perspektivischen Prinzip als vielmehr im gleichen Angebot der Illusion von Kontrolle. Die Verbreitung des Blicks von oben hatte zwei Gründe: Zum einen war es eine – im Sinn der Planungsdisziplinen – ‚traditionelle‘ Notwendigkeit, eine abstrakte, aber dennoch verständliche Ansicht eines Gebäudes herzustellen, und zum anderen war es ein ‚neues‘ allgemeines Bedürfnis, den Schauplatz des Alltags darstellbar zu machen. Narrative Aspekte trafen im Blick von oben mit technischen Aspekten zusammen: Einerseits war es möglich, ein Gebäude als Ganzes zu betrachten, durch das Zerschneiden der Trenn- und Außenwände kleinere oder verborgene Details freizulegen und unmittelbar erfassbar zu machen, wie Einbauten sich in einen Raum einpassten, andererseits konnte das häusliche Alltagsleben theatral inszeniert und repräsentiert werden. Der Blick von oben in die dachlosen Innenräume markiert als Darstellungsverfahren das Verhältnis zwischen Architekten und ihren AuftraggeberInnen, seine Brüche und Ambiguitäten. Die Architekten mussten als speziell ausgebildete Fachleute ihre Rolle und Relevanz am Markt des Wohnungsbaus verteidigen. Die AuftraggeberInnen waren die potenziellen ProfiteurInnen der Entspezialisierung des Planungs- und Bauprozesses, da die Bezahlung eines Architektenhonorars mit der Zeit als kapriziöse Laune ehrgeiziger AuftraggeberInnen von protzigen Häusern angesehen wurde. Und tatsächlich drohte der Architekt als Gestalter von Eigenheimen für private AuftraggeberInnen überflüssig zu werden. Immer mehr Produkte ließen sich mit einem Minimum an fachkundiger Beratung verwenden. Zudem setzte seit den 1930er Jahren auch bei der Innenraumgestaltung, Renovierung und Instandhaltung von Häusern

15  Die Bedeutung der Frauen als Zielpublikum der Anzeigen stieg zwischen 1920 und 1940 dramatisch an (vgl. Baxandall/ Gordon 1995, S. 195–198).

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Manfredo di Robilant ein Trend zum Heimwerken ein (vgl. Goldstein 1998, S. 13–44). Auch zu Fragen bezüglich der Platzierung des Hauses auf einem Baugrundstück oder der Anlage eines Gartens konnte man vielerorts Rat einholen und Magazine konsultieren (vgl. o.  V. 1944, S. 45–51). Die Fertigteilbautechnik spielte bei diesem Trend noch kaum eine Rolle, da sie erst in der Nachkriegszeit relevant wurde und ein Monopol von einigen wenigen größeren Bauträgern bleiben sollte (vgl. Jackson 1985, S. 231–245). Gleichsam waren es jedoch genau die Nachkriegsbaustellen, die mit ihren vorfabrizierten Außen- und Trennwänden die einzige Möglichkeit im wirklichen Leben boten, den Blick von oben in den Wohnbau zu genießen.16 Im Kontext von Technik und Marketing stellte also die Verbreitung des Blicks von oben eine zusätzliche Bedrohung für den Berufsstand des Architekten dar, da in dieser Form der Perspektivprojektion die technische Darstellung mit narrativer Bedeutung verwoben wurde. Es wurde also nicht nur die Rolle des Architekten als zugleich von Künstler und Ingenieur in Zweifel gezogen, sondern auch seine vermeintliche Fähigkeit, ein technisches Objekt, wie es ein Gebäude ist, mit symbolischen Bedeutungen aufzuladen. Genau genommen stellte der Blick von oben die Autonomie der Architektur als klar abgegrenzte Fachdisziplin in Frage, indem er LaiInnen die Illusion von Kontrolle über alle Aspekte der Planung des Wohnens vermittelte. Die Verbreitung der perspektivischen Sicht vom erhöhten Standpunkt war jedoch nicht nur ein Zeichen der Auflösung disziplinärer Grenzen, da sie sich zugleich mit der neuen, aus Europa kommenden Architektur seit den 1930er Jahren rasch bei der Architekturelite überall in den Vereinigten Staaten durchgesetzt hatte. Im Zuge der in den US-Fachmagazinen geführten Architekturdebatte erschien 1939 ein Artikel in „Pencil Points“ – ein wichtiges Medium der modernen, von Europa beeinflussten US-Architektur –, der sich wie ein Manifest des Blicks von oben liest. Autor war der Herausgeber des Magazins, Kenneth Reid, der explizit für eine vermehrte Verwendung von maßstabsgetreuen Architekturmodellen argumentierte und dafür zwei Gründe anführte. Erstens sei „sowohl das Studium als auch die Präsentation eines Entwurfes eine Sache, über die es nicht viel zu diskutieren“ gebe. Zweitens sei „vor allem seit der Herausbildung neuerer und noch ungewohnter zeitgenössischer Bauformen das Bedürfnis nach einer drei-

16  Siehe Illustration in Hamlin 1930, S. 39; United States Gypsum Company, 1942.

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Das Wohnhaus als Puppenhaus

Abb. 4  Fotografie eines dreidimensionalen Wohnungsmodells als Illustration eines Artikels von Kenneth Reid in „Pencil Points“ aus dem Jahr 1939.

dimensionalen Visualisierung anhand von Modellen entstanden“ (Reid 1939, S. 407, Übersetzung F. K.). Die Fotos, die diesen Beitrag illustrierten, waren ausnahmslos aus einer erhöhten Perspektive aufgenommen worden, obwohl nur wenige der publizierten Projekte dem Kanon einer klassischen Moderne verpflichtet waren. (Abb. 4) Überraschenderweise kommentierte Reid in keiner Weise, warum nur diese Form der Raumprojektion in den Illustrationen des Artikels angewendet wurde. Dafür reflektierten seine beiden Argumente die Grundlage und Bedingung des Architektenberufs in den USA. Angesichts des drohenden Bedeutungsverlustes des Berufsstandes kämpfte ein Magazin wie „Pencil Points“ darum, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die neue, moderne Architektur für jeden Menschen verständlich sein sollte und dass die Architekten die am besten geeigneten Fachleute seien, diesen bedeutenden Bildungsauftrag zu erfüllen. Die schwierige Aufgabe, das amerikanische Publikum davon zu überzeugen, die „less familiar contemporary architectural forms“ anzunehmen, lasse sich am besten mit dem Einsatz von dreidimensionalen Modellen bewerkstelligen (ebd.). Der Blick von oben schien darüber hinaus auch eine wichtige Rolle im Lernprozess der amerikanischen Architekten auf dem Weg, ‚modern‘ zu werden, gehabt zu haben. Bereits 1930 hatte „Pencil Points“ von oben fotografierte Innenräume gezeigt. Es waren die ‚Bauhaus-inspirierten‘ Interieurs des New Yorker Apartments von John Vassos, einem wichtigen Vertreter des US-amerikanischen Industriedesigns, das er für sich und seine Frau entworfen hatte (vgl. Vassos 1930). Die Fotos zu dem Artikel

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Manfredo di Robilant stammten ebenfalls von Vassos und zeigten die Wohnräume seines eigenen Alltagslebens zumeist von oben. In gewisser Weise ‚verobjektivierte‘ er sich selbst und betrachtete sein Leben von außen. Allerdings versetzte er sich dabei nicht in der Position eines Laien, der mittels einer technischen Visualisierung den Blick auf sein Alltagsleben richtete. Er war vielmehr in der Position eines Experten, der sämtliche Möglichkeiten der Visualisierungstechnik erforschte. Louis Kahn wiederum zeigte die Organisation häuslichen Lebens in einer 1943 erschienenen Broschüre über die Zukunft der amerikanischen Architektur als ein Beispiel von Objektivität und somit ökonomischer Rationalität. Um das raumplanerische Konzept der urbanen Zonierung allgemeinverständlich darzustellen, kreierte Kahn den Slogan „The Plan of a City is Like the Plan of a House“ und präsentierte dazu die Skizze eines nicht überdachten Hauses von oben, wobei er jeden Raum zu einer bestimmten städtischen Zone in Beziehung setzte (vgl. McCarter 2005, S. 36ff.).17 In derselben Ausgabe, in der Reids Manifest der Architekturmodelle erschien, wurde in einem anderen Artikel, der sich mit den technischen Einzelheiten bei der Anfertigung eines Modells auseinandersetzte, die Überlegenheit von dreidimensionalen Modellen ins Feld geführt, da „ein Laie Pläne und Aufrisse meist gar nicht interpretieren kann“ (Murray 1939, S. 427, Übersetzung F. K.). Sein Verfasser Dennis Murray, selbst ein Modellbauer, bezeichnete damit implizit die auf zwei Dimensionen ausgelegte Zeichnung als Darstellungsmittel im Sinn einer Autonomie der Architektur – was die progressiven „Pencil Points“ als ungeeignet zur Durchsetzung der Prinzipien der neuen Architektur auf dem Markt ansahen. Die Fortschritte im Bereich von Architektur, Bautechnologie und Bauprodukten mit der Öffnung der disziplinären Grenzen zu einer breiteren Öffentlichkeit zu verbinden, war nicht nur ein Anliegen der von Europa beeinflussten Architektur-Elite. Die gleichen Themen waren auch in Produktkatalogen und Publikationen von Unternehmen aus dem Bausektor verbreitet. So fanden die Gedanken, die Reid in „Pencil Points“ formuliert hatte, zum Beispiel 1939 ein Echo in einer Publikation der

17  Auch Walter Gropius und Konrad Wachsmann antizipierten die neue Wohnarchitektur der Nachkriegszeit, als sie im Jahr 1942 ihr Fertighaussystem, das unter dem Namen Packaged House System bekannt wurde, vorstellten und für die sehr anschauliche Illustration ebenfalls eine erhöhte Perspektive wählten. Dieses System wurde zu einem Meilenstein in der Entwicklung industriell vorgefertigter Bauteile für den US-Wohnsektor (vgl. Isaacs 1991, S. 248–250).

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Das Wohnhaus als Puppenhaus United States Gypsum Company (USG), des größten Unternehmens im Bereich Gipskartonplatten für Trennwände und Zwischendecken. In diesem Wohnratgeber wurde Texolite, eine Kaseinfarbe von USG, die zum Anstrich der Gipstrennwände im häuslichen Bereich diente, als „ein bei fortschrittlichen Raumgestaltern beliebtes dekoratives Mittel“ beschrieben (o.  V. 1937b, S. 16, Übersetzung F. K.). Eingebettet in eine kommerzielle Werbebotschaft, ging es um die gleiche Mission: den technischen und ästhetischen Fortschritt einem breiteren Publikum verfügbar zu machen. Der Blick von oben blieb nicht auf die Werbung im Wohnsektor beschränkt, sondern wurde zu einer allgemeineren visuellen Mode. Dachlose Fabriken, Kaufhäuser, Schulen und Turnhallen waren in „Architectural Record“, „Architectural Review“ und „Pencil Points“/„Progressive Architecture“, dem Dreigestirn am Himmel der Architekturjournale, ebenfalls gang und gäbe. Da technische Systeme der Bauten enorm an Bedeutung gewannen, tauchte das Problem auf, wo in den nicht für Wohnzwecke bestimmten Gebäuden z.  B. Rohre und Leitungen unterzubringen seien. In Büros und gewerblich genutzten Räumen waren Klimaanlagen ab der Nachkriegszeit Standard. 1947 wurde das erste vollklimatisierte Bürogebäude New Yorks fertiggestellt (vgl. o.  V. 1947, S. 157f.), das zwar nicht das erste in den USA war, aber dennoch den Beginn eines unaufhaltsamen Trends markierte. Nicht nur in Neubauten, auch in bereits bestehenden Gebäuden wurden Klimaanlagen installiert, wobei die neuen Systeme bei einem nachträglichen Einbau natürlich an die Innenräume angepasst werden mussten. Dies führte dazu, dass Klimageräte immer kleiner wurden, und die Technologien dafür kamen nicht nur aus der Kriegsindustrie, sondern auch aus anderen Bereichen, etwa der Automobilindustrie. Chrysler Airtemp, eine Tochter der Chrysler Company, wurde so zu einem wichtigen Unternehmen im Bereich der Kühlsysteme für baulichen Altbestand. Eine Werbekampagne der Firma aus der Zeit zwischen 1945 und 1955 präsentierte eine beeindruckende Reihe von Abbildungen, die von oben in nicht überdachte Büroräume, Lagerhäuser, Hotels, eine Bowlingbahn sowie ein Apartmenthaus blicken ließen. Der Slogan der Kampagne behauptete, dass Chrysler-Airtemp-Geräte ganz leicht in bestehende Gebäude einzubauen seien, was anhand des Blicks von oben auch umgehend demonstriert werden konnte. An der Kampagne von Chrysler Airtemp lässt sich auch verdeutlichen, welche Erwartungen in der Werbegrafik mit dem Blick von oben verbunden waren, denn angesichts der zunehmenden Komplexität von

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Manfredo di Robilant Gebäuden sollte diese Art der Visualisierung eine effiziente, ökonomische Raumorganisation ermöglichen. Der nächste Schritt ging dann in Richtung Interaktivität. Ab den 1940er Jahren wurden Planungssysteme populär, die auf wirklichkeitsgetreuen 3-D-Modellen basierten. Einige dieser Systeme waren für die Planung von häuslichen Innenräumen konzipiert und sollten in erster Linie von Personen ohne Fachkenntnisse eingesetzt werden können, andere wiederum, mit denen gewerbliche Innenräume entworfen werden konnten, waren für ausgebildete Architekten bestimmt. In beiden Fällen blickte man von einer erhöhten Position herab, und das Gefühl, die Raumplanung zu kontrollieren, wurde gleichsam körperlich realisiert, da mit den Händen in das Modell hineingegriffen wurde, um die Miniaturmöbel und -haushaltsgeräte hin und her zu schieben. Um die so ausgewählte Raumanordnung zu fixieren, war die Grundfläche des Modells magnetisch und das Mobiliar aus Metall. Die Verbreitung dieser 3-D-Modelle erleichterte die Wohnungsplanung im Do-it-yourself-Verfahren: JedeR konnte ArchitektIn des eigenen Hauses werden. Mitunter waren diese Systeme auch explizit für didaktische Zwecke bestimmt, wie im Fall des beliebten „Plan-a-Room“-Systems, das der Innenarchitekt Paul MacAlister entwickelt hatte und das 1941, nur wenige Monate vor dem Angriff auf Pearl Harbor, im Magazin „House & Garden“ präsentiert worden war (vgl. o.  V. 1941). MacAlister war auch der erste, der eine Fernsehsendung präsentierte, die sich der Innenraumgestaltung widmete, was einen weiteren Schritt im Prozess der Entdisziplinarisierung der Planung des Wohnens bedeutete. Andererseits entwickelte sich die Innenraumgestaltung gerade zu einer eigenen, anerkannten und von der Architektur unabhängigen Disziplin – wie auch das Weldwood-Chalkboard-System eigens dafür konzipiert worden war, Personen für diese Tätigkeit zu schulen (vgl. o.  V. 1959, S. 229). Die Verbindung zur Welt der Puppenhäuser war bei all diesen Systemen klar erkennbar, wenn auch nie explizit darauf hingewiesen wurde. Jenseits der Wohnbauplanung wurden die magnetischen Modelle hauptsächlich in der Planung von Supermärkten, jedoch auch bei anderen Bauaufgaben eingesetzt (vgl. Kramer 1948). Die Firma Locker, die auf dem Gebiet der Metallmöbel für Sportstätten auf dem US-Markt führend war, produzierte Miniaturmodelle ihrer Schränke, um Hilfestellung bei der Gestaltung der Räume zu leisten (vgl. o.  V. 1949b). Die Firma Sjöström bot mit ihrer „New Life“-Bibliotheksmöbelreihe auch „eine fotografische Ergänzung zum technischen Plan“ an, das heißt, die

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Das Wohnhaus als Puppenhaus Kundschaft erhielt Fotos, auf denen Miniaturmodelle der Bücherregale nach den Entwürfen der Architekten der KlientInnen arrangiert waren (vgl. o.  V. 1953). (Abb. 5)

Abb. 5  Anzeige für dreidimensionales Planen mit „New Life“ in „Progressive Architecture“ aus dem Jahr 1953.

Troy Laundry Machinery bot einen ähnlichen Service, der sich aber nicht an die AuftraggeberInnen, sondern an die Architekten richtete (vgl. o.  V. 1945). Alle in diesen Anzeigen abgebildeten Fotos und Zeichnungen nutzten den Blick von oben, nur das Weldwood-Chalkboard-System wurde aus einer Seitenansicht präsentiert. Die theoretischen Bedeutungen und praktischen Einflüsse des visuell-räumlichen Standpunktes, von dem aus Architektur dargestellt wird, sind eingehend untersucht worden. Das Untersuchungsmaterial sind dabei Architekturdarstellungen, die von Architekten produziert wurden, die Auseinandersetzung damit ist eine innerdisziplinär architekturhistorische oder -theoretische. Konzentriert man sich hingegen auf die Bilder in Publikumsjournalen, lassen sich die Beziehungen zwischen der Fachdisziplin und ihrer Außenwelt erforschen. Als Darstellungsmittel ist der Blick von oben seit dem frühen 16. Jahrhundert in Architekturzeichnungen zum

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Manfredo di Robilant Einsatz gekommen, als neue Techniken der architektonischen Repräsentation entwickelt wurden. Ab den 1910er Jahren bedienten sich die europäischen Avantgarden oft axonometrischer Projektionen, um Gebäude und Innenräume von oben darzustellen. Und das Bauhaus, Le Corbusier, De Stijl und ihnen verwandte Kreise fundierten ihre Idee von Rationalität und Modernität auf dem aufmerksamen Studium des Plans. Obwohl das Interesse für den Plan die verschiedenen Richtungen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führte, bestand die Gemeinsamkeit, dass die Perspektive von oben gewählt wurde, um die Bedeutung der rationalen, wissenschaftlichen Planstudie und der inneren Organisation eines Gebäudes herauszustreichen. Die Perspektive von oben wurde mit der Fotografie der Hand von Le Corbusier, die er 1923 über das Modell seiner Stadt für drei Millionen EinwohnerInnen hielt, geadelt und ‚geweiht‘. Unabhängig von den verschiedenen Maßstäben war die Faszination am Blick von oben zweifellos eng mit dem Ehrgeiz verbunden, alle Elemente und Aspekte eines Projekts kontrollieren zu können. Zur Vorstellung dieser Art der perspektivischen Darstellung gehörte der Glaube, Architektur habe eine physische Ordnung zu schaffen, die eine soziale Ordnung fördern, wenn nicht gar herstellen sollte.18 Nicht zuletzt bot diese Perspektive den Architekten die Möglichkeit, ihr Fachwissen im Sinn der Architektur als moderne Wissenschaft vorzuführen, um auf diese Weise von einer technokratischen Elite Unterstützung für die Realisierung ihrer architektonischen Visionen zu erhalten. Als jedoch in den 1930er Jahren der Blick von oben den Massenmarkt US-amerikanischer Eigenheime erreichte, veränderten sich die Intentionen sowie das Publikum grundlegend. Der Blick von oben war tatsächlich ein bevorzugtes Mittel, durch das eine Disziplin, die normalerweise ausgebildeten Experten vorbehalten war, auch für LaiInnen aus der Mittelschicht attraktiv wurde. Die Vielzahl von Anzeigen, die Produkte rund ums Wohnen mit diesem Blickverfahren zeigten, vermittelten einer breiten Bevölkerungsschicht die Illusion, alle Elemente der Wohnungsplanung kontrollierbar zu machen. Damit bot

18  In den 1920er Jahren formte Le Corbusier seine Idee aus, dass es bei der Architektur um – physikalische wie auch funktionale – Ordnung gehe (vgl. Forty 2000, S. 245). So gesehen könne die Ordnung der Architektur die Ordnung der Gesellschaft bewahren. Diese Idee übte einen großen Einfluss aus und wurde erst in den späten 1960er Jahren von AutorInnen aus dem Bereich der Architektur hinterfragt, die sich der Kritik der Moderne bedienten, wie sie von Michel Foucault und Henri Lefebvre entwickelt wurde (vgl. ebd., S. 247f.).

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Das Wohnhaus als Puppenhaus der Blick von oben den KonsumentInnen auch eine Möglichkeit, auf der Suche nach einer direkten Beziehung zu den Produkten und Konstruktionsverfahren schließlich die Architekten aus dem Planungsprozess und Bauablauf zu verbannen. Firmen für Bauprodukte wiederum bedienten sich dieser Perspektive als Reaktion auf die zunehmende Komplexität der Gebäude; ihr Einsatz implizierte also nicht zwangsläufig den festen Willen, Architekten ihrer institutionalisierten Rolle eines Vermittlers zwischen den AuftraggeberInnen und dem Baugewerbe zu berauben.19 Der wesentliche Unterschied zu Europa bestand jedoch darin, wem durch einen erhöhten Blickstandpunkt die Illusion von Kontrolle vermittelt werden sollte. Tatsächlich waren die Menschen, die mit den Anzeigen und Katalogen erreicht werden sollten, identisch mit denen, deren Schauplatz des Alltags – das Zuhause – kontrollierbar gemacht wurde. Sicherheit und Komfort waren die zwei markantesten Resultate dieser Kontrolle. In gewisser Weise wirkte der Blick von oben insofern beruhigend, als er die Versicherung zu geben schien, dass das Leben der amerikanischen Mittelschicht vorhersehbar würde, wenn man es mit einer Reihe von Gütern ausstattete, die Sicherheit und Komfort sowie Langlebigkeit und Schönheit versprachen. Von den 1920er Jahren bis zu den 1950er Jahren entwickelte sich der Blick von oben in zwei gegensätzliche Richtungen. Hatte die europäische Architektur-Avantgarde durch ihn eine radikal moderne Zukunftsvision ventiliert, so gewöhnte sich die amerikanische Mittelschicht dadurch an Wohnkomfort und Sicherheit. Im Verlauf dieser Entwicklung veränderte der Blick von oben auch die Beziehungen zwischen Architekten und LaiInnen. Von einem Mittel in der Hand der Architekten, das dazu gedacht war, die Autonomie ihrer Disziplin zu verteidigten, wurde er zu einer Aufforderung an die LaiInnen, aktiv an der Gestaltung des Wohnraums zu partizipieren. Aus dem Englischen übersetzt von Friederike Kulcsar

19  „You need an architect“ war der erste Titel in einem umfassenden Wohnratgeber der United States Gypsum Company (o.  V. 1939, S. 5).

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David Kuchenbuch

„Spuren im Schnee“ Wohnbedür fnisfor schung, Bewohnerkonstrukte und Bewohnerer ziehung in Deutschland und Schweden, 1920er bis 1950er Jahre

Wer sich mit schriftlichen Quellen zur Wohnarchitektur der Moderne befasst, erfährt viel über die Absichten von Architekten und Wohnreformern. Von den Reaktionen der von Planung Betroffenen ist weitaus seltener die Rede. Das hat, so meine ich, einen bestimmten Grund. Was die Architekten dieser Epoche von den Menschen – von den Nutzern/ Bewohnern/Mietern – hörten, war auf spezifische Weise formatiert: Es erschien als Bedürfnis. Prinzipiell meinte der Begriff Bedürfnis dabei zunächst einen grundsätzlichen Mangel; Bedürfnisse wurden als überzeitliche Größen begriffen, ihre Erfüllung nicht selten als (biologische) Existenzbedingung verstanden. Nun hatte für viele Architekten des 20. Jahrhunderts jeder Mensch ein Recht auf Bedürfnisbefriedigung, das ihm von der Gesellschaft zu garantieren sei. Deshalb wurden Bedürfnisse als quantifizierbare Limits interpretiert, als Mindeststandards. Als solche rückten sie ins Zentrum architektonischen Denkens, als sich die Architekten ab Mitte der 1920er Jahre – im Zuge der wohlfahrtspolitischen Expansion der Zwischenkriegszeit – anboten, die Wohnversorgung der Bevölkerungsmehrheit zugleich billiger und besser zu organisieren. Aus Bedürfnissen wurden Richtwerte insbesondere für den kommunalen und staatlichen Wohnungsbau abgeleitet, also Raummaße, die bei der Typisierung, der Normung und Standardisierung von Bauten und Bauteilen eingehalten werden sollten. Bedürfnisse meinten im Diskurs dieser Jahre also nicht einfach die Vorstufe eines bei entsprechender Kaufkraft entstehenden Bedarfs. Sie äußerten sich angesichts der Abkopplung der Versorgung mit Wohnraum vom Markt durch den staatlichen Wohnungsbau nicht von selbst als Nachfrage, sondern sie mussten durch Experten erst sichtbar gemacht werden. Entsprechend musste zwischen ‚richtigen‘ und ‚falschen‘ Bedürfnissen unterschieden werden. Architekten, die im Wohnungsbau tätig waren, saßen damit am Schaltwerk zwischen indivi-

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„Spuren im Schnee“ duellen Rechten und dem kollektiven Interesse, die Kosten ihrer Berücksichtigung gering zu halten. Die Erforschung von Bedürfnissen versprach Verteilungsgerechtigkeit und schuf zugleich Standards für das gute, das richtige Leben. Das bedeutete für Architekten zugleich aber auch, dass Bedürfnisbefriedigung zum Maßstab der Qualität ihrer Arbeit wurde: Sie war mehr als ein Toröffner für die Kolonisierung der Lebenswelt durch Staat und Experten, sie prägte auch Identität und Praxis dieser Experten maßgeblich mit. Architekten und andere Wohnreformer entwickelten neue Techniken, die Bewohner über ihr Wohnen sprechen zu machen. Sie bedienten sich dabei verschiedener neuer Dispositive der Datenerhebung, des polling und surveying – Fragebögen, Interviews und Beobachtung von Nutzerverhalten. Mit solchen Medien befasst sich die Geschichtswissenschaft gegenwärtig intensiv, und ich will im Folgenden demonstrieren, dass auch die Architekturgeschichte von einer Beschäftigung mit diesem Quellentypus profitieren kann. Dies kann den Blick erweitern, beispielsweise für konsumhistorische Perspektiven, etwa bezüglich der Rolle der Marktforschung fürs Bauen. Oder aber hinsichtlich einer Durchleuchtung von Gesellschaften durch Sozialexperten, die eng mit Demokratisierungsprozessen im 20. Jahrhundert in Zusammenhang stand, was auch heißt: mit der Sorge der Eliten um die Befähigung der Menschen in der Massengesellschaft, politisch verantwortlich zu partizipieren, und mit Versuchen, sie dahingehend zu beeinflussen. Die Beschäftigung mit den Wohnbedürfnissen, die Entstehung von Wohnwissen steht im Kontext der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Raphael 2012), die Wissenschaft und Politik zu „Ressourcen für einander“ werden ließ (Ash 2002). In eigentlich allen Fällen ging die Verdatung und Formalisierung von Wohngewohnheiten und -wünschen einher mit einem ausgeprägten Misstrauen gegenüber der Fähigkeit der Wohnbevölkerung, ihre Wünsche eigenständig zu evaluieren. Die Planer suchten das Gespräch weniger mit dem gegenwärtigen, realen, als mit dem künftigen Idealbewohner. Dieser war chronisch unterdeterminiert, eine Leerstelle, um die der Planerdiskurs kreiste, ein epistemisches Ding, das mittels machtdurchwirkter Übersetzungsvorgänge erst sichtbar gemacht werden musste, oft unter Nutzung bildgebender Verfahren. Dementsprechend beeinflusste meist eine in die Fragestellungen hineingetragene Vorstellung vom ‚richtigen‘ Leben die Untersuchungsergebnisse, es wurde nicht immer klar zwischen Sollen und Sein unterschieden. In der Regel interessierten nur die Bedürfnisse der ‚Normalfamilie‘, und Annahmen über die Rolle von Män-

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David Kuchenbuch nern und Frauen schlichen sich in den Fragenkatalog ein. Die Architekten brachten also die ‚Spuren‘ der Nutzer teils selbst hervor, Bedürfnisse waren „wissenschaftserzeugte Repräsentationen“ (Rheinberger u.  a. 1997). Aber, und auch darum soll es im Folgenden gehen, dem transnationalen Charakter solcher Praktiken zum Trotz unterschieden sich deren politische Legitimationskontexte erheblich. Das will ich an einer Reihe von schwedischen und deutschen Beispielen zeigen. Beginnen wir im Jahr 1930. Im Sommer dieses Jahres fand die „Stockholmsutställning“, die Stockholmer Ausstellung, statt. Der Veranstalter dieser großen Industrie- und Kunstgewerbeausstellung, das schwedische Pendant des Deutschen Werkbunds, „Svenska slöjdföreningen“ (SSF), eiferte dem Vorbild der Stuttgarter Werkbundausstellung 1927 nach. Das Ergebnis wird oft als Durchbruch nicht nur der ästhetischen, sondern auch der wohlfahrtsstaatlichen Moderne in Schweden angesehen. Das hat viel mit der „Wohnausstellung“ zu tun, die eine klar sozialpolitische Stoßrichtung hatte. Die hier ausgestellten funktionalistischen Modellwohnungen, Reihenhäuser usw. – so behaupteten es zumindest die Verantwortlichen – waren dezidiert auf die kostengünstige Befriedigung der „faktischen Wohnbedürfnisse“ der Gesamtbevölkerung zugeschnitten. Im Vorfeld war eine Reihe von „Bedarfsgruppen“ definiert worden, die die Teilnehmer des Wettbewerbs um die Mitwirkung an der Ausstellung zu berücksichtigen hatten, und dabei wurde bewusst Wohnwissen importiert (vgl. Markelius 1928). Die an der Vorbereitung der Ausschreibung beteiligten Architekten, darunter Uno Åhrén und Sven Markelius, standen im direkten Kontakt mit den deutschen Architekten in den CIAM, den Internationalen Kongressen Moderner Architektur, die zu dieser Zeit gerade das berühmte Treffen zur „Wohnung für das Existenzminimum“ in Frankfurt vorbereiteten. Ernst May hatte im selben Jahr voller Pathos proklamiert, es gelte, die Bedürfnisse gerade der Ärmsten zu ermitteln, indem man „im Geiste die Entrechteten“ befrage (May 1930, S. 10). In der Praxis liefen diese Befragungen zu dieser Zeit oft darauf hinaus, den minimalen Grenzwert des Lebenserhalts zu errechnen: So sympathisch der Architektentopos vom menschlichen Maßstab anmutet, gerade in der Weimarer Minimal- und Sozialwohnungsdebatte reduzierte sich dieser auf eine physiologisch-statistische Fiktion. Ich will hier nicht die Bilder aus der berühmten „Bauentwurfslehre“ Ernst Neuferts zeigen (auf Neufert komme ich gleich ohnehin zu sprechen), sondern einige Zeichnungen seines Konkurrenten Konstanty Gutschow, dessen 1933 entstan-

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„Spuren im Schnee“ dene „Bauzahlen“ als Ausdruck einer Konjunktur von Infografiken und Piktogrammen gelten können. Es sind „Bilder ohne Kultur“ (Pias 2013), also Abbildungen, die aus Sicht ihrer Hersteller gewissermaßen frei von Semantik waren und entsprechend auch frei von Ideologie – Bilder, die die Entwurfspraxis einerseits rationalisieren und sie andererseits gewissermaßen anthropometrisch eichen sollten. Gutschows Bauzahlen (Abb. 1) definieren nämlich den minimalen Raumbedarf des Menschen bei der Ausübung verschiedener Tätigkeiten; sie zeigen den Bewohner dabei als anonymisierten Körper in ‚Reihung‘, dessen Maße und Bedürfnisse hier qua Bildmedium in eins gesetzt werden.

Abb. 1  Platzmaße als Bedürfnisse: aus Konstanty Gutschows „Bauzahlen“ (1933).

Man könnte viele vergleichbare Visualisierungen von (meist männlichen) Normalmenschen bis hin zu Le Corbusiers Modulor heranziehen. Gutschows Abbildungen verdeutlichen, wie weitmaschig das Datennetz noch war, das in den frühen 1930ern um den Bewohner von Kleinwohnungen gezogen wurde: Zahlenwerte mussten auf Umwegen gesammelt werden. Gutschow etwa entnahm sie Lehnerts „Handbuch für den Truppenführer“ und den anthropometrischen Untersuchungen des Statistikers Adolphe Quételet aus den 1830er Jahren. Das ist angesichts der Bedeutung, die Rekrutenstatistiken seit dem späten 19. Jahrhundert für die Verdatung der Bevölkerung gehabt haben, weniger seltsam, als es zunächst scheinen mag.

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David Kuchenbuch Anfang der 1940er Jahre musste für viele Architekten – in beiden Ländern – die ‚Stimme‘ der Nutzer dann schon deutlicher vernommen werden. 1942 veröffentlichte Ernst Neufert, Normungsbeauftragter Albert Speers, ausgerechnet im Vorfeld der Umgestaltung Berlins zur monumentalen Hauptstadt Germania eine Studie mit dem Titel „Der Mieter hat das Wort“. Er forderte hier ein konkretes „Einleben“ in den Alltag der Menschen seitens der Architekten. Dazu seien Umfragen geeignet, sie garantierten den „Rückhalt in der statistischen Masse“, könnten also „maßgebende generelle Wünsche herausstellen“ (Neufert 1942, S. 11). Neufert erstellte einen Fragebogen, der 1939 von ‚Blockfrauen‘ des Frauenwerks verteilt und von fast 4.000 Berliner Familien ausgefüllt wurde – um dann vom Statistischen Amt der Stadt Berlin ausgewertet zu werden. Er betrachtete die so ermittelten Mieterwünsche aber keineswegs als bindend. Die Umfrage sollte lediglich die „Bewegungsrichtung“ der Wünsche sichtbar machen, so schrieb er vage. Daraus ließen sich dann Normen ableiten, die in Zukunft „für den größten Teil ihren Wünschen entsprechend“ sein könnten. Neufert behauptete zudem, dass schon die gegenwärtigen Wünsche „weitgehend den [...] Richtlinien der Staatsführung beziehungsweise der Programmstellung des Führers“ entsprächen. Wo sie von dieser stark abwichen, da sei eine „gewaltige Schulungsarbeit“ vonnöten (ebd., S. 30). Auf die Resonanz der Äußerungen Neuferts werde ich gleich eingehen. Wichtiger ist zunächst: Auch in Schweden forderte man zur selben Zeit, Architekten müssten eine statistisch untermauerte Fähigkeit zum „Einleben“ in das Dasein der Menschen entwickeln. So veröffentlichte die Wohnreformerin Brita Åkerman 1941 eine Studie namens „Die Familie, die aus ihrem Heim herauswuchs“, für die Sozialarbeiterinnen mittels Interviews die Zufriedenheit von ca. 200 Stockholmer Familien mit ihren Wohnungen ermittelt hatten. Aufschlussreich im Vergleich mit Neuferts Studie ist, dass Åkerman der Auswertung dieses Materials einen fiktionalen Dialog voranstellte, ein programmatisches „Gespräch“ zwischen einem Soziologen, einem Architekten und einer Hausfrau, in dessen Verlauf man gemeinsam zu dem Schluss kam, dass es gelte, mehr Wissen über die tatsächlichen Lebensbedingungen der Menschen zu sammeln. Auch Åkerman war gegenüber den Wohnwünschen gerade der befragten Hausfrauen äußerst kritisch. Der sachlichen Bestandsaufnahme des erhobenen Materials folgte eine moralisierende Zusammenfassung, die eine Erziehung hin zur richtigen Wohnungsnutzung und -wahl propagierte, und zwar ausgehend vom Befund der „seelischen und materi-

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„Spuren im Schnee“ ellen Enge“ der untersuchten Wohnverhältnisse, einer gleichermaßen kleinbürgerlichen wie gesundheitsgefährdenden Lebensweise. Dennoch wurde am Ende des Textes der Dialog wieder aufgegriffen. Der Architekt wurde aufgefordert, eine Bedienungsanleitung für neue Wohnungen zu erstellen. Die Bewohner „müssen lernen, sagte die Hausfrau. [...] Wenn wir gegenwärtig schon nicht den Wohnstandard erhöhen können, so müssen wir doch mit einer zielgerichteten Wohnerziehung beginnen.“ (Åkerman 1941, S. 242)1 Åkerman und Neufert organisierten das Wohnwissen von Experten und Nutzern also klar hierarchisch. Erst durch die wissenschaftliche Auswertung der Wohnwünsche wurden Bedürfnisse sichtbar. Das illustrierte auch das Cover von Åkermans Studie. (Abb. 2) Es zeigt den Umriss einer Familie mit zwei Kindern vor dem Hintergrund einer Masse anonymisierter Fragebögen und suggeriert so ein allmähliches Erscheinen der ‚Normalfamilie‘ aus dem statistischen Material. Dennoch wies Åkermans Dialog bereits in die Zukunft. Stärker als bei Neufert wurde hier die Bereitschaft signalisiert, zugleich zu lehren und sich belehren zu lassen. Åkermans Studie war in Schweden kein Einzelfall. Ab Ende der 1930er Jahre widmeten sich hier verschiedene Organisationen – staatliche Kommissionen, Baugenossenschaften, das privatwirtschaftliche „Heimforschungsinstitut“, der SSF und der Reichsverband der Architekten, aber auch Frauenverbände – dem Studium von Wohnbedürfnissen und -gewohnheiten. 1945 entwarf beispielsweise der Architekt Carl-Fredrik Ahlberg im Auftrag des „Staatlichen Komitees für Bauforschung“ ein Programm für die Untersuchung von „Form und Funktion der Wohnung“. Im Idealfall, so Ahlberg, sei Wohnarchitektur das Ergebnis einer „Anpassungsprozedur“ zwischen Architekt und Bewohner. Beim Mietwohnungsbau allerdings sei ein solcher direkter Aushandlungsprozess nicht möglich. Daher kämen Meinungsforschung und sogenannte „Wohngewohnheitsuntersuchungen“ ins Spiel. Allerdings seien Umfrageergebnisse oft unzuverlässig, da die Bewohner nicht recht imstande seien, ihre „wirklichen Wünsche“ zu artikulieren. Auch seien die Wohngewohnheiten der Menschen nicht zwangsläufig deckungsgleich mit ihren Wohnbedürf-

1  Alle Übersetzungen aus dem Schwedischen vom Autor. Es ist interessant, dass gerade Neufert Jahre zuvor begeistert vom Stellenwert der Erziehung im sozialen Wohnungsbau in Schweden berichtet hatte, den er auf einer Skandinavienreise im Auftrag der „Bauwelt“ kennengelernt hatte (vgl. Neufert 1933).

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David Kuchenbuch

Abb. 2  Allmähliche Emergenz des Umrisses der Normalfamilie aus dem   statistischen Material bei Åkerman (1941).

nissen. „Es gibt Wohngewohnheiten, die ein funktionell richtiger Ausdruck für vitale menschliche Bedürfnisse sind. Es gibt andere, die der Ausdruck bestimmter konkreter Verhältnisse sind, deren Berechtigung diskutiert werden kann. [...] Schließlich gibt es gewisse Wohngewohnheiten, die keinen wirklichen Bedürfnissen zu folgen scheinen, [...] sondern schlicht im Schlendrian gründen. [...] Es gibt keinen Anlass, Letztere bei der Ausformung der Wohnung zu berücksichtigen.“ (Ahlberg 1945, S. 17) Wohngewohnheitsuntersuchungen, so Ahlberg, müssten deshalb durch Forschungen zur „bequemen und effektiven“ Nutzung von Grundrissen ergänzt werden, wie man sie aus der Arbeitswissenschaft kenne – durch Experimente im Labor, etwa zur Möblierung und zu Bewegungsabläufen in Modellwohnungen (ebd., S. 7). Schwedische Architekten machten ab Ende der 1930er Jahre den künftigen Nutzer mittels Befragung des gegenwärtigen Nutzers sichtbar. Eine funktionalistische Fiktion wurde am konkreten Bewohner geprüft, wobei dessen Urteil letztlich nur bedingt von Gewicht war. Warum aber war das Interesse an der Nutzermeinung dann so groß? Die Antwort liegt auf der Hand: Erst die Befragung der Bevölkerung autorisierte den Einsatz der Architekten, machte ihn ‚demokratisch‘ und untermauerte

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„Spuren im Schnee“ damit den Anspruch der Architekten, im wohlfahrtspolitischen Kontext des sogenannten schwedischen ‚Volksheims‘ mitzuwirken, das sich stark über den sozialen Wohnungsbau definierte und legitimierte. Dementsprechend behagte es schwedischen Architekten Anfang der 1940er Jahre nicht mehr, die ‚richtige‘ Form der Bedürfnisbefriedigung zu verordnen. Sie misstrauten aber auch dem Urteil der Bevölkerung – also versuchten sie, mündige Gesprächspartner zu produzieren. Uno Åhrén immunisierte sich regelrecht gegen unerwünschte Umfrageergebnisse. Bei einem Treffen des einflussreichen „Förening för Samhällsplanering“ verkündete er: „Was wir brauchen, ist nicht eine Meinung im Allgemeinen, sondern eine aufgeklärte Meinung. Die Aufklärung muss zeitig genug vor solchen Untersuchungen beginnen, damit die Menschen diese verstanden haben, bevor die Umfrage beginnt.“ (o.  V. 1948, S. 39) Eine intensive Aufklärungsarbeit begann, die anknüpfen konnte an eine in den schwedischen Volksbewegungen, den „folkrörelser“, etablierte Kultur der Selbstbildung. Ausstellungen und Broschüren brachten das ganze Arsenal der modernen Bildgrafik in Stellung. (Abb. 3) Es entstanden regelrechte Lernhilfen, die die Suche nach der besten Wohnform aber immer als gemeinsame Konsensfindung inszenierten, wie eine Aufklärungsschrift des 1938 gegründeten Wohnkomitees des SSF zeigt: „Så ska vi ha't“ (So wollen wir's haben) – schon der Titel suggerierte ein Einvernehmen der Verfasser mit den Menschen, an die sich die Publikation wandte (Andersson 1945). Gute Schweden erzogen sich, so suggerierten solche Texte, freiwillig selbst zu Wohnexperten, die die Angemessenheit ihrer Wünsche hinterfragten und vernünftige, ihren Bedürfnissen entsprechende Forderungen an die Architekten richteten. Aus Monologen wurden Gespräche. Anfang der 1950er Jahre war selbst die Mieterbefragung in Schweden allerdings so weit fortgeschritten, dass sie die eigenen Prämissen zu hinterfragen begann. Der Wohnexperte Lennart Holm stellte sich in seiner Untersuchung von Wohnfunktionen 1955 – mit Blick auf staatliche Wohnungsbaunormen – offen dem „Validitätsproblem“: „Mit welchen Maßen misst der Konsument die Qualität der Planung? [...] Wir können uns bei der Formulierung der Frage zu einer gewissen Präzision [...] zwingen und wir können methodisch die Stabilität und die Kohärenz [seiner] Urteile prüfen [...], aber wir können sie nicht behandeln wie Kronen, Meter, Kilo usw.“ (Holm 1955, S. 11f.) Es wollte Holm nicht mehr gelingen, Umfrageergebnisse in Zahlen und Maße zu übertragen. Übrigens stand das im Widerspruch zum Cover seines Buches, das weiter-

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David Kuchenbuch

Abb. 3  Aufklärung über das Wohnen, aus der Zeitschrift der Wohnungsbaugenossenschaft HSB,   „Vår bostad“ (1938). Die Ambivalenz, die aus Lehrsituation und Tafelbild spricht, ist bezeichnend. Hier steht:   „Wie denkst Du, sollte eine gute Wohnung beschaffen sein?“

Abb. 4  Wohnaktivitäten unter der Normalkurve bei Holm (1955).

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„Spuren im Schnee“ hin eine grafisch-diagrammatische Formalisierbarkeit des Wohnwissens suggerierte. (Abb. 4) Tatsächlich wurden ab Mitte der 1950er Jahre in Schweden vermehrt Wohnungen entworfen, deren Innenwände von den Nutzern selbst bewegt werden konnten, wie in den Modellwohnungen der Forscher. Die Bewohner erforschten nun quasi selbst ihre Bedürfnisse. Von Tage William-Olsson entworfene, flexibel nutzbare Grundrisse waren 1955 das Highlight der Ausstellung „H55“, ausgerichtet vom SSF in Helsingborg. Auf der Interbau in Berlin 1957 waren die individuell nutzbaren sogenannten „Allräume“ Sten Samuelsons und Fritz Jaeneckes (eines deutschen Architekten, der Mitte der 1930er Jahre nach Schweden emigriert war) sogar einer der Besucherhits. (Abb. 5)

Abb. 5  Bereits Ende der 1950er wurde der Genauigkeitswahn der schwedischen Wohnexperten ironisiert.   Karikatur von Mats Molander: „Für mich war die Anzahl nicht erwerbstätiger Hausfrauen in Kleinstädten, die alle drei Wochen ihre Frottee-Handtücher waschen, der reinste Schock.“

Die Umsicht, mit der in Schweden inzwischen das Feld zwischen Norm und Wirklichkeit des Wohnens begangen wurde, war einzigartig. Die Experten waren sich dessen bewusst und betrachteten die Wohnforschung als ihre Spezialität, die sie u.  a. auf dem Vorbereitungskongress der CIAM

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David Kuchenbuch im schwedischen Sigtuna 1952 stolz präsentierten (vgl. Ahrbom 1952) – einem Treffen, an dem erstmals nach dem Krieg auch wieder deutsche Architekten teilnahmen. Für diese dürften die schwedischen Überlegungen neu gewesen sein: Zwar hatte es schon in der Weimarer Republik Ansätze zur Befragung künftiger Nutzer neuer Wohnungen und Wohngebiete gegeben, dies aber meist dort, wo man die Auftraggeber konkret kannte. Und natürlich wurden in Mays „Neuem Frankfurt“ Radiosendungen und Drucksachen, aber auch Besuche von „Werbedamen“ eingesetzt, um Wohnnormen zu vermitteln (vgl. Kuhn 1998, S. 179). Allerdings richtete der Deutsche Werkbund erst 1953 eine Wohnberatungsstelle ein; vor allem aber gab es in den 1930er und 1940er Jahren keine systematische, staatlich finanzierte Wohnbedürfnisforschung. Im ‚Dritten Reich‘ gab es zwar punktuell Umfragen unter Mietern zu ihren Wohnpräferenzen: So versuchte Ende der 1930er Jahre die privatwirtschaftlich finanzierte Nürnberger „Gesellschaft für Konsumforschung“ mit Tür-zu-Tür-Umfragen mit sogenannten Korrespondenten vor Ort und mittels Fragebögen, die „Stimme des Verbrauchers“ zu registrieren – und dazu gehörten 1937 auch eine Reihe von Einzelstudien zur Wohnung, die aber offenbar in Architektenkreisen keinerlei Beachtung fanden (vgl. Bergler, 1959/60, S. 119). Das ist umso auffälliger, als auch deutsche Architekten Anfang der 1940er Jahre vermehrt über Wohnungsgrundrisse diskutierten: Der sogenannte „Führererlass“ „zur Vorbereitung des deutschen Wohnungsbaues nach dem Kriege“ löste Ende 1940 ein Kompetenzgerangel um die Führungsrolle im Wohnungsbau aus. In verschiedenen Planungsämtern und -büros wurde an der Umsetzung der eher groben Angaben des Erlasses zur Ausstattung und Produktionsweise der neuen „Volkswohnungen“ gearbeitet (vgl. Harlander 1995). Es wurde dabei immer wieder auf Bedürfnisse verwiesen, es bestand aber keine Einigkeit darüber, wie deren Berücksichtigung konkret aussehen sollte, etwa darüber, wie viel Standardisierung im Wohnungsbau zumutbar sei, in welchem Ausmaß Mietwohnungen im Geschosswohnungsbau ausgeführt werden sollten usw. Konstanty Gutschow lehnte 1944 im Zuge einer Debatte im von Albert Speer geleiteten Stab für den Wiederaufbau kriegszerstörter Städte, dem er genauso wie Neufert angehörte, eine strenge Typisierung ab (vgl. die Unterlagen in Gutschow 1940–1944). Er revidierte damit eigene Überlegungen aus den frühen 1930er Jahren. Wichtiger ist – und diesbezüglich halte ich ihn für repräsentativ –, dass er in den Diskussionen um die „Wohnweisen der Zukunft“ nun nur am Rande die Möglichkeit

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„Spuren im Schnee“ erwähnte, Umfragen unter künftigen Bewohnern zu machen. Hinsichtlich der „Wohnweisen der Zukunft“ gelte es, klar zwischen „volksbiologischen“ und „bauwirtschaftlichen“ Fragen sowie Fragen „städtebaulicher Natur“ zu differenzieren, wie er in einem Vortrag zu bedenken gab. Nur beiläufig verwies er auf Neufert und die Frage „Was will das Volk?“ und schlug vor, eine Umfrage unter Soldaten diesbezüglich durchzuführen (vgl. Gutschow 1944). Neuferts Versuch, Wohnwünsche zu Gehör zu bringen, wurde lange nicht nachgeahmt. Roland Rainer, der in der ersten Hälfte der 1940er Jahre zu den schärfsten Kritikern Neuferts gehört hatte, betonte noch 1947, es fehle „den Bewohnern unserer meisten Großstädte der selbstverständliche, eingeborene Wille zu einer bestimmten Art zu wohnen [...]. An die Stelle der Wohnkultur als eines unbewußten, aber um so festeren inneren Besitzes muß nun die verstandesmäßige Analyse der ‚Wohnfunktionen‘ gesetzt werden.“ (Rainer 1947, S. 33). Für Rainer schien eine Beschäftigung mit dem ‚Willen‘ der Menschen angesichts ihrer verlorenen ‚Wohnkultur‘ offenbar wenig zielführend. Anders als seine schwedischen Kollegen schlug er auch nicht vor, diese verlorene ‚Kultur‘ didaktisch zu entwickeln, um die Bevölkerung in die Funktionsanalyse der Wohnung zu involvieren. Entsprechend wenig differenziert wirken deutsche Aussagen zur Bedürfnisbefriedigung bis in die 1950er Jahre hinein. Lange war es letztlich der Forderungskatalog der Zwischenkriegszeit, der kaum erneuert wurde. Es gelte, so schrieb Gutschow noch im Erläuterungsbericht zu seinem Beitrag im prestigeträchtigen Hannoveraner „Constructa“-Wettbewerb 1950, „aus der Unzahl der Grundrisse, die [...] seit dem ersten Weltkrieg gebaut wurden“, die „echten, in vielen Erfahrungen abgeschliffenen“ auszusuchen, denn sie hätten „Wohnvorgängen“ zu dienen, die eher gleichbleibende seien (Gutschow 1950, S. 371). Im Jahr darauf befasste sich auch Hans Bernhard Reichow – ein in der Nachkriegszeit äußerst einflussreicher Ex-Kollege Gutschows – mit „gefühlsbedingten Wohnansprüchen“. Ein „Mensch von gesundem Instinkt“, schrieb er, werde unbewusst die „gute“ Wohnung bevorzugen (Reichow 1951, S. 247). Reichow entwickelte zu dieser Zeit recht exzentrische Methoden, um derartige berechtigte Wohnansprüche für den Architekten sichtbar zu machen. Er untermauerte seine Thesen zu Wohnungs- und Stadtgrundrissen durch Fotos, die vermeintlich unbewusste Formen der Raumaneignung zeigten, etwa die Fußspuren auf einer von Schnee überdeckten barocken Parkanlage – Fußspuren, die nicht rechtwinklig verliefen, wie es die Anlage

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David Kuchenbuch vorsah, sondern „organisch“, also gekurvt. Die Tabula rasa des frisch gefallenen Schnees wurde zur Leinwand, auf der sich Bedürfnisse abbildeten (Reichow 1954, S. 270). Von dieser Annäherung an den Bewohner ist der Titel dieses Beitrag abgeleitet: Es waren im wahrsten Sinne des Wortes die Spuren der Bewohner, die Reichow als Bedürfnisse las. Er sah sich nicht gezwungen, die Perspektive der Bewohner einzunehmen, geschweige denn diesen zuzuhören. Er blickte buchstäblich von oben auf ihren Alltag. Reichows Vorgehen hätte ihn in Schweden 1950 wohl lächerlich gemacht. Hier standen Architekten schon lange unter dem Druck, über die Kriterien laut nachzudenken, anhand derer sie zwischen eingebildeten und berechtigten, auch veränderlichen Wohnansprüchen unterschieden – diese Differenzierung wurde sogar als gemeinsamer Lernprozess zwischen Architekten und Bewohnern zumindest inszeniert. Das wurde allerdings bald auch für westdeutsche Planer interessant: 1953 wurde die Sozialforschungsstelle Dortmund damit beauftragt, eine Umfrage unter Bergarbeitern bezüglich ihrer Wohnwünsche durchzuführen. Die Umfrage wurde bezeichnenderweise von ‚außen‘ – im Reeducation-Kontext – angestoßen: Sie sollte der Planung einer Bergarbeitersiedlung im Auftrag der Mutual Security Agency (MSA) mit Mitteln aus dem Marshallplan vorausgehen, also einem Demonstrativbauvorhaben der Besatzungsmächte. Erstaunt schrieb nun eine der Mitarbeiterinnen, Elisabeth Pfeil: „Merkwürdigerweise ist man erst jetzt auf die Idee gekommen, man könnte die Menschen, für die man Wohnungen baut, fragen, wie sie denn wohnen wollten.“ (Pfeil 1953, S. 128) Deutsche Planer empfanden bald aber auch ihr Wissen darüber, wie man Mieterwünsche beeinflusste, als defizitär – und sie richteten den Blick nach Skandinavien. 1959 etwa debattierten Architekten – darunter der bereits erwähnte Fritz Jaenecke – auf einer Podiumsdiskussion von „Baukunst und Werkform“ die Frage: „Können und sollen Architekten erzieherisch wirken?“ Jaenecke berichtete: „Die Leute in Schweden sind weit mehr als hier in Deutschland darauf eingestellt, sich in Gruppen führen zu lassen.“ (o. V. 1959, S. 295) Davon waren die deutschen Diskussionsteilnehmer begeistert. Jaenecke fühlte sich aber offenbar falsch verstanden: Man habe „in Skandinavien [...] Wohngewohnheiten untersucht und ist aus diesen Untersuchungen heraus zu ganz einfachen Formulierungen gekommen“. Nicht der Architekt erziehe, sondern er stelle vielmehr Strukturen bereit, innerhalb derer „die Menschen beeinflußt durch ihre Behausung einander erziehen“ (ebd., S. 302).

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„Spuren im Schnee“ In Schweden hatte man seit den späten 1930er Jahren den Bewohner dazu zu bringen versucht, freiwillig eigene Wohnwünsche zu Bedürfnissen von gesellschaftlichem Mehrwert zu entwickeln und diese zu kommunizieren. Will man die Entwicklung theoretisch fassen, so ließe sich sagen, dass die schwedischen Experten sich früher dem öffneten, was Jürgen Link den „flexiblen Normalismus“ nennt – im Gegensatz zum „Protonormalismus“ (Link 19972). Die Schweden begannen früher mit einer statistischen Verdatung der Wohnpräferenzen der Bevölkerung, um damit eine vergleichsweise weit streuende „normal range“, eine Normalitätszone zu bestimmen, die sie dann der Wohnbevölkerung als Orientierungswissen zur Identifikation und Selbstmodellierung anboten. Diese Verdatung bzw. die Datenerhebungstechniken waren natürlich tendenziös, nicht unbeeinflusst von normativen Verbesserungsabsichten der Experten. Im Vergleich zu ihren deutschen Kollegen war jedoch die Bereitschaft der schwedischen Architekten größer, sich als Übersetzer vorhandener, durchaus heterogener Bedürfnisse zu verstehen, die man – um ihre optimale Berücksichtigung zu gewährleisten – aber auch an die Betroffenen zurückspiegelte. In Deutschland stand man dieser Praxis nach 1945 ratlos gegenüber. Bis in die späten 1950er Jahre hinein betrachteten deutsche Architekten es als eine Entmachtung, wenn der Nutzer zu Wort kam. Es fiel ihnen schwer zu verstehen, dass die Legitimität der Planung im demokratischen Schweden durch einen partiellen Machtverzicht der Architekten erkauft worden war, durch eine schleichende Flexibilisierung der Auffassung von den ‚richtigen‘ Bedürfnissen. Die Redaktion von „Baukunst und Werkform“ inszenierte das Protokoll des Podiumsgesprächs mit Jaenecke als Niedergangsgeschichte. Der erste Zwischentitel lautet: „Der Architekt ein Messias?“, der letzte: „Abdankung des Architekten“. Eine längere Fassung dieses Aufsatzes ist erschienen in Kuchenbuch 2010, S. 265–288.

2  Vgl. mit Berücksichtigung architektonischer Praktiken auch Link/Gerhard 1999.

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Reichow 1954

Abb. 4: Holm 1955 (Coverbild).

Reichow, Hans Bernhard: Von der Einheit der Gestaltung, in:

Abb. 5: Arkitekten, Jg. 22, 1966, S. 56.

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Andreas Nierhaus

Stahlrohrmöbel, Selbstmordziffer und die „wirkliche Wohnung“ Zur Didaktik von Bau- und Wohnausstellungen um 1930 am Beispiel der „Neuen Zeit“ in Köln und der W iener Werkbundsiedlung

Auf den Bau- und Wohnausstellungen im Jahrzehnt von 1923 bis 1933, also etwa zwischen so konträren Manifestationen wie der ästhetisch revolutionären Bauhaus-Ausstellung in Weimar und der im Vergleich dazu reaktionären Kochenhofsiedlung in Stuttgart, wurden ‚Neues Bauen‘ und ‚Neues Wohnen‘ für den ‚Neuen Menschen‘ des 20. Jahrhunderts öffentlichkeitswirksam aufbereitet und vorgeführt (vgl. Cramer/ Gutschow 1984). Nur hier war es möglich, ein Massenpublikum ganz unmittelbar in einem umfassenden und zugleich differenzierten Wahrnehmungszusammenhang an aktuelle Probleme, Fragestellungen und Lösungsansätze zum Thema Wohnen heranzuführen. Die Rezeption durch dieses Publikum ebenso wie durch Tagespresse und Zeitschriften war Bestandteil einer medialen Strategie und multiplizierte die Wirkung des Gezeigten zusätzlich. In einem weitaus größeren Ausmaß als Fotografie und Film, Zeitschrift und Buch für sich genommen waren die ephemeren Ausstellungen – als komplexe und effiziente Medien-Maschinerien – damit maßgeblich am Versuch beteiligt, die Akzeptanz für neue Formen und Wohnformen auf ein breites gesellschaftliches Fundament zu stellen. Hinter der neuen Ästhetik, die auf diesen Ausstellungen nicht nur präsentiert, sondern insbesondere auch legitimierend erklärt wurde, standen handfeste wirtschafts- und sozialpolitische Absichten. So war der vor allem durch Vorträge und Ausstellungen in der breiten Öffentlichkeit präsente Deutsche Werkbund seit seiner Gründung im Jahr 1907 eine auch von wirtschaftspolitischen Überlegungen geleitete Vereinigung, und sein forciertes Eintreten für „Normierung“ und eine funktionale Gestaltung nach dem Ersten Weltkrieg waren nicht zuletzt Mittel zum Zweck des Aufschwungs der industriellen Produktion für

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Stahlrohrmöbel, Selbstmordziffer und die „wirkliche Wohnung“ eine neue, zunehmend vom Konsum bestimmte Gesellschaft (vgl. Müller 1974, S. 7–9, 112–125). Der historische Rückblick auf die sich als ‚modern‘ deklarierende Architektur im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts neigt zur vereinfachenden Nivellierung, was ideologische und ästhetische Differenzen betrifft. Wenn auch nach außen hin – etwa gegen die Vertreter des Traditionalismus – demonstrative Geschlossenheit gezeigt wurde, so offenbaren die internen Diskussionen, Lagerbildungen, persönlichen und politischen Freund- und Feindschaften ein ausgesprochen vitales und vielfältiges Verhandeln von ‚Modernität‘, das sich nur mit großen Reibungsverlusten auf einzelne Schlagworte (‚Funktionalismus‘, ‚Neue Sachlichkeit‘ oder gar ‚Bauhaus‘) reduzieren lässt. Auch große regionale Unterschiede hinsichtlich der Meinungen über die Möglichkeiten, Aufgaben und Ziele des Neuen Bauens und Wohnens sind in Betracht zu ziehen, die den unterschiedlichen Traditionen der Moderne und Modernisierung, aber auch dem jeweiligen gesellschaftspolitischen Kontext geschuldet waren. Im Deutschen Reich waren dabei andere Kräfte wirksam als etwa in der Schweiz, der Tschechoslowakei oder in Österreich – um hier nur jene Länder zu nennen, in denen zwischen 1927 und 1932 sogenannte Werkbundsiedlungen errichtet und entsprechende Bau- und Wohnausstellungen veranstaltet wurden. Wie sich die thematischen Schwerpunkte dieser Ausstellungen voneinander unterschieden, so differierten auch die didaktischen Konzepte, mit denen die konkreten soziokulturellen und ökonomischen Absichten vermittelt wurden.1 Im Zentrum dieses Beitrags stehen zwei Ausstellungsprojekte des Jahres 1932, deren Genese exemplarisch solche unterschiedlichen Positionen innerhalb des Neuen Bauens und Neuen Wohnens reflektiert: die lange geplante, aufgrund der Weltwirtschaftskrise schließlich abgesagte Kölner Großausstellung „Die Neue Zeit“ und die der katastrophalen

1  Zeitgenössische Kritik an Maschinenästhetik, Funktionalismus und Neuer Sachlichkeit wird heute nach wie vor – zumal im deutschsprachigen Raum nach den Erfahrungen der politischen Verfemung der Moderne durch das NS-Regime zwischen 1933 und 1945 – zumeist als Gegnerschaft zur Moderne, als reaktionärer Konservatismus und Traditionalismus interpretiert. Dabei wird allerdings ausgeblendet, dass kritische Einwände überdurchschnittlich oft von Personen formuliert wurden, die selbst zu den maßgeblichen Protagonisten dieser Moderne zählten. Leben und Werk von Hugo Häring in Deutschland (vgl. Schirren 2001) und Josef Frank in Österreich (vgl. Long 2002) stehen exemplarisch für eine solche ‚kritische’ Moderne, die in der späteren Rezeption oft marginalisiert wurde.

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Andreas Nierhaus wirtschaftlichen Situation gleichsam abgetrotzte Wiener Werkbundsiedlung. Das Bindeglied zwischen diesen beiden auf den ersten Blick so unterschiedlichen Projekten ist die Person des Wiener Ökonomen und Volksbildners Otto Neurath (1882–1945), der sowohl bei der Planung für Köln als auch in Wien seine Erfahrungen auf dem Gebiet der Didaktik von Bau- und Wohnausstellungen einbrachte. Mit dem von der Wiener sozialdemokratischen Stadtverwaltung geförderten Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum hatte Neurath 1925 ein Museum völlig neuen Typs geschaffen. Es verzichtete auf herkömmliche Ausstellungsstücke, besaß weder einen fixen Ort noch eine feste Schausammlung, sondern hatte den Anspruch, durch Modelle, Fotografien und nicht zuletzt anschaulich gestaltete statistische Tafeln komplexe Inhalte in möglichst präzise, aber allgemeinverständliche ‚bildhafte‘ Information zu übersetzen.2 Bauen und Wohnen bildeten dabei die Eckpfeiler der Vermittlungsarbeit, war doch die Schaffung von billigem Wohnraum eines der deklarierten Ziele der Sozialpolitik des Roten Wien. Gemeinsam mit dem Kölner Grafiker Gerd Arntz entwickelte Neurath die Wiener Methode der Bildstatistik, die unter dem Namen ISOTYPE (International System of Typographic Picture Education) international bekannt wurde. Um 1930 begann Neurath mit seinen Piktogrammen und Statistiken das Feld der innovativen visuellen Wissensvermittlung zu erobern und war auf zahlreichen Ausstellungen in ganz Europa präsent (vgl. Kraeutler 2008; Vossoughian 2008).3 Neurath war philosophisch im logischen Empirismus des Wiener Kreises sozialisiert, einem Zirkel, in dem er über den Physiker Philipp Frank auch dessen Bruder, den Architekten Josef Frank (1885–1967), kennenlernte (vgl. Long 2002, S. 114; Rahman 2012, S. 90). Franks schon vor 1914 entwickelte Skepsis gegenüber radikalen bzw. dogmatischen Strömungen innerhalb der modernen Architektur, etwa im Sinne eines ganz auf Maschinenästhetik und Industrieproduktion fokussierten Funktionalismus (vgl. Welzig 2002, S. 136–141), verband sich hier mit der jegliche Metaphysik – und

2  Vgl. die umfassende Dokumentation bei Stadler 1982, S. 227–461. 3  1931 gründete Neurath ein eigenes Institut in Moskau, 1933 nahm er am CIAM-Kongress in Athen teil, während die Berliner Außenstelle seines Museums von den Nazis verwüstet wurde. Als Sozialdemokrat floh er 1934 vor den Austrofaschisten in die Niederlande, 1940 entging er der aufgrund seiner jüdischen Herkunft drohenden Verfolgung seitens der deutschen Invasoren durch Emigration nach Großbritannien, wo er 1945 verstarb.

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Stahlrohrmöbel, Selbstmordziffer und die „wirkliche Wohnung“ damit eben auch die zeitgenössische ‚romantische‘ Maschinenbegeisterung – ablehnenden ‚wissenschaftlichen Weltauffassung‘ des Wiener Kreises (vgl. Engelhardt-Krajanek 1998, S. 119–121; Long 2002, S. 115). Dies brachte sowohl Frank als auch Neurath auf unterschiedlichem Weg zu einer auf ‚Empirie‘ gestützten Position innerhalb der Moderne, die sich von ‚formalistischen‘ Neuerungen ebenso distanzierte wie von konservativ-reaktionärem Traditionalismus – eine Position, die dabei jedoch hinsichtlich der konsequenten und nicht nur rhetorischen (gesellschafts-)politischen Einbettung von Architektur und Kunst, Bauen und Wohnen alles andere als gemäßigt war. In der Debatte rund um das Kölner Ausstellungsprojekt, die vor allem im Organ des Deutschen Werkbunds „Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit“ publizistischen Niederschlag fand, standen einander zwei Konzepte gegenüber, das eine mehr ‚idealistisch‘, das andere ‚realistisch‘ grundiert: Sollte die „Neue Zeit“ der Entwurf einer neuen, zukünftigen, auf ‚Ganzheit‘ orientierten Gesellschafts- und Weltordnung sein oder eine Schau, die die (durchaus als verwirrend akzeptierte) Vielfältigkeit der Gegenwart repräsentierte? Bei der von ihrem Anspruch her weitaus weniger globalen, stärker auf das konkrete Wohnen spezialisierten Wiener Werkbundsiedlung ging es 1932 darum, unter Beteiligung internationaler Architekten Modelle für bezahlbaren Wohnraum im Siedlungsverband zu entwickeln. Mit ihrer schieren Vielfalt an Typen und Einrichtungen reagierte die Werkbundsiedlung sowohl auf das traditionelle Bau- und Wohnformen bevorzugende, damals international beachtete Wohnbauprogramm des Roten Wien (vgl. Blau 1998) als auch auf das Neue Bauen in Deutschland. Zugleich räumte die betont uneinheitliche und variable Einrichtung vieler Musterhäuser dem vom Architekten mit größerer Selbstständigkeit ausgestatteten Musterbewohner eine zentrale Rolle als ‚Gestalter‘ ein.

Köln 1932 Der Deutsche Werkbund hatte im September 1927 den Entschluss gefasst, seine zunächst für 1930 geplante Großausstellung nun definitiv im Jahr 1932, rechtzeitig zum 25-jährigen Gründungsjubiläum der Vereinigung, in Köln stattfinden zu lassen (vgl. Jaeggi 2007, S. 151).4 Die Überlegungen dazu lassen sich bis ins Jahr 1925 zurückverfolgen.

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Andreas Nierhaus Damals war in Paris die „Exposition internationale des arts décoratifs et industriels modernes“ gezeigt worden, an der das Deutsche Reich aus diplomatischen Gründen nicht hatte teilnehmen können.4Nun sollte Frankreichs führende Rolle im Kunstgewerbe und Design durch eine deutsche Großausstellung, die freilich international, ja sogar weltumspannend konzipiert war, relativiert werden. Wie vor dem Ersten Weltkrieg ging es immer noch darum, „der Vorherrschaft Frankreichs im Bereich der luxuriösen dekorativen Künste das sozial und wirtschaftlich motivierte Modell der Gestaltung vorbildlicher Alltagsgegenstände entgegenzustellen“ (ebd., S. 150). Zugleich hatte der Deutsche Werkbund im Jahr 1927 bereits weit über die Grenzen des Deutschen Reichs hinaus Signale seiner neuen internationalen Orientierung gesendet: Die im Rahmen einer großen Werkbundausstellung unter der Leitung von Ludwig Mies van der Rohe errichtete Stuttgarter Weißenhofsiedlung hatte einem neuen und in der Folge mehrfach variierten Format des Ausstellungsdesigns die Bahn geebnet (vgl. Kirsch 1987). Das Neue Bauen wurde aus seiner zweidimensionalen Repräsentation in Büchern und Zeitschriften in die dritte Dimension entfaltet, wuchs von der verkleinerten Darstellung zum Modell im Maßstab 1:1, das sich nach dem Ende der Ausstellung zum Wohnhaus wandelte und dadurch in die Lage versetzt wurde, seine von vielen Kritikern angezweifelte Alltagstauglichkeit unter Beweis zu stellen. Die Relevanz, die in jenen Jahren dem Medium Ausstellung beigemessen wurde, veranschaulicht eine Stellungnahme Mies van der Rohes, der sich anfangs auch intensiv für die „Neue Zeit“ einsetzte: „Ausstellungen sind Instrumente wirtschaftlicher und kultureller Arbeit. [...] Nur wenn das zentrale Problem unserer Zeit – die Intensivierung des Lebens – Inhalt der Ausstellungen wird, finden sie Sinn und Rechtfertigung. Sie müssen Demonstrationen führender Kräfte sein und zu einer Revolutionierung des Denkens führen.“ (Mies van der Rohe 1928, S. 121) Im Sommer 1928 wurde der liberale Publizist Ernst Jäckh (1875– 1959) zum Reichskommissär der Ausstellung bestellt (vgl. Jaeggi 2007,

4  Die Reichshauptstadt Berlin, von vielen als der ideale Austragungsort der „Neuen Zeit“ angesehen, hatte sich selbst aus dem Rennen genommen und für 1931 eine eigene Bauausstellung angekündigt. Die Wahl Kölns war indes gut begründet: Hier, nahe den für die Arbeit des Werkbunds höchst bedeutsamen rheinischen Industriegebieten, hatte 1914 seine letzte Großausstellung stattgefunden, deren Tore infolge des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs frühzeitig geschlossen worden waren.

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Stahlrohrmöbel, Selbstmordziffer und die „wirkliche Wohnung“ S. 151). Sein Ausstellungskonzept ging allerdings weit über Stuttgart hinaus, gipfelte „in der Proklamierung einer ‚nationalen Priorität‘ Deutschlands“ und fiel so „auf das alte [...] Muster der Überbietung“ zurück (ebd., S. 152). Ähnlich wie im Werkbund vor 1918 rückten damit wirtschaftspolitische Absichten zumindest in der Rhetorik der Planer wieder in den Vordergrund.5 Für das große Kölner Ausstellungsprojekt war mit Jäckh in jedem Fall ein wortgewaltiger Promotor gefunden, der nicht mit Superlativen sparte und eine „Neudeutsche Ausstellungspolitik“ (Jäckh 1928) ankündigte, die alle früheren Unternehmungen in Hinblick auf „Planmäßigkeit“, „Politikbestimmtheit“ und „Formsicherheit“ – das sind die von Jäckh verwendeten Begriffe – in den Schatten stellen sollte. Dass die Ausstellung „Die Neue Zeit“ am Ende ein Sturm im Wasserglas blieb, lag in erster Linie an den spätestens ab 1929 spürbaren Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise, wohl aber auch an dem allzu umfassenden Anspruch ihres Konzepts – war doch schon im Vorfeld die Befürchtung zu vernehmen, bei dieser Ausstellung könne kaum auf einen Teil verzichtet werden, ohne dass das große Ganze zerstört würde. Jäckh machte das Programm der Ausstellung in einem großen Aufsatz bekannt, der im August 1929 ein ganzes Heft der „Form“ füllte (Jäckh 1929). Die Ausstellung habe die „national wie international verantwortungsvolle Aufgabe der Bewußtmachung einer neuen Zeit und einer neuen Welt“ (ebd., S. 401). Dazu bedürfe es allerdings einer Abkehr vom nach wie vor herrschenden traditionellen Ausstellungstyp der Weltausstellung des 19. Jahrhunderts mit ihren „provisorischen Schaubauten“: „Die Ausstellung einer neuen Zeit muß sich durch produktives Bauen und durch eine schöpferische Idee legitimieren.“ (Ebd., S. 404) Jäckh geht von einer „Totalität und Einheit“ der „Neuen Zeit“ aus, und es gelte nun, sie „zum Bewußtsein zu bringen, sie bewußt zu machen, sie bekennerisch und gläubig zu entwickeln“ (ebd., S. 406). Die Ausstellung dachte sich Jäckh als Zyklus in „siebenfacher Einheit“ von sieben Kapiteln, der die postulierte Totalität der „Neuen Zeit“ auch räumlich zum Ausdruck bringen sollte: „Das Weltbild“, „Formung

5  Jäckh selbst hatte sich vor dem Krieg für eine enge Zusammenarbeit des Deutschen mit dem Osmanischen Reich engagiert, ein Projekt, das im Deutschen Werkbund – mit Friedrich Naumann und seinem „Mitteleuropa“-Konzept – vor 1918 eine zentrale Rolle spielte und die kultur- und wirtschaftsimperialistische Schlagseite der Vereinigung offenbart (vgl. Campell 1989, S. 119–128; Nicolai 2007, S. 72f.).

124

Andreas Nierhaus des Menschen“, „Beherrschung der Stoffe und Kräfte“, „Bauen und Wohnen“, „Landesplanung und Städtebau“, „Gestaltung des Staates“, „Ordnung der Welt“ (ebd., S. 411f.). (Abb. 1)

Abb. 1  Ernst Jäckh, Plan der Ausstellung „Die Neue Zeit“ in Köln, 1929.

Jäckh ging es um „die aktive Vermittlung einer lebensvollen Einheit, einer konstruktiven Biologie“; die Ausstellung müsse „hinter das Gesicht der Dinge sehen und weisen“ und die „Totalität“ des Lebens fassen, „eine Deutung des Seins und eine Begründung des Sollens“ liefern (ebd., S. 411). Für das Kapitel „Formung des Menschen“ war unter anderem eine Darstellung der eugenischen Bewegung in den USA vorgesehen, „mit ihrem Willen zu einer rationalen menschlichen Zuchtwahl“, die Jäckh als avantgardistisches Projekt betrachtete (ebd., S. 413). Die in der Gruppe „Bauen und Wohnen“ aufgeworfenen Themen sollten vor allem durch Siedlungen und Großbauten als „Ausstellungsobjekte“ (ebd., S. 413) veranschaulicht werden. Dass Jäckhs Vorhaben weit über solche Detailfragen hinausging und stets versuchte, die ganze Welt im Blick zu behalten, zeigt sich in den beiden letzten Kapiteln: Unter dem Titel „Gestaltung des Staates“ steht Deutschland bzw. ein noch zu schaffendes größeres

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Stahlrohrmöbel, Selbstmordziffer und die „wirkliche Wohnung“ Deutschland – „ältestes Volk [...] und jüngste Staatsnation zugleich, jahrhundertelang Volk ohne Staatseinheit und jetzt Staat ohne Volkseinheit“ (ebd., S. 415) – im Mittelpunkt. Das abschließende Kapitel „Ordnung der Welt“ dreht sich um das, was heute mit ‚Globalisierung‘ bezeichnet wird, um das „Vordringen einer weltwirtschaftlichen Gesinnung“ (ebd., S. 416). Am Ende bekräftigt Jäckh noch einmal den Anspruch auf Totalität: „Jede ‚Welt-Ausstellung‘ hat bisher die Welt dargestellt als ein Chaos getrennter Teile [...]. Diese internationale Werkbund-Ausstellung soll einen ‚Werkbund‘ der Welt darstellen, die Kooperation eines gleichen Willens steigern, das Streben zum gleichen Ziele einer Ordnung der Welt stärken.“ (Ebd., S. 418) Unmittelbar nach der Veröffentlichung des Programms setzte eine kurze, jedoch intensiv und engagiert geführte Debatte um die Ziele der Ausstellung ein. Der Großteil der Stellungnahmen datiert aus dem zweiten Halbjahr 1929; bereits zu Jahresende zeichnete sich intern ab, dass die Ausstellung wohl kaum zu realisieren sein würde (vgl. Jaeggi 2007, S. 153). Die Reaktionen auf Jäckhs Konzept fielen insgesamt positiv aus. Wilhelm Lotz, Redakteur der „Form“, macht wie Jäckh aus der „Neuen Zeit“ ein Glaubensbekenntnis: „Wer die Technik und die moderne Architektur bejaht, muß notwendigerweise an tiefere geschichtliche Kräfte glauben, die diese Erscheinungen als vorwärtsweisende, kündende Symptome zeitigen.“ (Lotz 1929, S. 439) Auch Lotz nämlich denkt „an einen neuen Menschentyp, der in dieser Zeit steht und sie nach sich zu formen sucht“ (Lotz 1928, S. 122). Der Architekt Walther Schmidt hingegen mahnt Pluralismus statt Totalität ein, fordert Ausblicke „ins Ferne, Befreiende, Vieldeutige“, fürchtet, dass das präsentierte neue Weltbild „seelisch zu dürftig und zu einseitig intellektuell aussehen“ und Weltwirtschaft zum „Selbstzweck“ werde (Schmidt 1929, S. 558). Der Techniker Adolf Reitz ist hingegen ganz ergriffen von der quasi-religiösen Grundhaltung Jäckhs zur „Neuen Zeit“: „Das will ja eben die Ausstellung, das ist ihre große Mission am Volk, das Geistige, sagen wir das Religiöse im werktätigen Sein zu betonen, auszudrücken. Die Ausstellung kann so eine gewaltige Kirche sein, Materie und formender Geist die Prediger.“ (Reitz 1929, S. 616.) In Zitaten wie diesen wird deutlich, dass der Werkbund niemals mit einer Stimme sprach, sondern aus einem breiten Spektrum an oft widerstreitenden Meinungen bestand – darunter nicht zuletzt auch solchen, die nach 1933 die ‚Gleichschaltung‘ der Vereinigung beschleunigt haben mögen (vgl. Campbell 1989, S. 308–361).

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Andreas Nierhaus Jäckh hatte sein Ausstellungsprogramm auch auf der Vollversammlung des Österreichischen Werkbunds6 am 2. Oktober 1929 in Wien vorgetragen und bei dieser Gelegenheit die Wohnbautätigkeit der Gemeinde Wien und die Aktivitäten des Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseums ausdrücklich lobend hervorgehoben (vgl. Engelhardt-Krajanek 1998, S. 85). Möglicherweise hat Jäckh den erfahrenen Ausstellungsgestalter und Vermittler Neurath, der auch Vorstandsmitglied des Österreichischen Werkbunds war, bei dieser Gelegenheit zur Mitarbeit am Kölner Projekt eingeladen. Neurath beteiligte sich mit ausführlichen Kommentaren, die 1929 und 1930 in der „Form“ erschienen, an der Diskussion um das Programm der Ausstellung. Der erste Beitrag erschien am 1. November 1929 und damit einen Monat nach dem Wiener Vortrag Jäckhs, der zweite und letzte am 15. Oktober 1930 und damit zu einem Zeitpunkt, als „Die Neue Zeit“ bereits auf 1933 verschoben worden war.7 Neurath mahnte zunächst Überschaubarkeit und Einheitlichkeit an: „Eine gute Ausstellung soll überschaubar sein. Verwirrung ist von Übel.“ (Neurath 1929, S. 588) Daher solle die Ausstellung auf vier Gruppen reduziert werden. Um einen Mittelraum mit der Einführung „Weltbild und Menschheit“ sollten drei weitere Abteilungen gruppiert werden: „Beherrschung der Stoffe und Kräfte“, „Formung des persönlichen Lebens“ und „Gesellschafts- und Lebensordnung“ (ebd., S. 589). Zugleich müsse man „Europa als eines von vielen Weltgebieten erkennen“ (ebd., S. 588). Insgesamt sei auf die „Schauintensität des Besuchers“ zu achten und darauf, „daß das Visuelle heute im Leben der Menschheit eine größere Rolle spielt als in den letzten Jahrzehnten“ (ebd., S. 589f.). Neurath geht konkret auf den Eurozentrismus der Ausstellung und die Monopolisierung des Modernitäts-Prinzips ein: „Die einführende Gruppe ‚Weltbild und Menschheit‘ müßte zeigen, daß in der Gegenwart das, was wir modernes Haus, moderne Kunst, moderne wissenschaftliche Weltauffassung nennen, nur für einen nicht sehr großen Teil der Menschheit ausschlaggebend ist. Es müßte z.    B. die mohammedanische,

6  Der Österreichische Werkbund, 1912 nach deutschem Vorbild gegründet, war nach 1918 zunehmend zersplittert und erst 1929 wiedervereinigt worden (vgl. zuletzt Posch 2012). 7  Die Verschiebung wurde in den Mitteilungen des Deutschen Werkbunds vom 15. April 1930 bekannt gemacht (vgl. o.  V. 1930, o.  S.). Auch Neuraths umfangreicher Beitrag „Das Sachbild“ im selben Jahrgang der „Form“, der allerdings das Kölner Ausstellungsprojekt unerwähnt lässt, ist in diesem Kontext zu sehen.

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Stahlrohrmöbel, Selbstmordziffer und die „wirkliche Wohnung“ die ostasiatische Welt, das Wirkungsgebiet der katholischen Kirche innerhalb der europäischen Kultur in ihrer ganzen Breite sichtbar sein. Jede Gruppe müßte so dargestellt werden, daß sie von ihren Vertretern als sachlich richtig anerkannt werden muß. Lob und Tadel sind nicht Zweck dieser Schau, sondern sachliche Belehrung.“ (Ebd., S. 590) Auch auf der Jahrestagung des Deutschen Werkbunds in Wien im Juni 1930 war das Kölner Ausstellungsprojekt Thema. Josef Franks Vortrag „Was ist modern?“, in dem er die naive Technikgläubigkeit, das Streben nach Normierung und den Formalismus der „Radikal-Modernen“ als „archaistisch“ bezeichnete (Frank 1930, S. 399) und die Moderne im Gegenzug als verwirrend vielgestaltiges, uneinheitliches Phänomen skizzierte, war nicht zuletzt auch eine Stellungnahme gegen Jäckhs Glauben an die Einheitlichkeit der „Neuen Zeit“.8 Otto Neurath, der in seiner mündlich vorgetragenen Stellungnahme während der Tagung offenbar eine ähnliche Meinung wie Frank vertrat, schlug die Einbeziehung statistischer Darstellungen zur Verbreitung der neuen Wohnformen in die Ausstellung vor – wohl um den Anspruch auf ‚Totalität‘ der „Neuen Zeit“ zu relativieren.9 Wilhelm Lotz wandte sich entschieden gegen diese Idee: „Eine Ausstellung wie ‚Die Neue Zeit‘ braucht wohl einem zahlenmäßigen Nachweis dann nicht aus dem Wege zu gehen [...], wenn man in ihr bis zum letzten ausgestellten Objekt den eine neue Zeit bejahenden Glauben so sehr herausfühlt, daß jeder Beschauer spürt, daß sie Dokument eines Glaubens und nicht eine Tatsache ist. [...] Wer eine Selbstmordstatistik als kulturellen Gradmesser eines Volkes ansieht, der hat wohl nie versucht, auf jene geheimen merkwürdigen triebhaften Kräfte der Menschen einer Epoche und der Massenpsychologie zu achten.“ (Lotz 1930, S. 494f.) Neuraths schriftliche Entgegnung erschien wenig später in der „Form“ und formulierte konzentriert die Hauptpunkte der Kritik an

8  Dies geht aus einer Reaktion von Wilhelm Lotz hervor, der den „Skeptizismus“ Josef Franks als „nicht modern“ bezeichnet und den „fanatischen Glauben“ an eine „neue Entwicklungsepoche“ vermisst: „Wer so denkt wie Frank, kann nicht an die Notwendigkeit glauben, in einer großen Demonstration, wie es die Ausstellung ‚Die Neue Zeit‘ werden soll, all das zu zeigen, wovon wir glauben, daß es in die Zukunft weist.“ (Lotz 1930, S. 494) 9  Im ersten Saal der Ausstellung des Österreichischen Werkbunds, die anlässlich der Tagung im Österreichischen Museum für Kunst und Industrie in Wien eröffnet wurde, präsentierte Neurath Statistiken, unter anderem zu „Kunstgewerbe und kunstgewerbliche[r] Industrie in Österreich“.

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Andreas Nierhaus Jäckhs Programm: Die Ausstellung könne nicht „in erster Reihe den Standpunkt einer kleinen Gruppe leidenschaftlich begeisterter Neuerer vertreten“, sie müsse vielmehr „verschiedenartigsten Bemühungen Raum [...] geben, weil sie mächtig und lebendig sind, auch wenn sie von den Ausstellern selbst nicht vertreten werden“ (Neurath 1930, S. 533). Ein erhebliches Maß an Toleranz sei also angesagt und deshalb müssten streng objektive Grundsätze, messbare Daten der Ausstellungskonzeption zugrunde gelegt werden: „Wir wissen sehr viel über die Stadt eines bestimmten Gebietes, wenn wir die Zahl der Morde kennen, der Diebstähle, der Geburten, der Todesfälle, der Selbstmorde, der Industriearbeiter und ihre Veränderungen.“ (Ebd., S. 533) Neurath sieht die Selbstmordziffer ausdrücklich nicht als Indikator für den kulturellen Grad eines Volkes und er betont dabei den auch didaktisch wichtigen Unterschied zwischen ‚Bedeuten‘ und ‚Zeigen‘: „Es ist nicht so, daß mehr Selbstmorde mehr Kultur bedeuten, wohl aber zeigen sie in der Gegenwart wachsende moderne Kultur an, wie etwa eine steigende Quecksilbersäule des Thermometers das Aufgehen der Sonne. Wenn Rationalisierung auftritt, verbreitet sie sich über das ganze Dasein der Menschen, gleichgültig, ob es sich um Stahlrohrmöbel oder Geburtenregel handelt; wenn wir hören, daß in einer Stadt durchschnittlich 6 bis 14 Kinder auf eine Familie entfallen, dann ist es nicht wahrscheinlich, daß in dieser Stadt ein erheblicher Teil der Bevölkerung Stahlrohrmöbel verwendet.“ (Ebd., S. 533) Gegen die seiner Meinung nach metaphysisch-idealistischen Tendenzen des Ausstellungskonzepts setzt Neurath sein unbedingtes Vertrauen in die Wahrhaftigkeit und „Unbestechlichkeit“ der Zahlen und ihrer Analyse: „Die Zahlen sprechen. Es gibt nicht neben der Welt, die wir wahrnehmen, eine zweite [...], es gibt nicht neben den Tatsachen eine besondere ‚Kraft der Ideen‘.“ (Ebd., S. 533) Deutlich zeigt sich an dieser Stelle Neuraths intellektuelle Verankerung im Wiener Kreis, in dessen Schrift „Wissenschaftliche Weltauffassung“ von 1929 zu lesen ist: „In der Wissenschaft gibt es keine ‚Tiefen‘; überall ist Oberfläche: alles Erlebte bildet ein kompliziertes, nicht immer überschaubares, oft nur im einzelnen faßbares Netz. Alles ist dem Menschen zugänglich; und der Mensch ist das Maß aller Dinge. Hier zeigt sich Verwandtschaft mit den Sophisten, nicht mit den Platonikern; mit den Epikureern, nicht mit den Pythagoreern; mit allen, die irdisches Wesen und Diesseitigkeit vertreten. Die wissenschaftliche Weltauffassung kennt ke i n e u n l ö s b a r e n R ä t s e l .“ (Verein Ernst Mach 1929, S. 15)

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Stahlrohrmöbel, Selbstmordziffer und die „wirkliche Wohnung“ Die Differenzen zwischen den Befürwortern einer groß angelegten, möglichst umfassend konzipierten Ausstellung mit eindeutiger wirtschaftspolitischer und formalästhetischer Stoßrichtung und ‚Mission‘ und den Skeptikern eines solchen Unternehmens waren unüberwindbar. Den Befürwortern von Jäckhs Konzept schwebte die Darstellung einer idealen modernen Zukunfts-Kultur als Ziel vor Augen, einer Kultur, die den Prinzipien des Funktionalismus und der ‚Mechanisierung‘ folgen müsse, da sie der eigentliche Ausdruck der Neuen Zeit seien.10 Darauf reagierte Neurath mit der Frage, ob die „Maschinenschwärmerei“ tatsächlich so weitverbreitet sei, und betonte – wie Josef Frank – die Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Gegenwart, bei der man ansetzen müsse: „Die meisten Menschen wollen nicht wie in Schiffen wohnen, und wenn sie mit Schiffen reisen, wünschen sie, daß die Kabinen und Salons wie die traditionellen Wohn- oder Prunkräume aussehen [...]. Wir wollen uns doch ernsthaft die Frage vorlegen: sind alle diese Wohnungen unserer

Abb. 2  Plakat für die Wiener Werkbundsiedlung, Entwurf: Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum.

10  Man scheute sich nicht einmal, „den fanatischen Glauben der Menschen der Renaissance“ als Vorbild ins Treffen zu führen (Lotz 1930, S. 494).

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Andreas Nierhaus Werkbundfreunde, alle diese Schiffe nicht modern? Kommt nicht leicht das Paradoxon zustande, daß ‚modern‘ nicht modern ist? Sicherlich sollen wir auf der Ausstellung ‚Die Neue Zeit‘ die herrlichsten neuen Möbel zeigen, aber die Ausstellung darf im Durchschnittsbesucher nicht den Eindruck erwecken, als ob nun diese Möbelformen auf der Welt sich wesentlich durchgesetzt haben. Wir müssen jedenfalls auch zeigen, wie die Welt wirklich ist. Auf der Ausstellung ‚Die Neue Zeit‘ muß auch die wirkliche Wohnung zu sehen sein.“ (Neurath 1930, S. 534) Schließlich ging es dem Epikureer Neurath darum, „die gesellschaftliche Glücksgestaltung weit kräftiger“ zu betonen, „selbst auf die Gefahr hin, daß man dabei weniger radikale, wenn auch beglückendere Formen schaffen könnte. Das Glück ist wichtiger als das Prinzip. [...] Wir kämpfen für die ‚Neue Zeit‘, aber immer vom festen Boden der Realität aus.“ (Ebd., S. 534)

Wien 1932 Nach der Absage der Kölner Ausstellung lenkte Otto Neurath seine Aufmerksamkeit ganz auf die seit 1929 geplante Wiener Werkbundsiedlung. Die internationale Ausstellung war vom Österreichischen Werkbund nach dem Vorbild der Stuttgarter Weißenhofsiedlung – aber auch als Antwort darauf – konzipiert worden und öffnete, zwei Jahre nach dem zuerst anvisierten Termin, am 4. Juni 1932 ihre Pforten. Innerhalb von nur zwei Monaten kamen mehr als 100.000 Besucher an den westlichen Stadtrand, um 70 vollständig eingerichtete Musterhäuser zu sehen.11 (Abb. 2) Wenn Neurath für die „Neue Zeit“ in Köln die Darstellung der „wirklichen“ Wohnung gefordert hatte, so traf er sich hierin mit dem Leiter der Wiener Ausstellung, Josef Frank. Als einziger Österreicher war Frank 1927 in der Weißenhofsiedlung mit einem Doppelhaus vertreten gewesen und hatte dort für Aufsehen gesorgt: Die von Textilien und ‚Ornamenten‘ bestimmte Einrichtung war – im Verein mit zwei programmatischen Texten des Architekten in den die Ausstellung begleitenden Publikationen – ein deutliches Statement gegen die dogmatisch-puristische Auslegung des Funktionalismus im Bereich des Wohnens, wie sie in Stuttgart etwa in den von Le Corbusier geplanten und eingerichteten Häusern präsentiert wurde.12

11  Zur Werkbundsiedlung vgl. zuletzt ausführlich Nierhaus/Orosz 2012, mit umfassender Bibliografie.

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Stahlrohrmöbel, Selbstmordziffer und die „wirkliche Wohnung“ Die bunte und verworren-vielfältige Wirklichkeit der Gegenwart, die den eigentlichen Ausdruck, den ‚Stil‘12der Zeit prägen müsse, setzte Frank in Kontrast zu dem antiquierten Denken in uniformen ‚Garnituren‘, das er in der einheitlichen Möblierung mit Stahlrohrmöbeln weiterwirken sah.13 Frank traf sich dabei mit Neuraths notorischer Skepsis gegenüber allen vordergründig idealistischen Konzepten, hinter denen er – wie Frank angesichts der rhetorischen Überhöhung von Funktionalismus und Sachlichkeit – Formalismus, Metaphysik und Totalitarismus witterte. Beiden war darüber hinaus eine im Kontext des Roten Wien verankerte intensive Reflexion der sozialpolitischen Aufgaben von Bauen und Wohnen eigen.14 In der Wiener Ausstellung wollte Frank keine unerreichbaren, ‚idealen‘ Wohnhäuser der Zukunft zeigen, ja nicht einmal neue Bautechniken erproben, da für ihn das Kleinwohnhaus keine neuen ästhetischen oder bautechnischen Fragen aufwarf (vgl. Frank 1932, S. 9). Dafür sollte das Haus jederzeit erweitert und umgebaut werden können: Jede architektonische Komposition war zu vermeiden, Fenster und Türen sollten nur an eine von innen logisch entwickelte Stelle gesetzt werden. ‚Monumentalität‘ war nach Möglichkeit zu vermeiden, da sie mit Hausbau und Wohnen nichts zu schaffen habe. Die Möbel dachte sich Frank „leicht beweglich ohne jeden Zusammenhang und ohne jede Einheitlichkeit in Form, Material und Farbe, so daß alles jederzeit ausgewechselt und ergänzt werden kann. Wichtig ist für diese Möbel lediglich, daß sie nicht mehr Raum einnehmen, als ihrem Gebrauchswert zukommt. Welcher Art diese Gegenstände sind, ob sie alt oder neu sind, ist vollkommen gleichgültig.“ (Ebd., S. 8–10) (Abb. 3) Diese Sätze, im offiziellen Begleitband zur Ausstellung publiziert, machen deutlich, dass das (bautechnische und ästhetische) Experiment

12  Zu Franks Rolle in Stuttgart vgl. Long 2002, S. 104–110. 13  In „Architektur als Symbol“ heißt es 1931: „Was nützt uns der Stahlrohrsessel, solang nicht endlich das auf die ‚Garnitur‘ festgelegte Lebensprinzip verschwunden ist?“ (Frank 1931, S. 132) 14  Die Funktionalismuskritik bei Frank und Neurath ist insbesondere vor dem Hintergrund des – hier nicht weiter zu verfolgenden – Wohnbauprogramms des Roten Wien zu sehen, dessen „Abweichung vom Muster des gradlinigen industriellen Fortschritts in der internationalen Architekturentwicklung“ schon für Peter Gorsen der Anlass war, zur „Dialektik des Funktionalismus“ Stellung zu nehmen: „Die kostspielige Orientierung an dem punktuell erreichten Fortschritt im Ausland und seinem Bilderbuch-Funktionalismus wurde [in Wien, A.  N.] einem kaum spektakulären Selbsthilfeprogramm zur Beseitigung der Wohnungsnot geopfert. Dies sollte der formalistischen Kritik an der auseinanderfallenden, widerspruchsvollen Ästhetik der Wiener Wohnkomplexe zu denken geben“ (Gorsen 1979, S. 690, 704).

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Andreas Nierhaus

Abb. 3  Wohnraum von Oskar Strnad im Haus Nr. 14 der Wiener Werkbundsiedlung.

um seiner selbst willen, wie es in Stuttgart in den Augen mancher selbst progressiv eingestellten Kritiker im Vordergrund gestanden hatte,15 nach Möglichkeit ausgeschlossen werden sollte. Wenn sich auch die mehr als 30 beteiligten Architekten nur bedingt an die theoretischen Vorgaben der Ausstellungsleitung hielten, so führten die Beschränkungen im Bauprogramm (kleine Einfamilienhäuser) und in der Bautechnik (Ziegelmauerwerk) dennoch vielfach zu einer Konzentration auf ‚elementare‘ Fragen des Wohnens der Gegenwart, fernab von ästhetisch vielleicht ansprechenderen, aber womöglich in der ‚Wirklichkeit‘ außerhalb der Ausstellung unbrauchbaren Lösungen. Auf der anderen Seite erlaubte der von Frank vorgegebene Gestaltungsspielraum aber auch eine große Bandbreite an räumlichen Lösungen und Einrichtungsvorschlägen, ja, die Architekten und Innenraumgestalter – darunter verhältnismäßig viele Frauen – dürften durch die von der Ausstellungsleitung so deutlich vertretene Abneigung gegenüber jeglichen Normierungserscheinungen

15  Vgl. etwa Hegemann 1928.

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Stahlrohrmöbel, Selbstmordziffer und die „wirkliche Wohnung“ geradezu dazu animiert worden sein. Die Vielfalt an Möglichkeiten bei gleichzeitigem Mangel an allzu strikten Wohnvorgaben erweckte beim Publikum – glaubt man den Zeitungsberichten – vorwiegend positive Reaktionen. Wilhelm Lotz dagegen kritisierte in der „Form“ die „sehr unproblematische und im besten Sinn traditionsbetonte Einstellung der Österreicher zum Wohnproblem“, der das – von ihm den Deutschen zugeschriebene – „Systematische und der systematische Versuchscharakter“ fehle, womit vor allem die Grundrisslösungen angesprochen waren (Lotz 1932, S. 201f.). Für dasselbe Heft der „Form“ verfasste Otto Neurath einen Beitrag, der seine Position noch einmal zusammenfasst und die politische Dimension des Wohnens einbezieht: „Die wirkliche Wohnung der Zukunft ist etwas anderes als die utopischen Konstruktionen vieler Architekten, die auf die Verwirklichung ihrer Ideale so warten, wie ehedem die sozialen Utopisten auf die Verwirklichung der ihrigen. Die Wiener Internationale Werkbundsiedlung will zeigen, wie man in wachsendem Maße zu glücklichem Leben in wirklichen Wohnungen gelangen wird.“ (Neurath 1932a, S. 208f.) Keine übermäßigen Festlegungen im Grundriss, wenige einheitliche Möblierungen, freie Wahl bei der Wohnungseinrichtung – keine Neuheit um ihrer selbst willen, keine gezwungene Rationalisierung oder Normung: „Diese Ausstellung will nicht zeigen, was für Erfindungen man gemacht hat, wie man technisch den kürzesten Weg innerhalb der Wohnung schafft, innerhalb der Küche, wie man am besten bei der Küchenarbeit sitzen kann usw., sondern wie man in der nächsten Zeit wohl am glücklichsten in wirklichen Wohnungen leben dürfte. Die optimale technische Lösung deckt sich keineswegs immer mit dem Glücksmaximum.“ (Ebd., S. 214) „Der Architekt“, so Neurath, „hat seine Stelle als Vollzugsorgan der Gesellschaft, wenn er nicht ein wirklichkeitsfremder Träumer sein will. [...] Hat er Mißerfolg, dann hat er falsch gedacht.“ (Ebd., S. 215)16 Die Wiener Ausstellung, so Neurath, zeige jenen Wohnungstypus, „den eine siegreich vordringende Massenbewegung“ – gemeint ist das Proletariat – „in absehbarer Zeit erringen könnte. Nicht durch die spar-

16  Hier bezieht sich Neurath augenscheinlich auf Josef Frank, der im Jahr zuvor in „Architektur als Symbol“ geschrieben hatte: „Wem es nicht gelingt, Form und Inhalt in restlose Übereinstimmung zu bringen, der hat eben seinen Beruf als Architekt verfehlt und täte gut daran, ein anderes Gewerbe auszuüben.“ (Frank 1931, S. 519)

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Andreas Nierhaus samste Bauweise kommen wir zur Wohnungsreform, sondern durch politische Erfolge [...].“ (Ebd., S. 215) Zur selben Zeit skizzierte Neurath in der sozialdemokratischen „Arbeiter-Zeitung“, die 1930 eine Auflage von 100.000 Stück erreichte, unter dem Titel „Glückliches Wohnen“ mit ähnlichen Tönen die proletarische Wohnung der Zukunft, wie sie in der Werkbundsiedlung bereits verwirklicht worden sei: „im allgemeinen ein großer gemeinsamer Wohnraum, getrennte, wenn auch kleine Schlafräume für Eltern und Kinder. [...] Wenn der Besucher dieser Ausstellung den Wunsch hat, in den Wohnungen, wie sie gezeigt werden, zu wohnen, dann hat der Werkbund ein wichtiges Ziel erreicht. Im Gegensatz zu so vielen Bauausstellungen, deren steife Kälte von der Geschicklichkeit und Erfindungskraft der Architekten Zeugnis ablegen mögen, nicht aber von ihrer Fähigkeit, das zu schaffen, was Aufgabe jedes guten Architekten ist: glückliches Wohnen.“ (Neurath 1932b, S. 10)17 In einem zweiten Beitrag in der „Form“ – einer Reaktion auf den oben zitierten kritischen Artikel von Wilhelm Lotz – unterstrich Neurath noch einmal sein gleichsam evolutionäres Konzept einer langsamen, allmählichen Modernisierung als Gegensatz zu radikalen Vorschlägen, deren Wirkung rasch verpuffte: „Utopistische Entschlossenheit hat wenig Bedeutung, stört sogar oft planmäßige Arbeit im Interesse der Forderung des Tages. Wer die große Bedeutung gesellschaftlicher Umgestaltung erkannt hat, wird sich im allgemeinen nicht allzuviel mit Wohnungsreform, Kleiderreform und anderen Reformen abgeben und allzuviel Propaganda für sie machen. Damit lenkt man viele von entschlossener gesellschaftlicher Arbeit ab: Lebensreform als Opiat.“ (Neurath 1932c, S. 261f.) Eine Ausstellung, die – anders als die Wiener Werkbundsiedlung – gänzlich einer radikalen ästhetischen Erneuerung verschrieben gewesen wäre, mit „glitzernden Wänden, schimmernden Möbeln, kühnsten Neuerungen“, hätte wohl kaum zu einer so intensiv geführten öffentlichen Debatte über das Neue Wohnen geführt, mutmaßte Neurath. Der „Ausstellungsrealismus“ habe die Gegner der Modernisierung an ihrer empfindlichsten Stelle getroffen (ebd., S. 263).

17  Und Neurath schreibt weiter: „Was hilft aber selbst der beste Architekt, wenn wir nicht endlich über die Macht verfügen, Wohnung, Nahrung, Kleidung, kurzum unser ganzes Leben, befreit von den Schranken kapitalistischer Knechtschaft, gemeinsam für alle zu gestalten, so glücklich zu gestalten, wie wir es wollen. Erst der Sozialismus gibt dem guten Architekten die Möglichkeit, den Massen das zu leisten, was er heute nur für einige wenige entwerfen darf.“ (Neurath 1932b, S. 10)

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Stahlrohrmöbel, Selbstmordziffer und die „wirkliche Wohnung“ Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Deutlichkeit, mit der im Rahmen der Wiener Ausstellung auf die aktive Beteiligung der Bewohner bei der Gestaltung ihres Hauses hingewiesen wurde – nicht von ungefähr ein Topos in den Texten des Ausstellungsleiters Josef Frank. Dem Gestaltungswillen der Architekten im Interieur hatte Frank schon früh eine deutliche Absage erteilt und sie bereits 1919 förmlich aus dem Inneren des Hauses ausgesperrt: „Der Architekt kann nichts anderes bieten als ein Gerippe oder einen Rahmen zu einer Wohnung. [...] Die Wohnung eines empfindungslosen Menschen, in die der Architekt die schönsten Dinge, geschmackvoll und symmetrisch geordnet, gestellt, gelegt und gehängt hat, wird immer empfindungslos und nüchtern bleiben [...]. Das Wohnzimmer ist nie unfertig und nie fertig, es lebt mit den Menschen, die in ihm wohnen.“ (Frank 1981a, S. 56) „Die angenehmsten Einrichtungen“, schreibt Frank 1928, „waren seit jeher diejenigen, die sich der Bewohner selbst im Lauf der Zeit zusammengestellt hat und denen keinerlei Absichtlichkeit anzusehen ist. Nichts wirkt peinlicher als eine Einrichtung, die sofort wie ein Plakat die guten Eigenschaften des Bewohners anpreist.“ (Frank 1981b, S. 26f.) Die „Erziehung“ des Publikums wollte Frank darauf beschränken, ihm eine „anständige Gesinnung“ für das Verwenden der Formen zu geben (ebd., S. 27). Und im 1928 erschienenen Begleitbuch „Innenräume“ zur Stuttgarter Weißenhofsiedlung schreibt Frank: „Die Auswahl der notwendigen Gegenstände ist nicht Sache des Architekten, sondern des Bewohners, der, um sich eine behagliche Wohnung zu schaffen, nichts verwenden wird, wozu er nicht eine persönliche Beziehung hat.“ (Frank 1981c, S. 87) In didaktischer Hinsicht forderte die Wiener Werkbundsiedlung ihre Besucher dazu auf, die präsentierten Vorschläge für ein Neues Wohnen als Anregungen zu verstehen, auf deren Basis selbstständige, individuelle Lösungen entwickelt werden sollten. Bei dieser Former Erziehung zum ‚richtigen‘ Wohnen fällt auf, in welchem Ausmaß der Architekt aus der Rolle des Gestalters verabschiedet wird. Er entwirft im besten Fall noch die Möbel, die der Bewohner anschließend frei kombiniert, aber immer wieder durch neue und alte Stücke ergänzt und so jegliche architektonische ‚Komposition‘ obsolet macht. Frank und Neurath reduzierten die gestalterischen Möglichkeiten des Architekten auf ein Minimum, weil sie davon überzeugt waren, dass die Frage nach dem ‚richtigen‘, dem ‚glücklichen‘ Wohnen nicht allein durch gestalterische Vorgaben beantwortet werden könne. Und: Die unaufgeregte Modernität der Häuser der

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Andreas Nierhaus Werkbundsiedlung sollte eine umso stärkere, langfristigere gesellschaftspolitische Wirkung erzielen. Tatsächlich wurde die öffentliche Debatte durch die Ausstellung erheblich angeheizt, wurden Wohnfragen zum Stadtgespräch. Die österreichische Rundfunkgesellschaft RAVAG sendete Vorträge von Josef Frank, Josef Hoffmann und anderen Gestaltern, der Architekt Oskar Strnad diskutierte mit einem Besucher der Ausstellung unter dem Titel „Was gefällt ihnen nicht an der Werkbundsiedlung?“,18 in den Tageszeitungen wurde die Praktikabilität von Raumaufteilung und Einrichtung detailliert besprochen und mitunter auch scharf kritisiert.19 Den in der Werkbundsiedlung präsentierten Vorzügen des Wohnens im Grünen, im Siedlungsverband, wie es von Neurath und Frank seit den frühen 1920er Jahren im Rahmen der (vorwiegend sozialdemokratisch-genossenschaftlich organisierten) Wiener Siedlerbewegung propagiert und unterstützt worden war, konnte in der Debatte allerdings kaum etwas entgegengehalten werden. Die unmittelbare Wirkung der Werkbundsiedlung auf den zeitgenössischen Wohnbau blieb dennoch äußerst begrenzt. Es war der bald nach 1932 einsetzende politische Wandel im Deutschen Reich, aber auch in Österreich, der die Bemühungen um die „wirkliche Wohnung“ und eine planmäßige, schrittweise, wissenschaftlich fundierte Modernisierung, wie sie Neurath und Frank in intensiver Auseinandersetzung mit der internationalen architektonischen Moderne entwickelt hatten, zunichte machen sollte. Viele Architekten und Gestalter der Wiener Werkbundsiedlung wurden ab 1938 als Juden durch die Nationalsozialisten verfolgt und mussten fliehen, nur ein verschwindend geringer Teil kehrte nach dem Krieg nach Österreich zurück. Es ist müßig zu spekulieren, welchen Einfluss die Werkbundsiedlung unter anderen politischen Umständen auf die weitere Entwicklung des Neuen Bauens und Wohnens genommen hätte. Mit ihrer deutlichen Tendenz zur „größeren Freiheit“ der Bewohner wies sie für Gustav Adolf Platz jedenfalls den Weg in die Zukunft, als er 1933 in dem Standardwerk „Wohnräume der Gegenwart“ die neuesten Tendenzen in Deutschland und Österreich resümierte: „Die Wiener Ausstellung zeigte

18  Die Berichterstattung im Radio ist in der Zeitschrift „Radio Wien“ dokumentiert: Jg. 8, 1932, H. 36, S. 11, H. 37, S. 17f., H. 38, S. 16, H. 39, S. 13, H. 40, S. 15, H. 41, S. 20. 19  Eine Zusammenstellung der zur Werkbundsiedlung erschienenen Zeitungsartikel bei Nierhaus/Orosz 2012, S. 287.

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Stahlrohrmöbel, Selbstmordziffer und die „wirkliche Wohnung“ besonders gut jene lockere und leichte Komposition, die zugleich Erbteil einer alten Kultur und Frucht einer unzerstörbaren Freude am Leben ist. In der Wiener Siedlung findet man wenig Grundrisse, die den Bewohner übermäßig festlegen, wenig Wohnungseinrichtungen, die ihm die Hinzuwahl von neuen Stücken erschweren würden. Freilich ist solche Hinzuwahl neuer Stücke nur dann ohne Störung möglich, wenn das Mobiliar allgemein schon eine gewisse Einheit der Gesinnung und der Form aufweist. Daß dies heute der Fall ist, kann als günstiges Zeichen für das Heranreifen einer neuen guten Baugesinnung gewertet werden.“ (Platz 1933, S. 82) Anhand der Debatten rund um das Kölner Ausstellungsprojekt „Die Neue Zeit“ und die Wiener Werkbundsiedlung lassen sich die Verschiedenheit der Positionen innerhalb des Neuen Bauens und Wohnens um 1930 ebenso festmachen wie die Formen und Ziele seiner Vermittlung: Stand für Ernst Jäckh außer Zweifel, dass die Kölner Ausstellung die Einheit einer proklamierten Neuen Zeit möglichst eindrucksvoll und umfassend repräsentieren müsse, so ging Josef Frank bei seiner Planung für Wien im Gegenzug von der Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Moderne aus, die auf keinen vereinfachenden Nenner zu bringen sei. Otto Neurath wiederum, als in beide Projekte involvierter professioneller Wissensvermittler, hegte jeglicher idealistischen Konzeption gegenüber ein grundsätzliches Misstrauen und forderte ‚Ausstellungsrealismus‘ ein. Der engagierte Versuch, dem nach wie vor von der wirtschaftspolitischen Orientierung der Ausstellungen des 19. Jahrhunderts geprägten Medium Bau- und Wohnausstellung eine stärkere gesellschaftspolitische Stoßrichtung zu verschaffen, führt allerdings in weiterer Konsequenz dazu, dass durch den absichtlichen Verzicht auf das Zeigen des Außerordentlichen und Spektakulären wesentliche Elemente und Mechanismen des Mediums selbst grundsätzlich in Frage gestellt werden. Aus dieser Perspektive hat die Wiener Werkbundsiedlung also nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich einen Schlussstrich unter die Präsentation des Neuen Bauens und Wohnens der Zwischenkriegszeit gezogen und zugleich ein neues Kapitel eröffnet, an dem aufgrund der politischen Umwälzungen der 1930er Jahre jedoch nicht mehr weitergeschrieben werden konnte.

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Campbell, Joan: Der Deutsche Werkbund 1907–1934, 

Frank 1932

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Frank, Josef: Zur Entstehung der Werkbundsiedlung, in: Ders.

Verein Ernst Mach 1929

(Hg.): Die Internationale Werkbundsiedlung Wien 1932, Wien:

Verein Ernst Mach (Hg.): Wissenschaftliche Weltauffassung –

Schroll 1932, S. 7–10.

Der Wiener Kreis, Wien: Wolf 1929.

Gorsen 1979

Cramer/Gutschow 1984

Gorsen, Peter: Zur Dialektik des Funktionalismus heute.

Cramer, Johannes; Niels Gutschow: Bauausstellungen. Eine

Das Beispiel des kommunalen Wohnungsbaus im Wien der

Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart: 

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Abbildungsnachweise Abb. 1: Archiv des Autors. Abb. 2: Nierhaus/Orosz 2012, S. 12, Abb. 11. Abb. 3: Nierhaus/Orosz 2012, S. 133, Abb. 146.

141

Michael Zinganel

1:1 Populäre Wohner ziehung im Fer tighauspark

Die „Blaue Lagune“, 1992 in unmittelbarer Nachbarschaft der Shopping City Süd – der ersten großen suburbanen Shopping-Mall im Süden Wiens – errichtet, ist nach eigenen Angaben der größte Fertighauspark Europas. Rund um einen in ein Biotop verwandelten Schotterteich werden hier 1:1Modelle von aktuell 85 Fertighaustypen unterschiedlichster Hersteller, Stilrichtungen und technischer Ausstattungen gezeigt. In ihren Werbekampagnen adressiert die „Blaue Lagune“ die traditionelle Kleinfamilie aus dem breiten Mittelstand. In den Musterhäusern finden interessierte Konsument_innen ohne ausgeprägtes räumliches Vorstellungsvermögen einfache, direkt ablesbare Orientierungshilfen und Inspirationen zum Hauskauf oder -bau. Weil die Gebäude aber auch in Kooperation mit Einrichtungshäusern ihrem jeweiligen Preisniveau entsprechend möbliert sind, um ihre Praktikabilität im zukünftigen Lebensalltag zu beweisen, stellen sie auch 1:1-Musterwohnungen dar, in denen sich auch das Mobiliar realitätsnäher darstellt als in Anzeigen, Prospekten oder den Schauräumen von Möbelhäusern. In der „Blauen Lagune“ wird jedoch auf vordergründige Bevormundung und Belehrung völlig verzichtet. Hier streifen die Interessent_innen wie in einer Shopping-Mall lustvoll von Haus zu Haus, sammeln Prospekte und Eindrücke und komponieren aus unterschiedlichen planerischen, stilistischen und bautechnischen Versatzstücken das Wunschhaus und Wohnmodell ihrer Wahl.

Die verspätete Karriere des Fertigteilhauses¹ in Österreich Dass der größte Fertigteilhauspark ausgerechnet in Österreich steht, ist insofern bemerkenswert, als sich das Fertigteilhaus am österreichischen Eigenheimmarkt erst sehr spät – erst ab Mitte der 1980 Jahre –

143

1:1 behaupten konnte1(vgl. Steiner 1997, 1998).2 Hier hielt sich sehr lange eine Aversion gegenüber dem Fertigteilhaus, die mit den traumatischen Erfahrungen der Kriegsgeneration in Verbindung gebracht werden kann, die massenweise industriell gefertigte Holzkonstruktionen in erster Linie mit Militärbaracken, Kriegsgefangenen- oder Konzentrationslagern und Elendsquartieren assoziierte, in denen zuerst die Opfer des Faschismus und später auch die Täter inhaftiert worden waren. Die leichte Bauweise aus Holzrahmen widersprach auch der Imagination, mit dem Heim solide, immerwährende, bleibende Werte für die noch folgenden Generationen der eigenen Familie zu schaffen.3 Die ablehnende Haltung wurde mitunter vererbt oder auf die Kinder übertragen, die beim Hausbau hochgradig von innerfamiliären Zuschüssen abhängig waren. Erst als der Einfluss der Kriegsgeneration nachließ, die handwerklichen Fähigkeiten und die notwendigen sozialen Netzwerke für die Do-it-yourself-Verfahren in Nachbarschaftshilfe schwanden und auch das Haus zunehmend als Konsumartikel betrachtet wurde, stieg das Interesse am Fertigteilhaus auch in Österreich spürbar an. Ein schlauer Unternehmer erkannte diesen Trend und wandte sich an den Betreiber der größten österreichischen Shopping-Mall mit der Idee, diese um einen Freiluftpark zur Ausstellung von Musterhäusern der Fertighausindustrie zu erweitern. Die Fertighausbetriebe waren bislang in erster Linie auf die Vermittlung über Magazine und Baumessen angewiesen. Musterhäuser waren nur auf den Arealen der Herstellungsbetriebe zu besichtigen, die weit verstreut vorrangig in ländlichen Regionen situiert waren. Nur vereinzelt fanden sich Mus-

1  Die Geschichte des Fertigteilhauses geht ursprünglich auf den Bedarf nach schnell zu errichtenden Beherbergungsformen während der britischen Kolonialzeit zurück. Ihre Nobilitierung erhielten sie durch die Versuche von Architekten der frühen Moderne, wie Walter Gropius und Adolf Loos, die Fertigteiltechnologie beim Bau großer Wohnsiedlungen einsetzten (vgl. Bergdoll u.  a. 2008). Ihren größten Erfolg am zivilen Markt hatten sie jedoch erst im Bauboom der Nachkriegszeit der USA, als Unternehmen geplante Siedlungen aus zigtausenden Häuschen in anwachsenden Vororten errichteten (vgl. Fishman 1987; Harris 2010). Nur zum Vergleich: Die 17.000 Häuser des 1954–58 errichteten paradigmatischen US-Vorortes Levittown in Pennsylvania entsprechen der gesamten Jahresproduktion an Einfamilienhäusern in Österreich im Jahr 2010, und davon sind nur 30 Prozent Fertigteilhäuser (vgl. Österreichischer Fertighausverband 2012). 2  Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als beispielsweise in Frankreich bereits ein erster Einbruch des Wachstums wegen Marktsättigung konstatiert wurde (vgl. Bourdieu 2002). 3  Und auch im österreichischen Heimatfilm der 1950er Jahre sollten Holzhütten immer nur transitorische Aufenthaltsorte repräsentieren, das solide gemauerte Haus hingegen das stabile Wertesystem (vgl. Nierhaus 1996).

144

Michael Zinganel terhäuser in der Nähe von Messearealen. In Vösendorf bei Wien, am Standort der bereits seit 1976 bestens etablierten Mall mit einem enormen Einzugsgebiet an potenziellen Interessent_innen, erschien es für die Hersteller daher tatsächlich als eine lohnende Investition, jeweils sogar mehrere Häuser im Maßstab 1:1 aufzubauen.4

Shopping-Mall und Eigenheim als doppelte Distinktionsfolie Der Vergleich der „Blauen Lagune“ mit Bauausstellungen der Zwischenkriegszeit wie der Wiener Werkbundsiedlung als jeweils paradigmatische Beispiele von Bau- und Wohnausstellungen in unterschiedlichen Entwicklungsphasen der Konsumgesellschaft ist durchaus naheliegend. Während jedoch die Wiener Werkbundsiedlung mit ihrem explizit modernen architektonischen Programm und dem damit einhergehenden humanistischen Bildungsethos bei den urbanen Bildungseliten höchstes Ansehen genießt, gilt die „Blaue Lagune“ in denselben Kreisen bestenfalls als frivoles Schreckgespenst, in dem der schlechte Geschmack des Kleinbürgertums zur Schau gestellt wird. Die Kombination von Shopping-Mall und massengefertigtem kleinbürgerlichem Eigenheim ohne erkennbare Stilpräferenz oder Bildungsanspruch stellen aus dem Blickwinkel der kulturkritisch geschulten urbanen Intellektuellen eine doppelte Distinktionsfolie dar: best of böse.5 Anstatt mich dieser Kritik anzuschließen, will ich einen verständnisvolleren Blick auf diese beiden bedeutenden Institutionen der Alltagskultur entwickeln – und folge dabei den Arbeiten des Soziologen Pierre Bourdieu und des Populärkulturtheoretikers John Fiske. Die Studie „Der Einzige und sein Eigenheim“ (Bourdieu 2002) ist eine Analyse der Motive und Mechanismen des Einfamilienhausmarktes in Frankreich anlässlich der Krise der 1980er Jahre, in der Bourdieu die zentralen Thesen seiner Theorien und den dazugehörigen Begriffsapparat anschaulich darstellt (Praxis, Habitus, Feld und symbolisches Kapi-

4  Diese und die im Folgenden referierten Fakten zur „Blauen Lagune“ stammen aus den Werbebroschüren und von der Website des Unternehmens sowie aus Gesprächen mit dem Geschäftsführer Erich Benischek im April 1998 und der Werbefachfrau Silvia Gronau im November 2012 (vgl.: http://www.blauelagune.at/home/). 5  „Best of Böse“ nennt sich ein jährlich zum Jahreswechsel erscheinendes satirisches Magazin der Wiener Stadtzeitung „Falter“.

145

1:1 tal). Für Bourdieu stellt bekanntlich das Streben nach sozialer Anerkennung die zentrale Antriebsfeder allen sozialen Handelns dar. Dabei haben die Akteur_innen6 immer auch die Adressat_innen im Auge, von denen sie jeweils akzeptiert werden wollen. Zuallererst ist das in der Regel das eigene unmittelbare Lebensumfeld. Sukzessive kommen neue Felder hinzu, in denen jeweils wiederum eigene Spielregeln gelten und in denen sich die Akteur_innen zu bewegen lernen. Für weite Teile des französischen Mittelstandes – aber auch für den deutschen und österreichischen – galt seit der Nachkriegszeit das Eigenheim als eines der verlässlichsten Werkzeuge zur Erlangung sozialer Anerkennung. Standort, Größe und Stil dienten der Assimilierung an eine bestimmte soziale Gruppe. Sein Erwerb stellt aber in der Regel auch die größte Investition im Leben einer Mittelstandsfamilie dar – und war daher von beträchtlichen Risiken begleitet. Die Sehnsucht nach dem Haus speist sich bekanntlich aus unterschiedlichen Quellen: aus dem Habitus der Akteur_innen, der Familiengeschichte, der Werbung der Unternehmen und nicht zuletzt aus der staatlichen Steuerung. Spätestens seit 1789 verbreiteten sich in den politischen Diskursen der Gegenrevolution bzw. Restauration bereits erste Strategien, die Massen des einfachen Volkes „ohne Heim und Herd“ im familiären Eigenheim zu domestizieren.7 Nach dem Zweiten Weltkrieg wird die Kleinfamilie im Eigenheim generell zum zentralen Rückhalt der westlichen Konsumgesellschaften erhoben – von der Repatriierung von verwahrlosten Kriegsheimkehrern bis hin zur idealen Waffe gegen die Gefahr des Kommunismus.8 Im Feld der Politik wird also durch Förder-

6  Auch wenn weder Bourdieu noch Fiske mit dem Unterstrich arbeiten, soll seine Verwendung hier darauf aufmerksam machen, dass die männliche Form nur einen Teil der gemeinten Subjekte benennt. Die Bemühung um geschlechtergerechte Sprache bedeutet aber auch, dass im weiteren Verlauf des Textes an manchen Stellen explizit die männliche Form gewählt wurde, auch wenn nicht alle der dort benannten Subjekte männlich sind, um nicht zu verschleiern, dass der Kontext, etwa jener der Eigenheim-Bauunternehmer ein sehr männlich dominierter ist. 7  Die ‚Verkleinbürgerlichung‘ sollte fortan als Schutz vor unkontrollierbarem kollektivistischem Gedankengut dienen. Schließlich wurde mit der ersten katholischen Sozialenzyklika „Rerum Novarum“, 1891 unter Papst Leo XIII. veröffentlicht, die auf ver-  erbbarem Eigentum beruhende Familie zur „Keimzelle der Gesellschaft“ erhoben. 8  Die gesellschaftspolitische Bedeutung der Idee des Einfamilienhauses in Österreich spiegelt sich beispielsweise auch in den Jubiläumsnummern des Kundenmagazins der Wüstenrot Bausparkasse wider, zu denen die jeweils führenden Politiker der Zweiten Republik Beiträge liefern: Noch 1976 sollte beispielsweise Bundespräsident Kirchschläger in seiner Rede anlässlich der 50-Jahr-Feier der Bausparkasse die tradierten Bilder von sozialem Frieden und heteronormativem Familienleben reproduzieren:

146

Michael Zinganel instrumente für Hersteller und Konsument_innen sowohl das Angebot als auch die Nachfrage produziert. Im Feld der Konsument_innen ringen die Familien und Familienmitglieder mit unterschiedlichen Interessen um alle mit dem Hauskauf einhergehenden Entscheidungen. Im Feld der Unternehmen versuchen sich Mitbewerber unterschiedlicher Größe und mit unterschiedlicher Betriebsgeschichte bestmöglich am Markt in Stellung zu bringen, die Konsument_innen in Versuchung zu führen und gleichzeitig der Politik möglichst umfangreiche Unterstützungen abzuringen. Bourdieu unterscheidet davon das Feld im jeweiligen Unternehmen, das nicht homogen ist, sondern gekennzeichnet von Konflikten zwischen Personen mit unterschiedlichen Ausbildungen, Aufgaben und Interessen (Architekten, Ingenieure, Zimmerer, Betriebswirte, Verkäufer). Schließlich beschreibt Bourdieu noch das Feld des Vertragsabschlusses, in dem Vertreter_innen des Feldes der Unternehmen mit jenen der Familie zusammentreffen – mit irreversiblen Folgen für die Familie – die Bourdieu (2002, S. 21) als die Falle Eigenheim bezeichnet hat.9 John Fiske arbeitet in „Lesarten des Populären“ (Fiske 2000) die beschränkte Macht der Konsument_innen innerhalb des hegemonialen Gesellschaftssystems heraus und beschreibt dabei vor allem die lustvollen widerständigen Praktiken der Beherrschten, die sich die von den Herrschenden zu Verfügung gestellten Objekte und Zeichen willkürlich aneignen, sie gegenlesen und zu neuen, in ihrem Alltag sinnstiftenden Bedeutungen zusammensetzen. Ihm zufolge sind Einkaufszentren nicht nur Kathedralen des passiven Konsums, sondern vielmehr ideale Ressourcen zur Auswahl und Selbstausstattung mit jenen Konsumgütern, mit denen die sozialen Akteur_innen ihre eigene(n) Identität(en) aktiv konstruieren, und stellen gleichzeitig auch die idealen Bühnenlandschaf-

„Erst das eigene Haus im Grünen, die Bindung an Familie, Grund und Boden machen den Arbeiter zu einem verlässlichen Mitglied der Gesellschaft.“ (Das Wüstenrot-Heim, Heft 1, 1976) 9  Die scheinbare Demokratisierung des Zugangs zum Eigenheim, zu der in Österreich vor allem die Sozialdemokraten beigetragen haben, verbirgt aber – so schließt Bourdieu – beträchtliche Unterschiede in der damit verbundenen Lebensweise. Viele der weniger wohlhabenden ‚Häuselbauer’-Familien müssen zugunsten des Einfamilienhauses auf andere Konsumgüter und Freizeitangebote verzichten, auf Urlaube beispielsweise. Zudem müssen sie mitunter extrem lange Fahrzeiten zum Arbeitsplatz oder zur Schule in Kauf nehmen, weil die Grundstückspreise in der Nähe von Ballungsräumen oder in gut erschlossen und versorgten Gebieten für sie schlichtweg unerschwinglich geworden sind. Meist ist es die Frau, die zur Gefangenen des Eigenheimes wird und nur als Chauffeurin ihrer Kinder und für den Einkauf im Supermarkt die selbst gewählte Enklave verlassen ‚darf‘.

147

1:1 ten, um diese Identitäten zu erproben und zur Schau zu tragen – wobei das keineswegs heißt, dass immer auch tatsächlich eingekauft werden muss. „Proletarisches Shopping“ nennt Fiske den performativen Konsum von Raum, den visuellen Konsum in Schaufenstern, das Anprobieren von Kleidungsstücken, das Angreifen von Waren. Das Posieren vor anderen und Beobachten von anderen ermöglicht ein lustvolles Schlendern von einer potenziellen Identität zur anderen und eröffnet jede Menge Chancen zu informeller Kontaktaufnahme. In der Mall bleiben die Wohlhabenden keineswegs unter sich, sondern hier treffen sich auch Trickser_innen oder (Konsum-)Guerilleras, die versuchen, den Mächtigen ein Schnippchen (und Schnäppchen) zu schlagen. Diese Beobachtungen lassen sich auch auf die „Blaue Lagune“ übertragen. Im Sinne Bourdieus ist die „Blaue Lagune“ ein soziales Feld, in dem Vertreter der Unternehmen um die bestmögliche Präsentation ihrer Musterhäuser konkurrieren und Vertreter_innen der Familien ihre unterschiedlichen Wohnvorstellungen anhand des Besuchs dieser Musterhäuser aushandeln. Gleichzeitig treffen die Felder der Produzenten und der Familie im Beratungs- oder Verkaufsgespräch aufeinander, um im besten Fall einen Vorvertrag über einen Hauskauf abzuschließen.10 Darüber hinaus ist die „Blaue Lagune“ eine Open-Air-Shopping-Mall, in der die Besucher_innen nicht notwendigerweise Häuser kaufen. Viele spielen nur Käufer_innen, posieren vielmehr in ihren potenziellen zukünftigen Häusern, ‚bekleiden‘ sich kurzfristig damit und testen dabei unverbindlich verschiedene Identitäten und Familienrituale.

Geschäftsmodell und städtebauliches Konzept Die Idee, im Anschluss an die größte Shopping-Mall an einem Autobahnknoten transnationaler Verkehrskorridore eine Vermarktungsplattform für die Fertigteilindustrie aufzubauen, sieht auf den ersten

10  Trotz Fixpreisgarantie für die schlüsselfertige Übergabe und die Finanzierungsberatung durch die Aussteller denken überraschend viele Interessent_innen gar nicht daran, eines der Musterhäuser zu kaufen, sondern lassen sich nach dem Besuch der „Blauen Lagune“ von einem Baumeister ihrer Wahl ihr Wunschhaus – sicherheitshalber – in Massivbautechnik nachbauen (Interviews mit Besucher_innen, Verkäufern und dem Geschäftsführer der Blauen Lagune anlässlich des Ausstellungsprojektes „Wir Häuslbauer“ im April 1998, verifiziert im November 2012).

148

Michael Zinganel Blick wie ein strategisch angelegtes Konzernprojekt mit beträchtlichem Personal- und Kapitalbedarf aus. Tatsächlich stellt die „Blaue Lagune“ jedoch eine Kooperation von Akteur_innen mit vergleichbarem Habitus dar: Der Grundstücksbesitzer, die SCS Privatstiftung, ist dem mittlerweile verstorbenen Einzelunternehmer Hans Dujsik zuzurechnen, der die nach eigenen Angaben größte Shopping-Mall Europas jahrelang wie ein Familienunternehmen geführt hat. Die „Blaue Lagune GmbH“ hat nur einen einzigen Gesellschafter, den Initiator Erich Benischek, der an seinem Firmensitz nicht mehr als zwei Angestellte zur Verwaltung und Buchhaltung benötigt und der das Marketing selbst mit nur einer teilzeitbeschäftigten Werbefachfrau, Silvia Gronau, entwickelt. Und nebenbei bemerkt ist auch der größte und wichtigste Aussteller, Elk, heute tatsächlich ein multinational operierender Konzern, nach wie vor im Besitz der Gründerfamilie. Der Erfolg ist maßgeblich dieser Akteur_innenkonstellation von befreundeten Familienunternehmen geschuldet, die sich allmählich zu einem großunternehmerischen Geflecht erweitert. Die „Blaue Lagune“ liegt auf dem letzten Grundstück im Anschluss an die Shopping City Süd, eingepfercht zwischen mehreren stark befahrenen Schnellstraßen und Zubringern. Erreicht werden kann die „Blaue Lagune“ den Zielgruppen entsprechend mit dem privaten PKW über eine Abfahrt von der Süd-Autobahn und einen Zubringer, der zuerst einmal die gesamte Mall umrundet, bevor das Auto auf einem der 200 Stellplätze abgestellt werden kann.11 Die „Blaue Lagune“ ist gewissermaßen eine Gated Community: Die Anlage ist zur Gänze eingezäunt, aber weniger zum Schutz gegen Eindringlinge als zum Schutz der Besucher_innen, insbesondere verloren gegangener Kleinkinder, die sich auf die angrenzenden Straßen verlaufen könnten. (Abb. 1) Schon von der Autobahn aus und am Zubringer wird den Besucher_innen der richtige Weg vom Logo des Unternehmens gewiesen, das einem Straßenschild nachgestellt ist, das den Ortsnamen einer fiktiven Stadt trägt. Ihr Name, die „Blaue Lagune“, ist ein ironischer Verweis ihres Erfinders auf die bescheidene Wasserfläche des einstigen Schotterteichs, um den sich die Musterhäuser gruppieren – vor allem aber auf die als romantisch propagierte Erfahrung des gemeinsamen Hauskaufs. Hinter dem Eingangstor zur ‚Stadt‘ steht das

11  Besucher_innen können auch mit der Badener Lokalbahn anreisen oder mit dem IKEA-Bus, die beide vor dem benachbarten Einkaufstempel halten – müssen dann bis zum Eingang zur „Blauen Lagune“ aber noch ein paar hundert Parkplätze passieren.

149

1:1

Abb. 1  Der „Stadtplan“ bildet die zentrale Navigationshilfe in der „Blauen Lagune“.   Er führt zu den einzelnen Musterhäusern und zu den übergeordneten Themenausstellungen.

Abb. 2  Die Luftaufnahme zeigt den Fertighauspark als verdichtete autofreie Gated Community in unmittelbarer Nachbarschaft zu einer suburbanen Shopping-Mall.

150

Michael Zinganel Empfangshaus mit einem Gästecafé und einem Informationsbüro, in dem Übersichtskarten, Prospekte und ein Reiseführer ausgegeben werden. In der Einleitung des Reiseführers, der als Stadtführer durch die Attraktionen der unterschiedlichen Stadtteile der „Blauen Lagune“ angelegt ist, wird aus dem Blickwinkel eines jungen Pärchens der Hauskauf als krönender Abschluss ihres dreitägigen Aufenthalts in der kleinen Musterstadt beschrieben – durchaus konfliktreich, aber lohnend.12 Die „Blaue Lagune“ erinnert bezüglich ihrer räumlichen Organisation mit den gekrümmten Straßen um einen zentralen Teich mehr an eine US-amerikanische Suburb als an einen österreichischen Vorort, mit dem Unterschied, dass hier das Auto auf dem Parkplatz vor der Anlage abgestellt werden muss. (Abb. 2) Wie die Wiener Werkbundsiedlung ist die „Blaue Lagune“ eine Modellstadt mit dem dezidierten Zweck der Ausstellung und des Verkaufs unterschiedlicher Wohnhaustypen. Zufällig weisen beide in etwa die gleiche Gesamtgrundstücksfläche und die gleiche Anzahl an Häusern auf. Im Gegensatz zur Werkbundsiedlung ist hier das gesamte Areal jedoch nicht Wohnfläche, sondern wie die benachbarte Shopping-Mall Geschäftsfläche. Daher sind die Abstandsregeln zwischen den Häusern außer Kraft gesetzt. Die ausgestellten Objekte – die Einfamilienhäuser – stehen viel näher zueinander als in der Werkbundsiedlung und in den typischen suburbanen Agglomerationen, wo diese Häuser im Lebensalltag des österreichischen Mittelstandes ihren Platz finden werden. In der „Blauen Lagune“ sind sie nicht mit gegenseitigem Respektabstand mehr oder minder linear nebeneinander aufgereiht und hinter Zäunen und Hecken versteckt, sodass sie den Passant_innen in der Regel nur den Blick auf die straßenseitige Eingangstüre und die Doppelgarage freigeben. Die Häuser in der „Blauen Lagune“ haben gar keine Zäune und Hecken, sie richten ihre Schauseiten ohne visuelle Barrieren in Richtung der organisch gekrümmten Wege, auf denen die Besucher_innen ausschließlich zu Fuß die Anlage durchwandern. Während in der Werkbundsiedlung die ästhetische Gesamterscheinung einer strengen Kontrolle unterlag, wobei unterschiedliche Typen in mehreren geordneten Formationen aus identischen Häusern zusammengefasst wurden, steht es in der „Blauen Lagune“ den Herstellern völlig frei, welches Haus sie ausstellen wollen. Daher gleicht kein Haus dem anderen.

12  Der Stadtführer wurde konzipiert und geschrieben von Silvia Gronau (Blaue Lagune 2012).

151

1:1 Wir finden hier Varianten des schwedischen Blockhauses mit rustikaler Einrichtung, äußerlich erkennbar preisgünstige Typen mit ebenso preiswerter Einrichtung, üppige postmoderne Villentypen mit Imitationen von Stilmöbeln oder auch zeitgemäße Passiv- und Niedrigenergiehäuser mit Interieurs in an der Moderne orientiertem Design. (Abb. 3) Waren die ausgestellten Häuser anfangs bezüglich ihrer Größe und Preisgestaltung mit den Richtlinien der Wohnbauförderung und den Finanzierungsmodellen der Bausparkassen abgestimmt, so wurden sie über die Jahre hinweg zunehmend größer. Aber auch die Formen der Häuser veränderten sich: Statt komplexer Dachlandschaften und kleinteiliger Objekte mit einer Vielzahl an Erkern dominieren heute einfache Formen mit einer geringen Anzahl zu beheizender Oberflächen. Mit dem Aufkommen von zusätzlichen Wintergärten musste das Satteldach sukzessive dem einfacheren, preisgünstigeren Pultdach weichen. Die Fortschritte im Fensterbau ließen größere Öffnungen zu. Aktuell sind einfache kubische Objekte mit offenkundigen Referenzen an die klassische Moderne, an das Bauhaus – oder eben die Wiener Werkbundsiedlung – im Trend. Die Grundrisse sind sehr verschieden, jedoch durchweg konventionell. In allen Gebäuden, selbst in den kleinsten, ist heute zumindest die Küche offen zum Ess- und Wohnbereich gestaltet. Das hier propagierte Familienmodell ist nach wie vor jenes der 1930er Jahre oder der Nachkriegszeit: Eine heteronormative Kernfamilie mit zwei Kindern, was aber nicht bedeutet, dass sich nicht auch Interessent_innen in anderen Familienkonstellationen solche Fertigteilhäuser kaufen würden. Ein wichtiger Markt sind heute etwa ältere Personen, die nach dem Durchleben konventioneller Familienmodelle mit ihren neuen Lebenspartner_innen noch einmal in ein neues Haus an einem Standort ihrer Wahl ziehen wollen. Was in all den Musterhäusern fehlt, sind Heizräume, Abstellräume, Hauswirtschafträume, Arbeitsräume, Hobbyräume etc. – ein Keller und/ oder eine Garage müssen also in jedem Fall extra erworben werden. Die „Blaue Lagune“ zeigt sich sowohl in Hinblick auf ihre städtebauliche Gesamterscheinung als auch bezüglich der sie konstituierenden Einzelobjekte als scheinbar unkontrolliert wuchernde Bricolage. Statt eines objektivierenden Überblicks bietet sich den Besucher_innen hier eine Vielfalt konkurrierender Texte. Aus dem Blickwinkel eines an der Moderne geschulten Connaisseurs mag das irritierend erscheinen. In der Argumentation der Populärkulturforschung ist es aber gerade diese Vieldeutigkeit, die Lai_innen die spielerische Aneignung erleichtert. Auf ei-

152

Michael Zinganel

Abb. 3  Statt Ordnung herrscht hier Stilvielfalt: Von den 85 Musterhäusern unterschiedlicher Hersteller gleicht keines dem anderen. „Modern“ liegt aktuell im Trend.

153

1:1 nem Werbefoto der „Blauen Lagune“ zeigt demnach auch ein Kleinkind den Eltern den Weg zum richtigen Haus. (Abb. 4)

Abb. 4  Vordergründig ist die Kernfamilie die Adressatin der Werbung:   Ein Kleinkind zeigt daher den Eltern den Weg zum richtigen Haus.

Statt einer distinktiven Aura herrscht eine schier ungeheure Stilvielfalt, innen wie außen. Denn die „Blaue Lagune“ ist nicht nur eine Bauausstellung, sondern auch – wenn auch ursprünglich unbeabsichtigt – eine Wohnausstellung. In den ersten Musterhäusern wurde die Einrichtung noch von den Unternehmern selbst geplant oder von Möbelhäusern ausgeliehen. Verantwortlich dafür waren lange Zeit hindurch die Ehefrauen der Unternehmer. Der Zweck der Möblierung bestand allerdings nicht darin, sie für den Verkauf zu bewerben – oder einen neuen Wohnstil zu propagieren wie in der Wiener Werkbundsiedlung. Hier dienten sie vorerst nur dazu, die Praktikabilität der Häuser im Wohnalltag zu beweisen. Aufgrund der erhöhten Nachfrage nach ausgestellten Möbelstücken begannen sich jedoch bald alle großen Möbelhäuser selbsttätig für die Ausstattung der Musterhäuser zu bewerben, insbesondere als die Hersteller begannen, sukzessive immer größere Musterhäuser aufzubauen, in denen sich auch teure, stärker objekthafte Möbel vorzüglich – in einem lebensnahen Ambiente – inszenieren ließen. Und tatsächlich interessierten sich die Besucher_innen von Anfang an nicht nur für die Häuser: Wie sie in einer Shopping-Mall von Geschäft zu Geschäft wandern, flanieren sie hier von Haus zu Haus – und durch die Häuser hindurch, dabei be-

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Michael Zinganel tasten und testen sie das Mobiliar, sitzen Probe auf Sofas und öffnen Kleiderschränke und Küchenkästchen, als ob es dafür in spezialisierten Möbelgeschäften keine besseren Gelegenheiten gäbe.13

Die ausgestellten Bewohner der „Blauen Lagune“ In der „Blauen Lagune“ werden die großen Wohnzimmerfenster zu Schaufenstern – wie die picture windows in US-amerikanischen Vorstädten oder wie bei den Geschäften einer traditionellen Einkaufsstraße. Die Besucher_innen sehen auf ihrer Flanerie nicht nur die Fassade – das Gesicht des Hauses –, sondern auch in das Haus. In dessen repräsentativstem Bereich residiert der Verkäufer – sichtbar von außen – auf der Couch des Wohnzimmers oder am Esstisch der offenen Wohnküche und wickelt seine Geschäftshandlungen mit anderen Interessent_innen ab. (Abb. 5) Verkäufer sind hier demnach ‚eingerichtet‘ und ‚ausgestellt‘ zugleich: Sie müssen hier ihren Arbeitsalltag abwickeln und dabei größt-

Abb. 5  Beratungsgespräche finden in einer familiär inszenierten Atmosphäre ‚zu Hause‘ am Esstisch des Verkäufers statt.

13  In unregelmäßigen Abständen werden in der „Blauen Lagune” einzelne ältere Musterhäuser abgebaut, um Platz für neue Produkte zu schaffen, die auch nach den jeweils neuesten Trends eingerichtet werden. Wer das alte Musterhaus im Ausverkauf erwirbt, darf das dafür angeschaffte Mobiliar ohne Aufpreis mitnehmen.

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1:1 möglichen Wohnkomfort simulieren. Das Haus ist für sie privater Rückzugsraum und öffentliche Verkaufsfläche in einem. Die Verkäufer der Häuser sind in der Regel männlich, mittleren bis gehobenen Alters und versuchen, als selbstständige Unternehmer auf Provisionsbasis für die Unternehmen die Häuser zu verkaufen. Sie suggerieren gegenüber den Kund_innen technische und fachliche Kompetenz, vor allem auch einiges an Lebenserfahrung – gelegentliches Scheitern eingeschlossen. Sie haben gelernt, die Motive ihrer Besucher_innen zu erkennen und deren finanzielle Möglichkeiten abzuschätzen. Sie sind nicht nur Vertreter des Feldes der Unternehmen, sondern auch Komplizen der Interessent_innen. Sie kennen das Risiko der Investition, die unabwägbaren Änderungen, die im Laufe einer Berufskarriere oder einer Familienbiografie hereinbrechen können. Sie sind gewissermaßen gespalten zwischen der Not der eigenen Existenzsicherung über die Verkaufsprovision und der Selbstverpflichtung zum Schutz jener, die der Kauf in den Ruin führen würde. Die Ähnlichkeit der sozialen Merkmale zwischen Verkäufer und Interessent_innen sowie die familiär inszenierte Atmosphäre auf der Wohnzimmercouch oder am Esstisch – ‚zu Hause‘ beim Verkäufer – stellen ein mitunter gefährliches Vertrauensverhältnis zwischen den Vertreter_innen der unterschiedlichen Felder her, bei dem die Interessent_innen Gefahr laufen, allzu leicht den Verführungen des Verkäufers zu erliegen. Die Verkäufer arbeiten nur für einen Hersteller, müssen aber regelmäßig zwischen Häusern unterschiedlicher Ausstattung und Preisklasse wechseln, zum einen, damit Chancengleichheit zwischen Verkäufern eines Unternehmens herrscht, zum anderen, damit sie sich nicht allzu häuslich darin einrichten. Sind keine Besucher_innen anwesend, erledigen sie ihre Büroarbeit oder leben wie Singles alleine in einem viel zu großen Haus. Mal kommt ein ebenso einsamer Kollege aus dem Nachbarhäuschen auf Besuch, mitunter zeigt der große TFT-Monitor Live-Sportübertragungen statt Hausimpressionen und so manches Mal werden (obwohl offiziell verboten) Haustiere eingeschmuggelt. Als kollektiver Sozialraum dient den Verkäufern das Besuchercafé am Eingang der Anlage, wo sie in den kargen Pausen, vor allem aber am Ende des Arbeitstages in ‚Jägerlatein‘ ihre Erfahrungen vom Hausverkaufen und vieles mehr austauschen. Die Kellnerin stellt hier die Ansprechpartnerin für alle dar, sie ist informelle Gesprächstherapeutin, Infobörse und Poststelle. Denn Frauen arbeiten sehr wohl in der „Blauen Lagune“, aber nicht in den Musterhäusern, sondern geschlechtsspezifisch im Service, in der Verwaltung

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Michael Zinganel und in anderen Dienstleistungsbereichen wie in der Bankfiliale, wo im Anschluss an die Beratung der nötige Kredit beantragt werden kann, aber auch in den jeweiligen Besucherzentren, die die größten Hersteller mittlerweile hier errichtet haben.

Von der Ausstellung zur Erlebniswelt Die „Blaue Lagune“ hat tatsächlich maßgeblich dazu beigetragen, dass sich der Marktanteil der Fertighäuser im Einfamilienhaussektor in Österreich 1996 auf 25 Prozent des Auftragsvolumens und 2001 auf 30 Prozent erhöht hat. Danach kam es jedoch zu einer Marktsättigung, die unterschiedliche Ursachen hatte: Grundstücke in Ballungsräumen oder mit guter Anbindung an leistungsfähige öffentliche Verkehrsmittel wurden unerschwinglich, Familienmodelle und Erwerbsbiografien instabil und die Kinder der ‚Häuselbauer‘ zog es aus den Vororten wieder in die Städte zurück (vgl. Steiner 1998).14 Mit der Marktsättigung und dem Konkurs eines der großen deutschen Anbieter wurden Ausstellungsflächen in der „Blauen Lagune“ frei verfügbar. Diese wurden nun aber nicht zur Errichtung neuer Musterhäuser verwendet, sondern für permanente Themenausstellungen, die auf Initiative des Betreibers mit öffentlichen und privaten Partnern umgesetzt wurden: Bereits 2006 eröffnete die „Gartenwelt“ in Kooperation mit einem der größten Gartencenter, 2009 die „Garagenwelt“, damit auch für das Auto als suburbanes Familienmitglied eine Behausung erworben werden kann. 2009 eröffnete auch die „Energiewelt“, 2010 die „Sicherheitswelt“, in der mechanische und elektronische Einbruchsicherungen, aber auch kriminalpräventive Beratungen durch einen Beamten der Polizei angeboten werden. 2011 kamen die „Spielgerätewelt“ und 2012 die „Wellnesswelt“ dazu. 2013 wurde die „Energiewelt“ ausgebaut und um ein Beratungszentrum für thermische Sanierung mit einer Förderungsberatung zur Finanzie-

14  Nur 2010 sollte überraschend doch noch zum mit Abstand stärksten Jahr für Österreichs Fertighausindustrie werden. Die Angst vor dem Zusammenbruch des Bankensystems führte dazu, dass viele Familien schnell noch all ihre Ersparnisse zusammenlegten, um in eine Immobilie zu investieren. Weil es diesmal sehr schnell gehen musste, schien dafür vielen das einst verpönte Fertighaus besser geeignet als eine individuelle Planung. 2011 war der krisenbedingte Boom vorbei. 2012 folgte das seit Langem schwächste Jahr (Gespräch mit Silvia Gronau und mit einem Verkäufer von Hanlo in der „Blauen Lagune“ im November 2012).

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1:1 rung energiesparender und -rückgewinnender Maßnahmen in bestehenden Wohnhäusern und Neubauten ergänzt. Schlussendlich wurden zwei Ausstellungen eingerichtet, in denen Energie-Ressourcengewinnung in aller Welt populärwissenschaftlich vorgestellt werden bzw. das Haus als Hightech-Lifestyle-Produkt präsentiert wird, dessen umweltschonende Haustechnik sich via Smartphone steuern lässt. Hier kommt das Feld der Politik wieder ins Spiel: Der Landschafts- und Ressourcenverbrauch aufgrund der Zersiedelung, der höchste Preis, den die Allgemeinheit für die soziale Anerkennung der Einzelnen im Eigenen bezahlt, wird hier gar nicht erst in Frage gestellt. Stattdessen wird an das schlechte Gewissen der Einzelnen appelliert und dieses wiederum ökonomisch produktiv gemacht. Nicht mehr der Verkauf allein steht hier im Vordergrund, sondern Unterhaltung mit dem Ziel, die bestehenden vereinzelten Eigenheime technologisch hochzurüsten.

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Michael Zinganel Literatur

Abbildungsnachweise

Bergdoll u.  a. 2008

Pläne und Luftaufnahmen: Blaue Lagune.

Bergdoll, Barry u. a. (Hg.): Home Delivery. Fabricating the

Imageaufnahmen mit Menschen: © Fotos: Blaue Lagune,

Modern Dwelling (Ausst.-Kat. Museum of Modern Art, New

Bill Lorenz.

York), Basel: Birkhäuser 2008. Blaue Lagune 2012

Blaue Lagune (Hg.): Eine Stadt voller Erlebnisse, 15. Ausgabe, Wien: Eigenverlag 2012. http://www.blauelagune.at/  reisefuehrer#/ (zuletzt 3. Juni 2013). Bourdieu 2002

Bourdieu, Pierre: Der Einzige und sein Eigenheim, Hamburg: VSA 2002. Fiske 2000

Fiske, John: Lesarten des Populären (1989), Wien: Löcker 2000. Fishman 1987

Fishman, Robert: Bourgeois Utopias. The Rise and Fall of Suburbia. New York: Basic Books 1987. Harris 2010

Harris, Dianne (Hg.): Second Suburb. Levittown, Pennsylvania, Pittsburgh: University of Pittsburgh Press 2010. Nierhaus 1996

Nierhaus, Irene: Wie im Film, Heimat als Projekt des Wiederaufbaus, in: Beckermann, Ruth; Christa Blümlinger (Hg.): Ohne Untertitel. Fragmente einer Geschichte des österreichischen Kinos, Wien: Sonderzahl 1996, S. 285–303. Österreichischer Fertighausverband 2012

Österreichischer Fertighausverband (Hg.): Pressemappe anlässlich der Pressekonferenz vom 27. April 2012. Steiner 1997

Steiner, Dietmar (Hg.): Standardhäuser (Ausst.-Kat. Architektur Zentrum Wien), Architektur & Bau Forum, Nr. 4, 1997. Steiner 1998

Steiner, Dietmar (Hg.): Wir Häuslbauer. Bauen in Österreich (Ausst.-Kat. Architektur Zentrum Wien), Wien: Sonderzahl 1998.

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Irene Nierhaus

Störrisches Wohnen Kollisionen von Innenraum und Bewohner schaf t in Kommentaren zum Neuen Bauen um 1930

„Ein Glaskasten, durchscheinend [...]. Jedes Gerät und jede Bewegung in ihnen zaubert Schattenspiele auf die Wand, körperlose Silhouetten, die durch die Luft schweben und sich mit den Spiegelbildern aus dem Glasraum selber vermischen. Die Beschwörung dieses ungreifbaren gläsernen Spuks, der sich kaleidoskopisch wandelt wie die Lichtreflexe, ist ein Zeichen dafür, daß das neue Wohnhaus nicht eine letzte Erfüllung bedeutet, daß es nicht genügen kann, Wasserhähnchen zufrieden zu stellen und eisernen Öfen die Dekoration abzuschlagen. [...] der Rest ersetzt das mit ihnen Gemeinte nicht. Wahrscheinlich sind die neuen Häuser ihrem Gehalt nach Reste, das heißt, zeitgemäße konstruktive Fügungen der von schlechtem Überfluß gereinigten Elemente; und gewiß sind diese Restkompositionen allein in der gegenwärtigen Gesellschaft zu verantworten. Aber es wäre gut, wenn aus ihnen mehr noch, als es heute geschieht, die Trauer über die Entsagung spräche, die sie üben müssen; jene skurrile Trauer, die an den in die Glasfläche gebannten Erscheinungen haftet. Denn die Hausgerippe sind sich nicht Selbstzweck, sondern notwendiger Durchgang zu einer Fülle, die keiner Abzüge mehr bedarf und heute nur negativ durch die Trauer bezeugt werden kann. Sie werden erst Fleisch ansetzen, wenn der Mensch aus dem Glas steigt“ 1, schreibt Siegfried Kracauer zum Glasraum von Mies van der Rohe und Lilly Reich auf der Werkbundausstellung 1927 (Kracauer 1990b, S. 74). Kracauer, Schriftsteller und selbst Architekt, favorisierte das Neue Bauen ganz grundsätzlich, doch finden sich in seinen Texten immer wieder ähnliche Stellen, die als tiefe Verstörung gelesen werden können und die das Präsente als doppelgesichtige Passage zwischen den Zeiten markieren. Hier ist es

1  Kursivsetzung im Original.

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Störrisches Wohnen der Gegenstand als „Rest“, der in der Entleerung nicht schlicht frei wird, da das mit der historischen Ornamentfigur Entlassene („das Gemeinte“) nicht verschwindet, sondern freischwebend sich in den gläsernen Gebilden ein neues Zuhause sucht und zum „Spuk“ konvertiert. Das ist ein Kippeffekt im lichten, luftigen neuen Wohnen, der ein „Anderes“ artikuliert, eine Art Wiedergänger vom Schrecken, der von der Avantgarde durchwegs dem alten Wohnen zugeschrieben worden war. Wie im schönen Propagandafilm „Die neue Wohnung“ (CH 1930) von Hans Richter vorgeführt, steckt die Heimtücke im alten Interieur: Es kippen Tassen und Kannendeckel, fallen Teller und staubige Büsten von Goethe und Wagner, zerbersten zahllose Porzellanstatuettchen. Vorhangschnüre verknoten sich zu Fallstricken und Vorhangmassen stürzen über Bewohner. Die Tischtuchspitze verheddert sich und reißt die patriarchale Familie schließlich buchstäblich in den ornamentalen Abgrund. Walter Benjamin bezeichnet 1928 das Interieur mit seinen „überbevölkerten“ und narrativ überlasteten Räumen, in denen kein „Fleck“ ohne hinterlassene „Spur“ sei, als „Falle“ (Benjamin 2009a, S. 111f.). Überall existierten unsichtbare Mitbewohner, so schien die Tafel „für weit mehr Personen berechnet, als diese zählte. Es war wohl für die Ahnen mitgedeckt.“ (Benjamin 2009b, S. 13) Gerade das, was als zentrale Qualität des bürgerlichen Wohnens des 19. Jahrhunderts angesehen worden war, bildet den Kern der Kritik. Die Bewohner sollten mit dem Innenraum als Interieur, d.  h. dem Ausstattungsensemble, eine identifikatorische, lebensweltliche Gesamtheit des Bürgertums eingehen. Es ist der als Ganz- und Einheit des Individuums imaginierte und privat ausgewiesene Raum, der idealiter ein Gegenüber zum öffentlichen Raum bildet, in dem der einzelne Stadtbürger innerhalb der Gesamtheit des Staates und der Nation, auch wenn öffentlich tätig, partikulär bleibt.

Ein_Richten, Wohnwissen und Umbau Mit dem Wohnen des 19. Jahrhunderts war erstmals ein gesamtgesellschaftliches Wohnwissen generiert worden, womit ein formeller wie informeller Komplex von Repräsentationen und Diskursverschränkungen gemeint ist, der Zuschreibungen, Anforderungen und Begehrensstrukturen von Subjekten bzw. Subjektformen und ihre sozialen Positionen aufeinander bezieht. Es ist ein gesellschafts- und subjektpolitisches, ver-

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Irene Nierhaus schiedenen Medien verpflichtetes Gefüge, in dem ästhetischen Prozessen eine wesentliche, auch habituell vermittelnde Artikulation zukommt. Die Einrichtung der Wohnung sollte als Bezugssystem zur Einrichtung des modernen bürgerlichen Subjekts, seinen Zugehörigkeitsbeschreibungen zu Bildung, Kultur, Geschmack, Gefühl, Moral, Hygiene etc. und den damit verbundenen Normierungsleistungen stehen. Insgesamt ist es ein Ein_Richten von individuellen zu sozialen Subjekten und von Bewohnerschaft als biopolitischer Anordnung von Gesellschaft (vgl. Nierhaus 2011). Das zwischen Innenraum und Innenleben entwickelte Netz fluktuierender Identifikationen und Analogien macht den im späten 19. Jahrhundert ausbrechenden Kampf um die Definitionsmacht des „guten Geschmacks“ verständlich. In dessen Mitte stand das Kunstgewerbe in seiner „politisch nationale[n] und pädagogische[n] Aufgabe“ als zentraler „Verständigungseinheit“ (König 2011, S. 167). Es ist ein Stellungskrieg von Deutungseliten um die mit der industriellen Warenproduktion scheinbar unendlich werdende visuelle Oberfläche der Dinge und ihrer Erzählgeflechte, denn darin trieben – so die Kritiker der 1920er Jahre – die Untoten des bürgerlichen Universums ihr Unwesen. Die Drastik der Formulierungen verdeutlicht die Radikalität des gewünschten Umbaus des Wohnwissens. Mit Diskursen um Technik, Komfort und Ästhetik wird das scheinbar stabile Verhältnis zwischen Innenraum, Dingen und Subjekten erneut zur Disposition gestellt. In diesem destabilisierend erlebten Umbau lokalisieren sich die verstörenden Dingbeziehungen bei Kracauer; die Dinge sind auf Wanderschaft, werden herumgestoßen und vertrieben.2 Die Debatte zur Notwendigkeit des Umbaus markiert keinen historischen Bruch, vielmehr ein seit dem 19. Jahrhundert immer wieder in Gang gesetztes Sprechen und Verhandeln, so sei u.  a. nur an Aussagen von Jakob von Falke, Otto Wagner oder Adolf Loos erinnert, die auch mit Dramatik und Kritiklust über das „Greulichste“ (Schaukal 1911, S. 5) des bestehenden Wohnens berichten. Das animistische Potenzial des alten Wohnens bleibt Bestandteil der modernen Katastrophenrhetorik, so forderte Le Corbusier 1929: „Weg mit dem Wahn und Nonsens“ (Le Corbusier 1964, S. 105). Und auf Le Corbusier bezogen spricht Benjamin – durchaus ambivalent – gar vom Ende „der mythologischen Figuration ‚Haus‘“ (Benjamin 1983, S. 513).

2   Zur spezifischen Position und Bedeutung der Dinge bei Kracauer s. Grunert/Kimmich 2009.

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Störrisches Wohnen

Abb. 1  Werkbundausstellung „Die Wohnung“, Stuttgart 1927. Plakat: Willi Baumeister.

Das in mehreren Versionen erschienene Plakat zur Werkbundausstellung 1927 (Abb. 1) zeigt dieses mit Ornamenten und Dingen gefüllte Haus dick durchgestrichen.3 Ein zweites Plakat zeigt das vorbildhafte moderne Wohnen. (Abb. 2) Die in Opposition gesetzten Plakate folgen dem didaktischen Bildprinzip von Abschreckung und Vorbild, das in der Nachfolge der reformatorischen Geschmackserziehung um 1900 steht. Das alte Wohnen ist als in sich verschlossener und ornamentgefluteter Raumkasten eines Salons zu Sehen gegeben, in dem die Fülle von Details eine partikularistische Herrschaft führt. Hingegen wird das moderne Wohnen durch mehrere unterschiedliche Raumeinheiten (Spüle, Speisezimmer, Ausblick in die Natur, Gesamtbebauungsplan) mit verschiede-

3  Das Plakat mit der Ansicht historischen Wohnens existierte zumindest in drei Stilversionen (Neo-Renaissance-Herrenzimmer, Jugendstil-Salon, Louis-Quinze-Sitzgruppe), die ersten beiden werden bei Karin Kirsch genannt (vgl. Kirsch 1987, 24f.).

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Irene Nierhaus

Abb. 2  Werkbundausstellung „Die Wohnung“, Stuttgart 1927. Plakat: Karl Straub.

nen Blickperspektiven gezeigt, deren Verbindendes die Reduktion der Gegenstände und die formale Einheit von stereometrischen Flächen ohne das All-over einer figurativen Ornamentik ist.4 In dieser Opposition wird das alte Wohnen als Krise interpretiert, wie es Siegfried Kracauer später aufgrund der ökonomischen Krise und der einhergehenden sozialen Demontage an Möbeln der Wohnungsumzüge beschreiben wird: „Das sind keine Möbel mehr, das ist altes Sack und Pack. Gedrechselte Säulchen schrauben sich sinnlos in die Höhe, Klaviere [...] verlieren durch die Konfrontation mit den kahlen Hausfassaden den letzten inneren Halt, und die Fruchtkränze am Nachtkästchen [...] lächeln blöd und verwirrt.“

4  Im Grunde kann nicht von der Entleerung einer Oberflächenzeichnung bzw. des Ornaments gesprochen werden, da an die ‚frei‘ gewordene Stelle der figurativen (vegetabilen, architektonischen, figürlichen) Ornamentik die Figur der Materialästhetik rückt (vgl. dazu die Darlegung am Beispiel von Mies van der Rohe in Nierhaus 2009).

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Störrisches Wohnen (Kracauer 1931a) Also Auflösung und Zerfall – doch gleichzeitig evoziert die bildliche Einräumigkeit des alten Wohnens die Vorstellung von Totalität, wie auch schon die Benjamin'sche Redewendung von der „Figuration Haus“. Und der Zusammenschluss von Ausstattung und Bewohnerschaft war ja in der Figur des Interieurs als lebensweltlicher Gesamtheit in Formulierungen von der ästhetischen Einheit von Kunst und Leben bis hin zum Gesamtkunstwerk zum Ausdruck gebracht worden. Auch die Neuerer der 1920er Jahre wollten mit der neuen Vernunft und Sachlichkeit der Dinge die Beziehungen zwischen Ausstattung und Bewohner generell berühren – wie Mies van der Rohe in der Rede zur Werkbundausstellungseröffnung 1927 sagte, ging es mit dem neuen Wohnen um die „Darstellung neuer Lebensformen“ (Mies van der Rohe zit.  n. Nerdinger 2007, S. 142).5 Und über diesen Beziehungsraum von Innenraum, Dingen und Lebensform wurde aufs Heftigste debattiert.

Subjektivierung und Stilisierung Im Zentrum dieses Beitrages stehen Aussagen von befürwortenden Teilnehmenden am Umbau, die jedoch auch Sorgen und Zweifel artikulieren. Die Ungewissheiten beziehen sich auf das sachliche, funktionale, helle, glatte, transparente neue Wohnen und zeigen sich in Kipp- und Störeffekten wie im Kracauer'schen Textstück. Es sind nicht Aussagen von Architekten oder Architekturtheoretikern, noch von den sattsam bekannten kulturkonservativen Gegnern, sondern von linken bis liberalen Schreibenden wie Walter Benjamin, Ernst Bloch, Bertolt Brecht, Ilja Ehrenburg, Siegfried Kracauer, Joseph Roth, Gabriele Tergit oder Franz Werfel. Die Texte bewegen sich zwischen Abhandlung, Essay und Bericht und sind größtenteils im deutschsprachigen Feuilleton erschienen, womit sie potenziell eine verhältnismäßig große Reichweite hatten.6 Die Beiträge

5  Auf diese Aussage beruft sich auch Kracauer in seinem Ausstellungsbericht (vgl. Kracauer 1990b, S. 73). 6  Welchen Nutzen haben solche Texte für eine Kunstwissenschaft des Wohnens? Verfügt die Kunstgeschichte zum Wohnen vor allem über objektbezogene Quellen (Objekte, Objektbefunde, Quellen zur Produktion und zur Überlieferung, Quellen der Produzenten, Auftraggeber und Besitzer etc.), so können Aussagen von Zeitgenossen das Intermediale des Wohnens (die Kombination und Anordnung der Dinge und ihre Beziehung zur Bewohnerschaft bzw. umgekehrt) deutlich machen, da sie qualitative Beziehungen benennen, die von einem anderen Standpunkt aus formuliert sind als dem der am Objekt und Produzenten orientierten

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Irene Nierhaus wurden zwischen ca. 1925 und 1935 verfasst. Es sind ereignisreiche zehn Jahre, in die zum einen die Höhepunkte des Neuen Bauens fallen. Zum anderen bricht die Entwicklung mit der ökonomischen und sozialen Krise um 1930 ein und es verschärft sich die Skepsis gegenüber der technologisch-funktionalen Beschleunigung des Kapitalismus und einer sich im kühlen Lebensstil erschöpfenden Sachlichkeit – so Ernst Bloch: Die Sachlichkeit „überschätzt die neutrale Sauberkeit, Bequemlichkeit des neuen Bauens [...]. Sie unterschätzt, daß das ‚gleichmäßig hygienische Wohnen‘ noch keineswegs auf eine klassenlose Gesellschaft ausgerichtet ist [...], sondern auf jungen, modern fühlenden, geschmackvoll klugen Mittelstand“ (Bloch 1935, S. 160f.). Damit geht es in den Texten nicht bloß um die Frage „Wie wohnen?“, wie sie auch auf dem Werkbundplakat (Abb. 1) gegen das historische Wohnen gestellt wurde, sondern vielmehr um die Frage nach Beziehungen zwischen Subjekt- und Formvorstellungen, also von „Wer?“ und „Wie?“.7 Mein Beitrag fokussiert kunstwissenschaftlich Wohnen als Konfigurationsmechanismus sozial-ästhetischer Prozesse, als Verfahren zwischen Subjekten und Gegenständen, als Schauplatz von Aufenthalt und Handeln und als Formation von Bedingtsein und Selbsttun. Die Beziehung zwischen Stilisierung und Subjektivierung analysiert Georg Simmel 1908. Stil sei notwendig, um „uns“ vom „Balancieren auf der Schmalheit der bloßen Individualität zu erlösen“ und um in die „be-

Kunstgeschichte. Oder nochmals anders gewendet: Wenn Kunstwissenschaft ein aus vielen methodologischen Lektüreansätzen zusammengesetztes Feld ist und damit ein in sich heterogenes Gefüge, also keine stringent homologe Disziplin, dann ist auch das Inter-Disziplinäre weniger eine Brücke über die Grenzen zu anderen Disziplinen denn als ein „Zwischen“ im Fach selbst angelegt. 7  Hier böten sich Anschlüsse zu Debatten um den „Neuen Menschen“ und um sich verändernde Vorstellungen zum Subjekt, denen jedoch nicht nachgegangen werden kann. Gerade im Kontext der Kultur der Sachlichkeit wird neben dem Mittelstandsparadigma ein Phänotyp umkreist, der ein emotional nicht expressiver, mit Variationen der Distanzierung ausgestatteter und „kühl“ (oft als „männlich“ markierter) Handelnder ist. Franz Roh schreibt 1925, der „ethische homo politicus wird Mitte sein, aber Mitte aus Kraft, nicht aus Schwäche“ (Roh 1925, S. 35). Helmut Lethen hat in einer Versuchsanordnung zur Phänotypik der Sachlichkeit die „kalten persona“ und den außengelenkten „Radartyp“ einer „warmen“, expressiven „Kreatur“ gegenübergestellt. Als Ausgangspunkt zum Wandel des Sozialtyps diagnostiziert er die Desorganisation der Gesellschaft und leitet die „kalte persona“ aus Verhaltenslehren wie insbesondere der von Helmuth Plessner her (Lethen 1994). Das Prinzip der „Kälte“ durchzieht zeitgenössische bildliche und schriftliche Aussagen, so schreibt u.  a. Joseph Roth in seiner Kritik „Schluß mit der ‚Neuen Sachlichkeit’!“ von 1930 (Roth 1991, S. 158) über die „kalte Ordnung“. In die kunstwissenschaftliche Forschung ist die „kalte persona“ u.  a. über den „kalten Blick“ eingegangen (vgl. u.  a. Schmied 2001), wobei bis heute aufgrund der differenzierten Kategorisierung der Phänomene der zentrale historische Bezugstext das Buch von Franz Roh (Roh 1925) ist.

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Störrisches Wohnen friedeten Schichten“ zu gelangen, in denen „man sich nicht mehr allein fühlt“ (Simmel 1993, S. 380). Stil ist also Garant der Vergesellschaftung des Individuums, doch gilt das nur für das Verhältnis zu den Dingen und nicht für die „Umgebung als Ganzes“, denn das Ganze des Innenraums sollte durch die Person und ihre Seele zu einer „subjektiven Einheit“ gefügt werden (ebd., S. 381f.).8 Ein solcher subjektiver Anteil modernen Wohnens ist zur Mitte eines mythischen Privaten geworden, das Konvertierungen zwischen Individuellem und Sozialem als gegenseitiges Hervorbringen garantieren soll. Doch dieses Versprechen spricht meist von einem Individuum, das ein Passepartout des sozialen Subjektes und seiner jeweiligen Zuschreibungen zu Status, Geschlecht, Sex, Alter, Ethnie, Nation etc. ist, und meint selten die kleine, graue, schmutzige, nie ganz passfähige Existenz, deren Ort jedoch gerade das ins Private und Wohnen Abgedrängte und Abgespaltene ist. Im Folgenden werden Kollisionen und Störfälle zwischen Innenraum, Dingen und Subjektanspruch bzw. Subjektbestand thematisiert.9 Als Ausgangspunkt sind den im Einzelnen so unterschiedlichen Autoren populäre, meist bereits zur Schablone gewordene Absetzformulierungen zum historischen Wohnen gemein (Plüsch, Schreckenskammer, dunkel, vollgeräumt, bürgerlich), wobei Walter Benjamin und Ernst Bloch das alte Wohnen zum Verständnis der eigenen Gegenwart und nicht nur als Abstandsmaß zum neuen Wohnen debattieren.10 Im Argumentationsge-

8  Dementsprechend wendet sich Simmel gegen die kompletten Stilinterieurs des Historismus. Er unterscheidet einen positiv gewerteten gesamtkonzeptionellen Stil von den negativ bewerteten historische Epochen (re-)produzierenden Stilen des Historismus (Neo-Gotik, Neo-Renaissance). 9  In der deutschsprachigen Architekturgeschichte, die sich mehrheitlich als innovatorische Entwicklungsgeschichtsschreibung versteht, gerät ein zweifelndes oder kritisches Befragen relativ schnell in den Verdacht der prinzipiellen Gegnerschaft und des Konservatismus. Aus historisch-politischen und nationalen Gründen führt das Sprechen über die architektonische Avantgarde der Zwischenkriegszeit auf ein mythisiertes Gelände von Deutungshoheiten. Siehe dazu insgesamt Baumhoff/Droste 2009 und insbesondere Schwartz 2009. Frederic J. Schwartz beschreibt in seiner hellsichtigen Analyse der Politisierung des deutschen Architekturdiskurses nach 1945 Aussagen von Ernst Bloch und Theodor W. Adorno als der Zwischenkriegszeit zugehörig und für die Debatte nach 1945 veraltet bzw. nicht mehr repräsentativ, wobei m.  E. die einigen Texten eingeschriebene Erfahrung des Faschismus und der Emigrationsjahre – die in hohem Maße zeitgemäß sind – zu wenig berücksichtigt ist. Die Einschätzung von Schwartz mag auf die Rezeptionen der Nachkriegszeit zutreffen, steht damit aber in einem anderen als dem von mir betrachteten Kontext. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass die hier verwendeten Texte bis Mitte der 1930er Jahre entstanden sind und später überarbeitete Fassungen hier nicht aufgenommen wurden (z.  B. bei Ernst Bloch).

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Irene Nierhaus füge der Autoren konzentriere ich mich auf eine Schnittfläche, an der Konflikte und Störfälle besonders häufig auftreten und an der das Verhältnis von Anspruch und Bestand von Wohnen und Leben problematisiert wird.10So diagnostiziert Kracauer schon 1924: „Ob die dogmatische Stilisierung der Konstruktionselemente nicht zu neuer Romantik verleite, ob der Engpaß sich nicht am Ende als Sackgasse erweise – wer wollte leichthin es sagen? Gewiß ist; in dieser Richtung muß gedacht und gebildet werden, denn ihr furchtloser Nihilismus zielt auf die Wahrheit hin.“ (Kracauer 1990a, S. 266) Auch in anderen Texten werden anhand des Stils11 Politiken des Ästhetischen thematisiert und es sind letztendlich Befürchtungen um dogmatische Re-Formulierungen und Kurzschlüsse zwischen Form und Leben.

Stil und Störung Aus der Reihe von Aussagen greife ich einen Text heraus, der übrigens wie die obige Plakatopposition das didaktische Prinzip von Vorbild und Abschreckung verfolgt, es allerdings verdreht. Der Text „‚Nordseekrabben‘ oder Die moderne Bauhauswohnung“ von Bertolt Brecht, gemeinsam mit Elisabeth Hauptmann geschrieben, ist am Beginn des Jahres 1927 erschienen (Brecht 1997) und versteht sich als Kritik am Stilisierungsprozess des Neuen Wohnens im Sinn einer Verbürgerlichung von Lebensformen.12 Inhalt ist der Besuch von „Müller“ bei seinem ehemali-

10  Als fast Einziger bezeichnet Ernst Bloch den Blick auf das 19. Jahrhundert als ein Ergebnis von Rezeptionen in drei Stufen (Ekel, Lachen, Rätsel) (vgl. Bloch 1935). Benjamin äußert sich in seinen Texten fast ausschließlich zu dem bei ihm zum Parallelsubjekt werdenden historischen und nur rudimentär zum neuen Wohnen. 11  Auf weitere Nuancen des Stilbegriffs und seine Verschränkungen mit den seit dem 19. Jahrhundert verhandelten Konzepten um Lebensstil und dem gerade seit den 1920er Jahren theoretisierten sozialen Habitus kann hier nicht eingegangen werden. 12  Der Text erschien erstmals am 9. Januar 1927 in den „Münchner Neuesten Nachrichten“, war im Mai 1926 verfasst worden und hatte wahrscheinlich den Chefredakteur der Zeitschrift „Uhu“ als reales Vorbild. Unter dem Titel „Die gottgewollte Unordnung der Dinge“ wurde der Text etwas später nochmals veröffentlicht (Brecht 1997, S. 637f.). Zu dem Text liegen u.  a. Analysen von Helmut Lethen und Laura Wilfinger vor. Lethen hat die Geschichte als „Varianten der Wärme-Kälte-Polarität“ analysiert, wobei der Wärmepol mit Egalisierung, Antiheroik, Spontaneität, Asymmetrie und der Kältepol mit Disziplinierung der Affekte, Transparenz, Diskretion und Symmetrie verschränkt werden (vgl. Lethen 1994, S. 166). Laura Wilfinger fokussiert stärker auf das Verständnis des Wohnens bei Brecht (vgl. Wilfinger 2009).

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Störrisches Wohnen gen Kriegskameraden „Kampert“ in dessen explizit sachlich durchgestalteter Wohnung. Zur Sichtbarmachung des Erzählten als Erzähltem dient die zwischen Müller und Kampert geklemmte schale Figur des Erzählers. Die eigentliche Handlung ist eine Wohnungsführung durch das Besitzerehepaar und letztendlich die Zerstörung und Um-Ordnung der Wohnungseinrichtung durch den Gast Müller. Dazu ein Ausschnitt aus der Wohnungsführung, der Diele: Sie bestand aus „zwei sehr bequemen amerikanischen Liegestühlen“ und einem Sonnensegel, „eine leichte japanische Strohmatte vor einem ungeheuer schrägen Fenster“. Dazu Kampert: „Man meint den ganzen Tag, man sitzt auf Kuba. Das Ding sammelt unglaublich viel Sonne. [...] ich dachte mir: eine große Halle und nur ein paar einfache Sitzgelegenheiten drin, das beruhigt ungeheuer“. Und Frau Kampert: „Wir wollten in der Diele etwas ganz Einfaches machen, fast etwas Rauhes [...]. Dazu eine grobe Matte. Ich bin rumgefahren wie verrückt [...], sah mir grobe Zeltleinwand kilometerweise an.“ Die Wohnungsbeschreibung verwendet Kategorien des neuen Wohnens: Einfach, nichts Unsachliches, schlicht, praktischen Zwecken dienend, hygienisch unantastbar. Sie ist farblich „nicht protzig“, materialästhetisch geprägt, mit Strohmatte, Tannenholztisch, eiserner Bettstelle, gewöhnlicher Kamelhaardecke. Die Wohnung wird als Formganzes vorgeführt – alles ist „passend“ und „überlegt“, selbst die Kost und Kleidung der Bewohner. Hier setzt Kritik mittels Ironie ein. So werden die Bewohner mit Adjektiva und Verben belegt wie: elegant, harmonisch, gut angezogen, passend, ausgezeichnet, bewegt, gut gelaunt, hübsch, lächeln, ungeheuer nett, überlegt, glänzend, mit Geschmack gestalten. Es ist ein freundliches, bequemes und sachlich ästhetisches Wohnen, sozial jedoch klar distinktiv, denn im Geschmacksurteil setzen sich die Kamperts von den „meisten Leuten“ mit „schrecklichen Möbelansammlungen“ und mit Bildern zugehängten Wänden „voll wie Plakatwänden“ ab – ihre Wohnung ist bilderlos, doch sieht sie selbst „wie eine Landschaft“ aus.13 Die Landschaft erlaubt dann auch eine pittoreske Abweichung, so verweist Kampert auf eine Truhe: „Habt ihr schon einmal so etwas Nichthereinpassendes [...] gesehen [...] ich würde sie nicht um alles in der Welt heraußen lassen, denn mich ärgert nichts so sehr, als wenn alles so unge-

13  Landschaft fügt sich erst im distanzierenden Blick zusammen, wie bei Georg Simmel oder Alois Riegl beschrieben. Dementsprechend wird die Bezeichnung der Wohnung als Landschaft auch von oben, von der Wendeltreppe getätigt.

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Irene Nierhaus heuer stimmt. In einer Wohnung muß nicht alles zusammenpassen, sonst ist sie unbewohnbar.“ Das erinnert an Zeilen von Siegfried Kracauer, die er ein paar Monate zuvor in seinem Bericht über das Haus des Architekten Ernst May in Frankfurt geschrieben hatte: „Dies ist ein Heim für gerade Menschen, die dem Dunkel abhold sind, Bewegung lieben und bewußt Anteil nehmen an der Zeit. Fast nimmt sich der Flügel in der Halle ein wenig anachronistisch aus. Doch es ist gut, daß er hier eine Stätte gefunden hat.“14 Kracauer führt, wie erwähnt, immer wieder abweichende Dinge oder ein abweichendes, abschweifendes, verschiebendes Verhältnis zu den Dingen ein. Die mögliche Abweichung, die bei Kracauer Melancholie und Offenheit bezeugt, setzt Brecht als kalkulierte Mimikry eines „Anderen“ ein, das im Homogenisierungsprozess des Stils ansonsten entlassen ist. Er macht damit auch die latente Rückseite des Stils sichtbar: das Normierende, die Kontrolle, das Kalkül, die Anpassung, die Exklusion und das Gewaltige des Geschmacks und seiner Durchsetzung, das auch das im Sinn des Stils agierende und kontrollierte Subjekt betrifft. Ein „Anderes“ in Form eines Subjektbestandes wird mit Müller eingeführt – zu seiner Beschreibung gehört: lärmend begrüßen, hörbar gähnen, schwanken, nicht so herzlich lachen, faulen Seitenblick zuwerfen, sich ausgiebig bedienen, verbissen, betrunken, stapfen, watscheln, heimtückisch schweigend, aufreizen, nicht mehr aushalten, gutartig, humorvoll, stöhnend hineinwerfen, herunterreißen, entwerfen, herausfetzen, sich gefährlich stürzen, siegreich, schaukeln, tief verlegen, ungeschickt, unsicher, schuldbewusst, traurig. Müller ist zwiespältig und vielfältig, er leidet, hält es nicht mehr aus, schlägt drein und ist dann traurig. Er ist Gegensatzkörper zu den Kamperts, die Verkörperungen von Habitusregeln des mittelständischen Klassenkorpus bezeichnen. Müller hingegen ist ein „Wirbelwind“: „Ja, man wohnt wie ein Schwein, furchtbar unüberlegt“, sagt er. Mit den Katastrophenbildern zum alten Wohnen in Richters Film vergleichbar, reißt Müller nun das neue Stilgebäude ein und räumt die Wohnung um: Er schleudert seine Jacke ins Eck, holt Flaschen, denen er „auf einer knirschenden Bambusstuhllehne den Hals“ abbricht. „Das erste war, daß er das Sonnensegel herunteriß [...], es [...] zwischen einem Fensterriegel und der Wendeltreppe ausspannte, [...] wodurch er [...] eine

14  Das Heim des Architekten, in: Frankfurter Zeitung 19.9.1926, Beilage: Für die Frau Nr. 8, abgedruckt ohne Abbildungen in: Kracauer 1997, S. 209.

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Störrisches Wohnen durch den ganzen Raum schwingende Hängematte erzielte [...]. Und dann hielt er, in seiner Kubahängematte schaukelnd, unter dem anfeuernden Einfluß gewaltiger Alkoholmengen, eine [...] Rede über die Genügsamkeit.“ Er sagt: „Es ist dem Menschen nicht gestattet vermittels Sonnensegel und Bechsteinflügel in den Himmel zu wachsen. Eine Wohnung ist dort, wo ein Mensch seinen alten Kragen in eine Ecke geworfen hat. [...] Und als er dies geredet hatte, schaukelnd von Wand zu Wand, vor dem riesigen Nachtfenster, kletterte er [...] aus der Matte heraus und ging hocherhobenen Hauptes, aber schwankenden Schrittes ins violette Zimmer [...] und öffnete mit einem Brieföffner auf dem Bechsteinflügel“ die Dose Nordseekrabben. Müller lässt buchstäblich die schwarze Nacht herein, wo vorher der Sonnenschein das Wohnen zum zeitüblichen Bild von Sommerfrische machte – wie beispielsweise zeitgenössische Architekturzeichnungen oder Fotos von gebauten Wohnbauten dauernd von Liegestühlen und Sonnenschirmen bevölkert sind. Müller befleckt und beschmutzt die durchdachte und saubere An-Ordnung. Die Wende der Geschichte setzt ein, als Frau Kampert, die Müller „äußerst gefiel“, sich zurückzieht. Sie, „die alles durch ihre natürliche Art noch zusammengehalten und das Tierische in Müller sozusagen gebändigt hatte“. Damit wird die affekt- und triebdomestizierende Funktion des Wohnens unmittelbar an die Figur der Hausfrau gebunden. Ähnliches konstruiert Norbert Elias in seinem 1936 erschienenen Buch über die „Prägungsapparate des Individuums“ (Elias 1989, S. LXXX) bzw. den Zivilisationsprozess, den er mit der „Verhöflichung der Krieger“ ansetzt, womit er meint, dass mit dem Ausbau der „Wohnsitze zu den Höfen“ durch die Anwesenheit der Herrin Triebregulierung wie Zurückhalten der Affekte gelernt werden mussten und am Hof Gewalttaten, Affektausbrüche untersagt wurden (ebd., 354f.). Verhäuslichung als Domestizierungsprozess. Auch bei Brecht ist die Hausfrau Kampert Figur der Domestizierung. Sie ist gleichzeitig als Domestizierte und Dompteuse ausgewiesen, denn das Sprechen über Einrichtung und Geschmacksurteil ist an ihre Gegenwart geknüpft und an ihr werden Wohnraum, Kleidung und Speisen als unverrückbarer Teil eines Lebensstils beschrieben. So wird auch der Vergleich von Wohnung und Abendkleid mit ihr eingeführt – das war ebenso bereits ein Verhandlungsgegenstand der Reformbewegungen vor und um 1900 (vgl. Nierhaus 1999). Müller unterwirft in der Folge die Wohnung, die ihn „so aufreizte“, einem Akt der Beschmutzung und Zerstörung – er sagt: die Wohnung ist ein Ort, „wo der Mensch seinen alten Kragen

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Irene Nierhaus in eine Ecke geworfen hat“. Alter Kragen also versus Abendkleid, und die Müller'sche gewalttätige Intervention ist fraglos sexualisiert. Müller agiert als Rowdy und machistischer Interventionsguerillero. Und den in die Ecke geworfenen ungewaschenen Kragen wird eine Hausfrau aufheben und waschen. Doch das reicht keineswegs aus, um mit der Geschichte fertig zu sein, denn mit Müller wird ein, wenn auch maskulinisierter, Widerstand des Subjekts gegen seine „reformatorische Zweckdienlichkeit“ artikuliert, die als wörtliches Ein_Richten in eine bürgerliche Ordnung im Kleid des Wohnstils verstanden ist. Der Gewalt des Ein_Richtens als Zurichtens erwehrt sich Müller gewaltig, in dem er das Stilganze zertrümmert. Doch in all seiner Trunkenheit wird er keineswegs als bloß triebgesteuerter Raser vorgestellt, denn er entwirft in Kürze einen Plan zur Umordnung und wird gegenüber den in der Gestaltung fremdgesteuerten Kamperts als selbstgesteuerter Schöpfer charakterisiert, „wie [ein] furchtbarer Wirbelwind, der die großartige Vielfältigkeit und die bewunderungswürdige Disharmonie der ganzen Schöpfung [...] wieder herstellt“. Zudem ist der Umbau militärisch konnotiert, Müller ist ein Haudegen und Stratege. Der Plan ist ein Schlachtplan, das Umräumen ein „mazedonischer Siegeszug“. Diese Militarisierung formuliert Willkür in eine Ordnung der Gewalt um, die in der Geschichte eine Verweisfunktion hat, da sie mit der Erfahrung der Soldatengemeinschaft des Ersten Weltkriegs einsetzt. Müller und Kampert waren Kriegskameraden gewesen und Letzterer wird als besonders solidarischer und bescheidener Soldat beschrieben. Nach dem Krieg habe Kampert dieser Solidargemeinschaft den Rücken gekehrt, seine Erinnerungen in einer Kiste ablegt und diese vom „Dienstmädchen aus der Welt schaffen“ (!) lassen. Die oben genannte unpassende Truhe der neuen Wohnung scheint eine metonymische Verwandte dieser Kiste zu sein, die nur mehr Hinweis auf irgendein Nichthereinpassendes ist. Das „unscheinbare braune Ding“ ist Restbestand von (Ge-)Wissen. Die Büchse der Pandora öffnend, lässt Müller nicht das Elend in die Welt, sondern macht es bloß sichtbar. Er rückt die Truhe in seinem Umräumen dann auch wieder „in die Mitte“. Solche kontrastierenden Korrespondenzen zwischen Krieg und Wohnen werden mehrfach gezogen: da gekachelte Badezimmer, dort verschlammte Schützengräben und „verunreinigtes Gras“; dort „stinkende Lazarette“, da die Wohnung als „stilreine“, wohltemperierte Freizeitlandschaft. Die Kritik ist sozialistisch, denn das Kollektiv, in diesem Fall die arme, dreckige und tapfere Gemeinschaft der Soldaten, wird gegen ein Leben „unter einer Daunen-

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Störrisches Wohnen decke“ getauscht, die in der Wohnung mit der Kamelhaardecke im Schlafzimmer korrespondiert. All das sind Zeichen für die Entscheidung Kamperts gegen ein kritisches Klassenbewusstsein. Insofern ist der Vandalenakt von Müller ein marxistisch gemeintes, rebellisches Von-demKopf-auf-die-Füße-Stellen, eine Mahnung an die Verhältnisse. Und Müller ist darüber hinaus nicht nur Stratege und Klassenkämpfer, sondern ein mit Widersprüchen und Kontrasten ausgestatteter Freund, der auch verlegen, schuldbewusst, unsicher und traurig ist. Der Text spricht von Widerständigkeit und wendet sich gegen eine als totalitär verstandene Stilordnung, die das Leben der Bewohner kontrolliere und homolog normiere.15 Brecht stimmt hier mit Simmel in der Ablehnung eines stileinheitlichen Interieurs überein, das „das darin wohnende Individuum sozusagen von sich ausschließt, es findet keine Lücke“ für sein persönliches Leben (Simmel 1993, S. 382).16 Brecht verfolgt jedoch ein sich der bürgerlichen Regulierung störrisch widersetzendes, rationales wie disharmonisches, strategisches wie konvulsives Konzept des Subjekts. Es besitzt Plan, Gestaltfähigkeit, Körperlichkeit, Sexualität, ein breites Gefühlsspektrum und agiert sozial nicht distinktiv – ein Freund im Verhältnis zum Snob, ein Kämpfer im Verhältnis zum Konformisten, das Schweinische im Verhältnis zum Gezähmten. Brecht produziert eine Oppositionsbildung, die männlich essenzialisiert daherkommt (hauen, schlagen, stechen, saufen, Wahrheit verkünden, „Mensch“ sein ...).17 Es ist, als ob das im alten Interieur Abgespaltene und sich im Animistischen Zeigende zum Bewohner zurückkehrt. Die nie ganz passfähige Existenz des Individuums und seine „Erregung“ wird bei Simmel jedoch durch den Stil der Einzeldinge in „Entlastung und Verhüllung des Persönlichen“ befriedet und zur Ruhe gesetzt und „in den stilisierten Formgebungen, von denen des Benehmens bis zur Wohnungseinrichtung, liegt eine Milderung und Abtönung dieser akuten Persönlichkeit“ (Simmel

15  In der Geschlechterstruktur ist die Geschichte klassisch dichotom. Ist jedoch die Kultur der Neuen Sachlichkeit von Zeitgenossen oft als „männlich“ ausgewiesen worden, ist hier die kühle Sachlichkeit in der Unbedingtheit des Wohnstils als Verweichlichung und als Verweiblichung dargestellt (Geschmack, Mode etc.). 16  Simmel sieht die Bedingung für die „richtige“ Entfaltung des Individuellen in der Wohnung als eines Ganzen mit „Geschmack, der freilich ein ganz fester und einheitlicher sein muß“ (Simmel 1993, S. 381). 17  Die Zweitveröffentlichung trug auch den Titel „Die gottgewollte Unordnung der Dinge“ (s. Anm. 12), womit das „Gottgewollte“ als unhintergehbare Endlichkeit einer „menschlichen Natur“ übersetzbar wäre.

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Irene Nierhaus 1993, S. 382). Brecht stört die „Abtönung“, doch formuliert er keineswegs nur ein hitziges Begehren nach der Aufhebung von „Entfremdung“, sondern auch deren volles Ausschöpfen, Ausdehnen, Treiben bis an den Rand des Zusammenbruchs, ja Übertreiben, um damit auf die Dysfunktionalität und Auslassungen eines Systems zu zeigen und es damit letztlich zu provozieren. Die Unterbrechung der Last der Bedeutungsdichte sieht Brecht an einer anderen Stelle bezogen auf das Theater im absoluten, ehrlichen, kompakten „Unsinn“, durch den „jener quälende ‚Sinn‘ überhaupt aufhört“ (Brecht zit. n. Becker 2000, S. 279). Das bei Brecht wie Kracauer (wenn auch unterschiedlich) formulierte Dysfunktionale und (Ver-)Störende war in der Malerei der Neuen Sachlichkeit zu Innenräumen mehrfach formuliert worden, wie z.  B. bei Anton Räderscheidt oder Franz Sedlacek. Insbesondere hat es sich jedoch der Surrealismus zur Aufgabe gemacht, jenes durch die opake Transparenz des Rationalen Verstellte zu thematisieren. Ernst Bloch bezieht sich in der Kritik der Stabilität und Kohärenz vortäuschenden Seite der Sachlichkeit (da „zeigt sich der Betrug, sofern die Leere derart vernickelt wird, daß sie glänzt und besticht“, Bloch 1935, S. 157) auf Surrealismus und Expressionismus. Es sei das Prinzip der Expressionisten als bürgerlich-ästhetischer Opposition, „in die Hohlräume vor allem Exzesse und Hoffnungen“ (ebd., S. 165) zu montieren, „Bilderrätsel des gesprungenen Bewußtseins“ (ebd., S. 167), während das Montageprinzip der Surrealisten „sich auf die unheimliche, die experimentelle Figur dieser Trümmer“ verstünde (ebd., S. 169).

„Unterwegs-Gestalt“ Einmal aus der Dose befreit, wehren sich die „Nordseekrabben“ dagegen, ihre „akute Persönlichkeit“ wieder durch den Stil der Dinge befrieden zu lassen. An der Stelle der Stilisierung sind die Autoren hellhörig – ein besonderes Sensorium dafür hat Siegfried Kracauer, der zur Problematik der neuen Formsprache schon 1924 schreibt: „Zum anderen kehrt man zur Form nur zurück, um die Form selber sogleich wieder ornamental aufzutreiben.“ (Kracauer 1990a, S. 265) Ähnlich Ernst Bloch: „[...] solche Sachlichkeit hat ihr Ornament daran, keines zu haben“ (Bloch 1935, S. 158). Und Kracauer schreibt zu den Zimmereinrichtungen auf der Berliner Ausstellung „So wohne alle Tage“ 1931 – hier bereits geprägt von der Erfahrung der Weltwirtschaftskrise: Die „Zimmergegenstände

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Störrisches Wohnen [...] gehorchen nicht so sehr der Not als der Mode [...] ihre Glätte hat nur die Absicht, großartig zu wirken [...]. Nur nicht die Armut sich anmerken lassen, ist die Devise. Und so verschaffen sie sich eine blinkende Politur, machen eckige Gebärden von besonderer Ausdruckskraft [...]. Locker hingeschaukelte Stahlmöbelgruppen erzeugen den Eindruck sorgloser Privateleganz, und viele Eß- oder Schlafzimmergarnituren könnten in Filmateliers verwandt werden, um die Illusion von Eß- und Schlafzimmern zu erwecken. Sie sind [...] bereits so komplett, daß Menschen in ihnen nur störten.“ (Kracauer 1990c, S. 333) Sie hätten Schmiss, „wie Leute, die frühmorgens immer trainieren. [...] Der Gegensatz zwischen den abgelebten und den modernen Zimmereinrichtungen ist also gar nicht so gewaltig. Wie man jetzt jene mit einem leichten Gruseln belächelt, wird man in einer späteren Zeit diese sicher durchschauen. Auch in ihnen rumoren Gespenster, die kein Vakuumreiniger verscheucht.“ (ebd., S. 333f.) Als habe sich nichts geändert, ist das alte Zimmer im neuen zurückgekehrt und der Spuk, der noch vier Jahre zuvor am Mies'schen Glasraum als Durchgangsereignis bezeichnet worden war, ist hier sesshaft geworden. Das neue Wohnen hat sich bis zu einem gewissen Maß kodifiziert und ikonisiert und wird als Mittel angesehen, das den durch die Krise brüchig gewordenen Lebensstil des Mittelstandes befriedet. Die verdeckte Not bringt Kracauer mit seinem Bericht über die „proletarische Bauausstellung“ zum Vorschein, die die Berliner Wohnungsnot thematisierte: „[...] groteske Improvisationen werden gezeigt, alles andere als idyllische Weekend-Häuschen. Sie vergegenwärtigt Höhlenwohnungen an Schuttabladeplätzen, ramponierte Autos, die als Lauben dienen; Unterkunftsräume aus Eierkisten.“ (Kracauer 1931b) Spätestens mit den sozialen, ökonomischen und politischen Auswirkungen der Krise um 1930 sind die Visionen eines neuen Wohnens drastisch geschrumpft. Nach Bloch bliebe die Sachlichkeit weniger ein „Versuch“ denn eine „Versuchung“, den gesellschaftlichen Hohlraum zu schließen. Im Sinn der Sichtbarkeit des Fragmentarischen spricht er für ein Montageprinzip, denn es „holt aus der zerfällten Oberfläche ihre Teile, setzt sie aber nicht in neue Geschlossenheiten, sondern macht sie zu Partikeln einer anderen Sprache, anderen Informationen, anderen Unterwegs-Gestalt der aufgebrochenen Wirklichkeit“ (Bloch 1935, S. 168). Heterogenität, Situiertheit, partiale Vielfalt, „Querbohrungen“, Züge „zum Interim“ und „Passagenbildung“ kennzeichnen die Unterwegs-Gestalt, die gegen ein Äquivalenzsubjekt des Hegemonialen gesetzt ist. Brechts Müller, der einen der Vielen vertritt,

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Irene Nierhaus entspricht so einer Unterwegs-Gestalt, in der die kleine schmutzige Existenz als Teil des Subjekts zu seinem Recht gelangen soll.18 Diese Existenz war bei Simmel das in seinen „Erregungen“ am Abgrund treibende Individuum, das erst durch den Stil der Dinge, der das Allgemeine signifiziert, ins soziale Subjekt hinübergerettet werden kann. Erst durch den am Stil erlernten Geschmack kann das Subjekt, wie das Interieur, als homogene Einheit sichtbar werden. Die Engführung von Interieur und Subjekt, die von den modernen Kritikern als unheimliche Dominanz des Ersten über das Zweite verstanden wurde, sollte zugunsten der Befreiung eines um seine Lebensrealitäten erweiterten Subjektes aufgebrochen werden.19 Dieser Prozess der Frei-Stellung und Dissoziierung war ein durchaus ambivalenter und verunsichernder – Kracauer sprach von der „Trauer der Entsagung“. Oder anders gesagt: Die Dissoziation vom Interieur ist zugleich eine Trennung von der Zuflucht, jenem von Simmel konstatierten Zur-Ruhe-Kommen. Die Flucht aus der Zuflucht bzw. deren Wechselverhältnis scheint ebenso eine Grundstruktur der Moderne (als Epochenbegriff seit der Zeit um 1800 verstanden) zu sein. Sie zeigt sich in einer lang anhaltenden „antidomestic rhetoric“20 als Bestandteil des Wohnwissens, die den Zusammenhang von „Domestischem“ und Domestizierendem verdeutlicht. Wohnen fungiert darin als unheimliches Transferzentrum der Logistik des jeweils hegemonialen Sozialen. „Not to be at home“ (Rogoff 2000, S. 18), lautet demnach ein Einspruch gegen moderne Versprechen von Zugehörigkeit und Heimischem in Nationalismen, Kolonialismen und Faschismen. An dieser Stelle ließen sich Fragen um das Anti-Häusliche, Nicht-zu-Hause-Sein, die Unterwegs-Gestalt und das (nicht nur als Genre aufgefasste) Unheimliche als gleichermaßen strukturierende Wohnprozesse der Moderne nochmals neu (an-)ordnen.

18  Zum Verhältnis von Individuum und Subjekt sei festgehalten, dass hier beide nicht als fixierte Entitäten, sondern als sich gegenseitig produzierende Verhandlungen der modernen Gesellschaft aufgefasst werden, wenn auch Brecht durchaus eine solche Opposition produziert. 19  Dieses Subjektkonzept ist eines. Ein gänzlich anderes verfolgte beispielsweise Helmuth Plessner, s. Lethen 1994. 20  Christopher Reed schreibt die antihäusliche Rhetorik der Avantgarde der Moderne insgesamt zu, insbesondere auch den Künsten (vgl. Reed 1996, S. 12).

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Drehli Robnik

Wohnen unter Dingen, die uns um(b)ringen Zum Horror film als Explikation des Gewohnten und Einübung ins Un-Heim

Wie wohnen? Wie jede Frage ist auch die nach dem Wohnen – und dem Wohnen-Zeigen – nicht abzuschließen, nicht erschöpfend zu beantworten. Das ist ganz normal (und das Pochen auf Unabschließbarkeit gehört mittlerweile in philosophischen bzw. geistes- und kulturwissenschaftlichen Diskursen zum guten Ton, bis an die Grenze zur Orthodoxie, was auch nichts grundsätzlich Schlechtes ist). Der Umstand, dass die Frage eher der Frage denn einer Antwort gilt, lässt sich allerdings in seiner default-value-artigen Normalität noch einmal groß herausstellen – und zwar genau an jenem theoretischen Ort, jenem Begriffsschauplatz, den die drei Hauptkoordinaten im Titel und Thema dieses Beitrags markieren. Wohnen, Film, Horror – die drei Worte machen das Fragezeichen und die Zeigensfrage akut, denn: Dass eine Frage offen bleibt bzw. dass bei jeder Abschließung auch wieder etwas aufgeht oder zur Hintertür wieder hereinkommt, oder auch: dass die Antworten damit gegeben sind, das jeweilige Problem – das Fragwürdige und Bedenkliche an der Frage – einigermaßen gut zu stellen und auszurollen (vgl. Deleuze 1989, S. 25–28), das bringt nicht zuletzt eine Terminologie des Räumens, Stellens, Bodenlegens, des Türen-Schließens und Türen-wieder-Öffnens ins Spiel. Und diese Begrifflichkeit (denken wir an Türgriffe) ist in sich selbst schon eine Dramatisierung und sprachliche Verbildlichung von Wohnen im Sinn von gewohnheitsmäßigem Aufenthalt. (Dass die Frage zählt und nicht die Antwort, das – oder auch: das zu sagen – sind wir heute gewohnt.) Ebendies zeigt sich insbesondere im Film, wo sich notorischerweise so viel von unserer Erfahrung zeigt – zumal auf eigenlogische Weise, nicht zuletzt so, dass wir nicht wirklich mitspielen können bei dem, was sich da zeigt und abspielt. Das ist kein Mangel von Film, sondern eine Eigenart,

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Wohnen unter Dingen, die uns um(b)ringen ein Reiz, im Unterschied etwa zu Games oder Online-Bildpraktiken. Ein Bild, das zeigt, wie Fragwürdiges und Unabschließbares gewohnheitsmäßig wird und sich in einem Raum (dem der Szenerie oder dem des Kinos) ausformt und abspielt: Ein solches Bild und der Umstand, dass wir ihm gegenüber ohnmächtig sind, das ist im Film ganz normal; diese Normalität wiederum stellt der Horrorfilm – mehr als andere Genres oder Stimmungsregister des Films – heraus. Darum geht es nun. Dass dabei das Öffnen von Türen – zumal solcher, die vermeintlich auf Dauer geschlossen waren – eine Rolle spielt, darauf muss ich (um im Bild bzw. in der Tür zu bleiben) nicht extra pochen. Bei Siegfried Kracauer ist vor 50 Jahren zu lesen, dass Film uns erlaubt, uns in unserer Geschichtlichkeit zu erfahren, indem er uns hilft, durch die Dinge zu denken anstatt über ihnen; insofern erschließt Film uns die Erde als „unsere Wohnstätte“ bzw. unser „Habitat“ (Kracauer 1971, S. 180).1 Wir wohnen also auf der Erde. Damit aber steht das Wie groß im planetarischen Raum, denn: Auf der Erde wohnen wir ja sowieso; Film jedoch erlaubt uns, dieses Wohnen als Problem wahrzunehmen, als nichts Fixes, als Frage nach dem Wie wohnen. Eine Tür neben Kracauer hat vor 25 Jahren Film-Phänomenologin Vivian Sobchack aufgemacht: Mit Martin Heidegger und Maurice Merleau-Ponty argumentiert Sobchack, Film lasse uns, im Unterschied zu Fotos oder elektronischen Medien, unser ‚In-der-Welt-Sein‘ erfahren, als etwas, das leiblich und intentional ist, subjektiv, weil sinnlich (vgl. Sobchack 1988, 1992). Wir wohnen in der Welt kraft unseres Leibes; ihn, den Leib als unseren gelebten Körper (lived body im amerikanischen Original), sind wir gewohnt – auch wenn er, wie eine Mietwohnung, uns nicht ‚gehört‘, weil er uns ja auch gewohnheitsmäßig überrascht. Was aber, wenn nun Wohnen enger gefasst wird als das ‚In-derWelt-Sein‘ schlechthin? Für dieses Wohnen im engeren Sinn, im engeren Raum, ist Sobchacks Leib-orientierte Filmerfahrungstheorie insofern interessant, als sie an einer Stelle ein kurioses Negativbeispiel anführt: „The Lady in the Lake“ ist ein Hollywood-Detektivkrimi von und mit

1  Wörtlich: „[D]ie photographischen Medien helfen [uns], unsere Abstraktheit dadurch zu überwinden, daß sie uns tatsächlich zum ersten Mal mit ‚dieser Erde, die unsere Wohnstätte ist‘ (Gabriel Marcel), vertraut machen; sie helfen uns, durch die Dinge zu denken, anstatt über ihnen.“ (Kracauer 1971, S. 180) In Kracauers Rede vom „Vertrautmachen“ ist (s)eine Problematisierung dessen mitzudenken, was uns im Vertrauen nahekommt, intim wird, nicht mehr auf Distanz fixiert werden kann.

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Drehli Robnik Robert Montgomery aus dem Jahr 1947, der die intentionale Subjektivität des private eye auf die Spitze treibt, indem er alles Geschehen ausschließlich aus der Optik des Helden zeigt. Wie gesagt: Sobchacks theoretisches Anliegen, ihre begrifflich-intuitive Sache, ihr ‚Ding‘ ist Film als Erschließung leiblicher Subjektivität, und dieser Film jedoch ist für sie ein Unding, das genaue Gegenteil (vgl. Sobchack 1992, S. 243–245). Warum ist „The Lady in the Lake“ in phänomenologischer Sicht so unleiblich und unleidlich? Gleich nach der Exposition des Films erklärt der Hauptdarsteller in die Kamera redend den ‚Schmäh‘ der nun folgenden Extremform einer filmischen Ich-Erzählung. Danach verschwindet er aus dem Bild der Ereignisse, vielmehr: Die Hauptfigur, der Detektiv, in dessen optischem point of view die Krimigeschichte abläuft, wird von nun ab nur noch in einigen umständlich komponierten Einstellungen sichtbar, in denen er vor einem Spiegel o.  Ä. steht. Die eigentliche Handlung setzt damit ein, dass der Ich-Erzähler-Detektiv-Held ein Vorzimmer und ein Büro betritt, indem er die Vorzimmertür und die Bürotür passiert. Das liest sich schon ein bisschen überdetailliert, und genauso sieht es auch aus: In einer grotesken Umwertung/Verdrehung der Spektakelökonomie des Krimi-Genres gerät diese alltagsbanale Verrichtung, die doch nur uns und den Protagonisten in die Fallgeschichte, in deren Dramatik, Thrills und Action, hineinbefördern soll, geraten also die 15 Sekunden des Betretens zweier Büroräume durch das Passieren zweier Türen zum Abenteuer in its own right, bei dem das Gewöhnlichste plötzlich ungewohnt wird. So könnte eine wohlwollende Formulierung lauten. Weniger euphemistisch gesagt, ergibt sich eine hochgradig unbehagliche und beklemmende Erfahrung verkörperter Filmwahrnehmung. Dieser Krimi, der gut 90 Minuten lang so abläuft, vermittelt kein Bild der Subjektivität eines Helden oder Ich-Erzählers, sondern verkompliziert (ohne dabei einen als solchen ausgewiesenen avantgardistischen bzw. verfremdungsästhetischen Mehrwert an Reflexivität zu generieren) die eingeübtesten Abläufe: sowohl die grundlegende Bereitschaft zur Identifikation mit dem (auch optischen) point of view von Filmfiguren als auch das schlichte Betreten eines Zimmers. Unversehens kommt da die Anmutung eines Lehrfilms auf – womit wir bei einem der gewendet zu verwendenden Stichworte dieses Beitrags sind –, eines Lehrfilms zu dem faszinierenden Thema „Wie öffne ich korrekt eine Zimmertür?“ Das geht so: Ich nähere mich der Tür, lese das Türschild, schaue dann hinunter, greife weit ausholend nach der Türklinke etc. Sobchack (1992) schreibt

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Wohnen unter Dingen, die uns um(b)ringen sinngemäß: Die Filmerfahrung vermittelt uns unsere subjektiv-leibliche, immanente Welterfahrung, weil beides, Film- wie Welterfahrung, für uns als Gewohntes abläuft – nicht als etwas, das in jedem Moment als ungewöhnlich markiert ist (wie in diesem Ausnahmefall eines Hollywoodfilms als – in seiner Publikumsadressierung wie auch kommerziell – gescheiterten Wahrnehmungsexperiments). So sieht, so will es die Film-Phänomenologie. Manches von dem, was in deren Sichtweise verworfen wird, wird hier im Folgenden, sozusagen zur Hintertür, wieder ins Spiel kommen. Aber halten wir einmal fest: Wenn Filme Wohnen in Frage stellen, es als mit einem Wie Versehenes zu sehen geben, zeigen, dann tun sie dies nicht (oder bei Weitem nicht nur) in Form eines Lehrfilms. Es geht nicht ums Lehren, wohl aber ums Lernen, zumal Wohnen-Lernen. Ich halte mich da an ein Stichwort, das (in Anspielung auf Adolf Loos) in der Planungsphase der Tagung, auf der dieser Band basiert, als deren möglicher Titel in Aussicht gestellt war: „Wohnen lernen“. Dem Film als Ort möglichen Wohnen-Lernens nähere ich mich über eine Art von Film, die weit entfernt ist vom Anspruch eines Lehrfilms – von der Erziehung zum rechten Gebrauch, der von Vermögen und ‚Anlagen‘ des Wohnens zu machen wäre2 –, nämlich über den Weg und das Medium des Horrorfilms. Keine Angst: Es soll hier nun nicht um jene Art von Horrorhaus-Filmen gehen, in denen es stets fast unmöglich ist, sich auch nur eine Nacht im jeweiligen verfluchten oder zu Folterzwecken adaptierten Schreckensgemäuer aufzuhalten, geschweige denn darin zu wohnen. Überdies liegt mein Fokus zunächst auch nicht auf Häusern – von denen es im Horrorkino viele beeindruckende gibt, darunter eben auch viele genuin unbewohnbare –, sondern zum einen auf dem Wohnen sowie auf filmischen Erfahrungen von Schrecken und Unheimlichkeit, die nah am gewohnten Alltag ansetzen. Insofern werden sich nun keine alten Burgen oder viktorianischen Landsitze vor uns auftürmen. Zum anderen liegt ein Fokus auf dem Wie, dem Lernen, und da kommen nun verschiedene Ansätze zum Lernen, Konzeptionen dessen, was Lernen ausmacht, in Betracht. Nun wurde hier bereits eine schematische Vorunterscheidung angedeutet: zwischen einerseits der Orthodoxie eines Lehrfilms, im Sinn von educa-

2  Ein Moment solcher Erziehung steckt etwa in Dokumentarfilmen zur urbanistischen oder betriebswissenschaftlichen Rationalisierung von Alltag, z.  B. „Housing Problems“ (GB 1935).

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Drehli Robnik tional film, Industrie- oder Kulturfilm, und anderseits dem Horrorfilm als einer (ihrerseits auch nicht von Orthodoxien freien) Filmform, bei der wir geneigt wären, sie als weit weg davon situiert zu empfinden.3 Die Sinnträchtigkeit dieser Vor- oder Basisunterscheidung wird vielleicht gerade dort deutlich, wo Filme sie unterlaufen. Wie zeigt sich dies? Es könnten uns vereinzelt Lehrfilme einfallen, die uns im Modus des Horrorfilms anreden, anmuten, ‚an-agitieren‘ – Kurzfilme oder Spots mit pädagogischem Impetus im öffentlichen Interesse (etwa zur Dringlichkeit von Umweltschutz, Bevölkerungsgesundheits- oder Verkehrssicherheitsmaßnahmen; da sind wir zumindest in der Nähe des filmischen Wohnen-Zeigens). Zweifellos gibt es das, aber prominenter ist der umgekehrte Fall: der eines Horrorfilms, der zumindest in Teilen so tut, als sei er ein Lehrfilm – markant in jüngster Zeit: die Sequenz mit durchnummerierten Alltagsverhaltensregeln am Beginn von „Zombieland“ (USA 2009)4 –, als würde er uns, um zu unserem Kernthema zu kommen, übersichtlich erklären, wie in diesem oder jenem Fall zu wohnen sei. Dies geschieht in der Vorspannsequenz eines kanadischen Films, David Cronenbergs Quasi-Spielfilmdebüt „Shivers“, vulgo „They Came from Within“, bzw. „Parasiten-Mörder“ aus dem Jahr 1975. „Shivers“ spielt zur Gänze in einer unité, einem upper-middle-class Apartmentblock in der Nähe von Montreal, in dem außer Kontrolle geratene laborgezüchtete Parasiten die Bewohner_innen reihum in aggressive Sexrauschzustände versetzen. Den Normalzustand, von dem dieser kollektiv(ierend)e Aufruhr wegdriftet, markiert im dreiminütigen Vorspann eine Sequenz, die den Vermittlungsgestus von Firmenwerbefilmen paraphrasiert: Im Fall von „Shivers“ ist dies eine Diashow, die die Vorzüge eines luxuriösen Wohnblocks namens „Starliner“ anpreist, mit der freundlich-didaktischen Off-Stimme eines jungen Mannes (der in der ersten Handlungsszene als der eifrige Gebäudemanager beim Begrüßen und Einweisen neuer

3  Und sei es nur deshalb, weil uns spontan ein (medien-)pädagogischer Diskurs in den Sinn kommt, der sich regelmäßig über die jugendkorrumpierende Wirkung von Horrorfilmen (in jüngerer Zeit eher von einschlägigen Games) besorgt zeigt – im Sinn von: Von diesen Bildern ist nichts Gutes zu lernen. 4  Darunter die Regeln, sich die Fitness zu erhalten, weil nur die Trainierten den Zombies davonlaufen; oder beim Einsteigen in ein abgestelltes Auto immer erst die Rückbank nach versteckten Zombies abzusuchen; oder beim Verrichten längerer Geschäfte auf einem öffentlichen Klo vorsichtig zu sein, weil die Zombies die in solchen Situationen erhöhte Ausgesetztheit ihrer Beute förmlich riechen können.

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Wohnen unter Dingen, die uns um(b)ringen Bewohner_innen in Erscheinung tritt).5 Die jeweiligen Verheißungen – Lage abseits des Großstadtbetriebs, großzügiger Park, Swimmingpool im Gebäude, hauseigene Arztpraxis – fungieren als Anleitungen: als Instruktionen, welcher Gebrauch von diesen Wohnmöglichkeiten zu machen sei (ein ‚Können‘, das ein ‚Sollen‘ impliziert, im Sinn des optimierungsseligen kategorischen Konsum-Imperativs „Du darfst!“; vgl. Žižek 1999), und damit zugleich als Lenkung der Aufmerksamkeit auf Schauplätze, die im weiteren Verlauf des Films noch aufgesucht werden (Finale im Swimmingpool etc.); dies ganz im allgemeinen Sinn klassischer Drehbuchökonomien der In-Aussicht-Stellung von narrativ ‚abzuarbeitenden‘ Locations (alles, was gezeigt wird, wird als sinnträchtig in die Erzählhandlung integriert werden) wie auch im spezifischen Sinn einer Horrorfilm-Rhetorik der ominösen Androhung, die implizit, jedoch um nichts weniger deutlich ausbuchstabiert, dass das verwöhnte Wohnen nicht mehr lange ungestört ablaufen wird. Cronenbergs Vorspann als Diashow, samt freundlichem, ostentativ wissendem Lehrmeister, der uns alles in Sachen ‚schöner Wohnen‘ Wissenswerte darlegt: Wir könnten dies als ein klassisches Modell von ‚Lernen durch Explikation‘ verbuchen, das hier herbeizitiert wird, damit der Rest des Films sich – narrativ wie auch im Diskurs seiner Anrede (Schrecken und Ekel statt Erklärung) – davon absetzen kann. Wobei nun aber gerade die ‚Explikation‘, eben auch einer räumlichen, insbesondere wohnlichen Situation, etwas ist, dem sich Horrorfilme häufig und ausgiebig widmen. Meist aber ist diese Explikation von (narrativ ‚aufzufüllendem‘ bzw. zu besudelndem) Wohn-Raum eben nicht Sache eines freundlichen Wissensträgers wie in „Shivers“, sondern eines ‚unwissenden Lehrmeisters‘, der auch gar nicht allzu freundlich ist. Ich borge mir diesen Ausdruck aus der pädagogischen Ästhetik von Rancière (2007a), die u.  a. darauf abzielt, dass es in der sozialen Erfahrung sehr wohl immer wieder ein Machtverhältnis gibt, nicht jedoch eines, das durch eine Wissenshierarchie unbestreitbar gemacht würde. Der Lehrer, so gibt Rancière sinngemäß zu verstehen, ist derjenige, der seinen Zöglingen die Ausgangstür blockiert – da haben wir wieder die Tür – und sagt: „Ihr bleibt jetzt hier und lernt!“ Diese Zwangsausübung kann sich nun aber gerade nicht darauf berufen, dass Unwissende zum Licht der Vernunft

5  Zur Architektur in diesem und anderen frühen Filmen Cronenbergs vgl. Loidolt 1992.

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Drehli Robnik geführt werden, an der Hand einer Autorität, die über diese Erleuchtung oder jenen Wissensschatz verfügt. Auch der Horrorfilm sagt, gibt uns zu verstehen, impliziert in den Erregungen und Faszinationen, die er uns angedeihen lässt: „Du bleibst jetzt da sitzen und schaust dir das an! Aus dem Kino rauslaufen, die DVD auswerfen, den Stream stoppen, das gilt nicht!“ Diese Zwangsverortung wird ja oft verdoppelt im Bild der Unentrinnbarkeit jener Räume, in denen viele Horrorfilme spielen, und die Erfahrungen, die uns da jeweils zugemutet oder aufgezwungen werden, führen meist nicht zu einem Zustand, den wir als reine Vernunft zu verstehen geneigt wären. Und doch wird oft etwas ‚expliziert‘, weniger im Sinn von ‚erklärt‘ als von ‚entfaltet‘. Denken wir an Kubricks „The Shining“ (USA/GB 1980): Dieser Klassiker modernen Horrors wird zu Zwecken der Deutung, Analyse oder kultischen Bearbeitung immer wieder auf- und abgesucht, so etwa jüngst in „Room 237“ (Rodney Ascher, USA 2012). Dieser Dokumentarfilm geht den eigenwilligen, mal mehr, mal weniger nachvollziehbaren Interpretationen nach, die Fans zu „The Shining“ vorlegen. Im Rahmen dieser Exegesen wird etwa dargelegt, wie Kubricks Film eine Topografie der Räume, Korridore und Stockwerke im Overlook Hotel entwirft, die in der dreidimensionalen Realität nur als paradoxe Möbiusschleife von Raumsequenzen denkbar wäre; was erstens erst in analytischer Betrachtung wahrnehmbar wird, sich zweitens allerdings gut mit der offenkundigen Zeitschleifenstruktur von Kubricks Filmerzählung verträgt und drittens in „Room 237“ mit der ausführlichen Rekonstruktion von Wohn- und Nutz-Raumordnung in Form von Grundrissen einhergeht. Mit dieser Explikation (in der heute neuralgischen epistemologischen Kontaktzone von Fan-Expertise und filmwissenschaftlicher Analytik) spitzt der quasi-parasitäre Dokumentarfilm einen Gestus zu, der schon seinem prominenten ‚Wirtsfilm‘ eignet: Zusammen mit der überwinternden Kleinfamilie verstricken wir uns im Unheimlichen dieses Hotels, das Kubricks Inszenierung uns in diversen Details seiner Räumlichkeit und Materialität nahebringt – bis hin zu den Texturen seiner Holz- bzw. Teppichböden und deren Akustik, die in den notorischen Steadicam-Fahrten hinter dem Tretauto des kleinen Sohnes in einprägsamer Weise expliziert, eben entfaltet, ‚ausgerollt‘ werden. Auch in „The Shining“ gibt es eine Szene (mit dem auf dem Tretauto herangerollten Sohn), in welcher der alltagsbanale Akt des öffnenden Hantierens am Türknauf einer Zimmertür (zum ominösen room 237) durch Zerdehnung und musikalische Überbetonung bis ins Unerträgliche expliziert wird.

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Wohnen unter Dingen, die uns um(b)ringen Ob wir daraus etwas lernen, ist eine andere Frage. Oder vielmehr – zumal die uns heute gewohnten Ökonomien des potenziell nützlichen Wissens zunehmend radikalexpansiv und dereguliert sind, also immer mehr an Kenntnis, etwa auch Fan-Expertise, als legitimierbares Wissen gilt – zeigt sich: Wenn es in „The Shining“ um ein Lernen geht, etwa Gespür für Materialien und Raumatmosphären zu entwickeln (oder auch ein ethisches Verhältnis zur Abgründigkeit der Zeit), dann rührt dies nicht von der Vermittlung regelkonformen Wissens her. Ein guter Stichwortgeber ist hier Deleuze mit seiner – in prägnanter Weise auch dem Film zugetanen – Philosophie, die, schlicht gesagt, fragt, wie Neues entsteht, das nicht bloß Vorgegebenes fortsetzt, sondern sich von Vor-Bildern und Identifikationsmodellen qualitativ absetzt; da geht es auch ums Lernen. Lernen, so legt Deleuze (1992, S. 212–214, 244) nahe, ist dem Denken näher als dem Wissen, es ist die verzeitlichte Form des Denkens – und insofern nicht Verfügung über ein Gut, sondern „Abenteuer des Unwillkürlichen“ (ebd., S. 213). Lernen ist im Deleuze'schen Konzept Begegnung im emphatischen Sinn, Begegnung mit etwas, das uns umwandelt und neu zusammensetzt, wobei ein Moment der Intimberührung mit etwas Feindlichem, der ‚Grausamkeit‘, des Zwangs und Schocks ins Spiel kommt und ein Außen sich in ein Innen einfaltet. Wie das Lernen ist auch Wohnen etwas, das etwas mit uns macht, indem wir es ausüben. Wir könnten es natürlich um einiges billiger geben als Deleuze und sagen: Als Lern- und Bildungsmedium ist der Horrorfilm ein Upgrade des Bildungsromans, Formung von Subjektivität im Durchgang durch ein (oder im wohnenden Aufenthalt in einem) environment, die narrativ ausgebreitet wird. Würden wir eine solche Reduktion vornehmen, dann zeigte sich sogleich, dass wir dabei das Moment des Feindkontakts und des Schocks aus dem Blick verlieren, das dem zukommt, was sich im Lernen irreduzibel als Neues einstellt. Solch Schockartig-zu-Lernendes vermitteln uns eben auch Horrorfilme, wenn sie uns beim Wohnen in „Abenteuer des Unwillkürlichen“ stürzen. Ich verzichte an dieser Stelle auf den Versuch, durch Strapazierung synästhetischen Vokabulars all die proto-taktilen, insbesondere akustischen Effekte und – vorsichtig gesagt – ‚Affekte‘ von Schock und Schauder-Atmosphäre, wie sie Horrorfilme in paradigmatischer Weise hervorrufen können, in Schriftsprache zu übertragen (vgl. dazu Robnik 2005). Die haunted houses suchen immer auch uns, unser Film-empfindendes Sensorium heim, die knarrenden und scheppernden Wohnungen

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Drehli Robnik bewohnen immer auch uns (auch etwa in der verkörperten Erinnerung an horrorfilmische Soundscapes oder ‚Atmos‘), so viel ist sicher. Aber ich möchte stattdessen lieber einen Aspekt von Deleuzes Post-Phänomenologie des Lernens als Feindberührung herausgreifen, den Aspekt einer Topik des Außen, das sich zu einem Innen einfaltet, bzw. den Aspekt eines Innen, das sich durch solche Einfaltung des Außen erst bildet, wofür Deleuze – lange vor seinem Rekurs auf den Begriff der Falte, der jeweiligen Ex- oder Implizierung – die (Lacan'sche) Chiffre der „Extimität“ herangezogen hat. Was heißt Lernen als Extimität, insofern in einer Nähe zur Intimität, die zugleich deren Gegensatz mitmeint? Was du glaubst, dir bloß wissensanhäufend anzueignen, das lässt einen unsicheren Anfang akut werden, der dein Innen ausmacht. Anders gesagt: Was du dir intim zu machen, anzueignen glaubst, bleibt dir und macht dich dir selbst gegenüber extim. Einmal mehr sollten wir hier nicht so sehr an die klassische Schulsituation mit wohlmeinendem, wissendem Lehrmeister denken als vielmehr an jene Begegnungen mit Neuem, wie sie Horrorfilme in aller Zwanghaftigkeit und Einprägsamkeit zur Geltung bringen (während der Begegnung mit Neuem im nicht-horriblen SciFi- oder Fantasy-Kino eher ein Moment des Staunens und Schwelgens anhaftet (vgl. Sobchack 1998). Mit der Rede von der Extimität – vom Außen, das sich als Innen erweist und vice versa – gewinnen die Zeitlogik des irreduzibel Neuen und die Wissenslogik des Erkenntnisschocks und der Misosophie (Feindkontakt) eine räumliche Dimension von einiger Tragweite für das Zeigen des Wohnens, die sich in Horrorfilmen unterschiedlich ausformen kann. In Hinblick auf Filmbilder, die (uns beim) Wohnen zeigen, hätten die Klaustrophobie-Thriller und Paranoia-Satiren, die Roman Polanski in den letzten 50 Jahren gedreht hat, einen eigenen Artikel verdient; hier aber soll nur eine bemerkenswerte, unheimliche Szene aus „Le locataire“ (F 1976, dt. „Der Mieter“) erwähnt sein. In der Szene, in welcher der vom Regisseur selbst gespielte neue Wohnungsmieter nachts grippekrank das WC im Treppenhaus aufsucht, lässt Polanskis Inszenierung eine ostentativ alltagsbanale Verortung – ein paar Minuten auf dem buchstäblichen Örtchen, wienerisch: ‚am Häusl‘ – kippen: in eine abgründige Öffnung der Zeit aufs Vorgeschichtlich-Archaische und des Raums auf die Spaltung von Innen und Außen. In dem ganzen Film geht es ums Verfolgt- und Bedrängt-Werden in einem Pariser Mietshaus, wo finstere Tradition regiert: Pedanterie, Xenophobie, Antisemitismus. Für das Fort-

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Wohnen unter Dingen, die uns um(b)ringen wirken archaischer Macht im modernen Wohnen prägt die Klo-Szene ein starkes Bild, als der zunächst irritierte, dann panische Blick des Mieters von Kritzeleien an der geweißten Mauer zu ausufernden altägyptischen Wand-Hieroglyphen übergeht und weiter zum Anblick seiner selbst, wie er in seiner Wohnung auf der gegenüberliegenden Seite des Lichthofs am Fenster steht und unverwandt zu sich am Klofenster herunterschaut. Der Mieter erfährt sich als gespalten, innen und außen, eingeschlossen und ausgeschlossen zugleich. Eine andere Inszenierung, zumindest (weil der schriftlichen Darstellung zugänglicher) bildliche Wohnraumanordnung, von Extimität: nicht eine, sondern zwei Pointen der Einstülpung vom Außen ins Innen in dem Schocker „When a Stranger Calls“ (Simon West, USA 2006, dt. „Unbekannter Anrufer“). Der Film ist das Remake eines gleichnamigen älteren Thrillers, eigentlich das Remake von dessen ersten 20 Minuten, mit der Babysitterin, die von einem anonymen Anrufer terrorisiert wird. Die Schock-Pointe, die im Remake nach einer guten Stunde einsetzt, betrifft – wie schon in „When a Stranger Calls“ von 1978 – den Aufenthaltsort des bedrohlichen Anrufers: Die Babysitterin hat die Polizei angerufen, die dann irgendwann zurückruft und ihr mitteilt, man habe den anonymen Anruf zurückverfolgt – er komme direkt aus dem Haus, in dem sie gerade sei. Das heißt: Was mich von außen bedroht, war mir immer schon näher, als mir lieb sein kann. Das Außen war immer schon drinnen. Hier nun die zweite Pointe. Das Thriller-Remake konzentriert sich ganz auf das terroristische Spiel zwischen Babysitterin und Eindringling und spielt fast zur Gänze in einem Luxuswohnhaus am Rand eines abgelegenen Waldsees. Dieses luxuriöse Landhaus bietet (im Vergleich zum kleineren Vorstadthaus 1978) nicht nur mehr Raum für diverse falsche Fährten und Schocks, sondern auch mehr an tönenden oder eigendynamischen ‚Dingen‘ und Materien, die synästhetisch an unseren zum Film gewandten Leibern expliziert sein wollen. Wir haben es hier (was im Horrorfilm nun immer häufiger vorkommt) anhand des Topos vom ‚einsam abgelegenen Wohnhaus‘ mit ostentativ modernem Wohnbau zu tun, bei dem keine viktorianischen Fenster klappern, sondern alles vor lauter Automatisierung, Zeitschaltung und Transparenz brummt, zischt und jäh aufleuchtet. Da kommt nun ein bemerkenswertes Detail ins Spiel, das aus der Gesamtwahrnehmung dieses wohnlandschaftlich angelegten smart house immer mehr in den Vordergrund gespielt wird und den Anrufer-Plot vom ‚immer schon‘ erfolgten Innen-Außen-Platztausch im

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Drehli Robnik Räumlichen des Hauses abbildet und im Gewohnten voraussetzt: Anstelle des generischen Hauses im Wald haben wir hier einen Wald im Haus – einen großen, dicht und hoch aufwachsenden Wintergarten als vielfältiges Biotop samt Dschungel, überbrücktem Fischteich, Vogelparadies sowie vorprogrammierter Licht- und Beregnungsanlage, eine Naturlandschaft in der Wohnlandschaft des nivellierten Erdgeschosses. Diese Topografie wird in dem Film immer breiter ausgestellt und umschreibt den Ort des Action-Showdowns. Allerdings markiert sie auch eine Grenze für solch filmische Raum-Imaginationen der bedrohlichen Art: Wenn das Haus als smart house mit diversen Automatiken immer schon eigendynamisch und belebt ist und wenn der finstere Wald (auch das tiefe Wasser) immer schon im Haus ist, dann machen traditionelle Konzepte des Spuks bzw. der home invasion von außen weniger Sinn. Das wäre ein Thema für eine Anschlussuntersuchung: Unter Einbezug von kritischer Soziologie sowie Sensibilisierung für Klassenbeziehungen und racialized relations wäre zu klären, was es damit auf sich hat, dass das Erzählkino, insbesondere das der USA, um 1990 eine (letzte?) Welle an home-invasion-Thrillern mit kompakter Innendefinition verzeichnet, während die meisten jüngeren, ab Mitte der Nullerjahre entstandenen internationalen Thriller und Horrorfilme zum gefährdeten Wohnen ihr Terrain, die Innen-Außen-Ordnung des Wohnens und der home invasion, als von vornherein kompliziertes ansetzen (im Sinn von: Das mittelständische Paar ist selbst fremd in dem Land oder dem Haus, in dem es nur vorübergehend wohnt, oder: Der Spuk haftet gar nicht am Haus, sondern an einer Person und zieht mit dieser in die neue Wohnstätte ein). Zurück zur Frage des Lernens. Zwei Formen davon haben wir schon: Lernen durch Explikation; Lernen als Kontakt mit einem Außen, das zum Innen wird. Hier nun eine dritte Form: Lernen in Zerstreuung und Gewöhnung. Den Zerstreuungsbegriff trägt ja zunächst, anno 1926, Kracauer (vgl. 1963, S. 311–317) ans Kino heran: Kino als Ort der Bildung einer Wahrnehmung, die sich der Fragmentiertheit moderner Alltagserfahrung nicht verschließt, sondern die Wahrheitsfähigkeit von zerstreutem – nicht mehr im bürgerlichen Privatbesitzer von Individual-Identität verfasstem – Leben auslotet. Zerstreutes Leben ist Leben in der und als Masse, und was Masse ist – nichts von vornherein als schlecht, dumpf oder regressiv Anzunehmendes jedenfalls –, das muss sich noch zeigen. Dem gilt dann, 1927, die erwartungstheoretische Optik von Kracauers „Ornament der Masse“-Aufsatz (1963, S. 50–63).

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Wohnen unter Dingen, die uns um(b)ringen Beides, Affirmation der Zerstreuung und der Masse als unhintergehbarer ‚Matrizen‘ von sozialem Leben und Wahrnehmung in ihrer Geschichtlichkeit, wird ausformuliert bei Benjamin: Was ich lernen muss, um im unsicheren Leben als Großstadtverkehrsteilnehmer oder Staatsbürger zurechtzukommen – so heißt es sinngemäß –, das lerne ich nicht mehr durch Konzentration, sondern durch Einübung von Handeln in zerstreuter Gewöhnung (vgl. Benjamin 1977, S. 165, Anm. 29). Woran gewöhne ich mich? An Schocks, an Dauerbeschuss mit schnell wechselnden Signalen; insofern sieht Benjamin Kino als optimale Schule oder Teststrecke. Und ich gewöhne mich daran, Alltagsumgebungen als Orte der „Katastrophe in Permanenz“ (ebd., S. 246)6 wahrzunehmen: In jede bauliche oder technische Struktur ist der Aus- oder Unfall immer schon als Potenzial eingebaut. Für Benjamin und Kracauer war insbesondere der Slapstick-Film kategorial als Schule des Lebens mit Kontingenz in einer Kultur der Zerstreuung. Vom Slapstick führt eine Linie zu diversen ‚Häuslbauerkomödien‘ mit Cary Grant, Tom Hanks oder Roland Düringer,7 eine Linie, der hier nicht weiter nachgegangen sein soll; eine andere Linie führt zum makabren Proto-Slapstick in der seit 2000 und nach wie vor laufenden Filmreihe „Final Destination“: Diese von der Formel des racheseligen Teenie-Slashers abgeleiteten Filme bieten in episodischer Struktur ein permanentes Ritual, in dem junge Leute Leben mit der Unentrinnbarkeit ihrer Sterblichkeit trainieren. Worum geht's? You will always reach your final destination. Der Tod kriegt alle, eine_n nach der_dem anderen, weil er Zufälle zu gnadenlosen Ursache-Wirkungsketten umbaut. Was hier wie eine Mischung aus barocker Nichtigkeitspädagogik und kausalmechanischen Bahn-Installationen im Gefolge Buster Keatons anmutet, erweist sich auch als impliziter Lehrfilm zum Dauerbrenner-Thema ‚Unfälle im Haushalt‘: zur gewohnten, vielfach häuslichen Umgebung als permanenter Zone der Kontingenz, des zufälligen Hinfallens in die Hinfälligkeit. Wir sind unter Dingen, die uns umringen und umbringen. Wir sind mitten unter den Dingen, in medias res – wir denken mit Kracauer (1971, S. 180) unter (eben: nicht über) den Dingen, wir denken das Bedenkliche im Aufenthalt bei den Dingen auf der Linie von Martin Heidegger zu Bruno Latour. Die hier bislang nur angedeutete ethische Dimension von

6  „Daß es ‚so weiter‘ geht, ist die Katastrophe.“ (Benjamin 1977, S. 246) 7  „Mr. Blandings Builds His Dream Home“ (USA 1948); „The Money Pit“ (USA 1986); „Hinterholz 8“ (A 1998).

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Drehli Robnik Lernen als eines Einsichtig-Werdens wird hier akut: Film als Einübung in Einsicht in die Eigentätigkeit der Dinge, in ihre „Agentur“ im Sinn von Latour (vgl. etwa das Latour'sche Vokabular im Kapitel zu „The Shining“ in Engell 2010). Bei Heidegger heißt wohnen: als Sterblicher auf der Erde sein. Und zugleich ist Wohnen der Aufenthalt bei den Dingen (vgl. Heidegger 1954, S. 141f., 145). Nimm beides zusammen, dann tritt das Moment der Ethik an dieser Phänomenologie hervor wie auch die Opposition von Wissen und Denken; beides läuft aufs Lernen hinaus: Wohnen heißt lernen, sich in unseren bedenklichen Ort, unser ethos, als Sterbliche zu fügen und auch den Dingen ihren Ort zu lassen. (Zur Kritik von Ethik, verstanden als Gemäßheit zum ethos als Aufenthalt, siehe allerdings Rancière 2007b, bes. S. 127f.) Aber: Wollen wir soviel Demut? Für Heidegger zählt das Ding als Versammlung des Gevierts; aber ich bin wohl doch mehr Heutiger als Heidegger, und da interessiert mich eher, wer sich in ‚meinem‘ Viertel versammelt – mit aller Offenheit für solches Versammeln und mit aller Problematik von Ideologien und Praktiken der Ab- und Ausgrenzung, die bei solchem Interesse im Spiel sind. Auch da erteilt der Horrorfilm Lehren, zumal wo Selbsterfahrung als Sterbliche in Intimkontakt zu Untoten tritt. In der aktuellen Zombiefilmwelle werden in notorischer Weise Grenzen prekär und vorläufig: Grenzen zwischen Lebenden und Toten, zwischen Wohnen und Gefahr, zwischen Polizei und Staatsterror. Zombiefilme vermitteln uns Einsicht in die bloße Zeitweiligkeit von Abschottungen; es geht nie darum, die Anderen zu beseitigen, sondern um Arrangements, die eine Zeit lang strittiges Leben im unsauber getrennten Zusammensein ermöglichen. Es geht also nicht um den Einbruch der Apokalypse, sondern, so können wir mit Blick aufs Wohnen Zeigen sagen, um das Sich-Einrichten in neuen Gewohnheiten, das Wohnen und seine Zonen. Insofern können diese Filme das alte Horrorfilmmotiv vom belagerten Haus ganz entfalten, explizieren: Wie lässt sich wohnen, wo kann und muss ich abschließen, wo durchbrechen? Wo verläuft Alltagsleben als ein Sich-Auseinanderleben – so das mehrdeutige keyword eines deutsch-österreichischen Quasi-Zombie-, nämlich Tollwut-Infizierten-Films aus dem Jahr 2010. Und wie der eigenartige Titel dieses Films – „Rammbock“ – vermuten lässt, ist auch das Einrammen hier in (noch ein Tür-Sinnbild) Schlüsselwort-hafter Manier Programm: Es geht, angesichts dessen, dass unversehens noch zusammenlebt, wer eigentlich – entlang der Grenze ‚Normalmieter‘ und ‚tollwutrasende Quasi-Bestie‘ – auseinan-

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Wohnen unter Dingen, die uns um(b)ringen dergelebt ist, um den Durchbruch als kategoriales Wohn-Raumverhalten in einem Berliner Mietshaus, dessen Türen von Infizierten blockiert sind (vgl. Robnik 2010; 2012). Um mit einer unvermittelten Frage anzuknüpfen: Was ist ein Unwetter? Nicht die Abwesenheit von Wetter, sondern vielmehr das Akut-Werden von Wetter – Wetter, das seine Eigendynamik zur Geltung bringt. Entlang dieser Logik ist Sigmund Freuds Begriff des Unheimlichen gebaut. Es geht darin um Heimliches, das zutage tritt: Heim, das Unheim wird. Umschlagszone vom ‚Heim‘ zum ‚Un‘ ist die Verdrängung. Das Unheimliche ist, darauf legt Freud Wert, nicht das als bedrohlich erfahrene Unbekannt-Neue, sondern ein Altvertrautes, das bislang verborgen war – und besser verborgen geblieben wäre. Spannen wir vor dem Hintergrund eines Freud'schen Verständnisses von Unheim(lichkeit) ein weites Spektrum filmischer Ästhetiken und Rhetoriken auf, die Wohnen als Unheimliches zeigen. Dieser Gestus reicht etwa von dem Kurzfilm „In Order Not to Be Here“ (USA 2002), den die Essayfilmerin Deborah Stratman mit Fragmenten – Dingen und Wahrnehmungen – aus dem sicherheitsbesorgten Leben in US-amerikanischen Gated Communities gedreht hat, bis hin zur 2009–2012 (und noch weiter?) erfolgreichen Mockumentary-Spukfilmreihe „Paranormal Activity“ mit ihren Überwachungsvideobildern vom kalifornischen wohnhäuslichen Alltag. Stratmans Kurzfilm belehnt das Imaginarium von Kleinstadthorror-Filmbildern (wie sie etwa auf John Carpenters Erfolgsfilme aus den späten 1970ern zurückgehen), die paranormale No-Budget- und High-Concept-Mainstream-Filmserie wiederum borgt sich einen Look, der manche Leute unwillkürlich an alte Videokunst-Installationen oder die dispositivkritischen Arbeiten eines Harun Farocki erinnern wird. Inwiefern lernen wir mit und aus solchen Filmbildern etwas? Zwei Lektionen zeichnen sich da ab. Die erste ist quasi phänomenologisch: Beide Filme – „In Order Not to Be Here“ wie auch „Paranormal Activity“ (denken wir der Einfachheit halber an die beiden ersten, prominentesten Filme der Reihe von 2009 und 2010) – handeln von US-Mittelklasse-Wohnumgebungen in ständiger Selbstüberwachung: Gated Community, Einfamilienhaus in Kalifornien. Indem die Filme das Heim und die in ihm (in seiner medialen Dinghaftigkeit, medias res) versammelten technischen und mobilaren Dinge weitgehend aus dem Kontext einer Erzählhandlung herauslösen und uns endlos auf sie, auf das Heim, auf die Dinge, starren lassen, machen sie sie unheimlich. Sie exponieren,

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Drehli Robnik entblößen, nicht nur die Dinge, sondern unsere Wahrnehmung: unseren (pathetisch gesagt) Überwachungsvideokamerablick, unsere automatisierte subjektive Intention (Sorge um Sicherheit), die eine Weise des Wohnens ist. Das ist eine pädagogische Fähigkeit von Horrorfilmen: unsere Art wahrzunehmen und zu wohnen, die ansonsten gewohnheitsmäßig mitläuft, herauszustellen und fragwürdig zu machen. Das Heim ist hier vom Dienst ‚suspendiert‘, in Schwebe versetzt gegenüber seinen Verankerungen in einer spielfilmtauglichen Handlung. Viele unheimliche Horrorfilme sind das Gegenteil von Actionkino: Filme, in denen fast nichts passiert. Sie brechen nicht auf in die weite Welt, wo Erfahrung, Reichtum, Herrschaft im emphatischen Sinn produziert werden, sondern bleiben da, im Heim, also daheim, am Ort der Reproduktion von Alltäglichkeit. Dazu stellt die zweite Lektion eine Genderfrage. Die ist bei Freud schon angedeutet: Unheimlich sei das einstige Heim, das uns allen als überwundener Herkunftsort vertraut sei – die Gebärmutter, der weibliche Raum. Weitergedacht ist die Frage in Barbara Creeds klassischer filmfeministischer Studie auf den Spuren von Kristevas Ekel-Theorie: Creed untersucht, wie die patriarchale Ideologie die fleischliche Räumlichkeit der Mutter und deren Reproduktionsarbeit am Leben imaginiert – als „abjekt, monströs, als dunklen, unheimlichen Ort. „Womb as tomb“, „Schoß als Gruft“ lautet ihre Chiffre (Creed 1989, S. 73–76). Creed bezieht sich da auf die Bildlichkeit des Klassikers „Alien“ (Ridley Scott, GB 1979). Ich tue ihrem feministischen Impuls keinen Abbruch, wenn ich sage: „Alien“, das ist in weiten Teilen ein Film über die Arbeit angeödeter Angestellter in technischer Alltagsumgebung. Diese Sicht geht weniger in Richtung einer Ethik der affirmativen Neubewertung des Fleischlichen – an dieser Neubewertung, wie sie in Creeds Kritik patriarchaler Projektion reproduktiver weiblicher Physis impliziert ist, haben viele Horrorfilme ihren Anteil –, sondern geht eher hin zur Schärfung einer Wert-schätzenden, neue Produktionsweisen problematisierend auslotenden Wahrnehmung für feminisierte Arbeit, für Haus- und Reproduktionsarbeit (in Anlehnung an Donna Haraway formuliert). Die Cyborg ist der Heimarbeiter. Das vertraute Heimliche, das verdrängt, zumindest im Hintergrund und als Hintergrund verborgen bleibt, ist die Infrastruktur der Wohnung, in der Alltagsleben reproduziert wird. Das wird in vielen Horrorfilmen expliziert, entblößt – mit einigem Sinn für Wohnen als Problem, für Infrastrukturen, Instandhaltung, Verputz und Putzen, für nasse Stellen, Nassräume und Abflüsse. Denken wir etwa

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Wohnen unter Dingen, die uns um(b)ringen an „Dark Water“ (an die US-Version: Walter Salles, 2005), wie vor allem im ersten Filmdrittel die alles schönredenden Wortschwalle eines Wohnungsmaklers ausgebreitet werden – und zeitgleich die engen, niedrigen, abgewetzten, schimmelnden, tropfenden, extrem hellhörigen Wände der Wohnung in einem brutalistischen Block auf Roosevelt Island (New York City), in die eine junge Angestellte und ihre Tochter ziehen. Dieser Text schließt sich nicht wie eine konsequente Folgerung oder eine Tür – also schaden ein paar letzte Zusatzbemerkungen nicht. Zunächst zur (mit emphatischem Doppelsinn gesagt) Mutter aller Nassraumszenen: Es heißt, die US-Filmzensur hatte 1960 an Hitchcocks „Psycho“ nichts zu beanstanden – außer die Nahaufnahme der Klomuschel, in welcher die Heldin der ersten Filmhälfte die Schnipsel ihrer Schuld(en)-berechnung – unvollständig – hinunterspült, bevor sie duschen geht. Der enge Konnex von Abfluss und Auge in der berühmten ‚Duschszene‘ sowie das pflichtethische Reproduktionsarbeitsmoment an Norman Bates' nachfolgendem Aufwaschen und Aufräumen im Motel, penible Verrichtung im Un-Heim – beides wurde schon hervorgehoben (etwa von Laura Mulvey 2006, S. 88, 102f., bzw. von Slavoj Žižek 2006 in Sophie Fiennes' Filmanalyse-Film „The Pervert's Guide to Cinema“). Stellt sich – als mit „Room 237“-hafter Nerdigkeit auszumachendes Detail an einem rätselhaften Zeigen von Wohn-Zusammenhängen – doch noch die Frage, wie (genau zwischen Duschmord-Augenabfluss und Aufräumarbeit) Norman oben im Wohnhaus, seinen Ausrufen zufolge, merkt, dass unten im Motel Blut in den Duschabfluss geronnen ist. Verrät er (uns) damit vorzeitig, dass er um ein Blut-Bad weiß, von dem nur die Mutter wissen kann? Oder – weniger zur Narratologie, mehr zum Wohnen hin gefragt – ist der Abfluss eine Art Medium? (Geradezu als Stiftung von Blut-Verbindungen zwischen den Wohnbereichen der Gäste und der Gastgeberfamilie.) Und weitergedacht: Das Haus der Mutter, in dem Leben gehütet und reproduziert wird, in dem auch Bildung abseits der Schule stattfindet, hat es sein Nach-Bild, seinen Nach-Raum – melancholisch – im Kino? Kino nicht als womb-tomb gedacht, sondern – mit Heide Schlüpmann (2012) – als dunkler, leerer Raum einer Flucht nicht vor der, sondern in die Welt, mit der wir intim sind, ohne dass viel passiert. Kracauer hat schon Recht: Mit dem Kino wird die Welt im emphatischen Sinn unsere Wohnstätte (vgl. Kracauer 1971, S. 180, sowie Anm. 1). Wir müssen nur am Abend ins Kino gehen, wenn Teenies sich etwa Horrorfilme anschauen und dabei im Kino wohnen: plaudern, essen,

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Drehli Robnik diverse Telekommunikation, Computation und Sex verrichten. Vielleicht gar noch Hausaufgaben machen und lernen. Im Kino lässt sich wohnen, lernen, manchmal auch Wohnen lernen; und es lässt sich, zumal im Horrorfilm, das Häusliche oft unheimlich deutlich zeigen. Dieser Beitrag enthält z.  T. Forschungsergebnisse aus meinem FWF-Projekt P 24474-G21 (Political Aesthetics of Contemporary European Horror Film).

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Angelika Bartl

Politische Privatheit Zu einem anti-essenzialistischen Konzept am Beispiel von Laura Horellis V ideoarbeit „The Terrace“

Die Frage nach dem Zusammenhang von Privatheit und Politik ist keineswegs neu. Sie wurde bereits in den 1970er Jahren im Rahmen der zweiten Frauenbewegung gestellt bzw. vehement unter dem Leitspruch „Das Private ist politisch!“ ins Feld geführt. Wenn im Folgenden die Verknüpfung von Privatheit und Politik erneut aufgegriffen wird, geschieht dies mit Referenz auf diese wichtige politische Bewegung. Darüber hinaus ist es jedoch Anliegen des Textes, diesen Zusammenhang unter Berücksichtigung anti-essenzialistischer Begriffe des Gesellschaftlichen und Politischen, wie sie etwa in der Hegemonietheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe entwickelt wurden (vgl. Laclau/Mouffe 2006), kritisch weiterzudenken. Der Text versucht, das Verhältnis von Politik und Privatheit nicht nur jenseits der klassischen Entgegensetzung privat vs. öffentlich zu entwerfen, sondern auch jenseits des Gegensatzpaars Emanzipation vs. Unterdrückung. Motiviert ist dieses Projekt nicht zuletzt durch die seit den 1990er Jahren verstärkt artikulierten Befunde einer vermeintlichen ‚Aufweichung‘ der Grenzen zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen,1 in deren Gefolge Privatheit zu einem viel diskutierten Untersuchungsgegenstand geworden ist. Dies betrifft nicht nur die sozial- und kulturwissenschaftliche Forschung (vgl. etwa die Beiträge in Jurczyk/Oechsle 2008 und Halft/Krah 2013), sondern auch den Kunstbereich, in dem seit den 1990er Jahren vielfältige „Rhetoriken des Privaten“ (Zanichelli 2013) zu

1  Der vielfach verwendete Begriff ‚Aufweichung’ ist insofern irreführend, als damit die Vorstellung ehemals klar getrennter essenzieller Bereiche aufgerufen wird. Tatsächlich war die Trennung jedoch immer schon eine von Brüchen und Widersprüchen durchzogene diskursive Konstruktion, wie neuere historische Studien differenziert herausgearbeitet haben (vgl. Lundt 2008, S. 57–60).

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Politische Privatheit verzeichnen sind, die ihre Entsprechung in thematischen Ausstellungen2 sowie in der kunstwissenschaftlichen Aufarbeitung dieses Trends finden (siehe u.  a. Thümmel 1999; Spengler 2011; Zanichelli 2013). Angesichts dieser Entwicklung erscheint es mir wichtig, darauf zu achten, welche Vorstellungen des Politischen diese ‚entgrenzten‘ bzw. diskursiv vervielfältigten Privatheiten implizieren. Der vorliegende Text kann keine umfassende Diskursanalyse dieses Felds leisten. Stattdessen wird er im ersten Teil zwei einander entgegengesetzte Diskurse des Privaten skizzieren, um in der Auseinandersetzung mit ihnen ein mögliches anti-essenzialistisches Konzept politischer Privatheit aufzuzeigen, bevor dieses im zweiten Teil anhand eines ausgewählten Beispiels der zeitgenössischen Videokunst näher in den Blick genommen wird.

Privatheit und Politik In der bürgerlichen Moderne ist, wie vielfach festgestellt wurde, das Private als Komplementärbereich zum Öffentlichen definiert. Es erscheint als Sphäre, in der sich der finanziell abgesicherte Privatmann als freies Subjekt konstituiert, um aus dieser Position ökonomisch und gesellschaftspolitisch in der Öffentlichkeit tätig zu werden. Das Verhältnis dieser beiden Sphären ist dabei grundsätzlich asymmetrisch und hierarchisch angelegt. Während das Öffentliche als eigentliches gesellschaftliches Machtzentrum konzipiert ist, wird, wie Cornelia Klinger formuliert, ins Private „all das relegiert, was im Öffentlichen keinen Platz hat bzw. haben soll“ (Klinger 2013, S. 86). Es wird zur „Rest- und Rückzugsposition: Reservat der Natur, Refugium der Menschlichkeit, Residuum der Utopie einer von Herrschaft befreiten Menschheit“ (ebd., S. 87). Das Private tritt hier als vorgesellschaftlicher, machtfreier Raum in Erscheinung, als das diametral Andere der im Öffentlichen angesiedelten (Wirtschafts-)Politik. Dieses kulturell spezifische Trennungsdispositiv wurde im Kontext der zweiten Frauenbewegung in den 1970er Jahren als bürgerlich-patriarchale Konstruktion entlarvt und kritisiert. Unter dem Leitspruch „Das Private ist politisch!“ skandalisierten Feministinnen, dass für Frauen das Private keinen optionalen Erholungs- und Freiraum darstellte, sondern eine rigorose Eingrenzung ihrer Handlungsmöglichkeiten auf den reproduktiven Bereich bedeute. Frauen wurden qua Geschlecht

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Angelika Bartl dem Bereich des Privaten zugeordnet und damit effektiv aus den hierarchisch höher angesiedelten Bereichen der Erwerbsarbeit und der gesellschaftspolitischen Teilhabe ausgeschlossen. Dabei funktioniert diese Setzung als ein Mythos im Barthes’schen Sinn, bei dem sich die Dualismen der Geschlechterordnung und der operativen Gesellschaftssphären wechselseitig überlagern, naturalisieren und (re-)produzieren (vgl. u.  a. ebd., S. 88). Auf diese Situation reagierten die feministischen Positionen – trotz ihrer gemeinsamen patriarchatskritischen Zielrichtung – durchaus unterschiedlich. Insbesondere in ihren Bezugnahmen auf das Konzept des Privaten wiesen sie zum Teil in konträre Richtungen. Dabei kann – grob zusammengefasst – zwischen Ansätzen unterschieden werden, die sich grundsätzlich gegen die Trennung der Gesellschaft in eine öffentliche und eine private Sphäre wenden, und solchen, die in erster Linie um die Aufwertung der Privatsphäre bemüht sind (vgl. auch Rössler 2001, S. 49–55). Um die in diesen Ansätzen enthaltenen Politiken des Privaten kritisch zu diskutieren, werde ich im Folgenden zunächst kurz auf ein künstlerisches Beispiel aus den 1970er Jahren eingehen, das der ersten Tendenz zugeordnet werden kann, sowie im Anschluss daran auf eine neuere philosophische Position, die der zweiten Tendenz nahesteht.2 Das erste Beispiel ist Martha Roslers Videoperformance „Semiotics of the Kitchen“ (6 min.) aus dem Jahr 1975. Das Schwarz-Weiß-Video besteht aus einer einzigen statischen Einstellung. Zu sehen ist die Künstlerin in frontaler Ansicht vor einem Küchenbord, wie sie in ruhigem, konzentriertem Rhythmus verschiedene Küchengeräte zeigt, den Namen der Gräte („apron“, „bowl“, „chopper“, „dish“, „eggbeater“ etc.) nennt und deren Gebrauch vorführt. Während das formale Setting des Videos an eine konventionelle Fernsehkochshow erinnert, wird dieses Bild vor allem durch zwei Elemente irritiert: zum einen durch den strengen Handlungsaufbau der Performance – mit den genannten Gegenständen wird das gesamte Alphabet durchbuchstabiert – und zum anderen durch die

2  Bspw. „Home sweet home“ (Deichtorhallen, Hamburg 1997)‚ „‚The personal is political’ – und peinlich“ (Kunsthalle Exnergasse, Wien, 2004), „Personal Affairs. Neue Formen der Intimität“ (Museum Morsbroich, Leverkusen, 2006), „Revisiting Home. Wohnen als Schnittstelle zwischen Individuum und Gesellschaft“ (NGBK, Berlin, 2006), „Home Stories. Zwischen   Dokumentation und Fiktion“ (Städtische Galerie Bietigheim-Bissingen, 2006/07), „Privat/Privacy“ (Schirn Kunsthalle,  Frankfurt am Main, 2012/13).

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Politische Privatheit

Abb. 1  Videostill aus „Semiotics of the Kitchen“, M. Rosler, 1978. 

aggressive Art und Weise, in der die Künstlerin die Gerätschaften vorführt. (Abb. 1) Ihre harschen Gesten sind dabei in einem doppelten Sinn zu lesen: Sie veranschaulichen die patriarchale Gewalt, die die Frauen in die Küche verbannt, und sie artikulieren zugleich die radikale Ablehnung dieses vorgeführten Rollenmusters durch die Künstlerin. Letzteres unterstützt auch die konzeptuelle Strenge der alphabetischen ‚Küchen-Semiotik‘, die eine emotionale Distanziertheit zum vorgeführten ideologischen Gesellschaftsraum etabliert. Roslers Video wendet sich in seiner zentralen politischen Rhetorik vor allem gegen den Bereich des Privaten, der als limitierend und passivierend sichtbar gemacht wird.3 Privatheit erscheint als ein gesellschaftlicher Machtbereich, dessen hegemoniale Strukturen in der vorgängigen ideologischen Abtrennung des Privaten vom Öffentlichen durch die bürgerliche Ordnung gründen. Der Prozess dieser Trennung wird dabei an eine Kraft gekoppelt, die vermeintlich außerhalb des Privaten angesiedelt ist (das Patriarchat), während das Private selbst weitgehend passiv erscheint. Das Private wird in dieser Konzeption zum gesellschaftlichen Substrat, auf das die patriarchale Ideologie scheinbar von außen – vom Bereich des Öffentlichen – geschlechterideologisch einwirkt.4 In ihrer radikalen Widerstandsposition ordnet sich auch die feministische

3  Bei genauem Blick zeigt sich allerdings, dass das Video auch im Privaten ein latentes Widerstandspotenzial verortet. Siehe dazu Anm. 7 in diesem Text. 4  Zur Vorstellung einer essenziellen Spaltung des Sozialen im Marxismus und ihrer Auswirkung auf den Politikbegriff siehe Laclau/Mouffe 2006.

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Angelika Bartl Ideologiekritik diesem vermeintlichen Außen jenseits des Privaten zu: Auch in „Semiotics of the Kitchen“ beschreibt Roslers Umgang mit den Küchengeräten eine Distanz zur unterdrückten/unterdrückenden Hausfrauentätigkeit. Besonders deutlich wird dies etwa am Schluss des Videos, wenn die Künstlerin mit dem Messer wie mit einem Degen ein Z für ‚Zorro‘ in die Luft schreibt und damit den Kontext „häuslicher Knechtschaft“ (Breitwieser/de Zegher 1999, S. 365) gänzlich hinter sich gelassen zu haben scheint.5 Angesichts der massiven und durch Naturalisierungsprozesse unsichtbar gemachten Einschränkungen weiblicher Handlungsoptionen ist die radikale feministische Zurückweisung des Privaten eine höchst nachvollziehbare und sinnvolle strategische Position. Erst in der direkten Opposition dagegen konnten die Wirkungsweisen der bürgerlichen Moderne in einem geschlechterkritischen Sinn aufgezeigt werden – auch auf die Gefahr hin, deren Kategorien dabei zu übernehmen. Jenseits dieses praktisch-aktivistischen Zusammenhangs ist einem solchen radikal-oppositionellen Politikverständnis in Bezug auf Privatheit jedoch zu misstrauen. Denn die strategisch-praktische Zurückweisung wird dabei rasch zu einer vermeintlich objektiven, kategorischen Ablehnung dieses Bereichs (vgl. Rössler 2001, S. 50f.), bei der nicht nur das binäre Denken der Kategorien privat/öffentlich potenziell beibehalten wird, sondern auch deren ideologische Konnotationen unter dem Anschein politischer Legitimität reproduziert werden: Das Private wird erneut auf den passiven, apolitischen Bereich des ‚reinen Lebens‘ reduziert, während das politische Handlungsfeld wie zuvor dem Feld des Öffentlichen zugerechnet wird. Im Begriff des Politischen wird genau jene Ordnungsstruktur weiter fortgeschrieben, gegen die die feministische Kritik eigentlich angetreten ist.6

5  Nach der Aufführung des Küchen-Alphabets folgt allerdings noch eine Szene, in der die Künstlerin die Arme verschränkt und mit den Händen zuckt. Diese Geste wurde vielfach als die politische Botschaft relativierend kritisiert. Im Kontext meiner Analyse kann sie allerdings auch als ein Hinweis darauf interpretiert werden, dass die im Video inszenierte Abwehr der ideologischen Zuschreibungen an das Private aus dem Kontext des Privaten selbst erfolgt. Das Private wird als ein Raum beschrieben, in dem sich selbst die Kritik an den patriarchalen Unterdrückungen formiert. 6  Besonders fatal erscheint dies im Kontext der neueren wissenschaftlichen Positionen zum sogenannten Entgrenzungsdiskurs des Privaten, da hier die vermeintlich ungreifbar gewordene Privatsphäre implizit (d.  h. in den unartikulierten Politikbegriffen der Diskurse) entweder als Gefährdung der kritischen Öffentlichkeit (re-)essenzialisiert oder zum stillen Sehnsuchtsort verklärt wird (vgl. Jurczyk/Oechsle 2008, S. 30ff.).

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Politische Privatheit Die umgekehrte Bewegung einer reinen Aufwertung des Privaten ist indes ebenfalls nicht frei von Fallstricken, wie ein Blick auf Beate Rösslers Studie „Der Wert des Privaten“ (2001) zeigt. Die Autorin schließt sich darin zwar der feministischen Kritik an der Verknüpfung von Weiblichkeit und Privatheit an, wendet sich aber gegen eine völlige Verwerfung des Privaten. Wie der Titel ihres Buches ankündigt, versucht sie vielmehr, einen von geschlechterideologischen Bedeutungen befreiten Wert des Privaten zu begründen, wofür sie ein liberalistisches, handlungstheoretisches Konzept von Privatheit entwirft: Privat ist für sie „etwas dann, wenn man selbst den Zugang zu diesem ‚etwas‘ kontrollieren kann“ (Rössler 2001, S. 23). Der Wert des Privaten ist hier erneut in Begriffen der Grenzziehung gefasst, als Autonomisierung des Individuums im Bezug zu einem Anderen/Außen. Dies ermögliche, so Rössler, persönliche Freiheit für alle Menschen, befördere mithin auch die Gleichheit zwischen Frauen und Männern. Rösslers Konzept ist insofern interessant, als Privatheit darin grundsätzlich pragmatisch und relational aufgefasst wird: als ein immer wieder neu/erneut herzustellender strategischer Gesellschaftsraum. Deutlich wird dabei die Zweckgebundenheit des Privaten, das niemals für sich sondern immer für etwas existiert. Auf diesen Aspekt weist auch Raymond Geuss in seiner ‚Genealogie‘ des Privaten hin, in der er zu dem Schluss kommt, dass es keine einzige und umfassende Definition des Privaten geben kann, sondern nur modulierte und in sich brüchige Formen des Bezugs darauf (vgl. Geuss 2002, S. 21, 124ff.). Genau an dieser Stelle wird Rösslers Ansatz problematisch. Denn obwohl ihre Theorie pragmatisch und strategisch ausgerichtet ist, arbeitet sie doch auf eine umfassende Bedeutung des Privaten hin, die letztlich erneut in einer Abgrenzungsbewegung zum Gesellschaftlichen gefasst wird.7 Dabei gerät ihr der betonte strategische Zweck – die Freiheit des Individuums – zur Notwendigkeit: Als unhintergehbarer Fluchtpunkt wird das Konzept des autonomen, universellen Subjekts gesetzt, wobei unterschlagen bleibt, dass dieses modernistische Konstrukt nur um den Preis von Verdrängung und Wiederkehr des Anderen zu haben ist (vgl. etwa Kristeva 1990). Vor diesem Hintergrund ist Geuss’ Hinweis auf die Heterogenität der

7  Später hat Rössler ihren allgemeinen Wertbegriff relativiert und für eine an konkreten Lebenssituationen ausgerichtete Beschreibung des Privaten plädiert (vgl. Rössler 2008).

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Angelika Bartl Privatheitsbegriffe wichtig. Er erinnert daran, dass die liberalistische Vorstellung eines essenziellen Werts des Privaten eine spezifische historische und soziale Konstruktion ist – eine Konstruktion, der gegenüber insofern Vorsicht geboten ist, als sie dazu tendiert, die eigenen Bedingungen und politischen Motivationen in ihrem Freiheitsbegriff zu verleugnen (vgl. Geuss 2002, S. 96–123). Aus politiktheoretischer Perspektive haben in diesem Sinn auch Ernesto Laclau und Chantal Mouffe auf die Unmöglichkeit machtfreier Gesellschaftssphären hingewiesen. In ihrem Buch „Hegemonie und radikale Demokratie“ von 1985 entwickeln sie einen pragmatischen Machtbegriff, den sie sowohl gegen essenzialistische Vorstellungen von Gesellschaft im Marxismus als auch gegen die Verabschiedung des Politischen im Liberalismus verwenden. Ihr Begriff von Hegemonie geht dabei nicht von einem idealen, vorgängigen Subjekt aus, sondern das Subjekt erscheint bei ihnen vielmehr selbst als Knotenpunkt und Teil des Sozialen, das durch relationale, sich komplex überlagernde Machtverhältnisse immer wieder neu hervorgebracht wird. Laclau und Mouffe formulieren: „Der entscheidende Punkt ist, dass jede Form der Macht auf pragmatische Art und Weise und dem Sozialen innerlich durch die entgegengesetzten Logiken von Äquivalenz und Differenz konstruiert wird“. (Laclau/Mouffe 2006, S. 184) Hegemoniale Relationen sind für alle gesellschaftlichen Sphären konstitutiv, auch wenn, wie sie an gleicher Stelle betonen, „Macht [...] niemals grundlegend [ist]“. Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass das Ziel eines umfassenden, von ideologischen Verflechtungen befreiten Privatheitsbegriffs – verstanden als essenzieller Freiheitswert – aufgeben werden muss. Ein solches Konzept ist für einen politischen Begriff des Privaten auch ausdrücklich nicht notwendig. Vielmehr gilt es, bestehende Artikulationsweisen des Privaten auf ihre jeweiligen hegemonialen Relationalitäten hin zu befragen – durchaus im Sinn der feministischen Positionen der 1970er Jahre, jedoch mit der Ergänzung, diese zugleich auch in ihren hegemonialen politischen Möglichkeiten, d.  h. innerhalb des komplex verflochtenen privaten/öffentlichen Felds des Sozialen praktisch auszuloten. Was ein solcher Politikbegriff des Privaten auf der Ebene des Medialen bedeuten kann, wird im Weiteren anhand der Videoarbeit „The Terrace“ (2011, 24 min.) der finnischen Künstlerin Laura Horelli untersucht.

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Politische Privatheit „The Terrace“ Wie einige vorangegangene Arbeiten von Laura Horelli8 thematisiert auch das Video „The Terrace“ einen Aspekt der persönlichen Geschichte der Künstlerin. Im Zentrum der Arbeit steht eine Wohnanlage der 1970er Jahre in Nairobi, in der Horelli als Kind vier Jahre mit ihrer Familie lebte. Diese Erfahrung bearbeitet das Video anhand von unterschiedlichen dokumentarischen Materialien. Zum einen ist ein Stapel vergrößerter Familienfotografien zu sehen, die das Haus in Nairobi, seine Bewohner_innen, Nachbar_innen und Angestellten zeigen und im Video langsam durchgeblättert werden. (Abb. 2 und 3) Zum anderen handelt es sich um Sequenzen von Videoaufnahmen, die die Künstlerin bei einem Besuch der Wohnanlage im April 2010 erstellte und die den Außenraum der Anlage zu sehen und – als leichtes Rauschen, Zirpen und Zwitschern – zu hören geben. (Abb. 4 und 5) Parallel zu diesen beiden Materialebenen, die sich im Video immer wieder abwechseln, ist eine Stimme aus dem Off zu hören, die das Material aus der Ich-Perspektive kommentiert bzw. mit Kindheitserinnerungen sowie Berichten der Recherchereise verknüpft. Obwohl die Stimme häufig direkt auf das gerade Sichtbare eingeht, bleiben Bild- und Erzählspur weitgehend autonome Ebenen. Deutlich wird dies vor allem an jenen Stellen, an denen die Erzählstimme über die einzelnen Bildsequenzen hinausgeht und auch während längerer Schwarzsequenzen zu hören ist.9 Trotz der partiellen Asynchronität von Ton- und Bildebene sowie der chronologischen und ästhetischen Sprünge, die sich durch den Wechsel der Sequenzen ergeben, zerfällt „The Terrace“ nicht in disparate Teile, sondern bleibt in einer kohärenten Sinnstruktur gebunden. Grundlage dafür ist zum einen der thematische Gegenstand des Videos – die Wohnanlage in Nairobi, um die alle Ebenen des Videos kreisen – sowie zum anderen die Figur der Erzählerin, deren subjektive Erinnerungen und

8  So befragt beispielsweise das Video „You go where you’re sent“ (2003, 19 min.) die biografischen Stationen ihrer Großmutter, das Video „HAUKKA-PALA (A-BIT-TO-BITE)“ (2009, 28 min.) geht der Erfahrung des frühen Todes ihrer Mutter anhand von Tagebucheintragungen sowie einer von ihrer Mutter moderierten Kindersendung nach, und „A Letter to Mother“ (2013,  27 min.) nimmt seinen Ausgangspunkt bei einem Aufenthalt der Mutter als Kind im New York der 1950er Jahre. Zu Horellis Methode, Elemente aus der Geschichte ihrer Familie zu bearbeiten, siehe auch Connolly 2012; Roelstraete 2012. 9  Zur Funktion der Stimme als autonomen Gestaltungsmittels im Essayfilm vgl. Scherer 2001, S. 26f., sowie Wetzel 2001.

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Angelika Bartl

Abb. 2 und 3  Videostills aus „The Terrace“, L. Horelli, 2011. 

Abb. 4 und 5  Videostills aus „The Terrace“, L. Horelli, 2011. 

Reflexionen die Abschnitte miteinander verbinden. Im Video wird diese Instanz über das narrative Ich und die vielen persönlichen Details der Erzählung eingeführt, die mittels verschiedener formaler Authentizitätsrhetoriken als autobiografische Elemente glaubhaft gemacht werden.10 Dies betrifft zunächst den Umstand, dass die leicht vergilbten, zum Teil unscharfen Fotografien aus den 1970er Jahren die Echtheit der privaten

10  Zu einer kritischen Systematik der Autobiografie und ihrer spezifischen Wahrheitsrhetoriken vgl. Wagner-Egelhaaf 2000, insb. S. 1–17, 43ff.

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Politische Privatheit Geschichte zu belegen scheinen.11 Dass die Fotografien im Video von einer Hand durchgeblättert werden (ohne dass die zu dieser Hand gehörende Person gezeigt wird), suggeriert darüber hinaus eine zu dieser Geschichte gehörende, körperlich anwesende Person, deren Blick die fast senkrecht über den Fotos positionierte Kameraperspektive zu zeigen scheint. Dabei ist wichtig, dass die die Bilder kommentierende Stimme immer wieder leicht kippt und zögert und dadurch eine persönliche Involviertheit der Erzählerin vermittelt (vgl. Scherer 2001, S. 26f.). Dieser Eindruck wird auch durch ein leichtes Zittern der Bilder in den aktuellen Videoaufnahmen der Wohnanlage erweckt. Sie deuten eine emotional bewegte Person hinter der Kamera an und lassen die Aufnahmen als deren unmittelbare, persönliche Sicht erscheinen (vgl. Beyerle 1997, S. 108–113). Die Künstlerin wird im Video als authentische Ich-Erzählerin eingeführt, die ihre persönliche, ‚wahre‘ Familiengeschichte erzählt. Inhaltlich vermittelt wird diese ‚Wahrheit‘ des Privaten vor allem durch die Fotografien der 1970er Jahre, die ein beschauliches Familienleben zeigen: Zu sehen ist die Künstlerin als Kind mit Geschwister- und Nachbarskindern, die Mutter in einer Sitzgarnitur auf der Terrasse, der Vater mit dem Hund der Nachbar_innen, die Hausangestellten, der großzügige Wohnraum, der gepflegte Garten usw. Die Erzählstimme aus dem Off erläutert die Orte und Personen auf den Bildern und ergänzt dies durch persönliche Erinnerungen und Anekdoten. Diese Sequenzen erscheinen wie nostalgische Rückblicke auf ein glückliches, behütetes Leben, frei von ökonomischen Zwängen und sozialen Sorgen. Horelli lässt diese romantischen Bilder allerdings nicht unkommentiert stehen. Die aktuellen Videosequenzen, die bereits durch ihre kühle Farbigkeit einen ästhetischen Kontrast zu den Fotografien bilden, zeigen – im Gegensatz zu den historischen Aufnahmen – nicht den Lebensalltag der Bewohner_innen, sondern ausschließlich Außenaufnahmen, die meist menschenleer bleiben. Selbst als die Künstlerin am Ende des Films davon berichtet, dass sie von einer ehemaligen Nachbarin in die Wohnung eingeladen wird, sind nur Außenansichten des Hauses zu sehen. Der mediale Blick ins Innere des Wohnens, der sich einer vermeintlich bewusst verborgenen Situation visuell bemächtigt und damit strukturell ein

11  Zu den Authentizitätsrhetoriken der ‚kunstlosen‘ Fotografie vgl. Wortmann 2003, S. 137–157; zur Funktion der Unschärfe als Authentisierungselement vgl. Steyerl 2008.

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Angelika Bartl voyeuristischer ist (vgl. Nierhaus 1999, S. 41, sowie allg. Stadler/Wagner 2005), wird auf der Ebene der aktuellen Videosequenzen konsequent verweigert. Das Video fokussiert stattdessen immer wieder auf vergitterte, mit Vorhängen abgeschirmte Fenster, auf Abzäunungen, Grenzmauern und Wände. Dieser Rhetorik der Grenze entspricht auf narratologischer Ebene, dass die Wohnanlage in „The Terrace“ als eine Art Gated Community vorgestellt wird. Gleich zu Beginn des Videos bleibt die Kamera nach wenigen Bildern vor einem versperrten und bewachten Tor hängen. Die Erzählstimme erklärt: „The guard does not let us in.“ Nach einer längeren Pause wird zwar erläutert, dass die Filmcrew später Einlass gefunden hat, doch dieses Eindringen wird für die Betrachter_innen nicht visuell nachvollziehbar gemacht. Die Sequenz springt vielmehr abrupt in die Ebene der historischen Fotografien, wobei auch hier zunächst eine Außenaufnahme gezeigt wird: die Künstlerin an ihrem ersten Schultag in Finnland. Das Überschreiten der Barriere geht auch hier ausdrücklich nicht mit einem lustvollen, voyeuristischen Eindringen in den Lebensraum der Siedlung einher (vgl. Nierhaus 1999, S. 38–41). Stattdessen gerät die ökonomische Grundlage moderner Privatheit in den Blick: die Tatsache, dass der idyllische Schutz- und Rückzugsort des Privaten auf Basis von Privatbesitz etabliert wird. Die Unterscheidung zwischen Innen und Außen wird damit von Beginn an als gewaltvolle, mit Ungleichheitsverhältnissen einhergehende Möglichkeitsbedingung von Privatheit benannt. Diese kritische Einstellung überträgt sich auf die scheinbar idyllische Inhaltsebene der Fotografien und erzählten Erinnerungen, in denen auf den zweiten Blick ebenfalls Machtverhältnisse sichtbar werden. Dies betrifft vor allem das Verhältnis zwischen den kenianischen Bediensteten und den europäischen Bewohner_innen des Hauses, die aufgrund einer temporären Anstellung des Vaters als Entwicklungshelfer nach Nairobi kamen.12 Obwohl die Übersiedelung der Familie einem scheinbar ‚guten Zweck‘ diente und dezidiert nicht mit kolonialer Landnahme in Verbindung steht, hat sowohl die Reisebewegung vom Westen in die Peripherie (und zurück) als auch das ökonomische und hierarchische Gefälle zwischen der Familie und einheimischen Angestellten deutlich kolonialistische Züge (vgl. dazu auch Kravagna 2010). Diese koloniale

12  Gegen Ende des Videos erläutert die Erzählerin, dass der Vater im Rahmen des Ernährungsprogramms der UNO tätig war.

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Politische Privatheit Grunddisposition wird im Video allerdings nicht explizit benannt und analysiert. Vielmehr tritt sie in den vielfach aus Sicht des Kindes geschilderten privaten Erinnerungen der Künstlerin implizit in Erscheinung – als unbewusste Größe, deren Machtdimension gleichsam zwischen den Zeilen herausgelesen werden muss. Befördert wird eine solche Rezeptionshaltung dabei wesentlich durch die Verschränkung der Erinnerungsebene mit den neueren Videoaufnahmen, deren sichtbar gemachte Grenzregime der Siedlung auch auf die implizite koloniale Inhaltsebene der historischen Fotos und Erinnerungen bezogen werden kann. So bemerkt etwa die Künstlerin an einer Stelle, dass ihre Mutter zunächst keine Hausangestellten wollte und erst auf Drängen der Nachbar_innen, die dies als mangelnde Großzügigkeit interpretierten, das Hausmädchen Esta13 einstellte. Diese Randbemerkung im Video offenbart, bei einem sensibilisierten Blick, nicht nur die enorme Privilegiertheit der in Afrika zur ökonomischen Elite gehörenden europäischen Familie, sondern macht auch die mit diesen Privilegien einhergehenden Verleugnungs- und Rechtfertigungstaktiken sichtbar. Das Zögern der Mutter kann dabei in zwei Richtungen interpretiert werden: Zum einen markiert es ein kritisches Bewusstsein über die Unrechtmäßigkeit der Privilegien europäischer ‚Expats‘ in Afrika, zum anderen scheint darin aber auch der Wunsch eingeschlossen, den Privatraum frei von ökonomischen und politischen Machtverhältnissen, die ein solches Dienstverhältnis mit sich bringt, zu imaginieren. Diese Bedeutungsdimension wird im Video an anderer Stelle weitergeführt, wenn die Künstlerin parallel zur Aufnahme eines hinter einer hohen Wand versteckten Gebäudes darüber berichtet, dass die Angestellten in einem Gemeinschaftsgebäude untergebracht waren, für die Bewohner_innen der Siedlung nicht einzusehen sein sollte und in dem sie alleine, ohne ihre Familie leben mussten. (Abb. 4) In dieser Sequenz wird besonders deutlich, dass Privatheit nur für eine ökonomisch privilegierte Personengruppe, die den Akt der Grenzziehung kontrollieren kann, einen Schutz- und Rückzugsort darstellt, während sie für die anderen eine rigorose Eingrenzung ihrer bürgerlichen Freiheitsrechte (etwa die Wahl des Wohnortes oder das Recht auf Familienleben) bedeutet.14 Der Raum des Privaten wird hier als ein Raum komplexer

13  An einer späteren Stelle problematisiert das Video den Umstand, dass ‚Esta‘ nicht der richtige Name der Hausangestellten ist, sondern eine Kurzform, die die Kinder verwendeten.

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Angelika Bartl Ein- und Ausschlussmechanismen benannt, der sich entlang von hegemonialen (post-)kolonialen Strukturen entfaltet.14 Darüber hinaus wird im Video immer wieder erkennbar, dass dieses Grenzregime des Privaten durch Strategien der Verleugnung geprägt ist. Beispiele sind das erwähnte Zögern der Mutter bei der Einstellung der Hausangestellten, das Unsichtbarmachen des Wohnraums der Angestellten oder – an anderer Stelle – das Betonen der extremen emotionalen Nähe der Kinder zur Hausangestellten. Kritisch vor Augen geführt wird dieser Aspekt der Verleugnung auch in einer Szene, in der die Künstlerin zwei Fotografien kommentiert, die Esta beim Putzen zeigen. (Abb. 6)

Abb. 6  Videostill aus „The Terrace“, L. Horelli, 2011.

Die Künstlerin fragt: „Did I while playing around take that foto of Esta? It seems inappropriate that mother took fotos of Esta cleaning.“ Diese Szene macht nicht nur die Differenz sichtbar, die sich innerhalb des Privatraums zwischen der arbeitenden Hausangestellten und dem freien Spiel des Kindes aufspannt, sondern auch den Umstand, dass dieses

14  Ausgehend von John Fiskes Überlegungen zum ambivalenten Grenzregime des Privaten, die er in einer Studie über Jugendliche im Stadtraum anstellt, diskutiert Renate Wöhrer diesen Mechanismus in Bezug auf Moira Zoitls Kunstprojekt „Chat(t)er Gardens. Stories by and about Filipina Workers (2002–2008)“ (Wöhrer 2010).

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Politische Privatheit Machtgefälle als problematisch erkannt und verdrängt wurde, weshalb keine Fotos der putzenden Angestellten gemacht werden sollten, vom spielenden Kind aber doch gemacht werden konnten. Im Video „The Terrace“ wird diese komplexe hegemoniale Durchdringung des Privaten ausdrücklich aus Sicht der Künstlerin geschildert. Sowohl die sichtbaren Familienfotografien als auch der einfache, mithin naive Ton der Erzählung, der zum Teil explizit auf die Perspektive des Kindes zurückgreift, produzieren eine subjektive Nahperspektive, die die Person der Künstlerin (das narrative Ich) als radikal involvierten Teil der geschilderten Machtverhältnisse im Privaten ausstellt. Diese Äußerungsform steht deutlich im Kontrast zu klassischen Analyse- und Wissensverfahren, die in konzeptuelle Distanz zu ihrem Gegenstand gehen, um die eigene Position als neutral und objektiv behaupten zu können.15 Die Wissenschaftstheoretikerin Donna Haraway bezeichnet die Konstruktion einer solchen Scheinobjektivität auch als „göttlichen Trick“ (Haraway 1996, S. 226). Im Unterschied dazu spürt Horelli den großen Machtkomplex des Kolonialismus in ihrer persönlichen/privaten Geschichte auf und macht ihn kleinteilig, d.h. anhand konkreter Erinnerungen und praktischer Erfahrungen der kritischen Analyse zugänglich. Ohne einen objektiven, ideal-politischen Rückzugsort zu beanspruchen, benennt sie ihre eigene problematische Involviertheit in den kolonialen Machtraum des Privaten. Er wird nicht in einer überlegenen politischen Geste verworfen, sondern im Rahmen einer verkörperten, partiellen Perspektive kritisch und selbstkritisch verhandelt. Ein solches Vorgehen visiert auch Haraway in ihrem berühmten Text „Situiertes Wissen“ an, in dem sie für „eine Lehre verkörperter Objektivität“ plädiert (ebd., S. 225). In ihrem Aufsatz warnt Haraway jedoch auch vor der Gefahr einer unkritisch idealisierten Aneignung der Perspektive „von unten“ (ebd., S. 228). Tatsächlich begibt sich auch „The Terrace“ auf dieses problematische Terrain, wobei dem ‚Unten‘ in diesem Fall die subjektive Perspektive eines ‚privaten Innen‘ entspricht. Knotenpunkt ist dabei der Glaube an ein authentisches Ich der Autobiografie, das einen unmittelbaren Zugang zum verborgenen Privaten verspricht. Diese Gefahr wird auch nicht völlig durch die Tatsache gebannt, dass die aktuellen Aufnahmen der

15  Auf diesen Aspekt in Horellis Arbeit weist auch Maeve Connolli in Bezug auf die Objektivitätsdiskurse des klassischen Dokumentarfilms hin (vgl. Connolli 2012, S. 15). Vgl. auch die Kritik am Objektivitätsdiskurs bei Laclau/Mouffe 2006, insb. S. 185.

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Angelika Bartl Wohnanlage im Video keine Einblicke in die bewohnten Innenräume zu sehen geben, sondern den neugierigen Blick stattdessen beharrlich (und buchstäblich) an seine Grenzen führen. Denn gerade die konsequente Verweigerung bleibt – trotz ihrer repräsentationskritischen Geste – letztlich einer dichotomen Logik von innen und außen verhaftet und befördert das latente Phantasma, dass drinnen ‚etwas‘ darauf wartet entdeckt zu werden. Diese Vorstellung findet im Video schließlich auch eine manifeste Entsprechung in der Ebene der geschilderten Kindheitserlebnisse und der Familienfotografien aus den 1970er Jahren, die scheinbar authentische Ansichten des privaten Wohnraums zeigen. Die Verschiebung der Inhalte in die Vergangenheit verstärkt dabei sogar die Tendenz zur Romantisierung und Fetischisierung der Bilder des privaten Wohnens. In „The Terrace“ wird diese verführerische, nostalgische Vorstellungsebene des ‚privaten Innen‘ zugleich auch in ihrer medialen Konstruiertheit ausgestellt. So sind die alten Familienfotografien im Video nicht nur sichtlich vergrößert und mit einem deutlichen weißen Rand versehen, sondern sie werden auch als wilder Materialstapel gezeigt, der im Verlauf des Videos durchgeblättert wird. Die Funktion der Fotos als mediale Objekte des Erinnerns rückt damit in den Vordergrund. Darüber hinaus sind in den Einstellungen meist zusätzlich zum gezeigten Hauptfoto Fragmente anderer Fotografien zu sehen, was darauf verweist, dass das Durchblättern nicht nur ein Prozess des Aufdeckens, sondern auch des Zudeckens ist. Erinnern erscheint auf diese Weise nicht mehr nur als ein kontinuierliches Verfügbar-Machen vergangener Geschehnisse, sondern als etwas, das in einem breiten Diskursfeld mit unbewussten Inhalten verknüpft ist und mit Vergessen und Verdrängen einhergeht. Dem entspricht auf Ebene der Montage die diskontinuierliche, asynchrone Verknüpfung der Bild- und Tonebenen, die im Laufe des Videos durch ungewöhnlich lange Phasen der Stille und/oder Schwarzblenden immer wieder ins Stocken geraten und die Wahrnehmung auf einzelne mediale Ebenen des Videos lenken. Auch hier wird Erinnerung als ein diskontinuierlicher, brüchiger Prozess vermittelt, der zugleich auch ein medial hergestellter ist. Das Moment der Konstruktion, der Gemachtheit von Erinnerung wird im Video aber vor allem auch durch die Hand betont, die beim Durchblättern der Fotografien immer wieder in den Bildausschnitt gerät. Die knallrot lackierten Fingernägel erscheinen dabei wie Signale, die auf diese Ebene hinweisen. Darüber hinaus verdeutlicht dieses Element,

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Politische Privatheit dass der Prozess des Erinnerns an einen konkreten Körper gebunden ist und nicht – wie ein medien-essenzialistischer Ansatz unterstellen könnte – freischwebend und neutral mit der essayistischen Form selbst gleichgesetzt werden kann. Der Erinnerungsprozess wird vielmehr durch die rotlackierten Nägel mit einem weiblichen Körper assoziiert, d.  h., die Instanz der Erinnerung, das autobiografische Ich, wird ausdrücklich innerhalb des geschlechterideologisch geprägten sozialen und medialen Raums verortet, den es beschreibt und kritisch analysiert. So können die roten Fingernägel einerseits als Zeichen für das Erwachsensein der Künstlerin gelesen werden, das die zeitliche und analytische Distanz zu ihren aus der Kinderperspektive vorgetragenen Erlebnissen unterstreicht, während andererseits die spitzgefeilten, an die Ästhetik der 1970er Jahre erinnernden Fingernägel wie eine zeitliche Klammer fungieren, die die Künstlerin in eine Genealogie mit den weiblichen Figuren im Video stellt.16 Sowohl auf der Ebene der Videobilder als auch auf der Ebene des Erzählens wird Privatheit in „The Terrace“ als hegemonialer Raum eingeführt, dessen machtfreie, natürliche Anmutung als eine Folge medial vermittelter Effekte sichtbar wird. Zugleich nutzt das Video aber die konstitutive Vermitteltheit des Privaten auch selbst in einem politisch produktiven Sinn als medialisierten Prozess persönlicher Erinnerung, der die hegemonialen Relationen des Privaten als situierte Perspektiven sichtbar macht. In den komplex miteinander verschalteten Repräsentationsebenen der Fotografien, Videoaufnahmen und Texte ist Privatheit ein potenziell politischer Handlungsbereich. Dabei gründet dieser Möglichkeitsraum dezidiert nicht auf dem Prinzip einer autonomen Subjektivität der Künstlerin, die ihre individuelle Perspektive in vermeintlich negativer Abgrenzung zum Außen artikuliert. Privatheit erscheint vielmehr als ein gemeinschaftlicher Raum der kritischen und selbstkritischen Auseinandersetzung mit (privaten und öffentlichen) Gesellschaftsräumen, in den die Betrachter_innen durch ihren Lektüreprozess praktisch eingebunden werden und der gemeinsam mit ihnen aktiviert werden kann und soll.

16  Dieser Aspekt wird mit Blick auf andere Videoarbeiten von Horelli, in denen sie dezidiert die Geschichte ihrer weiblichen Familienmitglieder (Großmutter, Mutter) untersucht, noch deutlicher (vgl. dazu Anm. 8).

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Christiane Keim

Im wirklichen Leben ankommen Alison und Peter Smithsons Upper Lawn Pavilion in Fonthill und das Vor führen der „Kunst des Bewohnens“

Auf einer Ausstellung der Londoner Whitechapel Gallery im Jahr 1956 präsentierten die englischen Architekt_innen Alison und Peter Smithson unter dem Titel „Patio and Pavilion“ eine Rauminstallation, die sie gemeinsam mit den befreundeten Künstlern Nigel Henderson und Eduardo Paolozzi entworfen hatten (vgl. Massey 1995, S. 33–59). Mit dem in die Zukunft gerichteten Motto der Ausstellung „This is tomorrow“ lassen sich indes weder das Konzept noch seine Gestaltungsform ohne Schwierigkeit in Verbindung bringen. Das Künstler_innenteam schien mit seiner Arbeit nach eigener Aussage weniger einen Ausblick in die Zukunft wagen, als vielmehr einen Archetypus der menschlichen Behausung entwickeln zu wollen. „Patio and Pavilion“, so erläuterten die Smithsons ihre Idee, „represents the fundamental necessities of the Human Habitat in a series of symbols. The first necessity is for a piece of the world: the Patio. The second necessity is for an enclosed space: the Pavilion.“ (Smithson/Smithson 1984, S. 108) Das Raum- und Architekturensemble, das aus diesen Überlegungen heraus entstand und in London ausgestellt wurde, wirkte alles andere als modern und zukunftsweisend. Der Pavillon präsentierte sich als eine aus rohen Holzbrettern nachlässig zusammengezimmerte Hütte, der ihn umgebende Patio beschrieb eine nahezu quadratische, vollständig mit Sand bedeckte Fläche, auf der eine Vielzahl von Dingen, vorgefundene wie eigens hergestellte Objekte „aus Massenkultur, Wissenschaft, Technik und Natur“ (Massey 2001, S. 179; Highmore 2006, S. 269), verteilt waren. Ein umlaufender Zaun mit hohen aluminiumbeschichteten Paneelen, die Spiegelbilder der Besucher_innen zurückwarfen, grenzte die Installation ab. Wenige Jahre nach der Ausstellung griffen Alison und Peter Smithson das für „Patio and Pavilion“ entwickelte Konzept erneut auf. 1959 erwarben sie im südenglischen Fonthill in der Grafschaft Wiltshire auf einem

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Im wirklichen Leben ankommen weitläufigen Gehöft ein Grundstück und bauten dort ein Wochenendhaus, das sie mit ihren Kindern von 1962 bis 1981 bewohnen sollten. Wie das Exponat der Londoner Schau setzte sich die Anlage des Upper Lawn Pavilion aus drei Grundelementen zusammen: einem Pavillon, einem Hof und einer um das Terrain herumführenden Grenzmauer. (Abb. 1)

Abb. 1  Upper Lawn Pavilion, Situationsplan. 

Vom Experimentierstadium der Ausstellungssituation, so ließe sich daraus schließen, war die Idee einer exemplarischen Lebens- und Wohnstätte nun offenbar in alltägliche Gebrauchszusammenhänge, in den Worten der Smithsons: „into real life“ (vgl. Krucker 2002, S. 28), übertragen worden. Der Pavillon in Fonthill war aber nicht allein Wohnhaus der Familie Smithson, sondern ebenfalls ein Ausstellungsbau. Typologisch gehörte er in die Kategorie des Künstlerhauses, das, so Christine Hoh-Slodczyk in ihrer einschlägigen Untersuchung, „zur Demonstration einer Idee, zur programmatischen Sichtbarmachung der künstlerischen Erfahrung und Existenz“ wird (Hoh-Slodczyk 1985, S. 10). Darüber hinaus haben die Smithsons, ihrer Praxis eines ständigen Dokumentierens, Kommentierens und Überarbeitens der eigenen Entwurfsgrundlagen gemäß, das Projekt in mehreren Veröffentlichungen zu sehen gegeben (vgl. Krucker

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Christiane Keim 2002, S. 8f., S. 72) und somit auch in den Printmedien ausgestellt. Im Jahr 1986, nachdem die Familie das Haus bereits aufgegeben hatte, erschien die letzte und umfangreichste Veröffentlichung dieser Art: „Upper Lawn: Folly Solar Pavilion“, so der Titel des Buches, entstand unter Mitwirkung des spanischen Architekten Eric Miralles und sollte das einzige Architekturbuch bleiben, das Alison und Peter Smithson selbst vorlegten (Smithson/Smithson 1986). Dieses in der Forschungsliteratur gelegentlich erwähnte oder als Referenz genannte, aber nie als Analysegegenstand untersuchte Buch bildet die Grundlage meiner Ausführungen. Ich beschäftige mich darin mit der Frage, wie die Autor_innen Wohnen und Bewohnerschaft zeigen bzw., in ihren eigenen Worten formuliert, wie sie die „Kunst des Be-Wohnens“, „the art of inhabitation“ (Smithson/ Smithson 1984), und die Protagonist_innen dieser Kunst vorführen. Einige Bemerkungen zum Aufbau und Charakter des Buches seien vorangestellt. „Upper Lawn: Folly Solar Pavilion“ ist zunächst eine Architekturmonografie, die sich ausschließlich dem Wochenendhaus in Südengland widmet. Geht man von der Vielzahl der darin gezeigten fotografischen Bilder aus, lässt sich darüber hinaus an das Genre des Architekturbuches denken, das sich nach Marco de Michelis durch einen „üppigen Bildteil“ auszeichnet, „der die Projekte und ausgeführten Bauten des Autors erschöpfend dokumentiert“ (de Michelis 2003, o.  S.). Die eigenwillige Auswahl und Kompilation der Texte wiederum, die ein weites Spektrum von technischen Angaben über Literaturzitate bis zu Tagebuchnotizen umfassen, rückt die Veröffentlichung in die Nähe des Künstlerbuches; allerdings liegt hier weder ein Unikat vor noch war eine Veröffentlichung in geringer Auflagenzahl vorgesehen, wie dies bei Künstlerbüchern überwiegend der Fall ist. Die Frage der Autorschaft ist trotz der Nennung beiden Namen auf Cover und Vorsatzblatt nicht für jeden Beitrag zweifelsfrei zu klären. Bruno Kruckers Angabe, das Buch sei „von den Smithsons selbst bearbeitet“ worden, bezieht sich eher auf Idee und Aufbau des Buches, nicht notwendigerweise auf dessen einzelne Bausteine. Namentlich autorisiert und damit eindeutig zuzuordnen sind nur ein Teil der Texte und ganz wenige Fotografien. Letztere tragen in Einzelfällen die Signatur A.   S., also das Kürzel für Alison Smithson, die damit als Produzentin der Bilder autorisiert wird. Peter Smithson wiederum wird auf einer Fotografie des Buches mit der Kamera in der Hand gezeigt; es liegt daher nahe, ihn als

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Im wirklichen Leben ankommen Hauptverantwortlichen für die nicht signierten Bildvorlagen zu betrachten.1 Alison Smithson hatte 1983, drei Jahre vor der Veröffentlichung über das Wohnhaus in Fonthill, ein Buch mit dem Titel „AS in DS. An Eye on the Road“ (Smithson 1983) herausgegeben, das sich aus Tagebucheinträgen zusammensetzte; die Tagebuchauszüge in der jüngeren Publikation müssen also mit der Architektin in Verbindung gebracht werden. Bei den im ersten Drittel des Buches eingerückten Zitaten aus Kunst- und Architekturführern, zu denen Abbildungen historischer Karten und Aquarelle von W.  M. Turner gezeigt werden, treiben die Smithsons das Verwirrspiel um Autorschaften noch weiter. Zwar werden in der Überschrift Titel und Autor des jeweiligen Textes genannt, in den Auszug aus Nikolaus Pevsners „Buildings of England“ von 1963 rücken die Herausgeber_innen aber einen eigenen Kommentar ein, ohne den Wechsel in der Sprecherposition anzuzeigen oder gar zu erklären. Detektivischer Spürsinn und Kenntnisse über die Familiensituation der Smithsons sind auch verlangt, wenn es um Aufklärung über zwei bildliche Darstellungen am Anfang und Ende des Buches geht. Eine kleines aus Schreibmaschinentypen hergestelltes Symbol des Wochenendhauses auf dem Vorsatzblatt ist mit dem Kürzel Si.  S versehen und stammt somit von Simon, dem Sohn des Paares, während ein Faltblatt am Ende einen Wandteppich zeigt, der von Soraya, der jüngeren Tochter (So.   S.), angefertigt wurde. Kennzeichnendes Merkmal des Buches ist darüber hinaus sein Layout (Abb. 2),2 das die Rezipient_innen mit einem ständigen Wechsel in Auswahl und Zusammensetzung seiner Bausteine konfrontiert: Bildformate und Bildgrößen, Schriftarten und Schriftgrade werden ständig verändert und in ihren Zuordnungen neu organisiert. Der Rhythmus dieses unablässigen shifting ändert sich im Verlauf des Buches und zwar im Sinne einer Reduktion des Komplexitätsgrades: Verknüpft der erste Teil, der sich auf das ‚Finden‘ des Baugrundstückes, die Planung und den Bau des Hauses bezieht, eine Mehrzahl von Text- und Bildformen, verzeichnet der zweite Teil mit den Tagebucheintragungen nur noch eine Textsorte, die sich, in der Verbindung mit den Fotografien, auf das Leben

1  In dieser Funktion sieht ihn auch Max Risselada, wenn er von „Peter’s extensive photografic record of the construction and occupation“ berichtet (Risselada 2004, S. 152). 2  Als verantwortlich für das Layout (montaje gráfico) wird im Impressum Marta Casanovas genannt. Es ist m.  E. davon auszugehen, dass über das Layout unter Beteiligung von Alison und Peter Smithson entschieden wurde.

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Christiane Keim

Abb. 2  Eine Doppelseite aus dem Buch „Upper Lawn: Folly Solar Pavilion“,   Smithson/Smithson 1986.

der Familie Smithson im Haus konzentriert; im dritten und letzten Teil schließlich füllen die Bilder die Buchseiten, mit Ausnahme der Legenden wird auf Texte verzichtet. Dazu ersetzen nun Farbfotografien die Schwarzweißreproduktionen. Roland Barthes hat die Farbfotografie als Index für die „Buntscheckigkeit“ der Gegenwart verstanden, während das Schwarzweißbild auf die Vergangenheit bezogen bleibe (Barthes 1990, S. 91f.). Dieses von Barthes angesprochene Aktualisieren des Zu-Sehen-Gegebenen im Farbbild wird im letzten Abschnitt des Buches durch eine wiederholte Verwendung von Groß- und Nahaufnahmen, die eine affizierende Einbindung der Betrachter_innen bewirkt, noch verstärkt. „Patio and Pavilion“ sollte den Rezipient_innen nach der Vorstellung des Künstler_innenteams vielfältige Zugangsarten eröffnen; jede_r Besucher_in sei aufgefordert, assoziativ Verbindung mit dem Gezeigten aufzunehmen und sich auf diese Weise in die Installation einzuschreiben (vgl. van Heuvel 2004, S. 17). Diese Einladung an die Betrachter_innen, sich das Objekt auf der Grundlage individueller Interessen selbstständig anzueignen, kollidiert mit der oben zitierten Erklärung des Paares Alison und Peter Smithson, die Installation repräsentiere grundlegende und damit generalisierbare Bedürfnislagen. Tatsächlich geht es hier m.  E. weniger um einen Konflikt zwischen der Bedeutungszuweisung durch die Künstler_innen und etwaigen subjektiven Lesarten der Betrachter_innen als vielmehr um die Tatsache, dass die Installation in erster Linie die Signatur ihrer Produzent_innen trug. „Patio and Pavilion“ repräsentierte sowohl deren spezifische Arbeitsweise, bei der heterogene Elemente und Materialien zu einem räumlich definierten Ensemble verbunden wurden,

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Im wirklichen Leben ankommen wie auch ihre Denkweisen und die über ästhetische Programme hinausweisende Selbstpositionierung der Künstler_innen-Architekt_innen. Was für den Ausstellungsbeitrag gilt, so meine These, trifft ebenso auf die Publikation zum Pavillon auf dem Land zu. Auch das Architekturbuch gibt – ungeachtet der Konzessionen, die an die Schau- und Entdeckungslust der Leser_innen gemacht werden (müssen) – vor allem Auskunft über das Arbeiten und Denken der Smithsons, das sich hier über das Thema Wohnen vermittelt. Um der Frage nachzugehen, wie dies im Einzelnen geschieht, scheint es mir sinnvoll, von Begriffen oder Begriffsfeldern auszugehen, denen im Buch, aber auch in zahlreichen anderen Veröffentlichungen von Alison und Peter Smithson größerer Stellenwert beigemessen wird. Ich verstehe diese Begriffsfelder heuristisch als erkenntnisleitende Orientierungsmarken, anhand derer Schlussfolgerungen gezogen werden können. Diese Schlussfolgerungen sind als ein vorläufiger und begrenzter Wissensstand zu betrachten, der zu überprüfen und gegebenenfalls zu ergänzen oder zu verändern ist. Die Begrifflichkeiten, die der Argumentation im Folgenden zugrunde gelegt werden, lauten: Territory/Territorium, Enclave and en Route/In der Enklave und unterwegs, Families/Familienbeziehungen.

Territory/Territorium Zu den notwendigen Bedingungen, die ein Habitat zu erfüllen habe, zählen Alison und Peter Smithson im Konzept für „Patio and Pavilion“ den Besitz eines Stück Landes, über das man Kontrolle ausüben könne (Smithson/Smithson 1984, S. 109). In der Einleitung des Buches über das Wochenendhaus kehrt diese Bestimmung wieder. Peter Smithson nennt den Wunsch nach einem eigenen Verfügungsbereich als Grund für den Erwerb des Grundstückes: „[...] the impulse now is to establish a territory under one’s own control“ (Smithson 1986, o.  S.), Als die Bewohner_innen diese Kontrolle verloren hätten, habe der Besitz aufgegeben werden müssen. Grund für den Kontrollverlust war nach Peter Smithson die ständige Lärmbelästigung, die das zurückgezogene Leben empfindlich gestört und ein Gefühl der Enteignung durch das Eindringen fremder Personen hervorgerufen hätten: „Noise, the sense of territory invaded ...“ (Smithson/Smithson 1986, o.  S.). Max Risselada ergänzt diese Aussage, indem er vom Zuzug neuer Nachbar_innen auf die Nachbarpar-

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Christiane Keim zelle berichtet, die unerträgliche Ruhestörungen verursacht hätten (vgl. Risselada 2004, S. 152). Der Absicht, sich einen Raum zu schaffen, über den man Verfügungsmacht ausüben kann, war lange vor den Smithsons bereits ein anderer gefolgt. Fonthill gehörte Ende des 18. Jahrhunderts zum Besitz des englischen Aristokraten und Literaten William Beckford, der einen Landschaftsgarten mit diesen Gartentypus charakterisierenden Architekturstaffagen hatte anlegen lassen. Auf der höchsten Erhebung der Gartenanlage plante Beckford ein neogotisches Wohnhaus im Stil eines mittelalterlichen Klostergebäudes, das ihm, so der Literaturwissenschaftler Norbert Miller in einer Studie über Beckford, als Rückzugsort in eine phantasmatische Gegenwelt dienen sollte (vgl. Miller 2012, S. 191ff.). 1822 mussten die Planungen für Fonthill Abbey allerdings aufgrund von Konstruktionsschwierigkeiten und Geldmangel aufgegeben werden (vgl. ebd., S. 196). Mit dem Verweis auf Beckfords Besitz leiten Alison und Peter Smithson die Vorstellung ihres Hauses ein. Durch das Einrücken von Zitaten aus Fremdenführern und kunsthistorischen Abhandlungen wird Fonthill Abbey als signifikanter Ort englischer Architektur- und Gartengeschichte präsentiert und damit als kulturgeschichtlich und national geprägter Raum lesbar gemacht; mit dem Wochenendhaus der Londoner Architekt_innen sollte die Genealogie dieses Raumes eine weitere Markierung erhalten. In Nikolaus Pevsners bereits erwähntem Standardwerk „Buildings of England“ von 1963 wird das „House by Peter and Alison Smithson 1961–62“ als Teil von Fonthill gekennzeichnet (vgl. Smithson/Smithson 1986, o.  S.). Noch bevor Pevsner den Bau der Smithsons registrieren konnte, hatte Alison Smithson das historische Terrain bereits für sich entdeckt. Die Abtei habe sich ihr, so erfahren die Leser_innen, bei einem Besuch im Jahr 1945 ganz anders dargeboten als von vormaligen Besucher_innen geschildert: Während diese von einer Ruine berichteten, habe sie die Architektur als völlig intakt, wie im Dornröschenschlaf bewahrt, erfahren (vgl. Smithson 1986, o.  S.). Über diese außergewöhnliche Wahrnehmung der historischen Architektur wird die Verbundenheit der Smithsons mit dem Ort hergestellt und ihr Anspruch auf Teilhabe an einem territorialen Raum, der bereits vorgeprägt und besetzt war, begründet. Die Intention, sich in vorhandene Strukturen einzuschreiben, motivierte auch das Planungsprogramm für Wohnhaus und Hofgelände. Der Upper Lawn Pavilion orientiert sich in Ausdehnung und Volumen an einem alten Farmhaus, das die Smithsons auf dem Grundstück vorgefunden hatten. Die Reste des Altbaus wurden

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Im wirklichen Leben ankommen bei der Planung des Pavillons um eine halbe Gebäudelänge nach Osten versetzt und der aus alten und neuen Bauteilen bestehende Pavillon um den Kamin des Altbaus herum geordnet. Die Mauer dient außerdem als ein Stützlager der Konstruktion, ihr wird die aluminiumverkleidete Holzkonstruktion (balloon frame) aufgelegt. Zusammen mit anderen überkommenen Teilen formulieren die Mauerreste den Außenraum des Neuen, die Gestalt des Hauses formiert sich aus der Verbindung zwischen Altem und Neuem. Die Wiederverwendung von vorgefundener Bausubstanz und das (Wieder-)Herstellen von Beziehungen zwischen in Größe und Volumen differierenden Raum- und Funktionseinheiten gehört zu den zentralen Bestimmungen des planerischen Denkens von Alison und Peter Smithson, insbesondere in den 1950er und 1960er Jahren. Ihre Idee einer auf Nachbarschaften und identitätsstiftenden Assoziationsmustern gegründeten Stadterneuerung setzt das Haus als erstes Glied eines „pattern of association“, das sich mit der Straße, dem Distrikt und schließlich der Stadt fortsetzt und alle Elemente miteinander in Verbindung setzt (vgl. Krucker 2002, S. 10f.). „Urban Re-Identification“ betitelten die Smithsons ihren Beitrag auf dem ersten Nachkriegskongress der CIAM (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne) 1953 in Aix-en-Provence, mit dem sie provozierend in einen Diskurs eingriffen, dessen Protagonist_innen sich vor dem Krieg auf das Leitbild der funktionalen Stadt eingeschworen hatten. Die Positionierung im professionellen Feld war nicht die einzige Motivation für das Handeln der Smithsons. In einem Essay zu den frühen Projekten der Architekt_innen plädiert der britische Kunsthistoriker Ben Highmore dafür, diese auf ihren historischen Ort bezogen „as complex figurations of their historical moment“ wahrzunehmen (Highmore 2006, S. 273). Tatsächlich reagieren die Projekte auf die Situation im von Kriegszerstörungen und Mangelwirtschaft in Mitleidenschaft gezogenen England der Nachkriegszeit, indem sie etwa das von Bombeneinwirkungen besonders betroffene East End von London oder dörfliche Strukturen in den englischen Grafschaften zu Ausgangspunkten ihrer Projektideen machen. Das Interesse an englischen Verhältnissen verbindet die Projekte mit einem identitätspolitischen Narrativ, das im Nachkriegsengland weite Verbreitung fand: Unter dem Oberbegriff „Little England“ subsumieren sich Vorstellungen von einem heimatlichen, ländlich verfassten Idyll, das gegenüber Einflüssen von außen, namentlich den Zerfallsprozessen des Empire und den aus den Kolonialländern einströmenden Immigrant_in-

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Christiane Keim nen geschützt werden sollte. „The opposition between Englishness and immigrants“, schreibt die Historikerin Wendy Webster in einer Untersuchung über nationale Identitätskonstruktionen im Kriegs- und Nachkriegsengland, „represented the nation through reference to the small scale and familiar – hearths, homes, families, streets, neighbourhoods“ (Webster 2005, S. 8). „Small scale and familiar“, diese Leitlinien können auch auf die planerischen Grundsätze der Smithsons bezogen werden, ohne die Architekt_innen damit in die Nähe von Nationalismus und Xenophobie rücken zu wollen. „Englishness“ spielte darüber hinaus im Familienleben der Smithsons, wie es im Buch vermittelt wird, eine große Rolle. Sei es dadurch, dass die Pflege des Gartens, das Pflanzen und Ernten als eine Hauptbeschäftigung (von Alison Smithson) erscheint, sei es dadurch, dass das Spielen der Kinder auf regionale Folklore eingeht. Territorium meint hier, so die erste Schlussfolgerung, weit mehr als den ökonomischen Besitz des Grundstückes; der Begriff bezieht sich vielmehr auf das professionelle Hoheitsgebiet der sich dezidiert als englische Architekt_innen in die Architekturgeschichte einschreibenden Smithsons.

Enclave and en Route/In der Enklave und unterwegs Sowohl die Londoner Ausstellungsinstallation als auch das Wochenendhaus in Fonthill werden von Alison und Peter Smithson als Pavillon bezeichnet. Im Titel des Buches fügen sie ergänzend die Begriffe ‚Folly‘ und ‚Solar‘ hinzu. Während sich ‚Solar‘ auf die seinerzeit experimentelle Klimatechnik des Hauses bezieht, ist mit ‚Folly‘ ein Architekturtypus aufgerufen, der in englischen Gartenanlagen seit dem späten 18. Jahrhundert weit verbreitet war. Architektonische ‚Verrücktheiten‘ zählten zum inszenatorischen Programm der Landschaftsplanung, ob es sich um exzentrische Staffagebauten handelte oder um bewohnbare Eremitagen. Der Begriffsmix ist weniger als Eigenwilligkeit der Smithsons zu werten als vielmehr der typologischen Vielfalt von Gartenarchitekturen geschuldet, die sich eindeutigen terminologischen Festlegungen entziehen. So wird die Bezeichnung Pavillon meist synonym verwendet mit Termini wie Gartenhaus, Lusthaus oder Eremitage, Folly und anderen mehr (vgl. Seidl 2006, S. 403ff.). In den verschiedenen Texten des Buches bevorzugen die Herausgeber_innen allerdings wieder eine andere

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Im wirklichen Leben ankommen Begrifflichkeit und sprechen vom Pavillon als einer Enklave, genauer als eines Fragmentes einer Enklave, „a fragment of an enclave“ (Smithson/ Smithson 1986, o.  S.). Der Terminus Enklave entstammt der Geopolitik und bezeichnet ein Staatsgebiet, das vollständig vom Territorium eines anderen Staates umgeben ist, eine Insel also in einer fremden oder gar feindlichen Umgebung. Mit dem Verweis auf eine insulare Existenz war vermutlich wiederum ein Verweis auf den Auftraggeber von Fonthill Abbey, William Beckford, intendiert, der sich mit dem Haus einen Rückzugsort schaffen wollte; interessanter scheint mir aber in diesem Zusammenhang die Auseinandersetzung von Alison Smithson mit der Bildikonografie des Heiligen Hieronymus. Allen Darstellungen des Hieronymus, schreibt sie in einem ihre Forschungen bündelnden Essay (Smithson 2004), sei gemeinsam, dass sie den Bibelübersetzer an einem abgeschiedenen Ort situierten. Dieser Ort könne in den Visualisierungen verschiedene Ausprägungen annehmen: Hieronymus sei auf einigen Bildern im Innenraum eines Studiolo und damit „inside, protected“ zu sehen (ebd., S. 225), auf anderen Bildern werde er hingegen in eine Wildnis oder Wüstenei versetzt und somit „outside, exposed“ (ebd., S. 226) gezeigt. Für die intellektuelle Arbeit des Porträtierten scheinen beide Räume, das Drinnen wie das Draußen gleichermaßen geeignet. Die Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Innen und Außen ist kennzeichnend für das Entwurfskonzept des Wochenendhauses: Innenund Außenräume werden ebenso wirkungsvoll miteinander in Beziehung gesetzt wie – davon war bereits die Rede – alte und neue, große und kleine Bauelemente, sodass ein kompaktes und gleichzeitig höchst komplexes architektonisches Gefüge entsteht. Wie erwähnt, nutzten Alison und Peter Smithson Teile eines vorhandenen Gebäudes und verwendeten sie für die Neuplanung gleichsam als Akzente setzende Verschiebungsmasse: So rückte der aus dem Altbau übernommene Kamin mit seinem großen steinernen Schornstein in die Mitte des Neubaus und definierte dessen Zentrum, die Steinplatten, die den Boden des Altbaus bedeckt hatten, wiesen nun den Terrassenplatz rechterhand des Hauses aus. Das Areal der Terrasse konnte nach Wunsch großflächig erweitert werden: Das Erdgeschoss ließ sich vollständig nach außen öffnen, indem die Fensterelemente weggeklappt, gedreht und über im Boden eingelassene Schienen verschoben wurden (vgl. Krucker 2002, S. 42). Ob die Terrasse tatsächlich als Außenraum zu lesen ist, wird aber in der Schwebe

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Christiane Keim gehalten: Die hohe wandartig Mauer im Hintergrund und die seitlich des Hauses gelegene große Feuerstelle erzeugen eine Atmosphäre von Geborgenheit und Intimität, wie sie mit Innenräumen assoziiert wird. Die Grenze zwischen Innen und Außen ist beim Wohnhaus der Smithsons als durchlässig artikuliert; distinktive Raumkonfigurationen werden so zu verhandelbaren Dispositionen. (Abb. 3)

Abb. 3  Upper Lawn Pavilion, Terrasse auf der Ostseite.

Gleichwohl werden Differenzvorstellungen in Bezug auf Räumlichkeit/en und Wohnen bewahrt und über geschlechterstrukturierte Zuordnungen sichtbar gemacht. Während Peter Smithson, der mutmaßlich einen Großteil der Fotografien aufnahm, in der Position des Bildproduzenten außerhalb des Zu-Sehen-Gegebenen bleibt, werden die Kinder wiederum fast durchgängig auf den Spielflächen des Gartens aufgenommen und nur Alison Smithson präsentiert sich den Betrachter_innen sowohl in den Innen- wie in den Außenwohnräumen. Sie habe immer eine Mappe mit Arbeitsunterlagen nach Fonthill mitgenommen, erklärt die Architektin in einem kurzen Paragraph des Buches, und die ländliche Ruhe zum konzentrierten Lesen und Schreiben genutzt: „serious reading, much editing and

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Im wirklichen Leben ankommen

Abb. 4  Alison Smithson am Frühstückstisch der Familie.

writing“ (Smithson/Smithson 1986, o.  S.). Eine der im Buch platzierten Fotografien zeigt sie am Esstisch des Wohnraums in die Lektüre vertieft (Abb. 4), eine andere bei Schreib- oder Entwurfsarbeiten auf der Terrasse. Es sind diese Aufnahmen von Alison Smithson, die Repräsentationsmuster der Hieronymus-Bilder adaptieren. Mit einem auffälligen Unterschied: Der männliche Gelehrte verfolgt sein Studium allein, fern menschlicher Gesellschaft, Alison Smithsons intellektuelle Arbeit dagegen soll nach Auskunft der Bilder stets in das familiäre Leben eingebunden sein; in ihrer Umgebung sind die Kinder oder Spuren der Haushaltung zu sehen. Alison Smithson erscheint so als Gelehrte oder Produzentin von Wissen und als Hausfrau und damit als Produzentin des Wohnens. Allerdings werde auch Hieronymus, so stellt Alison Smithson in ihren Bildlektüren fest, trotz seiner einsamen Lage als nicht vollständig von der Welt und ihrem Trei-

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Christiane Keim ben isoliert dargestellt. Insofern im Hintergrund oder als Fensterausblick städtische Räume in die Bilder eingefügt seien, werde die Imagination einer Rückkehr in die Gesellschaft bewahrt (vgl. Smithson 2004, S. 230). Für das Paar Alison und Peter Smithson war das soziale Gefüge der Großstadt kein fernab liegender Möglichkeitsraum, sondern dauerhafter Lebensmittelpunkt. Anders als dies William Beckford für seine Lebensplanung vorsah, blieb das Wochenendhaus stets ein vorübergehender Aufenthaltsort; der Wechsel zwischen London und Fonthill bestimmte über Jahre hinweg den Lebensrhythmus der Familie. 1983 veröffentlichte Alison Smithson das schon genannte Tagebuch, in dem sie seit 1972 die Eindrücke der wöchentlichen Fahrten zwischen Stadt- und Landhaus festhielt (Smithson 1983). „AS in DS“, eine Kompilation aus Texten, Skizzen und Fotografien, verbindet die Initialen der Autorin mit der Typenbezeichnung des Fahrzeuges, eines Wagens der französischen Marke Citroën, und stiftet damit eine intime Beziehung zwischen dem technischen Gerät und seiner Nutzerin. Roland Barthes zählt den Citroën DS in seiner gleichnamigen Essaysammlung zu den Mythen des Alltags; die Göttin, „La Déesse“, fasziniere das Publikum mit der Vollkommenheit ihrer „wunderbaren Form“ (Barthes 2010, S. 196ff.). Für Jean Baudrillard ist die Feminisierung des Autos, wie sie bei Barthes erscheint, eine von Werbestrategien erzeugte Fehlleistung. Baudrillard betrachtet das Auto als ein modernes zweites Zuhause, mit dem „gleichen Anteil an der ‚Privatheit‘“, wie ihn das traditionelle Heim biete (Baudrillard 2007, S. 89). Während aber die Intimität des Heims aus „der häuslichen Stimmung“ entstehe, sei die Intimität des Wagens durch die Überwindung von Zeit und Raum charakterisiert, die mit der ständigen Gefahr eines Unfalls eine neue Form der Ichbezogenheit hervorbringe (ebd., S. 88). Als Vergegenständlichung neuzeitlicher Technik und „starr gewordene[r] Kraft“ sei das Auto „die Apanage des Mannes“ und – in psychoanalytischer Perspektivierung – „ein phallo-narzisstischer Entwurf“ (ebd., S. 89, 91). Abgesehen davon, dass die DS der Smithsons wohl eher die „Apanage der Frau“ genannt werden müsste, wurde der Wagen von Alison Smithson kaum als phallisches Gerät verstanden; wohl aber sah sie darin ein Zuhause, „a private room on wheels“, das alle Funktionen eines Heimes erfüllen könne, Raum zum Spielen, zum Arbeiten und Studieren und sogar zum Lieben biete (Smithson 1983, S. 141, 144). In „Upper Lawn: Folly Solar Pavilion“ wird der Citroën mehrfach abgebildet, die Aufnahmen zeigen ihn neben dem Haus. In der Juxtaposition tritt die Ähnlichkeit in

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Im wirklichen Leben ankommen

Abb. 5  Upper Lawn Pavilion und DS.

der Formgebung beider Objekte hervor: Haus und Auto verfügen über einen kompakten Unterbau und einen offenen, durchfensterten ‚Oberkörper‘ (Abb. 5). Ein entscheidender Unterschied zwischen Wagen und Haus liegt vermeintlich auf der Hand: der Unterschied zwischen Stasis und Mobilität. Dagegen steht die Behauptung Peter Smithsons, das Leben in Fonthill sei eine Art Camping gewesen, der Pavillon habe als Zelt gedient, in dem die notwendigsten festen Installationen untergebracht gewesen seien, während sich die Familie möglichst oft im Freien aufgehalten habe (vgl. Krucker 2002, S. 40). Die Identifizierung des Hauses mit einem Zelt führt auf die Ursprünge des Architekturtypus Pavillon als zeltartigen Gebäudes zurück, ruft aber auch die Assoziation mit dem Transportmittel des modernen Freizeitvergnügens Camping hervor, dem Caravan oder Wohnwagen. Für die Smithsons war es in erster Linie der Citroën, der die Funktion eines Wohnwagens übernahm, aber auch das Haus galt ihnen als ein (nur) temporäres Zu-Hause, das einen Rückzugsraum bot, ohne dass die Verbindung zur Welt gekappt wurde. Unter der Kategorie Enclave and en Route, so die zweite Schlussfolgerung, wird das Haus als eine Architektur vorgestellt, die in verschiedenen Bezugssystemen verortet wird: Zum einen repräsentiert das Haus

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Christiane Keim das konzeptionelle Denken der Smithsons, die in dichotomisierte Verhältnisordnungen wie alt/neu und innen/außen intervenieren, zum anderen erweist sich der Pavillon als ein ortsspezifischer Bau, der sich nicht nur auf die historische Typologie von Gartenarchitekturen bezieht, sondern auch die Geschichte von Fonthill rezipiert. Im Zusammenhang mit den Bestimmungen des modernen Wohnhauses Upper Lawn Pavilion wird auch die Frage der Bewohnerschaft aufgeworfen. Signifikanterweise wird Bewohnerschaft über die Positionierung von Alison Smithson im Anordnungsgefüge von Bild, Raum und Subjekt definiert (vgl. Nierhaus 2006). Die Bilder der Architektin situieren diese in einer Art Zwischenraum: zwischen Vorstellungen traditioneller Weiblichkeit und ihrer Position als Akteurin bei Planung und Publikation des Hauses.

Families/Familienbeziehungen „This story is about a period of life, a romantic vignette of a rural play-life of week-end hermits“, versprechen Alison und Peter Smithson in „Upper Lawn: Folly Solar Pavilion“ (Smithson/Smithson 1986, o.  S.). Die Fotografien scheinen diesem Anspruch gerecht zu werden und, anders als die menschenleeren Architekturporträts in der Fotografie der 1920 und 30er Jahre (vgl. Vetter 2005), das Alltagsgeschehen im und um das Haus stärker in den Blick zu nehmen als die Architektur. Insgesamt machen die Ansichten des Familienlebens, die Alison Smithson bei der Gartenarbeit oder die spielenden Kinder zeigen, allerdings den geringsten Teil der zahlreichen Abbildungen des Buches aus. Die übrigen Fotos widmen sich dem Haus in verschiedenen Stadien der Planung, im zweiten Teil werden zunehmend Ansichten des Gartens oder der Landschaft eingerückt. Dazu kommen Aufnahmen, auf denen Familienmitglieder zu sehen sind, ohne dass sie Visualisierungen des Alltäglichen genannt werden könnten. Die Fotografien lassen daher einen strategischen Einsatz der Kamera vermuten, wie ihn die amerikanische Architekturhistorikerin Claire Zimmerman hinsichtlich der 1930 entstandenen Aufnahmen des Hauses Tugendhat in Brünn von Rudolf de Sandalo konstatiert. Für Zimmerman erfüllt die Fotografie für die moderne Architektur zwei Funktionen: „erstens, die Umwandlung von deren Gegenständen in zweidimensionale, formale Kompositionen“ und zweitens die Herstellung eines narrativen Kontextes, der die konzeptive Idee von Bewohnbarkeit – und eben nicht Wohnen als

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Im wirklichen Leben ankommen Gebrauchspraxis – vermittele (Zimmerman 2002, S. 24). Eine der wenigen Aufnahmen des Upper Lawn Pavilion, die einen Raum im Inneren des Hauses zeigen, die Küche im Erdgeschoss mit einem Sohn der Familie, könnte man mit Zimmerman eine zum Standbild erstarrte Komposition nennen. Sie setzt das Konzept eines Lebens à la Camping und die puristische, auf die Wirkungen der Materialien bezogene Ästhetik des Brutalismus in Szene und bindet sie durch das spielende Kind in eine Erzählung ein. Die Tagebucheintragungen von Alison Smithson verraten ebenfalls weniger über das Familienleben der Smithsons als erwartet. Stattdessen finden die Leser_innen dort Reflexionen über den Wechsel der Jahreszeiten, die Wetterverhältnisse und die Flora und Fauna in Garten und Umgebung vor. Die Fotografien präsentieren die Eindrücke vom Garten und der Landschaft als wechselnde Bilder, die vom Haus aus, durch die Fenster hindurch, gesehen werden. Ein selektierendes und rahmendes Sehen war Voraussetzung für die Rezeption des räumlich bildhaft komponierten, pittoresken Landschaftsgartens. Im Vorwort des Architekturbuches bezieht sich Peter Smithson auf die Ästhetik des Pittoresken, indem er den Pavillon ein echtes Kind der poetischen Tradition Englands, „a true child of the English poetic tradition“ (Smithson/Smithson 1986, o.  S.) nennt. Über die Betonung des Sehens in Text und Bild stellen die Smithsons Familienbeziehungen her, die über die eigene Familienkonstellation hinausreichen. So war der Pavillon in Fonthill für Peter Smithson nicht allein Kind des pittoresken Gartens, sondern ebenso (brutalistisches) Enkelkind von Mies van der Rohes Barcelona-Pavillon aus dem Jahr 1929. 1986, im Erscheinungsjahr des Buches, wird die Rekonstruktion des Pavillons in Barcelona, dem Erscheinungsort der Publikation, abgeschlossen. Die Reverenz gegenüber dem Architekten und dessen kanonischen Ausstellungsgebäude ist aber nicht allein einer Koinzidenz der Ereignisse geschuldet: Über die gesamte Zeit ihrer professionellen Tätigkeit haben sich Alison und Peter Smithson immer wieder mit der Person und den Arbeiten Mies van der Rohes auseinandergesetzt und ihre hohe Wertschätzung zum Ausdruck gebracht. Vergleichbare Hochachtung genoss in der persönlichen Werteskala allein noch das amerikanische Künstler_innenpaar Charles und Ray Eames. Aus der Bewunderung dieser Vorbilder wuchs Alison und Peter Smithson nach eigener Einschätzung ein Recht auf familiäre Verbundenheit zu. Der Titel einer Publikation, die Texte von Alison und Peter Smithson aus den 1960er bis 1980er Jahren versammelt, macht dies exemplarisch deutlich: „Changing the Art of Inhabitation: Mies’ pieces,

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Christiane Keim Eames’ dreams, The Smithsons“ (Smithson/Smithson 1994). Das Personen und Programmatiken Verbindende kann sich ganz konkret in der Adaption ästhetischer Konzepte ausdrücken, wie der Übernahme der ‚Select and Arrange‘-Technik, des Auswählens und kontrapunktischen Arrangierens von Objekten im Wohnraum, von den Eames (vgl. ebd., S. 72). Viel wichtiger für die konstruierte Nähe vor allem zu Mies war aber aus Sicht der Smithsons eine Vorstellung von Künstlerschaft und künstlerischer Kreativität, die sich im fortlaufenden Verweben von Reflexion und Aktion, von Denken und Handeln realisiert und als geistige Gemeinschaft definiert wurde. „And we feel we have a natural right, both as apprentices-by-proxy and as being members of the family who ‚design-by-thinking-of-the-making‘, to inherit as a landscape of the mind the thoughts and the ways of putting things together of Mies van der Rohe.“ (Ebd., S. 30) Wenn wiederum Alison Smithson in einem Vortragsmanuskript von 1985 („Three Pavilions of the twentieth Century: the Farnsworth, the Eames, Upper Lawn“), das in das Buch übernommen wurde, Mies’ Farnsworth House, das Eames House in Kalifornien und den Upper Lawn Pavilion in den bildlichen Darstellungen und ihren Kommentaren aneinanderrückt und diese drei Bauten als wichtigste Pavillonarchitekturen des 20. Jahrhunderts bezeichnet, zieht sie die Verbindungslinie gleichfalls über konsensuelle Grundauffassungen im Denken über Architektur und Raum, während Gestaltungsfragen als Angelegenheit von Einzelentscheidungen dahinter zurücktreten: „The pavilion is an enclave in a domain; that is important in this story; not the formal solutions which are very personal and already history.“ (Ebd., S. 142) Auf der Grundlage gemeinsam bewohnter ‚geistiger Landschaften‘ konnten Verbindungen geschaffen werden und gleichzeitig kritische Positionen zu Theorie und Praxis des Funktionalismus, wie Peter und Alison Smithson sie in den 1950er und 60er Jahren entwickelten, vertreten werden. Die Bedeutung, die dabei die Instanz des Blicks als Repräsentation des Künstler_innen-Ichs in den Publikationen der Smithsons erhält, lässt sich aus einer Parallelanordnung zweier Fotografien erkennen: Wird das Kapitel über Mies in „Changing the Art of Inhabitation“ mit dem Blick des Architekten aus dem Fenster seines Chicagoer Apartmenthauses 860 Lake Shore Drive abgeschlossen, steht am Ende von „Upper Lawn: Folly Solar Pavilion“ ein Ausblick aus dem Fenster des Pavillons in Fonthill. Hier ist das Blicksubjekt allerdings als Leerstelle markiert; die Smithsons hatten das Haus zuvor bereits verlassen. (Abb. 6)

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Im wirklichen Leben ankommen

Abb. 6  Blick auf die Buchen vor dem Haus durch ein Fenster des Upper Lawn Pavilion.

Die Kategorie Families/Familienbeziehungen, so die letzte Schlussfolgerung, umfasst in den Publikationen der Smithsons stets einen größeren, vor allem aber anderen Kreis als den der eigenen Familie. Mit dem Gemeinschaft, Affinität und intime Verbundenheit anzeigenden Begriff der Familie verorten sich Alison und Peter Smithson in der Genealogie moderner Architektur.

Schluss: Künstler_innen und die „Kunst des Bewohnens“ Die eingangs zitierte Aufforderung von Peter Smithson, die Besucher_innen der Ausstellung „This is tomorrow“ sollten sich im Raum von „Patio and Pavilion“ heimisch fühlen, indem sie Beziehungen zu den dort versammelten Dingen herstellten, schien mit ihrem Angebot eines kollektiven und gleichzeitig individuell definierten Be-Wohnens dem Architekt_innenpaar im Nachhinein doch zu weit zu gehen. In einer von Dirk van den Heuvel zitierten Rückschau auf das Projekt heben Alison und Peter Smithson die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Henderson und Paolozzi hervor. Diese beiden, heißt es da, hätten die Installation ‚bewohnt‘, allerdings nur stellvertretend für die Urheber_innen des Ge-

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Christiane Keim samtkonzeptes, die Smithsons, die sich zum Zeitpunkt der Ausstellung auf dem Weg zum CIAM-Kongress in Dubrovnik befanden. „The complete trust in our collaboration was proved by our Patio and Pavilion being built to our drawings and ‚inhabited‘ by Nigel and Eduardo in our absence, as we were camping on our way to CIAM at Dubrovnik.“ (Van den Heuvel 1990, S. 201f.) Das Reklamieren einer Art Erstwohnrechts, das sich auf künstlerische Autorschaft beruft, konnte in Bezug auf den Upper Lawn Pavilion vernachlässigt werden. Ohne Zweifel waren die Smithsons die Bewohner_innen des Wochenendhauses. Auch das Wohnen im Pavillon, zumindest wie es im Medium des Architekturbuches im Sinn eines ‚Wohnen Zeigens‘ dargestellt wird, war keine Mustervorgabe für eine kollektive Praxis des modernen Wohnens. Wohnhaus und Architekturbuch waren, um auf Christine Hoh-Slodczyk zurückzukommen, die Demonstration einer Idee, hier der Idee einer „Kunst des Bewohnens“, die allein den_die Künstler_in als Bewohner_in vorsieht.

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Abbildungsnachweise Abb. 1: Krucker 2002, S. 51 (Pläne nach Maßaufnahme Mai 1995, Reinzeichnungen Hannes Luz, Christoph Ramser, Rafael Ruprecht, 1:200). Abb. 2: Smithson/Smithson 1986, Doppelseite. Abb. 3: van den Heuvel 2004, S. 162. Abb. 4: Smithson/Smithson 1986, Farbabb. Nr. 26. Abb. 5: Smithson/Smithson 1986, Abb. 19. Abb. 6: Smithson/Smithson 1986, Farbabb. Nr. 75.

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Bernadette Fülscher

99 mal Wohnen Eine literarische Raumkonstruktion von Georges Perec

Im Haus in der Simon-Crubellier-Straße 11 wird gewohnt und gelebt – zumindest fiktiv. Denn das in Paris lokalisierte Gebäude ist eine Erfindung des französischen Schriftstellers Georges Perec, der für das Wohnhaus und seine 99 Räume ein umfangreiches literarisches Porträt entworfen hat. Es erschien 1978 unter dem Titel „La Vie mode d’emploi“ (deutsche Übersetzung von Eugen Helmlé 1982: „Das Leben Gebrauchsanweisung“). Das Buch gilt als Hauptwerk des Autors und zugleich als bedeutender Roman der Postmoderne. In 99 Kapiteln präsentiert ein allwissender Erzähler 99 Räume, die sich hinter der Hauptfassade des Gebäudes befinden. (Abb. 1) Er beschreibt ihre Einrichtung, ihre Bewohner sowie deren Aktivitäten und Lebensweisen und legt den Fokus auf Gegenstände und Szenen, die er in einem einzigen kurzen Augenblick wahrzunehmen vermag – am Montag, 23. Juni 1975, kurz vor acht Uhr abends. Ausgehend von dieser Momentaufnahme verfolgt er die Geschichten der Objekte und Menschen in die Vergangenheit zurück und skizziert ein detailliertes, facettenreiches und alltagsnahes Bild über das Wohnen und Leben seit der Nachkriegszeit. Georges Perec, 1936 als Sohn polnisch-jüdischer Einwanderer in Paris geboren, hat sein Interesse an den Räumen und Gegenständen der Gegenwart wiederholt ins Zentrum seiner literarischen Arbeit gerückt. Seine erste, 1965 publizierte Erzählung „Les choses – une histoire des années soixantes“ („Die Dinge. Eine Geschichte der sechziger Jahre“, 1966) enthält eine präzise Beschreibung von Wohn- und Lebensräumen, in denen damalige Konsumgegenstände eine wichtige Rolle einnehmen. In „Espèces d’espaces“ (1974; „Träume von Räumen“, 1990) behandelt er verschiedene Raumkategorien – vom (kleinen) Raum eines unbeschriebenen Blatts Papier bis hin zu den (weitflächigen) Räumen einer Stadt, einer Landschaft und der Welt – und erwähnt im Kapitel „L’immeuble“ (das Wohnhaus) sein Romanprojekt „La vie, mode d’emploi“ (Perec 2010,

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99 mal Wohnen S. 81–87). 1975 veröffentlicht er unter dem Titel „Tentative d’épuisement d’un lieu parisien“ („Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen“, 2010) die Aufzeichnung seiner dreitägigen Beobachtung auf der Pariser Place Saint-Sulpice, in denen von „Ereignissen“ wie dem Vorbeifahren eines Busses der Linie 70 oder dem Umstand, dass es zu regnen beginnt, die Rede ist. In keinem anderen seiner Werke aber erteilt Perec den Räumen des Wohnens so große Aufmerksamkeit wie in „Das Leben Gebrauchsanweisung“, wo er die Vielfalt der Wohn- und Lebensformen und jene der Wohn- und Lebensstile im 20. Jahrhundert über eine außergewöhnliche literarische Konstruktion reproduziert. Der folgende Beitrag will die Beziehungen zwischen der Struktur des Romans und den verschiedenen

Abb. 1  Im Roman abgedruckter Plan des Hauses. Die kursiv gedruckten Namen   sind die der früheren Bewohner.

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Bernadette Fülscher Typen der Wohnräume aufzeigen und das literarische Vorgehen Perecs für die Analyse der präsentierten Wohnformen und Wohnstile nutzen.

Räume, Geschichten Zwischen Perecs Erzählstruktur und der räumlichen und sozialen Struktur des porträtierten Hauses gibt es mehrere Parallelen. Besonders offensichtlich ist der Bezug zwischen den 99 Kapiteln und den 99 darin beschriebenen Räumen. Diese kleinteilige Struktur bringt eine starke Fragmentierung des Buchs respektive des Hauses mit sich und widersetzt sich der Vorstellung einer in sich geschlossenen Erzählung und damit zugleich eines Wohnhauses, das sich als geschlossener Mikrokosmos unabhängig von kulturellen und historischen Zusammenhängen betrachten lässt. Offenheit ist ein wichtiges Merkmal der Struktur des Buchs wie der Hausbeschreibung. Sie zeigt sich im Untertitel, der nicht „Roman“ im Singular, sondern „Romane“ im Plural lautet. Es wird nicht eine einzige ‚große‘ Geschichte mit Anfang und Schluss erzählt, sondern zahlreiche kleine Geschichten, die gleichwertig nebeneinanderstehen, lose miteinander verknüpft sind und sich grundsätzlich in beliebiger Reihenfolge lesen lassen. Damit drückt Perec jene Tendenz aus, die Jean-François Lyotard mit der aus derselben Zeit stammenden Aussage zur Postmoderne formuliert hat: Sie sei gekennzeichnet von einer Krise der großen Erzählungen, verstanden als Ende von allgemeingültigen Welterklärungen (vgl. Lyotard 1986, S. 13ff., franz. Orig. 1979). Dies gilt auch für die Wohn- und Lebensformen wie die Wohn- und Lebensstile, die sich – wie es Perecs Buch ebenfalls deutlich macht – in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark ausdifferenziert und pluralisiert haben.

Zufälle, Pflichtenhefte Zu den Parallelen von Buch- und Hausstruktur in „Das Leben Gebrauchsanweisung“ zählt zudem die Bedeutung des Alltäglichen im Gegensatz zum Besonderen und Außergewöhnlichen, die Bedeutung des Zufälligen und der äußeren Einflüsse. Für die literarische Struktur von „Das Leben Gebrauchsanweisung“ ist namentlich das Prinzip des Zufälligen zentral. Perec verzichtet auf eine konventionelle Erzählweise und

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99 mal Wohnen folgt den Prinzipien der 1960 von François Le Lionnais und Raymond Queneau gegründeten Literatengruppe OuLiPo – jener „Werkstatt für Potenzielle Literatur“ („Ouvroir de Littérature Potentielle“), der er seit 1967 angehört. Die Mitglieder, die „oulipiens“, deklamieren, ihre literarischen Werke strengen formalen und oft mathematisch konstruierten Bedingungen zu unterwerfen, und erhoffen sich von der Anwendung solcher „contraintes“ eine Bereicherung der Sprache und der Literatur (vgl. exemplarisch Oulipo 2007). Die Grundstruktur von „Das Leben Gebrauchsanweisung“ besteht aus zwei Konzepten (vgl. Perec 1979): Einerseits nimmt Perec eine möglichst konsequente Beschreibung sämtlicher Räume des Hauses mittels eines Blicks hinter die Fassade vor, andererseits legt er die Kapitelfolge nach dem mathematischen Problem einer „polygraphie du cavalier“ an: Eine Springerfigur macht auf einem schachbrettähnlichen Spielbrett von 10 × 10 Feldern ihre Züge so, dass jedes Feld einmal, nie aber mehrmals belegt wird. Um diese beiden Ideen zu verbinden und eine literarische „Gebrauchsanweisung“ zu erhalten, legt Perec einen Längsschnitt des Hauses über ein Quadrat von 10 × 10 Einheiten und ordnet seine Kapitel nach dem Muster der Springerzüge an. Dabei lässt er das Springer-Spiel und die Kapitelabfolge an einer wenig repräsenta-

Abb. 2  Überlagerung des Wohnungsplans und der Lösung des Springerproblems für ein Spielbrett mit 10 10 Feldern.

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Bernadette Fülscher

Abb. 3  Georges Perecs Pflichtenheft für den Raum Nr. 57.

tiven und ungewöhnlichen Stelle beginnen – im Treppenhaus, zwischen dem dritten und dem vierten Stock: „Ja, so könnte es anfangen, hier, einfach so, auf eine etwas schwerfällige und langsame Weise, an diesem neutralen Ort, der allen und niemandem gehört, wo die Leute aneinander vorbeigehen, fast ohne sich zu sehen, wo das Leben im Haus gedämpft und gleichmäßig nachhallt.“ (Perec 2011, S. 19) (Abb. 2) Nicht nur die Abfolge der beschriebenen Räume, auch die Wahl der beschriebenen Gegenstände unterwirft Perec externen Regeln. Als Grundlage erarbeitet er im Vorfeld seiner Schreibarbeit 99 Pflichtenhef-

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99 mal Wohnen te (vgl. Hartje/Magné/Neefs 1993). Diese Stichwortlisten basieren auf einer Tabelle mit 21 Doppelbegriffen mit Angaben zu Räumen und Einrichtungen – zum Beispiel „Wände/Boden“, „Epoche/Ort“, „Stil/Möbel“, „Accessoires/Schmuck“ oder „Stoff/Farbe“. Für jedes dieser Begriffspaare wählt Perec zehn konkrete Beispiele – in der Rubrik „Wände/Boden“ beispielsweise „matte Farbe/englisches Parkett“ oder „Metallpaneele/rechteckige Fliesen“ (vgl. „Tableau général des listes“ in: ebd., S. 43). Dann überführt er seine Aufstellung in 21 „orthogonale lateinische Quadrate 10. Ordnung“ – das heißt in Quadrate mit 10 × 10 Kästchen, die sich über die Hausstruktur legen lassen – und weist jedem Kästchen eine andere Kombinationen aus zwei Ziffern zwischen 1 und 10 zu (vgl. Perec 1979, S. 52). So erhält er für alle 99 Räume eine Liste mit 42 Kriterien zu den Eigenschaften eines jeden Raums. (Abb. 3) In der konkreten Umsetzung ‚platziert‘ er die aufgelisteten Stichworte entweder direkt im jeweiligen Raum – beispielsweise indem er „Linoleum“ als Fußbodenbelag des 57. Raums wählt – oder er erwähnt sie indirekt, etwa in der Beschreibung eines aufgehängten Bildes.

Spielerische Arrangements Solche Planspiele stehen konventionellen Raumkonstruktionen und -beschreibungen gegenüber und finden in „Das Leben Gebrauchsanweisung“ auch ihre inhaltliche Entsprechung: in einer auffällig großen Offenheit bei der Auswahl, der Beschreibung und der Beurteilung von Wohnund Lebensräumen. Diese Offenheit gegenüber Unkonventionellem und Fremdem ist auf mehreren Maßstabsebenen erkennbar. Erstens handelt es sich beim beschriebenen Haus um ein wenig spektakuläres Gebäude im 17. Pariser Arrondissement, das 1880 während der Haussmann'schen Stadterweiterung entstanden ist und damit einem typischen Pariser Wohngebäude entspricht. Der Architekt, der es errichtet hat, soll es solide entworfen haben, selbst aber „brav“ und „ohne Phantasie“ (Perec 2011, S. 734) gewesen sein. Die umfassende Hausbetrachtung ist damit nicht architekturhistorisch oder ästhetisch legitimiert, sondern erfolgt aus sozialen, kulturellen und narrativen Interessen heraus. Zudem existiert das Quartier, in dem sich das Haus an der fiktiven Straße befindet, real und lässt abseits des prestigeträchtigen, großbürgerlichen Stadtzentrums ein Umfeld erahnen, in dem eine soziale Durchmischung der Bewohnerschaft

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Bernadette Fülscher – von einfachen Angestellten über mittelständische Familien bis hin zu neureichen Aufsteigern – plausibel erscheint. Zweitens präsentiert Perec die Räume wie Wohn- und Schlafzimmer, das Treppenhaus, die Kellerabteile und die Mansardenzimmer gleichwertig und unabhängig von ihrer Nutzung, ihrem repräsentativen Wert oder ihrer sozialen Funktion als Lebensräume und verbindet sie mit den Geschichten und Anekdoten der Bewohner. Exemplarisch verdeutlichen dies die Räume und Möbel von „Madame Marcia“: Weil die Antiquitätenhändlerin zwischen den Gegenständen, die sie in ihrer Boutique verkauft, und jenen, in denen sie lebt, keinen Unterschied macht, stellt sie neu ersteigerte Objekte in den Keller oder in die Wohnung, dann in den Lagerraum der Boutique, später in den Verkaufsraum und gegebenenfalls wieder in die Wohnung. Im Roman wird deshalb mal ein enger, dunkler Lagerraum beschrieben, „dessen Boden mit Linoleum ausgelegt und bis an die Grenze des Unentwirrbaren mit Gegenständen aller Größen vollgestellt ist“ (ebd., S. 173), mal ein Verkaufsraum, in dem relativ wenig Möbel ausgestellt sind, um diese dekorativ zur Geltung zu bringen (ebd., S. 502), mal die Wohnung, die von ihrer Bewohnerin gezielt eingerichtet wurde. Das offene Interesse gegenüber dem, was Menschen hervorbringen, zeigt sich drittens bei der näheren Betrachtung der Beschreibungen: Berichtet wird nicht nur von den Dimensionen und dem Charakter des Raums, seinen Oberflächen und Materialien, den Möbeln und den an den Wänden aufgehängten Bildern, sondern auch von der Herkunft des Betrachteten, von seiner Bedeutung und seinen kulturhistorischen Bezügen. Zudem werden aufgestellte Nippsachen als ebenso erwähnenswert erachtet wie nützliche Geräte oder herumliegende Kreuzworträtsel. Zwischen Alltäglichem und Beliebigem, Kuriosem, Kunstvollem, Kostbarem, Modernem und Altmodischem wird nicht wertend unterschieden und im Zentrum der Geschichten steht Wundervolles, Abscheuliches und Grausames ebenso wie Witziges, Logisches oder Unbegreifliches. Der Erzähler erfasst eine prinzipielle Heterogenität und Vielfältigkeit und bezieht jene Menschen mit ein, welche die Räume prägen und beleben. Perec schafft so ein reiches und lebendiges Porträt der Gesellschaft. Dabei tritt er nicht als allmächtiger Schöpfer einer Geschichte auf, sondern als gewiefter Handwerker, der vorhandene Gegenstände und Geschichten neu arrangiert. Seine Gegenstände stehen zum ganzen Raum wie die einzelnen Räume zum Haus – und wie die Teile des Puzzles zum

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99 mal Wohnen Puzzlebild. Denn das Puzzle – so heißt es in der Einleitung und im Kapitel 44 – „ist keine Summe von Elementen [...], sondern eine Gesamtheit, das heißt eine Form, eine Struktur [...]. [W]as zählt, ist allein die Möglichkeit, diesen Baustein mit anderen Bausteinen zu verbinden [...]; nur die zusammengefügten Teile erlangen die Eigenschaft der Lesbarkeit, bekommen einen Sinn [...].“ (Ebd. S. 11, 313) Als Hersteller eines Puzzles – eine Figur, die im Buch eine zentrale Rolle einnimmt – berichtet Perec deshalb über das Leben, weil es Großartiges, Schönes und Dramatisches ebenso bereithält wie Unspektakuläres, Banales und Nebensächliches. Perecs unkonventionelle Vorgehensweise bei der Konstruktion seines Romans erschließt sich bei der Lektüre nur beschränkt, doch die spielerische Haltung beim Betrachten der Dinge zeugt von Leichtigkeit und Lust. Zugleich drehen sich seine Spiele und Spielereien um Grundsatzfragen – etwa darum, wie der Mensch seine Welt zu greifen und zu begreifen versucht, wie er sich ihrer erinnert und wie seine Erinnerungen geordnet und archiviert werden, um dem Vergessen und dem Tod etwas entgegenzuhalten. Abbilden und Beschreiben, Ordnen und Sammeln, Spielregeln-Erstellen und Spielen: Damit sind viele Figuren im Buch ebenso beschäftigt wie der Autor selbst. Zudem liefert er Hinweise auf die Rolle von Rätseln und auf den Sinn des Spiels – etwa über die Figur James Sherwood, von dem vermutet wird, dass er sich zu Lebzeiten bewusst in die Opferrolle einer riesigen Betrugsgeschichte gefügt habe, weil er „in diesem Spiel eine [wirksame] Ablenkung von seiner Melancholie fand“ (ebd., S. 162).

Realitäten der Gesellschaft Trotz der Bedeutung spielerischer Momente, externer Einflüsse und Zufälligkeiten lässt sich Perecs Roman durchaus als eine detaillierte Beobachtung der Gesellschaft verstehen. Der Betrachter Georges Perec beschreibt seine eigene Gegenwart – Paris im Jahr 1975 –, lässt autobiografische Elemente einfließen und Figuren und Szenen aus der Literatur zu Wort kommen, die sein eigenes literarisches Werk geprägt haben oder darin entstanden sind. Viele seiner Romanfiguren verbringen ihre Zeit damit, Dinge und Erfahrungen zu sammeln, zu ordnen, zu beschreiben und zu dokumentieren. Mit dem Buch „Das Leben Gebrauchsanweisung“ liefert Perec eine ähnliche persönliche Antwort auf die Frage nach dem

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Bernadette Fülscher Umgang mit dem zeitlich begrenzten Leben. Er verschränkt seine Figuren, Orte und Geschichten aufs Engste mit der damaligen Realität bzw. den damaligen Realitäten und bezieht sich beim Schreiben immer wieder auf Tatsächliches: auf historische Ereignisse, reale Orte, politische und kulturelle Persönlichkeiten, auf Figuren und Szenen der Weltliteratur, Meisterwerke der Malerei, der Innenarchitektur und des Designs, auf existierende Kuriositäten, geschriebene Abhandlungen, effektive Institutionen etc. Der Schriftsteller ruft große und kleine Ereignisse der Welt- und Kulturgeschichte in Erinnerung, würdigt viele von ihnen und haucht ihnen neues Leben ein, indem er sie mit eigenen Erfindungen kombiniert. Um was es ihm dabei geht, lässt die Figur des betagten Malers Serge Valène erahnen, der seinerseits das Gemälde eines „aufgeschlitzte[n] Haus[es plant], das den Zusammenbruch seiner Gegenwart, die Schrunden seiner Vergangenheit in ihrer ganzen Blöße zeigt, diese fortsetzungslose Anhäufung grandioser oder lächerlicher, frivoler oder erbärmlicher Geschichten“ (ebd., S. 210f.). Perec skizziert in „Das Leben Gebrauchsanweisung“ das präzise Bild einer stark individualisierten Gesellschaft quer durch die sozialen Schichten – das Bild einer Gesellschaft also, die sich in den drei Jahrzehnten seit dem Zweiten Weltkrieg zu einer konsumfreudigen Masse entwickelt hat und deren Umfeld von einer Vielzahl gesellschaftlicher, kultureller und ökonomischer Veränderungen geprägt wird. Mit der Distanz eines Sozialwissenschaftlers erläutert Perec als Erzähler den Status der Bewohner und zeigt – in Anlehnung an Pierre Bourdieus Konzept des „sozialen Raums“ (vgl. Bourdieu 1979) – die Höhe des ökonomischen und kulturellen Kapitals auf. Ein Vergleich der Hausbewohner und ihrer Wohnräume (ausgenommen vom Vergleich sind eine Arztpraxis und zwei leer stehende Wohnungen) liefert dabei einen Fächer unterschiedlicher Lebens- und Wohnformen sowie unterschiedlicher Lebens- und Wohnstile. Besonders ins Auge fallen sechs Kategorien, die sich einerseits auf das ökonomische Kapital der Bewohner (reich, mittelständisch, arm) beziehen, andererseits auf ihren (traditionellen respektive modernen) Lebensstil. Die Bewohner mit traditionellem Lebensstil sind zahlreicher als jene, die einen ‚moderneren‘ pflegen. Zudem gehören sie in der Regel einer älteren Generation an, während die Mehrheit der modern lebenden Bewohner jünger ist. Von der jüngeren, modern wohnenden Generation legen die Begüterten und Neureichen besonders viel Wert auf eine ausgefallene Inneneinrichtung. Zu ihnen zählen das Händler-Ehepaar

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99 mal Wohnen Plassaert, das vom „irren Charme“ (Perec 2011, S. 351) seiner Dachwohnung begeistert ist, das Werber-Ehepaar Marquiseaux aus dem vierten Stock und die Möbelantiquarin Madame Marcia im Erdgeschoss, deren „Zimmereinrichtung [...] eine kühne Mischung ultra-moderner Elemente [...] mit Kuriositäten verschiedener Epochen dar[stellt]“ (ebd., S. 252). In der Wohnung des Ehepaars Marquiseaux lässt Perec die sozialen Veränderungen über den modernen Lebensstil sowie über moderne Lebensformen deutlich werden – etwa über „einen recht großen Raum, aus dem [Philippe und Caroline Marquiseaux] einen Sitzungssaal für ihre Werbe-Agentur gemacht haben: es ist absolut kein Büro, sondern, inspiriert von den jüngsten Techniken auf dem Gebiet des Brain-storming und der Gruppologie, ein Raum, den die Amerikaner einen ‚Informal Creative Room‘ [...] nennen [...]. Die Wände und die Decke sind mit einer weißen Vinyltapete beklebt; auf dem Boden liegt ein Schaumgummiteppich, der identisch ist mit dem, welchen die Anhänger gewisser kriegerischer Künste benutzen; nichts an den Wänden; fast kein Möbelstück: ein weiß gestrichenes niedriges Büffet, auf dem Dosen mit Seven-up-Gemüsesäften und alkoholfreiem Bier [...] stehen; eine achteckige Blumenschale ‚Zen‘, [...] eine Menge Kissen in allen Farben und Formen. [...] Die Marquiseaux’, ganz in Anspruch genommen von ihren Wasserzärtlichkeiten [im benachbarten Bad, Anm. d. Autorin], sind noch nicht in diesen Raum gekommen, in dem zwei ihrer Freunde, die gleichzeitig auch ihre Kunden sind, auf sie warten[: ...] ein schwedischer Musiker [und] die sehr berühmte ‚Hortense‘, [...] eine Frau von etwa dreißig Jahren mit hartem Gesicht und unruhigen Augen[, ... die bis 1973 ...] ein Mann namens Sam Horton [war].“ (Ebd., S. 298ff.) Vergleichbare Ambitionen in Bezug auf das Wohnen, aber geringere finanzielle Mittel haben jüngere mittelständische Angestellte, zu denen die Louvets gehören – oder die Réols, die sich „in ein modernes Schlafzimmer [vernarrten], das sie in dem großen Kaufhaus gesehen hatten, in dem Louise Réol Fakturistin war. Das Bett allein kostete 3234 Francs. Zusammen mit der Tagesdecke, den Kopfkissen, dem Frisiertisch, dem passenden Polsterhocker und dem Spiegelschrank kam das Ganze auf über elftausend Francs.“ (Ebd., S. 754) Schließlich befinden sich in den oberen Geschossen kleine, oft modern eingerichtete Räume, deren Interieurs das Etikett „billig und funktional“ tragen und die von einer dritten Gruppe der jungen Generation bewohnt werden. Dazu zählt das Zimmer des Au-Pair-Mädchens Jane

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Bernadette Fülscher Sutton: „Das Bett ist sehr schmal: es ist eigentlich nur eine Schaumstoffmatratze auf drei Holzwürfeln, die als Schubladen dienen, und darüber eine Daunendecke in Patchwork.“ (Ebd., S. 70) Neben diesen Bewohnern mit modernem Lebens- und Einrichtungsstil wohnen in der Simon-Crubellier-Straße auch zahlreiche Personen, deren Wohnungen einer bürgerlichen Tradition verpflichtet sind, die im 19. Jahrhundert entstanden ist. Einen solchen Lebensstil finden wir in den großzügigen Appartements im zweiten und dritten Obergeschoss, etwa bei den Altamonts, wo gerade ein alljährlicher Empfang vorbereitet wird und typische Elemente bürgerlicher Interieurs versammelt sind: „In jedem der fünf zur Straßenseite gelegenen Zimmer der Wohnung gibt es ein kaltes Büffet. In diesem hier, das gewöhnlich ein kleiner Salon ist – das erste der Zimmer, das auf die große Diele geht und dem eine Rauchsalon-Bibliothek, ein großer Salon, ein Boudoir und ein Eßzimmer folgen –, wurden die Teppiche aufgerollt, wodurch ein kostbarer Parkettboden zur Geltung kommt. Fast alle Möbel sind entfernt worden; zurück bleiben nur noch acht Stühle aus lackiertem Holz, deren Lehnen mit Szenen aus dem Boxeraufstand geschmückt sind. An den Wänden hängt kein einziges Bild, denn die Wände und die Türen sind selber Dekor: sie sind mit einem bemalten Stoff bespannt, ein prächtiges Panorama, dessen wenige Trompe-l’œil-Effekte einen auf den Gedanken bringen, daß es sich um eine eigens für dieses Zimmer nach wahrscheinlich älteren Entwürfen angefertigte Kopie handelt [...]. An der linken Wand, in der Mitte, ein mächtiger Kamin aus rosa Marmor, über dem ein großer Spiegel hängt; auf dem Gesims eine hohe, rechteckig geschnittene Kristallvase, die mit Immortellen gefüllt ist, sowie eine Sparbüchse aus der Zeit um neunzehnhundert [...].“ (Ebd., S. 119f.) Für diese eher ältere und begüterte Generation arbeiten in Perecs Haus mehrere Butler, Köchinnen und Dienstboten, von denen einige in einem Dienstmädchenzimmer in den obersten Geschossen wohnen. Es handelt sich meist um einfach und traditionell möblierte Räume, in denen eine oder zwei Personen in bescheidenen Verhältnissen leben, so wie der „[alte] Mann namens Troquet, der sich durch das Sammeln leerer Flaschen mühsam seinen Lebensunterhalt verdiente [...] und [der] ein Halb-Vagabund war“ (ebd., S. 375). Schließlich zeigt Perec über die Figur und Wohnung von Madame Moreau, wie sich die gesellschaftlichen Funktionen von Einrichtungen und Möbeln im 20. Jahrhundert gewandelt haben. Zum einen kennt und liebt die 83-jährige Dame eine längst vergangene Welt: 1892 auf einem

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99 mal Wohnen Bauernhof geboren, erbte sie von ihrem Mann eine kleine Fabrik für gedrechselte Hölzer, und in ihrem Pariser Schlafzimmer stehen ein hohes, breites Bett von ihrem Bauernhof und der Ohrensessel ihres Vaters (vgl. ebd., S. 123, 166). Doch Madame Moreau führt ein Doppelleben: „Als zu Anfang der fünfziger Jahre der Möbelmarkt zusammenbrach und dem gedrechselten Holz nur noch ebenso kostspielige wie zufällige Absatzchancen bot [...], stellte sie sich kühn auf die Herstellung, Einführung und den Vertrieb von Werkzeugen für den Privatbereich um [...]“ (ebd., S. 124) und entwickelte sich zu einer erfolgreichen und wohlhabenden Unternehmerin im Bereich der privaten Inneneinrichtung. „Um die Geschäftsfrau zu sein, die zu sein sie beschlossen hatte, nahm sie es ohne äußere Anstrengungen hin, ihre Wesensart, ihre Garderobe, ihren Lebensstil radikal zu verändern. Die Einrichtung ihrer Wohnung entsprach dieser Konzeption.“ Madame Moreau behielt sich einen einzigen Raum vor – alles Übrige „vertraute sie einem Innenarchitekten an, dem sie mit vier Sätzen erklärte, was er zu gestalten hätte: die Pariser Wohnung eines Unternehmers, ein geräumiges, stattliches, reich ausgestattetes, distinguiertes und selbst prunkvolles Interieur [...]. Der Innenarchitekt, Henry Fleury, [...] begriff, daß er hier die einmalige Gelegenheit [...] hatte, sein Meisterwerk zu schaffen [...] und [...] seine Theorien auf dem Gebiet der Innenarchitektur beispielhaft [zu] illustrieren: Umgestaltung des Raums, theatralische Umverteilung des Lichts, Vermischung der Stile.“ (Ebd., S. 165f.) Das Exempel von Madame Moreau, die über ihre Einrichtung bewusst ein gesellschaftliches Spiel mitspielt, ohne an seine Ernsthaftigkeit zu glauben, erinnert an Beobachtungen des Theoretikers Jean Baudrillard. Wie Perec hat auch er sich mit dem Spiel beschäftigt und in ihm die Möglichkeit gesehen, die Abwesenheit eines übergeordneten Sinns zu vergessen (vgl. Baudrillard 1999, S. 162). 1968 hat Baudrillard zudem in „Le système des objets“ den Wandel der Gesellschaftsstruktur am Beispiel des Interieurs aufzuzeigen versucht und den traditionellen und modernen Wohnraum verglichen: Während der traditionelle Wohnraum eine autoritäre Gesellschaftsstruktur spiegle, in der jedes Objekt eine moralische Funktion innehabe, mit anderen Objekten eine sinnstiftende Einheit bilde und eine affektive Verbindung zwischen Gegenstand und Mensch bestehe, seien im modernen Wohnraum die Dinge befreit von moralischer Symbolik und deren Inszenierung. Jeder Gegenstand sei auf ein abstraktes, assoziatives Zeichen reduziert, das sich beliebig

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Bernadette Fülscher mit anderen kombinieren lasse – wichtig sei einzig seine Funktionalität. Dies gelte heute auch für alte, folkloristische oder exotische Gegenstände, die allesamt nicht authentisch seien, sondern als Zeichen ohne tief verankerten Wert bloß auf Authentizität verweisen würden. Räumliche Einheit komme zudem nur noch über lockere Atmosphären zustande, die vom Menschen organisiert und kontrolliert würden (vgl. Baudrillard 1991). Einen solchen modern eingerichteten Raum finden wir in Madame Moreaus Küche: „Der Innenarchitekt Henry Fleury entwarf für sie eine avantgardistische Kücheneinrichtung, von der er lauthals verkündete, daß sie der Prototyp der Küchen des 21. Jahrhunderts sei [...]. [Die] ultramodernen Anlagen wurden geschickt in Großmutter-Schränke, Second-Empire-Herde aus emailliertem Guß und antiquarischen Truhen untergebracht. Hinter gewachsten Eichentüren mit Kupferbeschlägen verbargen sich elektrische Allesschneider, Ultraschall-Friteusen, Infrarot-Grillvorrichtungen [...]; dabei sah man, wenn man hereinkam, nur Wände, die mit Delfter Keramikplatten gekachelt waren, Handtücher aus ungebleichter Baumwolle [...], Toilettenkrüge mit kleinen rosigen Blumen, Apothekerpokale, grobe Tischtücher mit Karos, rustikale [...] Regale [...] und einen aufsehenerregenden Fliesen-Fußboden, [...] die naturgetreue Kopie des Fußbodens der Kapelle eines Klosters in Bethlehem. Die Köchin von Madame Moreau, eine robuste Burgunderin [...], ließ sich von solchen plumpen Raffinessen nicht beeindrucken und setzte ihre Herrin gleich davon in Kenntnis, daß sie in einer solchen Küche, in der nichts an seinem Platz war [...], niemals auch nur das geringste kochen würde. Sie verlangte ein Fenster, einen Spülstein, einen richtigen Gasherd mit Flammstellen [...]. Madame Moreau gab ihrer Köchin recht. Fleury, tief gekränkt, mußte seine experimentellen Apparate wieder mitnehmen, die Delfter Fliesen [...] abreißen, die Rohrleitungen und die elektrischen Leitungen abmontieren, die Zwischenwände versetzen.“ (Perec 2011, S. 497f.) Während in solchen Ausführungen von Perec eine gewisse Freunde darüber mitschwingt, dass ein innenarchitektonisches Meisterwerk dem Urteil seiner Benutzer nicht standgehalten hat, scheint es ihm dennoch nicht um eine Grundsatzkritik an der Gesellschaft, an der Leistung des Künstlers oder gar um ein Geschmacksurteil zu gehen. Vielmehr zeigt er sich interessiert an der Rezeption eines Werks durch den täglichen Benutzer. Diese offene Haltung gegenüber sämtlichen Akteuren der Wohnräume steht den Dingen und Menschen nahe und nimmt die Anliegen der Bewohner ernst, ohne ihre Wohnformen und Lebensstile voreilig

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99 mal Wohnen zu bewerten. Das Augenmerk gilt allem, was das Leben ausmacht – im Unterschied zum Tod, der in der Simon-Crubellier-Straße eine zentrale Rolle spielt. Denn es gibt dort auch leblose Räume wie das kaum mehr benutzte Büro von Cyrille Altamont: „Er hat alle Bücher oder alle Gegenstände, die für ihn notwendig sind oder an denen sein Herz hängt, in [seine] Dienstwohnung geschafft [...]. In diesem nun fast immer leeren Raum bleiben nur noch starre und tote Dinge zurück, Möbel mit ausgeräumten Schubladen und in der abgeschlossenen Bibliothek nie aufgeschlagene Bücher [...].“ (Ebd., S. 519) Mit seinem Roman „Das Leben Gebrauchsanweisung“ und dessen inneren Bauplänen führt Georges Perec spielerisch und lustvoll vor, dass es zahlreiche Möglichkeiten gibt, Lebensformen und Dinge unhierarchisch zu betrachten, und dass es sich lohnt, Perspektiven zu ändern und entgegen herkömmlicher Normierungen den Blick weit und offen zu halten. Mit vielfältigen Wohn- und Lebensformen und unterschiedlichen Wohn- und Lebensstilen erzählt er detail- und anekdotenreich von den potenziellen Universen eines Pariser Wohnhauses in den 1970er Jahren. Das Leben und die Gesellschaft verliert er dabei nicht aus den Augen. Die hier präsentierten Gedanken liegen einer Arbeit zugrunde, die für das Symposium „Ein Dialog der Künste“ des Kunsthistorischen Instituts der Universität Zürich im Herbst 2012 entstanden ist und 2013 als Beitrag in einem Sammelband erschienen ist (s. Fülscher 2013).

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Bernadette Fülscher Literatur

Perec 2008

Perec, Georges: Tentative d’épuisement d’un lieu parisien Baudrillard 1991

(1975), Paris: Christian Bourgeois 2008.

Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Über unser Verhält-

Perec 2010

nis zu den alltäglichen Gegenständen (1968), Frankfurt am

Perec, Georges: Espèces d’espaces (1974), Paris: Galilée 2010.

Main/New York: Campus 1991.

Perec 2011

Baudrillard 1999

Perec, Georges: Das Leben Gebrauchsanweisung. Romane

Baudrillard, Jean: L’échange impossible, Paris: Galilée 1999.

(1978), Frankfurt am Main: Zweitausendundeins 2011.

Bourdieu 1979

Bourdieu, Pierre: La distinction. Critique sociale du jugement,

Abbildungsnachweise

Paris: Minuit 1979. Fülscher 2013

Fülscher, Bernadette: Georges Perecs Blick auf den Innen-

Abb. 1 Perec 1978, S. 603.

raum – eine Gebrauchsanweisung für die Kunstgeschichte?,

Abb. 2 Bernadette Fülscher, zusammengestellt mithilfe der

in: von Orelli-Messerli, Barbara (Hg.): Ein Dialog der Künste

Bildquellen: Perec 1978, S. 603, und Perec 1979, S. 51.

II. Beschreibungen von Innenarchitektur und Interieurs in der 

Abb. 3 Hartje u.  a. (o.  S.).

Literatur von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart,  Petersberg: Michael Imhof 2013.

© Sämtliche Bildrechte: Rechtsnachfolger Georges Perec.

Hartje/Magné/Neefs 1993

Hartje, Hans; Bernard Magné, Jacques Neefs: Cahier des charges de La Vie mode d’emploi – Georges Perec, Paris/ Cadeilhan: CNRS Editions/Zulma 1993. Lyotard 1986

Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Bericht (1979), Graz/Wien: Böhlau 1986. Oulipo 2007

Oulipo: Atlas de littérature potentielle (1981), Paris:  Gallimard (Folio essais) 2007. http://www.oulipo.net   (zuletzt 21. 3. 2013). Perec 1978

Perec, Georges: La Vie mode d’emploi. Romans, Paris: Hachette 1978. Perec 1979

Perec, Georges: Quatre Figures pour „La Vie mode d’emploi“, in: L’ARC. Révue trimestrielle, Nr. 76, Jg. 22, 1979, S. 50–53. Perec 2008

Perec, Georges: Les choses – une histoire des années soixantes (1965), Paris: Pocket 2008.

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Eva-Maria Orosz

Historische Wohnräume im Wien Museum Vom Per sonenkult zum Wohnbild

Als das Historische Museum der Stadt Wien – das heutige Wien Museum – 1961 seine Dauerausstellung eröffnete, präsentierte es erstmals in seiner Geschichte drei rekonstruierte Wohnräume. Auf einem Stockwerk und unweit voneinander entfernt wurden der Empire-Salon der Familie Geymüller (um 1800), die Wohnung des Dichters Franz Grillparzer (1849) sowie das Wohn- und Kaminzimmer des Architekten Adolf Loos (1903) als drei eigenständige Einbauten in die neuen Ausstellungsräumlichkeiten gesetzt. Erst der Neubau des Museumsgebäudes am Karlsplatz bot diese Möglichkeit, mit der sich das Museum zu einem späten Zeitpunkt in die Debatte um period rooms in Museen einschaltete. Auch das Victoria & Albert Museum in London stellte seine ab 1869 gesammelten Wohnräume erst anlässlich der Neueinrichtung nach dem Zweiten Weltkrieg 1947 in einer Abfolge von acht Räumen erstmals aus. Solche Rekonstruktionen zählten im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts zur beliebten Vermittlungspraxis kulturhistorischer Museen, manchmal auch der Kunstgewerbemuseen, um Stilkunde vorzuführen und das damals wichtig gewordene Thema des Wohnens zu beleuchten (vgl. Schubinger 2009, S. 86). Zuvor waren historische Zimmerausstattungen unter anderem im Zuge der Stadterneuerungen und des Baubooms zur Handelsware geworden, als alte Wohnhäuser demoliert wurden und Museen die historischen Räume als Dokumente einer bereits historisch gewordenen Wohnkultur für ihre Sammlungen erwarben. Die Diskussion um den Sinn von in Museen transferierten kompletten Wohnräumen wird heute kontrovers geführt. Die Denkmalpflege begrüßte im 19. und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ihre Überführung und das Bewahren im Museum. Heute befürwortet sie deren Erhaltung im originalen architektonischen Kontext. Die Ansprüche an die ‚Authentizität‘ der zu einem period room zusam-

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Historische Wohnräume im Wien Museum mengefügten Einzelobjekte und Elemente (Wandvertäfelung, Textilien, bewegliche Einrichtungsgegenstände) sind in den letzten Jahrzehnten gestiegen. Period rooms findet man heute in fast nicht zu überbietender Komplettheit in ihren originalen Bestandteilen, aber auch in kuratorisch – und historisch – frei erfundenen Settings in Museen in den USA (vgl. Montebello 2004, S. 9). Das Historische Museum der Stadt Wien ist hier insofern ein Sonderfall, als es zu keinem Zeitpunkt seines Bestehens ein besonders ausgewiesenes Sammlungsinteresse an kompletten Wohnräumen hatte. Es besitzt nur jene drei Räume, von denen in der Folge die Rede ist. Der Entschluss, sie im Museum einzubauen, hatte weitreichende Konsequenzen für die Schausammlung. Der Empire-Salon aus der Zeit um 1800 konnte wegen seiner großen Raumhöhe nur an einer einzigen Stelle rekonstruiert werden, nämlich am Beginn des Rundgangs im zweiten Stockwerk. Da der Erzählfluss in der Aufstellung der ständigen Sammlung des Museums streng chronologisch sein sollte, gab der Salon die verbleibende, viel zu kleine Fläche vor, die für die Darstellung der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zur Verfügung stehen konnte (vgl. Glück/Pötschner 1963, S. 2). In den letzten Jahrzehnten wurde die Schausammlung wiederholt adaptiert, wobei die drei Großexponate von grundsätzlicher Erneuerung ausgeschlossen blieben. Dieser Beitrag zeigt die museologischen Zielsetzungen der drei period rooms anno 1961 auf und diskutiert ihre jeweiligen Inszenierungen. Um Letzteren auf die Spur zu kommen, sind die Erwerbsgeschichten der von 1878 bis 1955 vom Museum akquirierten Objekte aufschlussreich, zumal die Erwerbsintention über diesen langen Zeitraum Veränderungen unterworfen war. Nicht weniger aufschlussreich ist der Blick auf die Geschichte der Inszenierung selbst. Die Rekonstruktionen von 1961 waren in zwei Fällen Fortschreibungen älterer Interpretationen. Jüngere Neukontextualisierungen weisen auf die Bemühungen hin, der objektimmanenten Erstarrung der historischen Wohnräume im Wien Museum entgegenzuwirken.

Vom ‚Grillparzer-Zimmer‘ zur ‚Grillparzer-Wohnung‘ Das Ansinnen, den österreichischen Dichter Franz Grillparzer (1791–1872) zu musealisieren, geht auf den Höhepunkt des Konzepts der period rooms und des Personenkultes am Ende des 19. Jahrhunderts

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Eva-Maria Orosz zurück. Grillparzer studierte Rechtswissenschaft und trat 1813 in den Staatsdienst ein, wo er Direktor des Hofkammerarchivs wurde. Er verfasste vornehmlich Dramen, war einigermaßen erfolgreich, bei Zensur wie auch Publikum jedoch zeitweilig unbeliebt. Nach 1850 schließlich wurde er zunehmend als österreichischer Klassiker, als Verkörperung des Österreichers und als ‚vaterländisch‘ rezipiert und vereinnahmt. Mit dem historischen Drama „König Ottokars Glück und Ende“ (1823) zum Beispiel, das den Sieg des Habsburgers Rudolf I. gegen den zum Teil an Napoleon erinnernden Böhmenkönig Ottokar behandelt, schuf er u.  a. ein Lobgedicht auf Österreich. Grillparzer lebte von 1849 bis zu seinem Tod als Untermieter im Haushalt der Schwestern Anna, Josephine und Katharina Fröhlich im vierten Stock des Hauses Spiegelgasse 21 im ersten Bezirk.1 Dort standen ihm ein hofseitiges Kabinett – das er als Bibliothek benützte – und ein straßenseitiges Wohn- und Arbeitszimmer mit Schlafplatz zur Verfügung. Bald nach dem Ableben Grillparzers fiel der Stadt Wien 1878 sein gesamter Nachlass durch die Universalerbin Katharina Fröhlich zu. Unter der Bedingung, dass die Stadt den Nachlass des Dichters in einem ‚Grillparzer-Zimmer‘ im damals noch nicht existierenden, aber in Planung befindlichen Historischen Museum zugänglich machen würde, wurden die Handschriften Grillparzers, Dokumente, Diplome sowie Andenken, seine Büchersammlung und schließlich die Einrichtung seiner Wohnung als Schenkung vereinbart. Da sich Katharina Fröhlich zu Lebzeiten nicht von den persönlichen Gegenständen Grillparzers trennen wollte, scheint alles bis 1884 unverändert in der Wohnung in der Spiegelgasse verblieben zu sein. Unmittelbar vor der physischen Übertragung des Nachlasses ins Museum wurde der Maler und Aquarellist Rudolf von Alt durch einen Beschluss des Wiener Gemeinderates beauftragt, Grillparzers Alterswohnung in zwei Aquarellen festzuhalten. Entsprechend den Auflagen der Schenkung sowie der großen Verehrung des österreichischen Dichters präsentierte das 1888 eröffnete Historische Museum der Stadt Wien im Neuen Rathaus das ‚Grillparzer-Zimmer‘ als Gedenkstätte. Diese allererste Musealisierung war bereits um ein ‚Nachstellen‘ der ehemaligen Wohnräume aus der Spiegelgasse bemüht, allerdings gaben die dem Museum zugewiesenen Räume des

1  Zum ‚Grillparzer-Zimmer’ bislang am ausführlichsten: Pötschner 1962b. Für jüngere, kürzere Darstellungen siehe Doppler 2004, S. 395f.; Hönigmann-Tempelmayr 2007, S. 148.

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Historische Wohnräume im Wien Museum neuen Verwaltungsgebäudes einen unvorteilhaften Grundriss für die Grillparzer-Wohnung vor.2 Im Rathaus betraten die BesucherInnen zunächst ein als Vorraum bezeichnetes Zimmer, in dem museumsdidaktisch mithilfe verschiedener Porträts des Dichters und der Mitglieder der Familie Fröhlich ins Privatleben Grillparzers eingeführt wurde. Daran schloss sich das Arbeits- und Schlafzimmer an, bei dem versucht wurde, Ausstattung und Einrichtung nach Bildvorlagen in Form von Aquarellen in allen Einzelheiten möglichst getreu wiederzugeben. Die Wände erhielten einen Anstrich nach Bildvorlage, ebenso wurde der Hausrat danach aufgestellt. Das Kabinett mit der Bibliothek, das in der Spiegelgasse zwischen Vorraum und Wohnzimmer lag, bildete im Rathaus den Abschluss und war in einem Korridor untergebracht. Originale Bibliotheksschränke Grillparzers wurden mit musealen Schaukästen vor den Fenstern ergänzt. Zahlreiche persönliche Gegenstände (Huldigungsadressen, Diplome, Erinnerungsstücke) waren zu sehen, auch ein Seidenband von Grillparzers Sarg sowie sein Sargschlüssel. Das ‚Grillparzer-Zimmer‘ blieb im Wesentlichen rund 50 Jahre unverändert3 und galt bald als „die schönste Zierde der städtischen Sammlungen“ (Glossy 1905, S. II). Franz Kafka zum Beispiel, der gerne in den Tagebüchern des Dichters las, sehnte sich nach der Besichtigung des ‚Grillparzer-Zimmers‘. In einem Brief an Grete Bloch schrieb er 1914: „Nach Wien möchte ich für meinen Teil auch nicht im Mai. [...] Nur das Grillparzerzimmer im Rathaus möchte ich gern sehn, das habe ich anzusehen versäumt, ich habe zu spät davon erfahren.“ (Kafka zit.  n. Heller/Born 1967, S. 502) Einige Wochen später forderte Kafka Grete Bloch auf, das Zimmer für ihn anzusehen und ihm darüber zu schreiben. Mithilfe ihrer Beschreibung imaginierte Kafka seine eigene körperliche Anwesenheit in diesem Zimmer und stellte sich das Bewohnen des Raumes vor: „Es war sehr lieb von Ihnen, daß Sie in

2  Die Räume des Historischen Museums im Rathaus waren über zwei Stockwerke verteilt und teilweise unzusammenhängend. Gemäß der räumlichen Struktur wurde die Sammlung des Museums in vier Abteilungen gegliedert. Das ‚Grillparzer-Zimmer‘ war der dritten Abteilung zugeordnet, in der u.  a. Bildnisse Wiener Bürgermeister, Porträts von Wiener Dichtern, Komponisten sowie deren Reliquien und Handschriften ausgestellt waren. Das ‚Grillparzer-Zimmer‘ befand sich im Halbstock nächst der Feststiege I (vgl. Historisches Museum der Stadt Wien 1888, S. VI-VII, 218–231). 3  1921 konnte das Historische Museum drei Möbelstücke aus dem ehemaligen Besitz der Schwestern Fröhlich aus dem Kunsthandel erwerben, die der Präsentation im Vorzimmer des ‚Grillparzer-Zimmers‘ hinzugefügt wurden (vgl. Wien Museum, Inv.  Nr. 43.440–442).

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Eva-Maria Orosz das Museum gegangen sind. Ich dachte doch nicht daran, etwas Neues zu erfahren (trotzdem auch das geschehen ist), aber ich hatte das Bedürfnis zu wissen, daß dadurch auch zwischen mir und dem Zimmer eine körperliche Beziehung entstanden ist. Mehr ergibt sich ja auch nicht, wenn man selbst dort war, viel mehr wenigstens nicht, gar im Anblick übersiedelter Schaustücke. Das Bild des Zimmers, das Sie mir schickten, ist es das Bild des wirklichen Zimmers oder des Rathauszimmers? Ein schönes Zimmer jedenfalls, in dem sich gut leben, gut im Lehnstuhl bei Sonnenuntergang schlafen ließe.“ (Brief an Grete Bloch vom 12.5.1914, zit.  n. ebd. 1967, S. 574) Die Aufmerksamkeit der BesucherInnen war jedenfalls auch durch ‚geliebte‘ Reliquien geweckt worden, die die tiefe Verehrung für den Dichter bezeugten. Diese zielten auf die Faszination des auf authentische, unmittelbare Weise mit dem Dichter verbundenen einzelnen Objektes ab, auf ein Spannungsverhältnis zwischen sinnlicher Nähe und zeitlicher Ferne. Grillparzers Ansehen und gesellschaftliches Umfeld wurden durch Huldigungsgegenstände und deren DonatorInnen vermittelt, die im Museumskatalog schließlich ein Dutzend Seiten füllten. Die Verehrung des Dichters wurde auch 1891 anlässlich der Ausstellung zu seinem 100. Geburtstag deutlich spürbar, als die Bevölkerung zahlreiche zu Grillparzer selbst in loser Beziehung stehende Gegenstände enthusiastisch zur Schau beisteuerte (vgl. Glossy 1905, S. II). Doch erst im Jahr 1941 wurde die ‚Grillparzer-Wohnung‘ im Rathaus zum ersten Mal im Maßstab 1:1 aufgebaut. Anlässlich der 150. Wiederkehr des Geburtstages gedachte man des Dichters mit einer großen Ausstellung, deren Herzstück die ‚originalgetreue Wiederherstellung‘ der Wohnung durch den Modellbauer Otto Voelkel bildete.4 Die Inszenierung setzte im Wesentlichen eine Vision des Grillparzer-Forschers und nachmalig kurzzeitigen Bibliotheksrats an der Wiener Stadtbibliothek Reinhold Backmann (1884–1947) um. Der in Leipzig geborene Germanist war Mitglied der NSDAP und seit 1937 gemeinsam mit August Sauer Herausgeber der historisch-kritischen Grillparzer-Ausgabe. Er hatte bereits 1937, anlässlich der Planungen für ein neues Museumsgebäude, für eine vollständige Rekonstruktion der Wohnung plädiert und ein detailliertes Bild ihres zukünftigen Aussehens gezeichnet. Seine Vorstellungen beruh-

4  Vgl. die Nachbildung der Original-Grillparzer-Wohnung in der Spiegelgasse 21 für die Grillparzer-Ausstellung 1941, Wien Museum, Akt Grillparzer, St. S. zu III/4 1377/40. Vgl. auch Wanschura 1943, S. 18.

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Historische Wohnräume im Wien Museum

Abb. 1  Das ‚Grillparzer-Zimmer‘ im Wiener Rathaus, 1891.

Abb. 2  Die Bibliothek Grillparzers im Wiener Rathaus, 1891.

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Eva-Maria Orosz

Abb. 3  Das Wohnzimmer der ‚Grillparzer-Wohnung‘ im Wiener Rathaus, 1941.

Abb. 4  Das Wohnzimmer der ‚Grillparzer-Wohnung‘ im Historischen Museum der Stadt Wien, 1961.

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Historische Wohnräume im Wien Museum ten auf dem genauen Studium von Bildquellen (Zeichnung von Philipp Felix Kanitz, Aquarelle von Franz und Rudolf Alt), der Selbstinszenierung Grillparzers in seinen Tagebüchern und zahlreichen historischen Beschreibungen von BesucherInnen. Sie umfassten auch Backmanns eigene Interpretationen und Gestaltungsvorschläge. So wollte er ‚Nebensächlichkeiten‘ des Alltags wiederhergestellt sehen, die Rudolf Alt nicht festgehalten hatte – zwei Glockenzüge etwa. „Mein Vorschlag macht also nicht bei bloßen Instandsetzungen halt, sondern läuft auch auf Ergänzung fehlender Teile hinaus [...].“ 5 Die Rekonstruktion von 1941 deckte sich über weite Strecken mit seiner Beschreibung und wurde nach einem von ihm ausgearbeiteten Situationsplan mit genauer Aufteilung der Möbel durchgeführt (vgl. Wanschura 1943, S. 20). Die Alterswohnung stellte sich 1941 als spektakuläres Großexponat von mehr als 82m² dar: Man deutete das Stiegenhaus der Spiegelgasse 21 an, ließ BesucherInnen den originalen Klingelzug betätigen und durch die originale Wohnungstür den gemeinsamen Vorraum von Grillparzer und den Schwestern Fröhlich betreten, um von dort in Bibliothek und Wohnraum zu gelangen. Aus baupolizeilichen Gründen musste allerdings ein Seitenausgang geschaffen werden. Im Bibliotheksraum trat an die Stelle der halbrunden Ofennische eine niedrige Türöffnung, durch die man die ‚Grillparzer-Wohnung‘ (durch die ehemalige fensterlose Dienstbotenkammer) verließ. Die Rekonstruktion hatte kulissenhafte Effekte und bühnenbildartige Qualitäten. Das Treppenhaus mit auf- und abwärtsführenden Stiegen wurde illusionistisch angedeutet. Die hof- und die straßenseitigen Fenster erhielten beleuchtete Prospekte, Fenster der gegenüberliegenden Häuser wurden aufgemalt. Vorhandene Schablonen aus dem Jahr 1888 wurden für die ornamentale Bemalung der Wände wiederverwendet. Die Rekonstruktion verarbeitete aber auch jene Originalteile und Sachinformationen, die das Museum bereits 1900 im Hinblick auf eine 1:1 Präsentation gesammelt hatte: Als das Wohnhaus Spiegelgasse 21 um die Jahrhundertwende demoliert wurde, hatte das Stadtbauamt eine genaue Bauaufnahme und Vermessung der Wohnung vorgenommen. Sämtliche demontierbaren Teile aus den Räumen des Dichters und dem Wohnzimmer der Schwestern Fröhlich – Wohnungseingangstür, Türen samt Staffel,

5  „Zwei andere Obstkörbe aus Rohr möchte ich auf dem Wirtschaftstischchen unterbringen, ebenso die große marmorne Obstschale.“ Backmann 1937, S. 188, 191.

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Eva-Maria Orosz Stockfutter und Verkleidung, Fenster, Öfen, Fußbodenbretter – wurden abgetragen und lagerten bis 1941 im Museumsdepot. Das Ergebnis war eine auf Emotionen setzende Inszenierung: „Die ganze Wohnung und Einrichtung ist in ihrer Einfachheit und Naturtreue von starker Wirkung auf den Beschauer und versetzt durch das Wissen darum, daß Grillparzer diese Räume so und so oft durchschritten, daß er, umgeben von diesen Gegenständen, gelebt und gelitten hat, den Besucher in eine weihevolle Stimmung.“ (Wanschura 1943, S. 21) Diese suggestive Inszenierung war ein Huldigungsgestus der Nationalsozialisten, die den 150. Geburtstag Grillparzers ausnutzten, um ihn als „Fürsprecher des Österreichtums“, zugleich aber auch als „großdeutschen“ Dichter zu feiern. (Mikoletzky 1991, S. 140f) Die rekonstruierte Wohnung fand derart großen Anklang, dass sie nach Ausstellungsende bis zur kriegsbedingt notwendigen Auslagerung 1943 bestehen blieb. 1947 wurde sie im Rathaus neuerlich aufgebaut. Mit der Neukonzeption der Gedenkstätte als Wohnung war während des Nationalsozialismus aber auch ein Leitbild des Wohnens geschaffen worden, das das Biedermeier und somit die frühbürgerliche Wiener Wohnkultur aufwertete.6 Diese Deutung vertrat jedenfalls das Historische Museum seit der Wiedereröffnung der Rekonstruktion 1947, als nicht mehr ausschließlich von der ‚Grillparzer-Wohnung‘ gesprochen wurde, sondern auch kurz vom „typischen Altwiener Interieur“ gediegener gutbürgerlicher Art.7 Die Wohnung wurde in der Folge Gegenstand einer breiteren, auch vom Personenkult losgelösten Wohnforschung. Die 1952 im Stadtbauamt gegründete Forschungsstelle für Wohnen und Bauen, die der Architekt Franz Schuster leitete, ließ sie fotografisch dokumentieren und dürfte sich eingehend mit ihr beschäftigt haben.8 Die Rekonstruktion von 1961 im Neubau des Historischen Museums war eine Re-Inszenierung der Fassung von 1941. Die Wiederherstellung der Alterswohnung wurde offensichtlich als denkmalpflegerische Aufgabe aufgefasst und die wirklichkeitsgetreue Wiederentstehung als Ziel-

6  Während des Nationalsozialismus legte das Museum darüber hinaus auch in seiner Erwerbspolitik einen Schwerpunkt auf die ‚Alt-Wiener Wohnkultur‘, indem es bedeutende Möbelensembles aus der Zeit des Biedermeier ankaufte (vgl. Orosz 2012, S. 263–267). 7  Wien Museum, Akt 135/1878. Grillparzer und Wien. Zur Wiedereröffnung des Grillparzerzimmers in den Räumen der   St. Sammlungen (Typoskript). 8  Siehe Fotos, aufgenommen von der Forschungsstelle. Wien Museum, Inv.  Nr. 97.334.

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Historische Wohnräume im Wien Museum setzung genannt (vgl. Pötschner 1962b, S. 20). Damit waren vor allem bauliche Präzision sowie solide und qualitätsvolle Ausführung gemeint, die 1941 nicht erbracht worden waren.9 Eine kritische und distanzierte Haltung zur Nazi-Aufstellung und ihrem kulturpolitischen Kontext blieb jedoch aus. Bauliche Unregelmäßigkeiten wurden nachgebildet, so ist die Fensterwand des Wohnzimmers, bedingt durch den Risalit der Straßenfassade, abfallend, wie es die Bauaufnahme von 1900 verzeichnet. Die Wandstärken der Originalmauern wurden durch doppelte Riegelwände nachgestellt.10 Erstmals wurde auch der originale Dielenboden wieder eingesetzt, den man bis dahin verloren geglaubt hatte, einige Dielen wurden neu hinzugefügt. Bis auf die szenografische Andeutung des Stiegenhauses übernahm man damit alle Inszenierungsmittel von 1941. Der Eintritt in das begehbare Großexponat durch die schmale Wohnungstür und das Durchschreiten der Räume war und ist bis heute ein sinnliches Erlebnis, das akustische, olfaktorische, optische und räumliche Erfahrung einschließt. Noch immer steuern BesucherInnen auf das in dieser Form erstmals in der Ära des Nationalsozialismus inszenierte Wohn- und Sterbezimmer des Dichters zu, das ein aus ‚authentischen‘ Bestandteilen der realen Wohnung Grillparzers zusammengesetztes ‚Bild‘ ist. Vom Standpunkt der Einbindung dieser Rekonstruktion in die Schausammlung des Museums und seine didaktischen Absichten ist festzuhalten, dass die Wohnung nicht auf das literarische Werk und Vermächtnis Grillparzers verweist. Es handelt sich vielmehr um einen Genius Loci, wo die ‚Entstehung‘ der Werke Grillparzers imaginiert werden kann. Es ist anzunehmen, dass BesucherInnen, die mit der literatur- und kulturgeschichtlichen Bedeutungsproduktion des Dichters nicht vertraut sind, die Rekonstruktion vermutlich in erster Linie als altmodisches Wohnbeispiel rezipieren. Räumlich eingebettet im Abschnitt „Biedermeier“, gehen BesucherInnen auf dem Weg zur Rekonstruktion nicht nur an Exponaten aus jener Zeit vorbei. Auch die Außenwände der ‚Grillparzer-Wohnung‘ ‚zieren‘ Gemälde des Vormärz und präsentieren das Biedermeier als spezifisch wienerische Kultur. Diese duale Erschließung, Gedenkstätte und historisches Wohnbeispiel, verstärkt sich seit 1961 insbesondere durch die Nachbarschaft mit den anderen Wohnräumen ohne primär persönli-

9  Die Wiederherstellung 1961 kostete 109.032,39 Schilling. Wien Museum, Akt 135/1878, zu 561/60. 10  Vgl. Wien Museum, Akt 135/1878. Brief von Wenzel Hartl an Magistrat der Stadt Wien vom 17.3.1961.

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Eva-Maria Orosz chen Erinnerungscharakter. Diese unterschiedlichen Aneignungen des Großexponates bieten seit 1961 Diskussionsstoff. Während Museumskustos Peter Pötschner die ‚Grillparzer-Wohnung‘ als ehrfurchtgebietende Gedenkstätte darstellte,11 fasste sie Museumsdirektor Franz Glück (1899–1981) als typologisches Wohnbeispiel auf. Mit der didaktisch begründeten Eingliederung in die Chronologie der musealen Schausammlung legte der Direktor seine Interpretation zur übergeordneten Frage von Epochenräumen in Museen im Sinn von kulturhistorischer Zeugenschaft vor.12 Die Lebensspuren und das ungewöhnliche Verhältnis, das Grillparzer mit den Schwestern Fröhlich verband, waren nach dem Abbau der großen Grillparzer-Ausstellung 1941, von der nur die rekonstruierten Wohnräume stehen blieben, kaum mehr sichtbar. Grillparzer, der sich 1821 mit Katharina Fröhlich verlobt, sein Eheversprechen jedoch nie eingelöst hatte, lebte ab 1849 als Untermieter Tür an Tür mit seiner ‚ewigen Braut‘ Kathi. Im Alter sorgte sie für ihn, ebenso ihre beiden gleichfalls unverheirateten Schwestern. Ihre Lebensspuren sind weitgehend getilgt und die Wohnung ist ganz auf die Repräsentation des Dichtergenius orientiert. Anlässlich der Ausstellungsintervention „Männerwelten – Frauenzimmer“, kuratiert von Roswitha Muttenthaler und Regina Wonisch im Jahr 2005, wurde Grillparzers Verhältnis zu und sein Zusammenleben mit den Schwestern Fröhlich zumindest temporär thematisiert.13

11  „Die Wohnung […] sollte nicht als Museumsstück betrachtet werden. Sie ist eine Gedenkstätte, und so mag es auch von den meisten Besuchern empfunden werden, die nicht ohne Ehrfurcht eintreten. Grillparzer hat in diesen Räumen fast ein Vierteljahrhundert lang gelebt, was bei ihm träumen, denken und leiden hieß.“ (Pötschner 1962b, S. 27) 12  „Zu den Prinzipien der Aufstellung des Historischen Museums der Stadt Wien gehört es, unechte Zusammenhänge zu vermeiden. Interieurs werden nur dort gezeigt, wo sie sich zur Gänze erhalten haben und in ihren genauen Dimensionen bekannt sind. […] es ist auch für die Jahrhundertmitte ein einzigartiges Zeugnis, die Wohnung Grillparzers, erhalten, an der einfach alles echt ist, und dann für die Jahrhundertwende der nicht minder unmittelbar übertragene Wohnraum des großen Architekten Adolf Loos, den er sich 1903 aus bescheidenen Mitteln geschaffen hat. Derartige Dokumentationen vermitteln ein echtes Zeitgefühl, nicht jene beliebten sogenannten Rekonstruktionen von Zimmern mit Möbeln verschiedener Herkunft. Das kann nie einen vollen Akkord ergeben. Da ist die Folge einzelner Töne hintereinander, jeder reinlich und für sich angeschlagen, bei weitem vorzuziehen, wobei die Dinge in keinen näheren Zusammenhang geraten dürfen, als sie in Wirklichkeit haben.“ (Glück/Pötschner 1963, S. 10f.) 13  Eine zweite, allerdings an ihrem ursprünglichen Ort erhaltene Wiener Wirkungsstätte Grillparzers wird gegenwärtig neu gestaltet: Sein ehemaliges Arbeitszimmer im Finanz- und Hofkammerarchiv in der Johannesgasse 6 (Zustand 1856) wird in das dort geplante Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek einbezogen.

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Historische Wohnräume im Wien Museum Der Pompejanische Salon, um 1800 Das kunst- und kulturhistorisch interessante, überaus seltene Wiener Beispiel klassizistischer Raumausstattung ist der einzige period room im strengen Sinn. Aus dem ursprünglichen Raumkontext eines Wiener Palais herausgelöst, fungiert er in der Schausammlung des Wien Museums primär als ein eine Stilepoche repräsentierendes Interieur. Im Jahr 1798 erwarben die Brüder Johann Heinrich und Johann Jakob Geymüller, damals bedeutende Bankiers und Großhändler in Wien, das 1688 für Feldmarschall Graf Aeneas Sylvius Caprara errichtete Palais in der Wallnerstraße 8 im ersten Bezirk (vgl. Pötschner 1962a). Dieses Stadtpalais statteten die beiden gemäß dem damals modernen Empirestil aus. Während der Blütezeit des Bankhauses versammelte sich im Hause Geymüller, dessen Besitzer seit 1810 durch einen Adelstitel nobilitiert waren, das gesellschaftliche und geistige Leben Wiens. Im Winter 1820/21 lernte Franz Grillparzer hier seine langjährige Gefährtin und ‚ewige Braut‘ Katharina Fröhlich kennen, ihre Schwester Anna Fröhlich war Musiklehrerin bei den Geymüllers – es sind jene Frauen, die Grillparzer später als ihren Untermieter beherbergen sollten. Der Pompejanische Salon, ein 5,50 × 5,20  m großer Gesellschaftsraum, lag im ersten Stock des rechtsseitigen Hoftraktes des Palais. Die Wände waren mit Seidentapeten bespannt, die farblich zarte figurale und ornamentale Malerei in Temperafarben tragen. Vorbilder für die vier im Zentrum stehenden lebensgroßen, schwebenden Frauengestalten finden sich in der Darstellung von Bacchantinnen im von 1755 bis 1792 in Neapel erschienenen Kupferstichwerk „Antichità di Ercolano“. Rings um die vier Hauptfelder sind allegorische Gestalten und Ornamentalfelder angeordnet. Der textile Schimmer der Seide sollte den Oberflächenglanz der antiken Wandmalerei nachempfinden. Als die Empire-Ausstattung im Lauf des 19. Jahrhunderts aus der Mode kam, wurden die Wände verschalt und die Ausstattung geriet in Vergessenheit. Im Jahr 1904 erwarb der niederösterreichische Landesausschuss das Palais Caprara-Geymüller und das Niederösterreichische Landesmuseum zog ein. Als zwischen 1907 und 1909 Instandsetzungsarbeiten stattfanden, wurde der Salon entdeckt und freigelegt, ab 1911 war er im Museum zu besichtigen. Im Dezember 1922 tauschte das Niederösterreichische Landesmuseum mit der Anglo-Austria Bank das Palais Caprara-Geymüller gegen das unweit gelegene Palais Mollard-Clary in der Herrengasse 9.

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Eva-Maria Orosz

Abb. 5  Das Pompejanische Zimmer im Historischen Museum der Stadt Wien, 1961.

Dabei teilte man die Ausstattung des Empiresalons vertraglich auf und der Salon lief Gefahr, zerstört zu werden. Die mit figuraler Bemalung geschmückten Seidentapeten blieben im Besitz des Niederösterreichischen Landesmuseums und sollten aus dem Palais entfernt werden, während die restlichen wandfesten Teile wie Vertäfelung, Kamin und Spiegel in den Besitz der Bank kamen und in situ bleiben konnten. Angesichts der zu erwartenden Schwierigkeiten bei Abnahme der Tapeten erwog das Museum, die Seidentapeten der Bank zum Verkauf anzubieten und die Erhaltung des Salons zur Verkaufsbedingung zu machen.14 Das Bundesdenkmalamt empfahl die gesamte Übertragung des Salons in den Besitz des Niederösterreichischen Landesmuseums und seine Rekonstruktion in einer entsprechend dimensionierten Koje im Palais Mollard-Clary.15 Die

14  Vgl. Bundesdenkmalamt Wien, Bauakten 1., Wallnerstraße 8, Akten von 1923–1933, Z. 113 Präs am 18.1.1923, Brief vom Niederösterreichischen Landesmuseum an das Bundesdenkmalamt vom 17.1.1923. 15  Vgl. Bundesdenkmalamt Wien, Bauakten 1., Wallnerstraße 8, Akten von 1923–1933, Z. 113/1923, Aktenvermerk vom 9. März 1923.

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Historische Wohnräume im Wien Museum Bank trat daraufhin alle Teile des Empire-Salons ab,16 nur die Stuckdecke, die Fenster und die Verkleidung der Eingangstüre verblieben nun doch im Palais Caprara-Geymüller. Offenbar wurde das vorwiegend aus denkmalpflegerischen Gründen und nicht aufgrund museologischer Überlegungen in die Herrengasse transferierte Zimmer vom Niederösterreichischen Landesmuseum bald als Fremdkörper, vielleicht sogar als Belastung wahrgenommen, sodass man es schließlich loswerden wollte. Im Jahr 1940 wurde es vom damaligen Museum des Reichsgaues Niederdonau den Städtischen Sammlungen übertragen, wobei es zerlegt wurde und zunächst im Depot verschwand. Wenige Jahre nach dem Krieg fand Museumsdirektor Franz Glück den Salon im Depot auf, und als es um die Planung des neuen Museumsgebäudes am Karlsplatz ging, war es für ihn selbstverständlich, den Empire-Salon wieder aufzubauen (vgl. Pötschner 1962a, S. 23). Zweifellos konnte sich das neue Museum mit dem exquisiten Interieur als Rarität aus der Zeit des Klassizismus schmücken. Für die Rekonstruktion durch das Historische Museum im Jahr 1961 wurden die Seidentapeten restauriert, Anstrich und Vergoldung von Türen und Lambris auf die originale Oberfläche freigelegt, Originalprofile von Fenstern und Leisten im Palais Caprara-Geymüller vermessen und nachgezogen, Beschläge nachgegossen. Das für den Raumeindruck wesentliche ursprüngliche Deckengewölbe konnte aufgrund der niedrigen Stockwerkshöhe nicht wiederhergestellt werden. Der Fußboden erhielt keine gesonderte Gestaltung, sondern den Standard-Museumsfußboden. Mit der Übernahme des Empire-Salons schrieb das Historische Museum seine Inszenierung als period room, wie sie bereits im Niederösterreichischen Landesmuseum in der Herrengasse bestanden hatte, fort: Der Salon wurde mit Einrichtungsgegenständen versehen, die nicht der ursprünglichen Ausstattung im Palais Caprara-Geymüller entsprachen, sondern lediglich aus derselben Zeit stammten.17 Auf eine umfangreichere Möblierung des Salons wurde bewusst verzichtet, um den wandfesten Schmuck stärker zur Geltung zu bringen (vgl. ebd., S. 21).17Daher ist es

16  Vgl. Bundesdenkmalamt Wien, Bauakten 1., Wallnerstraße 8, Akten von 1923–1933, Z. 789 Präs am 10.4.1923, Brief von der Anglo-Österreichischen Bank an das Bundesdenkmalamt vom 7.4.1923. 17  Die dem Salon hinzugefügten ägyptisierenden Konsoltische und die Alabaster-Empireuhr mit der Figur einer Lesenden schmückten den Salon seit Beginn der Musealisierung im Palais Caprara-Geymüller in den 1910er Jahren und wurden vom

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Eva-Maria Orosz nicht verwunderlich, dass unter den drei eingebauten Interieurs in den vergangenen Jahrzehnten nur der Empire-Salon ausstellungstechnische Flexibilität bot. Über mehrere Jahre wurde hier Damenmode aus der Zeit des Empire präsentiert.18

Das Wohn- und Kaminzimmer von Adolf Loos Die jüngste Akquisition unter den historischen Wohnräumen des Museums bedurfte bei der Rekonstruktion keiner hypothetischen Interpretationen. Die für die Sammlung erworbenen Teile der Wohnung von Adolf Loos wurden von ihrem ursprünglichen Standort direkt in das neue Museumsgebäude überführt. Der Architekt des Neubaus, Oswald Haerdtl, plante den Wiederaufbau, vermutlich persönlich betreut durch Direktor Franz Glück. Historische Fotografien dienten lediglich der Re-Installation einzelner Gegenstände (vgl. Griesser-Stermscheg/ Lehne 2009, S. 58–60). Das Wohn- und Kaminzimmer stammt aus der Wohnung, die Adolf Loos 1903 für sich und seine Frau Lina gestaltet hat.19 Im fünften Stock eines Gründerzeitgebäudes in der Bösendorferstraße 3 im ersten Bezirk, nur wenige Schritte vom Museum entfernt, hatte er eine rund 110 m² große Wohnung eingerichtet. Die Wohnung bestand hofseitig aus Vorzimmer, Küche, Kabinett und straßenseitig aus Schlafzimmer und Wohn-Esszimmer mit Kaminraum. Bekanntheit erlangte das 1903 publizierte „Schlafzimmer meiner Frau“, das im ganzen Raum umlaufende weiße Vorhänge hatte und in dem ein großer Teppich aus weißem Webfell Bett und Boden bedeckte. Die beiden an das Schlafzimmer anschließenden Räume gestaltete er zu einem Wohn- und Kaminzimmer um. Loos entfernte die Verbindungstüre, erweiterte den Durchgang und schuf damit eine neue

Niederösterreichischen Landesmuseum gemeinsam mit den wandfesten Elementen des Salons übernommen (vgl. Wien Museum, Abt. III/4-714/40). 18  Einige Sonderausstellungen bezogen den 25 m² großen Raum mit ein, wie zuletzt die Schau „Großer Auftritt. Mode der Ringstraßenzeit“ im Jahr 2009. Erst seit Kurzem ist der Raum wieder vollständig für BesucherInnen zugänglich und damit eine Betrachtung der Seidentapeten aus allernächster Nähe möglich. 19  Ausführlich zur Wohnung siehe Rukschico/Schachel 1982, S. 80–83, S. 430f.; Historisches Museum der Stadt Wien 1990, S. 142–144.

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Historische Wohnräume im Wien Museum Verbindung der beiden Räume. Die Decke im Kaminzimmer wurde abgesenkt, in beiden Räumen wurden Scheinbalkendecken montiert und Wandvertäfelungen angebracht. Inspiriert von der angelsächsischen Wohnkultur entwickelte Loos einen ‚Raumplan‘, der durch unterschiedliche Raumhöhen Weiträumigkeit mit Intimität verband und Leitmotiv seiner Raumgestaltungen war (vgl. Risselada 1988). Franz Glück, Direktor des Historischen Museums der Stadt Wien seit 1949, betrieb die Erwerbung der Wohnung von Adolf Loos sicherlich aktiv. Nach dem Zweiten Weltkrieg nahm er sich gemeinsam mit dem Direktor der Gemäldegalerie der Akademie der Bildenden Künste, Ludwig Münz, der den schriftlichen Nachlass von Adolf Loos aufarbeitete, des Erhalts der Wohnung in der Bösendorferstraße an.20 Vor dem Krieg hatte Glück bereits in der renommierten Edition Georges Crès in Paris eine Biografie des Architekten veröffentlicht (Glück 1931). Aus der Emigration zurückgekehrt, bemühte sich Glück um die weitere wissenschaftliche Aufarbeitung des Werkes des Architekten und begann die Herausgabe seiner sämtlichen Schriften (Loos 1962). 1951 stellte das österreichische Bundesdenkmalamt das Wohnzimmer mit Kaminraum, „das in seiner Wohnung besonders liebevoll alle neuen Errungenschaften seiner Innengestaltung aufweist [...] [und] in der Entwicklung des Künstlers eine historische Bedeutung [hat]“, unter Denkmalschutz.21 Bald darauf konnte Franz Glück dem Bundesdenkmalamt mitteilen, dass er Verhandlungen eingeleitet hatte, um das Loos’sche Wohnzimmer anzukaufen und in die Schausammlung des neuen Museumsgebäudes am Karlsplatz zu integrieren. Die Wohnung war knapp 20 Jahre nach dem Tod des Architekten 1933 noch immer weitgehend unverändert. Seit Kriegsbeginn hatte die ehemalige Wirtschafterin von Loos, Maria („Mitzi“) Schnabl, als Vertrauensperson der Universalerbin Elsie Altmann-Loos in der Wohnung gelebt und sie gehütet (vgl. Altman-Loos 1968, S. 179f.).22 Das Ankaufinteresse von Franz Glück galt in den 1950er Jahren nicht der Errichtung eines persönlichen Erinnerungsraums für Loos, sondern dem herausragenden Beispiel Wiener Wohnkultur der Jahrhundertwende und der Vermittlung der Wohnvorstellungen des Architekten. Die museale Inszenierung ist auf

20  Vgl. Bundesdenkmalamt Wien, Bauakt Wien I., Bösendorferstraße 3, GZ 1349/51. 21  Bundesdenkmalamt Wien, Bauakt Wien I., Bösendorferstraße 3, GZ 4428/51.

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Eva-Maria Orosz Direktor Franz Glück selbst zurückzuführen, der aus dem Verständnis des Raumes und der Kenntnis der kulturkritischen Schriften des Architekten heraus illusionistische Effekte vermeiden wollte – gemalte Prospekte vor den Fenstern wie in der ‚Grillparzer-Wohnung‘ wären hier verfehlt gewesen.22Im Wiederaufbau der Räumlichkeiten war man um Authentizität bemüht, musste allerdings das Deckengebälk, Teile der Wandverkleidung, den Holzboden und die Fenster in der Bösendorferstraße zurücklassen und für die museale Präsentation nachbauen. Im Museum öffnet sich das Wohn- und Kaminzimmer den BesucherInnen vom ehemaligen Schlafzimmer her, wobei der Durchgang gegenüber den Dimensionen der ursprünglichen Flügeltüre verbreitert und damit den Anforderungen einer räumlichen Integration in den umgebenden Museumsraum angepasst wurde. So wurde auch ein schmaler Gang außerhalb des Wohn- und Kaminzimmers angelegt, um den BesucherInnen gleichsam einen Blick ‚durch die Straßenfenster‘ in den Wohnraum zu ermöglichen. Bis vor Kurzem war es BesucherInnen nicht gestattet, den Raum zu betreten. Die aufgelegten Perserteppiche von Loos sollten nicht betreten werden, die zahlreichen Kleinobjekten sollten vor Zugriff geschützt werden.23 Der museale Respekt vor dem Original schirmte die BesucherInnen ab und blieb ihnen eine der wesentlichsten Erfahrungen Loos’scher Raumgestaltung schuldig: die des körperlich gefühlten Raum(plan)s. Das spektakuläre, ursprünglich an den Wohnraum anschließende Schlafzimmer seiner ersten Frau Lina, das in der Schausammlung des Wien Museums nicht rekonstruiert worden war, konnte anlässlich der großen Adolf-Loos-Retrospektive 1989 auf Basis von historischen Fotografien, aber ohne Originalelemente temporär aufgebaut werden.24 Im Jahr 2008 wurde der Designer Robert Stadler vom Wien Museum zu einer Intervention in der Loos-Wohnung eingeladen, die er „loosgelöst“

22  Fotografien, die 1957 vielleicht zu Dokumentationszwecken anlässlich der Übersiedlung der Räumlichkeiten ins Museum entstanden, zeigen das Wohnzimmer nach wie vor mit persönlichen Gegenständen des Architekten (vgl. Wien Museum, Inv.  Nr. 243.266/2–4). 23  Die Bibliothek von Adolf Loos, die bis vor Kurzem im Kaminraum aufgestellt war, musste aus restauratorischen Gründen entfernt und durch eine fotografische Reproduktion der Buchrücken ersetzt werden. 24  Aus dem Nachlass von Lina Loos wurden Gegenstände aus dem ehemaligen Schlafzimmer in der Bösendorferstraße übernommen (vgl. Wien Museum, Akt 1790/1981).

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Historische Wohnräume im Wien Museum

Abb. 6  Kaminraum mit Sitzecke in der Wohnung Adolf Loos   in Wien 1., Bösendorferstraße 3, 1957.

Abb. 7  Wohnzimmer mit Essplatz in der Wohnung Adolf Loos   in Wien 1., Bösendorferstraße 3, 1957(?).

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Eva-Maria Orosz

Abb. 8  Wohnzimmer mit Kaminraum aus der Wohnung   Adolf Loos im Wien Museum, 2008.

Abb. 9  Wohnzimmer mit Kaminraum aus der Wohnung   Adolf Loos im Wien Museum, 2008.

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Historische Wohnräume im Wien Museum nannte. Er ließ weiße Kugeln von der Decke des Wohnzimmers abhängen und verwandelte das ‚Looszimmer‘ in ein überdimensioniertes Souvenirobjekt. Er reagierte mit seiner Installation speziell auf die museologische Situation der Wohnung und ihren Erinnerungscharakter.25

Zusammenfassung Die Darstellungsform des Wohnens mit teiloriginalen Raumarchitekturen stellt Museen heute vor große Herausforderungen. Diesen Objekten haftet stets der Anschein des Erstarrten und Eingefrorenen an, da Veränderungen aufgrund von Größe und Komplexität der Exponate in kurzen Intervallen schon allein aus praktischen Gründen nicht möglich sind. Die Rekonstruktionen in Museen suggerieren einen authentischen Wohnraum, bleiben jedoch stets museale Inszenierungen. Es ist daher unumgänglich, über die Reflexion und Darstellung ihrer Provenienz und der Geschichte ihrer musealen Inszenierung eine individuelle, zeitgenössische Annäherung an diese Räume zu ermöglichen. Die Räume bedürfen, wie im Fall der während des Nationalsozialismus konzipierten Präsentation der ‚Grillparzer-Wohnung‘, einer kritischen Revision oder zumindest eines Kommentars, nicht zuletzt, um an diesem Beispiel die Ursachen und Ausprägungen der Verherrlichung und Instrumentalisierung eines bedeutenden Künstlers in einem totalitären Regime während des Faschismus transparent zu machen. Das Wien Museum hat sich in den letzten Jahren von der ausschließlichen Vermittlung der Räume als Bilder bzw. dem bloßen Hineinschauen-Können verabschiedet zugunsten der Vermittlung des Raumerlebnisses mittels betretbarer und spürbarer Raumkörper. Nach wie vor besteht die Aufgabe der Großexponate im Allgemeinen darin, vergangene Wohnformen darzustellen und kultur- sowie kunstgeschichtlich Bedeutendes zu konservieren und zugänglich zu halten. Für die spezielle Situation im Wien Museum gäbe es ein großes Potenzial, die Wohnräume durch soziologische Fragestellungen in die Dauerausstellung neu einzubinden.

25  http://dip.mak.at/detail_product.php?object_id=8269 (zuletzt 29.11.2012).

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Abbildungsnachweise Abb. 1: Fotografie: R. Lechner, Wien Museum, Inv.  Nr. 1667/1. Abb. 2: Fotografie: R. Lechner, Wien Museum, Inv.  Nr. 1667/2. Abb. 3: Wien Museum, ohne Inv.  Nr. Abb. 4: Fotografie: Lucca Chmel, Wien Museum, Inv.  Nr. 138.712/1. Abb. 5: Fotografie: Lucca Chmel, Wien Museum, Inv.  Nr. 138.712/3. Abb. 6: Wien Museum, Inv.  Nr. 243.266/3. Abb. 7: Wien Museum, Inv.  Nr. 124.429/2. Abb. 8: Fotografie: Enver Hirsch, Wien Museum, Inv.  Nr. 101.162. Abb. 9: Fotografie: Enver Hirsch, Wien Museum, Inv.  Nr. 101.162.

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Cathleen M. Giustino

Ein Roman als Ausstellungsparcours in der sozialistischen Tschechoslowakei Fiktion, W irklichkeit und Interieur s im „Großmutter tal“

Im Juni 1950 öffneten sich die Tore des Schlosses Ratibořice/Ratibořitz im Osten Böhmens für das sozialistische Massenpublikum. Dies geschah, nachdem die Kommunistische Partei unter ihrem stalinistischen Vorsitzenden Klement Gottwald im Februar 1948 die Macht in der Tschechoslowakei übernommen hatte – ein Umsturz, für den die heroische Bezeichnung „Siegreicher Februar“ gefunden wurde. Das kleine, 1708 von Fürst Laurenz Piccolomini errichtete Barockschloss zählte zu jenen zahlreichen kulturhistorisch bedeutenden Besitztümern, die nach dem Zweiten Weltkrieg gemäß den Bestimmungen der Beneš-Dekrete von 1945 konfisziert worden waren. (Abb. 1)

Abb. 1  Das Schloss Ratiborˇice/Ratiborˇitz vom „Großmuttertal“ aus gesehen.

Seither reisten jährlich Tausende Tschechoslowaken und Tschechoslowakinnen nach Schloss Ratibořitz, um dort sorgfältig eingerichtete aristokratische Interieurs zu sehen, die Schauplätze in Božena Němcovás

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Ein Roman als Ausstellungsparcours in der sozialistischen Tschechoslowakei beliebtem, 1855 veröffentlichten Roman „Babička“ („Die Großmutter“) wiedergeben sollten – einem Buch, das für die Konstruktion und Popularisierung einer nationalen tschechischen Identität von grundlegender Bedeutung war. Neben dem Schloss konnten mit der Mühle und dem Haus auf der Alten Bleiche zwei weitere Gebäude besichtigt werden, deren Möblierung von den nichtaristokratischen Charakteren in Němcovás Roman, darunter die berühmte Großmutter selbst, angeregt worden war. Die unterschiedlichen displays von Wohnräumen aus einer fiktionalisierten Vergangenheit, dazu ein begrenztes Sortiment an Souvenirs, Imbissen und Getränken – all das verlieh diesem Ostblock-Kulturdenkmal die Qualitäten eines US-amerikanischen Themenparks, dessen Attraktionen literarische Beschreibungen räumlich begehbar und erfahrbar machten. Im Ratibořitz der 1950er Jahre wurden darüber hinaus Bilder von Häuslichkeit, die im Zusammenhang mit der Konstruktion einer nationalen tschechischen Identität im 19. Jahrhundert entstanden waren, in den Dienst eines sozialistischen Staates gestellt. Božena Němcová (1820–1862) wurde in Wien geboren, wuchs aber auf den Gütern von Ratibořitz auf, wo ihr Vater als Stallmeister bei der Herzogin Wilhelmine von Sagan beschäftigt war. Die Herzogin hatte nach dem Tod ihres Vaters dessen gesamten Besitz geerbt, darunter Ratibořitz und das benachbarte, viel größere Schloss Náchod/Nachod, und unterhielt eine Liaison mit Fürst Klemens Wenzel Lothar von Metternich. Ratibořitz liegt im Nordosten Böhmens unweit der Stadt Česká Skalice/Böhmisch Skalitz (zu deren Ortsgebiet es heute gehört) in einem Tal, durch das die im nahen Riesengebirge entspringende Úpa/ Aupa fließt und für das sich im 19. Jahrhundert, als Němcovás Roman immer populärer wurde, der Name „Großmuttertal“ („Babiččino údolí“) einbürgerte. Teure Erinnerungen an die Kindheit auf dem Land rund um Schloss Ratibořitz inspirierten Němcová zu ihrem Roman, den sie mit Mitte 30 in einer für sie schwierigen Lebensphase niederschrieb. „Babička“ ist für die Geschichte der tschechischen Nationalbewegung von besonderer Bedeutung. Im 19. wie auch im 20. Jahrhundert priesen ihre Vorkämpfer und Anhänger Kleidung und Tracht, alltägliche Rituale, hingebungsvolle Liebe und sprichwörtliche Redensarten der Großmutter in höchsten Tönen als Beispiele für die Schönheit, Beständigkeit und Weisheit tschechischer Volkstraditionen, die aus einer Zeit vor der Industrialisierung Böhmens und ihrer als problematisch empfundenen sozialen Folgen stammten.

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Cathleen M. Giustino Im Zentrum des Romans steht die idealisierte Figur der Großmutter, die als höchst respektables und nachahmenswertes Vorbild gezeichnet wird. Sie wohnt mit ihrer Tochter, dem Schwiegersohn und den als liebenswert und glücklich charakterisierten Enkelkindern in dem Haus auf der Alten Bleiche in der Mitte des Tals. Nicht weit davon befindet sich die Gutsmühle, wo der wohlgenährte, joviale Müller mit Frau und Kindern lebt und regelmäßig von der Großmutter und ihren Enkelkindern besucht wird. Das dritte wichtige Gebäude in dem Buch ist das Schloss, in dem die Fürstin residiert. Als freundliche und elegante Gutsherrin bringt sie der recht selbstbewussten Großmutter, die ihren Blicken standhält, großen Respekt entgegen und lädt sie mit den Enkelkindern letztendlich sogar zu sich ins Schloss ein. Bei diesen Besuchen herrscht eine freundschaftliche Atmosphäre, und die Pflegetochter der Fürstin fertigt geschätzte Porträts der nichtaristokratischen Gäste an. Doch nicht alles ist eitel Wonne in Němcovás Märchental: Leise Anspielungen auf Abhängigkeit und Knechtschaft geben dem Roman eine leicht bittere Note. Die arme Viktorka etwa hat kein Zuhause, lebt verrückt geworden allein im Wald, ihr uneheliches Kind hat sie im Fluss ertränkt. Auch die Großmutter hat Leid erfahren: Ihr Mann wurde in die preußische Armee eingezogen und starb an den Folgen einer Kriegsverletzung. Ihre Tochter wiederum ist um das zukünftige Glück der Kinder besorgt und hofft, dass ihnen in freudlosen Zeiten die Erinnerung an ihre glückliche Kindheit ein Trost sein wird. Am Ende des Buches stirbt die Großmutter friedlich im Kreis ihrer Familie im Haus auf der Alten Bleiche. Die Schauplätze und Figuren des Romans weisen Ähnlichkeiten mit realen Orten und Menschen aus Němcovás eigener Kindheit in Ratibořitz auf. Ihre Großmutter Magdalena Novotná war zwar einst zu Němcová und ihrer Familie gezogen, allerdings nur für kurze Zeit, und man wohnte nicht in dem Haus auf der Alten Bleiche, sondern etwas weiter weg vom Fluss in einem Haus, das bereits Mitte der 1850er Jahre abgerissen wurde. Němcová, ihre Geschwister und die Großmutter haben niemals die adelige Schlossherrin besucht, um mit ihr einen geselligen Nachmittag zu verbringen oder sich porträtieren zu lassen. Im wirklichen Leben gab es keine Viktorka mit einem unehelichen Kind, wie Němcová eines war, bevor ihre Eltern kurz nach ihrer Geburt heirateten. Die Grenzen zwischen Fiktion und Wirklichkeit und zwischen Autorin und Romanfigur verschwimmen wie so oft in autobiografisch angelegten Texten – jedoch ebenso bei den aristokratischen Interieurs und den nunmehr national

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Ein Roman als Ausstellungsparcours in der sozialistischen Tschechoslowakei aufgeladenen Wohnräumen, die nach der kommunistischen Machtübernahme von 1948 im „Großmuttertal“ eingerichtet wurden. Keine andere Frau der tschechischen Geschichte ist in so großem Stil und so oft gefeiert worden wie Němcová, die wegen ihres schriftstellerischen Werkes – neben „Babička“ verfasste sie zahlreiche Kurzgeschichten – und ihrer frühen Beiträge zur „nationalen Wiedergeburt“ verehrt wird. Galionsfiguren dieser Bewegung wie František L. Rieger und František Palacký befanden sich 1862 unter den Trauergästen, als sie auf dem Prager Friedhof Vyšehrad/Wyschehrad beigesetzt wurde, wo renommierte tschechische Persönlichkeiten aus Politik und Kunst ihre letzte Ruhestätte finden. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde die auf Němcovás Roman basierende Oper „Auf der Alten Bleiche“ („Na starém bělidle“) von Karel Kovařovic am Prager Nationaltheater uraufgeführt. Ihre Werke und Briefwechsel wurden in unzähligen Editionen herausgegeben. Mit der Unabhängigkeit der Tschechoslowakei im Jahr 1918 schienen sich die patriotischen Gefühle und die Verehrung von Němcová und ihren Romanfiguren nur noch weiter zu vertiefen. 1919 entstand in Böhmisch Skalitz das erste ihr gewidmete Museum, 1922 wurde die von Otto Gutfreund geschaffene Skulpturengruppe „Großmutter und ihre Enkelkinder“ („Babička s jejimi vnoučaty“) in Ratibořitz aufgestellt, zudem wurde ihr beliebtes Buch mehrmals verfilmt (1922, 1935 und 1940). Nach dem Zweiten Weltkrieg rissen die Gedenkfeiern für Němcová nicht ab, vor allem nicht nach dem „Siegreichen Februar“, als man ihre nationale Zugkraft in den Dienst sozialistischer Indoktrination stellte. So gab es 1950 anlässlich des 130. Geburtstags der Autorin sorgfältig durchorganisierte Feierlichkeiten, die sich über das ganze Jahr erstreckten: Karel Pokorný wurde mit der Schaffung eines Denkmals für Němcová beauftragt (das 1955 auf der Prager Sofieninsel enthüllt wurde), an ihrem Grab wurde eine Gedenkfeier abgehalten, aus deren Anlass Präsident Gottwald einen Kranz übersandte, eine Briefmarke mit ihrem Porträt wurde aufgelegt und nicht zuletzt die Umgestaltung der Wohnräume im „Großmuttertal“ in Angriff genommen, wobei das Augenmerk darauf lag, jene Welt wiederherzustellen, in der Němcovás zwar auf realen Personen basierende, aber fiktive Romanfiguren lebten. Präsident des Planungskomitees für die Gedenkfeiern zum 130. Geburtstag war Zdeněk Nejedlý (1878–1962), der als Stalinist und mächtiger kommunistischer Minister für Schulwesen und Volkskultur sowohl bei der Machtübernahme der Kommunistischen Partei als auch bei der

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Cathleen M. Giustino Umgestaltung der Tschechoslowakei und der Institutionalisierung des sozialistischen Realismus in der staatlichen Kulturpolitik eine wichtige Rolle spielte. Die Gedenkfeiern von 1950 für die nationale Ikone Němcová boten ihm eine geeignete Plattform, um die offizielle Auffassung von der Rolle der Kunst – und somit auch der Literatur – für den Aufbau des Sozialismus zu propagieren, und dies im dunkelsten Abschnitt der Geschichte der sozialistischen Tschechoslowakei, das heißt in der Zeit der Schauprozesse mit ihren gänzlich erfundenen Anklagepunkten und ihren sehr realen Todesurteilen. Die Verbindung von nationaler Erinnerung mit kommunistischem Machtanspruch war eine Einladung zur mentalen Flucht vor den Härten des Alltags. Nejedlý präsentierte seine Botschaft von der Kunst und dem Aufbau des Sozialismus in verschiedenen Reden anlässlich von Geburtstagsfeierlichkeiten für Němcová, wie etwa am 5. Februar in Böhmisch Skalitz: „Wenn wir Babička lesen, sind wir glücklich, und es gibt nichts Schöneres als dieses Glück. Wer es versteht, Glück zu verbreiten, ist der größte Wohltäter.“ (O.  V. 1950c) Am 9. Februar erklärte er im Prager Künstlerhaus (dem Rudolfinum), dass „schon allein die Erwähnung des Namens Božena Němcová uns über das ganze Gesicht strahlen lässt und uns eine wohlige Wärme durchströmt“. Nejedlý argumentierte: „Ich kenne keinen anderen Menschen [...], der das Leben so wunderbar fand wie Božena Němcová. [...] Sie wusste so viel – sie wusste um den Charme, die Schönheit und die Freude des Lebens, ihr war aber auch bewusst, was ein schweres, unglückliches Leben bedeutet.“ Nejedlý wies sein Publikum schließlich auf eine weitere, nicht zu unterschätzende Fähigkeit der Autorin hin, Fiktion als Wirklichkeit erscheinen zu lassen: „Babička ist keine Beschreibung ihrer Jugend, sondern eine fast durchweg poetische Darstellung“. Von Němcová „lernen wir, wie Kunst eine Realität erschaffen kann und wir nicht einmal erkennen, dass es sich nicht um die Realität handelt“ (o.  V. 1950e). Den krönenden Abschluss der Feiern zum 130. Geburtstag von Němcová bildete die „Nationale Pilgerfahrt“ ins „Großmuttertal“, die vom 24. bis zum 25. Juni 1950 stattfand – nur zwei Tage bevor am 27. Juni Milada Horáková und ihre Mitangeklagten als frühe Opfer der Schauprozesse in der sozialistischen Tschechoslowakei im Gefängnis Pankrác/ Pankratz hingerichtet wurden. (Horáková, die bereits der tschechischen Widerstandsbewegung gegen die Nazis angehört hatte, war 1949 verhaftet und wegen angeblichen Hochverrats und Verschwörung gegen das kommunistische Regime angeklagt worden.) Die Pilgerfahrt wurde

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Ein Roman als Ausstellungsparcours in der sozialistischen Tschechoslowakei unter anderem vom Kreisnationalkomitee (Krajský národní výbor), vom Tschechoslowakischen Jugendverband (Československý svaz mládeže) und von Gruppen innerhalb der Nationalen Front (Národní fronta) organisiert und mit einem Leitspruch überschrieben, in dem sich Nejedlýs Botschaft von Kunst und Glück widerspiegelte: „Wir arbeiten im Geiste von Božena Němcová für ein glückliches Leben in unseren Dörfern.“ An der zweitägigen Feier nahmen ungefähr 30.000 Personen teil (vgl. o.  V.: Národní pout’ v Babiččino údolí). Ursprünglich hätte Nejedlý eine Rede halten sollen, da er aber der Veranstaltung fernblieb, sprach stattdessen der Minister für Binnenhandel František Krajčír am Sonntagvormittag auf dem zentralen Sammelplatz der Pilgerfahrt vor der Brauerei in Böhmisch Skalitz. In dieser Rede pries er nicht nur Němcová als Inspiration für den Sozialismus, sondern er verkündete auch, dass den ländlichen Gebieten glückliche Zeiten bevorstünden. Er appellierte an sein überwiegend bäuerliches Publikum, hart zu arbeiten, um eine gute Ernte einzubringen, und warnte vor den drohenden Gefahren des westlichen Imperialismus für Frieden und Fortschritt (vgl. o.  V. 1950a). Der Einheitsverband der tschechischen Landwirte gestaltete eine Ausstellung über die Kollektivierung der Landwirtschaft und andere Wohltaten des Sozialismus. Eingebettet war diese Lektion in Ideologie in ein buntes Unterhaltungsprogramm aus philharmonischem Konzert, Trachtengruppen und Chören. Das mit Abstand ambitionierteste und am längsten wirksame Projekt im Rahmen der Feiern zum 130. Geburtstag Němcovás war jedoch die Umgestaltung der Bauten im „Großmuttertal“ zu einem Ort der Imagination, der die Lebenswelt der legendären Großmutter anschaulich und präsent machen sollte. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs befand sich Ratibořitz im Besitz von Prinz Friedrich zu Schaumburg-Lippe, der trotz seiner deutschen Staatsangehörigkeit nicht mit den deutschen Besatzern kollaboriert hatte. Dennoch zählten er und seine Frau zu jenen rund drei Millionen Deutschen, die ab dem Herbst 1945 aus der Tschechoslowakei ausgebürgert wurden. Kurz zuvor war sein gesamtes Vermögen gemäß den Bestimmungen des von Präsident Edvard Beneš im Juni 1945 erlassenen Dekrets Nummer 12 konfisziert worden.1 Nach dem Beneš-Dekret

1  Dieses vorkommunistische Dekret verfügte die Enteignung allen landwirtschaftlichen Vermögens der sogenannten „Feinde des Volkes“, d.  h. Personen mit deutscher und magyarischer Muttersprache – ohne Rücksicht auf die Staatsangehörigkeit –,

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Cathleen M. Giustino Nr. 12 gingen an die 800 Schlösser und Herrensitze einschließlich ihres Inventars, von den üblichen Haushaltsgegenständen bis hin zu wertvollen Kunstwerken und Antiquitäten, in Staatsbesitz über. Etwa 100 dieser Bauten wurden zu staatlichem Kulturbesitz (Státní kulturní majetek) erklärt, was ihre Pflege und Erhaltung garantierte. Auch Schloss Ratibořitz zählte dazu (vgl. Giustino 2013, S. 54). Die als staatlicher Kulturbesitz ausgewiesenen Schlösser und Herrensitze wurden der Nationalen Kulturkommission (Národní kulturní komise) unterstellt, einer 1946 vom Parlament geschaffenen Denkmalschutzbehörde (zu jener Zeit gab es noch ein demokratisch gewähltes Parlament und eine Mehrparteienregierung). Diese Kommission blieb auch nach dem „Siegreichen Februar“ bestehen und war im November 1948 für 22 Schlösser und Herrensitze, darunter Ratibořitz, zuständig. Ein Jahr später waren es 48 und Ende 1951, das Jahr, in dem die Kommission faktisch aufgelöst wurde, war die Zahl auf 95 gestiegen (vgl. Uhlíková 2004, S. 11–66). In vielen dieser Baudenkmäler wurden in den 1950er Jahren Museen eingerichtet, in denen die BesucherInnen einen von staatlichen MuseumsführerInnen geleiteten Einblick in die Wohnkultur des Adels bekamen. Solange die Nationale Kulturkommission bestand, wurde sie von Zdeněk Wirth geleitet, der nicht nur ein angesehener Experte für tschechische Kunst- und Architekturgeschichte war, sondern auch eine führende Rolle im Bereich der Denkmalpflege spielte. Es lässt sich nicht mit absoluter Sicherheit klären, ob Wirth Parteimitglied war, auf jeden Fall erhielt er als Vorsitzender der Nationalen Kulturkommission jedoch Unterstützung von Nejedlý, dem einflussreichen kommunistischen Kulturund Bildungsminister, der Němcová 1950 im Prager Künstlerhaus mit so glühenden Worten gepriesen hatte. Die beiden Männer verband eine Freundschaft, die bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückreichte, und sie konnten auch auf einen gemeinsamen Aufenthalt im „Großmuttertal“ zurückblicken. Nejedlý war Musikwissenschaftler und ein großer Liebhaber der Musik Smetanas. Es ist somit nicht weiter verwunderlich, dass das gemäß den Bestimmungen des Beneš-Dekrets Nr. 12 konfiszierte Renaissance-Schloss Litomyšl/Leitomischl das erste Baudenkmal war, in dem unter Wirths Leitung ein Museum eingerichtet wurde, war doch

aber auch Tschechen und Tschechinnen, die der Kollaboration mit den Nazis beschuldigt wurden. Als Deutsche waren diejenigen Personen anzusehen, die sich nach 1929 in einer Volkszählung als solche deklariert hatten.

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Ein Roman als Ausstellungsparcours in der sozialistischen Tschechoslowakei Smetana in Leitomischl geboren worden. Das Schloss, das sich im Besitz der Adelsfamilie Thurn und Taxis befunden hatte, wurde 1949 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Ratibořitz war das zweite konfiszierte Schloss, das von der Nationalen Kulturkommission als Museum für eine Ikone der nationalen Kulturgeschichte genutzt wurde. Während man aber in Leitomischl keine Ambitionen zeigte, Räume des Schlosses etwa in Schauplätze von Smetanas Opern zu verwandeln, wurde Ratibořitz vollständig zum Schauplatz von Němcovás Roman umgestaltet. Letztlich sollten jedoch beide Orte demselben Zweck dienen, nämlich die sozialistische Ideologie durch die Beschwörung tschechischer nationaler Traditionen zu legitimieren und zu befördern. Wirth begann im Mai 1950 mit der Umgestaltung der Innenräume von Schloss Ratibořitz (vgl. Kaplanová 2002, S. 383–388), wobei Realität und Fiktion ineinander übergingen. Die Ausstattung sollte jener Zeit entsprechen, in der Němcovás fiktive Großmutter und die fiktive Fürstin gelebt hatten, doch konnte Wirth weder auf Innenansichten der Zeit um 1820 noch auf historisches Inventar zurückgreifen. So blieb er auf sein kunsthistorisches Wissen angewiesen, um Räume zu gestalten, die „einen Eindruck vom luxuriösen Leben der reichen Aristokratie im Stile des späten Empire“ vermittelten und einen besonderen „Akzent auf das Zeitalter Ludwigs XVI.“ legten (Wirth 1952, S. 6). Auf diese Weise entstanden etwa ein Dutzend historische Schauräume. Begleitet von FührerInnen, die die Geschichte des Schlosses referierten, begannen die BesucherInnen ihren Rundgang durch Němcovás Romanräume in der Eingangshalle, von wo sie weiter ins Herrenzimmer und danach in die Räume im Obergeschoss geleitet wurden. Hier, im am weitesten von der historischen Realität entfernten Teil des neu ausgestatteten Schlosses, wurden Mobiliar, Gemälde, Porzellan und Gebrauchsgegenstände der Zeit um 1820 präsentiert. Einer der Ausstellungsräume war der Salon der Fürstin, auch „Salon der drei Kaiser“ genannt (Abb. 2), in dem sich einer Legende zufolge einst Fürst Metternich, König Friedrich Wilhelm III. von Preußen und Zar Alexander I. von Russland getroffen haben sollen, um den Beitritt Kaiser Franz' I. von Österreich zur Allianz gegen Napoleon zu diskutieren (vgl. o.  V.: Průvodcovský syllabus). Zu besichtigen gab es zudem das Schlafzimmer der Herzogin (Abb. 3), das Schlafzimmer des fiktiven Pflegekindes der Fürstin (die im wirklichen Leben Herzogin, drei Mal verheiratet und nach der Geburt einer unehelichen Tochter, die nicht bei ihr wohnte, kinderlos geblieben war,

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Cathleen M. Giustino

Abb. 2  Der „Salon der drei Kaiser“, Installation von 1950.

Abb. 3  Das Schlafzimmer der Herzogin, Installation von 1950.

Abb. 4  Das Schlafzimmer der fiktiven Pflegetochter, Installation von 1950.

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Ein Roman als Ausstellungsparcours in der sozialistischen Tschechoslowakei dafür aber drei Pflegekinder hatte) (Abb. 4), die Dienstbotenkammer, das Musikzimmer, den Rauchsalon mit Bibliothek und das Speisezimmer. Obwohl die Einrichtung in den 1950er Jahren und auch später erneut mehrfach umgestaltet wurde, blieb sie stets der Inszenierung von Němcovás Roman verpflichtet. Zur Zeit der Konfiskation im Herbst 1945 hatte sich kein einziger der nunmehr in Ratibořitz präsentierten Gegenstände im Schloss des Prinzen zu Schaumburg-Lippe befunden. Die Ausstattung des letzten Besitzers war abtransportiert worden, um jede Erinnerung an die deutsche Familie zu tilgen. Familienporträts wurden durch von Wirth ausgewählte Gemälde ersetzt, von denen allerdings kein einziges die Herzogin von Sagan zeigte, was bei Besichtigungen Anlass zu erstaunten Fragen gab (vgl. o.  V.: Zpráva o činnosti!). Bei der Ausgestaltung der Schauräume konnte Wirth auf die Depots der Nationalen Kulturkommission zurückgreifen, in denen große Mengen konfiszierten Hausrats lagerten, von antiken Möbeln über Spiegel, Glaswaren und Porzellan bis hin zu Kunstwerken. Bei der Auswahl der Einrichtungsgegenstände und der Herstellung der Schauräume wurde Wirth von seinem Freund und Kollegen Josef Scheybal unterstützt, einem ehemaligen Antiquitätenhändler und Mitarbeiter der Nationalen Kulturkommission, der im konfiszierten Schloss Sychrov/Sichrow lebte, wo man nach 1945 ebenfalls aristokratische Interieurs besichtigen konnte. In der offiziellen Broschüre zu Ratibořitz wies Wirth – vielleicht nicht ohne Stolz – explizit darauf hin, dass die im Schloss ausgestellten Objekte aus 20 verschiedenen Besitztümern stammten (vgl. Wirth 1952, S. 6f.). Die Konfiskationen waren kein Geheimnis, da in der Presse der frühen Nachkriegszeit ausführlich über sie berichtet worden war.2 Dem Rundgang durch die Schauräume folgte im Erdgeschoss eine Ausstellung über Němcovás Roman, die 1950 von Jan Krtička, Direktor des Božena-Němcová-Museums in Böhmisch

2  Im „Salon der drei Kaiser“ standen zum Beispiel Stühle aus Schloss Zahrádky/Neugarten um einen Tisch aus Schloss Doksy/Hirschberg am See. Der Salon der Herzogin war mit vielen kleinen Gegenständen ausstaffiert, darunter einer aus dem 18. Jahrhundert stammenden Bronzeplastik, die Kleopatra auf einer Chaiselongue darstellte (und aus Schloss Náchod/Nachod kam), sowie einem Porträt von Kaiser Franz I. (aus Schloss Mnichovo Hradišteˇ/Münchengrätz). Der Tisch im Speisesaal hatte sich zuvor in Schloss Frýdlant/Friedland befunden, die Stühle in Schloss Karlova Koruna/Karlskron bei Chlumec nad Cidlinou/ Chlumetz an der Cidlina und der Kronleuchter hatte einst in Schloss Adršpach/Adersbach gehangen. Im Rauchsalon mit der Bibliothek standen Büsten von Voltaire und Rousseau aus Schloss Grabštejn/Grafenstein (vgl. o.  V.: Seznam zaˇrízení zámku).

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Cathleen M. Giustino Skalitz und nach dem Krieg der erste Kastellan von Schloss Ratibořitz, konzipiert worden war.3 Auch die Mühle und das Haus auf der Alten Bleiche wurden entsprechend den Schilderungen der Schriftstellerin als Zuhause von Figuren aus ihrem Roman eingerichtet, wobei umfangreiche Adaptierungen notwendig waren. Die Mühle war vor dem Zweiten Weltkrieg zu einer Textilfabrik umgebaut worden, man hatte einen hohen Blechschlot errichtet und das Wasserrad entfernt. Im Jahr 1950 mussten die Fabrikbesitzer und ihre Maschinen weichen, der Schlot wurde demontiert und das Wasserrad rekonstruiert. Bis zum Jahr 1955 wurde noch das Mahlwerk instand gesetzt und der Hauptraum mit Werkzeugen und Gerätschaften ausgestattet, wie sie in Mühlen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verwendet worden waren. (Abb. 5) Zwei kleinere Zimmer hinter dem Hauptraum wurden als Wohnräume gestaltet und so ausgestattet, wie sie die Großmutter und die Kindern bei ihren Besuchen vorgefunden haben könnten. Handbemalte Bauernmöbel und Hausrat aus der Zeit vor 1850 (ebenfalls aus den Depots mit konfiszierten Kulturgütern) vermittelten den Besuchern und Besucherinnen des „Großmuttertals“ ein lebendiges Bild nichtaristokratischer Wohnkultur, wie sie von Němcová in ihrem Buch beschrieben worden war (vgl. o.  V.: Věc: Ratibořice).

Abb. 5  Der Hauptraum des (fiktiven) Hauses der Großmutter, Installation von 1950.

3  Die Ausstellung zeigte unter anderem eine Büste der Schriftstellerin, historische Dokumente, Bilder sowie 186 tschechische Ausgaben und 16 Übersetzungen von „Babicˇka“ (vgl. o.  V. 1950d).

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Ein Roman als Ausstellungsparcours in der sozialistischen Tschechoslowakei Die 1950 begonnene und um 1960 vollendete Umgestaltung des Hauses auf der Alten Bleiche – im Roman das Zuhause der Großmutter – geriet vollends zur Inszenierung fiktiver Realität. Das Haus wurde umgebaut und Němcovás Roman entsprechend mit Babičkas Stube und einer Küche ausgestattet. Dabei verschleierte gerade hier die Reinszenierung der literarischen Fiktion völlig die realen Fakten, denn Němcovás wirkliche Großmutter, Magdalena Novotná, hatte zwar bei ihrer Familie gewohnt, allerdings an einem anderen Ort – nur war dieses Gebäude lange vor 1950 abgerissen worden. Es gab zwar auch Überlegungen, die ehemaligen Wohnräume von Němcovás Familie im sogenannten Panklová-Haus zu rekonstruieren, dessen verwahrloster Zustand jedoch eine Umsetzung des Projekts als zu kostspielig erscheinen ließ, weshalb man bei dem Haus auf der Alten Bleiche blieb. Das Wehr, an dem im Roman die unglückliche Viktorka im Mondschein saß und sang, bevor sie wieder im Wald verschwand, blieb erhalten und ermöglichte den Besuchern und Besucherinnen, dort eine Rast einzulegen und dabei die im Roman geschilderte Landschaft zu betrachten. Schloss Ratibořitz war zwar nur eines von rund hundert konfiszierten Schlössern und Herrenhäusern, in denen Museen eingerichtet und aristokratische Interieurs ausgestellt wurden, es war aber das einzige, in dem man Wohnräume aus einem Roman präsentierte, und somit nicht typisch für die Schlossmuseen in der sozialistischen Tschechoslowakei. Die hohen BesucherInnenzahlen, die das „Großmuttertal“ in den Jahren nach der „Wallfahrt“ von 1950 verzeichnete, machen es dennoch zu einem interessanten Studienobjekt. Im Hinblick auf den Kartenverkauf zeigen Statistiken, dass Schloss Ratibořitz im Vergleich zu den größeren, zentraler gelegenen Burgen Karlštejn/Karlstein und Křívoklát/Pürglitz recht gut abschnitt, an die Zahlen des Schlosses Hluboká nad Vltavou/Frauenberg kamen sie jedoch alle nicht heran. Die BesucherInnen wiederum waren einerseits Urlaubsreisende, andererseits Schulgruppen, die aus der näheren Umgebung kamen, oder Fabrikbelegschaften auf Betriebsausflügen, die von der Revolutionären Gewerkschaftsbewegung (Revoluční odborové hnutí, ROH) organisiert wurden. Niemals jedoch sollte der Besuch von Ratibořitz nur unterhaltsam sein oder die Flucht in die Phantasiewelt eines Buches erlauben, vielmehr sollten dabei ganz im Sinne der kommunistischen Parteiführer Ideologie und Verheißungen des Sozialismus verinnerlicht werden. So warnte eine Parteizeitung vor einer ideologisch unkorrekten Rezeption des „Großmuttertals“: „Aber hört nicht den jovia-

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Cathleen M. Giustino len Müller oder das verrückte Lachen der bedauernswerten Viktorka am alten Wehr! Das alles gehört der Vergangenheit an.“ Dagegen verhießen „die Freude der glücklichen Jugend, die blauen Hemden der Mitglieder der Sozialistischen Jugendbewegung [svazáků] und die roten Halstücher unserer Pioniere“ eine strahlende Zukunft (o.  V. 1950b). Eines darf jedoch nicht vergessen werden: Obwohl von offizieller Seite großes Interesse daran bestand, die museale Inszenierung parteikonform auszulegen, waren die Wohnräume nicht klar und eindeutig ideologisch codiert. Die in Ratibořitz und anderswo zur Schau gestellten Wohnräume boten nicht einmal Erklärungen in Form von Schildern, und auch die Vermittlung durch FremdenführerInnen waren eher selten eng dogmatisch, wenn sie die aristokratische Seite des Wohnens im „Großmuttertal“ und anderswo erläuterten (vgl. Giustino 2013, S. 60–65). Eine Inszenierung von Vergangenheit ohne verbindlich autoritär-ideologische Orientierung ließ somit genügend Freiheit, um ohne ideologische Scheuklappen durch die Räume zu gehen und die Gedanken in verschiedene – auch nationalistische und nostalgische – Richtungen schweifen zu lassen. Seit der „Samtenen Revolution“ von 1989 sind viele der nach dem „Siegreichen Februar“ konfiszierten Schlösser, Kunstwerke und Antiquitäten an ihre früheren BesitzerInnen oder deren ErbInnen restituiert worden. Die davor auf Grundlage der Beneš-Dekrete konfiszierten Besitztümer, wie auch Ratibořitz, sind weiterhin in staatlicher Hand. Die Tore von Ratibořitz bleiben also offen und es gibt auch weiterhin Führungen durch das Schloss. Sie beginnen im Obergeschoss, wo zum Teil noch die von Wirth im Jahr 1950 arrangierten Ausstattungen und Dekorationen der Zimmer zu sehen sind, und werden im Erdgeschoss fortgesetzt, wo die adelige Lebenswelt nunmehr aus einer postsozialistischen Perspektive präsentiert wird. Dieser Teil der Ausstellung umfasst Möbel, Einrichtungsgegenstände, Dekorationen und Familienporträts, die sich einst im Besitz der Familie Schaumburg-Lippe befanden, womit nun die Grenze zwischen Realität und Fiktion deutlicher erkennbar ist. Dennoch sind die Führungen durch das Haus auf der Alten Bleiche noch immer so angelegt, als ob die Großmutter tatsächlich dort gelebt hätte. Nach wie vor wird also eigentlich der Roman ausgestellt – und damit die imaginäre Lebenswelt, auf denen die Arbeit an der tschechisch-nationalen Erinnerungskultur seit dem 19. Jahrhundert aufbaute. Aus dem Englischen übersetzt von Friederike Kulcsar

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Ein Roman als Ausstellungsparcours in der sozialistischen Tschechoslowakei Literatur

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300

Cathleen M. Giustino Abbildungsnachweise Abb. 1: Cathleen M. Giustino. Abb. 2–5: Nationales Denkmalinstitut der Tschechischen Republik in Prag.

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Christina Threuter

Ausschlüsse des Unerwarteten „Das deutsche Wohnzimmer“ – ein Fotobuch von Herlinde Koelbl

„Zeige mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist“ ist ein weithin bekanntes und selten hinterfragtes Sprichwort, das besagt, dass der Wohnstil eines jeden als Spiegel seiner Persönlichkeit angesehen werden kann. Diese Auffassung, dass sich die Persönlichkeit des Bewohners mit seiner Wohnungseinrichtung überblendet, etablierte sich bereits im 19. Jahrhundert: Im Zuge der verstärkten Ausbildung des Privaten in der bürgerlichen Gesellschaft wurde die Wohnung als privater Raum zum Heim, d.h. zum Gegenpol des öffentlichen Raums entworfen. Die Wohnung wurde zum Rückzugs- und zum Entfaltungsort des modernen bürgerlichen Subjekts erklärt und das Modell des Individualismus als unverwechselbaren Ausdrucks der Persönlichkeit avancierte zum modernen Leitbild. Eine besondere Bedeutung erhielt in diesem Zusammenhang die häusliche Ausstattung, die zum Spiegelbild des Individuums erklärt wurde. Zu dieser Vorstellung des Privaten zählte insbesondere die Konstruktion des Innenraumes als „Stimmungsgehäuse“, als psychisierter Ort der Innenwelt gegenüber der Vorstellung vom Außenraum, wie ihn Walter Benjamin beschrieben hat (Benjamin 1982, S. 292). Die Frage, ob das Wohnzimmer der Persönlichkeit und dem sozialen Status seiner Bewohner entsprechend authentisch ausgestattet sei, treibt auch die Fotografin Herlinde Koelbl Ende der 1970er Jahre in ihrer Fotoserie „Das deutsche Wohnzimmer“ um. Koelbl verknüpft hierbei das Individuelle mit dem Nationalen in der Frage nach der ‚Authentizität der Räume‘. 1980 publiziert sie zusammen mit dem Journalisten und Architekturkritiker Manfred Sack in einem Fotobuch zahlreiche Schwarzweißfotografien, die sie bei ihrem ‚Streifzug‘ durch deutsche Wohnzimmer gewissermaßen als anthropologische Feldforscherin erstellt hat. Sie fotografiert allerdings nicht nur die Wohnzimmer, sondern auch die BewohnerInnen dieser Räume. Jeder Fotografie fügt sie Berufs- und Altersangaben zu den jeweiligen BewohnerInnen sowie deren persönliche

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Ausschlüsse des Unerwarteten Aussagen zur Lebens- und Wohnsituation hinzu. Zwei Essays zum Wohnen von Manfred Sack und Alexander Mitscherlich rahmen die Bilderserie. In ihrem Klappentext weist Herlinde Koelbl den BetrachterInnen des Fotobuchs die verantwortungsvolle Rolle zu, sich ein Urteil über die „Wohnkultur“ als „Ausdruck der kulturellen und zivilisatorischen Situation“ unserer „Gesellschaft“ und unserer „Nation“ selbst zu bilden. Der große Erfolg, den dieser Fotoband wie auch die anderen Bücher von Herlinde Koelbl zu Schlafzimmern, Politikerinnen und Politikern, Männern, „Jüdischen Porträts“, „Starken Frauen“ oder auch „Feinen Leuten“ hat, scheint der Fotografin Recht zu geben: Das öffentliche Interesse, die Authentizität von Menschen anhand der sie umgebenden alltäglichen und privaten Gegenstände, ihrer Physiognomie und ihres Habitus zu ergründen und zu belegen, ist offenbar immens groß. Dabei geht Koelbls Anspruch in ihrem Fotoband zu deutschen Wohnzimmern allerdings noch weit über diesen Aspekt hinaus, denn ihr Ziel ist es, gegen nichts weniger als die „Gedankenlosigkeit“ und den „Mangel an Kritik“ an der „Scheinkultur einer konsummächtigen Industrie“ anzugehen und für eine „wahrhafte Wohnkultur“ einzutreten: Die Frage nach der „Wohnkultur“ hat für sie eine gesellschaftliche bzw. nationale Relevanz (Koelbl/Sack 1980, Klappentext). Auch dieses Anliegen nach einer „wahrhaften Wohnkultur“ reicht bis ins 19. Jahrhundert zurück: So formierte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die neue Gattung der Wohnratgeber hauptsächlich als Medium zur Erziehung zu einer Wohnkultur. Vordringliche Absichten dieser Publikationen waren u.  a. ökonomische Interessen, die Bindung der Familie an das Heim, die Formulierung des Heims als kleinste patriarchale Ordnungseinheit des Staates und die Festschreibung von Rollenzuweisungen im Haus, beispielsweise die der Hausfrau und die des Hausvorstands (vgl. u.  a. von Falke 1871; Hirth 1882). Das Modell der strikten Trennung des privaten vom öffentlichen Leben sowie die Behauptung des Individualismus in Lebensstil, Wohnungsausstattung und Haus beförderte die enorme Bedeutung des bürgerlichen Wohnens und damit der bürgerlichen Wohnhausarchitektur (im Zuge der Herausbildung der modernen arbeitsteiligen Industriegesellschaft) bis ins 20. Jahrhundert hinein. Eine Erziehung zur Wohnkultur forderten vor diesem Hintergrund beispielsweise die Architekten Hermann Muthesius, Adolf Loos und Bruno Taut. In dem Ziel, die Wohnkultur zu heben, wurde eine große Chance für die Umsetzung von sozialen und kulturellen Reformen

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Christina Threuter gesehen, vor allem in Bezug auf die Wohnverhältnisse der Massen sowie in der Ablehnung des dekorationsreichen, eklektizistischen Interieurs. In den 1920er Jahren wurde der moderne Architekturdiskurs überwiegend von Konzepten zum „befreiten“ oder auch „Neuen Wohnen“ bestimmt: Ein Universalismus im Dienst der sogenannten Befreiung des Individuums durch rationalisierte Gestaltungsweisen wurde proklamiert und trug zum Mythos der Transparenz sowie der Demokratisierung des modernen architektonischen Raums bei. In der gezielten Abgrenzung vom Nationalsozialismus wurde in der BRD der Nachkriegszeit u. a. an die modernen gestalterischen Konzepte der Weimarer Republik angeknüpft. Besonders der Deutsche Werkbund sah sich in der Rolle eines Erziehers für eine demokratische Wohnkultur, beispielsweise bei der ersten deutschen Werkbundausstellung 1949 in Köln mit dem Titel „Neues Wohnen“ oder auch bei der 1949/50 veranstalteten Ausstellung „Wie wohnen?“ in Stuttgart und Karlsruhe. Auch Alexander Mitscherlichs Publikation „Die Unwirtlichkeit der Städte“ aus dem Jahr 1965 ist vor diesem nachkriegsgeschichtlichen Hintergrund zu sehen. Mitscherlich wendet sich darin vor allem gegen die modernen rationalistischen Leitbilder sowohl in Bezug auf aktuelle städtebauliche Fragen und Planungsgrundlagen als auch in Hinsicht auf funktional standardisierte Gestaltungsmodelle in der Architektur und im Wohnen. Aus diesem Buch, das Mitscherlich als „Pamphlet“ deklariert und mit dem programmatischen Untertitel „Anstiftung zum Unfrieden“ versieht, nimmt Koelbl ein Kapitel in ihr Fotobuch auf. In dem Bestreben, nicht nur einen sozialen Querschnitt der deutschen „Wohnkultur“ zu veranschaulichen, sondern durch ihre Publikation auch für eine „bessere“ Wohnkultur einzutreten, knüpft sie mit ihren Fotografien an die Frage Mitscherlichs an: „Was macht eine Wohnung zur Heimat?“ Koelbl steht damit in einer bürgerlich-sozialreformerischen Tradition der Wohnratgeber, die sie mit dem Manifest des Psychologen und Psychotherapeuten Mitscherlich untermauert. Allerdings gibt Koelbl – im Gegensatz zu den üblichen Wohnratgebern – keine imperativen Anweisungen zur Innenraumgestaltung, und sie führt auch nicht vorbildhaft vor, wie ein ‚authentisches‘ Wohnen zu gestalten sei, vielmehr vertraut sie wohl als Fotografin und in ihrem Selbstverständnis als Künstlerin der Suggestivkraft und Bildrhetorik ihrer Fotos, die intertextuell – also zusammen mit den Zitaten der BewohnerInnen und den beiden Begleittexten – gelesen werden sollen.

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Ausschlüsse des Unerwarteten Das Wohnzimmerbild von „Gottfried E.“ Im Folgenden werde ich dieser intertextuellen Bildrhetorik in den Wohnzimmer-Fotografien Koelbls nachgehen und erörtern, zu welchem Ergebnis Herlinde Koelbls fotografische Bestandsaufnahme der „deutschen Wohnzimmer“ führt. Besonders auf eine der insgesamt 130 Fotografien werde ich ausführlicher eingehen, da ihr in wissenschaftlichen Untersuchungen zur Frage nach der Alltagspraxis des Wohnens besondere Beachtung geschenkt wurde: Es handelt sich hierbei um das Foto des Wohnzimmers von „Gottfried E., 54, Rentner“. (Abb. 1)

Abb. 1  „Gottfried E., 54, Rentner“.

Die BetrachterInnen folgen dem Blick der Fotografin, der von einem leicht erhöhten Standort den Innenraum durchmisst. Von der in die Bildmitte gerückten Raumecke scheinen sich den BetrachterInnen zwei Wände und der Boden samt Ausstattung entgegenzuschieben. Der Raum,

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Christina Threuter dessen Decke nicht sichtbar ist, drängt sich den BetrachterInnen förmlich auf. Im Fluchtpunkt der Ecke trifft der Blick auf eine die BetrachterInnen unmittelbar anblickende männliche Person: Auf einem Sofa sitzend, nimmt sie in etwa die Mitte des Fotos ein und stellt durch ihre zentrale Position auf der übereck geführten Couch und durch ihre Gebärde die Verbindung zwischen den beiden Raumhälften her. Der Mann hält die Arme ausgebreitet und seine rechte Hand ruht auf der Schulter einer jüngeren weiblichen Person. Er hat sie zu sich herangezogen, während die links von ihm sitzende ältere weibliche Person zwar auch von ihm umarmt wird, jedoch etwas von ihm abgerückt sitzt. Über ihr befindet sich ein kleines Stringregal an der Wand, auf dem sorgfältig diverse Dekorationsgegenstände, wie ein Zinnteller und Bierkrüge, arrangiert sind. Vor den drei auf der Couch sitzenden Personen steht ein nicht allzu niedriger Glastisch auf Stahlrohrbeinen. Auf ihm befinden sich eine kleine Tischdecke, Tassen, Flaschen und ein Aschenbecher. Links neben der zentralen Sitzgruppe sitzt eine weitere jüngere männliche Person lässig in einem Sessel. Wie er blicken auch die übrigen Personen die BetrachterInnen unvermittelt an. Hinter dem jungen Mann erhebt sich ein dunkler Schrank, der durch den seitlichen Bildrand nur teilweise zu sehen ist. Die Ausstattung des Raums wird vom seriellen Blumenmuster der Tapete bestimmt, das lediglich von zwei isoliert wirkenden Bildern, einem Zinnteller, einer nicht näher zu bestimmenden Konsole und dem kleinen Stringregal unterbrochen wird. Die Bildunterschrift, die das Foto kommentiert, informiert uns ausschließlich über den Vornamen, das Alter und den Berufsstand der älteren männlichen Person. Sie lautet: „Gottfried E., 54, Rentner“. Darüber hinaus wird die hier benannte Figur zitiert mit dem Hinweis: „Wir treffen uns fast täglich. Unsere Familie hält zusammen.“ Das Foto auf der gegenüberliegenden Buchseite gibt ein Detail, vermutlich aus demselben Wohnraum der Familie, zu sehen: Es zeigt dieselbe Blumentapete, hier mit einem gerahmten Kinderfoto und einem Lebkuchenherz, auf dem ein Schriftzug beteuert: „Niemand liebt Dich so wie ich“. Herlinde Koelbls Fotografie des Wohnzimmers von „Gottfried E.“ wurde von Jutta Boehe und Gert Selle 1986 als positives Beispiel für eine Darstellung des alltäglichen Wohnens gedeutet. In dieser Darstellung werde „eine Regel durchbrochen“, denn hier zeige sich ein „Akt der alltäglichen Befreiung“, weil Zwänge und Konventionen durch ein „autonomes Gestalten“ unterlaufen würden. In diesem Foto werde der

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Ausschlüsse des Unerwarteten „Eigensinn des Gebrauchens“ 1 deutlich: „Alles scheint zu ‚stimmen‘ in diesem Raum, die Ästhetik der gegenständlichen Dekoration und die sozialen Gesten. Ein Beispiel für viele und für das, was man früher einmal proletarisches Wohnen genannt hat [...]. Das laute Leben dominiert die Vorschrift, die sonst ein Unterschichten-Interieur in seiner ästhetischen Ordnung beherrscht [...].“ (Boehe/Selle 1986, S. 47) Ähnlich bezeichnet auch Mitscherlich in seinem Beitrag die Wohnung als eine „wirkliche Heimat“, wenn Identität durch die „lebendige Unabgeschlossenheit mit mitmenschlichen Beziehungen“ erlebt werden kann. Erst „gemeinsames Erfahren und Mitmenschlichkeit“ würden eine Abkehr vom „konformistischen Wohnverhalten“, das „von einer ständigen Anpassung an die Umwelt geprägt“ sei, ermöglichen. Diese „ständige Anpassung an die Umwelt“ zeige sich beispielsweise in der übertriebenen Haushaltspflege als Wohnfetischismus, der ein Zeichen für zwischenmenschliche Probleme sei (Mitscherlich 1980, S. 140). Mitmenschliche Beziehungen, so Boehe und Selle, seien es auch, die in dem Bild des Wohnzimmers von „Gottfried E.“ den Wohnraum bestimmen würden. Hier komme die unverstellte Persönlichkeit der Familienmitglieder durch die Interaktion im Raum zum Vorschein: Es werde nicht gezeigt, „In dieser Stube sind wir wer“, vielmehr zeige sich hier: „[i]n dieser Stube sind wir wir“. Nicht durch seine Ausstattung werde dieser Wohnraum ausgefüllt, sondern durch das familiäre Ereignis in der Ausstattung. Boehes und Selles These beruht auf einer ablehnenden Haltung gegenüber der Analogisierung von der Innenraumgestaltung mit der Persönlichkeit der BewohnerInnen: „Obwohl einiges daran stimmt, gibt es kaum eine schlimmere Plattitüde der ästhetischen Laienpsychologie als jenen geflügelten Satz: ‚Zeige mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist!‘ Zuverlässig funktioniert diese Wahrnehmung nicht, nur oberflächlich. Das Sofortwissen lässt sich erst gar nicht auf die sozialen und individuellen Intimitäten des Umgangs ein; es verzichtet auf jede Trennschärfe des Urteils zugunsten eines Eindrucks.“ (Boehe/Selle 1986, S. 43) Boehe und Selle halten dieser tradierten Überblendung die Berücksichtigung sozialer Praktiken bzw. Gebrauchsweisen, wie beispielsweise Handlungsstrategien der „Aneig-

1  Es ist Jutta Boehe und Gert Selle in ihrer Studie mit ihrer „Spielraumthese“ durchaus gelungen, „gewöhnlichen Leuten“ eine gewisse Autonomie („Teilautonomie“), d.  h. die Nutzung sozialer und individueller Spielräume, im alltagskulturellen Gebrauch von Dingen zuzuerkennen (vgl. Boehe/Selle 1986, v.  a. S. 49).

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Christina Threuter nung“, im Bereich des Wohnens entgegen. Für sie sind in Darstellungen, wie z.  B. hier in den Fotografien Koelbls, zwischenmenschliche, soziale Ereignisse wesentlich, durch die ihres Erachtens die Raumgestaltung und die Ausstattungsgegenstände nebensächlich werden (vgl. ebd., S. 46). Aber, so möchte ich fragen: Kann man denn auf den Fotos von Herlinde Koelbl die Ausstattung der Zimmer von den dargestellten Personen trennen? Und weshalb wurden den Fotos Angaben zum Berufsstand und zum Alter der BewohnerInnen sowie Zitate hinzugefügt? Handelt es sich tatsächlich um zwischenmenschliche Beziehungen, die zu sehen gegeben werden? Zeigt sich uns in den Fotos ein spezifischer „Eigensinn des Gebrauchens“ als ein „Akt der alltäglichen Befreiung“ von den Zwängen und Konventionen durch ein autonomes Gestalten (ebd., S. 47)?

Einheit in der Vielfalt Beim Durchblättern des Fotobuchs erstaunt, dass Koelbl in einigen Fällen auch Wohnküchen und andere Wohnräume nicht nur von Familien, sondern auch von Wohngemeinschaften, Paaren und Einzelpersonen fotografiert und in den Band aufgenommen hat. Die Vielfalt der abgelichteten Wohnräume und ihrer BewohnerInnen reicht von namentlich so benannten SozialhilfeempfängerInnen, HilfsarbeiterInnen, Angestellten, BeamtInnen bis hin zum Bischof und zu Prominenten, wie dem ehemaligen Landwirtschaftsminister Josef Ertl und der Schauspielerin Elisabeth Volkmann. Herlinde Koelbl betont, dass es ihr in ihren Fotografien um den Einblick in die Wohnräume unterschiedlicher sozialer Schichten, um ein differenziertes Bild des wohlgemerkt „deutschen“ Wohnens geht. Dennoch ist der Raumausschnitt, den die Fotografin zu sehen gibt, häufig derselbe: Die BetrachterInnen schauen in einen guckkastenartig geöffneten Raum, dem einige Male nicht nur die vierte, sondern häufig auch die dritte Wand fehlt. In der Regel wird aber eine für Innenraumdarstellungen typische Raumbühne gezeigt. Unterstützt durch den schwarzen schmalen Rahmen der Fotos auf den weißen Seiten der Publikation präsentieren sich die BewohnerInnen wie auf einer Theaterbühne. Dennoch stellt sich trotz der ungehinderten Sicht in die Räume kein voyeuristischer Eindruck ein, da der Blick entweder aus einigem Abstand in den Raum führt und somit Distanz zwischen BetrachterInnen und BewohnerInnen hergestellt wird oder aber die BewohnerInnen unmittelbar im

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Ausschlüsse des Unerwarteten

Abb. 2  „Josef W., 51, Pfarrer“.

Vordergrund posieren und eine Art Barriere zwischen BetrachterInnen und Raum bilden. (Abb. 2) D.  h., die BetrachterInnen sind zwar mit der Fotografin zusammen zu Gast im Wohnraum, sie nehmen gewissermaßen an dem Akt des Fotografierens teil, werden aber zumeist auf Distanz zum Raum und zu den BewohnerInnen gehalten: In diesen „Momentaufnahmen“, wie sie Koelbl bezeichnet (Koelbl/Sack 1980, Klappentext), blicken die BewohnerInnen in die Kamera und damit die BetrachterInnen unmittelbar an. Sie wissen, dass sie betrachtet werden, und haben sich dafür in Pose gebracht. Koelbl hebt hervor, dass sie die BewohnerInnen so fotografiert hat, wie sie sich positionieren wollten. Sie benutzt unterschiedliche Kameraperspektiven, doch zumeist wählt sie keinen frontalen Kamerablick auf Augenhöhe mit den BewohnerInnen, sondern sie fotografiert von unten nach oben oder aus einer leicht erhöhten Position nach unten. (Abb. 3 und Abb. 4)

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Christina Threuter

Abb. 3  „Franz P., 42, Zimmerer“.

Abb. 4  „Rosa A., 75, Rentnerin“.

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Ausschlüsse des Unerwarteten Die Pose der Frontalität Koelbls Kamerablick fokussiert stets die BewohnerInnen, die dadurch im Vergleich zur Darstellung des Raums monumentalisiert erscheinen. In diesen Fällen wirkt die Decke des Raums niedrig, fast erdrückend, selbst bei realiter hohen Räumen, wie zum Beispiel Dachräumen mit geöffnetem Dachstuhl oder offensichtlichen Altbauten. Gemeinsam ist den meisten der abgelichteten Personen die „Pose der Frontalität“. Wie Pierre Bourdieu herausstellt, handelt es sich hierbei um eine „unnatürliche“, starre Pose, die in unbewusster Absicht eingenommen wird und mit kulturellen Werten verknüpft ist. Es ist eine „Pose der konventionell geregelten Höflichkeit“, die mit dem hoch erhobenen Kopf und dem geradeaus gerichteten Blick Achtbarkeit und Würde gegenüber anderen ausstrahlen soll. In Bezug auf das Fotografiertwerden hängt dies, Bourdieu zufolge, mit dem davon ausgelösten Unbehagen zusammen: Der frontal Posierende nimmt eine konventionelle Haltung gegenüber der Kamera ein, um die „Kontrolle über die Objektivierung des eigenen Bildes“ zu gewährleisten (Bourdieu 2006, S. 94). Und Bourdieu betont: „Das Porträt ist die Objektivierung des Selbstbildes. Es markiert die Grenze der Beziehung zur Außenwelt.“ (Ebd.) Das „Frontalitätsprinzip“ als Würdeformel widerspricht der These der Zwanglosigkeit des Miteinanders von Boehe und Selle. Vielmehr verdeutlicht es die Konvention der Grenze zwischen privat und öffentlich, d.  h. die Grenzordnung zwischen dem privaten Wohnraum und der Veröffentlichung des privaten Raumes. Die frontale Pose als vorab definiertes Bild orientiert sich an sozialen und gesellschaftlichen Normen. Wesentliches Merkmal der Pose des Frontalen ist, dass sie einem kulturell codierten Körper aneignet, wobei, wie Bourdieu sagt, die „Natürlichkeit“ preisgegeben wird. Auch die Haltung, das Gebaren und die Kleidung der einzelnen Familienmitglieder auf dem Wohnzimmerfoto von „Gottfried E.“ folgen einer gesellschaftlichen Normierung, beispielsweise in Bezug auf das Geschlechterverhältnis: So lässt das der Fotografie beigefügte Zitat den Familienvater als Hausvorstand sprechen. Unterstützt wird dies durch seinen vereinnahmenden Gestus den beiden weiblichen Familienmitgliedern gegenüber. Auch die Haltung des jüngeren Mannes, sein lässiges Sitzen im Sessel, verweist auf die Rolle des „Juniorvorstandes“ der Familie. Die beiden Frauen dagegen zeichnen sich eher durch Zurückhaltung gegenüber der Kamera aus: Die Tochter scheint unmittelbar auf das aktiv-vorzeigende Verhalten ihres

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Christina Threuter Vaters zu reagieren und die Mutter scheint schüchtern bzw. unsicher aufgrund des Fotografiertwerdens. Durch das Tragen der Kittelschürze ist sie eindeutig als Hausfrau ausgewiesen. Deutlich wird, dass im Vordergrund der Fotografie die Darstellung des Sozialtypus, die Zuordnung zur sozialen Schicht steht, und auch Bourdieu betont: Der „Abstammung und dem Haus“ kommen mehr Realität zu als den „Individuen, die fundamental durch Zugehörigkeitsverhältnisse definiert werden“ (ebd., S. 95). Dieser Lesart folgend meine ich, dass Herlinde Koelbls Fotografien das bestätigen, was sie zu sehen geben wollen, nämlich kurz gesagt: das Milieu als Porträt.

(Wohn-)Zimmerbilder Doch welches Fotografie-Genre haben wir hier überhaupt vorliegen? Es lässt sich feststellen, dass die BewohnerInnen in ihrem wohnräumlichen Ambiente zumeist als familiäre Einheiten posieren, selbst Haustiere sind in das Familienbild einbezogen. Auch wenn quasi alternative Wohn- und Lebensmodelle vorgeführt werden, herrscht die Vorstellung vom familiären Leben als einer wahrhaftigen Einheit vor. Handelt es sich also eventuell weniger um Innenraumdarstellungen als vielmehr um Familienporträts? Indem die Ausstattung und die Personen durch das Kameraauge eine Wechselbeziehung eingehen, erzeugen sie ein nicht voneinander trennbares, einheitliches und kohärentes Bild. Dazu gehören auch die Namen, Alters- und Berufsangaben der BewohnerInnen sowie die Zitate, die mittelbar, sprechblasenartig die Darstellung kommentieren. Dies entspricht der Charakterisierung des Interieurs, das sich vor allem dadurch auszeichnet, dass alle Teile der Ausstattung „in gegenseitiger, referentieller Ganzheit aufeinander bezogen werden“ (Baudrillard 2001, S. 38f.). Herlinde Koelbls Fotografien stehen somit in der Tradition des biedermeierlichen Zimmerbildes, dem bürgerlichen Raum als einem Ort privater Intimität, der jedoch stets perspektivisch auf ein Außen bezogen blieb. Das Zimmerbild diente in der bürgerlichen Zeit zwischen Aufklärung und Jugendstil als eigenständiges Genre der Vergegenwärtigung der häuslichen Privatisierung und Individualisierung. Die detaillierte Darstellung des Innenraumes folgte zumeist einer Guckkastenperspektive und häufig wurden mehrere Blätter mit unterschiedlichen Blickrichtungen in das Zimmer angefertigt. Diese Ansichten dienten den

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Ausschlüsse des Unerwarteten BetrachterInnen als Garanten eines objektiven Empirismus (vgl. Lukatis 1995, S. 19). Seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts verschmolz die Interieurdarstellung inhaltlich und formal mit der Porträtdarstellung als Projektionsfläche der Individualität, eben gemäß dem Sprichwort „Zeige mir, wie du wohnst und ich sage dir, wer du bist“ (vgl. de Chapeaurouge 1960, S. 137–158). Bekannt sind vor allem die Interieur-Bildnisse des Malers Georg Friedrich Kersting. Wilhelm von Kügelgen bezog sich 1898 in seinen Äußerungen zu den Bildern Kerstings auf dieses Konstrukt der Vergegenwärtigung des Authentischen, der Übereinstimmung von Raum und Individuum im Bild des Interieurs: „Es ist von unleugbarem Interesse, geliebte oder ausgezeichnete und denkwürdige Personen in der ihnen eigentümlichen und ihrem Berufe angemessenen Umgebung zu sehen, die, wo sie sich auf charakteristische Weise gestaltet hat, keine Zufälligkeit mehr ist, so wenig als das Haus der Schnecke, das aus ihr selbst hervorgeht.“ (von Kügelgen zit.  n. Schoch 1995, S. 14) Die Ansichten historischer Innenräume bekannter Persönlichkeiten dienten vor allem der sinnbildlichen Vergegenwärtigung bürgerlicher Moral- und Tugendvorstellungen. Lithografische oder radierte Interieurs erfreuten sich ab etwa 1830 großer Beliebtheit; druckgrafisch reproduziert dienten sie als Wandschmuck vieler bürgerlicher Wohnungen (vgl. Lukatis 1995, S. 18ff.). Auch in der Darstellung eines menschenleeren Raumes wurde das Interieurbild gewissermaßen als „Seelenlandschaft“ bildwürdig (Schoch 1995, S. 14). So schrieb der Maler Gustav Carus (1789–1869) 1815 an einen Freund: „Nun von was denn erzählen? Wissen Sie wovon? Jetzt fällt mirs ein: ich beschreibe Ihnen etwas genauer meine Wohnung! Weiß Gott, mir ist’s immer fatal, wenn ich an irgend einen Freund denke, mir nicht seine nächsten Umgebungen hinzu denken zu können; wie zu einem lebensgroßen Porträt immer ein Zimmer oder so etwas als Hintergrund gehört, so tritt auch das Bild eines Menschen in Gedanken lebhafter hervor, wenn ich mir seine Umgebung hinzudenke. Aber zu dem Ende wird eine kleine Zeichnung besser sein als viele Worte.“ (Carus zit.  n. Lukatis 1995, S. 23) Das Zimmerbild suggeriert Unmittelbarkeit und Nähe, es suggeriert, dass die Lebensumstände, Gewohnheiten und Neigungen eines Menschen aufgrund des Einblicks in seinen scheinbar authentisch-privaten Raum nachvollzogen werden können. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde dieses malerische Genre durch die Fotografie abgelöst.

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Christina Threuter Vom Zimmerbild zur Zimmerfotografie Bourdieu, der sich den sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie zugewandt hat, betont, dass „das photographische Bildnis in seiner gebräuchlichen Gestalt als privates Produkt für den Privatgebrauch Bedeutung, Wert und Reiz nur für einen begrenzten Personenkreis gewinnt, nämlich zuallererst für jene, die es gemacht haben, und für die, die sein Gegenstand sind.“ (Bourdieu 2006, S. 98) Als „mißbräuchlich“ wird empfunden, „wenn bestimmte öffentliche Ausstellungen von Photographien [...] für private Objekte etwas in Anspruch nehmen, was das Privileg des Kunstgegenstandes ist, nämlich die Zustimmung aller.“ (Ebd.) In Bezug auf die Fotografien von Herlinde Koelbl ist dies ein zentraler Aspekt: So ist nicht nur das gewählte Genre des Zimmerbildes Projektionsfläche des Privaten, sondern auch die BetrachterInnen des sehr populären Fotobuchs sind in ihrem persönlichen Urteil angesprochen. Bourdieu betont, dass bei dem privaten Gebrauch der Fotografie die ästhetischen Qualitäten eines Fotos meist in den Hintergrund treten zugunsten einer „funktionellen Ästhetik“: „Der Gebrauch, der gemeinhin von der Photographie gemacht wird, schließt die Frage nach der Universalität des produzierten oder betrachteten Bildes nahezu aus.“ (Ebd., S. 99f.). Fotos werden aufgrund ihrer Funktion beurteilt, „die sie in den Augen des Betrachters erfüll[en] oder nach dessen Meinung für diesen oder jenen Betrachter erfüllen könnte[n]“, daher nimmt das ästhetische Urteil meist die Form eines hypothetischen Urteils an, „das sich auf die Anerkennung von ‚Genres‘ stützt“ (ebd.). Bourdieu zufolge, ist es also für die BetrachterInnen evident, dass sich im vorliegenden Genre des Zimmerbildes Innenraum und BewohnerInnen überblenden und eine Wechselbeziehung eingehen: Die BetrachterInnen gehen von der Kohärenz der Darstellung aufgrund des Genres aus.

Wohnzimmerbilder als „Sinnbilder totaler Ordnung“ Die „totale Ordnung“ ist auch in dem fotografierten Raum, der hier ein Behälterraum des kulturell codierten Körpers ist, vorgegeben. Seine Aufgabe ist es, wie Baudrillard schreibt, als „Gefäß“ zu dienen. Baudrillard zufolge kommt auch den Ausstattungsgegenständen diese

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Ausschlüsse des Unerwarteten Funktion „in der Vorstellung“ zu: „‚Als Sinnbild einer totalen Ordnung‘ dienen sie der Herstellung von Kohärenz von Raum, Ausstattung und Bewohner“. Der Raum wird dabei zum „symbolischen Äquivalent des menschlichen Körpers [...], dessen eindeutige organische Züge zum Musterbeispiel eines idealen Integrationsschemas der sozialen Strukturen verallgemeinert werden. All das ergibt eine totale Lebensweise, deren Grundordnung die Natur als originelle Substanz ist, von der sich alle Werte ableiten.“ (Baudrillard 2001, S. 38f.) Die ‚Gegenstände‘ werden auf diese Weise grundsätzlich anthropomorph, denn „der Mensch ist folglich mit den ihn umgebenden Gegenständen auf die gleiche innige und intime Weise verbunden wie mit den Organen seines eigenen Körpers und das Inbesitznehmen des Gegenstandes zielt virtuell immer auf die Wiedergewinnung dieser Substanz“ (ebd.). Bezeichnenderweise zeigt das Cover des Fotobuchs ein Wohnzimmerfoto, in dem eben diese „Inbesitznahme“ der Gegenstände veranschaulicht ist. (Abb. 5) Durch seine Pose im Vordergrund des Fotos wird

Abb. 5  „Walter Eckard L., 53, selbständiger Kaufmann“.

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Christina Threuter der Mann als Hausherr wahrgenommen. Durch den Kamerablick von unten ist er monumental ins Bild gesetzt. Seine Figur führt in die Tiefe des Raums und wieder zurück zu ihm: über das Abstützen am Stuhl im Bildvordergrund, das durch seinen Gestus einem vereinnahmenden Griff nahekommt, über die sesselartigen Stühle und die Lampe in der Ecke bis hin zum Sofa mit der sitzenden Frau, die diesmal nicht die BetrachterInnen, sondern ihn anblickt und ihm damit den gesamten Raumbereich übereignet. Herlinde Koelbls wenig kontrastreiche Schwarzweißfotografie unterstützt diese Leseweise der ‚natürlichen‘, wesenhaften Zusammengehörigkeit, denn sie verleiht dem Bildraum mit seinen verschiedenen, aber farblich wenig voneinander differenzierten Elementen – den Personen und den Ausstattungsgegenständen – eine weitere Vereinheitlichung. Dabei wird auch dem Material der abgebildeten Gegenstände keine besondere Beachtung geschenkt: Es ist unwesentlich, ob die Einrichtungsgegenstände aus Holz, Metall oder Glas sind oder ob es sich um textilreiche Innenausstattungen handelt. Das tonige grau in grau von Koelbls Schwarzweißfotos verhindert, dass das Material einen Stimmung erzeugenden Wert erhält. Im Kontext dieser Zimmerbilder hat es keinen Stellenwert. Atmosphäre, wie Kälte bzw. Distanz oder Wärme bzw. Nähe, wird ausschließlich durch die Pose und den Gestus der BewohnerInnen hervorgerufen. Es handelt sich dabei – um mit Baudrillard zu sprechen – um ein anthropomorphes „Gesamtsystem“, das die einzelnen Bildelemente, die Einrichtungs- und Ausstattungsgegenstände sowie die BewohnerInnen erzeugen (ebd.).

Ausschlüsse des Unerwarteten In den Wohnzimmer-Fotografien Koelbls zeigt sich eine Konstruktion des immer Gleichen: Die stereotypen Muster der sozial konnotierten Einrichtungsstile sowie des ebenso konnotierten Habitus der BewohnerInnen verweisen u.  a. durch den Bildausschnitt, die Perspektive, die Pose und die vereinheitlichende kontrastarme Farbgebung darauf, dass es sich um gesellschaftlich normierte und nicht voneinander differenzierte Repräsentationen des Wohnens handelt. Selbst dann, wenn der Wohnraum einer alternativen Lebensform gezeigt wird, wie beispielsweise bei der Fotografie, die „Harald G., 24“, einen „freischaffenden Künstler“, zeigt. Denn hier charakterisiert der unkonventionelle höhlenartige Raum mit

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Ausschlüsse des Unerwarteten seinen Ausstattungsgegenständen das Stereotyp eines Künstlers – dem zum Beispiel Konsum nichts bedeutet.2 Die fotografierten Wohnzimmer strahlen trotz der zumeist zentral und monumental gesetzten BewohnerInnen zum großen Teil wie die Interieurs der Zimmerbilder unbelebte Ruhe aus, selbst wenn in den Wohnräumen Unordnung herrscht. Dieses statische, unbewegliche Bildmoment lenkt den betrachtenden Blick nach innen, während die BewohnerInnen aus ihrem Innenraum geschützt nach draußen blicken, die BetrachterInnen anblicken. Zudem weisen die meisten Innenräume keine Öffnungen nach draußen auf. Wenn Fenster vorhanden sind, so sind sie zumeist verhängt oder das Licht wird von ihnen reflektiert, sodass sie spiegeln. Die BewohnerInnen selbst scheinen auf diese Weise keinen Kontakt mit dem Außen zu haben. Der Wohnraum ist undurchlässig; es handelt sich um die Konstruktion eines Wohnbehältnisses mit impliziten Grenzen. Den Fotografien sind somit Grenzziehungen eingeschrieben. Ich meine, dass hier mit Ausschlüssen gearbeitet wird, nämlich mit der Behauptung, dass die Wohnung Ausdruck der sozialen und kulturellen Rolle des Individuums ist; reproduziert werden klischeehaft soziale Unterschiede sowie das Bild von der Authentizität von BewohnerInnen und Wohnraum. Die von Boehe und Selle konstatierte „Freiheit und Selbstbestimmtheit“ gegenüber der Innenraumgestaltung ist nicht nachvollziehbar, wenn der Rentner „Gottfried E.“ mit seiner Familie dem Klischee des kleinbürgerlichen Familienoberhauptes entspricht, d.  h., wenn ein normiertes Bild der patriarchalen Ordnung zu sehen gegeben wird. Weder das Familienbild noch der Einrichtungsstil irritieren bzw. verstoßen gegen das kleinbürgerliche Normensystem. Das Sampling der Einrichtung – die Bierflaschen, die Bierkrüge, das Lebkuchenherz, das Idol Elvis Presley im Bilderrahmen, die Schondecke über der Couch, die Kleidung, wie z.  B. die Hausschuhe, die Kittelschürze, der folkloristische Hut – sowie die Haltung der einzelnen Personen sind als kleinbürgerliche Codes des

2  M.  E. lassen sich unter den stereotyp konstruierten Wohnzimmer-Fotografien insgesamt drei Darstellungen aufgrund anderer Raumkonstruktionen, interaktiver Handlungen zwischen den BewohnerInnen oder aber aufgrund des Abweichens von tradierten geschlechtlichen Rollenzuweisungen als Ausnahmen bezeichnen. Es handelt sich um die Wohnzimmerfotos von „Gerlinde T., 36, Bankangestellte, Gemeinderätin“, „Edd O., Rentner“, sowie „Martin S., 35, Schriftsteller und Schauspieler/Sylvia S., 36, Schauspielerin, Redakteurin“. (Die Fotoseiten des Buches weisen keine Seitennummerierungen auf, daher nenne ich hier die dort aufgeführten Angaben zu den jeweiligen BewohnerInnen.)

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Christina Threuter Wohnens Referenzen auf ein sozial konnotiertes Familienporträt und nicht auf einen „selbstbestimmten“ und „freiheitlich“ konventionslosen Alltag des Wohnens. In den Fotografien stehen nicht selbstbestimmte Subjekte im Mittelpunkt, sondern es finden Stereotype des Wohnens und der Geschlechter positivistische Bestätigung. Selbst dem Interieur wird keine Komplexität zugestanden, da keine Spannungen zum Beispiel durch Lichtquellen oder auch durch eine kontrastreiche Schwarzweißfotografie erzeugt werden. Es fällt auf, dass darüber hinaus auch die gesellschaftspolitische Realität von migrantischen Haushalten aus dem Fotoband ausgeklammert wird. Vielleicht ist dies darauf zurückzuführen, dass Herlinde Koelbl sich explizit dem Thema des „deutschen Wohnzimmers“ annahm. Aber, so lässt sich angesichts der gesellschaftlichen Realität – auch der 1970er Jahre – in Deutschland fragen: Gab es in der Bodensee-Region, in der Koelbl die Wohnzimmer ihrer ProbandInnen aufsuchte, ausschließlich dem Phänotyp des Mitteleuropäers entsprechende Personen bzw. ausschließlich konventionell mitteleuropäisch geprägte Einrichtungsstile? Ich meine, dass in diesem Fotoband ein territorialer Kulturbegriff – wie ihn der Kulturanthropologe James Clifford formuliert hat (vgl. Clifford 1993) – deutlich wird, denn Koelbl konstruiert in ihren Fotografien einen klar umgrenzten Raum. Es handelt sich hier, so könnte man sagen, um eine anthropologische Feldforschung, die das vorfindet, was sie zu bestätigen sucht: einen privaten Raum im Dienst einer sozial hierarchisierten und national definierten Gesellschaftsidentität, die die Einheit von Kultur und Raum auf das Bild des Interieurs projiziert. Die Frage nach der „Kultur des Wohnens“ scheint, wie Herlinde Koelbl in ihrem Vorwort behauptet, also tatsächlich von nationaler Relevanz zu sein.

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Ausschlüsse des Unerwarteten Literatur

des Genres, in: Großmann, G. Ulrich (Hg.): Mein blauer Salon. Zimmerbilder der Biedermeierzeit (Ausst.-Kat. Germanisches

Baudrillard 2001

Nationalmuseum), Nürnberg: Verlag des Germanischen Nati-

Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Über unser Verhält-

onalmuseums Nürnberg 1995, S. 17–26.

nis zu den alltäglichen Gegenständen (1974), Frankfurt am

Mitscherlich 1965

Main/New York : Campus Studium 2001.

Mitscherlich, Alexander: Die Unwirtlichkeit unserer Städte. 

Benjamin 1982

Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk (1927–1940).  1965. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982.

Mitscherlich 1980

Boehe/Selle 1986

Mitscherlich, Alexander: Konfession zur Nahwelt. Was macht

Boehe, Jutta; Gert Selle: Leben mit den schönen Dingen.

eine Wohnung zur Heimat? in: Koelbl, Herlinde; Manfred

Anpassung und Eigensinn im Alltag des Wohnens, Reinbek

Sack: Das deutsche Wohnzimmer, Luzern/Frankfurt am Main:

bei Hamburg: Rowohlt 1986.

Bucher 1980, S. 135–143.

Bourdieu 2006

Schoch 1995

Bourdieu, Pierre: Die gesellschaftliche Definition der Photo-

Schoch, Rainer: Repräsentation und Innerlichkeit. Zur 

graphie, in: Ders.: Boltanski, Luc u.  a.: Eine illegitime Kunst.

Bedeutung des Interieurs im 19. Jahrhundert, in: Großmann, 

Die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie (1965), hg.  v.

G. Ulrich (Hg.): Mein blauer Salon. Zimmerbilder der Bie-

Philippe de Vendeuvre, Hamburg: EVA/Europäische Verlags-

dermeierzeit (Ausst.-Kat. Germanisches Nationalmuseum),

anstalt 2006, S. 85–109.

Nürnberg: Verlag des Germanischen Nationalmuseums  

de Chapeaurouge 1960

Nürnberg 1995, S. 11–16.

de Chapeaurouge, Donat: Das Milieu als Porträt, in:  Walraff-Richartz-Jahrbuch, Jg. 22, 1960, S. 137–158.

Abbildungsnachweise

Clifford 1993

Clifford, James: Über ethnographische Autorität, in: Berg, Eberhard; Martin Fuchs (Hg.): Kultur, soziale Praxis, Text. Die Krise der ethnographischen Repräsentation. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 109–157. von Falke 1871

von Falke, Jakob: Die Kunst im Hause. Geschichtliche und   kritisch ästhetische Studien über die Decoration und Ausstattung der Wohnung, Wien: Carl Gerold 1871. Hirth 1882

Hirth, Georg: Das Deutsche Zimmer, München: G. Hirth 1882. Koelbl/Sack 1980

Koelbl, Herlinde; Manfred Sack: Das deutsche Wohnzimmer, Luzern/Frankfurt am Main: Bucher 1980. Lukatis 1995

Lukatis, Christiane: Zimmerbilder. Entwicklung und Charakter

320

Alle Abbildungen: Koelbl/Sack 1980.

Theres Sophie Rohde

Von aufgeschlagenen Lektüren und vergessenen Teetassen Auf den Spuren der „Wohnlichkeits- Attrappen“ in Hand- und Warenbüchern sowie in Bauausstellungen der 1920er und 1930er Jahre

„1000 Ideen zur künstlerischen Ausgestaltung der Wohnung“, so lautet der Titel eines Handbuchs von 1926, mit dem der Darmstädter Verleger Alexander Koch zum „guten Geschmack“ im Wohnraum erziehen wollte. Mit solchen Einrichtungen war er vertraut. Denn sie gehörten zu den Kernthemen der von ihm veröffentlichten Publikationen; sei es in seiner Zeitschrift „Innendekoration“ (seit 1890) oder in einem Begleitband zur Darmstädter Mathildenhöhe, den er 1901 als Mitinitiator der weltweit ersten Bauausstellung „Ein Dokument deutscher Kunst“ herausbrachte. Auch ein Vierteljahrhundert später sah er an Anregungen für die Wohnraumgestaltung noch immer Bedarf. So heißt es im Vorwort seines Leitfadens: „Bei den ‚1000 Ideen‘ handelt es sich weniger um die praktische Anleitung für bestimmte Fälle, als um ein belehrendes und anregendes Bilderbuch, das vom ‚Schönen Heim‘ in vielen hübschen Bildern erzählen soll, das sich mehr an Geist und Gemüt wendet, um ihnen zu sagen: Welch herrliche Sache ist es um ein gepflegtes, behagliches Heim! Und welche Lust ist es, an seinem Zustandekommen zu arbeiten! Die ‚1000 Ideen‘ behandeln die Sache des Schönen Heims weniger im Stil einer trockenen Unterweisung als im Stil eines lebendigen, bewegten Gesprächs, einer munteren Plauderei. Sie wollen eine Lobrede auf die gutgeformte Wohnung sein. Sie wollen schöne Einzelheiten darreichen zur Freude und Betrachtung, wie man einem Gaste ein feines Zierstück hingibt, daß er es eine Zeitlang in der Hand halten und mit Muße bewundern kann. [...] Man kann sich einfühlen in behagliche, tiefe Sessel, die am Kamin zum Verweilen einladen. Man findet Beispiele geschickter, anmutiger Lichtführung. Man wird vor feindurchgebildete Sitzgelegenheiten, reizvolle Treppenaufgänge, hohe Büchergestelle geführt. [...] Vor allem will das

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Von aufgeschlagenen Lektüren und vergessenen Teetassen Buch auch zeigen, wie in einem schon fertigen Raum neue, persönliche Betonungen, feinfühlige Pointen eingeführt werden können. Ein Raum kann ‚fertig‘, kann ästhetisch tadellos sein, und doch kann es sehr erwünscht sein, ihm durch reizvollere Anordnung, durch eine pikante Zusammenstellung eine besondere Note, ein bestimmtes Gesicht zu geben.“ (Koch 1926, o.  S.) Diese Zeilen, die vorgeben, ganz beiläufig verfasst worden zu sein, um die Rolle der Bildersammlung zu umreißen, tragen ein besonderes Gemisch an Selbstbeschreibungen in sich. Zu dem Plauderton haben sich verschiedene, teils recht widersprüchliche Erzählbegriffe wie die Lobrede oder das Gespräch gesellt. Erstaunlich ist dabei, dass nicht der Text selbst die narrativen Strategien vollführen soll, sondern die Bilder. So suggeriert Koch, dass über sie der Betrachter in dieser zur Schau gestellten privaten Welt den präsentierten Dingen ganz nah sei. Wer versucht, Wohnräume in Bildern einzufangen, stellt sich eine ambitionierte Aufgabe. Denn es sind Stätten des Wohnens in all ihrer Vielschichtigkeit. Allein das Wohnen zu definieren, ist ein schwieriges Unterfangen. Jeder Versuch bleibt bei einer Abstraktion von etwas, das kaum abstrakt, sondern sehr konkret und persönlich geschieht, trotz konstanter Parameter immer anders aussehen kann. Dieses Persönliche, Vertraute und auf einen sehr engen Kreis Bezogene erschließt sich kaum einer teilnehmenden Beobachtung eines Außenstehenden. Wohnen ist eine Praxis, die über eine tägliche Aneignung des Raums und der Dinge via Benutzung geschieht. Sie werden durch ihre Geschichte und ihre Geschichten zu unsrigen. So braucht und verbraucht das Wohnen Zeit. Es in einer Momentaufnahme festzuhalten, ist schier unmöglich. Schwer ist es ohnehin, mit dem Bild eine Handlung einzufangen. Das ist schon aus Gotthold Ephraim Lessings „Laokoon“ bekannt. In der Schrift aus dem Jahr 1766 werden ausgehend von einer späthellenistischen Plastik die Differenzen zwischen bildender Kunst und Dichtung sowie die Grenzen ihrer Darstellungsmöglichkeiten herausgearbeitet. Neben der materialen Beschaffenheit und den gestalterischen Mitteln sind es ihre Gegenstände, die beide Formen unterscheiden. Während die Handlung der Poesie zuzuordnen ist, gehören etwa zur Malerei, als Exempel für die bildenden Künste, die Körper. Selbst wenn die Bildkunst versucht, Handlungen darzustellen, bliebe es nur bei einer Imitation. Für diese bildliche Illusion muss allerdings eine geschickte Auswahl des eingefangenen Zeitpunkts getroffen werden: „Die Malerei kann in ihren koexistierenden Kompositionen nur einen einzigen Augenblick der Handlung nutzen, und muß

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Theres Sophie Rohde daher den prägnantesten wählen, aus welchem das Vorhergehende und Folgende am begreiflichsten wird.“ (Lessing 2010, S. 115) Es sind damit auszuwählende und prägnante Momente, die eine Simulation ermöglichen und eine Narration entstehen lassen. Ob dies in den „1000 Ideen“ gelingt, lässt sich nur betrachtend prüfen. Beim Blättern durch das Buch finden sich zahlreiche Fotografien beispielhaft durchgestalteter Zimmer. Auffällig ist an ihnen die Perfektion der Abbildungen und Anordnungen. Denn nicht nur die Reihe der Aufnahmen wirkt, als sei sie genauestens durchdacht, auch jeder Raum scheint zu einem Bild hin komponiert worden zu sein. So sind etwa im Herrenzimmer mit Bücherei (Abb. 1) das Wandgemälde, der Schrank und die Porzellankunst aufeinander abgestimmt und weitestgehend symmetrisch aufgestellt. Doch da dies allzu streng und unbelebt anmuten kann, weicht die Zusammenstellung hin und wieder von der Regelmäßigkeit ab – da auch für dieses Einrichtungsarrangement ein harmonischer Bildaufbau gilt. So bricht etwa hinter der gläsernen Tür die nicht immer akkurate Anordnung der Bücher mit der Ordnung des Raums. Auf dem Schreibtisch scheint es, als fänden die Dinge beliebig ihren Platz. Der Stuhl dazu steht schräg, eine Teetasse wurde ,vergessen‘ wegzuräumen und somit wird der Eindruck erzeugt, als habe hier gerade noch jemand gesessen. Der zum Bild hin angeordnete Raum versucht so, ein Geschehen zu vermitteln.

Abb. 1  Herrenzimmer mit Bücherei aus Alexander Kochs „1000 Ideen zur künstlerischen Ausgestaltung der Wohnung“, 1926.

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Von aufgeschlagenen Lektüren und vergessenen Teetassen Doch die sinnvolle Auswahl eines prägnanten Bildmoments bezieht sich nicht nur auf die Vorstellung des sich soeben Ereigneten, sondern auch darauf, dass die vorgestellte Szene selbst beim mehrmaligen Beschauen kein Unbehagen, kein verstörendes Gefühl hinterlässt. Kann die Fotografie des Herrenzimmers dem standhalten? Oder ist die vergessene Teetasse mit einer Pointe vergleichbar – um nur einen der vielen Erzählbegriffe aus dem Vorwort aufzugreifen. Sie macht den besonderen Witz einer Geschichte aus, aber bei wiederholtem Erzählen verliert sie ihren überraschenden Effekt. So gilt es, das vermeintlich Zufällige und Natürliche in diesem Bild zu hinterfragen und über eine Passage von Elisabeth Mährlen-Stuart nachzudenken, die sie 1931 in einem ihrer Aufsätze in Kochs Zeitschrift „Innendekoration“ veröffentlichte: „Man stellt in Wohnräumen (die faktisch ‚zu wenig bewohnt‘ werden) in beabsichtigter ‚Zufälligkeit‘ eine Schale oder einige Teetassen irgendwo hin, legt Bücher und Kunstmappen auf, setzt Teddybären oder Spielpuppen in die Sofa-Ecke. Das Peinliche ist dann nur, daß ein Besucher nach längerer Abwesenheit immer noch an derselben Stelle dieselben Bücher, Mappen, Tassen in derselben ‚Zufälligkeit‘ wiedersieht. Immerhin, zunächst wird durch solche Anordnung doch der Zweck erreicht: Wohnlichkeit vorzutäuschen. Alle diese ‚Wohnlichkeits-Attrappen‘ in der bewohnten Wohnung täuschen irgendetwas vor, was angeblich gerade eben geschehen sein soll. Man hat ‚eben Tee getrunken‘, man ‚liest gegenwärtig das und das Buch‘, ‚beschäftigt sich zur Zeit mit dem und dem Künstler‘. Geschehen, Handlung, Erlebnis, oder eigentlich diese drei im Perfekt, das ist schaubare Wohnlichkeit. Und Talmi-Wohnlichkeit ist: die Spuren eines Geschehens hinterlassen, – das garnicht stattgefunden hat.“ (Mährlen-Stuart 1931, S. 126) Bei der „Wohnlichkeits-Attrappe“ liegt ein kompliziertes Täuschungsmanöver vor. Denn Wohnlichkeit lässt sich an keinem Gegenstand festmachen. So wirken die Teetasse oder die Kunstmappe nicht per se wohnlich. Diese Dinge können erst als wohnlich interpretiert werden, wenn sie als Spuren einer unmittelbar zuvor geschehenen Handlung lesbar sind. Eine besondere Herausforderung bedeutet es, Abdrücke einer Situation zu simulieren, die sich so nicht ereignet hat, und damit eine Als-ob-Situation herzustellen – laut Mährlen-Stuart keine unübliche Praxis, um „zu wenig bewohnten“ Räumen doch den Anschein der Belebtheit zu geben. Zur Tücke der Inszenierung wird jedoch ihre wiederholte Betrachtung. Auf den ersten Blick mag der Zuschauer der Täuschung noch erliegen; beim wiederholten Vorfinden dieser immer gleichen „Zufälligkeit“ wird das

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Theres Sophie Rohde Trugbild entlarvt und es entschleiert sich das Künstliche. Wohnlichkeit wird als Bild respektive als Inszenierung freigelegt. Ob somit die „Einfühlung“, die in den einleitenden Zeilen der „1000 Ideen“ angekündigt wird, gelingen kann, ist fraglich. Lässt sich mit den Fotografien tatsächlich der Eindruck der Nähe vermitteln? Ist der Beschauer den Dingen im Zimmer nähergerückt? Zweifel sind angebracht, denn bei der Betrachtung der Ablichtung ist durch den Grad des Inszenatorischen eine ‚Absperrkordel‘, die vom Bildinneren trennt, nur allzu deutlich vorstellbar. Bleibt es für den Zuschauer ohnehin unmöglich, in das Foto einzutreten, um den Raum neben dem Sehen durch weitere Sinne zu erfahren, so erscheint dies auch nicht erwünscht. Die Dinge haben einen präzisen Platz im Raum gefunden, da sie zum Beschauen, nicht zum Gebrauchen gedacht sind. Jede Änderung durch Eingriff einer anderen Hand als die des Arrangeurs würde den Effekt zerstören: den des gelungenen Bildaufbaus sowie jenen der Simulation einer sich soeben ereignet habenden Handlung. Wie Lessing meint, gibt es nur ausgewählte Momente, um mit dem Bild ein Geschehen zu erzählen. Und ebenso sind es allein vereinzelte und nur in einer bestimmten Anordnung im Raum plazierte Elemente, die als „Wohnlichkeits-Attrappen“ dienen können. Ein Versetzen dieser ist unerwünscht, sonst funktioniert die Narration von Spuren – im Sinne unbeabsichtigter Hinterlassenschaften eines zuvor an-, doch jetzt abwesenden Handelnden – nicht mehr, die hier erzeugt werden soll. Selbst wenn man als Betrachter vermutet, Bewohner in den Räumen aufspüren zu können, zu sehen bekommt man diese in den „1000 Ideen“ nicht. Im ganzen Handbuch findet sich nur eine Fotografie, in der zwei Kinder abgelichtet sind. In ihren Sonntagskleidchen erscheinen sie als dekorative Markierung einer vorbildlichen Dachgartengestaltung. Nicht als lebhafte Subjekte werden sie ins Bild gebracht; ihr Bewegungsdrang wird durch ihre genaue Platzierung und die aufrechte Haltung vielmehr still gestellt. So sehen sie ,hübsch‘ aus, passen ins Bild und sollen ihm alleine durch ihre Anwesenheit einen lebendigen Anschein geben – ohne dass sie ihre Lebhaftigkeit ausleben dürfen. Die Kinder erhalten damit einen seltsamen Objektcharakter, der dem der „Wohnlichkeits-Attrappe“ ähnelt, die ihrerseits Belebtheit ohne sichtbares Subjekt artikuliert. Dies fügt sich in die vorsätzliche Ausklammerung von Personen ein, die sich auch sonst durch den Leitfaden zieht. Ein besonderes Beispiel, das den Gebrauch eines Möbelstücks ohne Bewohner zu zeigen versucht, findet sich in der Fotografie einer Tischsituation. (Abb. 2) Vorgestellt wird ein Speise-Service

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Von aufgeschlagenen Lektüren und vergessenen Teetassen

Abb. 2  Porzellan-Speise-Service aus Alexander Kochs „1000 Ideen zur künstlerischen Ausgestaltung der Wohnung“, 1926.

der Staatlichen Porzellan-Manufaktur Meißen. Kunstvoll arrangiert sind Keramikfiguren, Gläser, Servietten, Besteck und Geschirr. Der in Kochs Vorwort formulierte Wunsch nach einem „hübschen Bild“ soll darin eingelöst werden. Doch ein Mitreden und die Teilhabe des Betrachters in einer lebhaft-legeren Atmosphäre, die er dort mit dem „lebendigen, bewegten Gespräch“, mit der „munteren Plauderei“ ankündigt, fallen aus. Um bei den Erzählbegriffen der einleitenden Zeilen zu bleiben: Mit dieser Darstellung wird vielmehr eine Lobrede ins Bild gesetzt. Zu ihren Eigenschaften gehören der gewählte Ausdruck und eine thematische Geschlossenheit; ihr mangelt es an Spontaneität und sie verbietet sich eine Unterbrechung. Dass auf dem Bild keine Person festgehalten wurde, verwundert nun kaum. Eine Zuspitzung erfährt diese Menschenleere allerdings in der Tatsache, dass es an jeglichem mangelt, was ihn nur theoretisch in der Komposition zulassen könnte. Eine solche entsteht durch Auswahl, die immer auch Auslassung bedeutet. Dieses Ausklammern greift im Foto exakt bei den Objekten, mit denen man sich eine Partizipation und einen Gebrauch der Dinge imaginieren könnte: Es fehlen Stühle und Löffel. Die Suppenteller zu nutzen, würde sich als schwierig herausstellen. Und die mangelnde Sitzgelegenheit versagt es dem Betrachter, sich auch nur gedanklich der Tischsituation beizugesellen. Dinge bestimmen selbst in ihrem Fehlen mit, inwieweit sich in eine Abbildung einfühlen lässt. In

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Theres Sophie Rohde ihrer Abwesenheit sind sie imstande, zu einem Widerstand der Bilder gegenüber einem zu dichten Betrachten zu werden und damit auch zu einem Protest gegenüber Ankündigungen, wie sie aus dem Vorwort bekannt sind. Statt der vorhergesagten Nähe wird der Betrachter vielmehr von der Welt der gezeigten Objekte hinausgedrängt.1

Eine weitere Auffälligkeit der Fotografien der Publikation lässt sich in der Ästhetik der dargestellten Objekte und Raumsituationen ausmachen. Kochs ausgewählte Möbelstücke entsprechen nicht jener modernen Innenraumgestaltung, die 1926 zur Avantgarde gehörte. Andere Wohn- und Einrichtungsbücher beschäftigten sich mit dieser neuen Art, Wohnungen auszustatten, und präsentierten das auch bildlich mithilfe der neusachlichen Dingfotografie. Ein Beispiel gibt Werner Graeffs „Jetzt wird Ihre Wohnung eingerichtet! – Das Warenbuch für den neuen Wohnbedarf“ von 1933. Der Grafiker und Fotograf war 1927 Presse- und Propagandachef der Stuttgarter Ausstellung „Die Wohnung“ und damit verantwortlich für die Begleitpublikationen „Bau und Wohnung“ und „Innenräume“. Diese hielten die Häuser der Weißenhofsiedlung und ihre Einrichtungen in Bildern fest und gaben den Architekten und Gestaltern Raum für theoretische Erläuterungen. Doch wie die Gebäude unterschiedliche Ansätze präsentierten, waren auch die schriftlichen Ausführungen heterogen. Mit den Widersprüchlichkeiten wurden die Leser jedoch alleine gelassen (vgl. Winkler 1981, S. 482). So fühlte sich Graeff veranlasst, einen eigenen Ratgeber zu veröffentlichen: 1931 gab er „Zweckmässiges Wohnen für jedes Einkommen“ heraus. Zwei Jahre später folgte sein Warenbuch. Auf dessen Umschlag heißt es: „Klar und übersichtlich ist hier geordnet, was an Gutem, Zweckentsprechendem auf dem Markt ist und einer strengen Kritik standhalten kann. Die katalogmäßige Anordnung mit Abbildungen in vergleichbaren Maßstäben, mit Kennzeichnung, Angaben der Bezugsquellen und Preise und den Einrichtungsplänen für bescheidenste wie für verwöhnte Ansprüche macht dieses Warenbuch zu einem einzigartigen, unbestechlichen Berater.“ (Graeff 1933, Umschlag) Mit dieser Ankündigung in der Rhetorik der Sachlichkeit, Ordnung und Unbestechlichkeit sowie dem Topos der ‚guten Dinge‘ bezog sich die Publikation ganz auf ihre Wurzeln: das

1  Zu den menschenleeren Fotografien von Dingen und Räumen des Wohnens in der Moderne vgl. auch Vetter 2005 sowie Vetters Beitrag in diesem Band.

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Von aufgeschlagenen Lektüren und vergessenen Teetassen „Deutsche Warenbuch“, das der Deutsche Werkbund zusammen mit dem Dürerbund 1915 veröffentlicht hatte. Darin war ein Kanon ausgesuchter Waren beworben worden, der durch Zweckmäßigkeit sowie Werk- und Materialgerechtigkeit die Gestaltungsgrundsätze der beiden Verbände erfüllte (vgl. Dürerbund-Werkbund Genossenschaft 1915, Vorwort). 1660 Dinge werden hier, zum Zeigen freigestellt, stets gleich in fließbandähnlicher Manier präsentiert und beigelegte Listen informieren über Hersteller, Verkaufspreise und Lieferbedingungen, sodass sich von einem frühen „Käuferführer“ (Rezepa-Zabel 2004, S. 16) sprechen lässt. Als Graeff sein Warenbuch herausbrachte, hatte dieses Genre also schon eine Geschichte von fast 20 Jahren. Die Vermittlungsarbeit stand nicht mehr an ihren Anfängen und so konnte auf einiges, was man zuvor noch als notwendig erachtet hatte, verzichtet werden: etwa auf einen einleitenden Text oder konkrete Einrichtungsvorschläge im Bild. Stattdessen konzentrierte sich Graeff ausschließlich auf das Zeigen von meist einzelnen Dingen, die in Material, Gestaltung und Funktionalität ganz den Mobilitäts-, Rationalitäts-, Hygiene- und Einsparbemühungen der Zeit entsprachen. Die Publikation vermittelt den Eindruck, als seien Verzicht und Reduktion quasi Gestaltungselemente geworden. Denn wie es an schriftlichen Ausführungen mangelt, so ist in beinahe allen Aufnahmen der 328 Objekte die Umgebung verschwunden. Wurden im „Deutschen Warenbuch“ die Fabrikate in zwar leeren, aber noch vorhandenen Räumen gezeigt, ist in Graeffs Pendant die Praxis des Freistellens auf eine neue Ebene gehoben worden: Mithilfe der Retusche hat er die Waren vollkommen aus jeglichem Kontext herausgeschnitten, sodass sie sich auf einer rein weißen, schattenlosen Fläche präsentieren. Angefügt sind nur Informationen zu den Gestaltern, Herstellern, zum Material und Preis. Im Anhang der Publikation finden sich vollständige Einrichtungspläne für Ein- bis Dreiraumwohnungen: von den Möbeln über die Lampen bis hin zum Besteck. Damit wird dem Leser Orientierung gegeben. Was dieses Warenbuch jedoch nicht mit einbezieht – genauso wenig wie die Stuttgarter Bauausstellung – ist die Tatsache, dass ein potenzieller Bewohner vielleicht bereits Möbel besitzt; das bedeutet, von einer persönlichen Vergangenheit und eigenen Dingen wird nicht ausgegangen. So autoritär wie der Titel des Warenbuchs klingt, ist auch der Einrichtungsplan aufgebaut. Mit dem Hang zur Tabula rasa wirkt die Publikation lebensfern: Denn nur mit Neuem einzurichten, stellt vielmehr eine Ausstellungs- und weniger eine Wohnpraktik dar.

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Theres Sophie Rohde Die Geste des Freistellens, die als die Grundoperation des Graeff’schen Ratgebers beschrieben werden kann, bringt somit eine Lebensentzogenheit mit sich. Das ist nicht zuletzt eine Folge der Abtrennung des Objekts von einem Kontext. Damit erscheinen die Dinge in überdeutlicher Präsenz. So müssen sie den Blicken, die sie auf sich ziehen, allerdings auch standhalten können. Auf manchen Abbildungen gelingt dies nur bedingt. Tischlampen etwa werden – entsprechend dem Prinzip des komplett subtrahierten Umraums – ganz ohne den Tisch gezeigt. Dieser würde jedoch den Dingen Halt geben. Auf den Ablichtungen wirkt es, als drohten die Beleuchtungskörper umzukippen. Ähnlich befremdlich ist der Umgang mit ihren Kabeln: Die Stränge enden im Nirgendwo, sind aufgerollt oder erst gar nicht vorhanden. Strom, den sie zum Leuchten brauchen, können sie nicht beziehen. Zweckentsprechendes wird hier also nicht seinem Zweck entsprechend dargestellt. An einer Stelle bricht jedoch diese Ästhetik des Verzichts und der Nüchternheit ein: auf einer Doppelseite mit Tischen von Ludwig Mies van der Rohe und Marcel Breuer. (Abb. 3)

Abb. 3  Doppelseite zur Kategorie Tische aus Werner Graeffs „Jetzt wird Ihre Wohnung eingerichtet! – Das Warenbuch für den neuen Wohnbedarf“, 1933.

Die Formensprache folgt ganz der modernen Sachlichkeit, genauso wie das verwendete Material: Die Beine sind aus Präzisionsstahlrohr, die Tischplatten aus Kristallglas. Ausgerechnet auf diesen Möbelstücken finden sich Objekte wieder, wie sie aus den „1000 Ideen“ bekannt sind: das aufgeschlagene Buch und die Teetasse. Nun präsentieren sie sich

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Von aufgeschlagenen Lektüren und vergessenen Teetassen auf anderem Terrain; aus den schweren Holzmöbeln sind Leichtbaukonstruktionen geworden. Die „Wohnlichkeits-Attrappen“ haben sich in das sachlich nüchterne Werk Graeffs eingeschlichen. Doch so wenig wie sie in den Bildern der Wohnungen Beliebigkeiten darstellen, kann man beim Eindringen in dieses Warenbuch von einem Zufall sprechen. Es lässt sich vielmehr davon ausgehen, dass in Fotografien, bei denen Räume intentional weggeschnitten wurden, genauso bewusst Gegenstände hinzugefügt worden sind; vermutlich um auch hier den Bildern den Anschein von Handlung und Belebtheit zu geben. Damit zeigt sich, was Graeffs Anleitung sein will: nicht nur ein Einrichtungs-, sondern ebenfalls ein Wohnratgeber. Um das Wohnen darstellbar zu machen, greift Graeff auf das tradierte und bewährte Mittel der „Wohnlichkeits-Attrappen“ zurück. Einen Hinweis darauf, dass er tatsächlich nicht nur die neuen Waren präsentieren möchte, sondern gleichzeitig für ein Neues Wohnen werben will, erteilt er selbst, indem er seinem „Warenbuch für den neuen Wohnbedarf“ in einer kleinen Notiz unterhalb der Abbildung des Schranks mit der Ordnungsnummer 18 einen alternativen Titel gibt: „Zweckmäßiges Wohnen, Bd. II“. Die Glastische, die dort zu finden sind, waren ebenso auf der Stuttgarter Ausstellung „Die Wohnung“ präsent, wie die Publikation „Innenräume“ in der Ablichtung eines Raums von Mies van der Rohe be-

Abb. 4  Wohnraum von Ludwig Mies van der Rohe auf dem Stuttgarter Weißenhof, 1927.

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Theres Sophie Rohde legt. (Abb. 4) Auch in diesem Bild lässt sich eines der bekannten Dinge wiederfinden; nicht auf der Glasfläche, sondern auf dem Beistelltisch am Sessel: die aufgeschlagene Lektüre. „Wohnlichkeits-Attrappen“ sind somit nicht nur Teil der Hand- oder Warenbücher. Sie gehören ebenfalls zu den Verfahren des Exponierens. Dies ist kaum verwunderlich, denn im Wohnen selbst sind die Pose und das Ausstellen eines „Belebten“ angelegt – wie die Zeilen von Mährlen-Stuart zeigen. Solche „Attrappen“ wurden im Wohnen selbst hervorgebracht. Auf Bauausstellungen erscheinen sie umso sinnvoller, da es unbelebte Einrichtungen sind. Die präsentierten Wohnungen dieser Expositionen sind also die Zuspitzung solcher „zu wenig bewohnten Räume“, von denen Mährlen-Stuart spricht. Im Herrenzimmer der „1000 Ideen“, jenem noch konkret belebten Raum,2 dienen die „Attrappen“ dazu, Wohnlichkeit zu inszenieren. In den Expositionshäusern des Weißenhofs verhält sich dies anders; es liegt eine Funktionsverschiebung vor: Hier gebraucht man die geöffnet ausgelegten Bücher als Mittel, um visuell erfahrbar zu machen, dass sich diese Räume überhaupt bewohnen lassen.3 So geht es mit ihrem Einsatz auf Bauausstellungen um die Stellvertretung des Bewohnens, das auch immer anders aussehen kann. Denn die eingerichteten Häuser sind nur ein Wohnvorschlag. Angelehnt an Mährlen-Stuart können auf Bauausstellungen Objekte wie die aufgeschlagenen Lektüren und postierten Teetassen auch als „Bewohnbarkeits-Attrappen“ beschrieben werden. Weniger jemanden, sondern vielmehr dem möglichen Wohnen soll der Ausstellungsbesucher dort auf die Spur kommen können. Tatsächlich ist die Spur Teil des Wohndiskurses, wie Walter Benjamin formuliert hat: „Wohnen heißt Spuren hinterlassen.“ (Benjamin 1991, S. 53) Dieser Satz ist ganz auf das Interieur des 19. Jahrhunderts und seine Möbel und Materialien zugeschnitten, mit denen ein Schutzund Schonraum vor der Außenwelt kreiert werden sollte. Einen solchen zu produzieren, lag weniger im Interesse der meisten Architekten von

2  Wird in den „1000 Ideen“ zwar ausgespart, wie der Bewohner dieses Raums heißt, so lässt sich doch bestimmen, wer er war. Denn im Jahr, als das Handbuch erscheint, brachte der Verlag Alexander Kochs den Band „Das Haus eines Kunstfreundes“ heraus. In jener Bildersammlung zu seinem eigenen Wohnhaus tritt in etwas anderer Anordnung genau dasselbe Herrenzimmer wieder in Erscheinung. Koch selbst war dessen Bewohner. Vgl. Hardenberg 1926, S. 47. 3  Denn das war einer der gängigsten Vorwürfe aus den zeitgenössischen Kritiken: Dass sich in solch ,reinen‘ Räumen, wie sie die modernen Bauausstellungen zeigten, nicht leben ließe.

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Von aufgeschlagenen Lektüren und vergessenen Teetassen modernen Bauausstellungen. Und doch bleibt der Begriff der Spur auch für die Beobachtung dieser Orte interessant. Spuren entstehen unbeabsichtigt und unkontrolliert, durch die Berührung eines Körpers, der im Moment des Spurenlesens abwesend sein muss. Denn so erst ist der Abdruck sichtbar (vgl. Krämer 2007, S. 14ff.). Durchstöbert man die Fotografien verschiedener Bauausstellungen, so finden sich immer wieder die gleichen Motive und Zusammenstellungen. Dieses wiederholte Auftreten lässt kaum auf einen Zufall schließen, sondern auf das Üblichwerden einer Anordnungspraktik. Was dort vorgibt, eine Spur des Wohnens zu sein, ist tatsächlich keine. Das Anfüllen der sonst recht leeren Räume moderner Architektur mit den „Wohnlichkeits-Attrappen“ ist ein ausstellungsstrategisches Verfahren. Und Veröffentlichungen wie „Innenräume“ greifen dies auf und arbeiten mit an der Illusion. So werden etwa im Arbeitszimmer von Mart Stam nicht nur ungeordnete Objekte auf dem Schreibtisch abgelichtet, sondern auch die Beine einer Person. (Abb. 5) Dieser Mann könnte die Dinge wohl soeben noch benutzt haben. Sind auf den Architekturfotografien der 1920er Jahre generell kaum Menschen

Abb. 5  Arbeitszimmer von Mart Stam auf dem Stuttgarter Weißenhof, 1927.

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Theres Sophie Rohde abgebildet, so handelt es sich dabei in den seltensten Fällen um Männer. Eine Ablichtung wie diese stellt somit eine doppelte Rarität dar, selbst wenn man den Menschen nicht in seiner Gänze betrachten kann. Das Bild suggeriert: Soeben ist er noch da gewesen und vielleicht wird er zurückkehren. Dass nur seine Beine zu sehen sind und er damit nicht zu identifizieren ist, erscheint dabei konsequent: Denn es soll nicht das Leben einer konkreten Person präsentiert werden, sondern die Möglichkeit des Wohnens in diesen Räumen. Dem dient auch die Darstellung des menschlichen Ausschnitts. Was auf dem Schreibtisch genau liegt, das lässt sich nicht erkennen. Auch über das Buch in der Wohnung von Mies van der Rohe weiß man nichts. Näheres ist allerdings zu den Exemplaren bekannt, die bei Le Corbusier geöffnet auf Tischen oder gereiht in Regalen platziert sind. Aus einer Aufstellung aller Ausstattungsgegenstände, die der Bauleiter Alfred Roth an den Architekten nach Paris sandte, geht hervor, dass es sich bei den Büchern allesamt um Le Corbusiers Werk „Kommende Baukunst“ handelte (vgl. Kirsch 1997, S. 209). Mag in seinen zwei Ausstellungshäusern die aufgeschlagene Lektüre zunächst den Eindruck vermitteln, sie erfülle die Aufgaben einer „Wohnlichkeits-Attrappe“, ändert sich die Wahrnehmung, sobald man sich bewusst wird, dass dieses Buch in den Wohnräumen in Serie auftritt. Die Exemplare stehen dort nicht für das Bild einer individuellen Lektüre eines Bewohners. Sie sind mehrfach für die vielen Ausstellungsbesucher ausgelegt worden, die in Le Corbusiers Haus in Le Corbusiers Architekturtheorie blättern können. Wenn es hier also überhaupt jemanden gibt, dessen Abdrücke man im Wohnraum aufspüren kann, dann sind es nicht die eines Bewohners, es sind die des Architekten. Versuche, jemanden gegenwärtig zu machen, obwohl niemand präsent ist, durchziehen viele Darstellungen moderner Baukunst. Die Architekturhistorikerin Beatriz Colomina hat das etwa bei Abbildungen der Villa Savoye von Le Corbusier analysiert. Ein dort abgelichteter Hut oder Mantel lassen sich einem Mann zuordnen. Welchem? „The objects left as ‚traces‘ in the photographs of Le Corbusier’s houses tend do be those of (male) ‚visitors‘ (hat, coat, etc.). Never do we find there any trace of ‚domesticity,‘ as traditionally understood. These objects also could be understood as standing for the architect. The hat, coat, glasses are definitely his own.“ (Colomina 1992, S. 98ff.) Die Bekleidungsstücke sind die Rückstände des Architekten, der auf dem Bild vorgibt, in seinem Bau präsent zu sein – nur gerade nicht in dem Raum, den die Kamera hier

335

Von aufgeschlagenen Lektüren und vergessenen Teetassen aufgenommen hat. Doch streng genommen sind der Hut, der Mantel und die „Wohnlichkeits-Attrappen“ keine Spuren. Denn die „Spur macht das Abwesende niemals präsent, sondern vergegenwärtigt seine Nichtpräsenz; Spuren zeigen nicht das Abwesende, sondern vielmehr seine Abwesenheit“ (Krämer 2007, S. 15). Bauausstellungen sind in der Regel Wohnausstellungen, das ist ein höchst problematisches Unterfangen. Die Schwierigkeit liegt darin begründet, dass Wohnen durch den Bewohner geschieht und dieser auf solchen Expositionen fehlt. Durch das Demonstrieren eines nur potenziellen Wohnens nimmt niemand lange genug auf dem Sessel Platz, um eine physische Signatur zu hinterlassen, wohnt niemand die Möbel ab, ist niemals jemand in der Rolle des Bewohners anwesend, dessen Abdrücke der Ausstellungsbesucher finden kann. Wohnen wird hier zu simulieren versucht, sodass trotz der Absenz von Personen eine Form der Präsenz menschlichen Lebens mittels Wohndingen in einem prägnanten Moment des Gebrauchs erzeugt wird. Diese intentionale Setzung lässt sich allerdings mit dem Begriff der Spur kaum erfassen. Und doch lässt sich bei der Beobachtung der vielen Aufnahmen von solchen Veranstaltungen etwas aufspüren: Es ist das Wiederholen der immer wieder gleichen Motive, entlehnt aus den Darstellungsmodi anderer Bildmedien wie den Handund Warenbüchern.4 Die Fotografien in ihrer Fülle legen eine Spur, die auf ein wiederkehrendes Muster weist, mit dem auch die Architekten und Ausstellungsmacher nicht nur versuchten, das Neue Wohnen ins Bild zu setzen, sondern gar, es auszustellen.

4  Auch ihre Darstellungsgeste ist nicht gänzlich neu. Bedient haben sich dabei die Hand- und Warenbücher häufig der bildenden Kunst wie der Stilllebenmalerei oder der Interieurbilder. Dies ist besonders dann der Fall, wenn nicht vollkommene Raumarrangements, sondern ausgesuchte Einzelobjekte gezeigt werden. Beispiele dafür können etwa die Präsentationen einer Blumenschale der Wiener Werkstätten oder der Karaffen und Vasen der Deutschen Werkstätten in den „1000 Ideen“ geben. Jene Fotografien weisen deutliche Bezüge zum Stillleben auf (vgl. Koch 1926, S. 79, 181).

336

Theres Sophie Rohde Literatur

und Wissenskunst, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, S. 11–33.

Colomina 1992

Lessing 2010

Colomina, Beatriz: The Split Wall: Domestic Voyeurism, in: 

Lessing, Gotthold Ephraim: Laokoon oder Über die Grenzen

Dies. (Hg.): Sexuality & Space, New York: Princeton Architec-

der Malerei und Poesie (1766), Stuttgart: Reclam 2010.

tural Press 1992, S. 73–130.

Mährlen-Stuart 1931

Benjamin 1991

Mährlen-Stuart, Elisabeth: Erlebnis der Wohnlichkeit, in: Innen-

Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Band V.1, Frankfurt

dekoration, März, Jg. 42, 1931, S. 126–128.

am Main: Suhrkamp 1991.

Rezepa-Zabel 2004

Dürerbund-Werkbund Genossenschaft

Rezepa-Zabel, Heide: Gediegenes Gerät fürs Haus – 

1915

Geschmackserziehung vor einhundert Jahren, in: Manske, 

Dürerbund-Werkbund Genossenschaft: Deutsches Warenbuch:

Beate (Hg.): Wie wohnen: Von Lust und Qual der richtigen

Kriegsausgabe, Hellerau bei Dresden: o.  V. 1915.

Wahl. Ästhetische Bildung in der Alltagskultur des 20. Jahr-

Graeff 1928

hunderts, Ostfildern-Ruit: Hatje Cantz 2004, S. 11–19.

Graeff, Werner (Hg.): Innenräume: Räume und Innenein-

Vetter 2005

richtungsgegenstände aus der Werkbundausstellung „Die

Vetter, Andreas K.: Leere Welt. Über das Verschwinden des

Wohnung“, insbesondere aus den Bauten der städtischen

Menschen aus der Architekturfotografie, Heidelberg: Manutius

Weißenhofsiedlung in Stuttgart, Stuttgart: Wedekind 1928.

2005.

Graeff 1931

Winkler 1981

Graeff, Werner: Zweckmässiges Wohnen für jedes Einkommen,

Winkler, Richard: Werner Graeff und der Konstruktivismus in

Potsdam: Müller & Kiepenheuer 1931.

Deutschland 1918–1932, Diss., Techn. Hochschule, Aachen

Graeff 1933

1981.

Graeff, Werner: Jetzt wird Ihre Wohnung eingerichtet! – Das Warenbuch für den neuen Wohnbedarf, Potsdam: Müller &

Abbildungsnachweise

Kiepenheuer 1933. Hardenberg 1926

Hardenberg, Kuno Ferdinand von: Das Haus eines Kunst- 

Abb. 1 und 2: Koch 1926, S. 51, 184.

freundes, Darmstadt: Koch 1926.

Abb. 3: Graeff 1933, o.  S.

Kirsch 1997

Abb. 4 und 5: Graeff 1928, S. 64, 68.

Kirsch, Karin: Briefe zur Weissenhofsiedlung, Stuttgart:  Deutsche Verlags-Anstalt 1997. Koch 1926

Koch, Alexander: 1000 Ideen zur künstlerischen Ausgestaltung der Wohnung, Darmstadt: Koch 1926. Krämer 2007

Krämer, Sybille: Was also ist eine Spur? Und worin besteht ihre epistemologische Rolle? Eine Bestandsaufnahme, in: Dies. (Hg.): Spur: Spurenlesen als Orientierungstechnik

337

Andreas K. Vetter

Auftritt Mensch Die Bedingungen der humanen Präsenz im fotografischen Architekturbild

Der vorliegende Beitrag behandelt in sehr pointierter Darstellung einen Aspekt der Bildwissenschaft, der in den Zusammenhang unserer Wahrnehmung von Umwelt gehört und maßgeblich an der Bildung unseres Verhältnisses zur Architektur beteiligt ist.1 Grundlage des behandelten Sachverhalts ist die Tatsache, dass wir mit den seit Mitte des 19. Jahrhunderts zunehmenden technischen und medialen Möglichkeiten unsere Kommunikation immer mehr auf bildbasierte Information stützen. Der Begriff des ‚iconic turn‘ 2 bezeichnet dieses Phänomen: Das Bild übernimmt einen Anteil der ganz früher direktsprachlichen und dann ab der Neuzeit schriftlichen Informierung. Deshalb ist ein genauer Blick auf dessen Einsatz sehr wichtig, wenn wir nicht die Souveränität über die Inhalte unserer Kommunikation verlieren wollen. Ein Rezipient, der meint, das neben einem Artikel in der Architekturzeitschrift gezeigte Bild eines Hauses genüge ihm für eine oberflächliche Einschätzung, geht bewusst und verständlicherweise ökonomisch vor, da er insgesamt von Informationen geradezu überschwemmt wird. Umso bedeutender aber wird damit jenes Einzelbild, das die einzige Chance darstellt, das Konzept der Architektur zu vermitteln – eine heikle Situation. Vor allem, weil es gerade beim Bauen nicht selten um den Existenzort des Menschen geht. 1926 bemerkte der dem funktional-organischen Bauen zugehörende Architekt Hugo Häring: „Die fotografische Darstellung unserer Bauten ist noch eher ungelöst. Es ist dringend nötig, daß wir uns mit der Frage einer besseren Darstellung des Baugedankens beschäftigen und uns nicht

1  Inhaltliche Basis dieses Textes sind folgende Arbeiten: Vetter 2005 und Vetter 2012. 2  Ikonische Wende; 1994 durch den deutschen Kunsthistoriker Gottfried Boehm so verwendet. Vgl. Boehm 2004, S. 35. Dazu auch Röttger/Jakob 2009, S. 31.

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Auftritt Mensch nur mit dem mehr oder weniger guten Abfotografieren begnügen.“3 Zu verorten ist seine Äußerung im weiten Diskursfeld, das die modernistische Reform in den 1920er und 1930er Jahren in der mitteleuropäischen, vorrangig deutschsprachigen Kulturwelt generiert hatte. In dieser Zeit bildete sich ein Standard der Architekturfotografie heraus, der dabei maßgeblich dem Einfluss der gleichzeitig entstehenden Produktfotografie unterlag. Diese schien mit ihrer spezifischen Visualisierung der Objekte, die zum einen in einen neutralen Bildraum gestellt und zum anderen in idealer Weise ausgeleuchtet wurden, optimal dafür geeignet, das Entwurfskonzept sowie die gestalterischen Qualitäten abzubilden. Das kam der zumeist sehr elementar und analytisch agierenden Moderne, auch im Bereich der Architektur, entgegen. Warum sollte man sich jene Art der fotografischen Aufnahme nicht auch für den Hochbau zunutze machen – was unterschied, so überlegten die sachlichen Planer, letztlich die Entwurfsleistung und die in sich geschlossene Körperlichkeit eines Keramik- oder Glasgefäßes von dem eines Einfamilienhauses? Lucia Moholy, die sich der fotografischen Dokumentation und Präsentation der Arbeiten in den Bauhauswerkstätten annahm, musste dafür eine spezifische Darstellungsweise entwickeln. Die optimal, fast suggestiv ausgeleuchteten Gegenstände erschienen im Mittelpunkt des Bildausschnitts mit der geballten Wirkkraft ihres Körpers und des Materials. Alles andere – wie beispielsweise im Falle ihrer berühmten Teekanne4 eben der Gebrauchszusammenhang des Teetrinkens – wurde ‚ausgeblendet‘, sogar die Standfläche sollte sich entmaterialisieren. Das bloße Objekt war der Hauptdarsteller des Bildes. Insbesondere am Dessauer Bauhaus, an dem in engster räumlicher und personeller Verbindung Architektur und Produktgestaltung gelehrt wurden, flossen jene Gestaltungsbereiche gleichsam in einen gemeinsamen Entwicklungsstrom, der in möglichst allen Facetten seiner Wirksamkeit – Entwurfskonzeption, Materialität, Herstellungsprozess, Marketing und Proliferation sowie letztlich absolute Funktionalität – zu beherrschen war. In Zeitschriften und Publikationen, vorrangig im Umfeld von Werkbund und Bauhaus, lässt sich etwas feststellen, das auf eine

3  Brief von Hugo Häring an die Mitglieder des „Rings“, 19.10.1926, zit.  n. Schirren 2001, S. 46. 4  Exemplarisch: Lucia Moholy, Drei Teile aus einem Teeservice von Marianne Brandt, 1924, S/W-Fotografie, publ. in:  Bauhaus-Archiv 1988, S. 211.

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Andreas K. Vetter tatsächliche und unmittelbare Weise dem Abbildungsstil der Objekt-Fotografie (vgl. Sachsse 1990, S. 185–188) am Bauhaus nahekommt. In sehr ähnlicher Weise wie die in den dortigen Werkstätten angefertigten Produkte wurde das Gebäude gleichsam objekthaft aufgefasst, was bedeutete, dass man es von seinem Umraum isolieren musste. Weil damit alle anderen Bedeutungsfelder aus dem Bildraum genommen wurden, konzentrierte sich die Aufnahme wie beabsichtigt ausschließlich auf das Gebäude als singuläres Produkt einer Planung und einer Herstellung. Die Bildaussage wurde folglich auf die architektonische Idee fokussiert, auf den reinen ‚Baugedanken‘: Volumen, Material und Formgebung. Insofern visualisierte sich nun tatsächlich das, was Hugo Häring als Kern einer Verbildlichung gefordert hatte, womit er vielen seiner Mitstreiter im Kontext des Neuen Bauens aus der modernistischen Seele sprach. Sein in Wien tätiger Kollege Adolf Loos dagegen verhielt sich grundsätzlich skeptisch gegenüber dem Medium der Fotografie, was sich nicht nur in seiner gleichsam verschlossenen, dem Fotografen gegenüber nahezu despektierlichen Haltung äußerte, auf die sich aus seinen Porträtaufnahmen von Kindesbeinen an schließen lässt.5 Er sprach ihm auch jegliche Kompetenz zur Wiedergabe der räumlichen Dimension als fundamentaler Komponente architektonischer Wirkmacht ab: „Ich aber sage: Ein rechtes bauwerk macht im bilde, auf die fläche gebracht, keinen eindruck. Es ist mein größter stolz, dass die innenräume, die ich geschaffen habe, in der photographie vollständig wirkungslos sind.“ (Loos 1962, S. 309) Doch mit dem Blick auf ein derart im Alltag stehendes Objekt wie ein Wohnhaus musste sich die Frage stellen: Lässt sich etwas wie der ‚Baugedanke‘, der ja letztlich als ideelles Phänomen nicht fassbar ist, also theoretisch bleiben muss, eigentlich verbildlichen? Ein Schnappschuss oder eine journalistische Dokumentaraufnahme wären dazu sicher nicht in der Lage, da sie mit ihrem auf natürlich-spontane und unkontrollierte Weise aufnehmenden Blick auch das Umfeld in seinem zufälligen Zustand und in seiner genauso zufälligen Konstellation erfassen. Es ging aber nicht darum, lediglich ‚abzubilden‘, sondern eine präzise Illustration, oder besser ‚Verbildlichung‘ zu erzeugen, welcher sich die fundamentalen Wesenheiten des Gebauten entnehmen ließen. Und das waren

5  Gut nachzuvollziehen in den aus der gesamten Lebensphase erhalten gebliebenen Abbildungen. Siehe dazu Rukschcio/ Schachel 1987, S. 12f., 91, 136, 224 etc.

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Auftritt Mensch Entwurfskonzept, Materialien, Form sowie die ästhetische Wirkung. Ein solcherart qualifizierter Bildraum konnte in kommunikativer Hinsicht keinerlei nichtarchitektonische Elemente vertragen, womit diese absolut auszuschließen oder zumindest unmissverständlich in eine bildhierarchisch untergeordnete Position zu bringen waren. Entweder hatte man demzufolge das Bauwerk von seinem auf dem Abzug bisher noch sichtbaren Umfeld in einen Weißraum zu überführen oder die mitfotografierten Objekte durch Retusche in einen blassen Hintergrund rückzuführen. Es verschwanden andere Bauten, Elemente des Straßenraums, Bäume – und natürlich die Menschen. An sie banden sich Konnotationen und Assoziationen, die auf spezifische Bedeutungsebenen führten, welche die Präzision der architektonischen Thematik des Bildzieles entweder abgeschwächt hätten, da mit ihnen beispielsweise unerwünschte soziokulturelle Bezüge entstanden wären, oder sich ein besonders gefährlicher Effekt hätte einstellen können: Sobald nämlich ein Mensch auch nur partiell im Bildraum sichtbar ist, zwingt dies den Betrachter unbewusst und unvermeidbar zu einer Aufmerksamkeit jenem gegenüber – im weiteren Sinne also eine Identifikation mit der dargestellten Person. Die klassisch moderne Architekturfotografie legte es, in klarer Umsetzung ihres theoretisch-künstlerischen Anspruchs, deshalb besonders darauf an, einen solchen Lapsus zu vermeiden und die Konzentration des Rezipienten einzig dem Bildobjekt, der Architektur, zukommen zu lassen. Eines der maßgeblichen Fotobücher der 1920er Jahre, Albert Renger-Patzschs „Die Welt ist schön“, enthielt dann auch eine entsprechende Anordnung des Kunsthistorikers Carl Georg Heise: „Weit mehr noch als bei Photographien nach der Natur, nach Blume, Tier oder Landschaft, muß daher bei der Wiedergabe von Gebäuden die künstlerische Eigengesetzlichkeit des Gegenstandes für den Aufnehmenden verbindlich sein.“ (Heise zit.  n. Renger-Patzsch 1928, S. 12) Alles lief auf eine Klärung des Bildraumes hinaus, sodass sich die Bildaussage gar nicht anders als in Bezug auf das Gebaute aufnehmen und interpretieren ließ. Vielleicht wird diese künstliche und durchaus ignorant gegenüber der umgebenden Welt verfahrende thematische Zuspitzung von einer Bemerkung Le Corbusiers ganz treffend erfasst, der das sich dank jenes Verfahrens einstellende Bild von einer neuen, modernen Weltgestalt einer neuen „Leidenschaft“ zuschreibt: der „Exaktheit“ (Le Corbusier 1986, S. 85). Diese visuelle Bearbeitung zeitigte eine faszinierende Wirkung – es ergab sich eine außergewöhnlich ‚exakte‘ Ästhetik, die mittels der fotografischen Illustrierung den

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Andreas K. Vetter neuen Bauwerken der modernistischen Architekten zukam. Das bereits in der Anfertigung homogenisierte und nachbearbeitete Bild führte gewissermaßen zu einer kunstwerkhaften Vollendung der Planidee, insofern das Gebäude nicht nur seine konzeptionelle Eigenständigkeit gegen das ansonsten komplexe und ungeordnete Gefüge des Alltags durchsetzen konnte, sondern in bestmöglicher Belichtung und kongenialer Perspektive zur Darstellung kam. (Abb. 1)

Abb. 1  Werkbundsiedlung, Musterhaus 48, Wien, 1932.

Zwischen 1920 und dem Zweiten Weltkrieg definierte sich in dieser idealen Bildsprache ein bis heute verbindlicher Kanon der Architekturfotografie. Es war verführerisch, so vorzugehen, denn es verlieh dem architektonischen Entwurf eine besondere, kunstgleiche Aura. Bemerkenswert ist dabei das bekannte, vom Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum entworfene grüne Plakat zur Wiener Werkbundausstellung 1932,6 die ja als Bauausstellung zu den erfolgreichsten Instrumen-

6  Das Plakat ist begleitend zu dem Artikel von Andreas Nierhaus in diesem Band auf S. 131 abgebildet. Außerdem publ. in: Nierhaus/Orosz 2012, S. 12.

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Auftritt Mensch tarien der Öffentlichkeitsarbeit für die Reformarchitektur der Moderne gehörte. Auch hier, obwohl man nun signalisiert, dass das auf der Fotografie von Martin Gerlach unmissverständlich als Bauwerk, und nicht mit all seinen Implikationen als Wohnhaus, dargestellte Musterhaus 48 eigentlich als mehr oder weniger banales Reihenhaus geplant war, erscheint es in Gestalt eines grafischen Elements vollkommen isoliert. Die in den Fachzeitschriften publizierte Abbildung von Julius Scherb verfährt genauso, obwohl sie den urbanen Umraum des Gebäudes mit ins Bild nimmt.7 Er ist unrealistisch leer, was der eigentlichen Aufgabe dieser in der Ausstellung präsentierten Häuser absolut widerspricht – sie sollen ja lebendig genutzt werden. Die Gegenüberstellung mit der tatsächlichen Situation auf dem Gelände zeigt dies. Stellt man sich die faktische Ausstellungsszenerie vor oder betrachtet die wenigen erhaltenen Aufnahmen der Platzsituation im Zentrum des Ausstellungsgeländes, die sich unmittelbar vor dem hier gezeigten Musterhaus befindet,8 dann wird evident, wie sich die Architektur im Bild mit den Menschen optisch verschleifen muss und in dieser Konsequenz ihre auf der Fotografie noch unangefochten konstatierte Dominanz verliert. Das wollte der moderne Architekt verständlicherweise unterbinden. Die Analyse der großen Zahl der in den 1920er und 30er Jahren erschienenen Fachpublikationen, seien es nun Zeitschriften oder Bücher, dokumentiert die Folge des sofort etablierten Standardmodus für die Architekturfotografie: Es bietet sich der Eindruck einer ‚leeren Welt‘,9 in deren Fotomaterialien man lange zu suchen hat, bis sich einer der Menschen im Bildraum wiederfinden lässt, für die all jene neuen Häuser errichtet worden waren, seien es nun Wohn- oder Verwaltungs-, Schul-, Industrie- oder Geschäftsgebäude. Leergefegte Aufnahmen auf über 600 Seiten in „Die Baukunst der neuesten Zeit“ von Gustav Adolf Platz aus dem Jahr 1927, Menschenleere auf über 2.200 Seiten in Alberto Sartoris' dreibändiger „Encyclopédie de l'architecture nouvelle“, die 1948 erschien und eine Fortführung dieses Abbildungsmusters über die Vorkriegsepoche der Klassischen Moderne hinaus unter Beweis stellte (vgl. Platz 1927; Sartoris 1948; zu Sartoris

7  Scherb, Julius: Werkbundsiedlung Wien, S/W-Fotografie, 1932, publ. in: Innen-Dekoration H. 8, 1932, S. 286. 8  Vgl. Fotografie des Eröffnungstages von Albert Hilscher, publ. in: Nierhaus/Orosz 2012, S. 12. 9  In meiner ausführlichen Behandlung dieses Themas (Vetter 2005) nehme ich im Titel Bezug auf Pierre Jean Jouves Roman „Die leere Welt“, in dem es heißt: „Dinge, Häuser, Unbeseeltes, Himmel“ (Jouve 1982, S. 149).

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Andreas K. Vetter siehe auch Baudin 2005, S. 19ff.) Neben dieser dominanten Wertschätzung der ästhetischen Präsenz moderner Architektur verlor die Aufgabe des Bauens, nämlich die versorgende Aufnahme des Menschen, nicht nur bildsprachlich an Bedeutung. Die Schuld an jenem Standard des ‚leeren Architekturbilds‘ kam aber eigentlich dem Medium selbst, der Fotografie zu, denn sie war in ihren Anfangsjahren aufgrund der langen Belichtungszeiten von mehreren Minuten nicht in der Lage, den Menschen abzubilden. Er verschwand einfach, da er sich bewegte. Lediglich die Objekte, die sich absolut still verhielten, konnten ihren Schatten in die noch unzureichend empfindliche Emulsion prägen, mit welcher die Platten beschichtet waren.10 So, als wollte die neue Technik Einfluss nehmen auf das sichtbare Erscheinungsbild, leugnete sie die Bewegung. Das Lebendige musste sich dem Diktat minutenlanger Statik unterziehen, wollte es abgebildet werden. Um 1930 wertete Walter Benjamin solche Phänomene auf eine vollkommen neuartige Weise. Als Grundlage nahm er die um 1900 entstandenen Arbeiten des Pariser Fotografen Eugène Atget. In der optisch unvollständigen, schemenhaften Wiedergabe des Menschen entdeckte er die Problematik der Präsenz: War es denn eigentlich möglich, ein durch den Menschen geschaffenes Objekt (Architektur) ‚vollständig‘ abzubilden, ohne nicht zumindest einen Hauch der Anwesenheit seines Schöpfers mitzuerfassen? In jedem Kunstwerk, in jedem Gebäude, in jeder Straße oder Stadt befanden sich gleichsam gespeicherte Handlungen, Beziehungen sowie Geschichten einzelner und vieler Menschen. Sie mussten doch irgendwie unbewusst in die Wahrnehmung des Betrachters treten – surreal. Die verschwommene Kontur eines Passanten auf dem Trottoir oder der geisterhafte Nebel einer vorbeigefahrenen Kutsche ermöglichte es, mehr zu erkennen, mehr zu ‚sehen‘ als den tatsächlichen spezifischen Sachverhalt. Gleich einer überwirklichen Ebene zeigten sich ansonsten unsichtbare

10  Hierher gehört eine der schönsten und sicher auch bekanntesten Episoden der Fotografiegeschichte: Wohl im Herbst des Jahres 1838 hatte Louis Daguerre vom vierten Stock seines Wohnhauses am Boulevard du Temple aus auf die Straße hinunterfotografiert und hierfür minutenlang belichten müssen. Ein Freund beschrieb die damals spektakuläre Aufnahme kurz darauf folgendermaßen: „Alles, was sich bewegt, bleibt unsichtbar. Der Boulevard, der doch von Fuhrwerken befahren und von Fußgängern belebt war, schien auf der Aufnahme ganz leer, abgesehen von einem Mann, der sich die Schuhe putzen ließ. Gezwungenermaßen mußte er eine Weile bewegungslos bleiben, einen Fuß auf dem Kasten des Schuhputzers, den anderen auf dem Bürgersteig.“ (Zit.  n. Frizot 1998, S. 28).

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Auftritt Mensch Vorgänge, die man im poetischen Sinne als Traumzeichen deuten konnte (vgl. Benjamin 1977, S. 57f.). Das schemenhafte Kind, das man dagegen auf einer Architekturfotografie aus einer zeitgenössischen Zeitschrift sieht (Abb. 2), erscheint auf jenen Seiten als einziger visueller Hinweis auf die Funktion der Neubau-Siedlung: nämlich bewohnt zu sein. Eine

Abb. 2  Wohnsiedlung Große Diesdorfer Straße, Magdeburg, 1925.

Bildstrategie, wie sie darüber hinaus in unzähligen Interieuraufnahmen eine provokative, fast exhibitionistisch nackte Atmosphäre generiert, stellt wohl den Höhepunkt der Ästhetisierung, der Versachlichung des Bauens für den Menschen dar, zumal sie im Kontext der Präsentation eines Wohnhauses eigentlich allein für die Bildkommunikation – „das ist das Wohnzimmer/die Frontansicht des Hauses“ – gedacht war. Einige Fotografen aber suchten bereits einen geeigneten Weg aus dieser extrem vom menschlichen Alltag entfernten Visualisierung – ohne

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Andreas K. Vetter den Dominanzanspruch der Architektur zu gefährden. Diese neue Strategie findet sich beispielsweise in den Arbeiten des Pariser Fotografen Marius Gravot, der für den frühen Le Corbusier arbeitete. Gravot befasste sich mit der berühmten Villa Savoye und fotografierte auf ihrem Dach den spektakulären Aufenthaltsbereich für sommerliche Freizeitaktivitäten. Um aber zu vermeiden, dass das Bildmotiv lediglich die bauliche Situation zeigte und den Bewohner gleichsam ignorierte, platzierte er einige Utensilien auf dem Betontisch, an dem man später sitzen würde: Hut, Brille, Raucherutensilien, so als wäre der Architekt anwesend, oder auch der Fotograf.11 Accessoires einer Person – wie ein Handtuch auf dem scheinbar eben gerade verlassenen Balkonsessel – wirken tatsächlich wie Relikte ihrer vergangenen Anwesenheit oder Repräsentanten ihrer virtuellen Präsenz. Semiotisch lassen sie sich zurückführen auf den Einsatz von Symbolen für Menschen und ihre Funktionen (Wappen), bildsprachlich finden sich Verweisobjekte dieser Art beispielsweise in Stillleben, in Interieurs des 19. Jahrhunderts bis hin zum Surrealismus, der zeitgleich mit jenen Fotografien wirkte – zu denken wäre an Man Ray. Die Vorteile dieser Strategie, nämlich lediglich kleine, sekundäre Bildobjekte verwenden zu können, die das Motiv kaum beeinträchtigen, es aber gleichzeitig reizvoll durch eine narrative Dimension erweitern, ist heute in Aufnahmen zur Innenarchitektur zu einem ebenfalls aus dem Repertoire modernistischer Bildstrategien gewonnenen Standard geworden: auf Sofas platzierte, scheinbar gerade hingeworfene Decken oder ein gedeckter Tisch. Es kann dies routiniert und banal eingesetzt werden, oder anspruchsvoll im Sinne einer ästhetischen Ergänzung und sogar einer weiteren symbolhaften Information über den Nutzungshintergrund des an sich auf seine architektonischen Formen reduzierten Wohnraums. Ein weiterer Schritt, um eine neue Umgangsweise mit dem leeren Architekturbild zu formulieren, wurde schon in der Zeit der klassischen Moderne am Bauhaus unternommen. Die experimentellen Fotoarbeiten des Bauhausmeisters László Moholy-Nagy, die in den Jahren kurz nach Fertigstellung des Bauhaus-Neubaus in Dessau 1926 angefertigt wurden,12 waren damals aber absolute Ausnahmen und erschienen nicht in einer

11  Gravot, Marius: Dachterrasse der Villa Savoye, Poissy, S/W-Fotografie, 1929, © Fondation Le Corbusier, Paris. Umfangreicher dazu: Umstätter/Herschdorfer 2013. 12  Moholy-Nagy, László: Bauhausbalkone in Dessau, S/W-Fotografie, 1926, publ. in: Bauhaus-Archiv 1988, S. 220.

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Auftritt Mensch konventionellen Baufachzeitschrift. Das berühmte Ensemble der Bauhausschule wurde der Öffentlichkeit dagegen konventionell präsentiert, wobei man seine Umgebung strikt retuschierte. Und auch heute lässt sich eine möglichst umfangreiche Information auf bildbasierte Weise nicht anders herstellen. Moholy-Nagy nun veränderte seinen Blick und auch sein Kommunikationskonzept. Thema der Verbildlichung blieb die besondere architektonische Qualität des Gebäudes. Das Bild vom Bauhaus aber informierte nicht mehr über dessen Baukörper und Materialien, sondern über die Art und Weise, wie es belebt wurde: unkonventionell, kreativ, unmittelbar. Er setzte dies ins Motiv um, indem er radikale Ausschnitte aus der Gesamtansicht nahm oder dramatisch wirkende Schrägperspektiven wählte. Zum zentralen Instrument wurden hier die ebenfalls sichtbaren, mit dem Gebäude interagierenden Menschenfiguren. Das Besondere, den Rezipienten Herausfordernde des gezeigten Nutzerverhaltens war dabei die Emanzipation vom Üblichen und von der Vorgabe des baulichen Systems. Moholy-Nagys Menschen gehen souverän mit dem Haus um, klettern an ihm herum wie auf einem Spielplatz oder tanzen auf dem Dach.13 Die Beziehung zwischen Funktionsarchitektur und Mensch – so will der Bauhausfotograf demonstrieren – erhält eine neue, harmonische, fast körperlich homogene Qualität. Der Bauhausmeister Oskar Schlemmer weist 1925 im Bauhausbuch „Die Bühne im Bauhaus“ indirekt, aber substanziell auf jene besondere Qualität der neuen kreativ generierten Architektur hin, die sich in einem existenziellen Dualismus von Mensch und Bau äußert: „Der Raum, wie alle Architektur vornehmlich ein Gebilde aus Maß und Zahl, [...] bestimmt auch das Gehaben des Tänzers in ihm.“ (Schlemmer 1993, S. 245) Herbert Bayers Titelgestaltung der maßgeblichen Publikation, mit der das Dessauer Bauhaus sich 1938 nach seiner Auflösung in den USA präsentierte, platziert diese Symbiose an der prominentesten Stelle und lässt sie zum Sinnbild für die Botschaft der Bauhaus-Lehre werden. Sie zeigt eine Fotografie von T. Lux Feininger mit Figurinen der Bauhaus-Bühne, die auf den Balkonen und dem Dach des Prellerhauses posieren.14 Der Mensch ist also nicht vom Haus zu trennen.

13  Ähnliches findet sich auch bei Aufnahmen von T. Lux Feininger, auf denen Bühnenfiguren des Bauhauses an dem Gebäude gezeigt werden. Bereits der Titel aber indiziert, dass es dem Fotografen hier nicht um architektonische Aspekte bzw. den Nutzungsmodus, sondern um die modernistische Kulisse ging: Feininger, T. Lux: Der Bau als Bühne, S/W-Fotografie, um 1927, publ. in: Bauhaus-Archiv 1988, S. 232.

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Andreas K. Vetter Die Bauhausmeister zogen in hypermoderne Villen, die Walter Gropius in der Nähe des Schulgebäudes errichtet hatte.14Die dort realisierte architektonische Moderne, mit der eine neue Lebenshaltung verbunden war, bot ihren Bewohnern ein innovatives, ebenso forderndes wie befreiendes Ambiente. Auf zwei Aufnahmen, in denen sich der faktische, eventuell auch etwas artifiziell kultivierte Nutzungsmodus ins Bild setzt, zeigen zwei der Meister in ihrer jeweiligen typischen Art, wie sie diese Moderne für sich annehmen: Der 64-jährige russische Jurist und Maler Wassily Kandinsky, der sich im Inneren des Hauses in sehr individueller Hinwendung an die neuen Sprachformen der Moderne eine Wand goldfarben strich, genießt den Balkon im gediegenen Hausherren-Stil mit Klappstuhl und Topfpflanzen – er ‚bewohnt‘, er nutzt das Haus in konventioneller Manier.15 Der 32-jährige und damit exakt halb so alte Fotograf Moholy-Nagy dagegen gliedert sich dem Experiment der Architektur ein, trägt seinen durchaus programmatisch gemeinten roten Mechaniker-Overall und demonstriert seine bewusste Symbiose – er lebt mit dem Hauskonzept: Das Bild (Abb. 3) ist exakt komponiert in seinem Arrangement von schwarz und weiß, von geometrisch und organisch. Dass Moholy-Nagy jene Darstellung als prinzipielle Aussage verstand, belegt im übrigen seine Fotomontage „Eifersucht“, in der sie als zerlegtes Motiv wieder auftaucht und in der sich diese neue Art der Bildkommunikation eindrücklich illustriert.16 Eine Fotografie wie die hier gezeigte kann demnach im Sinne eines kleinen architektonischen Manifestes inhaltlich regelrecht ‚gelesen‘ werden. Es tritt ein erstaunliches Phänomen zutage, nämlich die gleichzeitige Entwicklung einer neusachlichen Fotografieform, die das Gebaute objekthaft aus seinem Funktionskontext isoliert, sowie die einer kreativ inszenierenden Verbildlichung der Architektur als vitales Biotop des Neuen Menschen.17 Diese zweite Entwicklungslinie,

14  Publ. in: Fiedler 1990, S. 234. Dazu: Haus 1990, S. 149, 150. Originalabbildung in: Bauhaus-Archiv 1988, S. 232f. 15  Röhl, Karl Peter: Wassily Kandinsky, S/W-Fotografie, um 1930, © Paris, Museé National d'Art Moderne, CGP. 16  Moholy-Nagy, László: Eifersucht, Fotomontage, 1928, publ. in: Mulligan/Wooters 2000, S. 519. 17  Josef Frank, jener Wiener Architekt, der 1932 die dortige Werkbund-Ausstellung organisierte und zu den gemäßigten Modernisten gehörte, zweifelte allerdings diesbezüglich an den architektonischen Projektionen der zukunftsorientierten Avantgarde: „Der moderne Mensch, wie ihn der moderne Kulturverehrer annimmt, der, nachdem er den ganzen Tag auf der Eisenbahn gefahren ist und Geld verdient hat, dann nach Hause kommt und sein Grammophon andreht und Turnübungen macht, existiert nicht und wenn, in was für Exemplaren!“ (Frank 1931, S. 173f.).

349

Auftritt Mensch

Abb. 3  Lucia Moholy, László Moholy-Nagy vor seinem Meisterhaus, Dessau, 1926.

Abb. 4  Richard Neutra, Wohnraum, Wise House, San Pedro/California, 1957.

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Andreas K. Vetter die sich durch eine spielerische, unernste, experimentelle Freigeistigkeit auszeichnet, wird jedoch spätestens mit dem Zweiten Weltkrieg beendet werden, während die moderne Architekturfotografie samt ihren ästhetisierten, leeren Räumen und Außenansichten eine Festigung als der bis heute gültige Standard erfährt. Offensichtlich ist es der explizite Wille aller Beteiligten über Jahrzehnte hinweg, die Architektur als rein bauliches Produkt darzustellen und akribisch jede atmosphärische, narrative oder systemfremde ‚Ablenkung‘ zu vermeiden, die sich am intensivsten durch die Anwesenheit des Menschen im Bildraum einstellen würde. Äußerst selten nutzen Architekt und Fotograf deshalb in der Folgezeit ihre Bilder für einen sozial oder anthropologisch gefärbten Blick, obwohl sie mit diesem Medium über eine nicht zu unterschätzende Kommunikationshoheit verfügen, ist es ihnen doch möglich, bei Bedarf etwas einzublenden, hervorzuheben, in den Hintergrund zu legen oder wegzuschauen. Eines der raren Beispiele, bei dem ein Architekt sich nun tatsächlich über die inhaltliche Klärung des kanonischen Bildmodus hinwegsetzte, findet sich in einer Fotografie aus dem Werk des 1923 in die USA ausgewanderten gebürtigen Wieners Richard Neutra. (Abb. 4) Sie stammt aus seiner Publikation „Welt und Wohnung“, deren Abbildungen ansonsten in gängiger Manier fast ausschließlich leere Räume zeigen. Der Architekt des Hauses ruht entspannt im Sessel. Er genießt die offene Wohnatmosphäre, was auch für die Kinder des Hausherren zutrifft. Das von Neutra in gerade diesem Buch propagierte und auch umgesetzte, bewusst menschenzugewandte Wohnkonzept wird hier illustriert, bestätigt durch das Wohlbehagen der gezeigten Personen. Der US-amerikanische Fotograf Julius Shulman, von dem dieses Motiv eventuell stammt, entwickelte ab den 1950er Jahren diese neue, sprechende Art der Visualisierung des architektonischen Raumes. Er beherrschte zwar auch die neutrale ästhetisierende Abbildung, die mit neuen Techniken und raffinierter Beleuchtung das oben dargestellte objektivierende Prinzip der Moderne betonte, seine Bildkonzepte aber zielten in innovativer Weise auf eine intensivere Art der Kommunikation ab. Man sollte nicht nur die rationalen architektonischen Qualitäten erkennen, sondern sich in den emotionalen Nutzungsvorgang hineinversetzen können. Dafür dienten ihm Models, mit deren Attraktivität sich zudem ein weiterer Aspekt in das Foto integrieren ließ. Das Setting wurde durch sie aufgewertet. Immerhin ging es auch immer um Werbung für das Architekturbüro. Hinsichtlich der Primäraufgabe einer Verbildlichung architektonischer Räume aber stand,

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Auftritt Mensch auch in Kombination mit der ‚Einfügung‘ von Figuren in die Architekturaufnahmen, bei ihm immer an erster Stelle die Illustrierung und Verdeutlichung der Funktion des Gebauten – sowohl im Sinne einer neutralen Kommunikation als auch hinsichtlich der Werbung für einen optimalen Entwurf. In seinem Standardwerk „Photographing Architecture and Interiors“ erscheinen deshalb auch jene in den Bildräumen auftretenden Menschen wie Vorwegnahmen heutiger Avatare, die quasi entpersönlicht am Pool liegen, auf einem Sessel im Foyer sitzen oder ein Treppenhaus begehen.18 Sie sind Indikatoren architektonischer Funktionsleistung und stehen nicht für tatsächliche Bewohner oder Nutzer, sondern für die dort vorgesehenen Aktionen: Genießen, Warten, Treppensteigen.19 Gelegentlich aber gewinnt das Personal der Bilder eine eigene Präsenz gegenüber der sachlichen Darstellung, so bei Richard Neutras Wohnraum20 oder im Falle von Shulmans berühmter Aufnahme des über dem nächtlichen Los Angeles auskragenden Wohnraums des Case Study House Nr. 22 von Pierre Koenig, hinter dessen verglaster Fensterfront sich zwei junge Damen gegenübersitzen.21 Die Bildaussage wird erweitert und erlaubt das Sich-Einfühlen in die momentane Situation. Ein derart das Bedeutungsfeld öffnendes Vorgehen infiltrierte den Kanon der Architekturfotografie jedoch nur äußerst zögerlich und blieb den wenigen potenten Architekten und interessierten Bauherren vorbehalten, die in einen guten und kreativen Fotografen investierten. Erst seit den späten 1990er Jahren kommt es zu vereinzelten inszenierten Motiven, die sich jetzt – im frühen 21. Jahrhundert – zu einer Tendenz zu entfalten scheinen. Vorbilder finden sich in immer wieder publizierten spektakulären Motiven wie der surrealen Fotoserie Hans Werlemanns zur Pariser Villa dall’Ava von Rem Koolhaas, in der eine Giraffe durch den Garten läuft oder in schwarze Badeanzüge gekleidete Schwimmer sich choreo-

18  Beispielhaft hierfür sind die Abbildungen in: Shulman 2000, S. 64, 66, 32. 19  Sie sind in gewissem Sinne „operative Bilder“. Vgl. dazu Krämer 2009, S. 94–122, insb. S. 103f. 20  Neutra fordert viel von der Fotografie, möchte sie aber auch textlich unterstützen und begleiten: „Wenn der Fotograf glücklich arbeitet und wenn aufklärende Analysen seine Aufnahmen ergänzen, können wir hoffen, einer so bedeutsamen Angelegenheit wie der Vermittlung von Architekturerlebnissen durch das Bild einigermaßen näherzukommen und ihr ausreichend gerecht zu werden.“ (Neutra/Neutra 1980, S. 35). 21  Vgl. Alexander 2011, S. 10 und Tafel 52. Ebenso: Shulman 2000, S. 82 (Nachtszenerie, s/w), 83 (Farbvariante in der Dämmerung).

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Andreas K. Vetter grafisch perfekt um das Dachschwimmbad positionieren. Der Vergleich sachbezogener Aufnahmen mit belebten Motiven desselben Hauses zeigt den Unterschied in der Bildbotschaft auf drastische Weise.22 Was zufällig anwesende Menschen oder Protagonisten einer eingefügten Handlungsebene, zumal einer isoliert bestehenden, dem Architekturbild antun, ist – so könnte man vor dem Hintergrund einer spezifischen Funktion der Architekturfotografie als werbendem Medium kritisch einwenden – ein subversives Taktieren, mit dem sie uns Nutzungsqualitäten vorspielt. Versteht man dies jedoch lediglich als objektives Indizieren einer räumlichen und pragmatischen Eigenschaft, zu deren Kommunikation eine oder auch die üblich kleine Anzahl von Präsentationsaufnahmen verständlicherweise nicht in der Lage sein können, dann scheint dies durchaus legitim. Dass realistisch in den Kontext des gezeigten Gebäudes passende Bildfiguren, wie beispielsweise auf einer Aufnahme zu einem österreichischen Einfamilienhausneubau (Abb. 5), im Sinne längst etablierter Modi professioneller Entwurfsdarstellung eigentlich nichts Neues bedeuten, wird klar, wenn man sich vor Augen hält, wie perspektivische Ansichten zu Hausentwürfen schon seit Generationen mit hineingezeichneten Figuren ‚belebt‘ werden.

Abb. 5  x-architekten, Landhaus „Das kleine Schwarze“, Gunskirchen (Österreich), 2010.

22  ‚Sachlich‘ publ. u.  a. in: ‚El Croquis‘, März, Nr. 53, 1992, S. 136–157, insb. S. 146f. Mit ‚Personal‘ siehe Bouman;  van Toorn 1994, S. 450. Vgl. auch Mörtenböck 2001, S. 91.

353

Auftritt Mensch Dass dies bisher bei fotografischen Darstellungen im Grundsatz unterblieb, war nicht nur der oben behandelten modernistischen Entwicklung einer isolierten Ästhetisierung des Gebauten geschuldet. Es ließ sich zudem kaum in Übereinstimmung bringen mit der Erwartung an das Medium Fotografie, nichts als die ‚Wirklichkeit‘ wiederzugeben. Jenes hier als ‚Auftritt Mensch‘ prononcierte Phänomen, dass auf spezielle und kontrollierte Weise letztlich doch das Abbild des Menschen in den Bildraum aufgenommen wird, belegt allerdings ein offensichtlich mitunter verspürtes Defizit der ‚leeren Architekturfotografie‘. Mit dem Rückverweis auf die Fotografien Atgets sowie Walter Benjamins Bemerkung zum schemenhaften Menschen im Bild wäre dabei auf eine Bildstrategie hinzuweisen, mit der sich mittels einer dezenten Aufhebung des Diktates des reinen Bildfeldes zusätzlich zur baulichen Information weitere Aussagen zur Dimension und Nutzung in eine Architekturfotografie hineinführen lassen. Die verschwommene Silhouette erlaubt es, den Bildraum erläuternd zu beleben, verhindert aber, dass der Betrachter sich auf die Personen einlässt und dadurch abgelenkt wird. In der Konsequenz wird der abgebildete Mensch in seiner Bedeutung gleichsam übersehen, da die Rezeptionsebene weiterhin gleichsam im Spektrum der Architektur bleibt. Dieser Modus eroberte in den letzten Jahren immer mehr Terrain, insbesondere im Bereich der Werbe- und Imagefotografie, wo nun unscharf wiedergegebene Personen durch Hotelfoyers oder Treppenhäuser huschen, so als traute man sich nicht, konkret zu werden. Der eigentliche, der faktisch anwesende Mensch aber, mit all seinen Implikationen, ist keineswegs unmaßgeblich, macht es sich die Fotografie zur Aufgabe, ein möglichst vollständiges Informationscluster über das Gebaute zu kommunizieren. Der Fototheoretiker Timm Starl fasste den Effekt der Präsenz einer gleichberechtigt abgebildeten Person kürzlich in einen sehr einfach formulierten Satz, welcher hinwies auf den „Raum, zu dem die Darstellung von Personen führt“ (Starl 2012, S. 222). In der Tat erfährt der durch das Medium mitgeteilte Raum eine weitere Dimension, die sich, je nach Art der Einführung von Bildfiguren, mehr oder weniger auf die Architektur als zentrales Sujet ausrichtet. Und hier kann man – auch mit großem Respekt vor den Leistungen der Moderne, die sich dank ihrer objekthaften Isolierung im Bild eine phänomenale Pointierung ureigener architektonischer Qualitäten erarbeitet hatte – eine neue Tendenz durchaus begrüßen, welche den Menschen mit seiner faktischen Präsenz wieder spürbar und auf sehr sympathi-

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Andreas K. Vetter sche Weise in der Darstellung heutiger Architektur bemerkbar macht. Es bleibt nun den Architekten als Auftraggebern und den Fotografen überlassen, wie sie das Potenzial nutzen, das sich aus jenem Momentum ergibt. Setzen sie den Menschen als indizierende Staffage ein, aus deren Verbindung mit dem Architekturraum sich substanzielle Informationen über das Gebaute ergeben, oder führen sie eine weitere, unterhaltsame bzw. erbauliche Ebene in die Bildaussage ein, die uns die Rezeption der Verbildlichung eines Hauses angenehmer macht? Der vor dem oberösterreichischen Landhaus neben seinem Holzhaufen stehende Mann (Abb. 5) könnte somit einerseits auf die baubezogene Eigenschaft des Entwurfs hinweisen, dass es sich durch eine Holzverbrennungsanlage beheizen lässt, andererseits bietet er den Ansatzpunkt für eine kleine, personalisierende Geschichte, mit der sich das Haus ins Gedächtnis einprägt. Wie auch immer diese lauten könnte – deutlich wird der Reiz einer Wiederaufnahme des Menschen in das Architekturbild, aus der nicht nur das Sujet hinsichtlich der erweiterten Informationsqualität Gewinn ziehen kann, sondern eben auch der Betrachter, der immer latent auf der Suche nach einer Selbstkongruenz seiner Realität mit dem Bildgeschehen ist.

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Auftritt Mensch Literatur

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AUTOR_

Autor_innen Angelika Bartl ist Kunst- und Medienwissenschaftlerin und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik der Universität Bremen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Kunst der Moderne und Gegenwart, dokumentarische Medien, Politik- und Rezeptionstheorien, Gender und Postcolonial Studies. 2011 promovierte sie an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg über die Frage des Politischen in dokumentarischen Repräsentationen von Marginalisierten in der Gegenwartskunst. Publikationen u.  a.: Andere Subjekte: Dokumentarische Medienkunst und die Politik der Rezeption, Bielefeld: transcript 2012; Sehen < > Macht < > Wissen. ReSaVoir. Bilder im Spannungsfeld von Kultur, Politik und Erinnerung, hg. mit Josch Hoenes, Patricia Mühr und Kea Wienand, Bielefeld: transcript 2011; „Das reflexive Lachen der Anderen. Feministische Kunstkritik, dokumentarische Videokunst und die Frage des Politischen“, in: Frauen Kunst Wissenschaft, Heft 48: „Kanones?“, 2009, S. 60–72.

Greg Castillo ist Architekturhistoriker. Er ist als Lehrbeauftragter am College of Environmental Design an der University of California in Berkeley und als wissenschaftlicher Mitarbeiter im United States Studies Centre an der University of Sydney tätig. Schwerpunkte seiner Forschungsarbeit sind die Designpolitik während des Kalten Kriegs und ihre Rolle in der kulturellen Spaltung Nachkriegsdeutschlands. Ergebnisse seines jüngsten Forschungsprojekts sind eine Ausstellung und eine Anthologie über die Gegenkultur in Kalifornien mit dem Titel Design Radicals: Berkeley in the '60s. Er hat Forschungsstipendien vom Getty Research Institute, vom Kennan Institute for Advanced Russian Studies, vom Canadian Centre for Architecture sowie von der Ford Foundation erhalten und ist Autor zahlreicher Artikel und Anthologiebeiträge sowie Verfasser der Monografie Cold War on the Home Front: The Soft Power of Midcentury Design, Minneapolis: University of Minnesota Press 2010.

Bernadette Fülscher studierte Kunstgeschichte in Montpellier und Architektur in Zürich. Sie war als Lehrassistentin an der Dozentur Soziologie der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) tätig und hat am ETH-Institut für Geschichte und Theorie der Architektur über Szenografie und Inszenierung an der Schweizerischen Landesausstellung „Expo.02“ promoviert. Von 2007 bis 2011 unterrichtete sie Geschichtsund Theoriefächer am HGK-Institut Innenarchitektur und Szenografie

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Wohnen Zeigen der Fachhochschule Nordwestschweiz in Basel. Seit mehreren Jahren publiziert und forscht sie in selbstständiger Tätigkeit in den Bereichen Kunst, Architektur, Stadt und Szenografie. Ihre wichtigsten Publikationen sind: Gebaute Bilder – künstliche Welten. Szenografie und Inszenierung an der Expo.02, Baden: hier + jetzt 2009; Die Kunst im öffentlichen Raum der Stadt Zürich. 1300 Werke – eine Bestandesaufnahme, Zürich: Chronos 2012. http://www.bernadettefuelscher.ch

Cathleen M. Giustino promovierte 1997 an der University of Chicago und hat derzeit den Mills-Carter-Lehrstuhl für Geschichte an der Auburn University inne, wo sie mittel- und osteuropäische Zeitgeschichte unterrichtet. Buchpublikationen u.  a.: Tearing Down Prague’s Jewish Town: Ghetto Clearance and the Legacy of Middle-Class Ethnic Politics around 1900, New York: Columbia University Press 2003; Socialist Escapes: Breaking Away from Ideology and Everyday Life in Eastern Europe, 1945–1989, hg. mit Catherine J. Plum und Alexander Vari, New York/Oxford: Berghahn 2013. Zahlreiche wissenschaftliche Beiträge in Fachzeitschriften, u. a.: „Rodin in Prague: Modern Art, Cultural Diplomacy, and National Display“, in: Slavic Review, Heft 3, Jg. 69, 2010, S. 591–619 und „Industrial Design and the Czechoslovak Pavilion at EXPO '58: Artistic Autonomy, Party Control, and Cold War Common Ground“, in: Journal of Contemporary History, Heft 1, Jg. 47, 2012, S. 185–212. Sie war Fulbright Research Scholar am Institut für Kunstgeschichte der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik in Prag und TEMA Erasmus Mundus Visiting Scholar an der Karls-Universität in Prag. Derzeit arbeitet sie an einem Buch über die Geschichte von Ausstellungen von konfisziertem Kulturbesitz in der Tschechoslowakei zwischen 1918 und 1992.

Johanna Hartmann ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik der Universität Bremen in Kooperation mit dem Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender und ist Mitglied des dort angesiedelten Forschungsfelds wohnen  +/−  ausstellen. Sie hat Gender Studies und Lateinamerikanistik in Berlin und Sussex studiert und promoviert derzeit mit einer Arbeit über Lehrstücke des Wohnens in den 1950er Jahren in der BRD. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Konzepte von Raum, Subjektivität, Körper und Geschlecht in Diskursen des Wohnens und der Stadt mit einem besonderen Fokus auf der westdeutschen Nachkriegsmoderne. Publikationen u.  a.: „Figuren

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Autor_innen der Stadt. Lektüre einer Wohnungsbau-Broschüre“, in: Nordico Stadtmuseum (Hg.), „Hitlerbauten“ in Linz. Wohnsiedlungen zwischen Alltag und Geschichte. 1938 bis zur Gegenwart, Salzburg: Anton Pustet 2012, S. 180– 196; „Stadt Raum Körper. Ordnungsunternehmungen nach dem Zweiten Weltkrieg“, in: Informationen zur modernen Stadtgeschichte, Heft 1, 2011, S. 18–32; „,Aber wenn die Frau aus ihren Grenzen tritt, ist es für sie noch viel gefährlicher‘. Geschlechtermodelle für die Stadt von morgen“, in: Annette Maechtel, Kathrin Peters (Hg.): ,die stadt von morgen‘ – Beiträge zu einer Archäologie des Hansaviertels Berlin, Köln: Buchhandlung Walther König 2008, S. 200–207.

Christiane Keim ist Kunstwissenschaftlerin und arbeitet als Universitätslektorin am Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik der Universität Bremen und ist assoziierte Wissenschaftlerin am Mariann Steegmann Institut. Kunst & Gender. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Gender, Visual Studies, Künstlerwohnen, Ausstellungsarchitektur, Erinnerung und Raum. Jüngere Publikationen: „Der Erinnerung einen Raum geben: Nation und Krieg im Gedächtnismedium Kunst“, in: Anna Bulanda-Pantalacci, Christina Threuter (Hg.): Erinnerungsräume. Architekturen des Krieges, Trier: cliomedia 2009, S. 22–33; „Performative Räume – Verführerische Bilder – Montierte Blicke. Zur Konstruktion von Geschlecht im Interieur“, in: Stephan Moebius, Sophia Prinz (Hg.): Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld: transcript 2012, S. 142–162.

David Kuchenbuch ist seit 2011 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Institut im Bereich Neuere Geschichte an der Justus-LiebigUniversität Gießen. Zuvor war er an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg tätig, zwischenzeitlich (2010/11) Fellow am Deutschen Historischen Institut Washington, D.  C. 2010 hat er mit einer Arbeit zum „Social Engineering“ von Architekten und Stadtplanern promoviert (Geordnete Gemeinschaft. Architekten als Sozialingenieure – Deutschland und Schweden im 20. Jahrhundert, Bielefeld: transcript 2010). Die Dissertation ist hervorgegangen aus dem DFG-geförderten Projekt Ordnungsdenken und social engineering als Reaktion auf die Moderne. Nordwesteuropa, 1920er bis 1950er Jahre, Oldenburg. Gegenwärtig arbeitet er an einer Fallstudie zu einem verwandten Thema: Das Londoner „Peckham-Experiment“ und die wissenschaftliche „Entdeckung“ der Eigenverantwortung in den 1930er

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Wohnen Zeigen bis 1950er Jahren. Seit Habilitationsprojekt befasst sich mit: „Eine Welt“. Globales Interdependenzbewusstsein und die Moralisierung des Alltags in den 1970er und 1980er Jahren. Seine Interessenschwerpunkte liegen thematisch in der Wissens- bzw. Wissenschaftsgeschichte und der Mediengeschichte, epochal in der Zeitgeschichte, geografischer Schwerpunkt sind Skandinavien, Großbritannien und die Bundesrepublik.

Andreas Nierhaus ist Kunsthistoriker und seit 2008 Kurator der Architektursammlung des Wien Museums. 2004–2005 war er Assistent am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien, 2005–2008 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kommission für Kunstgeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Seit 2005 hält er Lehrveranstaltungen an der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Architektur und bildende Kunst im 19. und 20. Jahrhundert, Historismus und Moderne, Medien der Architektur. Buchpublikationen: Kreuzenstein. Die mittelalterliche Burg als Konstruktion der Moderne, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2014; Werkbundsiedlung Wien 1932. Ein Manifest des Neuen Wohnens, Ausstellungskatalog Wien Museum, hg. mit Eva-Maria Orosz, Salzburg: Müry Salzmann 2012; Die Wiener Hofburg und der Residenzbau in Mitteleuropa im 19. Jahrhundert: Monarchische Repräsentation zwischen Ideal und Wirklichkeit, hg. mit Werner Telesko und Richard Kurdiovsky, Wien/Köln/ Weimar: Böhlau 2009; Gottfried Semper und Wien. Die Wirkung des Architekten auf „Wissenschaft, Industrie und Kunst“, hg. mit Rainald Franz, Wien/ Köln/Weimar: Böhlau 2007.

Irene Nierhaus ist Professorin für Kunstwissenschaft und Ästhetische Theorie an der Universität Bremen. Sie ist Leiterin des Forschungsfelds wohnen  +/−ausstellen des Mariann Steegmann Instituts. Kunst & Gender in Kooperation mit dem Institut für Kunstwissenschaft und Kunstpädagogik der Universität Bremen. Seit 2009 ist sie Mitglied des Editorial Board Interiors: Design, Architecture, Culture Journal, Kingston (GB), seit 2013 ist sie im Beirat von FKW//Zeitschrift für Geschlechterforschung und visuelle Kultur. Forschungsschwerpunkte zur visuellen und räumlichen Kultur, insbesondere zu Beziehungen zwischen Kunst, Architektur und bildnerischen Medien des 19. und 20. Jahrhunderts und der Gegenwart; medientransversale und theoretisch orientierte Studien zu Bild und Raum mit dezidierter Gegenstandsorientiertheit in kulturwissenschaftlicher Kontextbildung. Buchpublikationen u.  a: Landschaftlichkeit zwischen

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Autor_innen Kunst, Architektur und Theorie, hg. mit Josch Hoenes und Annette Urban, Berlin: Reimer 2010; Urbanografien: Stadtforschung in Kunst, Architektur und Theorie, mit Elke Krasny, Berlin: Reimer 2008; RÄUMEN: Baupläne zwischen Raum, Geschlecht, Visualität und Architektur, mit Felicitas Konecny, Wien: Selene 2002; Arch6: Raum, Geschlecht, Architektur, Wien: Sonderzahl 1999. Artikel u.  a.: „Im Auge des Piloten. Ordnungen des Territorialen in der Aeropittura des Futurismus“, in: Angelika Bartl u.  a. (Hg.): Sehen < > Macht < > Wissen. ReSaVoir. Bilder im Spannungsfeld von Kultur, Politik und Erinnerung, Bielefeld: transcript 2011, S. 59–74; „Landscapeness as Social Primer and Ground: Visual and Spatial Processes Between Biopolitics, Habitation and the Body“, in: Peter Mörtenböck u.  a. (Hg.): Space-Resolution, Bielefeld: transcript 2011, S. 29–42; „The Modern Interior as Geography of Images, Spaces and Subjects: Mies van der Rohe's and Lilly Reich's Villa Tugendhat 1928–1931“, in: Penny Sparke u.  a. (Hg.): Designing the Modern Interior: From the Victorians to Today, Oxford/New York: Berg 2009, S. 107–118.

Eva-Maria Orosz ist Kunsthistorikerin und arbeitet als Kuratorin für angewandte Kunst und Möbel des Wien Museum. Zuvor war sie in Forschungsprojekten zur romantischen Burgveste Franzenburg bei Wien (1801) und zum Architekten Ernst A. Plischke (1903–1992) tätig, dessen Werkkatalog sie erstellte. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Interieurs und Möbel des 19. und 20. Jahrhunderts sowie Museums- und Sammlungsgeschichte. Publikationen und Katalogbeiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte Wiens, u.  a: „Der Makart-Stil. Ein Atelier als Vorbild für das Wiener Interieur“, in: Ralph Gleis (Hg.): Makart – ein Künstler regiert die Stadt, München (u.  a.): Prestel 2011, S. 116–125; „Die Innenausstattung der Bibliothek der Akademie der bildenden Künste Wien“, in: Beatrix Bastl, Cornelia Reiter, Eva Schober (Hg.): Theophil Hansen und die Bibliothek der Akademie der Bildenden Künste Wien, Weitra: Verlag der Provinz 2011, S. 51–70; „Die Wiener Ringstraße in ihrer Vollendung und der Franz-Josefs-Quai“, mit Walter Öhlinger, Wien: Archiv-Verlag 2004. Vielfältige Ausstellungen, u.  a.: Breiter Geschmack. Goldscheider – eine Weltmarke aus Wien (2007); Glanzstücke. Emilie Flöge und der Schmuck der Wiener Werkstätte (2008); zuletzt gemeinsam mit Andreas Nierhaus: Werkbundsiedlung Wien 1932. Ein Manifest des neuen Wohnens (2012/13), gleichnamiger Ausstellungskatalog Wien Museum, Salzburg: Müry Salzmann 2012.

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Wohnen Zeigen Manfredo di Robilant ist Architekt und Architekturhistoriker, sein besonderes Forschungsinteresse gilt der modernen Architektur. Derzeit arbeitet er an der Vorbereitung der XIV. Architektur-Biennale in Venedig (künstlerische Leitung Rem Koolhaas). Er war Postdoktorand an der Polytechnischen Universität Turin und 2012 Visiting Scholar am CCA Montreal. Er hat an der NABA Mailand, an der Samfox School der Washington University in St. Louis sowie am Harvard Studio in Rotterdam unterrichtet. Er war Vertreter des Herausgebers beim Monatsmagazin Il Giornale dell’Architettura und schreibt derzeit für die italienische Architekturzeitschrift Domus. Zahlreiche Artikel, u.  a.: „Oltre la disciplina. La Firenze dell’avanguardia: 1966–1978“, in: Quaderni dell’Accademia di Architettura di Mendrisio, Nr. 2, 2013, S. 196–211; „Looking up. Nationalism and Internationalism in Ceilings 1850–2000“, in: Raymond Quek, Darren Deane und Sarah Butler (Hg.): Nationalism and Architecture, Farnham: Ashgate 2012, S. 171–183; „La memoria ricorrente. Una bibliografia parziale di un termine sensibile“, in: F. Mangone (Hg.): L'architettura della memoria in Italia 1750–1939, Mailand: Skira 2007, S. 390–395; „La tecnica e il disincanto. Carlo Mollino docente 1949–1973“, mit G. Durbiano, in: Sergio Pace (Hg.): Carlo Mollino Architetto (1905–1973). Costruire le modernità, Mailand: Electa 2006, S. 228–241.

Drehli Robnik ist Filmtheoretiker und als Filmkritiker und Edutainer tätig. Er hat Film- und Medienwissenschaft in Wien und Amsterdam studiert, war 1995–2012 extern lehrtätig an den Universitäten in Wien und Brno im Bereich Filmwissenschaft und hat 2012–2014 an einem FWF-Forschungsprojekt zu Political Aesthetics of Contemporary European Horror Film am Ludwig-Boltzmann-Institut für Geschichte und Gesellschaft in Wien gearbeitet. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Theorien zur Beziehung von Film, Politik und Geschichte; Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg im Film; Horrorfilm. Buchpublikationen: Film als Loch in der Wand. Kino und Geschichte bei Siegfried Kracauer, hg. mit Amalia Kerekes und Katalin Teller, Wien/Berlin: Turia + Kant 2013; Film ohne Grund. Filmtheorie, Postpolitik und Dissens bei Jacques Rancière, Wien/Berlin: Turia + Kant 2010; Das Streit-Bild. Film, Geschichte und Politik bei Jacques Rancière, hg. mit Thomas Hübel und Siegfried Mattl, Wien/Berlin: Turia + Kant 2010; Geschichtsästhetik und Affektpolitik. Stauffenberg und der 20. Juli im Film, Wien/Berlin: Turia + Kant 2009.

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Autor_innen Theres Sophie Rohde ist Medien- und Kulturwissenschaftlerin. Sie hat Medienkultur in Weimar und Reggio Emilia studiert und ist seit 2011 Stipendiatin am DFG-Graduiertenkolleg Mediale Historiographien (Weimar/ Jena/Erfurt) mit einem Promotionsprojekt zum Thema Die Bau-Ausstellung zu Beginn des 20. Jahrhunderts oder „Die Schwierigkeit zu wohnen“. Sie war 2009–2011 in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Bauhaus.TransferzentrumDESIGN und der Bauhaus-Universität Weimar tätig und hat in diesem Rahmen zusammen mit Christian Tesch den Band Van-de-Velde-Spaziergang. Auf den Spuren Henry van de Veldes an der Bauhaus-Universität Weimar herausgegeben (Weimar: Verlag der Bauhaus-Universität Weimar 2012). Publikationen u.  a.: „‚Zur Klärung des Wohnwillens‘ – Ludwig Mies van der Rohe und die Strategien des Zeigens auf dem Stuttgarter Weißenhof“, in: Kerstin Plüm, (Hg.): Mies van der Rohe im Diskurs: Innovationen – Haltungen – Werke, Bielefeld: transcript 2013.

Christina Threuter ist seit 2011 Professorin für Kunst-, Design- und Kulturgeschichte an der Hochschule Trier. Sie hat Kunstgeschichte, Ethnologie und Pädagogik studiert, promovierte 1993 mit einer Arbeit über den Architekten Hans Scharoun an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz und wurde 2006 mit einer Arbeit über die Wohnhäuser von Künstlerinnen an der Universität Trier habilitiert. Sie lehrte und forschte an der Universität Trier, der Universität des Saarlandes, der Universität zu Köln, der TU München und der Justus-Liebig-Universität Gießen. Daneben war sie Kuratorin und wissenschaftliche Mitarbeiterin zahlreicher kunst- und kulturgeschichtlicher Ausstellungen. 1994–2006 war sie Mitherausgeberin der Fachzeitschrift FKW//Zeitschrift für Geschlechterforschung und Visuelle Kultur. Sie ist Autorin bzw. Mitherausgeberin zahlreicher Buchpublikationen und hat vor allem zur Visuellen Kultur und Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts publiziert.

Andreas K. Vetter ist Professor für Kunst- und Kulturgeschichte an der Detmolder Schule für Architektur und Innenarchitektur/Hochschule OWL. Er hat Rechtswissenschaften, Kunstgeschichte, Geschichte und Baugeschichte in Tübingen, Wien, Karlsruhe und Heidelberg studiert. Er hatte eine wissenschaftliche Assistenz an der Staatsgalerie Stuttgart inne und hat Lehraufträge an der HfG Karlsruhe, der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart und der Leibniz Universität Hannover übernommen. Seine Arbeitsschwerpunkte sind: Architekturgeschichte

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Wohnen Zeigen (Wohnen), Architekturtheorie 20./21. Jahrhundert, bildwissenschaftliche Konzepte. Publikationen u.  a.: raumtexte – Eine Anthologie zur literarischen Innenarchitektur, Bielefeld: Aisthesis 2011; Leere Welt. Über das Verschwinden des Menschen aus der Architekturfotografie, Heidelberg: Manutius 2005; Die Befreiung des Wohnens, Tübingen: Wasmuth 2000.

Michael Zinganel arbeitet als Kulturwissenschaftler, Architekturtheoretiker, Künstler und Kurator in Wien. Er hat Architektur an der TU Graz studiert und in Geschichte an der Universität Wien promoviert. 2003 war er Research Fellow am Internationalen Institut für Kulturwissenschaften Wien (IFK), außerdem war er Universitäts-Assistent am Institut für Gebäudelehre an der TU Graz und hatte Lehraufträge und Gastprofessuren an unterschiedlichen Universitäten inne, zuletzt am Kolleg der Bauhaus-Stiftung Dessau. Er hat Projekte u.  a. zu leer stehenden Gemeinschaftseinrichtungen im Wohnbauprogramm des Roten Wien (1995), zur Nachkriegsgeschichte des anonymen Einfamilienhauses in Österreich (1998) und zur Produktivkraft des Verbrechens für die Entwicklung von Sicherheitstechnik, Architektur und Stadtplanung realisiert. Seit 2003 arbeitet er über urbane und transnationale Mobilität, Massentourismus und Migration, u.  a. bei Shrinking Cities II Leipzig (2005), Open Cities, 4. Internationale Architektur-Biennale Rotterdam (2009) und Ruhr.2010 (mit Michael Hieslmair). Seit 2010 leitet er das Forschungsprojekt Urlaub nach dem Fall. Geschichte und Transformation sozialistischer Ferienanlagen an der Kroatischen Adria und der Bulgarischen Schwarzmeerküste. http://www.zinganel.mur.at

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