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German Pages 434 Year 2019
Mechthild Duppel-Takayama, Wakiko Kobayashi, Thomas Pekar (Hg.) Wohnen und Unterwegssein
Edition Kulturwissenschaft | Band 172
Mechthild Duppel-Takayama, Wakiko Kobayashi, Thomas Pekar (Hg.)
Wohnen und Unterwegssein Interdisziplinäre Perspektiven auf west-östliche Raumfigurationen
Gedruckt mit Fördermitteln der Gesellschaft der Philologischen Fakultät der Gakushuin Universität (Gakushūin daigaku bungaku-kai) und des Programms zur Forschungsförderung der Sophia Universität (Jōchi daigaku kojin kenkyū seika hasshin shōrei-hi).
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Zeichnung Soziales Netz Wege von Norbert Schmitt (www.nobt.de), © 2018 Onlineatelier Satz: Mark-Sebastian Schneider, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4327-5 PDF-ISBN 978-3-8394-4327-9 https://doi.org/10.14361/9783839443279 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 9 Einleitung Mechthild Duppel-Takayama/Wakiko Kobayashi/Thomas Pekar | 11
T eil I I nterdisziplinäre Z ugänge Pattern Language und konomi-Konzept Zu Christopher Alexanders Eishin Campus der Higashino Highschool in Saitama Walter Ruprechter | 39
In Bildern wohnen Mensch und Haus bei Ozu Yasujirō Andreas Becker | 55
Max Dauthendeys Idee von der »bewegten Rahmenlosigkeit« der japanischen »plastischen« Bühne Arne Klawitter | 69
Ort der Gespenster Klänge und Stimmen in Time’s Journey Through a Room von Okada Toshiki Mariko Harigai | 91
Ohne Netz und doppelten Boden Zur Dynamik der Raumer fahrung bei Alfred Schütz und Nishida Kitarō Jan Straßheim | 115
Auf der Brücke wohnen Über Heideggers Bauen und Wohnen nachdenken Kanichiro Omiya | 139
Unterwegs in der Oekumene Augustin Berques west-östliche Transtopologie Michael Wetzel | 157
»Sanka« als Diskursfigur der Modernisierung Japans Kosuke Endo | 181
T eil II K ultur - und literaturwissenschaftliche Z ugänge Fatale Verfehlung, verratene Lockvögel Zum katastrophalen Reiseverlauf in Endō Shūsakus Samurai Markus Joch | 207
Die Strandhütten des Südmeers Wohnen in insularen Stimmungslandschaften Thomas Schwarz | 231
Inklusion/Exklusion Zur Ambivalenz des Hauses bei Kafka und Musil Alexander Honold | 255
Grenzüberschreitung Analyse der Raumdarstellungen in Rober t Musils Die Versuchung der stillen Veronika und Der Mann ohne Eigenschaften Minami Miyashita | 273
Zum Innenraumdiskurs in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften Transkulturelle Perspektiven im Blick auf Japan Thomas Pekar | 293
Hotel als interkultureller Schauplatz Eine west-östliche Perspektive Kikuko Kashiwagi-Wetzel | 315
Tuberkulose-Sanatorien in den Japanischen und Schweizer Alpen Thomas Manns Zauberberg und Hori Tatsuos Kaze tachinu Christopher Schelletter | 335
Unterwegssein und Wohnen in Thomas Manns Josephsroman Midori Takata | 357
Wohnen und menschliches Leben Überlegungen anhand von Wo ich wohne und Gare maritime von Ilse Aichinger und Yamamba von Terayama Shūji Wakiko Kobayashi | 371
Junk Space im Zeitalter des Neoliberalismus Eine poetologische Chronotopographie bei Kathrin Röggla Hiroshi Yamamoto | 391
Unverbindliches Wohnen in der japanischen Gegenwartsliteratur Yoshimoto Bananas Kitchin und Murata Sayakas Konbini ningen Mechthild Duppel-Takayama | 411
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren | 427
Vorwort
Der vorliegende Band dokumentiert die Beiträge zu einer internationalen Tagung, die unter dem Titel »West-östliche Raumfigurationen. Wohnen – Unterwegssein« im Oktober 2017 an der Gakushuin Universität in Tokyo stattfand. Dieser Tagung ging ein Workshop im September 2016 voraus. Beide Veranstaltungen wurden durch Forschungsmittel der Japanese Society for the Promotion of Science (JSPS)1 gefördert. Unterstützt haben weiter das Research Institute for Humanities und das Seminar für deutsche Sprach- und Kulturwissenschaften der Gakushuin Universität sowie der Deutsche Akademische Austauschdienst (Außenstelle Tokyo). Die Gesellschaft der Philologischen Fakultät der Gakushuin Universität 2 und das Programm zur Forschungsförderung der Sophia Universität3 übernahmen die Druckkosten für dieses Buch. All diesen Institutionen sei an dieser Stelle recht herzlich gedankt. Die Tagung sowie das Buch wurden durch eine Tokyoter Forschungsgruppe vorbereitet,4 deren Mitglieder hier mit Beiträgen vertreten sind. Ihnen allen danken wir für Kompetenz, Elan und Engagement. Darüber hinaus einen ganz herzlichen Dank an Itō Mashiro (Tokyo) für die Begutachtung des Textes.
1 | JSPS Grant Number 15K02420. 2 | 学習院大学文学会研究成果刊行助成金支給 3 | 上智大学個人研究成果発信奨励費 4 | Zur Geschichte dieser Forschungsgruppe vgl. den Beitrag von Duppel-Takayama auf der Homepage der Japanischen Gesellschaft für Germanistik ›http://www. jgg.jp/modues/kolumne/details.php?bid=150‹ (Zugriff am 15. 3. 2018).
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Wohnen und Unter wegssein
E inige H inweise zur S chreibung Japanische Personennamen werden der in Japan üblichen Reihenfolge entsprechend geschrieben: der Familienname an erster Stelle, der Vorname danach. Ausgenommen sind die Namen der Autorinnen und Autoren dieses Bandes im Inhaltsverzeichnis sowie zu Beginn des jeweiligen Aufsatzes. Japanische Begriffe werden – mit Ausnahme der im Duden verzeichneten Termini – kursiv und klein geschrieben; die Transkription beruht auf der Hepburn-Umschrift. Folgende Städtenamen werden im Text ohne Längungsstriche geschrieben: Tokyo, Osaka, Kyoto, Kobe. Die Buchtitel im Text (einschließlich Titel von Übersetzungen) werden kursiv geschrieben. Titel in Anführungszeichen geben die Bedeutung von Originaltiteln wieder, wenn keine Übersetzung vorliegt. Sämtliche Zitate aus japanisch- bzw. fremdsprachigen Quellen wurden, sofern nicht anders angegeben, von den Autoren bzw. Autorinnen des jeweiligen Beitrags ins Deutsche übersetzt.
Einleitung Mechthild Duppel-Takayama/Wakiko Kobayashi/Thomas Pekar Vor dem Hintergrund des mittlerweile hinlänglich bekannten spatial turn, dem – geleitet vor allem von den Arbeiten des französischen Soziologen und Philosophen Henri Lefebvre1 und des amerikanischen Humangeografen Edward Soja (vgl. z. B. Soja 1989 u. Soja 2009) – die grundlegende Einsicht von der dynamisch-menschlichen Raumproduktion zu verdanken ist, ist »Raum« im west-östlichen Kontext zweifellos ein aktuelles und faszinierendes Thema, zu welchem auch bereits zahlreiche und grundsätzliche Arbeiten erschienen sind.2 Raum wird grundsätzlich nicht als ein vorhandener Container verstanden, sondern entsteht als soziales Produkt bzw. als ein »aktiv geknüpfte[s] Netz« (Kamleithner/Meyer 2013: 14) auf der Ebene der Wahrnehmung, des Handelns und Lebens in ihm und der Vorstellungen von ihm.3 In unterschiedlichen Kulturen gibt es deshalb auch ganz unterschiedliche Raumvorstellungen. Jede Kultur produziert einen ihr eigenen Raum und hat ihre je spezifische Raumpraxis. In diesem Band werden das Wohnen betreffende Vorstellungen aus West (vor allem aus dem deutschsprachigen Bereich) und Ost (vor allem aus Japan) aufeinander bezogen, allerdings idealiter nicht aus kulturver1 | Sein 1974 erstmalig erschienenes Buch La production de l’espace gehört zu den Gründungstexten der Raumtheorie (vgl. Lefebvre 4 2000 [1974]). 2 | Zur Architektur bzw. zum Raum, Wohnen und Haus in Japan vgl. u. a. die folgenden Arbeiten (in westlichen Sprachen): Taut 1997 [1937]; Blaser 1958; Herold 1987; Kirsch 1996; Deutsches Institut für Japanstudien 2001; Schittich 2002; Sand 2003; Nakagawa 2005; Taschen 2006; Krusche 2008 u. Nuijsink 2012. Einige aktuelle japanischsprachige Arbeiten sind u. a.: Koizumi 2010; Shibata 2017 u. Kitahara 2018. 3 | Vgl. dazu auch die Arbeiten der Raumsoziologin Martina Löw (z. B. Löw 2012).
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gleichenden Perspektiven. Ohne in eine ausführlichere methodologische Diskussion um die grundsätzlichen Möglichkeiten eines Kulturvergleichs einzusteigen,4 erscheinen uns Überlegungen Edward Sojas zum Thirdspace und des französischen Philosophen und Sinologen François Jullien zum kulturellen Abstand für unser Projekt leitend: Sojas Thirdspace5 versucht Dualismen, die binäre Logik, zu überwinden und stattdessen »sowohl-als-auch«-Begriffe zu finden.6 Das von uns verwendete Titelwort vom »West-Östlichen« bzw. »Ost-Westlichen« soll in diesem Sinn nicht als binärer Trennungsbegriff, sondern stattdessen als ein solcher flexibler Begriff, der im Grunde dauernde Übergänge und Wechselseitigkeiten bezeichnet, aufgefasst werden, um damit ein kulturelles bzw. transkulturelles Verständnis auszudrücken, welches nicht von Identität, sondern von einer permanenten Mutation und Veränderung geprägt ist.7 Gleichwohl gibt es natürlich kulturelle Diversität, der – und dies ist der Vorschlag Julliens – man sich mithilfe des Konzepts des Abstands und nicht primär unter dem Gesichtspunkt der Differenz nähern soll. Abstand richte, so Jullien, »den Blick auf eine Entfernung« und sei eine »Denkfigur [...] der Exploration, die andere Möglichkeiten zutage fördert« (Jullien 3 2018 [2016]: 36f.), während Differenz »auf eine Unterscheidung« und eine Identität setze (ebd.: 36).8 Diesen Überlegungen folgend, wird hier vor al4 | Vgl. in Hinsicht auf den Vergleich von Japan und Europa u. a. Shimada 1994. Er formuliert zwar einige Vorbehalte gegenüber dem Kulturvergleich, etwa, dass in ihm Kultur »als eine essentielle Identität angesehen« werde oder dass in ihm Erscheinungen einer »fremden« Kultur in den »westlichen Kontext übersetzt« werden (Shimada 1994: 253), doch bleibt seine Studie, u. a. über Zeit, Raum und Körper in Japan und Europa, grundsätzlich kulturvergleichend (vgl. auch Shimada 2 2007 [2000]: 20-32). 5 | Vgl. Soja 1996; Soja 2003 u. Soja 2009. 6 | »Es gibt immer auch einen anderen Begriff, eine dritte Möglichkeit, die die geschlossene Logik des kategorischen Denkens in ›entweder-oder‹-Begriffen durchbricht und stattdessen zu anderen, flexibleren Formen des Denkens in Kategorien von ›sowohl-als-auch‹ führt« (Soja 2003: 277). 7 | Jullien spricht explizit nicht von kultureller Identität, »da Kultur sich dadurch auszeichnet, dass sie mutiert, dass sie sich permanent verändert« (Jullien 3 2018 [2016]: 7f.). 8 | Vgl. auch: »Die Differenz [...], die mit der Identität einhergeht, isoliert und ›essenzialisiert‹ die Kulturen« (ebd.: 76).
Einleitung
lem der Abstand von westlichen zu japanischen Raum- und Wohnkonzepten erfasst,9 der durchaus auch als Ressource gegenseitiger Anregungen verstanden werden kann.10 Das Wohnen »im Sinne eines Sich-Niederlassens, Bleibens und Ruhens an einem geschützten Ort« (Hahn 2004: 1015) ist sicherlich als ein universelles Konzept anzusehen, welches in seiner je nach sozialer Einheit unterschiedlichen »Ausgestaltung des Raumes« (Elias 1983: 70) zu einer sichtbaren Repräsentation der jeweiligen Eigenart dieser bestimmten sozialen Einheit (sei es eine Gruppe von Menschen, eine Gesellschaft oder eine Kultur) findet.11 Diese durch das Wohnen stattfindenden Raumfigurationen12 lassen sich sinnvollerweise wohl nicht überzeitlich-philosophisch,13 sondern nur historisch14 oder, wie hier, primär unter einer 9 | Vgl. dazu u. a. Shimada 1994: 123-165; als grundsätzliche japanische räumliche Orientierungsmuster nennt er die sprachlichen Gegensatzpaare von uchi-soto [innen-außen] und omote-ura [Vorder- und Rückseite]. 10 | »Mit dem Abstand können wir diese identifizierende Perspektive nun hinter uns lassen: Er bringt keine Identität zum Vorschein, sondern das, was ich als ›Fruchtbarkeit‹ oder, anders ausgedrückt, als Ressource bezeichnen würde« (Jullien 3 2018 [2016]: 43). 11 | »[D]er Niederschlag einer sozialen Einheit im Raume, der Typus ihrer Raumgestaltung [ist] eine handgreifliche, eine – im wörtlichen Sinne – sichtbare Repräsentation ihrer Eigenart« (Elias 1983: 71). So sind dann auch über »die Untersuchung der Haus- und Raumgestaltung« (ebd.: 95) einer Kultur Einblicke in ihre Struktur möglich. 12 | Elias beschreibt z. B. den europäischen Fürstenhof als eine solche Raumfiguration, in der sich Menschen über Generationen hinweg zusammengefunden haben (vgl. ebd.: 60f.). 13 | Heideggers Vortrag und späterer Aufsatz Bauen Wohnen Denken (von 1951) wäre als ein solcher Versuch aufzufassen. Vgl. dazu auch die Beiträge von Ōmiya und Wetzel in diesem Band (S. 139ff. u. S. 157ff.). 14 | Zur historischen Herausbildung des modernen Wohnens (als einem idealtypischen Konstrukt) für den europäischen Bereich vgl. z. B. Häußermann/Siebel 1996; für die moderne japanische Architektur (seit etwa 1900) vgl. z. B. Schittich 2002: 33-45; zur historischen Entwicklung des japanischen Wohnens vgl. z. B. Ozawa/Mizunuma 2006 u. Miyamoto 2007; besonders seit der Meiji-Restauration bis zur Gegenwart u. a.: Suzuki 1999; Suzuki 2002; Yoshida 2004 u. Watanabe 2008.
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transkulturellen Perspektive betrachten, d. h. vor allem unter dem Aspekt fortlaufender kultureller Wechselseitigkeiten und Durchdringungen. Zweifellos wurde und wird das Wohnen in Japan in anderer Weise konzipiert und verwirklicht als im Westen bzw. in Europa.15 Diese anderen japanischen Wohnformen (was beispielsweise auch andere urbane Lebensformen betrifft) bieten – im Sinne von Julliens »Ressource« – eine Vielzahl von Anregungen für die Fortentwicklung von Wohn- und Lebensformen dann auch in nicht-japanischen Kulturen. Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Die enorme Siedlungsverdichtung in den japanischen Stadtregionen, wie etwa derjenigen Tokyos,16 verbunden mit der ungebrochenen japanischen Vorliebe für Einfamilienhäuser, führt nicht nur zu ungewöhnlichen Hauskonstruktionen, zu »kleinen Raumwundern« (Schittich 2016: 6), sondern zu Um- und Neudefinitionen des Wohnens bzw. des städtischen Wohnens überhaupt.17 Diese Neuansätze knüpfen z. T. an traditionelle japanische Wohnkonzepte an,18 brechen aber gleichzeitig mit modernen, eher westlichen Wohn15 | Als Blick aus traditioneller japanischer Perspektive u. a. auf europäische Wohnformen ist die erstmalig 1867 erschienene Broschüre Seiyō ishokujū des japanischen Modernisierungs-Befürworters Fukuzawa Yukichi anzusehen (vgl. die deutsche Übersetzung Kleider, Speisen und Wohnen im Westen, Fukuzawa 2008 [1867]). 16 | In diesem größten urbanen Ballungsraum der Welt leben beinahe 15.000 Menschen auf einem Quadratkilometer, mehr als dreimal so viele wie in München, mit 4.600 Einwohnern pro Quadratkilometer die am dichtesten besiedelte Großstadt Deutschlands. 17 | Auf die Besonderheit der Verstädterung (als eines globalen Phänomens) bei der Raumproduktion hat ebenfalls Lefebvre hingewiesen (vgl. Lefebvre 1972 und dazu u. a. Guelf 2010). 18 | Traditionellerweise ist die Lebensdauer der japanischen Häuser begrenzt; zur Zeit beträgt sie für Wohnhäuser ca. zwanzig bis dreißig Jahre. Dann werden sie abgerissen, und auf demselben Grundstück wird neu gebaut. Dieses Konzept der ständigen Erneuerung kann man damit verbinden, dass früher in Japan die ShintōSchreine alle zwanzig Jahre abgerissen und neu errichtet wurden (vgl. Krusche 2010: 12f.). Dies wird heute in dieser Regelmäßigkeit nur noch beim Ise jingū, dem wichtigsten Schrein Japans, gemacht. Weiter ist die Entfunktionalisierung der Räume, d. h. ein offenes Raumkonzept, ein Merkmal traditioneller japanischer Häuser, in denen die einzelnen Bereiche mittels Schiebewänden voneinander
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formen, die sich in Japan seit Beginn der 1950er Jahren mit der Entstehung der modernen Apartmentwohnungen herausgebildet haben. Diese Apartments, bestehend zumeist aus zwei Zimmern und einer Essküche, befinden sich oft in clusterförmig auftauchenden Apartmentblocks, danchi, genannt, und entsprechen in etwa der idealtypischen europäischen Wohnung. Sie bedeuteten einen Bruch mit der japanischen Tradition in der Hinsicht, dass »damit zum ersten Mal in Japan abgeschlossene Wohneinheiten entstanden« (Shimada 1994: 145). Die Schiebetür wurde durch das Zylinderschloss ersetzt, was, wie Shimada ausführt, weitreichende soziokulturelle Folgen hatte, wie die einer »eindeutige[n] Abgrenzung des Wohnraumes gegenüber dem Außen« (ebd.: 147) oder die einer verstärkten sozialen Isolierung (vgl. dazu auch aus japanischer Perspektive Isoda 1987).19 Die gegenwärtig neu konzipierten und innovativen Einfamilienhäuser20 bedeuten in Hinsicht auf das Wohnen eine zunehmende Temporalität, was heißt, dass die einfach konstruierten Minihäuser (die oft eine Grundstücksgröße von nicht mehr als 35 Quadratmetern haben)21 von vornherein auf keine allzu lange Lebensdauer angelegt sind, also als »Häuser mit Verfallsdatum« (Rössler 2000: 5) aufgefasst werden (bedingt getrennt und bei Bedarf wieder flexibel zusammengeführt werden können. »Ein einziger Raum statt einer Reihe von differenzierten Räumlichkeiten, das Fehlen von festen Scheidewänden, die durch durchscheinende und verschiebbare Trennwände ersetzt werden, die Transparenz der Hülle (die Wände sind aus Papier) [...], machen die Räume veränderbar [...]« (Camesasca 1971: 350). Vgl. hierzu und zu dem Folgenden auch den Beitrag von Duppel-Takayama (S. 411ff.). 19 | Genauso bedeutend war die Etablierung des schiebbaren Metall-Fensterrahmens mit Glasfenster (sasshi) in den 1970er Jahren. Dies ermöglichte eine viel bessere Isolierung, was vor allem bei einem Einfamilienhaus zur Verkleinerung des Schwellenbereichs zwischen dem Außen und dem Innen – wie z. B. Veranda (engawa) und Garten – führte. Vgl. Watanabe 2008: 52-55. 20 | Vgl. dazu folgende Einschätzung: »Worldwide, the typology of the singlefamily home has produced extraordinary statements about housing, but none of them can compete with the variety of innovations developed in Japan. Nowhere else in the world have so many architects built so many small and unique detached houses« (Nuijsink 2012: 23). 21 | Vgl. z. B. das Small House, gebaut von Unemori Architects (vgl. Schittich 2016: 14).
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auch durch den häufig verwendeten traditionellen Baustoff Holz); weiter ist eine Entfunktionalisierung der einzelnen Wohnräume zu finden22 und schließlich eine Öffnung des Wohnens zur umgebenden Stadt bzw. zu der vor dem Haus befindlichen Straße.23 Diese drei Momente, Temporalität, Entfunktionalisierung und Öffnung, die zwar nach dem Krieg immer mehr verloren gegangen waren, aber seit einigen Jahren wieder Aufmerksamkeit auf sich ziehen, verbinden die neuen Entwicklungen mit der japanischen Tradition. Besonders der letzte Punkt der Öffnung verdient Beachtung, da er das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit betrifft:24 Das private 22 | Dies im starken Gegensatz zur Funktionalisierung der Wohnräume bei der Herausbildung des modernen Wohnens in Europa: Hier gilt die typische Aufteilung der Wohnung in großes Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Kinderzimmer, Bad, WC und die Auslagerung der Arbeit aus dem Haus (vgl. Häußermann/Siebel 1996: 16). Dazu bestand im historischen Unterschied das »ganze Haus«/Oikos, welches bis ins 19. Jahrhundert »das Fundament der europäischen Sozialstruktur« (Brunner 21968 [1956]: 107) war und in welchem sich oft in nur einem einzigen Raum das gesamte Leben (einschließlich der Arbeit) abspielte. Shimada sieht einige Parallelen zwischen diesem Konzept und dem traditionellen japanischen Haus bzw. Haushaltskonzept ie, welches gleichzeitig auch ein bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs favorisiertes Familienkonzept bzw. Konzept der japanischen Gemeinschaft überhaupt war (vgl. Shimada 1994: 135ff. u. Shimada 2 2007 [2000]: 5261). Zum ie vgl. auch die Beiträge von Becker, Endō und Duppel-Takayama (S. 55ff.; S. 181ff. u. S. 411ff.). 23 | Ein Beispiel dafür ist das 2010 gebaute House NA des japanischen Architekten Fujimoto Sou, bestehend aus einer Stahlkonstruktion mit verglasten und transparenten Außenflächen, sodass der Innenraum mit der umgebenden Stadt verschmilzt. Auch hat das Haus keine vorgegebenen Zimmer, sondern bietet seinen Bewohnern unterschiedliche »Nistplätze« an (vgl. Schittich 2016: 6f. und ›https:// www.archdaily.com/230533/house-na-sou-fujimoto-architects‹ [Zugriff am 13. 3. 2018]). 24 | In der japanischen Tradition ist der Übergang zwischen Privatheit und Öffentlichkeit bei Häusern allerdings auch fließend. Der Übergang von innen nach außen wird durch verschiedene Übergangsbereiche markiert; betrachtet man dies am Beispiel eines traditionellen japanischen Handwerkerhauses, so bestehen diese Bereiche bzw. Abstufungen in Folgendem: »Aneignung des Straßenraums durch Auslagen, dann Vordach, Jalousien, Schiebetür und schließlich die innere Ein-
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Wohnen wird auf seine Kernfunktion als Ruhe- und Rückzugsort reduziert – man spricht in dieser Hinsicht vom »›Cockpit-Effekt‹ japanischer Wohnungen« (Rössler 2016: 27) oder vom »Wohnen außer Haus« (Hageneder 2000: 46); andere Funktionen, wie z. B. das Essen, das Baden und Waschen, die Freizeitgestaltung oder das Sexualleben, werden in die extrem kleinteiligen, die Wohnung umgebenden Stadtquartiere ausgelagert:25 Für die Ernährung sind unzählige Nudelküchen, Imbissstände oder kleine Restaurants in der Nachbarschaft der Wohnung zuständig; zum Baden (obwohl man zu Hause natürlich über ein kleines Bad verfügt) geht man ins Badehaus, Schwimmbad oder das Fitness-Studio, zum Waschen in den Waschsalon um die Ecke, zur Unterhaltung in den Pachinko-Spielsalon, in eine Karaoke-Box oder ein Internetcafé26 und zum Sex in eines der zahlreichen Love-Hotels.27 Diese Orte hat der japanische
gangsstufe« (Roost 2010: 63f.). Diese Begrenzungen sind z. T. auch flexibel, denn die Schiebetüren können geschlossen, die Jalousien herabgelassen werden. Vgl. dazu auch Shimada, der das traditionelle japanische Haus »nach allen Seiten von einer Zwischenzone umgeben« sieht (Shimada 1994: 128). 25 | Für Tokyo ist das unvermittelte Nebeneinander zwischen extrem großen Strukturen (wie im Hochhausgebiet Shinjuku) und kleinteiligen Quartieren in den Wohnvierteln typisch, was u. a. zum Eindruck eines städtebaulichen Chaos bei europäischen Besuchern führt (vgl. z. B. Schittich 2002: 9). Die kleinteiligen Stadtviertel bestehen aus eng nebeneinander stehenden Einfamilienhäusern in Holzbauweise, kleineren Gewerbebauten, kleinen Geschäften und den allgegenwärtigen konbini-Shops, in denen man rund um die Uhr einkaufen, Bank- und Postgeschäfte erledigen oder sich Konzertkarten besorgen kann. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Duppel-Takayama (S. 411ff.). Diese Viertel erinnern eher an Kleinstädte oder gar an Dörfer als an eine Megalopolis, geben jedoch aufgrund ihrer kleinteiligen kommerziellen Strukturen ihren Bewohnern eine hohe Lebensqualität. 26 | Intānetto kafe genannt. Als einen vergleichbaren Ort gibt es auch manga kissa. Hier können abgetrennte Bereiche angemietet und stundenweise zur MangaLektüre, zum Surfen im Internet oder auch nur zum Mittagsschlaf genutzt werden (vgl. Roost 2010: 105f.). Vgl. hierzu auch den Beitrag von Kobayashi (S. 371ff.). 27 | Diese dienen Paaren aufgrund der beengten Wohnverhältnisse als zeitweiliger Rückzugsort. Prostitution spielt hier eine untergeordnete Rolle, weshalb die Love-Hotels im Allgemeinen nicht als anrüchig gelten, sondern im Stadtbild auf-
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Stadtforscher Tsukamoto Yoshiharu, in Anlehnung an Gilles Deleuze,28 dividual spaces29 genannt, da sie nur stundenweise angemietet sind und mit anderen geteilt werden.30 Auch der Straßenraum erhält neue, der Ent-privatisierung der Wohnungen entsprechende traditionelle Funktionen zurück, indem er immer mehr zu einem »Raum der Aneignung« bzw. zu einem gelebten Raum wird (Krusche 2010: 5). Dies zeigt sich nicht zuletzt auch daran, dass Anwohner diesen Raum oft in der Weise in »Besitz« nehmen, dass sie auf den Gehsteigen informelle kleine Gärten anlegen31 und so die Straße in »einen Aufenthaltsraum« verwandeln (Roost 2010: 98). Auch versucht man in den engen Straßen der Wohnviertel den Autoverkehr zu entschleunigen und den Straßenraum wieder allen Verkehrsteilnehmern zur Nutzung zu eröffnen.32 Wie diese Beispiele zeigen, löst sich in den japanischen Stadtregionen zunehmend die Dichotomie von Wohnen zu seinem Gegensatz auf, was man, wie hier, als das Unterwegssein bezeichnen könnte; es entstehen grund ihrer auffälligen Fassaden eine deutliche Präsenz zeigen (vgl. Roost 2010: 104f.). 28 | »We no longer find ourselves dealing with the mass/individual pair. Individuals have become ›dividuals‹ [...]« (Deleuze 1992: 5). 29 | Definiert wird der »dividual space« als »hybridization of public, domestic, and commercial realms« (Caballero/Tsukamoto 2006: 301; vgl. auch Caballero/ Tsukamoto 2007). 30 | »Das Konzept des dividual space zeigt [...] eine Art temporäres Abtrennen vom öffentlichen Bereich zur privaten und individuellen Benutzung. Der öffentliche Raum wird durch das stundenweise Mieten gewissermaßen zum privaten Bereich ›umgedeutet‹ – aus dem öffentlichen wird temporär ein privater Raum« (Roost 2010: 105f.). Man kann daraus diese weitreichende Konsequenz ziehen: »Dividual space shows that in the Japanese city public urban life can no longer be described by means of the dichotomy of ›private vs. public‹« (Caballero/Tsukamoto 2006: 308). 31 | Dies wird als »eine Form des Bottom-up-Urbanismus« von der Stadtverwaltung akzeptiert (Roost 2010: 63). Man hat dafür den Begriff »hybrid landscape« geprägt (Jonas 2007), die besonders in Hintergassen (roji) in japanischen Städten zu finden ist (vgl. Imai 2018 und Schulz/Brumann 2012). 32 | In Europa werden solche Maßnahmen unter dem Begriff shared space in einigen Städten als Modellprojekte durchgeführt (vgl. Roost 2010: 99f.).
Einleitung
neue Raumproduktionen, hybride Formen zwischen Wohnen und Unterwegssein wie das »nomadische Wohnen«33 oder das Wohnen außer Haus. Diese Situation und diese Entwicklungen in Japan sind wohl als die Spitze globaler Tendenzen anzusehen, die auch westliche Wohnkonzepte und westliche Städte,34 in ihrem Übergang zu bescheideneren bzw. ökologischeren Lebens- und Wohnformen35 bzw. zu postindustriellen Dienstleistungsangeboten für metropolitane Stadtnomaden, betreffen werden.36
Z u den B eitr ägen des B andes Die insgesamt neunzehn Beiträge dieses Bandes, zusammengetragen von sowohl etablierten Forschern und Forscherinnen als auch Nachwuchswissenschaftlern und -wissenschaftlerinnen, beleuchten aus interdisziplinären und transkulturellen Perspektiven Phänomene des Wohnens und Unterwegsseins vor allem im östlich-japanischen wie auch im westlich-deutschsprachigen Bereich, wobei ein besonderes Augenmerk auf die Verschränkung dieser Bereiche gelegt wird. Im ersten Teil des Buches, »Interdisziplinäre Zugänge« betitelt, werden dazu Ansätze aus der Architekturtheorie, Film- und Theaterwissenschaft, Diskursanalyse, Philosophie und Kulturgeografie herangezogen; im zweiten Teil geht es um literatur- und kulturwissenschaftliche Analysen. Eröffnet wird der Band mit derjenigen Wissenschaft, die als die Leitwissenschaft für Raumfragen angesehen wird: die Architektur. Walter Ruprechter stellt in seinem Beitrag »Pattern Language und konomiKonzept« eine japanisch-westliche Architektur-Kooperation vor, näm33 | Vgl. dazu auch Rössler 2016: 28. 34 | Angesichts des Wohnungsmangels in deutschen Großstädten ist gegenwärtig von einer »neuen Wohnungsfrage« die Rede (Schönig/Kadi/Schipper 2017:11). 35 | Das z. B. durch Migration bedingte Wachstum der Städte wird es auch in Europa notwendig machen, auf weniger Quadratmetern zu leben und kleinere Häuser zu bauen. Die Notwendigkeit zum ökologischen Umbau der Städte zeigt schon allein die u. a. durch den Pkw-Verkehr bedingte Luftverschmutzung, die ja gerade gegenwärtig in Deutschland zu heftigen Diskussionen etwa über Fahrverbote in den Städten für Dieselautos führt. 36 | »At the turn of the 21st century, globalization has transformed the earth into a planet of nomads« (Ikas/Wagner 2009: 1).
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lich den Bauprozess eines Schulgeländes in Japan durch den aus Wien stammenden US-amerikanischen Architekten und Architektur-Philosophen Christopher Alexander. Bei diesem Bauprozess wandte Alexander seine Methode der Pattern Language an, in der Ruprechter eine besondere Form der Transkulturalität erkennt. Ein wesentliches Element dieser Pattern Language bedeutet die Beteiligung aller späteren Nutzer des Gebäudes, sodass sich hier schon von selbst, durch die Zusammenarbeit der japanischen Nutzer (Lehrer, Schüler) und des westlichen Architekten, Transkulturalität ergab. Darüber hinausgehend sieht Ruprechter in Alexanders Architekturästhetik, die er als »Dekonstruktion planerischer Rationalität« (S. 46) versteht, eine gewisse Verwandtschaft zu traditionellen japanischen Bautraditionen, die unter dem Namen konomi-Konzept zu fassen sind, wobei unter konomi in diesem Fall eine Art Regelwerk für die Ausführung eines Baus zu verstehen ist. Das Ergebnis dieser praktisch-ästhetischen transkulturellen Kooperation sei, so Ruprechter, ein zwischen japanisch und westlich oszillierender Schulcampus. Auch im zweiten Beitrag, »In Bildern wohnen«, geht es um Architektur, freilich um Filmarchitektur. Andreas Becker untersucht hier die für seine Filme akribisch gebauten Innenräume des japanischen Regisseurs Ozu Yasujirō. Beckers These ist, dass Ozus Filmarchitektur das Modell der japanischen Architektur zugrunde liegt, weshalb er einige Grundzüge dieser Architektur am Beispiel des traditionellen japanischen Hauses aufzeigt, wie z. B. seine Schattenhaftigkeit, seine »unpraktische« Ästhetik und seine besondere Atmosphäre, die vor allem von der Durchlässigkeit dieses Hauses gegenüber dem Außenbereich (der Natur) erzeugt wird. Was Ozu nun in seinen Filmen aufzeige, seien in erster Linie Orte, d. h. bewohnte Räume mit ihren spezifischen Atmosphären. Becker schätzt Ozus Filme gar als »virtuelle Archive dieser Orte und deren Atmosphären« (S. 61) ein. Die Besonderheit dieser japanischen Innenräume bzw. des sich in ihnen Aufhaltens (also des Wohnens in ihnen) drückt Ozu beispielsweise durch seine Kameraperspektive, den berühmten tatami-Shot, aus, der aus einer niedrigen Perspektive das Sitzen auf der Tatami-Matte nachempfindet – und so dann auch performiert. Becker rückt Ozu in die Reihe berühmter Raumregisseure ein (wie Fritz Lang oder Stanley Kubrick), nur dass er ein bescheidener Raumregisseur sei, der keine Weltraumstation, sondern lediglich ein japanisches Vorstadthaus baue bzw. durch seine Filmarchitekten bauen lasse. Damit schafft Ozu
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allerdings einen gegenüber seinen westlichen Kollegen ungleich verdichteteren Raum. Die beiden anschließenden Beiträge beschäftigen sich ebenfalls mit gestalteten Räumen, nun aber Theaterräumen. Zunächst geht Arne Klawitter in seinem Beitrag »Max Dauthendeys Idee von der ›bewegten Rahmenlosigkeit‹ der japanischen ›plastischen‹ Bühne«, nach einem kurzen Blick auf die Rezeption des japanischen Theaters um 1900, auf einen fast unbekannten theoretischen Essay des Welt- und Japanreisenden sowie Vertreters des literarischen Exotismus Max Dauthendey über das japanische Theater ein. In diesem Essay beschreibt Dauthendey die japanische Bühne als eine – von ihm so genannte – »plastische« Bühne im Gegensatz zur westlichen Guckkastenbühne. Die Plastizität dieser Bühne bestehe darin, dass sie ein, in Dauthendeys Worten, »vielarmiger Schauplatz« (S. 78) sei, bestehend aus einer Drehbühne, einer Vorbühne und zwei Brückenwegen; diese Wege laufen von der Bühne in den Zuschauerraum und heben somit die starre Trennung zwischen beiden Räumen auf. Dauthendey rühmt die Vorteile dieser Brückenwege, die es Schauspielern ermöglichen würden, beispielsweise einen Abschiedsschmerz, mit dem sie die Bühne verlassen, bis zum vollständigen Durchschreiten des Zuschauerraumes gewissermaßen auszudehnen. Klawitter interpretiert vor dem Hintergrund gegenwärtiger Theatertheorien, die auf die leibliche Ko-Präsenz und Performativität des Theaterraums abheben, diese plastische Bühne weiter »als eine Art atmosphärisches Resonanztheater« (S. 88), in dem die Schauspieler aus der Bühnenrahmung heraustreten und ihre physische Präsenz im Zuschauerraum entfalten können, d. h. dort Resonanz finden. Der zweite das Theater thematisierende Aufsatz bezieht sich auf die japanische Gegenwart: Harigai Mariko geht in ihrem Beitrag »Ort der Gespenster. Klänge und Stimmen in Time’s Journey Through a Room von Okada Toshiki« auf dieses 2016 aufgeführte Theaterstück des japanischen Regisseurs und Dramatikers Okada ein, welches die – im wörtlichen Sinne zu verstehenden – »Erschütterungen« aufnimmt, die sich mit der »Dreifachkatastrophe« vom März 2011 verbinden, worunter das Tōhoku-Erdbeben, der davon ausgelöste Tsunami und die daraus resultierende Nuklearkatastrophe von Fukushima verstanden wird. Für die Darstellung dieser Erschütterungen, deren Folgen bis heute andauern und die auch den sozialen und politischen Bereich betreffen, sei, so Harigai, das Theater der geeignete Ort, zeige es doch, wie der Theaterwissen-
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schaftler Hans-Thies Lehmann ausgeführt hat, die erschütterte Ordnung. Um diese Erschütterung, die auch die Erschütterung der Wirklichkeit ist, zu zeigen, versucht Okada eine »aktualisierbare andere Wirklichkeit« (S. 94), also eine Fiktion, auf die Bühne zu bringen – und dies durch den Einsatz eines dem traditionellen japanischen Nō-Theater entnommenen Kunstmittels, nämlich des Gespenstes. Im Nō bringt das Gespenst die Vergangenheit als Fiktion auf die Bühne; und so lässt Okada in seinem Stück auch ein solches Gespenst, die verstorbene Frau eines jungen Mannes, in einem Tokyoter Wohnzimmer der Gegenwart auftauchen, wo der Mann gerade auf seine neue Partnerin wartet. Harigai analysiert in ihrem Beitrag minutiös die Verwicklungen, die sich durch diese doppelte Abwesenheit der Toten und der noch nicht Angekommenen ergeben. Gerade Katastrophen zeigen, dass alles Selbstverständliche – und was wäre selbstverständlicher als das vertraute Wohnen? – immer »nur bis auf Weiteres« (S. 125) gilt; diese Einsicht verdanken wir dem Soziologen und Philosophen Alfred Schütz, dessen Überlegungen zur Räumlichkeit – im Vergleich zum japanischen Philosophen und Begründer der berühmten Kyoto-Schule Nishida – Jan Straßheim in seinem Beitrag »Ohne Netz und doppelten Boden: Zur Dynamik der Raumerfahrung bei Alfred Schütz und Nishida Kitarō« thematisiert. Beide Philosophen kannten einander zwar nicht, doch hatten sie nicht nur gemeinsame Referenzautoren, wie z. B. Leibniz, Bergson oder Husserl, sondern vor allem ein gemeinsames Raumverständnis, welches, so Straßheim, darin bestehe, dass der Raum die Grundlage der sozialen und grundlegend dynamischen Erfahrung bilde. Allerdings ist dieser Raum nicht die im Vorhinein gegebene Voraussetzung dieser Erfahrung, sondern wird gleichzeitig durch sie gebildet, wobei Schütz dem Körper bei der Raumbildung eine Schlüsselrolle zuweist. Das körperliche Handeln im Raum unterliegt zwar häufig alltäglichen und festgefügten Routinen, doch macht Schütz darauf aufmerksam, dass hinter diesen Routinen gewissermaßen eine Dynamik lauert, die sich, wie in dem eben erwähnten Beispiel des Eintretens einer Katastrophe, sehr schnell aktualisieren kann. In anderer Weise entfaltet sich diese Dynamik der unvertrauten (Raum-)Erfahrung in der Figur des »Fremden«, die Schütz in einem Aufsatz thematisiert und selbst, als vor dem Nationalsozialismus geflohener jüdischer Emigrant in den USA, verkörpert. Auch für Nishida spielt der Raum eine Hauptrolle – und zwar dann später bei ihm als Ort (basho) gefasst, der eine Art »Platz der Fülle« bezeichnen soll. Straßheim, orientiert an Schütz, warnt hier allerdings
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davor, räumliche Metaphern allzu wörtlich zu nehmen, die über die dynamische Irreduzibilität der Raumerfahrung hinwegtäuschen könnten. Ein in Hinsicht auf das Wohnen geradezu »klassischer« philosophischer Text ist Heideggers Aufsatz »Bauen Wohnen Denken«, der auf einen von ihm 1951 gehaltenen Vortrag zurückgeht. Ōmiya Kan’ichirō thematisiert diesen in seinem Beitrag »Auf der Brücke wohnen. Über Heideggers Bauen und Wohnen nachdenken«, indem er zunächst auf die von Heidegger betonte Zusammengehörigkeit von Bauen und Wohnen aufmerksam macht und auf die elementare Dimension verweist, die Heidegger dem Wohnen als »eine[r] daseinsmäßige[n] Tätigkeit« (S. 142) zuspricht. Angesichts dieses enorm aufgeladenen Wohn-Verständnisses, welches gar heißen soll, die Erde zu retten, müssen natürlich aktuelle Wohnformen – noch dazu vielleicht in Berliner oder Tokyoter Wohnblocks – arg defizitär erscheinen. Heideggers Modell eines gelungenen Wohnens ist nun auch der Schwarzwälder Bauernhof – und, überraschenderweise, die Brücke, die in ihrem orts- und raumbildenden Charakter von Heidegger thematisiert wird: Raum entstehe deshalb bei ihm, so Ōmiya, eben nicht durch Grenzen, Mauern und Einzäunungen, sondern durch die »Vielfältiges einlassende« Brücke (vgl. S. 148). An Walter Benjamin orientierte Überlegungen zu einer möglichen »Entbergung« des Sinns des Wohnens aus der Ruine und ein kurzer Blick auf das japanische Brücken-Verständnis schließen diesen Beitrag ab. An Heidegger, insbesondere seinem Weg-Verständnis, knüpft auch Michael Wetzel in seinem Beitrag an, betitelt »Unterwegs in der Oekumene: Augustin Berques west-östliche Transtopologie«, in dem es um die Theorien des in Deutschland wenig bekannten französischen Philosophen und Kulturgeografen Augustin Berque geht, der von Anfang der 1970er bis Ende der 1990er Jahre in Japan lebte. Sein Begriff der Oekumene bezeichnet die Beziehung der Menschheit zu ihrer irdischen Umwelt in einer ganz umfassenden Sicht. Heidegger, aber auch das klimaorientierte Fūdo-Konzept Watsuji Tetsurōs37 spielen bei der Konzeption dieser, einer fließenden Welt entsprechenden Raumkonzeption mit hinein. Nennt das Milieu die Beziehung einer Gesellschaft zu Raum und Natur, so lassen sich Berques Theorien als Milieulehre, als »Mésologie« (S. 167), verstehen. Der Raum in diesem Konzept ist nicht klar geordnet, sondern 37 | Vgl. dazu auch die Bemerkungen in dem Beitrag von Duppel-Takayama (S. 412ff.).
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etwas Erzeugendes, Schöpferisches, Fließendes und Transitorisches, was an Platons Begriff der chora denken lässt und wofür Berque den Begriff der Transtopologie gefunden hat, der etwas ausdrücken soll, was man als »fließende Felder« (S. 167) bezeichnen kann. Damit erhält Bewegung in allen möglichen Formen, sei es als Reisen oder sei es als nomadisches Überschreiten räumlicher Grenzen, in diesem Theoriekonzept einen zentralen Stellenwert, weshalb Wetzel den Begriff der Oekumene letztendlich mit dem des Unterwegsseins gleichsetzt. Der den ersten Teil des Buches abschließende Beitrag, »›Sanka‹ als Diskursfigur der Modernisierung Japans« von Endō Kōsuke, nimmt aus einer diskursgeschichtlichen Perspektive genau das Unterwegssein als einen zentralen Punkt in der Modernisierungsgeschichte Japans auf, die mit der Meiji-Zeit (1868-1912) einsetzte. Hier wurde, vor allem in polizeilichen, trivialliterarischen und volkskundlichen Diskursen, um 1900 eine Bevölkerungsgruppe, eben die »Sanka«, »erfunden« und mit einer doppelten Semantik ausgestattet: als Verbrecher bzw. umherziehende Landstreicher und als freie Individuen. Ähnlichkeiten zur europäischen Semantik der »Zigeuner« sind offensichtlich. Streng diskursanalytisch vorgehend, interessiert sich Endō nicht für das tatsächliche Vorhandensein/Nichtvorhandensein dieser Gruppe, sondern ausschließlich für den diese Gruppe im eigentlichen Sinne auch erst produzierenden Diskurs. Der sich herausbildende, zentralistische moderne japanische Staat versuchte alle seine Untertanen durch ein Familienregister zu erfassen, um sich als »Familienstaat« (mit der Kaiserfamilie im Mittelpunkt) zu konstituieren. Dabei störten die umherziehenden »Sanka« und wurden als z. T. grausame Verbrecher in verschiedenen Diskursen kriminalisiert und dämonisiert. Die japanische Volkskunde, die sich auch in dieser Zeit entwickelte, konstituierte zwar die »Sanka« gar als eine eigene, von den übrigen Japanern unterschiedene »Rasse« (vgl. S. 197), stattete sie gleichzeitig aber auch mit gegen den Zentralstaat und seine Verwaltungs- und Überwachungssysteme gerichteten freiheitsliebenden, ja anarchistischen Bestrebungen aus. Wie immer, ob negativ oder positiv, die »Sanka«-Figur gefasst wird, Endō sieht sie jedenfalls konträr zu der bis heute immer wieder postulierten angeblichen Homogenität des japanischen Volkes stehen. Der kultur- und literaturwissenschaftliche zweite Teil des Buches folgt einer Chronologie, die mit den christlichen Missionierungsbemühungen
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in Japan im 17. Jahrhundert einsetzt und bis zu Gegenwartsfragen des 21. Jahrhunderts führt. Zunächst thematisiert Markus Joch in seinem Beitrag »Fatale Verfehlung, verratene Lockvögel. Zum katastrophalen Reiseverlauf in Endō Shūsakus Samurai« diesen 1987 auf Deutsch erschienen Roman des sich zum katholischen Glauben bekennenden Autors Endō (bekannt wurde seine frühere Erzählung Schweigen durch die Verfilmung von Scorsese 2016). Joch fragt sich, warum dieser Roman »unter deutschsprachigen Postcolonials« (S. 217) vernachlässigt wurde, obwohl er doch genuin postkolonialistisches Material böte, insoweit er die Geschichte einiger Japaner erzählt, die, geleitet von dem titelgebenden Samurai Hasekura, zusammen mit dem Franziskanerpater Valasco Anfang des 17. Jahrhunderts von Japan aus nach Südamerika fahren, um dort Handelsbeziehungen anzuknüpfen. Dort begegnen die Japaner u. a. unterworfenen und christianisierten Indios, die ihnen als unheilverkündende Mahnung eines kolonialisierten Japan erscheinen, zu dem es bekanntlich ja nie gekommen ist. Als Hasekura – mittlerweile selbst Christ geworden – und der Pater nach einer vier Jahre dauernden Fahrt nach Japan zurückkehren, werden sie dort hingerichtet, da mittlerweile das – wie es zuweilen euphemistisch bezeichnet wird – »christliche Jahrhundert Japans« (welches 1549 mit der Ankunft des ersten spanischen Japan-Missionars Francisco de Xavier begonnen haben soll) zu Ende gegangen war und die Zeit der Christenverfolgungen eingesetzt hatte. Joch sieht bei Endō sowohl ein »kryptokatholische[s] Erzählen« (S. 216), wie er bei ihm auch eine Kritik an der japanischen Abschließungspolitik, die in eins mit den Christenverfolgungen ging, erkennt. Diese beiden Faktoren seien die Hauptgründe für die erwähnte Vernachlässigung. In dem folgenden Beitrag von Thomas Schwarz, betitelt »Die Strandhütten des Südmeers. Wohnen in insularen Stimmungslandschaften«, stehen Raumimaginationen des 18., aber auch des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt, diesmal allerdings nicht auf Japan bezogen, sondern auf pazifische Inseln, Inseln des Südmeers. Kannte die Antike einen glücksversprechenden Ort, die Inseln der Seligen, die sie im literarischen Topos vom locus amoenus fasste, so scheint dieser Topos bei Georg Forster, der an der Weltumsegelung des englischen Kapitäns Cook im 18. Jahrhundert teilnahm, beim Anblick Tahitis Realität geworden zu sein. Schwarz erkennt in diesen und anderen Reiseberichten (wie denen von La Pérouse oder Chamisso) eine »Poetik des pazifischen Raums« (S. 235), bei der die
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Strandhütte eine prominente Rolle spielt, weil sie oft der Ort ist, an dem die Bewohner der Südsee den europäischen Reisenden sexuelle Hospitalität gewährten. Dass dies für die Südsee-Bewohner selbst alles andere als eine positive Praktik war (z. T. wurden junge Mädchen auch zum Geschlechtsverkehr mit den Europäern gezwungen), zeigte sich an der Verbreitung der von den Europäern eingeschleppten Krankheiten, die Tausenden von Südsee-Einwohnern das Leben kosteten. Aus postkolonialistischer Perspektive weist Schwarz immer wieder auf diesen die Idyllik bestimmenden Kontext hin, der beispielsweise im Fall der deutschen Südsee-Kolonie Samoa (die in einer Novelle Hans Bethges verklärt wird) auch ein ökonomischer war, insoweit dort die Deutsche Handels- und Plantagengesellschaft ihre wirtschaftlichen Interessen hatte. Ein Blick auf Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig, die Schwarz mit in seine imaginäre Geografie des Pazifiks bzw. des Südmeers aufnimmt, beschließt diesen Aufsatz. Mit grundsätzlichen Überlegungen zum Haus als »eine[r] konstruktive[n] Nachahmung der anthropologischen Welt-Orientierung« (S. 255), durch die der Mensch seine Außenwelt sowohl in- wie exkludiert, beginnt Alexander Honold seinen Beitrag »Inklusion/Exklusion. Zur Ambivalenz des Hauses bei Kafka und Musil«, der die Reihe von insgesamt drei Aufsätzen eröffnet, die sich auf das Wohnen in Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften beziehen. Zunächst aber liest Honold Kafkas Erzählung Der Bau »symptomatologisch« (S. 262) in der Hinsicht, dass er verschiedene Verstrickungen, Paradoxien und Bedrohungsszenarien aufzeigt, die diesen Text konstituieren. Letztendlich wird die Unmöglichkeit einer Beobachtung zweiter Ordnung – es sei denn um den Preis des Lebens – erwiesen, die in Kafkas Erzählung darin liegt, dass das Tier mit dem Gedanken spielt, sein Leben in der Beobachtung des Eingangs seines Baus zu verbringen. Im zweiten Teil seines Aufsatzes, dann über Musils Mann ohne Eigenschaften, thematisiert Honold das Haus des Protagonisten Ulrich, der am Anfang des Romans eine geräumige Stadtvilla bezieht, dem das in Wien in der Rasumofskygasse gelegene Palais Salm als historisches Vorbild diente, welches Musil sich als Schauplatz seines Romans aussuchte, bevor er selbst 1921 in diese Gasse zog. Hier findet Musil jene Doppelheit von Straßen- und Gartenwelt vor, die für seinen Roman insgesamt konstitutiv ist. Vom Fenster seines Hauses aus, über den Garten auf die Straße blickend, zählt Ulrich zu Beginn des Romans Autos und andere Verkehrsmittel, schätzt Geschwindigkeiten etc., kurzum betreibt ein
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Wahrnehmungsexperiment, um, so Honolds abschließende Deutung, »die scheinbar vollständige Kontrolle über das [zu erlangen], was ohnehin geschieht« (S. 271). Miyashita Minami beschäftigt sich unter dem Titel »Grenzüberschreitung: Analyse der Raumdarstellungen in Robert Musils Die Versuchung der stillen Veronika und Der Mann ohne Eigenschaften« mit diesen Texten vor allem aus raumtheoretischen Perspektiven. In Musils Erzählung Veronika sind, so führt Miyashita aus, Bezüge zu Raumvorstellungen des Physikers und Philosophen Ernst Mach, über den Musil promovierte, erkennbar, die vor allem darin liegen, dass die Idee eines absoluten Raums abgelehnt und stattdessen ein an den Körper und seine Sinne gebundenes Raumgefühl (der physiologische Raum) entwickelt wird, welches mystische Erlebnisse einschließt. Dieses neuartige Raumgefühl führt zu einer Änderung sowohl der Subjekt-Objekt-Beziehungen – Dinge erhalten etwa eine außerordentliche Präsenz – als auch der intersubjektiven Beziehungen, indem eine Art mystischer Vereinigung mit einem Abwesenden, ja sogar Totgeglaubten geschieht. Im Mann ohne Eigenschaften untersucht Miyashita vor allem den Garten, der insbesondere in Musils letzten Lebensjahren auch biografisch für ihn wichtig wurde (etwa der Garten der Pouponnière in Genf, in der Musil von Oktober 1939 bis März 1941 lebte). Im Roman dient der Garten als Ermöglichungsraum der berühmten »taghellen Mystik«, der von Musil angestrebten Verbindung von naturwissenschaftlicher Genauigkeit mit einem mystischen Vereinigungszustand. Abschließend vergleicht Miyashita die Musil’sche Raumfiguration mit japanischen Raumvorstellungen, die sich etwa in der japanischen Gartengestaltung manifestieren. Der dritte Beitrag über Musil ist der von Thomas Pekar. Unter dem Titel »Zum Innenraumdiskurs in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. Transkulturelle Perspektiven im Blick auf Japan« werden konkrete Innenraumbeschreibungen in diesem Roman thematisiert. Neben Ulrichs Wohnung taucht ein ganzes Spektrum von Wiener Wohnungen auf, wie z. B. eine Jugendstilwohnung, die Repräsentationseinrichtung der Wiener Hof burg, ein ministerielles Sitzungszimmer, ein bürgerlicher Salon etc. Was an Musils Innenraumdarstellungen auffällt, ist seine kritisch-ironische, ja stellenweise dekonstruktivistische Sicht auf diese bürgerlichen bzw. feudalen Wohnungen. Dieser kritische Diskurs verbindet Musil mit dem funktionalistischen Diskurs der Architektur und Innenraumgestaltung um 1900. Der schweizerisch-französische
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Architekt Le Corbusier etwa propagierte 1923 Wohnmaschinen, um den traditionellen Wohnungsformen zu entkommen. Musil jedoch, so Pekar, formuliere im Mann ohne Eigenschaften gewisse Vorbehalte gegen diesen Funktionalismus, der sich nicht zuletzt durch die Rezeption der japanischen Wohnungen, die in Europa um 1880 einsetzte, gebildet hatte. Die fundamentale Bedeutung, die Musil dem Wohnen zuspricht, zeige sich darin, dass er es mit der Frage nach dem richtigen Leben verbindet, auf die er allerdings keine Antwort gibt – so wenig wie auf die Frage nach dem richtigen Wohnen. Wird in Musils Roman zumindest das temporäre Wohnen im Hotel als mögliche Alternative zum bürgerlich-häuslichen Verwurzeltsein erwogen, so steht diese transitäre, zwischen Wohnen und Unterwegssein schwankende Lebensform in den Romanen Vicki Baums im Mittelpunkt, die Kikuko Kashiwagi-Wetzel in ihrem Beitrag »Hotel als interkultureller Schauplatz: eine west-östliche Perspektive« thematisiert. Der Anfang des 20. Jahrhunderts war in Berlin die Gründungszeit der Grand Hotels, die dann später in Hotelromanen wie denen von Joseph Roth und Vicki Baum im Mittelpunkt stehen. Sowohl in Roths Hotel Savoy als auch in Baums Bestseller Menschen im Hotel oder in ihrem zweiten Hotelroman Hotel Shanghai wird »die gnadenlose Realität der industrialisierten Welt« (S. 320) gezeigt – vor allem durch katastrophale Handlungsverläufe: Das Hotel geht am Ende in Flammen auf oder wird bombardiert – und die zufällig zusammengekommene und flüchtige Bindungen eingehende Hotelgesellschaft wird, wenn sie nicht gar den Tod findet, am Ende wieder in alle Winde zerstreut. In Japan wurden nach Öffnung des Landes auch moderne Hotels erbaut, die jedoch von japanischen Autoren nicht so sehr als gesellschaftlicher Schauplatz, sondern fast als kuriose Orte kulturkritisch thematisiert wurden: Natsume Sōsekis Kater jedenfalls macht sich über die japanische Hotelgesellschaft in westlicher Kleidung ausgiebig lustig; und für andere japanische zeitgenössische Autoren ist das Hotel eher nur ein randständiger Bereich als Zufluchtsort oder Kulisse. Eine hotelartige Lebens- und Wohnform, nämlich die des Sanatoriums, thematisiert auch Christopher Schelletter in seinem Beitrag »Tuberkulose-Sanatorien in den Japanischen und Schweizer Alpen. Thomas Manns Zauberberg und Hori Tatsuos Kaze tachinu«. Oft wird angenommen, dass Horis Ende der 1930er Jahre entstandener Roman, dessen Titel auf Deutsch Wie der Wind sich hebt lautet, von Thomas Manns Zauberberg (1924) beeinflusst worden sei (eine These, die Schelletter im Übrigen ab-
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lehnt), da es viele Gemeinsamkeiten zwischen beiden Romanen gibt: Beide spielen in einem Bergsanatorium – bei Hori in einem der Japanischen Alpen – und beide variieren das Thema Tuberkulose-Krankheit in Verbindung mit Liebe und Sexualität; Hori erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der sich in einem Sanatorium in eine Tuberkulose-Kranke verliebt. Bei beiden Romanen sieht Schelletter die Autoren-Biografie als wichtigsten Prätext an: Bekanntlich besuchte Thomas Mann seine Frau, die in Davos zur Kur weilte, und erhielt dort Anregungen zu seinem Roman; und Hori besuchte seine an Tuberkulose erkrankte Verlobte in dem japanischen Kurort Karuizawa. Dass nun zwischen beiden Romanen erstaunliche Gemeinsamkeiten bestehen, sieht Schelletter durch das Leben in der »historischen Wohnform ›Lungensanatorium in der Bergwelt‹« (S. 341) bestimmt. Dieses Argument wird dadurch gestützt, dass Karuizawa (ein ca. 150 Kilometer von Tokyo entfernter und etwa 1000 Meter hoch gelegener Ort in den Bergen) Ende des 19. Jahrhunderts vor allem von Ausländern in gewisser Weise nach dem Vorbild von Davos als Ort der Sommerfrische und der Kur gegründet wurde: In beiden Orten ist ein internationales Publikum, die Hautevolee, anzutreffen. Die Lebensform des Sanatoriums, im Raster eines »getakteten Zeitplans« (S. 347), mag weiter auch gewisse Gemeinsamkeiten der beiden Romane erklären. Liebe und Krankheit verbinden sich in ihnen, wobei die Krankheit, sowohl bei Mann wie bei Hori, diese Liebe steigert. Thomas Manns Romanwelt bleibt Gegenstand auch des folgenden Beitrags, nun aber bezogen auf sein umfangreichstes Werk: Takata Midori untersucht in ihrem Beitrag »Unterwegssein und Wohnen in Thomas Manns Josephsroman« zunächst Abweichungen, die zwischen der Bibel und Manns epochalem Exilroman bestehen und die sie darin erkennt, dass Manns Joseph, im Unterschied zum biblischen Joseph, nicht wünscht, in seiner Heimat, d. h. in Kanaan, begraben zu werden. So liegt bei Thomas Mann nicht wie in der Bibel der Schwerpunkt auf der Gewinnung des Gelobten Landes, sondern auf der Exilgeschichte Josephs in Ägypten. Dies wird besonders am Ende des Romans deutlich, das die Rückkehr von Joseph und seinen Brüdern aus Kanaan, wo sie ihren Vater Jaakob begraben haben, nach Ägypten beschreibt. Im Unterschied zu seinem Sohn Joseph wollte Jaakob ausdrücklich nicht in Ägypten, wo er starb, begraben sein. Josephs weitgehende »ägyptische Enkulturation« (S. 368), z. B. heiratet er eine Ägypterin, hingegen lässt ihn dort wirklich wohnhaft werden; es bedeutet aber, dass er aus der heilsgeschichtlichen
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genealogischen Linie herausfällt, die zur Geburt des Messias führt (bzw. aus jüdischer Perspektive führen soll). Sein Bruder Juda tritt für ihn in diese Geschichte ein. Joseph hingegen wird im Roman eine rein weltliche Rolle zugesprochen, obwohl er am Anfang noch als eine Art Christuspräfiguration vorgestellt wurde. Einen weiteren Aspekt des Romans sieht Takata darin, dass er ein modernes Gottesbild entwirft, nämlich das Bild eines persönlichen und vor allem mobilen Gottes – denn Joseph verliert, bei all seiner Integration in Ägypten, doch nicht den Glauben an den Gott seiner Väter, an Jahwe, der ihn gewissermaßen ins fremde Land begleitet. Bezüge zu Thomas Manns eigener Exil-Situation liegen, so Takata, in diesem Roman auf der Hand. Mit dem durch politische oder soziale Umstände prekär gewordenen Wohnen beschäftigt sich Kobayashi Wakikos Beitrag »Wohnen und menschliches Leben. Überlegungen anhand von Wo ich wohne und Gare maritime von Ilse Aichinger und Yamamba von Terayama Shūji«. Zunächst wird die Wohnsituation Aichingers im nationalsozialistischen Wien thematisiert, die als (nach Nazi-Begriffen) »Halbjüdin« zwar nicht in ein KZ deportiert wurde, doch äußerst beengt wohnen musste, zusammen mit ihrer Mutter in nur einem Zimmer und in feindlicher Nachbarschaft. Diese Erfahrungen thematisiert Aichinger in vielen ihrer Texte. Kobayashi sieht dann eine Analogie zwischen dieser Wohnsituation und der heutigen Situation sogenannter »Internet-Café-Flüchtlinge« in Japan, die durch Arbeitsverlust oder unsichere Arbeitsverhältnisse in eine verdeckte Obdachlosigkeit geraten und gezwungen sind, in diesen Cafés zu übernachten, was als »Wohnen, das sich immer mehr dem Überleben nähert« (S. 379), bezeichnet wird. Im zweiten Teil ihres Beitrags vergleicht Kobayashi zwei Hörspiele aus den 1960er Jahren: Aichingers Gare maritime und Yamamba des japanischen Avantgardisten Terayama. In beiden Hörspielen, so unterschiedlich sie sonst auch sein mögen, werde, so Kobayashis These, ein gleichsam obdachloses Wohnen thematisiert, welches sich dem genannten »Überleben«, dem Fristen der nackten Existenz, angenähert hat. Doch dieses »Überleben«, welches gleichzeitig über das Leben hinausgeht (als »Über-leben«), werde, so Kobayashi, aber auch ein Leben, welches ein Wohnen unter einem Obdach gestattet, selbst als ein bloßes Überleben entlarven. Dieses »Überleben« wird wohl nicht zufällig in beiden Hörspielen durch nicht-menschliche Wesen repräsentiert: durch eine Art Berggeist im japanischen Hörspiel und durch merkwürdige Knochengestalten bei Aichinger, die nicht viel mehr als ihre Stimme haben.
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Die beiden letzten Beiträge beziehen sich auf ganz gegenwärtige Wohn- und Raumprobleme: Zunächst thematisiert Yamamoto Hiroshi unter dem Titel »Junk Space im Zeitalter des Neoliberalismus. Eine poetologische Chronotopographie bei Kathrin Röggla« einige Theater- und Prosaarbeiten dieser österreichischen Gegenwartsautorin, die sich vor allem als Kritikerin der in den westlichen Ländern verbreiteten neoliberalistischen Wirtschaftsform einen Namen gemacht hat, die nicht nur aufs Soziale ausgreift, sondern eine ganz neue Subjektstruktur – nämlich »das unternehmerische Selbst« (S. 400) – geschaffen hat. Röggla zeigt in ihren Arbeiten, wie dieses Selbst funktioniert, wie es sich weniger an der Realität als vielmehr an Diskursen, Sprachfloskeln und Zitaten orientiert. Räume, die diesem mehr oder weniger »leeren« Subjekt entsprechen, sind die (von dem französischen Theoretiker Marc Augé so genannten) NichtOrte, wie Messehallen, Tagungsräume oder Shopping Malls, kurzum der Junkspace, der auch der Stadtarchitektur seinen Stempel aufgedrückt hat, indem er überall auf der Welt gleichartige Gebäude – gewissermaßen umbaute, gesichtslose Innenräume – hervorgebracht hat. Yamamoto zeigt im Anschluss hieran die Kontroverse auf, die zwischen dem niederländische Architekten Rem Koolhaas, der das Wuchern des Junkspaces für eine Besonderheit asiatischer Städte hielt, und dem japanischen Architekten Isozaki Arata und anderen stattfand, die diese Sicht als »orientalistisch« kritisierten. Ob man nun den Junkspace »asiatisch« verortet oder nicht – in der Deutung Yamamotos jedenfalls erscheint Röggla als kritische und literarisch innovative »Innenarchitektin« (vgl. S. 406) dieses Müllraums. Der letzte Aufsatz des Buches ist ein Blick auf die aktuelle japanische Wohnsituation, so wie sie sich in zwei Texten der japanischen Literatur reflektiert: Mechthild Duppel-Takayama geht in ihrem Beitrag »Unverbindliches Wohnen in der japanischen Gegenwartsliteratur: Yoshimoto Bananas Kitchin und Murata Sayakas Konbini ningen« zunächst von dem traditionellen Wohnkonzept des Philosophen Watsuji Tetsurō aus, der das Innere des nach Außen abgeschlossenen japanischen Hauses als eine »kleine Welt distanzloser Innigkeit« (S. 414) charakterisierte. Daran anschließend wird das Wohnen in dem auch im Westen populär gewordenen Erfolgsbuch Kitchin von Yoshimoto Banana thematisiert, das 1988 erschien, auf dem Höhepunkt der Bubble-Wirtschaft in Japan, die von einer weitergehenden Auflösung traditioneller Lebensformen begleitet war. Die Protagonistin der Erzählung findet, nach dem Tod ihrer letzten Familienangehörigen, neue Geborgenheit in einer Art Wunschfamilie,
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die sich aber nicht durch familiäre Verwandtschaft, sondern durch persönliche Sympathie definiert. Es ist in erster Linie die mit allem Komfort ausgestattete Küche, die die Protagonistin besonders anzieht. Als zweiten Text behandelt Duppel-Takayama die 2016 erschienene Erzählung Konbini ningen mit dem deutschen Titel Die Ladenhüterin von Murata Sayaka. Hier ist es nun nicht die Küche, sondern der konbini (der Convenience Store, ein durchgängig geöffneter kleiner Supermarkt, der, wie oben erwähnt, in japanischen Städten an allen Ecken zu finden ist), der diese Geborgenheit vermittelt. Die Protagonistin arbeitet in einem solchen Laden und versteht sich als »perfekt funktionierende[r] Teil« (S. 421) dieser konbini-Kultur, die durch eine umfassende Festlegung aller Arbeitsabläufe und Kommunikationsprozesse mit den Kunden geprägt ist. Skandalös für westliche Leser mag die Tatsache sein, dass die Protagonistin nichts weniger als ihr Glück darin findet, ein solches Teilchen zu sein; ihr Unglück beginnt erst, als sie gezwungen ist, ihre Arbeit im konbini zu kündigen und orientierungslos in ihrer Wohnung, die ihr bislang lediglich als Rekreationsraum für ihre Arbeit diente, vegetiert. Ob sich damit ein Ende des Wohnens überhaupt oder die Notwendigkeit abzeichnet, neue, verbindliche Wohn- und Beziehungsformen zu finden, steht am Schluss als eine offene Frage im Raum – eine offene Frage, die dann so auch diesen Sammelband überhaupt beschließen mag.
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Teil I Interdisziplinäre Zugänge
Pattern Language und konomi-Konzept Zu Christopher Alexanders Eishin Campus der Higashino Highschool in Saitama Walter Ruprechter Der Eishin Campus der Higashino Highschool (Eishin Gakuen Higashino Kōtō Gakkō) in der Präfektur Saitama entstand aus der Kooperation eines japanischen Schulvisionärs mit einem amerikanischen Architekturvisionär. Nachdem der Direktor der Schule, Hosoi Hisae, in Japan keinen Architekten gefunden hatte, der seinen reformpädagogischen Ideen für die Errichtung einer neuen Schule entsprochen hätte, wandte er sich an den in Wien geborenen und in Berkeley/Kalifornien tätigen Architekten und Systemtheoretiker Christopher Alexander, dessen Projekt der Universität von Oregon ihm bekannt geworden war. Dieses war ein Musterbeispiel einer partizipativen Architektur, d. h. eines Projekts, das mit allen letztlich an der Nutzung Beteiligten entwickelt wurde – genau das, was sich Hosoi für seinen neuen Campus vorgestellt hatte.1 Der Eishin Campus ist also das Produkt einer japanisch-westlichen Kooperation und erlaubt deshalb auch, die Frage nach seiner Kulturalität zu stellen. Damit soll nach der Art und Weise gefragt werden, wie sich Merkmale der jeweils beteiligten Kulturen in dieses architektonische Projekt einschreiben und welches Erscheinungsbild sich aus solchen Einschreibungen ergibt. Aufgrund der Besonderheit der Methode, der von Alexander und seinem Team praktizierten Pattern Language, nach der der Campus errichtet wurde, liegt hier eine besondere Form der Transkulturalität im Bereich der Raumgestaltung vor – eine These, die die folgenden Überlegungen stützen sollen. 1 | Siehe die Aussagen dazu bei Alexander »Hosoi’s Dream« (Alexander 2012: 99ff.) und bei Hosoi (Hosoi 2018: 54ff.).
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1. Pattern L anguage Alexanders Methode der Pattern Language, die in den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, also im Rahmen des linguistic turn in den Kulturwissenschaften, entwickelt wurde, liegt die Vorstellung zugrunde, dass Bauen wie eine Sprache funktioniert. Mit der – zeittypischen – Sprachmetapher bringt Alexander zum Ausdruck, dass Bauen eine universelle Tätigkeit ist, zu der jeder Mensch die Kompetenz mitbringt, die lediglich, wie die Sprache auch, entwickelt und gelernt werden muss. Eine Pattern Language ist daher mehr als nur eine Gebrauchsanweisung für die ganz praktischen Erfordernisse des Bauens, sie erfordert auch die Reflexion auf einen kosmologischen Horizont: »This is a fundamental view of the world. It says that when you build a thing you cannot merely build that thing in isolation, but must also repair the world around it, and within it, so that the larger world at that one place becomes more coherent, and more whole; and the thing which you make takes its place in the web of nature, as you make it« (Alexander 1977: 13).
Auf Alexanders Neigung zu holistischen, ja esoterischen Positionen ist wiederholt hingewiesen worden (vgl. Kühn 2018: 143), und auch die Pattern Language steht in diesem Rahmen, insofern sie die Menschen befähigen soll, in einen lebendigen gestalterischen Austausch mit der jeweiligen Umwelt zu treten und sich als Teil eines umfassenden Ganzen zu verstehen. Sie ist eine Methode, durch Anwendung allgemeiner Patterns, entsprechend den Begriffen der Sprache, situationsbezogene Bauaufgaben zu lösen und individuell zu gestalten. Wie weit die Sprachanalogie des Bauens wirklich trägt, ist eine andere Frage, hier soll nur so viel festgehalten werden, dass Alexanders Theorie impliziert, dass individuelle Gestaltung stets im Rahmen allgemeiner Regeln zu erfolgen habe, die nicht nur von der Gesellschaft, sondern von der Natur selbst, etwa in der Form von Archetypen des Bauens, vorgegeben werden.2 Dazu schreibt Christian Kühn:
2 | »And yet, we do believe, of course, that this language which is printed here is something more than a manual, or a teacher, or a version of a possible language. Many of the patterns here are archetypal – so deep, so deeply rooted in the nature
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»Als Entwurfsmethode zum ›Machen von Gebäuden‹ sollte die Pattern Language den Nutzern die Macht über die Gestaltung ihrer Umwelt zurückgeben und ihnen aufbauend auf einem als universell verstandenen Vokabular von Archetypen ermöglichen, sowohl ihre Bedürfnisse auszudrücken als auch in einen Diskurs über mögliche Lösungen einzutreten. Sie geht dabei weit über das hinaus, was unter dem Begriff ›Partizipation‹ verstanden wird, also Teilhabe der Nutzer an einem weiterhin von Architekten verantworteten Entwurfsprozess« (Kühn 2018: 146).
Zur Partizipation im Falle des Eishin Campus berichtet Hosoi, dass Alexanders Team vier Monate lang mit mehr als hundert Leuten Gespräche führte, und dass diese Gespräche mitunter mehrere Stunden dauerten, um »zu den tiefer liegenden Vorstellungen und Bedürfnissen vorzudringen« (Hosoi 2018: 85). Man wollte also den innersten Wünschen und Träumen der Nutzer zum Ausdruck verhelfen und sich nicht mit der erwartbaren Reproduktion von Stereotypen über eine Schulsituation begnügen. Der Eishin Campus gilt auch als gutes Beispiel für die Anwendung einer Pattern Language, und so kann man an dieser Bauaufgabe auch konkret erläutern, wie eine solche funktioniert. Alexander hat den gesamten Bauprozess vom Auftrag bis zur Abnahme in seiner Battle for the Life and Beauty of the Earth (vgl. Alexander 2012) rückblickend dargestellt und darin auch die Rolle der Pattern Language erläutert. Einfach gesagt, besteht der Prozess ihrer Anwendung in folgenden Schritten: • Befragung möglichst aller beteiligten Nutzer der Schulanlage über ihre Vorstellungen, Wünsche und Träume in Bezug auf ihre Gestaltung; also der Befragung von Schülern, Lehrern, Verwaltungs- und Dienstpersonal durch das Team von Alexander über mehrere Monate. • Danach Erstellung der Pattern Language für den Eishin Campus durch das Team Alexanders, wobei diesen Wünschen und Vorstellungen entsprechende architektonische Elemente definiert werden. Also zunächst: Gliederung der Anlage; Definition der Bereiche der Schule und ihre Abgrenzungen sowie Verbindungen, die notwendigen Gebäudetypen und Nutzflächen, dann deren Verteilung und Stellung zueinander, Wege, Plätze, Kommunikationskanäle usw.; diese Pattern
of things, that it seems likely that they will be part of human nature, and human action, as much in five hundred years, as they are today« (Alexander 1977: 17).
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Language besteht aus einem Textkonvolut von über 100 Seiten mit 110 definierten Patterns. Aufsuchen des Geländes mit vielen Beteiligten und Projektion dieser Patterns auf das Gelände durch Gespräche und Diskussionen; es entsteht eine imaginäre Projektion von Gebäuden, Flächen und Verbindungsteilen in ihrer Umgebung. Abstecken dieser Imagination durch weiße Fahnen auf dem Gelände; weitere Diskussion mit den Beteiligten über die Verteilung der Bauvolumina. Erst jetzt nimmt der Architekt Papier und Stift und beginnt, den in der kollektiven Imagination entstandenen Campus in Skizzen festzuhalten. Modelle der festgelegten Gebäude werden gefertigt und auf einem Plan arrangiert. Alexander erarbeitet mit seinem Team die Gestaltung der einzelnen Gebäude und Zwischenräume. Dabei weitere Diskussionen über Stilfragen und architektonische Details.
Diese Schritte zeigen, dass das Bauen als offener Prozess begriffen wird, in dem der Architekt nur eine steuernde Funktion innehat. Es geht also nicht um die Umsetzung eines vom Architekten entworfenen Plans, sondern um Gestaltung und Formung der kollektiven Vorstellungen der Beteiligten, zu denen während des Bauvorgangs auch die anonymen Handwerker mit ihrem tradierten Erfahrungswissen kommen. Alexanders Idee geht dahin, das Bauen als etwas Naturwüchsiges aufzufassen und zu praktizieren. Dabei soll die planende Rationalität eines Individuums möglichst in den Hintergrund treten.
2. S emil attice -S truktur Um Alexanders Position zu verstehen, muss noch ein anderes seiner Theoreme erläutert werden: das Theorem von der Überlappung bzw. der Semilattice- oder Halbverband-Struktur. In seinem Essay »A City is Not a Tree« (Alexander 1965) erläutert Alexander die Theorie der Überlappung am Beispiel eines Gemäldes des Künstlers Simon Nicholson. Das Gemälde zeigt sieben rechtwinklige Dreiecke, die in einer diagonalen Anordnung von links unten nach rechts
Pattern Language und konomi-Konzept
oben gegeneinander gestellt sind. Drei nach rechts geöffneten Dreiecken stehen vier nach links geöffnete so gegenüber, dass sie gewissermaßen um 180 Grad gedrehte Gegenelemente bilden. Dadurch ergibt sich die Möglichkeit, dass sie, zusammen mit differenzierten Abschattungen der Dreiecksflächen, im Auge des Betrachters zu verschiedenen Figurationen zusammentreten. Alexander schreibt, dass die jeweiligen Elemente (Dreiecke) zusammenwirken (»work together«) und dabei größere figurale Einheiten bilden: Rechtecke, Parallelogramme, Rahmenbildungen, Inklusionen, Richtungsfiguren usw. Das Besondere ist, dass alle diese Figuren sich in jeweils einem Element (Dreieck) überlappen und dass es diese Überlappungen seien, die die Struktur dieses Gemäldes erzeugen. Der Effekt dieses Bildes besteht also in einem Oszillieren zwischen verschiedenen Figurationen, einem permanenten Umspringen von Formen im Auge des Betrachters. Das Bild beschäftigt das Auge unablässig, indem es die Dreieckselemente in wechselweise entstehende, immer neu sich figurierende Einheiten einpasst. Alexander bemüht dieses ästhetische Beispiel am Ende des Essays, um sein eigentliches Thema, die Struktur von gewachsenen Städten im Gegensatz zu sogenannten Reißbrettstädten, noch einmal klar zu machen. Der Gegensatz der beiden Stadtstrukturen besteht eben darin, dass sich in gewachsenen Städten Benutzerfunktionen an bestimmten Einrichtungselementen der Stadt überlappen und so die Stadtstruktur erst erzeugen, während sich die Struktur von Reißbrettstädten aus getrennt gehaltenen Funktionen bildet. Die Frage ist nun, inwieweit diese Semilattice-Struktur auch auf den Eishin Campus Anwendung gefunden hat. Schließlich geht es auch hier um die Schaffung eines Interaktionsraumes, der einem idealen Zusammenwirken verschiedener Faktoren entsprechen soll. Alexander hat in dem genannten Essay betont, dass es für den menschlichen Verstand schwierig sei, die Komplexität einer SemilatticeStruktur zu erfassen, weil sich diese einem natürlichen Wachstum verdanke. Der Verstand neige dazu, die von einer Semilattice-Struktur erzeugte Simultaneität von Ereignissen in einfache Linearität aufzulösen und in einer Baumstruktur abzubilden. Semilattice wird also zunächst als Analysekategorie verstanden, die geeignet sei, natürlich gewachsene Strukturen zu erfassen. Die Schaffung von Communities, die der Komplexität von gewachsenen Städten entsprechen würden, sei daher auf dem Wege rationaler Planung gar nicht möglich, da der menschliche Verstand
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im Umgang mit der nötigen Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit von Ereignissen überfordert sei. (Ob leistungsfähige Computer dazu imstande wären, wird in diesem Essay nicht diskutiert.)
3. A rchitektur und P oesie Die Idee vom Prozess des Bauens nach der Pattern Language und die Idee der Überlappung fließen bei Alexander zum Konzept einer Architekturästhetik zusammen, wobei das Bauen mit der poetischen Sprache verglichen wird, denn das Bauen mit Patterns wie auch die Dichtung arbeiten ja mit Überlagerungen oder Überlappungen sowie mit Verdichtungen und Ambivalenzen. Zur Pattern Language des Eishin Campus schreibt Alexander: »Once again, it must be emphasized that this pattern language is a work of creation, like a poem, created by the architect, but nourished and inspired by the dreams of the users. The poetic coherence of the list defines the seed of the architecture which will follow its use« (Alexander 2012: 132).
Der Vergleich von Architektur und Poesie, wie ihn Alexander selbst zieht, wird auch in den Reaktionen der japanischen Benutzer bestätigt. So schwärmte ein Lehrer über die Pattern Language des Eishin Campus: »Das hier ist ein Gedicht. Es drückt die wahren Vorstellungen der Fakultät von einem neuen Campus in Form eines Gedichts aus« (Hosoi 2018: 89). Und auch der Architekturhistoriker Nakatani Norihito findet das Schaffen Alexanders mit dem eines Lyrikers vergleichbar: »Alexanders Pattern Language war das Ergebnis einer zehn Jahre umspannenden Datensammlung und praktischen Überprüfung dieser These. Er versuchte die gesamte Sequenz architektonischer Prozesse, von Planung und Komposition über Konstruktion bis zur realen Bauabwicklung, einer permanenten offenen Hinterfragung und Überprüfung zu unterziehen – ähnlich dem Prozess, den ein Schriftsteller beim Verfassen von Lyrik durchläuft« (Nakatani 2018: 165).
Die Anlehnung der Pattern Language an die Poesie, die schon in der metaphorischen Verortung des Bauens in der Sprache begründet ist, wird auch in der Ausformulierung der einzelnen Patterns sichtbar, die an eine
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prominente poetische Form erinnert. Kühn hat die Patterns so beschrieben: »Im Buch beginnt jedes Pattern mit einer Titelseite mit dem Namen des Patterns und einer Fotographie, die eine archetypische Lösung visualisiert. Darauf folgt eine kurz gefasste einleitende Problemstellung, an die sich eine ausführliche Diskussion der relevanten Parameter und möglicher Umsetzungen anschließt, in der Regel durch Diagramme ergänzt. Am Ende findet sich eine knapp formulierte Handlungsanweisung, die den Leser direkt adressiert« (Kühn 2018: 145).
Ein Pattern ist also dreiteilig aufgebaut, es enthält einen Titel, ein Bild und einen Kommentar, der das Problem benennt und Lösungsvorschläge dafür bereithält, und zwar als Handlungsanweisung an den Benutzer. Der Auf bau und die Funktionalität eines solchen Patterns erinnern frappant an das literarische Emblem der Barockzeit mit seiner dreiteiligen Gliederung in Motto (Titel), Icon (Bild) und Epigramm (Kommentar), das ebenfalls Anweisungen an den Leser zur Bewältigung lebenspraktischer Probleme enthält. Zu Spekulationen dieser Art kann man wohl durch Alexander selbst verführt werden, der ja die Pattern Language als mögliche poetische Sprache und ein damit errichtetes Gebäude als Gedicht bezeichnet hat. Dieses entsteht dadurch, dass viele Patterns sich auf engem Raum überlappen und so eine dichte, nämlich eine Semilattice-Struktur kreieren. »It is essential then, once you have learned to use the language, that you pay attention to the possibility of compressing the many patterns which you put together, in the smallest possible space. You may think of this process of compressing patterns, as a way to make the cheapest possible building which has the ne cessary patterns in it. It is, also, the only way of using a pattern language to make buildings which are poems« (Alexander 1977: XLIV).
Das gemeinsame Element der Pattern Language und der SemilatticeStruktur findet sich im Paradigma der Naturwüchsigkeit, einem Paradigma, das naturhaftes Wachstum (das »becoming«) und rationale Planung (das »making«) im Sinne einer »primordiality of becoming through making« (Karatani 1995 [1983]: 87) interpretiert. Der Begriff der Naturwüchsigkeit kommt bei Alexander nicht vor, er wird aber als Marx’scher Begriff vom japanischen Philosophen Karatani Kōjin in seinem Buch Architecture
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as Metaphor im Original, also auf Deutsch, verwendet, um auch Alexanders Position als eine Kritik am platonischen Ideal der Priorität des »making« über das »becoming« zu kennzeichnen: »Inasmuch as the early twentieth-century modernists are the embodiment of the Platonic philosopher/king, Alexander’s criticism amounts to a fundamental proof of the impossibility of the Platonic ideal. His methodology, however, continues to be informed by the Platonic will to architecture; rather than resorting to the illusion of nature as exterior to the man-made, it reveals the exterior as a negative figure at the heart of the man-made« (Karatani 1995 [1983]: 37).
Karatani ist nicht auf den Eishin Campus eingegangen, hat aber Alexanders Essay »A City is Not a Tree« als ein Beispiel dafür analysiert, wie man eine Dekonstruktion planerischer Rationalität vornimmt, indem man zwar den »will to architecture« bejaht, aber zugleich dessen Grenzen aufzeigt, die letztlich in der Unkalkulierbarkeit des Planungsprozesses liegen. Laut Karatani schließt Alexanders Argumentation damit an poetologische Überlegungen Paul Valérys zum Verhältnis von Architektur und Poesie an, was eine weitere Facette der oben aufgezeigten Sprach- und Poesiemetaphorik des Bauens bei Alexander offenbart (vgl. ebd.: 29).
4. K onomi -K onzep t Mir scheint die positive Rezeption Alexanders in Japan gerade unter der Prämisse erfolgt zu sein, die Karatani expliziert hat. Zwar ist er in den letzten Jahren in Vergessenheit geraten, wie Nakatani bemerkt, und der Grund dafür wäre gerade der globale Siegeszug jener von Alexander als System B beschriebenen und bekämpften Methode, die ausschließlich an Profit orientiert ist und dabei alle ganzheitlichen Prinzipien aus den Augen verloren hat. Doch gibt es in Japan auch viele Bewunderer unter Architekten, die in seiner Methode, dem System A, die Chance erkennen, in einer weitgehend von der herrschenden Bauindustrie verwüsteten Stadtlandschaft eine menschengerechte Umwelt wiederherzustellen. Und das hat möglicherweise damit zu tun, dass seine mit der Pattern Language initiierte Methode, einen naturwüchsigen Prozess zu kreieren, an alte japanische Bautraditionen erinnert.
Pattern Language und konomi-Konzept
Die Verbindung zu japanischen Bautraditionen wird übrigens sowohl von Hosoi Hisae, dem japanischen Bauherrn, als auch von Hajo Neis, dem deutschen Chefarchitekten des Alexander-Teams, hergestellt. So sagt Hosoi in einem neulich geführten Interview, dass ihm die Arbeit am Campus bewusst gemacht habe, wie früher in Japan Architektur in der Zusammenarbeit zwischen Bauherrn und Zimmermann entstanden sein könnte (vgl. Hosoi 2018: 62). Und Neis hebt die überragende Rolle eben des Zimmermanns, des Meisters Sumiyoshi, an diesem Projekt hervor, ohne dessen Erfahrung mit traditioneller Bautechnik der Bau nicht hätte verwirklicht werden können. »Der größte Dank gebührt vielleicht dem master carpenter Sumiyoshi, der uns trotz seiner siebzig Jahre in unseren Bemühungen unterstützte und uns in praktischen Belangen zur Seite stand. Sumiyoshi war die beste Verbindung zum japanischen Bauwesen und verkörperte das Entwerfen und Bauen in einer großen Tradition in direkter Anwendung« (Neis 2018: 130).
Und so ist es keine methodische Willkür, die Pattern Language mit einem traditionellen japanischen Konzept des Bauens in Verbindung zu bringen, in dem auch der master carpenter eine wichtige Rolle spielt. Gemeint ist das sogenannte konomi-Konzept, wie es Isozaki Arata in seinem Buch Japan-ness in Architecture am Beispiel der Villa Katsura Rikyū erläutert hat, in dem er den Unterschied zwischen westlichem und japanischem Architekturschaffen erklärt (vgl. Isozaki 2006). Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen dabei ist das Missverständnis, dem Bruno Taut aufgesessen ist, dass nämlich Katsura Rikyū von einem Architekten mit einem genialen Plan errichtet worden sei, ganz so, als ob die ganze Anlage einer individuellen planerischen Rationalität entsprungen wäre. Demgegenüber betont nun Isozaki, dass sich Katsura Rikyū einem vielschichtigen Bauprozess verdankt, der sich nicht nur historisch in mehreren Phasen abgespielt hätte, sondern auch einem Zusammenwirken mehrerer Entscheidungsträger entsprungen sei. Die Vorstellung einer Architektur mit Groß-A wäre für das vormoderne Japan eine völlig unangemessene Kategorie und die Rolle von Kobori Enshū wäre nicht mit der eines Architekten im 20. Jahrhundert zu vergleichen. Während die Vorstellung von Architektur im westlichen Sinn eine Autorschaft impliziere, die sich in der individuellen Handschrift und in der Originalität nachweisen lasse, würden Bauten im vormodernen Japan von anonymen Handwerkern
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unter der Führung des master carpenter nach tradierten Bautypen wie Schrein, Palast oder Teehaus ausgeführt. Die Neuerungen und Wendungen in der Tradition verdanken sich aber von Bauherrn eingesetzten Gesamtkunstwerkern wie Kobori Enshū oder Sen no Rikyū, die den Gestaltungsprozess überwachen und nach ihrem ästhetischen Geschmack prägen, weshalb für dieses Phänomen der Begriff »konomi« in Umlauf gebracht wurde, der soviel wie diesen Meistern attribuierter Geschmack oder Stil bedeutet. »Enshū’s official title was the equivalent of clerk of works to the Tokugawa shogunate. This position would have assured his supervision of the Katsura project, in that he must have determined, or approved, the concept and direction of the design. Moreover, Enshū himself is thought to have been advised by specialists in building and garden design. So it is certainly he who controlled the whole project. But projects were not ›designed‹ by Enshū, nor were the names of executants recorded. At the same time, the term Enshū-gonomi was coined and applied to various cultural products« (ebd.: 292).
Enshū-konomi bedeutet also soviel wie Enshū-Geschmack oder EnshūStil, der das Ganze der Anlage zwar ästhetisch prägt, sich aber keinem individualistischen Konzept verdankt. Der Eigenname »Enshū« steht nicht für Autorschaft im westlichen Sinn, sondern für ein System bzw. eine Methode: »It is perfectly correct to say that Enshū was not the author of Katsura Villa. But it is also correct to say that the konomi – the ›system‹ and methods that may be discerned – was indeed Enshū’s. This is to claim, in terms of a certain Japanese logic, that the design method that produced Katsura Villa is ultimately attributable to Enshū, therefore it is possible to call it ›Enshū’s design‹. But according to the Western view, Enshū did not design the architecture and the garden, so Enshū was not the designer. Here there is indeed a cultural gap« (ebd.: 295).
An welchen Merkmalen kann man diese »Enshū-konomi« aber festmachen? Hier zitiert Isozaki den Autor Mori Osamu, der sie in Kategorien festlegt, die an die Pattern Language Alexanders erinnert. Dabei wird konomi als eine Methode sichtbar, die ein Regelwerk festlegt, nach dem ein Bau auszuführen sei. Der Bau wird gewissermaßen in Anleitungen um-
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rissen, die aber Spielraum für individuelle Gestaltung erlauben. Für ein Teehaus gilt z. B.: »(1) The room should be a little larger than four tatami mats (four regular tatami mats and another that is half the regular size) – or else a little more than three tatami-mats [...]; (2) guests should be seated only to the right of the host; (3) there should be an additional room called the kusari-no-ma (adjoining anteroom) next to the main tearoom [...]; (4) there are to be eight windows; (5) the proportion of a shōji grid should be one by two; (6) a picture should be placed at the focal point of the space« (ebd.).
Ähnliche Anweisungen gelten für den Garten: Man soll behauene Steine verwenden, um den Eindruck von Mimikry zu vermeiden; man soll shakkei-Technik verwenden, d. h. die Landschaft außerhalb des Gartens in den Garten miteinbeziehen; man soll Symbole für Fruchtbarkeit oder langes Leben setzen usw., oder auch: Man soll einen Mix aus Materialien verwenden usw. Dies liest sich nicht unähnlich wie die Pattern Language des Eishin Campus, wo es etwa heißt: »All homebase classrooms will have big windows facing south. If possible, the glare from these windows may be mo dified by the existence of a gallery, about 1 meter away from the window. Sliding screens, translucent, run parallel to windows« (Alexander 2012: 150). Anweisungen wie diese bilden also die Basis für die Gestaltung der Bauwerke und schränken den individuellen Gestaltungsanspruch auf die formale Umsetzung solcher Patterns ein. Könnte man die Anwendung der Pattern Language auf den Eishin Campus, die auf ganz ähnliche Weise Anleitungen zum Bauen gibt, als einen Versuch sehen, den »cultural gap« zwischen Japan und dem Westen, von dem Isozaki spricht, zu überbrücken? Und zwar durch Tatsachen wie die, dass die Rolle des Architekten von der eines individuellen Planers auf die eines Vermittlers oder eines Leiters von kollektiven Gestaltungsprozessen zurückgenommen wird? Könnte man zugespitzt auch von einer »Alexander-konomi« sprechen?
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5. Tr anskultur alitä t Die kulturelle Kluft könnte durch die Methode der Pattern Language aber auch auf eine andere Weise geschlossen werden. Wenn Fragen des »Kulturtransfers« im Alexander-Team auch nie diskutiert wurden, wie wir von Hajo Neis im Interview erfahren (vgl. Neis 2018: 131), so bietet aber die Methode der Pattern Language an sich ein Medium dafür. Neis betont zwar den universellen Charakter der Patterns, die in den Einzelkulturen spezifische Ausformungen erfahren würden, wodurch man bei Arbeiten in anderen Kulturen weniger von einem Transfer sprechen könne als von einer Einbettung der eigenen in eine »noch größere Kultur« (ebd.: 132), doch scheint mir, dass durch die Praxis der Pattern Language, die ja darin besteht, den Wünschen und Träumen der Beteiligten Raum und Form zu schaffen, auch eine besondere Form der Transkulturalität zum Tragen kommt. Diese besteht darin, dass sich durch die Partizipation aller Beteiligten an einem Projekt auch Merkmale der jeweiligen Kulturen wie von selbst in das Projekt einschreiben und deshalb nicht eigens thematisiert werden müssen. Doch aus kulturwissenschaftlicher Sicht ist klar, dass dabei auch Transferprozesse eine Rolle spielen, da es sich um die Begegnung von Kulturen handelt, sodass sich die Frage nach der kulturellen Bedingtheit der Patterns meines Erachtens von selbst stellt. Das beginnt im Falle des Eishin Campus mit ganz einfachen Tatsachen: Hinter einem Schulbau steht natürlich ein Erziehungs- und Bildungssystem, das in so entfernten Kulturen wie der amerikanischen und der japanischen sicherlich unterschiedlich ausgeprägt ist, wiewohl die japanische Gesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg am stärksten von der amerikanischen beeinflusst wurde und z. B. auch das College-System übernommen hat. Ferner ist zu berücksichtigen, dass japanische Raumgestaltung auch im öffentlichen Bereich nach anderen Prinzipien funktioniert, nicht nur was Materialien oder Maßstäbe betrifft, sondern auch Auffassungen von Außen und Innen, der Funktion von Straßen, Plätzen und Gärten, der Symbolik von Bauelementen wie Säulen oder Dachformen, aber auch Wasserläufen, Steinen oder Brücken und schließlich der Struktur der Öffentlichkeit als solcher. Alle diese Differenzen fließen in die Patterns ein, wenn sie in einer anderen Kultur erstellt werden. Doch wie sie letztlich das Erscheinungsbild bestimmen, ist tatsächlich nicht leicht zu ermitteln. Auch wenn japanische kulturelle Merkmale evident sind, kann der subjektive Gesamteindruck dem durchaus zuwiderlaufen.
Pattern Language und konomi-Konzept
Mit der Frage konfrontiert, welchen (kulturellen) Eindruck der Eishin Campus auf sie vermittelt, antworten Japaner zumeist, dass es sich um westliche Architektur handelt.3 Dennoch lassen sich am Eishin Campus einige japanische kulturelle Merkmale zweifelsfrei feststellen. Am evidentesten etwa, wenn in der Pattern Language gefordert wird, dass Tatami-Matten in bestimmten Räumen zu verwenden seien, Sitzkissen statt Stühlen oder durchscheinende Schiebeelemente (shōji), die parallel zu den Fenstern laufen; oder wenn vorgeschlagen wird, dass in den Klassenräumen die Schuhe auszuziehen seien. Die Einschreibung kann aber auch subtiler erfolgen, wie z. B. durch solche Vorschläge, in denen sich das japanische Naturempfinden artikuliert: »The approach to many of the buildings is indirect, and passes through a green area, bushes, gardens and fences […]. Somewhere there is a small carp pond, with very ancient fish in it. Old fish swimming slowly in a circle, und bushes, and in a way that allows people to sit and talk and be quiet near it« (Alexander 2012: 149).
Auch in der Frage der Materialien und in Details der Gebäudegestaltung sind es Vorgaben aus der Pattern Language, die das Projekt mit japanischen kulturellen Elementen anreichern, etwa die in Beton gegossenen Ornamentbänder rund um die Klassengebäude. Es gibt auch andere Details, die die japanische Bautradition aufrufen, wie die sogenannte teri-mukuri-Linie (Konkav/Konvex-Linie) der Tempelarchitektur über dem Portal der Judohalle oder die niedrigen Eingangstore in die Gärten neben den Klassenräumen, die ebenso wie die unorthodoxe Fensteranordnung in der Sporthalle an architektonische Elemente 3 | Eine solche Umfrage hat der Verfasser unter japanischen Studenten gemacht. Das gleiche berichten auch die Herausgeberinnen der Shifting Patterns. Ihre Frage an einen Englischlehrer des Campus, nämlich, »ob die Architektur der Schule für ihn japanische Elemente enthalte, verneint Matsuura Takashi. Sie erinnere ihn eher an europäische und amerikanische Bauten« (Guttmann/Kaiser/Mazanek 2018: 15). Das erinnert auch an eine Anekdote über Bruno Taut: Nach seiner Rückkehr aus dem japanischen Exil in die Türkei hat sich Taut in Istanbul ein Haus gebaut, das er für ein japanisches Haus hielt, während seine japanischen Besucher es für ein westliches hielten. Das zeigt deutlich, dass kulturelle Transferprozesse auch kognitive Fragen der Wahrnehmung implizieren.
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des sukiya-Stils erinnern, etwa in der Teehausarchitektur oder in Gartenanlagen. Schwieriger zu erkennen sind dann strukturelle Merkmale der japanischen Raumgestaltung wie »gedrehte und geknickte Achsen«, wie sie Manfred Speidel (vgl. Speidel 1995) und Ashihara Yoshinobu (vgl. A shihara 1998) beschrieben haben, und die die Anordnung der Gebäude im Campus bestimmen. Ein sehr bedeutsames Merkmal ist das tanojiMuster, das der Anlage in der Pattern Language des Eishin Campus ursprünglich zugrunde gelegt und später aufgrund der Geländeform wieder aufgegeben wurde. Es enthält das Zeichen ta für »Feld« und damit eines der ursprünglichsten japanischen Raumordnungszeichen.4 Oder die sogenannte Homebase Street, eine Straße zwischen den Klassenpavillons, die auf eine Anregung einer Lehrerin zurückgeht und auf traditionelle japanische Einkaufsstraßen wie die Nakamise in Asakusa anspielen soll, wie Hosoi in einem Interview sagt (vgl. Hosoi 2018: 58). Und gibt es nicht auch Anspielungen über Bezeichnungen? Die Technik des kura shikkui [dunkler Verputz], die an der Fassade der Sporthalle angewandt wurde, verweist (mich) klanglich auf das westjapanische Städtchen »Kurashiki«, auf dessen kura [Lagerhaus]-Architektur in der angrenzenden Klassenzimmer-Front angespielt wird. Das Erscheinungsbild des Eishin-Campus ist in dieser Hinsicht auch mehrfach kulturell codiert. Einzelne Elemente scheinen in verschiedene kulturelle Kontexte eingepasst zu sein und sich kulturell zu überlappen. Dabei spielt Japan nur eine Rolle unter anderen. Wie Alexander berichtet, hatte sein Team während des ganzen Baugeschehens ein Bild von einem buddhistischen Kloster in Tibet, das ihnen von der Materialverwendung und von der Verteilung der Bauvolumina her vorbildlich schien, an der Wand hängen. Andere Inspirationsquellen waren nordisch christliche Sakralarchitektur oder archetypische Bauformen wie die einfache Hütte auf Stelzen, wie sie etwa auch der Ise-Schrein repräsentiert. So wird der Betrachter des Eishin Campus in ein Oszillieren von Formen und Atmosphären versetzt, wobei Elemente gemäß Alexanders Überlappungs4 | In der Pattern Language des Eishin Campus ist Folgendes zu lesen: »The Tanoji Center, geometrically the center of gravity of the Campus, unifies College and the High School, and connects all the other important functions of the inner precinct. It has the rough form of a cross – formed by crossing paths. Because this cross resembles the Japanese character ›ta‹, the school has named this place the Ta-noji Center« (Alexander 2012: 134f.).
Pattern Language und konomi-Konzept
theorie ständig in verschiedene Figurationen eingepasst werden. Das Oszillieren des Campus zwischen japanisch und westlich, fremdartig und vertraut, sakral auratisch und profan, zwischen archaisch und modern, zeitlos und historisch, zwischen rau und raffiniert, natur- und bühnenhaft ist das Resultat einer Methode, die weniger dem bewussten Planen als vielmehr unbewussten Prozessen in der Gestaltung Platz einräumt. Alexanders Ansatz ist universalistisch, insofern seine Methode überall anwendbar ist, er ist aber auch kulturalistisch, da die Patterns in jeder Kultur nach den jeweiligen Bedürfnissen der Benutzer geschrieben werden. Und er ist darüber hinaus demokratisch, da die Pattern Language ein Abbild der Wünsche und Vorstellungen aller Beteiligten ergeben soll. »In the case of the language for Eishin, it was a vision which, as far as possible, embodied the real feelings of the people of Japan, and in particular of these people who formed the staff and teachers and students of this school« (Alexander 2012: 132).
L iter aturverzeichnis Alexander, Christopher (1965): »A City is Not a Tree«, in: Architectural Forum 122/1, S. 58-62. Alexander, Christopher (1977): A Pattern Language: Towns – Buildings – Construction, New York. Alexander, Christopher (1995): Eine MusterSprache. Städte – Gebäude – Konstruktionen, hg. v. Hermann Czech, Wien. Alexander, Christopher (2012): The Battle for the Life and Beauty of the Earth, New York. Ashihara, Yoshinobu (1998): The Aesthetics of Tokyo. Chaos and Order, Tokyo. Guttmann, Eva/Gabriele Kaiser/Claudia Mazanek (2018): Shifting Patterns. Christopher Alexander und der Eishin Campus, Zürich. Hosoi, Hisae (2018): »Nutzerbeteiligung, Muster-Sprache und der Weg zum einfachen Bauen«, in: Eva Guttmann/Gabriele Kaiser/Claudia Mazanek (Hg.): Shifting Patterns. Christopher Alexander und der Ei shin Campus, Zürich, S. 50-142. Isozaki, Arata (2006): Japan-ness in Architecture, Cambridge, Mass. Karatani, Kojin (1995 [1983]): Architecture as Metaphor: Language, Number, Money, aus dem Japanischen v. Sabu Kohso, Cambridge, Mass.
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Kühn, Christian (2018): »Die Pattern Language für den Eishin Campus«, in: Eva Guttmann/Gabriele Kaiser/Claudia Mazanek (Hg.): Shifting Patterns. Christopher Alexander und der Eishin Campus, Zürich, S.143-162. Nakatani, Norihito (2018): »Why Recall Christopher Alexander?«, in: Eva Guttmann/Gabriele Kaiser/Claudia Mazanek (Hg.): Shifting Patterns. Christopher Alexander und der Eishin Campus, Zürich, S.163-168. Neis, Hajo (2018): »Shifting Values in Architecture and Urban Design – Borken, 8. und 9. Juli 2017. Ein Gespräch mit Hajo Neis«, in: Eva Guttmann/Gabriele Kaiser/Claudia Mazanek (Hg.): Shifting Patterns. Christopher Alexander und der Eishin Campus, Zürich, S. 124-142. Speidel, Manfred (1995): »Gedrehte und geknickte Achsen. Raumkonzeptionen in der japanischen Architektur«, in: Heinz Herbert Mann (Hg.): Regel und Ausnahme. Festschrift für Hans Holländer, Aachen u. a., S. 205-212.
In Bildern wohnen Mensch und Haus bei Ozu Yasujirō Andreas Becker
1. E inleitung . F ilmkulissen des W ohnens »In einem Ozu-Film kann man«, schreibt der amerikanische Filmkritiker, Schriftsteller und Journalist Donald Richie, »wie in der japanischen Architektur alle Strebepfeiler sehen, und jede Stütze ist so notwendig wie die nächste. Ozu benutzt weder Farbe noch Tapeten; er benutzt richtiges Holz. Er dreht einen Film wie ein Zimmermann ein Haus baut. Das Resultat kann man messen, untersuchen, vergleichen. Aber darin – wie in einem Haus – lebt der Mensch, das unermessliche, nicht funktionsgebundene Wesen. Diese herrliche Verbindung des Statischen und des Lebendigen, der Form und des Inhalts lässt die Filme von Ozu zu einem zwingenden, emotionellen Erlebnis werden, und gleichzeitig erscheinen sie als wunderschöne, von Hand geformte Gefäße« (Richie 2003: 18).
Seit den 1930er Jahren, ganz prägend dann seit Toda-ke no kyōdai (Die Geschwister Toda, 1941), vollzieht Ozu den Wandel zum Innenraumregisseur. Natürlich bleibt auch danach das Location Scouting für Ozu wichtig, und auch einzelne Szenen, etwa die Strandszene in Bakushū (Weizenherbst, 1951), spielen draußen. Aber das Melodram entwickelt sich dann doch in Innenräumen. Es sind vor allem die Wohnräume, die zweistöckigen Häuser am Stadtrand Tokyos, die es auch heute ganz ähnlich so noch gibt, und die Vergnügungsorte, also Bars, Izakayas, Restaurants, Cafés, die Ozu zeigt. Ozu hat diese Räume, so echt sie auch ausschauen, im Studio nachbauen lassen und mit seinen Filmarchitekten akribisch entworfen. Dies hat zum einen ganz praktische Gründe: Der Raum für das Team
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wäre viel zu klein, die Möglichkeiten eingeschränkt. Zum anderen erweitert dieses Verfahren die Inszenierungsfreiheiten, etwa der Lichtsetzung, der Kontrolle des Raums, des subliminalen Erzählens usf. Wenn es auch kaum auffällt, weil das Licht so natürlich gesetzt ist und selbst der Vorgarten noch im Studio mit aufgebaut, so haben wir es mit Filmkulissen des japanischen Hauses zu tun. Genauer gesagt zeigt uns Ozu mit seinem Kameramann Atsuta Yūharu filmische Perspektiven der Filmkulissen, dazu gehören etwa der Blickpunkt, das (einheitliche) Kameraobjektiv, die Lichtinszenierung. Diese Filmkulissen wirken dann aber täuschend echt, hyperreal. Sie versinnlichen den Alltag, akzentuieren die Neonlichter und Schilder der Metropole Tokyo, sie verklären die alltäglichen Verrichtungen, laden alltägliche Gespräche sinnhaft – metaphysisch – vom Hintergrund aus auf.1 Diesem Aspekt des Präparierens des Raums möchten wir im Folgenden unsere Aufmerksamkeit widmen und dies am Beispiel von Ozus erstem Farbfilm, Higanbana (Sommerblüten, 1958), darstellen. Uns geht es dabei um ästhetische Interferenzen und Resonanzen von japanischer und westlicher Architektur, Filmkulisse und Film.
2. D as japanische H aus als L eitbild für O zus F ilme Es sind also in diesem Sinne Modelle japanischer Häuser, die aber derart alltäglich und den Zufall imaginierend, sehr liebevoll eingerichtet sind, dass man keinen Moment den Eindruck hat, man wohne als Zuschauer eine Kulisse ein. Es sind künstliche Räume, »gebaute Illusionen«,2 die aber den Stil japanischer Architektur wiederum in den Film hineinbilden, das natürliche Licht, sogar das der Beleuchtung aufführen. Da ist etwa die Morgensonne, deren Licht in Perfektion nachgeahmt wird, ebenso wie das Ein- und Ausschalten der Glühbirne und das Schattenlicht des Abends. Ozu nutzt dazu ein besonderes Verfahren, indem er das Studiolicht für Sekundenbruchteile früher ausgehen lässt als das der Lampe, sodass deren Glühfadenlicht den Rest der Szene ein kleines bisschen noch erleuchtet, Bruchteile von Momenten nur, bevor alles Licht erlischt. Und da wären die shōji- und fusuma-Schiebewände, die schattigen Bereiche, die für Europäer labyrinthisch wirkenden Flure, die einen 1 | Zum Alltag bei Ozu siehe Joo 2017. 2 | Siehe hierzu Weihsmann 1988.
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Orientierungswechsel erfordern, wenn man sie betritt, und bei denen in Ozus Filmen bekanntlich die Menschen links aus dem Bild heraus und im Anschlussschnitt dann rechts wieder in das Bild hineinlaufen. Dies wäre im westlichen Film ein klarer Montagefehler, aber eben hier nicht, weil das Modell, das der japanischen Architektur, der Filmarchitektur wie der Inszenierung zugrunde liegt. David Bordwell und Kristin Thompson haben diesen Gegensatz zum Hollywood-Continuity-System ausführlich beschrieben, wenn sie sagen, dass die Anschlusseinstellungen oft aus der Gegenposition heraus gefilmt sind, womit die Konventionen des westlichen Films revidiert werden.3
3. S chattenstrukturen Kennt man die japanischen Räume ein wenig, so wirkt Ozus Filmarchitektur mit ihrem Stil natürlich, sie setzt eben die gewohnten Strukturen nur filmisch fort und überträgt die Erfahrungen der Lebenswelt auf die des Films. Sie macht aus dem japanischen Haus ein ästhetisches Leitbild, aus der architektonischen Ordnung wird so eine Orientierungsordnung für den filmischen Zuschauer. Die einzelnen Außenaufnahmen, on location gedreht, dienen dann nur mehr als ephemer wirkende Verbindungsglieder und Übergänge zwischen diesen Innenräumen. Die Schatten der Architektur bilden eine subtile Hintergrundnarration des Films. Um die Wichtigkeit des Schattens in der japanischen Ästhetik – und auch der Filmästhetik Ozus – zu ermessen, denke man an Tanizaki Jun’ichirōs Klassiker japanischer Ästhetik, Lob des Schattens: »Das Genie unserer Vorfahren hat also der Schattenwelt, die durch bewußtes Abschirmen des leeren Raums von selber entsteht, einen geheimnisvollen ästhetischen Ausdruck verliehen, gegen welchen keine Wandbemalung oder Dekoration auch nur annähernd aufkommt. Das sieht nach einem simplen Kunstgriff aus; aber in Wirklichkeit liegen die Dinge nicht so einfach. Man kann unschwer abschätzen, wieviel den Blicken verborgene Mühe für jedes Detail, zum Beispiel für den Fens3 | So heißt es: »[E]ach shot with the camera facing in exactly the opposite direction from adjoining shots, forces the spectator to pay attention to space itself or become lost« (Bordwell/Thompson 1976: 58). Siehe dazu auch Branigan 1976 und Bordwell 1988.
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terausschnitt zur Seite der Wandnische, für die Tiefe des oberen Querbalkens, für die Höhe der Nischenschwelle, aufgewendet worden ist. Ich jedenfalls bleibe im weißlich-matten Lichtschimmer, den die shōji des Studierzimmers hereinlassen, oft unversehens davor stehen und vergesse, wie die Zeit verstreicht« (Tanizaki 2002: 38).
4. D as unpr aktische , aber ästhe tische japanische
H aus
Das japanische Haus wurde vielfach beschrieben und aus der europäischen Ferne wird es leicht verklärt.4 All das Praktische wie auch das Massive, Steinerne, Bollwerkartige des »deutschen« Hauses wie auch der Schutz vor Kälte und Wärme fehlt. Das japanische Haus ist »fast ausschließlich für den Sommer gebaut« (Taut 2003: 51), schreibt Architekt Bruno Taut, als er in Japan lebt.5 Die Wände sind dünn wie Fassadenverkleidungen, Holz ein wichtiges Baumaterial. Privatsphäre ist in diesen Räumen kaum gewährt, zu hellhörig sind die Wände. »It is a house turned outside in, except that there never was much of an outside« (Rudofsky 1965: 113), schreibt Architekt und Kulturtheoretiker Bernard Rudofsky.6 4 | Zur Geschichte des japanischen Hauses in der Nachkriegszeit siehe den Ausstellungskatalog The Japanese House (Shin-kenchikusha/ Nationalmuseum für Moderne Kunst Tokyo 2017) sowie Isozaki 2011. Der Originaltext ist gegenüber der Übersetzung graphisch sehr aufwendig gestaltet und stellt die Beispiele anhand von Fotos dar. Zum Raumbegriff in der japanischen Architektur siehe die sehr differenzierten Ausführungen in Shimada 1994. Ein (ikonisches) Grundmodell japanischer Architektur ist bis heute die kaiserliche Katsura-Villa in Kyoto. Siehe dazu Isozaki u. a. 2011. 5 | Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Bernard Rudofsky, wenn er seine Ausführungen zur japanischen Architektur mit A House for the Summer übertitelt (Rudofsky 1965). 6 | Siehe dazu auch Ueda Atsushis Ausführungen: »From the traditional shinkabe construction in which mud was smeared over bamboo strips, to the modern okabe construction in which lathing or plasterboard is finished with wainscoting or mortar, the wall is made of wood or bamboo or clay – materials found in nature. The Japanese wall allows the outdoors to be seen through cracks along the posts and beams, and it gives a hollow sound when tapped upon« (Ueda 1990: 34).
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Anstelle von Fenstern verwendet man traditionell mit Reispapier beklebte Holzleisten, eben die shōji. Auch die heutigen Fensterscheiben sind als Hybride dieser architektonischen Elemente oftmals nur wenige Millimeter dick und lassen sich daher in der Regel verschieben und nicht kippen (was in der Regenzeit sehr unpraktisch ist, da es hineinregnen würde, öffnete man sie). Eine Zentralheizung fehlt in den Wohnhäusern auch heute noch, stattdessen gibt es provisorisch wirkende und dazu noch stromfressende Klimaanlagen in den Wohnhäusern; Kästen, die in der oberen Ecke des Raumes montiert sind und die kühlen, lüften, entfeuchten wie auch ventilieren können. Es verlangt eine kulturelle Haltung, man mag von Tugend sprechen, eben die, das Ästhetische wichtiger zu nehmen als das Praktische, in diesen Häusern zu wohnen.7 Wenn selbst in modernen Häusern zur Winterszeit mitten im Zimmer Gasöfchen stehen, die den kaum isolierten Raum heizen sollen, so scheint dies anachronistisch und eigensinnig.
5. S innesfelder und ihre W ichtung Auch die Wichtung der Sinne ist im japanischen Haus eine andere. Die Haptik ist viel bedeutender als im europäischen Haus. Haltbarkeit der Materialien spielt keine so große Rolle, man möchte das Haus gegebenenfalls (wie den Ise-Schrein) im festgelegten Turnus einfach neu auf bauen. Der visuelle Sinn, man denke an die Fenster und die Rollläden, die aus den deutschen Häusern wahre Blickvorrichtungen nach dem Muster des Augenlids machen, ist nicht der Leitsinn. Und die erwähnte Schattenhaftigkeit des Hauses, konkret: die allgemein zu beobachtende Nordung des Wohnraums, führt dazu, dass es im Winter noch kälter ist als ohnehin, weil nicht einmal die Sonne in das Wohnzimmer (chanoma, wörtlich den Teeraum) hineinscheint. Und wer denkt, dass die Balkone, die es allüberall in Japan gibt, auch genutzt würden, um dort zu sitzen und im Freien den Feierabend zu genießen, sieht sich eines Fehlschlusses ausgesetzt, denn zu mehr als dem Wäschetrocknen dient dieser Außenraum des Innenraums nicht. Die Geländer sind vorsorglich so hoch gezogen, dass, auch wenn man dort säße, man doch nicht ins Freie blicken könnte. Und 7 | Für einen Vergleich zwischen der japanischen und der deutschen Kultur siehe Pfeiffer 2010.
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Balkonschuhe dienen einerseits dazu, die Waschbeton-Krümelchen des ungefliesten Balkonraums nicht in den empfindlichen Innenraum zu tragen, ihr Anziehen markiert aber andererseits auch eine Grenze zwischen Innen und Außen, die den Balkon als architektonisch fremdes Element erscheinen lassen. All diese kritischen Einwände werden auch von Japanern gesehen, aber eben weil die Haltung gegenüber der Alltagswelt eine andere ist, gelten diese auf dem Primat des Praktischen fußenden Argumente kaum (und werden daher auch von Ozu nicht mit inszeniert). Und tatsächlich ist es so, wenn es vor allem im Frühling und im Herbst schöne Tage gibt, man die shōji öffnen kann und im Schatten nach draußen blickt – sowieso in den Tempeln mit ihren Gärten –, dann eröffnen sich ästhetische Perspektiven, dringt die Atmosphäre der Natur derart in den Innenraum ein, dass die an sich getrennten Sphären Innen und Außen so verschmelzen, wie es kein Haus europäischer Bauart je zuzulassen vermag. Dann entstehen Inszenierungen und Spiegelungen sinnlicher Art, wie sie feiner kaum sein können, weil eben hierauf alles abgestimmt ist. Und wohl deshalb wählt Ozu auch vornehmlich diese Jahreszeiten aus, um seinen gewöhnlichen Alltag sinnlich aufzuladen.
6. A tmosphären . O zu und das W ohnen Ozu also zeigt in seinen Filmen nicht nur diesen alltäglichen Raum, sondern das Wohnen im Raum, er zeigt also Orte. Orte sind Räume mit einem Bezug zum konkreten Leben. Einen Raum kann ich mathematisch berechnen, einen Ort nicht. Was einen Ort ausmacht, ist eine bestimmte subjektive Qualität, eine Atmosphäre: Menschen, die ich dort treffe, Musik, Düfte, Erinnerungen, die ich habe, schöne Momente, die ich dort erlebe. Atmosphären sind Eigenschaften der erzählten Welt und bilden gleichsam »ein textuelles Register vor oder neben der Handlung«, es entsteht eine »zweite Stimme der Filmerzählung«, wie Britta Hartmann (2012: 132) schreibt. Durch diese Art der Rauminszenierung verwischt Ozu die Grenzen der Innen- und Außenwelt. Die Räume als Orte sind in sich bereits sinnlich gefärbt, sie geben in ihrer Gestimmtheit preis, was sich im Inneren der Figuren abspielt. Jede Stellung der Gegenstände und jede Einrichtung des Wohnraums veräußerlicht den Charakter der in ihm lebenden Menschen zeichenhaft.
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Bei Ozu kehren typische Orte in allen seinen Nachkriegsfilmen wieder: Da ist natürlich der Arbeitsplatz, die Wege zur und von der Arbeit mit dem Zug, die Passagenräume wie der Bahnhof, Haltestellen, auch das Wohnhaus, die Küche, das Arbeitszimmer, das Wohnzimmer, das Schlafzimmer, bei Kindern die Schule, Freizeiteinrichtungen, die Kneipe um die Ecke, Theater, Baseball-Stadien zeigt Ozu uns. Seine Filme sind virtuelle Archive dieser Orte und deren Atmosphären zu dieser Zeit. In ihrer Subjektivität spiegeln sie oftmals mehr vom Zeitgeist wider als dies Statistiken oder historische Quellen tun, weil sie eben einen Zugang zur Wahrnehmung der konkreten Alltagswelt erlauben, indem sie diese ästhetisch imaginieren. Ozu dokumentiert dazu die Entwicklung vom Mehrfamilienhaus hin zur Apartmentwohnung, in der Kleinfamilien und heute oftmals Singles wohnen. Aber Ozu kommentiert das nicht, gibt die Alltagswelt mit ihren Konflikten und ihrem spezifischen Lebensstil stattdessen wieder.
7. J apanische A rchitektur und ihre ästhe tischen P r ämissen . S it zen in der japanischen K ultur und bei O zu Die Schwierigkeit besteht darin, dass schon das Leitmodell Ozus, eben die japanische Architektur, bestimmte Setzungen macht, die in der westlichen Architektur nicht vorhanden sind. Da ist die erwähnte nahezu fehlende Abgrenzung Innen-Außen. Da sind die zahlreichen ästhetischen Finessen, die Wandnische (tokonoma), der Hausschrein, das westliche und japanische Zimmer, das Wohnzimmer, das auch ein Esszimmer ist und schnell zum Schlafzimmer umfunktioniert werden kann, das Bad. Ganz konkret zeichnet Ozu architektonische Stilmuster dieser Häuser nach. Das Sitzen auf den Tatami-Matten wird durch eine niedrige Kameraperspektive, den tatami-Shot, nachempfunden. Gleich zu Beginn des Kapitels über das Sitzen schreibt Literaturwissenschaftler Tada Michitarō: »The most familiar posture for us in daily life is that of sitting. We have the feeling that sitting is usual and standing unusual« (Tada 2004: 92). Tada erklärt dann die ungewöhnlichen Low-Angle-Aufnahmen Ozus mit eben jener japanischen Sitzweise:
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»Ordinary camera angles are those which offer a perspective as if from the standing or sitting on a chair point-of-view. These angles, however, are not appropriate if one wishes one’s representations of Japanese scenes and the interior of Japanese rooms to have a settled feeling. Ozu possessed a great sensitivity for the delicate beauty of Japan. He discovered that when he took pictures from a low angle, as if viewing the interior of the room from a prone position, then the objects became ›settled‹. […] All Japanese interior spaces and objects, such as the tokonoma picture alcove, an ikebana flower arrangement, and an alcove’s set of staggered shelves, all of these are constructed to suit the visual perspective of a person seated on the floor. The gaze from a sitting position is, so to speak, one of the standards of Japanese culture« (ebd.: 96f.).
Wird sich im amerikanischen Film durch Räume bewegt und folgt die Kamera den Protagonisten dabei in Augenhöhe, so vollziehen sich Ozus Dramen sitzend. Das wirkt irritierend nur auf den, der diese Voraussetzung der japanischen Kulturwelt nicht kennt.
8. O zu als »R aumregisseur «. A rchitektonische I maginationen und H iganbana Die Schwelle, die man beim Eintritt in das Haus im kleinen Flur überschreitet, dient zahllosen Szenen als Äquivalent für den EstablishingShot. Die Richtungswechsel und Drehungen, die man in der japanischen Architektur vollzieht, wenn man die Räume durchquert, die schmalen Korridore, all das zelebriert Ozu. Ozus Skizzen und Pläne werden manchmal in Japan ausgestellt, sie sind mit wenigen Ausnahmen unveröffentlicht und im Westen nahezu unbekannt. Es liegen Hunderte dieser Skizzen vor. Bei Higanbana war Takahashi Toshio für das Set-Design verantwortlich, Hamada Tatsuo war Art Director, Moriya Setsutarō hat die Set-Decoration übernommen, die Grenzen sind hier sicher fließend. Details, selbst die, die man im Film nicht sieht, werden da entworfen. Räume, die gar nicht bespielt werden, finden sich in diesen architektonischen Plänen. Ozu also baut eine vollkommen hermetisch abgeschlossene Welt auf, in der er die Architektur filmisch – als narrativ zugeordnete Blickperspektiven – simuliert. Es könnte die Luna-Bar wie das Restaurant Wakamatsu genau so geben, wie es in Higanbana gezeigt wird. Und genau so könnte
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die Familie in Azabu wohnen. Aber Ozu arretiert seine Fantasiewelt in diesen wenigen Außenaufnahmen, die die Orte bedeuten. Seine Imaginationen legen sich wie ein maßgeschneiderter Anzug auf den Körper der Stadt, schmiegen sich an ihn an und wir merken nicht, dass dies alles eine Fiktion ist. Eine Metafiktion, eine gedoppelte und multiple filmische Fantasie, deren Ausmaß gar nicht erahnbar ist, weil sie die Welt so gut in die Fiktion hin einpasst, dass sie dokumentarisch wirkt. Und natürlich manipuliert Ozu dann die Details so, dass daraus ein existentieller Humor entspringt. Er filmt im Konjunktiv der Fantasie, in einem konkretisierten Möglichkeitsraum, in einer totalen, aber dennoch bühnenhaften Welt mit doppeltem Boden. Betrachtet man bereits Kulissen als Bilder – denn sie sind solche – so arbeitet Ozu fortwährend mit Bildern von Bildern.8 Und der späte Ozu forciert dies noch, indem er zahlreiche Gemälde zeitgenössischer japanischer Kunst in die Räume platziert, freilich verdeckt, im Hintergrund. Ozu stellt seit den 1940er Jahren in der Regel Familiendramen dar. Die Handlung spielt also innerhalb des Hauses, innerhalb der Familie. Wo außen, im öffentlichen Raum, bei der Arbeit, zurückgenommen, uneigennützig, schamhaft, distanziert und wortlos kommuniziert wird, ist die Familie der Ort der Direktheit, auch der direkten Konfrontation, der Auseinandersetzung, des Ausagierens von Gefühlen. Hier wird sich auch mimisch viel stärker ausgedrückt, hier werden Gefühle viel stärker gezeigt, als das außerhalb des Hauses geduldet würde. Das hat für die filmische Darstellung den großen Vorteil, dass hier Gefühle ebenso veräußerlicht werden wie dies im Westen (und im westlichen Film) überall der Fall ist. Und manchmal sogar verletzender, direkter. Ozu als einem Raumregisseur ist die Architektur von ähnlich großer Bedeutung wie für Stanley Kubrick, Fritz Lang oder William Wyler. Wo seine westlichen Kollegen allerdings mit Gigantomanie kokettieren, Raumstationen, Zukunftsstädte oder gar das antike Rom nachbauen lassen, übt sich Ozu in Bescheidenheit, wenn er mit nicht weniger großem Aufwand das japanische Haus wie auch Bars und Restaurants im Studio konstruieren lässt. In einer Hinsicht allerdings ähnelt sein Stil auch wiederum dem Kubricks wie auch dem Langs und Wylers, man denke an Kubricks 2001. A Space Odyssey (2001. Eine Odyssee im Weltraum, 1968), Langs Nibelungen (Die Nibelungen. Siegfrieds Tod, 1924; Die Nibelungen. 8 | Zur Frage des Bildes siehe meine Ausführungen in Becker 2012.
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Kriemhilds Rache, 1924) oder an Wylers Ben Hur (Ben Hur, 1959), indem er nämlich in der Narration und für diese die Blickperspektiven der Architektur nicht dramatisiert. Anders formuliert: Ozu rahmt, egal wie dramatisch seine Handlung sich vollzieht, das Geschehen in die gleichen architektonischen Linien ein und ändert auch seinen Schnittrhythmus wenig, egal wie dramatisch die Handlung auch sein mag. Er anthropomorphisiert nicht. Seine Blickordnungen folgen nicht dem Muster der Narration und dem subjektiven Erlebnis der Protagonisten. Wo Wyler Monumentalfilme dreht, übt sich Ozu in einer Art Mikromonumentalismus. Aber welchen Ordnungen folgt er? Schauen wir uns am Beispiel des Films Higanbana an, welche Bedeutung das japanische Haus in der konkreten Handlung hat.
9. D as H aus in O zus H iganbana Die Vorlage von Higanbana ist die gleichnamige Novelle von Satomi Ton (1995 [1958]). Der Film handelt von der Familie Hirayama, die ein Haus japanischen Stils in Azabu bewohnt, in der Nähe des Arisugawa-Gartens, der damaligen »Villenvorstadt«, wie das Drehbuch ausweist. Das Ehepaar Hirayama, das ist Hirayama Wataru (Saburi Shin), geschäftsführender Direktor, und Hirayama Kiyoko (Tanaka Kinuyo). Sie haben zwei Töchter: Setsuko (Arima Ineko) und Hisako (Kuwano Miyuki). Der Konflikt bahnt sich an, als Setsuko sich in den Angestellten Taniguchi Masahiko (Sada Keiji) verliebt und damit offensichtlich die Heiratspläne des Vaters durchkreuzt, als dieser sich ihm spontan in seinem Büro vorstellt. Ein vollständiger Etikettenbruch. Während Wataru traditionell bei der Wahl des Bräutigams vermitteln (und damit die familiäre gesellschaftliche Stellung festigen) möchte, stehen seine Frau und die jüngere Schwester Hisako auf der Seite von Setsuko, die aus Liebe heiratet. In Shimogawara Tomoos Ozu Yasujirō. Hito to shigoto (Ozu 1972: 122) ist ein solcher Plan des Hauses der Hirayamas abgedruckt, der entsprechend in den filmischen Bauten umgesetzt wurde. Ozu folgt diesen Blicklinien der Architektur mit ihren Fluren, ihrer Symmetrie, dem Tageslicht. Sein architektonischer Raum ist jedoch gleichzeitig auf eine bezaubernd dezente Weise alltäglich eingerichtet und ausgestattet, vieles wirkt ephemer und zufällig, manches arrangiert. So ziehen sich die kulturspezifischen Linien von diesem architektonisch vorgegebenen Nutzungsstil
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bis hin zur Narration. Ozu achtet, in seinen späten Filmen noch mehr als früher schon, auf diese Hintergrundhandlungen und die scheinbar nebensächlichen Aktionen und Gewohnheiten, wie etwa das Wegstellen von Gegenständen, das Verrücken, überhaupt auf die Orte der Dinge wie der Protagonisten. So zeigt er denn auch den Konflikt zwischen Wataru und seiner Frau Kiyoko, die auf der Seite der Tochter steht, als einen, der im Raum ausagiert wird. Der Raum ist eine absolute, unverrückbare Größe, die erhaben ist von jedem Konflikt und stabil bleibt. Die Menschen können sich im Raum bewegen, der Film kann den Raum zeigen, aber es gibt hier selbstgesetzte Grenzen. Der Raum bewegt sich nicht, wird von den Gefühlen nicht affiziert. Er wird nicht perspektivisch zerlegt, in der Regel nur mit dem 50mm-Objektiv dargestellt. Er gibt die filmischen Linien wie die des Alltags skizzenhaft vor. Wataru nimmt dann im hinteren Zimmer Platz, Kiyoko vorne, die Kinder dazwischen. Diese räumlich-leibliche Trennung ist eine Art vorauseilende Vermeidung eines Konflikts, sich möglichst distanziert vom Anderen zu platzieren, wenn dies auch den Konflikt dennoch eskalieren lässt. Interessant ist nun, dass Ozu diese Blickachsensprünge, er filmt mal von vorne, mal von hinten, architektonisch kaschiert. Uns fällt nicht auf, wann er die Perspektive von der einen zur anderen Seite wechselt, da der japanische Raum extrem symmetrisch ist und einfachen Grundformen folgt. Es sind dann Raumzeichen, die uns anzeigen, wann die Blickachse wechselt und wie die Protagonisten eigentlich topographisch zueinander stehen, der rote und der schwarze Tisch, die Geschenke, der rote Teekessel etwa, zeigen dies. Es wird dies semiotisch erschlossen und kodiert. Ozu gibt keinen Überblick, wie das im westlichen Film – etwa im Establishing-Shot – üblich ist. Man muss diese Muster lesen lernen. Und als schließlich, am Vorabend der Hochzeit, Wataru doch noch zusagt, zur Feier zu kommen, inszeniert dies Ozu als einen schwebenden Gang von Kiyoko durch das ganze Haus, dessen Innenraum dann zum ersten Mal, märchenhaft und beinahe vollständig, dargestellt wird, man möchte sagen: erblüht.9 Hier verbindet Kiyoko, durch das Haus wandelnd, dessen Perspektiven, die bislang im Schattenbereich der Narration ruhten. Aber selbst in 9 | Der Begründer des Nō-Spiels, Zeami, hat bekanntlich das Erlernen der Blüte (kashū) als ein Merkmal gelungenen Spiels beschrieben. Und Ozus Spiel erinnert nicht nur hier an das Nō-Theater. Siehe dazu Zeami 2008: 69.
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diesem Moment anthropomorphisiert Ozu nicht, sondern reiht die Montagen nur durch Bewegung wie bei einer Perlenschnur aneinander. Es ist das erste Mal im Film, dass der Raum durch die Bewegung der Protagonisten erschlossen wird. Es wirkt wie ein Fest, befreiend, was im amerikanischen und europäischen Kino der Normalfall ist: dass Menschen durch den Raum gehen und die Kamera ihnen folgt.
10. I z ak ayas und R estaur ants Die öffentlichen Orte bilden den Gegenpol des Hauses wie der Familie. Die Kneipen auf der Ginza, die Luna-Bar, die Restaurants, das Restaurant Wakamatsu etwa, Hirayama Watarus Büro, erscheinen dann in mehreren Filmen. In ihnen bewegen sich die gleichen Schauspieler, mit anderem Namen, aber gleichem Habitus, oder andere Schauspieler mit gleichem Namen, wie Wiedergänger, durch Ozus Filme wie durch ein Labyrinth. Sie verlieren sich karnevalesk und trunken in der Vergangenheit, wohnen in der Erinnerung und sprechen theatral über ihre Familien und ihre eigenen Konflikte, über den Krieg. Jenseits einer Narration sind diese Kneipen beständige Orte. Dies darzustellen, dazu bedarf es eben jener Akzentuierung der architektonischen Linien auf der filmischen Bühne. Ozus Filme orientieren sich, wie wir sahen, an den Linien der japanischen Architektur. Ihre filmischen Perspektiven sind den architektonischen nachempfundene. Die Ruhe, die von seinen Filmen ausgeht, besteht auch darin, dass die Architektur die Rahmung bildet, selbst der Narration. Die Tiefendimension seiner Erzählungen liegt also nicht darin, dass Ozu den Raum auf die Narration hin wichtet und in entsprechende Perspektiven setzt, etwa die Kameraeinstellungen wechselt. Ozu fügt vielmehr diese labyrinthischen Variationen ein, treibt Spiele mit Nuancen, die sehr leicht übersehen werden. In dieser Hinsicht also verdichtet er den Raum, der auf den ersten Blick so klar gestaltet und ordentlich ist. Die Moderne und ihre Veränderungen durchdringen das alltägliche Leben nie vollkommen. Die Struktur des Raumes scheint von all dem unangetastet. Das stabile Grundmuster der Raumdarstellung bildet so den Resonanzkörper für die Konflikte, die im westlichen Film anthropomorphisiert werden. Es löst sie in feinste Differenzen auf.
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Blu-ray Ozu, Yasujirō (1958): Higanbana [Equinox Flower/Sommerblüten], Blu-ray Shōchiku SHBR-0201 [Amazon-ASIN: B00EEYC6DC].
Max Dauthendeys Idee von der » bewegten Rahmenlosigkeit« der japanischen »plastischen« Bühne Arne Klawitter
1. D ie R ezep tion des japanischen The aters in D eutschl and um 1900 Im Jahre 1896 konstruierte der Bühnentechniker Karl Lautenschläger, auf fernöstliche Theaterpraktiken aufmerksam geworden, für das Münchner Residenztheater eine Drehbühne nach eben jenem Vorbild (vgl. Schuster 1977: 117), das bereits einige Zeit zuvor von Ferdinand Adalbert Junker von Langegg in einem Essay über das japanische Theater näher beschrieben worden war: »Die Bühne, das Podium: Bu-tai ist mit einer großen Drehscheibe: Mawari-Bu-tai: ›Drehbühne‹ versehen, auf deren einen (abgerundeten) Hälfte die Szenerie gerüstet wird, während die Handlung auf der vor der Dekoration befindlichen Hälfte vor sich geht, eine ähnliche Einrichtung, wie sie bereits die alten Römer hatten und welche wir in manchem unserer Sommertheater finden. Die Szenerie ist entweder gemalt, oder häufiger realistisch aufgebaut. Dies ermöglicht die rasch abwechselnden oder gleichzeitigen Handlungen in verschiedenen Akten, ohne Dekorationswechsel [...]« (Langegg 1889: 323).
Eine solche Drehbühne wurde dann von Max Reinhardt bei der Inszenierung von Shakespeares Sommernachtstraum im Neuen Theater Berlin eingesetzt (vgl. Schuster 1977: 118). Reinhardt adaptierte bei der Auffüh-
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rung der Tanz-Pantomime Sumurum (1909) von Friedrich Freksa1 darüber hinaus den japanischen Blumenweg (hanamichi) wie auch zwei Jahre später bei der Münchner Inszenierung von Jacques Offenbachs Die schöne Helena (1864), die mit ihren einzigartigen Tanzeinlagen auf diesem zweiten Schauplatz zu einer Sensation wurde. Im Magazin für die Literatur des In- und Auslands hatte Langegg seine Leser schon 1889 mit der Existenz und Konstruktion des japanischen hanamichi bekannt gemacht, dessen Funktion dann Adolf Fischer gut zehn Jahre später noch ausführlicher beschrieb. Die Blumenwege, heißt es bei ihm, »ermöglichen es, daß sich oftmals zu gleicher Zeit zwei Scenen vor den Augen der Zuschauer abspielen, die eine auf der Bühne, die andere auf dem Hanamichi« (Fischer 1900/01: 502), der seinen Namen von dem Brauch erhalten habe, dass die Zuschauer auf ihn ihre Geschenke für die Darsteller, meist Blumengestecke, zu legen pflegten. Reinhardt hatte, wie Arthur Kahane über ein Gespräch mit ihm aus dem Jahre 1902 berichtet, seinerseits verschiedene Möglichkeiten in Betracht gezogen, die Trennung zwischen den Schauspielern und dem Publikum zu überwinden: »Mir war der Rahmen, der Bühne und Welt trennt, nie etwas Wesentliches, meine Phantasie hat sich seiner Despotie nur ungern gefügt, ich sehe in ihm nur einen Notbehelf der Illusionsbühne, des Guckkastentheaters, aus den spezifischen Bedürfnissen der italienischen Oper hervorgegangen und nicht für alle Zeiten gültig, und alles, was diesen Rahmen sprengt, die Wirkung erweitert und steigert, den Kontakt mit dem Publikum verstärkt, ob nach der intimen oder nach der monumentalen Seite hin, wird mir immer willkommen sein« (Kahane 1928: 120).
1 | Freksa selbst schreibt in seinem Buch Hinter der Rampe. Theaterglossen über die damalige Aufführung: »Im japanischen Schauhause ist die Bindung der Zuschauer an die Szene stärker, da die Schauspieler in jedem Stück die ganze Masse des Publikums passieren, besonders, sobald es sich um die ganz großen Affekte handelt, wenn Furcht oder Entsetzen die handelnden Personen in die Ferne jagt, wenn sie fliehen und sie sich retten, denn die Massenempfindung des Publikums ist in solchen Momenten die, daß der Flüchtende sich in seinen Schutz begibt. Dieses Hineinsaugen des Publikums in die Handlung durfte nicht übergangen werden, aber da das Mittel für uns Deutsche neu und erstaunlich stark wirkend ist, mußte es sehr sparsam verwandt werden« (Freksa 1913: 115f.).
Max Dauthendeys Idee von der »bewegten Rahmenlosigkeit«
Reinhardt war durch einen seiner Mitarbeiter, den Künstler Emil Orlik, auf den japanischen Blumenweg aufmerksam gemacht worden und hatte, davon ausgehend, bereits eigene Vorstellungen über dessen mögliche Anwendung im Theater entwickelt. Als der Dichter Max Dauthendey ihn, wie bei Schuster nachzulesen ist, zu überreden versuchte, sein gerade fertig gestelltes Stück Spielereien einer Kaiserin (1910) mit zwei japanischen Brücken zu inszenieren, musste er feststellen, dass seine Idee nicht so neu war, wie er glaubte: Reinhardt ließ ihm mitteilen, dass er »auf seine Weise den Blumenweg, den er schon lange von Orlik her kannte, in den Kammerspielen probeweise bei der zweiten Novität in diesem Winter [d. i. 1910] einzuführen gedenke« (Dauthendey 1930: 193). Für Reinhardt war der hanamichi »nur ein einziger Weg, durch die Mitte des Zuschauerraumes«, schreibt Dauthendey in einem Brief an seine Frau, »also ganz verschieden von meinen Plänen; dieser eine Weg wird nur bei Prozessionen benützt, aber gibt gar keine so plastische Wirkung wie der Doppelweg« (ebd.). Trotz erheblicher Vorbehalte von Seiten der Kritik – Lion Feuchtwanger schrieb über die Aufführung von Sumurum, dass der Blumenweg »plump und stillos« (Feuchtwanger 1911: 82) gewirkt habe, und der Münchener Theaterkritiker Hanns Braun sah in der japanischen »Brücke« lediglich ein »modische[s] Bedürfnis nach Exotik« (Schuster 1977: 121)2 – wurde der Blumenweg von Reinhardt noch weitere Male eingesetzt. Allerdings ist kein theoretischer Text aus diesen Jahren bekannt, der sich programmatisch mit seiner Konzeption und der dahinterstehenden Idee auseinandersetzen würde.
2. A us D authende ys N achl ass Etwa gleichzeitig mit Dauthendey vermerkte Bernhard Kellermann nach der Rückkehr von seinem Japan-Aufenthalt, wohin er, finanziert vom Cassirer Verlag Berlin, im Jahr 1907 aufgebrochen war, um dort ein halbes Jahr zu verbringen:
2 | Schuster zitiert dazu eine Rezension von Hanns Braun aus der Münchener Zeitung vom 18. August 1926 zu Karl Vollmoellers Neuinszenierung von Puccinis Turandot.
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»Obwohl das Theater [in Japan, A. K.] schon deutlich die Spuren des Verfalls trägt – besonders in den großen Städten – ist es doch die einzige Stätte, die Teehäuser vielleicht ausgenommen, die, von alten künstlerischen Traditionen beseelt, Pracht und Größe des klassischen Japan widerspiegelt. Eine Abendröte, deren verlöschendes Feuer die rote Glut und blendende Schönheit eines Sonnentages zurückruft, während schon die graue Dämmerung herabsinkt« (Kellermann 1910: 196).
Bereits ein Jahr zuvor hatte Max Dauthendey, ein in seiner Zeit ebenfalls viel gelesener Autor, der heute, vor allem was die von seinen großen Reisen inspirierten Werke betrifft, zu den Vertretern des literarischen Exotismus gezählt wird, die japanischen Inseln besucht. Ende Dezember 1905 brach er zu seiner ersten Weltreise auf, die ihn nach Ägypten, Indien, Ceylon, Birma, auf die Malaiische Halbinsel und von dort weiter nach China, Japan und schließlich nach Nordamerika führte und ihren Niederschlag in seiner in Versen abgefassten Reisebeschreibung Die geflügelte Erde (1910) fand. Ihr sollte sich im Jahre 1914 eine zweite große Reise anschließen, von der er jedoch, bedingt durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und seinen Tod während der Internierung auf Java, nicht mehr nach Deutschland zurückkehren konnte. Japan hatte schon früh Dauthendeys Interesse geweckt. So richtete der damals noch unbekannte Dichter im Jahr 1895 eine Anfrage an die japanische Botschaft in Berlin, in der er seinen Wunsch, nach Japan zu reisen, äußerte und sich erkundigte, ob und wie er dort vielleicht eine Stelle als Erzieher erhalten könnte (vgl. Roßdeutscher 2003: 10). Doch erst im April 1906, also elf Jahre später, traf er dann schließlich in Nagasaki ein, allerdings als ein weltreisender Tourist und nicht als ein praktizierender Pädagoge. Neben dem bereits erwähnten Reiseepos in Versen und dem Erzählband Die acht Gesichter am Biwasee (1911), in denen der Dichter den Bilderzyklus Ōmi hakkei [Die acht Ansichten von Ōmi] von Utagawa Hiroshige literarisch verarbeitet hat, gibt es aber noch weitere, heute eher vergessene Texte im Werk Dauthendeys, die sich mit Japan beschäftigen – sieht man einmal von der Erzählung »Die Auferstehung allen Fleisches« aus dem Novellenzyklus Lingam (1909) ab, in dem es um einen reichen Schild-
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krothändler3 aus Nagasaki geht. Im gleichen Jahr verfasste er auch einen Aufsatz mit dem Titel »Eine ›Plastische Bühne‹ nach dem Vorbild asiatischer Theaterhäuser«, in dem er die westliche Tradition des »Guckkasten«-Theaters hinterfragt und vor dem Hintergrund seiner Begegnung mit dem Theater in Asien (vor allem dem japanischen) seine eigene Vorstellung einer rahmenlosen Bühne entwickelte. Aus welchen Gründen auch immer hat Dauthendey diesen Text jedoch zu Lebzeiten nicht veröffentlicht, der dann erstmals im Jahr 1992 im Anhang einer Biografie des Dichters zusammen mit einem weiteren bis dahin unveröffentlichten Text, »Cook-Passagier um die Erde« vom März 1907, erschien. Dem Theater in China und Japan – ein »asiatisches Theater«, wie er es nennt, gibt es nicht – war Dauthendey, nachdem er das indische »Kulitheater« in Bombay besucht hatte (das jedoch seiner Beschreibung nach ganz und gar einem Theater entsprach, wie man es »in Europa auch« (Dauthendey 1925 [1910]: 78) finden konnte), im Frühjahr 1906 in Kanton und Hongkong und später dann in den japanischen Städten Kobe, Kyoto, Tokyo und Yokohama begegnet (Dauthendey 1992 [1909]: 123), allerdings auf ganz unterschiedliche Weise. In Kanton (heute Guangzhou) bestieg er, wie er es in dem Kapitel »Nachtfahrt zum Kantontheater auf dem Perlfluß« in Die geflügelte Erde (Dauthendey 1925 [1910]: 313-319) festgehalten hat, ein Boot, das ihn zum Theater bringen sollte. Doch wegen starker Regenfälle und der einsetzenden Flut konnten die von auswärts kommenden Schauspieler den Ort der Aufführung nicht erreichen, und die Vorstellung musste abgesagt werden. So blieb dem erwartungsvollen Besucher nur »mancher schnelle Blick von weißgeschminkten Mädchengruppen« (ebd.: 315), die er von seinem Boot aus zu sehen bekam. Dauthendey musste sich also bis zu seiner Ankunft in Japan gedulden, wo er dann endlich die »Theaterstraße« in Kobe und das »Kirschblütentheater« in Kyoto besuchte (vgl. ebd.: 313-319; 358-365 u. 375-380), um hier seine Erfahrungen über das fernöstliche Theater sammeln und zu Papier bringen zu können.
3 | Als Schildkrot werden die Panzer des Rückenschildes von Meeresschildkröten bezeichnet, die zu Schildpatt weiterverarbeitet wurden und u. a. zur Herstellung von Schmuckdosen, Etuis und Kämmen dienten.
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3. R ahmenschau in japanischen W ohnr äumen Bevor wir uns im Folgenden konkret Dauthendeys Theaterbesuchen und den daraus resultierenden Überlegungen zu den Eigenheiten der japanischen Bühne und ihren Räumlichkeiten zuwenden werden, sei die Aufmerksamkeit zunächst einmal auf die eng damit verbundenen Beschreibungen der Wohnhäuser im Kapitel »Japanische Allgemeinheiten« seines lyrischen Reiseberichts gelenkt, weil die von ihm konstatierten Charakteristika dieser Räume in einem unerwartet deutlichen Gegensatz zu den Fixpunkten seiner Überlegungen zur »plastischen« Bühne stehen. Dau thendey ordnet den japanischen Wohnräumen zwei konstitutive Elemente zu: zum einen die Leere, die einem Europäer, wie er sagt, »nicht recht in den Sinn« wolle, und zum anderen die hölzernen »Rahmenwände« der Häuser, die ein Ziegeldach tragen, das »wie der behäbige Deckel auf einer Truhe« (ebd.: 343) wirke. Betrete man als Europäer ein japanisches Wohnhaus, dann sei besonders auffallend, dass man dort so gut wie keinerlei Möbel vorfinde: »Die auf den Matten am Boden kauernden Menschen allein bilden drinnen des Hauses ausdauernden vornehmen Schmuck« (ebd.). Aber gerade durch den aufgrund der besonderen Raumgebung geschaffenen Rahmen werde den Bewohnern der ihnen eigene Ausdruck verliehen: »Der Menschen sinnendes Gesicht, ihre Worte und Reden und die Gesten ihrer Hände werden deutlicher in der Umrahmung der leeren papiernen Wände« (ebd.). Durch das »weiße Papier«, heißt es weiter, scheine das Sonnenlicht »nur gedämpft« herein, und »faltenlos« wirke dadurch »das Alter in diesem milden, versöhnlichen Fensterlicht« (ebd.). Der Europäer finde, so Dauthendey, im japanischen Wohnhaus keine Betten, kein Sofa, keinen Esstisch und keinen Sessel; stattdessen stehe dem Japaner der gesamte mit Strohmatten (tatami) – Dauthendey spricht fälschlich von Bambusmatten – ausgelegte Raum zur freien Verfügung: Der ganze Boden, heißt es, »will dein Bett, dein Sofa, dein Tisch, dein Sessel und Lager zum Ausruhen sein« (ebd.). In solchen Zimmern stehe allein der Mensch im Zentrum; keine schmuckvollen Möbel, keine Ziertapeten, keine kostbaren Teppiche lenken den Blick von ihm und den Schatten, die er auf die »Papierwände« wirft, ab. Nur eine »kleine, winzige Sache« – gemeint ist die Wandnische (tokonoma), die in der japanischen Architektur allerdings alles andere als eine »kleine, winzige Sache« ist – halte ihm im japanischen Haus »das Gleichgewicht an Wichtigkeit«. In dieser Nische, schreibt Dauthendey, stehe eine einzige Vase (fälschlich
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heißt es bei ihm »Bronzevase«) »mit einem einzigen Blütenzweig«, der »[k]aum auffällig ins Auge f[alle]«. Dahinter sei gewöhnlich ein Rollbild (kakemono) aufgehängt, eine Kalligraphie oder ein Gedicht, das »in der Leere des Zimmers künstlerische Gesellschaft mit den Seelen der Menschen hält« (ebd.: 343f.). Mit dem Inneren japanischer Wohnhäuser verbindet Dauthendey den Eindruck einer unbeschwerten Leichtigkeit und unaufgeregten Stille. Das Auge werde nicht durch die »brutalen Linien und Farbgewalten« (ebd.: 344) gestört, die für westliche Wohnräume typisch seien, sondern könne sich dort »ausruhn«, wo die Menschen »[s]till bei ihren Gedanken wie Schatten hinter den hellen Papierwänden stehen« (ebd.: 345). Das Leben unter einem japanischen Dache erscheint dem europäischen Betrachter so »[e]infach wie der Sonnenlauf«: »Abends rollen des Japaners Hände den seidenen Schlafsack [!] aus, | Und der Hausherr schließt seine papiernen Rahmenwände [!], durch die der Mond sanft wie durch weiße Eierschalen hereinfließt« (ebd.: 344). Dauthendeys Beschreibungen sind oft viel zu ungenau und oberflächlich, um nicht zu sagen: zu vage und zu schief, als dass sie kritiklos akzeptiert und als verbindlich gelten könnten. Der japanische Futon bzw. das Deckbett (kakebuton) ist gewöhnlich weder aus Seide noch wird es in einem Sack verstaut,4 und geschlossen werden nicht die Wände, sondern die Schiebetüren (shōji). Andererseits aber liefern seine Ausführungen für uns den Kontext, der es ermöglicht, den seiner Schilderung japanischer Wohnräume zugrunde liegenden Anschauungen und Vorstellungen näher auf den Grund zu gehen. Für Dauthendey ist ein konstitutives Merkmal japanischer Wohnhäuser die Rahmung, die nicht nur architektonisch in Bezug auf die offen wirkenden Räume (sobald die Schiebetüren und -fenster nicht mehr geschlossen sind) bedeutsam ist, sondern auch, was das ausschnitthafte Sehen, die »Rahmenschau« (Langen 1934: 5ff.) betrifft. Das Besondere an seiner Sicht der Dinge ist deren Auswahl und Eingrenzung auf ein kleines, umrahmtes Wahrnehmungsfeld (vgl. Klawitter 2015: 109). An vielen Stellen der Beschreibungen drängt sich dem Leser unmittelbar der 4 | Die an der Realität vorbeigehende Beschreibung des Futon als »seidener Schlafsack« wird von Dauthendey auch in der Eingangsszene der Erzählung »Die Segelboote von Yabase im Abend heimkehren sehen« verwendet (Dauthendey 1911: 11).
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Eindruck auf, dass Dauthendey nichts anderes als ein gerahmtes Bild betrachte: »Durch irgendeine geöffnete Papierwand schaut vertraut in den Zimmerrahmen ein Stück Straße oder grünes Land. Diese Aussicht wird im leeren, möbellosen Raume zur Wichtigkeit« (Dauthendey 1925 [1910]: 345). Das hier praktizierte Prinzip der Rahmenschau und die dabei gebrauchten Termini stehen jedoch interessanterweise in einem deutlichen Kontrast zu Dauthendeys Schilderung der japanischen »plastischen« Bühne und dem ihr unterlegten theoretischen Konzept.
4. D ie »The aterstr asse « in K obe Bereits die Beschreibung der Fahrt zum Kabuki-Theater in Kobe wird als literarische Inszenierung einer Theatervorstellung wahrgenommen, genauer gesagt eines Schattenspiels. Dauthendey berichtet, dass ihm »manches erleuchtete Wohnhaus wie eine Laterna magica« vorgekommen sei, während die Schattenbilder der Menschen durch die »papierhellen Wände« der Häuser ihm »wie Gespenstergraus« erschienen seien: sah man doch der Bewohner »vergrößerte Schattenhände, die [...] durch Lichtkegel wie Riesenspinnen auf die Straße hinaus[liefen]« (ebd.: 358). Das nächtliche Kobe wird in seiner Schilderung zu einem einzigen, alles dominierenden Schattenszenarium, in dem die Bewohner, ohne es zu wissen und zu wollen, dem fremden Besucher ein Schauspiel ohne Worte und Handlung, aber von einer höchst effektvollen Wirkung, bieten: »Und manche erleuchtete Papierwand stand in der Nachtluft wie ein weißes Segel, und viele Häuser zeigten ihre offenen, hellen Gemächer unter der dunklen Fracht ihrer schweren Ziegeldächer Und waren wie für die Scharen der Sterne weit aufgemacht. In den langen Straßen hinunter standen diese winzigen Häuslein wie helle Schubladen und Fächer, Und ihre Dächer darüber wie von geschweiften Schiffen die Schatten, die sich zur Nacht neben einander verankert hatten« (ebd.: 358).
Die »Theaterstraße« selbst befand sich auf einem »weiten, unbebauten Feld«, erhellt von Hunderten von Lampen und Laternen, doch sei sie bei näherem Hinsehen voller Überraschungen:
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»Ich konnte nicht glauben, daß diese zerbrechlichen Holzhäuser die japanische alte Theaterkunst enthalten, Daß sie manch Jahrhundert schon Japan zur Ehrfurcht zwangen mit ihrer Kunst, die ganz Japan bewundert. Denn diese Bambusscheunen [!] gar keine Pracht enthalten. Keine marmornen Treppenhäuser, keine Auffahrten auf die Besucher mit Prunksäulen warten; einfach wie Jahrmarktbuden, dünn wie Häuser aus Spielkarten, Hier die Theater nebeneinander in den Nachthimmel starrten. Und entlang an der Papierlaternen gedämpftem Schein und unter elektrischen Birnenlampen War ein Volksgewimmel und einfaches Abendgewander, und nur die vielen lebhaften Augen glänzten ineinander hinein, aber nirgends war Lärm, und kein Geschrei riß die Nachtstille ein. Nur ein Tuchvorhang oder eine dünne Bambuswand trennte den Zuschauerraum vom Straßengang« (ebd.: 359).
Während die Menge draußen ungeduldig wartet und die Schauspieler drinnen auf ihren Strohmatten sitzen, nutzt Dauthendey diesen Moment, um den Zuschauerraum, die Bühne und die Schauspieler zu beschreiben: »Ein viereckiger Platz, von einem Balkon umgeben, und die Decke getragen von manchem Balkenbaum, war der Zuschauerraum, Aus honigfarbenem Naturholz, anspruchslos, luftig und groß; dagegen die Bühne war lang und tief, aber nicht höher als die Schauspieler bloß. In dem langen, niederen Bühnenrahmen die Schauspieler mit jeder Geste, wie auf einem Relief, zur Wirkung kamen. Und wuchtig war jeder Schauspieler hingestellt, daß zuerst er allein und nichts anderes dem Zuschauer in die Augen fällt« (ebd.: 360).
5. D ie » pl astische B ühne « und ihre »S chaupl ät ze « Seine besondere Wirkung erreicht das japanische Kabuki-Theater vor allem durch das Prinzip der »Rahmenlosigkeit«, die Dauthendey in seinem Essay über die »plastische Bühne« als völligen Gegensatz zur westlichen Guckkastenbühne mit ihrem »sittsam eingerahmte[n] Bild« beschreibt.5 5 | Die einzig mir bekannte Untersuchung von Dauthendeys Theatertext ist Oba 2001.
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»Unsere moderne pathoslose Lebhaftigkeit, unser moderner Natürlichkeitssinn müssen den Rahmen der griechischen feierlichen Tradition ablegen und sich zur bewegten Rahmenlosigkeit der Asiatischen Bühnen bekennen« (Dauthendey 1992 [1909]: 120), fordert er unter dem Eindruck seiner Theaterbesuche in Japan.6 Der rahmenlose Auf bau ermögliche ganz andere Wahrnehmungsmöglichkeiten als das ihm aus der Heimat bekannte Theater. Was im modernen Europa undenkbar sei, dass nämlich das Publikum viele Stunden, ja ganze Tage im Theater zubringe, gehöre in Ostasien zur gewöhnlichen Theaterpraxis und werde durch die »Mittätigkeit bei der plastischen Bühne« möglich, »wo der Zuschauer nicht entfernt vor der Handlung, sondern mitten in der Handlung steht« (ebd.: 126). Die »plastische« Bühne, die Dauthendey als einen Schauplatz charakterisiert, auf dem »der Schauspieler das ganze Theaterhaus für sich beanspru ch[en]« kann, zeigt anders als die Guckkastenbühne »nicht nur ein Bild in einem Rahmen, von dem das Publikum getrennt sitzt«; sie ist »ein vielarmiger Schauplatz, wo das Publikum mitten darin beteiligt Platz genommen hat und hinter sich und vor sich und seitlich Sichtbares und Unsichtbares ringsum erlebt« (ebd.: 120). Dadurch wird der »Bildrahmen« mehrfach und auf verschiedene Weise durchbrochen, und zwar mittels »sogenannte[r] Brückenweg[e], auf denen der Schauspieler ausserhalb der Bühne erscheint« (ebd.), um so einen immer engeren Kontakt zwischen Schauspieler und Publikum herzustellen (vgl. Schuster 1977: 119). Die für Dauthendey so wichtige Plastizität 7 wird in erster Linie mithilfe der oben bereits zitierten großen Drehbühne erreicht, auf der, wie 6 | Wie bereits erwähnt, verallgemeinert Dauthendey unzulässigerweise seinen vor allem in Japan gewonnenen Eindruck vom Theater auf ganz Asien, um diese »plastische Bühne« dem Theater der »griechischen« Tradition gegenüberzustellen, was, historisch gesehen, nicht korrekt ist. So war z. B. dem volkssprachigen religiösen Theater des europäischen Mittelalters bis gegen Ende des 16. Jahrhunderts die Guckkastenbühne insgesamt unbekannt. Dort spielte man auf einer Simultanbühne, bei der die Akteure gegebenenfalls aus dem Publikum heraus die Bühne betraten, sich unter die Zuschauer mischten und bei dem man durch gezielt eingesetzte Emotionen Gemeinsamkeiten zwischen Darstellern und Publikum herstellte. Dabei waren Aufführungen, die morgens begannen und erst abends endeten und oft zwei oder drei Tage dauerten, keine Seltenheit (vgl. Neumann 1985). 7 | Den Begriff des Plastischen, der von Dauthendey in diesem Text geradezu inflationär verwendet wird und der zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Mode-
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er in einem Brief an Reinhardt schreibt, »womöglich das ganze Stück vorher sorgsam und sicher plastisch aufgestellt ist, mit Plafonds (plastischen dann natürlich), mit Baumkronen auf den Bäumen und einer Himmelskuppel darüber« (Adler 1983: 53). In seinem Essay beschreibt Dauthendey den Auf bau einer solchen Bühne dann noch genauer: Sie besteht »aus einer Drehbühne und aus einer Vorbühne, welche eine Rampe ist, die vor dem Bühnenausschnitt breit entlang läuft, und diese Rampe hat vier Arme. Zwei kurze Auswege nach links und rechts, von denen jeder hinter einen Teppichvorhang mündet, und zwei lange Wege, von denen jeder aus der Bühne heraustritt, der eine links, der andere rechts, seitlich an den Parkettlogen entlanggeht und in den Hintergrund des Zuschauerraums mündet. Eine kleine Tür verbindet dort diesen Weg mit einem schmalen unsichtbaren Korridor, der hinter den Parkettlogen die Schauspieler unsichtbar zur Bühne zurückführt« (Dauthendey 1992 [1909]: 120).
Die von Dauthendey erwähnten Brückenwege bilden ein weiteres kon stitutives Element der japanischen Kabuki-Bühne, denn über sie betreten und verlassen die Schauspieler – von allen sichtbar – die Bühne, was in Bezug auf die gerade ablaufende Handlung ebenso spannend wie effektvoll in Szene gesetzt werden kann und auch Dauthendey offenbar tief beeindruckt hat: »Diese Brücke ist nicht höher als die Köpfe der hockenden Beschauer. Wenn die Dauer der Spannung erhöht werden soll, Wenn von außen das Verhängnis einem Schicksal der Bühne naht, tritt der Schauspieler nicht auf der Szene ein, Sondern kommt, wie von der Straße, durch den Zuschauerraum auf diesem Bretterweg auf der Brücke an den Köpfen der Menge vorbei, In das Stück und in die Handlung hinein. Dabei drückt er in steter Verwandlung der Mimik den Charakter seiner Person aus.
begriff wurde, hatte bereits Herder in seiner Schrift Plastik verwendet; im späten 18. Jahrhundert war er dann »zum Schlagwort mehrerer Generationen avancier[t]« (Oesterhelt 2007: 191). Ein gutes Beispiel dafür bietet der Lettre sur la sculpture (1769, dt. Über die Bildhauerey, 1782) des Philosophen Frans Hemsterhuis, in dem das Plastische als Charakteristikum der ganzen Epoche entworfen wird. Zum Plastischen in der Moderne vgl. Müller 1996.
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Und ein Schauder geht durch das Haus bei seinem gestikulierenden Näherschleichen, Horchen und Erbleichen. Aber er verrät sich mit keinem Ton, bis er an eine Türe kommt, die ist wie ein Zaun an der Bühne aus drei Hölzern gezimmert; Und wenn er durch diese eingetreten, dann ist er erst vor den Mienen der Spieler im Stück erschienen. Die Zuschauer konnten schon lange ihm folgen, Und jedem wurde bange, kommt das Drama mitten unter der Schaumenge in Gestalten angeschritten, die sich, wie außerhalb der Stücke, auf der Brücke zum Zuschauer halten Und dann erst eintreten auf der Bühne, mit Schicksalsschwere den Knoten und die Tücke der Handlung zerspalten« (Dauthendey 1925 [1910]: 362f.).
Der Brückenweg kann, worauf Dauthendey an zwei Stellen hinweist, als ein Bereich des Halb-Sichtbaren angesehen werden, da er für die Zuschauer sichtbar, für die Akteure auf der Bühne jedoch – so führt Dauthendey es aus – nicht einsehbar ist und damit etwas Geisterhaftes erhält. Seine wesentliche Funktion besteht darin, die Trennung zwischen Bühne und Zuschauerraum aufzuheben. Der vierarmige Bühnenauf bau entspricht einer Bühnenform des Kabuki-Theaters, die in Japan bis zur Meiji-Zeit und offenbar vereinzelt auch noch später anzutreffen war. Bei dem, was Dauthendey als »Rampe« bezeichnet, handelt es sich um die Vorbühne, die auf eine »angesetzte« Bühne (tsukebutai) zurückgeht, die direkt zum Zuschauerraum führt (vgl. Oba 2001: 35). Die zwei langen Wege wiederum, der breite Hauptsteg (hon-hanamichi) und der schmalere »Hilfssteg« (kari-hanamichi), durchqueren den Zuschauerraum. Dauthendey unterscheidet insgesamt vier Schauplätze: erstens den »Schauplatz auf der Drehbühne vor der gemalten Dekoration«, zweitens den »Schauplatz auf der Vorderbühne« (Dauthendey 1992 [1909]: 120f.) und außerdem die beiden Schauplätze der »Brückenwege, die sich links und rechts vom Parkettpublikum durch den Zuschauerraum ziehen« (ebd.: 121). Diese Schauplätze können entsprechend den Gefühlsregungen, die hervorgerufen werden sollen, ganz unterschiedlich genutzt werden. Im Falle angestauter Emotionen ist es z. B. denkbar, dass der Schauspieler, von der Drehbühne bzw. Hauptbühne kommend, auf die Vorbühne tritt und dann auf einer der Brücken in das Publikum weitereilt. Umgekehrt kann er eine der Brücken benutzen, um so durch das Publikum hindurch ins Zentrum der Handlung zu gelangen. Die Brücken ermöglichen es ihm ferner, sich »[m]it lebhafter Mimik, fasciniert horchend und wie an-
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gezogen von der lebhaften Handlung«, heimlich an die Bühne heranzuschleichen und plötzlich »in den Mittelpunkt der Bühne und in die Handlung« zu springen, während ein anderes Mal Zwiegespräche auf der Bühne oder der Vorbühne sich auf einer der Brücken fortsetzen, oder die Personen »im Weiterschreiten ihr lebhaftes Gespräch bis in den Hintergrund des Zuschauerraumes« ausdehnen (ebd.). Ebenso vorstellbar wäre ein Szenarium, bei dem mehrere Akteure »zu einer Schreckensszene oder zu einer Schlußszene auf beiden Brücken zugleich hin zu der Handlung« eilen. Aber auch bei Innenraumszenen können die Zugänge verwendet werden, entweder als »Auswege von der Hauptbühne« oder als »Gesprächswege und Wandelwege«, wobei jeweils der Eindruck erweckt wird, »als ob sich das Zimmer oder der Saal erweitern, sich durch den ganzen Zuschauerraum dehnen würde« (ebd.). Indem die trennende Wand zwischen den Darstellern und dem Publikum durchbrochen und der Zuschauer zugleich näher an den Schauspieler herangerückt wird, ist dessen Mienenspiel deutlicher, sind Gesten und Details besser zu erkennen, und die Dialoge erhalten durch den möglichen Wechsel der Schauplätze eine ihnen eigene Dynamik. Durch die Veränderung der Nah- und Fernwirkung, d. h. sofern der Schauspieler entweder während der Handlung direkt vor dem Publikum steht oder in größerer Entfernung vorübergeht, kann er »seine schauspielerische[n] Kräfte ausleben und zu einer hinreissenden Plastik steigern, wie sie bisher noch nie in den europäischen Theatern auftrat« (ebd.: 123).
6. D ie D ifferenzierung des R aumes und die E rzeugung von K o -P r äsenz Dauthendey erläutert dann an einigen Beispielen explizit, wie das europäische Theater durch die plastische Bühne ergänzt und bereichert werden könnte. Dabei konzentriert er sich vor allem auf die durch den Einsatz der Brückenwege erzielten Effekte. Im ersten Akt von Shakespeares Hamlet beispielsweise würden, wenn der Protagonist dem Geist seines Vaters auf dem Schlosswall von Helsingör begegnet, Hamlet und Horatio auf den Bühnenstegen auf- und abgehen können, »indessen der Geist des Vaters am Ende des Zuschauerraums in weisser Gestalt, wie materialisiert als ein lebendes Wesen aus Fleisch und Blut, über eine der Brücken auf die Bühne heranschreitet« (ebd.: 121). Der Zuschauer wäre mitten in das
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Geschehen hineinversetzt und könnte die Protagonisten dabei beobachten, wie sie »auf die Drehbühne« zurücktreten und »von dort aus unter dem Mond stehend den Geist des Vaters befragen« (ebd.). Am Schluss der Szene würde dann der Geist, »ohne die Hauptbühne zu betreten, durch einen der beiden Teppichvorhänge der Vorbühne verschwinden« (ebd.). Bei einer solchen Inszenierung würde das Gespenstische der Erscheinung allein schon dadurch besonders hervorgehoben werden, dass sie den Schauplatz zwar über den Brückenweg betritt, doch nie den Ort der eigentlichen Handlung erreicht. Anschließend wendet sich Dauthendey dem Theater seiner Zeit zu: Wenn in Max Halbes Liebesdrama Jugend (1893) im dritten und letzten Akt der geistig zurückgebliebene Amandus den Liebhaber seiner Schwester Anne erschießen will und dabei stattdessen sie selbst tötet, so würde er, dem Konzept der japanischen Dramaturgie folgend, nicht »von draussen durch ein Fenster hereinschiessen« (ebd.). Das Draußen würde vielmehr nach Dauthendeys Vorschlag »eine der Brücken darstellen«, auf der sich der Mörder am Publikum vorbei bzw. durch den Zuschauerraum hindurch zu der Vorbühne heranschleicht, »wobei er die ganze Mimik seiner Schauspielkraft entfaltet und die Fülle der Handlung steigert« (ebd.). Auch wäre der Ort des Geschehens auf diese Weise nicht auf den zweidimensionalen Bereich von Drinnen und Draußen reduziert: Mittels einer differenzierteren Raumgestaltung könnte man dem Publikum das Draußen quasi in Form einer Halb-Sichtbarkeit vorführen, was im Guckkastentheater nicht möglich wäre. Auch bei den beiden anderen von ihm erwähnten Beispielen kommt dem Brückenweg die entscheidende Rolle zu. In Henrik Ibsens Nora (1879) würde die Protagonistin in der Schlussszene nicht durch eine Tür die Bühne betreten, »sondern in stillem unsäglichem Abschiedsschmerz auf einer der Brücken die Bühne verlassen und eindrucksvoll durch das Publikum zum Hintergrund des Zuschauerraums schreiten«, um »in jenem Gang [zu] verschwinden, der sich unsichtbar hinter den Logen der Brücke anschliesst« (ebd.). Und wenn schließlich in Oscar Wildes Salome (1893) die Titelheldin die Bühne betritt, um den »Tanz der sieben Schleier« zu zelebrieren, dann würde sie hier »in feierlichem Tanzschritt in grösster Schönheitsentfaltung über eine der Brücken auf die Bühne einziehen und auf beiden Brücken zugleich würden am Schluss des Dramas auf den Wink des Herodes die gewappneten Wachen herbeieilen, welche die Verführerin Salo-
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me mit ihren Schilden niederschlagen« (ebd.). Deutlich wird aus diesen Beispielen, dass Dauthendey also den Akzent jeweils auf die Entfaltung des zentralen dramatischen Moments setzt. Die Brückenwege durchqueren zwar den Zuschauerraum, teilen ihn aber nicht einfach nur auf, sondern schaffen gewissermaßen Zwischenräume, die für die Inszenierung genutzt werden können. Sie stellen eine komplexe Sichtbarkeit her, indem ganz unterschiedliche Formen von Körperpräsenz und Performance zur Wahrnehmung gebracht werden. Ihre eindringlichste Wirkung aber erzielt die »plastische« Bühne bei den »Dialogwendungen, wo die Brücken dem Schauspieler differenzierteren Raum geben, das differenzierteste Gespräch anschaulicher und lebhafter zu gestalten als es bis jetzt in der simplen altmodischen Einrahmung der europäischen Bühne möglich war« (ebd.: 121f.). Den entscheidenden Unterschied zwischen dem traditionellen Guckkastentheater und der rahmenlosen »plastischen« Bühne sucht Dauthendey an einem Beispiel zu veranschaulichen, indem er auf die gegensätzlichen Empfindungen eines Betrachters, der »vom Fenster einer Revolution in den Strassen zusieht oder sich selbst auf der Strasse mitten in der Revolution befindet« zu sprechen kommt: Während die konventionelle Bühne einem Fensterrahmen gleiche, hinter »dem sich das Stück in der Ferne abspielt«, führe die »plastische« Bühne dem Zuschauer »nicht bloß anschauend von weitem« die Handlung vor, sondern lenke sie direkt »an den Ohren, an den Schultern des Zuschauers vorbei« (ebd.: 122f.). Statt die Bühne so umzugestalten, dass die Distanz zwischen den Darstellern und dem Publikum reduziert bzw. ganz aufgehoben werde, habe man in Europa »nur äusserlich schöne Theaterhäuser gebaut«, man habe »auf der Bühne mit banalen Lichteffekten hantiert« oder mit einer »übertriebenen Wirklichkeitssucht« (ebd.: 123) die Dekoration erweitert und damit lediglich die Theatermüdigkeit des Publikums verstärkt, der man eigentlich entgegenwirken wollte. Nicht aufwendige Dekorationen und Kostüme brächten ein Stück dem Verständnis der Zuschauer näher, so Dauthendeys Einwand, »sondern nur der lebende, atmende, sprechende Menschenkörper, der, wenn er rahmenlos von der Bühne ins Publikum tritt, die Handlung ins Allgegenwärtige vergrössert, so dass der Beschauer sich [...] eingewebt fühlt von der Handlung ringsum, die ihn mit allen ihren Fäden plastisch umgibt« (ebd.). Im Gegensatz zum »Dekorationstaumel« (ebd.) des europäischen Theaters begreift Dauthendey die »plastische« Bühne als eine Art atmo-
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sphärisches Resonanztheater, das jenem »lebende[n], atmende[n], sprechende[n] Menschenkörper« eine Möglichkeit verschafft, durch den Einsatz von Gestik, Emotionen und Sprache eine, wie es Erika Fischer-Lichte in Bezug auf den Literaturhistoriker und Theaterwissenschaftler Max Herrmann formuliert (ohne dabei konkret auf Dauthendey einzugehen), »leibliche Ko-Präsenz« (Fischer-Lichte 2004: 162f.) herzustellen, die den Zuschauer, um bei Dauthendeys Bild zu bleiben, wie ein Spinnennetz in sich einwebt und umschließt. Es ist gerade dieser Aspekt der gegenseitig wahrgenommenen und auch physisch empfundenen Gegenwärtigkeit bei Schauspielern und Zuschauern, der von der »plastischen« Bühne befördert und zur Geltung gebracht wird, jene gleichzeitig erlebte Ko-Präsenz, d. h. Anwesenheit von Dingen, Menschen und Umgebungskonstellationen, wie sie Gernot Böhme beschrieben hat und auf die sich auch Erika Fischer-Lichte in ihrem Entwurf einer Ästhetik des Performativen bezieht (vgl. ebd.: 200-209). Atmosphären sind ihrer Natur nach nicht geometrisch definiert (wie z. B. durch Fensterrahmen oder Guckkästen), sondern gehören zum »performativen Raum« (ebd.: 201), der die Trennung zwischen Darsteller und Publikum aufhebt, um beide Seiten in der Interaktion in einem gemeinsamen Darstellungs- und Empfindungsraum, d. h. in einem gemeinsamen Resonanzraum zusammenzuführen. Böhmes Beschreibung der atmosphärischen Wirkung eines Dinges ließe sich durchaus auf die Wirkung eines Schauspielers übertragen, der auf einer »plastischen« Bühne agiert. »In der klassischen Dingontologie«, schreibt Böhme, »wird die Form eines Dinges als etwas Abgrenzendes und Einschließendes gedacht, nämlich dasjenige, was das Volumen des Dinges nach innen einschließt und nach außen abgrenzt« (Böhme 1995: 33). Doch wirke die Form auch nach außen: »Sie strahlt gewissermaßen in die Umgebung hinein, nimmt dem Raum um das Ding seine Homogenität, erfüllt ihn mit Spannungen und Bewegungssituationen« (ebd.). Genau das geschieht auf der »plastischen« Bühne, wenn der Schauspieler aus dem Rahmen heraus- und in die Sphäre des Zuschauers hineintritt, um sie durch das Evozieren von Affekten zu verändern. Im rahmenlosen Raum der Ko-Präsenz ist der Schauspieler für den Zuschauer auf besondere Weise körperlich gegenwärtig, und zwar, wie Dauthendey es beschreibt, als »psychologische[r] Plastiker, der das grosse dreiallmächtige Wesen der Bühne: die Geste, die Gefühlssprache und die verkettete Aktion, mit Eindringlichkeit und Vielseitigkeit dem Publikum vorführen« und es »zu einer Illusion fortreissen soll« (Dauthendey 1992 [1909]: 123).
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Die vom Schauspieler im atmosphärischen Darstellungsraum erzeugte Resonanz überträgt sich auf seine Mitspieler, breitet sich im Raum aus und ergreift schließlich auch die Zuschauer. Eine solche atmosphärische Wirkung schildert Dauthendey in Die geflügelte Erde, wenn er seine Eindrücke vom Theaterbesuch in Kobe wiedergibt und dabei die Besonderheit der japanischen Kabuki-Bühne hervorhebt, die gerade nicht einem »Guckkasten« gleichkomme, sondern bei der die Schauspieler bis »hinaus in den Zuschauerraum« präsent waren (Dauthendey 1925 [1910]: 363).
7. D ie » pl astische B ühne « als atmosphärischer R esonanzr aum Der Höhe und der farblichen Ausgestaltung des Bühnenraumes misst Dauthendey in seinen Ausführungen besondere Bedeutung bei. Offenbar gehören sie für ihn zu den maßgeblichen Kriterien der »plastischen« Bühne, um als atmosphärischer Resonanzraum funktionieren zu können. So, wie er es beschreibt, beginnt der »eigentliche Bühnenrahmen« erst hinter der Vorbühne: »Während unsere Bühnenöffnung meist ein viereckiges Riesenloch darstellt, zeigt die plastische Bühne ein langgestrecktes Parallelogramm als Ausschnitt, so dass kaum ein Meter Luftraum über den Köpfen der Schauspieler besteht. Die sparsame Höhe bezweckt, dass die Figuren der Schauspieler nicht an Bedeutung verlieren sollen durch allzu grossen, leeren Raum über den Köpfen, dass der Schauspieler nicht wie Gras am Boden wirken darf, sondern plastisch wie ein Baum im Raum stehen muss« (Dauthendey 1992 [1909]: 124).
Dementsprechend müsse die Ausgestaltung des Bühnenraumes ganz und gar auf den Schauspieler und dessen Wirkung ausgerichtet sein, »[d]enn jeder Schauspieler soll ein Portrait verkörpern und nicht bloss als Staffage in einer Landschaft oder in einem Zimmer verschwinden« (ebd.). Das nämlich sei das Problem bei vielen europäischen Theatergebäuden mit ihren »unglücklich hohen« Bühnenräumen, in denen man »himmelhohe Bäume« über die Schauspieler wachsen ließ, »ganze Gebirge, Häusergiebel, Türme und Zimmer mit sichtbarer Zimmerdecke, so dass der Schauspieler immer Staffage im Zimmer, Wald- und Stadtbild war und nicht Portrait im Portraitrahmen« (ebd.). Der Einsatz derartig
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übertriebener Dekorationen um »eine grosse Begebenheit herum« zu arrangieren, »die uns einzig in ihrer Innerlichkeit und Aktion fesseln soll«, läuft Dauthendeys Ansicht nach der eigentlichen Intention des Theaters völlig entgegen und wirke »in erster Linie total unwirklich und unwahr« (ebd.). Um eine Begebenheit oder eine Handlung aus der Mimik und Gestik eines Menschen zu begreifen, müsse man, so Dauthendey, nicht seine gesamte Umgebung oder auch nur das ganze Zimmer mit seiner Decke, den vier Wänden und dem Mobiliar betrachten, sondern vielmehr seinen Blick auf das Wesentliche des Geschehens, auf den Ausdruck und die Mimik konzentrieren: »Denn eine dramatische Handlung spielt sich im Leben gewöhnlich nur auf einem kleinen Fleck im Walde ab, und in ihrer Hauptbedeutung nur in einer charakteristischen Ecke im Zimmer« (ebd.). Um nun die Aufmerksamkeit des Betrachters auf das Wesentliche zu lenken, müsse diese Waldecke oder das Zimmer »möglichst unauffällig und nicht als farbiger Dekorationsfleck« gezeigt werden, denn die Dekoration bilde »nur Hintergrund der Mimik und Plastik des Schauspielers, und auf ihr sollen sich vor allem das Kostüm, die Gesichtsfarbe, der Augenausdruck und das Mienenspiel des Schauspielers abheben, und die Dekorationsfarbe muss deshalb monoton unaufdringlich und möglichst farblos gehalten werden« (ebd.). Für eine solche eher neutrale und unaufdringliche Bühnengestaltung, wie sie sich Dauthendey vorstellt, gibt er im Anschluss dann auch ein konkretes Beispiel: »Auf der plastischen Bühne schneidet die Linie des Parallelogramms einen Baumstamm ab, an dem der Schauspieler lehnt und nur ein einarmiger Ast ist, andeutungsweise, um die Grösse des Baumes zu verkörpern, am Hintergrund gemalt. Gewöhnlich ist der Hintergrund freie Luft mit einem Nebel- oder Wolkenstreif, und ferngemalte Häuser oder Wälder reichen dem Schauspieler kaum bis an die Knie. Dafür aber sind im Vordergrund mit wenigen Versatzstücken, aus ganz echtem Material, ein echtes Felsenstück oder ein echtes Stück Dornbusch, Brombeerranke etc. und im Zimmer ein oder zwei charakteristische Wandmöbelstücke angebracht« (ebd.: 124f.).
Auch für den Zuschauerraum verlangt Dauthendey eine solche Zurückhaltung: Farbe und Linie seien »nur als erweiterte Werkstatt für den Schauspieler« anzusehen und hätten »für die plastische Hervorhebung
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und Wirkung des Brückenspiels zu sorgen« (ebd.: 125). Deshalb finde man im japanischen Theater auch »kein[en] Säulenschmuck, keine Goldbronzen, keine Gypsquirlanden [= Gipsgirlanden, A. K.], kein Gepränge aufdringlicher Täfelungen, kein[en] Auf bau von drei, vier Rangordnungen übereinander bis an das Dach, keine Gesimsausladungen«, die »den Zuschauerraum der plastischen Bühne belasten und das Feld des Schauspielers bedrücken« (ebd.) könnten. Der Zuschauerraum, betont Dauthendey, solle nicht zum »Repräsentieren der Rangklassen dienen, sondern ebenfalls nur ein Raum bleiben«, genauer gesagt: ein Resonanzraum, »der dem Schauspieler zur Entfaltung dient und in dem das Publikum aller Eitelkeit entsagen muss zu Gunsten seines tiefsten Vorteils, zu Gunsten der leidenschaftlichen und innerlichsten Erhebung, die es aus dem Theater mit nach Hause tragen soll« (ebd.). Damit die von der physischen Präsenz des Schauspielers ausgehende Resonanz im Raum zur Wirkung kommen kann, müsse letzterer möglichst frei von jeder Art Ausschmückung sein, sei sie auch noch so wirklichkeitsnah, dezent ausgestattet und farblich neutral »in einer anspruchslosen Naturholzfarbe« (ebd.). Der Raum selbst solle »geradlinig und rechteckig« sein, »nirgends gebaucht und nirgends gerundet«, da diese Formen zu weich und »festlich« wirken würden. »Mitten in dieser Strenglinigkeit des Raumes tritt allein der menschliche Körper des Schauspielers und der Schauspielerin in seinen gelenkigen Rundungen plastisch hervor« (ebd.). Trotzdem wirke das Bühnenbild des »plastischen« Theaters nicht karg oder »gewollt naiv«, denn durch das Zusammenspiel von Drehbühne, Vorbühne und Brückenwegen entstehe ein komplexer Schauplatz, »der das Bühnenbild reichhaltig [...] gestaltet und dabei von grossartiger, mächtiger und freier Raumwirkung ist« (ebd.). Die von Dauthendey verwendeten Begriffe wie »freie Raumwirkung« und »Mittätigkeit bei der plastischen Bühne« verweisen unmittelbar auf die Wirksamkeit des Stücks in einem affektiven Resonanzraum. Die besondere Beschaffenheit der Bühne und des Zuschauerraums sollen dabei sicherstellen, dass die affektive Resonanz nahezu reibungslos, d. h. ohne Ablenkung und Wirkungsverluste übertragen wird. Der Zuschauer soll nach Dauthendey im Theater nicht nur eine dekorierte Bühne »anschauen«, wie man einen »platte[n] Oeldruck« (ebd.: 120) betrachtet, sondern vom Spiel, von den dargestellten Leidenschaften mitgerissen werden. Das ist natürlich eine grundsätzlich andere Vorstellung von der Funktion des Theaters, wie wir sie nicht lange darauf bei Bertolt Brecht, für den der
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Zuschauer zur dargestellten Handlung Distanz gewinnen und mit seinem eigenen Urteil »dazwischen« kommen soll, oder in Frankreich bei Antonin Artaud finden, aber sie lehnt im Einklang mit ihnen den »armseligen Rahmen der altmodischen Bühne« (ebd.: 126) ab. Dauthendey geht es vorrangig um ein lebendiges Miterleben: »Erleben ist eindringlicher als Anschauen. Und die plastische Bühne reisst sowohl den Zuschauer als auch den Schauspieler leichter zum Erleben mit als irgend eine andere Bühnenart« (ebd.). Die von Dauthendey vorgenommene Unterscheidung läuft im Grunde auf den Gegensatz von Zwei- und Dreidimensionalität hinaus: Das Anschauen hat ein »sittsam eingerahmtes Bild« (ebd.: 120) zum Gegenstand, während der plastische Körper mit den Augen »greifbar« und durch die geschaffene Ko-Präsenz unmittelbar gefühlt und erlebt wird. Deshalb ist für Dauthendey auch die Interaktion so wichtig, da sich aus ihr ein unmittelbares Dabeisein mit der entsprechenden Übertragung von Resonanzen ergibt: »Nur durch die Mittätigkeit bei der plastischen Bühne, wo der Zuschauer nicht entfernt vor der Handlung, sondern mitten in der Handlung steht, ist es dem Besucher möglich, tagelang im Theater zu verweilen; denn er selbst ist dort so von der Handlung rund umgeben und rund mit hineingelebt, dass er sich wie auf der Strasse oder im eigenen Zimmer und wie am persönlichsten Schicksalbild frisch mitwirkend, nicht erlahmen fühlt« (ebd.: 126).
Auch wenn Dauthendey keineswegs der Erste war, der das Kabuki-Theater und dessen Bühne beschrieben hat oder deutschsprachige Inszenierungen nach fernöstlichem Vorbild realisieren wollte, so ist er jedoch als Einziger unter seinen Zeitgenossen in einem programmatischen Text auf die japanischen Theaterpraktiken und ihre Wirkung auf das Publikum eingegangen. Während seine Schilderungen japanischer Wohnräume ganz dem von ihm als wohltuend und typisch empfundenen Prinzip der Rahmenschau verpflichtet sind, hebt er, im Gegensatz dazu, als Kennzeichen der »asiatischen« Bühne deren »bewegte Rahmenlosigkeit« hervor, um sie kulturkontrastiv dem »europäischen« Guckkastentheater entgegenzusetzen und dem westlichen Bildungsbürger dadurch die Wirkung des japanischen Kabuki-Theaters noch deutlicher vor Augen führen zu können, dessen Wirkungsästhetik sich im Kontext gegenwärtiger Überlegungen zur leiblichen Ko-Präsenz als ein atmosphärisches Resonanztheater beschreiben ließe, bei dem die »plastische Bühne« dem Schauspieler die
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bislang ungeahnte Möglichkeit bietet, aus dem Rahmen des »Guckkastens« herauszutreten und unmittelbar in die Sphäre des Zuschauers hineinzuwirken.
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Ort der Gespenster Klänge und Stimmen in Time’s Journey Through a Room von Okada Toshiki Mariko Harigai
1. E rschüttertes W ohnen Es ist die Erschütterung des bisher sicher geglaubten, alltäglichen Wohnens, die das Erdbeben am 11. März 2011 in Ostjapan auslöste. Die Erschütterung war allerdings nicht nur physisch, sondern vielmehr sozial und politisch. Denn sie verursachte auch einen verheerenden Tsunami, einen ernsthaften AKW-Unfall und schließlich den Machtverlust der DPJ, der damaligen Regierungspartei. Das Wohnen, das man bis dahin als selbstverständliche Basis der eigenen Tätigkeiten fest glaubte und auf das man deshalb seine Gedanken kaum richtete, wurde dabei gründlich erschüttert. Das Thema dieses Bandes, »Wohnen und Unterwegssein«, wird in diesem Beitrag in Hinsicht auf den kritischen Moment des menschlichen Wohnens behandelt. Dafür möchte ich hier ein Theaterstück analysieren, das die soziale und politische Erschütterung fünf Jahre nach jenem katastrophalen Erdbeben 2011 thematisiert. Denn das Theater behandelt seit der Antike stets eben soziale und politische Erschütterungen: Der Theaterwissenschaftler Hans-Thies Lehmann hat bereits in Antigone von Sophokles1 das Zeigen der »erschütterte[n] Ordnung« (Lehmann 2002) 1 | Zu Antigone macht auch Martin Heidegger in seiner Auslegung von deren erstem Stasimon, in dem der Chor über die Schifffahrt bzw. das menschliche Unterwegssein singt, auf das Wort »unheimlich« im allerersten Satz aufmerksam: »Vielfältig das Unheimliche, nichts doch / über den Menschen hinaus Unheimlicheres ragend sich regt« (Heidegger 1983: 155). Und eben in dem »Unheimlichen« findet
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aufgewiesen. Erschüttert wird dort nicht bloß irgendein Gesetz der Polis, das – etwa nach Hegel’schem Schema – Kreon gegenüber Antigone behauptet, sondern das Erschüttern erscheint im Theater vielmehr als eine »ästhetisch[e], poetisch[e] Ab-Setzung und Ent-Setzung«2 (ebd.: 29), die einem Gesetz, einer These, einem Subjekt oder einer Positionierung keine anderen gegenüberstellt bzw. gegenüber-setzt, sondern die Setzung an sich in Frage stellt. Das Sich-Setzen des Wohnens tritt im Theater immer wieder als »EntSetzung« auf. Das Erschüttern wird allerdings im Theater nicht real durchgeführt, sondern theatral dargestellt: »Theater stürzt und stützt die Ordnung nicht, es läßt sie ›trüb‹ und schütter erscheinen« (ebd.: 40). Und auf solche Weise macht das Theater die Ordnung sichtbar: Sie ist »die Ordnung, die als schütter gewußt oder doch erfahren wird, als schütter und zu erschüttern« (ebd.). Im Theater kann somit das bisher nicht bewusste »Wohnen« als »schütter gewußt« werden. Daher ist es kein unnötiger Umweg, über das »Wohnen« durch seine Erschütterung nachzudenken. Das Theaterstück, das im Folgenden analysiert wird, wurde von dem japanischen Regisseur und Dramatiker Okada Toshiki, Leiter der Theaer die Möglichkeit, das eigentliche Wesen der Menschen zutage zu bringen, was auch der Idee entspricht, dass das menschliche »Wohnen« erst durch das Denken an seine eigene Heimatlosigkeit zu lernen sei (vgl. Heidegger 2000: 156). Der Germanist Ōmiya Kan’ichirō weist auf die eigentliche Nähe der Fremdheit in Heideggers Denken hin, bei dem das Fehlen des Anderen stets kritisiert wird. Heidegger erwähnt zwar nicht direkt den Anderen oder die Fremden, jedoch finde sich im Einklang mit Hölderlin sein inneres oder seitliches Fernweh. »Es fehlt bei Heidegger eben deswegen an der Begegnung mit der Fremde, weil die Fremde bereits bei ihm ist. Man kann nicht erneut dem begegnen, was einem ›schon immer‹ begegnet ist und einen begleitet« (Ōmiya 2009: 69). Die Fremde bleibt zwar nach dem Phänomenologen Bernhard Waldenfels immer als etwas, dem man nicht begegnen kann (vgl. Waldenfels 2006), aber Heidegger behandelt sie eben nicht als etwas Heimisches, Bekanntes oder Vorstellbares. Wenn man Heideggers Texte mit der Betonung dieser Seite erneut – also vielleicht anders als Heidegger selbst – liest, sind auch im vorliegenden Beitrag viele seinem Text entsprechende Gedanken zu finden. 2 | Zum Begriff der »Ent-Setzung« vgl. auch Hamacher 1994 und unten Fußnote 15.
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tergruppe Chelfitsch, konzipiert und 2016 uraufgeführt. Der Titel heißt Time’s Journey Through a Room; auf Japanisch Heya ni nagareru jikan no tabi.3 Es geht also um die »Reise« (tabi) bzw. das »Unterwegssein« in einem privaten Wohnraum (heya). Und der Titel deutet schon an, dass die »Reise« des Stücks eine sowohl zeitliche als auch räumliche Dimension darstellt. Die »Reise« bzw. das »Unterwegssein« der hier auftretenden Figuren ist nicht allein räumlich wahrzunehmen. Es erfolgt vielmehr durch die zeitliche Alteration des Wohnraums.
2. F iktion als » potenzielle W irklichkeit« Die »Reise« wird in Okadas Theater als Fiktion dargestellt, nicht weil das Theater eine leere Black Box ist, in der Reisebilder von Anfang an produziert werden müssen, sondern weil Okada als Regisseur und Dramatiker in der Fiktion eine Möglichkeit findet, einer bestimmten Wirklichkeit, die immer schon im Theaterraum herrscht, zu widerstehen und somit sie zu erschüttern. So soll die Kunst sich mit dieser Wirklichkeit auseinandersetzen. Die Idee hat Okada in einem Text erklärt, der im Herbst 2011, also kurz nach jenem Erdbeben, nach der Notwendigkeit der Kunst in der Gesellschaft fragt. Gefragt wurde danach gerade in jener Situation, in der – Okadas Beschreibungen zufolge – nicht nur die Bewohner des betroffenen Gebietes durch das Erdbeben, den Tsunami und den Atomreaktor-GAU heimgesucht wurden, sondern auch andere Probleme wie das Versagen der Regierung und die Verheimlichung des katastrophalen Unfalls durch den Betreiber an den Tag gekommen waren. Die Katastrophe fand also nicht nur als Naturkatastrophe statt, sondern zugleich als durch Menschen verursachte Katastrophe. Trotz der noch heute andauernden Erschütterung der Katastrophe schien im Herbst 2011 das alltägliche Wohnen gesichert, was Okada nicht geglaubt hat, jedoch als gängige »Wirklichkeit« von vielen Japanern geglaubt wurde4 (vgl. Okada 2013: 3 | Uraufführung in Kyoto, »Kyoto Experiment 2016 Spring«. Publizierter Theatertext: Okada 2017. Zur Aufführungsanalyse wurde eine Videoaufnahme der Theatergruppe verwendet. 4 | Diese Gegenüberstellung ist in Okadas Schilderung seines sofortigen Umzugs nach Kumamoto, einer Stadt in Westjapan, am deutlichsten zu finden. Er gesteht,
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26). Angesichts dieser Situation findet Okada in der theatralen Fiktion die Potenzialität, eine solche gängige »Wirklichkeit« in Frage zu stellen: »Die Wirklichkeit heißt nicht etwas ›Wahres‹. Sie ist nur die zu einem gegenwärtigen Zeitpunkt vorerst stärkste Fiktion. Fiktion ist weder bloße ›Lüge‹ noch ›Erfundenes‹. Sie ist eine potenzielle Wirklichkeit. Daher bedroht eine starke Fiktion die Wirklichkeit. Sie hält der Wirklichkeit eine alternative Möglichkeit entgegen. Es ist zwar notwendig, dass die Wirklichkeit durch die Fiktion angeregt wird, aber ich möchte sagen, dass so eine Wirklichkeit, wie sie heute gilt, im gleichen Maße auch durch die Fiktion bedroht werden muss« (Okada 2013: 28). 5
Eine »potenzielle Wirklichkeit«, mit der Okada die »Fiktion« seines Theaters definiert, ist als Potenzialität – dynamis auf Griechisch – zu verstehen, die noch »nicht verwirklichte Möglichkeiten« bzw. »die nicht aktuelle Wirklichkeit eines Seienden, die durch entsprechende Bewegung und Entwicklung zur Aktualität wird« (Grün 2008: 474), bezeichnet. Daher hat Aristoteles zwischen dem Noch-Nicht von dynamis und dem bloßen Nicht unterschieden. Die »Fiktion«, die Okada meint, ist also eine zwar noch nicht aktuelle, aber immerhin aktualisierbare andere Wirklichkeit, die das Theater zeigen kann. Durch diese theatrale Fiktion versucht Okada, sein Publikum nicht einfach die ungünstige Wirklichkeit vergessen und in die angenehme Traumwelt entfliehen zu lassen, sondern eine solche »potenzielle Wirklichkeit« bemerken zu lassen, denn – so schreibt
dass der Umzug durch seine Angst vor Radioaktivität verursacht wurde und dass er damals ein ungewöhnliches Spannungsverhältnis zwischen den – wie er selbst – Ostjapan Verlassenden und den dort Gebliebenen gespürt hat (vgl. Okada 2013: 23f.). 5 | Neben dem japanischen Originaltext (Okada 2013) vgl. auch die deutsche Übersetzung (Okada 2011), die vor dem Originaltext publiziert und später im Sammelband von Okadas bisherigen Theatertheorien auf Japanisch zitiert wurde. Das Zitat wurde anhand dieser deutschen Übersetzung von mir erneut übersetzt. Zwar bleiben die meisten Ausdrücke unverändert, aber einige wichtige Stichwörter wurden geändert: Vor allem »potenzielle Wirklichkeit« statt »rezessive Wirklichkeit«. Denn Okadas ursprünglicher Ausdruck senseiteki ( 潜性的) bedeutet sowohl nach dem Zeichen als auch nach dem Kontext die Potenz im Sinn der nicht aktualisierten Möglichkeit.
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Okada – sonst glaubt man, dass die gängige Wirklichkeit die einzig mögliche sei und ihre Veränderung unmöglich wäre (vgl. Okada 2013: 27). Die Idee, dass die »Wirklichkeit« eine aktualisierte Potenzialität sei, ist auch im westlichen Theater schon üblich. Dort wurden seit dem 20. Jahrhundert immer mehr die Prozesse der »Verwirklichung einer Möglichkeit oder eines Vermögens des Seins« (Haß 2014: 416) – energeia auf Griechisch – sowie »die Verwirklichung selbst, das Erscheinen der Möglichkeit in der W[irklichkeit]« (ebd.) – entelecheia – in Aufführungen oder Inszenierungen betont als die Imagination oder Einbildungskraft der »Fiktion«. Denn der Begriff »Fiktion« ist in der europäischen Theatergeschichte mit der sprachlichen Einbildungskraft eng verbunden, und daher auch mit dem bürgerlichen Illusionstheater, das auf die Repräsentation der erdichteten Welt des Dramas zielt. Dem Logozentrismus im bürgerlichen Theater wurde bereits von der historischen Avantgarde wie Antonin Artaud abgesagt, und seitdem ist die Tendenz, außersprachliche, sinnliche Elemente und Wirkungen des Theaters zu betonen, sowohl wissenschaftlich als auch praktisch gestiegen. Daneben hat auch Bertolt Brecht gegen das Illusionstheater, dessen Wirkung damals vom Nationalsozialismus ausgenützt wurde, das epische Theater konzipiert, das sich durch die verfremdende Geste der Schauspieler von der Einführung in die Illusion distanziert, indem das Darstellen die eigene Funktion als Medium der Fiktion nicht verschleiert, sondern sie deutlich als solche zeigt. Jedoch wird die Relevanz der Imagination und Fiktion im Theater in den jüngsten Forschungen neu eingeschätzt. Es ist allerdings kein einfacher Rückgang zum bürgerlichen Illusionstheater, sondern dabei wurden meines Erachtens unterschiedliche Versuche unternommen, Relationen zwischen dem Imaginativen und den Prozessen der Verwirklichung sowie deren Konstellationen erneut zu beschreiben.6 Denn an die Gefahr der Illusion wird in Bezug auf die politischen Inszenierungen der sogenannten Fake News als »alternative fact« immer wieder erinnert,7 die zur 6 | Zu den zeitgenössischen theaterwissenschaftlichen Tendenzen vgl. Lazardzig 2014 sowie Birkenhauer 2014; Metzger 2010 u. Aggermann 2017. 7 | Vgl. Žižek, Slavoj (2016): »Augmented Reality: ›Pokémon Go‹ ist Ideologie! Das Trendgame dieses Sommers imitiert Mechanismen von Vorurteilen und Missachtung«, in: ZEIT Online v. 12. September 2016. ›http://www.zeit.de/2016/34/ augmented-reality-pokemon-go-slavoj-zizek‹ (Zugriff am 19. 3. 2018), sowie Kolesch 2017, vor allem S. 62f.
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»Fiktionalisierung der Alltagswelt« (Lazardzig 2014: 148), nämlich die Eroberung der Alltagswelt durch die dort verwirklichte Fiktion, antreiben. Dort ist die Verfremdung von Brecht nicht als bloße Verneinung der Fiktion, sondern als die Affirmation einer anderen Fiktion als erdichtete Vorstellung zu verstehen: Dabei wird nicht mehr auf die Repräsentation der bereits vorgestellten Fiktion Gewicht gelegt, sondern auf die Geste als »Mittel ohne Zweck« bzw. als »die Darbietung einer Mittelbarkeit an sich« (Agamben 2006: 54). Diese hat keinen vorgestellten Zweck mehr, sondern vermittelt die unvorstellbaren bzw. undarstellbaren Möglichkeiten (vgl. Nancy 1988). Die Geste führt in sich gerade die »Ent-Setzung«, die nach Werner Hamacher keine einfache Negation der Setzung, sondern ein Lassen ist, das die Setzung unterbricht und dadurch andere Möglichkeiten erlaubt (vgl. Hamacher 1994: 360f.). In diesem Kontext ist es zuerst unvermeidlich zu fragen, wie oder ob Okadas Konzept der »Fiktion« als »alternative Möglichkeit« vom »alternative fact« zu unterscheiden ist, ohne ein parteiliches Urteil zu fällen, d. h. ihn einfach links oder rechts zu positionieren. Ist es anders als die oben erklärte theaterwissenschaftliche Idee im deutschsprachigen Raum? Wie geht Okada gegen diese Problematik an? In welcher Relation stehen die »Fiktion« und die »Wirklichkeit« in seinem Theater zueinander? Zu diesen Fragen möchte ich in den folgenden Kapiteln seine eigene Theatertheorie und ein Beispiel seiner praktischen Arbeit analysieren, um schließlich zu fragen, wie Okada das »Wohnen« und das »Unterwegssein« durch die »Fiktion« zeigt und was die »Fiktion« zum wirklichen »Wohnen« und »Unterwegssein« beiträgt.
3. »W ohnen « im K örper . G espenster und D arstellung Um die »Fiktion« auf der Bühne darzustellen, bevorzugt Okada die Figur des Gespensts, auf die er als ein hervorragendes theatrales Instrument seine Aufmerksamkeit richtet. Sein Interesse an theatralen Gespenstern wurde Okada zufolge spätestens schon gegen 2010, also zuerst unabhängig von dem katastrophalen Erdbeben, in der theaterpraktischen Auseinandersetzung geweckt. Gerade in der Zeit hat Okada das Stück We Are the Undamaged Others (Watashi-tachi wa mukizu na betsujin de aru) produziert, das für ihn ein wichtiger Wendepunkt seines Theaters gewesen sei (vgl. Okada 2013: 60f.). Bei der Probe forderte der Regisseur immer wieder, »darzustel-
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len, um imaginierte Bilder in den Zuschauern zu befruchten« (ebd.: 62). Damit beabsichtigte er, keine als Endprodukt vollkommenen Bilder mehr auf der Bühne darzustellen, sondern die Aufführung für ein Medium zu halten und somit die Bilder von den Zuschauern selbst vervollkommnen zu lassen (vgl. ebd.: 61f.). Dabei bieten die Darsteller nicht mehr jene Bilder der für sie nahestehenden Welt der poppigen Jugend an, die bisher Okadas Theatergruppe Chelfitsch erfolgreich dargestellt hatte, sondern die Bilder der entfernten Fremden, die zuerst imaginiert werden müssen, um sie auf der Bühne auftreten zu lassen. So hat Okada zuerst die Bedeutsamkeit der Fiktion in seinem Theater entdeckt, und dadurch wurde sein Interesse am Nō-Theater verstärkt, in dem Gespenster oft eine wesentliche Rolle spielen. Unter dem Einfluss des Nō-Theaters und der Katastrophe jenes Erdbebens hat er bisher drei Stücke produziert: Current Location (Genzai chi) 2012, Ground and Floor (Jimen to yuka) 2013 und Time’s Journey through a Room 2016. Hier wird Letzteres analysiert, welches das »Wohnen« und das »Unterwegssein« gleichzeitig thematisiert. So lässt sich Okada seit Ground and Floor durch die Struktur des NōTheaters deutlich inspirieren, also nicht, weil das Nō-Theater als »japanische Kultur« gilt, sondern weil er dort eine markante Theatralität findet (vgl. Okada 2016b: 8f.). Er interessiert sich vor allem für das Doppelfantasie-Nō ( fukushiki mugen nō), dessen ProtagonistInnen Gespenster sind, welche die Vergangenheit als Fiktion in den Theaterraum bringen. Sie erscheinen vor den Lebenden und erzählen die Geschichte ihrer traurigen Vergangenheit oder stellen die vergangenen Ereignisse durch Tanz dar, weil sie unerfüllte Wünsche haben. Zuerst treten sie als irdische Wesen auf, die sich jedoch später als überirdisch herausstellen. So bildet sich die Theaterform des Doppelfantasie-Nō wörtlich doppelsichtig, und dadurch wird der Kontrast zwischen dem Jenseits und dem Diesseits auf theatrale Weise hervorgehoben. Das Spannungsverhältnis zwischen der Fiktion und der Wirklichkeit interessiert Okada: »Dass ein erdichtetes Drama in die Wirklichkeit gesetzt wird, ist so ähnlich, als ob ein Teil des Territoriums der Wirklichkeit plötzlich zu einem ausländischen Territorium werden würde. Das ist also so, als ob eine Enklave entstehen würde. Deshalb
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entsteht zwischen der Wirklichkeit und dem Drama von selbst ein Spannungsverhältnis« (Okada 2013: 20). 8
Die Gespenster im Doppelfantasie-Nō sind immer an einem Ort gebannt, an dem ein trauriges Ereignis stattgefunden hat. Sie territorialisieren den Ort durch ihre ephemere Erscheinung. Somit wird der Ort doppelschichtig und heterogen. Die Heterogenität wird beim Nō-Theater zeitlich gebildet. Okada vergleicht die theatrale Funktion der Gespenster im Nō-Theater mit der der Boten im europäischen Theater: Während die Boten von anderen, entfernten Orten kommen, kommen die Gespenster von einem anderen, vergangenen Zeitpunkt. Somit aber kommen beide aus einem Bereich außerhalb des hic et nunc und wiederholen hier und jetzt abwesende Ereignisse (vgl. Okada 2016b: 8). Um das Abwesende im Theater zu behandeln, wird die Imagination nötig. Okadas Interesse an Gespenstern geht mit dem an der Fiktion und der Imagination im Theater einher. Und die Notwendigkeit der Gespenster im Theater wurde für ihn durch die Dreifach-Katastrophe verstärkt: »Tatsächlich haben das katastrophale Erdbeben und der Unfall des Atomkraftwerks als Anlass den großen Einfluss auf mich ausgeübt, mich denken zu lassen, dass die Stimmen der Gespenster notwendig sind, um die Gegenwart, die in sich die ›Vergangenheit‹ – im Sinn der Geschichte – einschließt, zu behandeln« (ebd.: 5).
Wenn auch diese Katastrophe nicht der erste, entscheidende Anlass ist, dass in Okadas Theater Gespenster und Fiktion als wesentliche Elemente erscheinen, hält er sie ohne Zweifel für notwendig in der politischen und sozialen Situation, in der er sowohl zeitlich als auch räumlich situiert ist, und zwar vor allem, um die abwesenden, stummen Opfer der tragischen Ereignisse auf eine theatrale Weise zu vergegenwärtigen (vgl. ebd.: 9). Das Stück Time’s Journey through a Room wurde in einem solchen Kontext konzipiert. Die »Reise der Zeit« verwandelt einen Wohnraum im zeitgemäßen Stil des gegenwärtigen Tokyo zum Ort eines Gespensts, das die Vergangenheit durch seine fiktionale Anwesenheit vergegenwärtigt. 8 | Der Text wurde kurz nach der Uraufführung vom Current Location (Genzai chi) 2012 verfasst.
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Jedoch erscheint hier das Gespenst nicht als tragisches Opfer wie im gewöhnlichen Doppelfantasie-Nō, sondern als eine glücklich Gestorbene. Die Geschichte verläuft wie folgt: Im Zimmer eines jungen Mannes namens Kazuki erscheinen zwei Frauen: eine lebende und eine verstorbene. Die lebende heißt Arisa und erzählt, dass sie bald in dieses Zimmer kommen wird, um mit dem Mann, mit dem Bewohner dieses Zimmers, ein neues Verhältnis zu entwickeln. Und die andere, verstorbene Frau, heißt Honoka.9 Sie bewegt sich ganz frei durch das Zimmer und spricht diesen Mann an. Jedoch erfahren die Zuschauer durch ihre Äußerungen, dass sie die Ehepartnerin dieses Mannes war und vier Tage nach der Katastrophe gestorben ist. Ihr Tod war allerdings durch eine Krankheit verursacht, und deswegen tritt sie niemals als Opfer der Katastrophe, sondern als Gespenst auf, dessen Zeit seit dem Todesmoment längst stillsteht. Beim Reden erinnert sie sich immer wieder an ihre letzten Tage: was für eine berührende Solidarität kurz nach dem Erdbeben in ihrer Nachbarschaft entstand; wie glücklich sie damals war, weil sie sich fühlte, als ob sie als toleranter, fröhlicher Mensch neu geboren wäre, und wie schön sie daher die japanische Nationalflagge fand. Sie glaubt immer noch an eine hoffnungsvolle Zukunft, die durch das Erlebnis der Katastrophe entstehen könnte. Dagegen vergeht die Zeit für ihren Mann, der noch lebt und in demselben Zimmer allein wohnt. Er kann das glückliche Gefühl und die schöne Zukunft nicht mehr mit seiner verstorbenen Frau Honoka teilen, und nun will er eine neue, künftige Partnerin in seinem Zimmer empfangen. Der Mann sitzt in den ersten dreißig Minuten mit dem Rücken zum Zuschauerraum, sodass er wie die Zuschauer eine Hörerposition einnimmt und sich somit der gegenwärtigen »Wirklichkeit« der Zuschauer anschließt. In der Anfangsszene erfahren wir, dass Arisa jetzt zur Wohnung 9 | Kazuki (一樹) heißt »ein Baum«. Honoka (帆香) ist ein seltener Name und bedeutet »Duft des Segels«, was ein Zusammenhang mit dem ersten Stasimon der Antigone sein könnte. Arisa (ありさ) hat zwar kein bedeutungstragendes Schriftzeichen, aber aus dem Klang ist die Bedeutung »das (Möglich-)Sein« abzulesen. Der vorliegende Beitrag analysiert jedoch nicht den Theatertext, sondern die Aufführung, in der die Bedeutungen der Namen von Kazuki und Honoka nicht ablesbar sind und der Name Kazuki nicht einmal genannt wird. Deshalb bleibt diese Interpretation nur am Rand. Jedoch könnten die Namen in dem Theatertext, der ein Jahr nach der Uraufführung publiziert wurde, eine große Bedeutung haben.
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ihres künftigen Partners fährt, aber sich wegen eines Staus verspätet. So sind die beiden Frauen in dem Zimmer abwesend, obwohl sie es stark beeinflussen. Aus diesen abwesenden Positionen werden unterschiedliche »alternative Wirklichkeiten« hervorgebracht. So wird die »Fiktion« in Okadas Theater vor allem durch Gespenster dargestellt, die vom Doppelfantasie-Nō beeinflusst sind. Um den Prozess der Verwirklichung der »Fiktion« zu klären, muss jedoch noch beleuchtet werden, wie die Gespenster dann durch die Darsteller verkörpert werden. Je größer Okadas Interesse an der »Fiktion« wird, desto wichtiger wird für ihn die sprachliche Ebene des Dramas, als ob er, zuerst als Theaterreformer bekannt, jetzt zur europäischen Theatertradition zurückgehen würde.10 Diese Wertschätzung der Sprache verbindet sich aber bei Okada gar nicht mit einer erneuten Hochschätzung des traditionellen Illusionstheaters. 2014, nachdem er die Fiktion schon als ein in seinem Theater wesentliches Element betrachtet hatte, verfasste er ein Essay über das Verhältnis zwischen der Darstellung und dem darstellenden Körper. Darin betont er immer wieder, dass die Darstellung die Ebene der Repräsentation und die Ebene der Aufführung hat, und dass die Körper der Darsteller nicht zu der realistischen Repräsentation der fiktionalen Charaktere beitragen, sondern sie eher stören (vgl. Okada 2014: 57). Denn jeder Körper ist nichts anderes als der Körper eines singulären Menschen, dessen Präsenz im Theaterraum der Verwirklichung der Fiktion vorangeht (vgl. ebd.: 56). Um die Fiktion im Theater funktionieren zu lassen, braucht man Okada zufolge keine feine realistische Darstellungskunst, sondern nur das »Einverständnis« zwischen den Darstellenden und den Zuschauenden, dass der Darsteller jetzt den Charakter darstellt.11 So hält Okada die Schauspielkunst des Realismus für unwesentlicher bei der theatralen Darstellung als die im Theaterraum herrschenden Spannungsverhältnisse und Wechselwirkungen, welche die darstellenden Körper auslösen. Er beschreibt den Zustand der Körper mit dem architektonischen Begriff – also mit einem Wort, das direkt mit dem »Wohnen« zu tun hat – »vernacular« (ebd.: 60), das gewöhnlich »landessprachlich« und in der 10 | Dessen ist Okada sich bewusst (vgl. Okada 2013: 21). 11 | Dies gilt mehr oder weniger auch beim Nō-Theater, in dem weibliche Figuren durch männliche Körper und Stimmen dargestellt werden, ohne deren vollkommene Verweiblichung wie etwa bei den onnagata [Frauendarstellern] im KabukiTheater anzustreben.
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Architektur »volkstümlich« bedeutet. Mit diesem Adjektiv meint er allerdings, vom Architekten Bernard Rudofsky inspiriert, einen noch weiteren, abstrakten Sinn: In diesem Kontext ist es als jedem Menschenkörper eigentümlich zu verstehen. Denn in einem anderen Essay, bei dem es um Architektur geht, scheint er den Sinn dieses Wortes näher zu erklären, obwohl er dort nicht mehr das oben genannte Adjektiv benutzt. In dem Essay geht es um ein Haus, das von dem japanischen Architekten Naga saka Jō renoviert wurde und unter dem Namen Okusawas Haus (Okusawa no ie) bekannt ist. Durch die Worte des Architekten, dass die Renovierung heiße, das Haus vor der Renovierung zu lieben, habe Okada die Inszenierung der darstellenden Körper ähnlich wie eine Renovierung oder sogar als fast identisch damit empfunden. Denn seine Inszenierung basiere auf der Affirmation der Körper der Darsteller, die vor ihm stehen (vgl. Okada 2016a: 44).12 Seine Inszenierung zielt nicht darauf, die vor ihm stehenden Körper komplett umzuformen, damit sie der von ihm – dem Dramatiker und dem Regisseur – vorgestellten Fiktion dienen; stattdessen affirmiert er jede Eigentümlichkeit der jeweils singulären Körper, wenn auch die Affirmation immer durch Negation hervorgehoben wird, wie der Architekt bei einer Renovierung eine kitschige, altmodische Wand nicht völlig überdeckt, sondern nur dünn weiß streicht, sodass zwar die Farbe der Wand negiert wird, aber dadurch die Form des Fließens sichtbar bleibt, was die Fassade des renovierten Hauses nuanciert. Ebenso sei es für Okada beachtenswert, ob jede Negation seiner Inszenierung sich schließlich auf die Affirmation jedes Körpers richtet (ebd.: 45f.). Erst so wird der darstellende Körper in Okadas Theater für die darzustellende Fiktion bewohnbar. Jeder darstellende Körper in der Aufführung von Time’s Journey through a Room zeigt seine Eigentümlichkeit, obwohl jeder der drei dort auftretenden Körper gar keine heftigen, deutlich auffallenden Bewegungen zeigt, sondern sich ganz leise und langsam bewegt und sogar oft stillsteht. Der zarte, elastische Körper von Aoyagi Izumi, die Honoka spielt und aus der weiten, dunkelblauen Kleidung die bleiche Haut ihres lächelnden Gesichts, der Hände und der Füße herausscheinen lässt, bewirkt tatsächlich gespenstische Bewegungen, indem er, seine Achse verschiedentlich kippend und leicht biegend, bis zu den Fingerspitzen kurvenreiche Linien zeichnet und sie gleichzeitig fließen lässt. Ihre Füße wandern auf der ganzen Bühne umher. Ihre Finger ranken sich mal um die Requisiten 12 | Der Text wurde bereits 2009 veröffentlicht.
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auf der Bühne und strecken sich mal in die Luft. Ihre langen, schwarzen Haare, die wie bei einer alten japanischen Puppe geschnitten sind, folgen den Körperbewegungen und schweben in der Luft. So herrscht ihr Körper im ganzen Theaterraum, während die anderen zwei in der Ecke fast stillstehen. Der steife Körper von Andō Mari, die Arisa spielt und eine goldgelbe Bluse, einen olivgrünen Midirock und dunkle Strumpfhosen und Schuhe trägt, bewegt sich abbrechend, nicht fließend und so eckig, als verbinde er Punkte in der Luft beinahe linear. Ihr Gesicht bleibt ausdruckslos, obwohl Arisa wahrscheinlich an einem der größten Wendepunkte ihres Lebens steht. Die Körperbewegungen von Yoshida Yō, der Kazuki spielt und Pullover und Hose in Hellgrau trägt, scheinen von den anderen zwei beeinflusst: Die Füße, die sich aus dem sitzenden Körper strecken, schwimmen beim Gespräch mit Honoka in der Luft, indem der Körper leicht kippt. Im Gegensatz dazu versteinert sich beim Empfang von Arisa der Körper des Schauspielers. Seine Miene bleibt vom Zuschauerraum aus fast unsichtbar, weil er sich kaum zum Zuschauer wendet. Die ganzen Bewegungen der drei Körper bleiben von Anfang bis Ende ganz sacht und weichen nicht wesentlich von alltäglichen Bewegungen ab. Die Körper zerstören also die sprachlich dargestellte Fiktion nicht, geben ihr jedoch so entscheidende Nuancierungen, aus denen die Kraftverhältnisse in dem Wohnraum von Grund auf entstehen. Okada selbst schätzt »die Technik« dieser zwei Darstellerinnen besonders hoch und nennt das »den Output der Präsenz ihrer eigenen Körper zu regulieren« (Okada 2013: 42). Das beweist, dass die oben beschriebenen körperlichen Eigentümlichkeiten der Darstellerinnen nicht durch Okadas Inszenierung hergestellt wurden, sondern Okadas Theater sich ihnen großenteils verdankt. In Time’s Journey through a Room ist also zu betrachten, dass die Fiktion, die zuerst Okada vorbereitet, sich im Laufe der Inszenierung auch durch die Körper der Darsteller »renovieren« lässt. Das »Wohnen« im Körper ist bei Okadas Theater eine Affirmation der gegenseitigen Erschütterung zwischen Fiktion und Verwirklichung.
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4. R auschen der A bwesenden . A kustische »F iktion « und »W irklichkeit « In diesen theatral erzeugten Wohnraum kommen neben den darstellenden Körpern noch weitere Abwesende: Dieses Stück wurde mit dem Soundkünstler Hisakado Tsuyoshi produziert, der auf der Bühne eine Sound-Installation eingerichtet hat. Am Rand des Wohnraums, der sich allein durch einen schlichten Holztisch mit zwei orangefarbenen Blumen in einer gläsernen Vase, zwei dazugehörende Stühle, ein Wasserglas daneben und dahinter einen großen, von halbtransparenten weißen Vorhängen bedeckten Balkon als solcher zeigt, sind einige Objekte ausgestellt, für die keine Verwendung zu finden ist und die daher in keinem Zusammenhang mit dem Alltagsleben des Bewohners stehen; z. B. ein blauer Zylinder, ein Stein auf einer drehenden Scheibe, ein größerer Ventilator als üblich, der wie eine Schiffsschraube aussieht, aber zur Decke weisend auf den Boden im Bühnenzentrum gestellt ist. Sie bleiben meistens still, laufen und leuchten jedoch ab und zu. Die Szene zwischen den drei Figuren findet hauptsächlich am und um den Tisch statt, während diese Objekte marginal bleiben, ohne in die Geschichte integriert zu werden. Sie existieren dort als unnütze Fremdkörper im Alltag, die leicht ignoriert werden. Hisakado verleiht den Objekten Klänge und Geräusche, die leise an ihre Anwesenheit appellieren, indem er Töne mit Licht und Bewegungen synchronisiert. Diese leisen Appelle werden zuerst von Andō Mari, der Darstellerin von Arisa, zum Hören angeregt. Während die Zuschauer sich noch unterhalten, tritt aus der Finsternis eine Frau in einer gelben Bluse, die später Arisa spielt, jedoch in dem Moment noch nicht als solche bekannt ist, auf den linken Vordergrund der Bühne und stellt dort ein Mikrofon auf. Ohne spielende Bewegung geht sie zwar sofort wieder in die Finsternis zurück, dennoch weist ihr kurzer Auftritt schon auf den Beginn der Aufführung hin. Dann schaltet sich hinter den durchsichtigen Vorhängen ein kleiner Ventilator ein, sodass die Vorhänge leise wehen. Anschließend beginnt der größere, weiße Ventilator auf dem schwarzen Boden zu wirbeln, und im menschenleeren Raum rauscht der Luftzug. Andō tritt dann wieder an das Mikrofon und fordert die Zuschauer auf, die Augen zu schließen, damit die fiktionale »Reise« beginnen kann:
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(Schauspielerin, die) Arisa (darstellt) »›Time’s Journey Through a Room‹ beginnt jetzt. Damit die Reise beginnen kann, schließen Sie bitte die Augen, wenn ich es sage. Bitte halten Sie die Augen so lange geschlossen, bis ich sage: ›Bitte öffnen Sie die Augen‹. Ich sage das auch auf Englisch. Jetzt schließen Sie bitte die Augen« (TJ: 88).13
Der Regisseur Okada meint zwar, dass er deswegen dazu auffordern ließ, weil er den Eintritt der Schauspieler nicht zeigen wollte, aber sei es absichtlich, sei es unabsichtlich, wird durch das Schließen der Augen das Gehör verstärkt. Durch das Ausschalten der optischen tritt die akustische Wahrnehmung, wenn auch kaum vernehmbar leise, in den Vordergrund. Und dadurch werden auch die zurückhaltenden Geräusche im Zuschauerraum hörbar, weil einige Töne von der Bühne so leise wie die Geräusche im Zuschauerraum sind, sodass sie zu einem besonders aufmerksamen Zuhören auffordern. Wenn die Zuschauer/Zuhörer der nächsten Aufforderung entsprechend die Augen öffnen, sehen sie einen Mann auf einem Stuhl, der eben noch leer gewesen ist, sitzen. Bis zu dem Moment, in dem die Augen geöffnet werden, beginnt noch keine Fiktion. Andō Mari steht hier als »(Schauspielerin, die) Arisa (darstellt)« und spielt noch keine Rolle. Sie gehört noch zu der geläufigen »Wirklichkeit«, die sowohl den Theaterraum als auch die Welt außerhalb des Theaters beherrscht. Auch nachdem ihr Spiel der Rolle Arisas begonnen hat, bleibt ihre Körperbewegung nahezu unverändert. So wird durch ihren Körper und ihre Stimme sowohl akustisch als auch optisch die »Wirklichkeit« mit der »Fiktion« nahtlos verbunden. Somit beginnt eine fiktionale »Reise« in dem Zimmer, und ein Gespenst tritt auf. Vor dem sitzenden Mann erscheint Honoka langsam, indem ihr porzellanartig weißes Gesicht lautlos aus der Finsternis auftaucht und ihre beiden Augen direkt auf das vom Zuschauerraum aus nicht zu sehende Gesicht ihres Mannes gerichtet sind. Während die Arisa darstellende Andō dann als Abwesende ihre baldige Ankunft in dem Wohnraum und ihre Zukunft mit dem Bewohner Kazuki ankündigt, bringt Honoka als Gespenst ihre abwesende Stimme in dem Wohnraum hervor. Obwohl sie niemals schreit, singt oder auf sonst irgendeine seltsame Art spricht, herrscht ihre hell klingende Stimme im ganzen Theaterraum – wie ihr Körper –, indem bei jedem Sprechen dessen sanfter Nachhall im Raum 13 | Seitenangaben mit der Sigle TJ (= Okada 2017) nachfolgend im Fließtext.
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bleibt. So erzählt sie, wie glücklich sie bleibt: »Sehr glücklich. Das glückliche Gefühl verblasst nicht und mindert sich auch nicht. Es geht weiter. In uns. Findest du nicht auch?« (TJ: 90). So spricht sie ihren Mann im Präsens an, als ob sie noch in der Gegenwart lebe. Lächelnd beschreibt sie weiter im Präsens die Schönheit der Welt, die sie zu Lebzeiten wahrgenommen hat und die sie glücklich gemacht hat. Dabei werden das Licht, die Luft und Töne genannt, die von außen in dieses Zimmer fließen können. Die Welt wird in diesem Wohnraum allein durch das Einfließende wahrgenommen. Vor allem Töne werden immer wieder genannt: die Sirenen des vorbeifahrenden Krankenwagens; das Weinen des Babys des Nachbarn (TJ: 90); ein Flugzeug, das seltenerweise tief fliegt (TJ: 91) und das Rasseln der Dosen, die nach dem katastrophalen Erdbeben schon in die Automaten nachgefüllt werden (TJ: 99). Die Töne übertragen die Außenwelt. Und die somit vernommene Welt wird durch die nachhallende Stimme des Gespensts im gegenwärtigen Wohnraum weitergeführt. Im Gegensatz zu Honokas Stimme bricht die Stimme von Arisa nach jedem Sprechen sofort ab. Ihre Stimme besteht weder im Raum fort noch verbreitet sie sich. Obwohl ihre steife Stimme nicht schwach klingt, lässt sie ihre Vergänglichkeit und Unterbrechung hören. Dennoch regt Arisa – die künftige, also noch abwesende Bewohnerin des Zimmers – an, die nicht zu hörenden, fernen Geräusche, die ein Ereignis hinterlässt, zu imaginieren. So wird die Aufmerksamkeit auf die bisher leicht überhörten Geräusche gelenkt. (Schauspielerin, die) Arisa (darstellt) »Es gibt viele Töne, die wir nicht von hier aus hören können. Der Raum ist von Wänden umschlossen, sodass man hier eine stille Zeit verbringen kann. Es gibt daher Töne, die nicht hier hereinkommen. Na, hörst du das, oder? Die Töne, die hier nicht hörbar sind« (TJ: 92).
Anschließend erklärt sie Arisas Situation. Allerdings nicht nur vom Standpunkt dieser Rolle aus, sondern auch von dem Standpunkt, von dem die von der Rolle nicht wahrzunehmende Szene wahrnehmbar ist. Von diesem Standpunkt aus fordert die »(Schauspielerin, die) Arisa (darstellt)« am Ende das Publikum auf, den nicht wahrnehmbaren Tönen zuzuhören: »Ich komme wahrscheinlich mit Verspätung in dieses Zimmer. Ich bin jetzt im Bus, auf dem Weg hierher. Ich bin besorgt, denn der Bus steht schon eine Weile
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in einem Stau. Er fährt kaum weiter. Ich weiß nicht warum, aber der Grund ist ein Autounfall an einer Kreuzung, die so weit von hier entfernt ist, dass man sie selbst vom Balkon dieses Zimmers aus nicht sehen kann. Ein Auto, das an der Kreuzung nach rechts abbiegen wollte, setzte keinen Blinker, dann kam ein anderes Auto, das auf der Gegenfahrbahn mit hoher Geschwindigkeit geradeaus fuhr, und die beiden stießen zusammen. Die Hupe, die Bremse, der Aufprall, das Eindrücken der Karosserie, das Zerbrechen der Autofenster, nichts davon hast du hier gehört, oder?« (TJ: 92).
Der Soundkünstler Hisakado hat für dieses Stück einen Klangteppich kreiert, der weder die realistische Soundscape irgendeines bewohnten Zimmers oder eines Autounfalls repräsentiert, noch als Hintergrundmusik die Aufführung schmückt, sondern das Geschehen der im Alltag nicht wahrzunehmenden Ereignisse vermittelt, indem er sie nicht darstellt, sondern imaginieren lässt. Während Andō die oben zitierten Worte spricht, sind ein leiser, lang andauernder Akkord, bei dem unklar ist, mit welchem Instrument er gespielt wird, zwei unterschiedlich tickende Metronome, Winde, welche die Luft scharf schneiden, ein kurz vorbeifahrendes Auto und Wassertropfen hörbar. Sie überlappen sich, was ein wohltönendes Rauschen bewirkt. Das sich überlagernde Ticktack der zwei Metronome macht unsichtbare Flüsse der Zeit hörbar, und mit dem Geräusch der Autoreifen zusammen lassen sie die Irritation von Arisa beim Stau assoziieren, die in dem sichtbaren Wohnraum abwesend ist. Allerdings bleibt unerklärt, was die anderen Töne übermitteln. Jeder Ton appelliert dennoch an seine eigene Anwesenheit, die leicht als abwesend ignoriert wird, und auch seine Mittelbarkeit eines Abwesenden und (noch) nicht ins Zimmer Einfließenden. Denn das Ticktack zeigt schon eloquent sein Vermögen der Mittelbarkeit. Vor der Ankunft der neuen Partnerin Arisa bittet Kazuki seine verstorbene Frau Honoka darum, ihre Augen zu schließen. Eine Bitte, die sie nicht sofort erfüllt. Nachdem sie jedoch nach der Fortsetzung ihrer Erzählung endlich die Augen schließt, tritt Arisa am dunklen Rand des Wohnraums auf. Honoka spricht dennoch weiter, als ob sie noch ohne Arisa mit ihrem Mann allein im Zimmer wäre. Jedoch wiederholt sie dann die Frage: »Na, hörst du mich?« (TJ: 104) und sagt: »Na, warum benimmst du dich, als ob du mich nicht hören würdest?« (TJ: 105). Obwohl die Verstorbene, deren Zeit an einem vergangenen Zeitpunkt stehen geblieben ist, die künftige Bewohnerin nicht wahrnimmt, merkt sie, dass
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ihr fortlebender Mann weghört. Seine Stimme unterbricht den Nachhall seiner verstorbenen Frau, spricht die künftige Partnerin an und fordert diese auf, in seinen Wohnraum hereinzukommen. Während des Vorgangs, in dem die zwei intimer werden, hört man ständig fließendes Wasser, was zuerst die Unstabilität der Gegenwart und das Vergehen der Zeit assoziieren lässt. »Während man lebt, kann man nicht vermeiden, sich zu ändern. Wenn man lebt, ändert sich die Situation verschiedentlich, also muss man sich jeweils daran adaptieren« (TJ: 109). Das sagt Kazuki und fragt Arisa um Hilfe, sich von der Vergangenheit zu befreien. Dem sich ändernden, von der Vergangenheit entfernenden Mann gegenüber behauptet Honoka, dass er von ihr nicht befreit werden kann: »Auch wenn du die Augen schließt, kannst du mich nicht unsichtbar machen. Du kannst dich nur so benehmen, als ob du mich nicht sehen würdest. Denn du siehst mich nicht mit den Augen« (TJ: 110). Der Einfluss der Vergangenheit wird also weniger gesehen als gehört. Sie bestätigt ihre Voraussage, dass Kazuki sie nicht zum Verschwinden bringen könne und sie den Wohnraum territorialisieren werde, indem sie weiter in dem Zimmer bleibt. Dann fordert sie ihn auf, eine »alternative Möglichkeit« zu imaginieren: »Manchmal hört man den Zug, nicht wahr? Ab und zu kommt er aus der Ferne. Ich versuche dann zu imaginieren, dass ich nicht den Zug höre, der draußen fährt, sondern dass das Zimmer ein Zug ist und der Ton aus diesem Zug kommt. Du, wenn wir uns das vorstellen, verstehst du es auch, oder? Dass wir die Reise bestimmt weiterführen können und dieses glückliche Gefühl behalten« (TJ: 111).
Durch die Vorstellung von Honoka verwandelt sich die Assoziation der Wassergeräusche: Daraus vernimmt man nicht mehr nur die Unstabilität der Gegenwart oder das Vergehen der Zeit, die das neue Paar erweckt hat. Nun lässt das Wassergeräusch auch die Weiterfahrt des Zugs von Honoka imaginieren. Während Honoka das Bild vorstellt, versteinert das Paar und ergreift sich fest an den Händen. Es sieht aus, als ob ihre Zeit gestoppt und nun die Zeit des Gespensts den Raum erobern würde. Jedoch tritt das Gespenst ohne Weiteres ab, und nur das Paar bleibt in dem Wohnraum. Ganz am Ende wird dann nur die unerklärliche Sound-Installation beleuchtet, und man hört allein das Wassergeräusch. Was ist daraus schließlich zu vernehmen? Das ständige Fließen des Wassers erweckt
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auch die Assoziation, dass der Wohnraum ein Schiff wäre. Welchen Weg nimmt dann die »Reise« dieses Schiffes?
5. H örreise im W ohnr aum In dem Wohnraum erscheinen durch die zwei abwesenden Frauen, die von unterschiedlichen Zeitpunkten – Vergangenheit und Zukunft – kommen und sich vergegenwärtigen, zwei miteinander kollidierende »alternative Wirklichkeiten«. Sie verkörpern die unterschiedlichen Zeiten, und die Zeiten werden durch ihre Stimmen verräumlicht: durch die Stimmen, weil die Positionen ihrer Körper ihre jeweiligen Standpunkte in dem Verhältnis der drei Personen nicht zeigen. Obwohl im so stillstehenden Bild alle Figuren einen gemeinsamen Raum teilen und zusammen da zu sein scheinen, vernehmen die Frauen einander nicht. Die Stimmen der Frauen werden in jeweils anderen Hörräumen vernommen. Der Bewohner des Zimmers, Kazuki, hört zwar die beiden Stimmen, indem er sich fast in dieselbe Richtung wie das Publikum wendet und somit die Hörerposition einnimmt, kann jedoch nicht das Ganze hören, denn er kann nicht die Stimme seiner künftigen Partnerin hören, bevor sie ankommt. Allein die Zuschauer bzw. hier eher Zuhörer können die Überlagerung der heterogenen Hörräume von Anfang bis Ende des Stücks vernehmen. So hören allein die Zuhörer im Zuschauerraum unsichtbare Räume bzw. heterogene Hörräume in diesem Wohnraum überlagert. Dadurch bekommen sie allerdings auch kein omnipotentes Gehör, sondern durch die fiktionale Erweiterung des Gehörs können sie vielmehr spüren, dass ihr Gehör eine unüberwindbare Grenze hat und deshalb Imaginationen nötig sind. Die Grenze wird durch die Geräusche der Sound-Installation wahrnehmbar, die aus dem Hintergrund nur manchmal in den Vordergrund gebracht werden. Auf diese Weise hören die Zuhörer mehrere Hörräume gleichzeitig, die miteinander kollidieren. Und alle diese Hörräume werden als »Fiktion« bzw. »alternative Wirklichkeit« dargestellt, die mal rezessiv, mal dominant auftaucht. Denn man kann zwar Honokas Stimme als Fiktion vernehmen, weil sie eindeutig als Gespenst auftritt. Aber die von ihr erträumte Zukunft, in der alle Japaner unter der japanischen Nationalflagge durch ihre Solidarität glücklich werden und das Glücksgefühl allein zum eigenen Volk gehört, wird draußen vor dem Theater schon mehr oder we-
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niger als gängige »Wirklichkeit« gelten, wenn auch manche Zuschauer es nicht für »Wirklichkeit«, sondern eindeutig für einen »alternative fact« halten.14 Es ist schon möglich, dass es Zuschauer gibt, welche die von Honoka vorgestellte »alternative Wirklichkeit« für eine schon verwirklichte halten. Dazu bemüht Okada sich nicht darum, eine mächtigere Illusion wirksam zu inszenieren, sondern es gibt zwischen den hier dargestellten zwei »alternativen Wirklichkeiten« einen dezidierten, konstitutiven Unterschied, der vom Inhalt unabhängig nicht erlaubt, die beiden auf derselben Ebene zu behandeln. Die »glückliche« Imagination von Honoka wird immer wieder mit dem Subjekt »wir« erzählt, in das Kazuki, der Nachbar und sogar alle Japaner ohne Entscheidungsrecht einbezogen werden. Aus der Vergangenheit träumt sie eine »glückliche« Zukunft: »Ich denke an die Zukunft. Mit Hoffnung« (TJ: 102). Jedoch wird nur eine bestimmte – glückliche – Zukunft vorgestellt, die keine Möglichkeit der Veränderung hat. Schließlich erlaubt Honoka ihrem noch lebenden Mann keine Auswahlmöglichkeiten seiner Zukunft. Dazu affirmiert Kazuki zwar, dass seine Frau ihre letzte Zeit in einem so glücklichen, sanften Gefühl verbracht hat, aber er wählt Arisa. Er gesteht seiner neuen Partnerin zurückhaltend, dass er zuerst von ihr eben deswegen angezogen wurde, weil sie, wie es ihm schien, wie er selbst ohne Glücksgefühl noch Hoffnung im Alltag lebte – im Gegensatz zu seiner verstorbenen Frau. Er wollte eben Freiheit von dem festgesetzten »Glücksgefühl« und der »Hoffnung«, die aus der Vergangenheit ohne Änderung wiederholt werden und ihn an sich fesseln. Auf sein Geständnis, dass er auch die gleiche Glückslosigkeit wie sie habe, antwortet Arisa: »Äh…ich glaube, wir sind nicht vergleichbar. Der Schmerz, den Sie erlebt haben, ist wahrscheinlich viel schwerer. Ich kann ihn mir nicht vorstellen, auch wenn ich es versuche. Deshalb habe ich ein bisschen gezögert, hierher zu kommen« (TJ: 103). 14 | Zu dieser Reaktion der Zuschauer vgl. den Kommentar von Hosoma Hiromichi: ›https://chelfitsch20th.net/articles/941/‹ (Zugriff am 12. 5. 2018). Obwohl auch ich selbst als Zuschauerin/Zuhörerin seine Reaktion teile und die durchschnittliche Gruppe der Zuschauer von Chelfitsch auch so reagieren wird, versuche ich in diesem Beitrag, die Zweideutigkeit der »alternativen Wirklichkeit«, die in dem Stück angeboten wird, möglichst neutral auszuloten.
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Wie schon oben erwähnt wurde, ist Arisa zugleich auch an die Geste der Zuhörerin angeschlossen, die sogar unvorstellbaren Eindringlingen, die durch Hisakados Sound-Installation spürbar werden, zuzuhören versucht und es auch »wirkliche« Zuschauer versuchen lässt. Arisa versucht sogar, der für sie nicht vernehmbaren Stimme ihrer Nebenbuhlerin Honoka zuzuhören. Denn gerade das lässt sie zögern, in diesen Wohnraum zu kommen. Als Zuhörerin spricht Arisa von sich selbst ziemlich wenig, während Honoka so viel über ihre Erinnerung redet, dass der Theatertext fast nur aus ihrer Rede besteht. Während Honokas Stimme nachhallt, verklingt Arisas Stimme so schnell, als breche sie ab. Während Honokas Stimme somit ein bestimmtes Bild der Zukunft, eine festgestellte »alternative Möglichkeit« fortsetzt, sucht Arisa durch das Zuhören die Zukunft als »alternative Möglichkeiten«, die nicht ganz vorzustellen sind. Die Potenzialität der Fiktion ist bei Arisas Zuhören nicht ganz verwirklicht. Die Verwirklichung wird ent-setzt.15 Das bedeutet allerdings keinen bloßen Verzicht auf jede Verwirklichung. Denn eben durch ihr Zuhören lässt Arisa diverse Möglichkeiten ihrer Zukunft auf sich zukommen, als etwas, was viel mehr als vorstellbar ist. Mit den Worten »wir sind nicht vergleichbar« affirmiert sie die Differenz zwischen jeder Stimme. Somit affirmiert sie auch die Entstehung eines politischen Raums, der dem Agonismus im Sinn der belgischen Politologin Shantal Muff ähnlich ist: »Agonismus [ist] eine Wir-Sie-Beziehung, bei der die konfligierenden Parteien die Legitimität ihrer Opponenten anerkennen, auch wenn sie einsehen, daß es für den 15 | Zur paradoxen Bedeutung des Begriffs »ent-setzen« vgl. Hamacher 1994, vor allem S. 360. Den Begriff »ent-setzen«, den Hamacher aus Walter Benjamins Aufsatz »Zur Kritik der Gewalt« entwickelt hat, nennt er »afformativ«. Das Wort »afformativ« ist keine einfache Verneinung von »performativ«: »Afformativ ist nicht aformativ, nicht die Negation des Formativen; Afformanz ›ist‹ das selber formlose Ereignis der Formierung, dem alle Formen und alle performativen Akte ausgesetzt bleiben. (Das lateinische Präfix ad- markiert die Eröffnung einer Handlung, und zwar einer Handlung der Eröffnung, wie, passenderweise, in affor, anreden, ansprechen, z.B. beim Abschied. – In afformativ muß freilich auch ein von ihm her verstandenes aformativ mitgehört werden)« (ebd.). Daran anschließend schreibt er: »Die Entsetzung läßt die Darstellung zu, ist aber selber auf keine Darstellung reduzierbar« (ebd.).
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Konflikt keine rationale Lösung gibt. Sie sind ›Gegner‹, keine Feinde. Obwohl sie sich also im Konflikt befinden, erkennen sie sich als derselben politischen Gemeinschaft zugehörig; sie teilen einen gemeinsamen symbolischen Raum, in dem der Konflikt stattfindet« (Muff 2007: 30).
Arisa steht zwar der ehemaligen Zimmerbewohnerin Honoka entgegen, jedoch hält jene diese niemals für eine »Feindin«, sondern sie erzeugt durch ihr Zuhören einen Hörraum, der Honokas Stimme klingen lässt. Allerdings wird der Hörraum nicht gleich als eine einfache »Wir-Sie-Beziehung« hervorgebracht. Eben durch ihr Zuhören bejaht Arisa das Da(Gewesen-)Sein von Honoka, und verneint die Verwirklichung einer festen Zukunft gleichzeitig. Ihr Zuhören ist also weder gänzliche Bejahung noch gänzliche Verneinung. So werden ein Ich – Arisa – sowie ein Du – Honoka – in ihrer Stimme geteilt. Arisas Zuhören affirmiert die Differenz. Auch erzeugt der Hörraum keine gemeinsame Stimme, sondern macht jede singuläre Stimme hörbar, die noch kein »Wir« bildet. Jedoch ist eben dieses Zuhören die Basis der Möglichkeiten, ein künftiges »Wir« – Arisa, Kazuki und auch Honoka – zu bilden. Okadas Theater richtet sich somit auf das Theater der Ent-Setzung durch seine singuläre Zusammenarbeit mit den Darstellern/Darstellerinnen und der Sound-Installation. Der Wohnraum wird durch diese Zusammenarbeit zum Schiff auf unsichtbaren »Reisen«, die anders sind als die »Reise«, die Honoka durch das Hören der Geräusche des Zugs träumt. Bei ihrer fiktionalen Hör-»Reise« würden sich zwar die Bilder und Töne hinter dem Fenster nacheinander ändern, jedoch ändern sich nicht die Reisenden selbst. Ihre Alteration ist nicht erlaubt, auch wenn sie sich laufend ändernde Bilder und Töne konsumieren, um damit »glücklich« und zufrieden sein zu dürfen. So ist diese »Reise« in der Tat ein Stillstand. Honoka bleibt in ihrer Welt stehen und reist eigentlich nicht. Dagegen lässt Arisas Hör-»Reise« den eigenen Ort bzw. Standpunkt erschüttern und somit ständig bewegen, obwohl ihr Körper immer in dem Wohnraum bleibt. Im körperlichen Stillstand des versteinerten Paars ist daher die Geste des Zuhörens zu finden. In ihnen findet also eine unsichtbare, aber große, bewegte Hör-»Reise« statt. Diese Hör-»Reise« bringt die Reisenden zu einem nicht vorstellbaren Ort und zu einer undarstellbaren Zukunft. Erst dadurch wird die Zuhörerin zur Bewohnerin des Wohnraums. Nur diese Hör-»Reise«, die die reisenden Zuhörer/Zuhörerinnen an sich gründlich erschüttert und verändert, macht also das »Wohnen« hier möglich.
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Ohne Netz und doppelten Boden Zur Dynamik der Raumerfahrung bei Alfred Schütz und Nishida Kitarō 1 Jan Straßheim
1. E inleitung Wohnen und Unterwegssein sind räumliche Verhältnisse. An dem Ort, an dem wir wohnen, halten wir uns dauerhaft auf, oder wir kehren wiederholt an ihn zurück. Sind wir unterwegs, so reisen wir zwischen Orten. Aufenthalt, Rückkehr und Reise sind relativ zu Orten. Sie sind zugleich relativ zu unseren Körpern. Erst mein Körper, der sich immer »irgendwo« befindet, der sich bewegen oder bewegt werden kann, erlaubt es mir, unterwegs zu sein oder an einem bestimmten Ort zu wohnen. Der Körper selbst ist seit der Antike als ein »Haus« beschrieben worden, in dem ich wohne, das mich aber auch einschließt und so zum Ausdruck eines existentiellen Fern- oder Heimwehs werden kann (etwa bei Paulus, vgl. 2. Kor. 5). Orte wie Körper sind »im Raum«, sie selbst sind »räumliche« Gebilde. Aber was heißt das? Wohnen und Unterwegssein sind nicht allein physikalisch oder mathematisch zu beschreiben. Es handelt sich vielmehr um Weisen des Erfahrens von Raum, um Erfahrungen mit Orten, die in dieser Erfahrung erst zu »Orten« werden. Zudem handelt es sich meist um soziale Erfahrungen der Begegnung mit anderen Menschen, die wir als vertraut oder fremd empfinden und mit denen wir Orte teilen, ohne dass wir die Grenzen zwischen unseren Körpern je aufheben könnten. »Der Raum«, der eine gemeinsame Grundlage für das Wohnen 1 | Diese Arbeit wurde gefördert durch eine Reisebeihilfe der Fritz Thyssen Stiftung.
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und für das Unterwegssein bildet, kann kein leerer Raum sein, der dem Erfahren beziehungslos gegenübersteht. Im Folgenden möchte ich einige Überlegungen zur Räumlichkeit umreißen, die – unabhängig voneinander – der österreichisch-amerikanische Philosoph Alfred Schütz und der japanische Philosoph Nishida Kitarō vor allem um die 1920er und 1930er Jahre anstellen. Sie lassen sich als verschiedene Antworten auf die Frage lesen, wie »der Raum« Grundlage für verschiedene Weisen der Erfahrung sein kann. Gemeinsam ist ihnen die Annahme, dass der Raum sich in der Dynamik der Raumerfahrung selbst herausbildet und so zu ihrer Grundlage werden kann. Dabei setzen sie jedoch den Akzent dieser Dynamik unterschiedlich: Schütz betont stärker die Schaffung eines gemeinsamen »Bodens«, den man als die Grundform eines »Wohnens« mit anderen ansehen könnte. Dagegen betont Nishida den »Sprung« über alle so gesetzten Grenzen hinweg, die Grundform eines »Unterwegsseins« zwischen den Orten und Körpern. Entscheidend ist dabei, dass sich beide Akzentsetzungen nicht ausschließen, sondern sich wechselseitig bedingen und stärken. Zu den unterschiedlichen Sichtweisen von Schütz und Nishida trägt auch ihr jeweiliger kultureller Kontext bei, den insbesondere Nishida mit seiner Kritik an Dualismen im »westlichen« Denken betont. Zugleich bezieht sich Nishida aber umfassend auf europäische und amerikanische Quellen und belegt damit, dass er seine Position aus einem intensiven Kulturkontakt heraus entwickelt. Ein Theoriedialog wie der zwischen Schütz und Nishida bietet ein Beispiel dafür, dass sich kulturübergreifende Problematiken mit Werkzeugen erschließen lassen, die ihrerseits aus kulturellen Traditionen und interkulturellem Austausch hervorgegangen sind.
2. R aum als G rundl age sozialer E rfahrung ? S chüt z und N ishida Seit etwa 1990 sind Raum und Räumlichkeit in einer Reihe von Disziplinen zu zentralen Kategorien ausgerufen worden (vgl. z. B. Löw 2015). Auch Philosophie und Soziologie konnten in der Einsicht übereinkommen, dass sich soziale Erfahrung immer in Räumen abspielt und zugleich Räume bildet. Dabei wurden frühere Standpunkte als Quellen eines neuen Verständnisses »wiederentdeckt«: Im Mittelpunkt steht nicht
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»der Raum« als eine undifferenzierte Leere, sondern es geht um Räume, die von Qualitäten und Beziehungen ausgefüllt, strukturiert und überhaupt erst gebildet werden (vgl. Foucault 1990 [1967]). Der starre Raum der älteren Physik tritt in den Hintergrund und lässt die Bewegungen einer Raumpraxis erkennen, in deren Rahmen »der (soziale) Raum ein (soziales) Produkt ist« (Lefebvre 2006 [1974]: 330). Dabei kommt »dem Raum«, also dem nackten, abstrakten Raum im Singular, eine Doppelrolle zu: Einerseits grenzt man die neue Sicht auf eine Vielzahl bewegter und erfüllter »Räume« gegen ihn ab. Andererseits bleibt er oft als gemeinsame Grundlage oder Hintergrund dieser Räume vorausgesetzt. Einerseits will man erforschen, wie Körper und Orte zueinander ins Verhältnis treten und so sinnhafte Räumlichkeit erst erzeugen. Dazu aber müssen jene Körper und Orte sich andererseits schon »irgendwo« befinden. Ihre materielle Gegenwart und ihre materielle Wirkung aufeinander setzen voraus, dass sie räumliche Dinge in einem realen Raum sind. Damit sind ihnen zugleich bestimmte Positionen und bestimmte Relationen von räumlicher Nachbarschaft oder Entfernung zugewiesen. Was sich im Raum befindet, geht notgedrungen gewisse Spielregeln ein. Plötzliche Ortswechsel gehören in die Traumwelt, und »Ubiquität« als gleichzeitige Gegenwart an verschiedenen Orten gehört in die Welt der Theologie. Diese Doppelrolle des Raumes bringt das Risiko mit sich, in einem traditionellen Dualismus zwischen materieller und sozialer Welt, zwischen Körper und Geist oder »ausgedehnter Substanz« und »denkender Substanz« (Descartes) zu verbleiben. Um das zu vermeiden und die Einsicht, dass sich soziale Erfahrung immer in Räumen abspielt und zugleich Räume bildet, konsequent fruchtbar zu machen, müsste man auch noch »den Raum« und seine Realität im Rahmen sozialer Erfahrung rekonstruieren, anstatt ihn als gegeben vorauszusetzen. In welchem Sinn ist Raum eine Grundlage sozialer Erfahrung? Wir könnten zwei Antworten geben. (a) Zum einen verbindet Raum uns, insofern wir, im ganz wörtlichen Sinn, auf einem gemeinsamen Boden stehen. (b) Zum anderen trennt er uns, insofern Menschen körperliche Wesen sind und damit an räumlich ausgedehnte Körper gebunden: Wir können nie gleichzeitig an derselben Stelle stehen. Beide Aspekte des Raums, der verbindende und der trennende, haben ihren Fluchtpunkt offenbar in unserem Körper als einem räumlichen Ding. Unser Körper vermittelt zwischen den beiden Aspekten und macht so soziale Erfahrung,
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also auf andere Menschen bezogene Erfahrung, erst möglich. Bereits in der Fragestellung liegt ein Risiko, auf das ich noch zurückkommen werde: Das Wort »Grundlage« beruht auf einer räumlichen Metaphorik des »Grundes« und des »Liegens«; als alltägliche Metapher setzt es schon den Raum und die Verbindung von Raum und Erfahrung voraus, die erst zu klären ist. Was aber sollen wir unter »dem Raum« und »räumlichen« Körpern verstehen? Eine klassische Konzeption von Raum lautet: In einem Koordinatensystem mit drei Achsen, wie es Descartes vorgeschlagen hat, lassen sich Form und Lage von Körpern im Raum zahlenmäßig angeben; mit Newtons Gesetzen lassen sich ihre Bewegungen und Wechselwirkungen berechnen. Der britische Philosoph Alfred North Whitehead allerdings weist 1925 darauf hin, dass eine solche Vorstellung von Raum keineswegs auf eine unmittelbare, konkrete Erfahrung zurückgeht. Im Gegenteil, diese Vorstellung nimmt gerade umgekehrt den Umweg einer starken Abstraktion, die von unserer konkreten Erfahrung das allermeiste abzieht. Erst diese Beschränkung konstruiert den leeren Raum als Behälter für »Dinge«, also starre Körper, die einander nach mechanischen Gesetzen beeinflussen, die ansonsten aber voneinander getrennt in sich selbst beharren. Wenn man dieses ideale Konstrukt für den eigentlichen Gegenstand der Erfahrung hält, so Whitehead, unterstellt man der Erfahrung etwas als objektive Grundlage, was man zuvor aus ihr herausgeschnitten hat, und erklärt nachträglich alle anderen Aspekte der Erfahrung zu subjektiven Zusätzen. Den Glauben, man habe im räumlichen Einzelding den konkreten Kern der Realität gefunden, weist er daher als »fallacy of misplaced concreteness« zurück (Whitehead 1948 [1925]: 52). Descartes’ und Newtons Konzeption von Raum wird für Whitehead zu einem zentralen Motiv für die dualistische Aufspaltung der Welt in einen vermeintlich »objektiven« Bereich der Dinge und den bloß »subjektiven« Bereich unserer Erfahrung, die den substanzhaften Dingen wechselnde Eigenschaften und Verhältnisse zuschreibt. Der abstrakte Raum wird von der Erfahrung abgetrennt. Damit bleibt aber gerade unklar, in welchem Sinn Raum eine »Grundlage« für diese Erfahrung sein kann. Um Räumlichkeit als Grundlage sozialer Erfahrung zu denken, sollten wir Raum nicht von der Erfahrung abtrennen, sondern ihn in die Erfahrung einbinden. Zu dieser Aufgabe können philosophische Ansätze einen Beitrag leisten, die historisch hinter die neuere Diskussion um Raum und Räum-
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lichkeit seit den 1990er Jahren zurückgehen. Alfred Schütz und Nishida Kitarō, so werde ich zu zeigen versuchen, begründen die Realität des Raumes daraus, dass Raum in der Erfahrung selbst entsteht, nämlich als produktive Abstraktion aus der Fülle des Erfahrens, die sich insbesondere am eigenen Körper ausbildet. Beide sehen den so konzipierten Raum als eine Grundlage sozialer Erfahrung und verstehen diese Erfahrung als grundlegend dynamisch. Schütz und Nishida haben auf den ersten Blick nichts gemeinsam. Schütz, 1899 in eine jüdische Familie in Wien geboren, Doktor der Rechte und im Hauptberuf Prokurist beim Bankhaus Reitler & Co., arbeitet gleichzeitig an einer philosophischen Grundlegung der »Verstehenden Soziologie« Max Webers (»Bei Nacht bin ich Phänomenologe, aber bei Tag Beamter«: Schütz/Gurwitsch 1985: 67). 1938 kehrt er von einer Geschäftsreise nach Paris nicht in das inzwischen nationalsozialistische Österreich zurück und kann 1939 mit seiner Familie in die USA fliehen. Hier arbeitet er an der neuen New Yorker »Exilantenuniversität«, der New School for Social Research und wird 1952 Full Professor of Sociology and Social Psychology. Aber erst ab 1956 kann er sich ganz auf die Wissenschaft konzentrieren, anhaltend missverstanden dadurch, dass man ihn weder der Philosophie noch der Soziologie ganz zuordnen kann. Schon 1959 stirbt er völlig überarbeitet an einem Herzleiden. Der knapp drei Jahrzehnte ältere Nishida bleibt zeitlebens in seinem Geburtsland. Er wird früh berühmt als Begründer der modernen japanischen Philosophie; sein metaphysisch-ethischer Traktat Zen no kenkyū (dt. Über das Gute, 1989) von 1911 ist ein landesweiter Bestseller. 1870 in einem Dorf an der japanischen Westküste in den Samuraistand geboren, studiert er an der Kaiserlichen Universität Tokyo, lässt sich in zen-buddhistischer Meditation unterweisen und wird 1914 Professor für Philosophie in Kyoto. Mehrere Generationen von Philosophen der »Kyoto-Schule« werden seinem Einfluss zugerechnet. Nach seiner Emeritierung 1928 zieht er nach Kamakura und veröffentlicht bis zu seinem Tod 1945 weitere philosophische Arbeiten. Die Ultranationalisten üben Druck auf Nishida als öffentlichen Intellektuellen aus, und in merklichem Gegensatz zu kritischen Bemerkungen gegen das Regime in Briefen und Tagebüchern passt er sich in einigen umstrittenen Texten aus dieser Zeit der Sprache der Propaganda an. Im Schlagwort könnte man sagen: Schütz war »unterwegs«, während Nishida »wohnte«. Während Schütz Geschäftsreisen für sein Bank-
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haus nach Mexiko unternahm und mit anderen europäischen Exilierten in der Metropole New York unterrichtete, verliefen der lokalen Legende nach Nishidas tägliche Meditationsspaziergänge in Kyoto derart regelmäßig, dass die Einwohner die zwei Kilometer lange Strecke »Philosophenweg« nannten. Wollte man vom Leben aufs Werk schließen, wäre man kaum verwundert, dass Schütz Teile seiner Theorie gerade an Grenzgängern wie dem »Fremden« und dem »Heimkehrer« ausführt (siehe dazu den folgenden Abschnitt), während Nishida schreibt, die »Geschichte des Menschen« beginne, »wenn ein Volk in einer bestimmten Gegend wohnt« (zit. n. Elberfeld 1999: 182) – offenbar ohne die Möglichkeit eines nomadischen Lebens auch nur in Betracht zu ziehen (vgl. ebd.: 184). Dieser erste Eindruck allerdings täuscht. Im Japan der Meiji-Zeit konnte man mit weit entfernten Kulturen in Kontakt treten, ohne dazu die Landesgrenzen körperlich überschreiten zu müssen. Nishida studiert bei deutschen Professoren und liest intensiv Texte deutscher, britischer, französischer und amerikanischer Autoren. Seine Kollegen und Studenten kehren von langen Forschungsaufenthalten in Europa zurück. Obwohl Schütz und Nishida einander nicht kannten2 und eine breitere Rezeption im jeweils anderen Sprachraum erst nach dem Tod beider anlief (vgl. Nishihara 1992; Strala 2014), finden sich in ihrem Denken gemeinsame Referenzautoren (etwa Henri Bergson, William James, Edmund Husserl oder Gottfried Wilhelm Leibniz) ebenso wie inhaltliche Parallelen. Ich möchte im Folgenden nur einen kleinen Aspekt dieser Parallelen herausgreifen und selbst diesen Aspekt nur grob umreißen: die Rolle des Raumes in der individuellen und sozialen Erfahrung, die sich im Werk von Schütz und Nishida insbesondere der 1920er und 1930er Jahre findet, bei Nishida allerdings bereits in Über das Gute von 1911 angelegt ist. Vor dem Hintergrund dieser Parallelen wird deutlich, dass Schütz und Nishida die Akzente anders setzen, und zwar in einer Weise, die dem ersten Eindruck gerade entgegengesetzt ist. Denn während Schütz, wie eingangs erwähnt, eher die Schaffung eines gemeinsamen »Bodens« der »Lebenswelt« betont, stellt Nishida die ebenso grundlegende Funktion 2 | Von Otaka Tomoo, einem ehemaligen Studenten Nishidas, mit dem er während dessen Forschungsaufenthalts in Wien befreundet war, dürfte Schütz zumindest Nishidas Namen gekannt haben. Schütz rezensierte Otakas Buch (Schütz 2004b [1932]), das in der Danksagung Schütz und Nishida auf derselben Seite erwähnt (vgl. Otaka 1932: VI).
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einer Dynamik des »Sprunges« heraus, die vermeintlich gemeinsame Konstruktionen zu durchbrechen in der Lage ist. Diese Unterschiede in den Sichtweisen sollen hier zu einem Dialog in der Sache genutzt werden. In der Dynamik der Raumerfahrung erweisen sich Wohnen und Unterwegssein als grundlegend miteinander verschränkt.3
3. S chüt z : R aum als produktive A bstr aktion Alfred Schütz sucht ab den 1920er Jahren unter anderem, den Raum als »sozial bedingt« zu erweisen.4 Schütz wird sich später auch auf Whiteheads schon erwähntes Argument gegen die »fallacy of misplaced concreteness« beziehen (vgl. Schütz 1962b [1953]: 3f.). Zunächst geht er aber von Henri Bergson aus, der das Erleben als eine ganzheitliche, permanent anwachsende und verfließende Fülle beschrieben hatte (vgl. Schütz 2006 [ca. 1925]). Mit Bergson unterscheidet Schütz diese Fülle des »Erlebens« von der abstrakten Konstruktion räumlicher Dinge. Während Bergson damit jedoch den Dualismus zwischen Erfahrung und Räumlichkeit sogar noch verschärft, sucht Schütz diesen Dualismus zu überwinden. Dazu konstruiert er eine Reihe von zunehmend komplexen Stufen des Erlebens (die er »Lebensformen« nennt). Mit diesen Stufen behauptet Schütz keine zeitliche Entwicklung oder einen Schichtenbau. Vielmehr dient die rein analytische Unterscheidung solcher Stufen dem Zweck, argumentativ aufzuweisen, dass Fülle des Erlebens und Abstraktion, und damit insbesondere räumliche Abstraktion, eng miteinander verbunden sind.
3 | Ein Theorievergleich zwischen Schütz und Nishida, geschweige denn ein umfassender oder werkgenetisch aufgeschlüsselter Vergleich, steht noch aus, ist im vorliegenden Rahmen aber nicht möglich. 4 | Kant, so Schütz, hat die Frage nach der Konstitution von Raum mit historischem Recht ausgeklammert, weil er nach den Grundlagen insbesondere der mathematisch-naturwissenschaftlichen Erfahrung fragte, die Raum als abstrakte Form voraussetze (Raum ist bei Kant eine »Form der Anschauung« vor aller Erfahrung). Dadurch habe Kant die Frage aber eben nicht beantwortet. Jetzt sei »die Welt des Raumes und der Zeit« als eine »sozial bedingte« aufzuweisen (Schütz 2006 [ca. 1925]: 52). Dabei ordnet Schütz dem Raum gegenüber der Zeit eine primäre Stellung zu (ebd.: 163).
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Eine Schlüsselrolle weist Schütz dabei dem Körper zu. In einer reinen Fülle des Erlebens, wie sie Bergson beschreibt, würde ich meinen Körper nicht als ein räumliches Objekt von knapp 1,70 Meter Länge erfahren. Aber mehr noch: Ich würde meinen Körper nicht einmal als meinen eigenen Leib spüren. Denn die auf meinen Körper bezogenen Erlebnisse würden im Strom meines Erlebens mitfließen, ohne besonders hervorzutreten. Selbst die einfachste Empfindung, etwa die Empfindung bei der Berührung mit einer Nadelspitze, die ich an einer Stelle meines Körpers lokalisiere (vgl. Schütz 2003a [1936/37]: 111), steht schon nicht mehr auf der Stufe einer reinen Fülle des Erlebens. Denn in einer so umgrenzten Empfindung treten ganz bestimmte Anteile aus der Fülle des Erlebens hervor. Anderes, gleichzeitiges Erleben tritt zurück. In diesem elementaren Sinn von Abstrahieren als »Ab-Ziehen« steht Abstraktion also nicht im Gegensatz zum Erleben, sondern ist ein produktives Prinzip des Erlebens. Die Einheit eines Phänomens (z. B. schon einer einfachen körperlichen Empfindung oder eines vagen Gefühls) entsteht dadurch, dass nur ein Teil des gegenwärtigen Erlebens in diese Einheit eingeht, während der Rest im Hintergrund verbleibt, sozusagen vernachlässigt wird. Das ist allerdings noch keine »Abstraktion« im üblichen Sinn des Wortes. Diese gehört bereits einer komplexeren Stufe an. Im Rhythmus von Atmung und Herzschlag, wenn ich mich bewege oder bewegt werde, wenn ich mich selbst betaste oder ansehe, zeichnet sich mein eigener Körper ab. Wie jedes Phänomen ist auch mein Körper der Fülle des Erlebens »abgezogen«. Aber meinen Körper erfahre ich nicht als ein flüchtiges, einmaliges Ereignis. Ihn erfahre ich als ein dauerhaftes Phänomen mit bestimmten Eigenheiten, als ein Feld mit festen Grenzen, das wechselnden Erscheinungen einen Rahmen bietet. Mit anderen Worten, so Schütz, ich erfahre meinen Körper als ein »Ding«, das nicht in der Fülle meines Erlebens aufgeht. Aus der Vielzahl von Empfindungen, die etwa meine Handbewegung begleiten, tritt »meine Hand« als ein Teil meines Körpers hervor, der sogar dann da ist, wenn ich ihn gerade nicht wahrnehme. Zugleich wird der Ablauf der Bewegung als eine mit dieser Hand zurückgelegte »Strecke« rekonstruiert. Ich situiere meinen eigenen Körper in einem »Außen«, das von meinem Erleben unabhängig ist, einem »Aussen im Sinne einer Mir-nicht-Zugehörigkeit« (Schütz 2006 [ca. 1925]: 158). Was immer meinen Körper berührt, ihm Widerstand leistet oder ihn trägt, wird nun von dessen »Dinghaftigkeit« gewissermaßen angesteckt; durch meinen Körper entdecke ich um mich herum eine Welt
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von Dingen, die ein mir nicht zugehöriges »Eigenleben« führen. Schütz schließt: »Durch das handelnde Ich also kommt der Dualismus in die Welt, der noch nicht überwunden ist und auch nie überwunden werden wird« (ebd.: 159). »Aus der Räumlichkeit, aus der Dimension als solcher« (ebd.: 157) folgt, dass in der Fülle des Erlebens »Dinge« hervortreten, die von meinem (im selben Zug, nämlich im Unterschied dazu, konstruierten) »Innen« getrennt sind. Was Raum und Ding aber ihrer Struktur nach verbindet, ist der »Einheitsbezug auf ein Unveränderliches, Gleichartiges« (ebd.: 153), der »Auswahlgesichtspunkt relativer Gleichartigkeit« (ebd.: 157). Das nun scheint eine »Abstraktion« im üblicheren Sinn des Wortes zu sein. Auf ihr bauen, wenn wir Schütz folgen, alle komplexeren Abstraktionen auf, insbesondere die der alltäglichen und dann auch der wissenschaftlichen Sprache. Auch die mathematische Konstruktion von Raum und Körper bei Descartes oder Newton ist letztlich angelegt in diesem abstrahierenden Blick auf das »Gleichartige«, mit dem wir unseren eigenen Körper als ein »Ding« erfahren. Schütz’ frühes Manuskript, dem ich diese Darstellung entnehme, bricht mitten im Satz ab; weitere »Lebensformen« (etwa die sprachliche Artikulation von Erfahrung und das für Schütz’ Vorhaben entscheidende »Du-Erlebnis«) werden entgegen seiner Ankündigung nicht mehr behandelt. Seit Schütz sich ab etwa 1930 stärker auf Husserls Zeitanalysen beruft, spielt der Raum nicht mehr ausdrücklich jene fundamentale Rolle, die ihm in seiner Bergson-Phase zukam.5 Eher als um den Raum geht es jetzt um Routinen des Handelns, um typische Erwartungen und Bedeutungen, die unsere Erfahrung formen. Zwischen den beiden Phasen scheint ein Bruch zu liegen, der aber nur an der Oberfläche besteht. Denn was die Raumerfahrung verbindet mit der Artikulation des Erfahrens durch Routinen und Typen, ist der abstrahierende Blick auf das »Gleichartige«. Jeder Begriff »verräumlicht« (ebd.: 51), wie es bereits bei Bergson heißt, denn mit dem Raum teilt der Begriff das Grundmotiv einer Abstraktion, die der Fülle des Erlebens (bei Bergson: der durée) nur wiederkehrende oder identische Aspekte entnimmt und den Rest ver5 | In einem gleichfalls unveröffentlichten Manuskript aus der Mitte der 1930er Jahre verweist Schütz allerdings erneut auf das »Problem der Raumkonstitution vermittels des Leibes« (Schütz 2003a [1936/37]: 111). Zur Rolle des Körpers innerhalb von Schütz’ Sozialtheorie siehe Straßheim 2015, bes. Kap. 4.
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nachlässigt. Dieses Grundmotiv wird in der Handlungsroutine oder der typischen Erwartung sogar noch augenfälliger als im Begriff. Wenn der Raum, den man am eigenen Leib erfährt, als Grundmodell für Routinen, Begriffe usw. dient, dann ist Raum auch ein Grundmodell für soziale Erfahrung. Denn gerade das abstrakt Gleichförmige ist bei Schütz Prinzip einer sozialen Welt. Unser individuelles Handeln mit dem Handeln Anderer koordinieren und unsere persönlichen Erwartungen mit ihnen teilen können wir insbesondere dadurch, dass wir Handlungsroutinen einüben oder typische Haltungen erwerben. Die so erworbenen Routinen und Typen abstrahieren weitestgehend von der Fülle des individuellen Erlebens und fokussieren auf das, was für verschiedene Individuen in verschiedenen Situationen gleich bleibt. Ein wichtiges Medium, das solche Gleichförmigkeit erzeugt und trägt, ist die gemeinsame Sprache mit ihren in Wörtern verfestigten Relevanzen (vgl. Schütz 1962b [1953]). Sprache und andere Sinnmedien machen aus einem Ding ein »Haus« und, mit zunehmender Institutionalisierung, ein »Heim«, das sich etwa mit religiöser Bedeutung auflädt (vgl. Schütz 1962c [1955]: 314 u. 354). Raumerfahrung bezieht sich laut Schütz mithin nicht auf einen leeren Raum mit ausgedehnten Dingen darin, die von unserer Erfahrung irgendwie abgetrennt werden könnten und ihr – in unklarem Sinn – »zugrunde lägen«. Raum beruht vielmehr auf einer »Abstraktion« aus unserer Erfahrung, wie auch Whitehead betont. Aber diese Abstraktion ist nicht erst eine Erfindung von Descartes oder Newton, sondern sie liegt unserer alltäglichen Erfahrung des eigenen Körpers und des Lebens in einer gemeinsamen sozialen Welt zugrunde. Insofern ist sie berechtigt und produktiv. Der Dualismus von Raum und Erfahrung ist unvermeidlich und zugleich unproblematisch, gerade weil die Erfahrung diesen Dualismus erst hervorbringt. Raum beruht auf einer produktiven Abstraktion im Erleben selbst. Andererseits, so können wir jetzt hinzufügen, beruht jener Dualismus nur auf einer Abstraktion. Die Konstruktion räumlicher Dinge gewinnt ihren Inhalt, und damit ihre Berechtigung, aus der Fülle des Erlebens und von nirgendher sonst. Die Konstruktion ist produktiv, aber sie ist es gerade dadurch, dass sie den größten Teil des Erlebens unberücksichtigt lässt. Darin liegen Risiken. Denn wenn man so vieles ausblendet, kann es sein, dass man wichtige Aspekte vernachlässigt. Manchmal setzt man verschiedene Phänomene gleich und stellt später fest, dass sie keineswegs gleich waren. Umgekehrt kommt es vor, dass man wieder-
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kehrende oder konstante Aspekte erst nach langer Zeit bemerkt. So bleibt die Abstraktion immer auf die Fülle des Erlebens verwiesen, aus der sie stammt, und zwar in doppelter Hinsicht. Zum einen lässt sich Räumlichkeit nicht grundsätzlich oder endgültig abtrennen von anderen Bereichen der Erfahrung, etwa vom Handeln, Wahrnehmen oder Fühlen. Zum anderen bleibt Raumerfahrung fehlbar und muss darum auch korrigierbar bleiben. In beiden Hinsichten ist die Raumerfahrung dynamisch; sie ist keine Schau unwandelbarer Ideen, sondern sie entfaltet sich in Prozessen des Erfahrens, die immer neues Material aufnehmen und von dem bisher verfolgten Kurs grundsätzlich auch abweichen können. Diese Dynamik findet sich im gesamten späteren Denken von Schütz. Gemeinsame Routinen, Erwartungen und Begriffe beruhen auf »Typisierung«, d.h., sie folgen typischen Mustern, von denen wir in der konkreten Anwendung abweichen können und die wir manchmal in Frage stellen und dauerhaft modifizieren oder aufgeben müssen. Damit ist auch die Annahme, dass wir diese Muster mit anderen teilen, immer nur vorläufig gültig. Die Selbstverständlichkeit unseres Alltags täuscht über diese Dynamik häufig hinweg. Wir richten unsere Aufmerksamkeit zumeist auf die fertig konstituierten Phänomene und nehmen die Art und Grundlage ihrer Konstitution als »fraglos gegeben« hin. Dennoch kann ich alles fraglos Gegebene im Prinzip jederzeit in Frage stellen (vgl. Schütz 2004b [1932]: 189f.). Alles Selbstverständliche gilt »nur bis auf Weiteres«, »until further notice«, wie Schütz’ stehende Formulierung lautet (Schütz 1962b [1953]: 33). Im sozialen Leben selbst fällt uns diese Dynamik oft erst bei der Begegnung mit einer anderen Gruppe auf. Schütz, der wenige Jahre zuvor in die USA geflohen ist, beschreibt in einem Aufsatz von 1944 die Figur des »Fremden« (Schütz 1964a). Der Fremde verliert das Vertrauen in seine eigenen Selbstverständlichkeiten, die sich in der neuen Gruppe nicht bewähren. Was dagegen für die Einheimischen selbstverständlich ist, kann er nur schwer erkennen. Falls es ihm gelingt, die Routinen und Erwartungen der neuen Gruppe zu erkennen, kann er sie oft nur mechanisch imitieren. Denn was ihm fehlt, ist die Flexibilität, mit der die Einheimischen die typischen Muster der konkreten Situation anpassen. In dieser Flexibilität liegt zugleich ein Keim für ständige Veränderung. Diese Erfahrung macht eine andere Figur, die Schütz im nächsten Jahr mit Blick auf heimkehrende Soldaten beschreibt (Schütz 1964b [1945]): »Der Heimkehrer« hat während seiner Abwesenheit neue Erfahrungen
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gemacht und sich verändert. Aber auch seine Heimat erkennt er kaum wieder; andere Erwartungen herrschen jetzt vor, andere Handlungsweisen gelten als selbstverständlich. Der vermeintlich vertraute Ort ist ein anderer geworden. Damit können wir zur Metapher der »Grundlage« zurückkehren. Raum ist Grundlage für soziale Erfahrung nicht dadurch, dass er ihr vorausläge, ihr ein von ihr unabhängiges letztes Fundament böte. Raum wird innerhalb der Erfahrung selbst entfaltet, und zwar durch die Abstraktion des Gleichartigen. Diese Abstraktion formt Erfahrung, angefangen vom eigenen Körper bis zu gemeinsamen Routinen, Begriffen und typischen Wahrnehmungsweisen, und in diesem Sinn bietet sie der sozialen Erfahrung eine »Grundlage«. Immer jedoch geht es um Prozesse des Erfahrens, die Risiken und Dynamik einschließen. Daher sollten wir Metaphern wie die der »Grundlage« nicht wörtlich nehmen. Soziale Erfahrung besteht in Bewegungen, die wir ohne letzte Sicherheiten vollführen, ohne Netz und doppelten Boden. Aber gerade weil die Konstruktion von Räumlichkeit so zentral für unser Erfahren ist und sich dort insbesondere durch sprachliche Typisierung verfestigt, schleichen sich leicht räumliche Metaphern in die Theoriesprache ein. Schütz betont immer wieder das methodische Problem, das darin liegt, von der durch produktive Abstraktionen fertig konstituierten, alltäglichen Erfahrung auszugehen, in der auch die Philosophin oder der Philosoph mit großer Selbstverständlichkeit lebt, von dort aus mühsam in Richtung der Fülle des Erlebens zurückzufragen – und dann im Rahmen einer Theorie die Ergebnisse wieder sprachlich und gar begrifflich zu vermitteln (vgl. Schütz 2006 [ca. 1925]: 50f. u. 108). Auf der Ebene des Erlebens ist selbst die Rede von »meiner Hand« nicht mehr als eine »erstarrte Metapher« (ebd.: 114). Bis zu seinem Tod warnt Schütz vor seiner eigenen Raummetaphorik (vgl. Schütz 2003a [1936/37]: 111f.): »[A]lles das ist hier in räumlichen und daher inadäquaten Metaphern geschildert, was Verhärtungen, Produkte, Resultate von Prozessen des stream of consciousness in der Bergson’schen durée ist [sic!]« (Schütz 2004a: 203). Entgegen seiner eigenen Warnung ufert Schütz’ Gebrauch räumlicher Metaphern über die Jahre hin geradezu aus und nimmt zentrale Positionen in seiner Theorie ein. Schon Husserl hatte die gemeinsamen Routinen und Typen als den »Boden« der Lebenswelt beschrieben. Schütz spricht aber nicht nur vom »Boden« und gar »Urgrund« des fraglos Gültigen (Schütz 2003b [1957]: 327), sondern von »Relevanzstrukturen«
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(ebd.: 340), die er mit Höhenlinien im Relief einer Landschaft vergleicht (vgl. Schütz 2003a [1936/37]: 44 u. 121; Schütz 1964a [1944]: 93), oder von »Sinnprovinzen« mit »Grenzen« und »Enklaven« (Schütz 1962a [1945]: 232 u. 245). Solche Metaphern sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass das als gleichartig Typisierte eben kein »Boden« ist, sondern ein Abstraktionsmuster in der Fülle des Erlebens, das sich zudem laufend modifiziert. Erst durch diese Dynamik der Abstraktion wird die Erfahrung von Raum und damit auch eines »Bodens« im Wortsinn möglich. Aber vielleicht sind Raummetaphern in der Theorie unvermeidlich, weil soziale Erfahrung letztlich – bei aller Dynamik – auf einer Gemeinsamkeit beruht, deren bildlicher Ausdruck der Raum als »Boden« ist? Diesen Gedanken legt die Kritik von Jürgen Habermas nahe, der Schütz mit nachhaltiger Wirkung auf die deutschsprachige Sozialphilosophie für überholt erklärte (vgl. Habermas 1997 [1981]: bes. 188ff.). Schütz’ flexible typische Muster, die zu sehr an die Erfahrung des einzelnen Ich gebunden seien, so Habermas, müssten durch gemeinsame »Sprachstrukturen« ersetzt werden; die Habermas‘sche Lebenswelt bietet ein »Netz« (ebd.: 199) und einen »gemeinsamen Boden«. Habermas’ Kritik fällt jedoch hinter Schütz’ Einsicht in die »grundlegende« Dynamik sozialer Erfahrung zurück, die Schütz vor seinem verfrühten Tod nicht mehr einlösen konnte. Hinweise darauf liefert die Philosophie von Nishida Kitarō.
4. N ishida : D er »O rt« des A nderen Als der junge Schütz seine zu Lebzeiten unveröffentlichten Manuskripte der 1920er Jahre verfasst, liegt das Erscheinen von Nishidas Über das Gute schon Jahre zurück. Hätte Schütz dieses Buch lesen können, das erst 1960, nach seinem Tod, ins Englische und gar erst 1989 ins Deutsche übersetzt wurde, wäre er vielleicht über die Parallelen zu seinen eigenen Gedanken überrascht gewesen.6 Nishida geht vom Begriff einer »reinen Erfahrung« ( junsui keiken) aus, den er auf den der »pure experience« bei William James stützt (James wiederum ist von Henri Bergson beeinflusst). Die »reine Erfahrung« Ni 6 | Das gilt unabhängig von den ansonsten erheblichen Unterschieden in Vorgehen, Darstellung und Zielsetzung und insbesondere zwischen der religiös-ethischen Interessenlage bei Nishida und dem soziologischen Interesse bei Schütz.
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shidas trägt als ganzheitliche, fließende Fülle ähnliche Züge wie später das »Erleben« bei Schütz. Auch Nishida unterscheidet diese Fülle von ihrer begrifflichen Artikulation; sie ist nur schwer zugänglich und wird von der alltäglichen und erst recht der wissenschaftlichen Sprache eher verdeckt. Damit will er jedoch, auch dies eine Parallele, einen Dualismus gerade überwinden. »Schon die einfachste Wahrnehmung (chikaku)« (Nishida 2001 [1911]: 83) steht zwar durch ihre Strukturiertheit nicht mehr auf der Stufe der »reinen« Erfahrung, und das gilt erst recht für komplexere Formen von Erfahrung wie Bedeutung oder Urteil. Aber alle diese Formen erhalten ihren gesamten Inhalt aus der reinen Erfahrung; sie lassen lediglich einen Teil ihrer Fülle weg und sind insofern ganz in ihr enthalten (ebd.: 36f.). Zunehmendes Weglassen ermöglicht dann die Erfahrung des eigenen Körpers als »Materie« und der davon unabhängigen »Dinge« (mono), und zwar im selben Zug, weil beide Seiten der »äußeren Welt« angehören (ebd.: 56). »Dinge« wiederum sind Konstrukte, deren Grundlage darin besteht, dass »ähnliche Bewußtseinsphänomene (ishiki genshō) immer vereint auftreten«, sie sind »unveränderliche Verbindungen ähnlicher Bewußtseinsphänomene« (ebd.: 73 u. 78). Dadurch ist zugleich eine wichtige Dimension der sozialen Welt entdeckt, denn die »objektive Außenwelt« besteht in dem, was »alle auf die gleiche Weise erkennen« (ebd.: 91). »Materielle Phänomene sind nur die von den Bewußtseinsphänomenen abstrahierten (chūshō shita), allen Menschen gemeinsamen Phänomene, die unveränderliche Relationen besitzen« (ebd.: 78). Vor dem Hintergrund dieser vergleichbaren Rolle des Raumes entwickelt Nishida indessen eine andere Konzeption sozialer Erfahrung als Schütz, die auch Argumente und Begriffe aus buddhistischen Denktraditionen einbezieht. Diese Konzeption lässt sich folgendermaßen rekonstruieren. Der Raum, so sagte ich eingangs, ist zugleich ein trennendes und ein verbindendes Prinzip sozialer Erfahrung. Der Raum aber ist eine produktive Abstraktion aus der Fülle des »Erlebens« (Schütz) bzw. der »reinen Erfahrung« (Nishida). Erst durch diese Abstraktion erfahre ich ein »Außen«, von dem ich im selben Zug mein »Innen« unterscheide. Auf der Ebene der Fülle greifen diese Unterscheidungen nicht. Das räumliche »Ding« (mein eigener Körper eingeschlossen) ist nur eine Abstraktion, die gleichbleibende Aspekte festhält und zu einer Einheit zusammenschließt. Dasselbe gilt auch für meinen eigenen »Geist« (kokoro) als »identisches […] Selbst ( jiko)«, das ebenfalls einer solchen Abstraktion
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entspringt (ebd.: 73). Die »reine Erfahrung« könnte man ebenso gut als »Geist« (oder wie oben als »Bewusstseinsphänomen«) bezeichnen wie als »Materie«, weil ihre Fülle beide Möglichkeiten zugleich in sich enthält (vgl. ebd.: 79 u. 202). Das macht auch die Fülle, aus der diese Abstraktionen bestimmte Aspekte ausschneiden, zu einem verbindenden und zugleich trennenden Prinzip, wie es der Raum ist, aber in einem anderen und radikaleren Sinn. Einerseits verbindet jene Fülle mich mit den anderen Menschen und sogar mit Dingen, denn die Unterscheidung zwischen mir und ihnen beruht ja lediglich auf Abstraktionen aus der Fülle. Nach Nishidas Ansicht kann zumindest ein Säugling unmittelbar nach seiner Geburt diese Fülle als solche erfahren: »In diesem Status sind Subjekt und Objekt noch ungetrennt, bilden die Dinge und das Ich nur einen Leib (butsuga ittai)« (ebd.: 193). Andererseits bin ich auf der Ebene der reinen Fülle von mir selbst getrennt wie von einem anderen Menschen. Denn wenn mein »identisches Selbst« nur eine Abstraktion ist, dann ist die Unterscheidung meines jetzigen Ich von dem Ich, das ich gestern war und von dem Ich, das ich morgen (oder auch in der nächsten Sekunde) sein werde, nicht mehr und vor allem nicht weniger real als die Unterscheidung zwischen meinem Ich und einem beliebigen anderen Menschen (vgl. ebd.: 79f.). Erst viel später, um 1930, arbeitet Nishida die sozialtheoretischen Konsequenzen dieser Ausgangsposition genauer aus, insbesondere anhand der titelgebenden Begegnung von Ich und Du in einem Aufsatz von 1932 (Nishida 1999b). Er reagiert damit auf Vorwürfe, er vertrete eine reine Bewusstseinsphilosophie, sowie auf Forderungen marxistischer Denker, die Materialität des sozialen Handelns einzubeziehen. Einen Grundgedanken von Nishidas zunehmend schwer verständlichen und paradox formulierten Schriften aus dieser Zeit kann man besser erfassen, wenn man ihn vor die Folie von Schütz’ Sozialtheorie hält. Auch bei Nishida spielt der Raum eine Hauptrolle, die sich insbesondere im Verhältnis menschlicher Körper zueinander ausdrückt. Mensch und Mensch stehen in einer »räumlichen (kūkanteki) Beziehung« (Nishida 1999b [1932]: 178) zueinander. In diesem Verhältnis jedoch setzt Nishida den Akzent anders. Schütz hebt den verbindenden Aspekt von Raum stark hervor, nämlich den gemeinsamen »Boden«, auf dem wir einander als körperliche Wesen begegnen. Nishida dagegen hebt zunächst den trennenden Aspekt des Raumes hervor, in dem wir durch unsere Körper voneinander gesondert bleiben: »The true individual is spatial in the sen-
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se of standing in opposition to other individuals« (Nishida 1970 [1933/34]: 116f.). Diese Akzentsetzung verweist auf einen weiter gefassten Unterschied, denn Raum ist bei Nishida wie bei Schütz ein Grundmodell für die abstrakte Konzentration auf das Gleichartige im Erfahren, die über Raum im engeren Sinn weit hinausgeht. Schütz neigt dazu, soziale Erfahrung vom Gleichartigen her zu denken. Wir halten in Typen, Routinen usw. jene Aspekte fest, die sich über verschiedene Situationen hinweg nicht verändern. Wir abstrahieren von der Dynamik des Erfahrens. Dank dieser Gleichsetzung können wir die gleichbleibenden Aspekte nicht nur auf verschiedene Situationen übertragen, sondern auch auf verschiedene Individuen. Die produktive Abstraktion schafft Gemeinsamkeit bei allen sonstigen Unterschieden zwischen den Individuen und bietet so eine Grundlage für die Begegnung zwischen ihnen. Nishida hingegen denkt soziale Erfahrung eher umgekehrt, nämlich von der Differenz zwischen Individuen her. Alle Gemeinsamkeit ist nur eine Abstraktion und nicht mehr. Ein menschliches Individuum ist kein Ding; seine Situation jetzt und hier ist nicht nur der besondere Fall einer typischen Situation; seine Persönlichkeit ist nicht bloß die eines Gruppenmitglieds. Ein Mensch ist »absolut« anders als der andere (vgl. Nishida 1999b [1932]).7 Nishidas Frage lautet eher, warum Individuen einander trotzdem begegnen können. Schütz’ Akzentsetzung birgt die Gefahr, ein Bild von sozialer Erfahrung zu zeichnen, das zum einen unseren Intuitionen widerspricht und zum anderen ethisch und politisch bedenklich erscheint. Wo sich das Individuum nur auf eine abstrakte Gemeinsamkeit verlässt, kann es keinen Zugang zum »absolut« anderen Individuum finden. Wenn ich einem Menschen nur mit vorgefertigten Typen und Routinen begegne, verwende ich Abstraktionen, die gerade das Individuelle am Anderen ausblenden (vgl. Natanson 1986): Entweder gehe ich einfach davon aus, dass der Andere genauso denkt, fühlt und handelt wie ich selbst. Oder ich halte ihn zwar für anders, stülpe ihm dabei aber Schemata über, die mir von Menschen einer bestimmten Art zur Verfügung stehen. Um Beispiele von Schütz zu verwenden: Ich nehme den Anderen als »einen Briefträger« wahr, mit dem ich in einer bestimmten Weise reibungslos interagieren kann, insbesondere als Postkunde, oder – weit problematischer, wie 7 | Mit einer anderen Terminologie gefasst: Schütz geht eher von »Alterität« aus, Nishida eher von »Alienität« (vgl. Knoblauch/Schnettler 2004).
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Schütz selbst am historischen Beispiel ausführt – ich sehe vor mir »einen Juden«, dem ich ganz bestimmte Eigenschaften unterstelle, und auch wenn dieser sich damit keinesfalls identifiziert, erlauben die Machtverhältnisse in einer antisemitischen Gesellschaft es ihm nicht, sich gegen meine Unterstellung zu verwehren (vgl. Schütz 1964c [1957]). In Nishidas Terminologie behandele ich in solchen Fällen den Anderen lediglich als einen »relativen Anderen«, obwohl dieser als Individuum (kojin) faktisch ein »absoluter« Anderer, etwas »absolut Anderes« (zettai no ta) ist (Nishida 1999b [1932]). Gerade der »gemeinsame Boden« ermöglicht in diesem Sinn keine echte Begegnung zwischen Individuen. Nishida argumentiert nun: Einen Ausweg aus den Abstraktionen, die unsere Erfahrung in festen Bahnen halten, finden wir nicht im Ausgang von diesen Abstraktionen oder in ihrem Rahmen. Das gilt umso mehr, wenn Schütz Recht hat und das Grundmodell für alle Abstraktionen der eigene Körper als räumliches Ding ist – also gerade das, was mich vom Anderen trennt. Einen Ausweg bietet stattdessen eine radikale Dynamik in der Erfahrung. Nishida spricht von einer »Diskontinuität« (hi-renzoku), die sich der Abstraktion auf das Gleichbleibende und Gleichartige widersetzt. Ich mache einen »Sprung« (hiyaku, Nishida 1970 [1933/34]: 156) und lasse dabei für einen Moment alle fertigen Begriffe hinter mir. Der »Sprung« ermöglicht einen neuen, offenen Bezug auf die Fülle von Möglichkeiten, die in den Abstraktionen vernachlässigt wurde. Er führt also zurück in das, was Nishida in seinem Werk von 1911 »reine Erfahrung« genannt hatte. Das Bindeglied zwischen meinem Verhältnis zu mir selbst und meinem Verhältnis zum Anderen ergibt sich dabei aus jener eigentümlichen Verschränkung von Innen und Außen, die sich in Über das Gute bereits angedeutet hatte: Insofern auch meine eigene Person sich durch Abstraktionen (wie etwa: mein Körper als Ding, aber nach Nishida auch mein »Geist« oder mein »identisches Selbst«) strukturiert, lasse ich im »Sprung« sogar mich selbst hinter mir. In Nishidas eigentümlicher Ausdrucksweise »sehe ich den absolut Anderen in mir selbst«, wenn ich »meinem Ich von gestern wie einem Du« begegne. Jetzt erst kann ich den individuellen Anderen als solchen erfahren. Durch den gleichen Prozess auf der Seite des Anderen kann auch dieser mir als Individuum begegnen. »[I]n meinem Grunde existierst Du, in deinem Grunde existiere Ich« (Nishida 1999b [1932]: 170). Der Raum, der sozialer Erfahrung zugrunde liegt, ist daher unhintergehbar dynamisch, anders als der in der klassischen Physik durch
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Abstraktion von der Zeit konstruierte Raum, der keinen »Sprung« kennt. »Real space must be temporal in one aspect« (Nishida 1970 [1933/34]: 153). Nishidas Argumentation spricht dafür, die Dynamik der Raumerfahrung und der Erfahrung überhaupt, die auch Schütz betont, in der entgegengesetzten Richtung zu entfalten als der von Habermas vorgeschlagenen. Nach Schütz gelten alle abstrakten Typen und Routinen »nur bis auf Weiteres«, sie müssen der konkreten Situation und den beteiligten Individuen angepasst und dazu gegebenenfalls verändert werden. Die soziale Begegnung zwischen Individuen lässt sich dann aber gerade nicht dadurch denken, dass man die Dynamik möglichst einschränkt und so einen gemeinsamen »Boden« sichert. Vielmehr ist es die Dynamik selbst, die jene Begegnung als Begegnung zwischen Individuen erst ermöglicht. Zwar ist auch die Dynamik des Erfahrens insofern ein trennendes Prinzip, als sie mich und den Anderen von abstrakten gemeinsamen Standards abweichen lässt. Aber zugleich ist sie ein verbindendes Prinzip, weil sie mir den »Sprung« zum individuellen Standpunkt des Anderen ermöglicht. Nishida spricht jedoch in den 1930er Jahren nicht mehr von »reiner Erfahrung«. Dieser Begriff, so merkt er selbstkritisch an, scheint zu sehr dem einzelnen Subjekt und seinem »Bewusstsein« verhaftet und daher unglücklich gewählt als Zentralbegriff einer Philosophie, die doch einen Dualismus zwischen Subjekt und Objekt, Denken und Materie gerade überwinden will. Inzwischen hat Nishida daher einen neuen Terminus für jene Fülle gefunden, die solche Gegensätze übergreift und aus sich hervorbringt (vgl. Nishida 1999a [1926]). Dieser Terminus lautet ausgerechnet: »Ort« (basho). Inspiriert ist Nishidas Begriff aus verschiedenen Quellen, unter anderem durch Platons »Raum« (gr. chōra) als »Worin« und als »Amme des Werdens«8 und durch Aristoteles’ Rede von der Seele als »Ort (gr. topos) der Formen« (Jacinto Zavala 2001). Dieser »Ort« bietet ein durchaus anderes Grundmodell von sozialer Erfahrung als den gemeinsamen »Boden«. Wir sind verbunden nicht durch gemeinsame Abstraktionen, sondern durch eine Fülle, die uns erst der Sprung aus den Abstraktionen heraus eröffnet. Wir bewegen uns nicht »auf« demselben »Boden«, sondern »in« demselben »Ort«. Dennoch handelt es sich auch 8 | Auf Platons Begriff der chōra bezieht sich auch Whitehead, der sich selbst damit »eher einigen Strömungen des chinesischen oder indischen Denkens […] als dem westasiatischen oder europäischen Denken« nahe sieht (zit. n. Elberfeld 1999: 108).
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hier um eine räumliche Metaphorik, die nicht bloß an dem Wort »Ort« hängt (oder auch an dem Wort »Platz«, das Nishida in Aufzeichnungen von 1927 auf Deutsch notiert; vgl. Kobayashi 2002: 78), sondern an einer ganzen Reihe von Wendungen, die Verhältnisse des »Innen«-Seins und »Enthalten«-Seins ausdrücken, wie etwa die Rede vom Anderen, den ich »in« (ni oite, no naka ni) mir selbst sehe (vgl. Tremblay 2009). Schütz warnt davor, räumliche Metaphern in einer Theorie des dynamischen Erfahrens zu verwenden. Vor dem Hintergrund seiner Warnung fällt auf, dass Nishidas Rede von Individuen »im« Ort der Fülle auf irreführende Weise der Rede von Dingen »im« leeren Raum ähnelt, die natürlich etwas völlig anderes bezeichnet. Der »Raum« und alle räumlichen Verhältnisse »in« ihm entstehen ja erst durch Abstraktion aus der Fülle dessen, was Nishida »Ort« nennt. Hierin liegen Gefahren nicht nur theoretischer Art. Wenn etwa der späte Nishida einige seiner metaphysischen Schlüsselbegriffe in bizarrer und unvermittelter Weise auf politisch-territoriale Gebilde wie das japanische Kaiserhaus oder die »Großostasiatische Wohlstandssphäre« (daitōa kyōeiken) überträgt (vgl. dazu Heisig/Maraldo 1995), so könnte man vermuten, dass zumindest auf der sprachlichen Ebene die Raummetaphorik des »Ortes« diese Übertragung erleichtert. Gibt es eine Möglichkeit, sich die theoretischen Vorzüge von Nishidas Ansatz zu Nutze zu machen und zugleich die Gefahren einer Raummetaphorik zu vermeiden? Kobayashi Toshiaki hat vorgeschlagen, basho mit »Feld« zu übersetzen (vgl. Kobayashi 2002: 78ff.).9 Denn zu Zeiten Schütz’ und Nishidas ist die physikalische Begriffsbildung selbstverständlich längst nicht mehr auf dem Stand von Descartes oder Newton. Wie Kobayashi zeigt, ist Nishida sogar ein guter Kenner der aktuellen Physik. Der Begriff des »Feldes« wird damals in der Physik als Alternative zum leeren Raum vorgeschlagen, um ein dynamisches Spiel von Kräften zu bezeichnen, aus dem sich bestimmte Räume und Orte erst herauskristallisieren. Dieser Begriff findet auch in der zeitgenössischen Phänomenologie seinen Niederschlag, auf die Schütz sich bezieht (vgl. Waldenfels 1987: 53ff.). Hier könnte man weitere Parallelen zwischen Schütz und Nishida ausmachen, etwa wenn Schütz über »meinen Leib« schreibt: »Vielmehr hebt sich im wechselnden Strom meiner Bewusst9 | Darin liegt allerdings eher eine Interpretation als eine Übersetzung. »Feld« hieße auf Japanisch ba, ein Wort, das Nishida in anderen Zusammenhängen auch verwendet.
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seinserlebnisse ein wahrhaft permanentes Urdatum ab, das erst das Feld mitkonstituiert, den Ort sozusagen, auf den alle diese Erlebnisse, die da die meinen heissen, bezogen sein müssen« (Schütz 2003a [1936/37]: 112, Hervorheb. im Original). Allerdings beruht der Begriff des »Feldes« letztlich kaum weniger als der des »Ortes« auf einer räumlichen Metaphorik. Noch im abstraktesten Jargon der Wissenschaft (oder gerade hier?) werden wir die Raumvorstellungen unserer Alltagssprache offenbar einfach nicht los. Das ist vielleicht der klarste Hinweis auf die »grundlegende« Rolle des Raums in unserer Erfahrung.
5. F a zi t »Der Raum« im Unterschied zu den konkreten, in der sozialen Erfahrung gebildeten Räumen und Orten, denen er eine Grundlage oder einen Rahmen bietet, ist kein vom Erfahren abgetrenntes Fundament. In einem Dialog zwischen Alfred Schütz und Nishida Kitarō kann Räumlichkeit aus der sozialen Erfahrung selbst heraus entwickelt werden. Schütz und Nishida kommen zu einem vergleichbaren Befund: Eine abstrakte Fassung von Raum und räumlich ausgedehnten Dingen, wie sie in der klassischen Physik ihre Reinform findet, hat ihre volle Berechtigung als Teil und »Grundlage« sozialer Realität, weil und insofern sie sich am menschlichen Körper und im menschlichen Erfahren selbst ausbildet. Beide Philosophen ergänzen einen entscheidenden Punkt: Die Grundlegung von »Raum« durch seine Entwicklung aus dem Erfahren heraus gelingt nur einer Theorie, die der irreduziblen Dynamik des Raumerfahrens Rechnung trägt. Die Rolle jener Dynamik für den Raum als Grundlage sozialer Erfahrung arbeiten die beiden Philosophen mit einer unterschiedlichen Akzentsetzung heraus. Der Raum, wie wir ihn zunächst am eigenen Körper als einem räumlichen »Ding« erfahren, ist eine produktive Abstraktion des »Gleichbleibenden« aus der Fülle unserer Erfahrung. Das macht Raum einerseits zum Grundmodell sozialer Verhältnisse, die auf geteilten Typisierungen und Routinen beruhen, sich insbesondere in der Sprache verfestigen und uns auf diese Weise in gemeinsamer Erfahrung verbinden (Schütz). Andererseits trennen die Abstraktionen uns, indem sie die Individualität der Anderen vor uns verschließen. Darum spielt
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spiegelbildlich dazu eine radikale Dynamik der Erfahrung eine ebenso tragende Rolle. Gerade dadurch, dass sie uns von gemeinsamen Abstraktionen abweichen lässt, ermöglicht sie uns den »Sprung« zum anderen, einzigartigen Individuum hin (Nishida). Die beiden Akzentsetzungen könnte man zugleich als Grundformen von »Wohnen« und »Unterwegssein« deuten. Bei Schütz errichten unsere Abstraktionen einen gemeinsamen »Boden« der Erfahrung, auf dem wir im Rahmen einer Gemeinschaft einen bestimmten, uns vertrauten Ort bewohnen können. Bei Nishida eröffnet uns der »Sprung« aus diesen Abstraktionen hinaus aufs Neue die potenzielle Fülle der Erfahrung, die sich nicht auf einen Platz und nicht einmal auf eine Person festlegen lässt, sondern sich immer zwischen den Orten und Individuen bewegt. Als unterschiedliche Verhältnisse zum »Raum« sind Wohnen und Unterwegssein von vornherein verbunden, und erst beide zusammen machen soziale Erfahrung möglich. Eine Theorie der Raumerfahrung begibt sich, indem sie die Dynamik des Erfahrens hervorhebt, in eine gewisse Spannung zu der statischen Fassung von Raum, die gerade durch den Hinweis auf unser Erfahren ihre Berechtigung gewinnt. Diese Spannung drückt sich auch darin aus, dass immer wieder räumliche Metaphern aus der Alltagssprache in die Theoriesprache übergehen. Wie Schütz warnt, liegt darin die Gefahr, die Dynamik des Erfahrens zu übersehen. Diese Warnung lässt sich auch auf Nishidas Schlüsselbegriff »Ort« anwenden. Zugleich belegt die hartnäckige Raummetaphorik erneut die »grundlegende« Rolle von Raum als Teil der sozialen Erfahrung.
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Auf der Brücke wohnen Über Heideggers Bauen und Wohnen nachdenken Kanichiro Omiya
Martin Heideggers Vortrag »Bauen Wohnen Denken« (Heidegger 2000: 147-164) wurde am 5. August 1951 bei den »Darmstädter Gesprächen« zum Thema »Mensch und Raum« gehalten. Baugeschichtlich betrachtet, ist die Zeit um 1950 durch die Auseinandersetzung zwischen Modernisten und Traditionalisten gekennzeichnet. Während nämlich die ersteren gemäß der Charta von Athen (1933)1 die Modernisierung und Funktionalisierung der Stadtbauten, welche von der klassizistischen Nazi-Architektur verhindert und durch den Krieg unterbrochen worden waren, fortsetzen wollten, betonten die letzteren die Bedeutung der alten, (in welchem Sinne auch immer) traditionellen Stadtbilder, die sie wiederauf bauen wollten. Die Debatte blieb und bleibt unentschieden. Die Bauten aus den 1950er Jahren 1 | Das Programm des Städtebaus, das 1933 als Tagungsergebnis des Congrès Internationaux d‘Architecture Moderne (CIAM) in 95 Leitsätzen verfasst wurde. Allerdings wurde es von Le Corbusier erst 1943 publiziert. Der Paragraph 71 gilt als die allgemeine Fragestellung beim Städtebau. Er heißt: »Die meisten der untersuchten Städte zeigen heute ein Bild des Chaos: Sie entsprechen in keiner Weise ihrer Bestimmung, die wichtigsten biologischen und psychologischen Bedürfnisse ihrer Bewohner zu befriedigen.« Um dieses Elend zu beseitigen, schlägt die Charta insbesondere den Einsatz und die Ausnutzung der modernen Technik vor, damit die vier Grundfunktionen des städtischen menschlichen Lebens – Wohnen, Arbeit, Erholung und Verkehr – rationell kontrolliert werden, wobei das Privatinteresse dem gemeinschaftlichen untergeordnet werden soll. Diesen Gedanken liegt offensichtlich die sozialistische Grundidee, die damals noch aktuell war, zugrunde, weshalb in der DDR-Architektur der Einfluss der Charta ersichtlich ist (vgl. Hilpert 1984: 155).
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haben zwar keinen besonders guten Ruf, während die wiederaufgebauten alten Gebäude, welche an die Nostalgie der Einheimischen oder an den Exotismus der Touristen appellieren, von höherem Wert zu sein scheinen. Jedoch sind die Neubauten auch auf lange Sicht deswegen vorteilhaft, weil sie frei von der historischen Bürde sind und keine eigene Beständigkeit beanspruchen, was ja zum Wesen der »Moderne« gehört, somit für einen zukünftigen Umbau oder eine weitgreifende Neuplanung offener sind als die wiederaufgebauten historischen Gebäude. Allerdings hat Heideggers Vortrag inhaltlich mit einer solchen architektonischen Debatte kaum etwas zu tun. Es fehlt seinen Ausführungen jeder Berührungspunkt mit den modernen Bauunternehmungen und den praktischen Stadtplanungen, weshalb der Vortrag höchstens als Invokation für die feierliche Eröffnung der Gespräche aufgenommen wurde, wie dies der Verlauf des Gesprächs unter den Baumeistern der 1950er Jahre vermuten lässt. Nicht uninteressant wäre es aber, darüber nachzudenken, wie Heidegger zur Debatte Stellung genommen hätte, wenn er dazu aufgefordert worden wäre. In diesem Fall ließe sich nicht so einfach vermuten, was seine Antwort wäre. Dies vor allem deshalb, weil er die Unterscheidung zwischen dem Traditionalisten und dem Modernisten im Bereich der Architektur nicht akzeptiert hätte. Die Unterscheidung selber hätte er als die Vergessenheit dessen verurteilt, was Bauen und Wohnen eigentlich, d. h. ontologisch, heißen. Seine ursprüngliche Fragestellung im Vortrag lautet: »1. Was ist das Wohnen? / 2. Inwiefern gehört das Bauen in das Wohnen?« (Heidegger 2000: 147). Der erste Teil des Vortrags ist der Erörterung der ersten Frage gewidmet, der zweite Teil der zweiten Frage. Traditionalisten würden diese Frage nicht ernst nehmen, weil sie ihnen allzu selbstverständlich erscheint. Modernisten stellen sich zwar die erste Frage, aber beantworten sie wohl humantechnologisch. Zunächst bestreitet Heidegger die gewöhnliche Auffassung, dass Bauen »Mittel und Weg zum Wohnen« wäre, womit sie in der »Beziehung von Zweck und Mittel« stünden. Mit der »instrumentalen Vorstellung«, welche die beiden Tätigkeiten Wohnen und Bauen getrennt betrachtet, »verstellen wir« – so Heidegger – »die wesentlichen Bezüge.« Denn »das Bauen ist in sich selber bereits Wohnen« (ebd.: 148). Hiervon entwickelt Heidegger eine etymologische Überlegung, um zu beweisen, dass Bauen immer schon Wohnen ist. Die Anlehnung an (seine eigentümliche, manchmal altgriechisch-deutsch gemischte) Etymologie ist typisch für
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Heidegger in den 1950er Jahren, wobei das elementare Vokabular (legen, lesen, stellen, ringen oder reden, um einige Beispiele zu nennen) mit »Sein« in Verbindung gebracht wird. Auf die Wortherkunft selber zielte er allerdings nicht so sehr ab, als er vielmehr die ontologische Urbedeutung des Wortes zurückgewinnen wollte, wie er dies hier auch beim Wort »bauen« versucht. Heidegger selbst nennt diese Urbedeutung den »anfängliche[n] Zuspruch« des »einfache[n] hohe[n] Sprechen[s]«, der jetzt nicht »verstummt«, sondern nur »schweigt« (ebd.: 150). Er unterscheidet zwischen »Verstummen« und »Schweigen« darin, dass bei jenem das Sprechen selbst beraubt oder verworfen ist, während es beim Letzteren verborgen oder verdrängt ist und sich nur deshalb dem Vernommenwerden versagt. Es gibt eloquentes Schweigen, genauso wie es eitle Beredsamkeit gibt. Folgen wir also einmal Heideggers aufmerksamem Ohr: »Was heißt nun Bauen? Das althochdeutsche Wort für bauen, ›buan‹, bedeutet wohnen. Dies besagt: bleiben, sich aufhalten. Die eigentliche Bedeutung des Zeitwortes bauen, nämlich wohnen, ist uns verlorengegangen. Eine verdeckte Spur hat sich noch im Wort ›Nachbar‹ erhalten. Der Nachbar ist der ›Nachgebur‹, der ›Nachgebauer‹, derjenige, der in der Nähe wohnt« (ebd.: 148).
Das Wort »pûwan, bûwan, bûwen, pûan, bûan, bûen« heißt nach Oskar Schades Althochdeutschem Wörterbuch in der Tat »Feldbau treiben, wohnen« (Schade 1866: 462). Diese ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Bauen und Wohnen, welche das alte Wort »buan« noch vermittelte, nimmt dann Heidegger zum Anlass, weiter darüber nachzudenken, was nun das Wohnen seinerseits eigentlich heißt. Denn wie die ursprüngliche Bedeutung von Bauen verlorengegangen ist, so soll die Bedeutung von Wohnen auch einer beträchtlichen Vergessenheit unterliegen. Um die vergessene Schicht des Wohnens zu erkundigen, durchmisst Heidegger die semantische Breite des Wortes »buan«. Als Beispiele, die mehr als bloße Beispiele sind, zieht er die im Neudeutschen damit zusammenhängenden Worte heran, nämlich die Konjugationsformen von »sein«, also »bin« oder »bist«. Im Artikel »bauen« von Grimms Deutschem Wörterbuch heißt es: »das lat. habitare gehört zu habere, auch unser bauen musz mit ags. beon esse, beo ero, und unserm bin, sum zusammen hängen. wenn das zum praesens gewordne praet. vait, ich weisz, eigentlich ausdrückt vidi, ich habe gesehn, so mag
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ich bin, ahd. pim ursprünglich bedeuten ich habe gebaut = ich wohne, maneo, existo und eben aus der reduplication baibau oder baibô entspringen. die abstraction des seins leitet sich ab aus der sinnlichen vorstellung des wohnens, ganz wie visan, wesen manere in vas, war zum ersatz des verbum substantivum dient« (Grimm/Grimm 1854-1961). 2
Grimms kausale Erklärung selbst, dass sich die »abstraction des seins [...] aus der sinnlichen vorstellung des wohnens« ableite, hat Heidegger sicher nicht akzeptiert, aber die Gleichsetzung von »ich bin«, »ich habe gebaut« und »ich wohne« durchaus. Dementsprechend macht Heidegger den ersten Schritt zur Ontologie des Bauens und damit des Wohnens, wonach Wohnen keineswegs bloß eine der vielen menschlichen Tätigkeiten ist, sondern eine ganz elementare und besondere, mit anderem Wort: eine daseinsmäßige Tätigkeit. Dass Bauen und Wohnen in die ontologische Konstruktion hinein situiert werden, ist allerdings schon damals den eingeweihten Heidegger-Lesern wohl im Voraus offensichtlich gewesen. Der genannte Bezug bildet noch die äußerste Form seines Arguments, und es geht vielmehr darum zu erörtern, wie dieser Wortkomplex Bauen=Wohnen dann im elementar-semantischen Zusammenhang steht. Wie wird dann das Wohnen seinerseits etymologisch erklärt? Der Passus folgt an etwas späterer Stelle im Vortragstext: »Hören wir noch einmal auf den Zuspruch der Sprache: Das altsächsische ›wunon‹, das gotische ›wunian‹ bedeuten ebenso wie das alte Wort bauen das Bleiben, das Sich-Aufhalten. Aber das gotische ›wunian‹ sagt deutlicher, wie dieses Bleiben erfahren wird. Wunian heißt: zufrieden sein, zum Frieden gebracht, in ihm bleiben. Das Wort Friede meint das Freie, das Frye, und fry bedeutet: bewahrt vor Schaden und Bedrohung, bewahrt – vor ... d. h. geschont. Freien bedeutet eigentlich schonen« (Heidegger 2000: 150f.).
»Zufrieden sein« ist in der Tat bei Grimm als die »Grundbedeutung« von »wohnen« bestätigt. Aber diese Grundbedeutung bietet Heidegger keineswegs einen Grund. Damit ist noch nicht der eigentliche Sinn des Wortes ergründet. Mit der etymologischen Bestätigung der Grundbedeu2 | ›http://woer terbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mode =Gliederung&lemid=GB01283#XGB01283‹ (Zugriff am 11. 3. 2018).
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tung wird eher der Zugang zum wahren Grund des Wortes erst geöffnet, wodurch auf den wahren Zuspruch des Wortes zu horchen ist. So ist dieser etymologische Befund der Ansatz zur weiteren Überlegung über den Wortsinn, welche nun über den zusammenhängenden Grundwortschatz wie »Friede«, »Freie«, »Frye« bis »schonen« reicht. Mit diesem »schonen« ist eben – so Heidegger – der »Grundzug des Wohnens« erst erreicht. Wohnen ist Schonen. (Was dann geschont wird, darauf kommen wir im Weiteren). Sodann unterscheidet er die positive Bedeutung des Wortes »schonen« von der negativen. Schonen heißt nämlich nicht nur »behutsam behandeln« oder »nicht belasten«, sondern »etwas in seinem Wesen belassen«, fernerhin »in sein Wesen zurückbergen« und »einfrieden« (ebd.: 151). Buan und damit Wohnen ist die Art des Seins der sterblichen Menschen auf der Erde. Heidegger sagt weiter: »Mensch sein heißt: als Sterblicher auf der Erde sein, heißt: wohnen« (ebd.: 149). Umgekehrt muss gelten: Solange der Mensch nicht weiß, als Sterblicher auf der Erde zu sein, ist er also nur ein trüber Gast auf der dunklen Erde. Hier geht es um den Sinn von Wohnen. Aber »als Sterblicher auf der Erde zu sein« ist noch zu allgemein, und damit ist noch kaum etwas gesagt. Hinweise, was das Wohnen heißt, gibt der gerade zitierte Passus, wo wunon, wunian mit verschiedenen Worten umformuliert werden. Was wird dann durch diese Verkettung der dem Sinn nach mit »zufrieden sein« zusammenhängenden Worte unternommen? Was ist der Effekt einer solchen Signifikantenkette, die das »Wohnen« weder in seinen konkreten Aspekten noch in seiner abstrakten Idee, sondern nur metonymisch paraphrasierend darstellt? Dem Sinn von Wohnen nähert sich dieser Vortragstext stets durch die kettenweisen »Signifikationen« an, die sich um den »Sinn« drehen, welcher im Wort »schonen« erst nur seinen »Grundzug« zeigt, gleichsam als den »einzigen Zug/trait unaire« des Wohnens, von dem der Betrachtende gebannt und verbannt wird.3 Darin besteht die dauernde Struktur von Heideggers Argumentation: 3 | Heideggers metonymisch paraphrasierende Darstellung hat wohl den Psychoanalytiker Jacques Lacan dazu veranlasst, Freuds Theorie der »Traumarbeit« mit ihren Mechanismen der »Verdichtung« und »Verschiebung« linguistisch in seiner »Signifikantenlogik« auszuarbeiten (vgl. Lacan 1986: 121ff.). Heideggers »Ding« nimmt durchaus den Status des »Anderen« ein, das als die einzige Ausnahme den gesamten Signifikanten Ordnung gibt.
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Die »Nähe« oder die Annäherung ist hier entscheidend. »In-der-NäheSein« ist die Grundeinstellung des Denkenden, aber auch des Bauenden und Wohnenden und damit des »In-der-Welt-Seienden«. Und es ist das »Ding«, in dessen Nähe die sterblichen Menschen bleiben sollen. In dem mit »Bauen Wohnen Denken« eng zusammenhängenden Vortrag »Das Ding«, welcher ein Jahr vorher, also 1950, publiziert wurde, heißt es: »Allein das hastige Beseitigen der Entfernung bringt keine Nähe; denn Nähe besteht nicht im geringen Maß der Entfernung. [...] Wie steht es mit der Nähe? Wie können wir ihr Wesen erfahren? Nähe läßt sich, so scheint es, nicht unmittelbar vorfinden. Dies gelingt eher so, daß wir dem nachgehen, was in der Nähe ist. In der Nähe ist uns solches, was wir Dinge zu nennen pflegen. Doch was ist ein Ding? Der Mensch hat bisher das Ding so wenig bedacht wie die Nähe« (Heidegger 2000: 168). 4
Auch im Vortrag »Bauen Wohnen Denken« wird »das Ding« als Bedingung des oben genannten »Schonens« (oder als dessen »Bedingnis«,5 wie dies Heidegger bevorzugt) eingeführt. Das Ding ist bereits im »Ursprung des Kunstwerks« (1936) als Kernbegriff behandelt worden.6 Dieser Dingbegriff wird dann in den Nachkriegswerken wiederum etymologisch mit dem altgermanischen Wort thing = Versammlung gleichgesetzt und fernerhin mithilfe eines anderen Begriffs elaboriert, nämlich: »das Geviert«. Und um es vorweg zu nehmen, dieses »Geviert« ist es eben, das durch das Wohnen »geschont« wird. Das Wort »Ding« verwendet Heidegger im strengen Unterschied oder sogar im Gegensatz zum »Gegenstand« und dem »Objekt« im neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Denken einerseits, zur juridischen »Sache« im Sinne von Streitfall usw. andererseits. Als prominentes Beispiel einer Rede vom »Ding« zieht er den Krug heran. Wenn man die anthropologische Bedeutsamkeit dieses Werkzeugs und dessen Hersteller, den Töpfer, in Betracht zieht, scheint diese Wahl nicht zwingend zu sein. 4 | Der Widerhall dieses Textes auf Lacan ist in dessen Antigone-Seminar am deutlichsten (vgl. Lacan 1996: 56-105). 5 | Vgl. Heidegger: »Das Wort« (Heidegger 1959: 217-238; zu »Bedingnis«: 233 et passim). 6 | Vgl. Heidegger 2003: 1-74; zu Ding und Werk vgl. ebd.: 5-25.
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Aber Heideggers Argumentationen lassen die historisch- oder anthropologisch-positivistische Verfahrensweise hinter sich. Hier soll erst einmal ohne Hinterfragen der Gang seiner Erklärung nachbuchstabiert werden. Der Krug ist ein Gefäß und zugleich eine Leere. Er sammelt das Getränk und behält es eben in seiner Leere, um es sodann auszugießen. Genau wie im Brunnen weilt im Guss des Getränkes die Hochzeit von Himmel und Erde. Der Guss wird den Sterblichen geschenkt, um den Durst zu laben und die Muße zu erquicken. Der Guss wird auch zur Weihe geschenkt. Dann ist er »der den unsterblichen Göttern gespendete Trank«. Der Guss ist Spende und Opfer. »Im Geschenk des Gusses weilen zumal Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen. Diese Vier gehören, von sich her einig, zusammen. Sie sind, allen Anwesenden zuvorkommend, in ein einziges Geviert eingefaltet. / Im Geschenk des Gusses weilt die Einfalt der Vier« (Heidegger 2000: 175). Das Ding ist es eben, das dieses Geviert in seiner Einfalt ereignen lässt. Es ist die Versammlung der genannten Vier. Die entsprechende Stelle in »Bauen Wohnen Denken« heißt dann: »Doch ›auf der Erde‹ heißt schon ›unter dem Himmel‹. Beides meint mit ›Bleiben vor dem Göttlichen‹ und schließt ein ›gehörend in das Miteinander der Menschen‹. Aus einer ursprünglichen Einheit gehören die Vier: Erde und Himmel, die Göttlichen und die Sterblichen in eins« (ebd.: 151). Die Menschen wohnen in der Nähe vom Ding und in diesem Geviert, das das Ding um sich versammelt, oder heideggerianisch genauer: Indem die Menschen in der Nähe vom Ding wohnen, sind sie mit in diesem Geviert. Nur scheinen die sterblichen Menschen zur Erde in einer besonders engen Beziehung zu stehen, wenn sie wohnen. Sagt Heidegger doch, dass die »Sterblichen wohnen, insofern sie die Erde retten, [...] den Himmel empfangen, [...] die Göttlichen erwarten [...] [und] den Tod geleiten« (ebd.: 152f.). Allein zur Erde scheinen die Menschen im aktiveren Verhältnis zu stehen als zu den anderen Dreien. Die Menschen »retten« nämlich die Erde. Aber das Retten hier bedeutet weder nur aktive noch nur passive Tätigkeit. »Retten« ist hier kein Eingreifen, um etwas aus dem gefährlichen Zustand zu reißen. Auch warnt Heidegger im Voraus davor, das Retten der Erde mit dem Beherrschen der Erde oder deren Ausnutzen im Namen der Fortentwicklung zu verwechseln. Im »Retten« lässt Heidegger wiederum eine alte, bis Lessing noch lebendige Bedeutung mitklingen, d. h. »etwas in sein eigenes Wesen freilassen« (ebd.: 152). Die Affinität dieser alten Bedeutung des »Rettens« mit der ebenfalls alten Bedeutung
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von »Schonen«: »etwas in sein eigenes Wesen zurückbergen« (ebd.: 151) ist offensichtlich, obwohl beim »Schonen« vom passiven Wortsinn die (einigermaßen) aktive Urbedeutung ausgegraben wird, während es sich beim »Retten« umgekehrt verhält. Immerhin ist das Verhältnis zwischen der Erde und den sterblichen Menschen ein besonders enges, da die Menschen nur die Erde unmittelbar bearbeiten können, indem sie darauf wohnen und etwas bauen. Ob das Geviert geschont wird, hängt vor allem davon ab, ob und wie die Menschen die Erde retten. Die »Rettung« der Erde ist die Aufgabe der Menschen. Dies unternehmen die Menschen durch das Bauen, jedoch nicht nur im Sinne von »Bestellen«, sondern auch dadurch, dass sie Dinge herstellen, um in der Nähe von denselben zu bleiben. Dinge herstellen heißt ja, die Erde eröffnen. So sind wir über die Begriffe »Nähe«, »Ding« und »Geviert« wiederum auf »Bauen« zurückgebracht. Bauen heißt »Bauten errichten« einerseits, »Erde pflegen und hegen« andererseits. Das Wort »Bauen« bedeutet zweifach: Herstellen und Bestellen. Allerdings verwendet man das Wort alltäglich je nach dem Kontext getrennt derart, dass wir mal Häuser bauen und mal Acker bauen, ohne sich daran zu erinnern, dass die beiden Bedeutungen eigentlich voneinander untrennbar waren. Ursprünglich betrachtet bezeichnen Bauen als Herstellen und Bauen als Bestellen ein und dieselbe Seinsart des Menschen. In jedem Falle bauen die Menschen »Dinge«, die weder Gegenstände der Ausnutzung oder des Konsums noch Objekte der modernen naturwissenschaftlichen Beobachtung sind, sondern sich durch die Eröffnung der Erde »entbergen«.7 Hierin findet man eine kleine Änderung von Heideggers Gedanken im »Ursprung des Kunstwerks« über poiesis, was Heidegger eigentümlich mit »Hervorbringen« übersetzt, trotz der verbreiteteren deutschen Übersetzung des Wortes mit »Herstellen«. Das Pflegen und Hegen der Erde, das kein Werk, zumindest kein Kunstwerk, hervorbringt und insofern 7 | Nach Heideggers Vortrag aus dem Jahre 1953 »Die Frage nach der Technik« (Heidegger 2000: 7-36) ist »Entbergen« eben das »Wesen der Technik« als Gestell, weshalb Technik = poiesis nicht bloß mit »Herstellen« gleichzusetzen ist, sondern auch mit »Hervorbringen«, das nicht nur das Entstehen und Bestehen des Hergestellten umfasst, sondern auch dessen Verstellen und Entstellen. Selbst die Destruktion der Bauten soll demnach ein durchaus ontologischer Prozess heißen. Über den Begriff »Entbergen« als Wesen der Technik vgl. Heidegger 2000: 13ff.
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kein poiesis ist, wird nun durch den auf seine Grundbedeutung gebrachten Begriff des Bauens im selben Kontext wie des Errichtens bzw. des Herstellens gebracht. Die frühere Auffassung des Kunstwerks, dass in ihm der Streit zwischen der sich schließenden Erde und der sich öffnenden Welt sich ereigne usw., scheint im Vortrag »Bauen Wohnen Denken« in aller Ruhe relativiert worden zu sein. Denn die Innigkeit zwischen der Erde und der Welt entsteht nicht nur durch den inständigen (heideggerianisch!) Streit des Kunstwerks, sondern auch durch das bestellende Bauen, nämlich durch Pflegen und Hegen. Oder heißt das vielmehr, dass selbst Bauen als Pflegen und Hegen in die Innigkeit des Streits alias Hervorbringens mitsamt mobilisiert werden muss, damit Hegen und Pflegen auch die Selbstbehauptung der Bauenden gegen die Verschlossenheit der Erde und für die Eröffnung der Welt darstelle? Darauf eindeutig zu antworten, wird uns noch schwerfallen. Auf den Punkt gebracht: Indem die Menschen Dinge bauen, retten sie die Erde, und indem sie Dinge bauen, schonen sie das Geviert. Und dieser ganze Prozess heißt Wohnen. Aber wenn diese ursprüngliche Zusammengehörigkeit aus dem Gedächtnis verloren geht, wird das Wort »Wohnen« auch nur verengt und verarmt dahingehend verstanden, dass es etwa nur »sich aufhalten« oder »für einen gewissen Zeitraum untergebracht sein« bedeute. Daraus folgt, dass Bauen und Wohnen sowohl sprachlich als auch praktisch auseinandergehen, und dass das »Menschsein« als Sinn des Wohnens eben dem Menschen entgeht. Der Mensch ist nun außerstande zu bauen und zu wohnen. Wer nicht in seinem Wesen geborgen ist, der wohnt nicht, wenn er auch eine Wohnung besäße und sich unbelastet und bequem darin befände. Wer sein Wesen nicht kennt oder verkennt, wer dieses Wesen mit einem anderen verwechselt und Unwesen treibt, dem ist das Wohnen auch versagt. Bloß unter Obdach geschützt kann man nicht hinreichend wohnen. Da müssen wir uns, zumindest manche von uns, wovon ich mich nicht ausschließe, beinahe verzweifelt fühlen, als seien wir in Wirklichkeit Landstreicher, als sei unsere vermeintliche Wohnung bloß einfach transitorisches Asyl. Die zweite Frage des Vortrags heißt: Inwiefern gehört das Bauen in das Wohnen? Hierfür nennt Heidegger zwei recht bedeutsame Beispiele des Bauens: die Brücke und den Schwarzwälder Bauernhof. Diese Reihenfolge ist entscheidend. Die Brücke hat bei ihm als das »Baute« den primären Status. Denn mit der Brücke beginnt der Ort.
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Dies klingt etwas seltsam, da eine Brücke nach dem allgemeinen Verständnis dasjenige ist, das zwischen den Orten verbindet und den Verkehr ermöglicht. Aber Heidegger sieht es umgekehrt. »Die Brücke ist freilich ein Ding eigener Art; denn sie versammelt das Geviert in der Weise, daß sie ihm eine Stätte verstattet. Aber nur solches, was selber ein Ort ist, kann eine Stätte einräumen. Der Ort ist nicht schon vor der Brücke vorhanden. Zwar gibt es, bevor die Brücke steht, den Strom entlang viele Stellen, die durch etwas besetzt werden können. Eine unter ihnen ergibt sich als ein Ort und zwar durch die Brücke. So kommt denn die Brücke nicht erst an einen Ort hin zu stehen, sondern von der Brücke selbst her entsteht erst ein Ort. Sie ist ein Ding, versammelt das Geviert, versammelt jedoch in der Weise, daß sie dem Geviert eine Stätte verstattet. Aus dieser Stätte bestimmen sich Plätze und Wege, durch die ein Raum eingeräumt wird« (Heidegger 2000: 156).
Heideggers »Raum« ist keine bereits von den Artgleichen bewohnte, etwa durch die Einzäunungen Fremde ausschließende Einheit wie das Gebiet. Der Raum entsteht vielmehr durch die Brücke, und zwar dadurch, dass er stets Vielfältiges einlässt und diesem eine Stätte einräumt. Durch das Einräumen, das die Brücke zustande bringt, entsteht erst der Raum, das »Freigegebene«. Er fährt fort: »Die Grenze ist nicht das, wobei etwas aufhört, sondern, wie die Griechen es erkannten, die Grenze ist jenes, von woher etwas sein Wesen beginnt« (ebd.). Die Grenze ist demnach keine Mauer, die mit Gewalt zwischen zwei Gebieten trennt, sodass von dort ab etwas aufhört zu existieren, sondern sozusagen der Ein- oder Durchgang, der Innen und Außen verbindet, damit etwas gleichermaßen von dort ab seine wesensgemäße Existenz beginnen kann. Brücke ist hierin das prominente Ding, weil durch sie erst die Versammlung möglich wird, wobei sich nicht nur die Menschen als die Sterblichen versammeln, sondern auch die anderen Drei. In der Nähe von der Brücke als dem Ding und sie schonend wohnen also die Menschen. Dieses Ding nennt Heidegger »Baute«. Bei der Beschreibung der Brücke verwendet Heidegger dreimal Wortformen von »überschwingen«: »Die Brücke überschwingt bald in hohen, bald in flachen Bogen Fluß und Schlucht; ob die Sterblichen das Überschwingende der Brückenbahn in der Acht behalten oder vergessen, daß sie, immer schon unterwegs zur letzten Brücke, im Grunde danach trachten, ihr Gewöhnliches und Unheiles zu übersteigen, um sich vor das
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Heile des Göttlichen zu bringen. Die Brücke sammelt als der überschwingende Übergang vor die Göttlichen« (ebd.: 155, Hervorh. v. K. O.).
Adelung kennt dieses Wort noch nicht. In Grimm gibt es nur zwei Belege der untrennbaren Form, von denen das eine aus Hölderlins Germanien (ca. 1801) stammt, und das andere, das vermeintlich bei Gutzkow steht, in Wirklichkeit aber aus Franz Gaudys Mein Römerzug (1836) stammt. Unter den modernen Wörterbüchern gibt es im Duden keinen Eintrag, auf dem IDS Suchportal OWID nur vereinzelte Belege. Ich bin zwar nicht tiefer in die Wortgeschichte eingedrungen, aber nach Googles NGram Viewer ist es anscheinend ein ziemlich selten benutztes Wort mit ganz winzigen Aufschwüngen der Frequenz gegen 1820 und gegen 1960,8 wiewohl die Bedeutung selbst keine besondere ist.9 Es liegt also die Vermutung nahe, dass Heidegger dieses Wort Hölderlins Germanien entnommen hat, worüber er zusammen mit Der Rhein im Wintersemester 1934/35 an der Universität Freiburg gelesen hat.10 »Überschwingen. über etwas hin oder hinaus fliegen: Und der Adler, der vom Indus kömmt, Und über des Parnassos Beschneite Gipfel fliegt, hoch über den Opferhügeln Italias, und frohe Beute sucht Dem Vater, nicht wie sonst, geübter im Fluge Der Alte, jauchzend überschwingt er Zuletzt die Alpen und sieht die vielgearteten Länder. (Friedrich Hölderlin: Germanien)« (Grimm/Grimm 1854-1961, Unterstreichung v. K. O.).11 8 | ›ht tps://books.google.com/ngrams/graph?content=überschwingen&year_star t=1800&year_end=2000&corpus=20&smoothing=1&share=&direct _ url=t1%3B%2Cüberschwingen%3B%2Cc0‹ (Zugriff am 11. 3. 2018). 9 | Das Wort bezeichnet sonst als terminus technicus im Bereich der Elektrotechnik die sprunghaften Werte, die bei der Signalverarbeitung vorkommen. 10 | In der Vorlesung stellt Heidegger Hölderlin als Dichter der »Heraklitischen« Polarität dar, die scheinbare Gegensätze subsumiert, ohne diese in eins aufzulösen (vgl. Heidegger 1980: 9-151, zu Heraklit: 113-137). 11 | › ht tp://woer terbuchnet z.de/cgi-bin/WBNet z/wbgui_py?sigle=DWB&mo de=Gliederung&lemid=GU01787#XGU01787‹ (Zugriff am 11. 3. 2018), Artikel »überschwingen«. Zu Beleg vgl. Hölderlin 1970: 150.
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Der jauchzende Adler überschwingt so endlich die Alpen und bringt der Priesterin Germania, deren stille Beständigkeit er aus der Höhe erkennt, die göttliche Botschaft usw. Eine Darstellung dessen, dass die überschwingende Brücke die Sterblichen versammelnd vor die Göttlichen führe, findet sich auch in diesem Gedicht. Die Vision des Gedichts, dass von Grabesflammen im längst ausgestorbenen Land ein goldener Rauch emporsteigt, welcher zur Wiedergeburt des alten Geists (der Griechen) das entfernte Land der Germania weiht, klingt angesichts des Datums jedoch etwas heikel. Gewiss nimmt Heidegger im Jahre 1950 diese Vision nicht freimütig, sondern nur anspielend auf, aber eins steht doch fest, nämlich: dass trotz des stillen andächtigen Tons sein Grundgedanke über poiesis seit den 30er Jahren auch nach dem Krieg und der Niederlage unverändert geblieben ist. Heideggers Brücke ist nach wie vor dieser »Adler«. »Entflohene Götter! auch ihr, ihr gegenwärtigen, damals Wahrhaftiger, ihr hattet eure Zeiten! Nichts leugnen will ich hier und nichts erbitten. Denn wenn es aus ist, und der Tag erloschen, Wohl triffts den Priester erst, doch liebend folgt Der Tempel und das Bild ihm auch und seine Sitte Zum dunkeln Land und keines mag noch scheinen. Nur als von Grabesflammen, ziehet dann Ein goldner Rauch, die Sage, drob hinüber, Und dämmert jetzt uns Zweifelnden um das Haupt, Und keiner weiß, wie ihm geschieht. Er fühlt Die Schatten derer, so gewesen sind, Die Alten, so die Erde neubesuchen. Denn die da kommen sollen, drängen uns, Und länger säumt von Göttermenschen Die heilige Schar nicht mehr im blauen Himmel« (Hölderlin 1970: 149).
Das notwendige »Bauen«, das der »goldne Rauch« »von Grabesflammen« anweist, ist die Hervorbringung der Brücke, die den überschwingenden göttlichen Boten in Gestalt des Adlers aus der fernsten Ferne empfängt, indem sie die Flüsse und Täler ebenfalls überschwingt. So versammelt die Brücke als Ding das Geviert und schafft den Raum.
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Um Heidegger volle Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, muss man doch eins hinzufügen: Es ist und bleibt großartig bei ihm, dass in seinem Gedanken über Bauen und damit Wohnen, in dem die Brücke den primären Status hat, die Mauer die geringste Rolle spielt, während die meisten architektonischen Theorien immer zuerst von Umgeben, Einoder Zumauern sprechen oder von der Unterscheidung von Außen und Innen. Im Passus über den Schwarzwälder Bauernhof kommt die Mauer gar nicht vor. Es ist, als wäre der Bauernhof auch eine Brücke.12 12 | Brücke bauen und einräumen oder Mauer bauen – auf den politischen Diskurs von »Reich oder souveräner Staat« kann man dies transkribieren. In der Tat ist die Reichsidee in den 1930er Jahren der »klassizistischen« politischen Kategorie des Staatsgedankens entgegentretend als hegemonistische Ideologie wieder aufgestiegen. In seinem Begriff des Politischen versuchte Carl Schmitt noch, die Reichsidee dem westfälisch-klassischen Staatsgedanken zu subsumieren: »Was ist das Klassische an einem solchen Modell einer nach innen geschlossen befriedeten, nach außen geschlossen als Souverän gegenüber Souveränen auftretenden politischen Einheit? Das Klassische ist die Möglichkeit eindeutiger, klarer Unterscheidungen. Innen und außen, Krieg und Frieden, während des Kriegs Militär und Zivil, Neutralität oder Nicht-Neutralität, alles das ist erkennbar getrennt und wird nicht absichtlich verwischt. Auch im Kriege haben alle auf beiden Seiten ihren klaren Status. Auch der Feind ist im Krieg des zwischenstaatlichen Völkerrechts als souveräner Staat auf gleicher Ebene anerkannt. […] Der Krieg kann begrenzt und mit völkerrechtlichen Hegungen umgeben werden. […] / Die Hegung und klare Begrenzung des Krieges enthält eine Relativierung der Feindschaft. Jede solche Relativierung ist ein großer Fortschritt im Sinne der Humanität« (Schmitt 1963: 11). Von dieser klassischen Idee von Hegung und Begrenzung des Kriegs und damit des Staats hat sich Schmitt zur neuen Idee der Großraumordnung bekehrt, die den politischen Status Deutschlands zwischen den westlich-demokratischen Mächten und Sowjet-Russland legitimieren soll, wonach zugleich der Krieg weder zu begrenzen noch zu hegen mehr ist. Den eigentlich hegemonistischen Großraumbegriff sollte man jedoch als die Ausgeburt des aus den Fugen geratenen Staatsgedankens betrachten, welche mit der Reichsidee nicht zu verwechseln ist, die traditionell einen losen Zusammenschluss der politischen Mächte darstellt, wiewohl sie Schmitt missbräuchlich mit dem Großraum kontaminieren wollte. Hingegen bezeichnet Heideggers Bauen der Brücke gleichsam das metabolische System von Ein- und Ausräumen oder von Empfangen und Absenden, das mit dem Reich verwandt ist. Die scheinbare »politische« Nähe der beiden
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Der Verfallsprozess von Bauen und Wohnen hat jedenfalls eine lange Geschichte, die nicht einmal mit der Moderne angefangen hat, geschweige denn mit der Kriegsniederlage. Dass sich Heideggers Überlegung immer wieder an Etymologie anlehnt, ist auch der Beweis dafür, dass sich die menschliche Fähigkeit zu bauen und zu wohnen sehr früh und Epoche um Epoche immer mehr abgeschwächt hat. Durch die Zerstörung und Niederlage entstand gewiss die Wohnungsnot, die allein durch Neubau und womöglich Wiederauf bau zu bekämpfen war. Aber »[d]ie eigentliche Wohnungsnot ist auch älter als die Weltkriege und die Zerstörungen, älter auch denn das Ansteigen der Bevölkerungszahl auf der Erde und die Lage des Industrie-Arbeiters« (Heidegger 2000: 163). Sie ist nämlich so alt wie die »Seinsvergessenheit«. Nur oberflächlich zeitgemäß war Heideggers Fragestellung insofern, als in Deutschland um 1950 gerade das allgemeine Interesse am »Bauen« oder »Wohnen« als Existenzbedingung der ganzen Bevölkerung enorm gewesen war. Vielmehr erkannte Heidegger in dieser Not und Armut die Notwendigkeit des gründlichen Rückgriffs auf die »eigentliche Not«, in welcher die sterblichen Menschen eben erst zu lernen imstande seien, was »Bauen« und »Wohnen« heiße. Denn mit der allgemeinen Zerstörung der Bauten und damit der Wohnungen wurden auch die geschichtlichen Strata der Vergessenheit weitgehend destruiert. Es soll sich da aus der Ruine der ursprüngliche Sinn des Bauens und des Wohnens »entbergen«, damit die Zeitgenossen, Heidegger und Schmitt, sollte man nicht überschätzen. Jedenfalls überlebt der Großraum-Gedanke selbst die Nazi-Herrschaft lange nach deren Zusammenbruch und besitzt heute noch eine geopolitische Bedeutung unter den jeweiligen Weltmächten, während von der Reichsidee gar nicht mehr die Rede ist. Es erwies sich also, dass Schmitt ein ganz präziser, allerdings mitlaufender Beobachter der Veränderung oder Verwahrlosung des nicht länger zu pflegenden und zu hegenden Politischen war, genauso wie Heidegger aus dem ontologischen Gesichtspunkt den Verlust des Hegens und Pflegens in der einseitigen Erweiterung des Raums und der Überwindung der Ferne alias Globalisierung avant la lettre als bedenklichste »Seinsvergessenheit« dargestellt hat. Die Reichsidee ist vielleicht in Niklas Luhmanns »System« übernommen und »gerettet«, dessen Grundfunktion von oszillierender Inklusion/Exklusion eben die der Brücke ist. Diese Vermutung entspricht auch Luhmanns familiärer sowie akademischer Herkunft, die tief in der »alteuropäischen« ständischen Ordnung verwurzelt ist – dies nur beiläufig und unterwegs zum Wohnen gesagt...
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Menschen demgemäß zu bauen und zu wohnen anfangen können. Diese Notwendigkeit wurde allerdings natürlich verkannt. Mit dem Misslingen der philosophischen Sinnstiftung aus der Ruine kann sich jedoch für sie die Chance eröffnen, der »philosophischen Kritik« zu begegnen, die sich als »das Wissen« in die Ruine schon seit Anfang jedes Kunstwerks angesiedelt hat. »Was dauert, ist das seltsame Detail der allegorischen Verweisungen: ein Gegenstand des Wissens, der in den durchdachten Trümmerbauten nistet. Kritik ist Mortifikation der Werke. Dem kommt das Wesen dieser mehr als jeder andern Produktion entgegen. Mortifikation der Werke: nicht also – romantisch – Erweckung des Bewußtseins in den lebendigen, sondern Ansiedlung des Wissens, in ihnen, den abgestorbenen. Schönheit, die dauert, ist ein Gegenstand des Wissens. Und ist es fraglich, ob die Schönheit, welche dauert, so noch heißen dürfe, – fest steht, daß ohne Wissenswürdiges im Innern es kein Schönes gibt. Die Philosophie darf nicht versuchen, es abzustreiten, daß sie das Schöne der Werke wieder erweckt. [...] Es ist der Gegenstand der philosophischen Kritik zu erweisen, daß die Funktion der Kunstform eben dies ist: historische Sachgehalte, wie sie jedem bedeutenden Werk zugrunde liegen, zu philosophischen Wahrheitsgehalten zu machen. Diese Umbildung der Sachgehalte zum Wahrheitsgehalt macht den Verfall der Wirkung in dem von Jahrzehnt zu Jahrzehnt das Ansprechende der früheren Reize sich mindert, zum Grund einer Neugeburt, in welcher alle ephemere Schönheit vollends dahinfällt und das Werk als Ruine sich behauptet. Im allegorischen Aufbau des barocken Trauerspiels zeichnen solch trümmerhafte Formen des geretteten Kunstwerks von jeher deutlich sich ab« (Benjamin 1974: 357f.).
Das Wissen hat nur in der Ruine Stätte. Die Ruine kennt keine Unterscheidung zwischen Außen und Innen, zwischen Diesseits und Jenseits oder zwischen Einräumen und Ausräumen. In ihr greifen sie alle ineinander. Jedoch wissen die Menschen alle, dass die Ruine auch ein Ding, zumindest ein gewesenes Ding, ist, das nun götter- und menschenlos auf der nicht mehr zu rettenden Erde gegen den Himmel hin bloßliegt. Entviert, sozusagen. Außerdem stellt die Ruine genauso einen Übergang dar wie die Brücke. Allein die Ruine überschwingt nichts und nirgends. Das Sich-Behaupten der Ruine ist ihre absolute Offenheit gegenüber dem Wissen, das sich in ihr ansiedelt und allegorische Gegenstände eins ums andere ganz behutsam, d. h. schonend, prüft. Das ist auch ein anderes, schonendes Wohnen, das allerdings nur das Wissen vermag. Aber wenn
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der Mensch mit einem Tief blick baut und wohnt, durchschaut er den Wahrheitsgehalt der Dinge, wie es auch lebendig erscheint. Dies ist kein böser Blick eines Melancholikers, sondern selber ein rettender Blick. Das allegorische Wissen »rettet« die gebrochenen Dinge auch zweifach: Es reißt sie aus ihrer Leblosigkeit und birgt sie in ihr neues Leben zurück, das sie in einer unerwarteten Konstruktion neu führen würden. So gibt die Ruine auch den Menschen Hinweise über das Wechselspiel von Einräumen und Ausräumen, und zwar derart, dass kein Einräumen endgültiges Einschließen bedeutet, genauso wie kein Ausräumen endgültiges Ausschließen. Aus der Ruine wird nämlich die Brücke, die die Schlucht zwischen den Zeiträumen hin und zurück überschwingend sich immer umbaut. Wohnen heißt, von solch kritischem Blick betrachtet, zeitweiliges Suspendiertsein von diesem Wechselspiel. Auf der Brücke verweilen – als das Bild der modernen Raum- und Wohnerfahrungen scheint diese Brücke wirklichkeitsnäher zu sein. Zuletzt ein Wort zur Kulturkomparatistik. Yasuda Yojūrō, der führende Theoretiker der sogenannten Japanischen Romantik in den 1930er Jahren, hat es in seinem damals viel gelesenen Buch Brücke in Japan aus dem Jahre 1931 ungefähr so gefasst: Die europäische Brücke ist letztendlich die Fortsetzung des prunkhaften Palastes, die die Herrschaft und Macht überallhin ausstrahlt, während die japanische Brücke ganz schwächlich nur dazu geschlagen ist, um schließlich verfault und verschwindend zurück in die Natur zu sinken. Bei der japanischen Brücke gibt es prinzipiell nur den Hinweg. Wer darüber geht, geht für immer weg – so hat japanische Dichtung die Brücke dargestellt. Yasuda geht so weit zu behaupten, dass japanische Dichtungen, welche die Gebrechlichkeit und die Armut der den Naturgewalten ausgesetzten Menschen darstellen, keine Kunst in westlichem Sinne sind, sondern die Begleitstimme des Gemütes, dessen Grundstimmung »Trauer« ist, die alle menschlichen Errungenschaften, sei es ein noch so wertvolles Kunstwerk, letztendlich erodiert (vgl. Yasuda 2001: 40ff.). Interessant ist, dass Yasuda dabei auch die Liebesmetaphorik der japanischen Brücke mitberücksichtigt. Es gibt nämlich keine Begegnung, es sei denn nur eine verfehlte. Umso eifriger schlägt man die Brücke, die einen statt zur Geliebten ins Jenseits führt. Dies klingt sehr lacanianisch. »Wenn ich in der Liebe einen Blick verlange, so ist es zutiefst unbefriedigend und ein immer schon Verfehltes, daß – Du mich nie da erblickst,
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wo ich Dich sehe. Umgekehrt ist das, was ich erblicke, nie das, was ich sehen will« (Lacan 1987: 109). Die verfehlte Begegnung wäre das Geheimnis der Produktivität sowohl der Liebe als auch der Raumerfahrung, die die Brücke bringt.
L iter aturverzeichnis Benjamin, Walter (1974): Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Ders.: Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser. Bd. I, Frankfurt a. M., S. 203-430. Grimm, Jacob/Wilhelm Grimm (1854-1961): Deutsches Wörterbuch. 16 Bde. in 32 Teilbänden, Leipzig. Heidegger, Martin (1959): Unterwegs zur Sprache, Pfullingen. Heidegger, Martin (1980): Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesungen 1923-1944. Bd. 39, Hölderlins Hymnen Germanien und Der Rhein, Frankfurt a. M. Heidegger, Martin (2000): Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Bd. 7, Vorträge und Aufsätze, Frankfurt a. M. Heidegger, Martin (2003): Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976. Bd. 5, Holzwege, Frankfurt a. M. Hilpert, Thilo (Hg.) (1984): Le Corbusiers Charta von Athen: Texte und Dokumente. Kritische Neuausgabe, Wiesbaden. Hölderlin, Friedrich (1970): Sämtliche Werke. Stuttgarter Ausgabe, hg. v. Friedrich Beißner. Bd. 2, Hälfte 1: Gedichte nach 1800/Text, Stuttgart. Lacan, Jacques (1986): Schriften. Bd. II, aus dem Französischen v. Chantal Creusot, Norbert Haas u. Samuel M. Weber, Weinheim/Berlin. Lacan, Jacques (1987): Das Seminar Buch XI. Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, aus dem Französischen v. Nobert Haas, Weinheim/Berlin. Lacan, Jacques (1996): Das Seminar Buch VII. Die Ethik der Psychoanalyse. Textherstellung durch Jacques-Alain Miller, aus dem Französischen v. Norbert Haas, Weinheim/Berlin. Schade, Oskar (1866): Altdeutsches Wörterbuch, Halle. Schmitt, Carl (1963): Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin. Yasuda, Yojūrō (2001): »Nihon no hashi«, in: Yasuda Yojūrō bunko. Bd. 1. Nihon no hashi, Kyōto, S. 27-68.
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1. W eg als Z iel Eine der nicht unbedeutendsten Einsichten der Kulturwissenschaften hat deutlich gemacht, dass Raum und Zeit in sozialen Handlungszusammenhängen nichts mit physikalischen Kriterien der Objektivität zu tun haben, sondern historisch schwankende Vorstellungen darstellen, die der Relativität von kulturellen Praktiken folgen. Schon Kants erkenntniskritische Wende hatte auf den subjektiven Status der Anschauungsformen von Raum und Zeit verwiesen, bezögen sie sich doch auf Vorstellungen der menschlichen Sinne und nicht auf Eigenschaften der Dinge an sich. Allerdings war für Kant dieser subjektive Sinnesapparat, den er im aristotelischen und damit vor-kunsttheoretischen Sinne als Ästhetik bezeichnete, noch eine anthropologische Konstante. Zur Sensibilisierung für die kulturellen Differenzen von Raum- und Zeitvorstellungen führte erst eine weitere erkenntniskritische Wende, der nämlich fast zeitgleich mit Kant von Hamann, Herder und schließlich Wilhelm von Humboldt vollzogene linguistic turn zur Sprache als Leitmedium eines Weltverständnisses, der mit der nationalen Unterschiedlichkeit der Idiome auch eine Unterschiedlichkeit der Sinnwelten entdeckte. Vor dem Hintergrund dieser Etablierung der Sprache als soziale, Gemeinschaft bildende politische Kraft, versteht sich dann auch die radikale Kritik eines Henri Lefebvre, dass es den Raum nicht gebe, dass er vielmehr in seiner physischen Vorausgesetztheit nur in der nachträglichen Bedeutung des Politischen als soziale Produktion des Raumes durch die soziale Gemeinschaft der Polis hervorgebracht werde. Unerachtet der Frage, ob es einen Raum jenseits der Vorstellung gibt, zeigt schon das geschichtliche Beispiel der Antike,
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dass er erst mit der Raumpraxis der genau genommen städtischen Politik Bedeutung erlangt: »Die antike Polis lässt sich nicht als eine Ansammlung von Menschen und Dingen im Raum verstehen; sie läßt sich ebenso wenig von einer bestimmten Anzahl von Texten und Reden über den Raum her begreifen [...]. Die Polis hat ihre Raumpraxis; sie hat ihren eigenen Raum geschaffen, d. h. ihn angeeignet« (Lefebvre 2006 [1974]: 331). In diesem Sinne hat die japanische Kultur der Ästhetik – wenn es denn überhaupt so etwas wie eine japanische Ästhetik im griechischen Wortsinne von aisthesis gibt – eine Raumpraxis entwickelt, die die Entfaltung ihrer Grundbegriffe zugleich mit denen von Zeitlichkeit an das Bild vom Weg knüpft. Am berühmtesten ist sicherlich der Teeweg (chadō), aber auch andere Kunstpraktiken bedienen sich dieser Metaphorik. Die Idee vom Kunstweg (geidōron) zeigt eine ganz spezifische Orientierung der Kunst an der raum-zeitlichen Handlung, an der wegbahnenden Praxis, die Raum nicht als objektive Gegebenheit voraussetzt, sondern kulturelle Räume auch in zeitlicher Dimension durch die Bewegung als Verfolgen eines Wegs hervorbringt. Der ansonsten gern west-östliche Affinitäten suchende Philosoph Ōhashi Ryōsuke betont die Einmaligkeit dieser Idee »des Wegs (michi, chinesisch: tao), der die Norm und Anweisung des Lebens selbst bedeutet« (Ōhashi 1998: 149). Damit ist schon ein erster Hinweis gegeben: das Leben, aber weniger im abendländischen Sinne von bios (Biologie, Biografie), als vielmehr im Sinne von Sein oder vielmehr Seinzeit – auch im buddhistischen Sinne des uji bei Dōgen (vgl. Dōgen 2006: 104). Kunst wird nicht substanziell, sondern territorial-lokal gedacht, als Ausführen oder Abschreiten – wie in der Haiku-Dichtung das programmatische Reisetagebuch Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland (Oku no hosomichi) Bashōs. Dabei dienten die Räume der Kunst-Wege einer künstlerischen und spirituellen Übung gleichermaßen: »Im Wort ›Weg‹ klingt es an: Ein Weg will beschritten werden, aber er muß gleichzeitig vom einzelnen Menschen gestaltet werden. Dies ist nur durch strenge Selbstschulung möglich. Der ›Weg‹ wird somit zu einem Mittel der Selbstfindung und der Verwandlung des Selbst« (Ehmke 1991: 79). Aus westlicher Sicht erscheint diese Weglichkeit zunächst fremd, auch wenn gerade die griechische Tradition im Begriff der Methode schon das Moment des Weges, meta odos, im Sinne der Ausrichtung, des Verfolgens, impliziert hat. Gemeint ist eine Suche, die aber sogleich auf ein fixes, präexistentes und nur noch zu »entdeckendes« Ziel ausgerichtet ist, d. h. im Gegensatz zu den negativen Vorstellungen des Umherschweifens
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(in der doxa) und der Weglosigkeit (aporia) steht. Und der Gedanke einer Entstehung von Kunst durch das Verfolgen eines Wegs ist dem Abendland – außer in der pädagogischen Dimension eines Erlernens von künstlerischen Fähigkeiten etwa seit der Bauhüttentradition – nicht gekommen; jedenfalls nicht vor der modernen Erscheinung einer performative art, deren Ausdruck im Ereignis selbst wurzelt. Klassisch geht die okzidentale Kunstauffassung ebenfalls von Substanziellem aus (wie dem Schönen oder dem Erhabenen), das in seiner ontologischen Gegründetheit darüber entscheidet, was ästhetisch wertvoll oder wertlos ist. Der methodologische Weg – auch im mittelalterlichen Sinne des Ausbildungsweges (trivium/quadrivium) – ist orientiert an einem Jenseits (auch in der transzendentalen Wende der Ästhetik Kants, die dieses Jenseits nur in die Immanenz des subjektiven Geschmacksurteils verlegt), was – so die Ausgangsthese dieser Überlegungen – dem östlichen Modell des Wegs fremd ist. Zwei gegensätzliche Modelle westöstlicher Provenienz stehen also einander gegenüber: der Weg zu einem apriorischen Zentrum, der als Weg nur »Mittel zum Zweck« ist, und der Weg als »Hervorbringung des Ziels«, bei dem im Sinne von McLuhans Diktum »the medium is the message«, d. h. bei dem erst im Vollzug des Unterwegs-Seins Sinn entsteht. Oder wie Hans-Georg Gadamer einmal über die Philosophie Heideggers verlauten ließ: »Nur wer mitgeht, weiß, daß es ein Weg ist« (Gadamer 1974). Martin Heidegger war in der Tat derjenige, der am weitesten gegangen und vom klassischen Weg der abendländischen Metaphysik abgewichen war, indem er der Metaphorik des Wegs, des Unterwegs, der räumlichen Bewegung einen bedeutenden Platz in seinem Denken eingeräumt hat. In ihm bzw. in seinen Denkfiguren des Ortes, des Statthabens und Schreitens hat der spatial oder topological turn seinen eigentlichen, verborgenen Ursprung. Für Heidegger geht alles aus von Wegen, Holzwegen, Linien und Grenzen, die auch nur wieder Linien sind, die es zu überschreiten gilt. Anders als bei Walter Benjamin lebt der Gesichtspunkt des Unterwegs bei ihm nicht von der Vorstellung der Passage des Flaneurs in der Stadt, sondern von der des Feld- und Waldgängers auf Holzwegen und nicht auf Asphaltstraßen.1 Aber folgt man der von Elisabeth Roudinesco überlieferten Anekdote über das Ehepaar Heidegger 1955 im Auto Jacques 1 | Leider hat Jacques Derrida diesen Gegensatz in seiner Kontroverse von Heideggers Interpretation der Holzschuhe Van Goghs als »Bauernschuhe« mit der
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Lacans, der mit wachsender Geschwindigkeit zu einem Besuch der Cathedrale von Chartres raste (vgl. Roudinesco 1996: 331-349), so war Heidegger der maschinellen Beschleunigung des Unterwegsseins nicht abgeneigt. Aber zurück zur west-östlichen Dimension. Der Weg ist eine Metapher mit vielen Konnotationen, vor allem, wenn man sie im vieldeutigen Kontext der Diskurse von Interkulturalität, Intermedialität, nicht zuletzt von Interpretation als Übersetzung/Translation betrachtet: alles auch Formen des Wanderns und Wohnens, der Passage und der Appropriation. Der französische Kulturgeograf, Orientalist, Philosoph, Architekturund Stadttheoretiker Augustin Berque hat sein umfangreiches Werk seit Jahren diesem Phänomen der interkulturellen Passagen gerade in westöstlicher Ausrichtung gewidmet. Seine transdisziplinären Theorien stehen dabei unter dem leitmotivischen Motto einer Oekumene (Berque 2015 [1987]), ein Neologismus, der eher an religiöse Gemeinschaften denken lässt. Er leitet den Begriff vom entsprechenden griechischen Ausdruck für die bewohnte Erde als Einheit ab (oikeô in der Bedeutung von Wohnen, mit der gleichen etymologischen Wurzel wie Ökologie und Ökonomie) und definiert seine semantische Referenz als Beziehung der Menschheit zur irdischen Umwelt: d. h. als Relation zwischen der Menschheit und dem irdischen Lebensraum in ökologischer, technischer und symbolischer Hinsicht (vgl. ebd.: 17). In diesem Sinne verstehen sich auch die anderen, abgeleiteten Konzepte seiner Theorie, die der grundsätzlichen Aufgabe, der Ontologie eine Geografie und der Geografie eine Ontologie zuzuordnen, gerecht werden sollen: wie die mésologie (von griechisch mésos für milieu) und die médiance (von medium). Die Herkunft der Begriffe bleibt suspekt: Mésologie wird lange Zeit von Berque auf den Mediziner Louis-Adolphe Bertillon zurückgeführt, der unter diesem Begriff die Vermischung eines physischen und eines sozialen Milieus im Sinne einer Synthese von Ökologie und Soziologie verstand. Erst neuerdings wurde diese Quelle revidiert und Charles Robin, ein Schüler Augustin Comtes, als Autor des Begriffs für eine neue Form der Untersuchung von Milieus entdeckt (vgl. Berque 2014: 9). Der Neologismus médiance ist deutlicher kontextualisiert, denn er wird in seiner Bedeutung einer mediierenden Vermittlung (im Sinne des juristischen Konzepts eines Mediators als außergerichtlichen Mittlers zwiAnalyse des Kunsthistorikers Meyer Shapiro als Van Goghs eigene Schuhe in der Großstadt Paris nicht ausgeschlachtet (vgl. Derrida 1978).
Unter wegs in der Oekumene
schen streitenden Parteien) auf einen der wichtigsten Vordenker west-östlicher Milieu-Theorien zurückgeführt, Watsuji Tetsurō mit seinem Buch Fūdo – Wind und Erde als Theorie des Zusammenspiels von Umwelt und Kultur in der menschlichen Existenz (vgl. Berque 2000 [1990]). Die für Berque dabei faszinierende Idee ist letztlich die wechselseitige Beeinflussung der Faktoren einer klimatisch naturgegebenen Umgebung und einer sozial geprägten und auf die Naturgegebenheiten eingestimmten Umwelt, wie er es immer wieder in seinen Werken als Spezifikum des japanischen Raumverständnisses analysiert. Ihm entspricht – so die Grundthese – die Geltung einer »kinetischen, situationsbezogenen Raumkonzeption«, die, anders als im Westen, keine zentralperspektivische, auf einen subjektiven Stand- oder Gesichtspunkt bezogene Übersicht bzw. Kontrolle zulässt, sondern wie die »situationsgebundene oder locozentrische Sprache« des Japanischen sowie ihre »dezentrierte Zeitstruktur« sich dem Wandel und den Windungen der fließenden Welt anpasst (Berque 1986b: 25, 28 u. 30).
2. R aum als B e wegung Augustin Berque wurde 1942 in Rabat geboren und durchlief eine akademische Karriere als Geograf, Sinologe und Japanologe. 1969 bis 1977 lebte er in Japan, um seine Dissertation über die kulturgeografische Landschaft Hokkaidōs anzufertigen. 1979 wurde er als directeur d’études an die Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales berufen, verbrachte aber weiterhin viele Jahre in Japan (1984 bis 1988 war er Leiter der Maison franco-japonaise in Tokyo, von 1981 bis 1999 stand er dem Centre de recherche sur le Japon contemporain vor). Seine polymorphe und polyglotte Denkweise hatte natürlich im Kolonialland Frankreich Tradition, wo die Geschichtswissenschaften in Gestalt solcher Koryphäen wie Fernand Braudel immer schon historische, geografische und mentale Ebenen in Verbindung brachten, aber die spezielle Neigung zur Philosophie und zur Existentialontologie Martin Heideggers im Besonderen sowie zur ontotheologischen Metaphysik des japanischen »Fernen Ostens« verleiht dem Oeuvre Berques noch eine einzigartige Singularität, die dem deutschen Leser leider mangels Übersetzungen kaum nachvollziehbar ist. Dennoch, um es gleich denjenigen zu sagen, die vielleicht Lust bekommen, sich mit dem umfangreichen Werk Berques zu beschäftigen: Es ist nicht leicht in den Griff zu bekommen. Einerseits mit der großen Gabe
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versehen, den Leser unmittelbar in ein spannendes Problemfeld hineinzuziehen, folgen seine Bücher jedoch andererseits keiner systematischen Entwicklung eines Lösungswegs, sondern wirbeln die immer wieder gleichen Begriffspaare und -gegensätze auf den unterschiedlichen Schauplätzen von Raumfragen, Landschaftsarchitekturen, Haus- und Städtebau durcheinander, sodass man sich oft fragt, ist es bloße Wiederholung oder schon Weiterentwicklung. Im west-östlichen Diskurs nimmt Berque die Rolle des großen Meisters jener Fraktion ein, die von einer latenten kulturhistorischen Achse zwischen Griechenland und Japan ausgeht. Ohne dies jedoch archäologisch zu problematisieren oder geografisch zu hinterfragen, springen seine Assoziationen gerne von der Ägäis hinüber in den fernöstlichen Inselarchipel Japans, getragen vom Gedankenflug einer Sprache, die Französisch, Deutsch, Griechisch, Chinesisch und Japanisch (nie jedoch Englisch) mischt und gleichermaßen die Dialekte der Geografen, Kulturhistoriker, Architekten, Philologen und natürlich Philosophen beherrscht. Und dabei spielt ein Denker eine zentrale Rolle: Martin Heidegger, der berühmte Schüler von Edmund Husserl. Heideggers Einfluss auf die Entwicklung von Berques Idee einer Oekumene ist fundamental. Nicht zuletzt wurden in seinem Ansatz der sogenannten Fundamentalontologie erstmalig Sinnfragen in raum-zeitliche Dimensionen übertragen, in denen Sinn durch Bewegung durchaus in der übertragenen Bedeutung des französischen Wortes sens als Richtung konstituiert wird. Durch seine Differenzierung zwischen Sein und Dasein als Sorge um die Erhaltung seines Seins bzw. Vorhandenheit und Zuhandenheit der Welt als nützliche hat er diesen Akt der Sinngebung in einen pragmatischen Kontext gestellt: Raum ist zwar vorhanden, aber er begegnet immer nur im besorgenden Umgang mit Seiendem und ist als diese Räumlichkeit durch Handeln (mit den Dingen: pragmata) bestimmt. Nur am Rande erwähnt seien die beiden Kategorien, die Heidegger hier einführt: nämlich »Ent-fernung und Ausrichtung« (Heidegger 2006 [1927]: 105), wobei erstere im aktiven Sinne gemeint ist, weniger als Entfernen im Sinne von Wegstellen als vielmehr als »Verschwindenmachen der Ferne« (ebd.). Hier erweist sich der Prozess der Kultur als Werkprozess, als Verwandlung von Dingen in Zeug und »Zeig-zeug« (ebd.: 81), wie Heidegger auch den Zeichengebrauch nennt, durch räumliche Ausrichtung bzw. Orientierung. Im Zeug-Charakter kommt die Dienlichkeit der Dinge zur Sprache, wobei Zeug selbst schon Anzeichen von Kultur ist: Es lei-
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tet sich etymologisch von »ziehen« (eines Pfluges) ab, also dem Bebauen durch Werkzeuge, die den Raum näher bringen, indem sie ihn erschließen. Man könnte auch sagen: markieren. Markieren heißt aber, Zeichen errichten, aufrichten, setzen: Das ist es, was man mit Raumproduktion meint. Der unmarkierte Raum ist kein Raum, wenn, dann ist er nur »Gegend« (ebd.: 111) (abgeleitet aus lat. contra, franz. contrée, engl. country), d. h. etwas dem Subjekt Entgegengeworfenes. Markierungen aber dienen der Orientierung, der Raumorientierung. Raumorientierung heißt aber Steuerung von Bewegung (bis hin zur Steuertechnik der Kybernetik), wie sie auch Michel de Certeau – nicht ganz ohne Einfluss von Heidegger – in seiner Handlungskunst ausführt: »Ein Raum entsteht, wenn man Richtungsvektoren, Geschwindigkeitsgrößen und Variabilität der Zeit in Verbindung bringt. Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegungen erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben« (De Certeau 2006 [1980]: 345).
Bewegung im Raum geschieht also, indem man sich an den Markierungen der Raumerschließung orientiert, nicht indem man sich von einem Ort zum anderen fortbewegt. Orte sind vielmehr, wie Heidegger konstatiert, das Resultat von Ortungen, die den Raum als Einflussbereich definieren. In diesem Sinne versteht Berque Heidegger als Kritiker am westlichen Raumdenken der Moderne, das genau genommen am cartesianischen Modell der Ausdehnung (der res extensa als Gegensatz zur res cogitans) orientiert ist. Auch sein Konzept von Milieu ist eher mobil gedacht und steht in Verbindung mit der Vorstellung von »mouvance«, was zugleich Einflussgebiet und Bewegung (im aktiven Sinne von »Sich-Bewegen«) bedeutet: »Ich möchte folglich betonen, dass die Oekumene eine bewegliche Relation mit beweglichen Grenzen ist, wie die Horizonte mit ihren wechselnden Fokussierungen, die sich ständig neu entwickeln und gleichzeitig plötzliche Gleichgewichtsschwankungen aufweisen« (Berque 2015 [1987]: 142). Orte werden dabei wie Dinge überhaupt im genannten Sinne des Zeit-Zeugs für den Daseinsvollzug bedeutend, insofern sie der Logik der Verweisung folgen, einer semiologischen Fundamentalfigur des Indexikalischen, die selbst Orientierung im Raum ermöglicht, wo symbolische Strukturen versagen. Bestes Beispiel hierfür ist die interkulturelle Erfahrung Roland Barthes’ bei seiner Japan-Reise, die ihn mit
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einer totalen sprachlichen Desorientierung im ideogrammatischen Zeichensystem des Fernen Ostens konfontierte, aber für ihn zugleich zum befreienden Erlebnis eines Reichs der Zeichen wurde, indem nämlich alles – Dinge, Lebensmittel, Gesten, Fotos etc. – bedeutsam wurde. Berque erinnert im Sinne eines Bruchs mit der abendländischen Moderne (bestimmt u. a. durch die Gesetze des euklidschen Raums) aber auch an Heideggers berühmten Aufsatz »Bauen, Wohnen, Denken«, in dem diese metaphorische Funktion der Zeichen-Verweisung auf die räumliche Aktivität der Besiedelung zurückgeführt wird (vgl. ebd.: 123). Am Anfang steht die Bewegung der Verräumlichung (als zugleich Verzeitlichung), die den Raum durchschreitet und zugleich durchschneidet, die ihn teilt und zugleich verbindet im Sinne der »diskontinuierlichen Kontinuität«, die der japanische Philosoph Ōhashi am Schönheitsprinzip des kire betont (Ōhashi 2014: 18). Daher verwundert nicht, dass Heidegger für die Raumerschließung (oder soll man von -eroberung sprechen?) die Metapher von der Brücke wählt: Metapher auch als Meta-Phora, wortwörtliche Über-Tragung, durch die die Dialektik zwischen Ort und Raum als Grenzerfahrung gleichsam im »Brückenschlag« eröffnet wird. Ursprünglich bedeutet Ort zwar, wie Heidegger an anderer Stelle erinnert, die Spitze des Speeres (Heidegger 1979 [1959]: 37), in der alles zusammenläuft, sich versammelt. Jetzt präzisiert er, dass es die Brücke ist, die versammelt, indem sie eine Stätte einräumt bzw. einem Ort statt gibt, übertragen gesprochen: einen Ort als Stadt stiftet. Aber ganz klar: »Der Ort ist nicht schon vor der Brücke vorhanden. [...] (es gibt den Strom als Grenze, als Zu-Überbrückendes, aber wo?) [...] So kommt denn die Brücke nicht erst an einen Ort hin zu stehen, sondern von der Brücke selbst her entsteht erst ein Ort. [...] Aus dieser Stätte bestimmen sich Plätze und Wege, durch die ein Raum eingeräumt wird. [...] Raum, Rum heißt freigemachter Platz für Siedlung und Lager« (Heidegger 1954: 154).
Am Anfang steht also nicht ein definiter Ort, sondern die Grenze, die Differenz, die Orte einräumt und so Räume innerhalb der Grenzen ermöglicht. Raum als solchermaßen »Eingeräumtes« (oder »Freigegebenes«) (ebd.: 155) versteht sich von der Idee des Abstandes, als Stadion oder lat. spatium im Sinne von Zwischenraum (vgl. ebd.: 156). In diesem Raum – ganz im Gegensatz zum Positionsraum, der vom fixen Zentrum ausgehend als »Extension« (Ausdehnung) gedacht ist – eröffnet sich die ihrerseits
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deterritorialisierende Kraft der Bewegung, von Heidegger in Unterwegs zur Sprache verstanden im alemannischen Sinne von »wägen« als Weg bahnen: »Be-wägung« also als Verräumlichung auch im zeitlichen Sinne von Aufschub, in dem der Unterschied der Orte als Unterwegs-Sein die Dimension hervorbringt, in der er sich lokalisiert, platziert (vgl. Heidegger 1979 [1959]: 258 ff.). »Zeit-Spiel-Raum« (Heidegger 1989: 387) nennt es der späte Heidegger, wo Spiel nicht so sehr im ludischen Sinne gemeint ist, sondern im durchaus technischen Sinne, so wie man sagt, ein Rad habe genug Spiel, um sich frei drehen zu können. Auch Watsuji als zweiter Gewährsmann für Berques Milieu-Theorie bezieht sich – bei aller kritischen Differenz – auf Heidegger, wobei er vor allem Sein und Zeit im Blick hat und die späten Schriften aus Unterwegs zur Sprache nicht berücksichtigen konnte (da Fūdo in erster Auflage 1935, in zweiter Auflage 1943 erschien). In ihnen kommt aber gerade die für den west-östlichen Kontext signifikante Räumlichkeit zur Sprache: das Zwischen, das für Watsuji das Hauptmerkmal seines Klima-Begriffs fūdo ausmacht, der (»wörtlich ›Wind und Erde‹«) sich auf »die natürliche Umwelt eines bestimmten Landes«, »sein Klima, sein Wetter, die geologische und produktive Beschaffenheit seines Bodens, seine topographischen und landschaftlichen Charakteristika« (Watsuji 1992 [1935]: 6) bezieht. Seine Kritik an Heidegger, die allerdings wenig philologisch relevante Bezüge zum Werk aufweist, ist auch für Berque ausschlaggebend: dass nämlich bei aller Wichtigkeit der Zeitlichkeit für das Dasein der Aspekt der Räumlichkeit als unabtrennbare andere Hälfte unterbelichtet bleibe. Für das Konzept der Mesologie entscheidend ist aber vor allem die Bestimmung des Klimatischen als Zwischenraum einer Existenz, die ein Über-sich-Hinausgehen ins jeweils Andere impliziert. Klima wird so als Eröffnung eines Raums der Ermöglichung begriffen, wobei jedoch keiner der Autoren interessanterweise auf die metaphorische Bedeutungsebene des Klimas als Atmosphäre einer Situation eingeht. Im Grunde genommen reduziert sich die Bedeutung Watsujis für Berque auf die Emphase, mit der Ersterer den Begriff des »Zwischen« ins Feld führt: erlebt durch das »Hinaustreten« des Ich ins andere Ich als »wechselseitige Beziehung« (ebd.: 9) – auch der wechselseitigen Negation von Ichheit in diesem Zwischenraum –, als Zwischen einer »Dauer«2 des 2 | Hier wäre es interessant zu wissen, ob bei Watsuji Spuren des von Heidegger ziemlich brutal als Einfluss verdrängten Zeit-Denkens von Henri Bergson zu finden
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geschichtlichen Daseins des Menschen, in dem sich auf ex-sistenzielle Weise klimatische Bedingungen und kulturelle Bestimmungen (Watsuji spricht von: Sprachstrukturen, Produktionsmethoden, Hausbau etc.; vgl. ebd.: 16) verschränken. Der Unterschied, der für Berque ausschlaggebend wird, ist jedoch, dass aus dem Zwischen als Räumlichkeit des Milieus die Mittelbarkeit eines oikos wird: das Herdfeuer (so die etymologische Grundbedeutung des griechischen Wortes) einer Ruhe des Wohnens und zugleich auch das Aufflackern einer Unruhe des Auf bruchs zur Reise. Es geht schlichtweg um eine dynamische Raumerfahrung, die im Zeichen einer fundamentalen Zeitlichkeit steht und im Sinne der eher späteren Fundamentalontologie Heideggers mit Vorstellungen der Mitte als einem Versammelnden des Zwischenraums und des Unterwegsseins operiert. Heidegger hat sie – wie gesagt – expliziter in den Abhandlungen von Unterwegs zur Sprache entfaltet, die sich mit Sein und Zeit sub specie des Verhältnisses von Welt und Dingen beschäftigt und zu der entscheidenden Einsicht gelangt: »Denn Welt und Dinge bestehen nicht nebeneinander. Sie durchgehen einander. Hierbei durchmessen die Zwei eine Mitte. In dieser sind sie einig. Als so Einige sind sie innig. Die Mitte der Zwei ist die Innigkeit. Die Mitte von Zweien nennt unsere Sprache das Zwischen. Die lateinische Sprache sagt: inter. Dem entspricht das deutsche ›unter‹« (Heidegger 1979 [1959]: 24).
Aufgrund dieser Etymologie kommt Heidegger vom Zwischen zum Unterschied, genauer zum »Unter-Schied« (ebd.: 25), d. h. einer Differenz, die im Moment des Differierens, sozusagen an der Scheide der sich berührenden Gegensätze, wieder eine Relation und eine dem sozialen Sinne entsprechende Bedeutung von Mitte als Ereignis der Begegnung, als versammelnder Herd, als oikos belebt. Von hier aus ist es nicht weit bis zur Konstruktion Jacques Derridas einer différance aus dem Verb différer als unterscheiden und aufschieben, die Berque zwar vertraut ist (vgl. Berque 2015 [1987]: 303), doch deren semiologische Konsequenzen hier zu weit führen würden.
sind, der das Phänomen der Dauer als Urevidenz des Zeitflusses namhaft gemacht hat.
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3. Transtopologie : fliessende F elder Damit ist zugleich der Rahmen abgesteckt, in dem sich das Milieu-Denken des Zwischen im Anschluss an Watsujis Klima-Konzept bei Berque konfiguriert. Dieser hat für sein Modell der médiance sieben Schlüsselkonzepte aufgestellt: »Milieu« als Bezeichnung für die Beziehung einer Gesellschaft auf den Raum und die Natur; »Umwelt« als physische Dimension des Milieus; »Landschaft« als sensible und symbolische Dimension des Milieus; »Médiance« (übersetzbar als »Vermitteltheit«) als Sinn/Ausrichtung eines Milieus; »Medialität« als Relation in Bezug auf das Milieu; »Mésologie« (im Sinne einer Lehre des Milieus) als Untersuchung der phäno-physischen Ambivalenz der Milieus; »Trajektion« als mediale und historische Verbindung von Subjektivem und Objektivem, Physischem und Phänomenalem, Ökologischem und Symbolischem (vgl. Berque 2000 [1990]: 48). Diese Grundbegriffe der Oekumene lassen sich wiederum auf vier Ebenen in unterschiedliche Konfigurationen bringen: 1. Es handelt sich um einen Raum, der nicht eins ist, der sich – wie bereits gesagt – nicht als raumzeitliche Ausdehnung in Relation zu einem cogito nach dem Modell der »Geometrie cartesianischer Koordinaten« (Berque 2014: 38) begreifen lässt (auch nicht im Sinne der Renaissance-Perspektive als berechenbares Konstrukt), sondern der in sich fundamental auch die Orientierungslosigkeit birgt, die Aporie, die Wegund Steglosigkeit der Bestimmungsirrung. Das genau ist nach Berque das Spezifische des Erscheinens von Natur, die an sich keinen Sinn hat, die als physische Gegebenheit ein pures Sein darstellt, das im Sinne der médiance als Realität eines Milieus erst konstruiert werden muss. Aber dennoch bleibt die Spannung zwischen physischer Aporie und logischer Methodologie unauflösbar. An die griechische Philosophie anschließend, wendet sich Berque daher vom aristotelischen Ortungskonzept des topos ab und greift den platonischen Begriff der chora wieder auf als eine Figur des Übergangs zwischen Sein und Werden. Die topologische Konzeption ist bestimmt durch klare Grenzen bzw. ein definites Zentrum, einen gegebenen Ort als Position (Berque erinnert in diesem Zusammenhang an Heideggers Begriff der Stelle), von dem aus sich der Raum als Addition – wie von Zeitpunkten – quasi als Aggregatraum ergibt. Platons chora dagegen geht von einer Raumvorstellung des erzeugenden, schöpferischen Ortes aus, die im vermittelnden Zwischen ansetzt, im Milieu als einer Art von Matrix,
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als Drittes (triton genos), das weder zum Sein noch zum Werden eigentlich gehört, sondern beides vermittelt (vgl. Berque 2015 [1987]: 30-34; dazu Wetzel 2018: 64f.). Chora bedeutet im Griechischen ursprünglich eine unbestimmte Gegend, das Außen des Urbanen, das Ausgeschlossene, das hier aber in Platons Timaios-Dialog hineingenommen wird als Keimzelle der Verräumlichung, eines Statt-Gebens, wie es auch Jacques Derrida in seiner Interpretation der Chora als »donner lieu«, als Gabe von Raum, ausführt (vgl. Berque 2015 [1987]: 35-38; Wetzel 2018: 65). Berque sieht hier eine Fülle von Anschlussmöglichkeiten an das japanische Raumkonzept, das im Kanji ma zum Ausdruck kommt, wobei er sich auf die Vorarbeiten des deutschen Architekten Günther Nitzschke bezieht (vgl. Nitzschke 1993: 49ff.). Was ihn dabei fasziniert, ist die Tatsache, dass es auch dort nicht um den punktuellen Raum geht, sondern einen Raum in Bewegung, als Überschreitung des Topos und seiner Identität in Richtung auf ein Intervall (aida), aufgerissen durch das Nichts (mu) nicht als Abwesenheit, sondern als An-Wesen der Abwesenheit: »In der Oekumene – anders gesagt, in jedem menschlichen Milieu – hält sich das Sein eines Dings nämlich nicht an den Topos, der wesentlich der seine ist (die Identität des Dings mit sich selbst). Das Ding überschreitet in seiner Beziehung auf andere Weise beständig den Topos und setzt ihn dabei doch immer voraus. Und das wechselseitig: das Andere setzt das Gleiche voraus. So ist das Existierende ohne Sein und doch seiend [...]« (Berque 2013: 252).
In der Bedeutung von ma vermischen sich also die Bestimmungen von Raum und Zeit zur Form einer Rhythmisierung, die das Intervall als Zwischen in jenem bereits von Watsuji benutzten Sinne beherrscht (vgl. Wetzel 2018: 57-88). Aber Berque führt weitere Verwendungen von ma an: als Maßeinheit für Zimmer, als Synkope, als Pause, als Gelegenheit, als Augenblick, als Verankerung (vgl. Berque 1982: 63). Sein Sinn erweist sich so gerade als Nichtfeststellbares, wobei das Aufklaffen von Gegensätzen bei den lokalen Bestimmungen eine Produktivität der Grenze freisetzt: als Milieu/Medium, das nicht zwischen den Gegensätzen vermittelt, das nicht von einem Ort zum anderen überleitet, übersetzt, sondern das als transzendentales Apriori des Unterschieds die Gegensätze erst hervorbringt. Damit steht die östliche Raumvorstellung eher der platonischen Lesart von chora nahe, was Berque auch durch seinen anderen japanischen Bezugspunkt in der Raumtheorie (basho) von Nishida Kitarō und
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seiner Verbindung von zeitlichem Werden (platonisch: genesis) und Nichts (buddhistisch: mu) weiter ausführt (vgl. Berque 2015 [1987]: 84ff.). 2. In diesem Sinne einer nicht-aufgelösten Differenz von Identität und Nichtidentität steht Berques Denken in der westlichen Tradition von Spinoza und Schelling bis hin zur Lebensphilosophie Henri Bergsons, die stärker ein schöpferisches Werden der nicht – wie in der cartesianischen Tradition – vom Geist getrennten Natur betont. Daher auch Berques Vorliebe für chiasmatische Figuren der wechselseitigen Verflechtung: z. B. von Natur und Kultur (Naturalisierung der Kultur und Kulturalisierung der Natur; vgl. Berque 2014: 7).3 Die Folge ist, dass eine jede Seite des Gegensatzes in die andere umschlagen kann, z. B. ein Diskurs über Landschaft metaphorisch als Diskurs über nationale Verhältnisse lesbar wird. Berque führt ein extremes japanisches Beispiel an, den Geografen Shiga Shigetaka, der in seinem Buch Nihon fūkeiron von 1896 zwar von der japanischen Landschaft handelt, aber zugleich eine nationalistische Reinheits-Doktrin des kokusui-shugi [Nationalismus] propagiert (vgl. Berque 2000 [1990]: 77). Angesichts der Bedeutungslosigkeit der Natur an sich ist dies aber als Moralisierungs-Strategie immer schon gegeben: Die Aporie des »an sich« der physischen Faktizität muss im »für sich« subjektiver Deutung positioniert werden bzw. in das Spiel einer milieuhaften Wechselseitigkeit eingebracht werden. Wiederum wird Wechselseitigkeit und Umkehrbarkeit als oberstes Gebot des Milieus der Ökumene betont: Das Objekt soll subjektiviert, das Subjekt soll objektiviert werden, die Sinnlichkeit vernünftig, die Vernunft sinnlich werden, was Berque auch auf die paradoxe Formel einer Vermählung des Blicks des Dichters mit der Druckmaschine des Ingenieurs bringt (vgl. ebd.: 85) – eine offensichtlich versteckte Anspielung auf Lautréamonts berühmte Leitformel für den Surrealismus in Gestalt der Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf einem Seziertisch. Aber diese surrealistische Assoziation hat auch eine kulturhistorische Entsprechung in dem, was abendländisch Rhetorik oder Topik (oder Tropik im Sinne von Robert Curtius oder Metaphorologie im Sinne von Hans Blumenberg) genannt wird und fernöstlich als die Kunst des mitate figuriert. Ohne hier an Goethes Ausführungen über die Tropen und Gleichnisse im 3 | Übrigens eine Wiederaufnahme der Formel eines anderen berühmten Schellingianers, nämlich Karl Marx, der schon in seinen Manuskripten 1844 die »Naturalisierung des Menschen« und »Humanisierung der Natur« gefordert hatte.
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West-östlichen Divan anzuschließen, kommt Berque immer wieder in all seinen Büchern auf diese Figur des wortwörtlich »durch den Blick Hinstellens« oder »Sehens als ob« als eine kulturelle Kraft der Metamorphose in der Oekumene zu sprechen (vgl. u. a. Berque 1993: 48). Unter dem technischen Aspekt der Etablierung eines visuellen Referenzsystems, das die Übertragung vom Konkreten zum Assoziierten regelt, könnte man auch von »Seh-Gestell« sprechen (Wetzel 2018: 163-194). Es ist ein auch der westlichen Poetik vertrautes Spielen mit der Mehrdeutigkeit des Metaphorischen, bei dem es z. B. als Hineinsehen von mythischen Landschaften in Gartenarchitekturen nicht um ein phänomenologisches Erkennen geht, sondern um das Aneignen der latenten genealogischen Kräfte eines Sinnüberschusses. Berque spricht von »Passagen von der materiellen Form zur Semiosphäre« (Berque 2015 [1987]: 291), wobei der Ausgangsreferent als physischer Topos sich sogar in der weiteren Übertragung auflösen kann. Berque erinnert auch an die poetische Technik der uta makura, bei der Gedichte Sinnbilder als Unterlage (wörtlich: Kopf kissen) für ihre Assoziationen nehmen, betont aber immer wieder die dichterische Freiheit im Umgang mit der Referenz, die weniger Repräsentation als vielmehr »Appropriation des Territoriums«, »Neuerschaffung (recréation) der Realität« ist (Berque 1986a: 82). Ja, er geht in seinem Pathos der médiance sogar so weit, diese als »transpropriation« (ebd.: 83) und »transposition délibérée« (ebd.: 84) im Sinne einer Freisetzung von den Kräften, die den Menschen an seine Umwelt binden, zu verklären. Die zu diesem Zwecke benutzten linguistischen, sozialen, aber auch architektonischen und urbanistischen Beispiele (vgl. vor allem Berque 2004 u. 1993) demonstrieren noch einmal die fundamentale Metastabilität der Oekumene als Keimzelle einer ständigen schöpferischen Entwicklung, die sich hinsichtlich ihres konstitutiven Unterwegs-Seins (wie schon oben am Begriff der mouvance ausgeführt) durchaus mit dem Paradigma der travelling concepts im Sinne von Mieke Bal vergleichen lässt (vgl. Bal 2002). 3. All diese Konfigurationen kommen aber immer wieder zurück auf das Leitmotiv des Milieus, ein Begriff, der eng verbunden ist mit dem Positivismus des 19. Jahrhunderts und kunsttheoretisch bei Balzac und Taine eine wichtige Rolle zu spielen begann. Räumlich gesehen geht es um eine Mitte, eine – mit Heidegger gesprochen – versammelnde Stätte, die statt gibt (chora). Was Berque dabei interessiert, ist aber der Bruch mit der cartesianischen Logik/Physik der Kontiguität/Kausalität durch den zuneh-
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menden Einfluss »unsichtbarer« Kräfte – wie (im 18. Jahrhundert) Äther, Fluidum etc., nicht zu vergessen die Entdeckung der magnetischen, dann elektrischen Kräfte (vgl. Berque 2000 [1990]: 87ff.). Für Berque bedeutet das eine grundsätzliche Auflösung, Unterwanderung der klassisch-modernen Vorstellung von Substanz, Identität und Subjekt. Milieu bedeutet keine stabile Struktur, sondern einen metastabilen, fließenden ( flux), transitorischen Zustand. Weshalb Berque an dieser Stelle (wie an vielen anderen) die Worte des Kamo no Chōmei zitiert aus dem Hōjōki, dass derselbe Fluss immer fließe und doch nicht derselbe bleibe (vgl. ebd.: 93). So versteht Berque die Reziprozität der von ihm immer wieder konstruierten Begriffsgegensätze nicht als starr, sondern als fließend und in Spannung befindlich. Die materielle Räumlichkeit des Milieus ist stets in Bewegung bzw. in einem Prozess der De-/Rekonfiguration, wofür Berque immer wieder zahllose Beispiele des japanischen Umgangs mit Raum und Zeit findet (von der viel zitierten Tradition des Neubaus des Ise-Schreins alle zwanzig Jahre über die Feier der fließenden Welt (ukiyo) in der Ästhetik der Edo-Zeit bis hin zur beispiellosen ephemeren Wandelbarkeit moderner japanischer Großstädte). Aber Berque entwickelt seine genau genommen Utopie der Oekumene nicht nur aus dem Blickwinkel west-östlicher Kontraste (wobei immer der cartesianisch-renaissancehaften Berechenbarkeit der westlichen Moderne eine shintoistisch-buddhistische Naturharmonie des Ostens gegenübersteht), sondern sucht auch den Anschluss an neue Konzepte einer alternativen westlichen Tradition vor allem aus dem Umfeld des sogenannten (Post-)Strukturalismus: wie das Paradigma des »Feldes« bei Bourdieu oder das komplexe Modell der »mille plateaux« von Deleuze/ Guattari sowie andere Trans- oder Teletopologien im Sinne der »Genealogie« bei Foucault (vgl. Berque 1986a: 150). 4. Bleibt noch als letzter Punkt der Verbindung von Immanenz und Transzendenz in diesem Prozess der Sinndeutung die wiederum chiasmatisch zu nennende Überlappung von Subjektivem und Objektivem durch eine »trajektive« Transtopologie. Die neologistische Konstruktion dieses Konzepts der Trajektivität (oder Trajektion, abgeleitet vom französischen Wort trajet in der Bedeutung von Weg/Bahn) erfolgt auf der gleichen Ebene wie alle anderen Formulierungen von Bewegung, Passage, Überschreitung und lässt sich als Überführung (im doppelten Sinne von Transport und Transformation) übersetzen, wobei allerdings noch der dynamische Aspekt einer Projektion hinzukäme:
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»So kombiniert die Trajektivität Aufeinanderfolge [consécution] und Projektion, lineare Zeitlichkeit (als kausale Verkettung) und gewundene Zeitlichkeit (der Retroaktionen) und Zeitlosigkeit [achronisation] (die Unterdrückung der Zeit durch die metaphorische Assimilation der Vergangenheit mit der Gegenwart, des Möglichen mit dem Aktuellen)« (ebd.: 151).
Entscheidend ist aber die räumliche Weglichkeit dieser chiasmatischen Verwindung der Gegensätze, die »Bewegung« (Berque 2013: 249), die ihren materiellen Ort überschreitet (»excède«), wobei sie ihn notwendigerweise voraussetzt, d. h. nicht aufhebt oder ersetzt (vgl. Berque 2015 [1987]: 148 u. Berque 2016 [2010]: 164 u. 303). Berque greift diese bahnende Dimension der Oekumene noch einmal unter den west-östlich unterschiedlichen Gesichtspunkten des Innewohnens und des Reisens von Bedeutungen auf. Erinnern wir uns noch einmal der Grundvoraussetzung: »Aus dem Gesichtspunkt der médiance wird die Realität im Verlaufe der Geschichte durch die Trajektion des Sinnlichen und Faktischen in Richtung (sens) eines gewissen Milieus konstruiert« (Berque 2000 [1990]: 54). In diesem Zusammenhang spricht Berque auch von »medialer Konstruktion der Realität« (ebd.), um zugleich klarzustellen, dass medial sich nur auf das Eigentümliche eines Milieus beschränkt. Wie aber kommt dessen Bedeutung zum Tragen oder anders, raumtheoretisch gefragt, wo ist die Bedeutung? In der abendländischen Tradition von Platonismus und Christentum lautet die Antwort: Immer jenseits. Berque jedoch bezieht sich auf das berühmte Diktum Bashōs: »Matsu no koto wa, matsu ni narae...« (ebd.: 109): »Was eine Kiefer ist, lerne von der Kiefer. / Was Bambus ist, lerne vom Bambus« (Berque 1986b: 26). Die wahre Bedeutung der Kiefer liegt in ihr selbst und erschließt sich in der Reinheit ihrer anzunehmenden Existenz als eine ihr innewohnende Bedeutung und nicht als Attribution einer transzendenten Idee oder einer transzendentalen subjektiven Bestimmung. Berque nennt es auch eine »nicht-symbolische Interpretation der Symbole«, die darauf hinausläuft, »die Realität der Phänomene pragmatisch zu akzeptieren, ohne hinter ihnen irgendein wahreres Wesen zu suchen« (Berque 2000 [1990]: 111). Es gibt zwar auch abendländische Versuche einer Annäherung an die reine Existenz der Dinge, wie die scholastische Vorstellung der haecceitas oder Husserls Methode der phänomenologischen Einklammerung (Epoché) des noematischen Gegenstandes, nicht zuletzt auch Foucaults Begriff des Monuments als Gegenentwurf
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zum hermeneutischer Verweisung über sich hinaus verpflichteten Dokument. Spannend wird es aber, wenn Berque diese Logik der »Verweisung« (Berque 2015 [1987]: 149; deutsch im Original) im Zusammenhang der mitate-Technik als »intrinsische Logik der Dinge« erweisen möchte (ebd.: 289). Er führt hier einen weiteren Neologismus ein: die chorésie (oder choretische Dimension) als Bezeichnung für die ontisch-ontologische Kraft des Raumes zum Entwickeln und Reproduzieren von Systemen: »Das Choretische steht zugleich in Verbindung mit der Bewegung und der Bedeutung. Im Altgriechischen hat das Verb chorein neben rein räumlichen Bedeutungen (Platz schaffen, räumen und verräumlichen) auch diejenige von Verstehen/ Auffassen [...] etymologisch die Aktion des Voranschreitens [action de s’avancer]« (Berque 1986a: 161).
Das Wort verweist auch auf die griechische Bezeichnung für den Tanz: choreia (woraus sich im Französischen die Wortbildung chorée in der Bedeutung »Veitstanz« herleitet), was mit der Vorstellung der Eröffnung eines zunächst leeren Schauplatzes als »Anwesenheit der chora« im Sinne der heideggerschen Einräumung verbunden ist (vgl. Wetzel 2018: 94). Ähnlich wie beim Begriff der Trajektion als Entwurf kommen Motion, Emotion und Intensität zusammen (in einer Weise, die man auch als latenten, unausgesprochenen Bergsonismus bezeichnen könnte): Verstehen erweist sich als eine Reise in die Innere Welt der Immanenz des Sinns, die zugleich umschlägt in eine Streuung des Sinns, eine Art von Dissemination. Insofern entspricht der Vorstellung von Oekumene auch entsprechend der Logik des Einschlusses der Gegensätze die Vorstellung einer Diaspora, einer nomadischen Überschreitung und Verlagerung der räumlichen Grenzen. Und das verdeutlicht Berque abschließend durch einen weiteren kultur-kontrastiven Vergleich mit der japanischen Vorstellung von Wohnen und Reisen. Wohnen sei in der japanischen Kultur eng verbunden mit der Vorstellung von Reinheit und Ruhe, von Transparenz. Dementsprechend stehe Reisen eng in Verbindung mit der Vorstellung von Rückkehr, Heimkehr in eine mütterlich erlebte matrie (statt der abendländischen Vaterlands-patrie), was Berque mit dem japanischen Begriff furusato als gewissermaßen Heimweh nach der Heimat (»nostalgie du pays«) bezeichnet (Berque 1986a: 224). Reisen wäre dann die umgekehrte Bewegung zum Wohnen als Einschachtelung in die mütterliche Matrix: developpement als
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implizierter Gegensatz von enveloppement (ebd.: 225), also als entwickelnde Einwicklung (eine Art von Involution), die im Zeichen einer Fruchtbarkeit des Innen steht. So kehrt die Metapher vom Innewohnen des Sinns (was sich auch in die romantische Botschaft vom Schläft ein Lied in jeden Dingen übersetzen ließe) in den ökonomischen Metaphern des Umschlags und der Verpackung wieder, Dinge, die in der fernöstlichen Kultur der Gabe eine so bedeutende Rolle spielen. Aber sie sind nicht so fern der westlichen Romantik, die mit ihrem Traum von der Sehnsucht ebenfalls Ferne und Heimat, Reisen und Wohnen miteinander zu verbinden suchte. Wie antwortete doch Novalis auf die Frage: »Wo gehn wir denn hin? Immer nach Hause, nach Innen« (Novalis 1960: 325). Was bei Novalis aber auch heißt: »Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft« (Novalis 1798: 74).
4. H auchdünne A bstände : das E phemere Die paradoxe Verflechtung der Vorstellungen von Oekumene und Diaspora, die ein in das motile Milieu der Oekumene eingewickeltes nomadisches Entwicklungspotential der Diaspora unterstellt, macht deutlich, dass der gewählte Titel dieses Essays eigentlich nicht korrekt formuliert ist. Berque geht nicht von einem Unterwegs in der Oekumene aus, sondern Oekumene heißt für ihn Unterwegssein, trajectivité, mouvance etc. Mit der Raumvorstellung des japanischen Konzepts ma teilen diese Begriffe die Eigenschaft, nicht punktuell verortbar zu sein, sondern sich immer innerhalb eines Intervalls zwischen Gegensätzen zu bewegen bzw. zwischen einem »Weder-noch« und einem »Sowohl-als-auch« hin- und herzubewegen. Abschließend soll eine weitere Modellbildung dieser trajektiven, transtopologischen Zwischenräumlichkeit vorgestellt werden, die ebenfalls Affinitäten zu japanischen Raum-Vorstellungen aufweist. Das Innen jenes auch als romantisch bezeichneten Milieus hat surreale Züge als Heterotopie des Dazwischen, für die der französische Dadaist und Konzeptkünstler Marcel Duchamp eine aus dem visuellen Bereich übernommene Formel der Physik adaptiert hat: das infra. Wie die Farbverschiebung zum Infrarot bedeutet der französische Ausdruck eine interne Verweisung in einem Textkorpus im Sinne des »weiter unten«. Duchamp koppelt dieses Kon-
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zept einer infrastrukturellen Grenzüberschreitung an die unaufhebbare Doppelung von Distinktion und Berührung an den Grenzlinien räumlicher Abstände. Seine Obsession gilt dabei der Vorstellung eines minimalen Abstandes, einer Trennschicht, die in einem infinitesimalen Prozess immer dünner wird, aber nie aufhört, als Differenz zu existieren. Daraus ist das Kunstwort inframince entstanden, das eine besondere Aufmerksamkeit für hauchdünne (so die Übersetzung) Zwischenräume/-welten/-zeiten mit unscheinbaren und unauslotbaren Übergängen fordert. Die bildräumliche Erfahrung wird damit an ein zeitliches Werden gekoppelt, ganz im Sinne einer vierten Dimension verborgener Potentiale des »Möglichen«, der »Passage«, des »Intervalls«, der »Wiederholung«, der »Transparenz«, der »Differenz«, der »Separierung« sowie der Reversibilität der Gegensätze (Duchamp 1999: 21-35; vgl. Wetzel 2011). Ausgangspunkt ist die Hinterfragung der geometrischen Grundgesetze in der Folge zur Krise des euklidschen Raums durch die Untersuchungen von Mathematikern wie Gauß und Riemann, was schließlich in die Relativitätstheorie Einsteins und die Erweiterung des Raumverständnisses durch die Vierte Dimension eines polydimensionalen Zeit-Raumes mündete. Auch Berque verweist auf diese historische Zäsur (vgl. Berque 2015 [1987]: 125), die sein Paradigma der Oekumene bestimmt: Räume bestehen wiederum aus Räumen, Zwischenräumen, deren intern separierende Grenzen wiederum Räume, Nanoräume einschließen. Die Übergänge sind fließend (als flux) und im metaphorischen Sinne des mitate metamorphotisch. Dies nimmt Marcel Duchamp zum Anlass, in vielen seiner Werke mit räumlich amorphen bzw. transitorischen Phänomen zu spielen wie Rauch, Staub, Luft, Gas oder auch Glas, das durch seine Doppeldeutigkeit von materieller Trennung und optischer Transparenz fasziniert, um für seine Kunst favorisierte Medien der ästhetischen Demonstration von inframince-Effekten zu finden. Was ihn an den Materialien interessiert, ist ihre hauchdünne Differenz zur Immaterialität, die ihre Wandelbarkeit ausmacht – wie beim Gas etwa auch als wandelbarer Energieträger, der die Flamme einer Lampe speist, oder bei der Luft als Vakuum die Kondensierung eines lokalen Duftspektrums. Seine Werke fungieren so nicht als Medien einer »retinalen« Sichtbarkeit, sondern negieren diese durch den Gegensatz zu einer schon darüber hinausgegangenen Entwicklung. Das Sichtbare erfasst nur flüchtige, vorübergehende Phänomene, die sichtbare Welt ist gekennzeichnet durch die Eigenschaft des Ephemeren, in der sich die genannten Aspekte einer anderen Räum-
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lichkeit des Trajektiven, Intervallartigen, Transitorischen treffen (vgl. Wetzel 2018: 57-88). Für die soziale Struktur der Oekumene wird dann aber ebenso wie für die Kunst eine andere Repräsentation verlangt, deren – mit Berque gesprochen – Mesologie nämlich entsprechend in eine Inframedialität umschlägt (vgl. Wetzel 2011). Das Ephemere ist auf archetypische Weise inframince, wie schon BuciGlucksmann in ihrer Eloge auf die Ästhetik des Ephemeren bei Duchamp konstatiert: als Traumlogik der unsichtbaren, immateriellen Ebenen, der »intervallarischen« Realität all der »leichten«, »fließenden«, »flüchtigen/sich verflüchtigenden« Dinge wie Töne, Gas, Energie und vor allem die transparent indifferent trennende Materie des Glases (vgl. BuciGlucksmann 2003: 41 u. 49 u. 2001: 121). Auch die ready mades, die von Duchamp zu Kunstwerken erklärten Gebrauchsgegenstände wie Fahrradräder, Flaschentrockner, Urinoirs oder Schneeschaufeln, sind durch ihre Ephemerizität charakterisiert: Sie alle verschwinden im Laufe der Zeit und überleben nur als Fotos ihrer Schatten im Atelier des Künstlers. Zugleich ist ihre ästhetische Funktionsweise ein Effekt des inframince, der sie eben gerade aus ihrem alltäglichen Gebrauch herausstellt und als etwas anderes verklärt, das ihnen als dieses Andere doch innewohnt.4 In dieser Hinsicht kommt aber gerade der Zeitaspekt in den Vordergrund, da dieses latente »Innewohnen« ein Werden und damit für den Künstler ein Moment von schöpferischer Entwicklungsmöglichkeit impliziert, wie Duchamp es aus der Philosophie Bergsons übernimmt. Für Bergson wird Sein als Dauer (durée) mit Wandel kompatibel, denn es ist das »ununterbrochene Fortschreiten der Vergangenheit, die an der Zukunft nagt und im Vorrücken anschwillt« (Bergson 1927 [1907]: 52). Gegen das Starre der begrifflichen Arretierung beschwört er das Werden als Intensität, die sich in eine »Unendlichkeit von Graden« (ebd.) (also inframince) aufspaltet. In diesem temporalontologischen Sinne sieht man wieder die Berque’sche Oekumene in Diaspora umschlagen, wie sich auch an urbanistischen Konzepten wie dem der ephemeren Stadt bei Itō Toyoo und dem Aspekt des Nomadischen von ständig in Umbau befindlichen Städten wie Tokyo ausführen ließe (vgl. Wetzel 2018: 68f.). Auch Buci-Glucksmann 4 | Man könnte hier einen Vergleich zum mitate-Verfahren ziehen, der jedoch insofern seine Grenzen erfährt, als Duchamp sich gegen eine visuelle Evidenz stellt und eher mit konzeptuellen, diskursiven Verfahren der Verweisung operiert (wie z. B. seinen »Notes« oder seinen Gebrauchsanweisungen).
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beginnt ihre Ästhetik des Ephemeren mit dem entscheidenden Verweis auf die Zeit, mit deren linearer Konzeption des Fortschritts und des Gedächtnisses es zu brechen gilt, um einer unreinen, vagen, fließenden, pluralen und transparenten Zeit der Vierten Dimension mit ihrer unvollendeten, offenen Vergangenheit und ihrer »a-präsentischen« Gegenwart den Vorzug zu geben (vgl. Buci-Glucksmann 2003: 13-16). Es ist eine große Eloge der Zeitlichkeit des Okkasionellen, Kristallinen, Diaphanen, des kairos und der Intervalle, für die sich die paradigmatische kulturelle Referenz findet, nämlich Japan: »Ein Denken der Zeit, in dem Ästhetik und Ethik ihren kritischen Raum des Dialogs und der Schöpfung wiederfinden würden; damit die Werte des Ephemeren, der Impermanenz, des Flüssigen oder der Leichtigkeit, die so lange im Abendland als negativ erlebt wurden, ausgehend von Japan zu einer Erfahrung und selbst zu einem Experiment werden könnten, in dem unsere früheren Gewißheiten sich verschieben und nach und nach in Luft auflösen« (Buci-Glucksmann 2001: 61).
Ähnliche Formulierungen könnte man sich auch bei Berque vorstellen. Damit wird aber noch einmal deutlich, dass seine Vorstellung einer Oekumene in Umkehrung der von Watsuji in Fūdo formulierten Heidegger-Kritik doch wesentlich zeitlich bestimmt ist, als Raum des Ephemeren, das im inframedialen Zwischenraum sich entzieht. Denn wie schon Bergson schreibt: »Die Bewegung entschlüpft in das Intervall, weil jeder Versuch, Veränderung aus Zuständen zu rekonstruieren, die sinnlose Voraussetzung einschließt, Bewegung bestehe aus Unbewegtheiten« (Bergson 1927 [1907]: 305). Um diese Bewegung in ihrer Dauer zu erleben, muss man aber im Sinne des Gadamer’schen Verständnisses von Unterwegs schon mitgehen.
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»Sanka« als Diskursfigur der Modernisierung Japans Kosuke Endo
1. E inleitung »Sanka« ist in Japan die summarische Fremdbezeichnung für die Bevölkerungsgruppe, die – nach gängigen Vorstellungen – im Gebirge umherzieht, im Zelt oder in der Höhle wohnt und davon lebt, Regenumhänge aus Stroh anzufertigen bzw. zu reparieren sowie am Fluss Fischerei zu betreiben und den örtlichen Dorfeinwohnern Aale, Karpfen oder Schildkröten zu verkaufen. Sie wurde um 1900 als reale Gruppe »erfunden«: von der Polizei als schwer erfassbare Kriminelle und von der Trivialliteratur als geeigneter Stoff für »reale Geschichte« sowie von der sich neu entwickelnden Volkskunde als eine der Figuren, die sich lange innerhalb des japanischen Inlands befinden, aber außerhalb der japanischen Tradition stehen. »Sanka« scheint noch heute an seiner Faszinationskraft nichts eingebüßt zu haben. So erlebte und erlebt »Sanka« seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs dreimal – in den 60er und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts sowie von 2000 bis heute – seine Renaissance, und es erschienen und erscheinen zahlreiche populärwissenschaftliche »Sanka«Bücher.1 1 | Zur »Sanka«-Renaissance in den 1960er und 1980er Jahren vgl. Koishikawa 2003: 14-16. Bereits seit den 1980er Jahren beschäftigte sich eine Forschungsgruppe nicht-akademischer Volkskundler namens Rekishi minzokugaku kenkyūkai mit der Frage der »Sanka«, veröffentlichte dann von 1995 bis 2006 die Zeitschrift Rekishi minzokugaku und gab einige Sammelbände zu diesem Thema heraus. Das wichtigste Ereignis in der »Sanka«-Renaissance seit 2000 ist aber sicherlich das Erscheinen von Misumi Kan sanka bungaku senshū [Misumi Kans ausgewählte
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Trotz der Vielzahl der Texte über »Sanka« gibt es allerdings weder einen, der von einem Angehörigen der »Sanka« selbst stammt, noch eine wissenschaftlich fundierte Forschung; es liegen nur Schriften vor, die über »Sanka« geschrieben worden sind. In dieser Situation ist es verständlich, dass in der Geschichtswissenschaft ein weitgehendes Stillschweigen über »Sanka« herrschte.2 Hingegen beschäftigten sich mit »Sanka« meist die Volkskundler und Schriftsteller, welche außerhalb der akademischen Institutionen angesiedelt sind. Dies hängt damit zusammen, dass die japanische Volkskunde meist außerhalb der akademischen Institutionen und in einem Spannungsverhältnis zu der an schriftlichen Dokumenten orientierten Geschichtswissenschaft entwickelt worden ist (vgl. Fukuda 2009 u. 2014). Unter der Voraussetzung, dass es Angehörige der »Sanka« tatsächlich gab und gibt, befragt man sie erstens nach ihren historischen Ursprüngen und nach ihrem Werdegang sowie zweitens nach ihren Berufen, Bräuchen und Lebensformen. In solchen Untersuchungen vermag man aber sein Argument höchstens auf Indizien aufzubauen oder ist ggf. sogar auf Spekulationen angewiesen. Überblickt man aber die »Sanka«-Literatur, kann man zumindest das einzig unwiderlegbare Faktum festhalten, dass viel über »Sanka« geWerke zur Sanka-Literatur] von 2000 bis 2002. Es löste die Publikation der alten »Sanka«-Literatur in Neuauflagen und Nachdrucken aus, und es erschienen auch neue Bücher, in denen sich außerakademische Volkskundler mit der »Sanka«-Literatur von Misumi auseinandersetzten und das richtige Bild von »Sanka« herauszuarbeiten versuchten. Der Soziologe und Volkskundler Okiura Kazuteru, der sich viel mit den »diskriminierten Bewohnern der Sondergemeinden« (hisabetsu burakumin) und mit den japanischen Wandervölkern beschäftigte, legte 2002 ein Buch über »Sanka« vor (vgl. Okiura 2004 [2002]). Der Schriftsteller Itsuki Hiroyuki, der bereits in seinen Romanen wie Kaigenrei no yoru [Nacht im Ausnahmezustand] 1976 und Kaze no ōkoku 1980 (dt. Königreich des Windes, 2015) das Sanka-Motiv literarisch verarbeitet hatte, wandte sich mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts wieder dem japanischen Wandervolk und nicht zuletzt den »Sanka« zu (vgl. Itsuki/Okiura 2013: 39-55 u. 197-213; Itsuki 2014 [2002]: 143-178). 2 | Erst in neuerer Zeit haben einige Geschichtswissenschaftler zögernd begonnen, »Sanka« im Zusammenhang mit den Lepra-Kranken, den diskriminierten Minderheiten im Mittelalter oder nicht zuletzt der Einrichtung des Familienregisters zu behandeln (vgl. Fujino 1993:55-82; Hattori 2012: 414-462 u. Endō 2017: 122129).
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schrieben worden ist. Von diesem Faktum geht die vorliegende Arbeit aus und stellt die Frage, warum um 1900 der »Sanka«-Diskurs entstand. Um die Antwort skizzenhaft vorwegzunehmen: »Sanka« wurden in Japan, das um 1900 den Weg zu einem modernen, zentralistischen Nationalstaat ging, in erster Linie als Fremdlinge angesehen, die in den Staat nicht integrierbar sind. Aufgrund dieser grundlegenden Auffassung entstanden zwei konträre Semantiken von »Sanka«: als eine Gruppe von Verbrechern und Staatsfeinden, welche der Autorität des Staats nicht gehorcht und dessen innere Sicherheit gefährdet, und »Sanka« als eine Figur, die das freie, der Staatskontrolle entzogene und ihr widerstehende Individuum repräsentiert. »Sanka« waren also ein Gegenbild zu den »japanischen Untertanen« (shinmin), die der Souveränität des Kaisers unterstellt waren. Insofern hat Japan um 1900 im Zuge der Bildung des kulturellen »Selbstbildnisses der Japaner« (so heißt der Titel von Katō 2000) »Sanka« erfunden, und zwar ebenso wie Europa den Orient »almost invented« (Said 1979: 1) und nicht zuletzt im 15. Jahrhundert die »Zigeuner« als die »Nicht-Integrierbaren« erfunden hat:3 »Die europäischen Gesellschaften ›besetzen‹ mit ihnen [den »Zigeunern«, K. E.] im Feld der sozialen Außenseiter die Position der Nicht-Integrierbaren am äußersten Rand der Zivilisation. Durch Ausschluss in einer Gesellschaft verortet zu werden, in der man als Fremde auf Dauer betrachtet wird, schafft eine ›unmögliche‹ Position: Sie kann nur durch die ständige Erfindung von Anderssein, durch die Zuschreibung ethnischer, rechtlicher, sozialer, ökonomischer und kultureller Merkmale aufrechterhalten und gefestigt werden« (Bogdal 2014: 26).
In der Tat hat der »Sanka«-Diskurs mit dieser diskursiven Erfindung der »Zigeuner« als der nicht integrierbaren, auszuschließenden Außenseiter dies gemeinsam, dass er sich gleichzeitig mit der Bildung der neuzeitlichen Gesellschaft und des Selbstbildes entfaltete. Wenn von »Sanka« die Rede war und ist, dann wurde und wird diese Menschengruppe immer 3 | Saji vergleicht »Sanka« mit den »Zigeunern«, wobei sowohl seine These als auch sein Ansatz nichts anderes als eine Spekulation sind (vgl. Saji 1982). Außerdem geht Mizutani im Schlusskapitel seines Buches über die »Geschichte der Zigeuner« auf Ähnlichkeiten der »Sanka« mit den »Zigeunern« ein (vgl. Mizutani 2006: 221-236).
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als diejenige vorgestellt, die sich außerhalb der »normalen« japanischen Gesellschaft und außerhalb des Wirkungsbereichs der Staatsmacht befindet und von den gesellschaftlichen Normen abweicht. Dabei soll ausdrücklich angemerkt werden, dass von »Sanka« vor der Meiji-Restauration so gut wie nicht die Rede war, obwohl Wanderer und Obdachlose bereits in der Edo-Zeit als problematische Menschen betrachtet worden waren (vgl. Endō 2017: 90-97). Außerdem weist der Historiker des japanischen Mittelalters, Amino Yoshihiko, darauf hin, dass im Selbstverständnis Japans der Reisanbau oft zu sehr überschätzt worden sei. Ihm zufolge sei der Physiokratie als der grundlegenden Staatsideologie in der ganzen Geschichte Japans seit der ersten Gründung eines zentralistischen Staates im 7. Jahrhundert eine konstitutive Bedeutung zugekommen, und das habe dazu geführt, das »allgemeine Volk« (hyakusei) als »Bauern« (hyakushō) misszuverstehen und reisende Berufsstände – wie etwa Handelsleute, Handwerker und Artisten – in den Hintergrund zu drängen (vgl. Amino 2008 [2000]: 227-319; Amino 1984 u. Amino 1996 [1987]). Auch wenn Aminos Studien mit Sicherheit den kritischen Blick auf das kulturelle Selbstverständnis Japans schärfen und einen weiten Hintergrund des »Sanka«-Diskurses deutlich machen können, vermögen sie die Frage nicht zu beantworten, warum »Sanka« um 1900 als eine problematische Figur auftauchte. Dagegen soll in diesem Aufsatz der Hintergrund für den »Sanka«-Diskurs nicht zuletzt in zwei grundlegenden Reformmaßnahmen gesucht werden, die Japan von einem feudalistischen Herrschaftssystem zu einem modernen, zentralistischen Staat verwandelten: nämlich die Einrichtung des Familienregisters und die Einführung des Eigentumsrechts.
2. F amilienregister und E igentumsreform Vor der Meiji-Restauration tauchte das Wort sanka, das ursprünglich aus der westjapanischen Chūgoku-Region stammt, in amtlichen Dokumenten kaum auf, und wenn das Wort überhaupt auftauchte, dann in einem anderen Zusammenhang als um 1900. Nach Okiura wurde sanka lediglich in zwei Dokumenten erwähnt (vgl. Okiura 2004 [2002]: 60-79): In zwei an Bergdörfer in den Provinzen Aki und Bingo4 gerichteten Rund4 | Sie sind Teile der heutigen Präfektur Hiroshima.
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schreiben aus den Jahren 1855 und 1866, also am Ende der Edo-Zeit, wird angeordnet, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit »Sanka« zu verhaften und nach dem Kahlscheren des Kopfes (bzw., wenn bereits kahlgeschoren worden war, dann nach dem Abschneiden der Augenbrauen) aus der Region zu vertreiben. »Sanka« wurden hierbei verstanden als die umherziehenden Landstreicher, die nicht ins Register der Religionszugehörigkeit (shūmon ninbetsu aratame-chō) eingetragen wurden. Und Okiura bringt solche Erlasse in den Zusammenhang mit einer Reihe von großen Hungerskatastrophen in den 1830er Jahren, als viele Bauern gezwungen waren, ihre Reis- und Ackerfelder zu verlassen und zu Landstreichern zu werden. Nach der Meiji-Restauration nahm nicht nur die Anzahl der Dokumente über »Sanka« zu, sondern sie stammten auch hauptsächlich von zwei Institutionen, die unentbehrlich für die Bildung eines modernen zentralistischen Staates waren: Kommunalbehörden und die Polizei. Nicht zuletzt für die Behörden waren »Sanka« eine problematische Gruppe, weil sie weder einen festen Wohnsitz hatten, noch Mitglieder einer Dorfgemeinschaft waren. Deshalb bereiteten sie große Schwierigkeiten bei der Eintragung in das neu angelegte Familienregister. Im Zuge der Bildung des zentralistischen Staatsapparates, der flächendeckenden Erfassung der Untertanen (shinmin) und ihrer Wohnorte sowie schließlich der Eigentumsverteilung der Grundstücke traten »Sanka« als eine problematische Figur in den Vordergrund. Das Familienregister, das in den letzten dreißig Jahren des 19. Jahrhunderts neu eingerichtet wurde, diente in erster Linie dazu, die japanischen Untertanen zu erfassen und ihnen die Steuerpflicht und den Militärdienst aufzuerlegen. Es funktionierte aber auch als eine Repräsentation des japanischen Volkes überhaupt. Ihm lag die ie-Institution zugrunde (vgl. Shimada 1994: 134-143). Das japanische Wort ie [Haus] ist im Alltagsjapanisch die Bezeichnung für Wohnhäuser, aber bedeutet auch (und das ist im vorliegenden Zusammenhang wichtiger) Familie mit einem männlichen Familienvorstand; das Wort bedeutet außerdem die familiäre Genealogie, deren Kontinuität nicht (unbedingt) das Blut, sondern der Name gewährleistet. Ie ist deshalb eine räumlich und zeitlich ausgedehnte Institution, und ihre Mitglieder haben gemeinsame Vorfahren. Konstitutiv für die ie-Ideologie ist weiterhin eine genealogische Unterscheidung zwischen Stammfamilie (honke) und Zweigfamilie (bunke), die von einem honke-Mitglied neu gegründet wird. Diese ie-Institution, die
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bis zum Ende der Edo-Zeit nur Brauch der sozialen Oberschichten wie Kriegerstand (bushi) oder Adel (kizoku) war, gewann im neuen Kaiserreich eine Vorbildfunktion, indem sie im 1898 in Kraft getretenen Zivilgesetzbuch juristisch verankert wurde. Jede japanische Familie – auch die der sozialen Unterschichten – sollte ihr männliches Oberhaupt, ihre Mitglieder und ihre Vorfahren haben. Diese ie-Institution war eng gekoppelt mit der Erfindung eines angeblich lang tradierten Staates: Es wurde nämlich von der Regierung erklärt, dass Japan »ein riesiger Familienstaat« (ichidai kazoku kokka) sei (Monbushō 1937: 15). Und die Kaiserfamilie wurde zur wichtigsten und am längsten erhaltenen Familie (ie) in Japan erklärt, die eine angeblich seit unzähligen Generationen ununterbrochene Verwandtschaftslinie habe (bansei ikkei) und der alle japanischen Familien als Zweigfamilien (bunke) sowie zugleich als Untertanen untergeordnet seien. Somit entstand ein Staat als eine Riesenfamilie, deren Mitglieder, abgesehen von den Mitgliedern der Kaiserfamilie selbst, die japanische Staatsangehörigkeit hatten. Als man 1872 das erste Familienregister ( jinshin koseki) anzulegen begann, ging es um die Erfassung der japanischen Untertanen, die alle – im Gegensatz zur feudalistischen Edo-Zeit – unter dem Kaiser (tennō) gleichberechtigt sein sollten.5 Dieses Register repräsentierte zugleich die Grenzziehung zwischen den japanischen Staatsangehörigen und den Ausländern. So wurden nur diejenigen, die im Familienregister eingetragen wurden, in die Obhut der Staatsmacht genommen. Als dann das Zivilgesetzbuch verabschiedet wurde, nahm das gänzlich reformierte Familienregistergesetz (koseki hō) nun deutlich den Charakter eines Familienregisters an. Obwohl dabei die Übereinstimmung des familienrechtlichen mit dem aktuellen Wohnort vorausgesetzt wurde, traten aufgrund der Bewegungsfreiheit und der durch die Industrialisierung verursachten großen Bevölkerungswanderungen mehr und mehr Widersprüche auf. So wurde 1914, um die aktuellen Wohnorte zu erfassen und das im selben 5 | Im Anspruch der umfassenden und gleichwertigen Erfassung der Untertanen unterscheidet sich das Familienregister von dem in der Edo-Zeit erstellten Register der Einwohner in Hinsicht auf ihre Verbindung zu einem Tempel (shūmon ninbetsu aratame-chō). In der Tat aber verblieb die Diskriminierung gegenüber Minderheiten wie eta und hinin, indem sie im Familienregister als »Ex-Eta« (moto-eta) bzw. als »Neue Bürger« (shin-heimin) vermerkt wurden (vgl. Endō 2013: 122f.). Zu shūmon ninbetsu aratame-chō vgl. Hayami 1979.
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Jahr reformierte Familienregistergesetz zu ergänzen, das Wahlwohnsitzgesetz (kiryū hō) erlassen, das den Vorläufer des Einwohnermeldungssystems ( jūmin tōroku seido) nach dem Zweiten Weltkrieg darstellt (vgl. Endō 2017: 328f.). Mit der Einrichtung des Familienregisters war auch die Bestimmung der verwaltungs- und der strafrechtlichen Strafe verknüpft. Der Familienvorstand war laut des Familienregistergesetzes verpflichtet, die Veränderung der sozialen Stellung seiner Angehörigen rechtzeitig zu melden. Wenn aber eine meldepflichtige Person ihre Pflicht nicht erfüllte, wurde ihr ein Bußgeld in Höhe von bis zu 10 Yen6 auferlegt; wenn sie trotz der Empfehlung vonseiten der kommunalen Regierung weiterhin die Anmeldung verweigerte, musste sie zusätzlich ein Bußgeld bis zu 20 Yen bezahlen (vgl. Koseki hō 1898: §§ 220f.). Zugleich wurde die Nichterfüllung einer solchen Pflicht neben der Obdachlosigkeit und Landstreicherei als Gegenstand des Strafrechts angesehen (vgl. Endō 2017: 112-114). Bereits laut des ersten, provisorischen Strafgesetzbuches aus dem Jahr 1870 wurden diejenigen, die ohne Anmeldung den familienrechtlichen Wohnort verließen, als Delinquenten angesehen. In Paragraph 425 des 1882 in Kraft getretenen Strafgesetzbuches, das den französischen Code pénal von 1810 zum Vorbild hatte, wurde die Landstreicherei entweder mit drei bis zehn Tagen Haft oder mit einem Bußgeld von 1 Yen bis 1 Yen 95 Sen bestraft. Im neuen Strafgesetzbuch, das 1907 das alte ablöste, wurde dieser Paragraph gestrichen; stattdessen wurde in der Verordnung für kleinere Straftaten (keisatsuhan shobatsu rei) vermerkt, dass diejenigen, die ohne bestimmten Wohnort und ohne Beruf durchs Land streifen, mit bis zu dreißig Tagen Haft und bei Obdachlosigkeit ebenfalls mit bis zu dreißig Tagen Haft oder bis zu 20 Yen Bußgeld bestraft werden. Eine weitere juristische Bestimmung, die mit »Sanka« zu tun hatte, war eine Reihe von Reformen, die das Eigentumsrecht betrafen. Die 1873 eingeführte Grundsteuergesetzreform (chiso kaisei) brachte nicht nur eine grundlegende Reform in Bezug auf das Steuerwesen, sondern bedeutete 6 | Nach dem »Corporate Goods Price Index« (Kigyō bukka shisū), im Standard vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs, haben 10 Yen von 1901 im Jahre 2017 den Wert von ca. 14.665 Yen. Zur Umrechnung vgl. ›http://rnavi.ndl.go.jp/research_gui de/entry/theme-honbun-102809.php‹ (Zugriff am 3. 5. 2018) u. ›https://www. boj.or.jp/announcements/education/oshiete/history/j12.htm/‹ (Zugriff am 3. 5. 2018).
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auch die Einführung des Eigentumsrechts an Grund und Boden. In diesem Zusammenhang und auch im Zusammenhang mit der Verfolgung von »Sanka« ist die Behandlung von Flüssen und Wäldern von großer Bedeutung, weil sie ihren hauptsächlichen Lebensbereich darstellten. Die Meiji-Regierung brachte zum Zweck der Flussregulierung alle Flüsse in staatlichen Besitz und aberkannte Privatpersonen die Ansprüche des Eigentumsrechts auf sie (vgl. Yamamoto 1993: 34-42). Wälder und Forste wurden nach der Grundsteuergesetzreform in den steuerpflichtigen privaten Besitz und den staatlich-öffentlichen Besitz geteilt, wobei der Staat die auf alter Gewohnheit basierenden Eigentumsverhältnis aberkannte und nur solche Eigentumsverhältnisse anerkannte, für die sich Besitzer nachweisen ließen. Stark betroffen davon war die Allmende (iriai-chi), die von der Dorfgemeinschaft besessen und von deren Mitgliedern genutzt wurde (vgl. Ringyō hattatsushi chōsakai 1960: 52-54 u. 73-80). Besonders das 1897 in Kraft getretene und 1907 reformierte Forstgesetz, das das Grundgesetz für die Wald- und Forstverwaltung war, richtete das System des geschützten Waldbestandes und der Wald-Polizei (shinrin keisatsu) ein und stellte auch Straf bestimmungen für eine Reihe von illegalen Handlungen, wie etwa unerlaubtes Holzfällen oder Beschädigung von Bäumen, auf (vgl. ebd.: 331-340 u. 659-675). Sowohl die Einrichtung des Familienregisters und die staatliche Kontrolle des Fluss- und Forstwesens als auch die damit zusammenhängende strafrechtliche Behandlung verengten nicht nur den Lebensraum von »Sanka«, sondern verurteilten auch ihre Lebensweise überhaupt als kriminelles Delikt. So versteht es sich auch von selbst, dass die Polizei oft regelrechte »Sanka-Jagden« organisierte: »Sanka« wurden festgenommen und vertrieben; ihre Zelte oder Buden wurden zerstört.7 Aufgrund solcher Maßnahmen war es immer schlechter um die »Sanka« bestellt, sodass oft von der rasanten Abnahme der »Sanka« gesprochen wurde. Yanagita Ku7 | Vgl. Takano 1993 [1924]: 92-93. Als der schwerwiegendste und wohl bekannteste Fall einer »Sanka-Jagd«, der auch in der Diskriminierungsgeschichte der Lep ra-Kranken in Japan von wesentlicher Bedeutung ist, lässt sich der Matogahama-Fall nennen. An der Matogahama-Küste in Beppu (in der Präfektur Ōita) wurden 1922 wegen des bevorstehenden Besuches eines Prinzen die Einwohner, die zum Großteil aus »Sanka«, Obdachlosen und Lepra-Kranken bestanden, von der Ortspolizei vertrieben und ihre Häuser wurden verbrannt (vgl. Fujino 1993: 55-82 u. Endō 2017: 127-129).
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nio, der über »Sanka« im Rahmen der »stark diskriminierten speziellen Minderheiten« (tokushu burakumin) diskutierte, führte die Schwierigkeiten des Lebens der »Sanka« u. a. auf das Flussgesetz und das Eigentumsrecht zurück: »Von den Flüssen ganz zu schweigen, die in den Gegenstand des Flussgesetzes fallen, ist in anderen Gebieten durch Urbarmachung immer weniger Bambusgebüsch vorhanden und wegen der immer selteneren Überschwemmungen nur unzureichend Treibholz zu finden, das als Brennstoff dienen kann. Und indem immer mehr Eigentumsrechte in Anspruch genommen werden, ist es recht schwierig geworden, fremde Grundstücke ohne Erlaubnis der Besitzer zu bewohnen. Deshalb müssen sie nicht nur im Sommer und Winter, sondern auch innerhalb einer Jahreszeit ihre Wohnorte wechseln. Dies bedeutet ein vollkommenes Wanderleben, und weil die Polizei hart nach ihnen jagt, gebären sie auf der Reise Kinder, die späterhin Landstreicher werden und niemals richtige Staatsbürger werden können« (Yanagita 1999 [1913]: 259f.).
Und 1924 schrieb Takano Yasaburō in einer der ersten »Sanka«-Monografien, dass die Anzahl der »Sanka« infolge des Inkrafttretens des Strafgesetzbuches abgenommen habe: »Seitdem darüber hinaus 1908 das neue Strafgesetzbuch in Kraft getreten ist, hat ihr Leben einen herben Schlag bekommen; von den wichtigen Mitgliedern, d. h. den Leistungsfähigen, wurden viele festgenommen, verurteilt und sitzen im Gefängnis. Sie, die weder einen angemeldeten Wohnort noch Beruf haben, werden sofort unter Verdacht der Landstreicherei von der Polizei festgenommen, in Untersuchungshaft genommen und legen entweder letzten Endes ein Geständnis ab, oder ihnen werden gestohlene Gegenstände unter die Nase gehalten. Das sind die Hauptgründe dafür, dass die Sanka immer weniger werden« (Takano 1993 [1924]: 53f.).
Für Takano reichte es aber nicht aus, dass die »Sanka« ihre Lebensweise nicht aufrechterhalten konnten und sich ihre Anzahl allmählich verminderte. Ihm erschien schon die Tatsache problematisch genug, dass sie überhaupt noch existierten: »Dass es Personen ohne registrierten Wohnsitz gibt, die im Familienstammbuch überhaupt nicht zu finden und also nicht zur japanischen Bevölkerung zu zählen sind, dass sie sich versammeln und eine eigene Gesellschaft bilden, bedeutet für den Staat eine gro-
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ße Schande« (ebd.: 19). So forderte er eine spezielle Regelung, »alle ›Sanka‹-Menschen – gleichgültig, ob sie Straftaten verübt haben oder nicht – festzunehmen und ihnen unter besonderer Aufsicht Zwangsarbeit aufzuerlegen, gleichzeitig Erziehungsmaßnahmen durchzuführen und zumindest diejenigen, die sich auf den rechten Weg bringen lassen, durch bestimmte Fürsorge zur Familiengründung zu verhelfen« (ebd.: 122). Je mehr »Sanka« aber vom Verschwinden bedroht wurden, desto mehr wurde ihre Gefährlichkeit und Brutalität proklamiert. Sie, die in der Regel nicht im Familienregister erfasst wurden, keine japanische Staatsangehörigkeit besaßen und frei von der Bürgerpflicht waren, wurden also nicht nur als Fremdlinge innerhalb des homogenen, familiären Raumes angesehen, sondern auch als eine große Herausforderung der Staatsräson dargestellt. Gleichzeitig dazu, dass Erkenntnisse über die Krise der »Sanka« sowie die Forderung nach ihrer Einbürgerung herrschten, wurde Wissen über sie gesammelt und in Umlauf gebracht. Dabei war es weitgehend ein Wissen, welches »Sanka« als Schwerverbrecher und gefährliche Elemente für die japanische Gesellschaft darstellte. Es stammte von der Polizei und wurde zur Grundlage von zwei entgegengesetzten »Sanka«-Auffassungen, die im Journalismus, in der Volkskunde und schließlich in der Literatur zirkulierten.
3. »S ank a« als V erbrecher 1875 ordnete der Polizeipräsident der Präfektur Shimane den kommunalen Polizeibehörden eine »Säuberungsaktion« an. Es wurde erklärt, dass die »Sanka« ohne festen Wohnsitz durch die Gegend strichen, in Wohnungen einbrächen, Frauen vergewaltigten, auch Einwohner ermordeten und Häuser anzündeten; ausgehend von dieser Auffassung wurde gefordert, an allen Ecken und Enden »Sanka« aufzusuchen und zusammen mit ihren Komplizen festzunehmen (vgl. Okiura 2004 [2002]: 98-103). Als Hintergrund für diese »Sanka«-Darstellung weist Okiura darauf hin, dass die Polizei, um ihre eigene Organisation zu stärken, die »Sanka« zu einem Gesellschaftsfeind stilisierte, den es zu bekämpfen gelte. Das hier geschilderte »Sanka«-Bild als grausame Schwerverbrecher, die die öffentliche Sicherheit stark gefährden würden, bürgerte sich in den folgenden Jahrzehnten ein.
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Die Anordnung in Shimane ist eines der ersten Beispiele, die »Sanka« zu Schwerverbrechern erklärten. Die Polizei verlor in den folgenden Jahren nie ihr Interesse an den »Sanka«; sie machte ständig Jagd auf sie und sammelte Informationen über sie. So wurde die Polizei zum Sammel- und Quellpunkt des Wissens über »Sanka«. In einem polizeilichen Geheimdokument heißt es beispielsweise: »Mord, Einbruch, Vergewaltigung und Diebstahl zählen zu den Verbrechen, die von den Sanka verübt werden; Diebstahl und Einbruch sind die häufigsten Verbrechen, darauf folgen andere, wobei es allerdings besonders erwähnenswert ist, dass sie solche Übeltaten brutal und grausam begehen, immer scharfe Waffen bei sich tragen und beim Widerstand gegen die Festnahme nicht davor zurückschrecken, den Gegner zu töten oder zu verletzen. Ihr Ziel ist es immer, Geld und keine Gegenstände zu stehlen, wohl weil diese schwer zu verkaufen oder zu tragen sind« (zit. nach Koishikawa 2003: 44).
Weiterhin sammelte man auch in Fahndungshandbüchern typische Diebstahl- und Einbruchsmethoden der »Sanka«. So führte man etwa zwei von insgesamt 25 Vorgehensweisen beim Einbruch auf »Sanka« zurück: Bei der einen Methode mache man mit einem scharfen Messer im Fensterladen aus Holz ein rundes oder dreieckiges Loch; bei der anderen brenne man mit Holzkohle ein Loch hinein (vgl. ebd.: 45f.). Dieses Wissen und auch das Bild der »Sanka« als Schwerverbrecher kamen durch eine sensationell aufgemachte Berichterstattung in Umlauf. In diesem Sinne verdient eine der ersten Monografien über dieses Thema, Sanka no seikatsu [Das Leben der Sanka], die der Journalist Takano Yasaburō 1924 nach einer Reihe von Veröffentlichungen in Zeitungen der 1910er Jahre publizierte. Die polizeiliche »Sanka«-Auffassung zeigt sich in Takanos Buch vor allem darin, dass »Sanka« als eine in sich geschlossene Gruppe beschrieben werden, die nicht im Familienregister eingetragen sind, überall in Japan herumstreichen und verschiedene schwere Verbrechen verüben: Wenn sie, so Takano, etwa von der Polizei verfolgt und in die Enge getrieben würden, leisteten sie mit der Waffe Widerstand, wobei sie nicht davor zurückschrecken würden, Menschen brutal zu töten (vgl. Takano 1993 [1924]: 70f.). Takano geht in seiner Beschreibung sogar so weit, »Sanka« als psychisch und sittlich anormale Menschen zu stilisieren: »Wenn man die Lebensweise der Sankas betrachtet, so sind ihre Handlungen so anormal,
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dass normale Menschen sie nur schwer nachvollziehen können. Es ist zu vermuten, dass solche langjährigen anormalen Handlungen schließlich eine Art des anormalen Lebensstils und des psychischen Wahnsinns gebildet haben« (ebd.: 16). So zählt Takano unermüdlich Beispiele auf, um zu zeigen, wie bestialisch, wild und anormal »Sanka« seien: Die »Sanka«, die siebzig oder achtzig Jahre alt werden und nicht mehr zusammen mit den anderen unterwegs sein können, würden von ihren Familienmitgliedern oder Verwandten ermordet und ihre Leichname würden vergraben (vgl. ebd.: 54); sie hätten in der Regel ein scharfgeschnittenes, kleines Gesicht, braune Hautfarbe und dunklen Bart (vgl. ebd.: 86); sie seien wegen ihres ständigen Wanderlebens robust wie wilde Tiere, an einfaches Essen gewöhnt und würden kaum erkranken (vgl. ebd.: 85); sie könnten Tage und Nächte ohne Pause und ohne zu trinken laufen, und zwar so schnell, dass normale Menschen sie nicht einholen könnten; sie hätten Geschlechtsverkehr nicht aus Liebe, sondern allein, um ihre Lust zu befriedigen; sie würden viele Frauen vergewaltigen und manche anschließend auf brutale Weise ermorden (vgl. ebd.: 111). Von Takanos journalistischer Beschreibung zur literarischen Verarbeitung war es nur ein kurzer Schritt. In diesem Zusammenhang ist Misumi Kan wohl als der wichtigste und bekannteste »Sanka«-Autor zu bezeichnen, weil er nicht nur viele Geschichten über sie schrieb, sondern auch und nicht zuletzt am Schnittpunkt von Journalismus, Literatur und späterhin »Wissenschaft« angesiedelt war. Er arbeitete zunächst bei der Zeitung Tōkyō asahi shinbun und machte sich dort als Verfasser von vielen sensationellen Exklusivmeldungen einen Namen.8 Das zog die Aufmerksamkeit u. a. des Schriftstellers und Mitbegründers des Bungei shunjūVerlags Kikuchi Kan auf sich. Der Verlag begann nämlich ab 1928 unter seiner Leitung den Schwerpunkt auf »reale Geschichten« ( jitsuwa mono) zu setzen, und Kikuchi hielt Ausschau nach geeigneten Autoren.9 Es handelte sich bei den »realen Geschichten« um eine literarische Gattung, in 8 | Bei der Beschreibung der schriftstellerischen Karriere Misumis folge ich Imai 2011. Berühmt machte Misumi nicht zuletzt die Berichterstattung über den »Einbrecher mit der Strafpredigt« (sekkyō gōtō), der von 1925 bis 1929 in Tokyo 65mal Einbrüche und zahlreiche Diebstähle verübte. Diese Fälle veranlassten ihn dazu, sich für »Sanka« zu interessieren. Vgl. dazu ebd.: 58-104 u. Koishikawa 1994: 14-97. 9 | Zu jitsuwa mono vgl. Imai 2011: 128-130 u. Bungei shunjū shinsha 1959: 67f.
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der oft von einem real geschehenen Kriminalfall oder einer Liebesaffäre erzählt wird, wobei die Erzählweise der in der zeitgenössischen Unterhaltungskultur aufgeblühten Geschmacksrichtung des ero-guro-nansensu [erotisch-grotesker Nonsens] entsprach. So publizierte Misumi 1930 für die Frauenzeitschrift Fujin saron bei Bungei shunjū seine erste »reale Geschichte« Moraiko-goroshi no shinsō [Die Wahrheit über die Adoptivkindmorde], die auf einem Kriminalfall beruht, bei dem eine gewisse Ogawa Kiku 1929 in einem Slumgebiet Tokyos insgesamt 41 Adoptivkinder binnen eines Jahres ermordet hatte. Nach dem Erfolg dieser Geschichte schrieb Misumi in den folgenden Jahren für dieselbe Zeitschrift und auch für die Zeitschrift für Unterhaltungs- und Trivialliteratur Ōru-yomimonogō 10 aus demselben Verlag zahlreiche »reale Geschichten«. Solche »realen Geschichten«, die an der Grenze von journalistischer Reportage und Trivialliteratur lagen, wurden zur formalen Grundlage von Misumis »Sanka«-Literatur. Zum ersten Mal schrieb Misumi 1932 eine Geschichte über »Sanka« unter dem Titel Sanka O-Ryō no maki [Der Fall der Sanka O-Ryō] in der Erzählreihe Shōwa dokufuden [Geschichten von bösen Weibern in der Shōwa-Zeit] (vgl. Imai 2011: 262). Nach dieser »realen Geschichte« veröffentlichte er nacheinander weitere Geschichten, deren großer Erfolg ihn zu einem Star-Autor des Bungei shunjū-Verlags machte.11 Solche »realen« Geschichten über »Sanka« sind oft in der Form geschrieben, dass sich ein alter Polizist an einen Kriminalfall erinnert. Sie beginnen mit einer einführenden Rede des Erzählers. Um den Schein der Authentizität zu stärken, werden sie reichlich mit der (wohl von Misumi selbst erfundenen) Geheimsprache und Erläuterungen über Kultur und Gesellschaft der »Sanka« ausgestattet. So beginnt etwa die »reale Geschichte« Sanka O-Ryō mit der kurzen Vorstellung eines alten, pensionierten Polizisten, der im Hauptteil die Erzählerrolle übernimmt (vgl. Misumi 2004 [1932]). Es handelt sich um die Geschichte einer Fahndung nach der Sanka-Frau O-Ryō, die einen 10 | Die spätere Zeitschrift Ōru-yomimono. 11 | Vgl. Imai 2011: 325-327. An dieser Stelle führt Imai außerdem den großen Unterschied in der heutigen Popularität zwischen Nomura Kodō, der dank seiner Zenigata Heiji-Serie bis heute einer der bekanntesten Autoren der japanischen Trivialliteratur ist, und dem inzwischen fast vergessenen Misumi darauf zurück, dass Misumis »Sanka«-Erzählungen nur vor dem Hintergrund des militaristischen und autokratischen Japan der 1920er und 1930er Jahre zu verstehen sind.
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bereits mehrmals vorbestraften Einbrecher zu einer neuen Tat verführt. Die Polizei sucht nach der Festnahme O-Ryōs die Spur zu einer hinter ihr stehenden großen Sanka-Organisation, die von einem gewissen »Saburō ohne Hand« (Tenashi no Saburō) geleitet wird. Die Polizei scheitert aber an der Geheimsprache der Sanka. Anschließend wird auch die Lebensgeschichte O-Ryōs erzählt und weiter auch davon, dass sie aus der Sanka-Verbrechergruppe ausstieg und von dieser verfolgt wurde. Versehen wird die Erzählung mit Hintergrundinformationen über die Organisation der »Sanka«, ihre Geheimsprache und ihre typischen Waffen. Geschildert werden die »Sanka« also als Verbrecher, die eine hierarchisch aufgebaute und streng disziplinierte Organisation haben, deren Zerschlagung misslingt – nicht wegen der Unfähigkeit einzelner Polizisten und auch nicht wegen ihrer Furcht vor der Brutalität der »Sanka«, sondern wegen des personellen und finanziellen Mangels der Polizei (vgl. ebd.: 68). Ob es sich auch in der Erzählung Sanka O-Ryō um eine erheblich übertriebene Geschichte eines realen Geschehens oder um eine Fiktion handeln mag – Misumi beharrte jedenfalls lebenslang darauf, dass all seine Erzählungen über die »Sanka« keine Fiktion seien. So schrieb er im Nachwort zu einer 1966 erschienenen, von ihm selbst herausgegebenen Sammlung seiner bereits in den Dreißigerjahren publizierten »Sanka«Geschichten mit dem Titel Sanka kidan [Seltsame Sanka-Geschichten] wie folgt: »Und dieses Buch besteht […] aus – um mit der heutigen Sprache zu sprechen – Dokumentationen und nonfiction, welche ich früher durch rege Recherchen und Interviews gesammelt habe. Fast alle hier auftretenden Menschen sind schon verstorben, und die geschilderten Landschaften haben sich inzwischen verändert, aber damals war es tatsächlich so, wie es in den Geschichten steht. Vielleicht liegt es an den Zeitumständen, dass Ereignisse von vor dreißig Jahren wie uralte historische Tatsachen erscheinen« (Misumi 2014 [1966]: 255).
Und vier Jahre zuvor hatte er bereits über »Sanka« eine »wissenschaftliche« Monografie geschrieben. Im April 1962 hatte er nämlich an der Tōyō Universität in Tokyo mit einer Arbeit zum Thema Sanka shakai no kenkyū [Studien über die Sanka-Gesellschaft] promoviert. Er verstand seine Arbeit so, dass er »vom volkskundlichen Standpunkt das Leben des Sanka-Volks analysiert und es vierzig Jahre lang historisch und wissenschaftlich untersucht« habe (Misumi 2001 [1965]: 7). Es liegen zwar heute Be-
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funde vor, die zeigen, wie problematisch seine »wissenschaftliche« Arbeit ist und wie Misumi in ihr Tatsachen erfand und manipulierte, und zwar so, als ob es »Sanka« als ein Volk gäbe (vgl. Okiura 2001; Koishikawa 2005 u. Tsutsui 2006). Jedoch gelang es Misumi zumindest zeitweise, das Wissen über die »Sanka« in ein wissenschaftliches Gewand zu kleiden. So gab er einen umfassenden und detaillierten Gesamtüberblick über das Leben und die Kultur der »Sanka«, ohne diese als Verbrechergruppe zu diffamieren: Er schilderte Beruf und Arbeit, Alltagsleben (Essen, Wohnungen und Hygiene), Gesellschaftsstruktur, Bräuche und Sitten (Eheschließung, sexuellen Verkehr und Geburt), gesellschaftliche Ordnungen (Gesetze und Herrschaftsstruktur), regionale Demographie und schließlich Integrationstendenzen in die japanische Gesellschaft. Beigefügt sind außerdem angeblich von ihm fotografierte Bilder der Innen- und Außenansicht von »Sanka«-Zelten, ihres Badens im Freien, ihres Kochens und Fischens, weiter Bilder des Handwerkzeugs zur Anfertigung von Regenumhängen aus Stroh; schließlich sind eine Verbreitungskarte von »Sanka«, ein Glossar der »Sanka«-Sprache sowie ein Lexikon der Heil- und Nahrungspflanzen angefügt (vgl. Misumi 2001 [1971]). Dabei folgte Misumi der Spur der wissenschaftlichen Untersuchung, nämlich der Volkskunde, die die »Sanka« bereits um 1900 – in einer anderen Art und Weise als Misumi – zu einem wissenschaftlichen Gegenstand gemacht und sie als ein Volk dargestellt hat. Dort wurde die Frage der »Sanka« zum ersten Mal von Yanagita Kunio verhandelt, der als Begründer der japanischen Volkskunde gilt. In seiner Darstellung entwickelte sich ein anderes Bild von den »Sanka« als das einer Verbrechergruppe. Dieses Bild wurde dann hauptsächlich von den intellektuellen Kritikern des militaristischen Japans getragen, d. h. von denjenigen, die die individuelle Freiheit beeinträchtigt sahen: So wurden die »Sanka« zu einem Sammelbecken von dem, was Japan – ihnen zufolge – im Zuge der Modernisierung vergessen oder unterdrückt hatte, und zum Symbol für eine von der Staatsgewalt unabhängige und freie Existenz.
4. »S ank a« als freie M enschen Zur gleichen Zeit wie bei Takano erweckten die »Sanka« das Interesse von Yanagita Kunio, der in den 1930er Jahren die japanische Volkskunde als eine Disziplin entwickelt hatte. Der frühe Yanagita (ca. von 1909
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bis 1926) interessierte sich in erster Linie für »Bergmenschen« (yamabito). Sie seien, nach Yanagita, ein im tiefen Gebirge wohnendes Volk, das die Ureinwohner Japans gewesen sei. Aber sie seien von den Vorfahren der heutigen »Japaner« in die Berggebiete vertrieben worden, sodass sie gegenwärtig vom Verschwinden bedroht seien. Sie hätten kaum oder keine Kontakte zu den Bewohnern im Flachland gepflegt; auch hätten sie andere Sitten und Bräuche als jene (vgl. u. a. Akasaka 1991). Im selben Zeitraum hegte Yanagita auch Interesse an den Wandervölkern, die nicht zur Gemeinschaft der Bewohner im Flachland gehörten, sondern am Rand der Dörfer, im Gebirge und in anderen menschenleeren Gebieten umherwanderten (vgl. Akasaka 1994). Sowohl den »Bergmenschen« als auch den »Wandervölkern« sei gemeinsam, dass es sich bei ihnen um Figuren der Vergangenheit handele, die im Zuge der Modernisierung stark vom Verschwinden bedroht seien. Vor diesem Hintergrund entstand 1911 bis 1912 der Aufsatz »Itaka« oyobi »sanka« [»Itaka« und »Sanka«], der die erste wissenschaftliche Arbeit über die »Sanka« überhaupt darstellt.12 Dabei legte er – ebenso wie es in journalistisch-literarischen Darstellungen üblich war – seiner »Sanka«Darstellung hauptsächlich diejenigen Informationen zugrunde, die er auf einer 1911 unternommenen Reise in die Provinzen Mino und Echizen13 von örtlichen Polizisten sowie Beamten gesammelt hatte (vgl. Yanagita 1999 [1948]). So gab Yanagita die hierarchische Organisation der »Sanka« an, ihre Bräuche und das Gebot der strengen Geheimhaltung: In jeder Region gebe es ein »Sanka«-Oberhaupt, das über große Macht verfüge und oft zwei oder drei Nebenfrauen habe; einmal im Jahr versammle sich das »Sanka«-Volk auf einem Berg, um ihre Hochzeiten gemeinsam zu feiern. Außerdem hätten die »Sanka« eine Geheimsprache, über die man nichts Genaueres wisse. Viele von denen, die sich als »Sanka« offenbart hätten, würden später grausam ermordet (vgl. Yanagita 1999 [1911-12]: 66f.). »Sanka« sind Yanagita zufolge also »nicht Menschen [...], in die normale Menschen durch Verarmung verwandelt« werden (ebd.: 67), sondern eine vom japanischen Volk unterschiedene, von alters her tradierte
12 | Es liegt in der Yanagita-Forschung bisher nur ein einziger Aufsatz vor, der speziell Yanagitas »Sanka«-Forschung diskutiert, nämlich Yuza 2014. 13 | Sie sind Teile der heutigen Präfekturen Gifu und Fukui.
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»Rasse«.14 So behauptet er aufgrund der Lektüre von historischen Texten, dass die »Sanka« heruntergekommene Nachfahren der alten Puppenspieler (kugutsu) seien, die im 9. und 10. Jahrhundert verschiedene Länder bereist und Puppenspiele aufgeführt hätten (vgl. ebd.: 69-75). Hingegen teilte er nicht die Ansicht, dass es sich bei den »Sanka« ausschließlich um grausame Verbrecher handle. So räumt Yanagita zwar im oben genannten Aufsatz ein, dass die »Sanka« den örtlichen Bewohnern Kleidungsstücke oder Feldfrüchte stehlen würden, führt das aber auf ihr mangelndes Eigentumsverständnis zurück (vgl. ebd.: 67). Und in einer Rezension zu Takanos Monografie kritisiert Yanagita dessen »Sanka«-Bild mit folgenden Worten: »Zum Glück oder nicht, lesen die Sanka kaum Bücher. Deshalb werden sie bestimmt nicht wissen können, was Herr Takano geschrieben hat. Wenn sie aber wüssten, dass sie ein Heer von Menschen seien, die als Räuber und Betrüger lebten, nähmen sie dies sehr übel. Mit so einem ungemütlichen Beruf ist es mit Sicherheit nicht möglich, mehrere hundert Jahre lang zu überleben. Es mag zwar wahr sein, dass sie in den letzten Jahren zunehmend schwere Verbrechen verüben, aber dafür muss es gesellschaftliche Gründe geben« (Yanagita 1998 [1924]: 231).
Im Gegensatz zu Takano zeigte Yanagita an einer anderen Stelle sogar eine gewisse Sympathie für sie, die er mit einer impliziten Kritik an der Staatsmacht verkoppelte. So brachte er die »Pon« (eine Namensvariante von »Sanka«) mit dem 1920 zum ersten Mal durchgeführten Zensus in Zusammenhang: »Ich habe gehört, dass man merkwürdigerweise beim Zensus trotz sorgfältiger Untersuchung in keinem Dorf eine einzige Pon-Familie finden konnte. Ich habe es nicht bezweifelt, fand es aber interessant. Pon sind wie in der japanischen Vorstellung des Totenreichs (yūmeidō) die zweiten Bewohner dieses Landes. [...] Auch an einem Tag, an dem die sonst ruhigen Einwohner von Kyoto alle tanzten und feierten, habe ich gesehen, dass jemand im Kiefernwald des Waka-ōji-Berges dünne Rauchsäulen aufsteigen ließ. Das war wie der Oni auf dem Asakura-Berg beim Tod
14 | Der Begriff der »Rasse« ist bei Yanagita, nicht zuletzt in seiner Frühphase, mehrdeutig (vgl. Akasaka 1991: 77-87).
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der Kaiserin Saimei15 und ist gewissermaßen nicht zu vermeiden. Denn so etwas haben wir lange toleriert. Soweit ich gehört habe, soll ein Schlauer von ihnen die roten, auffälligen Aushänge an den Straßenecken gesehen und seinen Kameraden gesagt haben: ›Passt auf am 1. November. Wer sich dem Zensus nicht entziehen kann, ist eine Schande für die Pon‹« (Yanagita 1998 [1920]: 29).
Neben seiner Sympathie für die »Sanka« und seiner impliziten Kritik am Zensus fällt in dieser Passage auf, dass Yanagita die »Sanka« als »die zweiten Bewohner dieses Landes« bezeichnet, die trotz der Versuche nicht aufzufinden und zu erfassen seien. Hier klingt Yanagitas Interesse an yūmeikyō nach, d. h. an der einheimischen religiösen Überzeugung, die es – seiner Meinung nach – vor der Einführung des Buddhismus in Japan gegeben habe und die, »weil sie das Gemeinwohl beeinträchtigt, schwer zu überliefern ist und in der Öffentlichkeit nicht genehmigt werden kann« (Yanagita 2006 [1905]: 393).16 So reiht er die Resistenz der »Pon« in die Tradition derjenigen ein, die gegen die Ausübung der Souveränität des Tennō über die Japaner Widerstand leisteten, indem er einen oni auf dem Asakura-Berg beim Tod der Saimei Tennō ins Spiel bringt. So benutzt er die »Sanka« als Vorwand, um an der zentralistisch-flächendeckenden Erfassung der Einwohner eine ironische Kritik zu üben. Und so wurden die »Sanka« in Yanagitas großes Japan-Narrativ eingefügt, und zwar als ein uraltes »Volk«, das – heute marginalisiert – im Schatten des Kaiserreichs noch dessen Herrschaft widersteht. Nach dem Erscheinen von Yama no jinsei [Das Leben im Gebirge] aus dem Jahr 1926 verlagerte Yanagita sein Interesse zunehmend auf »das gemeine Volk« ( jōmin), und entsprechend trat das Thema »Sanka« in den Hintergrund. Aber seine Darstellung war so beispielhaft, dass sich »Sanka« in den folgenden Jahren als ein Thema in der Volkskunde etablierte. 15 | Laut dem Nihon shoki stand bei der Trauerfeier für die im 7. Jahrhundert regierende Saimei Tennō auf der Spitze des Asakura-Bergs ein oni (ein Dämon oder Teufel) mit einem großen Hut und betrachtete die Zeremonie (vgl. Nihongi 1896: 272). 16 | Auffällig ist hierbei auch, dass Heinrich Heines Erzählung Götter im Exil für Yanagita als eine Inspirationsquelle zur Unterscheidung zwischen der ursprünglichen, aber nun unterdrückten Religion einerseits und der späterhin eingeführten, jetzt dominanten Religion diente (vgl. Yanagita 2006 [1905]: 394f.). Zu »yūmeidō« bei Yanagita vgl. Akasaka 1991: 245-257.
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So schrieb der Geschichtswissenschaftler mit volkskundlicher Orientierung Kita Sadakichi nicht nur 1920 einen Aufsatz über die Etymologie des Wortes sanka (vgl. Kita 2012 [1920]), sondern die von ihm herausgegebene Zeitschrift Minzoku to rekishi nahm viele Aufsätze und Berichte über die »Sanka« auf. Und im Nihon minzokugaku jiten, dem 1933 bis 1935 erschienenen ersten Lexikon der Volkskunde, findet sich ein Artikel über »Sanka« (vgl. Nakayama 1980 [1941]: 716). Nicht zuletzt verdient in diesem Zusammenhang Gotō Kōzens 1940 erschienene Monografie Matagi to sanka [Matagi und Sanka] eine kurze Erwähnung. Denn Gotōs Darstellung zeichnet sich darin aus, die »Sanka« als Anarchisten darzustellen. Nach ihm haben die »Sanka« keine hierarchische Organisation mit einem Oberhaupt, sondern leben alle selbstständig und frei. »Von niemandem beherrscht und von niemandem befohlen, führen sie ihr Leben wie sie wollen und sind darüber hinaus anständig. Selbstständig und frei leben, außerdem keine Regel übertreten – das macht einen perfekten Anarchisten aus« (Gotō 1989 [1940]: 25). Außerdem entstanden im unmittelbaren Umkreis Yanagitas literarische Texte über die »Sanka«. Geschildert wurden sie dabei in erster Linie nicht als gefährliche Schwerverbrecher, sondern vielmehr entweder als ein »Volk«, das im Schatten des modernen, zivilisierten Japans lebt, oder als stolze, starke und freie Menschen, die deutlich den schwachen, aber autoritären und autoritätshörigen Einwohnern entgegengesetzt sind. Wohl die erste literarische Erzählung in diesem Bereich war Kikoku [Rückkehr] von Tayama Katai, der mit Yanagita eng befreundet war und oft von ihm Stoffe für Erzählungen bekam (vgl. Tayama 2015 [1916]; zum Verhältnis von Tayama und Yanagita vgl. Ōtsuka 2007: 87-126). Die »Sanka« wurden in dieser Erzählung als ein »Volk« dargestellt, das in kleinen Gruppen ständig herumreist, sich einmal im Jahr in ihrer Heimat versammelt und zusammen die Hochzeit seiner Mitglieder feiert. Von dieser Erzählung angeregt, gab dann der sozialistische Publizist, Schriftsteller und Übersetzer Sakai Toshihiko in seinem Essay Sanka no yume [Der Traum von den Sanka] seinen Eindruck folgendermaßen wieder: »Ich war […] gewissermaßen erstaunt und fand es lustig, dass es in diesem kleinen und kleinlichen Japan ein Menschenvolk gibt, das sich außerhalb der Staatsgewalt und außerhalb der sozialen Beziehungen befindet sowie ein fast selbstständiges und freies Leben führt« (Sakai 2015 [1928]: 50). So assoziiert er dann die »Sanka« mit historischen, legendären und literarischen Menschengruppen und Tieren, welche von der
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Gewalt der Herrschaftsklasse unterdrückt werden und ihr Widerstand leisten: mit den Tsuchigumo,17 den Überlebenden des Heike-Klans (Heike no ochimusha) und mit den Ureinwohnern auf der damals von Japan kolonialisierten Insel Taiwan; weiterhin mit Figuren der amerikanischen Literatur wie Philip of Pokanoket in der gleichnamigen Novelle Washington Irvings und dem Hund Buck in Jack Londons Roman The Call of the Wild. Auf der anderen Seite ist sich der Verfasser bewusst, dass es sich um eine Wirklichkeitsflucht handelt. So legt er einem Freund, der seine Sehnsucht nach den »Sanka« ausspricht, in den Mund, das sei »natürlich eine Flucht. Aber es ist doch mannhafter als Flucht in Religion, Literatur oder Wein und Frauen« (ebd.: 52). Schließlich gilt es ein Drama zu erwähnen, das auch in Yanagitas Umkreis entstand. Der Dramatiker Nakamura Kichizō, der auf seiner Europareise von Henrik Ibsen maßgeblich beeinflusst wurde und 1920 zusammen u. a. mit Yanagita eine Ibsen-Gruppe (Ipusen-kai) gründete, veröffentlichte den Einakter Musekimono [Menschen ohne familienrechtlichen Wohnsitz] (vgl. Nakamura 2015 [1938]). In diesem Drama steht eine »Sanka«-Familie im Mittelpunkt, die weder die japanische Staatsangehörigkeit noch einen eingetragenen Namen hat. Das Ehepaar versteht auch nichts von privatem Besitz oder von Geld, sodass es sich nicht bestechen lässt und den Einwohnern Hühner und Feldfrüchte stiehlt – weil diese angeblich einfach auf der Erde liegen. Um den Freiheitscharakter der »Sanka« hervorzuheben, wird das Ehepaar einerseits einem Obdachlosenpaar, einem alten Mann und einer jungen Frau, und andererseits den gegenüber der Staats- und der Wirtschaftsmacht unterwürfigen Einwohnern entgegengestellt – den Einwohnern, die von einem Polizisten, einem Veteranen und dem Chef der örtlichen freiwilligen Feuerwehr verkörpert werden. Im Kontrast zu den Obdachlosen wird das »Sanka«-Ehepaar als ein gleichberechtigtes Paar gezeigt, das sich gut versteht; der Gegensatz zu den Einwohnern besteht darin, dass der »Sanka«-Mann als ein Mensch vorgestellt wird, der nach seinem eigenen Willen frei handeln kann und sich niemandem unterwirft. Kurzum: Bei Nakamura sind die »Sanka« perfekte und freie Menschen. Wenn man diese beiden dargestellten Semantiken von »Sanka« – als gefährliche Verbrecher und als stolze, freie Menschen – miteinander ver17 | Die Tsuchigumo sind ein legendärer Stamm von Höhlenbewohnern, der in Japan wohnte und sich dem Yamato-Hof nicht ergeben haben soll.
»Sanka« als Diskursfigur der Modernisierung Japans
gleicht, dann lässt sich nicht nur von einem Gegensatz, sondern auch von einer spiegelbildlichen Struktur sprechen. Dies lässt sich weiterhin darin erkennen, dass der »Sanka«-Diskurs sich gerade dort entfaltet hat, wo die journalistische Berichterstattung, die Volkskunde und die Literatur ineinandergreifen, wo also Fiktion und Realität aneinandergrenzen. Im Mittelpunkt dieses diskursiven Raumes ist die Figur »Sanka« als stummes, überdeterminierbares und in der Tat überdeterminiertes Objekt situiert.
5. S chluss Die hier skizzenhaft dargelegten entgegengesetzten »Sanka«-Bilder weisen nicht nur auf die große Popularität der »Sanka« in den ersten vierzig Jahren des 20. Jahrhunderts hin, sondern können auch – zumindest ansatzweise – eine mögliche Antwort auf die Frage geben, was sie für die nationalistische Raumvorstellung des japanischen Kaiserreichs bedeuten. Die »Sanka« repräsentierten eine unkontrollierte, vom Staatsapparat nicht erfassbare Existenz und Bewegungsfreiheit, welche die Krise der dem Anspruch nach vollständigen Erfassung der japanischen Untertanen bedeuten könnte. Das Versagen bei einer vollkommenen Erfassung der Einwohner und – im Zusammenhang damit – das Bewusstsein von einer manifesten und latenten Gefahr begründete entweder die Notwendigkeit zur weiteren Ausarbeitung des Verwaltungs- und Überwachungssystems; oder aber man konnte die »Sanka« zum Vorwand nehmen, um am militaristischen und totalitaristischen Kaiserreich Kritik zu üben. In diesem Sinne wäre der »Sanka«-Diskurs ohne den Widerspruch zwischen Freiheit und Überwachung nie entstanden. Das Krisenbewusstsein des Herrschaftssystems führte zur Entwicklung einer weiteren Bedeutung des »Sanka«-Diskurses. Beeinflusst von der europäischen Ethnologie sowie durch die Kolonialherrschaft über Taiwan, Korea und andere Länder, entwickelte sich im japanischen Kaiserreich das Bewusstsein eines Vielvölkerstaates (vgl. Oguma 1995). Auf der anderen Seite wurde in den Kolonien ein vom Inland getrenntes Familienregistersystem entwickelt (vgl. Endō 2010 u. Endō 2013: 161-230): Ein Japaner konnte seinen familienrechtlichen Wohnort nicht in den Kolonien haben; ein Koreaner konnte seinen familienrechtlichen Wohnort nicht im japanischen Inland haben. Verwaltungstechnisch gesehen bedeutet das eine räumliche Teilung der ethnischen Gruppen. Vor die-
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sem Hintergrund lassen sich die »Sanka« auch als eine Figur verstehen, die die immer wieder ideologisch behauptete räumliche und ethnische Homogenität des japanischen Inlands verunmöglicht.
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Teil II Kultur- und literaturwissenschaftliche Zugänge
Fatale Verfehlung, verratene Lockvögel Zum katastrophalen Reiseverlauf in Endō Shūsakus Samurai Markus Joch
Samurai, ein 1980 im Original, sieben Jahre später auf Deutsch erschienenes und 2016 im Wiener Septime Verlag neu aufgelegtes Werk von Endō Shūsaku, steht in Deutschland im Schatten eines anderen Romans des römisch-katholischen Japaners, von Schweigen (jp. Chinmoku), der 1966 veröffentlichten und von Martin Scorsese 2016 verfilmten Erzählung. Wünschenswert wäre eine Aufwertung des weniger bekannten Werks.1 Schon sein Handlungsgerüst gibt erste Hinweise, warum es für eine an Raum- und postkolonialen Fragen interessierte Leserschaft ergiebig ist. Die (in der deutschen Fassung) 420-Seiten-Erzählung basiert auf der teilweise verbürgten Geschichte des Samurai Hasekura Rokuemon, der mit drei Standesgenossen und einer Gruppe japanischer Kaufleute sowie dem spanischen Franziskanerpater Velasco im Mai 1613 in See sticht, um im Auftrag seines Lehnsherrn, Date Masamune, Handelsbeziehungen mit Nueva España anzuknüpfen. Die Expedition dauert vier Jahre und führt die Reisenden nach Mexiko, sodann über eine Zwischenstation in Havanna nach Spanien und Rom. Doch das Vorhaben endet tragisch. Denn inzwischen hat der Shogun, Tokugawa Ieyasu, der in den Missionaren Vorboten der um die Handelsvormacht in Asien kämpfenden Länder Portugal, Spanien, England und Holland sieht, ein Edikt zur Ausrottung der Christen in Japan erlassen; an Handelsbeziehungen besteht kein Interesse mehr. Die Strapazen einer gleich zwei Ozeane und Kontinente 1 | Was nur für Deutschland gilt, in Japan zumindest nicht für die Literaturwissenschaft. Dort sind seit 1980 43 Aufsätze zu Samurai erschienen.
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durchmessenden Reise erweisen sich nicht nur als fruchtlos. Nach der Rückkehr werden Hasekura und der junge Nishi, die zwischenzeitlich Getauften, genauso wie der ehrgeizige Missionar Velasco von den Vasallen des Shogun als mögliche Unruhestifter betrachtet. Alle drei sterben den Märtyrertod im Zeichen des gekreuzigten Christus. Das Kruzifix, auf das Hasekura bei den Spaniern wiederholt trifft – »jener hagere Mann mit dem hängenden Kopf und den kraftlos ausgebreiteten, an das Kreuz genagelten Armen« (Endō 2016 [1980]: 384) –, durchzieht das Werk leitmotivisch, es verkörpert für die japanische Hauptfigur »das Geheimnis des Glaubens und dessen Fremdheit« (Hijiya-Kirschnereit 2000: 183). Die Stichworte Ozean, Mexiko und Kruzifix verweisen auf potenziell rezeptionsförderliche und einen -hinderlichen Faktor. Mit der Überquerung von Pazifik und Atlantik vollziehen die japanischen Abgesandten eine im Zeitalter der Seefahrer fast maximale Bewegung im Raum. Bei Hasekura führt sie zur klassischen Verunsicherung durchs Andere der eigenen Kultur. In Nueva España wiederum erfährt die Expedition, mit den unterworfenen Indios vor Augen, die verheerenden Folgen der Conquista, der Allianz von Schwert und Kreuz. Eine Erfahrung, die in der Erzähllogik als Menetekel eines kolonialisierten Japan dient, des realiter ausgebliebenen Geschichtsverlaufs also. Man denke an die Vorhaltungen, die Matsuki, unter den Gesandten der schärfste Gegner einer Christianisierung Japans, dem Franziskaner macht: »Eure wahre Seligkeit ist zu viel für Japan. Eine starke Medizin wirkt bei manchem wie Gift. Die Seligkeit, die ihr predigt, ist für Japan solch eine Medizin. Das habe ich hier in Nueva España deutlich erkannt. Wären die Spanier nicht mit ihren Schiffen gekommen, würde man auch hier in Ruhe und Frieden leben« (Endō 2016 [1980]: 175).
Somit ist der Plot sowohl für eine am spatial turn orientierte als auch für eine kolonialkritische Lektüre offen. Dessen ungeachtet läuft die Handlung auf die Märtyrertode zu, mit der Imitatio Christi bewegt sie sich wieder in den aus Schweigen vertrauten Bahnen. Zur Erinnerung: Der prominentere Text kreist um die Leiden der japanischen Christen im frühen 17. Jahrhundert und um die inneren Konflikte portugiesischer Jesuiten angesichts der grausamen Folter, der die zu ihrem Glauben übergetretene Landbevölkerung ausgesetzt war. Wer dem Katholizismus entschieden
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abgeneigt ist, dürfte zumindest mit dem Ende von Samurai Schwierigkeiten haben, es zu leidensselig finden. Wir kommen darauf zurück, bleiben aber zunächst bei den im Text verhandelten interkulturellen Kontakten. Besonderheiten von Samurai in dieser Hinsicht benennt Walter Ruprechter in »Perspektivenwechsel«, dem Eröffnungsaufsatz seines Passagen-Bands. Beachtenswert ist zunächst eine Serie von First-Contact-Szenen; die japanischen Gesandten verlassen ihr Land und betreten ein fremdes zum ersten Mal. Umgekehrt stellen sie für die Spanier in Mexiko ein Kuriosum dar, was zur Folge hat, dass die Delegierten ihre Erstbegegnungen mit der Fremde als Kette der Demütigung erleben. Schon beim Antrittsbesuch in der Residenz des Festungskommandanten von Acapulco zeichnet sich das ab. Die Blickverhältnisse während des Banketts kränken die Gäste, registrieren diese doch eine doppelte Respektlosigkeit: »Die Gastgeber starrten die von dem Kapitän und Velasco in den Saal geleiteten Japaner wie exotische Tiere an und tauschten heimliche Blicke« (ebd.: 138), die den Herrn aus Japan durchaus nicht entgehen. Bezeichnend, wie unterschiedlich zwei der Samurai mit der stillen Herabsetzung umgehen. »Tanaka, fest entschlossen, keinerlei Scham zu zeigen, straffte sich in den Schultern, als wäre er erzürnt. Nishi fielen vor lauter Aufregung Messer und Gabel, mit denen er noch nie im Leben umgegangen war, zu Boden« (ebd.). Daraus sprechen entgegengesetzte Haltungen zur weiten Welt. Tanaka, ein älterer Gesandter, stets auf seine Ehre bedacht und sich europäischen Personen und Gebräuchen verschließend, nimmt Zeichen der Missachtung entsprechend gereizt wahr, während Nishi alles Neue positiv sieht und umso beschämter ist, wenn er ihm nicht zu genügen glaubt. Bereits Ruprechter erwähnt, dass Hasekura zwischen diesen beiden Positionen eine mittlere und schwerer zu bestimmende einnimmt, bei ihm »die neuen Erfahrungen auf der Reise innerlich etwas in Bewegung setzen, von dem er sich selbst nicht Rechenschaft geben kann« (Ruprechter 2015: 25). Halten wir als Erstes fest: Endō de-essentialisiert den japanischen Blick auf die Europäer durch eine Verteilung auf unterschiedliche Einstellungen, sodass sich nur von Blicken, Plural, sprechen lässt. Zu dieser Brechung treten weitere, die das verwickelte Verhältnis des Erzählers zu den japanischen und dem spanischen Protagonisten betreffen. Ich zitiere aus »Perspektivenwechsel« nun in ungewöhnlicher Länge, weil mir sämtliche der dort angesprochenen Erzählebenen auch räumliche Gesichtspunkte zu berühren scheinen.
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»Der Samurai gewinnt einerseits in der Perspektive eines Erzählers Kontur, die man als ›japanisch‹ bezeichnen darf, was sich nicht nur im Hintergrundwissen um die Lebensverhältnisse der Leute vom Land zeigt, sondern sich auch in Metaphern verrät, etwa wenn in der spanischen Landschaft die Häuser ›wie ausgestreute Reiskörner‹ liegen. Andererseits besteht der Roman aus Aufzeichnungen Velascos, aus denen wir seine Charakterisierungen der Japaner entnehmen. Allerdings ist zu bedenken, dass der Autor des Romans selbst Japaner ist, der Blick auf die Japaner also selbst schon eine japanische Projektion auf einen Europäer enthält. Und damit nicht genug: der Autor des Romans, Shūsaku Endō, ist ein christlich getaufter Japaner, wodurch sich noch weitere Brechungen ergeben. Denn nun wird Velasco […] durch eine christliche japanische Linse gesehen und die Japaner in der Velas co-Perspektive dabei noch eine Schicht ferner gerückt« (Ruprechter 2015: 31f.).
Die These im Folgenden ist, dass die distinkte Erzählperspektive für eine Äquidistanz zum spanischen Missionar und zu nichtchristlichen Japanern sorgt sowie für eine sympathetische Darstellung des Titelhelden Hasekura, der sich, ohne Christ zu werden, dem fremden Glauben unfreiwillig nähert. Das Verhältnis des Erzählers zu seinen Figuren lässt sich wiederholt an räumlichen Bezügen ablesen: a) an der Art und Weise, in der Velasco und Hasekura die Weite der Ozeane wahrnehmen oder eine auktoriale Erzählerstimme diese kommentiert, b) an der Rolle, die Räumlichkeiten für den Handlungsgang spielen, c) an der Raummetaphorik. Hinzu kommt der von Wertungssteuerungen unabhängige Punkt, dass Hasekura und Nishi auch deshalb ein tragisches Ende finden, weil sie sich mehr als 12.000 Kilometer vom Heimatland entfernt haben. In Havanna hätte Endstation sein müssen. Aber der Reihe nach.
1. E in F unkloch -P roblem und das L ob der W eite Velasco, Missionar und Dolmetscher in Personalunion, ist gut eine Dekade vor der Überfahrt nach Nueva España, zu Beginn seines Missionswerks in Japan, wie alle »Südbarbaren« über den Indischen Ozean angereist. Zusammengenommen wird er es also auf die Überquerung aller drei Weltmeere bringen. An der transpazifischen Tour nimmt er elektrisiert teil, denn der oberste der fürstlichen Vasallen hat ihm einen verheißungsvollen Deal in Aussicht gestellt. Um die Zustimmung der Spanier zum Handel mit Nueva España zu erhalten, sei Date bereit, in seinem Fürs-
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tentum das Christentum zu gestatten und Geistliche kommen zu lassen. Ein Ja der Spanier würde Velasco ganz neue Perspektiven eröffnen. Er wittert nicht nur einen von der Region Sendai ausgehenden Aufschwung der franziskanischen Mission, er glaubt sich auch der Erfüllung seines lang gehegten Traums nahe, Bischof von Japan zu werden. Den Weg über den Stillen Ozean betrachtet er als Anlauf zum Karrieresprung, mit den Strapazen längerer Überfahrten ist er ohnehin vertraut. »Die See wurde rauer, je weiter wir auf das Meer hinauskamen. Allerdings ist das nichts, verglichen mit dem Tosen des sturmgepeitschten Indischen Ozeans, das ich vor dreizehn Jahren auf meinem Weg nach Asien erlebt habe« (Endō 2016 [1980]: 84). Auf dem Indischen Ozean war er freilich noch aus reinem Pflichtbewusstsein unterwegs, damals ging es allein um die Verbreitung der Lehre Gottes. Auch hatte kurz vor der Reise nach Japan eine Hinrichtung von 26 Missionaren und japanischen Konvertiten in Nagasaki stattgefunden, realhistorisch wie in der erzählten Welt. »Über diesen Vorfall wurde selbst in Sevilla gesprochen, und da wusste ich, dass Japan das Land sei, wo meine sterblichen Überreste dereinst der Erde übergeben werden sollten« (ebd.: 332). Den jungen Franziskaner reizte die riskante Mission in Fernost, ihr zuliebe verwarf er die bequemere Möglichkeit, »in dem längst befriedeten Nueva España in aller Geborgenheit folgsame Indios zu bekehren« (ebd.). Seinerzeit konnte Velasco die Tücken der See als Vorgeschmack auf die Größe der im Dienste Christi zu meisternden Herausforderung deuten. Hierin gleicht die Perspektive seines früheren Ich der des Rodrigues, des jungen portugiesischen Jesuiten in Schweigen: »[D]ie Anstrengungen und Gefahren, die uns am Ziel der Reise erwarten werden, übertreffen jene der Schiffsreise um Afrika und durch den Indischen Ozean wahrscheinlich um ein Vielfaches« (ebd.: 27). Anders steht es um die aktuelle Reisemotivation, in der der weltliche Ehrgeiz überwiegt, auch wenn es sich Möchtegern-Bischof Velasco ungern eingesteht. D.h., allein schon die Erwähnung des Indischen Ozeans macht seine zweite Ozeanüberquerung als religiöse Schwundstufe kenntlich. Überdies werden die wichtigsten Handlungsorte, die Galeone auf dem Pazifik, danach Mexiko-Stadt und Madrid, vom Ehrgeiz des Padre in Konversionstheater verwandelt. Auf der San Juan Baptista, die eine zweimonatige Fahrt nach Acapulco vor sich hat, gibt es für die japanischen Kaufleute wenig Möglichkeiten, dem Gottesmann auszuweichen. Die beengten Verhältnisse an Bord und reichlich vorhandene Zeit nutzt
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Velasco für Bekehrungsversuche, obwohl er die Erfolgsaussichten seiner Kampagne ständig selbst in Frage stellt. Ein Sinn fürs Jenseits gehe Japanern ab, Religion bedeute ihnen »nur etwas, wenn sie daraus während des irdischen Daseins Nutzen ziehen können« (ebd.: 101). Dies sind Selbstzweifel von hohen Graden. Velasco jedoch verfällt auf die Idee, sich den Utilitarismus der als habgierig eingeschätzten Kaufleute zunutze zu machen, bedeutet ihnen, dass es in Nueva España von Vorteil sei, ein paar christliche Geschichten zu kennen. Wer nicht an Gott glaube, dem glaube man dort auch bei den Geschäften nicht. Ergebnis: Immer mehr japanische Handelsreisende finden sich zu den Bibelstunden im Essensraum ein, während derer beide Seiten so tun, als lausche das Publikum aus religiösem Antrieb. »Die Kaufleute blickten, ohne auch nur eine Miene zu verziehen, treuherzig zu Velasco auf. […] Velasco schloss die Bibel und sah wieder mit einem Lächeln in die Runde, als wollte er sich des tiefen Eindrucks versichern, den er seiner Meinung nach mit dieser Episode [aus dem Leben Jesu, M. J.] auf die Japaner gemacht haben musste. […] Kaum hatte Velasco den Raum verlassen, gähnten die Kaufleute herzhaft und schlugen sich mit der Faust auf die verkrampften Schultern […]. Jeder Ausdruck von Ernst schwand aus ihren Mienen, und es verbreitete sich jene lockere Stimmung, die aufkommt, wenn man meint, sich einer Pflicht entledigt zu haben« (ebd.: 114).
Das beiderseitige Schauspiel hat – in fundamentalem Unterschied zu Schweigen – mehr von Comedy als von ernsthaftem Missionieren. Ihre Höhepunkte findet die Farce auf zwei größeren Bühnen, in den Kathedralen von Mexiko-Stadt, wo sich die Kaufleute, und in Madrid, wo sich Tanaka, Nishi und Hasekura taufen lassen, jeweils mit viel Pomp und ohne innere Überzeugung, geschweige denn Begeisterung. »Das Gebet in lateinischer Sprache, von dem sie nicht ein einziges Wort verstanden, wollte und wollte kein Ende nehmen« (ebd.: 274). Velasco aber dringt auf die Zeremonien, weil sich allein auf diese Weise der Vize-König von Nueva España und die Bischofskonferenz in Madrid werden überzeugen lassen, dass Japan zur Zulassung von Missionsarbeit bereit sei. Zweifel bestehen, da man erste Nachrichten von einem Verbot des Christentums rund um Edo, im unmittelbaren Machtbereich des Shogun, erhalten hat. Während sich die Kaufleute aus besagten monetären Gründen auf Velascos Inszenierung einlassen, spielen die Gesandten aus familiärer Ver-
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pflichtung mit. Die Taufe betrachten sie als unvermeidlichen Preis für die Aufnahme japanisch-spanischer Handelsbeziehungen, und nur wenn deren Anbahnung gelingt, die Samurai nicht mit leeren Händen zurückkommen, werden sie endlich fruchtbarere Lehnsgebiete für ihre Familien erhalten, glauben sie. Erst durch dieses vage Versprechen der fürstlichen Vasallen haben sich Landadelige für die Expedition ködern lassen, die vordem nur ihre Scholle zu Gesicht bekamen, nicht einmal Kyoto oder Edo kennen, die auch nichts in die Ferne zog. Am widerwilligsten unterwegs ist anfänglich Hasekura, dem sein kärgliches Tal, sein dunkles Haus, vor allem die darin befindliche, mehrfach erwähnte Feuerstelle ans Herz gewachsen sind. Besonders sehnsüchtig erinnert er sich ihrer, als die ersten Brecher des gar nicht Stillen Ozeans heranrollen. Auf die Reise eingelassen hat er sich halb aus Gehorsam gegen den Fürsten, halb wegen des heftigen Drängens seines Onkels, der sich von Rokuemons Auslandseinsatz den Wiedererhalt von Kurokawa erhofft, eines Lehens, das der Fürst der Familie vor Generationen entzog. Die vermeintliche Chance auf einen weiteren kleinen Flecken zwingt den Neffen über zwei Ozeane. Zu Schauspielern in der Madrilenischen Kathedrale werden die Abgesandten also gezwungenermaßen. Am leichtesten fällt die Verstellung noch Nishi, denn ihm gefällt die Vorstellung, die Katholiken in ihren Räumlichkeiten bieten, ihre Performance. »Die Messe, die Gesänge, das Orgelspiel, alles ist so neu und ganz anders. Manchmal komme ich mir wie betrunken vor, wenn ich die Choräle und die Orgel höre« (ebd.: 281). Bis zu diesem Punkt scheint der Plot noch auf die Pointe zuzusteuern, dass, von einem nichtchristlichen Standpunkt aus betrachtet, die japanische Delegation die sakralen Räumlichkeiten weniger zweckentfremdet – aus Gotteshäusern Schauspielhäuser macht – als zur Kenntlichkeit entstellt. Kirchen sind für Konversionsschauspiele prädestiniert, da als Ort täglichen Entertainments ohnehin Theater. Dass die Taufe Hasekura und Nishi zum Verhängnis werden, man sie in Japan dafür hinrichten wird, diese wenig amüsante Wendung liegt nun nicht allein am Politikwechsel im Heimatland. Zum Unheil trägt bei, dass sich die späteren Opfer während ihrer langen Reise zu einem sensiblen Zeitpunkt in der falschen Zone befinden. Inwiefern? Die Taufe von Madrid erweist sich sehr bald als sinnlos. Wenige Tage später wird auf der Bischofskonferenz, die Velasco für sein Missionsprojekt schon eingenommen glaubt, das Schreiben eines Jesuitenpaters aus Macao verlesen. Aus ihm geht hervor, dass selbst der mächtige Fürst im
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Nordosten Honshūs, der die Delegation schickte, auf die Linie der Tokugawa eingeschwenkt ist. Auch Date lässt inzwischen die Christen verfolgen und hat die ersten schon töten lassen, um dem Herrscher von Japan seine Loyalität zu demonstrieren. Eine Nachricht, die Velasco düpiert und seine Planungen augenblicklich zunichte macht. Auf der Hand liegt: Hätte er die Mitteilung früher erhalten, hätte er sich das Tauftheater geschenkt, wären die Delegierten keine nominellen Christen geworden, hätte man Hasekura und Nishi später nicht als »Christen« exekutiert. Bleibt die Frage, warum der Franziskaner von seinen Ordensbrüdern in Asien nicht rechtzeitig über die veränderte Lage informiert wurde. Eine Antwort gibt die traurige Rückreise nach Asien, an deren Ende Tanaka standesgemäß Seppuku begeht – mit der erfolglosen Expedition hat er sein Gesicht verloren. Auch der Rückweg führt über Mexiko, wo Velasco in einem Franziskanerkloster der schon etwas ältere Brief eines Bruders aus Manila in die Hände fällt. Ihm zufolge setzte die Unterdrückung der Christen in ganz Japan im Februar 1614 ein. Velasco rekonstruiert, dass das genau zu der Zeit war, als man auf der Hinreise mit der Santa Veronica in La Habana lag. »Wir, die Abgesandten und ich, wussten von alledem nichts. Wir waren auf dem Weg nach Spanien und jagten ahnungslos weiterhin einem Traum nach, einem Luftschloss« (ebd.: 354). Schlechte Nachrichten aus oder zu Japan hätten die Expedition in Mexiko noch auf dem Postweg erreichen können (woran die Präsenz des Briefs aus Manila erinnert). Sie hätten sie selbst noch in La Habana erreichen können, zumal es auch dort Franziskanerkloster gab und die Santa Veronica auf Kuba wegen einer Reparatur volle sechs Monate festlag (vgl. ebd.: 217). Schiffe auf See aber sind im 17. Jahrhundert für Nachrichten unerreichbar. In dem Moment, als die Santa Veronica ausläuft, um erst vier Monate später in Spanien anzukommen, reisen Hasekura und Nishi ihrem Unglück und Velasco der Blamage seines Lebens entgegen. Mit dem Auslaufen wird aus der Expeditionsgeschichte die einer fatalen Verfehlung von potenziell rettender Nachricht und potenziell geretteten Empfängern. Geht es also nur um eine Art Funkloch-Problem? Nicht ganz, denn es entsteht erst, weil Velasco die Delegation von Mittelamerika weiter nach Europa treibt. Berücksichtigt man, dass er dies eigennützig tut – nur die Bischofskonferenz von Madrid kann über einen katholischen Amtsinhaber in Japan befinden –, scheint ihm vollends die Rolle des bösen Buben zuzufallen. Doch geht darin die Funktion der spanischen Hauptfigur nicht auf. Auffällig ist bereits im ersten Viertel der Erzählzeit, dass Vela-
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scos Figurenrede und die Stimme des auktorialen Erzählers in der Sicht auf japanische Raumwahrnehmung übereinstimmen. Werden die japanischen Passagiere der San Juan Baptista schon bei leichtem Wellengang seekrank, betrachtet Velasco das als Symptom: »Obwohl ihr Land ringsum von Wasser umgeben ist, leben sie wie ein Festlandvolk. Das Meer ist für sie ein Graben, der ihr Land beschützt. Das Einzige, was sie von ihm kennen, sind die nahen Küstengewässer« (ebd.: 84). Mit der gleichen Metapher beschreibt zuvor der Erzähler den beschränkten Horizont der fürstlichen Vasallen: »Die Herren des Rates hatten keinerlei Vorstellungen von der Weite des Ozeans. Für die Japaner war das Meer seit ältesten Zeiten ein großer Graben, der sie vor den Barbaren schützte« (ebd.: 42). Fremd- und Selbstbeschreibung japanischer Mentalität decken sich, auch teilen sie den despektierlichen Unterton. Überdies ist mit der Metapher vom großen Wassergraben ein benachbartes Bild aufgerufen: Japan als Burg, unzugänglich. Explizit eingesetzt wird Letzteres in einem Dialog gegen Ende, der dem Bild die Denotationen »Enge« und »Dunkelheit« sowie die Konnotation »Selbstbezogenheit« verleiht. Als Hasekura und Nishi nach ihrer Rückkehr in die Burg des Ältestenrats zitiert werden und sich dort wie Verbrecher behandelt sehen, ihre Entfremdung vom Heimatland wächst, wird die Architektur des Orts zum Thema und Bildspender. »Dunkel glänzte der hölzerne Fußboden. Dämmrig und still war es hier trotz der mittäglichen Stunde. […] ›Dieses Zwielicht bedrückt mich‹, flüsterte Nishi. ›Wie meinst du das?‹ ›Die Paläste in Nueva España und in Spanien waren hell und sonnendurchflutet und ganz anders als dieses Schloss. Lachend haben sich dort Männer und Frauen unterhalten. Hier aber bleibt einem jedes Wort und jedes Lachen im Halse stecken. Man weiß nicht einmal, wo sich eigentlich der Fürst aufhält.‹ Nishi stieß einen tiefen Seufzer aus. ›Zeit unseres Daseins umgibt uns dieses Zwielicht. In ihm bringen wir unser Leben hin, die hohen Herren als hohe Herren und die kleinen Edelleute wie wir als kleine Edelleute.‹ ›Wir haben gesehen, was man wohl besser nicht gesehen hätte.‹ Ja, dies ist Japan: eine Wand mit Fenstern nicht größer als Schießscharten, mit Fenstern, um Ankömmlinge im Auge zu behalten, aber nicht, um in die weite Welt hinauszuschauen« (ebd.: 369).
Bleibt auch offen, ob der letzte Satz erlebte Rede Hasekuras oder eine auktoriale ist, die Kombination von Wassergraben- und SchießschartenMetapher lässt erkennen, wie wenig Weltoffenheit Endō seinen Lands-
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leuten zuerkennt – zumal das Präsens der Schießscharten-Formulierung offenbar auf ein die Edo-Zeit überdauerndes Problem hinauswill.
2. K ryp tok atholizismus und postkoloniale R andl age Das implizite Lob der Weite wird von verschiedenen Sprechern formuliert: von Velasco, dem Erzähler, Nishi und Hasekura. Spezifisch an der Bewegung des Letzteren ins Freie ist, dass sie mit wachsender Sympathie fürs Christentum einhergeht, nicht mehr, nicht weniger. Diese die Reise begleitende Entwicklung ist Teil eines kryptokatholischen Erzählens bei Endō, das umrissen sei. Kommt dem Samurai beim Blick auf den tosenden Golf von Mexiko seine Heimatregion auf einmal »klein wie ein Sandkörnchen vor« (ebd.: 209), schrumpft indirekt auch der Ahnenkult, in dessen Namen er sich gegen eine Übernahme des Christentums wehrt (Konversion als Verrat an den Vorfahren). Und dass der »unsichtbare[] Wandel« (ebd.) seiner selbst, den er beim Blick auf den Golf spürt, schon auf dem Stillen Ozean eingesetzt haben soll, wird erzähllogisch plausibilisiert. Die Barmherzigkeit von Pater Velasco, der sich an Bord nicht nur um einen ausgepeitschten Delinquenten kümmerte, sondern auch um Yozo, Hasekuras Diener, dem ein Pazifiksturm arg zugesetzt hatte, beschämt den Samurai. Eine Religion, die sich um Standesunterschiede nicht schert, beeindruckt ihn mehr, als ihm recht ist.2 Kryptokatholisch, weil Hasekura sich gerade nicht zum entschiedenen Anhänger Christi wandelt, vielmehr an zwei Vorbehalten festhält. Wie kann man eine traurig ausgemergelte Gestalt am Kreuz Herr oder gar König nennen? »Ein Herr sollte nun wahrhaftig nicht einen derart erbärmlichen und schwächlichen Anblick bieten« (ebd.: 126). Und: »Wiederauferstehung, wenn man einmal gestorben ist – wer soll denn das glauben!« (ebd.: 276). Aber werden derlei Einwände nicht überlagert von einem alles überstrahlenden Modell, von Christus als Stütze der Mühseligen und Beladenen? Selbst der Sündenfall der katholischen Kirche, ihre Kollaboration mit den Conquistadoren, beweist Hasekura gegen Ende nur eines: Man muss es mit jenem aus Japan stammenden Mönch halten, der sich in Mexiko gegen eine die Heiligtümer der Einheimischen niederbrennende Priesterschaft wandte, der sich mit den geschundenen 2 | Dazu schon Ruprechter 2015: 29ff.
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Indios solidarisierte und verkündete: »Manchmal findet man Jesus mitten unter diesen Indianern« (ebd.: 351). Der Satz markiert die Tendenz, Katholizismus- in Amtskirchenkritik auslaufen zu lassen; er könnte von Heinrich Böll stammen. Der japanische Mönch steht symbolisch für jene katholische Conquista-Kritik, die realhistorisch Bartolomé de Las Casas verkörperte. Überdies weist die Handlung ein egalisierendes Moment auf, das wohl mitverantwortlich dafür ist, dass der seit immerhin drei Jahrzehnten in deutscher Übersetzung vorliegende Roman nicht zu den Zentraltexten deutschsprachiger Postcolonials zählt. Der Plot lässt Hasekura seine Bewegung nach Mexiko und zurück vollziehen, um die unterdrückten Indios von Nueva España und die verfolgten Christen von Japan in Parallele zu bringen. Vom Landvogt 3 erfährt der Rückkehrer, dass ihm nicht nur das einst in Aussicht gestellte Lehen verweigert wird; im Gegenteil, als einem Christen drohe Hasekura nun die Hinrichtung. Deprimiert fühlt der Protagonist, der vergeblich beteuert, doch nur formal und im Handelsauftrag übergetreten zu sein, erstmals eine Nähe zum Leiden Christi. »Und mit einem Mal erschien er ihm überhaupt nicht mehr so fern und verachtenswert wie damals. Im Gegenteil, jetzt, da er reglos am Feuer hockte, hatte er sogar das Gefühl, diesem armen Mann irgendwie zu ähneln« (ebd.: 384). Auch den Mönch in Mexiko glaubt der Samurai jetzt besser zu verstehen. »Er wollte seinen eigenen Christus, nicht den, von dem die wohlgenährten Priester in den Kirchen Nueva Españas predigten, sondern einen, der den Verratenen, ihm und den Indios, zur Seite stand« (ebd.: 385). »Ihm«? In dieser Erzählsituation sind es die Indianer und der als Christ verfolgte Hasekura, die als Verratene figurieren. Eine assoziative Nähe zwischen gepeinigten Indios und Christen stellt die Erzählung auch dadurch her, dass sie unmittelbar nach Hasekuras Reflexionen das Schicksal der tatsächlichen, der überzeugten Konvertiten zur Sprache bringt. »Hat man jemanden als Christen erkannt, wird er schrecklich gefoltert«, erfährt der ebenfalls zurückgekehrte Velasco kurz vor seiner Verbrennung (ebd.: 398). Japans Neukatholiken zu viktimisieren verträgt sich jedoch schlecht mit der heute in den Humanities verbreiteten Neigung, die von Ieyasu eingeleitete und von seinen Nachfolgern forcierte Abschließungspolitik 3 | Im japanischen Original entweder als der »Edle Herr Ishida« bezeichnet oder metonymisch mit seinem Arbeitsplatz hyōjōsho (Gericht).
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(sakoku) inklusive Verbot des Christentums als segensreiche Kolonialprophylaxe zu betrachten. Unter Forschern, die zum Eurozentrismus Distanz suchen, dominiert die Rede von »der einzigartigen Geschichte dieses Landes, das als einziges in Asien zu Beginn des 17. Jahrhunderts den weisen Entschluss gefaßt hatte, das Zeitalter des Kolonialismus nicht mitzumachen. Das Tokugawa-Shogunat stoppte die gerade beginnende christliche Missionierung und untersagte alle Handelsbeziehungen mit dem Westen […]« (Wetzel 2018: 13f.). Zur rein positiven Sicht des sakoku (das man sich nicht als hermetische Abriegelung, vielmehr als Einschränkung der Außenbeziehungen auf fast ausschließlich Ostasien vorzustellen hat)4 wollen Endōs Erzählungen nicht recht passen. Sie vergegenwär4 | Was japanische Historiker/Historikerinnen wie auch einer ihrer US-Kollegen unterstreichen, vgl. Nagazumi 1999; Arano 2003 u. Toby 2014. Man weist darauf hin, dass Japan unter den Tokugawa nicht nur, wie bekannt, mit einigen Holländern Handel betrieb, den auf Dejima (der winzigen, künstlich aufgeschütteten Insel im Hafen von Nagasaki) internierten Vertretern der Vereinigten Ostindischen Kompanie. Treffpunkte mit Ausländern waren auch Matsumae, Tsushima und Sa tsuma/Ryūkyū. An den »vier Münder« (yonkuchi) genannten Orten steigerte sich der Handel mit Korea und China, ferner mit Südostasien und den eigenen Randgebieten, dem heutigen Hokkaidō und Okinawa. Wirtschaftliche Autarkie wurde also keineswegs angestrebt. Im Übrigen legte auch China Wert auf einen sehr selektiven maritimen Zugang zum eigenen Land, öffnete nur den Hafen Kanton für europäische Schiffe. Insoweit begab sich Japan unter den Tokugawa noch nicht auf einen innerasiatischen Sonderweg. Gleichwohl bleiben die Fakten, dass mit dem Edikt vom 23. Dezember 1613 eine systematische, sich unter Ieyasus Sohn Hidetada intensivierende Christenverfolgung begann und die »internationalen Beziehungen« nach und nach eingeschränkt wurden, eben auf die asiatischen Nachbarn. Ieyasus Nachfolger reduzierten den Handel mit den Niederländern auf ein Minimum, unterbanden den mit Spanien, beschränkten den mit Portugal zunächst auf Dejima, um ihn 1639 ganz abzubrechen. England gab die Handelsbeziehungen zu Japan vorauseilend auf. Nicht zuletzt der Wunsch, den Außenhandel zu monopolisieren, veranlassten den dritten Tokugawa-Shogun zum berüchtigten Edikt vom 19. Mai 1636: Kein Japaner durfte mehr ins Ausland fahren, und den im Ausland lebenden Japanern wurde die Rückkehr untersagt. Auf Zuwiderhandlung stand die Hinrichtung. Die Maßnahmen verschärften sich noch nach dem Bauernaufstand von Shimabara 1637, dem man, wohl zu Unrecht, einer portugiesischen Konspiration zuschrieb (vgl. Pauly 1989: 25). Neben den Missionaren wurden
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tigen nun einmal – Samurai durch den einprägsamen Schluss, Schweigen durchgehend –, wie brutal sich Stoppen und Untersagen gestalteten. Man mag es spekulativ finden, die langjährige Vernachlässigung von Samurai, zumindest unter deutschsprachigen Postcolonials, einem Unbehagen am Katholikenviktimisieren zuzuschreiben. Zweifellos gibt es für die Abstinenz noch einen anderen und sehr einfachen Grund. Weil Japan der Kolonialisierung entging, bleiben Bücher zu diesem Land meist außerhalb des postkolonialen Blickfelds und also allein im Fokus der Japanologie.5 Wenn man (vor Ruprechters Aufsatz) Samurai doch einnun auch die Kaufleute Portugals aus dem Land verbannt; jedes Anlanden war verboten. Portugiesische Delegierte aus Macao, die 1640 Nagasaki besuchten, um Handelsbeziehungen wieder anzubahnen, wurden enthauptet. Den fortgesetzt rigiden Kurs zu spüren bekamen Anfang des 19. Jahrhunderts auch die Walfänger der aufstrebenden Handelsmacht USA, deren Schiffbrüchige das bakufu, die Shogunatsregierung, wie Kriminelle einsperren ließ. Zudem galt ab 1824 ein Schießbefehl, wenn sich fremde Schiffe der Küste näherten. Äußern die oben genannten Forschungsbeiträge trotz der hoch isolationistischen Politik Vorbehalte gegen den sakoku-Begriff, dann hat das mit seiner ideologischen Fungibilität zu tun. Zwar bezeichnete der von Engelbert Kaempfer bzw. seinem späteren Übersetzer Shizuki Tadao geprägte Terminus beim deutschen Forschungsreisenden noch eine legitime Reaktion auf europäisches Eindringen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts aber entwickelte sich sakoku zum europäischen und US-amerikanischen Abwertungsbegriff. Er unterstellte, wie besonders Toby herausstellt, einen japanischen Moderneverzug infolge des abgelehnten Welthandels und diente so der nachträglichen Verklärung der gewaltsamen Öffnung durch die Amerikaner 1854. Vom euroamerikanischen Zentrismus ist der Begriff jedoch abkoppelbar. Ein Beispiel dafür ist bereits die Abhandlung von Pauly, der die »relative Abschließung« als Positivum betrachtet: »[K]ein zu hoher Preis für die Blüte des sich frei von ausländischer Intervention entwickelnden Binnenhandels, für die freie Entfaltung der Genroku- und Kasai-Kultur, die über 200jährige Friedensperiode« (ebd.: 36). – Ich danke meiner Mitarbeiterin Ikenaka Ami für die Übersetzung der oben genannten japanischen Sammelbände sowie für die Informationen zu den Fußnoten 1 und 3. 5 | Vgl. als Exempel einer an postkolonialen Machtfragen interessierten Japanologie die einschlägigen Beiträge in Amelung 2003. Samurai selbst ist bislang weder von den deutschsprachigen Postcolonials diskutiert worden – Fehlanzeige selbst in den materialiter weit angelegten, von Gabriele Dürbeck und Axel Dunker herausgegebenen Postkolonialen Studien in der Germanistik –, noch kommen in
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mal verhandelt hat, dann bezeichnenderweise nicht im Kolonialkontext, sondern als »weiteren Höhepunkt von Endōs Auseinandersetzungen mit der Problematik des Christentums in Japan und dem Kulturkonflikt zwischen Orient und Okzident« (Hijiya-Kirschnereit 2000: 182). Die beiden Bedeutungsebenen sind auch kaum zu leugnen. Wenn ich dessen ungeachtet glaube, dass die geringe Resonanz auch an einem Erzählen liegt, das die Leiden von (tatsächlichen oder vermeintlichen) Christen akzentuiert und Restsympathie für den Katholizismus zeigt, dann aufgrund einiger Indizien. Ein erster Anhaltspunkt ist die Art und Weise, in der man unlängst den Vorgängerroman von Samurai besprach, Schweigen. Zu den Glaubenszweifeln des Sebastião Rodrigues angesichts gefolterter und ermordeter Christen heißt es in der NZZ: »Endos Hauptfigur verfällt auf allerlei Spitzfindigkeiten, um sich am Ende einzureden, dass Gott doch nicht geschwiegen habe und in all dem Blutvergiessen, den Folterungen und seelischen Grausamkeiten ein heilsgeschichtlicher Sinn liege. In einer Zeit, in der Verfechter einer monotheistischen Religion Gewalt gegen Anders- und Ungläubige rechtfertigen und anwenden, fällt es dem aufgeklärten europäischen Leser schwer, diesen Geschichten aus dem 17. Jahrhundert widerspruchslos zu folgen. Während in Japan Christen unterdrückt wurden, stellte die christliche Behörde namens Inquisition in Spanien und anderen europäischen Ländern Ketzer und Andersgläubige, vor allem Juden, an den Pranger und tötete sie in vielen Fällen. Aus all dem wäre doch der Schluss zu ziehen, dass Gott nicht existiert, jedenfalls kein guter«. 6
In unserem Zusammenhang ist weniger interessant, wie weit das Theodizee-Verständnis von Autor und Rezensent auseinanderliegen. Beachtenswerter, dass der Rezensent vom Leiden portugiesischer und japanischer Christen nicht handeln mag, ohne sie gegen die Verbrechen der Inquisition aufzurechnen. Zudem fällt durch den Hinweis auf die Intoleranz monotheistischer Religionen ein vorteilhaftes, wenn auch kein exkulpieder prosperierenden japanischen Forschung zum Roman (vgl. Fußnote 1) auch nur einmal die Stichworte »kolonial« oder »postkolonial« im Titel vor. 6 | Leopold Federmair: Warum schweigt Gott? ›https://www.nzz.ch/feuilleton/ buecher/ein-historischer-roman-von-shusaku-endo-warum-schweig t-got tld.91501‹ (Zugriff am 10. 3. 2018).
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rendes Licht auf die Politik des Shogun. Im einen wie im anderen steckt der Wunsch nach politisch korrekter Ausgewogenheit, der, zweitens, auch Scorseses Verfilmung von Schweigen anzumerken ist. Das Drehbuch bezeichnet Inoue, den obersten Strafverfolger des Shogun, als »Inquisitor« und erinnert dadurch an Christenverfolgung nach europäischer Art, an die Verfolgung Unschuldiger durch Christen. Eine von FAZ und SPIEGEL dankbar als »Ironie« 7 vermerkte Sprachregelung, die sich im Roman selbst freilich nirgends findet. Dort heißt Inoue (zumindest in der Übersetzung von Ruth Linhart) einzig und allein Fürst von Chikugo (Chikugo no kami) oder Gouverneur (bugyō). Nimmt man beide Phänomene zusammen, ist offensichtlich, dass in den linksliberalen Diskurszonen des Westens eine gewisse Scheu bzw. ein gewisser Unwille besteht, Christen umstandslos als Opfer außereuropäischer Herrscher darzustellen oder dargestellt zu sehen. Eine Reserve auch zum Nachteil des Samurai-Romans, für dessen Titelhelden die Stigmatisierung als Christ tödlich endet. Drittens bleibt die stiefmütterliche Behandlung von Samurai erklärungsbedürftig, denn auch wenn Japan keinem Kolonialreich angehörte, nimmt sich der Roman wie ein heuristischer Glücksfall für postkoloniale Forschung aus. Wann begegnet man schon einmal einer Geschichte, in der Angehörige einer von der europäischen Invasion bedrohten Nation nach Übersee reisen und dort die Verheerungen des weißen Expansionsprojekts kennenlernen, damit ihrer möglichen Zukunft begegnen, der Unterwerfung? Ein enger Bezug zur Kolonialfrage ergibt sich im Übrigen nicht erst aus dem in Nueva España spielenden Mittelteil, sondern schon aus dem Vorwort: »Japan liegt zwar am äußersten Rand des Fernen Ostens, doch zu Beginn des 17. Jahrhunderts lief es Gefahr, vom Mahlstrom der internationalen Politik verschlungen zu werden. Die europäischen Nationen unternahmen große Anstrengungen, ihren Einflussbereich auf Asien auszudehnen. Sie errichteten Kolonien, bauten Handelsflotten und lieferten sich Schlachten auf den Meeren Asiens. Japans 7 | Vgl. Bert Rebhandl: Das Herz glaubt unsichtbar ans Höhere. ›http://www. faz.net/aktuell/feuilleton/kino/video-filmkritiken/silence-von-mar tin-scorse se-mit-andrew-garfiled-in-der-filmkritik-14902581.html‹ und Andreas Borcholte: Wenn Gott schweigt. ›http://www.spiegel.de/kultur/kino/silence-von-martin-scorsese-wenn-gott-schweigt-filmkritik-a-1136877.html‹ (Zugriff am 17. 3. 2018).
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Herrscher Ieyasu bemühte sich mit allen Mitteln, sein Land vor einer Invasion zu schützen. […] Ieyasu […] war ein strenggläubiger Buddhist und unterdrückte die Missionare, weil er sie für die Vorhut der Eroberer hielt« (Endō 2016: Vorblatt).
Nicht allein, dass der Autor den kolonialen Hintergrund seiner Geschichte exponiert, er valorisiert die Schließungspolitik Ieyasus, indem er ihr Motive zuschreibt, die mit der oben erwähnten Forschungslinie – für Kulturpluralismus, gegen Eurozentrismus – harmonieren. Folgt man dem Vorwort, betrachtete auch der Shogun die Missionare als erste Welle kultureller Fremdbestimmung, was postkoloniale Rezipienten als Bestätigung ihrer Position betrachten dürfen. Überdies werden Motivationslage und Handlungen der spanischen Akteure kritisch dargestellt. Zwar erfahren die Leser, dass es keine konkreten Invasionspläne der spanischen Krone gab, nur der ein oder andere Seemann oder Hidalgo mit einer Besetzung Japans liebäugelt (vgl. ebd.: 88 u. 216). Doch erweist sich der vorderhand vehementeste Gegner kolonialer Ambitionen, Velasco, in dieser Rolle als bezeichnend unsicherer Kantonist. So nachdrücklich er den Jesuiten um Pater Coelho vorwirft, mit ihren (schon zurückliegenden) Plänen zur Kolonialisierung Japans erst den Zorn der Mächtigen herauf beschworen zu haben; so strikt er aus dem gleichen Grund die Zerstörung von Tempeln und Schreinen durch die Gesellschaft Jesu ablehnt (vgl. ebd.: 88 u. 102); so friedlich die von ihm selbst projektierten, franziskanischen Idyllen anmuten – »Dörfer […], wo niemand der Obrigkeit Fron- und Kriegsdienst zu leisten haben würde« (ebd.: 142) –, in Nueva España stellt sich heraus, dass Velasco den Einsatz von Waffengewalt zur Durchsetzung des christlichen Glaubens doch nicht ganz so prinzipienfest ablehnt. In seinen Aufzeichnungen heißt es zu Cortés’ Massakern an den Indios verräterisch: »Aus der Sicht der Lehre Gottes wird niemand sein Tun gutheißen können. Aber wir dürfen auch nicht vergessen, dass durch dieses Opfer heute viele Indios mit der Lehre Gottes vertraut sind, von ihren heidnischen Sitten befreit wurden und auf dem rechten Wege handeln« (ebd.: 149). Grotesk mutet das Wort vom rechten Weg an, da Velasco unmittelbar zuvor einen eingeschüchterten Indiogreis mit Suggestivfragen bearbeitet hat, um ihn versichern zu lassen, wie glücklich er mit dem neuen Glauben und spanischer Zivilisation sei. Die erpresste Dankesbekundung nimmt der Pater, obwohl nach ihr dreimal ein Hahn kräht, als Beweisstück (vgl. ebd.: 143). Eine nicht nur als Spur des Conquista-Terrors aussagekräftige Szene, sie lässt auch Velascos
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Ablehnung einer Invasion Japans schillern. Präferiert der Franziskaner auch glaubhaft japanisch-spanischen Handel und zwangloses Werben fürs Christentum, so legt seine Haltung am mexikanischen Schauplatz doch den Verdacht nah, dass er die militärische Option nicht zuletzt deshalb ablehnt, weil sie an den mit der Kriegskunst vertrauten Japanern ohnehin scheitern würde. Wirkt diese seine pragmatische Erwägung anfänglich nur wie argumentatives Beiwerk (vgl. ebd.: 87), mutet sie im Licht des Mexiko-Abschnitts fast wie der harte Kern der Friedensliebe an. Insoweit hat der Roman von 1980 Anteil an japanischen Selbstbehauptungsdiskursen. Anders als deren nationalistische Varianten, Geschichtserzählungen etwa, die um 2000 die Gräuel des japanischen Imperialismus der 1930er Jahre zu relativieren trachteten (vgl. Ōnuki 2003: 114f.), geht es Endō freilich nur darum, die legitime Seite einer japanischen Defensivbewegung Anfang des 17. Jahrhunderts zu verdeutlichen. Dies vor allem, indem er die Korrumpierbarkeit selbst eines vergleichsweise progressiven katholischen Geistlichen durch die weltliche spanische Macht veranschaulicht. Umso verblüffender, wie gesagt, dass der Roman dreißig Jahre lang kein Echo unter deutschsprachigen Postcolonials fand. Es liegt nahe, den Grund darin zu sehen, dass dieser Autor neben den sympathischen Aspekten der beginnenden Abschließung auch ihre Kehrseite zu thematisieren wagt. Realiter enthält der Plot drei sakoku-kritische Ebenen, die man nach dem Vorwort nicht unbedingt erwarten würde. Erstens ist die Verbannung katholischer Missionare das eine, Verfolgung, Folter und Ermordung japanischer Konvertiten das andere, mit Invasionsprophylaxe kaum zu rechtfertigen. Schon Endōs Erwähnung der Gräuel verweist auf eine Legitimationslücke der Politik Ieyasus. Zweitens deutet es auf erheblichen Fanatismus in Edo, wenn Hasekura hingerichtet wird, obwohl er versichert, nur formell zum fremden Glauben übergetreten zu sein. Genauer gesagt: Das tragische Handlungselement macht Fanatismus glauben, es stilisiert die Realgeschichte. Denn die Europa-Expedition des Hasekura Tsunenaga, dem Hasekura Rokuemon nachempfunden ist, scheiterte zwar ebenfalls am Politikwechsel in der Heimat. Doch wie es der (gleichfalls in Madrid getauften) Realperson nach der Rückkehr nach Japan erging, ist bis heute ungeklärt. Drittens ist in der erzählten Welt Hasekuras Expedition von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Die Delegierten wie auch Fürst Date erweisen sich als ahnungslose Instrumente einer durchtriebenen Politik der Militärregierung. Am Ende resümiert Matsuki, niemand im bakufu, also
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der Shogunatsregierung, sei jemals wirklich an christlichen Missionaren interessiert gewesen. »Edo bediente sich unseres Fürstentums, weil man herausfinden wollte, wie man [mit Hilfe gestrandeter spanischer Seeleute, M. J.] große Schiffe baut, wie man sie steuert und auf welchem Kurs man mit ihnen das Meer überquert«. Demnach gaben die Delegation und Kaufleute aus Japan lediglich »Lockvögel« ab (Endō 2016: 375). Es gibt keine Erzählinstanz, die dieser nach den Reisestrapazen doch etwas herben Aussage widerspräche. Hasekura muss die Eröffnung wie ein Hohn auf die gerade für Männer aus den Bergen »qualvollen« Ozeanüberquerungen vorkommen (ebd.: 95). »Er presste die Fingernägel fest in die Handballen, dass es schmerzte, sonst wäre er seiner aus der tiefen Kränkung herrührenden Wut nicht Herr geworden« (ebd.: 375f.). Katastrophal endet die Geschichte für den Samurai nicht erst mit seiner Hinrichtung, sondern schon wegen der erfahrenen Felonie, eines Treuebruchs des obersten Lehnsherrn an seinen Lehnsmännern. Dass der Shogun »mit allen Mitteln« operierte, wie es im Vorwort heißt, malt der Plot allerdings aus. So gesehen dient die oben erwähnte Rede vom »Zwielicht« in japanischen Burgen als verräumlichende Metapher für zweifelhaftes Regieren. Mit dem gängigen postkolonialen Wertesystem reibt sich der Roman folglich doppelt. Nicht nur, dass er für den Katholizismus eine gewisse Leidensautorität reklamiert, er verhandelt die japanische Schutzpolitik fast so kritisch wie die europäische Expansion. Dass in Sicht des Romans die Abschottungspolitik neben ihrer »weisen«, protektiven Seite auch eine skrupellos-infame aufweist, wäre ein noch etwas unterkomplexes Resümee. Jenseits moralisierender Wertungssteuerungen zeigt die Erzählung die gespaltene Motivation Ieyasus. Beiläufig speist Endō Informationen ein, die erkennen lassen, dass es dem Shogun nicht allein um die Verteidigung religiöser Toleranz gegen den aus Europa drohenden Monotheismus geht (»strenggläubiger Buddhist«), überhaupt um die Verteidigung nach außen. Es geht ebenso sehr um internen Machterhalt, die Beherrschung der Landesfürsten. »Die Jesuiten«, bemerkt Velasco als Franziskaner nicht ohne Neid, »haben […] sehr geschickt gehandelt. Sie führten den Landesfürsten neue Waffen wie Schießgewehre und allerlei seltsame Dinge aus südlichen Regionen vor Augen, überließen sie ihnen und erhielten dafür die Erlaubnis zum Missionieren« (ebd.: 102). Jene Daimyos, die das Christentum förderten, erfreuten sich privilegierter Beziehungen zum europäischen Handel und damit auch eines leichteren Zugangs zu neuen Waffen. Wie die Leser wie-
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derholt erfahren, hat das Tokugawa-Shogunat aber kein Interesse an erblühenden und sich gegen die Zentralgewalt potenziell erhebenden Fürstentümern. Misstrauisch beäugt man besonders die Daimyos in Kyūshū (vgl. ebd.: 27 u. 375). Edo unterdrückt die Missionare und mit ihnen japanische Gläubige nicht zuletzt, um der Zentrifugalkräfte im Reich Herr zu werden. Die doppelte Motivation der Abschließung ist der Nährboden jener Rücksichtslosigkeit, die die Figur des Hasekura Rokuemon zu spüren bekommt. Kurz, gegenüber dem nichtchristlichen Japan verharrt Endō, der christlich getaufte Erzähler aus Japan, in Ambivalenz, jener Haltung, die er auch gegenüber dem spanischen Missionar einnimmt, dem als barmherzig und karrierebesessen zugleich porträtierten.
3. A mbivalenz und R aumme taphern Der Zwiespalt, Symptom eines double-bind, der Position zwischen den Kulturen, spitzt sich noch zu, wenn es um des Autors Herzensangelegenheit geht, die Erfolgsaussichten des Katholizismus in seinem, Endōs, Heimatland. Bemerkbar macht sich die Ambivalenz in der Wahl konkurrierender Raummetaphern, einem Verfahren, das man im Zusammenhang des narrativen Zweiteilers verfolgen und von einem Verfahren des Films absetzen sollte. In Silence haben wir es mit gestimmtem Raum zu tun. Stimmung erzeugt Scorsese durch ständigen Zikadenlärm, mit dem sein Streifen schon einsetzt, und durch klimatische Extreme, ein Japan, in dem auf Dauerregen brütende Hitze und gleißendes Licht folgt. Der gestimmte Raum sorgt für eine im ersten Filmdrittel düstere und durchgehend für eine bedrohliche Atmosphäre, passend zum 1638 lebensgefährlichen Unterfangen der portugiesischen Padres, in Japan Bruder Ferreira zu finden. Unterschwellig unterstützt die auditive und visuelle Inszenierung des Naturraums die Vorstellung eines dem christlichen Glauben unzugänglichen, ja feindlichen Kulturraums. Eine untergeordnete Rolle spielt gestimmter Raum hingegen bei Endō, der Landschafts- und klimatische Beschreibungen aufs Notwendigste beschränkt, so auch in Samurai. Eine halbe Ausnahme bilden erstens der Weg der Delegation von Acapulco nach Puebla und später die zwischen Córdoba und Veracruz durchquerte Sierra de los Tuxtlas. Die Japaner begegnen den Ruinen verlassener indianischer Kultstätten und verlassener Dörfer, stummen und beklemmen-
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den Zeugen der Vertreibung durch die Conquistadoren. »Nur der Wind hatte auf den unter dem Sand begrabenen und von Unkraut überwucherten Marktplätzen der zerstörten Dörfer sein trauriges Lied gesungen« (ebd.: 188). Zweitens bringt auf dem Hinweg der aufgepeitschte Pazifik die japanische Delegation erstmals in eine beängstigende Lage und lässt sie so die Größe der Herausforderung spüren. Doch selbst diese Beschreibungen beanspruchen wenig Erzählzeit, verglichen mit der extensiven Präsentation von gesprochener und Gedankenrede. Relevanter als gestimmter Raum sind in den beiden überaus diskursiven Romanen eben die Raummetaphern. In Schweigen lesen wir zu Anfang: »Ein Schiff im offenen Meer, das ohne Seekarte dahintreibt! So fühlen sich wahrscheinlich die Christen in Japan« (Endō 2015: 50). Das vom jungen Rodrigues auf der Anreise verwendete, vorderhand dramatisierende Bild ist tatsächlich ein frohgemutes; es evoziert Freunde im Glauben, die des Beistands und der Orientierung bedürfen und denen beides bald zuteil werden wird. Abgelöst wird die Seekartenmetapher durch ein skeptischeres Bild, das der vom Glauben abgefallene Ferreira ins Spiel bringt: Japan als Sumpf. »Welche Setzlinge« die Mission »auch in dieses Moorland setzt, die Wurzeln verfaulen« (ebd.: 217). Gemeint ist, dass die Glanzzeit des Christentums in Japan mit etwa 300.000 Gläubigen eine Scheinblüte dargestellt habe. Folgt man dem Apostaten, so haben die vermeintlich aufgeschlossenen Einheimischen »unseren Gott nach ihren Vorstellungen verbogen und verändert, sodass schließlich etwas ganz anderes herausgekommen ist« (ebd.: 219). Beispielsweise sprächen sie von Deus, meinten aber Dainichi (»große Sonne«, den wichtigsten Buddha des esoterischen Buddhismus). Ferreiras Sumpfmetapher zuzustimmen, hieße anzuerkennen, dass das Christentum in Japan nicht primär an der grausamen Verfolgung gescheitert ist. Nicht an der Folter in den heißen Quellen von Unzen und in den mit Unrat gefüllten Gruben, nicht an den Qualen, die Gläubige an den in tosender See angebrachten Kreuzen erlitten. Sondern dass die katholische Kirche eine kulturelle Resistenz unterschätzte. Zuzustimmen bedeutete auch, den Universalitätsanspruch des Christentums preiszugeben, ihn sozusagen mitversinken zu lassen. Die Sumpfmetapher ist eine demoralisierende Metapher, entsprechend erbittert weist der junge Padre sie zurück: »Ganz anders, die Wurzeln sind abgeschnitten worden!« (ebd.: 217). In Samurai nehmen Velascos innere Monologe die Sumpfmetapher zunächst implizit auf. »Bei genauem Hinsehen kam ich eigentlich immer
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zu dem Schluss, dass in diesem Land keine wahre Religion entstehen kann, die wie die christliche Lehre das Ewige und die Errettung der Seele zum Ziel hat. Zwischen dem, was sie, und dem, was wir als Glauben bezeichnen, liegt eine tiefe Kluft« (Endō 2016: 101f., Hervorh. von M. J.). Dennoch ist es derselbe Velasco, der am Ende, seine Hinrichtung vor Augen, eine erbauliche Raummetapher einführt, die die entmutigende des Ferreira wieder verdrängt. »Doch das ist erst der Anfang von allem, genauso wie alles erst mit der Kreuzigung unseres Herrn begann. Ich werde zu einem Trittstein inmitten dieses Sumpfes, der sich Japan nennt. Ein anderer Missionar wird auf ihm Halt finden und zum nächsten Trittstein werden« (ebd.: 400). Als Größenwahn oder verzweifeltes Wunschdenken lässt sich die Schlussmetapher nicht abtun, dagegen spricht schon die Gefasstheit des Sprechenden in extremis. Das Bild des Trittsteins wird vielmehr vom Plot gestützt, wenn auch nur indirekt. In der Logik der erzählten Welt steht nicht der Franziskaner selbst, wohl aber der japanische Mönch von Nueva España für eine christliche Praxis, der Nachgeborene folgen können. Die schiere Existenz des Indiofreunds soll beweisen, dass die Idee eines den Mühseligen und Beladenen beistehenden Christentums in Japan Wurzeln geschlagen hat und ein in die Zukunft führender Weg desselben möglich ist, mag er noch so schmal, sprich: minoritär sein. Von Trittsteinen zu sprechen heißt allerdings auch, sich von der Vorstellung zu verabschieden, der Sumpf lasse sich trockenlegen. Die Metapher bestreitet die Möglichkeit eines hegemonialen Christentums, um die eines insularen zu evozieren. In ihr verdichtet sich das ideologische Projekt der Erzählung, das allenthalben durchscheinende Ideal eines randständigen, dafür aber moralisch stabilen, von der Kolonialexpansion entkoppelten, von der Verflechtung mit politischer Macht unbefleckten, eines unschuldigen Christentums. Für eine der in der Trittstein-Metapher steckenden Vorstellungen, das stabil Minoritäre, spricht der konstante Zwei-Prozent-Status heutiger Christen in Japan. Für die Unschuld des Minoritären allerdings gilt: Man muss dran glauben. Erinnernswert ist das Bild vom Trittstein, weil es in zwei unterschiedlichen, aber mentalitätsgeschichtlich benachbarten Raumvorstellungen auftaucht. Folgt man der fiktiven Imagination eines katholischen, spanischen Protagonisten des frühen 17. Jahrhunderts, bedarf Japan der Trittsteine. Realgeschichtlich betrachtet der US-amerikanische Pazifikismus seit Mitte des 19. Jahrhunderts das Land selbst – so wie die vorgelagerten
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pazifischen Inselketten – als Trittstein für den imperialen Ausgriff nach Asien (vgl. Lyons 2006). In der ideologisch überhöhten Missachtung von Fremdkulturen ähneln sich beide Vorstellungen. Die missionarische Sicht stuft, aus dem Glauben an den einzig wahren Glauben heraus, das Land der Götter zu einer spirituell minderwertigen Umgebung herab. Die handelsimperialistische Variante degradiert im Namen von Handel und Wandel, dem »Fortschritt«, Japan zur Expansionsstation wider Willen: Die USA wollten am lukrativen China-Handel teilnehmen, und Japan galt als geeigneter Zwischenstopp, um die Dampfschiffe mit Kohlen und die Besatzungen mit Lebensmitteln zu versorgen – nicht der kleinste Grund für die erzwungene Öffnung von 1854. Der Unterschied besteht darin, dass im amerikanischen TrittsteinKonzept das ungebrochene, später auch durch Hollywood verstärkte Sendungsbewusstsein der manifest destiny steckt.8 Verglichen damit mutet das ideologische Projekt des japanischen Katholiken Endō weniger selbstgewiss an. Hält seine Trittstein-Metapher die Utopie eines unschuldigen Christentums auch offen, wirkt sie doch etwas gewollt. Nicht allein, dass die Verkörperung des Ideals, der Mönch, sich als isolierter Japaner jenseits des Stillen Ozeans in denkbar marginaler Lage befindet; die Raumerfahrungen der beiden Zentralfiguren sperren sich einer Sinnstiftung. Velascos Bibelstunden lauschen die Japaner nur, wenn sie mit ihm auf engstem Raum zusammengesperrt sind. Was den Pater über zwei Weltmeere getrieben hat, ist weniger spiritueller als weltlicher Ehrgeiz, und der wird nicht einmal prämiert. Der einzige Nutzen, den die auf dem Weg nach Nueva España zurückgelegten 11.000 Kilometer abwerfen, ist die Erkenntnis, wie wenig sattelfest die Kolonialferne des Franziskaners ist. Hasekuras lange Reise bleibt ebenso unbelohnt; auch führt sein Weg ins Freie letztlich nur zur Entfremdung vom engen Tal und vom Zwielicht heimatlicher Burgen, nicht wirklich in den Schoß der katholischen Kirche. Sich Jesus nah zu fühlen, wenn man gleich ihm hingerichtet wird, dürfte niemand ernstlich für den Königsweg christlicher Erweckung oder einen Glaubensbeweis halten. Dass eine, zumindest auf See, nachrichtentechnisch unüberbrückbare Strecke dem Missionar das Ansehen
8 | Vgl. zu The Barbarian and the Geisha, John Hustons Film von 1958, der anlässlich des Centennials des Harris-Vertrags Japans gewaltsame Öffnung kräftig beschönigt, Joch 2017: 249-256.
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kostet und dem Samurai das Leben, rundet eine Raumdarstellung ab, die Sinnentzug nahekommt.
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Die Strandhütten des Südmeers Wohnen in insularen Stimmungslandschaften1 Thomas Schwarz
Folgt man Homer, dann liegt die Elysische Ebene, das »Ἠλύσιον πεδίον«, an den Grenzen der Erde (»πείρατα γαίης«), wo sie der Okeanós umfließt. Dort sei »leichtestes Leben den Menschen«, das Klima zeichnet sich dadurch aus, dass es kaum einmal Winter werde, es falle weder Schnee noch Regen (Homer 1995: 158-161, 4.560-570; vgl. Homer 1956: 55). Hesiod lässt auf den Inseln der Seligen (»ἐν μακάρων νήσοισι«) ein Geschlecht glücklicher Heroen (»ὄλβιοι ἥρωες«) wohnen (Hesiod 1991: 95, 168-171). Dem sechsten Buch von Vergils Aeneis verdanken wir eine Beschreibung der Wohnsitze, der sedes der Seligen. Es handle sich um einen Ort der Freude und lieblichen Grüns (»locos laetos et amoena virecta«), selbst eine »eigene Sonne kennen sie hier und eigene Sterne« (Vergil 1994: 256ff., 6.636641). Die glücklichen Seelen, die »felices animae«, sie »wohnen in schattigen Hainen«: »Festes Haus hat hier niemand«, »nulli certa domus« (ebd.: 258 f., 669-675). Dieser in der europäischen Antike marginalisierte insulare Raum lässt sich zwar vage lokalisieren und sogar erreichen, doch nicht kartographisch erfassen. Mit Foucault könnte man von einer Heterotopie sprechen, einem Gegenort »außerhalb aller Orte« (Foucault 2006 [1967]: 320), der in Opposition steht zu einer Welt, deren Klima ihre Bewohner auf Arbeit und den Bau fester Häuser verpflichtet. Georg Forster scheint diese Heterotopie in der realen Welt gefunden zu haben, wenn er zu Beginn seines Tahiti-Kapitels, als die Schiffe der Expedition von James Cook 1773 in der Matavai Bai vor Anker gehen, 1 | Der Beitrag entstand im Rahmen des Forschungsprojekts »Pacificism. The Pacific as a Space of Resistance and Hybridity«, gefördert von der Japan Society for the Promotion of Science (JSPS KAKENHI 15K01894).
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prominent Vergil zitiert: »Devenere locos laetos & amoena vireta2« (Forster 1983 [1778ff.]: 241; vgl. Bitterli 1987: 12, 14 u. Görbert 2014: 137). Sie »kamen« also zu einem locus amoenus, einer lieblichen Wiese: Ein »Morgen war’s, schöner« habe ihn »schwerlich je ein Dichter beschrieben«. Der »Ostwind« trägt dem Schiff meilenweit die »herrlichsten Wohlgerüche entgegen« und kräuselt die »Fläche der See« (Forster 1983 [1778ff.]: 241). Der Botaniker gibt sich olfaktorisch enthusiasmiert, die Annäherung der unsichtbaren Duftwolke erschließt sich ihm visuell durch eine nur ephemere Wellenbewegung. Forsters Beschreibung schält die Insellandschaft Tahitis aus dem »glatten Raum«3 des Pazifiks heraus, den kartographisch zu kerben das Ziel des Cook’schen Projekts ist. In Forsters ästhetischer Wahrnehmungsweise4 glühen die Berge Tahitis »im ersten Morgenstrahl der Sonne«. Wenn er von »verschiednem anmuthigen Grün« berichtet, das die »Waldung« einer Hügelreihe auszeichne, ist daran noch nichts Exotisches. Diese Wahrnehmung bewegt sich noch ganz im Rahmen der europäisch geprägten Idyllik. Die spezifische Stimmung der südpazifi2 | Das Lexem virectum bezeichnet einen mit Gras überwachsenen Ort/Rasen, der Plural vireta ist eine korrumpierte Variante von virecta. 3 | Zum Meer als einem »glatten Raum« vgl. Deleuze/Guattari 2008 [1980]: 499 u. 533. 4 | Zum Unterschied zwischen Cooks »geometrischer« Reisebeschreibung und Forsters ästhetischer Erfahrung vgl. Berman 1998: 26. Zwischen Cook und Forster entfalte sich eine Dialektik der Aufklärung, in der sich die Wege zwischen instrumenteller Rationalität und emanzipatorischer Vernunft trennten. Die Aufklärung bringe sowohl das koloniale Projekt als auch die antikoloniale Kritik hervor (ebd.: 40). Forster versuche, die bei Cook voneinander isolierten, vorwiegend maritimen Fakten in einen Sinn- und Erfahrungszusammenhang zu bringen (ebd.: 42f.). Cook habe mit seinem Ziel eines vollständig kartographierten Globus nichts als die Kontrolle über die Natur im Sinn (ebd.: 48). Sein wissenschaftliches Expertentum stehe gegen Forsters Empfindsamkeit (ebd.: 49). Letzterer begegne den Entwicklungen der unterschiedlichen Gesellschaften als verschiedenen Wegen der Realisierung von Möglichkeiten menschlichen Lebens unter voneinander abweichenden natürlichen Rahmenbedingungen (ebd.: 55). Cook dagegen kartografiere den Raum, um seine autoritäre Überwachung zu ermöglichen (ebd.: 56). Die philosophische Reisebeschreibung Forsters, die den praktischen britischen Empirizismus bei der Arbeit beobachte, fungiere als Kritik des Kolonialismus in der Südsee. Forster trete als Anwalt der menschlichen Gleichheit auf den Plan (ebd.: 62ff.).
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schen »Landschaft« entsteht erst, wenn der Blick des Botanikers auf die »Ebene« fällt: sie sei von »tragbaren Brodfrucht-Bäumen und unzählbaren Palmen beschattet« (ebd.: 241). Treffsicher nennt Forster gleich als Erstes die beiden Arten aus dem Regno vegetabili, auf die sich später mit besonderem Interesse die imperialen Augen der Europäer richten. Die Bounty läuft Tahiti an mit dem Auftrag, Schösslinge des Brotfruchtbaums zu exportieren. Dessen Früchte sollten in der Karibik die Sklaven britischer Kolonisatoren ernähren (vgl. Freeman 2010: 127 u. Matsuda 2012: 141). Es war jedoch die Kopraproduktion, die sich zum lukrativsten Geschäftszweig in der südpazifischen Inselwelt entwickeln sollte. Als Nächstes gerät eine Siedlung der Insulaner in Forsters zunächst noch unscharfes Blickfeld: »Allmählig aber konnte man unter den Bäumen eine Menge von Häusern und Canots unterscheiden, die auf den sandichten Strand heraufgezogen waren« (Forster 1983 [1778ff.]: 241). Solchen Szenographien, die Wohnstätten unter Palmen an Sandstränden auf pazifischen Tropeninseln imaginieren, gilt die Aufmerksamkeit der folgenden Ausführungen. Sie sollen raumtheoretisch und postkolonial informiert analysiert werden. Ihre Lage im Meer prädestiniert Inseln, im Akt einer diskursiven Isolation als Stimmungslandschaft in Szene gesetzt zu werden. Forster formt einen Erscheinungskreis, in dem sich Tahiti als geschlossene Einheit empfinden lässt, mit Georg Simmel gesprochen: »verflochten in ein unendlich weiter Erstrecktes, weiter Flutendes, eingefaßt in Grenzen, die für das darunter liegende Gefühl des göttlich Einen, des Naturganzen, nicht bestehen«: Von diesem würden die »Schranken der jeweiligen Landschaft umspielt« (Simmel 2001 [1913]: 472). Forster legt mit dem Bericht über die Annäherung seines Schiffs an Tahiti eine Schlüsselszene für die Genese ambivalenter ozeanischer Affekte vor (vgl. Schwarz 2015 [2013]: passim). Aus nautischer Perspektive ist das Riff das gefährlichste Hindernis beim Anlaufen einer Insel im Südpazifik. Forster macht darauf aufmerksam, dass sich an ihm »die See in schäumender Brandung« breche. Dahinter aber sei »das Wasser spiegelglatt« und verspreche »den sichersten Ankerplatz« (Forster 1983 [1778ff.]: 241). Die pazifische Insellandschaft offeriert den Seefahrern während der Ankunftsszene erst hinter dem Korallenriff die Sicherheit, die es ihnen erlaubt, angesichts der Grenzenlosigkeit des Ozeans eine »erhabene Gemütsstimmung« zu kultivieren (vgl. Kant 1974 [1790]: 185).
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Das Meer, um das es hier geht, ist das »mar del Sur«, von dem Vasco Núñez de Balboa 1513 nach einem blutigen Kriegszug durch den mesoamerikanischen Isthmus im Namen der spanischen Krone Besitz ergriffen hatte. Die Bezeichnung »Südmeer« ergibt sich aus der Perspektive der Spanier daraus, dass Balboa von der Karibik aus, also dem auf der Atlantikseite gelegenen »mar del Norte«, nach Süden vorgedrungen war (vgl. Fernandez de Oviedo 1853: Buch 29, Kap. III, 9-14). Im deutschen Sprachgebrauch ist der Begriff des »Südmeers«, der ganz allgemein auf ein »im süden gelegenes meer« verweist, mehrdeutig: »seit dem ende des 18. jh. vom Mittelmeer«, heißt es in Grimms Wörterbuch, »doch nicht gerade häufig«. Daneben findet sich die Bedeutung »tropisches meer auf der südlichen erdhälfte«, »insonderheit die grosze südsee zwischen Amerika und Asien«, der »südliche teil des stillen ozeans«; »vor allem im 18. jh. neben südsee«.5 Der deutsche Seefahrer Carl Friedrich Behrens übersetzt die spanische Bezeichnung »Mar del Sur« mal als »Süd-See«, mal als »Süd-Meer«.6 Der wichtigste Gewährsmann für das Grimm’sche Wörterbuch ist Georg Forster, und zwar mit folgender Erklärung: »Das große oder eigentliche Süd-Meer« erstrecke sich von »Neu-Holland bis Süd-Amerika«.7 Der erste Teil dieses Beitrags behandelt Reiseberichte aus der präkolonialen Phase der europäischen Invasion des Pazifiks. Er thematisiert zunächst die Imagination von Hütten als Orten der Gastfreundschaft in Georg Forsters Tahiti-Schilderungen. Die von Lous Antoine de Bougainville lancierten Vorstellungen einer sexuellen Hospitalität in Polynesien8 verkehren sich bei François Galaup de La Pérouse in ein Schreckbild. Er berichtet von Samoa, dass dort in einem fale, einer Dorfhütte, die indige5 | SÜDMEER, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (18541961). ›http://dwb.uni-trier.de/de/‹ (Zugriff am 29. 8. 2017). 6 | Behrens 1737: 43 (»Süd-Meer«); 110 (»Süd-See«). Auf der Karte der Begriff »SUDMEER«. 7 | »Man pflegte« diesem Meer zwar »in seinem ganzen Umfange den Namen des pazifischen Oceans oder stillen Meers beyzulegen«. Doch diese »Benennung« will Forster nur »innerhalb der Wende-Zirkel« gelten lassen, weil die See jenseits dieser Grenzen »stürmisch« sei. Streng genommen sei nur der Teil, »der südlich vom Steinbocks-Zirkel« liege, das »große Süd-Meer«, das sich bis zum »arktischen Zirkel« erstrecke (Forster 1983 [1778ff.]: 23f.). 8 | »Vénus est ici la déesse de l’hospitalité« (Bougainville 1982 [1771]: 235).
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nen Frauen zum Sex mit den europäischen Fremden gezwungen werden. Adelbert von Chamisso schließlich treibt seine anthropologische Neugier in die homoerotisch aufgeladene Atmosphäre eines Hauses, das auf einem Atoll der Ratak-Kette steht. Der zweite Teil unterzieht die Samoa-Novelle Satuila des Schriftstellers Hans Bethge einer exemplarischen postkolonialen Kritik. Die Erzählung entwirft eine idyllische Zauberlandschaft sexueller Gastfreundschaft, die der Protagonist während einer Ferienzeit in seiner polynesischen Hütte erfährt. Abschließend soll eine kontrapunktische Lektüre (vgl. Said 1993: passim) von Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig die Fruchtbarkeit einer solchen Vorgehensweise praktisch demonstrieren. Realgeographisch liegt der Lido di Venezia zwar am Mittelmeer, auf einer zweiten Ebene jedoch am Ozean schlechthin. Die These lautet, dass die Strandhütte Aschenbachs in einem diskursiven Kontiguitätsverhältnis zum südpazifischen Elysion von Georg Forsters Tahiti steht.
1. D ie H ütte in der pr äkolonialen P oe tik des pa zifischen R aums : L ocus amoenus oder locus terribilis ? Georg Forster rühmt auf Tahiti die »Gastfreyheit, die wir in jeder Hütte« fanden (Forster 1983 [1778ff.]: 272f.). Bei der Insel handle es sich um einen der »glücklichsten Winkel der Erde« (ebd.: 288). Zumindest auf den ersten Eindruck glaubt Forster, er habe in diesem »kleinen Winkel« eine »Civilisation« gefunden, die eine »frugale Gleichheit« hervorgebracht habe: »gleiche Kost, gleiche Vergnügungen, gleiche Arbeit und Ruhe« für alle (ebd.: 276). Als Gegenraum widersetzt sich dieses Tahiti der hierarchischen Ordnung des sozialen Raums, die Forster von Europa kennt.9 Zwar muss der Entdecker auf den zweiten Blick erhebliche Abstriche machen. Doch insgesamt malt Forsters Beschreibung Bilder eines »glücklichen Raumes« aus, für die sich auch der Topo-Analytiker Gaston Bachelard interessiert hat. Im Anschluss an Bachelard könnte man Forster eine pazifische »Topophilie« bescheinigen. Die »geliebten« und »gegen feindliche Kräfte verteidigten Räume« des Pazifiks haben für Forster einen 9 | Vgl. Soja 1996: 68, der einen Raum mit solchen Qualitäten als thirdspace klassifizieren würde.
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gewissen »Schutzwert«. Es sind »gepriesene Räume«, die sich nicht adäquat mit den »Messungen« des Geometers erfassen lassen. Wenn Forster die tahitianische Insularität erlebt, verleiht er ihr »imaginierte Werte« (Bachelard 1960 [1957]: 29): Er entwirft das aus der utopischen Literatur bekannte Bild einer Gesellschaft von Gleichen. Bachelard macht darauf aufmerksam, dass es neben der Landschaft vor allem auch das Haus sei, das einen »seelischen Zustand« (état d’âme), eine »Stimmung« evozieren könne (ebd.: 102). Hütten fungieren auch als konstitutives Element einer Poetik des pazifischen Raums (vgl. ebd.). Für Bachelard hat die »Hütte« eine »glückliche Intensität in der Armut« (ebd.: 65). Das bekannteste Beispiel ist wohl die casa von Philemon und Baucis aus Ovids Metamorphosen. Die beiden Alten haben in ihrer casa Jupiter gastfreundlich empfangen (vgl. Ovid 1999: 448-457, 8.611–724). Auch Forster besucht auf Tahiti ein Haus, das zwei »ältliche Personen« bewohnen, die ihn zu einem »Gastmahl« einladen. Deren »Wohnung war klein, aber niedlich« (Forster 1983 [1778ff.]: 277). Forster verleiht seiner Begeisterung Ausdruck, indem er die »gastfreyen Alten« rühmt: »Bei diesem altehrwürdigen Paare, das uns bey Tisch bediente, hätten wir auf eine poetische Weise vergessen mögen, daß wir Menschen wären und auf den Gedanken kommen können, daß wir als Götter von Philemon und Baucis bewirthet würden« (ebd.: 278). Forster wünscht sich, dass »der Umgang der Europäer mit den Einwohnern der Süd-See-Inseln« abgebrochen werde, bevor die »verderbten Sitten der civilisierten Völker diese unschuldigen Leute anstecken können, die hier in ihrer Unwissenheit und Einfalt so glücklich leben« (ebd.: 281). Die Rede von der »Ansteckung« ist ganz wörtlich zu nehmen, denn die von den Europäern eingeschleppten Krankheiten zogen eine massive Entvölkerung nach sich. Forster war sich der Tatsache bewusst, dass gerade auch der sexuelle Kontakt üble Folgen zeitigen kann (vgl. ebd.: 333). Vor dem Kontakt dürften weit mehr als 100.000 Menschen auf Tahiti gelebt haben, ein halbes Jahrhundert später zählte man weniger als 9.000 Einwohner.10 Dieser dramatische Einbruch hätte sich leicht vermeiden las10 | Dazu auch der Bericht des Vaters Johann Reinhold Forster 1783: 197. Dieser schätzt die Bevölkerung, die auf beiden Halbinseln Tahitis lebt, auf 121.500 (vgl. Forster 1996 [1783]: 149f.). Vgl. Kirch/Rallu 2007: 2f. und Rallu 2007: 29: Rallus konservative Schätzung beläuft sich auf etwa 70.000 Einwohner für 1767, er hält es aber für wahrscheinlicher, dass während des Kontakts über 150.000 Menschen auf Tahiti gelebt haben. Vgl. Thomas 2012: 102: »The worst phase of depopulation
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sen, wenn die europäischen Schiffsärzte infizierte Besatzungsmitglieder unter Quarantäne gestellt hätten. Anders als Bougainville schlägt Forster gelegentlich einen moralischen Unterton an, wenn er die Riten der sexuellen Hospitalität auf Tahiti moniert. Die Rede ist bei ihm von »Frauenspersonen, die sich ohne Schwierigkeiten den Wünschen unserer Matrosen überließen« (ebd.: 250f.). An verschiedenen Stellen seines Berichts schwärmt er von »patriarchalischer Gastfreyheit«, die er auf Tahiti genossen habe (ebd.: 262, 271273, 278). Eines Tages begegnet er auf einer Wanderung einem Mann, der mit seiner Tochter unterwegs ist, »einem Mädchen von sechzehn Jahren«. Dieser bittet ihn, »in seinem Hause eine Mahlzeit einzunehmen«. Forster nimmt aus »Höflichkeit« an. Nach der Ankunft »bei dem Hause unseres Wirtes« wird eine Mahlzeit zubereitet, aber dabei bleibt es nicht. In einer »Ecke des Hauses« wird eine »schöne Matte« für die europäischen Gäste ausgelegt. Rings um sie herum setzen sich sodann die »Verwandten« des Gastgebers. Dessen Tochter – schwärmt Forster – übertreffe an »zierlicher Bildung, heller Farbe und angenehmen Gesichtszügen« fast alle Tahitianerinnen, denen er bisher begegnet sei. Sie und ihre Freundinnen lassen es »an nichts fehlen, sich beliebt zu machen«. Sie massieren ihren Besuchern »mit ihren weichen Händen die Arme und Schenkel«, indem sie »die Muskeln zwischen den Fingern sanft zusammen« drücken. Der »gastfreien Familie« lassen die derart Beglückten als Abschiedsgeschenke Glasperlen, Nägel und Messer zurück (ebd.: 319f.). Mit dem Respekt für die gastfreundliche Aufnahme in der fremden Kultur rechtfertigt Forster sein eigenes Verhalten, das sich von dem der Matrosen letztlich nur graduell unterscheidet. Forster kann die intime Begegnung zulassen, indem er sie als Teil der Riten der Gastfreundschaft rationalisiert. Den einfachen Seeleuten hingegen spricht er die »Vernunft« zur »Beherrschung der Leidenschaften« ab (ebd.: 250f.). Als der französische Kommandant La Pérouse 1787 Samoa anläuft, hat er Ähnliches zu berichten. Die »jeunes et jolies insulaires« hätten sich der Aufmerksamkeit einiger Franzosen versichert. Zwar habe er seiner Mannschaft verboten, sich mit diesen »jungen und hübschen Insulanerinnen« zu liieren. Doch hat der Kapitän die »désirs« seiner Franzosen occurred probably before the missionaries arrived, but the subsequent trajectory saw the population of the whole island fall from over 16,000 in 1797 to about 8,000 in the early 1820s.«
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nicht unter Kontrolle. Einige ältere Frauen beschuldigt La Pérouse der Zuhälterei. Ihr Opfer müsse sich in einer für zeremonielle Zwecke reservierten »Hütte des Dorfes«, »dans la case du village«, bei heruntergelassenen Blenden auf dem Altar der Lust hingeben. Es werde in den Armen eines alten Mannes platziert, dem La Pérouse die Aufgabe eines Priesters zuschreibt. Die Vergewaltigung gehe nicht nur unter den Augen heulender samoanischer Matronen vor sich: Alle Frauen und Kinder des Dorfes würden das Spektakel genießen, indem sie die Jalousien der Hütte anhöben oder durch deren Löcher linsten (vgl. La Pérouse 1797: 227f.). Der pazifische locus amoenus mit polynesischer Hütte wird hier zum locus terribilis.11 Die negative Wahrnehmung der Samoaner in diesem Reisebericht als »wilde Bestien« wird vor allem von einem anderen Ereignis geprägt. Die Samoaner haben ein Dutzend Mitglieder des Landungskommandos dieser Expedition massakriert (vgl. La Pérouse 1797: 196-198, 209-213; vgl. Linnekin 1991: passim u. Schwarz 2015 [2013]: 40f.). Der Strand wird hier zum Ort des Widerstands gegen die europäische Invasion des Pazifiks. Die südpazifische Heterotopie stellt auch die heterosexuelle Ordnung der Geschlechterverhältnisse Europas in Frage. Adelbert von Chamisso, der von 1815 bis 1818 auf der russischen Brigg Rurik die Welt umsegelt hat, gibt sich irritiert wegen der proaktiven Polynesierinnen. Auf Hawai’i beklagt er sich über die Zudringlichkeit des »anderen Geschlechts« (Chamisso 1836: 175). Sein Interesse für die Männer der Radack-Kette (die Ratak Chain der Marshall Islands) hingegen, insbesondere für seinen Informanten Kadu, scheint homoerotisch eingefärbt zu sein.12 Die Radacker – so Chamisso – habe er »unter allen Söhnen der Erde lieb gewonnen«. Am »meisten geliebt« habe er seinen »Freund Kadu«. Er bittet um »Nachsicht«, wenn er hier von seiner »Liebe« erzähle (ebd.: 234f.): »Kadu ward auf Radack geliebt, wie er unter uns geliebt worden ist« (ebd.: 280 u. vgl. 11 | Ein typischer locus terribilis wäre in der europäischen Tradition der Vulkan Ätna, unter dem bei Ovid ein begrabener Gigant rumort (vgl. Ovid 1999: 5.346ff.). Prominente loci terribili der Entdeckungsgeschichte des Pazifiks sind die Orte des Todes von Magellan und Cook, also Mactan auf den Philippinen und Hawai’is Kealakekua-Bucht. 12 | Heinrich Detering spricht von einer »beglückenden und zweifellos homoerotisch bestimmten Freundschaft zu dem Südseeinsulaner Kadu« (Detering 2013: 169f.).
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365). Diese »Liebe« mag man sich unter anderem mit dem romantischen Freundschaftskult erklären.13 Doch auch weitere Textproben bestätigen meines Erachtens die Annahme einer homoerotischen Disposition bei Chamisso. Im Aur-Atoll wirft der Rurik Anker vor der Insel Airick. Dort begeistert sich Chamisso für einen Jüngling, der sich an Bord »herzig« an ihn »anschmiegte«: »Ihm ein Schauspiel zu geben, holte ich meine Rapiere hervor und focht einen Gang mit Eschscholtz [dem Schiffsarzt, T. S.]. Da erglühete er vor Lust; das Spiel mußte er auch spielen. Er begehrte mit sittiger Art ein Rapier, und freudig, voller Anstand, sich und mir vertrauend, stellte er sich mir entgegen und bot dem blanken, kalten Eisen des weißen Fremden seine bloße Brust. – Bedenket es – es war schön« (Chamisso 1836: 275).
Auf Otdia (die Hauptinsel Wotje des gleichnamigen Atolls) begibt sich Chamisso mit einem Häuptling namens Rarick zu einem »Badeplatze« mit »Korallengarten«. Als sich Chamisso »auszuziehen« beginnt, vermutet er, dass Rarick ihn beobachten werde. Die Szene hat etwas Exhibitionistisches, denn Chamisso geht davon aus, dass seine »braunen Freunde« der weißen Haut des Europäers »Bewunderung« entgegenbringen. Er bietet Rarick »die Gelegenheit«, die ihm wohl »erwünscht sein« werde, um »eine sehr natürliche Neugierde zu befriedigen«. Doch Rarick schlägt sich dezent ins Gebüsch. Als sich Chamisso auf den Heimweg begeben möchte, teilt sich das Laub. Rarick hat sich das Haar »mit Blumen« geschmückt und auch einen »Blumenkranz« für Chamisso geflochten. Die beiden kehren »Arm in Arm zu seiner Wohnung« zurück. Chamisso möchte die »Nacht auf dem Lande« verbringen, um die »Menschen in ihrer Häuslichkeit zu beobachten«. Er schließt sich Raricks Familie »als Gast« an. Gemeinsam verbringen sie »den Abend unter den Cocosbäumen am Strande des inneren Meeres«, also an der Lagune: Die »lieblichen Freunde« Chamissos bemühen sich, »den fremden Gast zu unterhalten« (ebd.: 261f.). Chamisso bewundert die häusliche »Reinlichkeit dieses Volkes« und seinen Familiensinn. Ein Kind, das sich »unanstän13 | Vgl. den vorsichtig formulierten Einspruch gegen Deterings Homoerotik-These bei Christiane Weller, die verschiedene andere Aspekte einer komplexen »Polyvalenz der Begehrensstruktur« bei Chamisso diskutiert (Weller 2017: 108).
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dig« aufführt, wird nicht autoritär mit der Rute, sondern mit aufgeklärtem, pädagogischem Geschick »zu besserer Lebensart angeleitet« (ebd.: 263). Chamisso lässt sich als teilnehmender Beobachter recht weit auf die Kultur ein, die er mit anthropologischem Interesse intim beschreibt: »Ich schlief zu Nacht an der Seite Rarick’s im Hängeboden seines großen Hauses; Männer und Weiber lagen oben und unten, und öfters wechselte Gespräch mit dem Schlafe ab« (ebd.: 263).14
2. D ie polynesische H ütte im kolonisierten S amoa Im kolonialen Diskurs über die deutsche Südsee spielte Samoa eine überragende Rolle. Die präkoloniale Stigmatisierung der Samoaner als »unedle Wilde« bei La Pérouse hatte sich nicht durchgesetzt. Im Lauf des 19. Jahrhunderts verschob sich die Darstellung des Zusammenstoßes am Strand entscheidend zugunsten der Samoaner. Die Franzosen gerieten unter Verdacht, mit ihrem eigenen Verhalten die Attacke provoziert zu haben (vgl. Linnekin 1991: 22 u. 25f.). Der folgende Abschnitt behandelt exemplarisch eine Samoa-Novelle aus der Feder Hans Bethges. Dieser ist heute vorwiegend deshalb noch bekannt, weil Gustav Mahler einige seiner »Nachdichtungen« in der sinfonischen Komposition Das Lied von der Erde vertont hat. Zwischen 1912 und 1928 hat Bethge in verschiedenen Editionen eine Erzählung mit dem Titel Satuila publiziert. 1918 erschien sie erstmals in Buchform. Für die bibliophile Ausgabe von 1921 hat Bethge mit Georg Alexander Mathéy kooperiert. Der Graphiker hat zu Bethges Erzählung verschiedene Radierungen als Illustrationen beigesteuert. Der vollständige Titel lautet: Satuila oder vom Zauber der Südsee. Ein Idyll (Bethge 1921). »Samoa« – schwärmt Richard Deeken, ein Propagandist des deutschen Siedlungskolonialismus: »Welcher märchenhafte Zauber ist nicht mit diesem einen Worte verknüpft!« (Deeken 1901: 10). In der »ätherischen Tropenluft« leuchten ihm die Sterne in »strahlendem Glanze«. Über den »stillen, dämmerigen Wasserflächen« scheint ihm »eine besonders feierliche Stimmung zu liegen« (ebd.: 17). Der »Farbenzauber« des Meeres 14 | Vgl. die Abbildung des häuslichen Lebens nach einer Vorlage von Ludwig Choris in Kotzebue 1821, zwischen den Seiten 62/63 (»Inside of a House in the Radack Islands«).
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entfalte sich unter einer »Himmelskuppel«, einem »Riesendom«, den »so andachts- und stimmungsvoll keine irdische Macht errichten« könne. Angesichts der »Unendlichkeit des Meeres« fühlt er die »Hand des Weltenlenkers«, und »endloser Gottesfriede« kehrt bei ihm ein (ebd.: 18). Im Überschwang seiner religiös eingefärbten ozeanischen Affekte gerät er unter den »Bann des wunderbaren Zaubers, welchen die unvergleichlich schöne Natur Samoas besonders auf den Fremdling« ausübe (ebd.: 35). Bethges Novelle spielt im Westteil dieser polynesischen Inselgruppe, die von 1900 bis 1914 unter deutscher Kolonialherrschaft stand. Sie handelt von einem zivilisationsflüchtigen europäischen Schriftsteller, der ein Jahr lang fa‘a samoa, also in »wilder Ehe«, mit der Insulanerin Satuila zusammenlebt.15 Als er in Europa Wichtigeres zu tun hat, verlässt er sie. Eine der Radierungen Mathéys zeigt das Paar in seiner Hütte (vgl. Mathéy 1921: 24f.). Ein Vorhang öffnet sich auf die Bühne einer pazifischen Stimmungslandschaft. Im Hintergrund sind eine Bucht am Meer und ein Palmenstrand erkennbar. Die Erzählung Bethges greift auf die Poetik des glücklichen Raumes im Pazifik zurück. Eingangs entwirft Bethges Ich-Erzähler eine Szenografie polynesischer Insularität mit Hütte und Exotin: »Ich habe ein Jahr in Polynesien verbracht. Mein Wohnsitz war Falilati, ein Dorf auf der Insel Upolu, die den Samoainseln zugehört. Ich lebte in einem kleinen Hause aus Palmenblättern, das ich mit Hilfe der Eingeborenen nicht weit vom Meere aufgeführt hatte. Während des Baues half emsig ein schönes Mädchen mit grossen Augen und kleinen, schmalen Händen. Sie wurde Satuila genannt. Wenn ich des Nachts in meiner halbfertigen Hütte lag, dachte ich an sie« (Bethge 1918: 9).
Die Gedanken dieses Exotisten lassen sich artikulieren, denn sie zirkulieren als Versatzstücke im Diskurs über Polynesien. Georg Christian Thilenius, der Direktor des Hamburger Museums für Völkerkunde, erklärt in einem Beitrag für Heinrich Schnees Koloniallexikon: »In Polynesien paart sich die Eingeborene gern mit dem Weißen« (Thilenius 1920: 566). Die Ortschaft Falilati findet sich auch auf der Landkarte (vgl. Langhans 1900). Als eine amerikanische Südsee-Expedition unter Charles Wilkes 1839 Samoa besucht, erwähnt der Kapitän im Reisebericht die 15 | Vgl. dazu Schwarz 2015 (2013): 13. Meine Analyse der Novelle Bethges von S. 103-106.
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fruchtbare Gegend, die sich von Falilati bis Apia hinzieht. Aber nur wenige Jahre zuvor sei sie entvölkert worden (»it is said to have been depopulated«; Wilkes 1861: 134). Genaue Zahlen gibt es nicht, doch es liegt im Bereich des Möglichen, dass sich auch die Bevölkerung der samoanischen Inselgruppe im Lauf eines halben Jahrhunderts drastisch reduziert hat. Vor der Intensivierung des Kontakts dürften hier im Jahr 1790 mehr als 70.000 Menschen gelebt haben, 1853 waren es noch 33.900. Ursache dieser demographischen Katastrophe waren vor allem die von Europäern eingeschleppten Geschlechtskrankheiten.16 Aus samoanischer Perspektive mag es also Gründe gegeben haben, den sexuellen Kontakt zu Europäern zu meiden. Bethges Novelle jedoch folgt einem fest etablierten Narrativ von der sexuellen Hospitalität auf Samoa (vgl. Schwarz 2016: passim). Der Exotist stellt fest: »Ich liebte Satuila«, und kaum steht seine Hütte, wirbt er auch schon erfolgreich bei ihren Eltern um sie (Bethge 1918: 10). Nach der Hochzeitsfeier zieht sich das Paar in die Hütte zurück: »Dann, als der Mond über dem Meere stand, gab man uns das Geleit in unsere Hütte. Satuila trug grosse blaue Blüten im Haar und eine Kette von roten Bohnen (polo) über der Brust. Von den schönen Hüften abwärts war sie in ein dünnes Tuch aus grüner Seide gekleidet, das ich ihr für diesen Tag geschenkt hatte. Ihr brauner Oberkörper war unbedeckt. Ich nahm sie auf den Arm und trug die Lachende über die Schwelle meiner Hütte auf das Lager, über das eine fein geflochtene Matte aus Bast gebreitet war« (ebd.: 11f.).
Insgesamt verlebt Bethges Exotist »ein glückliches Jahr« mit der Samoanerin. Die Beziehung scheint ein Idyll zu sein, zu dessen Atmosphäre die samoanische Stimmungslandschaft entscheidend beiträgt: »Abends sassen wir vor unserer Hütte und blickten aufs Meer. Wir sahen zu, wie die ziegelrote Sonne hinter den Bergen der Insel Sawaï unterging und wie der Mond aus den Wedeln der Palmen und der riesigen Farren herauskam« (ebd.: 16f.).
16 | Vgl. Green 2007: 206, 217, 229f.; Einigkeit herrscht in der Frage, dass im Jahr 1853 33.900 Menschen auf Samoa lebten (ebd.: 205, 210). Greens Vorschlag lautet, bei der Analyse der demographischen Entwicklung die Auswirkungen der Gonorrhoe auf die Fruchtbarkeit der Frauen zu berücksichtigen (ebd.: 218).
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Das Paar genießt an der »Küste« den »wundervollen Blick« auf diese Landschaft mit ihrem »Urwald«. Auf der einen Seite die »schöngeschwungenen [...] Berge des Innern von Upolu« (ebd.: 20). Jenseits des Meeres wird die Insel »Sawaï« von einem Vulkan namens »Maugaloa« überragt (i. e. »Langer Berg«). Eine »feine Rauchwolke« sei über »seinem Haupt« zu sehen. Abends löse ihn ein »matter Feuerschein« ab, der »wie eine purpurne Krone« über seinem Haupt schwebe (ebd.: 20f.). Im Diskurs über die pazifische Stimmungslandschaft symbolisiert der Vulkan eine Leidenschaft, die abrupt zu entflammen droht. Latent lauert hier ein erhebliches Gefahrenpotential, denn die Insel vulkanischen Ursprungs vermag sich jederzeit in einen locus terribilis zu verwandeln.17 Bethges Exotist empfindet die »Insel Upolu« als »zauberhaft«, als eine »traumhafte Landschaft der Tropen, alles heroisch durcheinander getürmt«: »Kokospalmen und Brotfruchtbäume und tausend andere, deren Namen mir fremd waren, mit mächtigen Konturen« (ebd.: 24f.). Diese diskursive Konstruktion einer Tropenlandschaft mit Vulkan folgt bis zu einem gewissen Grad einer Ästhetik der Erhabenheit. Traumhaft aber waren in dieser von Indigenen weitgehend entvölkerten Landschaft vor allem die Profite der Deutschen Handels- und Plantagengesellschaft (DHPG), die auf ihren wohlgeordneten Kokosnussplantagen hunderte Melanesier als Kontraktarbeiter ausbeutete. Investoren bot sie in den letzten drei Jahren vor dem Verlust der Kolonie im Jahr 1914 beachtliche Profite. Bei einem Aktienkapital von 2,75 Millionen Mark zahlte die DHPG auf einen Anteil von 1.000 Mark nicht nur zwölf Prozent Dividende. An jede Aktie waren zwei Genussscheine gekoppelt, die noch einmal zusätzlich je 120 Mark abwarfen (vgl. Krauß 1920a: 300f. u. 1920b: 312). Bethges Novelle weiß nichts von diesen komplizierten Geschäften, hier ist der Tagesablauf simpel und monoton. Vormittags liest der Protagonist, alphabetisiert Satuila oder verbessert die »Hütte«. Nachmittags geht er auf Vogeljagd oder er fischt zusammen mit den Samoanern. Abends suche das Paar »früh das Lager auf«. Die »Zeit« vergeht für den Exotisten »sorglos und still, mit kleinen Beschäftigungen und süssem Nichtstun, in einer paradiesischen Natur«, die alles Notwendige bietet (Bethge 1918: 19f.). Dem tropischen Müßiggang liegt ein klimatheoretisches Erklärungsmuster zugrunde. Gelegentlich stört Satuila den Exotisten beim 17 | Auf Savai’i war 1905 übrigens tatsächlich ein Vulkan ausgebrochen, allerdings nicht der Maugaloa, sondern der Matavanu (vgl. Friedländer 1910: 520).
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Lesen, dann spielen die beiden Fangen »um die Banyanbäume herum«: Und »wenn ich sie hatte, schlenderten wir plaudernd Arm in Arm unserer Hütte zu« (ebd.: 22). Das Paar liegt »am Strande«, ein »Kanu mit Eingeborenen« fährt durch die ozeanische Stimmungslandschaft: »Es war sehr heiß. Satuila war nackt; sie trug nur einen Schurz aus Bast um die Lenden und hinter den Ohren Blumen« (ebd.: 22f.). Dieses samoanische Falilati ist eine Art deutsches polynesisches Feriendorf, eine Heterotopie, die ihrem Besucher als Heterochronie auch eine »Rückkehr zum polynesischen Leben« in »ursprünglicher Nacktheit« bietet (Foucault 2006 [1967]: 325). Die Ehe gerät in eine Krise, als sich ein Samoaner in Satuila verliebt und ihr gegenüber behauptet, dass ihr Mann fremdgehe. Er wirft ihr vor, dass »sie die Frau eines Weissen geworden sei« (Bethge 1918: 30f.). Als der Exotist den Rivalen deshalb zur Rede stellt, verschwindet dieser einfach (vgl. ebd.: 33). Die Frage lautet, warum der Samoaner den Europäer nicht tötet, so wie das seine Vorfahren 1787 mit dem Landungskommando der Schiffe unter La Pérouse gemacht haben. Bethges Exotist kann sich auf die abschreckende Wirkung der deutschen Strafexpeditionen verlassen (vgl. Krug 2005: passim). Sie ragt aus der realen Welt in die Fiktion hinein. Zwar haben Samoaner noch am 18. Dezember 1888 siebzehn deutsche Marinesoldaten während eines Landeunternehmens in einem Akt antikolonialen Widerstands massakriert. Doch Adolph Thamm, ein Matrose auf dem Kanonenboot Eber, berichtet nach Hause, dass bei der massiven Vergeltungsaktion der deutschen Kriegsmarine 300 bis 400 Samoaner im Feuer der Schiffsartillerie verwundet oder getötet worden seien. Schon dem ersten Schuss sollen »6 feindliche Kanaker« zum Opfer gefallen sein. Eine Granate allein habe 38 Frauen und zehn Kinder getötet. Der Autor erklärt: »An Land war alles ein Flammenmeer« (Thamm 1908: 87ff.). Robert Louis Stevenson erwähnt, dass eine Granate des Kanonenboots Eber fünf Samoaner in der Ortschaft Letongo beim Kochen in ihrer Hütte getötet habe (vgl. Stevenson 1892: 213). In Bethges Novelle stimmen die samoanischen Männer gelegentlich »Wechselgesänge« an, die »von kriegerischen Taten« handeln (Bethge 1918: 18f.). Leider lässt Bethge, der sonst alles nachdichtet, was er an exotischer Lyrik findet, die Samoaner an dieser Stelle nicht zu Wort kommen. Aus einer kritischen postkolonialen Perspektive ist ein »Kriegstanzlied« von besonderem Interesse, das der deutsche Anthropologe Augustin
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Krämer aufgezeichnet hat. Es handelt von den Emotionen der Samoaner beim Anblick deutscher Marinesoldaten: »Wenn ich die Offiziere (ali’i fita fita)18 sehe, Dann zittert mir der Bauch, Die weissen Mützen, In meiner Angst bestraft zu werden« Refrain: »Ich habe Angst, Angst in dem Glauben, Dass sie in ihrer Stärke kommen, Uns mit dem Tode zu bestrafen« (Krämer 1903: 354).
Bethges Erzählung blendet den kolonialen Kontext völlig aus, sie setzt die kolonialen Machtverhältnisse aber kritiklos voraus. Es sind gerade die Hütten der Pazifik-Insulaner, die von den europäischen Invasoren bevorzugt als Zielscheiben für die Schiffsartillerie gewählt werden. Mit der Expansion der Reichweite gereicht die insulare Lage der Dörfer immer mehr zum Nachteil ihrer Bewohner.19 Der technische Fortschritt löscht den Schutzwert der Hütte aus. Vor diesem Hintergrund begreift man erst den Zynismus, mit dem der Kolonialhistoriker Hermann Hiery sein Publikum auf die Südsee einstimmt. Er behauptet, das Besondere des deutschen Kolonialismus in der Südsee bestehe darin, dass er sich aus einem humanitären Bemühen gespeist habe, die Bevölkerungen der Pazifikinseln unter der Herrschaft des Kaiserreichs so »behutsam und vorsichtig wie möglich« an eine »globalisierende weltweite Entwicklung heranzuführen« (Hiery 2001: 23). Wer sich diesem Humanismus nicht beugt, muss in seiner Hütte mit dem Einschlag einer Granate rechnen.
18 | Mit dem Term fitafita bezeichnet man in Samoa Polizeitruppen. 19 | Vgl. Obermüller 1889: 8f. Hier ein Brief, der von einem »Aufstand« Ende August berichtet, in dem die »deutschen Marinetruppen« den samoanischen Rebellen mit »Revolverkanonen und Repetirgewehren« erhebliche Verluste beigebracht hätten. Auf deutscher Seite waren zwei Tote zu beklagen, auf der Seite der »feindlichen Maletos« jedoch »49 Todte«. Sie hätten dann mit 6.000 Kriegern Apia angegriffen, seien jedoch zurückgeschlagen und auf eine Insel getrieben worden. Dort habe die Adler ein Dorf mit Granaten »vollständig vernichtet«.
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Das diskursive Muster, das Inselstrände, Hütten und Meer zu einer pazifischen Stimmungslandschaft verwebt, hält sich hartnäckig in der kolonialrevisionistischen deutschen Südsee-Literatur: »Wie flüssiges Silber schimmernd, dehnt sich draußen der gewaltige Ozean. Bläuliches Licht liegt über dem Lande und auf den leise im Abendwinde sich wiegenden Kronen stolzer Palmen hoch oben unter dem hellen Himmel. Wundervoll in dieses Bild stimmend, schmiegen sich die malerischen Hütten der Eingeborenen an den Strand mit den braunen blumengeschmückten Kindern dieses Paradieses. Dahinter nachtet geheimnisvoll der undurchdringliche Urwald, und fern am Außenriff rauscht der Brandung Ewigkeitslied!« (Zieschank 1918: 34).
Das schreibt im Überschwang ihrer ozeanischen Affekte die Frau eines Arztes, die mit ihrem Mann während der deutschen Kolonialzeit nach Samoa ausgereist war. Das Paar lebte nicht als beachcomber oder als kulturelle Überläufer im Inseldschungel, sondern von einem Gehalt der Deutschen Handels- und Plantagengesellschaft. In der kolonialen Ideologie bedürfen die diskursiv infantilisierten Hüttenbewohner paternalistischer Protektion. Dieser Diskurs stilisiert den pazifischen Archipel zum »Schutzgebiet« der deutschen Kolonialmacht (vgl. Förderer 2017: 294ff.). Unvergesslich auch der berühmteste »Samoaner« der deutschen Literatur, der Südseehäuptling Tuiavii aus Tiavea. Hinter ihm verbirgt sich der deutsche Lebensreformer Erich Scheurmann, ein Kolonialrevisionist, der sich später den Nazis als Blockwart andienen wird. Sein Tuiavii sehnt sich auf seiner Europareise nach seiner »Hütte in Samoa«, »wo nichts zu mir kommt als der milde Passat des Meeres« (Scheurmann 1922 [1920]: 51).
3. Tod am S üdmeer Von Forsters elysischer Stimmungslandschaft mit tahitianischem Sandstrand über Chamissos homoerotisch aufgeladene Heterotopie an der Lagune Wotjes bis hin zu Bethges ideologischer Verklärung des deutschen Kolonialismus auf Samoa als zauberhaftem Idyll: In der Poetik des pazifischen Raums übernimmt die »Hütte auf der Insel« eine zentrale Funktion. Zum Schluss soll eine kontrapunktische Lektüre von Thomas Manns Novelle Der Tod in Venedig zeigen, dass sich in ihr die diskursive Formation des Orientalismus mit der des Pazifikismus kurzschließt.
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Der Handlungsort liegt realgeographisch am adriatischen Mittelmeer. Doch in der imaginären Geographie dieser Erzählung grenzt Venedigs Lagune auch an den Pazifik. Zu Beginn der Novelle hat der Schriftsteller Gustav Aschenbach eine Vision. Er sieht ein »tropisches Sumpfgebiet«. Die »flachen Eilande« an diesem Ort senden nicht nur »haarige Palmenschäfte«, sondern auch Mangroven empor. Es handelt sich um »wunderlich ungestalte Bäume, deren Wurzeln dem Stamm« entwachsen und sich »durch die Luft in den Boden, ins Wasser« senken (Mann 1993 [1912]: 189). Niedrig gelegene Inseln, auf denen Palmen und Mangroven wachsen, gibt es in den »Morästen des Ganges-Deltas«, aus denen die »indische Cholera« nach Europa vordringt (ebd.: 253f.). Ganz manifest verweist die Erzählung auf den indischen Subkontinent. Doch low-lying islands gäbe es auch im Südpazifik. Zu diesem Typus zählt nicht zuletzt die »Bäderinsel« (ebd.: 204), der Lido von Venedig, auf den Manns Erzählung hier in einer Prolepse als Reiseziel Aschenbachs anspielt. Die Denotation des italienischen Wortes lido ist nichts anderes als »Sandstrand«. Zunächst fährt Aschenbach auf eine andere »Insel der Adria«, nach Pola. Unzufrieden macht ihn dort »der Mangel jenes ruhevoll innigen Verhältnisses zum Meere, das nur ein sanfter, sandiger Strand« gewähre (ebd.: 200). Anders als bei Forster ist das Wetter bei der Ankunft Aschenbachs in Venedig geeignet, eine Depression auszulösen: »Himmel und Meer« sind »trüb und bleiern«, gelegentlich fällt »neblichter Regen« (ebd.: 203).20 Aschenbach steigt auf dem Lido im Bäder-Hotel ab und nimmt ein Zimmer mit »Aussicht aufs offene Meer« und den »Strand« (ebd.: 209f.). Als er meint, »den fauligen Geruch der Lagune zu spüren«, befällt ihn eine »Verstimmung« (ebd.: 214 u. vgl. 221). Doch zugleich ist er von der »Atmosphäre der Stadt« auch angezogen, ihrem »leis fauligen Geruch von Meer und Sumpf« (ebd.: 225). Aschenbachs Liebe zur glatten »Rau meswüste« des Meeres ist seinem Ruhebedürfnis geschuldet (ebd.: 217). Was ihn an diesem Ort festhält, ist nicht die »graue und flache See«, sondern der Anblick des vierzehnjährigen Tadzio, in den sich Aschenbach hoffnungslos verliebt. Er mietet sich eine »Strandhütte« am »Rande des Elements«. Von hier aus lässt sich die paradiesisch anmutende »Nacktheit« beobachten, »die keck-behaglich die Freiheiten des Ortes« genießt (ebd.: 216). In der Metonymie der »Nacktheit« am Strand schwingt ein 20 | Vgl. zur Konvergenz zwischen dem Wetter und den Gefühlen Aschenbachs die Interpretation von Gumbrecht 2011: passim.
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Verweis mit auf die Freikörperkultur, die eine rousseauistische Anthropologie den Naturvölkern zugeschrieben hat: Der Erzähler kommentiert Aschenbachs Topophilie für den »gepriesenen Raum« des Strandes so: »Nur dieser Ort verzauberte ihn, entspannte sein Wollen, machte ihn glücklich« (ebd.: 229). Gernot Böhme macht darauf aufmerksam, dass allein schon die Verwendung der Farbe Blau bei der ästhetischen Ausgestaltung von Natur geeignet ist, eine südliche Atmosphäre zu evozieren (vgl. Böhme 2013: 72 u. 75). Vom Meer heißt es bei Thomas Mann, dass es unter einer tropischen Sonne »tiefer und tiefer blaute« (Mann 1993 [1912]: 230). Tadzio taucht »zwischen den Hütten auf«, um dann am »Rande der See« ins »Blaue« zu träumen. »Fremdheit« verwandelt für Aschenbach »des Knaben Rede zur Musik«, eine »übermütige Sonne« gießt »verschwenderischen Glanz über ihn aus, und die erhabene Tiefsicht des Meeres war immer seiner Erscheinung Folie und Hintergrund« (ebd.: 231). In erlebter Rede stellt sich der Schriftsteller in dieser Situation eine rhetorische Frage, die der Diskurs über die Tropen bereits beantwortet hat: »Stand nicht geschrieben, daß die Sonne unsere Aufmerksamkeit von den intellektuellen auf die sinnlichen Dinge wendet?« (ebd.: 232). In der Anthropologie der Jahrhundertwende galt als ausgemacht, was der Mediziner Hans Rau mit der Behauptung auf den Punkt brachte, dass das heiße Klima zu einer »Steigerung der Geschlechtslust« führe (Rau 1904: 8f.). In diesem derart tropikalisierten Venedig kann sich der Tourist an »Korallenschnüren« erfreuen, die dort feilgeboten werden (ebd.: 241). Das dürften Perlenhalsketten sein,21 aber der Ladeninhaber könnte den Schmuck auch aus der Südsee importiert haben. Die narrative Tropikalisierung der Novelle erreicht ihren Höhepunkt im dionysischen Traum Aschenbachs kurz vor seinem Tod. Ein Festzug wälzt sich von »bewaldeter Höhe« herab. Aschenbachs Vision assoziiert einen wahnsinnigen »Rundtanz«, die Ahnung »umlaufender Krankheit« und »grenzenlose Vermischung«, die »Raserei des Untergangs« (ebd.: 258f.). Das Klima der an dieser Stelle herauf beschworenen Tropenzone begünstigt nicht nur sexuelle Hybridisierungswünsche, sondern auch den Ausbruch tödlicher 21 | KORALLE, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (18541961). ›http://dwb.uni-trier.de/de/‹ (Zugriff am 29. 8. 2017): Das Wort Korallen wird verwendet, wenn man von »ähnlichen angereihten kügelchen überhaupt, zunächst als halsband zum frauenschmuck« spricht.
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Krankheiten. An einer solchen Tropenkrankheit geht der Schriftsteller schließlich vor der »Reihe der Strandhütten« zugrunde (ebd.: 265f.). Eng orientieren sich die Formulierungen Thomas Manns an Homers Schilderung der Elysischen Gefilde, die Georg Forster mit Vergil diskursiv in den Pazifik verlegt hat. Auch Aschenbach fühlt sich am Strand ganz so, »als sei er entrückt ins elysische Land, an die Grenzen der Erde, wo leichtestes Leben den Menschen beschert ist, wo nicht Schnee ist und Winter noch Sturm und strömender Regen«. Eine pazifische Tropen-Stimmung überfällt ihn »[m]anchmal vormittags, unter dem Schattendach seiner Hütte, hinträumend über die Bläue des Südmeers« (ebd.: 229).
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Inklusion/Exklusion Zur Ambivalenz des Hauses bei Kafka und Musil Alexander Honold
1. D as H aus und der R aum Unter einem sicheren Dach, auf einem befestigten Boden und sich zwischen mehr oder minder vier Wänden zu befinden, gibt dem Menschen ein existentielles Grundvertrauen, das nicht auf Kosten einer weiter ausgreifenden räumlichen Orientierung gehen muss. Im Gegenteil; nicht erst seit Martin Heideggers Essay »Bauen Wohnen Denken« ist dargelegt worden (vgl. Heidegger (2000 [1951]), dass die gebaute Ordnung des Hauses nicht wirklich den Ausschluss von Welt bedeutet, sondern deren zeichenhafte Reproduktion.1 Im Fußboden liegt – pars pro toto – eine Inkorporation des Erdbodens vor, die Wände umreißen die Blickdirektion in alle vier Himmelsrichtungen, auch wenn sie realiter durch ihre stoffliche Zusammensetzung die Sichtmöglichkeiten mehr oder minder stark reduzieren. Und im Anblick der Zimmerdecke und des Dachauf baus ist die Überwölbung des irdischen Daseins durch den Himmel zu einem Gegenstand baulicher Rekonstruktion geworden. So ließe sich sagen, dass in den Grundformen des Hauses, und dies vermutlich für historisch und kulturell höchst verschiedene Ausprägungen und Bauformen gleichermaßen, eine konstruktive Nachahmung der anthropologischen WeltOrientierung vorliegt, durch die der Mensch sich einen selbstgesetzten Raum innerhalb des natürlichen und kosmischen Raumes verschafft.
1 | Die kulturelle Replikation der menschlichen Naturverhältnisse in per se ambivalenten Gründungsakten und Behausungstechniken untersucht Saskia Haag (vgl. Haag 2012).
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Inklusion und Exklusion der Außenwelt stellen folglich im Modell des Hauses keinen dichotomisch strukturierten Gegensatz dar, sondern vielmehr ein Komplementärverhältnis. Die Inklusion des gesamten kosmischen Gefüges in die vier Wände eines bescheidenen Zimmers kann deshalb als symbolische Form der Teilhabe gelingen, weil sie mit der Exklusion unkontrolliert einwirkender Naturkräfte verbunden ist. Einerseits also bleibt das physikalische Ausgerichtetsein auf die Grundachse der Vertikale und die Koordinaten des Rechts-Links- sowie Hinten-Vorn-Richtungskreuzes, mit dem sich der Mensch die Vorteile seines vielbeschworenen aufrechten Gangs zunutze macht, als elementares Formparadigma sämtlicher Raumvorstellungen auch in den baulichen Behältnissen aller Art grundsätzlich erhalten und als Bewertungssystem weiterhin virulent. Andererseits aber liegt der Sinn dieses sekundär geschaffenen, baulich umgrenzten Raumes, wie ihn Häuser, Wohnungen und Zimmer darstellen, zweifellos auch und gerade in den damit verbundenen AusschlussMöglichkeiten. Der von dem Philosophen Hans Blumenberg so genannte »Absolutismus der Wirklichkeit« (Blumenberg 62001 [1979]: 10) beschreibt jenen Aspekt der conditio humana, der sich aus der Preisgegebenheit gegenüber etwelchen Gefahren ableitet, die aus verschiedensten Richtungen herannahen können; diesem ubiquitären Gefahrenpotential begegnet nichts derart wirkungsvoll wie die zivilisatorischen Errungenschaften des Bauens. Hier nämlich lernt der Mensch nicht nur, sich selbst eine Zone der Hegung und des Schutzes gegen außen zu verschaffen; er macht sich vor allem mit den Mechanismen vertraut, dieses primäre Schutzbedürfnis wiederum zu delegieren an das bereits Vorhandene und institutionell Abgesicherte. Wo Boden, Dach und Wände errichtet und stabile Raumbehältnisse geschaffen wurden, kann die existentielle Grundsorge, wie sie entwicklungsgeschichtlich durch ubiquitär drohende Gefahrenlagen motiviert war, an das etablierte Daseinsmodell des Wohnens in geschützten Räumen delegiert werden. Noch unser Reflex, in größeren öffentlichen Räumen nach Möglichkeit mit dem Rücken nahe an einer der Wände zu sitzen, leitet sich von derartigen Strategien der Eindämmung jenes besagten Absolutismus der Wirklichkeit her. Man schließt damit aus, dass Unerwartetes aus jenen Richtungen kommen könnte, die man selbst nicht gut im Blick hat. Diese Form der Delegation von Gefahrenabwehr stellt neben Aspekten der Bequemlichkeit und der Witterungsresistenz eine der wesentlichen Triebkräfte des Bauens dar.
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Im Kulturkonzept des Wohnens als einer dauerhaften Nutzung von umbauter Innenräumlichkeit spielt neben den benannten Faktoren des Schutzes und der Witterungsunabhängigkeit freilich auch die Zeitdimension noch eine entscheidende Rolle. Wohnen und Gewohnheiten sind nicht nur etymologisch eng verwandt, sondern auch sachlich aufeinander bezogen. Der bewohnte Raum des befestigten Hauses, der umgrenzten Wohnung oder des abschließbaren eigenen Zimmers ist diejenige Bezugsgröße des Handelns, Fühlens und Denkens, in der man sich über die sonstigen Raumverhältnisse und das komplexe System natürlicher und technisch geschaffener spatialer Strukturen nicht mehr allzu viele Gedanken machen muss. Meistens gelingt es uns nicht einmal mehr, in innenräumlichen Bezügen ein klares Bewusstsein zur Fixierung der vier Himmelsrichtungen aufrecht zu erhalten. Das ist Symptom des hohen Grades, in dem die primäre räumliche Daseinsvorsorge an das architektonische Werk der zweiten Natur hat delegiert werden können. Wir brauchen die elementaren Raumkoordinaten nicht mehr ständig selbst zu erfassen und hinsichtlich ihrer Stabilität und ihrer jeweiligen strategischen Relevanz zu überprüfen; in hohem und kaum mehr wirklich mitreflektiertem Maße wird dies für uns durch die nahezu durchgängigen architektonischen Konstruktionen unserer alltäglichen Lebenswelt übernommen. Institutionell geregelt, nämlich an Eingangsportale, Zugangscodes und Aufnahmerituale delegiert, sind nahezu sämtliche basalen Prozesse der In- und der Exklusion und die mit ihnen verbundenen Unterscheidungsoperationen. Erst wo innerhalb des institutionellen Gefüges eine Störung oder ein Krisenfall eintritt, werden die eingespielten Mechanismen überhaupt als solche wieder sichtbar. Und gerade im Ausnahme- oder Störungsfall fällt dann auch die Notwendigkeit der in- und exkludierenden Wohnstrategien wieder auf das eigenverantwortliche und spontane Handeln individueller Protagonisten zurück. Solche Rückfälle in ein okkasionelles und improvisiertes Aushandeln der Grenzen des Hauses zählen nicht von ungefähr in zahlreichen literarischen Texten zu den privilegierten Handlungskonstellationen, wie ja überhaupt der Ausnahmefall erzähltechnisch eine weit größere Ergiebigkeit besitzt als die gewohnheitsmäßig eingespurten Routine-Abläufe. Auch innerhalb des symbolischen kulturellen Systems der Literatur fungiert das Haus als ein räumliches Grundmodell topologischen Denkens; es definiert die Mensch-Natur-Beziehung durch den Gegensatz von Basis und Überbau, reguliert die Sozialverhältnisse anhand der Unterschei-
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dung von öffentlich und privat und stiftet die generationenübergreifende Kontinuität eines Erbschafts- und Traditionszusammenhanges. An zwei Erzähltexten werden die Implikationen und Spielräume dieser oikologischen Raummodellierung exemplarisch nachgezeichnet. In Kafkas Der Bau (1924) wird die verhängnisvolle Dualität von Abschottung und Projektion zur Triebkraft eines paranoid perfektionierten Weltentwurfs; für Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften (1930) wird das Domizil des Protagonisten zur symbolischen Synopse eines eklektischen Zeitalters. Dabei zeigt sich die in den besprochenen Texten jeweils etablierte Raumsemantik auch abhängig von den Dispositionen der jeweiligen Figurenperspektive und Erzählstrategie.
2. K afk a und die Par anoia »Ich habe den Bau eingerichtet und er scheint wohlgelungen«.2 Auf den ersten Blick gibt der unbekannte Ich-Erzähler in Franz Kafkas aus dem Nachlass überlieferten Erzählung Der Bau von einem geglückten architektonischen Schaffensakt Nachricht. Fast wie im biblischen Schöpfungsbericht schaut der Urheber auf sein Werk zurück und befindet es für wohlgelungen. Doch werden Meisterstolz und Zuversicht in dieser Erzählung bald kaum noch die Oberhand behalten; vielmehr weckt die Beschäftigung des selbst berichtenden Akteurs mit der Anlage und den Eigenschaften seines Bauwerkes zunehmende Zweifel und Ängste, bis schließlich der Baumeister sich des Erfolgs seiner Kunst keineswegs mehr gewiss ist und sie sogar für den allergrößten Fehler seines Lebens zu halten beginnt. Nicht mehr Herr im eigenen Hause zu sein, diese von Freud beschriebene Grundbedingung der modernen Psyche ist in der Auseinandersetzung des kleinen Endbewohners mit seinen mutmaßlichen Feinden zur ganz wörtlich genommenen Wohnsituation geworden. »Hier gilt auch nicht daß man in seinem Haus ist, vielmehr ist man in ihrem Haus« (Kafka 1994: 167). Freimütig kommt der Protagonist in der Folge auf immer mehr kleine und größere Schwachstellen der selbstgeschaffenen unterir2 | Der Titel Der Bau ist eine editorische Konstruktion ex post; daher wird die Erzählung bibliographisch unter ihrem Incipit »Ich habe den Bau eingerichtet…« geführt (vgl. Kafka 1994: 165).
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dischen Anlage zu sprechen; Fehler, vor welchen er einerseits die Augen gerne verschließen würde, auf die er andererseits aber mit selbstquälerischer Beharrlichkeit immer wieder zu sprechen kommt. Ganz offen bekennt er, dass er »nicht immer einen Mangel des Baues in Augenschein nehmen« wolle, »wenn dieser Mangel schon in meinem Bewußtsein nur allzusehr rumort« (Kafka 1994: 175). Weder dem eigenen Handwerk noch der vernünftigen Urteilsfähigkeit ist in diesem Werk zu trauen, wenn selbst die unmittelbaren Sinnesdaten schon nur mehr trügerische Vorstellungen von den Verhältnissen der Wirklichkeit liefern. In der beschreibungsintensiven Erzählprosa Franz Kafkas finden die durch Institutionen und Medien induzierten Deformationen der sinnlichen Lebenswelt einen genauen und unbestechlichen Chronisten; so berichten seine Erzählungen ebenso von einem nach Verlassen der Eisenbahn fortwirkenden Gefühl der Seekrankheit wie von dem Zurückschaudern vor dem Eintritt in die machtgestützte Diskurswelt des Gesetzes, des Gerichts oder des Schlosses. Ein permanentes »Zischen« oder »Pfeifen« (Kafka 1994: 189) beklagt jenes wundersame Tier (vermutlich ein Maulwurf?), das in Kafkas Erzählung Der Bau aus dem Inneren eines selbstangelegten unterirdischen Höhlensystems rapportiert. Hat man Der Bau einerseits als Reflexion auf die Weltkriegs-Erfahrungen des Stellungs- und Grabenkrieges bezogen (vgl. Kittler 1990), so ist ebenfalls mit plausiblen Argumenten auch schon das setting dieses bizarren Maulwurf-Interieurs als dasjenige einer Expedition in den menschlichen Gehörgang verstanden worden (vgl. Encke 2006 u. Steiner 2012). Eine Verarbeitung der Fronterfahrungen des »Grabenkriegs«, so hatte Wolf Kittler argumentiert, kann bei Kafka auf zumindest indirektem Wege durchaus vorliegen, vermittelt über einen einschlägigen Bericht Bernhard Kellermanns (Der Krieg unter der Erde, Juli 1915)3 sowie über die persönlichen Erzählungen des Schwagers Josef Pollak bei einem Fronturlaub im Herbst 1914 4 und über die Nachbildung eines Schützengrabens
3 | Kellermanns Bericht, so Kittler, befand sich in einer Sammelausgabe in Kafkas Bibliothek, was die mutmaßliche Referenz auf diesen Text bestätigt (vgl. Kittler 1990: 290 ff.). 4 | Kittler 1990: 292 u. Encke 2006: 139.
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für die Prager Bevölkerung im November 1915.5 Doch erweist sich gerade im Hinblick auf die ästhetischen Determinanten eines grabenkriegsähnlichen Belagerungszustandes der Umstand als sprechend, dass Kafka die Lebenswelt und den Aufmerksamkeitsradius des sich in Erdgänge eingrabenden Tieres ausschließlich auf Tastsinn und Hörvermögen bezieht; es handelt sich bei dem Text, so Julia Encke, um die existentiell radikale Beschreibung einer »Hörsituation« (Encke 2006: 133), bei der die kriegstypische Anmutung des Grabensystems mit der labyrinthischen Ordnung des menschlichen Gehörgangs überblendet wurde.6 Demzufolge ist Der Bau als textuelle Verarbeitung »kein Symptom des Krieges«, sondern »eine Erzählung, die die im Krieg relevant gewordene Wahrnehmungssituation weiterschreibt« (ebd.: 141). Das erzählende Tier verbringt seine Zeit, da es über das alarmierende Geräusch eines möglicherweise nahenden Eindringlings und mutmaßlichen Feindes in höchste Angst versetzt ist, statt im tiefen Inneren der Anlage nun zunehmend »an der Grenze […] zwischen Innen- und Außenwelt« (Steiner 2012: 160), tastet sich »horchend an den Wänden« entlang zum »Ort der Störung« (Kafka 1994: 188). Dann aber macht dieser Höhlengangbewohner die Entdeckung, dass der Entstehungsort und damit die Quelle des beunruhigenden Geräuschs auch bei gründlichster Suche gar nicht lokalisierbar ist. »Ich komme«, so stellt das Tier des Baus nämlich fest, »gar nicht dem Ort des Geräusches näher, immer klingt es unverändert dünn in regelmäßigen Pausen, einmal wie Zischen, einmal eher wie Pfeifen« (ebd.: 189). Grund dieser Verwirrung könnte sein, dass der Feind, den das Tier in seinen Bau eingedrungen wähnt, tückischerweise seine Position häufig wechselt und geradezu überall zu lauern scheint. Eine andere mögliche Erklärung aber, so verrät der Text, würde sich eröffnen mithilfe der Vermutung, dass es »das eigene Blut im Ohr« (ebd.: 197) sei, welches die irritierenden Geräusche verursacht. Liegt aber die Quelle des Pfeifens oder Zischens im Beobachter selbst, so lässt sich die Schwierigkeit, dem Störgeräusch einen präzisen Ort und ein klar mar5 | Prager Tagblatt v. 19. November 1915 (vgl. Encke 2006: 140). Kafka notiert den »Anblick der Ameisenbewegung des Publikums vor dem Schützengraben und in ihm« in einem Tagebucheintrag vom 6. November 1915 (Kafka 2002: 772). 6 | »Kafkas Bau, der in der Erzählung ausdrücklich als eine ›Höhlung‹ bezeichnet wird […], evoziert nicht zuletzt diesen anatomischen Bau des Ohrs« (Encke 2006: 149).
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kiertes Gegenüber zuzuweisen, leicht durch eine kohärente Lesart auflösen: »Das Pfeifen und Zischen im Ohr des Tieres zeigt […] den Lärm der selbstgeschaffenen Welt an« (Steiner 2012: 161). Wie schon in der Parabel Vor dem Gesetz und letztlich auch in Kafkas Romanen insgesamt ist es wiederum der Protagonist selbst, der unwillentlich über Art und Umfang der sich ihm in den Weg stellenden Schwierigkeiten entscheidet. Nimmt man diesen konstitutiven Anteil des Protagonisten an dem innerhalb des Baus überall vernommenen bedrohlichen Höreindruck auf, so kann diese kulturgeschichtlich-aisthetische Rekonstruktion ohne Weiteres mit einer eher schreibästhetisch ausgerichteten Lektüre des Textes (wie sie etwa Bettine Menke skizzierte; vgl. Menke 1992) verbunden werden. Evidenterweise ist der Vorgang des Schreibens demjenigen des Grabens eng verwandt, um genau zu sein: sogar metonymisch assoziiert. Kafkas fragmentarisch endende Erzählung vom Maulwurf, der in dem eigenen weitläufigen Sicherheitstrakt zunehmend die Welt seines gefährlichsten Feindes erkennen muss, weist einen Textbau auf, der auf dramatische, vielleicht letztlich tragische Weise die Aporie literarischer Produktionsästhetik inszeniert: das Gefangensein im eigenen Werk. Was der Erzähler-Protagonist innerhalb der eigenen Gänge zu hören bekommt, ist stets ein Echo seiner selbst, oder anders formuliert: eine Resonanzverstärkung seiner eigenen, hoch sensibilisierten Empfangsvorrichtungen. Denn Der Bau stellt nicht nur eine topologische Modell-Vergrößerung des Gehörganges und seiner dunklen Windungen dar, er reflektiert zugleich auch (nämlich als Musterfall eines von Kunstwillen erschaffenen Artefakts) die autopoietische Spannung zwischen Weltrezeption und Werkprojektion. Der Tinnitus, den man mit Uwe C. Steiner als einen heimlichen Helden Kafkas in dessen vielfach vermessenem »Hauptquartier des Lärms« (Steiner 2012: 159) ausmachen kann, ist symptomaler Ausdruck eines demiurgischen Dilemmas entgleister Schöpfungsprojekte. Neu und unerhört an der von Kafka gestalteten Dialektik der Subjektion ist, dass hier die selbstgeschaffene Schuldordnung der Protagonisten nicht mehr vorrangig mit den gängigen optischen Trugmetaphern der Illusion oder Projektion beschrieben wird, sondern eine primär architektonische Vergegenwärtigung erfährt, die sich an dem Außen-Innen-Resonanzverhältnis des Hörens orientiert. In Kafkas Erzählprosa haben wir es mit einer Art von Texten zu tun, deren unreliability im Unterschied zum späten 19. Jahrhundert keine fi-
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gurenpsychologisch motivierte Grundlage mehr hat (sodass die Unzuverlässigkeit als ein Instrument der Charakterzeichnung werkintentional eingeordnet werden könnte), sondern nur mehr mittels einer symptomatologisch orientierten Lektüre zu entschlüsseln ist. Hier ist Der Bau in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich; zum Ersten, da er die unaufhebbare Verstrickung des Bauens und des Wohnens ineinander zu einem existentiellen Befund erhebt – es gibt kein Sich-Einrichten im fertigen Bau, sondern nur permanente Umarbeitungen, die niemals fertig werden; zum Zweiten, indem Kafka hier die Paradoxien der Inklusion und der Exklusion dergestalt auf die Spitze treibt, dass jede Form der Abschottung nach außen sowohl als Verwirklichung von Sicherheitsmaßnahmen wie auch als Irritationsquelle neuer Unsicherheiten und Ängste erscheint, weil der Feind ja womöglich schon längst im Inneren des weitverzweigten labyrinthischen Gängesystems weilt oder aber durch die aufwendigen Baumaßnahmen überhaupt erst auf den Plan gerufen worden ist. Und drittens schließlich beginnen nicht mehr nur Abschottung und Risiko im Zuge der sich immer weiter perfektionierenden Baulogik zunehmend ineinander überzugehen, sondern auch die Grenzen des bauenden Akteurs selbst scheinen sich immer mehr aufzulösen und tendenziell in diejenigen des eigenen Gebäuderaumes zu diffundieren, sodass letztlich sogar zwischen der Architektur einer unterirdischen Stollenanlage und dem nur mentalen Konstrukt der mitgeteilten innerpsychischen Gedankengänge keine substanzielle Differenz mehr ausgemacht werden kann. Wie – um mit einem wandlungsfähigen Leitwort des Textes zu sprechen – für die Antriebskräfte des Baus nicht nur der Faktor der List ausschlaggebend wurde, sondern ebenso sehr jene der Lust und schließlich der Last, sodass die List des Bauens, die Lust des Bauens und die Last des Bauens sich zu einer mehrfarbig schillernden Leitchiffre überlagern, so gilt von den hier ausführlich beschriebenen Anstrengungen des Bauens, Grabens und Schichtens insgesamt ebenfalls, dass in ihnen die wunschund die angstbesetzten Antriebskräfte eigentlich kaum mehr auseinanderzuhalten sind. Ob sich wirklich ein fremdes und großes, deshalb wohl unbedingt auch gefährliches Tier in den Bau eingeschlichen habe, wie der alarmierte Protagonist des Geschehens immer wieder mutmaßt, kann von der bloß mentalen Konstruktion einer solchen Gefahr innerhalb des entsprechenden paranoiden Systems gar nicht mehr unterschieden werden.
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Paranoia stellt sich innerhalb des Textes deshalb als pansemiotische Wahrnehmungs- und Deutungsspirale dar, die sowohl beunruhigende wie entwarnende Außensignale gleichermaßen zur Selbstverstärkung eines panischen Bedrohungsszenarios nutzt. Egal, ob die Fremdgeräusche nun schwächer oder stärker werden oder ob sie möglicherweise gar keine Fremdgeräusche sind: Jede nur denkbare Wendung ist nichts anderes als eine weitere Drehung der Schraube in Richtung einer unentrinnbaren Zwangsläufigkeit. Anders formuliert, zeigt Kafkas Der Bau in brillanter Folgerichtigkeit und mit immer neuen Anläufen die Unmöglichkeit, die Perspektive einer Beobachtung zweiter Ordnung einzunehmen, solange man ein Subjekt ist und nichts weiter. »Es ging so weit daß ich manchmal den kindischen Wunsch bekam überhaupt nicht mehr in den Bau zurückzukehren sondern hier in der Nähe des Eingangs mich einzurichten, mein Leben in der Beobachtung des Eingangs zu verbringen und immerfort mir vor Augen zu halten und darin mein Glück zu finden, wie fest mich der Bau, wäre ich darin, zu sichern imstande wäre« (Kafka 1994: 178).
Das Glück des Wohnens in sicherer Geborgenheit, es würde dem Baumeister und Nutznießer dieser aufwendigen Anlage paradoxerweise erst und nur dann zuteil, wenn er dauerhaft darauf verzichtete, es in Anspruch zu nehmen. Allein im Beobachterstatus kann sich die Ausführung des Lebens ihrer Sache sicher sein, um den Preis, sie dadurch aber definitiv zu verlieren.
3. M usil und das G eschehenl assen Robert Musils Roman-Protagonist, der Mann ohne Eigenschaften, hieß in einer der Vorstufen noch anders, nämlich Anders. Darin enthalten ist die philosophische Grundformel der Kontingenz, nämlich das Bewusstsein, es könnte »ebensogut anders sein«, wie Ulrich das später formulieren wird. Ulrich und sein Roman handeln nach dem »Prinzip des unzureichenden Grundes«, demzufolge just das geschieht, »›was eigentlich keinen rechten Grund hat‹« (Musil 1978: 13). Der Vorgänger-Figur ist diese Erkenntnis gleichsam auf den Leib geschrieben; den heranwachsenden Ulrich hatte sie bei manchen gesellschaftlichen Einrichtungen noch heftig anecken lassen, etwa in der Schule oder bei den sogenannten Wür-
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denträgern. Dann aber macht Ulrich seinen Frieden mit dem unzureichenden Grund des Wirklichen und lässt sich vom Sosein eines Weltlaufs dahintragen, in welchem nur »seinesgleichen« geschieht und es nicht angeraten scheint, länger auf das Richtige oder Eigentliche zu warten. Vor die Frage gestellt, wie er sein nach längerer Auslandsabwesenheit in Wien neu bezogenes Domizil ausgestalten solle, entscheidet sich Ulrich, offenbar durch finanzielle Rücksichten nur wenig eingeschränkt, für einen munteren Eklektizismus, indem er die Auswahl stilistischer Noten den Innenausstattern und Handwerkern überlässt. Und auch das Gebäude selbst, ein großzügiges, die Baustile mehrerer Jahrhunderte in sich vereinigendes Schlösschen, bringt in der Ungleichzeitigkeit seiner architektonischen Prägungen die Haltung eines fast indifferenten Gewährenlassens zum Ausdruck, die sein neuer Besitzer sich während seines einjährigen Urlaubs vom Leben zu eigen macht. »[W]enn man an seinem schmiedeeisernen Gitter vorbeikam, so erblickte man zwischen Bäumen, auf sorgfältig geschorenem Rasen etwas wie ein kurzflügeliges Schlößchen, ein Jagd- oder Liebesschlößchen vergangener Zeiten. Genau gesagt, seine Traggewölbe waren aus dem siebzehnten Jahrhundert, der Park und der Oberstock trugen das Ansehen des achtzehnten Jahrhunderts, die Fassade war im neunzehnten Jahrhundert erneuert und etwas verdorben worden« (Musil 1978: 12).
Indem diese Stadtvilla von einem zwar nicht allzu großen, aber durch Hecken wirkungsvoll abgesetzten, baumbestandenen Garten umgeben ist, vermag sie die Vorzüge einer parkartigen Anlage zu verbinden mit der eleganten Repräsentanz eines städtischen Ambientes. Denn auch die Fenster dieses Hauses bieten Straßenlage genug, um schauend und reflektierend am städtischen Leben und dem Gewimmel des Verkehrsstromes teilzuhaben. Ulrich beschäftigt sich zu Beginn des Romans damit, zu sehen »wie ein Mann hinter einem Fenster« (ebd.: 259).7 Er ist getrennt von dem gesellschaftlichen Treiben, das er beobachtet, und bleibt in einem so be7 | Das noch in vielen weiteren Szenen eingesetzte Motiv des Fensters hat, wie Bernd-Rüdiger Hüppauf konstatierte, grundsätzlich »eine doppelte Wirkung«, erzeugt trotz oder gerade mit der räumlichen Trennung zugleich eine optische Verbindung, »weil es die räumliche Trennung verwischt« (Hüppauf 1971: 28).
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tonten Sinne außenstehend, dass es naheliegt, jene den griechischen Skeptikern entlehnte phänomenologische Kardinaltugend der epoché, der affektneutralen Distanz des erkennenden Subjekts, in dieser Haltung wiederzuerkennen.8 Der gesellschaftliche Status und die selbstgewählte Funktion Ulrichs finden in seiner Lage und Haltung eine sinnfällige Verdichtung; mit seinen weithin treffenden, geradezu durchbohrenden Blicken ist er zwar mittendrin im Geschehen, und doch verfolgt er es mit stiller Reserve. Der Protagonist agiert in methodisch kontrolliertem Sinne als ein teilnehmender Beobachter; stets bedacht auf seinen privaten, inkommensurablen Rückzugsraum. Der Standpunkt ist derjenige eines stets auf der Schwelle zum gesellschaftlichen Leben verharrenden Betrachters, eines Intellektuellen, der das Leben vorübergleiten lässt, ohne sich an ihm festzukrallen. In rückwärtiger Ausrichtung schwebt das Anwesen in einer fast meditativen Ruhe (wie sie die »Atemzüge eines Sommertags«, Musils letztes fertiggestelltes Kapitel, schildern), nach vorn dagegen herrscht großstädtische Betriebsamkeit. Die Diskrepanz von Gartenseite und Hauptfront entspricht der charakterlichen Doppelnatur des Protagonisten, von der eine frühe Skizze festhält: »Schon in jeder Schilderung: Er ist groß, blond, breit, schmalhüftig… – bei D. klein, winzig. – Am Polizeirevier usw. Je nach Stimmung. Sein Haus ist bald ein Palais, bald ein Gartenhaus. Er denkt so oder entgegengesetzt über die gleiche Sache. […] Er sieht die Welt muschelartig. D. h.: die Welt ist jetzt eine Muschel« (Musil 2010: Nachlass-Mappe 2/04/043).
Das entscheidende Merkmal der Muschel ist ihr an der Grenze von Organischem und Anorganischem wie ein kristallines Artefakt ausgebildetes Gehäuse. Zwischen dem Habitus der am Körper getragenen Kleidung und der Behausung, die aus den Mauern des Gebäudes besteht, braucht die Muschel sich nicht zu entscheiden. Für die Ausbildung moderner Subjektivität kann sie insofern als modellhaft gelten, als sich in der Lebensstruktur der Muschel formbare Weichheit und stabile Festigkeit als zwei einander sonst ausschließende 8 | Vgl. Menges 1976: 140; die theoretischen Affinitäten Musils zur Phänomenologie Husserls untersucht Cellbrot 1988; zum Stichwort der »epoché« vgl. auch Musils Exzerpte in Heft 34 (Musil 1983: 887).
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Eigenschaften verbinden. Es war tatsächlich ein bestimmtes Bauwerk, bei dem Musil die Synthese von Gartenpark und Straßenfront in vergleichbarer, muschelartiger Synthese verwirklicht sah, nämlich das im dritten Bezirk an der Rasumofskygasse gelegene Palais Salm. Lange bevor der Schriftsteller in den 1920er Jahren selbst in der Rasumofskygasse eine Wohnung bezog (selbstredend nicht in dem prächtigen Palais, aber mit der Aussicht darauf aus seinem Arbeitszimmer), war Musil bei einem seiner Spaziergänge durch die äußeren Bezirke Wiens auf die Besonderheit jenes baulichen Ensembles aufmerksam geworden und hatte sie in seinem Tagebuch in skizzenartiger Beschreibung festgehalten. »Form eines Platzes: Die Straße ist irgendwann einmal aufgeschüttet worden. So steckt das alte Palais mit den Tiefparterrefenstern, teils halb, teils ein Viertel, teils weniger in der Erde. An der Seitenfront wölbt sich hinter einem Gitter ein Säulenportal hinunter zu einem verwahrlosten Garteneck, od. Hofeck unter dem Niveau der Straße« (Musil 1983/1: 275).
Hier scheint in der Tat das Vorbild jenes Domizils porträtiert zu sein, das im Roman als »ein vor den Toren der Stadt liegender Sommersitz« vorgestellt wird, »der seine Bestimmung verlor, als die Großstadt über ihn wegwuchs«9 – fasst doch die Eintragung mit der Anhebung der Straße genau den Vorgang ins Bild, mit dem die Großstadt und ihr Verkehrsraum hinwegwachsen über ein Garteneck, das als verwahrlost bezeichnet wird, somit gleichfalls seiner Bestimmung verlustig ging. Musil zog 1921 in das Haus in der Rasumofskygasse 20 ein, auf die gegenüberliegende Seite jenes in Heft 7 skizzierten Anwesens.10 Die Beschreibung der »Form eines Platzes« aber erfolgte bereits sieben Jahre zuvor, am 7. August 1913, mit anderen Worten: an einem »Augusttag des Jahres 1913« (Musil 1978: 9). In die Häuser- und Straßenskizzen dieses Heftes trug Musil nachträglich eine Notiz zu deren literarischer Verwertung ein (vgl. Musil 1983/1: 274), die nach Frisé als »erster Hinweis auf den frühen Roman-Entwurf
9 | Musil 1978: 13; vgl. Honold 1995: 120 u. Mülder-Bach 2013: 9. 10 | Zur Zeit dieser Eintragung wohnte Musil gleichfalls im »Landstraßen«-Bezirk, und zwar »im 3. Stock des damals neuen und modernen Hauses Untere Weißgerberstraße 61 in der Nähe der Rotundenbrücke« (Dinklage 1960: 223; vgl. auch Musil 1983/1: 251 u. Musil 1983/2: 152, Anm. 2).
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Spion«11 und damit als Keimzelle des Romanprojekts Mann ohne Eigenschaften zu betrachten ist. Noch weitere Indizien sprechen dafür, dass sich der spätere Schauplatz des Romans nicht nach dem naheliegenden Blick aus dem Arbeitszimmer richtete, sondern umgekehrt Musil die Nähe jenes Platzes suchte, an dem sich entscheidende Raumvorstellungen des fiktionalen Entwurfs bereits angelagert hatten. Da ist zunächst die große Radialachse, die aus der Inneren Stadt auswärts führt und die das anomische Geschiebe des Verkehrs, wie es von der Eingangsszene des Romans in seinem unkontrollierbaren rhythmischen Pulsieren evoziert wird, einer Art Flussbett gleich aufnimmt und in die flächige Weite der Peripherie weiterträgt. Genau an der (nachmals) eigenen Straßenecke erfasst Musils frühe Stadterkundung vom Sommer 1913 metaphorisch die Großstadtbewegungen der vorüberziehenden Massen als ein quasi-hydrographisches Strömungsverhalten: »Landstraße bei der Einmündung der Rasumofskygasse. Sie erweitert sich wie ein Fluß zu einem kleinen See stagniert u. dann in zwei Rinnsalen abfließt […] Eine Insel mit braunen Holzhütten u. zwei Reihen Bäumen, von einer Querstraße durchschnitten, nahe an das eine Ufer gerückt« (Musil 1983/1: 275).
Der Skizzierung dieses Straßenverlaufs kommt, nicht allein wegen der Rekonkretisierung des habitualisierten metaphorischen Sprachgebrauchs vom Fluss des Verkehrs, eine poetologische Bedeutung zu. Die Betrachtung steht in Musils Aufzeichnungen in unmittelbarer Nähe zur Beschreibung des Palais Salm, so wie jenes sich auf dem Stadtplan in direkter Nachbarschaft der hier angesprochenen Straßenecke befindet. Musil fertigte im August 1913 sowohl mit diskursiven wie auch mit grafischen Mitteln die Skizze eines architektonischen Ensembles an, das ihm nach dem Kriege (oder vielmehr: zwischen den Kriegen), d. h. in den gut anderthalb Jahrzehnten der Wiener Schreibzeit am Mann ohne Eigenschaften, dann beim Blick aus dem Fenster vor Augen stehen wird. Die Ecke von Rasumofsky- und Salmgasse im August 1913 ist der Chronotopos des noch ungeschriebenen Romans. Vor allem aber fand Musil genau hier die besagte Dualität von Straßen- und Gartenwelt vor, die über
11 | Musil 1983/2: 167, Anm. 45 (Kommentar des Hg.).
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die Phasen der frühen Entwürfe hin bis in die endgültige Romanfassung beibehalten und ausgebaut wurde: »Viele dieser alten Häuser haben Gärten hinter sich. Man blickt durch eine Einfahrt auf einen kleinen steingepflasterten Hof, dann ein Gitter und ein paar Stufen erhöht ein Garten mit dunkelgrünen Baumkugeln. Oder man sieht das durch ein halbgeöffnetes hinteres Tor, dessen andre Hälfte braungelbe und blaue Scheiben hat, die einen Stern oder ein Kreuz bilden« (ebd.).
So genau sich die Beschreibung an die Einzelheiten des Wahrgenommenen hält, so unverkennbar wird dem durch den Blick abgetasteten Raumprofil ein Muster unterlegt, das bereits die wesentlichen Strukturachsen der Darstellung von Ulrichs Schlösschen präformiert. Da ist zunächst die Polarität der Blickrichtungen, auf welche die Angaben zu Art und Umständen des Einblick-Nehmens die Aufmerksamkeit lenken. Während der Blick von der Straßenseite dem für Besucher vorgesehenen Zugang durch die Einfahrt folgt, vermittelt die Rückseite die weniger offizielle Ansicht, die dem Betrachter ein »halbgeöffnetes hinteres Tor« gewährt. Auch das im Nachlasskapitel »Sonderaufgabe eines Gartengitters« (Musil 1978: 1405) und in dessen Varianten zentrale Raumelement des Gitters, das als einseitig durchlässiger Filter des Blicks Großstadtwelt und Gartenenklave zugleich trennt und verbindet, wird in der Skizze festgehalten. Betont die horizontale Raumachse mit dem Innen/Außen-Gegensatz die Dualität von öffentlichem und privatem Raum, so wird diese synchrone Spannung durch eine zweite, vertikale Achse als Resultat einer diachronen Abfolge gesellschaftlicher Formationen interpretiert, deren Spuren sich schichtweise abgelagert haben (das »Garteneck […] unter dem Niveau der Straße«, die »irgendwann einmal aufgeschüttet« wurde (Musil 1983/1: 275)). Entlang dieser beiden Achsen des Blicks wird die Beschreibung des Anwesens in der Salmgasse vermessen, das die Merkmale der Ambivalenz von Schau- und Rückseite wie die der historischen Mehrschichtigkeit in prototypischer Weise in sich vereinigt. »Das große Tor in der Salmgasse: es nimmt fast ein Viertel der Front des kleinen Hauses ein. Es ist immer zur Hälfte offen; man sieht einen von einer Seite zur andern ansteigenden Hof, mit runden Steinen gepflastert, Gras dazwischen« (Musil 1983/1: 274; Eintragung vom 4. August 1913). Die Druckfassung wird später den hier nur angedeuteten Gedanken der Darstellung von Geschichte im etymologisch prägnanten Sinne einer Abfolge von
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Schichten bis zur grotesken Überspitzung ausfabulieren. Gilt es dabei, den sich einem überraschten Spaziergänger tout à coup bietenden Anblick eines prunkvollen Gartenschlösschens inmitten großstädtischer Szenerie in sukzessive Narration zu übersetzen, so ist bemerkenswert, in welche Abfolge die Raumelemente vom Erzähldiskurs gebracht werden. Einer »spontanen« Beschreibung des Anwesens auf der Ebene Garten/Gitter/ Straße folgt das Kippen dieser Achse in die Vertikale und damit die historisch informierte Aufmerksamkeit für die Sequenz von Stilrichtungen, die an diesem Palais verbaut wurden. »Haus und Wohnung des Mannes ohne Eigenschaften«, so das zweite Kapitel des Romans, werden von der inneren Stadt aus erreicht durch einen »jener langen, gewundenen Verkehrsflüsse, die strahlenförmig am Kern der Stadt entspringen, die äußeren Bezirke durchziehen und in die Vorstädte münden« (Musil 1978: 11). Im Duktus der Erzählung wird ein ebensolcher Fluss gebildet, der aus dem Porträt der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien (und damit aus dem historisch-gesellschaftlichen Allgemeinen) zur fiktiven Person des Protagonisten Ulrich (und damit zum Besonderen des Einzelfalles) weiterführt, voranschreitend wie im Sog des beschriebenen städtischen Verkehrsflusses. Ein Unfall war geschildert worden, aus dem bemerkenswerterweise nichts hervorging, außer vielleicht dem flüchtigen Blick auf die verstörte Reaktion eines Passantenpaares, das stadtauswärts flanierte, ebenfalls vom Verkehrsfluss getragen. »Sollte ihm das elegante Paar noch eine Weile weiter gefolgt sein, so würde es etwas gesehen haben, das ihm gewiß gefallen hätte« (Musil 1978: 11). Nämlich das eindrucksvolle, Stadtsitz und Landhausstil so ungewöhnlich miteinander verbindende Domizil des Roman-Protagonisten, auf dessen nähere Lebensumstände und Charakterisierung der Erzählvorgang nach dieser Überleitung dann einschwenken kann. Am Puls ihres Verkehrs und am Gang ihrer Geschäfte sei eine Stadt zu erkennen, so heißt es; mit der fließenden Bewegung der Straße nimmt auch die Erzählung merklich Fahrt auf. Der Mann am Fenster, von dem schon die Rede war, Ulrich also, »zählte mit der Uhr seit zehn Minuten die Autos, die Wagen, die Trambahnen und die von der Entfernung ausgewaschenen Gesichter der Fußgänger […]; er schätzte die Geschwindigkeiten, die Winkel, die lebendigen Kräfte vorüberbewegter Massen, die das Auge blitzschnell nach sich ziehen, festhalten, loslassen, die während einer Zeit, für die es kein Maß gibt, die Aufmerksamkeit zwingen, sich gegen sie zu
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stemmen, abzureißen, zum nächsten zu springen und sich diesem nachzuwerfen« (Musil 1978: 12).
Musils Protagonist betreibt ein Wahrnehmungsexperiment mit der transitorischen Rapidität der Großstadt, und gleichzeitig führt der Erzähler ein Experiment mit der Erzählbarkeit singulärer Geschichten im Zeitalter rasch bewegter Massen durch. Einzelnes herauszugreifen und sich daran mit Aufmerksamkeit länger als einen Augenblick zu heften, ist eine Herausforderung, die nur gegen den Sog des Verschwindens durchzusetzen ist. Dem endlosen Strom, der eindruckslosen Vielzahl und Flüchtigkeit von Sensationen kann nur mit einer gewissen Willkür überhaupt noch etwas Besonderes entnommen werden; und schon gar etwas, was über längere Strecken der Beachtung wert wäre. Was gelten Einzelschicksale im Zeitalter von Statistik, Masse und Markt? Dabei ist es gerade dieses scheinbar chaotische Gewusel des städtischen Verkehrs, an welchem die heroische Kraft eines zeitgenössischen Helden sich messen lassen müsste. Ulrich stellt nach seinen Beobachtungen die folgende Überlegung an: »Könnte man die Sprünge der Aufmerksamkeit messen, die Leistungen der Augenmuskeln, die Pendelbewegungen der Seele und alle die Anstrengungen, die ein Mensch vollbringen muß, um sich im Fluß einer Straße aufrecht zu halten, es käme vermutlich – so hatte er gedacht und spielend das Unmögliche zu berechnen versucht – eine Größe heraus, mit der verglichen die Kraft, die Atlas brauchte, um die Welt zu stemmen, gering ist, und man könnte ermessen, welche ungeheure Leistung heute schon ein Mensch vollbringt, der gar nichts tut« (Musil 1978: 12).
Mittlerweile sind solche Kognitionsleistungen bzw. deren neuronale Infrastruktur sehr gut messbar geworden, im Ansatz war das schon in der von Musil studierten empirischen Psychologie der Berliner Schule der Fall. Entscheidend aber an diesen Überlegungen ist, dass in ihnen die Leistung des Individuums gekoppelt wird an seine Auseinandersetzung mit einer Lebenswelt, welcher die anthropozentrischen Gewissheiten längst abhandengekommen sind. Filter und Netz des Fenstergitters stellen an der Schwelle von In- und Exklusion jene künstlichen Vorkehrungen her, die den bloßen Blick auf die Straße erst zum Experiment werden lassen – Distanz und Segmentierung. Die Subjektivität des Beobachters überlebt in dieser satirischen Nachstellung des naturwissenschaftlichen Experimentierens allein durch
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seine Macht zur perspektivischen Verkürzung; die souveräne Eingrenzung des observierten Gebietes erlaubt es ihm, das Straßenleben demonstrativ am Rande des Blickfelds enden zu lassen, wiewohl es, unbekümmert um den optischen Zugriff des Mannes am Fenster, auch jenseits dieses Rahmens gewiss seinen Fortgang nimmt. Ulrich, der Mann ohne Eigenschaften, erlangt somit eine spezifisch kakanische Form der Dominanz über die urbane Mitwelt: nämlich die scheinbar vollständige Kontrolle über das, was ohnehin geschieht.
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Grenzüberschreitung Analyse der Raumdarstellungen in Robert Musils Die Versuchung der stillen Veronika und Der Mann ohne Eigenschaften Minami Miyashita
1. E inleitung Für Robert Musil ist »Raum« in erster Linie ein physikalischer Begriff, weil er ein Rationalist ist, der durch naturwissenschaftliche Betrachtung auf die genaue Beschreibung der Welt großes Gewicht legt. Dieses Merkmal gründet vor allem auf seiner Karriere: Nachdem er die Offizierslaufbahn aufgegeben hatte, studierte er Maschinenbau an der technischen Hochschule in Brünn. Nach vier Jahren begann er aber das Studium der Mathematik, Psychologie und Philosophie in Berlin, wo er auch promovierte. In seiner Doktorarbeit Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs (1908) thematisierte er unter anderem auch Ernst Machs Raumbegriff, der philosophische Einsichten auf naturwissenschaftlicher Basis enthält. Gleichzeitig hat Musil aber den Zug eines Romantikers, der vom Mystischen unwiderstehlich angezogen ist. Diese seine Natur ist ohne Zweifel zeitgebunden: In der schwankenden Zeit, die mit dem Ende der habsburgischen Monarchie begann und vom Ersten Weltkrieg bis zum Nationalsozialismus dauerte, brachen in Österreich alle Wertsysteme zusammen. Es war also eine Krise, in der man alle seine Wertvorstellungen und die Grundlage seines Daseins umgestoßen fühlte. Die von diesen Problemen betroffenen Künstler und Denker suchten gerade im Mystischen nach Möglichkeiten zum Erschaffen einer neuen Ära. In Deutschland und Österreich interessierten sich Wissenschaftler wie Buber, Scholem, Freud und Jung für Mythos und Theosophie, um in je eigener Weise
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ihre Forschungen über das Wesen der Menschen zu entwickeln. In dieser kulturellen Tendenz kann man auch Musil sehen. Von seinem Erstlingswerk Verwirrungen des Zöglings Törleß (1906) bis zu seinem letzten und unvollendeten Roman Der Mann ohne Eigenschaften (1930/32) ziehen sich mystische Motive durch, wobei Annäherungs- und Vereinigungserlebnisse mit dem Transzendentalen sowie die ekstatische Abkehr von der realen Welt und Selbstauflösung oft durch bildliche Sprache dargestellt werden. In dieser Arbeit analysiere ich die Darstellungsweise der verschiedenen Räume in Musils Texten, die sich auf mystische Erlebnisse beziehen. Im nächsten, also zweiten Kapitel soll zuerst im Zusammenhang mit Machs Raumtheorie die Funktion des Hauses in der Novelle Die Versuchung der stillen Veronika (1911) thematisiert werden. Der Autor fokussiert hier seinen Gesichtspunkt auf die Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt, wobei eine sehr intensive Darstellung der menschlichen Innenwelt gelingt. Das Thema für das dritte Kapitel ist die Bedeutung des Gartens in Der Mann ohne Eigenschaften als ein Raum der Selbst-Konstruktion oder Rekonstruktion. Im Garten, also in dem einerseits geschützten, aber andererseits geöffneten Teil der Wohnung, stehen die Geschwister des Romans, Ulrich und Agathe, mitten in der Dynamik zwischen Innen/ Außen und Wirklichkeit/Möglichkeit und erfahren damit das mystische Umbilden ihrer Weltanschauung. Dabei bedeutet Mystik für Musil eine Methode, die bestehenden sozialen und kulturellen Systeme radikal zu bezweifeln und zu kritisieren. Zuletzt stelle ich im Vergleich zur nichteuropäischen bzw. japanischen Raumkonfiguration fest, dass »Grenzüberschreitung« ein entscheidendes Motiv für Musils Literatur ist.
2. D ie Versuchung der stillen Veronik a 2.1
Machs Raumtheorie: »Der metrische Raum« und »der physiologische Raum«
In der bisherigen Forschung über Veronika löste vor allem die Sprachstruktur dieses Werks in Beziehung zur Identitätskrise nicht wenige Kontroversen aus. In diesem Text sind Sprachtechniken wie Konjunktiv, Negation, Doppelformen und Gleichungen sorgfältig ausgearbeitet, damit Veronikas ambivalente Gefühlsschwankungen grammatisch effektiv beschrieben werden (vgl. Schröder 1966). Besonders ermöglicht aber die
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Wirkung der Metaphorik die radikale, sogar experimentelle Beschreibung der Identitätskrise von Veronika (vgl. Henninger 1980; Mae 1988; Pekar 1989 u. Rauch 2000), während diese Krise des »Ichs« auch mit der Sprachkrise verbunden ist (vgl. Meisel 1991). Daneben entwickelte sich aber auch die pathologische sowie psychoanalytische Interpretation. Die intertextuellen Referenzen auf Studien über Hysterie von Breuer und Freud sind bestimmt nicht zu übersehen (vgl. Pfohlmann 2008: 171f.), zumal Musils Freud-Rezeption auch schon nachgewiesen ist (vgl. Corino 1974: 128). Außerdem ist schon der Einfluss von Carl Stumpf und Wilhelm Wundt im Kontext der Phänomenologie und Apperzeptionstheorie beachtet worden (vgl. Hoffmann 1997; Bonacchi 1998). Aber um diese vielschichtige Novelle noch genauer zu verstehen, ist eine Untersuchung nötig, die den Zusammenhang zwischen Machs Theorie und Veronika durch konkrete und genaue Textanalyse verdeutlicht. Diese Forschungsperspektive wird zuerst von den äußeren Umständen unterstützt: Die erste Version von Veronika, die den Titel Das verzauberte Haus trug, erschien schon im November 1908 in der von Franz Blei und Carl Sternheim herausgegebenen Zeitschrift Hyperion. Wegen des Umstands, dass Musil erst acht Monate davor promovierte, könnten seine Erfahrungen an der Universität beim Schreiben der Novelle eine wichtige Rolle gespielt haben. In der Tat kann man in Musils Essay »Profil eines Programms« (1912), in dem er selbst sein eigenes Werk analysiert, einige wichtige Begriffe von Mach erkennen. Musil kommentiert seine Novelle: »Mathematischen Wagemut, Seelen in Elemente auflösen, unbeschränkte Permutation dieser Elemente, alles hängt dort mit allem zusammen und läßt sich daraus auf bauen. Der Auf bau beweist aber nicht: daraus besteht’s, sondern damit hängt es zusammen« (GW 8: 1318).1 Auch an dieser Stelle kann man leicht den Einfluss von Mach erkennen: Hier benutzt Musil das Wort »Elemente« sowie die Vorstellung vom »Zusammenhang der Elemente« bewusst in Anknüpfung an Machs Theorie.2 Es ist besonders interessant, dass Musil hier eine für die Naturwissenschaft typische Methode, nämlich die »Auflösungen in Elemente« 1 | Die Sigle GW bezieht sich auf Musil 1978. 2 | Die Elemente »sind das Wesen der Welt, von der wir selbst nur ein Teil sind« (Mach 1987 [1910]: 605). D. h. die Elemente sind die Komponenten der Welt, die auch das »Ich« bilden. Nach Mach existiert in diesem Sinne in dieser Welt kein selbstständiges System.
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anführt. In der Literatur gliedert man auch zuerst die »Seele«, oder anders gesagt die innere Seite jedes Menschen, in die verschiedenen Elemente, und daraus entfalten sich dann die mannigfaltigen Möglichkeiten, wie diese Elemente sich aufeinander beziehen. Das ist nichts anderes als die Anwendung des »[m]athematischen Wagemut[es]« auf Literatur. Mit dieser Voraussetzung erkläre ich, wie die Gedanken von Mach mit Veronika verflochten sind, indem die mystische Seite dieses Werks berücksichtigt wird. Dabei fällt vor allem das Motiv »Raum« ins Gewicht. Der Titel der ersten Fassung von Veronika, Das verzauberte Haus, deutet gewiss schon an, dass Musil in der frühen Phase dem Motiv »Raum« eine besondere Bedeutung gab. Tatsächlich übernimmt »Raum« auch in der letzten Version der Erzählung eine entscheidende Funktion. Musil schreibt in seiner Doktorarbeit: »Von größter Wichtigkeit ist ferner die Klarstellung der Begriffe von Raum, Zeit und Bewegung. Sie alle sind nach Mach durch die Erfahrung nur in der Bedeutung von Relationen gesichert«, und die Frage, ob eine Bewegung »an sich gleichförmig sei, hat daher keinen Sinn« (Musil 1980 [1908]: 58). Außerdem argumentiert er aufgrund der Idee von Mach weiter: »Eine absolute Bewegung, ein absoluter Raum, eine absolute Zeit sind bloße Gedankendinge, die in der Erfahrung nicht nachgewiesen werden können« (ebd.: 59). Die wichtigsten Begriffe von Machs Raumtheorie sind »der metrische Raum« und »der physiologische Raum«. In Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung (1905) definiert er den euklidischen und geometrischen, also absoluten Raum, als »de[n] metrische[n] Raum«, der immer und überall homogen ist. Dagegen ist der von einzelnen Personen sinnlich begriffene Raum als »der physiologische Raum« benannt, der heterogen und unstabil ist (Mach 1905: 337). Es gibt ein sehr einfaches Beispiel dafür: Im Sehraum, d. h. im »physiologischen Raum«, schwellen die Steine (»[d]as scheinbare Schwellen der Steine«), wenn man ihm näherkommt (ebd.: 331f.). Dagegen behält aber der Stein im »metrischen Raum« immer eine bestimmte Größe, wo immer man steht. Mach umreißt dies noch klarer: »Durch die Erkenntnis eines sich Gleichbleibenden, trotz der räumlichen Verschiebung, treten die verschiedenen Teile unserer Raumanschauung in das Verhältnis der Vergleichbarkeit, zunächst im physiologischen Sinne. Durch die Vergleichung der verschiedenen Körper untereinander, durch die Einführung des physikalischen Maßes, wird die Vergleichbarkeit zu einer genaueren quantitativen, welche zu-
Grenzüberschreitung
gleich die Schranken des Individuums durchbricht. So treten an die Stelle der individuellen, nicht übertragbaren Raumanschauung die allgemein für alle Menschen gültigen Begriffe der Geometrie. Jeder hat seinen besonderen Anschauungsraum; der geometrische Raum ist gemeinsam. Zwischen dem Anschauungsraum und dem auch physikalische Erfahrungen enthaltenden metrischen Raum müssen wir scharf unterscheiden« (ebd.: 383f.).
Die Eigentümlichkeit dieser Denkart von Mach liegt darin, dass er in den Phänomenen der Wahrnehmungswelt, die gewöhnlich für Täuschung gehalten und nicht ernst in Betracht gezogen werden, gerade als Physiker Bedeutung findet. Aber es ist ein Ziel für Kunst und Ästhetik, eine andere Wahrnehmungsmöglichkeit als die des »metrischen Raums« herauszufinden. Auch in Veronika erscheint hie und da die Darstellung des individuellen Anschauungsraums bzw., nach Mach, des »physiologischen Raums«.
2.2
Veronikas Raum: Dynamik des Subjekt-Objekt-Verhältnisses
Veronika ist eine junge Frau, die mit ihrer Tante ein ruhiges Leben führt. Aber sie ist sich selber fremd, weil ihr meistens nicht klar ist, was sie fühlt und denkt. Gleichzeitg kann sie mit niemandem selbstständig umgehen, daher ist sie meistens verschlossen und distanziert. Sie hält Abstand ebenso zu den zwei Männern in ihrem Haus, Demeter und Johannes, und lehnt auch den Heiratsantrag von Johannes ab. Aber es ist bemerkenswert, dass die Verschlossenheit von Veronika hier mit dem Motiv des »Raumes« vorgestellt ist: »Sie hatte ein unklares, fließendes Gefühl von sich selbst«, und es ist »wie [...] unter einer Glocke von dünngeschliffenem Horn, die immer undurchsichtiger wurde« (GW 6: 207). Gewiss hat Veronika sozusagen autistische Eigenschaften wie ein ungewöhnliches Festhalten an Tieren, ihre egoistische Ablehnung von Johannes, die unilaterale Natur ihrer Kommunikationsweise, ihre Überempfindlichkeit usw. Diese autistische Wahrnehmungswelt von Veronika ist hier mit der besonderen räumlichen Vorstellung »unter einer Glocke von dünngeschliffenem Horn« verbunden. Außerdem erzählt Veronika: »[M]an müßte jeder allein sein mit dem, was geschieht, und zugleich müßte man zusammen sein, stumm und geschlossen wie die Innenseite von vier fensterlosen Wänden, die einen Raum bilden, in dem alles wirklich geschehen kann
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und doch so ohne aus einem in den andern zu dringen, wie wenn es nur in Gedanken geschähe« (GW 6: 201). Für Veronika existieren also Menschen wie ein verschlossener und hohler »Raum«. Es ist aber für diese Vorstellung charakteristisch, dass hier die Verschlossenheit nicht mit »Enge«, sondern mit »Hohlheit« bezeichnet ist. Auf den ersten Blick scheint das paradox. Aber weil »Enge« die Nuance von Innigkeit oder Vertrautheit mit sich selbst hat, ist dieser Ausdruck für den Zustand von Veronika nicht passend, die das Distanzgefühl zu sich selbst behält. Daher, um die Schwierigkeit des Selbstbegreifens und die Verschlossenheit in sich selbst gleichzeitig zu bezeichnen, ist hier der Ausdruck vom hohlen und einsamen »Raum« benutzt. Überdies wird in dieser Erzählung »Haus« als »der physiologische Raum« dargestellt, in dem die Dynamik des Subjekt-Objekt-Verhältnisses wirkt. Nachdem Veronika zu Johannes gesagt hat, dass sie oft ihr Haus »fühlt«, erzählt sie weiter: »[S]eine Finsternis mit den knarrenden Treppen und den klagenden Fenstern, den Winkeln und ragenden Schränken und manchmal irgendwo bei einem hohen, kleinen Fenster Licht, wie aus einem geneigten Eimer langsam sickernd ausgegossen« (GW 6: 200). Dann kommt ihr vor, »als wäre unser Haus eine Welt, in der wir allein sind, eine trübe Welt, in der alles verkrümmt und seltsam wird wie unter Wasser« (GW 6: 200f.). Das ist gerade die Schilderung des »physiologischen Raums« im Sinne von Mach, der vom »metrischen Raum« verschieden ist. Musils Darstellungsweise weist überdies einen qualitativen Unterschied zu der allgemeinen literarischen Technik auf, bei der die Gedankenbilder der Figuren oder die Atmosphäre der Szenen einfach mit den entsprechenden Landschaftsbeschreibungen dargestellt werden. Denn in der Schilderung des »physiologischen Raums« von Veronika geht es nicht nur um die Landschaft ihres Gesichtspunktes oder dem des Erzählers. Die von Veronika gesehenen Dinge reflektieren ihre Gedankenbilder und starren dann zurück auf Veronika, wodurch sie ihr Gemüt verändern. Diese Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt spielt hier eine entscheidende Rolle. »Finsternis« und »Knarren« sind zwar Wahrnehmungen von Veronika, aber mit den Ausdrücken wie »Klagen« der Fenster und »ragenden Schränken« ist der Zustand bezeichnet, dass die Dinge selbst als Subjekt mit außerordentlich starker Präsenz Veronika wahrnehmen – das ist also nicht bloß »als ob«. Auf diese Weise wirken die Dinge um sie auf ihre Wahrnehmungen, und als Produkt der Inversion des Subjekt-Objekt-Verhältnisses erscheint »eine trübe Welt, in der alles
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verkrümmt und seltsam wird wie unter Wasser«, d. h. ein heterogenes Weltbild mit unstabilen Umrissen und Perspektiven. Oder man kann es auch ein gestaltloses Weltbild nennen. Weil im »Anschauungsraum« von Veronika die Dynamik des SubjektObjekt-Verhältnisses sehr aktiv ist, erscheint hier der »andere Zustand« – Musils Bezeichnung für mystische Erfahrungen –, der in dem auf festem und konstantem Subjekt-Objekt-Verhältnis beruhenden »metrischen Raum« niemals auftritt. Nachdem Johannes’ Heiratsangebot von Veronika heftig abgelehnt wird, verlässt er das Haus mit Selbstmordgedanken. Darauf bekommt Veronika eines Abends die Intuition, dass er gerade in dieser Nacht Selbstmord begehen sollte. Sie sitzt allein in der Mitte ihres Zimmers, zündet eine Kerze an und stellt ein Bild von Johannes vor sich auf. Hier bemerkt sie, dass sie nun plötzlich in ein »anderes Gebiet« gelangt ist. Das ist »keine Einbildung«, sondern sie empfängt »mit einemmal, daß ihr Gefühl von ihrer Umgebung sich verändert hatte und hinausgedehnt in ein unbekanntes Gebiet zwischen Träumen und Wachen« (GW 6: 214). Und zwar ist sie im Grenzgebiet zwischen Realität und Irrealität, das von der Veränderung ihrer Wahrnehmungen hervorgebracht wird. Außerdem gibt es noch eine beachtenswerte Darstellung: »[D]er leere Raum zwischen ihr und den Dingen verlor sich und war seltsam beziehungsgespannt« (GW 6: 214). Dies deutet auf das Schwanken des Subjekt-Objekt-Verhältnisses, dass Veronika einerseits die Grenze zwischen sich und den Dingen um sie gewahr wird, aber andererseits das Einheitsgefühl von sich und den Dingen erlebt. Aus den folgenden Ausdrücken kann man den Beweis für diese Suggestion ziehen: Die Möbel um sie »wuchteten wie unverrückbar auf ihren Plätzen«, und sie sind »ganz erfüllt von sich selbst, von ihr getrennt und so fest in sich geschlossen wie eine geballte Faust« (GW 6: 214). Auf diese Weise erwerben die Dinge einerseits eine außerordentliche und Veronika überwältigende Präsenz, aber andererseits sind »sie manchmal wieder wie in Veronika« (GW 6: 214) – Veronika und die Dinge bilden also hier eine Einheit. Gleich danach folgt noch diese Darstellung: Die Dinge »sahen wie mit Augen auf sie, aus einem Raum, der wie eine Glasscheibe zwischen Veronika und dem Raum lag« (GW 6: 214). Diese Szene ist von dem wiederholten Wechselspiel zwischen der Grenzziehung zwischen sich und anderen und deren Vereinigung charakterisiert. Und erst nach diesem Wechselspiel im Grenzgebiet kommt plötzlich ein entscheidender Augenblick:
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»Und sie standen da, als ob sie viele Jahre nur auf diesen Abend gewartet hätten, um zu sich zu finden, so wölbten und bogen sie sich in die Höhe, und unaufhörlich strömte dieses Übermäßige von ihnen aus und das Gefühl des Augenblicks hob und höhlte sich um Veronika, wie wenn sie selbst plötzlich wie ein Raum mit schweigend flackernden Kerzen um alles stünde [...]. Aber nach einer Weile hob sie sich wieder bis an die Grenze ihrer seltsam gespannten Wachheit und hatte plötzlich ganz deutlich die Empfindung: so ist jetzt Johannes, in dieser Art Wirklichkeit, in einem veränderten Raum« (GW 6: 214f.).
An dieser Stelle löst sich das gespannte Subjekt-Objekt-Verhältnis auf und die Gestalten der Dinge zerfallen. Veronika ist selbst nun ein »Raum«: Bisher funktioniert der Ausdruck »Raum« vorwiegend als eine Formulierung, um Veronikas Verschlossenheit oder Schwierigkeit des Selbstbegreifens darzustellen. Aber in dieser mystischen Szene zeigt der »Raum« Veronikas das Befreiungsgefühl und Einheitsgefühl mit der Welt. In diesem Sinn verändert Veronika sich selbst in »einen Raum«, in dem die mystische Vereinigung von sich mit anderen erlebt wird. Die Veränderung des inneren Zustandes von Veronika gehört also mit der Vorstellung »Raum« zusammen. Außerdem taucht in der plötzlichen Ekstase des Gestaltzerfalls eine Intuition in Veronika auf: Johannes soll in dieser Nacht zwar den Selbstmord versuchen, aber nicht ausführen – er lebt noch weiter. Veronikas Verhalten, im dunklen Zimmer eine Kerze anzuzünden und das Bild einer Person anzustarren, erinnert den Leser gewiss an Spiritismus. Latent wünscht Veronika wahrscheinlich, dass sie sich Johannes öffnet, mit dem sie in der realen Welt nicht vertraut werden kann und von dem sie auch physisch entfernt ist. Wenn Johannes versucht, mit der totalen Selbstaufgabe dem Tod am nächsten zu kommen, steht er im Grenzgebiet – oder im Vakuum – zwischen der irdischen Welt und dem Jenseits. Auch Veronika selbst befindet sich in diesem Gebiet, und gerade dort begegnen sich Veronika und Johannes aufs Neue. In der vom festen Rahmen der Realität befreiten inneren Welt finden sie sich also noch einmal. So reflektiert der »physiologische Raum« von Veronika einerseits ihren inneren Zustand, aber andererseits funktioniert er als Topos, wo das mystische Erlebnis vom aufgelösten Subjekt-Objekt-Verhältnis gezeitigt wird. Dennoch ist es nicht nur der Fall von Veronika, dass »Raum« dabei eine wichtige Funktion übernimmt, wie schon im letzten Zitat angedeutet.
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2.3 Johannes’ Raum: Gestaltlosigkeit des Ich Wie Veronika lebt auch Johannes mit der Schwierigkeit des Selbstbegreifens und mit dem Gefühl der Leere. Gemäß seinem Namen ersehnt er Gott ernstlich, und aufgrund dieser Haltung kommt ihm auch das Gefühl seiner Schwächlichkeit und Hohlheit. Als »etwas in ihm« sich »gesenkt« hat, sehnt er sich besonders nach Transzendentalem mit einem »wie ein Kind danach tastenden Herzen«, aber er kann als eine hilflose Existenz nichts machen »und wußte bloß, daß er es [Gott, M. M.] brauchte, weil er feig war« (GW 6: 194f.). In der Tat kann die Selbsterkenntnis der eigenen Schwäche die Antriebskraft für religiöses Erwachen sein. Indem man erkennt, dass man als eine schwächliche Existenz nie sündlos sein kann, erwächst die Kraft, das die Raison d’être der Menschen bestätigende Transzendentale, d. h. Gott, einzusehen. Aber was ist denn die Schwäche von Johannes? Um diese Frage zu beantworten, kann der Vergleich zwischen Johannes und Demeter nützlich sein. Im Gegensatz zum wilden und impulsiven Charakter von Demeter bleibt Johannes immer introvertiert und tiefsinnig. Aber seine Geistigkeit scheint vor Demeters Lebenskraft – besonders in Veronikas Augen – nur gebrechlich. Diesen Gesichtspunkt deutet die von Veronika erzählte Episode an, wonach Johannes bloß bange lächelt, wenn Demeter ihn schlägt (GW 6: 198). Johannes kann also weder die Furcht vor körperlicher Qual durch die geistige Kraft ablegen, noch die bestimmte Niedrigkeit von Körperlichkeit ignorieren. Überdies werden sein Dilemma und sein Gefühl der unrettbaren Leere wieder mit dem Motiv »Raum« dargestellt. Z.B. nennt Veronika ihn »ein leeres Zimmer von Haaren« (GW 6: 199). Außerdem ist betrachtenswert: »[S]eine Stille, seine Schwäche, diese stille, unverwundbare Schwäche, die wie ein weiter Raum hinter ihm lag, in dem er mit allem, was ihm geschah, allein war« (GW 6: 208). Wie ein Tier mit Haaren hat Johannes auch gewiss Körperlichkeit, aber dennoch kann er sich nicht wie dieses ohne ein starkes Selbstbewusstsein verhalten. Er erkennt zwar seine eigene Schwäche, aber kann darüber nie hinwegkommen. Er weiß nicht, was er eigentlich will, und wenn er es auch erkennen würde, könnte er seine Schwäche nie überwinden – dieses Gefühl von Leere ist mit dem Gleichnis des »versperrten Zimmer[s]« ausgedrückt: »[M]an lebt dann sein Leben dahin wie in einem versperrten Zimmer, in dem man sich fürchtet« (GW 6: 202). Heirat und ein neues Leben mit Veronika könnten vielleicht einen Ausweg aus dieser Isolation für ihn bedeuten, aber sie vernichtet
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diese Hoffnung, indem sie sein Heiratsangebot ablehnt. So entscheidet er sich, noch dazu von Veronika angetrieben, sogar Selbstmord zu begehen. Hier soll aber noch in Betracht gezogen werden, dass Johannes Gott für etwas Gestaltloses hält. Für ihn soll Gott erscheinen, »wie jene Zeichnungen, die sich manchmal in Stein bilden – niemand weiß, wo das lebt, worauf sie deuten, und wie es in seiner vollen Wirklichkeit sein mag, – an Mauern, in Wolken, in wirbelndem Wasser [...] kleine Melodien mitten in Geräuschen, [...] Gefühle in Menschen, [...] die, wenn seine Worte sie suchten, noch gar keine Gefühle waren« (GW 6: 195).
Aber gleichzeitig ist dieses Gestaltlose auch als »Ahnung eines Ganzen« bezeichnet (GW 6: 196). Diesen Beschreibungen schließt sich an, dass Gott für Johannes noch eine gestaltlose Existenz ist, aber voll von der Ahnung, Gestalt zu erwerben. Außerdem ist das Motiv »Gestaltlosigkeit« auch verwendet, um die hilflose und unbeständige Mentalität von Johannes darzustellen. Z.B.: »[E]r war in dieser seltsamen Verfassung, daß solche halbe, unausdrückbare Bildungen in ihm entstanden« (GW 6: 196). Darin zeigt sich die Unstabilität seines Inneren, wo die fragmentarischen und gestaltlosen Vorstellungen wirbeln. Daher, wenn er beim Gespräch mit Veronika Betroffenheit fühlt, beginnt Veronika vor ihm »sich plötzlich zu verändern«, und »selbst die Linien ihres Gesichts wurden hier kleiner und dort größer« (GW 6: 202f.). Und auch in seinem Brief an Veronika, gleich nach dem Verzicht auf den Selbstmord, steht: »[D]as Brot, das ich esse, das schwarz-braune Brot, [...] das Leisere, Undeutliche, Füllwarme, nicht vorschnell Verfestigte, alles Lärmende, Lebendige rings um hält mich fest«, und: »Es ist alles heraußen bloß einfach und ohne Zusammenhang und übereinandergestreut wie ein Haufen Schutt« (GW 6: 220). Aus diesen Beschreibungen kann man ablesen, dass sein »physiologischer Raum« immer vom Gestaltlosen begleitet ist.
2.4
Fernnähe als ein Gefühl der Grenzüberschreitung
Schließlich verzichtet also Johannes auf den Selbstmord. Aber er und Veronika finden sich durch seine Quasisterbenserfahrung und ihren Quasispiritismus in der geistigen Sphäre erneut. Nachdem Veronika einsieht, dass Johannes noch leben soll, fühlt sie im ersten Schein der Dämmerung: »[E]s war – mit einer wieder nur mehr ganz fernen, ungeglaubten
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Beziehung zu ihm – als ob sich auch eine letzte Grenze zwischen ihnen beiden öffnete« (GW 6: 220). Je mehr die Distanz wegen der physikalischen Entfernung und des Quasitodes die zwei Menschen entzweit, desto enger wird ihre innerste Beziehung. Dieser Zustand ist als »eine wollüstige Weichheit und ein ungeheures Nahesein« (GW 6: 220), d. h. als die ekstatische und seelische Vereinigung bezeichnet. Diese zwei Menschen verinnerlichen sich, und ihr Nahesein ist »mehr noch als eines des Körpers eines der Seele« (GW 6: 220). In Bezug auf diese Situation denkt Veronika auch: »[E]s war wie wenn sie aus seinen Augen heraus auf sich selbst schaute und bei jeder Berührung nicht nur ihn empfände, sondern auf eine unbeschreibliche Weise auch sein Gefühl von ihr, es erschien ihr wie eine geheimnisvolle geistige Vereinigung« (GW 6: 220). Davon kann man das Sich-Überschreiten sowie die Vereinigung von Ich und Nicht-Ich ablesen, die auch in Musils Erzählung Die Vollendung der Liebe nachgewiesen wurden. Es gibt hier bestimmte Beziehungsverhältnisse, die man mit dem Begriff der Fernnähe bezeichnen könnte, der in Analogie zur »Fernliebe« (GW 3: 891) gebildet ist. Mit der »Fernliebe« verbindet Musil beispielsweise das Verlangen eines Kindes nach Gegenständen, die es zwar sehen, aber nicht berühren kann. Es ist gerade die Ferne, die in ihm die besondere Anhänglichkeit für die Gegenstände erweckt. Deswegen geht eine solche Beziehung sofort verloren, wenn es einen solchen Gegenstand berührt. Auch in Veronika kann man gewisse Parallelen zu dieser Vorstellung sehen: Je ferner der Geliebte sich befindet, desto deutlicher kann Veronika sein Innerstes fühlen – es ist nichts anderes als das Erlebnis von Fernnähe. Außerdem ist es besonders für Veronika charakteristisch, dass »Raum« als ein wichtiges Moment für die mystische Vereinigung funktioniert. Sowohl Veronika als auch Johannes sind vom Gefühl der Verschlossenheit, Leere und von der Schwierigkeit des Selbstbegreifens gefangen, die mit der Vorstellung »Raum« dargestellt werden. Jedoch begegnen sie sich im »anderen Raum«, in dem Gegensätze wie Leben/Tod, Subjekt/Objekt und fern/nah völlig aufgehoben sind, und dabei erreichen die zwei Menschen die äußerst innige Vereinigung. Musil verflicht diese Dynamik von »Raum« mit dem Raumbegriff von Mach, und damit entfaltet er hier die bezeichnenden Darstellungen der menschlichen Innenwelt.
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3. D er M ann ohne E igenschaften 3.1 Überblick Vom kosmischen Standpunkt herab zum Überblick über die Stadt Wien, die Straße und das Haus des Mannes ohne Eigenschaften: Am Anfang des Romans Der Mann ohne Eigenschaften fokussiert Robert Musil die Erzählperspektive dynamisch auf die eigentümliche Wohnung. Vor allen Teilen der Wohnung hat der Garten aber eine große Bedeutung, nicht nur für den Roman, sondern überhaupt für Musils Wesen als Dichter. Natürlich spielt das Motiv »Garten« in der deutschen Literatur im Ganzen eine sehr wichtige Rolle. Goethe und Eichendorff stellten z. B. englische Gärten dar, die die Auflösung der Ordnung in der modernen Zeit symbolisieren. Dagegen wird der Garten bei George als reines Kunstwerk charakterisiert, das unabhängig von der Natur eine eigene Welt etabliert (vgl. Kuwahara 2012). Für Novalis, Hofmannsthal und Scheerbart ist andererseits der künstliche und phantastische Garten wichtig, in dem man das verlorene Paradies der Natur wiederfindet (ebd.). Im Vergleich zu solchen Garten-Darstellungen schildert Musil den Garten sehr vielschichtig. Im Garten entstehen bei Musil aber vor allem »vorzivilisatorisch-mystische Urzustände« (Fanta 2000: 448), und anders gesagt kommt hier die »ursprüngliche Daseinsform« zum Vorschein, in der alle bestehenden Sinne aufgehoben sind (vgl. Lönker 2002: 180). Aber dabei erscheint der Garten nicht als ein paradiesischer Ort, sondern als ein ganz irdischer Ort, als ein »locus terribilis« (Shin 2008: 159). Unter dieser Voraussetzung analysiere ich den Garten bei Musil als einen »Raum« der Selbst-Konstruktion oder Rekonstruktion der Geschwister Ulrich und Agathe. Die mystische Erfahrung der Geschwister schließt gerade an die alltägliche Stimmung des Gartens an. Aber diese Neigung zur Mystik, die nicht als Abkehr von der schmerzlichen Realität verstanden wird, bedeutet für Musil eine Methode, die bestehenden sozialen und kulturellen Systeme radikal zu bezweifeln und zu kritisieren. Um diese These zu beweisen, möchte ich Musils Text im Folgenden konkret analysieren.
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3.2 Garten und Kindheit Der Garten bildet als Ort der Selbst-Konstruktion und Rekonstruktion oft eine enge Verbindung mit der Kindheit. Die Entstehung des Romans ist in erster Linie mit dem Motiv Garten verbunden. Ganz am Anfang der Vorarbeiten zum Roman, die Musil schon 1904 unternahm, steht die Wohnungsbeschreibung der Hauptfigur namens Robert. Am liebsten schaut er durch eines der Fenster in den Garten, wie der Mann ohne Eigenschaften, Ulrich. Da fühlt der Junge »eine dunkle Masse, eine langsam bewegte« (KA, Heft 4: 93).3 Und »etwas Dunkles breitete sich über sein Inneres, etwas ganz Gleichmäßiges, ohne alle Kennzeichen erfüllte seine Seele« (ebd.). Hier entdeckt Robert also zum ersten Mal die Existenz der Außenwelt. Von einem geschützten Platz aus fühlt er sein Inneres von der unbekannten, fremden Außenwelt zwar überwältigt, trotzdem verliert er die Neugier darauf nicht. Im Garten betrachtet er dann ihm fremd erscheinende Lebewesen, wie eine Schnecke, und ahnt die Bewegung eines Mädchens vom Nachbarhaus auf der anderen Seite der Büsche (vgl. KA, Heft 4: 95). Hier funktioniert deshalb »der Garten als Lokal, an dem Innen- und Außenwelt aufeinander treffen«, wie Walter Fanta bemerkt (Fanta 2000: 447). In diesem Sinne können solche Erfahrungen des Jungen als ein Prozess der Konstruierung seines Ichs interpretiert werden. Auch für die erwachsenen Geschwister des Romans, Ulrich und Agathe, funktioniert der Garten als ähnlicher Ort. Seit dem Tod des Vaters wohnen sie alleine in dessen Haus zusammen, um das Leben neu zu beginnen. Am Anfang bleiben sie oft alleine in ihren Zimmern, also in den ehemaligen Kinderzimmern. Aber nachdem sie in Ulrichs Haus umgezogen sind, nehmen sie die Gewohnheit an, draußen im Garten philosophische Gespräche miteinander zu führen. Dabei geben ihnen die Passanten und die Erscheinungen der Natur den Anlass dazu, einige Gedankenexperimente anzustellen, um so zu versuchen, eine neue Weltanschauung zu erreichen. Außerdem bezieht sich der Garten auch hier auf die kindheitlichen Erinnerungen der Geschwister. Sie erinnern sich z. B. daran, dass sie wie ein Ritual die abgeschnittenen Fingernägel und Haare im Garten begruben (vgl. GW 3: 706f.). Der Garten vermittelt also nicht nur das Innen und Außen, sondern auch die Vergangenheit und die Gegenwart der Geschwister. Und erst nach dem Nacherleben ihrer Kind3 | Die Sigle KA bezieht sich auf Musil 2009.
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heit fangen sie an, ein neues, zukünftiges Verhältnis miteinander und auch mit der ganzen Welt zu suchen. Anschließend an diese Analyse thematisiere ich zunächst noch konkreter die »Garten-Kapitel« des Romans, um aus der auffälligen mystischen Seite dieser Teile die Konstruktion von Musils typischer Mystik genau herauszulesen.
3.3
Der Garten als Topos der »taghellen Mystik«
Es ist auch beachtenswert, dass Musil sich in seinen letzten fünf Jahren konzentriert mit den »Garten-Kapiteln« beschäftigte. In diesen Kapiteln werden Ulrich und Agathe durch die sogenannten heiligen Gespräche zur mystischen Erfahrungen geführt. Hier hat der Garten zwei Seiten. D. h. der Garten ist einerseits der Gegenstand der naturwissenschaftlichen Betrachtung, aber andererseits erscheint er vor den Geschwistern als der Ort des Unbeschreiblichen. Ich möchte erklären, wie diese zwei Seiten sich aufeinander beziehen. Dazu ist vor allem die konkrete Analyse des Kapitels »Mondstrahlen bei Tage« wichtig.4 Im Garten der Blumen und Sträucher liegen die Geschwister im Sommerwetter in den großen Liegestühlen und führen wie immer ein philosophisches Gespräch. An diesem Tag versucht Ulrich zuerst, das Grün des Rasens jenseits der konventionellen Redensarten noch genauer zu definieren. Er sagt zu Agathe, er »könnte die Farbe vielleicht auch messen: Sie dürfte schätzungsweise eine Wellenlänge von fünfhundertvierzig Millionstelmillimetern besitzen« (GW 3: 1089). Auf diese Weise besteht er hier auf der Genauigkeit der naturwissenschaftlichen Beschreibungsweise. Aber gerade wegen dieser vernünftigen Ansicht wird den Geschwistern auch die Unbeschreiblichkeit und Formlosigkeit aller Dinge bewusst. Mit Ulrichs genauer Beschreibung kann man nämlich das Stoffliche des Grüns vom Rasen nicht völlig ausdrücken. Anders gesagt, kann man beim Grün des Rasens eine Art von Tastgefühl wahrnehmen, ganz anders als z. B. bei Seide oder Wolle (vgl. GW 3: 1089). Aber Ulrich weiß noch nicht, wie dieses Stoffliche mit der rationalen Beschreibungsweise ausgedrückt werden kann. Und dann bemerken die Geschwister, 4 | Für das Kapitel »Mondstrahlen bei Tage« gibt es verschiedene Entwürfe zwischen 1932 und 1938, aber ich berufe mich in dieser Arbeit auf die letzte Druckfahnenversion als Zitierquelle.
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dass die Welt eigentlich mit Unbeschreibbarem erfüllt ist. Denn »Agathe fand es, zum Zeugen angerufen, sehr verständlich, daß man nichts verstehen könne« (ebd.). Aber gerade diese Bemerkung erlaubt ihnen, besonders Agathe, ganz neu in die Landschaft des Gartens zu schauen. In der Ahnung der »Möglichkeit vorübergehender Abweichungen von der gewohnten und bewährten Ordnung des Erlebens« bzw. der »taghellen Mystik« (GW 3: 1091) fühlen die Geschwister eine Veränderung ihrer Weltanschauung. Zuerst bemerkt Ulrich, dass Agathes blondes Haar mit Licht und Luft des Gartens verschmilzt. Dieser Anblick schreibt Agathe eine gewisse heilige Natur zu. Dann nimmt sie selbst die ungewöhnliche Stimmung in und um sich wahr: »Wenn das geschah, hob nämlich auch sie sich ein wenig in die Höhe«. Bemerkenswerterweise steht der Augenblick der Rekonstruktion des »Raums« im Vordergrund, in dem sich die Geschwister befinden: »Selbst der Raum, dieser sich immer gleichbleibende, gehaltlose Würfel, sei nun wohl verändert« – so denkt Agathe (GW 3: 1093). Da wird für die Geschwister die Grenze zwischen Ich und AußerIch als gleich Unbeschreibbares unsicher. Aber gerade daraus erwächst eine Offenbarung der verschiedenartigsten Beziehungsmöglichkeiten; Agathe sieht »deutlich und unkörperlich« die besondere Richtung oder Linie, die sie vor allem mit ihrem Bruder verbindet. Der Garten steht um diese Linie, und alles ist auf diese Verbindung bezogen (vgl. GW 3: 1094). In diesem besonderen Zustand wird also für Agathe die innerliche, unsichtbare Verbindung mit ihrem Bruder sichtbar. Das bezeichnet nicht nur die Stärke der Beziehung zwischen Ulrich und Agathe, sondern auch die Öffnungsmöglichkeit der konventionellen Grenze in der Welt. Trotzdem ist beachtenswert, dass dieser mystische Zustand, also nach Musil »der andere Zustand«, nicht das Ziel der Geschwister, sondern nur ein Prozess ihrer Selbst-Konstruierung und Rekonstruierung ist. Noch setzen die Geschwister mit der Unterstützung ihrer kritischen Haltung gegen die Willkürlichkeit der sogenannten Wirklichkeit die Entfaltung ihrer möglichen Weltanschauung weiter fort. Aber interessant ist, dass gerade die naturwissenschaftliche, vernünftige Denkweise der Eingang zum sogenannten anderen Zustand wird. Der Garten erscheint den Geschwistern also einerseits als Gegenstand der kritischen, vernünftigen Betrachtung der Welt, und andererseits als Ort der Offenbarung der neuen Weltanschauung. Und gerade wegen der Dynamik dieser zwei Seiten entspricht die Vorstellung des Gartens einem wichtigen Begriff Musils, der »taghellen Mystik«. Wie Shin erwähnt, ist
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der Garten zwar nicht der einzige Ort, wo die Geschwister den »anderen Zustand« erfahren (Shin 2008: 159). Dennoch bedeutet der Garten ein sehr wichtiges Motiv, das Musils Mystik deutlich charakterisiert.
3.4
Gegen die »Wirklichkeit«
Es ist erstaunlich, wie oft Musil, besonders in seinen letzten fünf Jahren, in seinen Tagebüchern und Briefen verschiedene Gärten thematisierte. In dieser Zeit beschäftigte er sich auch mit den »Garten-Kapiteln«. Aus Musils Tagebüchern kann man feststellen, dass Musil vom Ende der 1930er Jahre an bis zu seinem Tod 1942 oft im Garten Unterhaltungen mit wenigen Vertrauten hatte und einsame Betrachtungen der Natur genoss.5 Am 7. November 1939 schreibt er: »Ich schreibe so viel von ihm [dem Garten, M. M.] auf, weil er uns glücklich macht, und will es noch ergänzen. Der Krieg schläft seit einiger Zeit und man muß nicht an ihn denken« (KA/ Bd. 20; Robert Musil an Maria und Fritz Wortuba). Musil erkannte also in der Not der Kriegszeit die Kostbarkeit des Alltagslebens wahrscheinlich am besten im Garten. Auch im Roman symbolisiert der Garten gewissermaßen die Gewöhnlichkeit, Langeweile und Stille des Alltagslebens, gerade angesichts des Zusammenbruchs der Donaumonarchie. Die mystische Erfahrung der Geschwister im Garten beruht eigentlich auf dieser Alltäglichkeit. Trotzdem bedeutet das nicht, dass Musils Neigung zum Garten eine Haltung der Flucht aus der schmerzlichen Realität zeigt. Sondern die Mystik spielt bei Musil eine für die Literatur im Ganzen wesentliche Rolle, die bestehenden sozialen und kulturellen Systeme radikal zu bezweifeln und zu kritisieren. Mit anderen Worten ist Mystik für Musil eine Methode, um diese Welt aus einer neuen Perspektive außerhalb des festen Rahmens der sogenannten Wirklichkeit zu erfassen. Musil betont z. B. in den Aphorismen, die er zwischen 1935 und 1937 verfasste, oft die Unabhängigkeit der Kunst von den politischen Kontexten. Zwar ist er kein Dichter des politischen Engagements, aber es kann doch seine 5 | Vgl. die Notizen im Tagebuchheft von 1937-42 (KA/Bd. 17, I, 33/20), die vom 7. November 1939 (KA/Bd. 17, II, 35) und die Lektüre-Exzerpte von 1940 (ebd.). Außerdem zeigen auch die Briefe von Musils Frau Martha, dass das Ehepaar während des Aufenthalts im Garten oft eine unersetzbare Zeit verbrachte. Vgl. die Briefe von Martha an ihre Tochter Anne v. 1. April, 21. Mai u. 7. Juni 1941 (KA/ Bd. 20).
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Haltung, in der Zeit des Totalitarismus durch das Schreiben der »GartenKapitel« nach einer möglichen neuen Wahrnehmung des Individuellen zu streben, als ein Handeln des unabhängigen Dichters gegen die politische Willkür verstanden werden. In diesem Sinne kann man sogar Musil einen unfreiwillig politischen Schriftsteller nennen.
4. G renzüberschreitung : I m V ergleich zur japanischen R aumfigur ation Musils Orientierung an der »Vereinigung« ist aber grundsätzlich von westlichen Denkprinzipien geprägt. Denn dabei ist die Grenze zwischen den Individuen vorausgesetzt, während man in der östlichen, besonders japanischen Kultur zumindest bis zur Kriegszeit die »Vereinigung« zwischen Subjekt und Objekt in einer Gemeinschaft von Anfang an für selbstverständlich hält. Anders gesagt, könnte man möglicherweise im westlichen Denken eher Tendenzen finden, die Grenze zwischen Innen und Außen bzw. die Existenz der beiden Bereiche deutlicher zu ziehen, wogegen im japanischen in nicht wenigen Fällen die Idee gilt, dass nur das »Innere« bzw. nur ein »wir« existiert. Musils Motivation zum Exil lag natürlich daran, dass seine Frau jüdisch war. Aber nicht nur deshalb, sondern vielleicht auch, um seine politische kulturelle Unabhängigkeit als Individuum zu bewahren, hat er sich für das Exil entschieden, auch wenn damit der Verlust seines Heimatlandes verbunden war. Gleichzeitig wird er auch von dem Ideal der »Vereinigung« zwischen dem Ich und den Anderen in der menschlichen inneren Welt angezogen, wie oben gezeigt wurde. Aber kann man daher Musils Darstellungsweise als »westlich« bezeichnen? Es ist tatsächlich schwer zu sagen, ob Musil der westlichen Tradition des Erzählens einfach folgt. Den Grund dafür kann man vor allem in der flexiblen Raumordnung in Mann ohne Eigenschaften finden. Albertsen bemerkt: »Gegenstände, Plätze, Räume sind oft nicht lokal fixierbar, sie scheinen nur für den Augenblick entworfen zu sein, flüchtige Realisierungen einer erzählerischen Möglichkeit, und ihre Ordnung bleibt bisweilen nur innerhalb eines Kapitels gewahrt« (Albertsen 1968: 140). Z.B. verschwindet das Bibliothekszimmer des 24. Kapitels des zweiten Buchs im 28. Kapitel, obwohl es zuvor eine wichtige Rolle spielt, indem Ulrich darin eine Nacht verbringt (vgl. GW 3: 892f. u. 936). D.h.,
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»[a]lle diese topographischen Widersprüche – es gibt deren noch viele! –, die so gründlich gegen die traditionelle Logik des Erzählens verstoßen« (Albertsen 1968: 142). Außerdem ist die Beweglichkeit der Grenze eines »Raums« in Veronika sowie im Mann ohne Eigenschaften auffällig dargestellt, wie schon oben argumentiert. Solche »Gefühlswohnungen« oder »Stimmungsräume« (ebd.) haben möglicherweise viel mehr Affinität zur japanischen Raumfiguration. In der japanischen Wohnung bewegen sich die Grenzen zwischen den verschiedenen Zimmern; ein Raum wird nicht mit Wänden abgeteilt, sondern mit beweglichen Schiebewänden ( fusuma), Papierschiebetüren (shōji), Bambusvorhängen (sudare) oder einfach einem Tuch (noren), sodass man einen Raum je nach der Situation frei arrangieren kann. Dieses Prinzip der beweglichen Grenze trifft auch für den japanischen Garten zu. Durch die asymmetrische Struktur (vgl. Katō 2007: 173 u. 193-199) wird der Raum des Gartens dezentralisiert. Dann ermöglicht dieser Verzicht auf die Achse (vgl. Isozaki 2011: 166) den Besuchern, die Perspektive für den Garten gemäß ihrer eigenen Einbildungskraft spontan und flexibel zu konstruieren. Außerdem ist hier die Schwelle zwischen dem Haus und dem Garten selbst unfest (vgl. Katō 2007: 183f.). Die wenigen niedrigen Stufen, der offene Vorbau (engawa) und die shōji trennen das Wohngebäude vom Garten ganz lose ab. Damit prägen das Wohngebäude, der Garten und auch die lokale Landschaft zusammen die Stimmung der Wohnung im Ganzen (ebd.). Das Merkmal japanischer Raumfiguration kann man deshalb so bezeichnen: Im Inneren einer Wohnung bzw. einer Gemeinschaft sind die Grenzen flexibel geöffnet und geschlossen, während die Grenze zwischen dem Inneren einer Wohnung bzw. einer Gemeinschaft und dem Außengebiet unleugbar existiert. Zwar war Musil mit solch einem japanischen Raumprinzip nicht vertraut. Aber im Vergleich zur japanischen Kultur im Zusammenhang mit dem Begriff »Raum« kann man zumindest feststellen, dass bei ihm »Grenzüberschreitung« ein starkes Motiv ist. Die Grenze sowohl seiner eigenen Kultur als auch seines Ichs zu überschreiten – es ist wohl diese Sehnsucht nach dem Universalen, die seiner Literatur zugrunde liegt.
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L iter aturverzeichnis Primärliteratur Mach, Ernst (1905): Erkenntnis und Irrtum. Skizzen zur Psychologie der Forschung, Leipzig. Mach, Ernst (1987 [1910]): Populärwissenschaftliche Vorlesungen. Klassische Studien zur sozialwissenschaftlichen Theorie, Weltanschauungslehre und Wissenschaftsforschung. Bd. 5, Wien. Musil, Robert (1978): Gesammelte Werke in 9 Bänden, Reinbek b. Hamburg [= GW]. Musil, Robert (1980 [1908]): Beitrag zur Beurteilung der Lehren Machs und Studien zur Technik und Psychotechnik, Reinbek b. Hamburg. Musil, Robert (2009): Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften, hg. v. Walter Fanta/ Klaus Amann/Karl Corino, Klagenfurt. (DVD-Version) [= KA].
Sekundärliteratur Albertsen, Elisabeth (1968): Ratio und »Mystik« im Werk Robert Musils, München. Bonacchi, Silvia (1998): Die Gestalt der Dichtung. Der Einfluß der Gestalttheorie auf das Werk Robert Musils, Bern u. a. Corino, Karl (1974): Robert Musils »Vereinigungen«. Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe, München/Salzburg. Fanta, Walter (2000): Die Entstehungsgeschichte des Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil, Wien u. a. Henninger, Peter (1980): Der Buchstabe und der Geist. Unbewußte Determinierung im Schreiben Robert Musils, Frankfurt a. M. u. a. Hoffmann, Christoph (1997): »Der Dichter am Apparat«. Medientechnik, Experimentalpsychologie und Texte Robert Musils 1899-1942, München. Isozaki, Arata (2011): Welten und Gegenwelten. Essays zur Architektur, hg. u. aus dem Japanischen v. Yoco Fukuda/Jörg H. Gleiter/Jörg R. Noennig, Bielefeld. Katō, Shūichi (2007): Nihon bunka ni okeru jikan to kūkan, Tōkyō.
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Kuwahara, Satoshi (2012): »Rakuen to shite no jinkō teien byōsha. Romanha kara P. Sheabaruto made«, in: Doitsu bungaku. Neue Beiträge zur Germanistik 84, S. 63-76. Lönker, Fred (2002): Poetische Anthropologie. Robert Musils Erzählungen Vereinigungen, München. Mae, Michiko (1988): Motivation und Liebe. Zum Strukturprinzip der Vereinigung bei Robert Musil, München. Meisel, Gerhard (1991): Liebe im Zeitalter der Wissenschaften vom Menschen. Das Prosawerk Robert Musils, Opladen. Pekar, Thomas (1989): Die Sprache der Liebe bei Robert Musil, München. Pfohlmann, Oliver (2008): »Von der Abreaktion zur Energieverwandlung. Musils Auseinandersetzung mit den Studien über Hysterie in den Vereinigungen«, in: Peter-André Alt/Thomas Anz (Hg.): Sigmund Freud und das Wissen der Literatur, Berlin u. a., S. 169-191. Rauch, Marja (2000): Vereinigungen. Frauenfiguren und Identität in Robert Musils Prosawerk, Würzburg. Schröder, Jürgen (1966): »Am Grenzwert der Sprache. Zu Robert Musils Vereinigungen«, in: Euphorion 60, S. 313-334. Shin, Jiyoung (2008): Der »bewusste Utopismus« im Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil, Würzburg.
Zum Innenraumdiskurs in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften Transkulturelle Perspektiven im Blick auf Japan Thomas Pekar
1. E inleitung Thema dieses Aufsatzes sind konkrete Innenraum- bzw. Wohnungsdarstellungen in Musils Romanfragment Der Mann ohne Eigenschaften.1 Leitende Fragen dabei sind: Welche Innenräume tauchen dort auf? Wie und zu welchem Zweck beschreibt Musil Innenräume, und welche gesellschaftlichen Diskurse über Innenräume nimmt er damit auf? Diese Fragestellungen werden mit zwei Kontexten verbunden, die sich aus dem thematischen Zusammenhang dieses hier vorliegenden Buches ergeben: Der erste Kontext betrifft die Dichotomie von Wohnen und Unterwegssein, deren Auflösung mit der Moderne am Anfang des 19. Jahrhunderts einsetzte und die gegenwärtig so weit fortgeschritten zu sein scheint, dass vielfältige hybride oder dritte Möglichkeiten auftauchen, die diese Dichotomie außer Kraft setzen – nur ein Beispiel dafür ist das »nomadische Wohnen«.2 Wie hier gezeigt wird, nimmt Musil mit seinem Roman an dieser Auflösungsbewegung teil, ja scheint sie geradezu mit zu initiieren. Der zweite Kontext betrifft das West-Östliche, hier in Hinsicht auf die Frage gewendet, inwieweit japanische Innenraumkonzepte zu einer Veränderung der westlichen Innenraum- und Wohnvorstellungen in der Moderne beigetragen haben und inwieweit diese Veränderungen dann auch
1 | Seitenangaben mit der Sigle M nachfolgend im Fließtext. 2 | Vgl. dazu die Bemerkungen in der Einleitung zu diesem Band, S. 18f.).
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für Musils Roman relevant sind. Diese Frage betrifft einen Bereich, der hier als »transkulturell« verstanden wird.3
2. U lrichs W ohnung im M ann ohne E igenschaften Musil hatte ein besonderes Verhältnis zum Raum (wie auch zur Zeit, was aber hier nicht thematisiert werden kann), welches sich nicht zuletzt durch seine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik ergab.4 Sie setzte mit seinen Studien zur experimentellen Psychologie ein (1902/1903), die auch Untersuchungen zur Raumperzeption umfassten, und wurde von ihm mit seiner Dissertation über Ernst Mach (1908) weitergetrieben.5 Diese wissenschaftlichen Studien fanden dann Eingang in Musils literarisches Schaffen. Hier soll es also um Innenräume im Mann ohne Eigenschaften gehen6 – und zwar nicht um metaphorische »seelische« Innenräume, sondern um ganz konkrete, um Wohnungen also, obwohl sich diese »äußeren« Innenräume dann durchaus auch mit den »inneren« Innenräumen verbinden. Der Roman setzt mit dem Chronotopos der Großstadt Wien im August 1913 ein und führt, folgerichtig vom Größeren zum Kleineren absteigend, von dieser Stadt zur Straße, dann zum Garten und zum Haus bzw. zur Wohnung des Protagonisten Ulrich, dem Mann ohne Eigenschaften. Dieser ist aus einem nicht näher genannten »Ausland« (M: 13) nach Wien zurückgekehrt und steht vor der Notwendigkeit, sich neu einzurichten. Er ist 32 Jahre alt, damit im besten Alter, um sich zu etablieren – also eine Familie zu gründen, sich beruflich festzulegen, einen Freundes3 | »Transkulturell« soll hier den Prozess einer sich vollziehenden wechselseitigen kulturellen Durchdringung bezeichnen, in dem sich bestimmte Phänomene nicht mehr eindeutig der einen oder der anderen Kultur zuschreiben lassen. 4 | Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Miyashita Minami in diesem Band. Viele Forschungsarbeiten haben sich seit dem spatial turn mit »Raum« bei Musil beschäftigt, die hier nicht alle genannt werden können; vgl. beispielhaft nur Honold 1995; Simons 2007; Arndal 2008 u. Ajouri 2017. 5 | Dort heißt es, dass die »Begriffe von Raum, Zeit und Bewegung«, nach Mach, »nur in der Bedeutung von Relationen gesichert« seien (Musil 1980 [1908]: 58). 6 | Einige Forschungsarbeiten haben sich mit diesem Thema bereits bei Musil beschäftigt; vgl. Asendorf 1990; Leitgeb 1999; Arburg 2011 u. Arburg 2016.
Zum Innenraumdiskurs in Rober t Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften
und Bekanntenkreis aufzubauen und dann zu pflegen etc. Dies alles wird allerdings nicht Ulrichs Sache sein. In gewisser Weise folgt er diesem Schema zwar, wenn er sich zu Anfang des Romans eine Wohnung sucht und einrichtet, doch all dies geschieht auf gebrochene, ironische Weise. Auch dem im Roman zitierten anachronistischen Schema – »Wenn man sein Haus bestellt hat, soll man auch ein Weib freien« (M: 21)7 – scheint Ulrich sich zu unterstellen, doch diese dann »gefreite« Frau, Ulrichs erste Geliebte im Roman, ist die Varietésängerin und Gelegenheitsprostituierte Leona, mit der er auch nicht lange zusammenbleibt. Ulrich hat sich zu seinem neuen Domizil erstaunlicherweise ein Schlösschen, ein »Jagd- oder Liebesschlößchen vergangener Zeiten« (M: 12), ausgesucht.8 Er bezieht dieses ursprünglich im 17. Jahrhundert erbaute Schlösschen »aus Übermut und weil er gewöhnliche Wohnungen verabscheute« (M: 13), aber auch aus Opposition gegen seinen Vater, der – als Bürgerlicher im Dienste des Adels stehend – sorgfältig die Grenzen zwischen Bürgertum und Adel beachtet und es deshalb nie gewagt hätte, ein feudales Schloss – und sei es im Diminutiv – zu kaufen bzw., wie Ulrich es tut, zu mieten. Durch diese Wohnungswahl tritt Ulrich so von Anfang an als Grenzverletzer und Verneiner von Autoritäten in Erscheinung. Charakteristisch für das Schlösschen ist ein sich aus dem Verlauf seiner Jahrhunderte langen Baugeschichte ergebender Stilpluralismus mit Gewölben aus dem 17. Jahrhundert, einem im 18. Jahrhundert angelegten Park und mit im 19. Jahrhundert restaurierten Fassaden. Damit besitzt dieses Gebäude in der Beschreibung des Romans »einen etwas verwackelten Sinn, so wie übereinander photographierte Bilder« (M: 12). 7 | Ulrich zitiert hier eine Bibelstelle: »So spricht der HERR: Bestelle dein Haus […].« Eine versteckte (und etwas makabere) Pointe liegt hier darin, dass sich die Bibel nicht etwa auf den Bezug eines neuen Heims bezieht, sondern auf das Ordnen der weltlichen Dinge vor dem Tod, denn der biblische Satz lautet vollständig: »Bestelle dein Haus; denn du wirst sterben und nicht lebendig bleiben!« (Jesaja 38,1). Was soll man davon halten, dass Ulrich somit als Sterbender in den Roman eintritt, was mit der Anfangsszene korrespondieren mag, wo ein bei einem Autounfall Verunglückter auf eine Tragbahre gehoben wird, von dem man hofft, dass er nicht tot sein möge? (vgl. M: 11). 8 | Das reale Vorbild dazu ist das Palais Salm in der Rasumofskygasse in Wien, welches Musil von seinem Arbeitszimmer aus sehen konnte (vgl. mit Abbildung Corino 1988: 348 u. auch die Bemerkungen von Honold in diesem Band, S. 266f.).
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Dieser Stilpluralismus des Schlösschens verweist im Zeitkontext auf das umfassende Problem des Historismus9 und wird, als es um Ulrichs Wohnungseinrichtung geht, zu einem zentralen Problem: »Von der stilreinen Rekonstruktion bis zur vollkommenen Rücksichtslosigkeit standen ihm dafür alle Grundsätze zur Verfügung, und ebenso boten sich seinem Geist alle Stile von den Assyrern bis zum Kubismus an. Was sollte er wählen?« (M: 19). Das vielfältige Stilangebot konfrontiert Ulrich mit einem zeitgemäßen Problem:10 Angesichts des Überangebots an Einrichtungsstilen erwägt Ulrich, seine Möbel eigenhändig zu entwerfen,11 aber auch dabei kann er sich nicht auf eine bestimmte Form festlegen. Es gibt zu viele Wahlmöglichkeiten – er kann sich bei den Möbeln nicht zwischen einer »wuchtige[n] Eindrucksform« und einer »technisch-schmalkräftige[n] Zweckform« (M: 20) entscheiden. Damit zeigt er sich als ein vom Möglichkeitssinn beherrschter Mensch, der vor dem ewigen Dilemma steht, dass alles ebenso gut »auch anders sein« (M: 16) könnte.12 Weil er sich aber irgendwie einrichten muss, entschließt sich Ulrich letztendlich dazu, »die Einrichtung seines Hauses einfach dem Genie seiner Lieferanten« zu überlassen – mit dem Resultat, dass er dann so wohnt, wie sich dies »Möbel-, Teppich- und Installationsfirmen« (M: 21) vorstellen.13 9 | Für die Architektur bedeutete der Historismus im 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts den Rückgriff auf ältere Stilrichtungen, die auch, gewissermaßen »werturteilsfrei«, miteinander kombiniert wurden. 10 | Damit ist die Zeit von etwa 1900 bis 1930 gemeint, die Zeit der Jahrhundertwende und der anbrechenden Moderne. Dies deckt die Zeit von der Entstehungsgeschichte des Romans – früheste Skizzen dazu datieren aus dem Jahr 1904 – bis zum Erscheinen der ersten Bände 1930 bzw. 1932 ab. Damit war der Roman jedoch keineswegs vollendet, sondern Musil arbeitete bis zu seinem Tod 1942 weiter daran, ohne ihn fertigstellen zu können. 11 | Dies war bei Jugendstilkünstlern durchaus beliebt: So zeichnete der Maler Franz von Stuck die Möbel bzw. die gesamte Innendekoration seiner berühmten Villa Stuck in München selbst (vgl. Ostini 1909: 411). 12 | Theoretisch mag dies als »die positive Annahme der Kontingenz« (Wolf 2011: 92) sehr progressiv sein, doch im praktischen Leben, z. B. eben bei der Wohnungseinrichtung, ist diese Haltung recht hinderlich. 13 | Sogar die von den feudalen Vorbesitzern aufgehängten »Hirschgeweihe« (M: 21) in der Eingangshalle übernimmt Ulrich.
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Diese merkwürdige Wohnsituation Ulrichs, der sozusagen wider besseren Wissens bzw. deplatziert wohnt,14 steht im ersten Buch des Romans ganz grundsätzlich für seine ironisch-gebrochene Sicht auf seine Umwelt und seine Mitmenschen. Diese Sicht gibt er auf, als, nach dem Tod seines Vaters, seine Schwester Agathe bei ihm einzieht, mit der er zusammen ein ganz neues Wohn- und Weltverhältnis begründen und leben will. Anlässlich ihres Einzugs thematisiert Agathe die missliche Wohnsituation ihres Bruders, indem sie ihn fragt: »Warum hast du dich eigentlich so eingerichtet, wenn du es nicht richtig gefunden hast?« (M: 894), worauf Ulrich jedoch keine rechte Antwort zu geben vermag.
3. W eitere W ohnungen im M ann ohne E igenschaften Die ausführliche Beschreibung von Ulrichs Wohnung, die Musil an den Anfang seines Romans stellt, bleibt allerdings ein Einzelfall. Im Unterschied zu zeitgenössischen Romanciers wie Hermann Broch oder Thomas Mann sind die Wohnungsdarstellungen im Mann ohne Eigenschaften ausgesprochen karg.15 Dennoch liefern sie wichtige Hinweise zur Charakterisierung der Figuren und ihrer sozialen Funktionen. Ich gebe im Folgenden eine kurze Übersicht über weitere Wohnungen, die im Roman dargestellt werden: Ulrichs Jugendfreunde, das gescheiterte »Genie« Walter, der sich mit einer auskömmlichen Stellung als verbeamteter Kunstverwalter etabliert hat, und seine Frau, die später wahnsinnig werdende Clarisse, wohnen außerhalb der Stadt in einer Art Jugendstilwohnung mit »spindeldürren [...] Kunstfabrikmöbel[n]« (M: 48), zu denen das wuchtige Klavier, welches jedoch für Walter unersetzlich ist, überhaupt nicht passt. Weiter betreten wir mit Ulrich die Wiener Hof burg, die Kaiserresidenz, mit ihrer Repräsentationseinrichtung, die er despektierlich als »eine nicht weggeräumte Welt« bezeichnet, die aber nichtsdestotrotz »einfach überraschend wirklich« (M: 86) wirkt. Dies verweist deutlich 14 | Honold spricht in Hinsicht auf Ulrich von dem grundsätzlichen »Deplatziertsein des Protagonisten« (Honold 2011: 166). 15 | Vgl. diese ähnliche Einschätzung: »Stark ausgespart erscheinen bei Musil vor allem Interieurs […]« (Glander 2005: 87). Zum literarischen Wohndiskurs überhaupt vgl. u. a. Becker 1990; Lauffer 2011; Wichard 2012; Oesterle 2013 u. Wegmann 2016.
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auf den Anachronismus der Monarchie im Jahre 1913, die aber noch in der Lage war, Europa bald darauf in einen Weltkrieg zu stürzen. Anachronistisch wirkt auch die Innenraumbeschreibung des Ministeriums des Äußeren,16 wenn Musil dort zwei Sektionschefs (einer von ihnen ist Diotimas Mann Tuzzi) »in prächtigen Lederstühlen« sitzen lässt, »auf dem weichen roten Teppich, hinter den dunkelroten hohen Fenstervorhängen des weiß-goldenen Zimmers, das noch aus Maria Theresias Zeiten stammte [...]« (M: 209). Diese prächtig-feudale Umgebung wird durch die Nichtigkeit der Tätigkeit ihrer Bewohner kontrastiert, die ein belangloses Treffen abhalten. Dazu bildet der unprätentiös und mobil im Hotel wohnende Geschäftsmann Paul Arnheim »eine Gegenregierung, eine moderne, apokryphe Kampfanlage der wirtschaftlichen Diplomatie« (M: 381), der, im Gegensatz zur bald ruinierten, aber immer noch pompös auftretenden politischen Diplomatie der Monarchie, die Macht in der Zukunft gehören wird. Eine zentral wichtige Rolle im Roman spielt Diotimas Salon, der für die Planungen der Parallelaktion17 benutzt und so Treffpunkt der meisten Romanfiguren wird. Vorbild dieses Salons waren die Treffen bekannter Vertreter des Kulturlebens in der von dem Wiener Architekten und Wegbereiter der Moderne Adolf Loos eingerichteten Wohnung des Ehepaars Schwarzwald in der Josefstädter Straße in Wien, an denen auch zuweilen Musil teilnahm.18 Seiner Diotima verlieh Musil Züge der Pädagogin und Frauenrechtlerin Eugenie Schwarzwald, die diese Treffen organisierte. 16 | Welches bis 1918 im heutigen österreichischen Bundeskanzleramt am Ballhausplatz residierte, worauf Musil hinweist, wenn er von dem »schönen alten Palais am Ballhausplatz« (M: 381) spricht. 17 | Dabei handelt es sich um eine für das Jahr 1918 anvisierte (und nie stattfindende) Jubiläumsfeier. Da dieses Jahr das siebzigjährige Regierungsjubiläum des österreichischen Kaisers Franz Josef I. gewesen wäre und das Jahr des dreißigjährigen Regierungsjubiläums des deutschen Kaisers Wilhelm II., entwickelt Musil aus diesem Zusammentreffen die Fiktion der Vorbereitung eines österreichischen Jubiläumsjahres durch österreichische Patrioten, um nicht möglicherweise gegenüber den Deutschen, die Ähnliches planen könnten, ins Hintertreffen zu geraten. Der österreichische Kaiser starb jedoch 1916; und 1918 zerfiel Österreich-Ungarn. 18 | Dort trafen sich u. a. die Schriftsteller Elias Canetti und Egon Friedell, der Schauspieler Alexander Moissi oder der Komponist Arnold Schönberg (vgl. Corino 1988: 368, wo auch dieser Salon abgebildet ist).
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Diotima ist im Roman eine entfernte Verwandte Ulrichs, Ehefrau des hohen Beamten Tuzzi und berühmt für ihren Salon, in dem sich, der Tradition großbürgerlicher Salons folgend, »Gesellschaft und Geist« (M: 98) bzw. »Besitz und Bildung« (M: 101) treffen. Doch diese Tradition ist gebrochen, denn die Zusammenkünfte zur Organisation der Parallelaktion sind inhaltslos; es geschieht gewissermaßen »nichts« in Diotimas Salon, außer dass sich Diotima und der preußische Wirtschaftsmagnat und Verfasser schöngeistiger Bücher Paul Arnheim19 ineinander verlieben und diese Treffen als Vorwand nehmen, um sich sehen zu können. Vergeblich aber sucht man nach »eine[r] ganz große[n] Idee« (M: 93) für die Parallelaktion, die damit als Parabel der Abwesenheit eines zentralen Wertes gelesen werden kann, der dem Roman eine Einheit hätte geben können. Dieser Bruch mit der Salontradition zeigt sich darin, dass die Treffen der Parallelaktion in Diotimas Speisezimmer, das »in ein Beratungszimmer umgewandelt« (M: 162) wird und sich neben dem eigentlichen Salon befindet, abgehalten werden. Überhaupt wird Diotimas Wohnung durch diese Treffen vollkommen auf den Kopf gestellt.20 Arnheim gehört zu den wenigen »modernen« und nicht anachronistischen Figuren des Romans. Diese Modernität betrifft auch seinen Wohnstil: Er besitzt eine Villa in Berlin »in modernstem Stil, die in allen Zeitschriften für zeitgenössische Baukunst abgebildet wurde« (M: 190f.), und zudem noch ein Schloss – oder eben, wie bei Ulrich, auch ein »Schlösschen« – in der Mark Brandenburg,21 auf das er sich zurückzieht, um »see19 | Vorbild für ihn ist der Industrielle, Schriftsteller und Politiker (zuletzt deutscher Außenminister) Walther Rathenau, der wegen seiner jüdischen Herkunft und seinen demokratischen Ansichten bei Rechtsradikalen verhasst war, die ihn 1922 ermordeten. 20 | Eine große Bibliothek, die sie eigens für die Organisation der Parallelaktion anschafft, bringt sie beispielsweise in ihrem Boudoir unter (vgl. M: 297). 21 | Vorbilder dafür sind die Villa Rathenaus im Berliner Grunewald und das Schloss Freienwalde im märkischen Bad Freienwalde (vgl. Corino 1988: 370f.). Rathenau war im Übrigen selbst an der Planung seiner Villa beteiligt. Wie ein Zeitzeuge berichtet, habe er selbst die gesamte Innenausstattung allein entworfen und bis in die Einzelheiten bestimmt, ausprobiert und überwacht. Vgl. ›http:// www.stadtentwicklung.berlin.de/denkmal/liste_karte_datenbank/de/denkmaldatenbank/daobj.php?obj_dok_nr=09046522‹ (Zugriff am 10. 4. 2018). Ob Musil dies wusste, ist aber nicht bekannt.
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lenvolle« Bücher zu schreiben, die Ulrich, wie überhaupt Arnheim, nicht leiden kann. Ist Arnheim in Wien oder auf Reisen, so wohnt er in teuren Hotels. Diese modern-mobile Lebensform, die sich z. T. mit der Ulrichs und später seiner Schwester Agathe überschneidet,22 könnte auf eine Nähe zwischen Ulrich und Arnheim hindeuten, doch wird Arnheim ausdrücklich als Ulrichs Antagonist vorgestellt, dessen Einstellungen Ulrich aus vollstem Herzen ablehnt.23 Dies weist auf eine gewisse grundsätzliche Distanz Musils zu der mit Arnheim verbundenen Moderne hin, die er häufig kritisiert und ironisiert. Der hier skizzierte Wohndiskurs im Mann ohne Eigenschaften kann insgesamt als negativ, gebrochen oder eben kritisch-ironisch bezeichnet werden. Dies zeigt sich einmal darin, dass Wohnungen oft umfunktioniert werden, d. h. in einer nicht von ihrem Erbauer oder ursprünglichen Besitzer beabsichtigten Weise genutzt werden. Dies betrifft, wie schon erwähnt, vor allem Diotimas Wohnung, aber auch Ulrichs Schlösschen, das anfangs als Gelehrtenstube und Fitness-Studio für ihn herhalten muss,24 um sich dann, nach Agathes Einzug, fast vollständig in einen großen »Ankleideraum« für sie zu verwandeln.25 Diese Veränderung des Hauses 22 | Dies betrifft besonders das Hotel als mögliche alternative und mobile Lebensform zum immobilen-häuslichen Wohnen der Geschwister; dies wird von Agathe einmal zumindest erwogen (vgl. M: 895); sie bleiben jedoch in Ulrichs Haus wohnen, aber lassen sich immerhin ihr »Essen aus dem Hotel holen« (M: 936). 23 | »Er [Ulrich, T. P.] mochte Arnheim nicht ausstehen, schlechtweg als Daseinsform nicht, grundsätzlich, das Muster Arnheim. Diese Verbindung von Geist, Geschäft, Wohlleben und Belesenheit war ihm im höchsten Grade unerträglich« (M: 176f.). Man kann in dieser Hinsicht wohl von einer sehr starken negativen Fixierung sprechen, die Ulrich/Musil (als auktorialer Erzähler ist Musil sehr dicht mit seiner Figur verknüpft, die als alter ego fungiert) mit Arnheim/Rathenau verbindet. 24 | Ulrich richtet sich im Schlösschen eine »Gelehrtenwohnung« (M: 12) ein (obwohl er gar kein Gelehrter ist, sondern nur »zum Zeitvertreib« (M: 719) an einer mathematischen Untersuchung arbeitet) und ein Zimmer mit einem »Boxball« (M: 13), an dem er trainiert, um sich körperlich fit zu halten; außerdem besitzt er Hanteln und eine schwedische Leiter, d. h. eine an die Wand montierte Gymnastikleiter (vgl. M: 893). 25 | Da Ulrichs Haus »nirgends für eine Dame eingerichtet« ist, hat Agathe »die Gewohnheit angenommen, es in seiner Gänze als Ankleideraum zu benutzen«; selbst Ulrichs Turngeräte dienen ihr als »Ständer und Galgen« (M: 937) für ihre
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mit seiner nun »unbürgerlichen Art der Bewohnung« (M: 936) bedeutet jedoch einen Empathieschub, denn nun füllen »dunkle Wellen menschlichen Vertrauens [...] die Räume aus« (M: 937). Zu einer ähnlichen Umfunktionierung kommt es, als die Geschwister nach dem Tod ihres Vaters für kurze Zeit in dessen noch im EmpireStil eingerichtetes Haus ziehen.26 Die Steifheit und »Unwirtlichkeit des Salons« wird von Agathe radikal durchbrochen, indem sie sich dort für ihre Lektüre verschiedenster Bücher »eine höchstpersönliche Halbinsel« schafft, die zum einen aus einem türkisch gemusterten Ottomanen nebst Teppich sowie einer tropischen Pflanze, zum anderen aber aus einer modernistischen Stehlampe besteht, »die in der klassizistischen Landschaft des Zimmers wie ein Scheinwerfer oder ein Antennenmast wirkte« (M: 717). Hier findet eine orientalistisch-exotistisch-modernistische Dekonstruktion des bürgerlichen Wohnens statt, die in konstruktiver Hinsicht zu einem bequemen und rebellisch-fröhlichen Stilpatchwork führt, welches keineswegs mit der damaligen funktionalen Moderne gleichzusetzen ist. Ein weiteres Element dieses gebrochenen Wohnungsdiskurses im Roman ist die häufig erwähnte Nicht-Nutzung von Räumen, nicht nur etwa in der Hof burg mit ihren vielen, fast unmöblierten Sälen (vgl. M: 84),27 sondern auch in Ulrichs Schlösschen, wo es einen »nutzlosen Aufwand an Schmuck- und Nebenräumen« (M: 936) gibt. Diese Nutzlosigkeit widerspricht der von der zeitgenössischen modernen Architektur propagierten Funktionalität des Wohnens. Dass Musil aber Agathe diese Nutzlosigkeit gerade gefallen lässt, kann als weiteres Zeichen seines Einspruchs gegen die funktionale Moderne verstanden werden. Der insgesamt problematisierende Wohndiskurs stellt Musil genau in den Kontext der zeitgenössischen Diskussionen um das Wohnen, die im Folgenden kurz skizziert werden sollen. Kleider. Ulrich wird so gewissermaßen vom Agathe-Raum umfasst; er vergleicht sich einmal mit einem Kerbtier, welches von einer fleischfressenden Pflanze umschlossen wird (vgl. M: 939), was eine Art der Inversion, der Raumumstülpung ist, die eine wichtige, aber hier nicht zu thematisierende Rolle bei Musil spielt (vgl. u. a. Asendorf 1990: 90f. u. Simons 2007: 279-338). 26 | Der Empire-Stil, unter dem Einfluss Napoleons, war von etwa 1799 bis 1815 verbreitet. 27 | Die Hofburg wird als »ein großes Gehäuse mit wenig Inhalt« (M: 84) bezeichnet.
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4. D er zeitgenössische I nnenr aum -D iskurs und M usils H altung da zu Wie man wohnen (und leben) soll, war eine Frage, die die Gesellschaft um 1900 stark bewegte.28 Wogegen die Moderne in Architektur und Innenraumgestaltung antrat, war der Historismus, die Gleichzeitigkeit verschiedener Stile, auf die in dekorativer Weise zurückgegriffen wurde.29 Großbürgerliche Wohnungen der damaligen Zeit wurden von bildenden Künstlern, etwa durch textile Ausstattungen und die stimmungsvolle Platzierung angesammelter Antiquitäten, regelrecht »inszeniert«. Vorbildhaft war das Atelier des österreichischen Malers und Dekorationskünstlers Hans Makart.30 Adolf Loos, der Verächter des Ornamentalen, kritisierte dies als »Tapezierstil«.31 Als Gegenbewegungen entstanden dazu Ende der 1890er Jahre die Reformbewegungen des Jugendstils und der Wiener Secession, deren Ziel es war, die Wohnung von überflüssigen Dingen und dekorativen 28 | Dies wird an programmatischen Aussagen zur Architektur aus dieser Zeit deutlich (vgl. z. B. Conrads 1971). Diese Neubestimmungsversuche in der Architektur waren Folgen des epistemologischen Bruchs, der sich um 1900 in Raumkonzepten vollzog und der darin bestand, dass »nicht-euklidische Raummodelle für die modernen Naturwissenschaften unverzichtbar« wurden (Simons 2007: 10). 29 | Für den Innenraum lässt sich dieser Historismus so angeben: »Zu Beginn des 19. Jahrhunderts etabliert sich neben dem offiziellen Repräsentationsstil ›Empire‹ die einfachere und privatere ›Biedermeier-Variante‹. [...] Bereits gegen 1840 sind sämtliche historische Stile unserer westlichen Kulturen und die exotischen Varianten außereuropäischer Kulturen gleichzeitig aktuell« (Witt-Dörring 1990: 41). Dies war sozusagen Musils Ausgangssituation. 30 | Eine Makart-Kritik findet sich im Mann ohne Eigenschaften: Die Organisatoren der Parallelaktion informieren sich als mögliches Vorbild für ihre Aktion über den Makart-Festzug, den dieser anlässlich der Silberhochzeit von Kaiser Franz Joseph I. und seiner Gemahlin Elisabeth im April 1879 in Wien inszeniert hatte: Er bestand im Wesentlichen aus »teppichbehängten Wagen, […] schwer beschirrten Pferde[n]« (M: 563) und Trompetern. Selbst die nicht gerade scharf und progressiv denkende Diotima bezeichnet diesen Festzug, nachdem sie sich über ihn informiert hat, als unzeitgemäßen »Seelenplunder« (M: 563). 31 | Vgl. seine bekannte Schrift Ornament und Verbrechen von 1908 (z. B. in Conrads 1971: 15-21).
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Rahmen leer zu räumen. Die Menschen selbst, nicht mehr Dinge oder Rahmen, sollten nun die Atmosphäre des Wohnens erzeugen (vgl. WittDörring 1990: 43). Helle Farben, Licht und Luft wurden zu raumdefinierenden Elementen erklärt. Anfang des 20. Jahrhunderts kam es zu einem regelrechten Auf bruch in der Architektur: Architekten wie Henry van de Velde, Frank Lloyd Wright, Hermann Muthesius, Bruno Taut, Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe (in Verbindung mit Vereinigungen wie dem Deutschen Werkbund und später dem Bauhaus) entwickelten eine moderne Architektur und Inneneinrichtung mit einfachen und exakten Formen. Le Corbusier führte dies in den 1920er Jahren mit einer Reihe von programmatischen Aufsätzen fort, die eine Ästhetik des industriellen Bauens und des Städtebaus begründeten.32 In seinem epochemachenden Buch Vers une Architecture (1923)33 griff er grundsätzlich das Haus in seiner traditionellen immobilen Gestalt an, indem er mobile Räume, wie in Ozeandampfern oder Flugzeugen, mit Häusern zusammenstellte und in diesem Zusammenhang behauptete: »Le problème de la maison n’est pas posé« (Le Corbusier 21924 [1923]: 86).34 Man habe also überhaupt noch nicht angefangen, darüber nachzudenken, was ein Haus in der Moderne überhaupt sein könne – vielleicht eine »machine à habiter« (ebd.: 73), eine Wohnmaschine also, von der er sich eine gesellschaftliche Befreiung versprach. Die Architektur eines Hauses von Le Corbusier lernte Musil übrigens einmal aus eigener Anschauung kennen: 1935 besuchte er die von Le Corbusier erbaute Villa Church in Ville-d’Avray unweit von Paris. Bei aller Distanz zum Funktionalismus schließt sich Musil diesen Überlegungen von Le Corbusier zur Antiquiertheit des Hauses zum einen sicherlich durch seinen gesamten ironisch-kritischen Wohndiskurs im Mann ohne Eigenschaften implizit an, zum anderen aber auch durch explizite Statements, wenn er z. B. Ulrich im Gespräch mit Agathe Folgendes dozieren lässt: »›Ein Haus machen‹ täuscht eine Schauseite vor, hinter der sich nichts mehr befindet; die sozialen und persönlichen Ver32 | Vgl. einige seiner Leitsätze in Conrads 1971: 9-59. 33 | Vgl. die deutsche Übersetzung: Le Corbusier 1926. 34 | Dieser Linie folgend schrieb der Architekturhistoriker Sigfried Giedion: »Unsere innere Einstellung fordert heute vom Haus: Möglichst Überwindung der Schwere. Leichte Dimensionierung. Öffnung. Durchspültsein von Luft […]« (Giedion 21928: 9).
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hältnisse sind nicht mehr fest genug für Häuser, es bereitet keinem Menschen mehr ein ehrliches Vergnügen, Dauer und Beharrung nach außen darzustellen« (M: 98).35 Trotzdem aber bleibt im Mann ohne Eigenschaften eine grundsätzliche Distanz zur Moderne bestehen. Ulrich äußert sich nämlich einmal in Hinsicht auf den genannten anfänglich beschriebenen Stilpluralismus so: »Was sollte er wählen? Der moderne Mensch wird in der Klinik geboren und stirbt in der Klinik; also soll er auch wie in einer Klinik wohnen! – Diese Forderung hatte soeben ein führender Baukünstler aufgestellt, und ein anderer Reformer der Inneneinrichtung verlangte verschiebbare Wände der Wohnungen, mit der Begründung, daß der Mensch dem Menschen zusammenlebend vertrauen lernen müsse und nicht sich separatistisch abschließen dürfe« (M: 19f.).
Dieser (vielleicht auch von Musil erfundene) Satz eines »Baukünstlers« erinnert an programmatische Aussagen von Architekten wie Le Corbusier oder Walter Gropius, der 1925 einmal sagte: »Der moderne Mensch, der sein modernes, kein historisches Gewand trägt, braucht auch moderne, ihm und seiner Zeit gemäße Wohngehäuse [...]« (Gropius zit. n. Conrads 1971: 90). Dieses Wohnen-in-der-Klinik (wie auch das im Hotel) verwirft Ulrich – und im Roman sind weitere distanzierende Äußerungen zum modernen Wohnen und zur modernen Architektur, insbesondere zum Funktionalismus, zu finden.36 35 | In dem kurzen Essay »Türen und Tore«, der 1936 im Nachlass zu Lebzeiten erschien, konstatiert Musil ebenfalls die grundsätzliche Antiquiertheit des häuslichen Wohnens: »Der Mensch früherer Zeiten, Schloßherr wie Städter, lebte in seinem Haus; seine Stellung im Leben zeigte sich darin an, speicherte sich dort auf. [...] Das Haus hat dem gedient, was man scheinen wollte [...]; heute sind aber andere Dinge da, die diesen Zweck erfüllen: Reisen, Automobile, Sport, Winteraufenthalte, Appartments in Luxushotels« (Musil 1978 [1936]: 505). Vgl. dazu und zu Musils Beziehung zu Le Corbusier: Arburg 2011. 36 | Musil nennt die Moderne einmal »Technismus« und spricht anschließend ironisch von einer »Gruppe neuer Architekten«, die »dem kommenden Menschen durch Volksbauten und Siedlungen neues Wohngefühl« geben wollen; und er fügt hinzu: »Dann hatte einer gesagt, der Mensch sei ein geheimnisvoller Innenraum,
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5. D ie westliche R ezep tion der tr aditionellen japanischen I nnenr äume Musil erwähnt in dem genannten Zitat »verschiebbare Wände der Wohnungen« (M: 20) als ein Kennzeichen dieses modernen Wohnungsdiskurses, womit ich dann beim west-östlichen bzw. transkulturellen Aspekt meines Themas wäre, denn diese verschiebbaren Wände, also shōji oder fusuma,37 sind Bestandteile der japanischen Wohnungsgestaltung, die ab etwa 1880 in Europa rezipiert wurde. Topisch sozusagen kehren bei fast allen Beschreibungen japanischer Innenräume durch westliche Autoren diese drei Kernpunkte immer wieder auf: weswegen man ihm durch Kegel, Kugel, Zylinder und Kubus Beziehung zum Kosmos geben müsse« (M: 402). Arburg spricht in dieser Hinsicht von einer Funktionalismuskritik bei Musil: »Weil sich der Funktionalismus ein modernes Leben vom Kreißsaal bis zur Leichenhalle nur noch als permanenten Klinikaufenthalt imaginieren kann, wird er am Ende unmenschlich« (Arburg 2011: 351f.). Allerdings ist die kritische Sicht Musils auf die (primär architektonische) Moderne keineswegs eindeutig: In einem Gespräch mit dem reaktionären und präfaschistischen Studenten Hans Sepp, der Mitglied der Christgermanen ist, einer jener vielen »freien Geistessekten« (M: 313), die zwischen 1919 und 1933 auftraten, verteidigt Ulrich dann auch wiederum die Moderne am Beispiel eines Hauses, wenn er ihm diese mehr oder weniger rhetorische Frage stellt: »›Ist das moderne Bürgerhaus mit Sechszimmerwohnung, Dienstbotenbad, Vacuum Cleaner und so weiter, wenn man es mit den alten Häusern vergleicht, die hohe Zimmer, dicke Mauern und schöne Gewölbe haben, ein Fortschritt oder nicht?‹« (M: 484). Hans Sepp verneint dies aus grundsätzlicher Opposition gegen den Fortschritt – und muss damit seinen ideologischen Standpunkt angesichts dieses Beispiels einer komfortablen Wohnung lächerlich machen. Allerdings tritt Ulrich hier nun auch wiederum gar nicht grundsätzlich für den Fortschritt ein: »›[J]eder Fortschritt ist zugleich ein Rückschritt. Es gibt Fortschritt immer nur in einem bestimmten Sinn. Und da unser Leben im Ganzen keinen Sinn hat, hat es im Ganzen auch keinen Fortschritt‹« (M: 484). 37 | Shōji sind eigentlich lichtdurchlässige, verschiebbare Raumteiler in der traditionellen japanischen Architektur, die in der Regel entlang der Außenwände eingesetzt werden. Fusuma hingegen sind lichtundurchlässige (oft bemalte) Schiebetüren oder Schiebeschirme zur Abgrenzung zwischen den Räumen im Gebäudeinneren.
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• die Möbellosigkeit bzw. Leere des japanischen Zimmers • die Verschiebbarkeit der Außen- und Innenwände • die genormten Tatamimatten.38 Ein typisches Zitat in dieser Hinsicht stammt von dem deutschen Ingenieur Franz Baltzer, der als ausländischer Berater (oyatoi gaikokujin) während der Meji-Zeit beim Auf bau des japanischen Eisenbahnwesens tätig war:39 »Ihm [dem Japaner, T. P.] ist der Gebrauch europäischer Möbel, wie Tische, Stühle, Betten, Schränke u. dgl. fremd, er lebt, auf den untergeschlagenen Beinen sitzend, auf dem mit gepolsterten Matten aus Reisstroh, Tatami, belegten Fußboden; sitzend und so ruhend nimmt er seine Mahlzeiten ein, so schreibt und liest er, so erstattet und empfängt er seine Besuche [...]. Demnach hat der Japaner für Möbel und Hausgerät, mit denen der Europäer seine Wohnung oft überreich ausstattet, kein Bedürfnis [...]. [...] Während das Haus in Europa ringsum mit festen Außenwänden versehen ist, finden sich solche beim japanischen Hause in der Regel höchstens auf zwei Seiten [...]. Auch die Mehrzahl der Zwischenwände des japanischen Hauses zwischen den einzelnen Zimmern ist nicht fest, wie beim europäischen Hause, sondern besteht gleichfalls aus verschieblichen Papierwän38 | Dabei handelt es sich um Matten aus Reisstroh (bzw. aus Reisstrohkern mit Binsen-Bezug), die in traditionell gestalteten Zimmern in Japan als Fußboden dienen, auf denen dann auch in der Nacht die Schlafstätte (futon) ausgebreitet werden kann. Die Tatami haben ein bestimmtes Flächenmaß (die Standardgröße in Tokyo ist z. B. 88 Zentimeter x 176 Zentimeter) – jō genannt – (dabei handelt es sich um eine Aussprachevariante für das Kanji von tatami, die beim Zählen verwendet wird), welches der Angabe von Zimmern- und Wohnungsgrößen dient. Das japanische Standardzimmer ist gegenwärtig sechs jō groß, besteht also aus sechs Tatami-Matten und umfasst damit ca. 10 Quadratmeter. 39 | Baltzer legte auch einen Entwurf für den Bau des Tokyoter Hauptbahnhofs (Tōkyō eki) vor. Die Bauarbeiten begannen 1908 und wurden 1914 abgeschlossen. Interessanterweise wurde Baltzers Entwurf als »zu japanisch« abgelehnt und stattdessen dem eher westlich anmutenden Plan des japanischen Architekten Tatsuno Kingo der Vorzug gegeben. Vgl. Itō Masami: »Tokyo Station at 100: all change«, in: The Japan Times v. 13. Dezember 2014. ›http://www.japantimes. co.jp/news/2014/12/13/history/tokyo-station-100-change‹ (Zugriff am 12. 1. 2018).
Zum Innenraumdiskurs in Rober t Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften
den, die [...] sich [...] nach Bedarf auch ganz herausheben und beseitigen lassen. [...] Die Matten [= Tatami, T. P.] bilden insofern ein wichtiges Element für den japanischen Hausbau, als sie durch ihre Abmessungen einen maßgebenden Einfluß auf die Größe aller Räume ausüben« (Baltzer 1903: 10f., 14, 16 u. 19).
Es wäre nun aufzuzeigen (was an dieser Stelle nicht geleistet werden kann), wie dieser Diskurs über den japanischen Innenraum nach und nach von modernen Architekten aufgenommen und in eigene Architekturentwürfe umgesetzt wurde.40 Ein wichtiger Vermittler japanischer Wohnkonzepte war der amerikanische Zoologe Edward S. Morse, der 1877 Japan besuchte, dort dann einige Jahre blieb und sich für die japanische Wohnkultur zu interessieren begann. Sein Buch über das japanische Haus war eine Pionierarbeit und machte den Westen erstmalig damit bekannt (vgl. Morse 1885). Für den deutschsprachigen Bereich war das oben zitierte Buch von Baltzer wegweisend,41 auf welches sich der Architekt und, u. a. als Mitbegründer des Werkbunds, einflussreiche Theoretiker »moderner Architektur« Hermann Muthesius mit einer Rezension direkt bezog (vgl. Muthesius 2016 [1903]). Muthesius selbst arbeitete von 1887 bis 1891 in Japan sowohl als Angestellter der japanischen Regierung als auch dort als Mitarbeiter für das deutsche Architektenbüro Böckmann & Ende, welches u. a. das japanische Justizministerium erbaute.42 Welchen enormen Einfluss Muthesius’ Rezeption der japanischen Architektur und Innenraumkonzepte auf die moderne deutsche bzw. überhaupt westliche Raumgestaltung hatte, wurde erst unlängst durch eine umfangreiche Monografie verdeutlicht (vgl. Ganzer 2016). Weiter wäre der amerikanische Architekt Ralph Adams Cram zu nennen, der sich u. a. mit dem Entwerfen von Kirchengebäuden in den USA einen Namen gemacht hatte und als erster ausgebildeter westlicher Architekt ein umfangreiches Buch über japanische Bauten verfasste (vgl. Cram 1905).
40 | Vgl. hierzu Odenthal 2015, allerdings ohne Schwerpunkt auf Innenräume. 41 | Er publizierte einige Zeit später ein weiteres Buch über japanische Architektur (vgl. Baltzer 1907). 42 | Vgl. die Erwähnung dieser Architeken auch in dem Beitrag von KashiwagiWetzel, S. 328.
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Später, in den 1930er Jahren, thematisierte Bruno Taut, Vertreter des Neuen Bauens 43 und Japan-Emigrant,44 japanische Innenräume und Häuser mit einem erstmalig 1937 in englischer Übersetzung erschienenen Buch.45 Auch von japanischer Seite gab es Versuche, die Architektur und Innenraumgestaltung des Landes dem Westen bekannt zu machen. Nachdem der Arzt und Schriftsteller Mori Ōgai bereits 1888 den Versuch unternommen hatte, der Berliner Anthropologischen Gesellschaft das japanischen Haus näher zu bringen (vgl. Mori 1888), stellte keine geringere Institution als das japanische Innenministerium 1910 dem Westen japanische Tempelarchitektur vor (vgl. Department of the Interior 1910).46
6. S chluss Entscheidend für die westliche Rezeption japanischer Architektur und Wohnformen ist es in dieser Zeit gewesen, dass die traditionellen japanischen Konzepte unmittelbar in moderne Konzepte westlicher Architekten transformiert wurden oder zumindest dazu anregten.47 Dafür nur ein Beispiel: 1921/22 wurden in Wasmuths Monatshefte für Baukunst und Städtebau einige Ansichten japanischer Innenräume publiziert (vgl. W.
43 | Dabei handelt es sich um eine Architekturbewegung von den 1910er bis 1930er Jahren im Zusammenhang mit der Neuen Sachlichkeit und dem Bauhaus, die, besonders im Städtebau, neue, sachliche, schlichte und typisierte Bauformen, besonders in Siedlungen, entwickelte. 44 | Aufgrund politisch-weltanschaulicher Differenzen zu den Nationalsozialisten musste Taut 1933 Deutschland verlassen und emigrierte bis 1936 nach Japan, dann in die Türkei, wo er 1938 verstarb (zur Geschichte seiner Emigration vgl. Speidel 2011). 45 | Erst 1997 wurde sein deutsches Originalmanuskript publiziert (vgl. Taut 1997). 46 | Für den deutschsprachigen Bereich wären hier noch die Bücher des japanischen Architekten Yoshida Tetsurō u. a. über die japanische Architektur und das japanische Haus zu nennen (vgl. Yoshida 1935 u. Yoshida 1952). 47 | Diese Rezeption wurde auch bereits von der Forschung erkannt (vgl. Ruprechter 2015).
Zum Innenraumdiskurs in Rober t Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften
1921/1922),48 die, so sagte dies der vielleicht bedeutendste Architekt der Moderne, Mies van der Rohe, »ihn und seine Architektenfreunde wirklich aufgerüttelt und zu heißen Diskussionen angeregt« hätten (zit. n. Plüm 2013: 38). Bezogen auf den Innenraum führten diese »heißen Diskussionen« zu einem kritischen Diskurs über den traditionellen westlichen Wohnraum, mit zu viel Möbeln, Schmuck, Ornamenten und starren Wänden usw. Zu diesem kritischen Diskurs gegenüber traditionellen Wohnformen, der durch die Rezeption japanischer Innenräume wesentlich mitbestimmt wurde, trug auch Musil mit seinem Mann ohne Eigenschaften bei, der also in dieser Hinsicht zumindest indirekt an der Innenraum-Rezeption beteiligt war. Anders als die Architekten des Modernismus und Funktionalismus, die, so schrieb dies Walter Gropius einmal, »die heutige Welt der Maschinen und Fahrzeuge und ihr Tempo« vorbehaltlos bejahten (Gropius 1981 [1925]: 8), hegte Musil eine gewisse Distanz zum modernen Funktionalismus. Die Frage nach dem richtigen Wohnen in der Moderne beantwortete er letztendlich nicht, aber er anerkannte ihre fundamentale Relevanz, wenn er sie mit der nach dem richtigen Leben verkoppelte: »[Agathe] fragte [...]: ›Schlägst du also vor, daß wir im Hotel leben sollen?‹ ›Ganz gewiß nicht!‹ beeilte sich Ulrich zu versichern. ›Höchstens hie und da auf Reisen.‹ ›Und für die übrige Zeit wollen wir uns eine Laubhütte auf einer Insel oder eine Blockhütte im Gebirge baun?‹ ›Wir werden uns natürlich hier einrichten‹ antwortete Ulrich ernster, als es diesem Gespräch zukam. ›Liebe Agathe, es gibt einen Kreis von Fragen [...]: und diese Fragen heißen alle‚ wie soll ich leben?‹« (M: 895).
Die Frage nach dem richtigen Leben wird über die nach dem richtigen Wohnen gestellt: Agathe und Ulrich verwerfen nicht nur traditionelle und bürgerliche Wohnformen, sondern auch schon die Anfänge des modernen Wohnens, das als Leben »in der Klinik« ironisiert wird. Doch welche Alternativen bieten sich dann noch? Reisen, unterwegs wohnen, wohnen im Hotel, exterritoriale Wohnformen wie in Insel- oder Gebirgshütten – 48 | In dem Heft werden zunächst westliche Innenräume abgebildet, dann die – wie es im Einleitungstext heißt – »völlig fremde[n]« japanischen; davon verspricht man sich dieses: »Die Wirkung jener [japanischen, T. P] Innenräume liegt in ganz anderer Sphäre wie die der vorher gezeigten [westlichen, T. P], ein Vergleich voller Anregungen für europäische Architekten« (W. 1921/1922: 199).
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all dies wird erwähnt, aber letztendlich verworfen. Was bleibt also übrig? Übrig bleiben vielleicht nicht mehr als ein formloses Wohnen – und die Einsicht, dass man immer auch anders wohnen könnte, wodurch dem Wohnen seine ontologische Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit genommen wird, es davon befreit wird – und es als offenes und kontingentes Zukunftsprojekt der Menschen verstanden wird. Anders gesagt: Mit Musil könnte man auch auf dem Mond wohnen, mit Heidegger nicht.
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Zum Innenraumdiskurs in Rober t Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften
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Hotel als interkultureller Schauplatz Eine west-östliche Perspektive Kikuko Kashiwagi-Wetzel
Das Hotel ist ein multifunktioneller Ort, der sowohl den physiologischen als auch den sozialen Bedürfnissen des Menschen dient. Es bietet nicht nur Unterkunftsmöglichkeiten, sondern auch Räumlichkeiten für gesellschaftliche Anlässe an. Ein repräsentatives Hotel gehört zum Stadtbild. »Das Hotel holt die Welt ins Haus und spielt Welt im Kleinen« (Seger 2007: 10). Es präsentiert sich als gesellschaftlicher Knotenpunkt. Es ist ein Ort, wo die kapitalistisch-materialistischen Faktoren und die ästhetischen Elemente zusammentreffen. Es ist auch mit dramatischen Raumerlebnissen verbunden und somit vom banalen Alltag abgesondert. Das Hotel fungiert in besonderer Weise als gesellschaftlicher Schauplatz. Infolge der Industrialisierung und Urbanisierung sowie kraft der zunehmenden Mobilität und aufgrund der modernen Tendenz, Festlichkeiten mehr in öffentlichen Räumlichkeiten zu zelebrieren, wurden in den Städten immer größere, luxuriöse Hotelanlagen errichtet. In der Metropole Berlin sind vor allem Anfang des 20. Jahrhunderts sogenannte Grand Hotels entstanden, z. B. das Hotel Adlon im Jahr 1907 und das Hotel Bristol 1904. Die großen Anlagen, die mit der neuesten Technik wie Bad mit warmem und kaltem Wasser oder Fahrstuhl ausgestattet waren, wurden zum Inbegriff eines modernen und urbanen Lebensstils und zum Symbol für Erfolg und Luxus. Die Goldenen Zwanzigerjahre in der Weimarer Republik markieren eine Epoche, in der Grand Hotels als prestigeträchtige Orte eine symbolische Rolle gespielt und Repräsentationsräume im Lefebvre’schen Sinne dargestellt haben. Im Folgenden werden zuerst zwei deutsche Hotelromane aus den Goldenen Zwanzigerjahren behandelt: Hotel Savoy (1924) von Joseph Roth und Menschen im Hotel (1929) von Vicki Baum. Bei dem letzteren Beispiel
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wird auch ein anderer kontrastierender Hotelroman der Schriftstellerin, nämlich Hotel Shanghai (1939), eine Rolle spielen. Daran schließen Überlegungen über die symbolische Funktion des Hotels in der japanischen Literatur an. Es wird anhand von Werken aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gefragt, welche Rolle das Hotelwesen als quasi westliches Produkt im modernisierten Japan spielt und wie sich seine Wahrnehmung ändert.
1. H otel S avoy – Ö konomie des R aums Das Hotel ist ein flüchtiges, transitorisches Zuhause. In der organisierten Wohnanlage findet man vorübergehend ein Domizil. Der Gast ist ein zeitlich begrenzter Besitzer bestimmter Räumlichkeiten, und die Qualität des Wohnens hängt vom Rang des Hotels sowie dessen Zimmerstandard ab. Man muss für den Aufenthalt die Wahl des Hotels sowie der Zimmerkategorie treffen. Die Besucher werden nach der von ihnen gewählten Unterkunft kategorisiert, und innerhalb eines Hotels sind die Gäste wiederum nach dem gewählten Zimmertyp in Klassen eingeteilt. Die Ökonomie des angebotenen Wohnraums wird hier klar veranschaulicht. Auch in Hotel Savoy von Joseph Roth ist die Klassifizierung der Hotelgäste nach dem Zimmer deutlich zu erkennen. Der Ich-Erzähler Gabriel Dan kommt aus dem Ersten Weltkrieg und will nach dreijähriger Gefangenschaft im sibirischen Russland endlich in seine Heimat, die Wiener Leopoldstadt, zurück. Das Thema »Heimkehrer«, das Roth auch später in Die Rebellion (1924) und Flucht ohne Ende (1927) aufgegriffen hat, tritt hier ganz in den Vordergrund. Nur mit einem Koffer kommt er in einer osteuropäischen Stadt an, in der seine Verwandten wohnen. Er hat sich entschlossen, ein paar Tage oder Wochen auszuruhen, und sucht sich deshalb ein Hotel: »Zum erstenmal nach fünf Jahren stehe ich wieder an den Toren Europas. Europäischer als alle anderen Gasthöfe des Ostens scheint mir das Hotel Savoy mit seinen sieben Etagen, seinem goldenen Wappen und einem livrierten Portier. Es verspricht Wasser, Seife, englisches Klosett, Lift, Stubenmädchen in weißen Hauben, freundlich blinkende Nachtgeschirre wie köstliche Überraschungen in braungetäfelten Kästchen; elektrische Lampen, aus rosa und grünen Schirmen erblühend wie aus Kelchen; schrillende Klingeln, die einem Daumendruck gehor-
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chen; und Betten, daunengepolsterte, schwellend und freudig bereit, den Körper aufzunehmen« (Roth 2006 [1924]: 5).
Für Dan verkörpert das Hotel Savoy Europa, das sich technisch modernisiert, aber seine Tradition und Eleganz nicht verliert. Er hat dieses Hotel ausgewählt, weil es ihm »europäischer als alle anderen Gasthöfe des Ostens« scheint. Die Forschung besagt, dass in diesem Roman das gleichnamige Hotel in Lodz1 in Polen zur Kulisse diente (Bronsen 1974: 250). Aber die Beschreibungen im Roman lassen sich geografisch schwer identifizieren, und örtliche Merkmale werden auch nicht erwähnt. Da für den erfahrenen Hotelkenner Joseph Roth mehrere Hotels als Teil der Kulissen fungiert haben können – außerdem erinnert der Name Savoy die Leserschaft natürlich in erster Linie an das 1889 gegründete Londoner The Savoy, das sich einen ikonischen Status im britischen Hotelgewerbe erwarb –, sollte man hier das Hotel eher als fiktives Sinnbild betrachten denn als real existierendes Hotel. So ist der Schauplatz des Geschehens »a-geographisch, losgelöst und räumlich entfernt in die unnatürliche und symbolisch gesteigerte Welt des Hotels Savoy« verlegt (Struc 1975: 320). Unklar bleibt auch die genaue Zeit, in der der Roman spielt. Im Roman, der vom 9. Februar bis 16. März 1924 im Feuilleton der Frankfurter Zeitung in 22 Einzellieferungen und in demselben Jahr als Buchausgabe erschien, gibt es keine konsequente Chronologie. Die Revolution, die erwähnt wird, kann sich einerseits auf die November-Revolution von 1918/19 beziehen, aber andererseits aktuell zum Erscheinungsdatum auch auf den Deutschen Oktober 1923, dessen Folgen bis 1924 andauerten (Mergenthaler 2009/2010: 54ff.). Die Rede des Ich-Erzählers, die im Tempus unentschieden bleibt und keine politische Position bezieht, hat die »Ausprägungen des Transitorischen« (ebd.: 57). Das Transitorische ist der grundlegende Erzählmodus des heimkehrenden Ich-Erzählers. Hotel Savoy ist eine Zwischenstation, ein Transitort, in dem er sich nur flüchtig aufhält. Gleichzeitig liegt das Hotel »an den Toren Europas«. Es 1 | Lodz entwickelte sich im 19. Jahrhundert industriell und erlebte als zweitgrößte Stadt in Polen ihre Blütezeit. 1807 gehörte Lodz zum Herzogtum Warschau und wurde 1815 in das Königreich Polen integriert. Während des Ersten Weltkriegs war die Stadt unter deutscher Besatzung und wurde 1918 befreit. Der Streik der Arbeiter und die Revolution im Roman könnten sich auf die dortige sozialistische Bewegung beziehen.
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befindet sich an der Schwelle zwischen Ost- und Westeuropa.2 Sogar das Wetter spielt mit: Die Jahreszeit verharrt zwischen Sommer und Herbst, nämlich in einem Zwischenzustand, denn »der Herbst meldet sich allerorten, obwohl die Kastanien noch tiefgrün sind. Man muß zum Herbst woanders sein« (Roth 2006 [1924]: 5). Wegen des Regens, der nicht nur bei der Ankunft des Romanhelden, sondern auch während seines Aufenthaltes oft fällt, ist der Himmel grau, zumal nämlich als »Zwischenfarbe« (Wilheimer 2015: 154). Der Erzählmodus, der weder einen konkreten Ort noch eine konkrete Zeit festhalten will, geht mit dem transitorischen Zwischenzustand konform und stellt eine instabile Substanzialität dar. Im Gegensatz dazu zeigt sich im Hotel eine Klarheit, nämlich eine sichtbare Rangordnung. Die Gäste werden nach dem Rang des von ihnen gemieteten Zimmers klassifiziert, sodass damit ihre Finanzlage veranschaulicht wird. Gabriel Dan mietet das billige Zimmer 703 im sechsten Stock. Im siebenstöckigen Hotel Savoy sind die Gästezimmer so angeordnet, dass je höher die Etage, desto billiger der Zimmerpreis ist. In den oberen drei Etagen werden die Gäste nicht mit Namen, sondern mit Zimmernummern gerufen. Gabriel kommuniziert mit den Gästen in den oberen Etagen, etwa mit einem Paar, das in der Nähe der Waschküche wohnt und in deren Dunst die Milch für ihr Kind aufwärmt; mit einem Varieté-Mädchen, das heimlich einen Spirituskocher im Zimmer benutzt, und auch mit einem Artisten, der im Wäschedunst erstickt. In den unteren Etagen trägt das Hotelpersonal bessere, elegantere Uniformen. Das Erdgeschoss, in dem Bälle, Diners und Festlichkeiten stattfinden, fungiert als gesellschaftliche Bühne. In der Lounge werden Geschäfte ausgehandelt, Verhandlungen geführt und neue Pläne besprochen. Die Uhren im Hotel zeigen verschiedene Zeiten an: Wenn es im vierten Obergeschoss 6 Uhr 50 ist, zeigt die Uhr im fünften Obergeschoss 7 Uhr und im sechsten Obergeschoss 7 Uhr 10. Im siebten Stock ist keine Normaluhr vorhanden (vgl. Roth 2006 [1924]: 14). Wie im Zauberberg von Thomas Mann unterschiedliche Zeitformen zwischen »oben« im Sanatorium auf dem Berg und »unten« zur Rede kommen (vgl. Mann 2 | Das Hotel Savoy liegt somit psychologisch ganz nah bei Galizien, der Heimat von Joseph Roth. Denn für Roth als Ostjude ist Galizien ein vereinsamter Teil Europas: »Galizien liegt in weltverlorener Einsamkeit und ist dennoch nicht isoliert; es ist verbannt, aber nicht abgeschnitten; es hat mehr Kultur, als seine mangelhafte Kanalisation vermuten läßt« (Roth 1989: 284).
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1996 [1924]: 14), gibt es auch im Hotel Savoy verschiedene Zeitformen. Wie Hans Castorp verliert Gabriel Dan sein Zeitgefühl und wird von seinem Onkel als Taugenichts beschimpft. Manche Gäste oben haben keine Arbeit oder aufgegeben, eine solche zu suchen, oder im schlimmsten Fall beschlossen zu sterben. Hier fungiert die vertikale Linie als Ökonomieskala, die mit der wirtschaftlichen Erfolgsskala in der Gesellschaft konform geht. Die eigene räumliche Regel passt auch zur zeitlichen. Je höher, je entfernter vom Boden man wohnt, desto finanziell schwächer ist man. Je höher die Etage ist, desto später ist die Uhrzeit, als ob der Abstand zur geregelten Zeitordnung und zum bodenständigen Erfolg größer würde. Gabriel bekommt im Hotel ein Ereignis mit, nämlich die Ankunft von Henry Bloomfield aus Amerika. Dieser ist die Verkörperung des kapitalistischen Erfolgs. Mit »eine[r] unheimliche[n] Sauberkeit« (Roth 2006 [1924]: 87) empfängt das Hotel den bekannten, aus der Ferne heimkehrenden Sohn der Stadt. In der Luft liegt zwar »[e]twas Feiertägliches« (ebd.: 88), aber gleichzeitig entlarvt der Regen voller Kohlenstäubchen das wirkliche Gesicht der Industriestadt; es heißt, sie sei »eine Stadt des Regens und der Trostlosigkeit« (ebd.). Die Hoffnung der Leute auf neue Investitionen durch den Stadtsohn Bloomfield wird auch nicht erfüllt: Bloomfield wollte lediglich das Grab seines Vaters besuchen. Die Aufregung der Geschäftsleute in den unteren Etagen des Hotels Savoy kann er nur mit Schweigen erwidern. »Es war eine Heimkehr« (ebd.: 106). Der erfolgreichste Mann der Stadt, der längst die Stadt verlassen hat, der angesehene Hotelgast, der im Zimmer 13 wohnt, bringt nicht den Neubeginn, sondern den Beginn des Endes. Während seines Aufenthaltes herrscht Unruhe in der Stadt. Gabriel erkennt: »Es geht ihnen schlecht, den Menschen« (ebd.: 97). Immer mehr Heimkehrer strömen in die Stadt, und die Arbeiter streiken immer heftiger. Das Hotel ist ein Zufluchtsort und gleichzeitig ein Gefängnis, in das der Romanheld doch immer wieder zurückkommt. Gabriel Dan bittet seinen Onkel Phäbus um Reisekosten, aber der Onkel, der in Wien im Hotel Imperial wohnt und bei den Verwandten hoch respektiert wird, verweigert die Hilfe, da er den verstorbenen Eltern Gabriels schon genug Geld gegeben habe. Gabriel bleibt aussichtslos im Hotel zurück. Der Roman zeigt »das Sinnbild misslingender Heimkehr« (Wunberg 1994: 455). Ermuntert durch den Vorschlag seines Freundes Zwonimir, fängt Gabriel endlich an, für seine Reisekosten in einer Fabrik zu arbeiten. Er ist einigermaßen zufrieden, aber die Unruhe in der Stadt eskaliert. Letztend2
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lich wird das Hotel während einer Streikwelle von wütenden Arbeitern angezündet. Was das Hotel Savoy symbolisiert, ist die gnadenlose Realität der industrialisierten Welt, in der sich das kapitalistische Prinzip rücksichtslos durchsetzt. Das Hotel, das »jedem [...] Unglück« (Roth 2006 [1924]: 108) bringt, steht am Ende in Flammen. Das Feuer bricht im sechsten Stockwerk aus, in dem sich Gabriels Zimmer befindet, und breitet sich nach unten aus, auf die Etagen der reichen Gäste. Betroffen waren aber wieder die Menschen in den oberen Etagen. Es ist ja zu spät für die »hoch Begrabenen« (ebd.: 30). »Wie die Welt war dieses Hotel Savoy« (ebd.). Das Hotel, das interkulturell »die Welt« empfängt, zeigt gleichzeitig den in der Welt dominierenden ökonomischen Grundsatz. Erst als Gabriel sein kurzfristiges Zuhause als Ort des Verborgenseins verloren hat, kann er zum Entschluss kommen, vom Hotel aus als »Transit-Raum Reisender« (Hartmann 2006: 187) weiter nach Westen zu fahren. Er steigt in den Zug.
2. M enschen im H otel – eine M iniatur der G esellschaf t Vicki Baums Bestseller Menschen im Hotel, den man als den »nach Döblins Berlin Alexanderplatz bedeutendsten Großstadtroman der deutschsprachigen Literatur« (Becker 1999/2000: 179) rühmt, gehört zweifellos zu den wirtschaftlich erfolgreichsten unter den Schriften der Weimarer Republik, die das Hotel als moderne soziale Institution wahrgenommen haben. Der Roman, der 1929 in der Berliner Illustrierten Zeitung als Vorabdruck erschien, wurde in demselben Jahr als Buchausgabe publiziert und brachte Vicki Baum nach ihrem großen Erfolg mit ihrem Roman Stud. chem. Helene Willfüer den höchsten Ruhm. Die Faszination des Stoffs entsprang dem allgemein wachsenden Interesse an modernen Unterkunftssowie Veranstaltungsstätten, die als gesellschaftliche Schaubühne fungieren. In die Metropole Berlin siedelte Vicki Baum 1926 aus Mannheim um. In Berlin begann ihre Karriere damit, dass der Ullstein-Redakteur und ihr erster Mann, Max Prels, der sie eigentlich zum Schreiben brachte, sie 1926 als Redakteurin einstellte. Der Verlag erwarb die Vorrechte auf alle ihre zukünftigen Werke. An die enge Zusammenarbeit mit dem Ull-
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stein-Verlag von 1926 bis 1931 erinnert sich Baum später als die glücklichste Zeit ihres Lebens (vgl. Gruber 2007: 102). »Ihre Präsenz an den publicity-trächtigen Modeorten der Metropole Berlin« (ebd.) stimmte gut mit dem zeitgenössischen Bild der »neuen Frau« überein, und ihre Stärke, aktuelle Themen in unkomplizierter Sprache unterhaltsam und spannend zu schildern, zog eine wachsende Leserschaft an. Dazu kam Baums Mitarbeit an populären Modezeitschriften wie Die Dame und Uhu des Ullstein-Konzerns, der »sich an US-Amerikanischen Werbe- und Marketingkonzepten orientierte« (Bertschik 22008: 120). Die Bühnenfassung des Romans von Vicki Baum und Alexander Erdei hatte im Januar 1930 im Neuen Schauspielhaus am Nollendorfplatz in Berlin Premiere. Baums Erfolg, der sich auch in den USA fortsetzte, lässt sich als gutes Beispiel für einen »American/Hollywood Dream« bezeichnen. 1930 wurde die Lizenz von Menschen im Hotel an den größten Verlag des Landes, Doubleday, verkauft. Die aufwendigen Werbekampagnen des charismatischen Verlegers Nelson Doubleday machten Vicki Baum zur Starautorin. Wie in Berlin, trat die Autorin gemäß der Vermarktungsstrategie oft in der Öffentlichkeit auf. Vicki Baum verkörperte die europäische Moderne und ihren Glamour, gleichzeitig scheint sie sich gut an die amerikanische Medienwelt angepasst zu haben. Ihr Erfolg blieb nicht auf das Buchformat beschränkt. Die Theater-Version Menschen im Hotel wurde mit dem Titel Grand Hotel übersetzt und im November 1930 am Broadway aufgeführt. Dem Triumph der Premiere folgten 459 Vorstellungen in den nächsten dreizehn Monaten, und die Inszenierung des New Yorkers Herman Shumlin wurde im nächsten Jahr als Hit des Jahres ausgezeichnet (Nottelmann 2009: 158-161). Der Name der Bestsellerautorin wurde so bekannt, dass sich sogar Stripperinnen am Broadway »Vicki«3 nannten, weil das »elegant europäisch und sexy-verrucht« (ebd.: 175) klang. 1932 wurde Grand Hotel in Hollywood anhand des Drehbuchs von William A. Drake mit einer Starbesetzung – Greta Garbo, John Barrymore und Joan Crawford – verfilmt. Der Film wurde in Kulissen gedreht, die der Modernität das klassisch europäische Hotelambiente beimischten. Er wurde 1933
3 | Eigentlich hieß sie Hedwig Baum. »Vicki« wurde von dem männlichen Namen Viktor abgeleitet, den ihr Vater in Erwartung eines Sohnes für sein Kind vorgesehen hatte.
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auch in Japan aufgeführt und genoss große Popularität.4 Seinem Titel – nämlich Grand Hotel – entsprechend bezeichnete man Filmhandlungen, die auf einen einzigen Ort beschränkt waren, als gurando hoteru hōshiki [Grand Hotel-Methode]. Für den Roman Menschen im Hotel ist auch kein konkretes Hotel als Vorbild zu bestimmen. Die Autorin bemerkte bezüglich der Suche nach einer realen Kulisse: »Mein Hotel existierte nicht wirklich [...]. Es hatte nichts mit dem Adlon oder dem Eden zu tun, obwohl es ganz bestimmt in Berlin stand. Es war eine Mischung aus den europäischen Hotels, die ich kannte« (zit. n. Gruber 2007: 103). Die Bühne der Literatur ist also das Grand Hotel im allgemeinen Sinne. Das Hotel wird in der ersten Szene des Romans folgenderweise geschildert: »Hier [in der Eingangshalle, K. K.-W.] traf die Jazzmusik des Tea-Rooms mit dem Geigenschmachten des Wintergartens zusammen, dazwischen rieselte dünn der illuminierte Springbrunnen in ein unechtes venezianisches Becken, dazwischen klirrten Gläser auf Tischchen, knisterten Korbstühle, und als dünnstes Geräusch schmolz das zarte Sausen, mit dem Frauen in Pelzen und Seidenkleidern sich bewegen, in den Zusammenklang« (Baum 3 2008 [1929]: 6).
Einerseits kommen kulturelle Neuheiten (Jazzmusik, Korbstühle) sowie Luxus und Eleganz (klirrende Gläser, Frauen in Pelzen und Seidenkleidern) in den Vordergrund, andererseits lassen hier schon Adjektive wie »illuminiert« und »unecht« etwas Trugbildnerisches durchscheinen. Das Luxushotel wirkt durch kalkulierte Inszenierung als ein solches. Die Romanfiguren treiben auch auf ähnliche Weise einen Balanceakt. Der Roman, der seinem Titel entsprechend die Menschen im Hotel beschreibt, lässt klar erkennen, dass das Hotel einen sozialen Mikrokosmos der allzu menschlichen Welt darstellt und die Typologisierung des gesellschaftlichen Milieus in der Metropole zeigt. Im Grand Hotel treffen die verschiedensten Menschen aufeinander: die russische Tänzerin Grusinskaja, die altert und ihr Ende als Primaballerina in der Berliner Aufführung deutlich erkennt; der gut aussehende Baron Gaigern, der seinen Unterhalt mit Einbrüchen im Hotel finanziert; der todkranke Buchhalter 4 | Anlässlich der Hollywoodverfilmung wurde der Roman ins Japanische übertragen. 1932 erschienen zwei Übersetzungen von Ni’i Wataru und Maki Itsuma, jeweils unter dem Titel Gurando hoteru [Grand Hotel].
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Herr Kringelein, der sein restliches Leben endlich luxuriös verbringen will, und sein Arbeitgeber Herr Preysing, der verschuldete Generaldirektor von Saxonia Baumwoll A.G., der sich in Berlin aufhält, um über eine Fusion zu verhandeln; Fräulein Flamm, eine junge, ehrgeizige Sekretärin bei Saxonia Baumwoll A.G., die ihren Luxus von den Männern bezahlen lässt, und Doktor Ottenschlag, ein ehemaliger Militärarzt, der als Hausarzt im Hotel wohnt, aber von Morphium abhängig ist. Die Gäste kommen aus verschiedenen Sozialschichten (Künstler, Hochstapler, Kleinbürger, Fabrikanten), und gemeinsam ist ihnen nur die Unterkunft. Sie sind als Gäste des Luxushotels kategorisiert und benehmen sich als solche, oder mindestens versuchen sie es. Herr Kringelein, mit seinem »Hunger nach dem Leben – und Wissen um den Tod« (ebd.: 52), gibt an einem Tag sein halbes Monatsgehalt aus und erlebt das mondäne Leben, von dem er geträumt hat. Aber er fühlt sich innerlich nicht wohl. Für den Kleinbürger Kringelein ist es etwas Abstraktes, im Grand Hotel ein Luxusleben zu führen: »Alles schmeckte nach Traum und Fieber. Alles ging viel zu schnell, ließ sich nicht halten und sättigte nicht« (ebd.: 109). Die Metropole zeigt einen illusionären Glanz. Die Großstadt bietet vieles an: Bars, Partys, Kino, Theater, Spiele und Modegeschäfte mit geschmückten Schaufenstern. Im Rausch erlebt Herr Kringelein – befreit und geflohen aus seiner engen Arbeitswelt als Buchhalter – »das große Leben«, aber seine Berauschung ist flüchtig. Grusinskaja, die in den Großstädten der Welt unterwegs war, erkennt Licht und Schatten der Stadt: »Berlin war hell, laut und sehr voll. Berlin schaute ihr neugierig und voll Spott in das geschminkte, aufgelöste und halb bewusstlose Gesicht. Eine grausame Stadt war Berlin« (ebd.: 115). Die Großstadt wird hier nicht durch expressionistisch drohende, apokalyptische Sinnbilder dargestellt, sondern offenbart neusachlich distanziert ihre Erbarmungslosigkeit. Das Grand Hotel, das als repräsentativer Ort der Großstadt das Luxusleben sowie ein höheres soziales Milieu symbolisiert, besitzt eine erbarmungslose Ordnung. Das große Hotel ist eine gut organisierte kapitalistische Institution, die von ihren Gästen einen gewissen Habitus verlangt. Herrn Kringelein, der armselig aussieht, weist der Portier auf andere, günstigere Hotels hin, statt ihm ein freies Zimmer anzubieten. Erst dank der Hilfe von Doktor Ottenschlag wird er nach mehreren Versuchen endlich im Hotel untergebracht, jedoch in dem schlechtesten Zimmer 216, direkt über der Küche, direkt vor der Feuermauer. Der Dampf aus der Küche erregt heftige Übelkeit in ihm. Wenn man keine passende Wohlhabenheit zeigen
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kann, wird man hier ausgegrenzt. Herr Kringelein erhebt zum ersten Mal in seinem Leben Protest und bekommt endlich das Zimmer 70 mit Bad in derselben Etage wie sein Arbeitgeber Preysinger. Wie in Hotel Savoy sind auch hier die unteren Etagen kostspieliger. Der Hoteldieb Gaigern wohnt im Zimmer 69 und zielt auf den Schmuck von Grusinskaja im Zimmer 68. Er, der in den unteren Etagen sozusagen arbeitet und gleichzeitig den Glamour dieses Ortes genießt, wird von Doktor Ottenschlag ermahnt: »Die Drehtür muß offen bleiben. [...] Rein, raus, rein, raus, rein, raus. Witzige Sache, so eine Drehtür. [...] Aber nun passen Sie einmal auf: Sie kommen beispielsweise durch die Drehtür herein – da wollen Sie doch die Gewissheit haben, dass sie auch wieder raus können durch die Drehtür! Daß sie Ihnen nicht vor der Nase zugesperrt wird und Sie gefangen sind im Grand Hôtel?« (ebd.: 252f.).
Die Drehtür, die den »Auftakt für die eigentliche Bühne des Hotels« (Tacke 2016: 145) darstellt, markiert die Schwelle zwischen der Hotel- und der Realwelt. Das Grand Hotel verblendet Menschen wie den Baron. Er erhält sich durch die Verborgenheit im Hotel und seine Selbstinszenierung am Leben. Sein Leben dreht sich wie diese Tür nur im Kreise. Der Glanz des Grand Hotels erweist sich hinter seiner eleganten Äußerlichkeit als Trugbild. Außer Doktor Ottenschlag verschwinden alle Romanfiguren am Ende aus dem Hotel. Ihre Abreise begleitet das Aussteigen aus der Karriere, aus der produktiven Tätigkeit, aus dem Leben. In Hotel Shanghai (1939) verschwinden am Ende nicht nur alle Romanfiguren, sondern auch das Hotel selbst. Das Grand Hotel in Menschen im Hotel erscheint als der Ort, in dem der Kapitalismus sich durchgesetzt hat und sogar alle Gemütsbewegungen kapitalistisch orientiert sind. Während das Grand Hotel das Prestige der glänzenden Metropole präsentiert, befindet sich das Hotel Shanghai in einer Großstadt, die im Zentrum des internationalen Interesses steht und von inländischen politischen Unruhen beherrscht wird. Konflikte zwischen verschiedenen Ideologien sowie Parteien lösten 1927 den chinesischen Bürgerkrieg aus, der zur Ausrufung der Volksrepublik China durch Mao Zedong 1949 führte. 1911 war es dem Revolutionär Sun Yat-sen gelungen, die Qing-Dynastie zu stürzen. Er wurde von Japan unterstützt und gründete 1919 die Guomindang [Nationale Volkspartei]. Nach seinem Tod 1925 übernahm Chiang Kai-shek die Macht, von Deutschland militärisch durch die Chinesisch-Deutsche Kooperation von 1920 bis 1940 unterstützt. Er stellte
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sich nach internen Konfrontationen 1927 gegen die Kommunisten, was zum Beginn des Bürgerkriegs führte. In Shanghai wohnten damals viele Ausländer unter dem Schutz westlicher Militärbesatzungen, vor allem in der französischen Konzession (concession française de Shanghai) und den internationalen Konzessionen. Die Anfang Juli 1937 gegen die Japaner gerichteten Angriffe im Norden der Stadt entwickelten sich zum heftigen Kampf zwischen der Chiang Kai-shek-Regierung Chinas und Japan. Der Roman spielt vom Sommer bis zum Herbst 1937. Die Stadt ist voller Schmutz, vom Opium besessen, von Syphilis heimgesucht und »durch und durch verrottet« (Baum 2007 [1939]: 453). In dieser Stadt ist das Hotel Shanghai eine Heterotopie, die kulturell isoliert ist. Das Hotel symbolisiert die westliche Zivilisation, die westliche Kultur. Der Roman, den man auch »Menschen im Hotel Shanghai« nennen könnte, besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil, »Die Menschen«, werden die einzelnen Biografien der Romanfiguren erzählt; im zweiten Teil, »Die Stadt«, verkehren diese Leute in Shanghai, lernen sich im Hotel kennen oder sehen sich dort wieder. Ideologische und kulturelle Unterschiede innerhalb der Familie oder bei Liebespaaren sind kaum zu überwinden. Der Hotelbesitzer ist der große Mann in Shanghai, Bo Gum Chang, der aus ärmlichen Verhältnissen stammt, durch Einbrüche und Mordtaten hochkam und als Geldverleiher und Opiumhändler seinen Reichtum geschaffen hat. Sein christlich getaufter, in den USA graduierter Sohn, Doktor Yu Tsing Chang, verachtet einerseits seinen Vater und arbeitet für die Presseabteilung der Kommunisten, andererseits kann er dem Patriarchat nicht entkommen. Yu Tsing kann die Konkubine nicht abweisen, die sein Vater für ihn gekauft hat, um Nachkommen zu zeugen. Für seine Ehefrau Pearl, eine Amerikanerin chinesischer Abstammung, ist dieses Verfahren jedoch fremd. Sie entschließt sich letztendlich zur Scheidung. Sowohl zwischen Vater und Sohn als auch zwischen dem Ehepaar sind die ideologischen und kulturellen Unterschiede unverkennbar. Die Gäste sind im Hotel voller Entsagung oder Resignation gelandet, weil sie von anderen Möglichkeiten ausgeschlossen wurden. Shanghai ist für sie zwar keine Stadt der Zukunft, aber sie können nicht aus ihr entkommen. Emotionelle Befreiung, Selbstzerstörung und Dissonanz sind Merkmale, die im Mikrokosmos dieses Hotels zu beobachten sind. Selbstzerstörerisch verhalten sich beispielsweise Kurt Planke und Bertie Russel. Kurt Planke, Klavierspieler und Kellner in der Bar des Hotels Shanghai, ist ohne richtige Ambitionen in die kommunistische Bewegung verwi-
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ckelt und rutscht infolgedessen von seiner erwarteten Lauf bahn ab. Im Hotel wohnt er in einem Zimmer ohne Fenster. Hoffnungslos treibt er im Opium-Zwischenhandel dahin und versinkt selber oft im Rausch. Bertie Russel, ein reicher Adliger aus England, ehemals Alkoholiker und Kokainabhängiger, verfällt einem neuen Rauschgift, dem Opium. Nach wiederholten Exzessen in Klubs und Bordells bittet er seine Frau um Verzeihung und schlägt vor: »Komm, laß uns wegfahren. Was tun wir hier in diesem Dreckloch?« (ebd.: 457). Aber seine Frau hört nicht mehr auf ihn, ja tötet ihn sogar letztendlich. Madame Helen Russel, eigentlich Jelena Trubova, erlebt in Shanghai zum ersten Mal in ihrem Leben die Liebe. Eine Hochstaplerin ohne Gefühl, die mit ihrem schönen Aussehen und ihrer Sprachbegabung emporgekommen war, hatte die Männer nur als Material betrachtet, bis sie Frank Taylor, einen Amerikaner, kennenlernt. Die beim Tanzen auf blühenden Emotionen wachsen so sehr an, dass Helen anfängt, die schon lang geplante Hochzeit Taylors mit einer anderen Frau, der amerikanischen Krankenschwester Ruth Anderson, zu hintertreiben. Ihre entfesselten Emotionen gipfeln in dem Mord an ihrem Ehemann, während Frank Taylor zu seiner Verlobten zurückkehrt. Auch eine andere Ehe von Gästen hält nicht. Der ehemalige Militärarzt jüdischer Abstammung, Doktor Emanuel Hain, fühlte sich zwar nie jüdisch, musste aber Deutschland verlassen. Er hofft auf das Zusammenleben mit seiner deutschen Frau, bekommt aber nach dreijähriger Trennung einen Abschiedsbrief von ihr, die an das Dritte Reich zu glauben beginnt. Privat unglücklich, ist er auch beruflich als früherer Meisteroperateur unzufrieden. Er kann sich kulturell nicht anpassen, und die fremde Sprache macht seine Integration noch schwieriger. Das Hotel als westliches Biotop bietet ihm zwar einen Zufluchtsort an. Der Raum ist aber gesellschaftlich abgeschottet. Yoshio Murata, ein japanischer Redakteur, bekommt kein Zimmer – wie Herr Kringelein im Grand Hotel. Für ihn ist das Hotel immer ausgebucht. Darüber hinaus wird er auf der Dachterrasse von den Kellnern »abserviert«. Die Frau seines Lebens, Jelena Trubova, mit der er in Paris kurz zusammen war, kann sich bei den Begegnungen im Hotel nicht mehr an ihn erinnern. Er kann nicht zu »Europa« gehören. Andererseits kann sich Yoshio, der lange in Amerika und Europa lebte und Fremdsprachen beherrscht, nicht mehr gut in seinem Heimatland integrieren. Seine japanische Frau, das perfekte modan gāru [»Modern Girl«, eine japanische Variante der »neuen Frau«], sieht blass aus im Vergleich
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zu Jelena und langweilt ihn nur. Beruflich ist er auch gescheitert, wie die anderen männlichen Romanfiguren. Yoshio ist nirgendwo zu Hause. Aus der Konstellation der Figuren, die sich in dieser Krisensituation verknüpfen, seien nur die unerwiderte Liebe und die kulturellen, gesellschaftlichen Dissonanzen herausgestellt: »Die Stimmung hier ist wie im Massengrab« (ebd.: 464). Doktor Hain erspart sich den Selbstmord, Kurt stirbt im Rausch und Yoshio ist »dankbar vielleicht in der Sekunde des Todes für die chinesische Bombe, die sein leeres, zweckloses Leben mit kriegerischem Aufwand begräbt« (ebd.: 603). Ruth und Frank sterben im Glück. Jelena beendet ihr Leiden. Was sie sieht, ist das, als was sie sich selbst ansieht: »Ein zerbrochenes Stück Kristall unter den Trümmern« (ebd.: 604). Hier wird das Hotel letztlich zur Endstation aller Sehnsüchte und damit zur Endstation des Lebens.
3. G r and H otels in der japanischen L iter atur In Hotel Savoy und Menschen im Hotel wird das Hotel als Symbol für Zivilisation und Ästhetik einer neuen Ära dargestellt, es entpuppt sich aber bald als Verkörperung des kapitalistisch-materialistischen Prinzips. Die Grand Hotels, die am Anfang des 20. Jahrhunderts gegründet wurden, hatten ihre Hochkonjunktur in den Zwanzigerjahren. Ihr Glanz endete mit der Wirtschaftskrise und der Kriegszeit. Wie das Hotel in Hotel Shanghai am Ende bombardiert wird, verschwindet die Gesellschaft im Hotel zusammen mit ihrer Bühne. In der japanischen Literatur derselben Zeit spielte das Hotel keine solche Rolle. Das Hotel wurde nicht als gesellschaftlicher Schauplatz thematisiert. Im Zusammenhang des Prozesses der Modernisierung und Industrialisierung in Anlehnung an westliche Vorbilder, der von der Meiji-Regierung seit 1868 vorangetrieben wurde, entstanden in Japan moderne Hotelanlagen. Sie sollten den westlichen Maßstäben entsprechen, um ausländische Gäste angemessen empfangen zu können. In der japanischen Hotelgeschichte werden zuerst das Nagasaki-ya in Edo5 und das Ōsaka nagasaki-ya in Osaka während der Genroku-Zeit (1688-1703) genannt (vgl. Unyushō 1947: 1). Sie waren aber in japanischen Geschäftsgebäuden untergebrachte Quartiere für die Holländer, die regelmäßig von 5 | Die alte Bezeichnung für Tokyo bis 1868.
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ihrer Handelsstation in Nagasaki in Südjapan nach Edo reisten, und keine im westlichen Stil gebauten Häuser. Als erstes modernes Hotel wurde das Hoteru kan (auch Tsukiji hoteru kan genannt)6 1867 im Stadtviertel Tsukiji in Tokyo eröffnet. Dieser europäische Hotelbau mit 102 Zimmern wurde von dem amerikanischen Architekten Richard Perkins Bridgens entworfen und auf Kosten der Regierung errichtet (vgl. Shigematsu 1967: 9-11). Später entstanden weitere Hotels sowohl in Großstädten wie Tokyo, Yokohama, Nagoya, Kyoto, Osaka und Kobe als auch in Touristenorten wie Nara, Nikkō und Hakone, denn immer mehr Ausländer besuchten Japan zu touristischen und wissenschaftlichen Zwecken. Nach dem RussischJapanischen Krieg von 1904 bis 1905 erlebte das siegreiche Land die goldene Gründungszeit der Hotels, um die steigende Zahl von Besuchern aus dem Ausland unterzubringen (vgl. ebd.: 23). Diese Hotels, deren Errichtung auch die Regierung empfahl und unterstützte, richteten sich auf die Zukunft und präsentierten die Modernität und kulturelle Offenheit des Landes, was das traditionelle japanische Gästehaus ryokan [wörtlich: das Haus während der Reise] nicht leisten konnte. Die neue Gattung Hotel repräsentierte einen neuen, fremden und urbanen Lebensstil: Im Zimmer schlief man im Bett statt auf dem futon, man wusch sich im westlichen Badezimmer, im Restaurant aß man mit Besteck statt mit Stäbchen. Das Hotel, das die Modernität des Westens symbolisierte, prägte den sozialen Status, und der Abstand zur herkömmlichen Lebensweise scheint eine gewisse Anpassungsfähigkeit verlangt zu haben. Eine Erfolgsgeschichte des Romanhelden wie in Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, der sich in den gesellschaftlichen Rollen des Hotels gut auskennt und seine Karriere als Bellboy im Grand Hotel in Paris beginnt, ist in Japan nicht geschrieben worden. Eine kulturelle Neuheit wie das Hotel wurde eher kulturkritisch betrachtet. Ein typisches Beispiel ist bei Natsume Sōseki zu finden. Das Imperial Hotel (Teikoku hoteru) in Tokyo, dessen ersten Plan die deutschen Architekten Wilhelm Böckmann und Hermann Ende lieferten, wurde kurz nach Baubeginn von Watanabe Yuzuru neu als Renaissance-Gebäude konzipiert. Das Luxushotel wurde 1887 eröffnet, und 1917 6 | Das Hotel wurde 1872 durch ein Feuer zerstört. Dieses Feuer, genannt »Das große Feuer in Ginza«, hat diesen infrastrukturell wichtigen Bezirk von Tokyo heimgesucht, und einige andere Hotels, das Edo Hotel und das Seiyōken Hotel, sind ebenfalls von diesem Feuer zerstört worden.
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begannen die Bauarbeiten für ein neues Gebäude als Erweiterung des Hotels unter der Leitung von Frank Lloyd Wright. Das neue Gebäude wurde 1924 fertig gestellt. Zu den Hotelgästen gehörten Königsfamilien, Politiker, Diplomaten, Unternehmer wie Rockefeller und Berühmtheiten wie Charlie Chaplin. Das Hotel galt als »privates Auswärtiges Amt« (Inumaru 1968: 101). Das Publikum des Imperial Hotels symbolisierte die feine westliche Gesellschaft. In dem Erstlingsroman von Natsume Sōseki, Wagahai wa neko de aru (1906; dt. Ich der Kater, 1996), beobachtet der Kater dies aber kritisch: »Stimmt es denn nicht, dass sie [die Japaner, K. K-W.] im Abendkleid [eigtl. in der Abendkleidung, K. K.-W.], diesem Höhepunkt der Unvernunft, mit stolz geschwellter Brust zum Kaiserlichen Hotel [im Original: Imperial Hotel (Teikoku hoteru), K. K.-W.] wandeln!? [...] Europäer sind mächtig, also folge man ihrem Vorbild – auch wenn man sich selbst dabei zum Narren macht. Bücke dich vor den Starken! Beuge dich den Mächtigen! Und [...] sich zerdrücken zu lassen!? Sollten Sie allerdings die Meinung vertreten, es hülfe ja doch nichts, auch wenn es von Dummheit zeugt, so sei Ihnen vergeben. Aber unterlassen Sie es bitte in diesem Fall dann auch, Japaner für bedeutende Wesen zu halten!« (Natsume 1996 [1906]: 322).
Der Kater hält die Geschichte der Menschen für »eine Geschichte der Kleidung« (ebd.). Da er aber die Entwicklung der Gesellschaftskleidung im Westen komisch findet, scheinen ihm die Japaner noch komischer, die diese umstandslos nachahmen. Die kulturkritische Betrachtung des Katers richtet sich dabei nicht nur auf die Gesellschaftskleidung, sondern auch auf das Imperial Hotel selbst als Gesellschaftsbühne. Die Architektur aus dem Westen, die das Stadtbild ändert, hat neue, hybride Baustile hervorgebracht: gi-yōfū kenchiku [mimetisch-westliche Architektur] und wayō kenchiku [japanisch-westliche Architektur]. Letztere wirkt äußerlich ganz westlich, ist aber technisch ganz traditionell japanisch gebaut, wie z. B. das erwähnte Tsukiji hoteru kan. Der erstere Baustil ist eine Kombination von traditionellen Tempel-Bauformen mit der europäischen Ästhetik. Ein typisches Beispiel ist das Nara Hotel. Dieses 1909 eröffnete stattliche Hotel in der historischen Stadt Nara ist eines der ältesten Grand Hotels. In Tanizaki Jun’ichirōs Roman Sasameyuki (1948; dt. Die Schwestern Makioka, 1964) wird am Hotel jedoch herumgemäkelt. Sadanosuke reserviert für seine Frau Sachiko ein Zimmer im Nara Hotel, um ein entspanntes, ungestörtes Wochenende zu verbringen.
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Die beiden haben aber irgendwie Läusebisse bekommen, wahrscheinlich im Hotel. Sachiko vermerkt dazu: »Das ist ja ein abscheuliches Hotel. Unfreundliches Personal, schlechte Bedienung und dazu noch Wanzen!« (Tanizaki 1964 [1948]: 515). Dieses unglückliche Wochenende kompensieren sie durch einen Besuch im anderen, viel neueren Fuji View Hotel am Kawaguchi-See, das seinem Namen gemäß einen hervorragenden Blick auf den Berg Fuji bietet. Anders als das schwermütige Nara Hotel, »dessen weißes Holz im Laufe der Jahre stark nachgedunkelt war« (ebd.: 517), waren dort »Säulen und Wände selbst in den hintersten Ecken makellos weiß« (ebd.: 518). Das Fuji View Hotel, das zur Fujiya hoteru kabushikigaisha [Fujiya Hotel Aktiengesellschaft]7 gehört, wurde im modernen japanischen Stil gebaut und 1936 eröffnet (vgl. Unyushō 1947: 214). Die beiden Hotels zeigen den Kontrast zwischen alt und neu. Im Gegensatz zur alten, tempelreichen Stadt Nara ist Hakone in der freien Natur angesiedelt und hat mit dem Blick auf das Sinnbild des Landes, den Berg Fuji, das Potenzial, sich zu einem modernen Urlaubsort zu entwickeln. Die 27 Jahre Unterschied zwischen den beiden Eröffnungsjahren der Hotels markieren auch den Rezeptionsprozess der westlichen Bau- und Lebensweise in Japan. Der Roman, der zwischen 1936 und 1941 in Osaka spielt, stellt die Urbanisierung der Region und den modernisierten Lebensstil dar. Das Paar, das bereits westliches Kulturgut im Alltag aufnimmt (Kleidung, Essen, Wein, Sadanosukes Leidenschaft für Leica Kameras) und privat Kontakt zu Europäern hat, ist typisch für die spätere Rezeption des Hotelwesens. Das Hotel bietet als Tempel der Neuheiten wie ein Kaleidoskop verschiedene Bildansichten. Die autobiografische Erzählung Haguruma [Das Zahnrad] von Akutagawa Ryūnosuke wurde im Frühling 1927 geschrieben und erschien 1928 nach dem Freitod des Schriftstellers im Juli 1927 aus dem Nachlass. Sie beginnt mit einer Fahrt von Kamakura nach Tokyo wegen eines Hochzeitbankettes, zu dem der Protagonist, ein Schriftsteller, eingeladen wurde. Das Hotel, das neben Hochhäusern und nicht weit vom Stadtviertel Nihonbashi entfernt liegt, lässt das Imperial Hotel als Vorbild vermuten, aber weder Name noch konkrete Merkmale werden erwähnt. Der Protagonist und Ich-Erzähler wird von unheimlichen Visio7 | Das Fujiya Hotel ist im Jahr 1878 in Hakone als erstes Urlaubshotel für ausländische Gäste entstanden und hat als führendes Hotelunternehmen mehrere weitere Hotels gebaut.
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nen, unglücklichen Erinnerungen, wahnhaften Todesanzeichen und von Kopfschmerzen gequält und sieht als Phantasma ein Zahnrad am Rande seines Sichtfeldes. Beim Bankett sieht er Maden im Fleisch und legt Messer und Gabel zur Seite. In der Eingangshalle des Hotels sieht er auf dem Sofa einen Regenmantel, der ihn an seinen ertrunkenen Schwager erinnert. Nach dem Hochzeitsfest wohnt er weiter im Hotel, dessen Flur ihm aber »eher ein Gefängnis als ein Hotel« (Akutagawa 1958: 18) zu sein scheint. Das Hotel ist ein Gefängnis und gleichzeitig Zufluchtsort, wo er noch schreiben kann. Er läuft in der Stadt umher, geht in eine Buchhandlung, in ein Café, in eine Bar, und kehrt immer wieder zum Hotel zurück. Er wandelt zwischen Wahn und Wirklichkeit. Nachdem er die letzte Münze und das letzte Schlafmittel benutzt hat, hat er im Bett liegend das Gefühl, jemand hätte ihm zugeflüstert: »Le diable est mort« [Der Teufel ist gestorben] (ebd.: 34). Er beschließt, nach Hause zu fahren. Zu Hause äußert seine Frau ihre Angst, dass der Tod sich ihm nahen würde. Das Hotel ist in dieser Geschichte ein Zwischenraum zwischen außen und innen. Diese Zwischenlage hält den Protagonisten auf der Schwelle zwischen Wahn und Wirklichkeit. Das Hotel liegt in der Metropole, die sich in kürzester Zeit so geändert hat und mit neu eingeführten Kulturgütern zugestellt ist, und erregt illusionär und diabolisch verwirrende Fantasien. In den Romanen von Dazai Osamu stellt das Hotel eine kurzfristige Zwischenstation dar. In Kyokō no haru [Der fiktive Frühling] (1937) und Hi no tori [Der Phönix] (1940) ist der Protagonist ein Schriftsteller, der im Imperial Hotel wohnt. Es geht in beiden Romanen um die Unzufriedenheit mit dem eigenen schriftstellerischen Leben, eine gewisse Nachlässigkeit gegenüber dem Leben, Alkohol, Frauen und den Doppelselbstmord als letzte Zuflucht. Im ersteren heißt es lakonisch: »Die Frau ist nach der gemeinsamen Nacht im Imperial Hotel gestorben« (Dazai 1998, Bd. 2: 440), im letzteren nüchtern: »Das gesamte Hotel schlief bis zum nächsten Morgen lautlos. Susuki Otohiko war völlig leblos« (Dazai 1998, Bd. 3: 318). Der Name wird zwar genannt, aber die Konkretisierung des Handlungsortes spielt weniger eine Rolle, es sei denn, dass dadurch die noch nicht ganz so schlechte Finanzlage der Figuren angedeutet wird. Für Dazai, für den der Tod, genauer der Doppelselbstmord, ständiges Thema und dann auch Schicksal seines Lebens wurde, war das Hotel nichts anderes als eine Kulisse. Oder anders gesagt, das Hotel war in seiner Zeit als Schauplatz vertrauter als in der Sōsekis.
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Die Literatur ist der Spiegel der Gesellschaft. Auf der Bühne der Literatur wird eine gesellschaftliche Verortung vorgenommen. Die Symbole des Hotels – wie Modernität, Zivilisation und Urbanität, ferner Luxus und Erfolg – sind einerseits die Lingua franca der industriell erneuerten, globalisierten Welt, in der die Differenzen von Ost und West mehr oder weniger aufgehoben werden, andererseits ändert sich der Stellenwert dieser Zeichen, je nachdem wie das Hotelwesen rezipiert wird. In diesem Sinne befindet sich das Hotel, das die Welt zu sich holt, ständig in einem interkulturellen Modifizierungsprozess, und die Ästhetisierung der Hotelräumlichkeit ist somit auch ein Kompromiss zwischen dem global Gängigen und dem lokal Spezifischen. Das Hotel ist ein interkultureller Schauplatz, auf dem gesellschaftliche Gegensätze zwischen innen und außen, zwischen Ost und West aufeinandertreffen und sich modifizieren.
L iter aturverzeichnis Primärliteratur Akutagawa, Ryūnosuke (1958): Akutagawa Ryūnosuke zenshū. Bd. 4, Tōkyō. Baum, Vicki (32008 [1929]): Menschen im Hotel, Köln. Baum, Vicki (2007 [1939]): Hotel Shanghai, Köln. Dazai, Osamu (1998): Dazai Osamu zenshū. Bd. 2. u. Bd. 3, Tōkyō. Mann, Thomas (21996 [1924]): Der Zauberberg, Frankfurt a. M. Natsume, Sōseki (1996 [1906]): Ich der Kater, aus dem Japanischen u. mit einem Nachwort v. Otto Putz, Frankfurt a. M./Leipzig. Roth, Joseph (1989): Werke. Bd. 2, hg. v. Fritz Hackert u. Klaus Westermann, Köln. Roth, Joseph (2006 [1924]): Hotel Savoy, Köln. Tanizaki, Jun’ichirō (2006 [1924]): Die Schwestern Makioka, aus dem Japanischen v. Sachiko Yatsuhiro unter Mitarbeit v. Ulla Hengst, Reinbek b. Hamburg.
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Sekundärliteratur Becker, Sabine (1999/2000): »Großstädtische Metamorphosen. Vicki Baums Roman Menschen im Hotel«, in: Jahrbuch zur Literatur der Weimarer Republik 5, S. 167-194. Bertschik, Julia (22008): »›Ihr Name war ein Begriff wie Melissengeist oder Leibnizkekse‹. Vicki Baum und der Berliner Ullstein-Verlag«, in: Walter Fähnders/Helga Karrenbrock (Hg.): Autorinnen der Weimarer Republik, Bielefeld, S. 119-135. Bronsen, David (1974): Joseph Roth. Eine Biographie, Köln. Gruber, Eckhard (2007): »Weder Adlon noch Eden – sondern Ullsteinhaus, dritter Stock«, in: Cordula Seger/Reinhard G. Wittmann (Hg.): Grand Hotel. Bühne der Literatur, München/Hamburg, S. 101-111. Hartmann, Telse (2006): Kultur und Identität. Szenarien der Deplatzierung im Werk Joseph Roths, Tübingen/Basel. Inumaru, Ichirō (1968): Teikoku hoteru, Tōkyō u. a. Mergenthaler, Volker (2009/2010): »›In zeitlicher Nachbarschaft‹ zur ›Aufhebung des Ausnahmezustandes‹. Joseph Roths Hotel Savoy in der Frankfurter Zeitung«, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik 13/14, S. 53-73. Nottelmann, Nicole (2009): Die Karrieren der Vicki Baum, Köln. Seger, Cordula (2007): »Die literarische Bühne Grand Hotel«, in: Dies./ Reinhard G. Wittmann (Hg.): Grand Hotel. Bühne der Literatur, München/Hamburg, S. 8-25. Shigematsu, Atsuo (1967): Hoteru monogatari. Nihon no hoteru shi, Tōkyō. Struc, Roman S. (1975): »Die slawische Welt im Werke Joseph Roths«, in: David Bronsen (Hg.): Joseph Roth und die Tradition, Darmstadt, S. 318-344. Tacke, Alexandra (2016): Schnitzlers »Fräulein Else« und die nackte Wahrheit. Novelle, Verfilmungen und Bearbeitungen, Wien/Köln/Weimar. Unyushō [Verkehrsministerium] (1947): Nihon hoteru ryakushi, Tōkyō. Wilheimer, Lars (2015): Transit-Orte in der Literatur: Eisenbahn – Hotel – Hafen – Flughafen, Bielefeld. Wunberg, Gotthart (1994): »Joseph Roths Hotel Savoy (1924) im Kontext der Zwanziger Jahre«, in: Michael Kessler/Fritz Hackert (Hg.): Joseph Roth. Interpretation – Rezeption – Kritik, Tübingen, S. 449-462.
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Tuberkulose-Sanatorien in den Japanischen und Schweizer Alpen Thomas Manns Zauberberg und Hori Tatsuos Kaze tachinu Christopher Schelletter »The TB patient was thought to be helped, even cured, by a change in environment. There was a notion that TB was a wet disease, a disease of humid and dank cities. The inside of the body became damp (›moisture in the lungs‹ was a favored locution) and had to be dried out. Doctors advised travel to high, dry places – the mountains, the desert« (Sontag 1990 [1977]: 15). »Das Leben in so einem Bergsanatorium bringt seine ganz eigenen Lebensbedingungen mit sich […]« (Kaze tachinu, 1 HTZ 1: 479).
1. Z ur E inleitung : M iya z aki H ayaos A nimationsfilm K aze tachinu In seinem Film Kaze tachinu (dt. Wie der Wind sich hebt), der auf seinem gleichnamigen Manga basiert, lässt Regisseur Miyazaki Hayao in einem Hotel in den Japanischen Alpen einen Deutschen mit markant langer Nase auftreten. Es ist der Protagonist von Thomas Manns Zauberberg, 1 | Seitenangaben mit der Sigle HTZ 1 (Band 1 der Hori Tatsuo-Gesamtausgabe) nachfolgend im Fließtext. Die Sigle HTZ wird auch für andere Bände der Gesamtausgabe verwendet.
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Hans Castorp. Der Autor des Zauberberg selbst schreibt, er habe seinen Protagonisten »[i]m Gewimmel des Weltkrieges […] aus den Augen verloren« (GW2 XI: 601) – in Miyazakis Animationsfilm hat es ihn nach Japan verschlagen. Im Film verlautet er, sich auf dem Zauberberg zu befinden, und das mitten in den Japanischen Alpen. Als Künstler steht es Miyazaki selbstredend zu, mit seinen Figuren umzugehen, wie es ihm beliebt, auch Thomas Mann pflegte bekanntlich einen eher freien Umgang mit seinen Prätexten. Die künstlerische Freiheit steht außer Frage, aber was war nun der Anlass, dass Miyazaki sich dazu entschloss, den Protagonisten aus Thomas Manns Roman, den um zwei Dekaden gealterten Hans Castorp, in seinem Film auftreten zu lassen und dazu noch über den Roman reden zu lassen, dessen Held er ist? Miyazakis Animationsfilm basiert vornehmlich auf zwei Prätexten. Zum einen auf Hori Tatsuos Erzählung Kaze tachinu [Der Wind hebt sich], von der Miyazaki auch den Titel seines Films bzw. seines Mangas übernommen hat.3 Hori erzählt die Geschichte eines jungen Mannes, der sich in der Bergwelt in eine Tuberkulose-Patientin verliebt. Er verlobt sich mit ihr und begleitet sie ein Jahr später erneut in die Bergwelt in ein Sanatorium, in dem sie schlussendlich ihrer Krankheit erliegt. Ein Jahr später kehrt er in die Bergwelt zurück, wo er ihrer gedenkt. Als zweiter Prätext dient Miyazaki für seinen Film die Biografie des Flugzeugingenieurs und Erfinders der Mitsubishi Zero, Horikoshi Jirō. Durch diesen intertextuellen Bezug bekam der Film seine politische Explosivität. Für den SPIEGEL schreibt Moritz Piehler: »Linke Kreise warfen Miyazaki Verherrlichung eines Kriegshelden vor. Konservative rieben sich wiederum an dem Film, weil sich Miyazaki gleichzeitig in einem Artikel gegen die von der konservativen Partei vorgeschlagenen Verfassungsänderungen aussprach, mit denen der Ausbau des japanischen Militärs vorangetrieben werden sollte.« 4
2 | Thomas Mann, Gesammelte Werke. Seitenangaben mit der Sigle GW und Bandangabe nachfolgend im Fließtext. 3 | Für einen Vergleich von Horis Original mit Miyazakis Manga- und Film-Adaption vgl. Bader 2017. 4 | ›http://www.spiegel.de/kultur/kino/hayao-miyazakis-let z ter-anime-filmwie-der-wind-sich-hebt-a-981263.html‹ (Zugriff am 10. 12. 2017).
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In Miyazakis Film trifft Horikoshi seine Frau in jenem Berghotel wieder, in dem sich auch der Held des Zauberberg, Hans Castorp, aufhält. In seinem Film Kaze tachinu führt Miyazaki somit die beiden Bergsanatoriums-Romane Zauberberg (1924) von Thomas Mann und Hori Tatsuos Kaze tachinu (1936-1938) zusammen. Dieser Umstand hat dazu beigetragen, dass oft eine Beeinflussung des früheren auf den späteren Bergwelt-Roman angenommen wird, und was läge bei den frappierenden topographischen und thematischen Parallelen näher? Beide Romane spielen in Sanatorien und verhandeln Themen wie Liebe, Tod und den täglichen Umgang mit der Krankheit Tuberkulose. In beiden Texten findet sich der Genuss eines dekadenten Wohnens vor dem Hintergrund von Tod und Krankheit in einem Sanatorium, das zugleich auch die Funktion eines Hotels für wohlbetuchte Menschen einnimmt. In beiden Erzählungen sind die Handlungsorte in der Bergwelt zu verorten, der eine in den Schweizer, der andere in den Japanischen Alpen, was sie bei all den Ähnlichkeiten für einen Vergleich prädestiniert. Beide Texte sind Teil einer Literatur, die über das Leben im Ausnahmezustand, dem Leben in der Wohnform »Lungensanatorium« schreibt, deren Repräsentation in den beiden Texten dargestellt und verglichen werden soll.5
2. B iogr afie als P r äte x t Beide Erzählungen, der Zauberberg und Kaze tachinu, haben ähnliche Umstände ihrer Entstehung: Als Katia Mann aufgrund eines Lungenspitzenkatarrhs in Davos in Kur ging, besuchte sie Thomas Mann. In seinem Lebensabriß von 1930 heißt es dazu: »Im Jahre 1912 war meine Frau an einem Lungenspitzenkatarrh erkrankt und mußte zweimal, in diesem Jahre und aufs neue im übernächsten, eine Reihe von Monaten im Schweizer Hochgebirge verbringen. Im Mai und Juni 1912 verbrachte ich drei Wochen als Hospitant bei ihr in Davos und sammelte – aber das Wort ent5 | Während es zahlreiche motivische Parallelen gibt, können die beiden Texte, was ihre Erzählperspektive betrifft, nicht unterschiedlicher sein. Thomas Manns Zauberberg ist ein Paradebeispiel für einen Text mit einem auktorialen Erzähler, während es in Kaze tachinu einen Ich-Erzähler gibt, weshalb Hori Tatsuo schreibt, Kaze tachinu sei »nichts weiter als mein Monolog« (HTZ 4: 124).
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spricht sehr schlecht der Passivität meiner Erlebnisart – jene wunderlichen Milieueindrücke, aus denen die Hörselbergidee zu einer knappen Novelle sich bildete […]« (GW XI: 125).
Im dortigen Sanatorium erkrankte er an Fieber, und der leitende Arzt des Lungensanatoriums, ein gewisser Professor Jessen, empfahl Thomas Mann einen längeren Sanatoriumsaufenthalt (vgl. Sprecher 1996: 24ff.). Im Gegensatz zum Protagonisten seines Romans, Hans Castorp, gelang Thomas Mann die Abreise vom Zauberberg. Auch Hori Tatsuo besuchte seine an Tuberkulose erkrankte Verlobte in einem Sanatorium in den Bergen. Er selbst litt an einer chronischen Lungenkrankheit, die zunächst nur als Lungenentzündung diagnostiziert wurde, sich aber zu einer Tuberkulose entwickelte, und an der er 1953 im Alter von 48 Jahren sterben sollte. In Karuizawa in der Präfektur Nagano traf er im Sommer 1933 eine junge Frau, mit der er sich im folgenden Jahr verlobte. Als sie 1935 zusammen in das Sanatorium am Fuße des Yatsugatake fuhren, war die Tuberkuloseerkrankung von Hori Tatsuos Verlobter Ayako weitaus gravierender als die Katia Manns. Sicherlich war diese Zeit für Hori auch emotional belastender als für Thomas Mann. Der essentielle Anstoß zur Entstehung von Kaze tachinu ist also Hori Tatsuos Biografie, die ihn in das Sanatorium gebracht hat, und keineswegs die Lektüre von Thomas Manns Zauberberg. Dafür, dass Hori den Zauberberg gelesen haben könnte,6 ließen sich keine Belege finden, es ist auch unwahrscheinlich, da Thomas Mann – den Hori zwar zu den »erstklassigen Schriftstellern der Gegenwart« 7 zählt – nicht zu den von Hori favorisierten Schriftstellern gehört hat (in einem Notizbuch schreibt er, 6 | Dem Namen nach war Manns Roman Hori bekannt. In Horis Aufzeichnungen findet sich eine Liste mit den wichtigsten Werken der europäischen Literatur von 1794 bis 1937. Der Zauberberg ist unter seinem Erscheinungsjahr aufgeführt (vgl. HTZ 7.2: 340). 7 | HTZ 4: 271. Hori nennt Mann im Zusammenhang mit Werbung in der Yomiuri shinbun für die von Hori, Yokomitsu Riichi und Kawabata Yasunari u. a. herausgegebene Zeitschrift Bungaku, in der auch Übersetzungen »erstklassiger Schriftsteller der Gegenwart« erscheinen sollten. Darunter u. a. »Gide, Proust, Valéry, Cocteau, Breton, Mann, Joyce« (HTZ 4: 271). Bezeichnend ist die überproportionale Nennung französischer Autoren. Schlussendlich ist kein Aufsatz über oder Text von Thomas Mann in der Zeitschrift erschienen.
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Mann sei ein »schwer zugänglicher, anspruchsvoller Intellektueller« (kimuzukashi-ya no interi) (HTZ 7.2: 228). Hori hatte zwar zunächst an der sogenannten Ersten Oberschule (Daiichi kōtō gakkō) Deutsch zur Fremdsprache gewählt, da er beabsichtigte, Arzt oder Mathematiker zu werden (vgl. Ogawa 1978: 32ff.), folglich hat er sich auch mit der deutschen Literatur beschäftigt, und da der stark vom deutschen Bildungsbegriff geprägte Bildungshumanismus (kyōyō-shugi) in Japan damals an den Oberschulen dominant war, wird er sicherlich von deutscher Seite beeinflusst worden sein.8 Hori sollte sich jedoch von dem naturwissenschaftlichen Fokus abwenden und dem Studium von Französisch und der französischen Literatur, insbesondere dem französischen Symbolismus zuwenden. Dieser Wandel lässt sich auf seine Freundschaft mit dem Schriftsteller Jinzai Kiyoshi zurückführen, den er an der Ersten Oberschule kennenlernte und der ein starkes Interesse an französischer Literatur hatte und später u. a. Marcel Proust und André Gide übersetzen sollte. Nicht nur zur französischen Literatur, sondern auch zur französischen Malerei und Musik hat Hori zahlreiche theoretische Texte hinterlassen. Der französische Einfluss lässt sich schon in der Wahl des Titels Der Wind hebt sich erkennen, der ein Zitat aus Paul Valérys Le Cimetière marin ist, wo es heißt »Le vent se lève !... il faut tenter de vivre !« (Valéry 2016 [1920]: 678). Dass Hori mit seinen unzureichenden Deutschkenntnissen die Muße dazu hatte, den doch sehr umfangreichen Zauberberg mit seinen hypotaktischen Satzkonstruktionen in der Originalsprache zu lesen, ist unwahrscheinlich, und es findet sich auch kein Beleg dazu in den Briefen oder Notizen, 9 aus denen sich gut ersehen lässt, welche Texte Hori gelesen (und in seinen eigenen Texten verwertet) hat. Beispielsweise bittet er seinen Freund Jinzai Kiyoshi darum, ihm als Bezahlung für seine Hilfe an Jinzais Übersetzung von Gides La Symphonie pastorale Manns Herr und Hund zuzu8 | Zum kyōyō-shugi der Taishō-Zeit vgl. u. a. die Monografien von Tsutsui (2009 [1995]) oder Watanabe (1997). Hori hatte u. a. bei dem für seine Strenge berüchtigten und durch Natsume Sōsekis Sanshirō berühmt gewordenen Iwamoto Tei Deutsch gelernt (vgl. HTZ 4: 136ff.). 9 | Hori hat auch noch Texte auf Deutsch gelesen, wie etwa die deutsche Übersetzung von André Gides La Symphonie pastorale (vgl. HTZ 4: 65f.). An anderer Stelle gibt er jedoch zu, dass seine Deutschkenntnisse nicht gut genug seien, um Goethes Gedichte überfliegen zu können (vgl. HTZ 4: 81). Zu Horis Deutschkenntnissen vgl. auch Iijima 2016: 199.
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schicken (vgl. HTZ 8: 99).10 Der Zauberberg erschien erst vergleichsweise spät, 1939, also nach der Veröffentlichung von Kaze tachinu, in japanischer Übersetzung (vgl. Oguro 2004: 145). Vom Zurückführen des Produktionsanstoßes auf die Vita sollte jedoch keineswegs der Schluss gezogen werden, dass der Aspekt der Intertextualität vollkommen zugunsten eines Biografismus verworfen bzw. die Biografie als einziger Prätext gelten gelassen werden sollte. Iijima Hiroshi etwa führt die Nutzung der Metafiktionalität in Kaze tachinu strukturell auf André Gides Les Faux-monnayeurs zurück. Die in der Gesamtausgabe mitabgedruckten Notizbücher (Bd. 7) und auch Horis Briefwechsel weisen deutlich auf einen Einfluss seitens Rilke und Valéry hin. Hori wusste von Rilkes labilem psychischen Zustand während seines Sanatoriumsaufenthalts und im Chateau de Muzot. Zudem hatte Hori, unter Zuhilfenahme der französischen Übersetzung von Maurice Betz, Rilkes Malte Laurids Brigge ins Japanische übersetzt (vgl. Iijima 2014: 127). Das direkte Adressieren einer verstorbenen fiktiven Figur findet sich, wie auch der elegische, »weinerliche« Schreibstil, bereits in Rilkes Requiem, aus dem auch in Kaze tachinu zitiert wird (vgl. HTZ 1: 541ff.). Was die intertextuelle Verflechtung im Zauberberg betrifft, so ist sie zu komplex, als dass man sie auch nur skizzieren könnte, und auch die Zahl der Publikationen zu dem Thema ist kaum zu überschauen. Einige wichtige Aspekte der Intertextualität sollen aber im Folgenden noch aufgegriffen werden. Zum Zwecke eines Textvergleichs, der »einen Erkenntnisgewinn liefert, der durch einen Einzeltext allein nicht zu haben ist« (Selbmann 2017: 18), bleibt die Intertextualität auch eher sekundär, da »der Vorgang des Vergleichens keinen eigentlichen Prätext zu[lässt]« (ebd.: 16).
10 | An anderer Stelle schreibt er in einem Brief vom 12. Juli 1935 an den Lyriker Tachihara Michizō: »Das Nachwort von Thomas Mann ist in der Buchserie Epkoin« (HTZ 8: 109). Wahrscheinlich hat Hori mit Tachihara über Thomas Manns Aufsatz »Zu Goethes ›Wahlverwandtschaften‹« diskutiert, der in der Buchserie Epikon erschienen ist. Hori wird die Buchstaben verdreht haben. In einem Brief an den Germanisten Ōyama Teiichi vom 19. Juli 1937 schreibt er, wie er einen Mitarbeiter des Verlags Sōgensha an Ōyama zur Auskunft über Thomas Mann und Rilke zum Zwecke der Zusammenstellung einer Buchreihe vermittelt hat.
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3. K urgebie te als tr ansnationale B egegnungsstätten Trotz eklatanter motivischer Analogien liegt im Verständnis von Genette also höchstwahrscheinlich keine intertextuelle Beziehung, keine »effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text« (Genette 1993: 10), noch weniger eine hypertextuelle Beziehung zwischen den beiden Texten vor. Muss also von einer zufälligen Übereinstimmung gesprochen werden? Sicherlich werden in beiden Erzählungen viele Klischees des Lebens mit der Tuberkulose bedient, die sich schon in zahlreichen vorangegangenen Texten, in denen die Krankheit thematisiert wird, finden lassen. Beide Erzählungen greifen zudem auf dieselbe Wohnform, das hermetisch durch Berge abgegrenzte Tuberkulose-Sanatorium zurück, über die sich viele motivische Analogien erklären lassen. Dabei kommt es bei der Darstellung des alltäglichen Lebens in den Heilanstalten zu vielen Gemeinsamkeiten, die sich auch aus dem Bezug zur historischen Wohnform »Lungensanatorium in der Bergwelt« ergeben. Dass sich die Sanatorien in zwei unterschiedlichen Kulturzonen befinden, ist dabei eher irrelevant, denn der Kurort Karuizawa (in Kaze tachinu »K.«) und das Fujimi-Hochebenensanatorium (»F.«)11 wurden nach europäischem Vorbild errichtet, nachdem die Region 1886 von dem kanadischen Missionar Alexander Croft Shaw und dem Professor für englische Literatur an der Universität Tokyo, James Main Dixon, als Höhenluftidylle »entdeckt« und popularisiert wurde. Unter den Ausländern, die in den Folgejahren nach Karuizawa strömten, befanden sich viele Geistliche, und auch bei Japanern erfreute sich die Gegend als Resort immer größerer Beliebtheit (vgl. Inumaru 2011: 27f.). Als Hori 1923 zum ersten Mal Karuizawa besucht, schreibt er an seinen Freund Jinzai Kiyoshi: »Die Leute sind hier wie in den bewegten Bildern (katsudō shashin), die Leute, die man auf der Straße trifft, sind alle Ausländer und man hört nur Fremdsprachen...« (HTZ 8: 15). In dem Essay »Etoranje« aus dem Jahr 1932 schreibt er: »Dieses Jahr schlage ich mein Lager im Hotel Karuizawa auf. […] In dem Hotel bin ich der einzige Japaner. Auch im Speisezimmer und im Salon begegnen mir nur Westler« (HTZ 4: 41). Folglich halten sich auch im fiktiven Karuizawa 11 | Das reale Sanatorium, das als Vorlage für das fiktive gedient hat, liegt wie in der Erzählung beschrieben am Fuße des Yatsugatake, gut fünfzig Kilometer von Karuizawa entfernt. Erst als der Ich-Erzähler nach dem Ableben seiner Verlobten in die Bergwelt zurückkehrt, fährt er nach Karuizawa.
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in Kaze tachinu viele Ausländer in der Bergwelt auf, und auch die christliche Mission wird repräsentiert. In dem Tal von Karuizawa haben sie sich schon lange vor der Romanzeit Villen gebaut (vgl. HTZ 1: 530). Was das reale Davos betrifft,12 war es zu der Zeit, in der Katia Mann es besuchte, berühmt für seine Höhenluft, von der man dachte, sie könne die Tuberkulose heilen. »Es war Sitte«, heißt es in ihren Memoiren, »wenn man die Mittel dazu hatte, wurde man nach Davos oder Arosa geschickt« (Mann 1974: 78). So kam es in Davos zu dem Phänomen einer multinationalen Zusammenkunft wohlhabender Bürger. Die vielen Hotels und Villen wurden sowohl in Davos als auch in Karuizawa zum Symbol des exklusiven Freizeitlebens der Hautevolee. Beide Orte sind also durchaus der Alltagswelt entrückt. Da Davos in gewissem Maße als Vorbild für die Einrichtung des realen Karuizawa als Luftkurort gedient hat, sind die thematischen Parallelen in den beiden Erzählungen weniger erstaunlich. Dies trifft etwa auf die Internationalität des Publikums in beiden fiktionalen Bergwelten zu. Zu einem Ausflug Castorps mit seinem Vetter Joachim und einer Patientin, derer sich die beiden angenommen haben, in den Ort Davos im Zauberberg 13 lesen wir: »Es war eine bunte Versammlung, in der die drei Kranken, die Vettern und ihr Schützling sich umsahen. Engländer mit schottischen Mützen und weißen Zähnen sprachen Französisch mit penetrant duftenden Damen, die von oben bis unten in bunte Wolle gekleidet waren, und von denen einige in Hosen gingen. Kleinköpfige Amerikaner, das Haar glatt angeklebt, die Shagpfeife im Munde, trugen Pelze, deren Rauhseite nach außen gekehrt war. Russen, bärtig und elegant, barbarisch reichen Ansehens, und Holländer von malaischem Kreuzungstyp saßen zwischen deutschem und schweizerischem Publikum, während allerlei Unbestimmtes, französisch Redendes, vom Balkan oder der Levante, abenteuerliche Welt, für die Hans Castorp eine gewisse Schwäche an den Tag legte, und die von Joachim als zweideutig und charakterlos abgelehnt wurde, überall eingesprengt war« (GKFA 5.1: 478).
Als transnationale Begegnungsstätten haben die Kurorte einen utopischen Charakter: Es sind Refugien, in dem man einerseits die Muße fin12 | Zum realen Davos als Vorlage vgl. die grundlegende Studie von Sprecher 1996. 13 | Seitenangaben mit der Sigle GKFA 5.1 nachfolgend im Fließtext.
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det, sich einer Innerlichkeit zuzuwenden, und andererseits ist man hier von Realpolitik und Alltagssorgen hermetisch abgeschieden.
4. H erme tische B ergwelten Die hermetische Abgeschiedenheit der beiden Bergwelten wird schon durch die Anreise ihrer Protagonisten deutlich. Bei der Beschreibung des Weges wird ersichtlich, dass nicht allein irdische Entfernungsmaßeinheiten das profane Flachland von der Höhenwelt trennen. Die hypotaktischen Satzkonstruktionen weisen in beiden Erzählungen sowohl auf die Fülle der Eindrücke als auch auf das Endlose der Reise hin. »Ich« beschreibt die Anfahrt wie folgt: »Unser Zug ist immer wieder die Berge erstiegen, entlang der tiefsten Schluchten gefahren, und dann, nachdem wir weite Gebiete reich an Weinfeldern, die sich plötzlich vor uns erschlossen hatten, durchquert hatten, als wir, nach einem mühseligen Ersteigen, das kein Ende haben wollte, endlich in der Bergregion angelangt waren, kam uns der Himmel immer weiter entgegen, und eine alles umschließende pechschwarze Wolke zerstreute sich uns unbemerkt und lag nun schwer über unseren Köpfen« (HTZ 1: 474, Hervorh. v. C. S.).
Auch die Beschreibung des Weges im Zauberberg in die Region ist mit vielen Sinnbildern ausgestattet. Zum Zauberberg »geht [es] durch mehrerer Herren Länder, bergauf und bergab, von der süddeutschen Hochebene hinunter zum Gestade des Schwäbischen Meeres und zu Schiff über seine springenden Wellen hin, dahin über Schlünde, die früher für unergründlich galten«, doch erst als es bergauf geht, »beginnt der eigentlich abenteuerliche Teil der Fahrt, ein jäher und zäher Aufstieg, der nicht enden zu wollen scheint« (GKFA 5.1: 11, Hervorh. v. C. S.). Das Ziel von Hans Castorps Reise ist die »heilig-phantasmagorisch sich türmende Gipfelwelt des Hochgebirges« (GKFA 5.1: 14). Thomas Mann lässt seinen Protagonisten sogar aus dem Lethe trinken, um ihn sein bisheriges bürgerliches Leben, »seine Pflichten, Interessen, Sorgen, Aussichten« (GKFA 5.1: 12) vollkommen vergessen zu machen: »Zeit, sagt man, ist Lethe; aber auch Fernluft ist so ein Trank, und sollte sie weniger gründlich wirken, so tut sie es dafür desto rascher«, heißt es, und kurz vor seiner Ankunft entdeckt Castorp »in landschaftlicher Ferne« (GKFA 5.1: 14) einen See, dessen Be-
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schreibung nur allzu bedrohlich ist: »[S]eine Flut war grau, und schwarz stiegen Fichtenwälder neben seinen Ufern an den umgebenden Höhen hinan, wurden dünn weiter oben, verloren sich und ließen nebelig-kahles Gestein zurück« (GKFA 5.1: 14). Nun sind Seen bekanntlich stehende Gewässer und haben keine »Flut«, womit Mann seinen Protagonisten aus dem antiken Unterweltfluss trinken lässt. Dass sich Castorp auf dem Zauberberg auch tatsächlich weniger in der Höhen- als in der Unterwelt befindet,14 wird im Gespräch mit »Satanas« Settembrini ersichtlich, der Castorp durch Homer- und Virgil-Zitate zum Helden des Nekyia-Mythos macht (vgl. GKFA 5.1: 90). Schon der Titel des Romans macht darauf aufmerksam, dass es in der Höhenwelt, in der auch im Sommer Schnee fällt – in Kaze tachinu fällt er noch im April (vgl. HTZ 1: 475f.) –, nicht mit rechten Dingen zugeht: »Zauberberg: Das ist ein verwunschener, ein verzauberter Berg; ein Ort, an dem es nicht mit rechten Dingen zugeht; ein Ort, an dem der Mensch Dinge erlebt, von denen er höchstens geträumt hat. Zauberberge sind so alt wie die menschliche Phantasie. Auf unzugänglichen Höhen oder in Höhlen bergen und entbergen sie Geheimnisse, die den Menschen erschauern lassen« (Wysling 1995: 43).
Kurzum, ein Zauberberg ist einer jener Orte, die Aleida Assmann unter »Heilige Orte und mythische Landschaften« (Assmann 42009 [1999]: 303ff.) kategorisiert. Hier leben Götter und Fabelwesen, zudem sind solche Orte in höchstem Maße symbolisch aufgeladen (ebd.: 299ff.). Folglich bedarf es, auch im Falle von Hori Tatsuos Kaze tachinu, einer Unterscheidung zwischen dem Ort der sozialen Interaktion, dem Sanatorium, und der verzauberten Bergwelt. Als »heiliger Ort und mythische Landschaft« wird die Besonderheit des Zauberberges im Zauberberg auch durch die Anspielung auf vorhergegangene verwunschene Berge generiert, wie dem Olymp, dem Brocken aus dem Faust und dem Berg, in dem Tannhäuser gefangen ist. Nicht nur in seinem Lebensabriß beschreibt Thomas Mann sein Konzept zum Zauberberg als »Hörselbergidee«,15 denn auf dem Zau14 | Vgl. hierzu Wysling 1995, insb. S. 44ff. und im selben Sammelband Heftrich 1995, insb. S. 231ff. 15 | Vgl. auch Thomas Mann 1995: 106. Siehe auch Mikhail Bakhtins Konzept einer »fairy-tale time«: »This time is characterized precisely by a violation of normal temporal categories: for example, the work of several years is done in one
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berberg ist der Protagonist Hans Castorp für »sieben Märchenjahre« (GW XI: 604) wie Tannhäuser im Inneren des Venusberges im Bann des Berges gefangen: Die Bergwelt ist ein »isolierter Raum« und »in sich räumlich zeitig geschlossen«.16 Dabei sind beide Protagonisten, Hans Castorp und »Ich«, also der IchErzähler aus Kaze tachinu, freiwillig auf dem Berg und könnten ihn auch jederzeit wieder verlassen, was ihnen auch mehrfach nahegelegt wird. Beide gehen nicht ins Sanatorium, um ihre eigene Krankheit zu heilen, sondern um andere Personen zu besuchen. Nachdem Hans Castorp von Hofarzt Behrens nahegelegt wurde, länger das Sanatorium zu besuchen, und sich Hans Castorp in das alltägliche Leben eingelebt hat, rechtfertigt er eine Verlängerung des Aufenthalts vor sich selbst und anderen, indem er immer wieder seine »feuchten Stellen« und seine »erhöhte Temperatur« betont. Dass Castorp den Berg nicht verlassen will und auf ihm gefangen ist, wird besonders deutlich, als er sich Hofrat Behrens’ Weisungen entgegenstellt und nicht als geheilt das Sanatorium verlässt.17 »Er blieb«, so Mann im Selbstkommentar, »er fand Gefallen an dem Ort der Kranken, er machte gute Miene zu ihrem verzweifelt lustigen Spiel und trieb es bei sich so weit, ein kleines, nichtssagendes Leiden zu entwickeln, weil er offenbar, als einziger Gesunder unter so vielen Ungesunden, sich sonst krankhaft vorgekommen wäre« (GW XI: 600). Dieses Motiv findet sich auch in Kaze tachinu wieder. Die Verlobte des Ich-Erzählers hat sich mit ihrem Schicksal abgefunden, und statt nun auf Besserung zu hoffen, will sie ihre letzten Tage im Liebesglück auskosten. In einem resignierten Ton sagt sie: »[E]s wäre schön, könnten wir immer auf diese Weise
night or, conversely, a year passes in one moment (the bewitched dream motif)« (Bakhtin 1986: 15). 16 | Moll 2015: 124. Björn Moll argumentiert darüber hinaus, die Hermetik der »Bühne Bergwelt« (vgl. dazu ebd.: 120ff.) mache es zu einem »Experimentalsetting« (vgl. dazu ebd. das Kapitel »Experimente«, S. 109-153). 17 | Hans Castorp ist nicht der einzige Patient des Sanatoriums, der sich nicht von ihm trennen kann. Von Settembrini wird eine gewisse Ottilie Kneifer vorgestellt, die gelogen hat, um auf dem Zauberberg bleiben zu dürfen. Es ist auch Settembrini, der Castorp darauf hinweist, dass die anderen Patienten des Sanatoriums nur vorgeben, ungern im Sanatorium auf dem Zauberberg zu sein (vgl. GKFA 5.1: 335).
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leben«18 (HTZ 1: 483). Der Ich-Erzähler ist zunächst – genauso wie Settembrini im Zauberberg – empört, dabei genießt auch er das Glück, das ihnen die Atmosphäre der Höhenwelt bereitet, und auch er denkt nicht im Entferntesten daran abzureisen.
5. P erpe tuierung der R outine In sein Tagebuch notiert Hori am 20. August 1929: »Es lässt sich sagen, dass bei Autoren wie Proust, Mann und Joyce die ›Zeit‹ der Protagonist der Romane ist« (HTZ 7.2: 613). Da diese Beobachtung vom Zauberberg abgeleitet sein muss, spräche der Tagebucheintrag für eine Beeinflussung – wenn auch nur eine strukturelle, da Hori, wie gesagt, den Roman wahrscheinlich nicht gelesen hat – von u. a. dem Zauberberg. Da die Einflussfrage unmöglich zu lösen ist und zum Zwecke eines Textvergleichs auch nur sekundär ist, sei nur darauf hingewiesen, dass Horis Beobachtung gut mit Thomas Manns Selbstinterpretation übereinstimmt. Für Mann ist sein Zauberberg ein »Zeitroman in doppeltem Sinn«, weil er erstens »das innere Bild einer Epoche […] zu entwerfen versucht«, und zweitens, »weil die reine Zeit selbst sein Gegenstand ist« (GW XI: 611).19 In Kaze tachinu hingegen gibt es keinen auktorialen Erzähler, der über Spezifika der 18 | Dieses Motiv findet sich auch schon in der japanischen Literatur in Tokutomi Rokas Hototogisu wieder. Die an Tuberkulose erkrankte Frau des Protagonisten genießt ihre Krankheit, in der sie mit ihrem Mann zusammenleben kann. Als er ihr verbietet, mit ihm das Sanatorium zu verlassen, reagiert sie wie folgt: »›Du willst mitkommen? Auf gar keinen Fall. Das lehne ich vehement ab. Betrage dich noch ein wenig, als hätte man dich auf einer Insel ausgesetzt. Haha.‹ ›Hohoho, wenn das bedeutet, auf einer Insel ausgesetzt zu sein, dann wäre ich am liebsten das ganze Leben lang eine Ausgesetzte‹« (Tokutomi 1999 [1898-1899]: 155). 19 | Neben dieser Außergewöhnlichkeit erfand Thomas Mann im Zauberberg quasi en passant die Unterscheidung zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit (vgl. Vogt 11 2014 [1972]: 100ff.): »Die Erzählung«, so der Erzähler im Zauberberg, »hat zweierlei Zeit: ihre eigene erstens, die musikalisch reale, die ihren Ablauf, ihre Erscheinung bedingt; zweitens aber die ihres Inhalts, die perspektivisch ist, und zwar in so verschiedenem Maße, daß die imaginäre Zeit der Erzählung fast, ja völlig mit ihrer musikalischen zusammenfallen, sich aber auch sternenweit von ihr entfernen kann« (GKFA 5.1: 816f.).
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Zeit belehrt, sondern einen Ich-Erzähler, der seine subjektiven Empfindungen mitteilt. Trotz unterschiedlicher Erzählperspektiven finden sich jedoch auch in Bezug auf Zeit und Zeitwahrnehmung weitere Analogien zwischen den Erzählungen, konkreter: Anomalien, die textimmanent durch die hermetische Natur des Ortes generiert werden. Diese subjektiven Wahrnehmungen werden durch die Routine ausgelöst; sie bestimmt das Leben in den Sanatorien. Der hermetische Charakter der Bergwelt grenzt ihre Bewohner von dem profanen Zusammenleben ab und unterwirft sie nun einer neuen Ordnung. In seiner Vorlesungsreihe zum Thema »Wie zusammen leben« verwendet Roland Barthes den Begriff der »Idiorrhythmie«, um die Rolle des Individuums in einer derartigen Gruppe zu beschreiben. Der Begriff bezieht sich auf die Mönche vom Berg Athos, die als autonome Individuen in der Gesellschaft des Klosters zusammenlebten. Er lässt sich aber auch, wie Roland Barthes anhand des Zauberbergs gezeigt hat, auf das Zusammenleben im Sanatorium und somit auch auf Kaze tachinu anwenden, denn auch hier oszilliert das Leben zwischen hermetisch abgeschiedener, zweisamer Innerlichkeit einerseits und organisiert strukturiertem Miteinander andererseits. Die Protagonisten beider Erzählungen müssen ihr eigenes (idios) Leben dem Rhythmus (rhythmos) der Ordnung der Sanatorien anpassen. Das private, intime Liebesglück in Kaze tachinu und die (ironische) Fokussierung auf Hans Castorps innere Entwicklung im Zauberberg, der bezeichnenderweise Gesellschafts- und zugleich Bildungsroman(-Parodie) ist, findet in beiden Erzählungen innerhalb des Rasters eines getakteten Zeitplans zwischen Früh-, Mittag- und Abendessen und Maßnahmen gegen die Tuberkuloseerkrankung wie das Sonnenbaden oder das tägliche Fiebermessen statt. Die übliche lineare Zeiteinteilung wird durch ein »Noch« und »Wieder« ersetzt, »deren Vermischung und Verwischung das zeitlose Immer und Ewig ergibt« (GKFA 5.1: 822). Auf diese Weise kommt es, wie Thomas Mann in der Einführung in den Zauberberg erklärt, zu einer »hermetische[n] Verzauberung seines jungen Helden ins Zeitlose«. Das Buch strebe »durch seine künstlerischen Mittel die Auf hebung der Zeit an durch den Versuch, der musikalisch-ideellen Gesamtwelt, die es umfaßt, in jedem Augenblick volle Präsenz zu verleihen und ein magisches ›nunc stans‹ herzustellen« (GW XI: 612, Hervorh.
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v. C. S.). Im folgenden Zitat findet sich ein Übergang aus der Routine20 in das besagte »nunc stans«. Der Erzähler fordert zu Beginn des Kapitels »Ewigkeitssuppe« dazu auf, man solle sich erinnern, »wie rasch eine Reihe, ja eine ›lange‹ Reihe von Tagen vergeht, die man als Kranker im Bette verbringt: es ist immer derselbe Tag, der sich wiederholt; aber da es immer derselbe ist, so ist es im Grunde wenig korrekt, von ›Wiederholung‹ zu sprechen; es sollte von Einerleiheit, von einem stehenden Jetzt oder von der Ewigkeit die Rede sein. Man bringt dir die Mittagssuppe, wie man sie dir gestern brachte und sie dir morgen bringen wird. Und in demselben Augenblick weht es dich an – du weißt nicht, wie und woher; dir schwindelt, indes du die Suppe kommen siehst, die Zeitformen verschwimmen dir, rinnen ineinander, und was sich als wahre Form des Seins dir enthüllt, ist eine ausdehnungslose Gegenwart, in welcher man dir ewig die Suppe bringt« (GKFA 5.1: 279f.).
Dasselbe Motiv eines »nunc stans«, das aus der Routine heraus generiert wird, findet sich auch in Kaze tachinu.21 »Ein Tag glich dem anderen,« bemerkt der Ich-Erzähler, nachdem seine Verlobte Blut gespuckt hat, »wir lebten in einer Ruhe, als ob nichts vorgefallen wäre« (HTZ 1: 523). »[J]eden Morgen« (HTZ 1: 480) werden sie von Nachtigall und Kuckuck geweckt, und es kommt dieselbe Krankenschwester (vgl. HTZ 1: 478). Zwischen den alltäglichen Routinen gehen die beiden Liebenden einem dekadenten Leben nach, dessen einziges Ziel es ist, die letzten Tage im Leben der Frau zusammen voll auszukosten: »Versuche ich mich an die ersten Tage, deren Reiz von einer einmaligen Einfachheit stammte und die ich fast ständig am Kopfende von Setsukos Bett verbracht habe, 20 | Als Metapher für das immer Wiederkehrende wird im Zauberberg das Karussell bemüht: »[E]s gibt keine Richtungsdauer, und die Ewigkeit ist nicht ›geradeaus, geradeaus‹, sondern ›Karussell, Karussell‹« (GKFA 5.1: 560). Dieses Verständnis von Zeit erinnert an Nietzsches Konzept der »Ewigen Wiederkunft des Gleichen« (vgl. dazu Karthaus 1970: 275ff.). 21 | Dieses Motiv lässt sich auf eine Beobachtung Horis zu Dostojewskis Schuld und Sühne zurückführen. In dem Tagebucheintrag vom 8. August 1929 notiert Hori: »Im Schweigen ist die Zeit selbst angehalten, dachte ich« (HTZ 7.2: 615). Im selben Eintrag steht ganz unvermittelt stichpunktartig »›Proust und Zeit‹« (HTZ 7.2: 614).
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zu erinnern, dann kommt es mir vor, als könne ich nicht mehr unterscheiden, was an jenen Tagen – einer glich dem anderen – vorher und was nachher passiert ist. Oder vielmehr hatte ich sogar den Eindruck, dass, während wir diese ähnlichen Tage wiederholten, wir eines Tages vollständig aus der Zeit gefallen waren [itsuka mattaku jikan to iu mono kara nukedashite shimatte ita]. Und an solchen Tagen, an denen wir der Zeit entronnen waren, hatten sogar die trivialsten Kleinigkeiten aus unserem Alltag jedes für sich ihren eigenen Charme, wie sie es bisher nicht gehabt hatten« (HTZ 1: 481, Hervorh. v. C. S.).
Es gelingt beiden Protagonisten, den – krankheitsbedingt nur temporären – Moment der Liebe aus der Routine in die Unendlichkeit zu perpetuieren.22 Die Krankheit wird dabei paradoxerweise nicht verdammt, sondern ganz im Gegenteil begrüßt, denn eine Erhöhung der Fieberkurve hat auch ein erhöhtes Liebesglück zur Folge:23 »Das einzige Vorkommnis dieser Tage war, dass sie von Zeit zu Zeit ein Fieber entwickelte. Gewiss ließ es nach und nach ihren Körper schwächer werden. Doch weil wir an solchen Tagen den Reiz der sich nicht im geringsten verändernden Tagesrou22 | Vgl. dazu auch eine Textstelle aus Arthur Schnitzlers Novelle Sterben, die in Übersetzung Mori Ōgais als Miren vorliegt: »Ein schwerer glühender Sommer war herangekommen mit heissen sengenden Tagen, lauen lüsternen Nächten. Jeder brachte den vorigen, jede Nacht die verwichene zurück; die Zeit stand stille. Und sie waren allein. Nur um einander kümmerten sie sich, der Wald, der See, das kleine Haus, – das war ihre Welt. Eine wohlige Schwüle hüllte sie ein, in der sie des Denkens vergassen. Sorglose lachende Nächte, müde zärtliche Tage flohen über sie hin« (Schnitzler 2012 [1894]: 80). Zu dem »Aus-der-Zeit-gefallen-sein« vgl. auch Iijima 2016: 69ff., der Proust heranzieht. 23 | Zum Verständnis der Verbindung zwischen Fieber und Tuberkulose und auch einer Entwicklung der Krankheit aus der Leidenschaft, die unten noch in Bezug zur Psychosomatik angesprochen werden soll: »The most striking similarity between the myths of TB and of cancer is that both are, or were, understood as diseases of passion. Fever in TB was a sign of an inward burning: the tubercular is someone ›consumed‹ by ardor, that ardor leading to the dissolution of the body. The use of metaphors drawn from TB to describe love – the image of a ›diseased‹ love, of a passion that ›consumes‹ – long antedates the Romantic movement« (Sontag 1990 [1977]: 20).
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tine noch bewusster, noch bedachter auskosteten, als ob wir versuchten, heimlich den Geschmack einer verbotenen Frucht zu probieren, würden wir in solchen Momenten das Glück in unserem Leben, das etwas nach Tod schmeckte, vollständig aufbewahren« (HTZ 1: 481).
Das Glück, das das Leben im Lungensanatorium bringt, wird schon in der ersten idyllischen Szene mit dem Baum, Sommer und der Malerei vorweggenommen. In ihr wird die sorgenfreie Liebe symbolisiert, und durch den Iterativ »an einem Nachmittag solcher Tage« (HTZ 1: 452) wird die später folgende Alltagsroutine im Sanatorium angedeutet. Doch dann mischt sich von den beiden »unbemerkt« von »irgendwoher« (HTZ 1: 452) die Krankheit in Form des Windes in das Alltagsglück.24 Als Reaktion auf den Windstoß lässt »Ich« das Valéry-Zitat folgen, es wird zum Tenor und Leitmotiv der Geschichte, in der es die Todesmissachtung des Paares repräsentiert, und auch zum Schluss der Erzählung heult der Wind erneut auf, denn nun muss der einsame Protagonist erneut versuchen, sich mit der neuen Situation zu arrangieren, ohne seine Verlobte zu sein, d. h. er muss erneut »versuchen zu leben«. Im Zauberberg kommt auch Hans Castorp im »Schnee«-Kapitel, wenn auch nur kurz, zu der Einsicht: »Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken« (GKFA 5.1: 748, kursiv im Original). Das Schneetreiben überlebt Hans Castorp in dem Moment, als er zu der Erkenntnis kommt: »Il faut tenter de vivre«.
6. I ntensivierung – S ublimation – »S teigerung « Im Zauberberg lässt sich die Verbindung von Liebe und Krankheit durch die Vorträge von Dr. Krokowski belegen, für den die Liebe eine »krankheitsbildende Macht« (z. B. GKFA 5.1: 554) ist. Castorp ist also krank aus Liebe nach der femme fatale Clawdia Chauchat. So ist es kein Wunder, dass er nach jeder Annäherung, besonders nach der Liebesnacht mit der »kirgisenäugigen« Russin, wie von ihr prophezeit, eine erhöhte Temperatur hat (vgl. GKFA 5.1: 358 u. 520). Krankheit sei eine »sekundäre Erscheinung« (z. B. GKFA 5.1: 337) der Liebe; es ist die Liebe, die nach Dr. Kro24 | Auch die »pechschwarze Wolke«, die über den beiden Liebenden auf dem Weg zum Bergsanatorium liegt, hat dieselbe symbolische Funktion.
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kowskis Theorie der Psychosomatik zur Krankheit wird. Die Krankheit wird so der Liebe gleichgesetzt; der Tod wird der Erotik gegenübergestellt (Eros und Thanatos-Symbolik), es ergibt sich eine »Mischung von Tod und Amüsement« (GW XI: 607). Die beiden Höhepunkte der Liebe (das Schäferstündchen in der Walpurgisnacht) und des Todes (von Castorp im Ersten Weltkrieg) werden im Zauberberg nur implizit angesprochen und bleiben Leerstellen. Auch in Kaze tachinu, dessen Reiz sich aus der Vermischung einer lebensfrohen Liebesgeschichte mit einer elegischen Krankheitschronik ergibt, werden die gleichen Höhepunkte, die Verlobung zum einen und der Tod der femme fragile Setsuko zum anderen, nicht geschildert. Gerade die wichtigsten Ereignisse des Romans werden ausgespart, um stattdessen ihre Wirkung auf das langfristige Alltagsleben aufzuzeigen. In diesem Sinne bedeutet ein höherer Krankheitsgrad in Kaze tachinu auch ein erhöhtes Liebesglück, da die durch die Krankheit konsekrierte25 Liebe noch intensiver erlebt wird; die Fieberkurve kann als Gradmesser der Intensität der Liebe angesehen werden. Wie auch im Zauberberg lässt sich hier von einer durch die hermetische Bergwelt und die Krankheit ermöglichten »Steigerung« einer bereits emphatischen Empfindung reden. Thomas Mann hatte Goethes Begriff übernommen (vgl. Goethe 8 1981 [1828]: 48f.), um ein Prinzip zu bezeichnen, nach dem der »schlichte Mensch« (GKFA 5.1: 987) Hans Castorp qua perfectibilité-Gedanke Rousseaus ganz im Sinne des Bildungsromans sublimiert werden soll. Ermöglicht wird die »Steigerung« durch die hermetische Abgeschlossenheit vom profanen Leben in der Bergwelt. »[H]ier oben« könne er Gespräche führen, behauptet Castorp, »zum Teil über Gegenstände von denen ich unten überhaupt keinen Deut begriffen hätte. Aber hier sehr wohl; hier waren sie mir sehr wichtig und naheliegend« (GKFA 5.1: 498).26 Mit 25 | »TB is a disease of time; it speeds up life, highlights it, spiritualizes it« (Sontag 1990 [1977]: 14). Und: »[T]he standard representation of a death from TB places the emphasis on the perfected sublimation of feeling« (ebd.: 25). 26 | Vgl. dazu auch Manns Kommentar in der Einführung in den Zauberberg: »In der fieberhaften Hermetik des Zauberberges aber erfährt dieser schlichte Stoff [Hans Castorp, C. S.] eine Steigerung, die ihn zu moralischen, geistigen und sinnlichen Abenteuern fähig macht, von denen er sich in der Welt, die immer ironisch als das ›Flachland‹ bezeichnet wird, nie hätte etwas hätte träumen lassen« (GW XI: 612).
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»Steigerung« ist im Zauberberg 27 eine »alchimistisch-hermetische Pädagogik«, eine »Transsubstantiation, und zwar zum Höheren« (GKFA 5.1: 902) gemeint; ermöglicht wird sie, wie auch das intensivierte Liebesglück in Kaze tachinu, durch Bergwelt und Krankheit als »Katalysatoren«. Für Settembrini, so Mann in der Einführung in den Zauberberg, seien »Tod und Krankheit und alle makabren Abenteuer […] ja gerade das pädagogische Mittel, durch das eine gewaltige ›Steigerung‹ und Förderung des schlichten Helden über seine ursprüngliche Verfassung hinaus erzielt wird. Sie sind, eben als Erziehungsmittel, weitgehend positiv gewertet« (GW XI: 613, Hervorh. v. C. S.). Lässt sich nicht sagen, dass auch in Kaze tachinu Tod und Krankheit als Mittel zur Steigerung der Liebeserfahrung, wenn nicht gar der Sexualität,28 »weitgehend positiv gewertet« sind? Die Protagonisten können vor dem Hintergrund, den die Wohnform Sanatorium zur Verfügung stellt, und vor dem des Todes die Liebeserfahrung in ihrer gesteigerten Form genießen, in einem »Leben, dessen Merkwürdigkeit wir Tag um Tag in einem Gebäude umringt von den Kranken so unbekümmert lebten« (HTZ 1: 502). Eine Erhöhung der Liebe durch die Tuberkulose findet auch insofern statt, als durch sie eine ordinär-glückliche Liebesbeziehung durch die Krankheit zu einer individuell-fatalistischen sublimiert wird. Erst durch die Tuberkulose kann es zu einem »merkwürdigen Liebesleben«29 (HTZ 1: 480) kommen, das überhaupt erst für eine belletristische Umsetzung qualifiziert. Auch erhöht die Krankheit den weiblichen Reiz der Verlobten. »Der intellektuelle Name für ›Liebe‹ lautet ›Interesse‹« (GKFA 13.1: 82), schreibt Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen 27 | Bei Goethe ist die Steigerung nur in Verbindung mit dem Begriff der »Polarität« zu verstehen (vgl. Goethe 81981 [1828]: 48f.), den Mann nicht mit berücksichtigt zu haben scheint. Bei ihm ist »Steigerung« synonym zu »Sublimierung«. 28 | »TB was – still is – thought to produce spells of euphoria, increased appetite, exacerbated sexual desire. Part of the regimen for patients in The Magic Mountain is a second breakfast, eaten with gusto. […] Having TB was imagined to be an aphrodisiac, and to confer extraordinary powers of seduction« (Sontag 1990 [1977]: 13). 29 | Im Original fūgawari na ai no seikatsu (風變りな愛の生活). Es muss davon ausgegangen werden, dass Hori Tatsuo gezielt die Kanji genutzt hat. Durch sie erschließt sich, dass es das Sinnbild für die Krankheit, der »Wind« (風) ist, der der Liebe (愛) eine »merkwürdige« Eigenschaft verleiht.
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– diese Auffassung wird in Bezug auf Tuberkulose durch Susan Sontag bestärkt (vgl. Sontag 1990 [1977]: 31ff.), die argumentiert, die Tuberkulose könne jenes Interesse wecken: »[T]he dying tubercular is pictured as made more beautiful and more soulful« (ebd.: 17). Dieser Effekt ist in beiden Erzählungen wiederzufinden. »Mme Chauchat ist nicht nur schön, sie ist auch krank«, schreibt Hans Wysling (1995: 48), um den Reiz der Russin auf Hans Castorp zu erklären, und in Kaze tachinu versucht »Ich« seine Verlobte zu trösten, indem er ihr ein Kompliment macht: »Warum verstehst du nicht, dass deine Gebrechlichkeit dich für mich noch reizender macht?« (HTZ 1: 467). Liebe und Krankheit sind somit korrelativ, denn durch den Hintergrund des Todes wird die gemeinsame Zeit bewusster erlebt und verdichtet, und das Interesse der Protagonisten für ihre Partnerinnen ist durch die Krankheit gesteigert. Und doch steht die Liebe für das Leben selbst, das dem drohenden Tode die Stirn bietet. Im Zauberberg, wo Liebe und Tod immer wieder zusammengeführt werden, kommt Castorp im Augenblick seiner höchsten Erleuchtung im »Schnee«-Kapitel zu der Einsicht, dass Liebe und Tod tatsächlich in Opposition zueinander stehen: »Die Liebe steht dem Tod entgegen, nur sie, nicht die Vernunft ist stärker als er« (GKFA 5.1: 748).
L iter aturverzeichnis Primärliteratur Hori, Tatsuo (1977 [1936-1938]): »Kaze tachinu«, in: Hori Tatsuo zenshū. Bd. 1: Shōsetsu jō, hg. v. Inoue Tatsuzō, Tōkyō, S. 450-547 [= HTZ 1]. Hori, Tatsuo (1977-1980): Hori Tatsuo zenshū. Bd. 1-8, Tōkyō. Mann, Thomas (1974): Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt a. M. [= GW]. Mann, Thomas (1995): »Selbstkommentare: ›Der Zauberberg‹«, hg. v. Hans Wysling unter Mitwirkung v. Marianne Eich-Fischer, Frankfurt a. M. Mann, Thomas (32015 [1924]): »Der Zauberberg«, in: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Bd. 5.1, Frankfurt a. M. [= GKFA 5.1].
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Thomas Manns Tetralogie Joseph und seine Brüder ist eine sehr erweiterte Nacherzählung der Geschichte der Genesis vom 12. bis zum 50. Kapitel.1 Sowohl in der Bibel als auch im Roman entwickelt sich Josephs Geschichte folgenderweise: Der junge Joseph wird von seinen Brüdern als Diener verkauft. Aber er überlebt in Ägypten, also im Orient, und gewinnt dort große Macht. Später ereignet sich eine Hungersnot in seiner Heimat, wo seine Brüder und sein Vater noch leben. Zum Schluss lässt Joseph seinen Vater Jaakob, seine Brüder und ihre Familien, d. h. seine gesamte Sippe, nachkommen. In der Bibel sowie im Roman ist diese Josephs-Geschichte mit den Geschichten von Abraham und Jaakob eng verbunden. Wie eng diese Tetralogie mit dem Thema Osten bzw. Orient verbunden ist, zeigt die Untersuchung von Christiane Gabriel (vgl. Gabriel 1990). Sie erwähnt, dass Thomas Mann zwei Begriffe, nämlich den des Mythos und den der Zeit, in den Mittelpunkt seiner Gestaltung des alttestamentarischen Stoffs stellt und sagt dazu: »Das Interesse am Mythisch-Typischen stellt Beziehungen her zwischen den verschiedenen Kulturen, die den vorderasiatischen Schauplatz geprägt haben. Dazu gehören Phönizier, Ägypter, Babylonier, Syrer und die Bewohner des palästinensischen Raumes, zu denen Joseph zählt« (ebd.: 142). Joseph erscheint in Manns Roman2 als »Asiatensohn« (GW IV: 829), und das asiatische Bild wird gegenüber dem zivilisierten Ägypten als wildes und barbarisches beschrieben (vgl. ebd.: 151f.). In diesem Aufsatz hat 1 | Zu Entstehung und Materialien des Josephsromans vgl. Kurzke 1997 [1985]. 2 | Seitenangaben mit der Sigle GW und der Bandangabe nachfolgend im Fließtext.
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auch die Frage großes Gewicht, welche Bedeutung Ägypten für Joseph und Jaakob im Roman unter dem Aspekt von Unterwegssein und Wohnen einnimmt. Beim Vergleich des Textes mit den Bibelstellen wird deutlich, dass Thomas Mann einige grundsätzliche Abweichungen von der Bibel macht, die das Wesen der ursprünglichen Geschichte verändern. Nachfolgend analysiere ich diese Abweichungen unter dem leitenden Aspekt von Unterwegssein und Wohnen.
1. B edeutung des U nterwegsseins in der G enesis und im J osephsroman Der erste Unterschied zwischen der Bibel und dem Roman ist der Grund und das Ziel der Abreise von Abraham. Zuerst betrachte ich, wie dieser Beginn des Unterwegsseins von Abraham in der Bibel beschrieben ist. Hier fängt Abrahams Geschichte im 12. Kapitel der Genesis an, in dem er noch »Abram« genannt wird. Nachdem er auf Gottes Befehl seine Heimat verließ, verspricht Gott ihm, dass das Land Kanaan seiner Nachkommenschaft gegeben wird. »Und er sprach zu ihm: Ich bin der HERR, der dich aus Ur in Chaldäa geführt hat, auf dass ich dir dies Land zu besitzen gebe« (1. Mose 15, 7). Außerdem wird hier schon auf die Geschichte des Volkes Israel in Hinsicht auf den Exodus vorausgedeutet. Im Exodus geht es darum, dass sich die Nachkommenschaft von Joseph und seinen Brüdern in Ägypten zu einem Volk entwickelt hat, welches für die Ägypter Sklavenarbeit verrichten muss. Mose führt dieses Volk aus Ägypten ins verheißene Land Kanaan. »Da sprach der HERR zu Abram: Das sollst du wissen, dass deine Nachkommen Fremdlinge sein werden in einem Lande, das nicht das ihre ist; und da wird man sie zu dienen zwingen und unterdrücken vierhundert Jahre. Aber ich will das Volk richten, dem sie dienen müssen. Danach werden sie ausziehen mit großem Gut. Und du sollst fahren zu deinen Vätern mit Frieden und in gutem Alter begraben werden« (1. Mose 15, 13-15).
Wie hier vorgezeichnet ist, stirbt Abraham dann in Kanaan und wird dort auch begraben. Sein Enkel Jaakob sowie Jaakobs zwölf Söhne und ihre Familien siedeln nach Ägypten um, und dort sterben Joseph und alle Brü-
Unter wegssein und Wohnen in Thomas Manns Josephsroman
der. Am Ende der Genesis sagt Joseph zu seinen Kindern: »Wenn euch Gott heimsuchen wird, so nehmt meine Gebeine mit hinauf von hier« (1. Mose 50, 25). Dieser Wunsch wird überliefert und im Exodus erfüllt, als Moses mit dem jüdischen Volk Ägypten verlässt. »Und Mose nahm mit sich die Gebeine Josefs; denn dieser hatte den Söhnen Israels einen Eid abgenommen und gesprochen: Gott wird sich gewiss euer annehmen; dann führt meine Gebeine von hier mit euch hinauf« (2. Mose 13, 19). Das zeigt, dass die Bibel Joseph als jemanden beschreibt, der auch wünscht, ins verheißene Land, also nach Israel, zu gehen – und sei es als Toter dorthin überführt zu werden. Während die Geschichte der Genesis die Vorgeschichte des Exodus ist und dieses Verlassen der Heimat den Anfang der Diaspora bedeutet, wird das verheißene Land in Thomas Manns Roman nur am Rande thematisiert. Am Anfang des Romans, nämlich in der Überlieferung des Mannes aus Ur, behandelt Thomas Mann dieses Thema. Der Mann aus Ur sei aus Stolz und Liebe entschlossen, seinem Gott ganz allein zu dienen, der der Höchste unter den anderen ist. Er nennt diesen Gott Elohim. Dieser habe ihm »ebenso weitreichende wie fest umschriebene Verheißungen gemacht«, dass »das Land, in dem er nun als Fremder wohne und wohin Elohim ihn aus Chaldäa geführt hätte«, »ihm und seinem Samen zu ewiger Besitzung gegeben werden« solle (GW IV: 13). Aber dann folgen diese Sätze als Erzählerkommentar Manns: »Das ist mit Vorsicht aufzunehmen oder jedenfalls recht zu verstehen. Es handelt sich um späte und zweckvolle Eintragungen, die der Absicht dienen, politische Machtverhältnisse, die sich auf kriegerischem Wege hergestellt, in frühesten Gottesabsichten rechtlich zu befestigen. In Wirklichkeit war das Gemüt des Mondwanderers auf keine Weise geschaffen, politische Verheißungen zu empfangen oder hervorzubringen« (GW IV: 13).
Diese Stelle weist deutlich darauf hin, dass das Unterwegssein im Roman nicht die Reise ins verheißene Land bedeutet, sondern was den Mondwanderer – so wird Abraham bezeichnet – »in Bewegung gesetzt hatte, war geistliche Unruhe, war Gottesnot«, nämlich »Ausstrahlungen seines neuartig-persönlichen Gotteserlebnisses« gewesen (GW IV: 14). Das bedeutet die Entdeckung eines persönlichen Gottes. Entsprechend der Veränderung des Ziels der Reise von Abraham wird die Beschreibung Josephs geändert. Während Joseph in der Bibel am
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Ende um die Beerdigung in seiner Heimat bittet und in Ägypten stirbt, erzählt Thomas Mann im Roman seine Geschichte nicht bis zum Tod Josephs. In der letzten Szene des Romans, nämlich nach der Beerdigung Jaakobs in Kanaan, geht Joseph mit seinen Brüdern nach Ägypten zurück. So heißt der letzte Satz der Tetralogie: »Und so endigt die schöne Geschichte und Gotteserfindung von Joseph und seinen Brüdern« (GW V: 1822). Das Unterwegssein des Romans bedeutet die Geschichte der Entdeckung eines neuartigen, persönlichen und vor allem mobilen Gottes. Bevor ich auf das Unterwegssein als Gottesentdeckung genauer eingehe, will ich einige Abweichungen bei der Beschreibung der Figur Joseph bei Thomas Mann von der biblischen Vorlage angeben. Was bedeutet das Wohnen in Ägypten für Joseph, der im Roman vom Motiv des verheißenen Landes abgetrennt ist?
2. D ie G ottesentdeckung J osephs und die B edeutung des W ohnens in Ä gyp ten im J osephsroman Der erste Unterschied zwischen der Bibel und dem Roman in Hinsicht auf die Figur Joseph ist, dass dieser bis zum vierten Teil des Romans als eine Figur beschrieben ist, die in vielen Bereichen Jesus ähnelt. Mit dieser Beschreibung Josephs als Präfiguration Jesu verbinden sich im Roman die Vorliebe seines Vaters Jaakob für seinen Sohn Joseph und die Segenserbschaft Josephs; beides, Vorliebe wie Segenserbschaft, ist auch in der Bibel zu finden. Diese Segenserbschaft bedeutet, dass Gott den ersten Sohn besonders segnet und dass dessen Familie die Heilslinie, die nach jüdischem Glauben zur Geburt des Messias führen wird, weiterführt. Dieser Komplex der Präfiguration Jesu, der Vorliebe Jaakobs und der Segenserbschaft, wird im Abschnitt »Der Adonishain« deutlich gezeigt. Dort nämlich gehen der siebzehnjährige Joseph und sein Bruder Benjamin zusammen zur Myrtenschlucht und flechten dort einen Myrtenkranz. Benjamin wünscht sich auch einen Kranz. Aber Joseph behält ihn nur für sich. Den Grund seiner Handlung sieht Benjamin darin, dass Joseph sich als Auserwählter, als alleiniger Träger des oben genannten Segens versteht. Während sie den Kranz flechten, reden sie über das Tammuz-Fest. Tammuz ist der Name eines Hirtengottes. Bei diesem Fest suchen Frauen diesen Gott und finden ihn dann zerrissen und tot. Sie klagen und
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begraben ihn. Aber am dritten Tag feiern sie, dass Tammuz auferstanden und sein Grab leer ist. Diese Auferstehungsgeschichte präfiguriert die Auferstehung Jesu. In diesem Zusammenhang wird angedeutet, dass die Myrte ein Todesstrauch und ein Opferschmuck ist. Joseph sagt: »Er [Tammuz, M. T.] steigt in den Abgrund, um daraus hervorzugehen und verherrlicht zu werden« (GW IV: 449). Dieses Motiv findet man an einigen weiteren Stellen, wie bei dem Geschehen, dass Joseph von seinen Brüdern in den Brunnen geworfen wird und dort drei Tage verbringen muss. Die Bibel erzählt allerdings nicht, dass diese Dauer drei Tage ist. Thomas Mann fügt dies hinzu und schreibt, dass »die drei schwarzen Tage« (GW IV: 668) dem Wiedererstehen Josephs vorausgegangen sind. Im Roman wird weiter an diese Wiedergeburt mit Ausdrücken wie »dass deine Mutter die Grube ist« (GW IV: 760) oder »des Brunnens Sohn« (GW IV: 777) erinnert. Aber die Rolle von Joseph ändert sich im Laufe des Romans deutlich, besonders in Hinsicht auf die Segenserbschaft. Seine Rolle in der Heilsgeschichte wird später an seinen Bruder Juda abgegeben. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, dass Joseph mittlerweile in Ägypten wohnt. »Seine [Josephs, M. T.] Rolle und Aufgabe im Plan war die des in die große Welt versetzten Bewahrers, Ernährers und Erretters der Seinen, wie wir sehen werden, und alles spricht dafür, daß er sich dieses Auftrages bewußt war, ihn jedenfalls im Gefühl hatte und seine weltlich-verfremdete Lebensform nicht als die eines Ausgestoßenen, sondern eben nur als eines zu bestimmten Zwecken Abgesonderten verstand, und daß hierauf sein Vertrauen auf die Nachsicht des Herrn der Pläne sich gründete« (GW V: 1520).
Über diese Verwandlung seiner Rolle sprechen Jaakob und Joseph bei ihrem Wiedersehen weiter. Dabei bezieht Jaakob sich auf die Träume, die die Spannung zwischen Joseph und seinen Brüdern verursacht haben. Im ersten Traum binden Jaakob und seine zwölf Söhne Garben auf dem Felde. Dann richtet Josephs Garbe sich auf und steht aufrecht, während sich die Garben der anderen vor Josephs Garbe neigen. Im zweiten Traum neigen sich sogar die Sonne, der Mond und elf Sterne vor ihm. Mit diesen Träumen prahlt der siebzehnjährige Joseph rücksichtslos. Die verärgerten Brüder werfen ihn deshalb in den Brunnen und verkaufen ihn später an einen Kaufmann aus Midian. Jaakob sagt nun zu Joseph:
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»Er [Gott, M. T.] hat dich erhöht über deine Brüder, wie du dir’s träumen ließest – ich habe, mein Liebling, deine Träume immer im Herzen bewahrt. Aber erhöht hat Er dich über sie auf weltliche Weise, nicht im Sinne des Heils und der Segenserbschaft – das Heil trägst du nicht, das Erbe ist dir verwehrt. Du weißt das?« (GW V: 1744f.).
Hier wird sehr deutlich betont, dass das, was Joseph trägt, jetzt eine »weltliche« Rolle ist. Jaakob setzt seine Rede so fort: »Auch Gott liebt dich, Kind, spricht Er dir gleich das Erbe ab und hat mich gestraft, weil ich’s heimlich dir zudachte. Der Erstgeborene bist du in irdischen Dingen und ein Wohltäter, wie den Fremden, so auch Vater und Brüdern. Aber das Heil soll nicht durch dich die Völker erreichen, und die Führerschaft ist dir versagt. Du weißt es?« (GW V: 1745).
Joseph steht also nicht mehr in der Heilslinie, in der er anfänglich noch stand, wie die Tammuz-Szene angedeutet hat. Jaakob sagt weiter, dass Joseph »der Gesonderte« (GW V: 1772) und vom Stamm abgetrennt sei sowie kein eigener Stamm mehr sein soll. Aber warum muss Joseph abgetrennt vom Stamm sein? Aus keinem anderen Grund als dem, dass er in Ägypten wohnt. Ägypten bedeutet hier die »Welt«: »[S]ie [die Brüder, M. T.] hatten ihn doch nicht umsonst verkauft, nicht nur in die Welt nämlich, sondern auch an die Welt, – an sie war er abhanden gekommen, und das Erbe, das der Gefühlvolle [Jaakob, M. T.] ihm [Joseph, M. T.] willkürlich zugedacht, war ihm verwehrt [...]« (GW V: 1773). Welche Bedeutung hat diese Welt, Ägypten, im Roman im Vergleich zu Israel, dem von Gott erwählten Volk? Am Anfang des Romans wird Ägypten beim Gespräch zwischen Jaakob und Joseph am Brunnen aus der Perspektive Jaakobs dargestellt. Wie Jan Assmann ausführlich analysiert hat, hegt Jaakob gegenüber Ägypten viele Vorurteile. Er hält es für das Land der Unterwelt, des Totenkults, der Unzucht, der Schamlosigkeit und des Tierkults (vgl. Assmann 2006: 87). Der junge Joseph hat schon verstanden, dass »Jaakobs Schilderung der Sitten von Mizraim [d. i. der hebräische Name für Ägypten, M. T.] starke Verallgemeinerungen, Einseitigkeiten und Übertreibungen enthielt« (GW IV: 98). Tatsächlich hat Joseph später Ägypten, anders als sich dies in Jaakobs Vorurteilen darstellt, sehr positiv erfahren, hat dort Schrift,
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Bürokratie, Königtum und Sitten aufgenommen (vgl. Assmann 2006: 89). Im Haus Potiphars, seines ägyptischen Dienstherrn, nähert sich Joseph sogar den ägyptischen Göttern an, ohne jedoch seinen persönlichjüdischen Gott dafür aufzugeben. Als er z. B. die Aufgabe erhält, aus Buchrollen für Potiphar vorzulesen, kommentiert Joseph dies, »im Vertrauen auf das schonende Vorübergehen dessen, der ihn nach Ägypten entrückt«, mit dem Satz: »Thot [ein ägyptischer Gott, M. T.] wird mir helfen« (GW IV: 900). Während Joseph im Haus Potiphars noch bewusst zwischen dem eigenen Gott und den ägyptischen Göttern auszubalancieren versucht, wird seine Stellung in Ägypten im vierten Teil noch ambivalenter: »Man darf nicht vergessen, daß des Reiches Herrlichkeit ihn, so sehr er seiner äußeren Gesittung nach zum Ägypter geworden war, im Grunde nichts anging, und daß, so energische Wohltaten er den Dortigen erwies, so umsichtig er dem Öffentlichen diente, sein innerstes Augenmerk doch immer auf Geistlich-Privates und Weltbedeutend-Familiäres, auf die Förderung von Plänen und Absichten gerichtet blieb, die mit dem Wohl und Wehe Mizraims wenig zu tun hatten« (GW V: 1499).
Joseph glaubt zwar noch, dass er immer im Plan Gottes, den dieser in Hinsicht auf das Volk Israel hat, lebt. Aber er wird gleichzeitig auch immer mehr ägyptisch. Während er anfänglich die Liebe der Frau von Potiphar als Sünde abgelehnt hat, heiratet er später die Tochter eines ägyptischen Hohenpriesters. Joseph hält diese Heirat nicht mehr für eine Sünde. Er glaubt, dass er auf das Verständnis seiner Umwelt vertrauen kann: »Es hätte wohl keinen Sinn, uns Sorgen deswegen zu machen trotz aller Implikationen, die dem Schritt anhafteten; denn Joseph schloß ja eine ägyptische Heirat, [...] nicht ohne Vorbild also, aber immerhin von bedenklichem Vorbild und all der Nachsicht bedürftig, deren er sich, wie es scheint, zutraulich versichert hielt« (GW V: 1518).
Zum Schluss, nachdem Jaakob in Ägypten gestorben ist, wünscht Joseph, ihn einzubalsamieren: »Denn der Gesonderte dachte ägyptisch, und sein brennender Wunsch, den Vater zu feiern und seiner Hülle das Beste, Kostbarste zuzuwenden, schlug ganz von selbst die Gedankengänge Ägyptens ein« (GW V: 1807).
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Damit ist Joseph also ganz in der anderen Kultur angekommen, was man als in einer anderen Kultur wohnhaft werden oder einfach als wohnen bezeichnen könnte.3 Wohnen hat ja die Bedeutung, dass die Bewohner in die Gemeinschaft oder die Kultur ihres Aufnahmelandes nun integriert sind. Das wird durch Heirat, Beerdigung oder Teilnahme an anderen religiösen Veranstaltungen und an dem politischen System besonders manifest. Joseph ist in diesem Sinne ägyptisch bzw., aus der Perspektive Israels betrachtet, »weltlich« geworden. Und deswegen wird er auch von seinem Stamm abgetrennt. Denn wie die Eltern Jizchak und Rebekka die Heirat von Esau mit der Frau, die aus einem anderen Volk stammt, verabscheuten, ist die Abgrenzung von anderen Kulturen und Religionen für das Volk Israel entscheidend (vgl. GW IV: 216). Thomas Mann betont am Schluss des Romans, dass dieser Abgesonderte Joseph keinen Blick mehr für das verheißene Land hat. Wie die Bibel auch sagt, so geht Joseph mit seinen Brüdern nach Kanaan, um Jaakob zu begraben. Nach der Beerdigung versöhnen sie sich. Hier lässt Mann nun Joseph zu ihnen sagen: »Morgen wollen wir nach Gottes Rat die Rückfahrt aufnehmen ins drollige Ägyptenland!« (GW V: 1823). Während Joseph in der Bibel darum bittet, nach seinem Tod im verheißenen Land begraben zu werden, fehlt diese Bitte im Roman. Ägypten ist hier im Roman der Ort, an den Joseph zurückgehen will. Wie ich im ersten Abschnitt gezeigt habe, bedeutet das Unterwegssein die Geschichte der Entdeckung eines besonderen, in gewisser Weise neuen, nämlich persönlichen und mobilen Gottes. Während die Götter in Ägypten mit den Städten verbunden sind, wie beispielsweise Amun mit der Stadt Theben, so ist der Gott, den Joseph im Roman entdeckt, ein Gott, der ihn nach Ägypten geschickt hat, der dort bei ihm bleibt und der ihn dort seinen göttlichen Plan ausführen lässt. Aber dieser Gott hat Joseph gleichzeitig von seinem Volk Israel, dessen Heilsgeschichte weiter Juda trägt, abgesondert, weil er in Ägypten, in der Welt, wohnt. In der
3 | Nach dem Historischen Wörterbuch der Philosophie ist »[d]as elementare Nachdenken über das Wohnen im Sinne eines Sich-Niederlassens, Bleibens und Ruhens an einem geschützten Ort« »so alt wie die menschliche Kultur selbst. […] ›Haus‹ […] und ›Wohnstatt‹ wie auch die Tätigkeit des Wohnens selbst […] sind Bildspender für von Metaphern getragene lebensweltliche, ethische und religiöse Reflexionen« (Ritter 2004: 1015).
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Figur des Joseph wird also ein fundamentales Spannungsfeld von Unterwegssein und Wohnen ausgetragen. Für Joseph ist der Weg der Gottesentdeckung aber ein Weg, den auch der ägyptische Pharao gehen kann. Joseph erzählt Jaakob über diesen Pharao, der in Ägypten die Reformation der Religion durchführt, »daß du [Jaakob, M. T.] ihn [Pharao, M. T.] siehst, den zart Bemühten, der recht wohl auf dem Weg ist, wenn auch der Rechte nicht für den Weg« (GW V: 1749).4 Während bei Joseph eine solche Toleranz gegenüber einer anderen Religion besteht, findet man bei Jaakob, der auch einen mobilen Gott entdeckt, noch andere Elemente des Unterwegsseins.
3. D ie G ottesentdeckung J a akobs im J osephsroman Jaakobs Reise nach Ägypten wird im Zusammenhang mit der Gottesentdeckung erzählt. In der Szene vor der Abreise wird auf die Gottesentdeckung von Abram zurückgeblickt, und es wird in diesem Kontext auf ihre Bedeutung reflektiert. Jaakob versteht das ganze Geschehen, also dass Joseph nach Ägypten verkauft und dort erhöht wird, dass die Brüder wegen der Hungersnot nach Ägypten gehen müssen etc., als den Gottesplan für das Volk Israel. Das wird im Roman »Ichbezogenheit« genannt und ist die Voraussetzung für die Gottesentdeckung: »Wer aber auf sich hält, wie Abram es tat, als er entschied, daß er, und in ihm der Mensch, nur dem Höchsten dienen dürfe, der zeigt sich zwar anspruchsvoll, wird aber mit seinem Anspruch vielen ein Segen sein. Darin eben erweist sich der Zusammenhang der Würde des Ich mit der Würde der Menschheit. Der Anspruch des menschlichen Ich auf zentrale Wichtigkeit war die Voraussetzung für die Entdeckung Gottes, und nur gemeinsam, mit dem Erfolge gründlichen Verkommens einer Menschheit, die sich nicht wichtig nimmt, können beide Entdeckungen wieder verlorengehen« (GW V: 1721).
Aber diese »Hochschätzung des Ich« bedeutet keine »Vereinzelung, Abschnürung und Verhärtung gegen das Allgemeine, das Außer- und Überpersönliche, kurz, gegen alles, was über das Ich hinausreicht« (GW V: 1721), sondern die Wiedererkennung des Ich in Gott: 4 | Zu Pharaos Gottesentdeckung vgl. Schwöbel 2008: 196ff.
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»Wenn nämlich Frömmigkeit die Durchdrungenheit ist von der Wichtigkeit des Ich, so ist Feierlichkeit seine Ausdehnung und sein Verfließen ins Immer-Seiende [d. h. in Gott, M. T.], das in ihm wiederkehrt und in dem es sich wiedererkennt, – ein Verlust an Geschlossenheit und Einzeltum, der seiner Würde nicht nur nicht Abbruch tut, ja, sich nicht nur mit dieser Würde verträgt, sondern sie zur Weihe steigert« (GW V: 1721).
Jaakob denkt »weihevoll« an Abram, weil »es ein schwerer Entschluß für Jaakob [war], sich in Gottes Beschluß zu fügen, das Land seiner Väter zu meiden und es zu vertauschen mit dem anstößigen Lande der Tiergötter, dem Land des Schlammes, dem Land der Kinder Chams« (GW V: 1722). Damit ist Ägypten gemeint. Bevor Jaakob erfährt, dass Joseph in Ägypten lebt und ihn dorthin einlädt, denkt Jaakob, dass er in Kanaan, dem verheißenen Land, in welches Abram einwanderte, leben und dort auch sterben kann, obwohl die Prophezeiung, wie oben gesagt, an Abram so gegeben wurde, dass seine Nachkommen Fremdlinge sein werden in einem Lande, das nicht das ihre ist.5 Aber jetzt versteht Jaakob: »Nun stellte sich heraus, daß die Verkündigung, die nicht umsonst mit Schrecken und großer Finsternis verbunden gewesen war, weiter reichte und offenbar auf das nun zu erwandernde Land zielte: Mizraim, das ägyptische Diensthaus. So hatte Jaakob das streng verwaltete Unterland mißbilligend immer genannt [...]« (GW V: 1723).
Er versteht nun auch das Gotteswort, das auch im schon erwähnten Zitat der Genesis steht, richtig: »Sein Auf bruch war mit der Einsicht belastet, daß die bedrohliche Fortsetzung der Gottesanzeige: ›Und da wird man sie zu dienen zwingen und plagen vierhundert Jahre‹ sich auf das Land bezog, wohin er auf brach [...]« (GW V: 1723). Jaakob fürchtet sich vor der
5 | Vgl. wo Thomas Mann diese Bibelstelle zitiert: »Locker und auf Widerruf, wie die Väter, und stets als ein halber Fremder, wie sie, hatte er in dem von Abram erwanderten Lande gesiedelt; aber er hatte gemeint, hier zu sterben wie jene, und das Wahrwort, das Abram vernommen: sein Same werde fremd sein in einem Lande, das nicht ihm gehöre, das hatte er auf dies Land hier, wo er geboren war und wo seine Toten ruhen, beziehen zu dürfen geglaubt« (GW V: 1722f.).
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Umsiedlung nach Ägypten. Einige Seiten später wird weiter seine Angst, aber auch ihre Überwindung beschrieben: »Er fürchtete sich vor Ägyptenland und brauchte dringend die Versicherung, daß er sich nicht fürchten müsse, dorthin hinabzuziehen: aus dem Grunde nicht, weil der Gott seiner Väter nicht ortsgebunden war und mit ihm sein werde in dieser Unterwelt auch, wie er mit ihm gewesen war in Labans Reich. 6 [...] Um dies zu erfahren, schlief er, und im Schlafe erfuhr er’s« (GW V: 1734f.).
Im Traum erhält Jaakob die gewünschte Antwort und wird so gestärkt und versichert. Das bedeutet für ihn die erneute Entdeckung eines Gottes, der nicht ortsgebunden ist, der auch mit ihm nach Ägypten, welches für ihn die Unterwelt ist, hinabzieht und der ihn auch wieder ins Land der Väter hinaufführen wird. Aber im Gegensatz zu Josephs religiöser Toleranz, die sich ja beispielsweise in seiner Sympathie für den Pharao gezeigt hat, lehnt Jaakob es ab, in Ägypten begraben zu werden (dies stimmt im Übrigen auch mit der Bibel überein): »Ich weiß ferner wohl, daß gar viele von uns, Tausende nach ihrer Zahl, werden in Ägypten begraben sein, ob sie geboren sind hier oder noch geboren im Lande der Väter. […] Mit ihnen bin ich gekommen in dein Reich und deines Königs Land, da dich Gott uns als Wegeöffner vorausgesandt; im Tode aber ist es mein Wunsch, mich von ihnen zu trennen« (GW V: 1777).
Jaakob sagt Joseph weiter, dass er in Kanaan, wo sich die Gräber seiner Vorfahren befinden, begraben werden will. Zwar ist der Gott, den Jaakob im Roman entdeckt, auch, wie bei Joseph, ein Gott des Unterwegsseins, aber der Gott Jaakobs erscheint doch lokaler und enger an das Volk Israel und ihr gelobtes Land gebunden zu sein.
6 | Der im Zitat erwähnte Laban tritt im Roman als eine Figur auf, die Götzendiener ist und »nach überständigem Brauch« anlässlich seines Hausbaus seinen Sohn opfert (vgl. GW V: 236 u. 474). Die Gegenüberstellung mit solchen Götzen macht auch deutlich, dass Jaakobs Gott in vielen Hinsichten neu ist: So verlangt er etwa keine Menschenopfer mehr und ist nicht mehr an einen Ort gebunden.
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4. Par allelen z wischen Thomas M ann und J a akob Diese Arbeit ist von der Frage ausgegangen, welche Abweichungen in Thomas Manns Josephsroman von der biblischen Vorlage zu finden sind und wie diese unter dem Aspekt des Unterwegsseins und des Wohnens zu verstehen sind. Der Josephsroman wird eigentlich losgelöst von dem wichtigen biblischen Gedanken des verheißenen Landes, zu dem hin das Unterwegssein als Anfang der Diaspora letztendlich führt, erzählt. Dadurch wird Josephs Wohnen in Ägypten, nämlich die Anpassung von Joseph an die ägyptische Kultur, besonders betont. Diese ägyptische Enkulturation Josephs bewirkt zwar nicht, dass er von seinem ursprünglichen Volk Israel vollkommen abgetrennt wird, aber doch immerhin, dass er die Segenserbschaft verliert. Dem vom Gedanken des verheißenen Landes befreiten Unterwegssein wird im Josephsroman die Bedeutung der Reise zur Gottesentdeckung gegeben. Sowohl Joseph als auch Jaakob entdecken einen mobilen Gott, den Gott des Unterwegsseins. Obwohl bei Joseph dieser Gott der einzige, der Gott für das Volk Israel, also der jüdische Gott, ist, kann er doch so viel interreligiöses Verständnis auf bringen, dass er den Pharao immerhin auf dem Weg der Gottesentdeckung sieht. Dagegen bleibt Jaakob noch enger dem Gott des Volkes Israels treu. Er sagt, dass er »nach der Größe und nach dem Gehorsam […] bei seinen Vätern […] liegen [will] und bei Lea, seinem ersten Weibe, von der der Erbe kam« (GW V: 1778). Bekanntlich wurde diese Tetralogie, die Thomas Mann vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten noch in Deutschland zu schreiben begann und die er in seinem Exil in den USA abschloss, auch im Zusammenhang mit der Entwicklung der Mythen im 20. Jahrhundert gesehen – und hier wurde der Josephsroman vor allem in seiner Gegenstellung zu dem faschistischen Mythos, der sich in Alfred Rosenbergs Mythus des 20. Jahrhunderts artikulierte, gelesen (vgl. Kurzke 1997 [1985]: 246f.). So bewertet z. B. Dierk Wolters diese Tetralogie als »Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte, [als] bewußte Opposition« (Wolters 1998: Einleitung I). Es gibt auch Forschungsmeinungen, die Übereinstimmungen zwischen Joseph und Thomas Mann selbst sehen (vgl. z. B. Schöll 2004). Wenn man aber, wie hier geschehen, den Aspekt der Gottesentdeckung in den Mittelpunkt rückt, kann man eine weitere Parallele finden, nämlich die zwischen Thomas Manns Exil in den USA und Jaakobs Unter-
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wegssein in Ägypten. Jaakob entwickelt den Gedanken eines mobilen Gottes, eines Gottes, der mit ihm ist, wo immer er auch sei. Hier sind Parallelen zu Thomas Manns Biografie zu sehen, der bekanntlich bei seiner Ankunft in den USA am 22. Februar 1938 gesagt hat: »Where I am, there is Germany. I carry my German culture in me«.7 Die Tatsache, dass die USA für Thomas Mann mit dem Ägypten Jaakobs vergleichbar sind, zeigt ein Brief, den Mann im September 1938 an den ungarischen Religionswissenschaftler Karl Kerényi schrieb. Er schreibt dort, dass er in Princeton bald seinen Roman Lotte in Weimar abgeschlossen haben werde, sodass er »wieder von Joseph, dem Zerrissenen und Auferstandenen zu künden anheben kann« (Kerényi 1960: 81). Danach lud Mann Kerényi mit dem Wort »Totenreich«, das im Roman für Ägypten verwendet wurde, in die USA ein (ebd.: 82; vgl. auch Schöll 2004: 180). Das Wort »Totenreich« benutzt Mann in diesem Brief im Zusammenhang mit dem Josephsroman, womit deutlich auf die Parallele zwischen den USA und Ägypten verwiesen wird. Und so wie Jaakob nicht wünschte, in Ägypten begraben zu werden, so wünschte sich auch Thomas Mann, sein Grab nicht in den USA zu haben. Gerade in der Phase des Schreibens am vierten Teil des Josephsromans, im Juli 1941, schrieb er in einem Brief an die Schriftstellerin Anette Kolb,8 dass die USA für ihn keine neue Heimat sei: »Oft denke ich einfach: Ich möchte nach Haus! Das heißt nicht nach Deutschland, aber in die Schweiz. Ich möchte nicht gern in Amerika begraben sein« (zit. n. Wysling 1988: 300; vgl. auch Schöll 2004: 179). Obwohl Thomas Mann sich ein Haus in den USA, in Pacific Palisades, erbaut hatte und obwohl er großen Erfolg in den USA hatte und dort sehr angesehen leben konnte, gibt es doch gewisse Parallelen zu der Bedeutung, die Ägypten für Jaakob hat.9 Anders als dieser starb er dann allerdings nicht in der fremden Heimat, sondern 1955 in Zürich, wo er auch, auf dem Friedhof der Gemeinde Kilchberg, begraben wurde.
7 | The New York Times v. 22. Februar 1938, S. 13 (im Artikel MANN FINDS U.S. SOLE PEACE HOPE). 8 | Mann kannte Anette Kolb (1870-1967) seit den 1920er Jahren. 1933 emigrierte sie nach Paris, und von 1941 an wohnte sie vier Jahre lang in New York. 9 | Zu Thomas Manns religiöser Orientierung in den USA vgl. Detering 2012.
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L iter aturverzeichnis Assmann, Jan (2006): Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen, München. Detering, Heinrich (2012): Thomas Manns amerikanische Religion, Frankfurt a. M. Die Bibel nach Martin Luthers Übersetzung (2017), hg. v. d. Evangelischen Kirche in Deutschland, Stuttgart. Gabriel, Christiane (1990): Heimat der Seele. Osten, Orient und Asien bei Thomas Mann, Rheinbach-Merzbach. Kerényi, Karl (1960): Thomas Mann – Karl Kerényi. Gespräch in Briefen, Zürich. Kurzke, Hermann (1997 [1985]): Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, München. Mann, Thomas (21974): Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt a. M. [= GW] Ritter, Joachim u. a. (Hg.) (2004): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 12: W-Z, Basel. Schöll, Julia (2004): Joseph im Exil. Zur Identitätskonstruktion in Thomas Manns Exil-Tagebüchern und -Briefen sowie im Roman »Joseph und seine Brüder«, Würzburg. Schwöbel, Christoph (2008): Die Religion des Zauberers. Theologisches in den großen Romanen Thomas Manns, Tübingen. Wolters, Dierk (1998): Zwischen Metaphysik und Politik. Thomas Manns Roman »Joseph und seine Brüder« in seiner Zeit, Tübingen. Wysling, Hans (Hg.) (1988): Thomas Mann. Briefwechsel mit Autoren, Frankfurt a. M.
Wohnen und menschliches Leben Überlegungen anhand von Wo ich wohne und Gare maritime von Ilse Aichinger und Yamamba von Terayama Shūji Wakiko Kobayashi
1. Z uhausesein – W ohnen – L eben Das Thema des Wohnens behandelte Ilse Aichinger immer wieder, in Formen von »gehen, um zu bleiben« bzw. »halten, um zu behalten«. Für Aichinger, der in den 1930er und 40er Jahren als – so die Nazi-Terminologie – »jüdischer Mischling ersten Grades« in Wien mehrere Wohnungswechsel aufgezwungen wurden, war die Frage in Bezug auf das Thema alles andere als leicht zu beantworten. »Wo ich gewohnt habe«, sagt Ellen im Roman Die größere Hoffnung, »war ich noch nie zu Hause« (Aichinger 1991a: 203). So unterscheidet die Schriftstellerin, die Verfolgung und Vertreibung überlebte, das Wohnen vom Zuhausesein. Während das Wohnen im Roman konkret mit einem Obdach, einem Raum mit vier Wänden, verbunden wird, ist das Zuhausesein viel subjektbezogener: Ellen will am Ende nur noch »nach Hause«, »zu den Brücken« (ebd.: 245). Wenn sie zur Brücke geht, oder genauer, dahin geht, wo es früher eine Brücke gab, und dann ihren deportierten Freund Georg wiedersieht, ist das Haus als ein Ort bzw. Nicht-Ort vorstellbar, worin es gilt, zu versuchen, ihre eigene Geschichte wiederzufinden. Denkt man an die jüdischen Kinder, die deportiert wurden und nicht »wohnen bleiben« durften, sind im Roman bezüglich des Wohnens drei Stadien zu finden: 1. das Wohnen, wo man sich zu Hause fühlt, 2. das Wohnen, wo man sich nicht mehr zu Hause fühlt und 3. das »Wohnlose«, wo man ohne das Wohnen und Zuhause nur noch am Leben teilhat – oder nicht.
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Was für ein ethisches und politisches Feld das Wohnen umgibt, zeigt sich nicht erst bei der Judenverfolgung in der Nazi-Zeit, doch hier wird es ganz extrem ins Äußerste gesteigert, da sie schließlich in Auschwitz endete.1 Was man im Lager hatte, war ganz und gar nicht »Wohnen« zu nennen. Als »vollständiger Zeuge« (Levi 2014 [1986]: 87) des Lagers gilt der sogenannte »Muselmann«, der nur noch als biologisch funktionierendes Lebewesen keine Angst mehr vor dem Tod hatte und den Sinn des Todes nicht mehr verstand. Von diesem »Muselmann« ausgehend, dem »Untergegangenen« (ebd.) im Lager, der das Lager nicht überlebt hatte, muss eine an Auschwitz orientierte Ethik die Frage stellen: Ist das ein Mensch?2 und muss, so Agamben, die »äußerste Schwelle zwischen Leben und Tod, zwischen Menschlichem und Unmenschlichem«, thematisieren (Agamben 2003 [1998]: 41). Ab einem bestimmten Punkt geht es also nicht mehr um das Wohnen, sondern nur noch um Leben und Tod. Aber wann hört man auf zu wohnen? Oder wie geschieht das? Kann man damit überhaupt aufhören? Diese Fragen im Hintergrund behaltend wird in diesem Beitrag versucht, Einsichten in das Verhältnis zwischen Wohnen und menschlichem Leben zu gewinnen.
2. W er be wegt sich : die W ohnung oder das I ch ? Welche politischen Machenschaften sich mit dem Wohnen verbinden können, macht Aichinger in der Erzählung Wo ich wohne (1955) anschaulich.3 Sie beginnt mit der Feststellung des Ich-Erzählers: »Ich wohne seit 1 | Die Vernichtung der Juden durch den Nationalsozialismus als »Holocaust« zu bezeichnen, ist problematisch, denn »dieser Ausdruck schließt nicht nur einen unannehmbaren Vergleich von Krematorien und Altären ein, sondern auch eine von Anfang an antijüdisch gefärbte Bedeutungsgeschichte« (Agamben 2003 [1998]: 28). Agamben nennt ein Beispiel der Verwendung des Begriffs »Holocaust« beim Pogrom im 12. Jahrhundert in London im Sinne der Opferung (vgl. ebd.). Auch Aichinger vermeidet den Begriff. Sie schreibt, dass er als »eine absurde Formulierung« das, was es gab, »überdeckt und verfälscht, anstatt zu definieren« (Aichinger 2001: 23). 2 | So heißt das erste Werk von Primo Levi. Darin findet sich auch ein Kapitel über die Untergegangenen und die Geretteten (vgl. Levi 1980 [1976]). 3 | Seitenangaben mit der Sigle DG nachfolgend im Fließtext.
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gestern einen Stock tiefer«. Diesem seltsamen Beginn folgt die Beschreibung einer seltsamen Situation: »Die Tür öffnete sich auch gleich ohne Widerstand, ich fand den Schalter und stand in dem erleuchteten Vorzimmer, in meinem Vorzimmer, und alles war wie sonst: die roten Tapeten, die ich längst hatte wechseln wollen, und die Bank, die daran gerückt war, und links der Gang zur Küche. Alles war wie sonst« (DG: 93).
Doch dann erkennt das Ich an den Namensschildern der Nachbarn, dass es nicht im vierten, sondern im dritten Stock wohnt. »Ich wollte dann die Stiegen hinaufgehen, um mich zu überzeugen, wer nun neben den Leuten wohnte, die bisher neben mir gewohnt hatten [...], fühlte mich aber plötzlich so schwach, dass ich zu Bett gehen musste« (DG: 94). Das Ich tut nichts. Die Erzählung springt danach, und nun wohnt das Ich »jetzt im Keller« (DG: 95). Wie es genau dazu kam, wird nicht beschrieben, aber man kann ahnen, dass das Ich Stock für Stock tiefer gekommen sein mag, und zwar, ohne dass das Ich es richtig merkte: »Ich konnte es schließlich auch dadurch, dass ich nicht ging, nicht hindern, dass ich eines Tages im Keller war« (DG: 96). Überraschend ist also, dass nicht das Ich, sondern die Wohnung umgezogen ist. Schließlich fragt sich das Ich, »wie es sein soll, wenn ich im Kanal wohnen werde« (DG: 96). »Ich frage mich, ob meine Zimmer auch im Kanal noch dieselben sein werden. Bisher sind sie es, aber im Kanal hört das Haus auf« (DG: 97). Auf jeden Fall ist es jetzt »zu spät«, sich zu beschweren, denn das hätte das Ich »schon im dritten Stock« tun müssen (DG: 98). Fragt man sich nach dem Grund, warum es nichts getan hat, so kann man neben der genannten Müdigkeit auf die Tatsache hinweisen, dass in der Wohnung alles so geblieben ist wie sonst. Doch noch entscheidender ist die Angst des Ich vor den Nachbarn: »Von Zeit zu Zeit bin ich immer noch verlockt, aufzustehen und hinaufzugehen und mir Gewissheit zu verschaffen. Aber ich fühlte mich zu schwach, und es könnte auch sein, dass von dem Licht im Flur da oben einer erwachte und herauskäme und mich fragte: ›Was suchen Sie hier?‹ Und diese Frage, von einem meiner bisherigen Nachbarn gestellt, fürchte ich so sehr, dass ich lieber liegen bleibe, obwohl ich weiß, dass es bei Tageslicht noch schwerer sein wird, hinaufzugehen« (DG: 94).
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Die auf den ersten Blick absurde Geschichte erhellt uns, wie Aichinger den aufgezwungenen Wohnungswechsel im nationalsozialistischen Wien aufgenommen haben mag. Mit sechzehn, siebzehn Jahren erlebte sie 1938 zwei Umzüge: Nach dem Umzug von der Hohlweggasse 1 in die Gumpendorfer Straße 5a musste sie in die Singerstraße 4 zu einem älteren jüdischen Ehepaar umziehen. Nach dem Tod des Mannes und der Deportation der Frau wurde sie dann 1939 in ein Zimmer in der MarcAurel-Straße neben dem Hauptquartier der Wiener Gestapo eingewiesen (vgl. Berbig/Markus 2007: 104f.). Dort konnte sie mit ihrer Mutter den Krieg überleben, aber dass das Leben in nur einem Zimmer bedrückend gewesen sein musste, ist leicht zu vermuten.4 Wie die junge Aichinger diese Tage überlebt hat, verraten z. T. ihre frühen Tagebucheinträge. Darin sind Stellen zu finden, wo sie versucht, schreibend ihre Heimat wiederzufinden. Einmal war es in ihrem letzten Schuljahr, als sie noch »eine Heimat hatte« und »ein Kind und glücklich war«,5 ein anderes Mal in der Erinnerung an einen »dunklen Spätherbstnachmittag« in der Hohlweggasse: »Dieses Zimmer beruhigt mich, es ist eine Heimat«.6 Wo es diese Heimat nicht mehr für sie gab – denn sie wurde erst in der Erinnerung konstruiert –, war es diese, die sie am Leben hielt. Sie brauchte die Heimat, weil sie nicht mehr zu Hause war. Aichingers Großmutter, Tante und Onkel wurde allerdings der letzte Wohnraum, ein Zimmer in einem Massenquartier, weggenommen, und sie wurden nach Minsk deportiert. Im Lauf der Judenverfolgung in der Nazi-Zeit stellte diese Wegnahme des Wohnraums einen entscheidenden Schritt dar, der zur Ermordung der Juden führte. Zu betonen ist hierbei, dass das Ganze sich Schritt für Schritt entwickelt hatte. Drei Schritte vor der Ermordung nennt Raul Hilberg: Definition, Enteignung, Konzentra4 | Aichinger erinnert sich folgendermaßen: »[D]ie Hausfrau, in deren Wohnung wir [...] eingewiesen worden waren, einen Tag ehe ihr jüdischer Mann starb und diese Einweisung nicht mehr möglich gewesen wäre, hatte uns diese sechs Jahre hindurch nicht mit Freundlichkeiten überschüttet. Es hatte jeden Tag genug Möglichkeiten gegeben, uns zu beweisen, wie gerne sie ihre große Wohnung wieder für sich gehabt hätte« (Aichinger 2001: 57). 5 | Undatierter Eintrag (vor 13. September 1938). DLA Marbach, D: Aichinger, Ilse. Autobiographisches, Tagebücher. Zit. n. Berbig 2010: 19. 6 | Eintrag: 14. April 1941. DLA Marbach, D: Aichinger, Ilse. Autobiographisches, Tagebücher. Zit. n. Berbig 2010: 20.
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tion. Wichtig ist, so Hilberg, dass die Sachbearbeiter – zentrale Akteure in der Vernichtung – selten mehr als einen bevorstehenden Schritt sehen konnten. Dass jedoch jeder Schritt den Keim des nächsten Schrittes in sich trug, ist offensichtlich (vgl. Hilberg 1985: 53f.). Es war wie in dieser Erzählung Wo ich wohne: Die Verfolgten kamen Schritt für Schritt tiefer. Nicht, dass sie in einer Wohnung wohnten, sondern der immer kleiner werdende, »mobile« Wohnraum gab den Verfolgten erst die Möglichkeit, wohnen zu bleiben, solange es ihn noch gab. Wer nicht wohnen bleiben durfte, musste »gehen«. Die Menschen, die nicht verfolgt wurden, schauten nur zu, sogar »mit einem gewissen Vergnügen«.7
3. »I nterne t-C afé -F lüchtlinge « und ihr mobiles O bdach Wer fällt heutzutage so tief, dass er nicht mehr wohnen bleiben kann und an die Schwelle von Leben und Tod gedrängt wird? Flüchtlinge z. B., die mit ihren letzten Habseligkeiten auf der Flucht sind, auf der Suche nach einem Platz, wo man bleiben kann. In Japan gibt es spezielle Flüchtlinge, sogenannte »Internet-Café-Flüchtlinge«.8 Sie werden so bezeichnet, da sie ohne einen festen Wohnsitz im 24 Stunden offenen Internet-Café 7 | »Diejenigen neben mir, die zusahen, wie meine Großmutter und die jüngeren Geschwister meiner Mutter auf offenen Viehwagen über die Schwedenbrücke in Folter und Tod gefahren wurden, sahen jedenfalls mit einem gewissen Vergnügen zu« (Aichinger 2001: 59). 8 | Dieses Wort ist ein Neologismus vom Mizushima Hiroaki, der es 2007 als Journalist gebildet hat. Im Zusammenhang mit in Armut lebenden Erwerbstätigen (working poor) erhielt die Existenz der »Internet-Café-Flüchtlinge« große Aufmerksamkeit, und dieses neue Wort wurde im selben Jahr zum »Wort des Jahres« gewählt. Laut einer Erhebung des Ministeriums für Gesundheit, Arbeit und Soziales (kōsei rōdō shō) 2007, die vor dem Hintergrund des allgemein breiten Interesses durchgeführt wurde, betrug die Zahl der »Flüchtlinge« damals ca. 5.400 (landesweit). Mizushima wertet diese Zahl als »zu gering« und weist auf Fehler in der Zählmethode hin (vgl. Mizushima 2007: 224-233). Das Ergebnis der Erhebung durch die Präfektur Tokyo zwischen November 2016 und Januar 2017 zeigt, dass die Lage um die »Flüchtlinge« immer noch schwerwiegend ist: In dieser Zeit existierten nur in Tokyo ca. 4.000 Menschen als »Flüchtlinge«. Vgl. Asahi shinbun v. 29. Januar
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schlafen, falls sie an dem Tag genügend Geld haben, heute da, morgen dort, und insofern von »flüchtiger« Existenz sind. Gezwungen, die Wohnung aufzugeben, sind sie »auf der Flucht«. Sie sind eigentlich verdeckte Obdachlose, doch sie versuchen, sich von ihnen abzugrenzen, indem sie auf ein Obdach beharren: Falls das Geld für ein Internet-Café nicht reicht, gehen sie z. B. zu McDonald’s, wo sie mit einem 100 Yen-Small-Size-Kaffee eine Nacht überstehen können. Ihre Existenz ist eng mit der Deregulierung auf dem Arbeitsmarkt Ende der 1990er Jahre und der dadurch in breiten Bereichen möglich gewordenen Leiharbeit verbunden. Viele Internet-Café-Flüchtlinge leben in finanziell unsicheren Verhältnissen von tageweiser, einfacher Leiharbeit (hiyatoi haken), bei der man weder Fortbildung erwarten noch nachhaltige menschliche Beziehungen auf bauen kann. Den Anlass des »Abstiegs« stellt der Verlust der Wohnung dar, der oft vom Verlust der Arbeit bzw. ihrer Aufgabe herbeigeführt wird.9 Beides – Verlust bzw. Aufgabe der Arbeit – kann man als Folge der Differenzierung der Arbeitsweise betrachten. In den letzten dreißig Jahren hat sich das Verhältnis der NichtFestangestellten auf dem Arbeitsmarkt vermehrt: Während Ende der 1980er Jahre mehr als 80 Prozent der Angestellten feste Stellen hatten, ist 2017 dieser Anteil etwa 60 Prozent. Vor allem in den 2000er Jahren ist die Tendenz gestiegen: Ca. 4 Millionen Festangestellte wurden von 1998 bis 2007 durch 5,5 Millionen Nicht-Festangestellte – »anvertraute« Angestellte10 (shokutaku shain), befristete Angestellte (keiyaku shain), Leiharbei2018: »Netto-kafe nanmin, tonai ni suikei 4.000 nin, 30 dai ga yonwari chikaku«, in: Asahi shinbun DIGITAL. ›https://www.asahi.com/articles/ASL1Y4TG4L1YUTIL02X.html‹ (Zugriff am 23. 2. 2018). 9 | Laut der erwähnten Erhebung durch die Präfektur Tokyo Ende 2016/Anfang 2017 wurden für den Verlust der Wohnung folgende Gründe genannt: 32,9 Prozent der »Flüchtlinge« konnten aufgrund des Verlustes bzw. der Aufgabe der Arbeit keine Miete mehr bezahlen. 21 Prozent mussten die Wohnung aufgeben, da sie der Firma gehörte. 13,3 Prozent nennen familiäre Probleme. 7,9 Prozent hatten Probleme außerhalb der Familie, wie z. B. Schulden. Der zweithäufigste Grund ist hierbei bemerkenswert: Hier fällt beides – Arbeitsverlust und Wohnungsverlust – zusammen (vgl. ebd.). 10 | Der »anvertraute« Angestellte schließt mit der Firma einen befristeten Arbeitsvertrag. Der Unterschied zum befristeten Angestellten (keiyaku shain) be-
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ter (haken shain), Minijob-Arbeiter (pāto taimā sowie arubaito) – ersetzt.11 Je nach der Dauer des Arbeitsvertrags (befristet oder nicht, befristet auf Jahre, Monate, Tage, Stunden), dem Inhalt der Arbeit, der Möglichkeit der Beförderung, der Leistung der Sozialversicherung ist also die Hierarchie auf dem Arbeitsmarkt gebildet, worin die Lage der Festangestellten nicht mehr so fest sein kann: Unter dem Druck, jederzeit »degradiert« werden zu können, wird ihnen immer mehr Arbeit auferlegt – bis man im Extremfall den Tod durch Überarbeiten (karōshi) findet,12 wenn nicht noch davor die Arbeit aufgegeben werden muss. Oder sie werden gezwungen zu kündigen, indem man ihnen im wörtlichen Sinne Arbeit wegnimmt: steht vor allem darin, dass der Erstere oft nicht vollzeitlich arbeitet. Häufig sind die »anvertrauten« Angestellten diejenigen, die nach der Pensionierung bei derselben Firma weiterarbeiten – mit niedrigerem Gehalt, doch dafür kürzerer Arbeitszeit und weniger Aufgaben. 11 | Vgl. Sōmushō tōkei kyoku: »Nenrei kaikyū (10 sai kaikyū) betsu shūgyōsha oyobi nenrei kaikyū (10 sai kaikyū), koyō keitai-betsu koyōsha sū shihanki heikin kekka tō (zenkoku)«. ›http://www.stat.go.jp/data/roudou/longtime/03roudou.htm#hyo_9‹ (Zugriff am 26. 2. 2018); Mizushima 2007: 139. 12 | Der Tod durch Überarbeiten wird in zwei Typen unterteilt, nämlich den Tod, der auf einer von Überarbeiten herbeigeführten physischen Störung wie einem Schlaganfall oder Herzinfarkt beruht, und den Selbstmord (karō jisatsu), der meistens nach einer durch Überarbeiten bedingten psychischen Störung wie Depression erfolgt. Die Realität über den Tod durch Überarbeiten kann man nicht durch die Zahl der amtlich als solche anerkannten Todesfälle erfassen, da erstens viele Hinterbliebene bei Todesfällen, bei denen man zu Recht den Tod durch Überarbeiten vermuten kann, aus verschiedenen Gründen auf die Entschädigung verzichten. Zweitens werden nicht wenige Anträge durch die Behörde abgelehnt (vgl. Kawahito 2014: 122f.). Viel hilfreicher ist hierbei die Statistik über den Selbstmord, für den die Arbeit einen Grund liefert. Die Zahl beträgt gegen 1990 um 1.000. Doch sie steigt 1998 auf 1.877, und ab da beträgt sie bis Mitte der 2000er Jahre um 1.800. Die Tendenz ändert sich 2007. Da sind 2.207 Fälle registriert, und die Zahl vergrößert sich bis 2011 (2.689 Fälle). Danach verringert sie sich, und 2016 gibt es 1.978 Fälle. Vgl. Kōsei rōdō shō: »Heisei 29 nendoban karōshi tō bōshi taisaku hakusho (honbun)«. ›http://www.mhlw.go.jp/wp/hakusyo/karoushi/17/dl/17-1-3.pdf‹ (Zugriff am 26. 2. 2018).
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Sie werden in eine Ecke gedrängt, z. B. ans Fenster, wo sie sich ohne Aufgabe tagelang nutzlos fühlen (madogiwa-zoku) und bei der nächsten Gelegenheit der Restrukturierung sich »freiwillig« für die Entlassung melden müssen. Die Hierarchie macht zwar möglich, dass man »Stock für Stock« höher geht, aber auch tiefer. Und wenn man richtig »unten« ist, d. h. Arbeit und Wohnung verliert, wird es auf einmal sehr schwierig, aus der Situation herauszukommen: Man kann ohne festen Wohnsitz, nämlich eine Hausadresse, keine sichere Stelle mehr finden, aber wiederum ohne sichere Stelle als Einnahmequelle auch keine Wohnung beziehen. In diesem Teufelskreis wird man dem sogenannten Armutsbusiness (hinkon bijinesu) überlassen: Die Verbraucherkreditfirmen (shōhisha kinyū) wollen z. B. ohne Pfand, dafür mit höheren Zinsen, Kredit geben. Die Arbeitsvermittlungsagentur will die Menschen für niedrigen Tagelohn arbeiten lassen, die nichts anderes als ihre Arbeitskraft anzubieten und keine andere Wahl als die Übernahme der an diesem Tag benötigten Arbeit haben. Denn sie brauchen heute schon Geld – für eine Schlafstätte in einem Internet-Café, das von solchen »Flüchtlingen« lebt und ihnen nur gerade einen Platz anbietet, an dem sie zwar einigermaßen gemütlich sitzen, aber sich nicht richtig ausstrecken können. Immerhin kann man sich in manchen teureren Cafés sogar duschen. Kochmöglichkeit gibt es keine, doch das Essen ist in Schnellrestaurants bzw. Convenience Stores (konbini) für wenig Geld leicht zu finden. Nicht zufällig sind auch in der Nähe Schließfächer, die für die »Flüchtlinge« als Schränke dienen, und Waschsalons. Die Art und Weise, wie sie stets unter einem solchen mobilen Obdach sind, kann man kaum mehr Wohnen nennen. Doch es stimmt nicht ganz, wenn man sagt, dass sie nicht mehr wohnen bleiben. Es sind z. B. bestimmte Cafés, wo sie schlafen, und nicht irgendeines. Sie haben meistens ihre Gewohnheit, wie sie in der kleinen Kabine schlafen. Nicht selten versuchen die »Flüchtlinge« in der kleinen Kabine mit ihren Habseligkeiten wie der eigenen Tasse und Decke ihren »Wohnraum« zu gestalten. Das Wohnen oder dessen Gefühl – auch wenn die Qualität dieses Wohnens ganz niedrig ist – kann durch Gewohnheiten sowie Gegenstände erhalten bleiben. Man denke an die Obdachlosen in Japan, die ihre Besitztümer mitschleppen bzw. behalten. Voreilig möchte man sagen, dass sie Obdach-los sind, doch sie bleiben womöglich so lange wohnen, wie sie auf ihren Gegenständen bestehen und dabei bleiben. Vielmehr sind
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sie Homeless – Menschen, die kein Zuhause haben. Deswegen soll man sagen: Ihr Wohnen ist das Wohnen, das sich immer mehr dem Überleben nähert.
4. »B erg « auf der S chwelle z wischen M enschlichem und U nmenschlichem Im Folgenden behandle ich zwei Hörspiele, die auf den Themenkomplex von Wohnen und Leben bzw. Menschlichem und Unmenschlichem hinweisen. In diesen Hörspielen erweist sich die Stimme als ein wichtiges Medium, das die Schwelle von zwei Polen poetisch erfahrbar macht. Gleichzeitig stellt sich die Frage nach der Körperlichkeit der Stimme: Darin ertönen Stimmen, die eine Körperlichkeit ganz anderer Art als die der Menschen aufweisen. Die besagte Schwelle lässt sich aus der Perspektive des Körpers betrachten, denn das Wohnen ist eigentlich eine Angelegenheit des Körpers, der den Besitz eines bestimmten Raums beansprucht. Im Motiv liegt dem Hörspiel Yamamba (1964) von Terayama Shūji13 die Volkssage vom ubasute [eine alte Frau zurücklassen] zugrunde. Bei kleinen Variationen in den tradierten Versionen stellt das Erzählmuster folgende Handlung dar: Eine alte Frau oder ein alter Mann muss auf einem Berg ausgesetzt werden, damit man im Dorf für die Arbeit nunmehr unfähige alte Menschen nicht mehr ernähren muss. Doch wird sie bzw. er am Ende zurückgeholt (vgl. Kudō 2005: 9-16). Bei Terayama ist dieses Ende zum Tragischen geändert worden, und die ausgesetzte alte Frau kommt nicht mehr zurück. Da das Hörspiel aber in der Form des traditionellen japanischen nōgaku-Theaters, nämlich durch den Einsatz der yōkyoku-Musik im kyōgen, erzählt wird, ist es auf den ersten Blick als Farce gestaltet.14 13 | Seitenangaben mit der Sigle Y nachfolgend im Fließtext. Als Untersuchungsgegenstand wird die CD-Aufnahme des Hörspiels herangezogen (s. Literaturverzeichnis). Bei Zitaten wird die Seitenzahl des publizierten Hörspieltextes genannt. Das Hörspiel ist 1964 durch den »Prix Italia«, den international renommierten Preis für Funkprogramme, ausgezeichnet worden. 14 | Das nōgaku besteht aus dem Nō-Theater, das durch die yōkyoku (eine Musikform) begleitet wird und tänzerisch ist, und dem kyōgen, das mit der Komödie vergleichbar ist. Das Letztere wird zwischen den Akten des Ersteren dargestellt.
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Der Volkssage und dem kyōgen-Theater folgend, ist die Handlung einfach, und die Figuren sind übertrieben sowie typisch. Ein Mann wohnt mit seiner Mutter zusammen. Er will endlich eine Frau zu sich nehmen, sie in die Arme nehmen. Doch die Mutter lacht ihn nur aus, dass keine Frau zu ihm kommen würde: Er sei zu dumm. Der Sohn, der »Heisaku, die Eule« genannt wird, da er eine Eule bei sich hat, ist im Gegensatz zur symbolischen Bedeutung der Eule die Verkörperung der Dummheit. Eines Tages wird er aber von einem oshō – einer tugendhaften, klugen Figur in der japanischen Literatur – von der Regel im Dorf in Kenntnis gesetzt, dass es für die Frauen keine freie Wahl in Bezug auf die Männer gibt. Er muss nur seine Mutter auf dem Berg, dem ubasute-Berg, aussetzen, dann kommt eine Frau zu ihm, die »als nächste dran« ist. Im Übrigen ist die nächste Ayame, die Hübscheste im Dorf. Das Dorf braucht die Regel, damit die Bewohner nicht verhungern. Sie stellt eine landwirtschaftlich bedingte Maßnahme dar, um die Bevölkerungszahl konstant zu erhalten. Deswegen stellt keiner sie in Frage, jedoch ist dabei kein freier Wille bei Individuen erlaubt. Dem Dorf steht nun das Haus gegenüber: Dieses entpuppt sich als ein Ort, wo Egoismus sowie sexuelle Begierde ausbrechen. O-Kuma, die Mutter, will den Sohn nur deshalb nicht heiraten lassen, weil sie weiterhin dort wohnen bleiben will. Ayame ist genauso egoistisch, wenn sie sich – inzwischen mit Heisaku verheiratet – nicht einmal von dessen Finger berühren lässt. Sie droht sogar mit einer Sichel, dass sie sich töten werde, falls er es wagt, in ihre Nähe zu kommen. Er sei ihr abscheulich, weil er stinke (vgl. Y: 86). So weint Heisaku, der seine Frau so sehr gerne in die Arme nehmen will, Nacht für Nacht, während Ayame tagsüber heimlich einen anderen Mann in ihr Bett holt und ihrerseits auch über ihr absurdes Schicksal jammert. Weder Heisaku noch Ayame sind also im Haus glücklich. Heisaku, eigentlich ein Muttersöhnchen, weiß sich nicht zu helfen und geht zu seiner Mutter O-Kuma, um bei ihr Rat zu suchen. O-Kuma, die sich mit allen Kräften vergeblich gegen das Ausgesetztwerden gewehrt hat, lebt noch auf dem Berg. Sie erklärt sogar, dass sie nie aufhören werde zu leben, sich dann in eine yamamba – eine yōkai-Figur, eine Art von Ungeheuer, das laut der Volkssage auf dem Berg wohnen und Menschen fressen soll – verwandeln und fröhlich summend auf dem Berg wohnen bleiben werde (»[H]anauta utainagara omoshiro okashiku kurasunja«, Y: 92). Nun kommt sie aus ihrem eigenen Willen nach Hause. Ihr ist der Regelverstoß bewusst, deswegen bleibt sie zu Hause unter dem Boden versteckt.
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Doch dann entdeckt sie das Geheimnis von Ayame und ihrem Geliebten. Mitten in ihren Umarmungen und Küssen springt sie heraus und schreit: »Geliebter! / Geliebter! Die Hölle ist ausgebrochen!« (Y: 95). Sogleich verwandelt sich das Haus in einen höllischen Kampfplatz, wo Heisaku den Geliebten und Ayame überfällt und die beiden zu töten droht. Und was O-Kuma betrifft: Von den Menschen im Dorf überzeugt, geht sie, diesmal bereitwillig, auf den Berg zurück. Das Hörspiel endet mit der Beschreibung der Zeit danach: Ein paar Jahre sind vergangen. Heisaku ist von Ayame geschieden und wohnt nunmehr mit der Eule allein. Er ist vierzig. Manchmal weint er aus Einsamkeit. Und O-Kuma? Die Erzählerin sagt, dass sie wohl gestorben wäre, doch Heisaku denkt, dass sie bestimmt als yamamba fröhlich immer noch auf dem Berg »wohnen bleibe [kurashite iru]« (Y: 99). Ab und zu hört er nachts etwas an der Tür klopfen. Er denkt an die Mutter, aber es ist der Wind vom Berg. Es gilt zu überlegen, warum O-Kuma am Ende bereitwillig auf den Berg zurückgegangen ist. Von Bedeutung ist hierbei die Funktion, die das Haus im Hörspiel im Verhältnis zum Dorf und dem Berg trägt. In diesem Dorf ist es nicht die Familie, die ein Haus baut, sondern umgekehrt wird die Familie vom Haus gebildet.15 Insofern bestimmt die Dorfregel, wer im Haus wohnen darf. Und in dieser Ordnung bedarf das Dorf des Berges, als »Abstellplatz« für Menschen, die nicht mehr in das Haus hineinpassen. Das Verhältnis zwischen dem Haus und dem Berg wird auch in dem Wiegenlied angedeutet, das O-Kuma gesungen hatte, als Heisaku noch ein Wickelkind war: »Schlaf / Schlaf / Oni-Kind // Wenn du nicht schläfst / setze ich dich auf dem Berg aus / Schlaf, schlaf, setze ich dich aus // Schlaf / Schlaf / Tarō auf dem Berg // Wenn du nicht schläfst / Yamamba kommt / Schlaf, schlaf, und wird dich fressen« (Y: 88).16 Die 15 | Historisch kann man die Bedeutung des Hauses in Japan im ie-Familiensystem sehen, das 1947 abgeschafft wurde. Im ie-System war z. B. die Adoption eines Jungen bzw. Mannes durch eine »sohnlose« Familie nicht selten, um eben diese Familie bzw. deren Arbeit fortzuführen. Die Familie, die aufrechterhalten werden sollte, war so »hart« und »fest« wie das Haus, dass man deren Mitglieder je nach dem »nachfüllen« musste. Man bedenke, dass das japanische Wort ie »Haus« und »Familie« bedeutet. 16 | Oni ist eine yōkai-Figur wie auch yamamba. In diesem Schlaflied wird die Verbindung zwischen dem Berg und dem Haus geschaffen und gesungen, dass Heisaku als Kind auf dem Berg – Tarō ist ein traditionell häufiger Name für den ers-
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Unabdingbarkeit von Dorf, Haus und Berg füreinander wird im Hörspiel durch die akustische Kontinuität und Diskontinuität erfolgreich inszeniert: Die biwa-Musik, die sowohl draußen als auch drinnen im Hintergrund stellenweise zu hören ist, musikalisch anfeuernde hayashi-Stimmen von Kindern und Erwachsenen, die beim Schieben der Tür durch einen Schnitt eingesetzt werden, sowie der Wind, der draußen weht, bringen die Grenze zwischen den drei Räumen (Dorf, Haus, Berg) ins Wanken und machen sie durchlässig. In dieser räumlichen Triade musste O-Kuma am Ende »freiwillig« gehen, denn im Dorf ist ihr schon der Platz auf dem Berg zugeteilt.17 Nur kann sie da nicht mehr als Mensch weiterleben. Doch es gelingt ihr wohl, sich in eine yamamba zu verwandeln. Dies ist im Hörspiel angedeutet, da sie weiterhin im Wind ihre Stimme behält. Dem Wind kann man die Qualität der Stimme zusprechen, denn die Stimme ist kein einfaches akustisches Phänomen, sondern als Komten Sohn – von der Mutter (yamamba) gefressen wird, falls er im Haus der Mutter (O-Kuma) nicht brav ist und einschläft. 17 | Man kann den ganzen Raum im Hörspiel als seken [lokale Welt] betrachten. Laut Abe Kinya ist diese typisch japanische Welt wie folgt zu definieren: »Seken ist ein zwischenmenschliches Netzwerk zwischen den Einzelnen. Es gibt keine festgeschriebene Regel bzw. kein Gesetz, doch als Verbindungskraft übt seken eine große Wirkung auf die Einzelnen aus. Seken ist nicht etwas, was die Einzelnen aktiv bilden. Seken existiert irgendwie schon als Welt, in der dem Einzelnen jeweils sein Platz zugeteilt ist« (Abe 1995: 16). Abe arbeitet heraus, dass sich in der japanischen Geschichte keine Gesellschaft entwickelt hatte, sondern seken war es, das als Rahmen der Welt die Einzelnen im zwischenmenschlichen Leben bestimmt hatte. Im Laufe der Modernisierung seit der Meiji-Restauration Ende des 19. Jahrhunderts wurde zwar der Begriff shakai [Gesellschaft] gebildet, konnte aber als Lebensform seken nicht ersetzen. Typische Merkmale von seken sind z. B.: Während die Gesellschaft aus einzelnen Individuen besteht, kann man bei seken keine Individuen voraussetzen. Die Existenz von seken wird den Menschen vorgegeben. Dementsprechend bestimmt der Einzelne sein Verhalten je nach der Situation, wie er denkt, was seken von ihm erwartet. Seken ist eine Wirklichkeit, die man nicht nur durch die Vernunft und Logik erklären kann. Seken ist verbindlich, sodass man beim »Regelverstoß« auch nach seken-Regeln bestraft wird. Abe nennt das Beispiel des Serienmörders Miyazaki Tsutomu, der Ende der 1980er Jahre Kinder entführte und tötete. Noch während des Prozesses musste seine Schwester ihre Verlobung auflösen. Sein Vater beging Selbstmord (vgl. ebd.: 12-30).
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munikationsmedium wird sie erst durch die Mitteilungskraft zur Stimme gemacht, die dann den Kommunikationskörper gewinnt.18 O-Kuma überlebt also – als etwas, das weniger als Leben ist und gleichzeitig über das Leben hinausgeht. Als ambivalente Existenz bleibt sie einerseits am Leben hängen, andererseits gewinnt sie doch als Stimmengestalt, die nicht zum zweiten Mal stirbt, eine andere Dimension. Dieses »Über-leben« ist zwar kritisch zu betrachten, denn es geht auf das Fristen der Existenz zurück, ermöglicht aber zugleich die Perspektive, dass das übliche Leben schließlich auf ein Überleben zugesteuert sein könnte. Mitte der 1960er Jahre, als das Hörspiel entstand, war man in Japan mitten im »Wirtschaftswunder« (um 1955 bis zur Ölkrise 1973). In dieser Zeit hat sich die demographische Landkarte deutlich verändert: Immer mehr Jugendliche gingen vom Land in die Stadt. Einsames Sterben (kodokushi), ein viel diskutiertes Thema in Japan seit Mitte der 1990er Jahre, wobei man allein im Haus lebt und stirbt, ohne von jemandem wahrgenommen bzw. entdeckt zu werden, war schon Anfang der 1970er Jahre ein öffentliches Thema in armen Berggegenden (vgl. Iwata 2017: 228). Die in der Realität auf dem Land zurückgelassenen alten Menschen waren durchaus mit O-Kuma vergleichbar – und sind es immer noch, denn die Tendenz der Urbanisierung geht weiter. Die Frage ist nun, wo der symbolisch dargestellte Berg heutzutage zu verorten ist und in welchem Verhältnis der »Berg« heutzutage zum Haus steht. Diese Frage lässt sich nicht einfach beantworten, zumal das Leben im Haus im Hinblick auf das Über-leben auf dem Berg nur noch nach einem Überleben aussieht, in dem jeder Einzelne seinem Eigensinn sowie seinen Begierden folgt. Anders als in der Volkssage kehrt O-Kuma nicht mehr zum Dorf zurück; dieses Ende des Hörspiels verdient eine Überlegung, da Heisaku schließlich doch nicht glücklich bleibt. Man denke auch an den Beginn des Hörspiels: Ein starker Wind weht, dann ist die yōkyoku-Musik zu hören, in der das Sterben eines Ausgesetzten angedeutet wird, darauffolgend der zweimal wiederholte Ruf von Heisaku nach der Mutter: »Muuutteeer! / Muuutteeer!« (Y: 77). Dieser Ruf, der laut Regieanweisung »aus dem tiefen Tal, wie aus der Hölle gerufen« (Y: 77) wird, stellt seine Antwort auf OKumas Ruf (Wind) dar. Ob Heisaku sich dessen bewusst ist, dass er sein 18 | Was die Stimme zur Stimme macht, erörtert Petra Gehring anhand der EchoStimme, die durch die Strafe nicht mehr als Stimme funktionierte (vgl. Gehring 2006, vor allem S. 104-110).
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Leben auf Kosten eines solchen Über-lebens führt? Das Hörspiel lässt uns zumindest die Ver-antwortung von Heisaku ahnen.19 Und heutzutage? Ist der ubasute-Berg als »Abstellplatz« im heutigen Japan etwa im InternetCafé zu verorten? Falls ja, wer ist dann ver-antwortlich?
5. W ohnen , das sich dem B leiben nähert Aichingers Hörspiel Gare maritime (1977)20 thematisiert nicht explizit das Wohnen, aber im Zentrum stehen zwei Figuren, die als Ausstellungsstücke im Hafenmuseum zu bleiben versuchen.21 Beim Museum ist von der »Feuchtigkeit«, »kein[em] Aufenthalt« (Au: 301), »schlechte[n] Ideen« (Au: 304) die Rede. Es geht also um ein Bleiben, wo es nicht einfach ist. Die Konturen der Figuren sind unklar: Sie werden Joan und Joe genannt, aber Joan scheint früher einen anderen Namen gehabt zu haben (»Balthasar aber nicht Balthasar [...] Wie wenn ein Mädchen Balthasar hieße So hieß sie«, Au: 272). Aus welchem Zeitalter sie stammt, weiß man nicht. Der erste Inspektor sagt »Karl der Vierte«, doch schließt der zweite aus den Schuhen »eher auf Karl den Dritten« (Au: 295). Sie scheint auf jeden Fall wertvoll zu sein, denn die Inspektoren sind überhaupt ausgeschickt worden, »um ihren Wert für die Nation festzustellen« (Au: 309). Mit Joe, der Joan hält, haben die Inspektoren nicht gerechnet. Pedro, der die beiden zu bewachen scheint, erklärt über ihn: »Ein abgeheuerter Seemann
19 | Die Hauptfigur Heisaku wird zwar als Verkörperung der Dummheit angegeben, aber durch ihn, der der Dorfregel blind folgt und am Ende über O-Kumas Abwesenheit trauert, kann man Erkenntnis über das Leben im Dorf gewinnen. Insofern wird seine Dummheit in Klugheit gewendet. Die Groteske charakterisiert das Hörspiel, in dem eine tragische Geschichte in der komödienhaften kyōgen-Form dargestellt wird. 20 | Seitenangaben mit der Sigle Au nachfolgend im Fließtext. Als Untersuchungsgegenstand wird die Tonaufnahme herangezogen (s. Literaturverzeichnis). Bei Zitaten wird die Seitenzahl des publizierten Hörspieltextes genannt. 21 | Bei der Tonaufnahme gibt es eine Stelle am Anfang, wo Joe Pedro fragt: »Wohnst du noch hier?«. Dieser Satz ist jedoch im publizierten Hörspieltext gestrichen. Stattdessen sagt Joe zu Pedro: »Du hast Angst« (Au: 270).
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ist er Frühzeitig abgeheuert«. »Stewart war er auf der Concord 22 Zuletzt Dann gings rasch abwärts« (Au: 297). Den Inspektoren gegenüber verhalten sich die Figuren vorsichtig. Denn sie wollen nicht ausgenutzt werden. Joan setzt ihre Kunst des Nichtatmens ein. Joe übt sich auch darin und hat damit Erfolg. Joan muss im Übrigen ihre »Stimme nicht immer weglassen«. »Nur den Atem« (Au: 278). Damit meint sie wohl, dass sie sich auch in ihrer »Knochensprache« äußern kann. In der Tat klappert sie mit ihrem Körper, d. h. ihren Knochen. Die Figuren zeigen sich schließlich als unnützlich – wie Aichinger in der Vorbemerkung des Hörspiels betont.23 Am Ende werden sie vom Wärter, der ermisst, dass an ihnen »nichts ist« (Au: 317), mit dem Fuß gestoßen und ins Freie weggekehrt. Auf die Frage von Joan, ob sie vorankämen, antwortet nun Joe: »Es nässt mich Zwischen deinen Rippen hindurch tränt es auf die meinen Doch doch Joan Ich glaube wir kommen voran« (Au: 319). Die Figuren interessieren uns hierbei, da sie jenseits vom ökonomischen und politischen Nutzen souverän zu sein scheinen. In ihnen verbirgt sich vielleicht die Möglichkeit des Wohnens auf eine andere Art als üblicherweise. Durch das Konzept des »Wohnens üblicherweise«, bei dem man gewisse ökonomische sowie politische Bedingungen erfüllen muss, entstehen die sozial Schwachen, die auf die Straße, nach »draußen«, auf den »Berg« gebracht werden. Was macht die Figuren so besonders, oder wie sind sie? Auffällig ist an ihnen die Trennung von Bewusstsein und Körper, wobei das Bewusstsein wiederum mehrschichtig ist, und genauso ist es auch der Körper. So erinnert sich Joan offenbar an die »Zeit der Kreuzzüge« (Au: 269), aber auch daran, »als es seineabwärts ging«: »Es war nicht schwer Nicht schwer nein Es stäubt einen einfach hinunter« (Au: 281). Sie kennt das Lied »Boston fährt herum« und wundert sich, da Joe als »ein ehemaliger Seemann ein solches Lied nicht kennt« (Au: 294). Körperlich ist sie ebenfalls schwer zu erfassen: Sie trägt jetzt ein blaues, seidenes Kleid, das verschlissen ist, aber sie war mal »eine Dame in einem Kettenpanzer« (Au: 283). Sie ist eigentlich eine Knochengestalt, wie Joe sagt: »Aus dir könnte man eine Menge hübscher Kinderklappern machen« (Au: 273), und »auf ihrem Schädel« sind »kahle Stellen« zu sehen (Au: 305). Sie kann ihren Körper selber nicht bewegen. Deswegen 22 | Concord hieß im Übrigen auch das Schiff, das 1683 die erste Gruppe von Emigranten aus Deutschland nach Amerika brachte. 23 | Vgl. die Vorbemerkung von Ilse Aichinger zu Gare maritime (Au: 263-266).
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braucht sie immer wieder Joes Hilfe, wenn ihr Finger an einem Haken hängen soll oder ihr Arm wieder unten ist. Man kann sie fast nicht lebendig nennen. Doch insofern, dass sie ihre Stimme behält, sei es durch die Rede oder das Klappern der Knochen, lässt sie sich als lebendige Figur vorstellen. Die Trennung zwischen dem Bewusstsein und dem Körper kulminiert am Ende: Da ihnen vom Wärter Gewalt angetan wird, behalten sie nicht mehr die »menschliche« Gestalt: Joe klebt Joans Auge zwischen drei ihrer Rippen und Joans Auge zwickt (vgl. Au: 319). Körperlich müssen sie längst tot sein, endlich tot, da sie ja davor auch körperlich nicht lebendig sein können. Doch dadurch, dass sie ihr Bewusstsein behalten und reden, wirken sie lebendig. Und das macht wiederum so einen Körper doch lebendig. Auf jeden Fall über-leben sie: Als Stimmengestalten existieren sie irgendwie über das Leben hinaus. Solche Figuren sind weder festzuhalten noch auszunutzen. Wie Joe zu Pedro, dem Bewacher, sagt: »Wir sind schlecht zu bewachen« (Au: 299). Die Stimme soll allerdings hierbei nicht als ein Punkt verstanden werden, wo Bewusstsein und Körper übereinstimmen. Im Gegenteil stellt sie einen »Nicht-Ort der Artikulation« (Agamben 2003 [1998]: 113) dar, wo das Bewusstsein den Körper gleichsam nicht »einholen« kann oder umgekehrt. Was sich in den Stimmen von Joan und Joe abzeichnet, ist diese Unvereinbarkeit von Bewusstsein und Körper. Diese Stimmen ereignen sich jeweils auf der Schwelle der beiden. Eine solche Stimme, »der arme Rest« (Au: 274), ist genau das Subjekt, das Agamben, der die Ethik nach Auschwitz zu retten versucht, in seinem Buch Was von Auschwitz bleibt24 in der Figur des Zeugen herauszuarbeiten versucht. Ausgehend von Foucaults Definition der souveränen Macht des alten Territorialstaates – sterben machen und leben lassen – und der modernen Bio-Macht – leben ma24 | Laut des Agamben-Übersetzers Stefan Monhardt heißt der Originaltitel auf Deutsch »›als Rest bleiben‹ u. ä.« (Agamben 2003 [1998]: 154). Zum »Rest« schreibt Agamben wie folgt: »[U]nd in ihm [dem Muselmann, W. K.] offenbart sich der dritte – wahrste und zugleich zweideutigste – Sinn der These [...]: Der Mensch ist der Nicht-Mensch, wirklich Mensch ist derjenige, dessen Menschsein vollständig zerstört wurde. / Das Paradox besteht dabei im folgenden: Wenn vom Menschlichen wirklich nur der Zeugnis ablegen kann, dessen Menschsein zerstört worden ist, dann bedeutet dies, dass die Identität von Mensch und Nicht-Mensch nie vollkommen ist, dass es nicht möglich ist, das Menschliche vollständig zu zerstören, dass immer ein Rest übrigbleibt. Dieser Rest ist Zeuge« (ebd.: 117).
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chen und sterben lassen – sieht Agamben »das spezifischste Merkmal der Biopolitik des 20. Jahrhunderts« darin: »nicht mehr sterben machen oder leben machen, sondern überleben machen«. Er argumentiert weiter: »Nicht das Leben oder der Tod, sondern die Erzeugung eines modulierbaren und virtuell unendlichen Überlebens ist die entscheidende Leistung der Macht unserer Zeit. Es handelt sich darum, im Menschen jedesmal das organische vom animalen Leben zu trennen, das Nicht-Menschliche vom Menschlichen, den Muselmann vom Zeugen, das durch die Reanimationstechniken in Gang gehaltene vegetative Leben vom bewussten Leben, bis ein Grenzpunkt erreicht wird, der wie die geopolitischen Grenzen, im wesentlichen beweglich ist und sich mit dem Fortschritt der wissenschaftlichen und politischen Technologien verschiebt. Der höchste Ehrgeiz der Bio-Macht besteht darin, in einem menschlichen Körper die absolute Trennung von Lebewesen und sprechendem Wesen, von zōḗ und bíos, von Nicht-Mensch und Mensch zu erzeugen: das Überleben« (Agamben 2003 [1998]: 135f.).
Was der »Muselmann« im Lager darstellte, war »ein von jeder Möglichkeit des Zeugnisses getrenntes Überleben, eine Art absoluter biopolitischer Substanz«, die dann der Bio-Macht dient, da sie »in ihrer Isolierung die Zuweisung jeglicher demographischer, ethnischer, nationaler oder politischer Identität zulässt« (ebd.). Gegen eine solche Bio-Macht versucht Agamben sich durch das Zeugnis zu wehren, das »mit jedem seiner Worte eben diese Isolierung des Überlebens vom Leben« widerlegt: »Es [das Zeugnis, W. K.] sagt: Genau deswegen, weil das Nicht-Menschliche und das Menschliche, der Lebende und der Sprechende, der Muselmann und der Überlebende nicht zusammenfallen, weil zwischen ihnen eine untrennbare Teilung besteht, kann es Zeugnis geben. [...] Die Autorität des Zeugen besteht darin, dass er einzig im Namen eines Nicht-sagen-Könnens sprechen kann, d. h. darin, dass er Subjekt ist« (ebd.: 138, kursiv im Original).
Dieser Begriff des Subjekts, das »gespaltene und doch untrennbare Leben« (ebd.: 132), ist für Agamben wichtig, denn anhand dessen kann die Bedeutung von Auschwitz ausgelotet werden, dessen Verständnis aufgrund der Nichtexistenz von »vollständigen Zeugen« – laut Primo Levi war er selber keiner, da er schließlich das Lager überlebt hatte – eine oft behauptete Unmöglichkeit ist. Dies ist genauso wichtig für Aichinger, die in ihren literarischen Texten immer wieder auf Auschwitz hindeutet. Das
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gilt auch für Gare maritime: zwar nicht direkt, aber Wörter wie Haken, Figur – so wurden die Leichen im Lager genannt –, Feuer, Wärter, Aufseher sowie die Vorstellung vom Tod (Staub, Knochenmehl, Asche) weisen unweigerlich darauf hin. Die Stimmen im Hörspiel sind über-lebende Zeugen der Geschichte – von der Zeit der Kreuzzüge bzw. vom Anfang Europas zur Zeit Karls des Großen bis Auschwitz.25 Angenommen, wir sind in unserer Subjektivität alle Zeugen; wie werden wir dann wohnen können? Wenn unser Selbst ein Ereignis ist, das stets zwischen dem Bewusstsein und dem Körper entsteht, so ist unser Selbst als Zeuge ein Ereignis, das – wie Joan – stets zwischen dem eigenen Bewusstsein und demjenigen der Anderen sowie dem eigenen Körper und demjenigen der Anderen entsteht. Eine solche Subjektivität wird wohl kaum einen festen Wohnsitz aufschlagen können – wie der Inspektor gegenüber Joan feststellt: »Es ist alles im Übergang« (Au: 295). Sie bleibt zwar an einem Ort, aber nur vorübergehend, wie Joan von Pedro »genau siebenundzwanzigmal durch die Gatter gezerrt« wurde (Au: 296). Am Ende wird sie sogar mit Joe vom Wärter, der in ihnen keinen Wert findet, aus dem Museum herausgekehrt. Doch womöglich weist der paradoxe Titel26 darauf hin: Wohnen ist etwas wie »auf die See umsteigen« (Au: 263), an einem Seebahnhof, Gare maritime, wo man ankommt, von wo aus man aber gleichzeitig abfährt – auf die See. Denn das Über-leben der Figuren fordert uns auf, in Bezug auf die Qualität des Lebens radikal umzudenken, was gewöhnlich mit dem festen Wohnen in eins gesetzt wird. Doch von einem solchen Begriff des nicht festlegbaren Wohnens im Übergang, das sich dem Bleiben annähert, müssen wir ausgehen, um andere Begriffe, wie Heimat und Zuhausesein, erneut gewinnen zu können.
25 | Zur Bildlichkeit von Auschwitz in Gare maritime vgl. Lorenz 1993: 31f. 26 | Der Beginn der Vorbemerkung von Aichinger zum Hörspiel ist zu zitieren: »Gare Maritime heißt Seebahnhof, eigentlich ein paradoxes Wort und zugleich eine exakte technische Bezeichnung für Bahnhöfe, die diejenigen Passagiere aufnehmen, die von der See kommen oder auf See wollen, umsteigen wollen eigentlich, wenn man das sagen könnte: auf die See umsteigen« (Au: 263).
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Kawahito, Hiroshi (22014): Karō jisatsu, Tōkyō. Kudō, Shigeru (2005): Obasute no keifu, Tōkyō. Levi, Primo (1980 [1976]): Aushuvittsu wa owaranai, aus dem Italie nischen v. Takeyama Hirohide, Tōkyō. Levi, Primo (2014 [1986]): Oboreru mono to sukuwareru mono, aus dem Italienischen v. Takeyama Hirohide, Tōkyō. Lorenz, Dagmar C. G. (1993): »Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen bei Ilse Aichinger«, in: Kurt Bartsch/Gerhard Melzer (Hg.): Dossier 5. Ilse Aichinger, Graz, S. 15-34. Mizushima, Hiroaki (2007): Nettokafe nanmin to hinkon Nippon, Tōkyō. Morikawa, Suimei (2015): Hyōryū rōjin hōmuresu shakai, Tōkyō.
Junk Space im Zeitalter des Neoliberalismus Eine poetologische Chronotopographie bei Kathrin Röggla Hiroshi Yamamoto
1. Kathrin Röggla, die in der Literaturszene vor allem durch ihre Stellungnahmen zu gegenwärtigen Diskursen wie dem Terroranschlag vom 11. September in New York (vgl. Röggla 2001) und als Kritikerin des Neoliberalismus (vgl. Röggla 2004) bekannt wurde, wird in der Forschung häufig als »repräsentativ für eine neue Form realistischen Schreibens« angesehen, »das dem Anspruch, authentisch bzw. dokumentarisch zu sein, gerecht zu werden sucht, dabei aber zugleich die Fiktionalitätstauglichkeit und den Konstruktionscharakter der jeweils thematisierten gesellschaftlichen Praktiken, Themen und Diskurse hervorhebt« (Balint/ Nusser/Parr 2017: 9). Der neue Realismus, um den es hier geht, wendet sich, wie etwa der Philosoph Markus Gabriel bemerkt, sowohl gegen den »postmodernen Konstruktivismus«, der in den medialen Simulakra der letzten Dekaden auch die literarische Bühne erobert hat, als auch gegen »das naturalistische Weltbild«, das sich im traditionellen realistischen Repräsentationsmodell des 19. Jahrhunderts widerspiegelt.1 Auch im engeren Kontext der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur versucht die gebürtige Österreicherin, deren Schreibweise tief in der ex1 | Markus Gabriel: »Wider die postmoderne Flucht vor den Tatsachen«, in: Neue Zürcher Zeitung v. 19. 6. 2016. ›https://www.nzz.ch/feuilleton/fuenf-jahre-neuerrealismus-wider-die-postmoderne-flucht-vor-den-tatsachen-ld.89931‹ (Zugriff am 18. 2. 2018).
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perimentellen Tradition der Wiener Gruppe verwurzelt ist, die engagierte und dokumentarische Literatur aus der ideologischen Enge und der ästhetischen Naivität der 1960er und 1970er Jahre zu befreien und sie auf eine neue Weise fortzuschreiben. Angesichts der neuen Arbeitswirklichkeit des postindustriellen Zeitalters haben zudem die narrativen Verfahren ihre Geltung verloren, die in der kritischen Literatur der Arbeitswelt von früher anzutreffen waren. Wenn Röggla sehr oft die Interviewtechnik verwendet,2 so weicht sie jedoch insofern deutlich von dem alten Muster ab, als sie die Aussagen in der Regel in der indirekten Rede in den eigenen Text verwebt. Darüber hinaus wählt sie als Schauplatz für ihr Werk nicht mehr die industriellen Fabriken, in denen die Helden in immer gleicher Besetzung auftreten konnten, sondern die »Speerspitze des neoliberalen Marktradikalismus« (Röggla 2013: 225), die »radikal kontingente Arbeiterwelt« (Stegemann 22016 [2015]: 167) im Zeitalter der Postmoderne, in der sich die neuen Typen der Fachleute wie Berater und IT-Manager nur kurzfristig sammeln und sich so rasch wieder trennen, dass sich zwischen ihnen keine Möglichkeiten mehr entfalten, im eigentlichen Sinne zu kommunizieren. So gehören zur Topographie Rögglas besonders transitorische und provisorische Räume der Gegenwart wie Shopping Malls und Messehallen, die in den soziologischen und architektonischen Diskussionen über die Räumlichkeiten postmoderner Gesellschaften immer wieder in den Vordergrund getreten sind. Unter Berücksichtigung dieser Diskussionen soll im Folgenden anhand des Theaterstücks worst case (aus dem Jahr 2008; vgl. Röggla 2009) und dessen Prosavariante die alarmbereiten (vgl. Röggla 2010) erörtert werden, wie Röggla aus diesen Räumen nicht nur sozialkritische, sondern auch ästhetische Konsequenzen zieht.
2 | Vgl. etwa Phil C. Langer: »Auf der Suche nach Arbeit. Ökonomisierung der Sprache. Kathrin Rögglas neuer Roman wir schlafen nicht«, in: Der Freitag v. 11. 6. 2004. ›https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/auf-der-suche-nach-arbeit‹ (Zugriff am 28. 2. 2018).
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2. Als »Nicht-Ort« definierte der französische Ethnologe Marc Augé 1992 einen gegenwärtigen Raum, »der keine Identität besitzt und sich weder als relational noch als historisch bezeichnen lässt« (Augé 42014 [1992]: 83). Wenn Baudelaires Pariser Bilder noch das »Nebeneinander der alten Religion und der neuen Industrie« (ebd.: 95) in Szene setzen konnte, um das Vergangene nicht einfach auszulöschen, sondern wie einen Unterton in das Gegenwärtige zu integrieren, so erscheint das Verhältnis von Altem und Neuem in der sogenannten Hypermoderne, in der nur noch »die Anzahl der Transiträume und provisorischen Beschäftigungen« (ebd.: 83) wächst, ganz anders. In den Freizeitparks und Einkaufszentren etwa kann und darf die Vergangenheit keinen Platz mehr einnehmen. Die ständige Akkumulation von Ereignissen verunmöglicht es, die Übersicht zu behalten, geschweige denn noch in irgendeiner Weise zu reagieren. Wenn »der Ort« auch niemals vollständig verschwindet und wenn auch »der Nicht-Ort« sich niemals vollständig herstellen lässt, so stellt dennoch der letztere das Maß unserer Zeit dar. Während die traditionelle Stadt, so auch der Soziologe Zygmunt Bauman, auf den der Begriff der »flüchtigen Moderne« zurückgeht, eine menschliche Ansiedelung darstellt, in der die Wahrscheinlichkeit besteht, dass Fremde einander begegnen, so werden die Menschen in unserer Zeit in gigantischen Shopping Malls in bloße Konsumenten verwandelt, die »ohne jegliche soziale Kontakte« nur noch ihre »individuellen Angelegenheiten« (Bauman 2003 [2000]: 116) verfolgen. Wenn sie sich hier zwar, manchmal sogar für lange Zeit, aufhalten dürfen, so löschen die modernen »Nicht-Orte« jedoch ihre »individuellen Besonderheiten« aus, um »sie für die Zeit des Aufenthalts irrelevant zu machen« (ebd.: 122). Dies entspricht auch der Zeitdiagnose Augés, wonach die Hypermoderne mit einer dramatischen Vermehrung der »Nicht-Orte« zunehmend zu einer »Vereinzelung des Menschen« (Chihaia 2015: 189) führt. Wenn Röggla in ihren Werken einen sehr starken Gegenwartsbezug zeigt, so hat dies kaum einfach mit dem neuen apolitischen Trend in der deutschen Gegenwartsliteratur zu tun, sich von den »längst ausgiebig bearbeitete[n] und auserzählte[n] historische[n] Gegenstände[n] « (Kämmerlings 2011: 36) zu befreien und sich »hin zur eigenen Zeit und den Erfahrungen der Zeitgenossen« (ebd.: 34) zu bewegen. Rögglas ausschließliche Konzentration auf die Gegenwart geht vielmehr von der Tatsache aus,
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dass die »Nicht-Orte«, die keine Vergangenheit und keine Zukunft mehr kennen, in der heutigen globalen Welt überhandgenommen haben. Aus dem gleichen Grund muss Röggla auch fast völlig darauf verzichten, die Figuren mit psychologischen Erklärungen und biografischen Hintergründen zu versehen. Bei ihr gibt es, wie der Kritiker Böttiger zu Recht bemerkt, »keine Innenschau, und auch keine Interieurs, die solch einer Innenschau entsprächen und häufig in Vorabendserien vorkommen«.3 Denn der »Raum des Nicht-Ortes schafft«, wie Augé wiederum betont, »keine besondere Identität und keine besondere Relation, sondern Einsamkeit und Ähnlichkeit« (Augé 42014 [1992]: 104). Gewiss war sich die moderne Dramatik der kommunikativen Krise schon seit langem bewusst. Bereits die Dramen Tschechows, in denen die Figuren auf der Bühne nur noch aneinander vorbeireden, sind gekennzeichnet vom »Verzicht« auf »Kommunikation« und »Begegnung«. Dieser Verzicht liegt hier jedoch noch darin begründet, dass die »Gegenwart« der Figuren von »Vergangenheit und Zukunft« gleichsam »erdrückt wird« (Szondi 1981 [1956]: 32). Wenn sich in den Dramen Rögglas die weltfremden, aber austauschbar ähnlichen Figuren in einem Transitraum zufällig kennenlernen und aneinander vorbeireden und missverstehen, so müssen auch alle Voraussetzungen der traditionellen Dramatik für Zeit, Raum und Charakter selbst einer ebenso kritischen Prüfung unterzogen werden.
3. Wenn der Niederländer Rem Koolhaas vom architekturtechnischen und -geschichtlichen Gesichtspunkt die »urbanistischen Bedingungen des Konsums« analysiert und als »Junkspace« die spätkapitalistischen »NichtOrte« bezeichnet, die »sich, wie die Disneyfizierung, nach und nach über das gesamte Universum ausbreite[n]« (Jameson 2003: 74), so geht es ihm dennoch nicht bloß um deren Nachteile. Er sieht darin vielmehr eine 3 | Helmut Böttiger: »Im Bauch des Wals. Kathrin Röggla fängt in ihrem Erzählungsband Nachtsendung die flimmernde und rasende Gegenwart ein«, in: Süddeutsche Zeitung v. 18. 10. 2016. ›http://www.sueddeutsche.de/kultur/deut sche-gegenwartsliteratur-im-bauch-des-wals-1.3200312‹ (Zugriff am 18. 2. 2018).
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Möglichkeit, die »langweilige« Rigorosität der europäischen modernen Architektur zu überwinden, die durch Begriffe wie »Abstraktion«, »Ordentlichkeit« und »Regelmäßigkeit« gekennzeichnet ist (vgl. Koolhaas/ Bruce 21998 [1995]: 663ff.). Laut seinem Essay »Junkspace« (2000), dessen »Kombination aus Ekel und Euphorie in der Postmoderne« der USLiteraturkritiker Fredric Jameson als »einmalig« (Jameson 2003: 74) bezeichnete, markiert der Müllraum »das Ende der Aufklärung« mit ihrer teleologischen Geschichtsauffassung, in deren Zeichen die moderne Architektur das optimistische Projekt zu realisieren versucht hatte, »den Segen der Wissenschaft universell zu verbreiten« (Koolhaas 2000: 55). Nun hat man mittels neuer Baumaterialien und Anlagen wie Rolltreppen, Klimaanlagen und Gipskartonplatten ganz neue technische Bedingungen geschaffen, mit denen man überall auf der Welt gleichartige Gebäude errichten und deren Innenräume ähnlich bis uniform ausstatten kann, wodurch etwa Shopping Malls überall in der Welt nahezu völlig undifferenzierbar geworden sind. Im Junkspace wird alles getilgt, was der modernen Architektur wichtig war. Im gigantischen Bau (»Bigness«) ist die Einheit zwischen der Fassade und dem Innenraum völlig außer Geltung geraten. Da der Innenraum mittlerweile so einfach auf-, ab- und umzubauen ist, verliert die Fassade an Relevanz, die ihr als dem Interface zwischen Gebäude und Außenwelt in der modernen Architektur zugekommen war. Nun spielen weder kompositorische Harmonie noch Vollendung mehr eine nennenswerte Rolle: Der Junkspace bestehe, so Koolhaas, »nur noch aus Sub-Systemen, ohne übergeordnete Struktur, aus verwaisten Partikeln, die nach einem Rahmen oder Muster suchen« und ersetze »Hierarchie durch Akkumulation, Komposition durch Addition« (ebd.). Auch die Gedächtnisse, die mit einem bestimmten Ort verbunden waren, sind in diesem Raum nicht mehr vorstellbar, wenn Öffentliches mit Privatem, Gerades mit Krummem und Erhabenes mit Gemeinem schonungslos verbunden wird, »um ein nahtloses Patchwork der permanenten Zusammenhangslosigkeit zu offenbaren« (ebd.). Auf der ästhetischen Ebene ist die Art und Weise bemerkenswert, in der der Junkspace, der sich immer »in einem Stadium des Werdens« (ebd.: 57) befindet, »enthüllt, was frühere Generationen geheim hielten« (Koolhaas, zit. n. Jameson 2003: 75).4 Wie Brecht die künstlerischen Konventionen des traditionellen Theaters 4 | Es handelt sich bei den Zitaten aus Koolhaas in diesem Artikel um eine überarbeitete Fassung der ersten deutschen Übersetzung.
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verfremdet hat, werden hier vielfältige Methoden der architektonischen Desillusionierung zum Einsatz gebracht: »Strukturen schießen hervor wie Sprungfedern aus einer Matratze, Fluchttreppen baumeln in didaktischem Trapez, Sonden stoßen in den Raum hinein« (ebd.). In diesem Raum, wo alles Originale verschwindet, beschäftigt sich der Architekt nur noch mit dem ständigen Recycling. Aus dem Architekten wurde ein Eventverwalter oder ein Programmierer. Wenn gerade dieser Junk-Raum im Werk Kathrin Rögglas sehr oft zur Anwendung kommt, etwa als Tagungs- und Seminarräume für Gruppentherapie und Beratung in den Theaterstücken junk space5 und worst case, als Recyclinghöfe, Betonflachbauten und Riesenzelte »mit jeder Menge Dixi-Klos außenrum«6 in den Prosaminiaturen Nachtsendung (vgl. Röggla 2016) sowie als Messe in wir schlafen nicht (vgl. Röggla 2004), so wird sie dazu angeregt, neue Möglichkeiten für Romane und Dramen gerade im »Junkspace« zu erschließen. Denn »ein nahtloses Patchwork der permanenten Zusammenhangslosigkeit« (Koolhaas 2000: 55), das der Junkspace darstellt, dient als Modell für eine Form des Schreibens, das eine Alternative zur Chronologie und zur Klimax zeigt. Stattdessen werden mit Hilfe des Stilmittels der Montage alte und fremde Materialien gesammelt, transformiert und neu geordnet: Denn im Junkspace ist »jede Materialisierung«, so Koolhaas, »provisorisch«: »Das Bauen hat eine neuartige Weichheit angenommen, ähnlich dem Schneidern von Kleidern ... Die Verbindung ist nicht mehr problematisch: Übergänge werden durch Klammern oder Klebeband definiert, knitterige braune Bänder, die kaum die Illusion einer einheitlichen, ungebrochenen Oberfläche aufkommen lassen. Verben, die in der Architekturgeschichte unbekannt waren – klemmen, stecken, falten, schütten, kleben, knicken, verschmelzen – sind inzwischen unverzichtbar geworden. Jedes Element erfüllt seine Aufgabe als solche. Während die Detailbehandlung früher die Vereinigung disparater Materialien, möglicherweise für immer, andeutete, ist sie nun eine provisorische Paarung, die darauf wartet, beendet, auseinandermontiert zu werden, eine zeitlich befristete Umarmung, die womöglich keine der sie konstituierenden Komponenten überleben wird – nicht mehr das
5 | Vgl. Kathrin Röggla 2005: »junk space«. ›https://www.dtver.de/downloads/ leseprobe/f---1088.pdf‹ (Zugriff am 20. 2. 2018). 6 | Böttiger (s. Fußnote 3).
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orchestrierte Aufeinandertreffen von Unterschieden, sondern ein Patt, das abrupte Ende eines Systems« (ebd.: 56).
4. Koolhaas ist allerdings der Meinung, dass die »Generic City«, die stadtweit erweiterten Junkräume, zunächst in den nicht-europäischen Ländern realisiert wurde. Es ist gerade der »Manhattanismus« in New York am Anfang des 20. Jahrhunderts, der ohne Programm zum ersten Mal die Voraussetzung des sachlichen und abstrakten europäischen Modernismus nonchalant außer Acht gelassen und gerade die Diskrepanz zwischen dem Innenraum und der Fassade auf die Spitze getrieben hat: »They [New York’s makers, H. Y.] exploit and deformalize it in the architectural equivalent of a lobotomy – the surgical severance of the connection between the frontal lobes and the rest of the brain to relieve some mental disorders by disconnecting thought processes from emotions« (Koolhaas 1994: 100).
Nachdem New York aber im späten 20. Jahrhundert nicht mehr so »delirierend« war (vgl. Koolhaas 2004), hat Koolhaas seine Aufmerksamkeit immer mehr auf die asiatischen Städte, zunächst auf Tokyo, dann auf Singapur und Shenzhen gelegt, deren angeblich asienspezifisch chaotisch expandierende Stadtlandschaft zeigen solle, dass der Außenraum, der nach dem klassischen Verständnis die Stadtlandschaft ausmache, überflüssig geworden sei. Die kommerziellen Tätigkeiten, die aus den geschlossenen Innenräumen enormen Ausmaßes ausstrahlten, stellten den Außenraum quasi in den Schatten. Gerade in diesen Punkten hat Koolhaas aber von seinem japanischen Kollegen Isozaki Arata Kritik geerntet, der 1991 mit dem Amerikaner Peter Eisenman und dem Spanier Ignasi de Solá-Morales Rubió die internationalen ANY-Kongresse geschaffen hatte, um sich bis zum Millennium jedes Jahr zu treffen und über die Perspektiven der Architektur zu diskutieren. An den Tagungen haben sich nicht nur Architekten und Kunsthistoriker, sondern auch Philosophen wie Jacques Derrida und der Deleuzianer John Rajchman beteiligt, sowie die japanischen Philosophen und Kritiker Asada Akira und Karatani Kōjin. Nach der Bilanz Asadas wurde noch Anfang der 1990er Jahre die Diskussion in den Tagungen hauptsächlich von der dekonstruktivistischen Denkweise,
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die sich im Postmodernismus der 1980er Jahre etabliert hatte, beherrscht (vgl. Isozaki/Asada 2010: 8f.). Im Laufe der Zeit fand aber ein Sichtwechsel statt, da die postmoderne Dekonstruktion, die die Dichotomie in der Zeit des Kalten Kriegs durch metasprachliche Analyse außer Geltung zu bringen versucht hatte, nach Ansicht Asadas nach 1989 nur noch ins Leere griff und, so auch der Philosoph Karatani, »völlig an Relevanz verlieren musste, um dann fast nur noch die realiter dekonstruktive Bewegung des Kapitalismus zu verteidigen« (Karatani 2004: 238). Unter dem Einfluss der Philosophie Deleuzes wurde in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre in den ANY-Kongressen immer mehr Aufmerksamkeit auf den Prozess des Werdens gelegt, was unter anderem zur Folge hatte, dass die Entwürfe eines flüssigen Baus in Mode kamen. Ironischerweise war es fortan allerdings Koolhaas, der die führende Rolle übernommen hatte und unabhängig von den Theoriebildungen auf den Wellen des Globalkapitalismus surfen wollte. Die erste Kritik resultierte aus dem Selbstbewusstsein des autonomen Künstlers. Das Programm Koolhaas’, völlig auf die Autonomie der Kunst zu verzichten und gehorsam den gesellschaftlichen und neoliberalen Forderungen zu folgen, erinnerte den 1931 geborenen Architekten Isozaki Arata bloß an die »Bad Paintings« der 1970er Jahren, die durch Einbeziehung der naiven und nichtkünstlerischen Elemente das konventionelle Kunstverständnis zu erschüttern versucht hatten, um sich aber schließlich nur in Banalität zu erschöpfen (vgl. Isozaki/Asada 2010: 116f.). Schon der architektonische Brutalismus, der sich am Zufall orientiert hatte und mit der Neodada-Bewegung in der Kunst Hand in Hand gegangen war, verlor bereits am Anfang der 1960er Jahre an revolutionärem Potential (vgl. ebd.: 130). Wenn Koolhaas von der Annahme ausgeht, »dass die gigantischen Räume namens Universal Space äußerst disparate Elemente, so sehr sie auch miteinander in Konflikt stehen mögen, unter ein Dach bringen sollten« (ebd.: 119), so verhält er sich, wie auch der Philosoph Asada kritisch bemerkt, bloß wie ein Handlanger der neoliberalen Gesellschaft. Das strategische Verfahren von Kohlhaas wurde als »Orientalismus« (ebd.: 162) kritisiert: Er idealisiere die unordentliche und chaotische Expansion der asiatischen »Generic Cities«, um die unflexible Funktionsästhetik der modernen Architektur anzugreifen. Der Internationalismus der modernen Architektur erweise sich zwar bloß als Betrug, aber es sei, so der Philosoph Asada Akira, lächerlich und pervers, wenn sich die Ja-
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paner auf den Standpunkt zurückziehen, dass Japan die hässliche, neokapitalistische Expansion der Stadt eben nicht unter Kontrolle bringen könne und in dieser Hinsicht beim »Verlust der Innerlichkeit« und der künstlerischen Intention weltweit an der Spitze stehe (vgl. ebd.: 226). Sein Nihilismus werde, so fährt Asada fort, im Motto »¥€$« deutlich, unter dem er sich der anarchischen Dynamik des Weltkapitalismus kritiklos und widerstandslos überlassen wolle (vgl. ebd.: 222). In seinem Konzept von »Bigness« finden der Architekt und der Philosoph auf perverse Weise bloß das verwirklicht, was in den 1960er Jahren noch mit Ironie »No Stop City« genannt wurde: eine architektonische Dystopie, in der alle architektonischen Werke nichts als endlose Reihen von Innenräumen in einem einzigen gigantischen Stadtraum darstellen. Allerdings vergisst Koolhaas keineswegs die Tatsache, dass das chaotische Tokyo schnell zu einem »cliché« werde (Koolhaas/Mau 21998 [1995]: 365). Er widmet sich auch, wenngleich nur am Rande, dieser politischen Ebene und der historischen Entwicklung des öffentlichen Raums. Junkspace basiere, so der Architekt, »auf der generellen Beseitigung des kritischen Denkvermögens im Namen von Komfort und Vergnügen« (Kool haas 2000: 58). In diesem Sinn muss jeder Junkspace »promiskuitiv und zugleich repressiv« sein (ebd.). Im Anschluss daran schreibt Kathrin Röggla diese politische Dimension in viel differenzierterer Weise fort. Um der neuen Arbeitsrealität im neoliberalen Zeitalter genau ins Auge zu blicken, versucht sie eine sehr subtile »Unternehmensstrategie« offenzulegen,7 die insofern »eine verschärfte Form der Ausbeutung« bedeute, als sie sich gerade »als Selbstverwirklichung tarnt« (Stegemann 22016 [2015]: 170). Dabei knüpft Röggla häufig an die Machtanalyse Michel Foucaults an, die das alte Modell von Recht und Krieg durch den neuen Begriff der »Gouvernementalität« ersetzt und »die projektförmige Arbeit der Gegenwart« »als Selbstdisziplinierung im Postfordismus« beschreibt (Borgards u. a. 2013: 103). Der Neoliberalismus könne nach Auffassung des Kultursoziologen Ulrich Bröckling, der an Foucaults Gouvernementalitätsstudien anschließt, als »ein politisches Projekt« aufgefasst werden, »das darauf zielt, 7 | Vgl. Kathrin Röggla 2005: »Preisrede anlässlich der Verleihung des BrunoKreisky-Preises für das politische Buch 2004«. ›http://www.renner-institut.at/ fileadmin/user_upload/downloads/kreisky_preis/roeggla.pdf‹ (Zugriff am 20. 2. 2018).
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eine soziale Realität herzustellen, die es zugleich als bereits existierend voraussetzt« (Bröckling/Krasmann/Lemke 2000: 9). Im Vergleich zum Frühliberalismus, der noch »das Prinzip der Rationalität des Regierungshandelns an die Rationalität der regierten Individuen gekoppelt« (ebd.: 15) sieht, findet der Neoliberalismus dieses Prinzip nur noch in einer künstlich arrangierten Freiheit, nämlich in »dem unternehmerischen Verhalten der ökonomisch-rationalen Individuen«. Er weitet ökonomische Formen dergestalt auf das Soziale aus, dass »die Differenz zwischen Ökonomie und Sozialem« völlig eliminiert ist (ebd.: 16). Deshalb erfährt in der Gouvernementalitätsforschung die Frage nach der veränderten Bedeutung gesellschaftlicher Risiken eine immer größere Beachtung, die »weniger gefunden als ›erfunden‹ werden« (ebd.: 22): »Auf der Grundlage dieser Risiko-Rationalität lassen sich mögliche Subjekte von Interventionen bestimmen und Gegenstände wie Grenzen ›legitimen‹ Handelns festlegen« (ebd.). Die vorbeugende Praxis bringt, wie Bröckling anhand der medizinischen Vorsorge festhält, eine gleichzeitige »Dezentrierung und Rezentrierung des Subjekts«, denn Prävention ist zwar »mit der Auflösung des Begriffes des Subjekts« verbunden, der durch einen Komplex von Faktoren ersetzt werde, macht jedoch zugleich »die Seite des Subjekts« stark, um es »als selbstverantwortlichen Agenten seines eigenen Lebens in die Pflicht« zu nehmen (Bröckling 2004: 213). Im Zuge der Ökonomisierung des Sozialen entlässt der Staat seine Bürger aus der fürsorglichen Belagerung in »die Freiheit der Selbstsorge«, damit sie ihre Lebensrisiken »eigenverantwortlich managen«. Im Endeffekt werden die traditionellen Mechanismen des »Überwachens und Strafens« durch »die Regime freiwilliger Selbstkontrolle« (ebd.) ersetzt. So neigen viele Menschen dazu, sich freiwillig den Sicherheitsmaßnahmen zu unterwerfen, die zumeist als Schutzmaßnahmen ausgegeben werden. Solange aus der andauernden Antizipation der Krise vehement Profit gezogen wird, scheinen selbst Kassandrarufe, wie auch die kanadische Journalistin Naomi Klein in ihrem Buch The Shock Doktrin (2007) argumentiert, der neoliberalen Logik noch nützlich zu sein. Erst in diesem Kontext ist zu verstehen, warum sich Röggla immer wieder mit der Katastrophengrammatik und den »Worst-Case-Szenarien« beschäftigt, die in den Medien nahezu täglich ausgerufen werden, wenn die Autorin die Krise des autonomen Subjektes der Moderne zum Ausdruck bringen will. Im Risikomanagement und Präventionsdenken lässt sich »das unternehmerische Selbst« neu konstituieren, das im Zeitalter
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des Neoliberalismus die autonome Subjektivität der Moderne ersetzt. So versucht Röggla in ihrem essayistischen und belletristischen Werk, die »politische[] Instrumentalisierung von Angst« und die »inflationär gewordene[] Katastrophendramaturgie in Medien und Politik«8 zu analysieren. Wenn sich allerdings der autonome Mensch der Moderne in ein unternehmerisches Subjekt verwandelt, das nur noch durch »freiwillige Selbstkontrolle« regiert wird, so bereitet dies auch den Dramatikern Schwierigkeiten. Denn unter diesen Bedingungen verlieren die alten »Realismen, die einfach nur dahererzählen«9 und die sich der Sprache als eines durchsichtigen Mediums für politische Botschaften bedienten, fundamental an Geltung.
5. Die intensive Nutzung der indirekten Rede, die neben der durchgängigen Kleinschreibung ein stilistisches Hauptmerkmal Rögglas ausmacht, kann als eine Strategie verstanden werden, die theatralische Krise zu überwinden. Ihr liegt wohl die Annahme zugrunde, dass »das unternehmerische Selbst« in der heutigen medial vermittelten Welt keinen Anschluss »ans Reale« (Röggla 2013: 15) finden könne, sondern alles nur noch aus zweiter Hand erfahre. Wenn einem die Möglichkeit versperrt bleibt, vor Ort zu sein, wie dies Röggla selber bei den Terroranschlägen in New York erfahren hat, so geht es in ihren Katastrophenerzählungen nicht mehr essentialistisch um das Geschehen selbst, sondern ausschließlich um den Diskurs, der über die unsichtbaren Ereignisse geführt wird. Dabei muss man feststellen, dass dieser Diskurs gerade von denjenigen Phrasen der Katastrophendramaturgie vorgeprägt ist, die zuvor schon von den Medien in Umlauf gebracht worden waren.
8 | Kathrin Röggla: »Wir leben in einem großen Katastrophen-Bild«, in: Der Standard v. 10./11. 2009. ›derstandard.at/1254311055365‹ (Zugriff am 10. 3. 2018). 9 | Kathrin Röggla 2014: Essenpoetik. Drei Vorlesungen als Poet in Residence an der Universität Duisburg-Essen, 1.-5. Dezember. ›https://www.uni-due.de/ imperia/md/content/germanistik/lum/roeggla-essenpoetik.pdf‹ (Zugriff am 10. 3. 2018).
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In ihrem Essay »Geisterstädte, Geisterfilme« macht Röggla auf die Tatsache aufmerksam, dass wir »einen narrativen Ausdruck, mehr noch ein narratives Ventil« für Katastrophenszenarien »von unserer medialen und institutionellen Umgebung übernehmen« (ebd.: 19). Die »öffentlichen Rhetoriken nehmen«, so heißt es in einem weiteren Essay (»Gespensterarbeit und Weltmarktfiktion«), »Tonlagen an, wie man sie eigentlich aus dem Suspense-Hollywoodkino kennt« (ebd.: 210). In Anlehnung an Jean Baudrillard und Guy Debord spricht sie sogar von der »Geiselnahme des Ereignisses durch das Bild«, von einem »Vampirismus des Fiktionalen« (ebd.: 24). So kommt sie zum Schluss, »dass es derzeit überhaupt keine Insider mehr gibt, sondern nur noch Outsider hinsichtlich eines gespenstischen Treibens, das niemand mehr in den Griff bekommt« (ebd.: 221). Auch den Experten bleibt nichts anderes übrig, »als mit der Aura des Fernsehdoktors einer Sendung den Anschein einer ernstzunehmenden Auseinandersetzung zu verleihen, mit einer Prise aufgeregter Onkelhaftigkeit, die jeden denkenden Menschen schon misstrauisch stimmen müsste« (ebd.: 401). Eines der zentralen Merkmale der Katastrophenerzählung besteht in der spezifischen zeitlichen Struktur. Die risikobewusste Gesellschaft des 21. Jahrhunderts, die den Regeln des in alle Bereiche vordringenden Finanzkapitalismus entsprechend »auf Schuld und Verschuldung« basiert, blickt, anders als jene des 20. Jahrhunderts, die beständig zurückgeblickt hatte, »immer mehr in zahlreichen Szenarien angstvoll nach vorn«,10 sodass »unsere Zukunft längst beinahe restlos […] hineingesaugt worden ist in die Gegenwart durch zahlreiche Kalkulationen, Futures und Derivate, durch das von Rechenmaschinen immer schon Ausgemachte«.11 Allerdings habe nicht nur die Gegenwart die Zukunft beinahe vollständig
10 | Kathrin Röggla hat 2016 in Zürich drei Poetikvorlesungen gehalten. Der Fischer Verlag dokumentiert alle Vorlesungen auf seiner Homepage »Hundertvierzehn«. Hier zit. n. Kathrin Röggla: Auf der Suche nach der verlorenen Zukunft. 1. Vorlesung der Zürcher Poetikvorlesungen 2016. ›https://www.hundertvierzehn. de/artikel/auf-der-suche-nach-der-verlorenen-zukunft_1905.html‹ (Zugriff am 6. 7. 2018). Auch die Autorin selber stellt diese und andere Vorlesungen auf ihrer eigenen Homepage zur Verfügung: ›http://www.kathrin-roeggla.de/meta/zuer ich-2016-1‹ (Zugriff am 6. 7. 2018). 11 | Ebd.
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konsumiert, auch stürze die Zukunft in die Gegenwart und vernichte diese gleichsam: »Wir müssen auch obsessiv mit ihr [der Zukunft, H. Y.] beschäftigt sein, wir kalkulieren sie, malen sie aus, sie besetzt unsere ganze Vorstellungskraft. Die dazu notwendigen Szenarien, früher auch von Schriftstellern gebaut, werden mehr und mehr vom Risikomanagement entworfen, von Investmentbüros, von den PR-Abteilungen irgendwelcher Lobbyisten, Politikberatungsagenturen. Die kollektive Phantasie kann sich nichts mehr anderes vorstellen, und wenn doch, ist es radikal rückwärtsgewandt, wie man an Pegida, AfD und anderen rechtspopulistischen Strömungen sehen kann«.12
In den Szenarien, die z. T. jenen konventioneller Dystopia- und ScienceFiction-Romane ähneln, wird sehr oft das Tempus des Futurum Exactum, »der abgeschlossene Zukunftshorizont«, eingesetzt (vgl. Nusser 2017 u. Nöllgen 2017). Es geht Röggla letztlich darum, jener »zeitlichen Struktur zu entkommen, die Gegenwart und Zukunft auf eiserne Weise ineinander verzahnt, sodass letztere bereits festgeschrieben ist«.13 In diesem Kontext können die Schriftsteller, »Meister des Fiktiven und doch entthront von dem gesellschaftlichen Fiktiven« (Röggla 2013: 229), durchaus noch eine wichtige Rolle spielen, wenn sie eine Melange aus den alarmistischen und sozialdarwinistischen Rhetoriken herstellen und auf diese Weise die Strategien des neoliberalen Präventionsdenkens bloßstellen oder gar aktiv unterlaufen.
6. Das Theaterstück worst case (vgl. Röggla 2009) stellt »die indirekte und vermittelte Reaktion auf verschiedene Katastrophenszenarien« (Gürtler 2013: 10) dar. Im Unterschied zu der erweiterten Prosafassung, die unter dem Titel die alarmbereiten (2010) in Buchform erschien, wurde in der Forschung das Drama bislang noch kaum beachtet. Der Unterschied zwischen den beiden Versionen ist jedoch nicht so gering, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, denn das Drama stellt durch spezifische 12 | Ebd. 13 | Ebd.
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Kunstgriffe zur Schau, wie im Zeitalter des Neoliberalismus ein leeres Subjekt konstituiert worden ist. Die Figuren haben, wie oft bei dieser Autorin, keinen Eigennamen, sondern werden auf bloße Funktionsträger reduziert. Sie verweilen immer im gleichen geschlossenen Innenraum wie etwa im »tagungsraum«. Alles, was in der Außenwelt geschieht oder als Bedrohung bevorsteht, ist den Figuren nur in der Vermittlung durch den Fensterausblick bzw. Radio und Telefon präsent. Die räumliche Unzugänglichkeit der Wirklichkeit draußen infiziert auch die textliche Ebene: »die passagen im indikativ und in anführungszeichen stellen«, so heißt es in der Vorbemerkung, »fiktive filmzitate dar« (Röggla 2009: 2), während die realiter eigenen Aussagen der einzelnen Figuren ausschließlich in indirekter Rede wiedergegeben werden. Dies weist darauf hin, dass die Aussagen nur dann als real und unmittelbar gelten können, wenn sie gut zu den imaginierten Szenerien passen, die in sich wohl verschiedene Katastrophen- und Horrorfilme auf einen Nenner bringen. Hingegen weist all das keine Originalität mehr auf, was die Einzelnen, die schon längst die vorgegebene Katastrophengrammatik verinnerlicht haben, vermeintlich als eigene Meinung darstellen, sodass gerade ihre Reden wie Sprachfloskeln und Zitate wirken. Die einzelnen Aussagen im Konjunktiv sind ferner möglicherweise aus der kritischen Perspektive eines unsichtbaren Dritten notiert, protokolliert und hinterfragt worden. In den ersten drei Szenen findet sich als dramatis persona merkwürdigerweise eine Ich-Figur, die jedoch in Klammern gesetzt wird. Wenn am Schluss der Prosafassung die Ich-Figur darüber Bilanz zieht, was sie bis dato in Anonymität protokolliert hat, so ist wohl auch dem (ICH) im Theaterstück die Erzählinstanz zugewiesen. Auf diese Weise kann jede persönliche Aussage aus der Erzählperspektive des unsichtbaren (ICH) womöglich mit einer gewissen Ironie protokolliert werden, auch wenn seine kritischen Anmerkungen im Theaterstück niemals direkt, z. B. im Off, zum Ausdruck gebracht werden. Allerdings handelt es sich keineswegs um einen auktorialen Erzähler, der eine zeitliche und räumliche Distanz zum Geschehen hält, alles von außen betrachtet und auf diese Weise eine nahezu göttliche Allmacht ausübt. Im Vergleich zum allwissenden Erzähler erweist sich das (ICH) als geradezu schwach. Obwohl das (ICH) in jeder Szene der Blickfang der anderen und auch der Leser bzw. der Zuschauer ist, bleibt dieses Zentrum des Stücks stumm und leer. Genauer gesagt, selbst wenn es Fragen stellt
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oder gar heult, steht im Text nichts davon, was es ausspricht. Das Stück worst case ist nämlich um eine doppelte Leere konstruiert, nicht bloß um ein ungenanntes katastrophales (Fake-)Geschehen, sondern auch um ein leeres (ICH). Dieses Konzept vom ohnmächtigen Subjekt korreliert im Übrigen sehr präzise mit den gesellschaftlichen Bedingungen im postfordistischen Zeitalter: Das Subjekt, das, wie uns die neoliberale Rhetorik glaubhaft machen will, »soziale Risiken selber zu tragen versteht«, erweist sich tatsächlich jedoch kaum in der Lage, »in der Realität anzutreten« (Röggla 2013: 11). Schließlich regt der Dramentext die Leser bzw. die Zuschauer an, selbst die leere Stelle vor der Bildoberfläche bzw. der Bühne einzunehmen, in die sich das (ICH) zurückzieht, denn das intensiv eingesetzte Personalpronomen in der ersten Person müsste sich auch auf sie beziehen. Der Leser bzw. der Zuschauer verhält sich zu dem Text dann genauso wie der Betrachter zum »Hoffräulein«-Bild von Velázquez, das Foucault in Die Ordnung der Dinge kommentiert: Der Betrachter besetzt ein »symbolisch souverän[es]« »Zentrum der Komposition«, jenen »dem Bild äußeren Punkt«, in dem sich »genau der Blick des Modells im Augenblick, in dem es gemalt wird, der des Betrachters, der die Szene anschaut, und der des Malers im Augenblick, in dem er sein Bild komponiert« (Foucault 1974 [1966]: 43) überlagern. Das (ICH) ist insofern nichts anderes als »eine Stelle, ein Aktualisierungsmoment des Diskurses, der uns abspielt« (Röggla 2013: 31). In diesem Kontext kann eine Parallele zwischen den Konjunktivformen und dem Spiegelbild im Hintergrund des »Hoffräulein«-Bilds gezogen werden. Wenn der Spiegel zwar wiederholt, »was im Bild bereits gegeben war, aber in einem irrealen, modifizierten, verkürzten und gekrümmten Raum« (Foucault 1974 [1966]: 36), so wird in der Konjunktivform »das Hier und Jetzt«, wie Röggla selber erläutert, immer »ausgehebelt«, sodass schließlich eine »Nichtstelle, ein inexistenter und doch hoch aufgeladener Raum«14 entsteht: »Der Konjunktiv zerschneidet den Bühnenraum, bzw. fügt er sozusagen eine fünfte Wand ein, eine externe Sprecherposition, eine Art Mehrzeitigkeit des performativen Sprechens. Er ist eine Spaltmaschine. Zwischen dem sprechenden Subjekt und dem Subjekt der Sätze, zwischen dem ›Hier und Jetzt‹, dem ›Eben noch‹ und 14 | Siehe Röggla, Fußnote 10.
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dem ›jetzt gerade‹, dem ›Hier und dort‹, dem Sprecher und dem Sprechenden. Er macht eine Zweizeitigkeit und gleichzeitig eine Interpersonalität auf, von deren Brauchbarkeit ich doch stark ausgehe. So kann man Handlungsräume zeigen und gleichzeitig verschwinden lassen. Die Frage, wer noch handelt, erhält im Konjunktiv ein neues Licht. Er geht der ständigen Verschiebung der Handlung nach, die wir in der öffentlichen Rede erleben«.15
Wie man im Spiegel, so Foucault, »die gleichen Dinge wie in der ersten Instanz des Bildes« sieht, »aber nach einem anderen Gesetz zerlegt und rekomponiert« (Foucault 1974 [1966]: 36), so wirken die gleichen Dinge im Konjunktiv durch Verdoppelung und Multiplikation anders als im Indikativ.
7. Rögglas dokumentarisch wirkende Texte, oft auf Interviews basierend, werden manchmal als bloße Reportage missverstanden. Wenn jedoch der montageartige Umgang mit den floskelhaften Diskursen in den verschiedenen Medien und nicht zuletzt der intensive Einsatz der Konjunktivformen berücksichtigt wird, können ihre Texte als Musterbeispiel für den Versuch bezeichnet werden, literarisch innovativ auf die neoliberale Realität einzugehen. Nach ihrer eigenen Angabe hat sich Röggla für den literarischen Umgang mit Interviewmaterialien an Alexander Kluge und Hubert Fichte orientiert. Wenn der erstere die »Verbindung von Dokumentarischem und Fiktionalem hinkriegt« (Röggla/Gröschner 2009: 180), und wenn der letztere »Mündlichkeit und Schriftlichkeit« (ebd.: 181) auf geniale Weise verschränkt, so verwebt auch Röggla in ihrem konjunktivischen Stil jede Zeugenaussage und jeden Wirklichkeitsfetzen im unendlichen Prozess der Verwandlung miteinander. Sie nimmt die transformierten Materialien als »Modul« und kombiniert sie in der Art eines Innenarchitekten des Junkspace, der die Wirklichkeit wie im Spiegel der indirekten Rede nur »in einem irrealen, modifizierten, verkürzten und gekrümmten Raum« (Foucault 1974 [1966]: 36) wiedergeben kann, um im Widerspiel der Fiktionalität mit der Faktizität »ein nahtloses Patchwork der permanenten Zusammenhangslosigkeit zu offenbaren« (Koolhaas 15 | Ebd.
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2000: 55). In diesem Sinn ist es Röggla im Theaterstück worst case gelungen zu zeigen, wie sehr sich die mediale Katastrophengrammatik in uns eingeschrieben hat, die inzwischen »die herrschende Sprache« (Röggla 2013: 38) geworden ist, und reißt in diese dominierende Denk- und Sprechweise gleichzeitig mit den ihr zur Verfügung stehenden sprachlichen und theatralischen Mitteln Lücken.
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Unverbindliches Wohnen in der japanischen Gegenwartsliteratur Yoshimoto Bananas Kitchin und Murata Sayakas Konbini ningen Mechthild Duppel-Takayama
1. E inleitung Für alle literarischen Figuren existiert notwendigerweise – erwähnt oder unerwähnt – ein Raum, in dem diese Figuren schlafen und gewöhnlich auch essen, sich eventuell waschen und ihren persönlichen Besitz aufbewahren. Hier wohnen sie. Wo dieser Raum sich befindet, welches Aussehen er hat, ob er permanent oder vorübergehend genutzt wird, wie die Eigentumsverhältnisse sind, ob es Mit-Nutzer gibt – all dies bleibt bei der Definition des Wohnens unerheblich. Dabei ist es jedoch die Thematisierung und Ausführung dieser Aspekte, also die Beschreibung des Wohnraums, der Wohnsituation und des Wohnumfelds, die nicht wenig zur Charakterisierung literarischer Figuren beiträgt und darüber hinaus Rückschlüsse ziehen lässt über wirtschaftliche, gesellschaftliche und soziale Verhältnisse und Entwicklungen des jeweiligen Landes. In diesem Aufsatz werden zwei Erzählungen untersucht, die Wohnen in Japan zu unterschiedlichen Zeiten zeigen: während der Hochkonjunktur Ende der 1980er Jahre und in der aktuellen Gegenwart, die geprägt ist von einer kaum überwundenen, langjährigen wirtschaftlichen Stagnation. Gemeinsam ist den Erzählungen jedoch, dass sie Möglichkeiten
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individueller Wohn- und Lebensformen darstellen im Rahmen einer sich zunehmend diversifizierenden, modernen west-östlichen Gesellschaft.1
2. S tädtisches W ohnen in J apan und das »japanische H aus « bei W atsuji Te tsurō In Japan schließt das Wohnen heute immer auch den Kontrast bzw. die Kombination von westlicher und japanischer Wohnkultur ein, und das ebenso bezogen auf Wohnräume und das Wohnverhalten wie auf die Gestaltung der Städte durch Wohnungen respektive Häuser. Begonnen hat die Übernahme des westlichen Lebensstils, zunächst ausschließlich von der Oberschicht gepflegt, in der Meiji-Zeit (1868-1912), bevor er in der Taishō-Zeit (1912-1926) Eingang in den bürgerlichen Alltag der damaligen »Neuen Mittelschicht«2 fand, verbunden mit dem »kulturellen Leitbild« des bunka seikatsu [Kultur-Leben], das für ein westlich orientiertes, modernes Leben stand und zu dem auch das bunka jūtaku [Kultur-Haus]3 gehörte. Solche Häuser im »reformierten« Stil waren damals noch eher avantgardistische Ausnahmen, doch sie weckten besonders in der städtischen Bevölkerung den Wunsch, zumindest einzelne Elemente davon zu übernehmen und das Wohnen damit funktioneller und praktischer zu gestalten, als es bei traditioneller Bauweise möglich war (vgl. Mathias/ Schmidtpott 2001: 103ff.). In dieser Zeit entwarf der Philosoph Watsuji Tetsurō sein fūdoKonzept, 1935 veröffentlicht unter dem Titel Fūdo. Ningengaku-teki kōsa-
1 | Für anregende Hinweise zur Interpretation der Erzählungen danke ich Frau Dr. Gabriele Stumpp. 2 | Zum Begriff der »Neuen Mittelschicht« vgl. Mathias/Schmidtpott 2001: 94ff. 3 | Der Terminus wird vor allem mit den westlichen Bungalows und Cottages verbunden, die 1922 in Tokyo im Ueno-Park bei der Ausstellung Heiwa kinen Tōkyō hakurankai (einer Schau neuer technischer und »kultureller« Produkte) präsentiert wurden. Als bunka jūtaku werden in der Fachliteratur aber auch neuartige westliche Häuser mit dem Wohnzimmer im Mittelpunkt bezeichnet oder Häuser im japanischen Stil mit lediglich einem westlichen statt des japanischen Empfangszimmers (chanoma) und einem Innenflur (vgl. Mathias/Schmidtpott 2001: 104).
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tsu.4 Darin betont er den grundsätzlichen Unterschied zwischen europäischem und japanischem städtischen Wohnen. Er beschreibt zunächst die Stadtlandschaft Tokyos, die damals überwiegend aus einem endlos ausufernden Meer von flachen Einzelhäusern bestand und im Unterschied zu den westlichen Großstädten keine Hochhäuser aufwies.5 Dass die große Flächenausdehnung infrastrukturelle Probleme verursachte, aber trotzdem keine Hochhäuser gebaut wurden, sieht Watsuji begründet in der japanischen »Unfähigkeit zu einer städtischen Lebensweise auf öffentlicher und gemeinschaftlicher Basis« (Watsuji 1992 [1935]: 143). Diesen Umstand, also das scheinbare Unvermögen zum öffentlich-gemeinschaftlichen Leben, erläutert er am Beispiel des japanischen Hauses im Vergleich zu den europäischen Wohnungen. Letztere seien gekennzeichnet durch Wohneinheiten mit Privatzimmern, deren Hausgänge die Funktion einer Straße einnähmen,6 ebenso wie die Straßen der Stadt als »Gänge« im gemeinschaftlich genutzten öffentlichen Raum fungierten. 4 | Fūdo (風土) bezeichnet die geographischen und klimatischen Eigenschaften einer bestimmten Gegend. Der Untertitel Ningengaku-teki kōsatsu bedeutet »anthropologische Überlegungen«. In der deutschen Übersetzung (Fūdo. Wind und Erde. Der Zusammenhang zwischen Klima und Kultur) wird fūdo wörtlich mit »Wind und Erde« übertragen. Der Aspekt der Kultur findet sich bereits in den klassischen Fudoki (風土記), die nicht nur Topografie, Klima etc. der japanischen Provinzen beschreiben, sondern auch Sitten und Gebräuche der Bevölkerung. 5 | Bekanntermaßen hat sich das Erscheinungsbild japanischer Städte, trotz zwischenzeitlich höherer Bebauung, nicht grundsätzlich verändert. So äußert sich etwa die Architekturjournalistin Claudia Hildner: »Auf der Architekturbiennale 2010 in Venedig präsentierten die Architekten Koh Kitayama, Yoshiharu Tsukamoto und Ryūe Nishizawa ihr Konzept Tokyo metabolizing, das Tokio als eine ›Stadt der Häuser‹ definiert, die sich durch ständige Erneuerung kleiner baulicher Elemente stets selbst neu erfindet. Folgt man dieser Argumentation, sind es die Wohnbauten, die die japanische Großstadt maßgeblich charakterisieren« (Hildner 2013: 8). 6 | Lenkt man den Blick vom japanischen Einfamilienhaus, das Watsuji beschreibt, zu den seit der Edo-Zeit in Tokyo bestehenden nagaya [Mietsreihenhäuser], so ergibt sich bei diesen eine gewisse Parallele zu Watsujis »europäischen Wohnungen«: »Zwischen den Häusern verlief eine schmale Gasse, die den Zugang zur Hauptstraße gewährte. Diese Gasse, die im Japanischen als roji bezeichnet wird, war kein öffentlicher Ort des Transits, sondern Teil des semi-privaten Le-
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Dagegen stellten Hauseingang oder Wohnungstür in Japan »eine eindeutige Grenze zwischen Haus und Straße, zwischen Innen und Außen dar« (ebd.: 145).7 Der Abschließung des japanischen Hauses nach außen steht laut Wa tsuji eine umfassende Offenheit im Inneren gegenüber, und zwar architektonisch ebenso wie zwischenmenschlich. Die jederzeit öffenbaren Schiebetüren, zu vergleichen mit Raumteilern oder Wandschirmen, seien ein Zeichen für das fehlende Bedürfnis, sich von den Mitbewohnern abzugrenzen.8 Das Haus als »eine kleine Welt distanzloser Innigkeit« (ebd.: 146) ist damit ein exklusiver Raum für die Familie, denn dass die Mitbewohner gleichzeitig Familienangehörige sind, setzt Watsuji selbstverständlich voraus, und er betont darüber hinaus, dass die Charakteristika des japanischen Hauses auch in den modernen, »europäischen« Häusern der Städte in Japan erhalten geblieben seien und zukünftig erhalten blieben: Die Wohnverhältnisse und die Beziehung der Bewohner seien konstant, und deshalb verändere sich die Einstellung des Einzelnen gegenüber dem öffentlichen Umfeld nicht, obwohl das Leben sich verwestliche. Watsuji sieht eine direkte Abhängigkeit zwischen den niedrigen, nach außen geschützten Einzelhäusern und möglichen gesellschaftlichen Veränderungen: »[D]iese Gesellschaft bleibt im Grunde innerhalb ihres traditionellen Rahmens und nimmt nicht Abschied von der Vergangenheit, solange das japanische Haus sich in den Städten beharrlich ›am Boden kriechend‹ weiter ausbreitet« (ebd.: 147). Folgt man Watsuji, wären bensraums der Anwohner. Hier gab es neben der Toilette einen Brunnen, der auch als informeller Treffpunkt der Bewohner fungierte« (Schulz 2013: 19). 7 | Diese klare Trennung zwischen privatem Wohnen und dem öffentlichen Raum sieht Watsuji auch als Grund für ein geringes Verantwortungsgefühl gegenüber allgemein gesellschaftlichen Angelegenheiten: »[D]ie Belange der Gesellschaft« (Watsuji 1992 [1935]: 149) seien nicht diejenigen des Einzelnen; sie sind also sozusagen außen vor. In Europa zeigten sich andererseits Individuum und Gesellschaft enger verbunden, da Privaträume und öffentlicher Raum ineinander übergingen (vgl. ebd.: 148ff.). 8 | Kurt Singer glaubt dieses Bedürfnis doch zu erkennen, wenn er im Zusammenhang mit dem japanischen Haus schreibt, »daß es für den Japaner ein System von sichtbaren oder unsichtbaren Wänden gibt, hinter die er sich, sooft es ihm nötig erscheint, zurückziehen kann und wo er sich vor allen fremden Blicken und unbequemen Fragen sicher weiß« (Singer 1991 [1973]: 123).
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die Vorbedingung für eine gesellschaftliche Veränderung also andere Haus- bzw. Wohnformen, und die sieht er nicht kommen. Noch mehr: Er rechnet offenbar auch nicht damit, dass es umgekehrt gesellschaftliche Entwicklungen sein könnten, die sich auf das traditionelle Konzept des Wohnens auswirken. Nun sind seit der Veröffentlichung von Fūdo fast neunzig Jahre vergangen, und zumindest was das Bauen von Wohnhochhäusern in Tokyo betrifft, wurde Watsuji von der Realität überholt. Auf die Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg folgte der Wiederauf bau, zu dem ab den frühen 1950er Jahren die staatlich geförderte Errichtung von danchi gehörte, mehrstöckigen Komplexen mit Mietwohnungen, die auch die Architektur der »New Towns« am Stadtrand bestimmten. Im weiteren Verlauf des Hochwirtschaftswachstums entstanden ab Mitte der 1970er Jahre noch höhere Apartmenthäuser,9 bei denen sich der danchi-Standardgrundriss 2DK (westliche »Dining-Kitchen« und zwei japanische tatami-Zimmer) zu einem nLDK-Grundriss entwickelte, also einem Wohn-Essraum mit Küchenbereich (»Living-Dining-Kitchen«) und mehreren Individualräumen,10 von denen meist nur noch einer mit tatami ausgelegt war.11 Hierin zeigt sich die zunehmende Verwestlichung und damit geringere Flexibilität der Wohnungen, aber auch die Kontinuität des Konzepts einer Familie mit alleinverdienendem Vater, nicht berufstätiger Mutter und – idealerweise zwei – Kindern. Die »moderne Familie«12 verzichtete auf den von der Küche getrennten chanoma [Wohn- und Repräsentationsraum], fand sich stattdessen in der funktional gestalteten Living-Dining-Kitchen zusammen und verfügte über daran angrenzende Räume mit abschließbaren Türen, in die sich jeder Einzelne zurückziehen konnte (vgl. Waswo 2009: 284f.). So bot das Innere dieser Wohnungen schon damals den Bewohnern die Möglichkeit der Distanzierung. Eine Distanzierung, die 9 | Nachdem 1963 die Beschränkung der Gebäudehöhe auf 31 Meter aufgehoben worden war, waren zunächst nur Bürohochhäuser gebaut worden, als erstes 1968 das 36-stöckige Kasumigaseki Building in der Tokyoter Innenstadt. 10 | Der Buchstabe n steht für die beliebige Zahl von zu addierenden Räumen. Besonders häufig sind 2LDK-Grundrisse. 11 | Zu Veränderungen des Formats städtischer Wohnungen in Japan vgl. Klauser 2001: 197ff. 12 | Die Entwicklung der »Familie« in Verbindung mit den Wohneinheiten in Japan beschreibt Hinokidani Mieko (vgl. Hinokidani 2007: 115ff.).
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von der westlichen Bauweise forciert worden sein mag, gleichzeitig jedoch auch den gesellschaftlichen Trend zur Individualisierung zeigt, mit der der Wunsch nach Separierung einhergeht – völlig anders als im von Watsuji beschriebenen »japanischen Haus«, dessen Bewohnern er das Bedürfnis abspricht, sich von den Mitbewohnern abzugrenzen. Bei Wa tsuji sind dies wie erwähnt Familienangehörige, verbunden durch »häuslich-natürliche Liebe« (Watsuji 1992 [1935]: 147), und auch in den 1970er Jahren bestand das Ideal der zusammenlebenden Familie unverändert weiter. Die enge Verbindung zwischen Wohnung und Familie kommt darüber hinaus in dem Begriff ie zum Ausdruck, der »Haus« wie »Familie« bedeuten kann.13 Grundsätzlich besteht dieses Ideal bis heute, obwohl die Realität sich mehr und mehr davon entfernt hat.
3. D ie A bkehr von familiengebundenem W ohnen : K itchin Ende der 1980er Jahre wurden in den japanischen Großstädten zunehmend Wohnhochhäuser gebaut mit dem inzwischen allgemein üblichen nLDK-Grundriss. In einer solchen Wohnung spielt die Erzählung Kitchin (dt. Kitchen), das Erstlingswerk der auch in Deutschland sehr erfolgreichen Yoshimoto Banana aus dem Jahr 1988. Die Erzählung handelt auf dem Höhepunkt der Bubble-Wirtschaft und damit einer extrem konsumorientierten Zeit, in der alles möglich zu sein schien, die Vielfalt der Möglichkeiten jedoch auch zu dem bekannten nantonaku [irgendwie]-Gefühl führte: der Zufälligkeit und Beliebigkeit von Entscheidungen, Empfindungen und Beziehungen.14 Yoshimoto übermittelt ihrer vornehmlich jungen Leserschaft eine heilende Botschaft, nämlich den potenziellen 13 | Die Bedeutungen von ie (家) reichen von Haus, dem Zuhause, der Herkunft (ähnlich dem deutschen »guten Haus«), einem Familienbetrieb bzw. einer Familientradition (etwa im Kabuki-Theater oder bei den »Schulen« traditioneller Künste wie Ikebana oder Teezeremonie) und einer im Familienregister als zusammengehörend verzeichneten Gruppe von Verwandten bis zu einer Kleingruppe von zusammenlebenden Verwandten – also einer Familie. Die moderne Kernfamilie wird mit kazoku (家族) bzw. kaku-kazoku ( 核家族) bezeichnet. Zum Familienregister vgl. die Ausführungen von Endō in diesem Band, S. 184ff. 14 | Vgl. hierzu auch Mundt 2012: 326f.
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Halt in einer neuen zwischenmenschlichen Konstellation. Toshiko Ellis sieht darin einen Grund für den »sensational success« der Autorin: »[S]he presented, in a remarkably relaxed and nonchalant manner, a new possibility for the forms a family can take« (Ellis 2009: 202). Die Erzählung15 beginnt mit dem programmatischen Satz: »Der liebste Platz auf dieser Welt ist mir die Küche« (Y: 9). Die Ich-Erzählerin Mikage assoziiert diesen »Platz« nicht an erster Stelle mit Personen, sondern für sie vermittelt ein »Ort, an dem man kochen kann« (Y: 9), Trost und Ansporn allein durch seine Atmosphäre. So verbringt sie auch die einsamen Nächte nach dem Tod ihrer letzten Familienangehörigen, der Großmutter, in der Küche neben dem beruhigend summenden Kühlschrank. Doch die Frage nach einem Neubeginn außerhalb der Mietwohnung, bisher Heim und Erinnerungsort an ihre Familie, überfordert Mikage angesichts ihrer Fassungslosigkeit über den Verlust. Wie »ein Wunder« (Y: 11) erscheint ihr deshalb das Auftauchen von Tanabe Yūichi, einem Bekannten der Großmutter und Student wie die IchErzählerin, der sie zu sich und seiner Mutter einlädt – und damit führt Mikages Weg vom ursprünglich familiär-behüteten, jetzt aber einsamen Wohnen hin zu einer in jeder Beziehung neuen Wohnform. Schon die Lage des Apartments weit oben in einem Hochhaus weist auf den Unterschied hin, und die ausführliche Vorstellung der Wohnung gibt dieser – anders als Mikages bisheriger Wohnung – von Anfang an ein individuelles Gesicht: »Als erstes fiel mein Blick auf ein riesengroßes Sofa mitten im Wohnzimmer, an das sich weiter hinten die Küche anschloß. Es stand da, mit dem Rücken zum Geschirrschrank der geräumigen Küche, ohne Tisch und ohne Teppich. Es war ein prächtiges Sofa mit beigem Bezug, ein Sofa, wie man es manchmal in der Fernsehwerbung sieht [...]. Vor dem großen Fenster, durch das man auf die Veranda sah, standen dschungelartig zahllose Zimmerpflanzen in Töpfen und Kästen, und [...] es [gab] auch jede Menge Schnittblumen, überall [...]« (Y: 15f.).
Die Küche, das verbindende Element zwischen altem und neuem Wohnen, wird als geradezu überwältigend dargestellt und zeugt vom Überfluss und Markenbewusstsein der Bubble-Zeit ebenso wie von der praktizierten japanisch-westlichen Kochkultur: 15 | Seitenangaben mit der Sigle Y nachfolgend im Fließtext.
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»[A]lle wichtigen Utensilien waren da, ordentlich aufgereiht hingen sie an der Wand. Es gab auch eine Bratpfanne Marke Silverstone und ein Schälmesser made in Germany. [...] Von einer kleinen Neonröhre beleuchtet, stand das Geschirr still da und wartete darauf, verwendet zu werden; die Gläser funkelten. [...] [A]lles von auserlesener Qualität. Es gab sogar recht ausgefallenes Geschirr... zum Beispiel Schüsseln für spezielle Reisgerichte, feuerfeste Teller für Gratins, gewaltige Anrichteplatten, Bierkrüge mit Deckel. Irgendwie fand ich das toll. Auch der kleine Kühlschrank, den ich aufmachen durfte, befand sich in bestem Zustand [...]. Es war eine gute Küche. Ich war verliebt auf den ersten Blick« (Y: 16f.).
Hier deutet sich bereits an, dass für Mikage diese Wohnung selbst, und speziell die Küche, noch wichtiger wird als die Bewohner, obschon Yūichi und seine Mutter, eine Bardame, sie mit großer Herzlichkeit empfangen und wie selbstverständlich von einem Zusammenwohnen ausgehen. Die schöne Mutter, erklärt Yūichi, ist eigentlich sein Vater, der eine Geschlechtsumwandlung vornehmen ließ, und Mikage wundert sich: »Je mehr ich über die beiden erfuhr, um so phantastischer erschien mir alles. Ihre Küche aber überzeugte mich« (Y: 23). Sie übernachtet auf dem großen Sofa, das ihr fester Schlafplatz wird: »Das Sofa der Tanabes liebte ich schon bald so sehr wie die Küche. Es schenkte mir den Schlaf, den ich so lange vermißt hatte. Ich lag da, hörte auf das Atmen der Pflanzen, spürte die nächtliche Stadt durch den Vorhang und schlief ruhig ein« (Y: 31). Tagsüber ist die Wohnung lichtdurchflutet und wird mit ihrem Blumenschmuck als paradiesischer Ort inszeniert: eine Oase, die den Blick auf den Himmel gewährt und trotz dieser Öffnung nach draußen einen geschützten Raum darstellt, da von außen niemand ohne Weiteres in die Hochhauswohnung eindringen kann. Die Wärme und emotionale Sicherheit, die die Wohnung bietet, kontrastiert mit Mikages alter Wohnung bei ihrem letzten Besuch dort: »Dunkel und leblos lag alles da. Was mir früher so vertraut gewesen war, wandte sich nun kalt von mir ab« (Y: 31). Diese Ablehnung macht Mikage zum Eindringling in der eigenen Wohnung als einem fremd gewordenen Ort, der das darin Erlebte nicht mehr in sich birgt: »Mit Großmutter war zugleich auch die gemeinsame Zeit in dieser Wohnung gestorben« (Y: 31). Hier wird das Wohnen als personengebunden dargestellt, während die neue Wohnung zunächst unabhängig von den Bewohnern gesehen wird, ja sogar trotz der Bewohner für sich einnimmt. Es ist die Möblierung und Ausstattung, die Mikage
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anzieht, die Küche, die sie »überzeugt« und in die sie sich »verliebt« wie auch in das Sofa. Die Unkonventionalität der Wohnungsbesitzer lässt Mikage den Freiraum, eine neue Rolle zu finden: »Wenn ich nicht gerade jobbte, räumte ich die Wohnung auf, sah fern, machte einen Kuchen – wie eine ganz normale Hausfrau« (Y: 30). Und vor allem beginnt sie, für ihre Mitbewohner zu kochen. Sie wird zur »mother figure in a home without one« (Seaman 2016: 61), deren Aktivität in der Küche verortet ist, die zusammen mit dem direkt daneben liegenden Schlafplatz das Zentrum ihres Wohnens bildet; eine Parallele zwar zu ihrem Übernachten in der früheren Küche nach dem Tod der Großmutter, doch nun positiv besetzt. Mikages Mitbewohner, die sie als nahezu Fremde bedingungslos aufgenommen haben – »wie man einen herrenlosen Hund aufnimmt« (Y: 35) – spielen in dieser Wohnsituation die Rolle von Mitgliedern einer Familie, die nicht durch Verwandtschaft, sondern durch persönliche Nähe definiert ist16 und die Mikage mit ihrer »Fröhlichkeit und Gelassenheit« (Y: 36) an sich binden. Gleichwohl findet Mikage die größte Geborgenheit in der fast magisch aufgewerteten Küche, in der sie von wunderbaren Gegenständen umgeben ist und Speisen zubereitet. Dieser mütterlich konnotierte Ort kann hier auch als Symbol und Kompensation für die genuine Familie interpretiert werden: Er ermöglicht Mikage als Mutter die Versorgung ihrer Mitbewohner und vermittelt den Dreien ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, verknüpft sie zu einer familiären Gemeinschaft. Die von Yoshimoto Banana beschriebene Wohnung stellt einen unverbindlichen und dennoch geschützten Raum dar: unverbindlich durch die Abkehr von familiengebundenem Wohnen, geschützt durch die gegenseitige Sympathie, die den Gast zum Mitbewohner werden lässt. In diesem Ende der 1980er Jahre für die damalige japanische Gesellschaft gezeichneten Entwurf findet sich Watsujis nach außen abgeschirmtes, im Inneren als distanzloser Vertrauensraum gestaltetes »japanisches Haus« damit architektonisch modifiziert wieder – die Abschirmung nach außen ist in Kitchin durch die Lage des Apartments weit oben in einem Hochhaus gewährleistet; neben der gemeinsamen Living-Dining-Kitchen bietet die Wohnung Yūichi und seiner Mutter eine Distanzierungs- bzw. Rückzugsmöglichkeit in Form ihrer Privatzimmer. Zusätzlich jedoch zu 16 | So auch Amanda C. Seaman: »[T]he apartment represents family – not a fam ily defined by blood kinship but rather by personal affinity« (Seaman 2016: 61).
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dieser damals schon nicht mehr ganz neuen Bauweise ist in Kitchin mit der Präsentation einer Alternative zur »Familie« eben die gesellschaftliche Entwicklung enthalten, die sich auch verändernd auf das traditionelle Konzept des Wohnens auswirkt.
4. Z uhause am A rbeitspl at z : K onbini ningen Fast dreißig Jahre nach Kitchin erschien 2016 die Erzählung Konbini ningen (dt. Die Ladenhüterin),17 mit der die Autorin Murata Sayaka den Akutagawa-Preis gewann. Dem Platzen der Wirtschaftsblase 1990 waren die zwei sogenannten verlorenen Dekaden gefolgt, gekennzeichnet durch Nullwachstum, Deflation, steigende Arbeitslosigkeit und eine zunehmende Zahl von ungesichert Beschäftigten. Diese Depression im Wirtschaftsbereich wirkte sich auch auf den Bausektor aus18 und auf die Wohnsituation der städtischen Bevölkerung. Statt der luxuriösen Wohnungen der Bubble-Zeit sind nun billigere und kleinere gefragt, darunter Ein-Zimmer-Apartments für Alleinlebende: mehr und mehr Singles, Geschiedene, alte Menschen – Städter, die oft kaum Verbindung weder zu ihrer Herkunftsfamilie noch zur Nachbarschaft haben. Ihrem Lebensstil – und den eingeschränkten Staumöglichkeiten in den Wohnungen – kommen die Convenience Stores (konbini) entgegen, 24-Stunden-Läden mit umfassen-
17 | Konbini ningen bedeutet »Konbini [Convenience Store]-Mensch« und ist ein Zitat der Protagonistin, die sich so – im Gegensatz zu einem »normalen Menschen« – bezeichnet. Übersetzt wurde der Ausdruck im Text allerdings mit »Konbini-Angestellte« (Murata 2018 [2016]: 143f.). Der deutsche Titel Die Ladenhüterin stammt vom herausgebenden Aufbau Verlag und kann in doppeltem Sinn verstanden werden: Die Protagonistin ist eine unverheiratete, sozusagen unverkäufliche »alte Jungfer«, und gleichzeitig hütet sie den Laden, den konbini. 18 | Erst ab Ende der 1990er Jahre wurden in Tokyo wieder vermehrt öffentliche und private Großbauprojekte realisiert. Nach einer Baugesetzänderung 1997 entstanden zunächst nur wenige tawāmanshon [Wohnhochhäuser mit einer Höhe ab sechzig Metern bzw. zwanzig Etagen], bevor in den Jahren 2005-2015 zahlreiche solcher Wohntürme, nun auch mit über 200 Metern Höhe und mehr als fünfzig Etagen, errichtet wurden.
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dem Waren- und Serviceangebot.19 Viele der Alleinlebenden finanzieren sich durch pāto [Teilzeitarbeit] oder baito [Neben- bzw. Studentenjob], und gerade in Convenience Stores besteht ein Großteil der Angestellten aus solchen Jobbern. In dieser Welt spielt Konbini ningen. Wie in Kitchin steht eine Ich-Erzählerin im Zentrum, Furukura Keiko. Sie ist Mitte dreißig und jobbt seit ihrer Studienzeit in einem konbini. Der Grund dafür liegt in ihrer Persönlichkeit, die mit den Erwartungen der Gesellschaft an ein »normales« Verhalten nicht konform geht. Sie ist völlig unfähig zu Empathie und fiel schon als Kleinkind mit gut gemeinten und aus ihrer Sicht logischen, aber ihre Mitmenschen schockierenden Aktionen auf. Da Keiko nicht weiß, wie sie angemessen agieren und sprechen könnte, entschließt sie sich zu durchgehender Passivität. Erst der konbini bietet ihr einen Ausweg: Hier ist alles exakt festgelegt, vom Arbeitsablauf bis zur Kommunikation mit den Kunden; sie kann nichts falsch machen, muss keine Irritationen ihrer Umwelt befürchten, solange sie sich im vorgeschriebenen Rahmen bewegt. Keiko entwickelt sich zu einem tüchtigen, perfekt funktionierenden Teil (kein Anteil, bubun, sondern in ihrer Formulierung ein Zubehörteil, buhin) des konbini und findet als solches auch Anerkennung bei Chef und Kolleginnen. Sie fühlt sich geborgen und geschützt in der Regelmäßigkeit und Berechenbarkeit des konbini mit seinen immer gleichen Geräuschen. Der Text 20 beginnt folgendermaßen: »Der Convenience Store ist voller Geräusche. Begleitet vom Glockenklang beim Eintreten der Kunden, preist ein Promisternchen über Lautsprecher neue Produkte an. Dazu kommen die Stimmen der Angestellten, das Piepen beim Einlesen der Strichcodes, der dumpfe Aufprall, mit dem Waren in Körbe plumpsen, das Klacken von Absätzen und das Knistern von Brottüten. All das verbindet sich zu dem einen typischen Konbini-Klang, den ich stets im Ohr habe« (M: 5).
Dieser Klang des konbini zieht sich motivisch durch die Erzählung. Er begleitet Keiko abends in ihrer Wohnung: »[Die Geräusche] durchströmten mich wie Musik. Mich zu den vertrauten Klängen des Konbini wiegend, stopfte ich das Essen in mich hinein, damit ich morgen wieder arbeiten 19 | Zu Entwicklung und Rolle der Convenience Stores im städtischen Wohnen vgl. Klauser 2001: 214f. 20 | Seitenangaben mit der Sigle M nachfolgend im Fließtext.
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konnte« (M: 111). Er verändert sich, als ihr Chef und die Kolleginnen, statt wie bis dahin nur über Geschäftliches zu reden, immer aufdringlicher nach Keikos Privatleben fragen: »Es war, als mische sich Lärm in den harmonischen Klang des Konbini. [Es] herrschte eine unangenehme Dissonanz« (M: 113). Der Klang verschwindet, nachdem sie die Arbeit im konbini gekündigt hat: »Ungeachtet [...] anderer Laute in der Wohnung herrschte in mir nichts als Stille. Die Geräusche des Konbini, die mich stets erfüllt hatten, waren verstummt. Ich war von der Welt abgeschnitten« (M: 129). Und sie findet die Verbindung zur Welt, den ihr angemessenen Platz, am Ende wieder, als sie beim zufälligen Betreten eines konbini den vertrauten Glockenklang vernimmt und sofort beginnt, eigenmächtig Waren umzuräumen, während »die ›Stimme‹ des Konbini« sie »durchströmt« (M: 139). Der Japanologe Ronald Saladin bietet die Interpretation an, dass Keiko einen Androiden verkörpert,21 was aus ihrem Verhalten durchaus gefolgert werden kann: Ein Android reagiert auf Signale, er benötigt Input, Informationen, die sein imitierendes Handeln zielgerichtet bestimmen, und ist unfähig zu kreativen Entscheidungen. Zumindest aber zeigt das Motiv des konbini-Geräuschs die Fixierung der Ich-Erzählerin nicht auf Menschen, zu denen sie keinen natürlichen Kontakt auf bauen kann,22 sondern auf Unpersönliches, auf Dinge, wie sie sich selbst auch häufig als Ding bezeichnet, das nützlich oder unnütz ist – für die Gesellschaft, vor allem jedoch für den konbini. Ausschließlich um »brauchbar« für ihn zu bleiben, befriedigt Keiko funktionale Bedürfnisse wie Essen, Schlafen und Körperpflege in ihrer Wohnung, die lediglich die Rolle der Rekreation für den konbini spielt. Erst an relativ später Stelle im Text wird die Wohnung genauer beschrieben (vgl. M: 91f.): Alt und klein enthält sie nur das Nötigste und ist ein ungastlicher Ort, wo – ganz anders als in Kitchin – nicht gekocht wird, 21 | In seinem Vortrag »Androiden für die Steinzeit – Verhandlungen von Arbeit, Individualität und Familie in der japanischen Gegenwartsgesellschaft in Murata Sayakas Konbini ningen (2016)« bei der Gesellschaft für Natur- und Völkerkunde Ostasiens (OAG) in Tokyo am 15. November 2017. 22 | In seiner Rezension »Die Uniform in Person« in der ZEIT vom 28. Februar 2018 bezeichnet Ronald Düker die Protagonistin als »sozialer Alien«. ›https://www.zeit. de/2018/10/die-ladenhueterin-sayaka-murata-roman-liebesgeschichte‹ (Zugriff am 13. 9. 2018).
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sondern bloß Lebensmittel aufgewärmt werden. Auch als Keiko ihren Kollegen Shiraha nach seiner Entlassung zum Übernachten aufnimmt, verändert sich ihre Situation in dieser Behausung zunächst kaum: Shiraha ist für Keiko kein Gast, sondern ein »Haustier«, das sie mit »Futter« versorgt (M: 99) und das sich im Badezimmer in der leeren Badewanne aufhält. Beide sehen einen Vorteil im gemeinsamen Wohnen: Shiraha muss nicht arbeiten, und Keiko hat Ruhe vor den drängenden Fragen ihrer Umwelt nach einem Freund. Ihre Gedanken sind weiterhin auf den konbini ausgerichtet, nach dem sie sich besonders in unangenehmen Situationen sehnt und der für sie – ähnlich wie die Küche für Mikage – als eigentliches Zuhause fungiert: »In schlaflosen Nächten dachte ich an das helle, warme Kästchen aus Licht, in dem es auch jetzt von Kunden wimmelte. Alles funktionierte so reibungslos wie in einem sauberen Aquarium. Sobald dieses Bild vor mir auftauchte, erwachten auch die Konbini-Geräusche in mir, und ich konnte ruhig einschlafen« (M: 24).
Die Balance zwischen beschütztem, Orientierung gebendem Leben im konbini und dem (zur Gewährleistung ihrer Einsatzfähigkeit dort) notwendigen Aufenthalt in der Wohnung wird von Keiko selbst zerstört durch ihre Kündigung – eine Trennung vom konbini aufgrund des »Gastes« in ihrer Wohnung, dessen Anwesenheit Erwartungen bei ihrer Familie weckt und vor allem zu der oben erwähnten »Dissonanz« im konbini führt. Diesem sozialen Druck kann Keiko nicht standhalten. Dass dann keiner sie von der Kündigung abhält, sondern ihr alle nur erfreut zur vermuteten Heirat gratulieren, zeigt die bisher geglaubte Zugehörigkeit und die Überzeugung, ein wichtiges, ja unverzichtbares »Zubehörteil« des konbini zu sein, als Täuschung: »Ich hatte mein ganzes Leben danach ausgerichtet, ob etwas dem Konbini dienlich war oder nicht, und nun meinen Bezugspunkt verloren« (M: 133). Der Verlust des konbini beschränkt Keiko auf ihre Wohnung, in die sie sich ratlos zurückzieht. In der ersten schlaflosen Nacht öffnet sie die sonst immer verschlossene Balkontür und tritt hinaus (vgl. M: 130f.), ein Versuch der Neu-Orientierung und Erweiterung ihrer Umgebung, der jedoch ohne Konsequenzen bleibt. Vielmehr verdichtet sich die Gestalt ihrer Wohnung zu einer unwirtlichen Höhle, wo sie Zeit- wie Körpergefühl verliert: »Seit ich nicht mehr im Konbini arbeitete, wusste ich nicht, wann ich aufstehen sollte. [...] Ich wusste nicht mehr, nach welchen Vorgaben ich mich bewegen sollte« (M:
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132). Zu Keikos endgültigem Rückzugsbereich wird der Wandschrank (o shiire), in dem sie auf ihrem ausgebreiteten Futon liegen bleibt und nur hinauskriecht, wenn sie Hunger bekommt (vgl. M: 132) – kein komfortables Nest, sondern eine Höhle in der Höhle; ein Zurückweichen wie in den schützenden Mutterschoß, der jedoch weder Heilung noch Wachstum verspricht und damit in deutlichem Gegensatz zu Mikages Sofa und deren Aufenthalt in der Küche steht. Der Wandschrank ist allein der Ort willenlosen Vegetierens in Abwendung von der Realität, ohne den konbini nicht existieren zu können. Folgerichtig erkennt Keiko am Ende auch, nachdem sie »die Stimme des Konbini gehört« hat: »Ich wurde geboren, um diese Stimme zu hören« (M: 142f.). Ihr Platz ist nicht als Mensch bei Menschen, sondern als »Konbini-Mensch« beim konbini.
5. V erschwindende G renzen Ganz der Vereinzelung und individuellen Bindungsunfähigkeit, aber auch dem Leistungsdruck der heutigen – nicht nur japanischen – Gesellschaft entsprechend, findet die Protagonistin in Konbini ningen nur Befriedigung darin, als »Rädchen im Getriebe der Welt« (M: 24) zu funktionieren, und gerade wegen seiner Regeln und Begrenzungen ist der Convenience Store für sie ein Ort der Sicherheit und Entspannung. Statt bei ihrer Familie oder bei einer familiären Gemeinschaft wie in Kitchin findet sie ihren »Selbstverwirklichungsraum« in der Öffentlichkeit des konbini, dem hellen Glaskasten, der verschlossen und doch für jeden betretbar ist. Dieser Arbeitsplatz ist es, der ihr – wenn auch nur temporären und fragilen – Schutz bietet und zu dem sie spirituelle Verbindung hat. Watsujis »japanisches Haus« mit der eindeutigen Grenze zwischen innen und außen und der »kleinen Welt distanzloser Innigkeit« hat sich in Konbini ningen damit noch weiter modifiziert bzw. eine grundlegende Änderung erfahren. Die Wohnung dort dient nicht als wärmender Zufluchtsort, der mit einer Familie oder mit Freunden geteilt wird. Sie stellt auch für die Besitzerin kein Heim dar, ist stattdessen Abstellraum und Wartestation, in die ein Fremder zwar aufgenommen wird, aber keine Sympathie entsteht. Vielmehr ignorieren sich die beiden Individuen weitgehend und leben unverbunden in Räumlichkeiten der Wohnung, die nicht zum Wohnen vorgesehen sind.
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Diese Umkehrung des herkömmlichen Wohnens und die Stilisierung des Arbeitsplatzes als Alternative zeigt ein Verschwinden stabil geglaubter Grenzen – und dies nicht als literarischer Einzelfall, sondern symptomatisch für die gesellschaftliche Diversifikation und die Schwierigkeit, sich verbindliche Beziehungen zu schaffen, wohl nicht nur in der Gegenwart japanischer Städte.
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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Andreas Becker ist Assistant Professor an der Faculty of Letters der Keio Universität in Tokyo. Seine Forschungsschwerpunkte sind der japanische und der westliche Film, komparative Ästhetik und Phänomenologie des Films sowie die Zeitdarstellung im Film. Mechthild Duppel-Takayama wurde an der Goethe-Universität Frankfurt am Main mit einer Arbeit über Kawabata Yasunari promoviert. Sie lehrt als Professorin an der Sophia Universität in Tokyo deutsche Gegenwartsliteratur sowie japanische Kulturwissenschaft. Die Germanistin und Japanologin forscht zu den Themen Kulturkontakt und Nationalliteratur/ Weltliteratur. Kosuke Endo war nach dem Studium der Germanistik an der Gakushuin Universität in Tokyo Doktorand im DFG-Graduiertenkolleg »Schriftbildlichkeit« an der Freien Universität Berlin und arbeitete dort an seiner Dissertation zum Thema »Geschichte der Graphologie«. Veröffentlichungen zur Schrift und Schrifttheorie. Mariko Harigai studierte an der Keio Universität in Tokyo Germanistik. Sie war DAAD-Stipendiatin an der Freien Universität Berlin und promovierte dort im Fach Theaterwissenschaft über Stimminszenierung. Als dramaturgische Mitarbeiterin war sie an der Installations-Performance »Die Scheinwerferin« der Künstlerin Tanaka Naoko beteiligt (u. a. ZKB Acknowledgment Prize 2012 des Zürcher Theater Spektakels). Sie arbeitet als Lehrbeauftragte u. a. an der Keio Universität in Tokyo. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Ästhetik der Stimmen, Raum- und Medientheorie und das Politische des Theaters.
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Wohnen und Unter wegssein
Alexander Honold ist Ordinarius für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Er studierte Germanistik, Romanistik, Komparatistik und Philosophie in München und Berlin. Promotion 1994 an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über Robert Musil und den Ersten Weltkrieg; Habilitation 2002 an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Studie über die Astronomie im Werk Friedrich Hölderlins. Lehrtätigkeit u. a. an der FU Berlin, an der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Universität Konstanz; diverse Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren (u. a. New York, Stanford, Santa Barbara, Wien, Hamburg). Markus Joch wurde 1998 an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit zum intellektuellen Habitus von Heinrich Heine, Heinrich Mann und Hans Magnus Enzensberger promoviert. Von 2009 bis 2012 lehrte er an der Stanford University und der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Von 2013 bis 2017 war er Associate Professor an der Keio Universität in Tokyo, und seit 2017 ist er dort Professor für Neuere deutsche Literatur. Sein Forschungsinteresse gilt Epochenzäsuren (1945/90), Pop-Literatur, Postkolonialismus, Literatur-Film-Beziehungen und der Theorie des literarischen Feldes. Kikuko Kashiwagi-Wetzel wurde an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit einer Arbeit über das Kulturthema Essen im Werk Thomas Manns promoviert. Sie arbeitet seit 2005 als Professorin für deutsche Sprache und Kultur an der Kansai Universität in Osaka. Zu ihren besonderen Forschungsinteressen gehören die Literatur der Weimarer Republik, die Nahrungssymbolik in der Literatur, Kulturvermittlung im DaF-Unterricht. Seit 2016 ist sie auch als Dramaturgin am Seiryū-Theater in Osaka tätig. Arne Klawitter wurde 2001 an der Universität Rostock mit einer Arbeit über Michel Foucaults Konzeption moderner Literatur promoviert. 2006 kam er als Lektor nach Fukuoka und war ab 2008 als Associate Professor an der Universität Kyoto tätig. 2012 folgte an der Universität Münster die Habilitation über die ästhetische Resonanz ostasiatischer Schriftzeichen. Seit 2013 ist er Professor für deutsche Literatur und Medien an der Waseda Universität in Tokyo. Zu seinen Forschungsinteressen gehören die deutschsprachige Literatur seit Mitte des 18. Jhs. mit Anschlüssen an die
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
englische und französische Literatur, vergleichende Ästhetik und die Philosophie des Poststrukturalismus. Wakiko Kobayashi promovierte 2009 mit einer Arbeit über das deutsche Hörspiel der 1950er Jahre an der Universität Hamburg. Seit 2011 arbeitet sie als Associate Professorin für deutsche Literatur- und Kulturwissenschaften an der Gakushuin Universität in Tokyo. Ihre Forschungsschwerpunkte sind zur Zeit Hörspiel und deutsche Literatur nach 1945. Minami Miyashita befindet sich im Doktorkurs der Germanistik an der Keio Universität in Tokyo. Seit 2018 studiert sie Germanistik und Philosophie als DAAD-Stipendiatin an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Ihre Forschungen betreffen mystische Gedanken bei Robert Musil. Weitere Forschungsinteressen gelten dem Verhältnis zwischen Literatur und Technologie im 20. Jahrhundert. Kanichiro Omiya arbeitet seit 2011 als Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Graduate School of Humanities and Sociology/Faculty of Letters der Universität Tokyo. Zu seinen besonderen Forschungsinteressen gehören Walter Benjamins Erkenntniskritik, dargestellt in seinen Reisetexten; Benjamins, Martin Heideggers und Ernst Jüngers Lehre der Technik sowie Heinrich von Kleist als der Dichter des Politischen. Zuletzt erschienen ist seine Neuübersetzung von Goethes »Werther« ins Japanische. Thomas Pekar wurde an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg mit einer Arbeit über Robert Musil promoviert und an der Ludwig-Maximilians-Universität München mit einer Untersuchung über die europäische Japan-Rezeption habilitiert. Er arbeitete an verschiedenen Universitäten in Deutschland, Südkorea und Japan. Seit 2001 ist er Professor für deutsche Literatur- und Kulturwissenschaften an der Gakushuin Universität in Tokyo. Zu seinen Forschungsinteressen gehören die Exil- und Kulturkontaktforschung sowie die Literatur der klassischen Moderne. Walter Ruprechter wurde an der Universität Wien mit einer Arbeit über Konrad Bayer promoviert. Nach dem Studium Verlagslektor im MedusaVerlag und Lehrbeauftragter an der Universität Wien und der Nihon Universität in Tokyo. Von 1992 bis 2017 arbeitete er als Professor für Germa-
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Wohnen und Unter wegssein
nistik und Kulturwissenschaften an der Tokyo Metropolitan University. Seine Forschungsgebiete umfassen deutschsprachige avantgardistische Literatur sowie Theorie und Praxis des Kulturaustauschs. Christopher Schelletter studierte an der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität Bonn Asienwissenschaften mit dem Schwerpunkt Japanologie. Gegenwärtig ist er Doktorand an der Abteilung für Germanistik der Keio Universität in Tokyo. Er vergleicht deutsche und japanische moderne Literatur und forscht zur Tradition des Bildungsromans in Japan. Thomas Schwarz, Studium der Fächer Deutsch und Geschichte, Erstes und Zweites Staatsexamen, promoviert mit einer Arbeit über den österreichischen Expressionisten Robert Müller. DAAD-Lektorate in Korea (Keimyung University, Daegu) und Indien (University of Pune, Jawaharlal Nehru University in New Delhi), Lehrbeauftragter an der Humboldt- und an der Freien Universität Berlin. 2013 bis 2018 an der Rikkyo Universität in Tokyo, dort von 2015 bis 2017 Leitung der Forschungsgruppe »Pacificism« der Japan Society for the Promotion of Science. Seit April 2018 Lehrtätigkeit in den Bereichen Deutsch als Fremdsprache und Germanistik an der Universität Tokyo. Jan Straßheim, Studium Philosophie, Griechisch und Allgemeine Sprachwissenschaft in Marburg, London und Berlin, 2013 Promotion im Fach Philosophie an der Freien Universität Berlin mit dem Entwurf einer phänomenologischen Sozialtheorie in kritischem Anschluss an Alfred Schütz. Seit 2017 Lehrbeauftragter an der Keio Universität in Tokyo. Zu seinen aktuellen Forschungsschwerpunkten gehören interkulturelle Philosophie sowie interdisziplinäre Relevanztheorie. Midori Takata wurde an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über das Theaterstück »Die Ermittlung« von Peter Weiss promoviert. Sie arbeitet seit 2016 als Lehrbeauftragte an der Universität Kyoto. Zu ihren besonderen Forschungsinteressen gehören Holocaust- und Exilliteratur sowie das Thema Religion und Literatur. Michael Wetzel promovierte an der Universität Düsseldorf mit einer Arbeit über »Autonomie und Authentizität. Untersuchungen zur Konstitution und Konfiguration von Subjektivität« und habilitierte sich an
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
der Universität Essen mit einer Arbeit über »Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit«. Er arbeitete zuletzt von 2002 bis 2018 an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn als Professor für Literatur- und Filmwissenschaft. Zu seinen besonderen Forschungsinteressen gehören Psychoanalyse und Philosophie, Bild-Text-Relationen, Inframedialität, Autorschaftstheorie und Glasmotive in Literatur und Kunst. Hiroshi Yamamoto, seit 2017 Professor am Institut für Germanistik der Waseda Universität in Tokyo; Aufsätze zur deutschen und österreichischen Literatur der Gegenwart, v. a. zu Ilse Aichinger, Ingeborg Bachmann, Josef Winkler, Wolfgang Hilbig und Monika Rinck. Auch als Übersetzer tätig, u. a. von Thomas Bernhard und Herta Müller.
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Kulturwissenschaft María do Mar Castro Varela, Paul Mecheril (Hg.)
Die Dämonisierung der Anderen Rassismuskritik der Gegenwart 2016, 208 S., kart. 17,99 € (DE), 978-3-8376-3638-3 E-Book PDF: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3638-7 EPUB: 15,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-3638-3
Fatima El-Tayeb
Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft 2016, 256 S., kart. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3
Götz Großklaus
Das Janusgesicht Europas Zur Kritik des kolonialen Diskurses 2017, 230 S., kart., z.T. farb. Abb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-4033-5 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4033-9
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Kulturwissenschaft Rainer Guldin, Gustavo Bernardo
Vilém Flusser (1920–1991) Ein Leben in der Bodenlosigkeit. Biographie 2017, 424 S., kart., zahlr. Abb. 34,99 € (DE), 978-3-8376-4064-9 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4064-3
Till Breyer, Rasmus Overthun, Philippe Roepstorff-Robiano, Alexandra Vasa (Hg.)
Monster und Kapitalismus Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 2/2017 2017, 136 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3810-3 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3810-7
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.)
POP Kultur & Kritik (Jg. 6, 2/2017) 2017, 176 S., kart., zahlr. Abb. 16,80 € (DE), 978-3-8376-3807-3 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3807-7
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